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UNIVERSITY OF ILLINOIS LIBRARY AT URBANA-CHAMPAIGN
1.161—0-1096
GESCHLECHTUND\
GESELLSCHAFT
HERAUSGEGEBEN
IN VERBINDUNG MIT NAMHAFTEN FACHLEUTEN
VON FERDINAND FREIHERRN VON REITZENSTEIN
X
VERLAG RICHARD A. GIESECKE
DRESDEN :: LEIPZIG
1921
ALLE RECHTE VORBEHALTEN
INHALTS-VERZEICHNIS
I. SACHREGISTER
Abbindung des Samenleiters . 269
Aberglauben des TIEURBIEDENE 411
Abortus . . . 87,115
Abschaffung der ` ehelichen
Geburt . Sr
Abschaffung der Ehe . . 229
Absperrung der Frau . . 170
Abstammung des Menschen . 16C
Abtreibung . : 199, 228, 392
Abwehrfermente . . 149, 176
Acceleranzreizung ` .. «212
Accessorische Samenblasen . . 252
Addison’sche Krankheit . 241, 436
Adrenalin . 211, 215
After... 22... 8 0 203
Afterdrüsen . . . .... 7
Agglutinine . . 175, 179
Akzessorische Nebennieren . . 214
Akzidentelle Geschlechtsteile . 244
Alimente . 1 en a 396
Alkohol und Liebe . . 137
Alkoholverbot . 5 . . 438
Alter der Eheschließenden . . 62
Altern . 70, 132, 321, 322, 324
Alterserscheinungen . . 39, 68, 166,
316, 322, 325, 328
\itershaarkleid . 24, 26
\literstod . . 326
- Hinausschieben des 327
lveoli . . z . 146
Iveolo-tubulose Drüsen . . . 250
mbozeptor : > 181
mphimixiss . .... . 103
nploidkörper . . . 252
ıalerotische Charakterzüge . 221
talyse der Nervösen . . . 226
aphrodisie . > s a a AS
drenolin . o tana a AO
drin . . 27, 28, 248
drogynie . . . 293, 436
žstgefühl . 257, 329
tängsel d. Hodensystems 242, 252
äherungstrieb . . . . . 310
teckungsgefahr bei Syphilis
id Tripper ... 89, 262
tgonistische Drüsen . 215
Anthropoiden . 153, 180, 377, 378
Anthropomorphen . . . 180, 377
Antidiabetin . . . . . 151, 213
Antienzyme ee a
Antifetischismus . . . . . . 49
Antigene . . . . . . 174, 178
Antiproteal. . . . ... . 18I
Antiserum . 180
Antitoxine . 149, 174, 175, 117
Appendix epididymis N 242, 252
Appendix testis . | 243, 2
Appendix vesicularis . .
Arbeitsleistung d. ie P; 321, 324
Ars amandi . 408
Arsenophenglycin . 183
Arterienverkalkung . 322, 324
Asexualität . . 240, 319
Atmung und Herztätigkeit . . 325
Atmungsapparat . . . . 324
Aufhören des Zentrallebens . 231
Aufklärung . 22, 440
Aufschlitzen des Penis . 371
Auftreten des ersten Orgasmus 405
Ausbildung der Geschlechts-
charaktere . . . . . 212, 428
Auslese, geschlechtliche . . 440
Auslösbarkeit des Orgasmus . 311
Ausreifung des Geschlechts-
apparats. . . . . 243
Ausschläge . 5 . 260
Ausschneiden der Eierstöcke . 434
Ausstoßung des Samens . . 250
Autokoide-Drüsen . 203
Bad nach der Menstruation . 132
Bakterientoxine . . . . . . 178
Bart der Frauen. . . ... 28
Bartbildung . 244, 2
Bartholinische Drüsen x
Basedow’sche Krankheit . 209, 320
Bauchspeicheldrüse . 148, 151, 213
Bazillen, Fermentbildung der . 149
Beckenenge der Frau . . 437, 439
Bedürfnis, sexuelles . 89
Befriedigung der Geschlechtiust >
Befriedigungsgefühl 5
Befruchtung 45, 96, 257, 320
Befruchtungszauber . . 351
Begattung am Tage . . . . 133
Begattungstrieb . . 297, 298
Beginn einer geschlechtlichen
eiwohnung . . 365
Behaarung 29, 30, 212, 349, 362,
426, 427, 429
Beihoden $ : 243, 252
Berührungstrieb . + .:00
Beschneidung . 351, 352
Bewegung, EUER! 2.434
Bigamie . . 5: Tue 45, 218
Bildung der Hormone . im S 324
Bildungsdotter . . . . . . 100
Bindegewebslamelle . . . . 253
Biogene . A Saas 97, 100
Biokolloide .
Biologische Blutserum-Reaktion 383
Biologische Ursachen der Ge-
schlechtlichkeit . . . - . 319
Bisexualität 240, 265, 271 273, 319
Blindgang der Nebenhoden . . 253
Blumenkönigtum . . 2.374
Blutandrang zum Kopf en = |
Blutdrüsen . . . 5 148
Bluterkrankheit "46, 436, =
Blutserum RR .
Blutuntersuchung REIF 81
Brieseldrüse . . . . . . . 208
Bronchialdrüsen . . . . . . 157
Bronzekrankheit . . rl
Brown’sche Bewegung 36, 37, 40, K
Brunsterscheinungen
Brust . . . . 258, 345, 347, 2
Brustdrüsen . . 243, 258, 259, 287
Brustkorbanomalien . . 436
Brustwarzen. . = 2 2..2...2%4
Brustpflege . . . . . . . 282
Carotisdrüse . . . . . . . 214
Catarrhinen . . . . . . .180
Centrosoma . . . 247, 254
Chemische Erotisation . . . 245
Chemismus der Geschlechts-
drüsen : . 325
Cholesterin Fe 211, 257
Cholin. . ar 103, 211, 212
Chromaffines System . . . 214
Chromatin . . 98, 253, 254
Chromosomen 101, 103, 246, 247, 319
Clitoris . . . 108, 307
Coitus 11, 12, 14, 2, 74, 91, 106,
107, 108, 131, 133, 251, ’365, 372,
406, 407
Coitusovulation . 255, ER
Corpora cavernosa . . . 107,
Corpus Highmori .
Corpus luteum 203, 212, 255, "256,
257, 258, 269, 273, 316
IV
Corpuscula arenacea . . . . 207
Cowpersche Drüsen 239, 257, 251
Cytolysine . . z AR 176
Cytophile Gruppe f 181, 182
Damenbüste . 423
Dämonenangriffe "auf Wöchne-
rinnen . . 142
Dämonengewalt bei Coitus. . 133
Darmbakterien . . . . . . 325
Darmperistaltik . . . .. ` 211
Daumenschwielen ein a DRA
Defloration 405, 406, 407
Denunzianten . . . . . . . H5
Descendenztheorie . . . . . 181
Descensus ovariorum . . . . 243
Descensus testiculorum . . . 243
E a 282, 297, 298, 302,
Deutoplasma . . . . . 100
Diabetes i 151, 213, 436
Diagnose der Arche 5 #182
Dialysation.. . . lat 2er 88
Dianephroide . . . . . . . 212
Didymis . . . u. re, 223
Discus proligerus m nan ra 24
Disposition zum Coitus . . . 310
Doppelehe . . . ern 038
Doppelphallus . . . . . . 350
Doppelte Moral . . . 389
Drang nach sexueller Betätigung 297
Dritte Geschlecht . . . 397, 399
Drüsen 146, 147, 148, 151, 203, 2
Drüsensubstanz '.
Drüsenzellen . . . . 2... =
Ductus aberrans. . . . . . 253
Ductus deferens. . . . . . 243
Ductus ejaculatoriae . . . . 251
Dystrophia adiposogenitalis . 206
P enONrIEReIN n ER 62
Ehe. „+; "; 8, 94, "282, 390, 395
Ehebruch 23, 134
Ehefrau a ihren ehe-
lichen Pflichten zu genügen 387
Ehelosigkeit 392
Eherechtsreform . . - . . . 393
ENEireuninE REN 11, 393
Eheverbot für Geisteskranke . 432
— für Epileptiker . . . . . 432
Enrlich- Hata . . . . 183, 606
. . 44, 99, 100, 330, 398
Eleinbettung . . . 245, 257
Eientwickelung . . 0,52
Eierstöcke 6, 148, 239, 241, 245,
253, 267, 293, 313, 321, 398, 427
Eierstockmännchen a s Te ai
Eifersucht . . . . 395
Eileiter x 242, 293, 428
Einehe . 282, 390
si
Einkindeltern . . 167, 168
Einpflanzung eines männlichen
oder weiblichen Keimstocks 398
Eintritt der Geburt. . . . . 216
Eiweißart . . . . . 69, 149, 180
Ejakulation 11, 12, 13, 14, 105, 108,
133, 250, 405
Ekp horie . 294
Elastizitätsverlust 5/3283
Elektrolyte . 97, 150
Elektronen . FR ER Sr: ©
Embryo . . 118, 231, 241, 258
Embryonale Entwicklung 118, 141
Embryonalextrakt ee, 208
Embryotötung . . . . 57, 131
a sr Verhinderung der 12,
14, 91
Empfängnistrichter . . . 242, 255
Encyme . i . 146, 149, 151
Energieerhaltungsgesetz . . 148
Energieerzeugung buoi pe NAS
Engbrüstigkeit . 435, 439
Entartung, fettige . . . . . a1
Entartung, soziale Ursachen . 438
Entfernung der Nebennieren . 212
Entfettungskuren 703
an Geschlechtliche 85,
1 132
Entlastung der Frau r . 388
Entmannte T 397, 398
Entmannung von Gewohnheits-
verbrechern . . . 433
Entspannung, Geschlechtliche . 108
Entwickelungsgang des Kindes 358
— des Volkes . . . 358
Epididymis . . 241, 248
Zpiglandol . . . 207
Zpiphyse "204, 207, 215, 216
ipithelkörperchen . . . 213
ipithelzellen 3.1 0% art ar 2
‚poophoron . . . 241
‚rbansprüche der Kinder der
Nebenfrau $
rbliche NETTE von Tu:
berkulose . 185
FON GEAHIORNNE ; . 430
regsin 2 492
rektion 108, 108, 354
"ektionszentrum . . . . 105
"haltung der Potenz . . 212
'kennungsmittel für Menschen-
blut nf . 180
otischer Tanz à . 360
otische Ursachen der | Kunst 342
otisierung . . . 285, 299, 300
regung, geschlechtliche . 294
stickungskrämpfe . . . 250
weiterung der Blutgefäße . 212
weiterung der Ehegesetze . 387
sentielle Geschlechtsteile . 244
Ethnologie . . 332, 380
Eugeniker . . . 434, 437
Eulenburg-Prozeß ; . 266
ad 171, 216, 244, 316,
320, 335
Exkrete . . s ara IAT
Exkretionstriebe . . 219, 220
Exophtalamus EN 200
Exoplasma . . re e O
Extremitätenknochen . 244
Familiensyphilis . . . . 263
Färbungsprozeß . . . . 98
Fasttage, geschlechtliche . 134
Fastnacht š . . . 76, 82
Fehlen von Fingern STAAT a SOL
Fehlgeburt, Aypaliüäche . . 89
Fellhaar . . 25
Felsmalereien von Cogul 345, "354,
356, 360
Felsskulpturen . , 354, 365
Femininer Einschlag . 336
Feminierte Meerschweinchen . 287
Feminierungsversuche . . . . 312
Femmes de glace . . . 301
Fermente 146, 149, d 176, 215
Fetischismus . . 48, 49. 50 , 52, 55
Fettansatz . BE one 216, 244
Fettleibige Kinder . - . . 216
Fettsucht . . . . 206, 212, =
Fettsteißbildung . . 341
Fettverbrennung . . 209
Fetusextrakt 2 28
Feuerspende . . . . . . . 92
Fibrin . . M E E
Figur mit Gürtel . 342
Fitzelnächte 73, 74
Flamme, rote . . 425
Flimmerzellen . nn. 248
Flockenbildung . . . 71
Folliculus oophorus primarius 253
Folliculus oophorus vesiculosus 254
Follikel 246, 253, 256, 257. 293
Form des männlichen Ge-
schlechtsteils . . iP aN
Fortpflanzung . 100, 165, 432, 440
Fortpflanzungstrieb . 91, 297, 298
Fötus. . .. ; . 204, 216
Frau, anaesthetische i 109, 408
Frau, öffentliche . 130
Frauen, die als Mann empfinden 390
Frauen mit Männerbart . 320, 396
Frauenbüste . . ur 422, 423
Frauenideal, indisches . . 169
Frauenkörper . . 422
Frauenlob . 421
Frauenmangel . - „110
Frauenrechtlerinnen 293, 305, 389
Frauenrechtliche Utopien . 390
Fauenüberschuß . . 391
Frauenvollbart . 212
Freie Ehe . . 390
Freigabe der Vernichtung lebens-
unwerten Lebens
Freiheit der Mutter . . . .195
Freudenmädchen . . . . .136
Frigidität . . . 109, 307, 310
Frucht, Wesen und Entwickelung 117
Fruchtabtreibung en: 9
Fruchtbarkeit . . . 430
Fruchtbarkeit der Mulattenkinder 375
Frühgeburt . s 187
Frühreife > 207, 212, 320
Funktionen der Placenta 33
Funktionserhöhung der Puber-
tätsdrüse : . 315
Fürsorge für uneheliche Mütter 394
Fürsorgepflicht des Gatten . . 389
F-Zellen . - 270, 295, 296
Galle: #1... 3 an o #5 0152
Gallensäure . de . . 152
Gandharva — Ehe . 58, 59— 61
Gattenwahl . . 439
Gebärmutter 212, 242, 244, 245,
257, 292
Gebiß-Abnormitäten . . . . 380
Geburt . 120, 140, 305, 362, 367
Geburteneinschränkung . . . 168
Geburtenleistung . . . .. . 173
Geburtenrückgang . . » -» . 125
Gefahren durch Entartung . . 438
‘Gefährlichkeit des Salvarsan . 193
Gefühle der Zuneigung . 306
Gefühllosigkeit, geschlechtliche,
der Frau . . . 307
Gehirnzentren . 245
Geisteskrankheit . 333
Geistige TARREI Beginn beim
Kinde . . . 120
Gelbsucht - . - a = -< ..152
Gelber Körper 2
Geldehe . q . . 439
Gemeinsame Vorfahren a Aian BI
Genese der Moral . . . 223
Genitale . . 244, 428
Genitalzentren s a . . 204
Geschichte der Ernährung . . 163
Geschlecht der kommenden
Kinder . . . 217
Geschlechtlicher "Verkehr mit
Müttern . . 225
Geschlechtsapparat, weiblicher 241
— männlicher . . . 242
Geschlechtsbefriedigung,
adäquate . . 329
Geschlechtsbestimmung 141, 401, 402
Geschlechtscharaktere und
Temperatur ; . 430
Geschlechtsdifferenzierung der
Menschen
Be ya 28
Geschlechtsdrüsen 148, 215, 216,
239, 265, 311, 334, 436
Geschlechtsempfindung . » 5.297
a an ‚ regelmäßiger 130
Geschlechtshöcker . . . . A
Geschlechtskälte
Geschlechtskrankheiten 2; 3; "86, 250
Geschlechtsliebe . 2 :
Geschlechtslippen . 291, 344, "346,
356, 429
Geschlechtslust š . . 297
Geschlechtsmerkmale . . 6, 243
Geschlechtsorgane . . 323
Geschlechtsreife 22, 24, 28, 83, "215,
243, 352, 361, 429
Geschlechtsrinne Ent nas SAOI
Geschlechtssünde as rare Bd
Geschlechtstätigket . . . . 85
OFERECE, männlicher . 342,
50
Geschlechtsteile, Behaarung
der . . . . 25, 28, 244, 429
Geschlechtstrieb . 4, 6, 107, 245,
281, 288, 289, 293, 297, 298, 300,
301, 302, 306, 309, 591, 427, 429
Geschlechtsumstimmung . . 402
Geschlechtsunterschiede 24, 30, 31
Geschlechtsverkehr 392, 393, 394
Geschlechtszellen 240
Gesetze zur Beschränkung der
Eheschließung š . 432
Gestalten, geschwänzte . . 347
Gesundheit der Mutter . 229
Gewandung, rote, bei öffent-
lichen Mädchen . . . . . 135
Geweihbildung . . . 288
Giftwirkung des Menstruations-
blutes. . . a a AD
Gigantismus F 2a. 2200
Giralde’sche Organ 2 a DZ
Glandulae 146, 204, 207, 208, 210,
214, 250, 259
Glatze der Frauen . . - . . 28
Glatze des Mannes . 25
Gleichstellung der ehelichen.
und unehelichen tumes . . 228
Globuline . . . 2.8.5209
Glonnis coccygeum 2. en
Graremugenkraukhelk . . . 209
Glykogen . 150, 213
Gonaden . hs 148, 270
Gorilla 156, 157, 180, 377, 378, 379
Graaf’sche Follikel . z . 257
Granulationen . . . - . . 254
Grausamkeit zor a 219
Gründonnerstag . . 78
Grundstamm der Menschen 377, 379
VII
Guanidin W . 213
Gynaeceum . . . . . . -171
Gynäcin (Gynin) . . . . . 28
Haarausfall . 261
Haarbänder . aS. eE x
Haarkleid . - ara
Haarunterschiede beider Ge-
schlechter . . . E a]
Halbmenschliche Wesen ; . 377
Halbmonatseunuchen . . 145
Hageiasordimg, B Baur:
bergische . . . . 112
Hammelbiutkörper . . 182
Hämolysine . 175
Händeabdrücke ii a al
Hängebrüste . . 345, 346, 366
Haptophore Gruppe 178, 179, 181
Harem . re en y AOS
Haremswirtschaft N E E A.
Harnblase . . . 251
Harndrang und Blasenkatarrh 250
Harnentleerung z Y . 84
Harnleiter . Pair 29
Harnröhre . 250, 259
Harnsystem 239, 240, 250, 259, 323
Hassal’sche Körperchen s . 208
Hautausschläge . 261
Heiratsordnungen : Gr
Helium i
Hemmungen . 107, 108, 218, 3
Hemmungsbahnen
Herabsetzung des Stoffwechsels 209
Heraklit von Ephesus . . 106, 190
Hermaphroditismus 212, 252, 265,
290, 314, 317, 318, 398
Herpes srg . 261
Herrenmoral ia e 303
Herz . . . 323, 410
4erzklopfen ` Fe
1lerzmuskelzellen . 325
lerzstillstand . 2.250
letären . ; . 135, 170
leterochromosonen . . 1%
leuchelei . . . . . . 329, 393
lintergehung des Gatten . 393
linterhauptloch . . 5,198
irnanhang "204, 207, 334, 427
irnanhangdrüse ; . 320
irnquotient E . 325
irschfeld’s Theorie . 335
istamin . ....206
istologische Prozesse . . . 71
itzeratten a re
>chzeit ; 80, 92
»chzüchtun . . . 379
»den 6, 148, 239, 242, 245, 267,
321, 398, 427
‚denanhang . . 243, 252
‚denentzündung .. 86
Hodengewebe . . 293
Hodenkanälchen . : 246, 326
Hodensack . 245, 291, 292
Hodentuberkulose . . . . . 315
Hodenverluste D ` 316
Hodenweibchen . . 288
Hodenwucherung . . . . . 208
Homosexualität 54, 133, 265, 266,
271, 294, 296, 317, 335, 336, 400,
Homosexuelle Komponente der
Libido . . 8
Homosexuelle Körperform . . 335
RER 24, 148, 203, 216, 259,
Hormonen des Hodens . . . 248
Hottentottenschürze . 345, 429
Hungertodesfälle . . 199
Hydatide . nr ner ae 5,208
Hydrosol . . 2.2... 38
Hymen . 407
Hyperaemie des Scheidenein-
ganges . ;
Hyperästhesie, nervöse . . . 54
Hypernephrome . i . 213
Hyperplasie der Hoden . =
Hyperthyreoidismus .
Hypophyse 203, 204, 215, 216, 2.
320, 427
Hypophysenextrakt 5.18.10. 216
Hypospadie : = 291, 292
Hysterie ar 192
Ichtriebe . . š . 217
Idealbildung Ben Kindes . >
Ideal-Ich f
Imbibition . 97, 101
Immissio penis . . . 107
Immunisierungseinheit . 175
Immunität . . 174
Immunkörper . . e 174
Implantation 266, 267, 285
Impotenz . 27, 105, 106, 145, 316
Inadäquate Eheschließung . e 90
Indifferenz des Geschlechts-
apparats. . . . 240
Indisposition zum Coitus . . 310
Infantile Geschlechtsentwicke-
lung . : 206, 319
Infantilismus 206, 208, 301, 436
Infektionen . aoa HS
S Sekretion 107, 203, 245, "256,
Interstitielle Zellen . 247, 255, 285
Intercellularsubstanz .. 99
Intime Szene . . 364
Invertase . 2 1492
Involution der "Keimdrüsen .. 311
Inzucht . . 46, 373
Ityophallische Gottheiten . 359
unggesellenheime .
Kalkausscheidung im Kot .
Kamasutram 17, 19, 20, 21, 59, 61,
62, 95, 132, 133, 135, 138, 139
Kanalsystem der Urniere
"212, 216, 295, 398, 399,
Katalytische Spaltung .
6, 203, 238, 265, 295
28
Keimdrüsen-Hormone :
ehe 3
Kettenversuche Steinachs
Kind des Fremden .
Kinder der Witwe .
Kinderhaarkleid .
Kinderlosigkeit
Kinderpsychologie .
Kindersterblichkeit i
Kinderunterstützungen
Klimaminimum .
Klimaschwankungen .
Klitoris am Tod der Br
Knabe oder Mädchen i
Knabengeburten, Überwiegen ”
Knochenerweichung
Knochenkamm
Knochenwachstum . 3
und Muskelsystem,
. 73, 131, 297, 300
Vin
351
=. SIE, 322
: 103, 150, 176
ugendeniwickėlung 1 beim Men-
< 110, 388
: 130
‚11
. 210
. 241
73
Kastration 6, 27, 244, 248, 257, 266,
269, 284, 285, 309, 316, 320
. 148
. 176
. . 58, 61
- 244, 293
. 119
. 100
. 314
« 97
398
99, 240, 308
98
. 428
. 389
. 395
. ;28
. 111
. 358
. 90
, 200
. 396
, 294
” 309
9, 381
. 352
, 401
110
. 257
, 158
, 257
34, 428
. 436
. 179
. 149
149
Kolberger Magistratsbeschluß
über Eheschl aind von Ju-
gendlichen . . . . 122
Kolloidaler Vorgang aoa Daes aai
Kolloide 32, 34, 39, 69, 150, 35
Komponente, weibliche i
— männliche . . . a 335
Kongreß für Sexualreform .. 329
Konstitutionsanomalien . . . 319
Kontrektationstrieb 282, 297, 298,
302, 305
Konzeption . 14
Konzeptionsmöglichkeit Erwei-
terung
Kopfschmerzen . . . . . . 261
Kopulationsteile . . . . . „291
Krankheitsstoffe . . . . . . 174
Kräpelins Theorie . . . . . 335
Kretinismus . . . . . 209, 436
Kreuzung . . . 46, 374
Kreuzungsversuche . : . 330
Kriminalistik der Abtreibung . 113
Kristalle, flüssige . . 72
Kristalloide . . . |: 35, 323
Kropf . I
Krüppelhaftigkeit et,
Kryptorchismus . . A; 296, 315
Künstlerinnen . é . . 305
Kurzbeinige Personen. . . . 219
Kurzbefingrigkeit . . . . . 437
Kurzsichtigkeit . . . . . .436
Labfermentt . . . . . . . 151
Labia minora . . . . . . . 356
Ladungsbahnen . . . . : .299
Laktase . . . EEEN ET
Längenwachstum Br . 428
Langerhans’sche Insel . . 151, 213
Leben ein langsames Sterben . 324
Leben und Tod . . . . . „121
Lebensmittel, Verdauung der . 149
Lebensvorgang . . . .. . 68
Leber. . . . 151, 152, 203, 213
Lecitin . . 130
Legalisierung der Fruchtabtrei-
bung . 195
Legitimation unehelicher Kinder 395
Leistendrüsen . . . .» . 60
Leistenhoden . . . . . 315, 400
Leistungskern. . . . . . . 177
Leitungsorgane . . . . . . 291
Leukozyten . . . + 177
Leydig’sche Zellen 24, 217, 268, 273,
274, 289, 296
Libido 107, 204, 217, 221, 222, 297,
300, 306, 307
Liebesaberglauben ze . . 409
Liebesgebräuche, abergläubische 409
Liebeskommunismus . 111
Liebeskomplex . . . . . . 305
pn
Liebeskraft. . . . 298
Liebesleben der Minnedienstes 409
Liebestränke 5 à 138
Liebeszauber . 5 138, 351
Linin . . . aa OIO
Lininfäden . T
Lipoide . . . 69, 182, 183
Lipoide-Körner 20.247
Lipoide Pigmente 2.324
Lipoidstoffe a . 211, 212
v. Liszt’s Formulierung der Ab-
treibungsfrage . . . . . . 196
Littre’sche Drüsen à . 251
Lumbalmark 108
Lust des Kindes an den Vor-
gängen der Exkretion . : 2
Lustgefühl .
Luteinzellen 256, 273, 289
Lymphe . . .
Lymphdrüsen . Sr
Lruphogangiit eT NS AS
Lysine . . e 175, 181
Mädchen, öffentliche . . . . 135
Mädchen in den Wachstums-
jahren den Knaben voraus . 429
Mädchen, sexuell unerfahren . 300
Mädchenbesuche in Klubhäusern 111
Mädchenmord . . i “e 16,17
Magen- und Darmdrüsen 151, 2
Malaria .
Maltase . ? i51, 152
Mammae . . . . 259
Mandelentzündung 263
Mangelhafte ndung . Drüsen 436
Mann, verweiblichter . . 292
Mannbarkeit für Knaben. . 427
— Mädchen . . . . 427
a, bildende Samenzellen 247,
Männer und Frauenbrust 399
Männer, die als Frau empfinden >
Männer, heiratsfähige .
Männergesellschaft . -a
Männerstaat r 3.0226
Mannweibigkeit . . 293, 397
Märchen von der Widernatür-
lichkeit `
Marksubstanz . . 263
Martinstag . j . 78
Masken . š : 346, 351
Maskentänze . : . 346
Maskulinität A a . 110
Maskulierungsversuche . 312
Masochismus . å . 54
Masturbation . 83
Meerfrauen mit den Brüsten zu-
sammengebunden 347
Membran
. 38, 70, 96, 102
Membrana granulosa a 256
’
IX
Menarche š f ; on
Mendel’schen Regeln ; 46
Menschenaffen . š 153
Menstruation . 17, 22, 23 59, 84,
131, 245, 254, 255, 257, 300, 309,
313, 427, 429
Menstruationsbinde 84
Mesonephros . 239
Metabolismus . i 49
Metamorphotische Prozesse 71
Metanephros . 2.240
Mikaoperation . 371
Mikronen si SO
Mikrosomen . . . 98
Milchabsonderung 216, 258, 268
Milchdrüsen 204, 267, 429
Milz . . 204, 215
Minnedienst 111, 409, 411
Minnekleinod . ; . 412, 419
Minnepfänder . 2.412
Mischehen . . . 62
Mischung von Weißen und
Schwarzen . 2 “2
Mischzwergstämme .
Mißbilligung der unehel. Mütter 303
Mitom SN
Mitose . . m
Moltke-Harden-Prozeß . 266
Monogame Ehe . . 389
Monogame Veranlag. d. d. Mannes 276
Monogamie . 283, 305
Monogenese N daS
Monogyne Beziehungen š . 282
Monotheisums . 283
Moral, gessellschaftliche . 3, 5, 11,
218, 393
Moral als Reaktionsbildung . 223
Moral, sexuelle, eine trage des
Individuums = a993
Moralheuchelei 38)
Moralismus der Kaiserin Viktoria
Auguste . 125
Morgagnische H adite . . 252
Morpholog. Nachweis der Ho-
mosexualität i an
Moschus .
Müllerscher Gang 240, 4 24?, 243, 253
Mundspeicheldrüsen
Muskelermüdungen . $ : 208
Muskelkrämpfe . 213
Muskelsubstanz . . 69
Mutterinstinkt . 306
Mutterkorn . . 206
Mutterkuchen . . 258
Myosin sér a 09
Myxödem . 209, 436
Nächstenliebe . . 220
Nahrungsdotter . 100
Narkotica . 272
Narzissmus . . . 51, 221, 244
Naturphänomen der Liebe . . 331
Naturvölker . . 439
Nebeneierstock : 241, 2-3
Nebenfrau . Dne iE 387
Nebenhoden 239, 242, 248, 293
Nebenhodenanhang . . . . 152
Nebenmilz . 216
Nebennieren 210, 215, 257. 320, 436
Nebenpankreas ; 3 2
Nebenschilddrüsen . 22
Negativer Ausfall der Serumre-
aktion. . . et
Negroide Merkmale . . 349
Nekrobiose . . aate Tl
Namengebung der Tiere . . 82
Nervenleiden I ae 20
Nervensystem . . 245
Nervenzellen ar BD
Nervus sympathicus . 211, 214
Neumalthusianismus 164, 165
Neurocranium . o a a ISA
Niederkunft- Darstellung 2... 366
Nieren . . . . 203, 215, 239
Nordische Rasse . . + 216
Normalserum . . so #129
Normaltypus der Menschen . 435
Nukleus . . . . lt:
Nukleinstränge . . . . . . 98
Oberflächenspannung . . . . 36
Oberlippe, konvexe 220.354
Oberunterkörperindex . 337
Oleinsäure . . . . . . . . 102
Opsonine - » 2.2.2.2... ..177
Oktoronen . a a Sr l
Oogenese . . . . 241
Orangutan 156, 158, 180, 277, 378,
379
Orchis . 242
Ordnungspflicht der Hausfrau . 142
Organe des weiblichen Ge-
schlechtsapparats Leos
Organextrakt-Injektion 315
Organismen mit getrennten Ge-
schlechtern . >
Organsafteinspritzungen rel
Orgasmus . 13, 107, 108, 133, 135,
297, 307, 405, 406, 407
Osmose . . Se a ER
Osmotischer Druck . 34, 72
Ostium tubae . < -s 242
Ovarialextrakt . 2: Yu 10 258
Ovarium . 241, 253, 268, 311
Ovotestis 273, 293, 318
Ovulation . 254, 255
Palaeolithikum . -79
Palaeosinna s . 373
Palmsonntag . . . . 46
Pankreas 2 203, 213, 214
Pankreasdrüse . 151, 436
Paradidymis . 243, 252
Paraganglien . . . 214, 212
175 RSt.G. . 22.266
arallelismus zwischen Ge-
schlechtlichkeit und Gestalt . 335
Paranephroide . 203, 213
Paranoia š u 150228
Parathyreoidea ; . 213
Parenchymzellen. . . . . . 207
Parietalorgan . . 207
Parietalauge z S si raa OT
Paroophoron . . see. 37241
Partialismus, sexueller. . 48, 49
Passivität der Frau . . 303
Pathologische ESNS . . . 348
Penis . . + 428 ‚429
Penis cerebri . 2 20
Penisfutteral . 355
Feniasteiung; wagerechte . 352
Penisvergrößerung, Rezept zur 133
Pepsin . . . 150, ı51
Periode gemeinsamer Entwicke-
lung . . . IBI
Periodengesetz, Fließ’sches . . 84
Periodizität des Geschl. Lebens 310
Perversion . . ee 6
Pflichten, elterliche . . 395
Pflichten, häusliche der Hausfrau 142
Pfropfung 97, 399
Phagorzytose . » » . . . . 177
Phallus . o eo = . 372
Phallusdienst . . 359
Phineuswage . en a 5 008
Phosphorsäure 98, 102, 103
Pigmentkörner Eai TAAl
Pituitrin - . 2 22.2.2. 206
Placenta . 204, 216, 239, 245, 258
Plasma... -:-12 ..0 Swen O
Plastin - : » 2 2 22.2...
Pocken . . Er)
Polarvölker, sibirische . . . 382
Polyandrie . 64, 92, 281, 282
Polygamie . 63, 64, 278, 282
Polygenismus . . Da STI
Polyglanduläres System . 319
Polypeptide . & #97
Polyphyletische Abstammung 160
Positiver Ausfall der Serum-
reaktion . . . ee eAB2
Postmenstruationszeit . - . 255
Potenzprüfung des Mannes . . 144
Praemenstruationszeit. -. . . -55
Präventivverkehr . . . : . 9
Präzipitat ws & +2 30-9
Präcipitine . . . . . 176, 179
Primärfollikel . 253, 254
Primordiafollikeln . 254
Processus pyramidalis . 208
Promiskuität . - . . 277, 278
XI
Pronephros . . 239 Recht der Frau auf Kinder . . 394
Prostata . "203, 239, 249, 292 Reform der Ehe . 387
Prostatadrüsen . 251 Regression der Triebentwicke-
Prostataneurasthenie . . . . 87 lung Dg . 217
Prostatasteine 2 a Reife, geschlechtliche . 84, 427
Prostituierte . Reifezustand des Keimes . 403
Prostitution . Sn 177, 281, 388, 300 Reifung des Eies 2. .257
Protramia . š , 102 Reifungsprozeß 102, 247. 253
Proteal . . ion a .. +10 Reinigung monatliche . . . . 131
Proteine . . .-. . . . . 96 Reinkesche Kristalle . 247
Proteinsubstanz . . . . 249 Reizserum . . . I . 261
Protisteen -. . . . . . . . 72 Reizstoffe . . er 245, 424
Protoplasma š , 453 Reizung der Brusthaut . . 285
Prozesse, krankhafte 325 Resorption der Lebensmittel . 149
Pseudohermaphroditen . . 292 Retentionshypothese . . . . 177
Pseudo-homosexuelle Betäti- Rezepte, erotische . . . . . 133
gung . . 295 Rezeptoren. 177, 178, 179
Psyche der ‘Menschenaffen . . 156 Riesenwuchs . . . à 206, 320
Psyche, sexuelle . . 335 Rinderserum . Š . 179
Psychoanalyse 33, 217, 331 Ring als Liebespfand .. . . 44
Psychogenese . . . 226 Röntgenstrahlen . 8, 269, 272, 399
Psychologie des Junggeseilen . 168 Roentgenisierung d. Keimdrüsen 315
Psychoneurosen . . . . 217 Rückfallfieber. . . . . . . 182
Psychopathia sexualis. . . . 331 Rückgang an Energie . . . . 324
ESS SHOPAR, Konstitution ; 2 Russische Auffassung der Ehe 394
tyalin . . . ; An |
Pubertas praecox . . . . . 212 Sadismus è x aa
Pubertät. . . 215, 243, 309, 436 Sagenforschung . . 358, 359
Pubertätsdrüse 6, 8, 27, 203, 207, Sakralmark . ...105
216, 247, 256, 258, ‚265, 268, 270, Salpingectomie 2.0. 454
272, 286, 300, 313, 316, 317, 428 Salvarsan 183, 261
Pubertätsdrüsenextrakt 2 316 Samenbildung . . . . 243, 246
Pubertätsdrüsenfunktion . . 316 Samenblasen . 203, 239, 241, 243,
Puritanismus . EE 248, 428
Pygmäen . . . . 348, 380, 381 Samenentwickelung. . . . . 241
Pygmäenskelette in Europa. . 348 Samenfädchen . . 44, 100
Pyrinin DE . . 98 Samenkörperchen 2.90
Samenleiter . 243, 250
Quadronen AE Samenmutterzellen . . 246
Quecksilber . . Samenzellen . . . . . 398
Quellungserscheinungen 39, 69, 97. Schädelkapazität . . . . 155, 380
101, , 324 Schädigung durch Verlust der
Fleischnahrung . . 164
Pachindach-Hypophyae . . -204 Schädigung der Zelle durch
Rachitis . . . 208 Stoffwechselprodukte nah
Radilen . . . . . . . . 72 Schamgefühl Fee 50, 218
Radiumstrahlen . . . . 176 Schanker, weicher . . 261
Rassenhygiene . . . . . 41 Scharlach . . .. . . . .182
Rassenmischung . ; 374, 381 Scheide . z o an ai Aa
Rassezucht . . . . 432 Scheide, männliche . à 23, =
Rattenversuche 8, 9, 27, 326 Scheinmoral ts
Raubehe . . . 58 Scheinzwitter .
Reaktion zwischen Mensch und Schilddrüse 203, 208, 215, 320, 322
anthropoiden Affen . . . . 180 334, 427, 436
Reaktionsbildungen . ; 219, 220 Schimpansen . 156, 157, 159, 180,
Recht auf die Frucht im Mutter- 377, 379
leib . . 201 Schlafstörungen . . . . . . 157
Recht auf geschlechtlichen Ver- Schlangengift . . . . . . . Me
kehr in Rußland . . . . . 394 Schleim, belebter . . . . . 97
Recht, Frau zu werden . . . 395 Schleimiges Sekret. . . . . 251
Schleimdrüsen . 259
Schmalnasen . 180
Schmerzgefühll . . . . 405
Schönheit des Weibes . . . 169
Schöpfung der Frau, indisch . 169
Schulterhüftindex u o gor ai
Schutz des Lebens . . 231
Schutzmittel für den geschlecht:
lichen Verkehr ; . 199
Schwabenspiegel . . 112
Schwangerschaft 141, 209, 257, 258
Schwangerschaft in Indien . . 140
Schwangerschaftsreaktion 177
Schwängerung eines Mannes . 142
Schwängerung durch Weih-
wasser . . ; . 142
Schweißausbrüche 25
Schwirrholz . . Se ee
Schwund des Hoden ee
Seelenunterschiede der Ir
schlechter . 2 . 160
Sehens, Ausbildung des . . 119
Sehnen und Drängen des Mäd-
chens . . . . 301
Sehstörungen bei Syphilis . 261
Seitenketten . . 177, 181
Sekrete von Hoden und Eier-
stöcken . . . 286
Sekreterguß, täglicher in den
Darm . . . 150
Sekretion, Aeußere 146, 147, 148,
150, 151, 152,
Sekretion, Innere . . . 146, 148
Selbstbefriedigungsinstrument . 350
Selbsterhaltungstrieb . 217
Selbstmord 5 . 231
Selektion, sexuelle f . 48
Sertolische Zellen . 246
Sexualanamnese . . . 301
Sexual-Anästhesie des Weibes 304
Sexualempfindung, konträre . 294
Sexualforschung . i g ro
Sexualhormone . 256
Sexualkonstitutionen . . 319
Sexualorgane, anomale Bil-
dungen 5 2 . 437
Sexualpartialismus dor 51
Sexualperiodizität des Weibes 311
Sexualreizung, äußere . . 298
Sexualtrieb. . . . 217, 297, 301
Sexualverdrängung . . . 329, 331
Sexualwissenschaft . . . 265, 385
Sexuelle Bipotenz Naa i5
Sezernierende Zellen . 248
Sinnlichkeit . 164
Sinnlichkeit des weiblichen Ge-
schlechts . 2.304
Sinus prostaticus . . . 243, 252
Sinus urogenitalis masc. . . 250
Sivapithecus A 378
XII
Skene’sche Drüsen. . . . . 259
Sklaverei . . 2: 208 y 2a
Sonntagsheiligung sukoi w a B
Sozialisten . . Sn. 5.2. = 188
Soziologie . . aea ha Sa a a2
Spalte, weibliche . . . . 291
Spannung, geschlechtliche . . 309
Spätkastration . . . . 244
Speichel. . 6 191
Speichel bei Uebertragung í des
Syphilis à
Speicheldrüsen . . . . 21
Spermabildung nach indischer
Meinung
Spermageruch . . . . . . 249
Spermakristale . . . . . . 252
Spermatocyten . . . . . . 246
Spermatogenese . . . . . . 241
Spermatogonien . . . . . . 246
Spermatozoen. . . . . .. 99
Sperminkristalle . . . . . . 249
Spirochaeten . . . . . 183, 261
Splanchnocranium . . . . . 157
Sprachen der Menschheit . . 382
Stamm-Mutter . . . . . . 344
Standesamt . . . . . . . 387
Standesehe . . -439
Stärke des Tieres auf Kind über-
tragen . . 363
Stärke des Geschlechtstriebs . 407
Statistik über Salvarsanwirkung >
Status thymicus . .
Status thymo-Iymphaticus à 208
Steagsin.. . . ; 151
Steatopygie . 341, 343, 346, 356
Steigerung des Blutdrucks . . 250
Steigerung der Lebensnot-
wendigkeiten . . . . . . 163
Steinach- Operationen, Folgen
der . - 8,
Steinach’s Theorie, Gegner . 318
en -Hirschfeld’sche Lehre 266,
26
Steinwerkzeuge . . . . . . 338
Steißdrüse . . . Re unaia
Stellung einer Ehefrau . . . 395
Stellung der öffentl. Mädchen . 135
Stellung des Weibes bei Coitus 365
Sterblichkeit . . . 163, 391, 392
Sterilisation . . . 433, 434, 438
Sterilitätt . . sea 72.316
Stillstand der Samenbildung . 213
Stoffaustausch . . . 38
Stoffwechsel . . I 68, 257
Stoffwechselprodukte I
Storchenmärchen . . 83
Störungdes Geschlechtsapparats 244
Störung des Wachstums . 213
Strafunrecht . . . . 228
Strahlungsbildung der Zelle . 101
XIH
Strahlungsfiguren . . . . . 101
Streichen - » . 22.2... 3
Streptokokken . . . . . . 261
Stroma ovarii. . Toe > 203
Struma aberrans penis . 320
Stuhlentleerung . . . . . . 84
Substanz, lebende . . . . . 68
Sulfate u. s Ss Mara ra A
Suprarenin. » . 2.2.0. 0.211
Suspension . . ..... 3I
Sylvesternacht . . . . . . 82.
Symbolismus . . . 2. 49
Synergetische Drüsen . . 319
Synergetische Substanz . . 250
Syphilis . . . . 88, 89, 263, 437
Syphiliserreger oe are ve aO
Syphilisschutzmittel 86
Syphilitischer Krankheitsprozeß 183
Tastempfindungen . . . . . 51
Taubheit ae D 8 439
Taylor-System . . . . . 235
Tomang. 5 . 48
Teilung der elle . 100
Teilungsmöglichkeit . 323
Temperamente . . 333
Tendenz die Mutter zu besitzen 225
Tendenz, den Vater zu beseitigen 225
Terminalhaarkleid #7 sr. 2124,25
Testiculus rer 23.242
Testis . 242
Tetanie . . 213
Tethelin . 2202. 206
Theca folliculi ee
Theca-Luteinzellen . 254, 255, 256
Thorax asthenicus . . . . . 435
Thymischer Fettkörper 206
Thymoglandol . . . . . . 208
Thymus . 208, 216, 257, 320
Thymusdrüse . 203, 215, 216, 334
Thyreoidin . ee en, BRAD
Thyreoglobulin . . . . . . 209
Tochter, Geburt der . . . . 16
Tochterkerne . . . . . . . 101
Tod .. . . . . 71, 323, 325
Todesanzeige . . 167
Tonus der Gefäßmuskulatur . 211
Totem und Tabu . . . 224, 225
Totemismus . . 2. . . . . 361
Totenstarre . . ..... 1
Totenzeremonien . . . . . 35l
Toxine . . . . . 149, 174
Toxophore Gruppe . . 179, 182
Transplantation . . . . 245, 269
Transplantation von in und
Eierstock S s p a 205
Transvestitismus. . . . 51, 294
Treubruch . . uf 393
Treue, eheliche . 393
Trieb nach sozialer Erhöhung . 188
Trieb zum Herrschen . . 390
— zum Teilen . . 390
Trieb zur Mutterschaft . 297
Triebbahnen . 3 . 298
Triebentspannung . 299
Triebhemmung . . . . 209
Triebleben . 217, 399, 426
Triebrichtung . 299, 335, 426
Triebstärke . 299
Tripper . . » . 86, ‘87, 261, 437
Trippererreger im Blut . . 8.
Tripperfolgen . . . . . . . 86
Tripperschutzmittel ` S. c wia BO
Trocnautegtpone Ei
Tuben Zr . . . 255, 258
Tuberkulose 182, 272, 435, 437
Tuberkulose der Mütter. . . 185
Tuberkulose der Nebenniere . 211
Tuberkulose aa ee
trieb . . . 85
Tubuli . . KUN ORA 146
Tumescenztrieb . : 298, 310
Tunica albuginea . 246, 253
Tunica interna et eatem . 254
Typhus . .... . . 182
Uebergabe des Mädchens . . 92
Ueberlassung der Frau an den
Gat ay. ., «Re. ya 172
Uebertritt in das Haus des
Gatten . » 22.202.018
Ultramikroskop |
Umklammerungstrieb . . 284
Unbewußtes Seelenleben . 217
Uneheliche Geburten 65, 66, 67, 392
ee ven Ser 432, 437
Ungeziefer . . . ER
Unizeptoren ee re aO
Unreinheit . . 23, 132
Unsterblichkeit der Einzeller . 322
Unterentwickelung der vag
lien. . a . 320
Unterkieferwinkel ee w. a ia
Unterricht der Mädchen . . . 18
Unterschied in der Körperbe-
haarung . . . . 429
Untersuchung vor der ‘Ehe . . 432
Unverheiratete . . . . . . 392
Uranismus . . 335
Urbewohner der Philippinen . 381
Ureter . . . 240
Urgeschichte der Ehe. . . . 277
Urgeschichte der Moral . . . 224
Urheimat der Menschen . . 278
Urinieren nach der Beiwohnung 86
Urnieren . . 2... .. 239, 241
Urnierenfalte . 2.240
Urnierengang . . 240
Urnische Neigun ng . . 2906
Ursachen der Immunität . . . 177
XIV
Ursamenzellen F . . 246
Ursprung der bildenden Kunst 372
Ursprung der Menschen . . 377
Uterus . .. . 242, 258, 428
Uterus-Contraktionen . 259
Utriculus prostaticus 25, 243
Vagina . 12, 242
Vagina masculina . 243, 252
Vaginaverengung .. 13
Vaginaerweiterung . . . . . 133
Vakuolen . . ... 9
Variante, intersexuelle . 317, 318
Variationsbedürfnis, geschlecht-
liches . . 277,
Variationsbereich . 435
Vasectomie 5 . 434
Vasodilatatorenzentrum . . . 105
Vatermord . . s a a ZRO
Vegetabilische Ernährung 163
Venerische PUTENSERERRNE der
Insel Jap . G .1
Venus von Brassempouy 341, 342
Venus von Willendorf. . 342, 343
Verantwortlichkeit des Arztes . 195
Verbesserung der Erbanlagen . 431
Verbie egung der DIAROUACREIIE*
wan . 43
Verblendung, religiöse . . 438
Verblödung. . . i 209, 322
Verdauungsapparat . . 323
Vereinigung, fleischliche . . 297
Verengung der Biut efäße . . 211
Vererbung . , 102, 103, 104
Vererbungskraft . $ 44
Vererbungssubstanz ` 44, 47
Verfolgungswahn 3
Verfügungsgewalt . . . . . 231
Vergiftungserscheinungen 325
Verhältnis zwischen Ober- und
Unterkörper . .
Verhältnis der Schulterbreite ass
zur Hüftbreite .
Verheiratung . . . . . . . 57
Verhungern . . 7ı
Verjüngung . 245, 269, 321, an
Verjüngungsgedanken ;
Verkalkung . . et KA
Verknöcherung . . 216
Verlangen nach fleischlicher
Vereinigung Sg :
Verlangen nach Kindern . . 298
Verlängerung der kleinen Ge-
schlechtslippen . . 457
Vermännlichung . . 328
Vermehrung des Bindegewebes
in den Drüsen ‚ 32
Verminderung der unehelichen
Kinder F A
Vernachlässigung der Erziehung
der Kinder . . . . 395
Verpflanzung der Keimdrüsen . 6
Verschleierung der Frau. . . 170
Vertauschung von männlichem
und weiblichen Charakter . 393
Verweiblichung 2. 286
Vesiculae seminales . 243, 248
Vielehe . . . en ee
Viriler Typus . . an el
Vitellin . . . rear art
Volksvermehrung” A fa ee iR
Vollidioten . . . . 189
Vorbereitung der Gebärmutter 258
Vorbote des Todes . . . 326
Vorhaut . . PA)
Vorkern, weiblicher . 254
Vornieren ; . 239
Vorsteherdrüse . 428
Vorstellungsbahn . . 298
Vorwassermann’sche Stadium . 183
Valva s o a 22.20.02. 342, 372
Wachstum des Körpers . 215
Wachstumdrüsen . . 148
Wahnideen, menschheitsbe-
glückerische rar . 434
Wahrnehmungsbahn . 298
Walpurgisnacht . . . 78
Wasserausscheidung im Harn . 209
Wassergehalt eine menschliche
Frucht . . . 70
Wassermann’ sches Aggregat . 182
Wassermann’sche RENo} 182, 260
Wechseljahre . . . ; . 311
Wechseln des Hemdes ...412
Wechselseitige Wirkung der Drü-
sen mit innerer Sekretion . 215
Wegfall d. Abtreibungsvorschrift 232
Weglassen der Geschlechtsteile 349
Wegnahme der Sraa . 209
Wehen . . . . . 206, 216
Weib als Gattin . . 139
Weib als Geschlechtswesen . 340
Weib Gemeingut der Männer . 279
Weib der Inbegriff des Schlechten 171
Weib als Kriegsbeute . . . . 172
Weibchen bildende Samen-
fädchen ; . 247, 254
Weiber mit männlichem Keim-
organ . Se Ah . 399
Weibmänner , 327, 401
Weise Frauen . 232
Werdende Mutter . . 202
Wiederverheiratung . . . . 144
Wilde Weiber > ; 423
Wimpern RE '24, >, Rn
Winterschlafende Tiere
Wintersonnenwende . . - - a
XVI
Wirkung der amerikanischen
REIES, . . 434
Witwe 44, 392, 395
Witwenverbrennung . . 145
Wochenbett 3 . 210
Wöchnerin . . . . .142
Wolff’scher Gan 240, 241, 243
Wollustgefühl 13, 14, , 297, 406, 407
Wollustkraft . . SA a a 2O
Wollustorgane š . 107
Wuchs, zwerghafter . 380
X-Chromosonen . 104
Y-Chromosonen . 104
Zahnfunde von Schansi . 382
Zauberhöhlen . . ž . 372
Zauber der Niederkunft . 362
Zauber, der die Weiber zu ge-
schlechtlichen Verkehr Den
mache .
Zauber, sich reichlichen Geschl.-
Verkehr zu sichern . .
Zaubergestalt . . . . . . . 361
Zauberknochen . 352
Zauberstäbe ee |
Zauberzeremonie . . . . . 361
Zellhaut . SAN Fr E00
Zellkern . : %, AR 103
Zellteilung . 103
Zentraldrang . : 2.298
Zentralnervensystem . 325, 326
Zentrifugale Ausdrucksbahn . 298
Zentriolen . . . 99
Zentripetale Eindrucksbahn . . 298
Zentriplasma . i i 99
Zentrosoma 5 99, 103
Zentrum, genito spinales . 105, 109
Zeremonie der Wassertotem . 361
Zerrüttung der Ehe . . 393
Zerschneidung der Samenleiter 434
Zerschneidung der Eileiter . . 433
Zeugungshelfer . Sioda. 9k
Ziegengeschlechtsdrüsen . . . 8
Zipperlein . Sus 83
Zippeldrüse 203, i, 207, ee
Zisvestitismus ns
Zona pellucida . . 190
Zuchtwahl, künstliche 431, 435, 439
Zuckerausscheidun à . 211
Zuckerkrankheit . i 151, 213
Zuckerspaltung . . . . 151,
Zurückbleiben, geistiges . .
Zurückdrängung d. Geschlechts-
triebs . .
Zusammenhang vonBeiwohnung
und Befruchtung . . `
zu neose i bei ai
weikindersystem bei en
Zwerge 216, 34 Eho
Zwergenwuchs
Zwergrassen
Zwillinge :
Zwischengewebe
152
. 348, 355
6, 148, 398, "309
EIEEDENEEERST IL UCHENUNE . 312,
1
Zwischenglieder . . . . . 377
Zwischenstufentheorie . 270, =
Zwischensubstanz
Zwischenzellen 247, 285, 300, 3%
400, 428
290, 293, 397, 400
Zwitterdrüse 493
Zwittrige Geschlechtsanlage . . 401
Zin igoa Pubertätsdrüse 269, "271,
Zwitter
Zwölf Nächte... 2»... 75
Zylinderepithel . . . 248
Zymogene . 3 5,0 MO
Zymophore Gruppe ee 9
Zymotoxische Gruppe . 182
SI
II. TEXTÜBERSCHRIFTFN.
Buschan Dr. G., DasRutenschla-
gen ein Fruchtbarkeitszauber.
Mit Abbildungen . . . 73
Classen, K, Die mehrstämmige
Ableitung des Menschenge-
schlechts und ihre Bedeutung
fürd.Völkerkunde. MitAbbild. 377
Eckstein, Dr. E., Bevölkerungs-
politik und Eherechtsreform 391
Fehlinger, H., Persönliche Fort-
pflanzungshy. iene . 83
Fehlinger, H., esellschaftliche
Fortpflanzungspflege ak
Friedenthal, Geschlechts-
alian am Haarkleid der
Menschen. Mit Abbild. . . 24
Friedländer, Dr. K., Ueber den
Begriff derImpotenz d. Weibes 105
Friedländer, Dr. Kurt, Der Ge-
schlechtstrieb des Weibes . 297
Fritsch, Zur Reform der Ehe . 384
Goldmann, Dr, O., Gibt es noch
eine Rettung? . 199
Guenther, Dr.K., Die Bedeutung
der Vererbungslehre für das
Volk are tr ar Al
Heyn, Dr. A., Studien zur Physio-
logie des Geschlechtslebens
der Frau. . . 11, 405
Hirschfeld, Dr. M., Uebersexuelle
Teilanziehung i 48
Hirschfeld, Magn , Diel. internat.
Tagung für Sexualreform auf
sexual-wissenschaftl. Grund-
lage .
Kafemann, Prof.Dr. ‚Gesetzliche
Freigabe der freiw. künstlichen
Frühgeburt . 112, 161, 185, 233
Kammerer, Dr. P., Altern und
Verjüngen ee a ra
P., Die Ge-
Kammerer, Dr.
schlechter .
Kronfeld, Dr. Arth. „Kurze Ueber-
sicht über d. Pubertätsdrüsen-
Frage . . 311
Külz, Dr. L., Aus dem Liebes-
und Gesellschaftsleben der
. 329
397
aussterbenden Karoliner. Mit
4 Tafeln. . 109
Külz, Prof. Dr. E; Statistik des
Bevölkerungsaufbaues und
der Bevölkerungsbewegung
der Karolineninsel Jap . 173
Meyenberg, Dr. Albr., Wie tritt
Syphilis auf? s . . 260
Nuller-Brannschveig: Dr. C,
Psychoanalyse und Moral . 217
Prange, Fr, Die konstitutionelle
Basis der Homosexualität.
Mit Abbild. . . 295
Reitzenstein, F. v., Geleitworte
zur Neuen Folge .
Reitzenstein, F. v., Zum Ver-
ständnis der inneren Sekretion
und der Verjüngung. Mit
Abbildungen. 32, 68, 96, 146, 174,
203, 239, 284, 321
Reitzenstein, F. v., Die ältesten
sexuellen Darstellungen der
Menschheit. Mit Abbild . . 338
Reitzenstein, F. v., Einflüsse des
Minnedienstes auf diedeutsche
Heraldik. Mit Abbild... . . 409
Schmidt, Dr. R., Das Weib im
altindischen Epos. Mit Ab-
bildungen . 15, 57, 92, 130, 169
Schneickert, Dr. Hans, Die be-
strittene monogame Veran-
lagung des Mannes . .
Sokolowsky, Dr. A., Geschlechts-
und Altersunterschiede bei
Menschenaffen. Mit Abbild. 163
Weil, Dr. Arth., Geschlecht und
Gestalt . . . 333
Weil, Dr. A., Der Einfluß des
Keimes auf die Geschlechts-
differenzierung . . 426
Werthauer, Dr. J., Die Abtreibung 228
Wirth, A., Kreuzung und Bastar-
276
dierung È 373
Würzburger, Dr. E., Richtige und
falsche Folgerung aus der Ge-
burtenstatistik . . . . . . 65
A
Druck von G. Reichardt, Groitzsch (Bezirk Leipzig).
Geschlecht und Gesellschaft
Neue Folge X 1
.
Erwachsene reichbehaarte Europäerin. 32 Jahre alt.
Die Abbildung zeigt das Kinderhaarkleid der erwachsenen Frau. Die
Schambergbehaarung gleicht der beim Jüngling. Die Augenbrauen sind
für eine Frau stark entwickelt. In der Achselhöhle und am Schamberg
finden sich häufige Zweiergruppen starker Haare. Die reiche und lange
Kopfbehaarung bildet einen wärmenden Mantel.
(Nach Friedenthal: Das Dauerhaarkleid des Menschen.)
(Zu dem Aufsatz: Friedenthal Geschlechtsunterschiede S. 18.)
GELEITWORTE ZUR NEUEN FOLGE.
Vom Herausgeber
FERD. FRHR. VON REITZENSTEIN, Dresden.
s war am 17. Februar 1600, da loderte auf dem Campo di
Fiore zu Rom ein greller Feuerschein auf. Ein Scheiter-
haufen war es, einer von den vielen, die der Wahrheit die
Stille der Todesnacht bescheren sollten. Denn auf dem Scheiter-
haufen brannten die sterblichen Reste eines Mannes, eines
Jüngers der Wahrheit, Giordano Brunos. Der weltliche Arm
hatte den Wunsch der Kirche erfüllt, die Großen des Landes
nickten .beifällig und das Volk freute sich. Was war das todes-
würdige Verbrechen? Bruno hatte die Lehre des Kopernikus
verteidigt, weiten Massen gelehrt, daß sich die Erde um die
Sonne bewege. Damit war es unwahr, was in der Bibel steht:
„Sonne.stehe still zu Gibeon und Mond im Thale Ajalon“,
(Jos. 10, 12) und unrichtig, wenn Luther von Kopernikus sagte:
„Der Narr will die ganze Kunst Astronomia umkehren, aber die
hl. Schrift sagt uns, daß Josua die Sonne still stehen hieß und
nicht die Erde“. — Und mit dem Machtspruche wollte mans
beweisen. Neun Jahre rauschten über die Asche des gemordeten
Zeugen der Wahrheit dahin, da war es der Himmel selbst, der
durch den ewig stillen, aber unabänderlichen Mund der Sterne
Einspruch erhob, gegen die finsteren Taten der Dunkelmänner.
Galilei hielt das erste Fernrohr hinauf zum dunklen Himmels-
gewölbe und die Sterne antworteten die unabänderliche Wahr-
heit: Jupiter zeigte seine Monde und die Venus ihre Sichel-
gestalt! Das war der lapidare Beweis für die Richtigkeit. der
neuen Lehre. Trotzdem rettete Galilei vor der Wut der Kirche
aur ein Zufall. Am 22. Juni 1633 mußte aber der Größten
der Menschen einer im Inquisitionsgebäude niederknien und
abschwören, daß die Erde sich um die Sonne bewegt! Man
zwang ihn zum falschen Eide — denn sie bewegtesich doch!
Warum wir das sagten? Weil dieser Kampf gegen die
Wahrheit, wenn sie gewissen Kreisen unbequem ist, noch heute
1
2 v. Reitzenstein: Geleitworte
unvermindert fortdauert. Freilich wirkliche Scheiterhaufen
flammen nicht mehr, um so mehr aber die geistigen! Ohne
eigentlich zu wissen warum, schleppt man eine veralterte Moral
weiter, zwingt sie der Menschheit auf, die sie nicht will und
nicht verträgt. Man vergewaltigt die Natur, achtet nicht der
furchtbarsten Geisel der Erdenbewohner, der Geschlechts-
krankheiten, ja man bekämpft die Krone der Schöpfung den
Menschen, wenn er in seiner wahren Gestalt dargestellt wird
und bezeichnet jede Erörterung seines Werdeganges als un-
sittlich! Und doch vermag keiner der Eiferer jemals einen
wahren Grund dafür aus den Naturgesetzen abzuleiten. Niemals
wurde ein Mensch in Kleidern geboren, niemals gelang es einem
Menschen anders Dasein zu verleihen, als auf dem Wege der
Zeugung, der Vereinigung der beiden Geschlechter. Das sind
unabänderliche Gesetze und niemals waren und können un-
abänderliche Gesetze der unvergänglichen Natur für den ver-
gänglichen Menschen schlecht sein. Man will Kinder, man will
Gesundheit, Wahrheit, Schönheit, Ehre, aber man will verbieten,
dazu zu erziehen! Das Volk soll nichts hören über das Gebiet
des Geschlechtslebens! Noch knüpft der Mutter liebevolle Hand
die ersten Blüten in den Lebensfaden des Kindes, noch streut
das Mädchen glühende Rosen auf den Pfad des Jünglings und
bedauernswert ist der, der sie niemals fand, noch schwebt es
durch die Träume seiner Jugend, noch ist die Liebe die ge-
waltigste Fessel, die Herz und Körper bindet, ein Zauberland,
das niemals betreten zu haben, der bedauerlichste Verlust des
Lebens ist, eine Heimat, die wie keine andere Schutz und Ruhe
dem Kinde, dem Pfande der Ehe spendet, ein Füllhorn, das
Schönheit, Jugendträume, Reinheit und Ehre über die ersten
Jahre ausgießt! Und darüber soll man nicht sprechen? Die
Kunst soll das Werk des Schneiders verherrlichen, das Werk
der Natur aber, das den wahren Künstler am meisten begeistern
muß, soll er verachten lernen? Nichts reizt mehr als die ver-
botene Frucht. Glaubt man wirklich, daß man die Geschlechts-
krankheiten bekämpfen kann, wenn man den Reiz des Ver-
botenen über das Geschlechtsleben breitet? Man verleumdet
das Volk, wenn man behauptet, es dränge sich zum Wissen
über den Werdegang des Menschen nur aus unreinen Motiven!
Oft denkt das Volk edler als der Salonmensch und kann es
nicht begreifen, weshalb seine eigne Entstehung geräde un-
v. Reitzenstein: Geleitworte 3
sauber sein soll! Weshalb wollen wir denn durchaus aus dem
Schmutze geboren sein? Jahrhunderte predigt die heutige
Moral mit verhülltem Gesichte ihre Gesetze, die Großen des
Landes stehen als Wächter und das Volk hört die Predigt.
Aber die Kraft der Jugend durchbricht immerwährend die
Schranken und wird es tun, so lange es eine gesunde Jugend
gibt, sieht sie doch noch dazu täglich, daß die Wächter, wenn
sie sich unbeobachtet glauben, selbst der verschleierten Predigt
spotten! Nicht in der Zurückdrängung, sondern in der Reinigung
der Geschlechtssphäre liegt das Ziel. Was man in die Winkel
drängt, lernt von selbst das Licht schauen und im Zwielichte
gedeihen die giftigen Pilze. Man muß über geschlechtliche
Dinge ebenso ruhig und rein sprechen können, wie über andere
Naturerscheinungen. Unser Moralkodex muß geändert werden.
Überall wurden Gesetze und Grundlagen des modernen Staats-
lebens neuzeitlicher Empirik entsprechend ausgestaltet — nur
das Gebiet des Sexuallebens erfuhr nichts davon. Wir be-
strafen oft Dinge, die nicht einen Funken des Schlechten ent-
halten, ja wir bestrafen sie schwerer als manche der ehrlosesten
und gemeingefährlichsten Handlungen, wir haben Moralgesetze
‘in unserem Strafkodex, von denen die ersten juristischen
Autoritäten selbst sagen, daß sie sinnlos sind. Wir haben sie
noch, weil wir diese vergilbte Moral nicht mit Logik und Ver-
nunft, sondern nur mit Gewalt stützen können. Aber warum
schützen wir sie, sie, die wie ein verschleierter Dämon unter
uns sitzt und uns Geschlechtskrankheiten, unglückliche Ehen,
Unehrenhaftigkeit und Verbrechen beschert? Niemand weiß
es, und doch — jeder sagt: Das Geschlechtsleben muß in
andere Bahnen gelenkt werden! Aber eine Ironie ist es, zäher
wie keine: Wer es versucht, wird gerade am schärfsten von
den Kreisen angefallen, die ihm zuerst folgen sollten. Sie
ziehen sich zurück, sie verleumden und beschimpfen ihn und
nur zu oft gehen sie dann hin und beweisen durch ihre Hand-
lungen das Gegenteil von dem, das sie eben gepredigt haben.
Sie schaffen selbst den Stoff zu jenen Romanen, die, wenn sie
erschienen sind, von ihren Vorbildern nicht nur verleugnet,
sondern als Schundliteratur bezeichnet werden! Oft allerdings
mit Recht. Aber ebenso oft gesellt sich zur ersten Ironie die zweite:
in ihrem Heim lesen sie diese Schundliteratur, diesen Spiegel
ihrer eignen Taten mit Vorliebe! Und dazu übertreffen sie sich
1*
4 v. Reitzenstein: Geleitworte
selbst, wenn sie verlangen, daß jede Aufklärung weiterer
Kreise unterbleiben muß, sie gründen manchmal sogar Vereine
zur Hebung der Sittlichkeit im Volke! Wäre es nicht
besser, in redlicher Arbeit die Spreu vom Weizen zu trennen?
Sollten wir nicht weiter kommen, wenn man Natur Natur
sein läßt, wenn man das schöne Nackte, wo es sich un-
gezwungen zeigt, schön sein läßt, wenn man das normale
Geschlechtsleben und schließlich sogar ein Stück gesunder
Erotik dem Volke läßt, um ihm dafür das Krankhafte zu nehmen?
Vor allem aber, wenn man es durch Belehrung gewöhnt, im
Geschlechtlichen das Natürliche zu sehen und ihm so den Reiz
nimmt? Jahrhunderte hat die alte Moral geherrscht und nichts,
rein nichts, erreicht. Ist das nicht ein Beweis, daß sie falsch
ist; haben wir sie nicht bereits an ihren Früchten erkannt?
Wollen wir es. nicht nach diesem armseligen Zusammenbruch
versuchen, anstatt mit Prüderie, Heuchelei und Unwahrheit zu
arbeiten, einmal mit Natürlichkeit, Wahrheit, Offenheit, Schönheit
und Ehre ein neues. Zeitalter mit neuen Gesetzen vorzubereiten?
Das aber will eine der jüngsten Wissenschaften, die Sexual-
wissenschaft. Baut ihr keine Scheiterhaufen, verurteilt sie nicht
zur Grabesruhe, denn einmal möchte euch gellend in die Ohren °
tönen: Und sie bewegt sich doch!
Unsere Zeitschrift will das, sie will mit Freimut, ohne
Prüderie aber auch ohne Pikanterie vom Werden und Sein des
Einzelnen und der Gesellschaft sprechen und dabei das Ge-
schlechtliche, als die Grundlage alles Seins und alles Werdens,
als rein natürlich betrachten und ihm so dem gleichen Platz
einräumen. Schön hat diesen Gedanken einmal Iwan Bloch in
die Worte gekleidet: „Ausschließlich im Dienste der Wahrheit
wollen wir vorurteilsios und voraussetzungslos Wissenschaft
treiben, niemandem zu Liebe und niemandem zu Leide“, und wollen
dahin streben, daß die Worte, die Bethmann-Hollweg 1907 im
preußischen Abgeordnetenhaus moralistischen Vorrednern gegen-
über äußerte, recht bald Wahrheit werden. Er sagte vom Ge-
schlechtstrieb, daß er die „Lebenskraft sei, der wir nicht nur
das Böse, sondern auch im letzten Grunde das Dasein verdanken,
folglich Leben, Lust und auch das Gute und Edle, das wir
schaffen“ und kam zu dem folgenschweren Schluß, daß die
Behandlung solcher praktischer Fragen der Sexualhygiene be-
stimmten Spezialisten obliegen müsse, die sich mit „Kopf und
Kammerer: Altern und Verjüngen 5
Herz“ mit der Sache beschäftigen und auch bei der neuen
Formulierung des Strafgesetzbuches zugezogen werden müßten.
So ergibt sich von selbst das Arbeitsgebiet der Sexualwissen-
schaft und damit das unserer Zeitschrift. Alle jene Wissen-
schaften, die zu ihrer Förderung nötig sind, begrenzen es, keine
hat vor der anderen etwas voraus, alle sind sie gleichberechtigte
Geschwister. Weder der Jurist noch der Mediziner noch ein
anderer kann allein entscheiden, denn Biologie, Physiologie,
Psychologie, Anthropologie und Ethnologie, Medizin und Hygiene,
Jurisprudenz, Soziologie und Kulturgeschichte tragen in gleicher
Weise dazu bei; nur ein Gebiet, die anerzogene Moral und Ethik,
hat nichts zu entscheiden, denn sie ist es, die durch die ge-
nannten Wissenschaften nach reiflicher Empirik das neue Ge-
wand erhalten soll, ist sie doch eine Modefigur, wie jede andere.
ie
ALTERN UND VERJÜNGEN.
Von Dr. P. KAMMERER, Wien.
t. ist unmöglich, mit der Faust einen Stein zu zertrümmern“,
meinte Adam; da erfand er den Hammer und zerschlug
den Stein. Unter den Begriffen, denen kein Gegenstand ent-
spricht, also unter den unmöglichen Gegenständen zählte
Höflers „Logik“ 1890 den lenkbaren Luftballon auf; unmittelbar
darauf erwies sich das Unlogische solcher Logik. „Es ist
unmöglich, das Alter wieder jung zu machen!“ Damit
mußte sich die Menschheit bisher bescheiden: viele Forscher-
generationen gaben sich damit zufrieden; als ihr letzter Sproß
Prof. Sternberg, der im Tagesboten für Mähren und Schlesien
vom 30., 31. März und 1. April seinen in der Gesellschaft für
Wissenschaft und Kunst zu Brünn gehaltenen Vortrag „Über
Altern und Sterben“ veröffentlichte.
„Es handelt sich hier um eherne Naturgesetze“, ruft
Sternberg aus, „die unabänderlichen Naturgesetze willkürlich
abzuändern, dürfte nach allen bisherigen Erfahrungen vergeb-
liches Bemühen sein“. Es ist ein Naturgesetz, hieß es, daß der
Blitz von hochragenden Objekten angezogen wird und deshalb
auch in Häuser einschlägt. Da erfand Franklin den Blitz-
ableiter. Man ließ also dem Gesetz seine Wege; man umging
es nicht einmal, sondern ließ den Blitz einschlagen; aber man
”
6 Kammerer: Altern und Verjüngen
gehorchte ihm in einer Art, die den Schaden abwandte. „Alle
darauf gerichteten Bestrebungen und Hoffnungen“, sagt nun
wieder Sternberg, „gehören in das Reich der Phantasie, das
dem Künstler offen steht, das aber der Naturforscher nicht
betreten darf, solange er seinem Berufe treu bleiben, die Wahr-
heit finden und verkünden will“. Sternberg meint wohl mich:
denn am 17. Dezember 1919 hatte ich dem Naturforschenden
Verein zu Brünn einen Vortrag gehalten, den ich in die Er-
wartung ausklingen ließ, es werde gelingen, die Beschwerden
des Alters hinauszuschieben; und zwar mit Hilfe des Steinach-
schen Verfahrens, Geschlechtsorgane zu verpflanzen.
Worin besteht das Verfahren? Das Geschlechtsorgan
(Eierstock des Weibes, Hoden des Mannes) ist eine doppelte
Drüse: die „Keimdrüse“ (Eitäschchen des Weibes, Samen-
kanälchen des Mannes) entleert die Zeugungsstoffe (Eier und
Samenfäden) durch die Geschlechtswege (Ei- und Samenleiter)
nach außen; ein Zwischengewebe, die „Pubertätsdrüse“, ent-
leert Stoffe nach innen ins Blut. Im Wege des Kreislaufes
entfalten sie die Geschlechtsmerkmale, erreichen sie das Gehirn
und entfachen dort den Geschlechtstrieb. Man würde fehl-
gehen — und schon diesem Irrtum verfiel Sternberg — wollte
man dem inneren Sekret der Pubertätsdrüse nur geschlechts-
bildende Wirkungen teils leiblicher, teils seelischer Art zubilligen;
das Sekret beeinflußt vielmehr den Gesamtorganismus: das
Wachstum der Knochen, die Blutbeschaffenheit, den Muskel-
und Fettansatz, ja jegliche Lebenskraft, äußere sie sich im
Tatendrange der Glieder oder im Schwunge des Geistes.
Wie erhärte ich meine Behauptung? Wenn man Geschlechts-
drüsen verpflanzt, das heißt an eine ihnen fremde Stelle des
eigenen oder eines anderen Körpers versetzt, so geht das
Keimgewebe zugrunde, aber das Zwischengewebe wuchert.
Daraufhin bemerkt man nicht etwa ein Nachlassen der auf-
gezählten geschlechtlichen und außergeschlechtlichen Wirkungen;
sondern sie alle werden gerade zum höchsten Maße gesteigert.
Da dies zu einer Zeit statthat, wo die Keimdrüse zurückgeht,
kann nicht sie dafür verantwortlich gemacht werden; sondern
nur jenes Gewebe, das selber im gleichzeitigen Aufschwunge
begriffen ist, eben die Pubertätsdrüse. Ihre Wirkung hört
erst auf, wenn das ganze Geschlechtsorgan entfernt worden
(„Kastration“) oder wenn seine Verpflanzung mißlungen war
Kammerer: Altern und Verjüngen 7
(„Degeneration“). Die Folgen gewaltsamer Entfernung oder
mißratener Einheilung ähneln in mancher Beziehung den Ver-
änderungen, die der Organismus mitmacht, wenn er von der
Zeugungsfähigkeit zur Zeugungsunfähigkeit übergeht (im
weiblichen und männlichen „Klimakterium“): abnorm krank-
haftes und normal greisenhaftes Eingehen der Geschlechts-
drüse („senile Degeneration“) liefern teilweise übereinstimmende
Bilder.
Freilich beurteilt Sternberg die Steinachschen Versuche,
die mit Meerschweinchen und Ratten ausgeführt sind, wie folgt:
„Wir wissen, daß solche überpflanzte Gewebe oder Organe
nicht dauernd einheilen“. Ich möchte nur wissen, woher
„wir“ das wissen; denn an gegenteiligen, also bejahenden
Erfahrungen — auch an höheren Tieren und an Menschen —
fehlt es nicht mehr. Lichtenstern, der mit Steinachs
Methode Soldaten heilte, die durch Schußverletzung oder
Tuberkulose ihrer Geschlechtsteile beraubt worden waren,
` blickt auf fünfjährige, ungeschwächt andauernde Erfolge zurück.
Sternberg erklärt sich Steinachs Erfolge dadurch, „daß
Steinach an Tieren desselben Wurfes, also an Geschwister-
tieren operierte, ferner daß er zunächst die eigene Keimdrüse
der Tiere entfernte... . endlich daß bei ganz jungen, wenige
Wochen alten Tieren die Bedingungen für eine Einheilung
übertragener Gewebsstücke jedenfalls günstiger liegen.“ All
das war überholt, als der Herr Verfasser es niederschrieb:
Fortschritte der chirurgischen Technik ermöglichten die dauernde
Übertragung auch bei alten Tieren; sie gelang Knut Sand,
der Steinachs Ergebnisse bestätigt, und Lichtenstern auch
ohne vorherige Entfernung der eigenen Geschlechts-
drüse; schließlich war in den Fällen aufgehobener Kastrations-
folgen und zur Norm gelenkter Homosexualität das der Heilung
dienende Einpflanzungsmaterial nicht von Verwandten ge-
schweige von Geschwistern der Patienten genommen worden.
Einen ganz anderen Einwand hätte Sternberg mit damals
größerem Rechte erheben können: fremde menschliche Organe,
die zur Einpflanzung dienen, stehen nur in seltenen Glücks-
fällen zur Verfügung. Man müßte schon zu Organen tierischer
Herkunft greifen; da aber streikt vorläufig unsere Operations-
technik. Zwar kommen Nachrichten aus Paris, es sei dort
einem Professor Veronoff gelungen, Affendrüsen mit bestem
8 Kammerer: Altern und Verjüngen
Dauererfolg auf Menschen zu übertragen; sogar das ist jedoch
für uns arme „Mittelmächte“ mindestens ein teurer Spaß. In
Amerika soll Dr. Brinklay Ziegendrüsen mit noch größerem
Vorteil verwendet haben. Zu unserm Segen antwortet die
Pubertätsdrüse mit mächtigem Wachstum nicht bloß auf die
Verlagerung des Geschlechtsorganes, sondern ebenso auf
jede Zumutung, mit der wir die Lebensfähigkeit der eigentlichen
Keimdrüse in Frage stellen: auch bei Röntgenbestrahlung,
Erwärmung, Vergiftung (z.B. mit Alkohol, Jod, Bakterien-
giften), ja bereits bei Durchschneidung und Unterbindung
seiner Ableitungswege geht das empfindliche Keimgewebe
zugrunde, überläßt seinen Platz dem widerstandsfähig um sich
greifenden Pubertätsdrüsengewebe. Von allen Mitteln, die
Pubertätsdrüse zum Wachstum anzuregen, kamen für unsere
Zwecke beim Manne die Abbindung des Samenstranges, beim
Weibe die Bestrahlung des Eierstockes in Frage. Ganz unab-
hängig von jeder Transplantation, sind wir durch beide Ein-
griffe imstande, verjüngende Einflüsse auf alternde, gleichviel
ob tierische oder menschliche Wesen auszuüben.
Wie zeigen sich die verjüngenden Einflüsse? Machen
wir es anschaulich durch Herausgreifen je eines Beispieles
beim ‚männlichen und weiblichen Versuchstier, beim mensch-
lichen Patienten.
Ein greises Rattenmännchen wird ausgewählt: längst
hatte es keinen Sinn mehr für sein Weibchen; feige weicht es
dem Nebenbuhler; es läuft und springt nicht, träge kriecht es
nur; das Rückgrat ist krumm, das Fell unreinlich, kahle Flecken,
zumal auf Kehle, Rücken und Schenkel, wechseln mit schütter
und struppig behaarten Stellen ab; trotzdem ihm die Knochen
herausstehen, bezeigt das Tier wenig Freßlust; Augenlinse und
Glaskörper sind getrübt; äußere und innere Geschlechtsteile
klein und welk; Gekröse, Gedärme und Muskulatur blaß, trocken,
fettlos. Nun werden die Samenstränge — entweder nur einer oder
beide abgebunden. Schon drei Wochen nachher bespringt.und be-
fruchtet allenfalls das Tier wiederum Weibchen, bekämpft seine
Rivalen, reinigt seinen Pelz, der schmiegsam und voller wurde;
die Glatzen bedeckt junge Haarsaat; heftige Freßgier ist er-
wacht, zeitigt Zunahme des Gewichts und Fettpolsters; klar
leuchtet das Auge auf; die Genitalien werden prall, alle Gewebe
gut durchblutet, die Muskulatur daher wieder frisch und rot.
10 Heyn: Physiologie des Geschlechtslebens der Frau
oft muß der Friseur seine Dienste tun. Sechs Wochen nach
der Unterbindung begann — dem ahnungslosen Manne unfaßbar
— heftiger Geschlechtshunger aufzutreten, wie er ihn seit 20
Jahren nicht mehr empfand; anhaltend besteht das glück-
spendende Gefühl erfrischter, jugendlicher Vollkraft. —
All das war mir natürlich schon bekannt, als ich meine
von Sternberg so übel aufgenommene Hoffnungsfreudigkeit
vortragsweise betätigte; andernfalls nämlich hätte ich weder
meine Künstlerschaft noch meine Phantasie — diese beiden in
den Augen des Zunftgelehrten so verbrecherischen Regungen —
dazu mißbraucht, ein durch die düstere Gegenwart bedrücktes
Auditorium an dem Glanze unerhörter Zukunftsmöglichkeiten zu
erfreuen. Wohlvertraut damit, daß kühnste Erwartungen binnen
kurzem übertroffen sein würden, durfte und mußte ich auch
Sternberg’s Vorhaltungen gegenüber, die sich mühten, den
von mir entzündeten Hoffnungsschimmer wieder auszulöschen,
Stillschweigen bewahren, — bis zum heutigen Tage. Denn
eben ist (in Berlin, beim Verlage J. Springer) Steinach’s
Schrift erschienen, die eine neue Epoche der biologischen
Technik, ja vermutlich der menschlichen Kultur bedeutet:
„Verjüngung durch experimentelle Neubelebung der
alternden Pubertätsdrüse“.
Wie ein Aprilscherz mutet an, was wir dort lesen; aber —
o stets schlagfertige Ironie des Schicksals — nicht Steinach’s
Werk, sondern Sternberg’s Schlußartikel erschien am ersten
April! Wenn es etwas gibt, was mit den Dunkelheiten des
Daseins aussöhnt, so ist es die häufig wiederkehrende Er-
fahrung, daß nicht die Recht behalten, die der hochfliegenden
Hoffnung, den wagemutigen Strebungen abhold sind. Sondern
den endgiltigen Triumph behauptet die Verwirklichung von
Möglichkeiten, die das Größte überragen, was künstlerische
Einbildungskraft sich auszudenken vermag.
STUDIEN ZUR PHYSIOLOGIE
DES GESCHLECHTSLEBENS DER FRAU.
Von Dr. A. HEYN, Frauenarzt, Reichenbach (Schlesien).
J" der Frauenheilkunde gibt es trotz des großartigen Ausbaues,
den gerade die Pathologie und Therapie in den letzten 20 bis
30 Jahren erfahren hat, eine Reihe besonders in sexologischer
Hinsicht sehr interessanter Gebiete, die noch einer systematischen
Bearbeitung bedürfen. In Laienkreisen hat ja die Beschäftigung
mit geschlechtlichen Dingen noch vor nicht allzulanger Zeit als
unanständig und unsittlich gegolten, und für weite Kreise gilt
dies auch heute noch. Auch die Ärzte sind davon zum Teil
nicht ganz freizusprechen, wie eigene Erfahrungen mich lehren.
„Selbst die Sexologen, die eigentlichen Forscher auf dem
Gebiete der Geschlechtswissenschaft, haben speziell das Studium
des physiologischen Coitus bis heute noch als ein Noli me
tangere betrachtet.“ (Rohleder, Zeugung beim Menschen.) Der
„Stacheldraht der ethischen und moralisch theologischen An-
schauungen Hemmungen“ ist durchaus noch nicht restlos
durchbrochen und das stolze Wort Adlers in seiner 4. Auflage
der Anaesthesia sexualis, daß es einer entschuldigenden Ein-
führung nicht mehr bedürfe, scheint mir leider noch verfrüht.
Und doch eröffnet gerade die genaue Kenntnis der physio-
logischen Verhältnisse erst die rechte Vorstellung für die tief-
gehende Bedeutung dieser Dinge für das gesamte Geschlechts-
leben der Frau.
Fühlt die Frau den Ejakulationsdruck des Mannes?
Durch die gesamte Literatur Europas zieht sich wie ein
roter Faden die Behauptung, daß das Weib beim Coitus die
Ejakulation, das heißt den Druck der Ejakulation des Spermas
in die Scheide fühle. In dem sexualwissenschaftlichen Kommentar
von A. Kind Antonii Panormitae Hermaphroditus wird darauf
hingewiesen, daß dies eine pure Einbildung sei. Von älterer
Literatur nenne ich Joannis Meursii elegantiae latini sermonis
12 Heyn: Physiologie des Geschlechtslebens der Frau
seu Aloisia Sigaea Toletana etc. Dort findet man im Collo-
quium IV: . . . defluxit tunc in me deliciosus imber, ferner:
demum semine prolui in intimo utero (scil. vagina) sensi, ferner:
Colloquium V: mox et ipse fervido me ferit semine ictu. Derartige
Angaben finden sich. noch eine ganze Reihe. Dieser Glaube ist
auch heute noch vielfach verbreitet in der Laienwelt, wie in
Ärztekreisen, und man begegnet öfters einem ungläubigen
Lächeln, wenn man diese „selbstverständliche Tatsache“ leugnet.
In älteren ärztlichen Schriften findet sich ebenfalls dieser Glaube
vertreten. Schröder (Verhinderung der Empfängnis aus Ehenot)
schreibt, nachdem er zur Vermeidung der Deponierung des
Spermas in die Scheide der Frau den Rat gibt, durch eine
Beinbewegung das Herausgleiten des männlichen Gliedes aus
der Scheide im entscheidenden Augenblick, und damit die
Entleerung des Samens außerhalb der Scheide, zu bewirken.
„Es ist das beiläufig eine Muskelbewegung, welche die jung-
fräuliche Gattin bei ihrem ersten Beiwohnen in dem instinktiven
Schrecken, den gerade dieser Moment der Auslösung des
höchsten Reizes seitens ihres Gemahls in ihr verursacht, un-
bewußt und ohne eine Ahnung der Folgen, die es für das
Organ des Mannes bewirkt, bisweilen ausführen soll.“ Es ist
von vornherein unwahrscheinlich, daß die junge Frau gerade
bei der ersten Beiwohnung, bei den verschiedenen neuen Ein-
drücken, die gerade der erste Coitus ihr bringt, diesen geringen
Druck merken soll. Klein sagt an der angeführten Stelle weiter:
Das Weib kann in der nur sehr grob empfindlichen Vagina
höchstens die Kontraktion des Muskulus bulbo-cavernosus, resp.
ihre Fortleitung durch die Harnröhre wahrnehmen. Aber auch
diese Wahrnehmung halte ich für eine Ausnahme. Meist wird
das Weib das Eintreten des physiologischen Momentes aus den
begleitenden Symptomen erkennen, z. B. aus dem Stocken der
schnellen Inspiration, dem leichten Streckkrampf des ganzen
Körpers usw. Die Vorstellung von einer „herausgeschleuderten
Flüssigkeit“ des Mannes tritt nur ein, weil sie erwartet wird.
Gerade der Erstcoitierenden wird die genaue Kenntnis dieses
Vorganges in der Regel abgehen, wenn man auch annehmen
kann, daß ein großer Teil der Frauen über die gröbsten Vorgänge
beim Coitus orientiert sein wird. Selbst erfahrene Frauen, wenn
sie in voller Kenntnis des Kommenden auf die Ejakulation
achten, können in den meisten Fällen nicht angeben, wann der
Heyn: Physiologie des Geschlechtslebens der Frau 13
Erguß in die Scheide erfolgt, obwohl sie aus dem Verhalten
des Mannes genau die Zeit erkennen, in der das Ereignis erfolgt.
Ich habe aus dem Munde vieler Frauen dieses Eingeständnis
gehört. Sie gaben übereinstimmend an, daß sie den Erguß selbst
nicht merkten, daß es-ihnen-aber so vorkomme,-als ob in der
Harnröhre des Mannes etwas hin- und hergehe, oder daß das
Glied des Mannes zucke. Nur in ganz wenigen Fällen wurde
auch bei genauerem Examen die Behauptung aufrecht erhalten,
daß die Ejakulation an einem gewissen Drucke manchmal, nicht
immer, gemerkt würde; in einem Falle, dem ich mißtraue, gab
eine jüngere Frau an, daß sie den Erguß merke, weil er sehr
heiß sei. Wenn man nur obenhin nach der Wahrnehmung des
Ergusses fragt, hört man öfters, daß dies der Fall sei, wenn
man sich aber durch genauere Fragen Gewißheit verschafft,
bekommt man nicht so selten die Antwort, das müsse doch so
sein. Viele Frauen machen eben zunächst eine positive Angabe,
weil sie die Befürchtung haben, daß sie mit einer Verneinung
eine gewisse Minderwertigkeit zugeben würden. Ich halte es
nicht für unwahrscheinlich, daß diese falschen Angaben der
Grund sind, weshalb noch in so weiten Kreisen der Glaube an
das Bemerken des Ergusses seitens der Frau sich erhalten hat.
Nach meinen Aufzeichnungen merkt längst noch nicht ein Prozent
der Frauen den Erguß des Mannes.
Beim Orgasmus des Mannes wird das Sperma mit einem
gewissen Druck durch die Kontraktion des Muskulus bulbo-
cavernosus usw. herausgeschleudert, je nach der Kräftigkeit des
Muskels und seiner geringeren oder stärkeren Erregung seitens
des Zentrums im Lendenmark. Die Strecke, die der Same
fortgeschleudert wird, beträgt einige Zentimeter bis zu einem
Meter und darüber, und es ist deshalb nicht ausgeschlossen,
daß in Fällen, in denen ein stärkerer Muskel und eine kräftigere
Innervation vorliegen, doch ein so bedeutender Druck auf die
Scheidewände ausgeübt werden kann, daß trotz der bereits
angeführten geringen Empfindlichkeit der Scheide in Fällen, in
denen die Erregung der Frau beim Coitus dies zuläßt, der
Ejakulationsdruck als solcher empfunden wird. Auf jeden Fall
sind solche Fälle relativ selten. Auch bei Frauen, denen das
Wollustgefühl beim Verkehr fehlte, fand sich ein Unterschied nicht.
Ich gebe noch einige Notizen aus der Literatur. In dem
Lehrbuch der Physiologie des Menschen von G. Valentius, 1844,
14 R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos
finde ich folgende Angabe: „Ob jedoch nicht auch die Aus-
spritzung des Samens an den Wänden der Scheide und vor-
züglich an den Muttermundslefzen und an den Innenwänden
‚des Uterus mit Wollustempfindungen verbunden sei, steht dahin.“
Ferner sagt Frau Fischer - Dückelmann (Geschlechtsleben des
Weibes): „Es liegt daher nahe, anzunehmen, daß der Erguß des
Spermas auf den Halsteil des Uterus von besonderer Wirkung
auf das Gefühl der Frau und von großer Bedeutung für den
Fortpflanzungszweck sein muß“.
Die Ansicht, daß der Ejakulationsdruck von Einfluß auf
die Wollusterregung des Weibes sei, basiert eben auf dem alten
Glauben, daß der Erguß von der Frau regelmäßig und als
gefühlserhöhendes Moment bemerkt würde.
In den meisten mir zugänglichen neueren Lehr- und
Handbüchern der Sexualwissenschaft fehlt eine Hindeutung auf
die angeschnittene Frage gänzlich. Aus meinen eigenen Auf-
zeichnungen, aus einem Material von über 700 über sexuelle
Fragen genauer befragter Frauen und Mädchen, scheint sich
eindeutig zu ergeben, daß
1. der Ejakulationsdruck von der Frau beim Coitus nur aus-
nahmsweise gefühlt wird, und
2. daß ihm ein Einfluß auf eine höhere Wollusterregung der
Frau und damit auf eine Erleichterung der Konzeption ab-
zusprechen ist.
DAS WEIB IM ALTINDISCHEN EPOS.
Von Universitäts-Professor Dr. RICHARD SCHMIDT, Münster.
U diesem Titel hat der Professor an der Universität Chicago
Johann Jacob Meyer (Leipzig 1915 bei Wilhelm Heims)
ein 440 Seiten starkes Buch als Beitrag zur indischen und ver-
gleichenden Kulturgeschichte erscheinen lassen, zu dessen Ab-
fassung kaum "einer so geeignet sein dürfte wie dieser mein
schreibgewandter Freund mit seiner außerordentlichen Belesen-
heit. Er ist auf dem Gebiete kein Neuling mehr: hat er doch
bereits 1903 Ksemendra’s Samayamätrkä übersetzt und in der
58 Seiten fassenden, glänzend stilisierten Einleitung dazu gezeigt,
daß er den Stoff meisterlich beherrscht. Wenn er dabei die
Kunst versteht, gerade die heikelsten Stellen, an denen hier
wahrlich kein Mangel ist, mit köstlichstem Humor zu behandeln,
so ist das ein Vorzug, der auch die der Indologie Fernstehenden
zur Lektüre einlädt, die abgesehen von gründlichster Belehrung
obendrein auch noch einen hohen ästhetischen Genuß gewährt,
was man bekanntlich durchaus nicht von allen wissenschaft-
lichen Werken behaupten kann. Man lese Meyers Einleitung
zu seiner Übersetzung von Dandin’s Dasakumäracaritam, einem
altindischen Schelmenroman (Leipzig 1902), und beantworte mir
dann die Frage, ob man noch gründlicher, noch glänzender in
den Geist eines Buches eingeführt werden kann. In diesen
139 Seiten steckt so viel Gelehrsamkeit, so viel feines Ver-
ständnis für den Autor, so viel Humor, daß diese Einleitung als
ein Buch für sich betrachtet und als ein Kunstwerk eingeschätzt
zu werden verdient. Nörgelnde Kleingeisterei wird ohne große
Mühe manche Stelle entdecken können, die der Richtigstellung
bedarf. Aber in einer Fülle von Vorzügen verschwinden die
Mängel, geradeso wie die Flecken des Mondes in seinem strah-
lenden Lichte, um einen indischen Ausdruck zu gebrauchen, den
Kälidäsa (Kum. I, 3) geprägt hat.
Der Zweck des Meyer’schen Buches ist, an der Hand der
beiden großen indischen Epen, des Mahäbhärata und des
Rämäyana, eine getreue und lebendige Anschauung von der
Geltung und Stellung der Frau in Indien zu geben. Daß sich
als Quelle dazu die epische Dichtung ganz besonders eignet
16 R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos
und in allererster Linie wieder das Mahäbhärata, muß jeder
zugeben, der die eigentümlichen Verhältnisse kennt, unter denen
dieses Riesengedicht entstanden ist. Ursprünglich nämlich war
es ein Heldengesang, aber im Laufe der Jahrhunderte hat sich
eine solhe Menge neuer Stoff um diesen Kern herum angesetzt,
daß schließlich daraus eine förmliche Enzyklopädie geworden
ist, in der man so ziemlich alles finden kann, was der indische
Geist bis zum Abschluß des Epos, d.h. etwa bis zum Ende
des vierten Jahrhunderts nach Chr., hervorgebracht hat. Rechnen
wir nun noch dazu, daß die obere Grenze für die Festlegung
des Mahäbhärata in seiner jetzigen Gestalt das 4. Jahrhundert
vor Chr. ist, so ist damit dieses Gedicht der Spiegel des inter-
essantesten Zeitabschnittes der indischen Geschichte.
In diesem langen Werdegange liegt es nun natürlich be-
gründet, daß die Quellen von inneren Widersprüchen wimmeln
und also auch über das Weib, „jene große Vereinigung von
Widersprüchen,“ oft Urteile abgegeben werden, die sich schnur-
straks entgegengesetzt sind. Nicht nur deshalb, weil die Inder
für gewöhnlich zwei Seelen in der Brust tragen: eine welt-
suchende und eine weltfliehende, muß die Wertschätzung der
Frau von Fall zu Fall eine ganz verschiedene sein.
Endlich aber bieten uns die beiden großen Epen, worauf
auch Meyer ausdrücklich hinweist, keineswegs ein vollständiges
Bild vom Weibe, vielmehr sind ihre Angaben in gewisser Hin-
sicht recht lückenhaft. Hier ergänzend einzugreifen, soll mit
die Aufgabe der folgenden Zeilen sein, wobei ich die treffliche
Gliederung des Stoffes zugrunde lege, wie sie der Verfasser
gewählt hat. i
Die Anschauung des Epos, der zufolge die Geburt einer
Tochter unerwünscht kommt, ja, für ein Unglück und das ärgste
Elend erklärt wird, zieht sich durch die ganze spätere Literatur
und hat ihren krassesten Ausdruck in den berüchtigten Kinder-
morden gefunden, die bis in die neuere Zeit skrupellos ver-
übt wurden, wie man es des Näheren bei Billington, Woman
in India, nachlesen kann. Die englische Regierung ist freilich
seit 1802 bemüht gewesen, diesem Greuel zu begegnen, z. B.
auch durch die Einführung von Geburtsregistern; in Rajputana
setzte auch eine nationale Bewegung gegen den Mädchenmord
ein: aber es gibt immer noch Eltern, die es verstehen, durch
Terminalhaarmaximum bei einem Aino (Nordjapan). 50 Jahre alt.
Die Abbildung zeigt einen Terminalhaarreichtum des ganzen Körpers, wie er
selbst bei den reichbehaarten Aino nur selten angetroffen wird. Das lockige
Haupthaar geht ohne scharf sichtbare Grenze in das reiche Barthaar über.
(Nach Friedenthal: Das Dauerhaarkleid des Menschen.)
(Zu dem Aufsatz: Friedenthal Geschlechtsunterschiede S. 18.)
R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos 17
tausend heimliche und hinterlistige Mittel sich des unerwünschten
Familienzuwachses zu entledigen. Erdrosselung oder Aussetzen
im Dschangel ist ja bald genug getan, falls die Mutter es nicht
vorzieht, das Neugeborene vor dem Bilde des elefantenköpfigen
Gottes Gaņeśa in einem Kessel mit siedender Milch zu er-
tränken, um zur Belohnung für diese fromme Tat das nächste
Mal mit einem Knäblein niederzukommen!! Die Entsühnung
der Eltern und des Hauses macht auch gar keine Schwierig-
keiten; es finden sich Brahmanen genug, die das mit ein wenig
Hokuspokus gern besorgen; denn — sie tun es nicht umsonst.
Die Gründe für den Mädchenmord sind zahlreich und
wurzeln zum Teil in den religiösen Anschauungen des Inders,
zum Teil in wirtschaftlichen Bedenken. Für den Hindu ist das
Ziel all und jeder Religion und Philosophie die Erlösung ‘vom
Weiterleben nach dem Tode, vom Wiedergeborenwerden, vom
Kreislauf der Existenzen; die Frau aber ist gerade die Ver-
anlassung, daß dieser circulus vitiosus weiterbesteht. Ferner
ist eine Tochter nicht berechtigt noch befähigt, dem toten Vater
die Spende darzubringen, die ihm die Ruhe im Grabe gewähr-
leistet; dazu ist ein leiblicher Sohn erforderlich. Endlich aber
kostet die Ausstattung und Verheiratung eines Mädchens ein
solches Heidengeld, daß sich damit mehr als eine Familie ein-
fach ruiniert. So ist es denn sehr wohl zu verstehen, wenn
ein geplagter Vater in seiner Not ausruft (Mahäbh. V, 97, 15-16):
„Pfui doch über das Aufwachsen einer Tochter in dem Hause
von Männern, die tüchtigen Charakters, hervorragend, ruhmvoll
und milde geartet sind. Die Familie der Mutter, die Familie
des Vaters und die, wohin sie vergeben wird, drei Familien bringt
die Tochter der Trefflichen in Gefahr.“ Die religiöse Forderung
endlich, die Tochter vor Eintritt der Menstruation an den Mann
zu bringen, ist sicherlich oft genug ganz dazu angetan gewesen,
dem Vater die schwersten Sorgen zu bereiten. Aber auch in
Indien sprach schließlich auch das Herz der Eltern mit: wenn
nun einmal eine Tochter da war, wünschte man sie auch glück-
lich verheiratet zu sehen. Die Ungewißheit, wie die Dinge sich
gestalten würden, ob man einen Bräutigam finden möchte, der
einem an Familie und Charakter Ehre bringen würde, hat
manchem Elternpaar das Herz schwer gemacht. Ein Dichter
vergleicht die Sorge des Vaters einer Tochter mit der des
Autors einer Erzählung, der voll banger Zweifel ist, ob seine
2
18 R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos
Schöpfung nun auch in die Hände von geschmackvollen Lesern
kommen werde, die sie mit dem Herzen nicht minder als mit
dem Verstand zu schätzen verstehen wissen.
Sollte nun aber das Unglück es gar wollen, daß die Tochter
ein körperliches Gebrechen hat, so ist die Not natürlich aufs
höchste gestiegen. Dann sehen wir den geplagten Vater im
Lande umherziehen, um für sein armes Kind doch vielleicht
noch einen Mann zu ergattern! Wohl nicht im Epos, aber in
den Rechts- und Ritualbüchern und dann natürlich auch im
Kämasutram, der indischen Ars amandi, wird eine lange Liste
von Fehlern und Gebrechen am Mädchen vorgetragen, die die
Schließung der Ehe mit einem solchen nicht rätlich erscheinen
lassen. Danach soll man rothaarige und rotäugige, gar zu
stark- und gar zu schwachhaarige, mit einer chronischen oder
schimpflichen Krankheit behaftete, verstümmelte, schielende,
bucklige, zwergenhafte und an starker Schweißabsonderung
leidende Mädchen meiden. Ferner auch solche, die einer Misch-
ehe entsprossen sind, die Mannbarbeit bereits erreicht haben,
stumm sind, eine schöne jüngere Schwester besitzen und un-
gebräuchliche Namen (auch solche von Sternbildern, Flüssen,
Bäumen) führen. Es soll hier nicht verschwiegen werden, daß
in diesen Verzeichnissen teilweise wenigstens noch ein gewisses
Dunkel herrscht, welches aufzuhellen weder den indischen noch
den europäischen Erklärern bisher geglückt ist. Anderseits
dürfen wir unbedenklich Banerjee und Jolly zustimmen, die viele
dieser Vorschriften nur für wohlgemeinte Ratschläge, für
„merely directory“ und nicht für „imperative“ ansprechen, weil
sonst notwendigerweise gar viele Mädchen sitzen bleiben würden.
Vor dem Übertritt in das Haus des Gatten verleben die
Töchter eine glückliche Zeit. Wenn das Epos auch so gut wie
nichts davon berichtet, so ist das gewiß nur Zufall, und J. J.
Meyer wird schon Recht haben, wenn er alles das auch für
die epische Welt gelten läßt, was wir für die Jetztzeit aus
Ramabai Sarasvati (The High Caste Hindu Woman) und Sister
Nivedita (The Web of Indian Life) von dem Leben und Treiben
junger Inderinnen erfahren. Von einer strengen Schulung war
keine Rede; sie wurden in der Kunst des Tanzens, Singens
und Musizierens unterwiesen, blieben aber ernster wissenschaft-
licher Beschäftigung fern. Gewiß kennt die indische Literatur-
geschichte auch ein paar Dichterinnen, aber das sind so seltene
R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos 19
Ausnahmen, daß uns eine Königin als etwas ganz Besonderes
vorgeführt wird, die vermöge ihrer gründlichen Kenntnis des
Sanskrit ihren Gatten blamiert! Erst ganz neuerdings hat man
in Indien begonnen, Mädchenschulen einzurichten, ja, man hat
dort sogar bereits studierende Frauen gesehen. Aber was für
endlose Schwierigkeiten zu überwinden waren, um erst einmal
ein Schullokal zu bauen und vielleicht ein halbes Dutzend
Schülerinnen zusammenzubringen, das hat Menant in .den
Annales du Musée Guimet II, 7 sehr anschaulich beschrieben.
Es mag hier genügen, darauf hinzuweisen, daß nach Mary
Frances Billington in den neunziger Jahren 99,44 Prozent
der gesamten weiblichen Bevölkerung illiterate waren!
Der Census of India, 1901 gibt die Gesamtsumme der Hindu-
Frauen und -Mädchen mit 101945436 an, darunter 101468049
illiteratæ!
So ging also in der Hauptsache die Mädchenzeit mit
kindlichen Spielen *) vorüber, deren beliebtestes das mit Puppen
war. Die Vorliebe dafür geht so weit, daß Uttarä noch zur
Zeit ihrer Vermählung sich damit ergötzt, ebenso wie Jolekhä
(= Suleikha) im Kathäkautukam; und durch Billington erfahren
wir, daß selbst die Studentinnen eine Puppe als Schulprämie
höher bewerten als alle anderen Preise: „Big girls, who have done
well in the school examinations, are more pleased with a doll
as a prize than almost anything that can be given to them,
and I have seen those whom I may fairly call young women
show real disappointment at a distribution to find that their
1) Das Kämasütram hat S. 56 und 207/208 (=S. 72 und 264 meiner
Übersetzung) zwei Listen von Spielen, deren erste für erwachsene elegante
Herrschaften bestimmt ist, während die zweite Kinderspiele umfaßt, die
der Knabe mit dem Mädchen spielt, dem er sich nähern will. Da gibt
es ein „Brechen von Mangofrüchten“, ein „Jungblattspiel“, ein „Wasser-
spritzspiel“, Kämpfe, bei denen blühende Zweige als Waffen dienen, das
Essen von Lotusfasern und Marionettenspiel. Unter den Kinderbelustigungen
finden wir solche, die auch uns ganz geläufig sind: Blumensammeln,
Kränzeflechten, Häuserbauen, Kochen, Verstecken, Fingertippen, Frosch-
hüpfen usw. Für viele andere, die da noch erwähnt werden, wünschte
man wohl eine genauere Beschreibung, als der indische Erklärer sie gibt:
Paar oder unpaar, Mittelfingerfangen („wobei der Mittelfinger durch
Umstellen der anderen Finger versteckt wird“), Sechssteinespiel, („wobei
sechs kleine Steine mit dem Handteller hochgeworfen und mit dem
Handrücken aufgefangen werden“), Salzmarkt, Windschlagen („wobei man
die Arme wie Flügel ausstreckt und sie wie ein Rad dreht“), Weizenhaufen
2*
20 R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos
first prize was a new sari”), while a third or fourth received
some showily attired guryen?) [Puppen], as they will call them“.
— Aus dem Kämasutram erfahren wir, daß die Puppen aus
Garn, Holz, Büffelhorn oder Elfenbein hergestellt waren und daß
die Jünglinge es nicht verschmähten, ihrerseits mitzuspielen, um
auf diese Weise mit den Mädchen vertraut zu werden, oder
ihnen zu demselben Zwecke Puppen — natürlich besonders
schöne! — zu schenken; ja, diese werden auch benutzt, um den
postillon d’amour zu machen, und fungieren also als Gelegen-
heitsmacherinnen. Wohlgemerkt: verheirateten Frauen gegenüber,
deren Herz man dem Gatten abwendig machen möchte!
Fast ebenso gern spielten die Mädchen und Jungfrauen Ball.
Von Säntä wird es im Epos ausdrücklich berichtet, und die
spätere Literatur ist voll von Schilderungen derart, deren berühm-
teste im Da$akumäracaritam (S.290 der Meyer’schen Übersetzung)
zu finden ist. Hier verehrt die Prinzessin Kandukävati mit ihrem
Ballspiel die Göttin Parvati und erweist sich dabei als so ge-
schickt, daß die Zuschauer ihr ganz hingerissen von ihrer Kunst
laut Beifall zollen. „... spielend lässig warf sie ihn (den Ball)
zu Boden. Als er dann langsam in die Höhe gegangen war,
gab sie ihm mit ihrer schossengleichen Hand, deren Daumen
sich etwas krümmte und deren zarte Finger sie ausstreckte,
einen Schlag, und zwar trieb sie ihn mit dem Rücken ihrer Hand
empor, heftete ihre beweglichen (dunkeln) Blicke an ihn, so daß
er ein bienenkranzbesetzter Blumenstrauß schien, und fing ihn
so beim Herabfallen in der Luft. Und sie warf ihn in mittel-
mäßigem und langsamem Tempo und in raschem Tempo, und
ihn sanft und unsanft schlagend, stellte sie in diesem Augen-
blick das Curnapada*) dar. Wurde der Ball ruhiger, so jagte
sie mit unbarmherzigen Schlägen ihn empor. Fand das Gegen-
teil statt, so beruhigte sie ihn. Ging er geradeaus zur Seite,
(„hierbei nimmt je einer unter vielen einige Rupien, tut sie unter Weizen
oder Reis, vermischt sie damit und macht so und so viele Teile. Nun
nehmen jene nach Belieben je einen Teil und suchen die Rupie; wer sie
nicht findet, gibt eine andere“), und ganz selbstverständlich auch das
Puppenspiel.
2?) Ein Kopfschal, den die indischen Mädchen und Frauen sehr malerisch
umzutun verstehen.
3) Plural von Hindustani guriyä.
*) Ein dem Hin- und Hergehen entsprechendes heftigeres Werfen des
Balles heißt nach dem Kommentator so.
R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos 21
so schlug sie ihn abwechselnd mit der linken und der rechten
Hand und trieb ihn so wie einen Vogel empor. Wenn er, weit
weggeflogen, niederfiel, so holte sie, indem sie den Gitamärga®)
ausführte, ihn wieder herbei. Nachdem sie ihn in jede Himmels-
richtung getrieben hatte, trieb sie ihn wieder zurück... Also
jetzt niederhockend, jetzt aufstehend, jetzt die Augen schließend,
jetzt sie aufschlagend, jetzt stehend, jetzt gehend, spielte überaus
wunderbar die Königsmaid. Den Ball gegen den Boden und
in die Luft schlagend, stellte sie mit einem Balle, doch dem
Anschein nach mit mehreren, die verschiedenen sehenswerten
Spiele dar.“ Hier erfahren wir auch aus dem Kommentare, daß
es in Indien eine besondere „Spielballwissenschaft“ gab, gewiß
der schlagendste Beweis für die große Beliebtheit des Spieles.
Dem entsprechend verwendete man auch nicht geringe Mühe
auf die Herstellung der Bälle; die der Vornehmen waren besonders
farbenprächtig. Das Kämasutram rät dem Jünglinge, seiner Aus-
erwählten „einen mit vielen Streifen versehenen und mit kleinen
Linien verzierten Ball“ zu verehren; und wenn er bei einer ver-
heirateten Frau verbotene Früchte pflücken will, soll er als Signal
seiner Leidenschaft einen bedeutungsvoll gezeichneten Ball auf
dem Wege niederlegen, den sie zu gehen pflegt.
Jedenfalls wußten die so ungemein scharf beobachtenden
Inder recht gut, daß das Ballspiel ganz besonders geeignet war,
die Grazie der Spielenden zu zeigen und ihre Sieghaftigkeit zu
steigern. Sie rechneten denn auch den Anblick hübscher, schön
geputzter Mädchen zu den glückbringenden Dingen, und so sind
bei Räma’s Kronprinzenweihe, bei seiner Rückkehr aus der Ver-
bannung und bei seiner Krönung eine ganze Anzahl solcher
Ehrenjungfrauen unterwegs. Es wohnt eben im Leibe der Frau
— der verheirateten wie der unverheirateten — Sri, die Göttin
der Schönheit und des Glückes; und so stehen wir denn vor der
im widerspruchsvollen Indien nicht weiter überraschenden Tat-
sache, daß die eigentlich so verachteten Mädchen doch auch
wieder recht begehrt sein können. So sehr, daß das Mahä-
bhäratam gelegentlich Anweisung gibt, wie man eine Tochter
bekommen kann! Sie dient eben nicht nur als angenehme,
glückbedeutende Augenweide, sondern vermag sich auch bis-
$) „Zehn Schritt umhergehen, das ist der Gitamärga“, sagt der
Kommentator.
22 R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos
weilen in wahrhaft heroischer Weise verdient zu machen, wie
z.B. die in I, 159 erwähnte, die sich einem bösen Geiste als
Fraß darbietet, um den Eltern den Sohn zu erhalten und damit
den Weiterbestand der Familie sicher zu stellen. Oder man
lese bei Meyer S. 19 ff. nach, welche Mühe sich Kunti als Haus-
tochter gibt, einem als Gast gekommenen Brahmanen all die
demütigen Dienste zu seiner Zufriedenheit zu erweisen, die er
wie die meisten seiner Standesgenossen im Epos zu bean-
spruchen beliebt. x
Die sorglosen Tage der Kindheit sind mit einem Schlage
vorüber, wenn die Tochter gesehen hat, daß sie physiologisch
Weib geworden ist, d.h. zum ersten Male menstruiert hat. Sie
bedarf zwar nicht der „sexuellen Aufklärung“, denn sie weiß
schon längst alles, dank der Ehrlichkeit, mit der man in Indien
das „naturalia non sunt turpia“ zu handhaben pflegt. Wenn
aber von Kunti ausdrücklich gesagt wird, daß sie über den
ersten Anblick ihres Monatsflusses voll Scham ward, so ist ihr
das als eine zarte Seelenregung zu eben so großer Ehre an-
zurechnen wie J. J. Meyer die schöne Anmerkung dazu S. 24.
Wohlbekannt sind im Epos alle die Vorstellungen, die uns
in der sonstigen Literatur, speziell in den Rechtsbüchern, be-
züglich der Menstruierenden entgegentreten; vor allem die, daß
sie rituell unrein ist. „Während des Monatsflusses einer Frau
beizuwohnen, zählt zu den in Arjunas Selbstverfluchungsformel
aufgeführten entsetzlichen Freveln (XII, 73, 42). Eine rajasvalä
(Menstruierende) besuchen, gehört unter die sieben Dinge, durch
die ein Mann sein Glück verscherzt (XVI, 8, 5, 6), und als
Sünder (päpakarmin) erscheinen die sich also verfehlenden
Brahmanen XII, 165, 26. Die Apsaras (Himmels-Hetären)
mußten auf Brahmas Befehl ein Viertel des Brahmanenmordes
auf sich nehmen, an dem Indra so schwer trug. Sie flehten
den Weltenvater an, er möge ein Mittel aussinnen, sie davon
zu befreien. Er sprach: „Wer bei menstruierenden Frauen den
Beischlaf ausführt, auf den wird er (der Brahmanenmord) un-
verzüglich übergehen. Möge eure Seelenqual weichen!“ (XII,
282, 43ff) Wer zu einer geht, die nicht besucht werden darf
(agamyä), soll zur Sühne sechs Monate lang ein nasses Kleid
tragen und in Asche schlafen (XII, 35, 35). Die agamyä sind
nun sehr verschiedener Art — s. weiter unten — aber zu ihnen
R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos 23
gehört eben auch die rajasvala.... Die bloße Gegenwart so
einer Befleckten ist verderblich.. Was sie ansieht, nehmen die
Götter nicht als Opfer an (XII, 127, 13). In der Nähe der
Ahnenspende darf sie nicht sein (XIII, 92, 15), sonst sind die
Vorfahren sogar dreizehn Jahre lang unzufrieden (XII, 127, 13,
14). Für den Brahmanen ist nur die Speise rein, auf die nicht
der Blick einer Menstruierenden gefallen ist (XIII, 104, 40).
So verdorbene Speise ist sogar das Teil der Dämonen (XIII,
104, 90). Sogar mit ihr zu sprechen ist verboten (XIII, 104,
53).“ Meyer, S. 169f.
Anderseits aber entleert sich mit dem Menstrualblute alles
Grausige und zauberische Verderben, was der Frau innewohnt;
und so sagt denn das Epos: „Dies ist nach dem Gesetze ein
unvergleichliches Reinigungsmittel des Weibes; denn Monat um
Monat führt das Menstrualblut alles Schlimme in ihnen weg“.
Das geht so weit, daß selbst eine untreue Frau von der Sünde
des Ehebruchs geläutert wird wie ein schmutziges Gefäß durch
Behandlung mit Asche, sobald sie ihre Regel gehabt hat.
Aus der Anschauung, daß die Menstruierende unrein, ja
sogar gefährlich ist, ergibt sich nun ganz von selbst das Verbot
der Kohabitation mit einer solchen, das die Ritualbücher unter
Androhung von Strafen immer wieder einschärfen, wobei ihnen
die Mediziner zustimmen (Beiträge zur indischen Erotik S. 91).
„Man nähere sich seiner Frau nicht, wenn ihre menses sich
zeigen, und wäre man auch trunken vor Begierde, noch ruhe
man mit ihr auf demselben Lager. Wenn sich nämlich ein
Mann der Frau nähert, die mit ihrem Menstrualblute besudelt
ist, schwindet sein Verstand, seine Energie, seine Stärke, sein
Gesicht und seine Lebenskraft. Wenn er aber die Frau meidet,
solange sie mit ihrem Menstrualblute besudelt ist, gedeiht sein
Verstand, seine Energie, seine Stärke, sein Gesicht und seine
Lebenskraft“, lehrt Manu IV, 40—42.
Von den Gebräuchen, die sich bei den verschiedenen
Völkern Indiens als Begleiterscheinungen der Menstruation
herausgebildet haben, sind die wichtigeren zusammengestellt
in meinen beiden Schriften „Beiträge zur indischen Erotik“
und „Liebe und Ehe im alten und modernen Indien“.
(Fortsetzung folgt.)
IL
24 Friedenthal: Geschlechtsunterschiede am Haarkleid
GESCHLECHTSUNTERSCHIEDE AM HAARKLEID
DES MENSCHEN.
Von Universitäts-Professor HANS FRIEDENTHAL, Charlottenburg.
D* Haarkleid des Menschen, dessen Rückbildung nicht wie
bei vielen andern Säugetieren auf ein Leben im Wasser
zurückgeführt werden kann, gibt beim Europäer und seinen
Verwandten so auffällige Geschlechtsunterschiede zu erkennen,
daß wir versuchen können, an ihm die Aufgabe der Entstehung
der Geschlechtsunterschiede überhaupt, die noch nicht erledigt
werden konnte, ihrer Lösung näher zu bringen. Der Knabe
der poikilodermen oder buntfarbigen Mittelrasse!) unterscheidet
sich bis zur Zeit der Geschlechtsreife nicht wesentlich vom
Mädchen. Das Haupthaar des Knaben besitzt dieselbe Länge
wie das Haupthaar der Mädchen, die Leibesbehaarung besteht
bei beiden Geschlechtern mit Ausnahme der Kopfkappe und
den Augenbrauen und Wimpern ausschließlich aus Flaumhaar.
Die Wimpern der Mädchen sind weder länger noch dicker als
die der Knaben. Der Reichtum an Flaumhaaren ist bei beiden
Geschlechtern gleich. Zur Zeit der Geschlechtsreifung entstehen
unter dem Einfluß der Hormone der Leydig-Zellen mit dem
Hervorbrechen des Terminalhaarkleides (Altershaarkleid) die
ersten Geschlechtsunterschiede der Behaarung. Beim Mädchen
sprossen Terminalhaare (Fellhaare) zuerst am Schamberg, später
in den Achselhöhlen, beim Knaben behaart sich ebenfalls zuerst
der Schamberg, dann aber zugleich mit den Achselhöhlen die
Oberlippe, dann das Kinn, die Wange, die Brust, der Unterleib,
häufig auch die seitlichen Teile am Rücken mit Freilassung der
Mittellinie. In höherem Alter überzieht das Fellhaar schließlich
mehr oder weniger die ganze Körperoberfläche mit Ausnahme
der dauernd haarlosen Hand- und Fußflächen. Sehr schwach
behaart bleiben die Innenseiten der Gliedmaßen im Gegensatz
zu den Außenseiten, wo bei reichbehaarten Individuen das
Terminalhaar ein zottiges die Haut streckenweise unsichtbar
machendes Fell bildet, namentlich bei Ainos in Nord-Japan,
Uraustraliern und Russen. Die Geschlechtsunterschiede der
Behaarung sind bei reichbehaarten Menschenrassen im Alter
von etwa 50 bis 60 Jahren recht bedeutende. Die Kopfkappe
1) Siehe darüber H. Friedenthal, Beiträge zur Naturgeschichte des
Menschen. Jena, Verlag Gustav Fischer, 1908.
Friedenthal: Geschlechtsunterschiede am Haarkleid 25
des Weibes mit jahrzehntelang wachsenden bis zur Hüfte
reichenden Haaren, welche am Wirbel am längsten sind, steht
gegenüber der Glatze des Mannes, welche an den unteren Kopf-
teilen umsäumt ist mit Haaren, die ungeschnitten nur wenig
über die Schultern reichen würden. Um die Ohren findet sich
stets eine nach hinten weiter als nach vorn reichende sehr haar-
arme Strecke bei beiden Geschlechtern. Die Kopfkappe endigt
im Nacken häufiger als bei der Frau in einem spitzen an der
Mittellinie sich herabziehenden Zipfel im Gegensatz zu der
häufigeren rundlichen Haargrenze der Frau. Der Bart bei
haarreichen Männern ungeschnitten oft bis zum Nabel reichend,
bedeckt bis auf Nase, Stirn und Augenring das Gesicht, woher
außer dem Augenbrauenbart aus Nasenloch und Gehörgang
Bartfocken hervorquellen. Der Hals ist in seiner oberen Hälfte
von Bart bedeckt, so daß nur ein schmaler Streifen haararmer
Haut bis zum oberen Beginn des Brustfelles, das sich bis zum
Schamberg als Bauchfell fortsetzt, übrig bleibt. Die Schamberg-
behaarung geht besonders dicht in der Mittellinie nach oben,
während die seitlichen Teile des Bauches haararm bleiben. An
den Gliedern fallen an den Außenseiten besonders haarreiche
Stellen auf, indem an den Fingern und Zehen sich von haar-
ärmerer Haut umgebene förmliche Bärte bilden. Der After ist
von dichten Haaren umgeben, während die Beckengegend nur
bei den haarreichsten Individuen der haarreichsten Rassen sich
fellbesetzt zeigt. Die Nabelnarbe bleibt bei beiden Geschlechtern
völlig haarlos. Das Weib der haarreichen Rassen dagegen be-
wahrt die Terminalhaararmut der 14jährigen Jungfrau bis zur
Beendigung der Geschlechtsperiode. Fellhaar findet sich nur
in den Achselhöhlen und besonders lang und dicht am Scham-
berg (Wybsbart der alten Deutschen). An den Außenseiten der
Glieder finden sich zuweilen Haare, welche einen Übergang von
Flaumhaar zu Fellhaar darstellen bei Kindern beiderlei Ge-
schlechts und bei Frauen, bis zum Greisenalter.
Fassen wir die hauptsächlichsten Geschlechtsunterschiede
am Haarkleid des Europäers kurz zusammen, so finden wir als
männliche Merkmale die Glatzenbildung und kürzere Lebens-
dauer der Kopfkappenhaare, den Augenbrauenbart aus Fell-
haaren, den Nasenbart, den Ohrenbart, den Lippen-, Wangen-
und Halsbart, das Brustfell, das Bauchfell, die schwächere
Schambergbehaarung, die Afterfellhaare, Rückenhaare, Fellhaare
26 Friedenthal: Geschlechtsunterschiede am Haarkleid
auf der Streckseite der Glieder, namentlich an den freien Glied-
enden und die schwächeren Wimperhaare am Auge und den
Mangel an Flaumhaaren auf dem ganzen Körper. Weibliche
Merkmale am Haarkleid sind das Dauerwachstum der Haare
der ‚Kopfkappe, die starken Wimper- und Augenbrauenhaare
des Kinderhaarkleides, der Mangel an Fellhaaren mit Ausnahme
der Achsel- und starken Schamhaare, der Reichtum an Flaum-
haaren an den Backen und in der Umgebung der Kopfkappe
namentlich an der seitlichen Stirn. So groß scheinbar der
Reichtum an Geschlechtsunterschieden am Haarkleid des Euro-
päers und der andern haarreichen Rassen ist, so erlaubt doch
die zusammenfassende Betrachtung des Haarkleides des Menschen,
wie sie in den oben zitierten Beiträgen zur Naturgeschichte des
Menschen gegeben wurde, eine ganz knappe und verständliche
Formulierung. Der Mann ist ausgezeichnet durch Unterdrückung
des Flaumhaarkleides und des Kinderhaarkleides und Be-
günstigung des Fellhaarkleides, welches in Form eines Wärme-
schutzmantels für den aufrecht gehenden Mann hervorsproßt,
der allerdings recht unvollständig bleibt, die Frau ist aus-
gezeichnet durch teilweise Beibehaltung des Flaumhaarkleides
und Begünstigung des Kinderhaarkleides, wobei ein Haarmantel
gebildet, allein aus den Dauerhaaren der Kopfkappe den Wärme-
schutz für die sitzende Frau in vollkommenerer Weise ausübt
als Bart und sonstiges Fellhaar für den Mann. In seinem Buche
„Allgemeine und spezielle Physiologie des Menschenwachstums“,
Verlag Springer, Berlin 1914, hat Verfasser ausgeführt, wie die
Formprobleme neues Leben gewinnen, wenn sie von dem Ge-
sichtspunkt des Werdens — also der Wachstumsphysiologie —
aus in Angriff genommen werden. Chemische Einflüsse be-
wirken eine Umwandlung des Flaumhaarkleides und des Kinder-
haarkleides des Menschen in ein Altershaarkleid (Fellhaarkleid).
Daß das Wachstum des Fellhaares beim männlichen Früh-
kastraten und wahrscheinlich auch beim weiblichen Frühkastraten
(über den nur unzureichende Angaben beim Menschen vorliegen)
unterbleibt, weist darauf hin, daß von der männlichen Geschlechts-
drüse ein Stoff in die Blutbahn abgeschieden wird, der von
den Oberhautzellen aufgenommen, diese zum Fellhaarwachstum
anregt. Die nähere Art, wie dies geschieht und welche Art
von Stoffe nötig ist, kann noch nicht des Näheren ausgeführt
werden. Es besteht offenbar ein verschieden großes Aufnahme-
Friedenthal: Geschlechtsunterschiede am Haarkleid 27
bedürfnis der Oberhautzellen verschiedener Örtlichkeit für das
Andrin, wie Magnus Hirschfeld das unbekannte Hormon der
männlichen Geschlechtsdrüse benannte. Wird nur wenig Andrin
abgeschieden, so wächst das Fellhaar am ehesten an der Ober-
lippe, dem Kinn und den seitlichen Wangen, an der Unterlippe
bildet sich die sogenannte Fliege durch Freibleiben der seit-
lichen Teile von Bartwuchs. Der Wuchs des Kinderhaares der
Kopfkappe wird nur wenig behindert, ebensowenig das Wachs-
tum der Augenbrauen und der Wimperhaare. Bei sehr reich-
licher Abscheidung von Andrin bilden sich erst sämtliche oben
aufgezählten Behaarungsmerkmale des Mannes, so daß wir in
der Ausbildung des männlichen Fellhaarkleides einen förmlichen
Mengenmesser für die Abscheidung von Andrin vermuten dürfen.
Es erscheint dem Verfasser wenig wahrscheinlich, daß die
Hormonwirkung der Steinachdrüse nur von einem einzigen
Stoffe ausgeht, doch genügt der Name Andrin bis zur Auf-
findung der chemischen Komponenten als arbeitserleichterndes
Verständigungsmittel. Weil bis zum Tode die Erneuerung der
Oberhautorgane niemals ruht und hier die Wachstumsprozesse
bis in die höchst bekannten menschlichen Altersjahre (168 bis
207 Jahre sind nachgewiesen) andauern, können wir, wenn die
obigen Erwägungen richtig sind, bei Versiegen der „Andrin“-
Quelle einen Rückgang des Fellhaarwachstums vermuten.
Tatsächlich finden wir bei impotent werdenden Greisen
häufig ein Aufhören des Dauerwachstums der Barthaare und ein
Spärlichwerden des Brustfelles und Minderung der Haardichte
an verschiedenen Körperstellen. Dank der Steinachschen Ver-
jüngungsversuche wird sich wohl bald der Grad der Abhängig-
keit des Fellhaarwuchses von der „Andrin“menge genauer an-
geben lassen, als es heute möglich ist. Bei Ratten stellte Steinach
die Herstellung der früheren Pelzdichte im höchsten Alter bereits
fest. Es würde nicht überraschen, wenn auch beim Menschen-
greise der Bartwuchs nach „Andrin“zufuhr zunehmen würde.
Auf Dichte und Länge des Kastratenhaarwuchses beim Menschen,
also bei Fehlen von „Andrin“zufuhr, ist bisher nicht genügend
geachtet worden, namentlich darauf nicht, wie bei diesen das
Haarwachstum im höchsten Alter sich verhält. Durch das
Fehlen der Beobachtung an Kastraten, welche in frühster Kind-
heit kastriert wurden, sind wir in schwierige Lage versetzt be-
züglich der Frage, ob wir bei der Frau uns mit der Annahme
28 Friedenthal: Geschlechtsunterschiede am Haarkleid
des Fehlens einer beachtlichen Menge von „Andrin“ zufrieden
geben sollen, oder ob wir annehmen sollen, daß bei der Frau
ein Hormongemenge „Gynin“ einen positiv fördernden Einfluß
auf das Kinderhaarkleid der Frau ausübt. Verfasser möchte
eine Entscheidung darüber verschoben wissen bis zur Vervoll-
ständigung unserer Kenntnisse über das Haarwachstum weib-
licher Frühkastraten. Das Auftreten eines besonders dichten
Fellhaarwuchses am Schamberg und in der Achselhöhle der
Frau zur Zeit der Geschlechtsreife weist darauf hin, daß zu
dieser Zeit vielleicht derselbe Stoff, welcher im „Andrin“ das
Fellhaarwachstum anregt, zunächst abgeschieden wird, daß aber
sehr bald die Abscheidung eines das Fellhaarwachstum an-
regenden Stoffes stockt, so daß der weiteren Ausbildung des
Kinderhaarkleides und der Erhaltung des Flaumpelzes keine
Hindernisse im Wege stehen. Verfasser hält es für besser einen
neuen Stoff nur dann anzunehmen, wenn es unmöglich scheint
die bekannten Formenverhältnisse mit der Annahme eines ein-
zigen Stoffes befriedigend zu beschreiben. Da beim Menschen
die Trennung der Geschlechter nicht vollständig ist, wird jede
Frau eine geringe Menge „Andrin“ in das Blut abgeben, welche
im weiblichen Körper zuerst von den Oberhautzellen des Scham-
berges und der Achselhöhle verbraucht werden. Erst bei
erhöhter „Andrinproduktion“ seitens der Frau wird das Fell-
haarwachstum auch an den Mundwinkeln und am Kinn ver-
einzelt angeregt werden und das Kopfhaarwachstum gehemmt
werden. Frauenbart und Frauenglatze. Der erste Beginn der
Glatzenbildung an der Stirn zeigt sich daran, daß die Haar-
grenze unklar wird und die mittellangen Übergangshaare
zwischen Kinderhaar und Flaumhaar ausfallen. Möglich wäre
es, daß bei der Frau ein Hormon „Gynin“ das gleichzeitig
gebildete Andrin bände, so daß das Mengenverhältnis der
Antagonisten für das Ergebnis am Haarkleid entscheidend wäre.
Wie wichtig eine Vermehrung unserer chemischen Kenntnisse
über die Sexualhormone wäre neben genauer Beobachtung der
Kastraten geht wohl aus obigen Darlegungen klar hervor. Für
den Arzt wäre eine Möglichkeit, den weiblichen Haarwuchs
durch Andrinbindung indirekt zu fördern und den Fellhaarwuchs
zu hemmen, gewiß sehr willkommen. Die Entfernung der
Frauenbärte ohne Schädigung der Patienten gehört zu den
schwierigsten Aufgaben der ärztlichen Kosmetik — während
Friedenthal: Geschlechtsunterschiede am Haarkleid 29
eine fachgemäße hormonale Beeinflussung das Wachstum der
Barthaare zu hemmen imstande wäre. Die Fellhaarbildung des
Weibes in Achselhöhle und am Schamberg hindert uns ohne
weitere Erörterung, die Hemmung des Fellhaarwuchses als den
maßgebenden Geschlechtsunterschied gegenüber dem Haarkleid
des Mannes zu bezeichnen. Wir haben in den bisherigen
Ausführungen stets von Mann und Weib gesprochen und die
Gliederung der Menschheit in Rassen nicht in Betracht gezogen.
Die oben angeführten Geschlechtsunterschiede beziehen sich
zunächst nur auf den Mann der reich behaarten (europäer-
ähnlichen) Mittelrassen. Die Geschlechtsunterschiede am
Haarkleid der schwach behaarten dunkelhäutigen und gelb-
häutigen Menschenrassen erfordern eine besondere Besprechung.
Bei den dunkelhäutigen kraushaarigen Rassen fehlt beim Manne
die Fellhaarbildung, die beim Europäer nach den Zeiten der
Pubertät erst sich auszubilden pflegt, selbst im höheren Alter.
Es fehlen Nasenbart, Ohrenbart, Teile des Wangenbartes,
Brustfell-, Bauchfell-, Rückenhaare und Gliederbehaarung. Nur
die kraushaarigen Melanesier haben zahlreiche Individuen mit
reichem Fellhaarwuchs am ganzen Körper nach Art der locken-
haarigen Australier, ein Gegensatz zu der Fellhaararmut der
übrigen kraushaarigen Rassen. Den Frauen der kraushaarigen
Menschenstämme fehlt ferner das Dauerwachstum der Kopfhaare,
welches ein so charakteristisches Merkmal der Europäerfrau
bildet. Die krausen Haare besitzen eine weit kürzere Lebens-
dauer als die lockigen oder gar die straffen Haare, die Kopf-
haare werden auch bei diesen Rassen länger als die übrigen
Körperhaare. Glatzen sind sehr selten beim Mann der kraus-
haarigen Rassen. Die kürzesten aller Kopfhaare besitzen die
jetzt fast ausgestorbenen Buschmänner, bei denen von einem
Geschlechtsunterschied zwischen den Kopfbehaarungen von
Mann und Frau nichts bekannt geworden ist. Wir können
annehmen, daß bei den kraushaarigen Rassen die Geschlechts-
unterschiede bei reinrassigen! Individuen am Haarkleid sich
beschränken auf unvollständige Bartbildung beim Mann, bei
einem Teil der Melanesiern, noch ferner auf Ausbreitung des
Fellhaares beim Mann über die auch beim Europäer reich
behaarten Hautregionen. Der Schamberg der kraushaarigen
Rassen trägt weder beim Manne noch bei der Frau eine ähnlich
dichte Behaarung wie beim Europäer, auch die Achselbehaarung
30 Friedenthal: Geschlechtsunterschiede am Haarkleid
erscheint recht dürftig; der Bart überwächst fast nie beträchtliche
Teile der Wangen, nur am Kinn, nicht an der Oberlippe finden
sich zuweilen Haare mit Dauerwuchs. Die gelben und braunen
straffhaarigen Menschenrassen, zu denen auch die Indianer
gehören, weisen als besondere Eigentümlichkeit eine Umkehr
der Geschlechtsunterschiede der Kopfkappe gegenüber den
schlichthaarigen Rassen auf. Nicht die Frau sondern häufig
der Mann trägt Kopfhaare mit Dauerwachstum. Bei nord-
amerikanischen Indianern reichen die Kopfhaare des Mannes
zuweilen bis unter die Kniee. Während bei den Indianern
Glatzenbildung unbekannt oder ganz außerordentlich selten sein
soll, ist bei den Chinesen entsprechend dem langdauernden
Schädelwachstum Glatzenbildung beim Manne nicht selten zu
beobachten. Die Mehrzahl der straffhaarigen Rassen kennt bei
reinrassigen Individuen kaum Glatzenbildung als Geschlechts-
unterschied am Haarkleid. Wir finden also an der Kopfkappe
Gleichheit der Haarlänge bei kraushaarigen Rassen, Über-
wiegen der Kopfhaarlänge bei dem Weib bei den schlicht-
haarigen Rassen und bei straffhaarigen Rassen Überwiegen der
Haarläinge beim Manne bei typischen Individuen. Eine
Menschenrasse, bei welcher die Frauen fellhaarreicher (Terminal-
haarreicher) sind als die Männer, ist nicht bekannt und die
Verhältnisse der Haarlänge an der Kopfkappe das einzige
Beispiel von Kreuzung zweier Geschlechtsunterschiede bei zwei
verschiedenen Menschenrassen. Die tief eingepflanzten Haar-
wurzeln der terminalhaararmen straffhaarigen Menschenrassen
neigen zu Dauerwuchs und wechseln weit langsamer als die
weniger tief eingepflanzten Haare der schlichthaarigen oder gar
der kraushaarigen Menschenrassen, daher erreichen beim Manne
die spärlichen aber dicken Barthaare häufig eine recht ansehn-
liche Länge. Bei allen Menschenrassen erschwert das Abschneiden
oder Ausreißen von Haaren sehr die Erlangung sicherer Kenntnisse
über den natürlichen Ablauf des Haarwechsels im Laufe des
Lebens und damit auch über die typischen Geschlechtsunter-
schiede am Haarkleid der verschiedenen Menschenrassen.
Von Geschlechtsunterschieden am einzelnen Haare wäre
darauf aufmerksam zu machen, daß nur bei ganz reinrassigen
Individuen sich feststellen läßt, daß beim Manne (Europa) das
gesunde Kopfhaar häufig dicker, die Schamhaare dünner ge-
funden werden als beim Weibe. Viel fehlt uns noch zur Lösung
Friedenthal: Geschlechtsunterschiede am Haarkleid 31
der Aufgabe an jedem einzelnen Haare das Geschlecht des
Trägers feststellen zu können. Dies ist in besonders günstigen
Fällen möglich. Finden wir in Europa im Freien ein feines,
mehr als meterlanges Haar, so können wir sicher sein, dab es
nur auf dem Kopfe eines Menschenweibes gewachsen sein
kann. Eine Verwechslung mit irgend einem Tierhaar oder mit
einem Männerhaar ist nicht zu befürchten. Umgekehrt hätten
wir in Nordamerika zur Zeit der Entdeckung aus dem Befund
eines anderthalb Meter langen straffen Haares auf die frühere
Anwesenheit eines Mannes schließen müssen. Ein menschliches
Barthaar von mehr als 30 cm Länge ist mit Sicherheit als
Männerbart zu erkennen und von jedem Tierhaar und Frauen-
haar zu unterscheiden. Besonders starke Schamhaare sind
sowohl nach Aussehen als auch für längere Zeit nach ihrer
Ausdünstung als weiblich zu erkennen, gelockte Augenbrauen-
haare sind stets als Männerhaare anzusprechen. Daß in Deutsch-
land Frauen slawischer Abkunft oft straffere Kopfhaare haben
als Männer niedersächsischer Herkunft, daß die Haardicke bei
Haarerkrankungen sehr abnehmen kann, macht die Unter-
scheidung von Männer- oder Frauenhaar oft recht schwierig.
Für den Gerichtsarzt wäre eine sichere Unterscheidung von
Männer- und Frauenhaar an Bruchstücken von Haaren wichtig.
Ob bei den kraushaarigen und den straffhaarigen Menschen-
rassen Geschlechtsunterschiede der Haardicke bestehen, ist nicht
genügend untersucht, dem Verfasser erscheint für die Kopflraare
annähernde Gleichheit der Haardicke bei beiden Geschlechtern
der kraushaarigen Menschenrassen zu bestehen, dagegen Über-
wiegen der Haardicke beim Manne der straffhaarigen Rassen,
natürlich abgesehen von Fällen beginnender Glatzenbildung.
Bei den Säugetieren haben wir in der Mähne des Löwen
eine Haarbildung, welche als Überschußbildung über die
asexuelle Tierform (Lipschütz) wohl der Bart- und Fellhaar-
bildung des Mannes analog gesetzt werden kann. Bei Früh-
kastration wird die Mähnenbildung ebenso wie beim gewesenen
Manne die Bartbildung und wie es bartlose Menschenrassen
gibt, so gibt es auch mähnenlose Löwen.
Das Gefieder des Hahnes verhält sich dagegen ganz anders,
indem männliche und weibliche Frühkastraten bei den Haus-
hühnern Prachtgefieder ausbilden im Gegensatz zum Bartverlust
des Eunuchen.
v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 33
daß ein Stoff den Raum, den er ausfüllt, nicht gleichmäßig und
einheitlich erfüllt, sondern daß er aus überaus kleinen Teilchen
besteht, die man Moleküle oder Molekeln nennt. Nun ist
aber klar, daß selbst das kleinste denkbare Teilchen Kochsalz
immer noch aus einem Teilchen Chlor und einem Teilchen
Natrium bestehen muß. Ist ein Molekül der kleinste selbständige
Teil einer Verbindung oder eines Elements, so bezeichnet man
die kleinen Bestandteile jener Elemente, aus denen das
Molekül besteht als Atome. 1 Atom Gold ist daher die
kleinste denkbare Menge, in der das Element Gold bei irgend
einem Vorgang in Wirksamkeit treten kann. So besteht also
alle Materie aus Molekülen und Atomen. Die Materie selbst
aber ist nicht denkbar ohne die Energie, sie ist gleichsam
ihre Trägerin. Man kann sagen, daß Materie und Energie die
Hauptbestandteile der Natur sind, denn absolut ruhende Körper
gibt es in der Natur nicht. Man nimmt deshalb an, daß auch
die Energie im Raum gleicher Art verteilt ist und Planck be-
hauptet, daß jeder schwingende Körper eine bestimmte Anzahl
von „Energieatomen“ oder Quanten besitzt. Der Wert dieser
Quanten entspräche der Anzahl der Schwingungen in der
Sekunde. Es hängt in erster Linie vom Energieinhalt ab, in
welcher Form uns die Materie erscheint, ob als feste, flüssige
oder gasförmige Formar. Man nennt dies Aggregat-
zustände. Im festen Zustand liegen die Moleküle so ver-
kettet, wie etwa die Körner eines Sandsteins, im flüssigen
liegen sie lockerer, etwa wie die Körner eines Sandhaufens,
im Gas dagegen fliegen sie durcheinander wie die Körnchen
einer Staubwolke — sie sind ohne Zusammenhang. Bringt
man feste Körper in flüssige, so haben manche die Eigen-
schaft, sich darin zu lösen, z. B. Kochsalz im Wasser, (echte
Lösungen). Kochsalz besteht aus Natrium (Na) und Chlor (CI).
Durch die Lösung wird nun mindestens ein Teil der Moleküle
zerspalten (dissociiert) und zwar erscheinen jetzt elektrisch
geladene Atome, die man Jonen nennt. Na ® und CI 9).
Ein Jon ist also ein Atom + seiner elektrischen Ladung, den
Elektronen. Damit kommen wir zu einem wichtigen Gebiet,
der Elektronentheorie (1883 von Lorentz aufgestellt und 1895
von Zeemann bewiesen). Ihr zufolge nimmt man an, daß die
Elektrizität ähnlich aufzufassen wäre, wie etwa der gasförmige
Zustand der Materie und aus ebenfalls kleinsten Teilchen, den
3
34 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion
Elektronen besteht, die aber viel, viel kleiner sind als die Atome.
Jedermann weiß; daß Bakterien zu den kleinsten Existenzen
gehören, die wir mit dem Mikroskop gerade noch feststellen
können. Trotzdem bestehen sie aus Millionen von Atomen.
Das kleinste Atom ist das des Wasserstoffes, aber ein Elektron
ist etwa 1/2000 davon. In jedem Atom sind Elektronen und
man nimmt an, daß es davon umkreist wird. Alle elektrischen,
magnetischen und optischen Erscheinungen gehen darauf zurück,
es hilft die Materie aufbauen und wieder zerstören.
Soeben wird eine hochbedeutsame Arbeit des englischen
Physikers Rutherford bekannt (Bakterian Lecture Juni 1920)
in der die bekannte Tatsache, daß Atome aus feineren Bestand-
teilen bestehen müssen, da ohne Zweifel bei radioaktiven
Elementen eine Verwandlung in ein anderes Element stattfinden
kann (Transmutation). Bekanntlich werden in der Strahlung
(Emanation) des Radium unendlich kleine Teilchen (x-Teilchen),
die aus einem doppelt geladenen Heliumkern (Electrone) be-
stehen, abgeschleudert (siehe später Aufsatz X). Es geht also
das Element Helium (ein Gas) aus dem Element Radium her-
vor. Rutherford entdeckte weiter, daß bei Zertrümmern des
Stickstoffatoms zwei Wasserstoffkerne und drei Kerne eines
neuen Gebildes, das er mit X, bezeichnet, frei werden und das
vielleicht mit dem aus der Spektralanalyse erschlossenen
Nebulium der Sternnebel identisch ist. Vier Kerne dieses
X, bilden Kohlenstoff; vier Kerne von X, und ein Heliumkern
bilden Sauerstoff usw. Demnach wären folgende Grund-
bausteine aller Materie zu unterscheiden: Wasserstoff,
Helium X, und die Elektronen.
Ein wichtiges Moment bei Lösungen ist nun der osmo-
tische Druck, das Bestreben einer Lösung, sich zu verdünnen.
Schichtet man vorsichtig Wasser über eine Lösung (etwa von
Zucker), so wandern so lange Teilchen des gelösten Stoffes
entgegen der Schwerkraft nach oben, bis die Verteilung der
gelösten Teilchen im ganzen Gefäß gleich groß ist. Der Druck,
der hier wirkt, ist ein ungeheuer großer.
Nehmen wir nun ein ganz kleines Stückchen Gold, also
etwa ein Würfelchen von 1 mm Seitenlänge und lassen es
vom Goldschläger ausschlagen, so kann er diesen cbmm zu
einem Plättchen von 10000 qmm (also etwa der Größe einer
Handfläche) ausdehnen. Die Dicke dieses Plättchens ist also
v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 35
1/10000 mm. Schneiden wir nun das Plättchen in Würfelchen,
dann besitzt jedes 1/10000 mm Kantenlänge. Ein derartiges
Gebilde ist so winzig, daß es mit unseren besten Mikroskopen
kaum mehr sichtbar ist. Dennoch ist es noch kein Molekül.t)
Ein Molekül Kohlensäure ist z. B. = 0,29 uu. Die feine Haut
einer Ölschicht, die über Wasser ausgebreitet ist, hat eine
Dicke von 2/100000 mm.
Nun können wir uns solche feine Teilchen herstellen.
Im elektrischen Lichtbogen können wir z. B. Metall derartig
zerstäuben. Körper in dieser ungemein feinen Verteilung
nennt man Kolloide. Sie haben eine ganze Reihe der
interessantesten Eigenschaften, die uns noch beschäftigen
werden. Der Name kommt von collum, der Leim, weil dieser
diese Eigenschaften besonders gut besitzt.
Während nun ein Teil der Materie, z. B. Zucker, Kochsalz
das Bestreben hat, seine Moleküle nach bestimmten Gesetzen
(nach einem charakteristischen Gitter) anzuordnen, erscheinen
die Kolloide zunächst außerhalb dieser Gesetze. Sie stehen
also den Kristalloiden gegenüber und haben auf der Erd-
oberfläche eine weit größere Verbreitung als diese. Doch
bestehen zwischen den Kolloiden und den Kristalloiden Über-
gänge. Können wir nun solche kolloide Teilchen sehen?
Direkt nicht. Aber jeder von uns kennt die sogenannten
Sonnenstäubchen. Fällt ein Sonnenstrahl in einen Raum, der
von absolut reiner Luft erfüllt zu sein scheint, so sehen wir,
wenn wir von der Seite in diesen Sonnenstrahl blicken, lauter
feine Staubteilchen in ununterbrochener Bewegung. Und
dennoch sehen wir diese Teilchen, die natürlich den ganzen
Raum erfüllen, selbst nicht; wir empfinden nur die Wirkung
des Lichtes, das von ihnen zurückgeworfen wird, die Teilchen
sind zu klein dazu. Genau so, wie wir selbst im schärfsten
Fernrohr einen Fixstern nicht sehen, sondern nur das von ihm
ausgestrahlte Licht. Er selbst ist zu fern. Wir beobachten
aber, daß diese Teilchen in ständiger Bewegung sind und
1) Im folgenden müssen wir von einem Maß Gebrauch machen, das
in der Wissenschaft benutzt wird. Teilen wir 1 mm in 1000 Teile, so
erhalten wir 1/1000 mm. Dies bezeichnet*man mit 1 « (1 Mikrom).
Teilt man dieses wieder in 1000 Teile, haben wir 1/1000000 mm = 1 ur.
Mit den besten Mikroskopen kann man 0,5 u noch sehen. Das Ultra-
mikroskop, das wir noch besprechen, zeigt dagegen noch 5 uw.
36 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion
trotzdem sie Körperchen sind, dem Gesetze der Schwerkraft
nicht gehorchen, d. h. nicht zu Boden fallen. Hier müssen
also Kräfte besonderer Art wirken. Nun wissen wir, daß
kleine Wassermengen, die durch den Raum fallen, sofort
Tropfengestalt, also Kugelform annehmen. Die Kugel ist aber
jene Gestaltung, bei der ein Körper die im Verhältnis zu
seinem Körper kleinste Oberfläche hat und die Kraft, die ihn
zur Annahme dieser Gestalt bringt, ist die Oberflächen-
spannung. Je mehr ich nun bei einem Quantum Materie
Oberfläche schaffe, d. h. je mehr ich sie verteile, desto mehr
wird von dieser Kraft im Verhältnis zur Masse wirksam.
Nehme ich ein Quantum irgend eines Stoffes, sagen wir Gold,
in der Größe eines Würfels von 1 cm Seitenlänge, dann hat
dieser Würfel — da er sechs Flächen hat — 6 qcm Oberfäche.
Zertrümmere ich nun eine Goldmasse von 1 ccm in lauter
kleine Würfel von I mm Seitenlänge, dann erhalte ich 1000
Würfel, die zusammen 60 qcm Oberfläche haben, also zehnmal
so viel Oberfläche. Damit wird folgende Tabelle klar:
Seitenlänge des Würfels Anzahl der Würfel Oberfläche
1 cm 1 6 qcm
DL. 1000 60 ,
0,001 „ =l u 1 Milliarde 6000 ,„
0,0001 „ =Q, u 1000 Milliarden 6 qm
1
0,000001 „ luu 1 Milliarde X 1 Milliarde 600 qm!
Fig. 1. Brown’sche Molekularbewegung eines in
Wasser suspendierten Teilchens nach Perrin.
v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 37
Da nun die Oberflächenspannung der Oberfläche entspricht,
sehen wir, daß diese Kraft, die in einem bestimmten Quantum
Materie schlummert, durch immer feinere Verteilung zuletzt
ungeheure Werte annimmt. Bringt man nun solche Teilchen
in Wasser, so ist ihre Oberflächenenergie im Verhältnis zu ihrer
Maße so groß, daß sie nicht mehr der Schwerkraft gehorchen,
sondern schwebend bleiben. Die Teilchen sind in der Flüssigkeit
suspendiert und man nennt das Resultat eine „Suspen-
sion“, Sie befinden sich dabei in einer eigenartigen Bewegung,
die nach ihrem Entdecker R. Brown die Brown’sche Be-
wegung heißt. Diese Bewegung wird hervorgerufen durch
das Aufeinanderprallen der Teilchen und der Flüssigkeits-
moleküle, denn innerhalb von Gasen und Flüssigkeiten sind
die Moleküle in ständiger Bewegung, die mit steigender
Temperaturerhöhung stärker wird. Ein kleines Körperchen,
das sich in der Flüssigkeit befindet, wird so ständig von Stößen
getroffen. Diese verursachen das Hin- und Herschwingen
dieser Teilchen, wenn sie kleiner sind als 3 « (0,003 mm).
Bei 3 u ist diese Bewegung gerade noch zu merken. So
BEER
|
1
o-o
2
oo
a 5
= Oe g
G S y È &
Fig. 1. Größenverhältnisse mikroskopischer und kolloider Teile.
1. Blutkörperchen des Menschen (0,0065 mm). 2. Milzbrandbazillus
(Länge 0,004—0,015 mm). 3. Kugelbakterien (0,0005—0,001 ni 4. Teil-
chen einer kolloiden Goldlösung (0,000 006—0,000015 mm). 5. Kügelchen
von 0,5 # = 0,0005 mm Durchmesser. 6. Gummigutt-Teilchen. 7. Teilchen
von ca. 1,1 u — 0,0011 mm Durchmesser. 8. Teilchen von ca. 4 u = 0,004 mm
Durchmesser. 9. Brownsche Molekularbewegung nach O. Lehmann (in
willkürlichem Maßstab).
38 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion
unterscheiden sich Aufschwemmungen kollodialer Teilchen von
solchen gröberer. Bringen wir Schlemmkreide oder Ton in
Wasser, so wird es trüb; nach einiger Zeit aber gehorchen
die Teilchen der Schwerkraft und sinken zu Boden. Auch
bleiben sie, wenn wir sie auf einen gewöhnlichen Filter schütten,
in diesem zurück. Bringen wir dagegen kolloides Gold in
Wasser und beleuchten seitlich, so sehen wir einen Lichtkegel
wie bei den Sonnenstäubchen. Darauf beruht die Wirkung des
Ultramikoskops. Hier wird das Präparat, also in diesem Fall
die Flüssigkeit nicht von unten, sondern seitlich beleuchtet.
So können wir noch ein 0,00000000001 gr. Gold sichtbar
machen, d. h. ein Zwanzigmarkstück auf 1’, Millionen Liter
Wasser verteilt. Man nennt dann solche Flüssigkeiten mit
suspendierten Goldteilchen „kolloidale Lösungen“. Die Teilchen
sinken nicht zu Boden und gehen auch durch Filter aus Fließ-
papier hindurch. Man bezeichnet weiterhin solche Suspensionen
kolloider Teilchen in Flüssigkeiten als „Sol“ und spricht von
Hydrosol, wenn die Flüssigkeit Wasser ist (sol von lat.
solvere lösen; Hydro von griech. Hydor Wasser). Verdampft
man nun die Flüssigkeit, so bleiben die feineren Teilchen als
trockene schlammartige Konsistenz zurück und man heißt diese
Form Gel (weil Gelatine die bekannteste Art dieser Form von
Kolloiden ist). Gallerte (Gel) ist also weder ein fester Körper
noch eine Flüssigkeit. Man nennt weiterhin z.B. in einem
Silbersol das fein verteilte Silber die feste „disperse Phase“.
Nun unterscheiden sich aber die kolloidalen Lösungen deutlich
von den oben besprochenen echten.
Wir sahen oben, wie echte Lösungen sich gegen darüber
gegossenes Wasser ausgleichen (diffundieren oder dialysieren).
Dies gilt nun auch für Gallerten. Die Gele gleichen also darin
den Flüssigkeiten. Machen wir aber die Gele dichter, d. h.
wasserärmer, dann wird die Diffussion mehr und mehr ver-
hindert. Werden sie ganz wasserarm, d. h. werden sie zu
einer Membran, dann hört die Diffussion auf. Während nun
echte Lösungen (Lösungen der Kristalloide) auch durch solche
Membrane (z.B. Pergamenthäutchen) hindurchgehen, diffundieren
hier kolloidale Lösungen nicht. Die kolloiden Teilchen bleiben
auf der Membran als Gel zurück. So kann in einer Gallerte
Stoffaustausch stattfinden, wie in einer Flüssigkeit; aber
die Veränderungen, die der Austausch mit sich bringt, sind
v.Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 39
mehr fixiert. Dadurch nähert sich die Gallerte mehr dem festen
Körper, denn in einer Flüssigkeit kann die leiseste Bewegung
das Diffussionsresultat stören. Dieser Stoffwechsel äußert sich
besonders deutlich in der Aufnahmefähigkelt von Flüssigkeit.
Wir sagen z.B. vom Leim, daß er Wasser aufsaugt und wieder
austrocknet. Damit berühren wir die für uns wichtigste
Seite der Kolloide speziell der Gallerten. Man nennt diese
Vorgänge Quellung und Entquellung. Verschiedene Stoffe
haben nun die Eigenschaft, bei Berührung mit Wasser frei-
willig in Gallertform überzugehen (sie quellen). Ganz ähnlich
verhält sich, wie wir im zweiten Aufsatz sehen werden, das
tierische Gewebe. In dieser Eigenschaft Flüssigkeiten gegen-
über liegt wieder — wie aus dem Vorhergehenden bereits klar
wurde — ein Unterschied zu den Kristalloiden. Wirft man ein
Kristalloid (Zucker oder Kochsalz) in Wasser, so löst es sich.
Die einzelnen Teilchen haben ihren Zusammenhang verloren.
Die Kolloide, z. B. Leim, hingegen vergrößern ihr Volumen,
aber die Teilchen behalten zumeist ihren Zusammenhang. Bei
manchen kolloidalen Körpern, wie Holz ist jedoch bald eine
Grenze dieser Quellbarkeit erreicht, während allerdings einige
Kolloide — man nennt sie die hydrophilen (die „Wasser-
freundlichen“) — auch ihren Zusammenhang zerreißen lassen,
(so das Eiweiß) und in ein Sol übergehen. Dem Holz ähneln
noch andere kolloide Stoffe, wie die Haut usw, die eine
geringe Quellbarkeit besitzen, weil sie ja die Form erhalten
und als Stütze für andere Gewebe dienen müssen. Die Ent-
quellung, d. h. die Wiederabgabe von Wasser bringt eine
Schrumpfung mit sich und ist die Grundlage des Alterns,
wie wir ebenfalls im folgenden Aufsatz sehen werden.
Die Kolloide besitzen aber noch eine charakteristische
Eigenschaft, die uns späterhin interessieren wird. Wenn man
z. B. Eiweiß kocht, so gerinnt oder koaguliert es und kein
physikalischer Vorgang vermag es wieder in den vorigen
Zustand zurückzuführen. Ein ähnliches Moment tritt ein,
wenn wir eine stark verdünnte Eiweißlösung, also ein Hydrosol
des Eiweißes kochen. Es bleibt klar und macht den Eindruck,
daß die Koagulution nicht erfolgt. Fügen wir aber einige
Tropfen Amoniumsulfat hinzu, so bilden sich Flocken. Diesen
Vorgang nennt man Ausflockung. Die Flocken sind im
Wasser unlöslich. Allgemein tritt die Ausflockung ein, wenn
40 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion
man einem Sol ein Salz mit Jonen hinzufügt. Die Brown’sche
Bewegung der Moleküle hört auf, sie legen sich aneinander
und ballen sich zu kleinen Klümpchen zusammen. Das Aus-
flocken oder Gerinnen ist also eine elektrische Erscheinung.
Manche Kolloide werden auch durch kurzwelliges Licht, durch
ultraviolette Strahlen, dann durch Röntgenstrahlen (Strahlen
von kleinster Wellenlänge) und durch Radiumstrahlung zum
Ausflocken gebracht.
Unsere folgenden Aufsätze werden behandeln: II, Biokolloide
und Altern. Formbildung. III. Die Zelle und der Befruchtungs-
vorgang. IV. Sekretion und Exkretion, Fermente und Encyme.
V. Immunitätsreaktionen. VI. Innere Sekretion I. VII. Innere
Sekretion II (Gonaden). VIII. Sexuelle Zwischenstufen. IX. Ver-
jüngung. X. Röntgen- und Radiumstrahlung.
W
Geschlecht und Gesellschaft
Neue Folge X, 2
Abb. 1. Künstlicher osmotischer Tang.
Abb. 2. Hindufrau durch Hunger gealtert.
(Aus Bechhold, Kolloide.)
(Aus Ploß-Bartels, Das Weib.)
Zum Aufsatz „Zum Verständnis der inneren Sekretion« von F. v. Reitzenstein.
DIE BEDEUTUNG DER VERERBUNGSLEHRE
FÜR DAS VOLK.
Von Universitäts-Professor Dr. KONRAD GUENTHER, Freiburg.
y” allen Wissenszweigen gehört die Naturkunde zu denen,
die bei uns am stiefmütterlichsten behandelt werden. Natur-
kundliche Unkenntnisse sind so gang und gäbe, daß sich nie-
mand mehr über sie aufhält. Wenn jemand einen Feuersalamander
für eine Schlange hält, einen Buchfinken für ein Rotkehlchen und
die Ansicht äußert, daß das Weibchen vom Hirsch das Reh
sei — alles nicht etwa erdachte, sondern erlebte Beispiele —
so wird man deswegen den betreffenden Menschen in seiner
Bildungsstufe nicht tiefer stellen, ebensowenig wie jemand auf-
fallen würde, der von seinem Körper und dessen Leben, vom
Werden des Kindes, von den Vorgängen, wie die elterlichen
Eigenschaften auf das Kind übertragen werden, keine blasse
Ahnung hat — denn so geht’s ja so gut wie allen! Wohl aber
würde sofort ein spöttisches Lachen erschallen, wenn jemand
noch nie den Namen Michelangelo gehört haben wollte, nichts
von Expressionismus wüßte oder von Hannibal und Cäsar.
Überlegt man sich das recht, so muß einem diese heutige
Art unserer Bildung doch recht komisch vorkommen. Es ist,
wie wenn ein Junge die Straßen des alten Roms sehr genau
inne hätte und den ganzen Stadtplan entwerfen könnte, sich
aber in seiner eigenen Stadt bei den kleinsten Entfernungen
verirrte und nicht einmal den Weg zur Schule oder zum Bäcker
wüßte. Man würde mit Recht zu einem solchen Jungen sagen,
es solle doch zuerst das Nächstliegende und das was er täglich
braucht, lernen, dann möge er studieren, was weit entfernt ist
und oder gar Jahrhunderte nicht mehr existiert.
Wahrlich, mehr als Cäsar und Michelangelo gehen uns
doch die Bäume an, die vor unserem Hause stehen und an
denen wir täglich vorübergehen, und ist es nicht wunderlich
daß niemand die Tiere und Pflanzen kennt, die ihm bei seinen
Spaziergängen begegnen? Er schädigt sich ja selbst durch
solche Unkenntnis! Wie viel reicher wäre sein Leben, wenn
er die Wunder der Natur sehen könnte, das Buch der Natu
4
42 Günther: Die Bedeutung der Vererbungslehre
zu lesen verstünde! Jeder Spaziergang wäre ihm dann ein
Genuß, Langeweile gäbe es für ihn nicht mehr und die Be-
schäftigung in der freien Luft würde ihn gesund erhalten‘).
Man nennt unser Zeitalter das der Naturwissenschaften,
und alles, was das Leben des Volkes treibt, wie Land- und
Forstwirtschaft, Bergbau, Industrie beruht auf naturwissenschaft-
licher Grundlage und ist ohne naturwissenschaftliche Kenntnisse
nicht zu verstehen. Man sollte denken, da würden nun die
Staatsleiter in der Naturwissenschaft ganz besonders ausgebildet
werden, aber nichts davon! Ihrer hauptsächlich juristischen
Ausbildung fehlt bis heute der naturwissenschaftliche Einschlag.
Und wie vom Minister abwärts naturwissenschaftliche Kenntnisse
vermißt werden, so natürlich auch bei den Volksvertretern.
Und da wundert man sich, wenn es mit unserer Politik nicht
klappen will! Erst wenn der Naturwissenschaft der rechte Platz
in der gesamten Volksausbildung eingeräumt wird, wird es mit
Deutschland aufwärts gehen.
Denn aufwärts und vorwärts sein Volk zu bringen, ist doch
eine Hauptaufgabe für jeden, der nicht nur für sich lebt. Wie
kann man aber Völker oder — es entspricht das denselben
Grundsätzen im Kleinen — Kinder erziehen wollen, wenn man
gar nicht weiß, ob das, was man anerziehen will, sich auch
anerziehen läßt? Über diese Grundfrage müßte man sich doch
zuerst klar werden! Aber niemand tut das, weder Volks- noch
Kindererzieher. Die Eltern haben da ihre bestimmten Begriffe
von guten und schlechten Eigenschaften und ihre Erziehungs-
methoden, die Eigenschaften, die sie für die guten halten,
ihren Kindern anzuerziehen, die schlechten auszurotten. Und
wenn sie nur zu oft später sehen müssen, daß all’ ihr Mühen
umsonst war, dann suchen sie alle möglichen Gründe, den
wahren aber erkennen sie nicht. Das aber ist der, daß sie ihr
Material nicht studiert haben und nicht wußten, wozu es sich
eignete. Der Bildhauer weiß genau, daß sich aus Sandstein
nicht dieselben Figuren meißeln lassen, wie aus Marmor, ist
er aber ein rechter Künstler, so gibt er dem Sandstein die
Form, die diesem paßt und schafft doch ein Kunstwerk. Er
kennt eben sein Material.
1) Näheres bei Günther, Heimatlehre als Grundlage aller Volks-
entwicklung. Ein Programm für den Wiederaufbau. Freiburg i. Br.,
Th. Fischer. 1920.
Günther: Die Bedeutung der Vererbungslehre 43
Die Eltern können nun ihr Material und seine Behandlungs-
methode nicht von selbst kennen. Es gibt aber eine Wissen-
schaft, die sie darüber belehrt, das ist die Vererbungslehre.
Gerade in neuester Zeit hat diese Lehre gewaltige Fortschritte
gemacht und es ist eine notwendige Aufgabe, den weitesten
Kreisen von ihnen Kenntnis zu geben.
Die Vererbungslehre stellt zwei grundlegende Fragen auf:
gibt es bestimmte Gesetze, nach denen die Entwicklung des
Kindes — und natürlich ebenso der jungen Pflanze und des
jungen Tieres — vor sich geht und ist es dem Menschen mög-
lich, diese Gesetze zu beeinflussen? Wir sehen, von der Be-
antwortung dieser Fragen hängt in der Tat auch der ganze
Erfolg der Erziehung ab, und es ist eben nur durch unsere
allgemeine Naturentfremdung zu erklären, daß die Mütter sich
überhaupt noch gar nicht gefragt haben, ob hier ein Problem
vorliegt, ebensowenig, wie sie sich über die Entstehung und
Entwicklung des Kindes zu belehren suchen, obgleich doch hier
das Mysterium ihres ganzen eigenen Wesens liegt.
Damit will ich aber beileibe nicht sagen, daß die Ursache
zu solcher Unkenntnis eingeborenes, mangelndes Interesse ist.
Niemand hat die Frauen eben bisher darauf hingewiesen, in
der Schule wird von den Mädchen ängstlich jede Kenntnis-
nahme dieser Dinge ferngehalten, und später fehlt die Gelegen-
heit zur Belehrung. Das hat dann die Folge, daß, wenn das
heranwachsende Mädchen durch Freundinnen von solchen Dingen
erfährt, nicht selten auf recht unzarte Weise, es mit seiner
Mutter sich nicht ausspricht, da es von dieser ja nie etwas
über die Entstehung des Kindes erfuhr und somit annehmen
muß, daß es sich hier um Dinge handelt, die nur im Geheimen
erfahren werden dürfen oder gar sündhaft sind. So klafft plötz-
lich ein tiefer Spalt der Entfremdung in das Verhältnis zwischen
Mutter und Kind hinein. Sehr wohl spürt die Mutter das
Schwinden des Vertrauens, aber wie dem abhelfen? Da gibt
es nur eines für sie, sich zu belehren, und von Anfang an das
Kind zart und allmählich auf den Weg des Mysteriums seines
Körpers hinzuführen. Die Frage ist so wichtig, daß außer
Büchern und Zeitschriften auch Kurse für Frauen gehalten werden
sollten, denn durch das Wort und vor allem durch das Vor-
zeigen der ersten Entwicklungsvorgänge im Mikroskop und an
Präparaten werden die wunderbaren Vorgänge erst wirklich
4*
44 Günther: Die Bedeutung der Vererbungslehre
verständlich. Ich selbst habe solche Kurse im hiesigen Museum
für Naturkunde, das ich zu einer Anstalt für naturkundliche
Volksbildung ausbaue mit Kursen, Exkursionen in Wald und
Feld, Plätzen zu eigenen Arbeiten usw., gehalten, und habe mit
Freuden die große Anteilnahme gerade der Frauen festgestellt.
Manche Mutter hat mir nachher erklärt, daß nun wieder das
Einverständnis mit ihrer Tochter gekommen sei, da das An-
hören der Vorträge zu gegenseitiger Aussprache einen natür-
lichen Anlaß gegeben hätte. Man sieht also, die Frauen sind
nicht naturfremd von Natur, sie sind es, weil ihnen nichts
anderes übrig bleibt!
Doch nun zurück zur Vererbungslehre. Wenn diese die
Gesetze, nach denen die Entwicklung des Kindes vor sich geht,
untersuchen will, so muß sie zunächst das Wesentliche dieser
Entwicklung feststellen. So hat man denn als erste Grund-
bedingung alles Verständnisses erkannt, daß die Anteile von
Vater und Mutter am Kinde gleich sind. Da wir sehen, daß
im Durchschnitt der Fälle das Kind genau dieselbe Möglichkeit
hat, väterliche, wie mütterliche Eigenarten anzunehmen, daß mit
anderen Worten, das männliche Geschlecht dieselbe Vererbungs-
kraft hat wie das weibliche, muß dem ja auch so sein. Man
hat es aber früher nicht verstehen können, wie das geschehen
konnte, wenn man etwa beim Huhn den winzigen Samenfaden
des Hahnes mit dem großen Ei verglich. Beim Menschen ist
der Unterschied zwischen Samen und Ei nicht so groß, wenn
auch immer noch sehr beträchtlich, dafür aber entwickelt sich
das nur in einem Augenblick vom väterlichen Samen befruchtete
Ei die ganze Zeit im Körper der Mutter und wird bis zur
Geburt von ihren Säften ernährt.
Es ist nun festgestellt worden, daß in jedem Ei, mag es
nun groß oder klein sein, die eigentliche lebende Substanz, aus
der sich das spätere Wesen entwickelt, nur ein winziges Pünktchen
ist, der sogenannte „Kern“ mit seiner Umgebung. Er entspricht an
Größe und Beschaffenheit einem anderen Kern, der den „Kopf“ des
Samenfädchens des Vaters bildet. Aus lauter solchen, wie win-
zigste Kaulquappen aussehenden und beweglichen Samenfädchen
besteht nämlich der Samen des Mannes; von all’ den Milliarden,
die zur Befruchtung dem Ei zugeführt werden, dringt aber nur
ein einziges in dieses hinein. Beide Kerne enthalten die „Ver-
erbungssubstanz“, so lehrt die Vererbungslehre, diese enthält
Günther: Die Bedeutung der Vererbungslehre 45
alle körperlichen und geistigen Eigenschaften der Mutter (Ei-
kern) und des Vaters (Samenkern). Bei der Befruchtung ver-
einigen sich die beiden Kerne, das Kind erhält also eine
Mischung aus väterlichen und mütterlichen Eigenschaftenmasse,
aber von beiden Seiten in ganz gleicher Menge. Seine Ent-
wicklung wird bestimmt durch eine Auswahl aus diesem Gemisch.
Wie diese Entwicklung vor sich geht, wie überhaupt die
Vererbungssubstanz beschaffen ist und auf welche Weise Ei
und Samen sie erhalten, über alle diese Fragen gibt uns die
Vererbungslehre Aufschlüsse. Doch können wir uns hier mit
ihnen nicht beschäftigen. Aber eines wird der Leser schon
aus diesen kurzen Hinweisen erkennen. Das Wesen des Kindes
wird bei der Befruchtung bestimmt, und seine Eigenarten ent-
wickeln sich durch innere Kräfte, die hierbei ihren Anfang
nehmen. Mit anderen Worten, alle späteren körperlichen und
geistigen Eigentümlichkeiten des Menschen liegen bereits als
„Anlagen“ in Ei und Samen, aus denen er entsteht. Es spielt
keine Rolle, ob das Ei viel oder wenig Nahrungssubstanz ent-
hält oder ob es in der Mutter bis zur Geburt ernährt wird.
Wenn aber schon eine so innige Verknüpfung, wie die es ist,
welche zwischen Mutter und Kind besteht, keinen Einfluß auf
den Ausbau des kindlichen Körpers hat — bis etwa auf
Störungen durch Blutstockungen oder ähnliches — dann werden
die späteren Versuche der Erziehung erst recht in das Kind
keine neuen Eigenschaften hineinbringen können. Das ist das
erste, für die ganze Erziehung ausschlaggebende Ergebnis der
Vererbungslehre.
Sehen wir uns aber diese Anlagen näher an, so bemerken
wir, daß wir sie nicht einfach als väterliche und mütterliche
bezeichnen dürfen. Auch die Eltern haben bei ihrer Entstehung
die Anlagen von ihren Eltern geerbt und so weiter. Da hat
nun die Vererbungslehre die überraschende Lehre aufgestellt,
daß die Anlagensubstanz von Samen und Ei nicht nur die An-
lagen zu einem Menschen, sondern zu vielen enthalten. Um
ein drastisches Beispiel zu nehmen, enthält das Ei Anlagen zu
mehreren Nasen, und auch der Same bringt solche mit. Welche
Form bei der Zusammenmischung während der Befruchtung in
der Überzahl ist, ob Stumpfnase oder Adlernase oder eine
andere Form, die gibt den Ausschlag. Die anderen Formen
gehen aber in der Vererbungssubstanz nicht zugrunde, sondern
46 Günther: Die Bedeutung der Vererbungslehre
werden weitergeschleppt und können bei irgend einer späteren
für sie günstigen Befruchtung wieder herausschlagen. So erklärt
es sich, daß eine Eigenart der Urgroßmutter, die Großmutter
und Enkelin nicht aufwiesen, plötzlich in der Urenkelin wieder
auftritt. So erklärt es sich ferner, daß typisch männliche Krank-
heiten, wie die Bluterkrankheit, an der z.B. der unglückliche
russische Thronfolger litt, sich über die Tochter auf den Enkel
übertragen können, es erklären sich die schädlichen Folgen der
Inzucht, die gleichen oder ungleichen Zwillinge und anderes.
Ja, noch mehr! Es ist der Vererbungslehre gelungen, bestimmte
Regeln festzustellen, nach denen bei der Kreuzung von zwei
entgegengesetzten Eigenarten, wie etwa lange oder kurze Nase,
schwarzes und weißes Fell gewisser Tiere usw. die Nach-
kommenschaft diese Eigenarten erhält. Ergibt zum Beispiel die
Kreuzung eines schwarzen und weißen Tieres graue Nach-
kommen, so treten bei deren Jungen doch wieder weiß und
schwarz hervor und zwar in ganz bestimmtem Prozentsatz zu
grau. Man nennt diese Erscheinungen die „Mendelschen Regeln“.
Von ihnen soll ein andermal die Rede sein.
Und noch eine Frage steht heute im Vordergrund der Ar-
beiten der Vererbungslehre. Stehen die Anlagen im Ei mit dem
Körper der Mutter in solcher Verbindung, daß Veränderungen
eines Organs der Mutter auch die entsprechende Anlage im Ei
beeinflussen können? Und ebenso beim Manne und seinem
Samen? Werden, wenn ich meine Armmuskeln durch Turnen ver-
stärke, auch die Anlagen dieser Muskeln, die in meinen Samen-
fädchen im Hoden aufgespeichert liegen, für die nächste
Generation ebenfalls so beeinflußt, daß ich meinen Kindern
schon die Anlagen zu stärkeren Armmuskeln mitgebe? Diese
Frage, ob es eine „Vererbung erworbener Eigenschaften“ gibt
oder nicht, ist heute noch nicht gelöst, immerhin sind die Aus-
sichten für eine verneinende Antwort größer. Wie wichtig es
aber nicht nur für den Züchter, sondern für jeden Menschen
ist, sich mit dieser Frage zu beschäftigen, das wird nun wohl
jeder einsehen.
Wir müssen abbrechen, denn die Vererbungslehre ist ein
zu großes Gebiet, als daß wir sie hier auf wenig Seiten wieder-
geben könnten, selbst in den Hauptergebnissen und -problemen.
Aber eines möge der Leser festhalten. Es besteht ein Unter-
schied zwischen der äußeren Erscheinung eines
Günther: Die Bedeutung der Vererbungslehre 47
Menschen und seiner Vererbungssubstanz, also den
Anlagen, die er seinen Kindern mitzugeben hat. Ein kern-
gesundes Mädchen kann doch in seinen Eiern die Bluterkrank-
heit schlummern haben, die selbst bei der Heirat mit einem
gesunden Mann plötzlich im Sohne wieder herausschlägt. Ein
gutmütiger Mann kann in seinem Samen boshafte Anlagen haben
usw. Welche Bedeutung das für die Heirat und Nachkommen-
schaft, also für die Volksentwicklung überhaupt hat, ist klar,
und manche Staaten Nordamerikas haben denn auch bereits
begonnen, die Volksvermehrung nach diesen Gesichtspunkten
wenigstens in der Weise zu überwachen, daß sie krankhafte
Anlagen von ihrer Weiterübertragung auszuschalten suchen.
Auch bei uns hat die „Rassenhygiene“ eine Anzahl eifriger
Verfechter.
Ich denke, der Leser wird mir schon nach diesen kurzen
Hinweisen die Bedeutung der Vererbungslehre für das Volk zu-
geben. Wer Kinder hat, versündigt sich geradezu, wenn er
ihre Ergebnisse nicht kennen zu lernen sucht, lehrt sie ihn
doch, daß die erste Aufgabe des Erziehers ist, die Anlagen des
Kindes zu studieren, und daß für seine weitere Arbeit nur der
Gesichtspunkt maßgebend sein kann, daß die guten Anlagen
durch möglichste Pflege entwickelt, die schlechten zurückgehalten
werden. Nur wenn das Kind nach seinen Anlagen den Lebens-
weg gewiesen bekommt, wird es sich recht entwickeln. Und
dasselbe gilt auch für die Erziehung des Volkes. Auch das Volk
hat seine Anlagen, man kann ihm nicht Eigenschaften aufzwingen,
die es nicht hat. Wohl mag es auch solche für eine Zeitlang
annehmen, aber sobald die Zucht aufhört, wird es sie wieder
fallen lassen. So erklärt sich der Sturz vieler Völker von der
Höhe, auf die geniale Führer sie mitgerissen hatten, die zu er-
reichen aber nicht in ihren Fähigkeiten lag. Dauerndes werden
nur die Staatsleiter erzielen, die das Volk dahin führen, wo
seine Anlagen hinweisen.
Jetzt aber, wo wir unser tiefgestürztes Volk wieder aufzu-
richten suchen, ist es doppelt notwendig, die Lehren der Ver-
erbungslehre zu berücksichtigen. Sonst könnte es kommen,
daß wir von neuem ein Gebäude errichten, das nach kurzer
Zeit wieder zusammenstürzt, weil wir es versäumt haben, den
Boden zu erforschen, auf dem wir den Bau aufsetzten und das
Fundament zu legen.
48 Hirschfeld: Sexuelle Teilanziehung
ÜBER SEXUELLE TEILANZIEHUNG.
Von San.-Rat Dr. MAGNUS HIRSCHFELD, Berlin.
D! Anziehungskraft, welche eine Person auf eine andere ausübt,
geht niemals von ihrer Gesamtheit aus. Es sind vielmehr
immer nur einige körperliche und seelische Eigenschaften, bald
in geringerer, bald in größerer Anzahl, die reizen und fesseln;
es kommt sogar nicht selten vor, daß es nur eine einzige Eigen-
schaft an einem Menschen ist, der sich jemandes Liebe zuwendet.
Fehler und Mängel der Person werden dann zwar noch objektiv
als solche empfunden, aber subjektiv um des einen Vorzugs
willen völlig übersehen.
Diese Teilanziehung oder partielle Attraktion wurde von
Kraff-Ebing „individueller Fetischzauber“ genannt und von ihm
„als Keim jeder physiologischen Liebe“ erachtet. Als physio-
logischem Fetischismus steht ihr ein pathologischer gegenüber,
der in krassester Form darin seinen Ausdruck findet, daß ein
von seinem Träger gänzlich losgelöster Teil, beispielsweise ein
abgeschnittener Haarzopf oder Schuh, geschlechtlich in hohem
Grade erregend wirkt. Zwischen diesen beiden, der normalen
Teilanziehung, auf der das große Gesetz der sexuellen Selek-
tion beruht, und der krankhaften Partialattraktion, welche sich
auf eine isolierte Eigentümlichkeit allein erstreckt, liegt das weite
Gebiet leidenschaftlicher Zuneigungen, bei denen die Sinne zwar
auf einen Teil in Verbindung mit dem zu ihm gehörigen Men-
schen eingestellt sind, dieser Bestandteil aber so überwertet
wird, daß viel weniger der Mensch mit der bestimmien Eigen-
schaft, als die Eigenschaft mit der an ihr befindlichen Person
begehrt wird.
Binet hat unter Zugrundelegung dieser Beobachtungen einen
kleinen und großen Fetischismus unterschieden; beim kleinen
steht der.erotisch wirksame Teil stark im Vordergrunde sowohl
hinsichtlich der sexuellen Empfindung als der Betätigung, löscht
aber den Träger nicht aus, auf den sich vielmehr allmählich
die Verliebtheit überträgt. Beim großen Fetischismus bleibt eine
solche Übertragung in der Regel aus; es findet eine völlige
Substitution statt, indem der anziehende Gegenstand, selbst wenn
er ein lebloser ist, vollkommen an die Stelle einer geliebten
Person tritt. Von Binet, welcher im Jahre 1887 durch seine
Arbeit: „Du Fétichisme dans lamour“ in der Revue philo-
sophique diesen sexualpathologischen Begriff in die Wissen-
Hirschfeld: Sexuelle Teilanziehung 49
schaft einführte, rührt auch der Name her. Meist wird dieses
Wort mit dem portugiesischen „fetisso“ zusammengebracht, was
eine gefeite Sache bedeutet, eine Art Zaubermittel, etwas Ähn-
liches wie in der religiösen Verehrung ein Amulett, ein Talisman,
eine Reliquie; oder auch wie ein Götzenbild, wobei man berück-
sichtigen muß, daß der primitive Mensch sich diese unbelebten
Gegenstände und Symbole als innerlich beseelte Wesen vor-
stell. Bereits im Jahre 1769 war in Paris ein Buch mit dem
Titel: „Du Culte des dieux-fitishi“ erschienen, das sich mit der
Anbetung vieler sonderbarer Dinge beschäftigte, denen ein
fetischistischer Charakter zuerteilt wird. Die Bezeichnung Feti-
schismus hat sich durchgesetzt, während andere nicht minder
zutreffende Ausdrücke für dieselbe Erscheinung, wie sexueller
Partialismus (von „pars pro toto“ = der Teil an Stelle des
Ganzen) oder sexueller Idolismus — Idol im Sinne von Götze
— nicht durchgedrungen sind. Ebensowenig auch der von
Eulenburg vorgeschlagene Name: sexueller Symbolismus, der
den Vorteil hat, mit einem Schlagwort das innerste Wesen der
Erscheinung zu beleuchten; in der Tat handelt es sich bei den
Fetischen um assoziativ entstandene Sinnbilder, konzentrierte
Symbole. Übrigens soll das portugiesische Ursprungswort
fétisso aus dem lateinischen factitius gebildet sein, das von
facere = machen herstammt und soviel wie ein künstlich her-
gestelltes Abbild bedeutet. Ein Philologe hat vorgeschlagen,
den Fetischismus statt Symbolismus, welcher Terminus bereits
anderweitig mit Beschlag belegt ist, Metabolismus zu nennen,
hergeleitet vom griech. metaballo, was eintauschen oder ersetzen
heißt, ein zweifellos gut geprägtes, biegsames und klares Wort,
da ja der ganze Vorgang in der Tat eine Substitution ist. Gegen
die von mir in den „Naturgesetzen der Liebe“ eingeführte
Bildung: Teilanziehung oder partielle Attraktion, der als Revers
nicht weniger bedeutungsvoll und verhängnisvoll die Teil-
abstoßung oder partielle Aversion gegenübersteht, ist eingewandt
worden, daß diese Worte keine Wandlungen, vor allem keine
Eigenschaftswörter zulassen. Für den Begriff der partiellen
Aversion haben sich in der Literatur auch die Bezeichnungen
Anufetischismus und Fetischhaß eingebürgert.
Der Fetischismus verhält sich zum Antifetischismus wie
etwas Positives zu etwas Negativem, Zuneigung zu Abneigung,
wie Lustbetontes zu Unlustbetontem, Liebe zu Haß. So heftige
50 Hirschfeld: Sexuelle Teilanziehung
Formen der Fetischhaß gelegentlich annimmt — kann er doch
selbst kriminelle Zerstörungen im Gefolge haben —, so stellt
er im Grunde meist doch nur einen verkappten Fetischismus
dar, bei dem das Unlustgefühl aus dem Nichtvorhandensein der
lustbetonten Sinneswahrnehmung erwächst. Um ein Beispiel zu
geben, rührt die antifetischistische Aversion vieler Frauen gegen
den Vollbart des Mannes vielfach von einer fetischistischen
Vorliebe für ein glattes Gesicht her; das positive Anzeichen —
der männliche Geschlechtscharakter des Bartes — entfaltet eine
negative, das negative — die Bartlosigkeit — eine positive
Wirkung, entsprechend einem Minus von Weiblichkeit und weib-
licher Reaktionsfähigkeit bei der liebenden Person. Als Ursache
seelischer Impotenz spielt die antifetischistische Idiosynkrasie
eine nicht geringe Rolle.
Die Zahl der Fetische ist unbegrenzt groß. Vom Kopf bis
zum Fuß gibt es kein Fleckchen am Körper, und von der Kopf-
bedeckung bis zur Fußbekleidung kein Fältchen am Gewand,
von dem nicht eine fetischistische Reizwirkung ausgehen könnte.
Da es sich hierbei oft um ganz außerordentlich kleine Beson-
derheiten handelt, etwa eine bestimmte Art des Lächelns oder
eine eigentümliche Haltung, so verbirgt sich sowohl das, was
anzieht, als das, was abstößt, nicht selten in der Tiefe des Un-
bewußten oder wird als rein ästhetische Geschmacksrichtung
aufgefaßt. Die ersten Zweifel, ob der Empfindung des Schönen
nicht doch eine erotische Unterströmung beigemischt ist, pflegen
in der Reifezeit aufzutauchen, wenn sich zu dem Lustgefühl
das Schamgefühl gesellt. Instinktiv fängt der junge Mann oder
das junge Mädchen dann an, sich des Wohlgefallens zu schämen,
das der Anblick des schönen Fußes oder Schuhes in ihnen
auslöst, sie erröten bei ihrer Erwähnung und unterdrücken
Äußerungen darüber, weil sie von ihnen als peinlich empfunden
werden.
Dabei ist es sehr beachtenswert und differentialdiagnostisch
von entscheidender Bedeutung, ob jemand einen Gegenstand am
eigenen oder fremden Körper begehrt. Der wirkliche Fetischist
interessiert sich lediglich für den Teil oder die Sache an einer
anderen Person oder für das Ding an sich. Er selbst trägt
meist sogar das Gegenteil von dem, was ihn bei einem zweiten
Menschen fetischistischfesselt; liebter Frauen mitkurzgeschnittenen
Haaren, so hat er die Neigung, sich die seinigen lang wachsen
Hirschfeld: Sexuelle Teilanziehung 51
zu lassen; ist er auf Lack-, Schnür- oder Knopfschuhe eingestellt,
so findet man ihn selbst vielfach in plumpen Zug-, Schnallen-
oder Rohrstiefeln. Wohl kommt es vor, daß jemand ein fetisch-
istisches Kleidungsstück anlegt, um es in möglichste Nähe mit
sich zu bringen, aber meist nur vorübergehend, sehr selten auf
die Dauer. Erstreckt sich hingegen seine Leidenschaft darauf,
Samt und Seide, Perlen und Diamanten oder gar Frauenkleider
am eigenen Leibe zu haben, so sind dies Begehrungsvorstellungen,
die in das Gebiet des Narzißmus, Transvestitismus oder Zis-
vestitismus fallen; sexueller Autismus und Altruismus verhalten
sich zueinander wie Eitelkeit zu Neugier. Freilich werden oft
auch Fetische angelegt, um Fetischisten anzulocken; namentlich
die Prostitution bedient sich seit alters bewußt und unbewußt
solcher Reizmittel („Reizstrümpfe“, „Lockstiefel“, „Lockpelze u.a.)
in großem Umfange. ji
Es bildet nun aber niemals ein Teil ganz im allgemeinen
die Sehnsucht des Fetischisten, sondern nur dann, wenn er von
ganz bestimmter Beschaffenheit ist, wird er so stürmisch ver-
langt. Die Sinnesorgane wenden sich zwar zunächst spontan
im allgemeinen nach den betreffenden Teilen (aus der Blick-
richtung eines Menschen kann ein Kenner in dieser Hinsicht
gewichtige Schlüsse ziehen), die Sinne bleiben an einem Teil
aber nur dann lusterfüllt haften, wenn dieser Teil spezielle Eigen-
schaften besitz. Es wird also niemals jemand, der schöne
Augen liebt, durch jedes Auge gefesselt, sondern nur durch die,
auf welche er subjektiv lustbetont reagiert: Augen von beson-
derer Art, Form, Farbe und Umrahmung, etwa solche mit langen
Wimpern. Wie das Sehorgan nur Gesichtseindrücke von eigener
Artung wünscht, so sucht auch das Ohr bestimmte Tonhöhen
und Klangfarben, und auch das Geruchs- und Gefühlsorgan
nicht alle, sondern nur gewisse Gerüche und Tastempfindungen.
So wird der Sexualpartialismus zu einem Sexualpartial-
spezialismus, der eine ganz außerordentlich große Differen-
zierung bedingt. Dieser erotische Schönheitsbegriff ist ein
absolut persönlich gefärbter, wie es ja überhaupt fraglich ist,
ob es eine objektive Schönheit gibt, so sehr sich auch Ästhe-
tiker bemüht haben, bestimmte Harmoniegesetze für Formen,
Farben und Töne aufzustellen. Mögen solche Regeln in der
Ästhetik vielleicht objektive Gültigkeit haben, in der Erotik ver-
sagen absolute Schönheitsgesetze völlig, so daß der generali-
LIBRARY
UNIVERSITY OF ILLINOIS
AT URBANA -CHAMPAIGN
52 Hirschfeld: Sexuelle Teilanziehung
sierende Ausspruch: „die Liebe macht blind“ von einer völligen
Unkenntnis sexualpsychologischer Elementargesetze zeugt.
Aus dem Gesagten erhellt, daß die Grenze zwischen
gesundem und krankhaftem Fetischismus und ebenso auch
zwischen dem „petit“ und „grand fétichisme“ keineswegs leicht
zu ziehen ist. Die Haarlocke des geliebten Mädchens im Me-
daillon ihres Liebhabers ist gewiß ein sehr verbreiteter Fetisch,
in dessen Aufbewahrung schwerlich jemand etwas Krankhaftes
erblicken dürfte; nennt aber ein Mann mehrere Hundert Haar-
büschel sein eigen —- ein Fall, den ich wiederholt, so erst vor
kurzem in meiner forensischen Praxis erlebte —, jedes mit
einem bunten Seidenbändchen und dem Namen der einstigen
Besitzerin versehen, aus deren pubes die Haare stammen, so
wird man ebensowenig Bedenken tragen, in diesem Sammel-
trieb den Ausdruck eines pathologischen Fetischismus zu er-
blicken.
Daß der Fetischismus mit einem objektiven Schönheitssinn,
falls es solchen überhaupt gibt, wenig gemein hat, lehren die
zahlreichen Beispiele, in denen sich Fetischisten für verbildete,
verkrüppelte und verstümmelte Körperteile leidenschaftlich er-
wärmen, einer Neigung, der auf dem Gebiet des Kleidungs-
fetischismus eine Vorliebe für zerlumpte Gewänder und zerrissene
Schuhe entspricht. Ein Seitenstück zu der Liebhaberei des
Philosophen Cartesius für schielende Frauen erlebte ich in
meiner Praxis: die schwärmerische Vorliebe eines Patienten für
die Glotzaugen an Morbus Basedowii leidender Frauen. Auch
auf lahme und bucklige Mädchen sind manche Männer „scharf“,
und ebenso gelegentlich Weiber auf hinkende und verwachsene
Männer, ganz besonders auch auf solche, die im Krieg ein
Glied verloren haben.
Es scheint, als ob bei allen Anziehungen durch Ano-
malien und Defekte, das Mitleid ein nicht zu unterschätzen-
des Motiv der Zuneigung ist. Ganz charakteristisch schreibt
eine Patientin: „Vor vier Jahren lernte ich meinen Mann R.
kennen, Schweizer von Geburt, furchtbar häßlich, wie seine
Schwester; beide seit langen Jahren verwaist. Ich lernte ihn
auf einer Gesellschaft kennen. Ich hatte gleich Zuneigung zu
ihm, weil er häßlich war; ich habe häßliche Leute immer gerne,
weil sie meistens von den Leuten schief angesehen werden,
besonders wenn sie Gebrechen haben, doch habe ich immer
Hirschfeld: Sexuelle Teilanziehung 53
in häßlichen Menschen gute, goldene Herzen gefunden. So-
genannte schöne Männer sind mir dagegen direkt zuwider.“
Es gibt Männer und Frauen, die von nichts erotisch mehr
eingenommen sind, als von der Hilflosigkeit des anderen.
Sowohl aus der Beherrschung als aus der Bedienung solcher
Wesen ziehen sie Lustgewinn. Die Mehrzahl der Ehen, die
wegen der Stärke gesellschaftlicher, körperlicher und sonstiger
Gegensätze Dritten unbegreiflich erscheinen, erklären sich aus
fetischistischer Reizwirkung.
Worin aber findet diese selbst ihre Erklärung? Binet hat
1887 in der Revue philosophique (Paris Nr. 8) die These auf-
gestellt, daß hier ein „choc fortuit“, ein psychisches Trauma,
wirksam sei, und fast alle Autoren dieses Gebietes haben seit-
her mit verhältnismäßig geringen Modifikationen ähnliche An-
schauungen vertreten, so Ziehen‘), der von „determinierenden“
Erlebnissen spricht und auch die Freudsche Schule, die den
„akzidentellen Faktoren“ und „infantilen Eindrücken“ ein sehr
großes, nach unserer Überzeugung allzu großes Gewicht bei-
legt. Freud selbst hat sich allerdings wiederholt gegen den
mißverständlichen Vorwurf gewandt, als hätte er die Bedeutung
der angeborenen konstitutionellen Momente geleugnet, weil er
die der infantilen Eindrücke hervorgehoben habe; er schreibt:
„Ein solcher Vorwurf stammt aus der Enge des Kausalbedürf-
nisses der Menschen, welches sich im Gegensatz zu der gewöhn-
lichen Gestaltung der Realität mit einem einzigen verursachenden
Moment zufrieden geben will. Die Psychoanalyse hat über die
akzidentellen Faktoren der Ätiologie viel, über die konstitutionellen
wenig geäußert, aber nur darum, weil sie zu den ersteren etwas
Neues beibringen konnte, über die letzteren hingegen zunächst
nicht mehr wußte, als man sonst weiß. Wir lehnen es ab,
einen prinzipiellen Gegensatz zwischen beiden Reihen von
ätiologischen Momenten zu statuieren; wir nehmen vielmehr
ein regelmäßiges Zusammenwirken beider zur Hervor-
bringung des beobachteten Effekts an. Beide gemeinsam be-
stimmen das Schicksal eines Menschen; selten, vielleicht nie-
mals, eine dieser Mächte allein. Die Aufteilung der ätiologischen
Wirksamkeit zwischen den beiden wird sich nur individuell und
im einzelnen vollziehen lassen. Die Reihe, in welcher sich
%) Charit&-Annalen 1910, S. 242 ff.
54 Hirschfeld: Sexuelle Teilanziehung
wechselnde Größen der beiden Faktoren zusammensetzen, wird
gewiß auch ihre extremen Fälle haben. Je nach dem Stande
unserer Erkenntnis werden wir den Anteil der Konstitution oder
das Erlebnis anders einschätzen und das Recht behalten, mit
der Veränderung unserer Einsichten unser Urteil zu modifizieren.“
Wer allerdings vorurteilslos die Arbeiten der Psychoanalytiker
prüft, wird sich des Eindrucks nicht erwehren können, daß in
ihnen der äußeren „Tücke“ des exogenen „Zufalls“ eine un-
gleich größere Rolle zuerkannt wird, als dem inneren „Dämon“,
der sexuellen Konstitution.
Auch Krafft-Ebing, welcher in bezug auf andere Erschei-
nungen des Sexuallebens, wie der Homosexualität, des Masochis-
mus und Sadismus, die Theorie Binets mit Entschiedenheit
verwirft, macht hier eine Ausnahme, indem er in bezug auf den
Fetischismus die Lehre vom „accident agissant sur un sujet
predispose“ akzeptiert. Unter „accident“ soll hierbei ein be-
liebiges zufälliges Geschehnis, unter „predisposition“, wie Binet
ausdrücklich hervorhebt, nur eine allgemeine nervöse Hyperäs-
thesie verstanden werden. Mir erscheint die Hypothese der
okkasionellen Verknüpfungen, deren Vertreter um die Prädis-
position, also das Konstitutionelle und Endogene doch nicht
herumkommen, in ihrer bisherigen Form gänzlich unzureichend.
Tatsächlich handelt es sich bei der Annahme, daß eine erst-
malige und von da ab dauernde sexuelle Exzitation und Attraktion
primär durch das reizauslösende Objekt, nicht aber durch die
individuelle Beschaffenheit der sexuellen Empfangsorgane im
Nervensystem bedingt ist, um eine Theorie, die bisher weder
bewiesen ist, noch kaum bewiesen werden kann. Denn daß
das erstmalige Zusammentreffen des entwickelten Geschlechts-
sinnes mit dem, was „sein Fall“ ist, Lustempfindungen aus-
lösen muß, die, wenn sie eine bestimmte Stärke erreicht haben,
auch als solche ins Bewußtsein dringen, bedarf als selbstver-
ständlich kaum einer Erörterung; vergleichen wir aber die Ubi-
quität geschlechtlicher Reize mit der Rarität der individuellen
geschlechtlichen Reaktion, berücksichtigen wir den enormen
Elektivismus, welcher den menschlichen Geschlechtstrieb be-
herrscht, denken wir daran, daß an demselben Objekt, das die
einen in die höchste Ekstase versetzt, Millionen andere achtlos
und reaktionslos vorübergehen, so liegt es nach allen Gesetzen
der Logik klar zutage, daß nur die Beschaffenheit der sexuellen
Hirschfeld: Sexuelle Teilanziehung 55
Psyche, der nervösen Zentralorgane, daß es nur die spezifische
Konstitution sein kann, welche den Ausschlag gibt. Von dem
bestimmten individuellen Gepräge unseres Inneren hängt es ab,
was wir als Reiz empfinden, nicht vom Reiz als solchem. Dafür
spricht auch die elementare, zielstrebende Durchschlagskraft,
mit der allem Wollen und Wünschen, allen Einflüssen und Ein-
flüsterungen zum Trotz der Geschlechtstrieb auf sein Reiz-Ziel
sein Objekt lossteuert, auf dasselbe „fliegt“.
Daß infantile Eindrücke hier nicht in entscheidender Weise
maßgebend sein können, lehrt auch der Umstand, daß Fetisch-
isten sehr häufig an Gegenstände fixiert sind, die in ihrer Jugend
überhaupt noch nicht vorhanden waren. Die Kriegserfahrungen
haben sich in dieser Richtung lehrreich erwiesen. So bildete
die „feldgraue“ Uniform bald nach ihrem Auftauchen für viele
Frauen einen überaus intensiven Fetisch, dem gegenüber die
bunte Friedensuniform vielfach nahezu als Antifetisch wirkte.
Eine alte Dame suchte mich im zweiten Kriegsjahr auf, die von
den Ledergamaschen der Offiziere, wie sie sich ausdrückte, „ganz
konfus geworden sei; ein homosexueller Jurist, 45 Jahre alt,
wurde ab 1914 durch das Eiserne Kreuz in höchste sinnliche
Erregung versetzt. Menschen ohne diese Auszeichnung ließen
ihn „gänzlich kalt“. Schon ein bloßes Streicheln des schwarz-
weißen Ordensbändchens bewirkte Erektion. Ir diesen Fällen,
die sich durch viele ähnliche Beispiele vermehren ließen, an-
zunehmen, daß der zufällige Anblick des ledernen oder eisernen
Gegenstandes auf jeden beliebigen Neuropathen dieselbe Wirkung
hätte haben können, beruht, um mit Möbius zu reden, „wie jede
Erklärung aus dem Milieu auf Oberflächlichkeit“.
In folgendem will ich kurz die Erklärung wiedergeben, die
ich in meinem „Wesen der Liebe“ (S. 152) für den Fetischismus
in seinen mannigfachen Arten und Graden gegeben habe. „Primär
angeboren ist zuvörderst der die Lebensrichtung gebende Cha-
rakter der eigenen Persönlichkeit. Der so oft zitierte horazische
Satz von der ewigen Wiederkehr der selbst mit der Heugabel
nicht auszutreibenden Menschennatur gehört zu den wahrsten
Maximen der Biologie. Gewiß sind Lebensumstände und Lebens-
weise, die Erziehung und allerlei Erlebnisse und Ereignisse für
den äußeren Ablauf eines Lebens von hohem Belang, aber das
Gepräge des Menschen bleibt. Entsprechend dem Wesen der
Persönlichkeit ist auch der Geschlechtstrieb und die Liebe in
56 Hirschfeld: Sexuelle Teilanziehung
ihrer Eigenart und individuellen Wesentlichkeit einem jeden an-
geboren, eine Mitgift der Natur, — zum Glück oder Unglück,
zum Guten oder Bösen. Der Mensch und seine Liebe sind
eine untrennbare Einheit. — Aber nicht nur die Triebrichtung
im allgemeinen, gleichviel zu welchem Geschlecht, ist in der
Natur des einzelnen begründet, sondern auch die spezielle Vor-
liebe für eine in bestimmter Weise charakterisierte Personengruppe
dieses Geschlechts. Ob ein Mann ein sich ihm voll hingebendes
junges Mädchen liebt, die er seinerseits stützen will, oder eine
ältere, geistig überlegene Frau, auf die er sich stützen möchte,
ob ein Weib dem schwärmerischen Jünglingstyp oder dem „ge-
setzten Mann“ den Vorzug gibt, alles das ist nicht vom Zufall,
sondern von der eigenen innersten Natur des Liebenden abhängig.“
Wenn nun aber eine besondere Eigenschaft vornehmlich
anregt: das Auge, die Hand, die Kopf- oder Fußbekleidung, so
beruht dies darauf, daß dieser Teil in seiner Eigenart als etwas
für die Gefühlsrichtung ganz speziell Bezeichnendes empfunden,
als für den Typus besonders typisch angesehen, als konzen-
triertes Symbol gefühlt wird. Die Teilanziehung gründet sich
also auf kein zufälliges Zusammentreffen, sondern auch auf die
Eigenart der psychosexuellen Natur, nur daß diese verwickelten
Assoziationen und anastomosierenden Neuronverbindungen ätio-
logisch meist schwieriger zu fassen sind als die Triebrichtung
auf ein Geschlecht, einen Typus oder ein Individuum.
Ich stimme demnach mit meinem Freunde Professor Lip-
schütz in Dorpat vollkommen überein, daß es sich bei dem
Fetischismus um etwas ganz Ähnliches handelt wie bei den von
dem Physiologen Pawlow in seiner Arbeit über die psychische
Sekretion der Speicheldrüsen beschriebenen bedingten Reflexe.
Wie die Verdauungsdrüsen ihre Absonderung bereits beginnen,
bevor der Mund und Magen die lecker scheinende Speise um-
schließen, bei ihrem bloßen Anblick, ja bei Nennung ihres Namens
oder Erwähnung einer sich auf sie oft nur entfernt beziehenden
Vorstellung sezernieren, so verhält es sich ganz ähnlich mit der
Sekretion der Geschlechtsdrüsen bei dem Anblick oder münd-
lichen, schriftlichen oder bildlichen Erinnerung an ein Objekt,
die das nur viel individueller geartete sexuelle Hungergefühl zu
sättigen geeignet wäre.
I
Javanisches Mädchen.
(Aus Stratz, Schönheit des weiblichen Körpers.)
Zum Aufsatz „Zum Verständnis der inneren Sekretion“
von F. v. Reitzenstein.
Donna Marianne im Alter von 131 Jahren.
Aus Ploß-Bartels, „Das Weib«.
Zum Aufsatz „Zum Verständnis der inneren Sekretion“
von F. v. Reitzenstein.
-i
ORORONOROHOKROHOHONROR:
YYYY
:
OROHOROROHOHOROHON
DAS WEIB IM ALTINDISCHEN EPOS.
Von Universitäts-Professor Dr. RICHARD SCHMIDT, Münster.
(Fortsetzung.)
Mt dem Eintritt der Reife erlangt das Mädchen das Anrecht auf
das einzig ihr zukommende Sakrament, das der Verheiratung,
die zugleich auch eine Art Wiedergeburt bedeutet, genau so,
wie der Mann durch die Umgürtung mit der heiligen Schnur
zum zweiten Male geboren (dvija) wird. Des Vaters heilige
Pflicht aber ist es, seine Tochter alsbald zu vermählen; denn
„wer nicht seine leibliche, schöne Tochter einem würdigen
Freier gibt, den halte man für einen Brahmanenmörder,“ sagt
das Mahābhāratam, und die Juristen sind ganz auf seiner Seite.
Sie drohen den lässigen Eltern mit der grausigen Schuld der
Embryotötung oder sie weisen darauf hin, daß die Ahnen in
der anderen Welt ohne Unterlaß das Blut trinken, das die nicht
rechtzeitig unter die Haube gebrachte Tochter jeden Monat
ausscheidet! So beeilte sich denn jeder Vater, der ja in aller-
erster Linie als verantwortlich angesehen wurde, seiner Pflicht
nachzukommen, wenn ihm auch ihre Erfüllung noch so sauer
werden mochte. Das dornenvolle Amt des Brautvaters hat es
schließlich verschuldet, daß die Mädchen oft genug als zarte
Kinder von vier Jahren verheiratet wurden — natürlich nur
de jure, nicht de facto — und daß namentlich manche Brah-
manen aus der Sache ein recht einträgliches Geschäft zu machen
wissen, indem sie sich den verzweifelten Vätern als Schwieger-
sohn anbieten; oft wohlbetagte Mummelgreise, die gar nicht
mehr daran denken können, ihre Rechte irgend geltend zu machen.
Wünschen wir aber dem Brautvater oder seinen Stell-
vertretern, unter denen wir, den indischen Anschauungen von
der Frau entsprechend, die Mutter des Mädchens erst an aller-
letzter Stelle finden, alles Gute bezüglich der Wahl des künftigen
Schwiegersohnes. Er hat nun, falls er der Kaste der Brahmanen
angehört, das Aussuchen unter vier Hochzeitsriten, bei denen
das Mädchen ohne Kaufpreis hingegeben wird; höchstens darf
er dabei ein Ehrengeschenk in Gestalt eines Rinderpaares vom
5
58 R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos
Bräutigam annehmen. Denn die eigentliche Kaufehe, bei der
also der Vater seine Tochter wie eine Ware verschachert, gilt
so wenig wie die noch übrigen drei Arten für die oberste Kaste
als fein; sie ist dem dritten und vierten Stande überlassen, während
die Raubehe, als der Art des Krieges entsprechend, den An-
gehörigen der zweiten Kaste erlaubt ist und die letzte Form,
die man (nach einer besonderen Art von Dämonen) paisaca
nennt, sich als gemeine Notzucht charakterisiert und von Meyer
mit „Diebstahlsehe“ bezeichnet wird. Die noch nicht erwähnte
Gandharvenehe besteht in der Vollziehung der Hochzeit ohne
jede Förmlichkeit hinter dem Rücken der Eltern oder Vormünder
des Mädchens; sie spielt in der Literatur eine ziemlich große
Rolle und wird samt der Kaufehe von einigen Autoritäten noch
für erlaubt erklärt und demnach in der Zahl der sozusagen
orthodoxen Formen aufgezählt. Alle diese Riten erscheinen in
Übereinstimmung mit den Satzungen ‚der Rechtsgelehrten im
Epos; das Mahäbhäratam hat richtige juristische Kolloquien
darüber, z. B. XIII, 44, bei Meyer S. 43ff.
Am genausten werden die einzelnen Formen wie natürlich
von den Juristen erklärt. Es möge hier genügen, die Definitionen
aus Manu, IIl, 27—34 wiederzugeben: „Als die brahm a-Form
gilt es, wenn man das Mädchen, nachdem man es gekleidet
und (ihm Schmucksachen) verehrt hat, einem Mann von Wissen
und Charakter gibt, den man selbst dazu eingeladen hat. —
Die daiva-Form nennt man es, wenn man die Tochter ge-
schmückt dem Opferpriester gibt, der die heiligen Handlungen
vollzieht, während das Opfer in der gehörigen Weise vor sich
geht. — Als prajapatya-Form gilt es, wenn das Mädchen
unter Ehrenbezeugungen hingegeben wird, wobei die begleitenden
Worte gesprochen werden: „Erfüllt Beide zusammen die heilige
Pflicht!“ — Wenn man das Mädchen nach Vorschrift hingibt,
nachdem man vom Freier ein oder zwei paar Rinder zu frommer
Pflichterfüllung®) erhalten hat, so nennt man das die arsa-
Form. — Die asura-Form nennt man es, wenn das Mädchen
hingegeben wird, nachdem der Freier den Verwandten des
Mädchens und diesem selbst nach Kräften und freiwillig Geld
gezahlt hat. — Die auf geschlechtliche Vermischung abzielende,
aus der Liebe entspringende gegenseitige Vereinigung von
e) Nicht in der Absicht, sein Kind zu verkaufen.
R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos 59
Mädchen und Freier auf Grund (ihres eigenen) Wunsches muß
als gandharva-Ehe angesehen werden. — Der gewaltsame
Raub des schreienden und weinenden Mädchens aus dem
(Eltern-)Hause unter Morden, Verwunden und Einbrechen heißt
die raksasa-Weise. — Wenn man mit Hinterlist ein schlafendes,
trunkenes oder (sonst) seiner Sinne nicht mächtiges Mädchen
beschläft, so ist das als paisaca-Ehe bekannt; die echte und
sündhafteste unter den Heiratsformen.“
Als letztes Mittel endlich, an den Mann zu kommen, steht
dem Mädchen die Selbstwahl (svayamvara) zu Gebote. Im
Epos und in konventionellen Schilderungen ist es damit nicht
so ängstlich; es fehlt der tragische Hintergrund. Diese Art ist
nie allgemeine Sitte gewesen, sondern auf Töchter der Krieger-
kaste und namentlich königliche Prinzessinnen beschränkt
geblieben. Häufig genug handelt es sich dabei weniger um
eine Auslese, die das Mädchen trifft, als um eine Probe
kriegerischer Tüchtigkeit, wie in der Selbstwahl der Draupadi l,
184ff., Meyer S.60ff., der man ein ganz ähnliches Stück aus
dem Rämäyana (I, 66, 67; Meyer S. 67) zur Seite stellen kann:
in beiden Fällen muß ein gewaltiger Bogen gespannt werden.
Das Epos kennt aber auch das recht primitive Mittel des
regelrechten Kampfes der Nebenbuhler bei dem Svayamvara:
Mah. VII, 144. l
Ganz anders liegt nun die Sache in den Fällen, wo die
Selbstwahl von der Not geboten erscheint. Die Rechtsgelehrten
haben dabei ein Mädchen im Auge, dem gegenüber der „Braut-
geber“, d. h. der Vater oder sein Stellvertreter, seine Pflicht
vernachlässigt. Die Juristen schreiben vor, das Mädchen solle
drei Menstruationen oder (so auch das Mahäbhärata) drei
Jahre abwarten, dann aber auf eigene Faust auf die Suche
gehen und, wenn sie einen Mann gefunden hat, die vom Vater
oder ihren sonstigen Verwandten erhaltenen Geschenke zurück-
lassen. Viel ausführlicher und amüsanter ist hier das Kamasutram
(S. 278ff. meiner Übersetzung, 5. Auflage). Es kennzeichnet
zunächst die zur Selbstwahl Gezwungenen mit den Worten:
„Ein Mädchen von geringer Gelegenheit (d. h. ohne Umgebung),
wenn auch reich an Vorzügen; arm an Geld, wenn auch aus
ediem Geschlechte; das von Gleichgestellten nicht aufgesucht
wird oder der Eltern beraubt ist oder im Hause von Verwandten
lebt, soll sich auf eigene Faust um ihre Verheiratung kouer,
60 R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos
wenn sie das jugendliche Alter erreicht hat (d.h. wenn sie
menstruiert).“ Dann gibt Vatsyayana gute Ratschläge, wie eine
solche zu Werke gehen soll: „Sie umwerbe mit Kindesliebe
einen mit Vorzügen versehenen, kräftigen und ansehnlichen
Mann. Oder von wem sie meint: Er wird mir von selbst,
ohne Rücksicht auf die Eltern, infolge der Schwachheit des
Fleisches angehören“, den mache sie sich geneigt durch Um-
werben voller Liebe und Fürsorge und beständiges Sichzeigen.
Die Mutter (oder, wenn diese nicht mehr lebt, eine Stellvertreterin)
stelle sie in Gesellschaft der Milchschwestern .und Freundinnen?)
jenem vor Augen. Mit Blumen, Wohlgerüchen und Betel in der
Hand sei sie in der Einsamkeit und am Abend bei ihm. Beim
Offenbaren ihrer Geschicklichkeit in den Künsten, beim Massieren
und Drücken des Kopfes zeige sie ihre Erfahrung. Sie erzähle
dem Wesen des Umworbenen entsprechende Geschichten und
richte sich nach dem, was in dem (Kapitel) „Herangehen an
ein Mädchen“ angegeben ist. Auch wenn sie dem Manne ganz
nahe steht, soll sie ihn nicht selbst (sexuell) angehen; denn
eine junge Frau, die den Mann selbst angeht, verliert ihr Glück.
So lehren die Meister. Die von ihm gezeigten Umwerbungen
aber nehme sie in gehöriger Weise an. Umarmt zeige sie
keine Aufregung. Eine zarte (Liebes-)Äußerung nehme sie hin,
als verstände sie sie nicht. Das Ergreifen (d.h. Küssen) ihres
Mundes geschehe nur mit Gewalt. Wenn sie um Ausführung
des Liebesgenusses gebeten wird, geschehe die Berührung der
Pudenda nur unter Schwierigkeiten. Wenn auch aufgefordert,
sei sie selbst nicht gar zu offen, da die Zeiten sich ändern
können. Wenn sie aber meint: „Er ist mir zugetan und wird
nicht zurücktreten“, dann beschleunige sie den Werbenden,
behufs Austritts aus dem Kinderstande; und wenn sie den
Mädchenstand verloren hat, melde sie es den Vertrauten.“
Der Abschluß eines solchen Liebeshandels leitet uns zu
dem Gandharven-Ritus über, so benannt, weil die Gandharven,
die Musikanten des Himmels, mit den schönen Apsarasen, den
Himmels-Hetären, auch nicht viel Umstände machen. Der
Unterschied zwischen der eben geschilderten Selbstwahl und
der Gandharven-Ehe liegt einzig darin, daß dort der Mann erst
gesucht werden muß, während hier alles glatt geht und das
?) Der Kommentator bemerkt dazu: „Damit ihre Verschämtheit weicht.“
R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos 61
Pärchen bloß die Zeit nicht abwarten kann. Das weltliche
Kämasütram hält die Gandharven-Heirat für die beste Art
schlechtweg, eine aus seinem Geiste heraus leicht erklärliche
Ansicht, der sich auch das Epos anschließt. Zum mindesten
empfiehlt es sie besonders der Kriegerkaste, wobei es sich auf
berühmte Rechtsbücher berufen kann (Manu Ill, 26; Visnu XXIV,
28). Aber selbst der Verfasser der Ars amandi rät doch, den
so geschlossenen Liebesbund nachträglich noch feierlich zu
weihen, indem der Mann aus dem Hause eines Brahmanen.
Feuer holt, heiliges Gras streut, nach Vorschrift opfert und mit
seiner Frau das Feuer dreimal umschreitet. Letzteres macht
nämlich die Ehe unlöslich, wie die Meister lehren.
Wenn der Jurist Narada unbedenklich erklärt, die Gan-
dharven-Ehe sei allen Kasten gemein, so ist das wohl keine
besonders tiefe Weisheit: Neigungsheiraten hat es eben auch
in Indien immer und überall gegeben, und die Beteiligten haben
durchaus kein Bedenken getragen, ihre Eltern realpolitisch vor
die vollendete Tatsache zu stellen, so daß diese wohl oder
übel ja und Amen dazu sagen mußten, wie das Vatsyayana
p. 229 schelmisch andeutet. So zahlreich auch die Bedenken
sind, die die Schließung des Ehebundes erschweren, so hat es
doch nicht an gewichtigen Stimmen gefehlt, die der Liebes-
heirat das Wort reden; und zwar nicht allein das ganz
realistische Kämasütram, sondern auch strenge juristische Texte,
wie z.B. das (von Winternitz, Hochzeitsrituell $..39 angezogene)
Bharadvajagrhyasütram, wo es heißt: „An der sein Herz sich
freut und zu der sein Auge sich hinneigt, die, wisse er, ist
glückverheißend und mit guten Merkmalen ausgestattet; was
bedarf es da erst noch einer Prüfung!“ — Das bekannteste
Beispiel einer Gandharven-Ehe bietet die Geschichte von Dus-
yanta und Sakuntala, die übrigens Kalidasa viel dramatischer
gestaltet hat als sie im Epos (Mah. I, 68 ff) vorgetragen wird.
„Neben solchen romantischen Liebes- und Heiratsabenteuern
der Kshattriya mußte natürlich die bei der Masse des Volkes
erbeingesessene Kaufehe als gemein und niedrig erscheinen“
(Meyer 76). Trotzdem hat uns das Mahabharata ein paar Fälle
aufbewahrt, in denen auch in höheren und höchsten Kreisen
ein Brautpreis gezahlt wird; und die Heftigkeit, mit der die
Rechtsgelehrten gegen das Verkaufen der Töchter losziehen,
beweist doch, daß die Kaufehe das Gewöhnliche war. Sie ist
62 R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos
auch heute noch in Indien ganz gebräuchlich und keineswegs
auf die unteren Schichten der Bevölkerung beschränkt.
Zu den Punkten, die vor der Verheiratung noch zu be-
denken sind, gehört nun noch die Frage nach der Ebenbürtigkeit
und dem Alter der Kontrahenten. Die strenge Ansicht ist die,
daß man in seiner Kaste bleibt und nicht über oder unter seinen
Stand heiratet. Doch weiß das Epos von solchen Verirrungen
lange nicht so viel zu sagen wie die Juristen, und selbst das
Kämasütram, dem man- gewiß keine Engherzigkeit vorwerfen
kann, erinnert an hervorragender Stelle an die Segnungen, die
der Ehebund mit einer ebenbürtigen Frau im Gefolge hat: die
Geburt rechtmäßiger Söhne, die Mehrung des Anhangs und eine
ungekünstelte Liebe. Selbstverständlich hat es auch in Indien
immer unebenbürtige Ehen gegeben, die nicht nur von den
Rechtsgelehrten, sondern auch von der Gesellschaft eine ganz
verschiedene Beurteilung erfahren haben. Wenn sich nämlich
ein Brahmane huldvoll herabließ, die Tochter eines gemeinen
Mannes zu freien, so drückte man wohl ein Auge zu; es mochte
sogar vorkommen, daß sich die Beteiligten von solcher Gnade
geschmeichelt fühlten. Aber wehe, wenn ein armer Teufel es
wagte, seine Augen zu einer Höherstehenden zu erheben! Am
ruhigsten dachte man über solche Mischehen, bei denen die
Fräu nur um eine Stufe tiefer stand als der Mann. Jedenfalls
aber erscheint bei den brahmanisch-exklusiv angehauchten
Rechtsgelehrten die Forderung der Ebenbürtigkeit an erster
Stelle, wenn sich auch die Herren im einzelnen so wenig einig
sind, daß bisweilen bei einunddemselben Autor zwei ver-
schiedene Ansichten unvermittelt nebeneinander stehen.
Was endlich das Alter anlangt, so darf der jüngere Bruder
nicht vor dem älteren, die jüngere Schwester nicht vor der
früher geborenen heiraten. Auch hier gehen die Ansichten des
Epos wie der Juristen über die Schwere der dabei möglichen
Verschuldung und die Höhe der Sühne wieder auseinander. —
Für das Mädchen allein spielt das Alter insofern noch eine
Rolle, als die Rechtsgelehrten dafür eine untere Grenze fest-
gesetzt haben, wobei freilich die Angaben zwischen dem zwölften
und vierten (!!) Lebensjahre schwanken. Eine Quelle gibt zu
verstehen, daß die Geldgier den Zeitpunkt möglichst weit
herabrückt. Es ist natürlich überflüssig zu bemerken, daß es
sich hierbei weniger um eine wirkliche Verheiratung, als viel-
R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos 63
mehr um eine bindende Verlobung handelt. Die Braut, wenn
der Ausdruck erlaubt ist, bleibt so lange im Elternhause, bis
die Natur sie in den Stand setzt, die Pflichten der Ehe zu er-
füllen. Das Epos sagt hierüber so gut wie nichts; Meyer
erwähnt S. 44/45 nur die Vorschrift, ein Dreißigjähriger solle
eine zehnjährige Gattin, der Einundzwanzigjährige eine mit
sieben Jahren heiraten. (Vgl. aber Jolly, Recht und Sitte, 56/57.)
Von sonstigen Eheformen ist für Indien noch die Polygamie
zu nennen, die dort uralt ist und „für das brahmanische System
nicht das geringste Ärgernis“ erregt. So ist denn auch im
Epos der Harem eine selbstverständliche Einrichtung, deren
„Vorteile“ freilich nur dem Manne zufließen. „Keine Schuld
lastet auf den Männern, die viele Frauen heiraten, eine sehr
große Schuld aber auf den Frauen, wenn sie ihren ersten
Gatten (durch eine neue Ehe) beleidigen“, sagt das Mahäb-
häratam. Nun hatte ja wohl der Mann die Pflicht, alle seine
Frauen gleichmäßig liebevoll zu behandeln — der Mond, der
von seinen siebenundzwanzig Gattinnen eine einzige nur leiden
mochte, bekam dafür die Schwindsucht zur Strafe — aber es
ist doch zu natürlich, daß eine Favoritin vorhanden ist. Und
so hören wir denn im Epos genug ergreifende Klagen zurück-
gesetzter Frauen, wie nicht minder von den Eifersüchteleien
und Feindseligkeiten der Haremsinsassen. Darüber wäre zur
Ergänzung das Kämasütram nachzulesen, welches in Kapitel
32—39 eine höchst anschauliche Schilderung des Haremsleben
gibt und sich über die Pflichten der einzelnen Frauen gegen-
einander und gegen den Mann eingehend äußert. Es gibt auch
die Gründe an, weshalb der Gatte noch bei Lebzeiten seiner
Frau zu einer neuen Ehe schreitet: „Man heiratet eine zweite
Frau bei Lebzeiten der ersten wegen deren Beschränktheit und
Boshaftigkeit; wenn man ihre Liebe nicht erwidern kann; wenn
sie keine Kinder gebiert; wenn sie in häufiger Wiederholung
Mädchen zur Welt bringt, oder wenn der Gatte unbeständig ist.“
Dazu stimmen im allgemeinen die Lehren der Juristen, z. B.
Manu IX, 80/82: „Eine Frau, welche berauschende Getränke
trinkt, von schlechter Führung, widerspenstig, krank, boshaft und
verschwenderisch ist, darf stets überheiratet werden. Eine un-
fruchtbare Frau darf im achten Jahre überheiratet werden; eine,
deren Kinder tot sind, im zehnten; eine, die nur Mädchen
gebiert, im elften; aber eine, die unfreundliche Reden führt,
64 R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos
sofort. Eine kranke, aber sonst treffliche und von Charakter
tüchtige Frau dagegen kann nur mit ihrer Bewilligung über-
heiratet und darf niemals mißachtet werden.“
Ist also die Polygamie etwas ganz Gebräuchliches, so ver-
stößt die Polyandrie durchaus gegen das Gefühl des arischen
Inders, und so finden sich im Epos auch nur ganz wenig
Beispiele dafür, bei denen es sich auch nur um Weiber-
gemeinschaft unter Brüdern handelt, wie in dem bekanntesten
Falle: der ehelichen Verbindung der fünf Söhne des Pandu mit
Draupadi. Meyer hält die Sitte für unarisch, während Jolly
geltend macht, daß sich die Frage, ob die Polyandrie des Alter-
tums auf nichtarische Stämme beschränkt war oder nicht, jeden-
falls nicht entscheiden läßt. Sicher ist nur, daß heutigentags
die Polyandrie bei nichtarischen Stämmen, und zwar tibetanischen
im Norden (in Kumaon, Seoraj, Lahoul, Spiti) und dravidischen
im Süden, noch in viel weiterem Umfange vorkommt als man
gewöhnlich annimmt. Unter den letzteren sind die Nairs (im
nördlichen Kanara) zu wahrer Berühmtheit gelangt; ältere und
jüngere Reisebeschreibungen (Linschoten, Della Valle, Billing-
ton etc.) berichten von dem merkwürdigen Eheleben dieser
Leute, von denen Della Valle berichtet, sie hätten keine eigenen
Weiber, „sondern es seyn dieselbe unter ihnen gemein, und
wann ein Mann eine besuchen will, so lässet er seyn Gewehr
vor der Thür, welches dann ein Zeichen ist, daß, so lang er
darinnen bey ihr bleibt, kein anderer zu ihr hinein begehrt,
noch deßwegen unwillig, oder eyffersüchtig wird, und werden
die Weiber von denen, so ihnen beywohnen, mit Nahrung und
Kleidung unterhalten. Sie fragen nichts nach den Kindern, und
kan man nicht eigentlich wissen, wer Vatter darzu ist, sondern
man siehet allein auff die Ankunfft von den Müttern her, nach
welcher alle Erbschafften gerichtet werden.“
(Fortsetzung folgt.)
RICHTIGE UND FALSCHE FOLGERUNGEN
AUS DER GEBURTENSTATISTIK.
Von Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. E. WÜRZBURGER, Dresden.
Eire Schwierigkeit, die sich der Klärung von Problemen durch
die Ergebnisse der Statistik immer und immer wieder ent-
gegenstellt, liegt in der Art, wie die literarischen, der Statistiker-
zunft nicht selber angehörenden Konsumenten der Statistik das
bekannte Wort „Zahlen beweisen“ zu verstehen oder vielmehr
mißzuverstehen pflegen. Gewiß läßt der Parallelismus sowie
das Auseinanderlaufen von Zahlenreihen Schlüsse auf die Ur-
sachen zu; aber der ein statistisches Ergebnis erzeugenden
Ursachen sind meist mehrere oder viele, und um die richtigen
herauszufinden, ist es in der Regel notwendig, nicht bloß die
Zahlenergebnisse selbst, sondern auch die Art, wie sie erhoben
und bearbeitet worden sind, genau in Erwägung zu ziehen,
Einen unter den zahllosen Belegen hierfür bietet die Statistik
einer Erscheinung, die in diesen Blättern gewiß noch oft von
dieser oder jener Seite zu erörtern sein wird: der unehelichen
Geburten.
Von 100 im Deutschen Reiche im Jahre 7973 — wir wählen
dieses Jahr als letztes vor dem Kriege — geborenen Kindern
(einschl. der totgeborenen) waren 9,7 unehelich, also etwas weniger
als eins unter je zehn. Diese sogenannte Unehelichkeitsziffer
schwankt innerhalb der verschiedenen Reichsgebiete nicht un-
erheblich; für Sachsen war sie mit 16,3 am höchsten. Man
könnte auf die Vermutung kommen, daß hier weniger als in
anderen Teilen des Reiches geheiratet wird und aus diesem
Grunde mehr uneheliche Geburten vorkommen; aber diese Er-
klärung ist unstatthaft, weil die Zahl der auf 1000 Einwohner
treffenden Eheschließungen im gleichen Jahre 7973 im Reich 7,7,
in Sachsen aber mehr, nämlich 8,2 betrug und ein ähnliches
Verhältnis beider Zahlen seit einer langen Reihe von Jahren
bestanden hat. Unehelichkeits- und Heiratsziffer stehen also
hier in keiner erkennbaren Beziehung zueinander.
66 Würzburger: Richtige u. falsche Folgerungen a. d. Geburtenstatistik
Blicken wir um einige Jahrzehnte zurück, so sehen wir,
daß das Zahlenverhältnis der Unehelichen unter den Geborenen
damals ein anderes und die Reichsziffer lange nicht so weit
unter der sächsischen stand wie in der neueren Zeit. Zum
Beispiel betrug im Jahre 7883 jene 9,2, diese 12,9; aber auch
hier liegt wieder ein Schluß nahe, der sich nachher als falsch
erweist, daß nämlich die Häufigkeit der unehelichen Geburten
in Sachsen im Laufe der 30 Jahre zugenommen hätte. Das
Gegenteil ist der Fall, wie man bei Anwendung einer exakteren
Berechnungsmethode erfährt, die in der Messung der Zahl nicht
an der der gleichzeitigen ehelichen Geburten, sondern an der
der unverheirateten weiblichen Personen der in Betracht
kommenden Altersklassen besteht. Auf 1000 solche kamen
1883 in Sachsen 47, dagegen /913 nur mehr 35 uneheliche
Geburten. Das Steigen des am Eingang angeführten Anteils
der unehelichen an der Gesamtgeburtszahl von 12,9 auf 16,0 vom
Hundert bringt daher nur zum Ausdruck, daß sowohl die ehe-
lichen wie die unehelichen Geburten abgenommen haben,
erstere aber in stärkerem Maße. Aber auch das ist wieder
eine jener statistischen Nachweisungen, die leicht zu irrigen
Schlüssen aus an sich zweifellosen Tatsachen verführen. Sie
erklärt sich nämlich einfach dadurch, daß die allgemeine
Geburtenverminderung hauptsächlich auf eine Abnahme der
wiederholten Entbindungen der einzelnen Frauen zurück-
zuführen ist, während sie die Erstentbindungen nur wenig be-
rührt hat. Gerade die Erstgeburten stellen aber das Haupt-
kontingent der Unehelichen. Unter diesem Gesichtspunkt bietet
die ganze, viel mißdeutete Statistik der unehelichen Geburten
einen anderen Ausblick. Man übersieht meist, daß es zu einem
recht großen Teil voreheliche Geburten sind, denen die Legi-
timation durch Eheschließung der Eltern nachfolgt, sobald die
Verhältnisse sie gestatten. Andererseits aber deckt sich dieser
Teil der unehelichen Geburten nicht etwa auch nur annähernd
mit der Gesamtheit der vorehelichen Zeugungen, zu denen man
vielmehr erst die große Zahl der in den ersten Ehemonaten
Geborenen hinzurechnen muß. So kommt man zu dem Schluß,
daß der oft genug von Zufälligkeiten abhängige Umstand, ob
die Eheschließung kurz vor oder nach der Entbindung erfolgt
ist, die statistische Zurechnung einer Geburt zu den unehelichen
bestimmt, womit die Bedeutung der ganzen Unehelichenstatistik,
Würzburger: Richtige u. falsche Folgerungen a. d. Geburtenstatistik 67
insofern sie als Anhalt zur Beurteilung geschlechtlicher Be-
ziehungen dienen soll, in Frage gestellt wird; ganz abgesehen
davon, daß ja die unehelichen Geburten überhaupt nur einen
nach Ort und Zeit sehr verschieden zu bewertenden Maßstab
hierfür bieten können.
Einige Zahlen mögen auch dies verdeutlichen; sie müssen
sich auf die sächsische Landesstatistik allein beschränken, da
die Reichsstatistik in dieser Hinsicht noch nicht genügend aus-
gebildet ist.
In Sachsen wurden 7913 20779 Kinder. unehelich geboren
und weitere 12824 in den ersten sieben Ehemonaten (die Ein-
rechnung der 1362 Geburten im 7. Ehemonat, trotzdem ein Teil
von ihnen gewiß ehelichen Ursprungs ist, rechtfertigt sich da-
durch, daß hinwiederum ein Teil der 2577 im 8. und 9. Ehe-
monat Geborenen dies nicht ist). Unter jenen 20779 waren
1477, deren Eltern sich im Jahre 79/3 noch verheirateten, so
daß ihre Kinder ehelich wurden. Dazu kommen bis Ende 1917
noch 5432 weitere Legitimationen von im Jahre 79/3 unehelich
geborenen Kindern; und da bis dahin 4750 bereits unlegitimiert
verstorben waren (außer den 873 totgeborenen), so bleiben nur
so wenige uneheliche Kinder aus dem Jahre 1913 übrig, daß
die Verhältnisziffer zur Gesamtzahl der noch lebenden Kinder aus
dem gleichen Geburtsjahr heute nur noch 8,6 vom Hundert —
statt der ursprünglichen 16,3 — beträgt. Ganz verfehlt ist es
demnach, wenn man, wie es häufig geschieht, den Prozentsatz
der unehelichen unter den Geborenen demjenigen unter den
Lebenden gleichachtet und demgemäß ihn zur Berechnung des
Anteils der Unehelichen an der Kriminalität, der Prostitution
und dergl. benützt.
NA
68 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion
ZUM VERSTÄNDNIS DER INNEREN SEKRETION
UND DER VERJÜNGUNG.
Von FERD. FRHR. VON REITZENSTEIN, Dresden.
II.
Biokolloide, Altern und Formbildung.
D“ vorige Kapitel hat uns mit dem Wesen der Kristalloide
und Kolloide bekannt gemacht; wir wollen uns nun speziell
mit jenen Kolloiden beschäftigen, die in den Organismen eine
Rolle spielen, also den Biokolloiden (vom griechischen Bios
Leben). Neben dem Wasser und einigen wenigen organischen
Stoffen (so Zucker) sowie anorganischen Salzen finden sich in
den Organismen nur Kolloide. Wir dürfen also erwarten, daß
die lebende Materie sich in vielen Dingen jenen Gesetzen anpaßt,
denen die Kolloide unterliegen. Da, wie wir gesehen haben,
die Kristalloide auch die tierische Membran durchdringen, also
sehr beweglich sind, kann man sie auch die mobilen (beweg-
lichen) Bestandteile des Körpers nennen, während die Kolloide
das stabile Moment darstellen. Nicht ganz unzutreffend hat
Bechhold einmal die Kolloide mit den Häusern einer Stadt
verglichen und die Kristalloide mit den Menschen, die darin
umhergehen, die Gebäude zerstören und sie wieder errichten.
Das führt uns eigentlich von selbst zur Frage des Lebens-
vorganges. In der lebenden Zelle findet man etwa dieselben
Stoffe wie in der toten, freilich ist die Untersuchung gerade
im wichtigsten Punkte erschwert, nämlich darin, daß man
vorher die lebende Zelle töten muß und wir wissen, daß die
lebende Substanz im Tode bedeutende chemische Veränderungen
erfährt, wie schon daraus hervorgeht, daß die lebende Substanz
fast stets alkalisch oder neutral, die tote dagegen sauer reagiert.
In der lebenden Substanz müssen also Stoffe oder Verbindungen
davon vorhanden sein, die der toten fehlen. Es ist anzunehmen,
daß die lebende Substanz auf Atomgruppen aufbaut, die sehr
leicht chemischen Umsetzungen unterworfen sind (labile Atom-
komplexe). Man kann also sagen, die lebende Substanz be-
findet sich in labiler, die tote in stabiler (unveränderlicher)
Konstitution. Mithin ist der Stoffwechsel die Grundlage dessen,
was wir Leben nennen. Damit kommen wir aber wieder auf
die Kolloide zurück. Im wesentlichen haben wir es mit drei
v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 69
Arten von Kolloiden zu tun, die hauptsächlich im tierischen
oder pflanzlichen Organismus vorhanden sind. Es sind das die
Kohlenhydrate, also Körper, die sich hauptsächlich aus
Kohlenstoff, Sauerstoff und Wasserstoff aufbauen. Die Kohlen-
hydrate erscheinen auch in kristalloider Form (als Zucker). Die
Pflanzen bilden aus ihnen Stärke und Zellulose, während sie
der tierische Organismus durch einen Prozeß, den wir im vierten
Aufsatz näher behandeln werden, in die tierische Stärke, das
Glykogen, also ein Kolloid verwandelt. Dann gehören hierher
die Lipoide. Man versteht darunter verschiedene fettartige
Substanzen, und rechnet zu ihnen wichtige Bausteine unseres
Nervensystems, die Lezithine. Die wichtigste Gruppe sind
die Eiweißarten. Leider sind gerade hier unsere Kenntnise
sehr lückenhaft, da die Eiweiße äußerst kompliziert zusammen-
gesetzt sind. Sie bestehen aus etwa gleichen Teilen Kohlenstoff,
Wasserstoff, Stickstoff, Sauerstoff und Schwefel. Jedenfalls
sind sie die einzigen Stoffe, die ausnahmslos in jeder Zelle
gefunden werden. Auf ihren Verbindungen und Atomkomplexen
muß also in erster Linie der Vorgang des Lebens beruhen,
auf ihrem Zerfall der Tod. Heute kennen wir noch nicht ein-
mal die Hauptgruppen der Eiweißarten näher, dürfen also ein
klares Urteil über die Lebensvorgänge nicht erwarten. Jedenfalls
besitzen wir verschiedene Eiweißarten im Körper, ja wir wissen,
daß die Serumalbumine der verschiedenen Rassen verschieden
sind. Auch jedes Tier und jede Pflanze hat andere Arten.
Der Hauptsache nach lassen sich drei Gruppen von Eiweiß-
arten unterscheiden; solche, die im Wasser löslich sind, —
dazu gehören vor allem die Serumalbumine — dann solche,
die in Salzlösungen löslich sind (Globuline, Myosin, Vitellin)
und schließlich solche, die in keinen von beiden löslich sind
(Fibrin oder Muskelsubstanz). Die nicht gelösten Eiweißkörper
verlieren durch Hitze ihre Quellbarkeit und man nennt diesen
Prozeß die Denaturierung. Von Interesse ist, daß die
Eiweißarten sehr große Moleküle besitzen. Wie wir schon
sahen, ist ein Teil der Kolloide kristallisierbar; dazu
gehören besonders die Eieralbumine. Bei diesem Prozeß ist
jedoch von größter Wichtigkeit, daß der Lösung dieser Kristalle
dann stets Quellungserscheinungen vorausgehen und daß sie
immer andere Bestandteile (z. B. Kochsalz) enthalten.
Der Aufbau der lebenden Substanz ist also ein gallert-
70 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion
artiger. Gallerte (Gel) ist aber, wie wir sahen, weder ein fester
Körper noch eine Flüssigkeit, sie steht in der Mitte und hat
so an den beiderseitigen Eigenschaften Anteil. Demnach kann
in Gallerten der Stoffwechsel wie in einer Flüssigkeit stattfinden,
ohne daß aber die Gallerten dabei fortwährenden inneren
Störungen ausgesetzt wären, also sich darin den festen Körper
nähern. Sie können die aufgenommenen Stoffe fixieren und so
Reserven anlegen, zumal da die Zellwandungen der Organismen
(Haut, Membranen) immer Gele von ganz geringer Quellbarkeit
sind, während das eingeschlossene Zellgewebe umgekehrt sehr
quellbar ist.
Auf diesen Eigenschaften beruht z. T. auch der Vorgang
des Alterns. Wie wir im nächsten Abschnitt sehen werden,
- sind die ersten Entwicklungsstufen des Lebewesens mit starken
Quellungserscheinungen verbunden. Dieser Quellungsprozeß
beherrscht aber auch das ganze Leben. Jedes Kolloid hat eine
Lebenskurve. Im dritten Fötalmonat hat z. B. die menschliche
Frucht einen Wassergehalt von 94 Prozent, bei der Geburt
nur einen solchen von 69—66 Prozent. Der Hauptrückgang
dieses Wassergehaltes findet im fünften Monat statt und so
erscheinen Föten, die im sechsten Monat ausgestoßen werden,
runzlig. Wird die Frucht ausgetragen, so rundet sich der Körper
wieder durch Aufnahme von Fettlagern. Als Erwachsener hat
der Mensch noch 58 Prozent Wasser, der Greis noch weniger.
Mit dieser Abnahme ist wieder das Erscheinen von Runzeln
verbunden. Das Wesen des Alterns liegt also darin, daß die
Organkolloide ihre Quellbarkeit verloren haben. Während nun
bei Solen die Alterserscheinungen hauptsächlich in einem
engeren Zusammenschluß der kolloidalen Teilchen beruhen,
das heißt, in einer großen Neigung auszuflocken, treten bei
den Zellen vor allem Änderungen in der Elastizität hinzu, sie
werden trübe. Je älter eine erstarrte Gelatine wird, desto
weniger wird sie für gelöste Kristalloide durchgängig, der Stoff-
austausch wird langsam, die Elastizität geringer, das Volumen
weniger. Nun ist von großem Interesse, daß jede Arbeits-
leistung des Körpers mit einer Entquellung verbunden ist.
Schon bei der Ausflockung beobachten wir zunächst, wie gesagt,
ein nahes Zusammentreten der kolloiden Teilchen und eine
Verlangsamung der Brown’schen Bewegung. Sie ist eine
elektrische Erscheinung, wie wir im 1. Abschnitt sahen, und
v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 71
wird durch Kolloide entgegengesetzter elektrischer Ladung be-
wirkt. Erhitzt man eine Eiweißlösung und setzt ihr Ammonium-
sulfat zu, so findet sofort Flockenbildung statt, denn Sulfate,
Azetate, Zitrate und Tartrate vermindern das Quellungsvermögen,
während es Chloride, Chlorate, Cyanide, Bromide, Jodide und
Nitrate erhöhen. Zugleich ist auch mit Quellung Wärmeentwick-
lung verbunden. Es besteht also zwischen Quellungsvermögen
und den Eigenschaften, die wir mit dem Begriffe der Jugend
verbinden ein Zusammenhang, während andererseits die Ent-
quellungserscheinungen sich mit denen des Alterns decken.
(s. Abbildung.)
Am Ende des Alterns steht der Tod. Es ist kein momentaner
Vorgang, wie wir gewöhnlich glauben; es haben nur die äußeren
Erscheinungen aufgehört. Das Leben der Muskeln erlischt erst
nach Eintritt der Totenstarre, dann leben aber noch verschiedene
andere Zellen im Körper weiter. Der Tod entwickelt sich also,
wie Verworn sagt, aus dem Leben und diese Zwischenzeit
zwischen dem Aufhören der äußeren Lebenserscheinungen und
dem völligen Absterben der Zellen nennt man die Nekrobiose.
Es gibt also keine scharfe Grenze zwischen Leben und Tod
und dieser selbst beruht auf dem Absterben der Zellen. Der
Absterbeprozeß beruht aber wieder auf einer unheilbaren Schädi-
gung des normalen Lebensprozesses. So hat die religiöse
Seelenlehre eigentlich Jahrtausende lang den Kampf gegen die
Nekrobiose aufgehalten und die Menschheit aufs schwerste ge-
schädigt. Verworn unterscheidet zwei Gruppen von Nekro-
biose: die histologischen Prozesse, bei denen die normalen
Lebensvorgänge ausfallen und die metamorphotischen
Prozesse, bei denen sie in perverse Bahnen gelenkt werden
und entarten. Zu den ersteren gehören z.B. die Atrophien,
bei denen die lebendige Substanz an Masse einbüßt, die Zelle
immer kleiner wird und zerfällt. (Dazu zählt das Verhungern.)
(Abb. 2). Auch die Atrophien infolge Mißbrauchs von Organen
gehören hier her. Zu den metamorphotischen Prozessen gehört
besonders die fettige Entartung und die Verkalkung.
Wir haben nun in diesem Zusammenhange noch kurz eines
wichtigen Vorganges zu gedenken, nämlich der Formbildung,
Wie entstehen Formen? Vor allem zunächst, wie entstehen die
Formen der einfachen Grundlagen aller Organismen, der Zellen
usw.? Zweifelsohne betreten wir damit eins der allerschwierig-
72 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion
sten Gebiete biologischen Forschens. Eigenartige Formbildungen,
die an Pflanzen erinnern, sehen wir ja in den Eisblumen; es
ist eine kristallinische Erscheinung. Ahmen doch auch die
flüssigen Kristalle Formen nach, die den einzelligen niedrigen
Lebewesen, den Protisten gleichen. Auch die Radioben, die durch
Einwirkung von Radium auf sterile Gelatine, die Baryum-
individuen, die Eoben sind solche Bildungen. Hier treten neben
die chemischen Grundlagen des Lebens physikalische Erschei-
nungen, die seine Formenwelt wachrufen. Bei Formbildungen
spielt der osmotische Druck eine große Rolle und Leduc und
andere haben interessante Formen, die solchen der organischen
Welt gleichen, entstehen lassen. Bedeckt man den Boden eines
Napfes mit reinem Sand, streut darauf verschieden große Kristalle
von chromsauren Kali, Eisen- und Kupfersulfat und füllt die Schale
mit verdünntem Wasserglas, so wachsen darin pflanzenähnliche
Gebilde hervor, oder erscheinen Formen, die an das Aussehen
bestimmter Tiere erinnern. Es ist eine Erscheinung, die durch
das Diffundieren der chemischen Stoffe im Wasserglas, das hier
wie ein Gel wirkt, hervorgerufen wird, also durch osmotischen
Druck bedingt wird. Besonders merkwürdig ist, daß bei Ver-
wendung von Süßwasser auch tatsächlich Binnenwasserformen
(Schimmelpilze, Moose, Algen), bei Verwendung von Seewasser
dagegen Meeresformen (Röhrenwürmer, Austern, Kalkalgen, Po-
Iypen, Napfschnecken) nachgeahmt werden. Selbst die Nahrungs-
aufnahme niederer Lebewesen läßt sich nachahmen, dann der
Bau der Zellen in allen Arten, die äußeren Formen von Blättern,
Blüten, Pilzen, Ästen, von Tieren niederer Art usw. Und es
ist interessant, daß Leduc zeigen konnte, daß der innere Bau
dieser Gebilde ebenfalls denen der Lebewesen gleicht, denn
er enthielt Gruppen von Bläschen und Zellen, gefüllt mit Flüssig-
keit und getrennt durch Zwischenwände. Es fehlt ihnen nur
das Leben selbst. So würde es sich erklären, weshalb bereits
in der Urzeit eine so reichlich gegliederte Formenwelt vor-
handen ist. (s. Abb. 1.)
œZ]
Geschlecht und Gesellschaft
Neue Folge X, 3
Originalzeichnung von C. Schildt.
Heissweckenpeitschen am Fastnachtsmorgen in Holstein.
Zum Aufsatz: „Das Rutenschlagen“ von Georg Buschan, Stettin.
DAS RUTENSCHLAGEN —
EIN FRUCHTBARKEITSZAUBER.
Von San.-Rat Dr. med. et phil. GEORG BUSCHAN, Stettin.
B" in das Ende des vorigen Jahrhunderts hinein war es ein
in Deutschland noch ziemlich verbreiteter Brauch an be-
stimmten Tagen des Jahres sich gegenseitig mit Ruten leicht
zu schlagen oder zu streichen. Zahlreich sind die Worte, mit
denen das Volk diesen Vorgang bezeichnet; Freiherr v. Gutten-
berg, dem wir hierüber eine eingehende Studie verdanken,
zählt allein 18 verschiedene Ausdrucksweisen des volks-
tümlichen Sprachgebrauches auf, die sich indessen nicht auf
bestimmte Gegenden beschränken, sondern auch anderwärts
vorkommen. Die gebräuchlichsten Bezeichnungen sind fitzeln
(wohl von der Fitze, d. i. die Schnur an der Peitsche, entstanden,
hauptsächlich in Niederbayern und Oberfranken verbreitet),
futen oder fuän (Niedersachsen. und Oberbayern), kindeln
(Thüringen, Bayern), tengeln oder dengl’n (Oberbayern,
Schwaben, thüringische Staaten), pfeffern (Niederdeutschland,
Schwaben, Oberpfalz), peitschen oder frischgrünpeitschen,
hauen (Sachsen, Westböhmen), äschen (Braunschweig),
schmackostern, aus dem slavischen smagaß, litauisch smagöti
= peitschen, entstanden (Schlesien, Posen, Ostpreußen, Ober-
hessen), stiepen oder stäupen, utstüpen (Mecklenburg,
Niedersachsen, Mark Brandenburg, Holstein, Pommern),quitschen
(Niederdeutschland), streichen (Württemberg, Bayern) u. a. m.
Der Gegenstand, mit dem diese Handlung vorgenommen wird,
eine Rute, Gerte oder ein Busch, führten einen entsprechenden
Namen, wie Fitzel-, Dengel-, Fu&-, Kindel, Pfeffer-, Schmack-,
Lebensrute, -gerte, -kraut oder buschen, Osterschmack, ebenso
der betreffende Tag, wie Fudel-, Fitzeltag und schließlich auch
das Lösegeld, das man spendet, wie Fudel-, Dengel-, Fitzel-,
Pfeffer-, Quitschgeld oder -lohn. Die Stechpalme heißt im
Westfälischen und Braunschweigischen auch Fu£.
Der Brauch des Rutenschlagens oder Fitzelns ist sehr
alt, schon aus dem 12. Jahrhundert bekannt. Denn 1162 ist
6
G -E TG A C. —_
74 Buschan: Das Rutenschlagen ein Fruchtbarkeitszauber
urkundlich belegt, daß „Männer und Frauen sich gegenseitig
schlugen an zwei Nächten, den sogenannten Fitzel-, Pfeffer- oder
Peitschnächten, und zwar in den meisten Gegenden die Frauen
am zweiten Tage nach Ostern ihre Ehegatten und diese am
dritten Feiertag ihre Frauen. Dies tun sie deswegen, um zu
zeigen, daß sie beiderseitig schuldig seien fehlerhaftes zu be-
seitigen, damit nicht zu jener Zeit einer vom andern die ehe-
lichen Pflichten fordere.“ Als Erklärung dazu diene, daß im
Mittelalter die Ausübung des Beischlafes an Sonn- und Fest-
tagen verboten war; dieses Verbot sollten sich die Eheleute
durch das gegenseitige Peitschen deutlich vor Augen führen.
Im Jahre 1409 erscheint für das alte deutsche Ordensland zum
ersten Male der Ausdruck „smackostern“. Ursprünglich mag
sich das Rutenschlagen auf die Gegend der Geschlechtsteile,
bezw. des Gesäßes beschränkt haben, und dies am entblößten
Körper, später mußten aber alle übrigen Körperteile dazu her-
halten. Beliebt war das Fitzeln des Rückens, der Beine, be-
sonders der Waden und Füße, ferner der Arme, Hände und
Fingerspitzen; selbst der Hals, das Gesicht und die Nase blieben
nicht verschont, d. h. man strich mit der Rute leicht über sie
hinweg oder vorbei. Selten ist es ein wirkliches Schlagen oder
Peitschen, wobei allerdings manchmal den davon Betroffenen
so kräftig zugesetzt worden sein soll, daß sie bluteten, sondern
vielmehr ein mehr oder minder starkes Streicheln. In früheren
Jahrhunderten hatte sich die Sitte des Rutenschlagens über
ganz Deutschland verbreitet, heutzutage ist sie aber, wie alles
Volkstümliche, mehr und mehr in Abnahme gekommen. Wie
weit sie noch geübt wird, entzieht sich meiner Kenntnis. Außer-
halb der schwarz-weiß-roten Pfähle hatte der Brauch auch
ziemliche Verbreitung gefunden, so in Österreich, der Schweiz,
Rußland, Schweden, selbst in Frankreich (Normandie) und
anderwärts. Der Grund für das Nachlassen der Sitte lag in
ihrem Ausarten, das manche ursprünglich schöne Volksbräuche
mit sich zu bringen pflegten, so daß polizeiliche Verordnungen
erlassen werden mußten. Ein solches Verbot erging bereits
im Jahre 1°99 für die Herrschaft Lauenstein, 1671 für das Hoch-
stift Eichstedt usw. Die erstere verbot „das Kindeln oder
Dingeln zu Weihnachten getrieben wird, da die großen starken
Knechte den Leuten in die Häußer laufen, die Mägde und
Weiber entblößen und mit Gerten und Ruten hauen“.
Buschan: Das Rutenschlagen ein Fruchtbarkeitszauber 75
Es sind bestimmte Tage, an denen das Rutenschlagen
in Tätigkeit tritt; allerdings ist der Termin nicht überall der
gleiche, er fällt aber immer in das erste Drittel des Jahres
(nach altgermanischer Zeitrechnung, die mit der Wintersonnen-
wende begann). Mit Vorliebe ist dazu der Zeitraum der so-
genannten Zwölften ausersehen, d. h. der Zeit zwischen Weih-
nachten und Neujahr. Die alten heidnischen Nordländer faßten
den Wechsel der Jahreszeiten als einen Kampf des Lichtes
(Sonne) mit der Finsternis auf und legten das Einsetzen der
Winterkälte und der kurzen Tage dahin aus, daß der Winter
als böse Macht die Natur in Schnee und Eis erstarren lasse,
also anscheinend die den Menschen wohlgesinnte Macht, die
Sonne, überwunden habe. Der 22. Dezember, an dem der
Sonnenball am Himmelszelt stillzustehen scheint, also seinen
tiefsten Stand erreicht hat, war nach ihrer Auffassung der Zeit-
punkt, von dein an es dem Licht wieder gelingt, zum neuen
Leben zu erwachen und den Kampf mit den dunklen Mächten
der Finsternis wieder aufzunehmen. Dieser Tag währte zwölf
Tage, bis man es an der zunehmenden Länge der Tage deutlich
merkte, daß die Sonne wirklich als Siegerin hieraus hervorgehen
wird. Daher waren die Zwölften für die alten Germanen wirk-
liche Festtage. Unter diesem Gesichtspunkte lag es nahe, auch
aus dem Körper die feindlichen Mächte, die nach der alten
animistischen Auffassung Krankheiten, Unheil, Unfruchtbarkeit usw.
erzeugten, auszutreiben. Daher wurde das Rutenschlagen für
den Zeitraum zwischen Weihnachten und Neujahr sehr beliebt.
Mit Vorliebe wählten die jungen Burschen den 26. Dezember,
den Stefanstag, dazu aus, um die Mädchen zu peitschen —
Pfefferlostag hieß er daher — und die jungen Mädchen den
Folgenden oder noch häufiger den 28. Dezember, den Tag der
unschuldigen Kindlein, um jene dies entgelten zu lassen und
die Schläge wieder zu geben. Dieser Tag führt daher vielfach
den Namen Kindeltag. Die Behauptung, dieser Name rühre
davon her, daß an ihm Herodes alle männlichen Kinder zu
Bethlehem habe umbringen lassen, trifft nicht zu, vielmehr
bestand bereits von Alters her die Bezeichnung Kindeltag, die
Benennung des Tages des unschuldigen Kindlein wurde erst
später von der christlichen Kirche im Anklang an seinen ur-
sprünglichen Namen dem 28. Dezember beigelegt, um ihm eine
christliche Deutung zu geben. — Auch am Neujahrstage wurde
6*
76 Buschan: Das Rutenschlagen ein Fruchtbarkeitszauber
früher gefitzelt. Ein zweiter Abschnitt, in dem das Ruten-
schlagen vorgenommen wird, ist die Frühjahrszeit. Seine Wahl
beruht auf der gleichen Voraussetzung, daß um diese Zeit die
Natur aus dem Winterschlafe zu wachen und Fruchtbarkeit
zu entwickeln beginnt, und daß man diesem Vorgange am
Menschen und auch am Vieh zu Hilfe kommen müsse durch
das Auspeitschen. Mariä Lichtmeß, Sonntag Lätare, Fastnacht-
dienstag, bezw. Aschermittwoch, Palmsonntag und das Oster-
fest, ganz vereinzelt auch Himmelfahrtstag und Pfingsten sind
die Tage des Fitzelns, alles Tage, die den alten Germanen
heilig waren und daher auch von der christlichen Kirche über-
nommen, aber in ihrem Sinne gedeutet wurden. Im Spreewald
besteht augenblicklich noch die eigentümliche Sitte, daß der
Ortsschulze und drei Schöffen in die einzelnen Häuser am
Fastnachtstage gehen, jeder mit einem Bündel Birkenruten, die
an einem langen Stabe mit bunten Bändern befestigt sind, und
an die Hausbewohner drei Schläge austeilen, wofür sie bewirtet
werden. Bei dem sogenannten Hudellaufen in Tirol, das an
dem gleichen Tage stattfindet, schlagen die Läufer die Zuschauer
mit langen Peitschen. Der Palmsonntag ist als Fitzeltag be-
sonders in Rußland beliebt; in der Ukraine stellen sich die
jungen Burschen nach Beendigung des Gottesdienstes vor die
Kirchentür und schlagen die Frauen und Mädchen auf den
Rücken; dafür werden die männlichen Langschläfer, die die
Frühmesse versäumt haben, von diesen aus den Betten gejagt,
ein in ganz Rußland und in den von Slawen besiedelten
Landesteilen Deutschlands (Ostpreußen, Posen, Schlesien,
Böhmen, Mähren usw.) weit verbreiteter Brauch. — Während
bezüglich des Tages, an dem man sich mit Ruten schlägt,
keine Übereinstimmung herrscht, wie wir sahen, besteht eine
solche eher bezüglich der Tageszeit, meistens geschieht dies
nämlich in den frühen Morgenstunden. Gegenstand des Schlagens
sind zumeist die Langschläfer, die unvermutet in ihren Betten
überrascht werden. Burschen fitzeln die jungen Mädchen,
Eltern die Kinder und umgekehrt, die Kinder auch wohl die
Paten und Verwandten, selbst den Lehrer, das Gesinde die
Herrschaft usw. Oft genug begibt man sich auf die Dorfstraße
und sucht den Vorübergehenden Schläge auf den Rücken, die
Waden oder die Hände auszuteilen. Alt und jung beteiligt sich
am Fitzeln.
Buschan: Das Rutenschlagen ein Fruchtbarkeitszauber 77
Die Rute, mit der man schlägt, wird von verschiedenen
Waldbäumen und Sträuchern — v. Guttenberg zählt zwölf
wildwachsende Bäume und zehn Ziersträucher oder Kräuter auf —,
dann aber auch von Obstbäumen hergenommen. Zumeist sind
es die Bäume und Sträucher, die im Frühling zuerst junges
Grün ansetzen, sodann aber auch die immergrünen Pflanzen.
Beliebt sind zur Fitzelgerte die Zweige der Birke, des Haselnuß-
strauches, der Salweide, der Eberesche oder des Vogelbeer-
baumes (Quitschbaumes), des Holunderstrauches, des Wacholder-
strauches, des Buchsbaumes, der Fichte, der Stechpalme und
des Rosmarins oder Seidelbastes, zumeist Pflanzen, die in der
Götterverehrung der alten Germanen eine wichtige Rolle spielten.
Aus diesem Grunde knüpfen sich an sie auch sonst noch allerlei
abergläubische Vorstellungen. Gelegentlich werden Zweige mit
Beginn des Winters in angewärmtes Wasser gesetzt oder in
die Nähe des wärmenden Ofens gebracht, um sie vorzeitig zum
Grünen zu bringen. Verschiedentlich werden die Ruten auch
mit bunten Bändern und Blumen geschmückt, selbst ganze
Blumensträuße an sie gebunden, die zudem mit vergoldeten
Äpfeln, Nüssen u. a. m. ausgeputzt sind.
Das Rutenschlagen beschränkt sich indessen nicht bloß auf
die Menschen, sondern auch das Vieh und selbst die Obst-
bäume, die Saat des Ackers werden mit Rutenschlägen bedacht.
Am üblichsten ist das Schlagen beim ersten Austrieb des
Viehs. Nach altem Brauch hörte man mit dem 1. Mai mit der
Stallfütterung auf, und trieb dann zum ersten Male wieder das
Vieh hinaus auf die Gemeindewiese. Dieses Ereignis wurde
von dem Landvolk festlich begangen, das Vieh dabei mit
Blumen bekränzt und mit einer Rute auf den Rücken geschlagen,
ein in verschiedenen Teilen Deutschlands, in Österreich, der
Schweiz, Rußland, Esthland und anderwärts noch ziemlich
verbreiteter Brauch. Zum Schlagen werden vorzugsweise die
Zweige der Haselnuß, der Birke, Eberesche, Kornelkirsche,
Weide, des Wacholders und des Seidelbastes verwendet. In
Norddeutschland nimmt man mit Vorliebe dazu ein Reis vom
Ebereschen- oder Quitschenbaum, weshalb die Handlung hier
Viehquitschen oder auch Viehquatschen heißt. In Westfalen
hat man dafür den Ausdruck Stärkeschlagen, weil hauptsächlich
die Stärken, die jungen Kühe, mit der Rute geschlagen werden.
Zunächst schlägt man das Vieh aufs Kreuz, aufs Euter oder
78 Buschan: Das Rutenschlagen ein Fruchtbarkeitszauber
streicht darüber; zuweilen teilt man drei Schläge oder in Form
eines Kreuzes aus. In Österreich, Niederbayern und der Ober-
pfalz pflegten die Hütejungen bereits beim letzten Austrieb, am
Martinstage (10. November) die Gerten für den ersten Austrieb
im nächsten Jahre zu schneiden, die man daher Martini-,
Martins-, Mirtnasgerten oder Mirtesgerdn hieß, und am gleichen
Abend in die Häuser der Viehbesitzer zu bringen, wo man sie
sorgfältig bis zum nächsten Frühjahr aufbewahrte. Anderwärts
bestand der Brauch die Ruten erst am zweiten Weihnachtstage
(Masuren) oder am Gründonnerstage, bezw. Charfreitage (Ober-
bayern) abzuschneiden. Aus dem Jahre 1732 liegt uns eine
Magdeburger Urkunde vor, die besagt, daß es „alberne Leute
unter dem Pöbel gibt, welche in der Christnacht Kohl vor das
Rindvieh und Pferde stellen, Ruten schneiden, um das Vieh
damit zu schlagen“ usw. Im Aberglauben der westfälischen
Bauern muß das Abschneiden der Ruten unter gewissen Förm-
lichkeiten vor sich gehen; sie müssen nämlich mit einem einzigen
Schnitt schweigend von einem Aste abgetrennt werden, den
die ersten Strahlen der Morgensonne treffen; nach oberbayerischem
Brauch müssen sie vor Sonnenaufgang unbesehen abgeschnitten
und wortlos nach Hause gebracht werden. — In Ostpreußen
schlägt man das Vieh erst am Ostermorgen, in Albanien am
1. März, wenn man am Lätaresonntag von dem „Todaustreiben“
ins Dorf zurückkehrt, und in Großrußland am St. Georgstage
(23. April).
Das Schlagen der Obstbäume mit einer Rute, einem
Stock oder einer Stange blickt gleichfalls auf ein ziemliches
Alter zurück, denn für 1597 wird berichtet, daß die Burschen
von Büdingen (Oberhessen) in der Walpurgisnacht scharenweise
mit Stangen ausgezogen wären um über die Äcker zu schießen
und die Obstbäume zu schlagen. In ganz Norddeutschland bis
nach Kurland hin war vordem die Sitte verbreitet in den
Nächten der Zwölften die Stämme und Äste der Obstbäume
mit Ruten zu peitschen und auch wohl in das Astwerk hinein-
zuschießen, was man das „Wecken“ derselben nannte. In den
südlicheren Landesteilen bevorzugte man dazu die Faschings-
tage (Welschtirol), die Nacht vom Charfreitag zum Oster-
sonnabend (Deutschtirol, Böhmen, Oberbayern usw.), oder auch
den 1. Mai (Schwaben), weswegen man das Schlagen der
Bäume hier als Maierklopfen oder Lenzerwecken bezeichnet.
Buschan: Das Rutenschlagen ein Fruchtbarkeitszauber 79
Nachdem wir im vorstehenden die Verbreitung, sowie die
Art und Weise des Rutenschlagens geschildert haben, liegt die
Frage nach der Bedeutung und dem Ursprung dieses
Brauches vor. Derselbe geht, um es sogleich vorweg-
zunehmen, auf uralte animistische Vorstellungen zurück.
Wie Ferd. Frhr. v. Reitzenstein an zahlreichen Beispielen aus
der Völkerkunde nachgewiesen hat, kennt der primitive Mensch
noch nicht den Zusammenhang zwischen geschlechtlicher Bei-
wohnung und Empfängnis. Wie er alle Ereignisse seines
Lebens auf übernatürliche Weise zu erklären sucht, so faßt er
auf der niedrigsten Stufe der Entwicklung (wie es heutzutage
die Australier noch tun) auch die Schwangerschaft als über-
natürlichen Vorgang auf. Erst als er eine höhere Stufe der
Entwicklung erreicht hatte, d. h. als Mann und Frau sich enger
aneinander schlossen und nicht mehr eine wilde Kommunalehe
führten, und zudem die Züchtung von Haustieren wegen ihrer
kürzeren Trächtigkeit, dem Menschen die Möglichkeit gab, die
Vorgänge bei der Schwangerschaft zu beobachten und über sie
nachzudenken, mag ihm die Erkenntnis von einem Zusammen-
hang zwischen Kohabitation und Empfängnis aufgedämmert
sein. Eine allgemein anerkannte Tatsache ist ferner, daß der
primitive Mensch die ganze Umgebung für belebt hält, im be-
sonderen die Geister seiner Vorfahren in dieser sich aufhalten
läßt, in den Steinen, Felsen, Bäumen, Pflanzen, Tümpeln, Quellen,
in der Luft, unter der Erde u. a. m. und alle diese Gegenstände
für belebt ansieht. Dementsprechend erklärt er sich das Zustande-
kommen einer Schwangerschaft, die Entstehung eines Menschen
dadurch, daß ein solcher Vorfahrengeist, den er sich meistens
in einer Pflanze hausend denkt, in den weiblichen Körper
hineindringe und sich hier zu einem Menschlein entwickle.
Dieser Einzug in den menschlichen Körper kann entweder
durch Zauberei vor sich gehen oder durch Verzehren einer
Frucht der betreffenden Pflanze, auch schon durch Verweilen
unter einem Baum, durch das Fällen desselben, wodurch der
Baumgeist frei werde, durch Berühren desselben oder durch
Streichen mit einem aus ihm hergestellten Gegenstand (Schwirr-
holz) u. a. m. Zahlreiche Beispiele nicht nur aus dem Leben
der Primitiven (im besonderen der Australier), sondern auch
der modernen Kulturvölker (abergläubische Gebräuche) lassen
dies deutlich erkennen. Auch das Schlagen mit der Rute
80 Buschan: Das Rutenschlagen ein Fruchtbarkeitszauber
zählt zu einem solchen Verfahren der Befruchtung,
besonders mit einer frischgrünenden, da man aus der Üppig-
keit, mit der aus ihr das junge Leben sprießt, einen Rückschluß
auf eine besonders mächtig wirkende befruchtende Kraft
schließen kann.
Der kräftige Trieb der Bäume zur Frühjahrszeit legt also
den Gedanken zu einem Vergleich mit einem männlichen Gliede
nahe; die Rute wird zu einem Symbol desselben. Die deutschen
Worte Rute und Gerte, sowie die römische virga (französisch
verge) bezeichnen auch direkt diese letztere. Daß die Frauen
mit der Gerte ursprünglich auf die Gegend der Geschlechts-
teile geschlagen wurden, spricht ebenfalls zugunsten unserer
Auffassung, schließlich auch der Ausdruck fudeln, der von Fud,
Vud (Vot) = cunnus abzuleiten sein dürfte, vielleicht auch das
Wort kindeln = Kindermachen (?). Das Schlagen auf andere
Körperteile kam erst später auf. Hingegen behielt man an
den Haustieren die ursprüngliche Stelle des Schlagens bei, denn
sie werden vorzugsweise auf das Kreuz, die Hüften und das
Euter, also auf die Körperstellen, die zur Fruchtbarkeit in Be-
ziehung stehen, gepeitscht. Verschiedene der am Eingange
angeführten Bezeichnungen für das Rutenschlagen (wie fudeln,
pfeffern, dengeln) haben im Volksmunde direkt die Bedeutung
des Begattens angenommen. — Der Umstand, daß gerade zur
Frühjahrszeit, also zur Zeit des Wiedererwachens der Natur,
der Liebe und der Paarung das Fitzeln vorgenommen wird,
hängt offenbar mit der ursprünglichen Bedeutung dieser Sitte
zusammen.
Früher bestand verschiedentlich der Brauch junge Eheleute
bei der Hochzeit mit Ruten zu schlagen. In Roding (Oberpfalz)
trieb der Hochzeitsbitter die Braut von der Kirchtüre unter be-
ständigen Schlagen mit einer weißen Birkenrute in die Kirche;
bei den Polen in Ermland, ebenso bei den Letten im westlichen
Samlande (um 1526) und bei den Litauern (um 1690) drängte
man mit einem Stock die Braut ins Schlafgemach bezw. Hoch-
zeitsbet. Noch vor kaum einen Jahrzehnt soll es in einem
märkischen Dorfe (Tunxdorf bei Papenburg) üblich gewesen
sein, daß die jungen Mädchen am 1. Sonntag im Mai (also
auch wieder zur Frühlingszeit) Spalier bildeten, eine etwa vor-
handene jungvermählte Frau zwischen sich durchzulaufen zwangen
und ihr dabei mit einer grünen Gerte leichte Schläge auf den
Buschan: Das Rutenschlagen ein Fruchtbarkeitszauber 81
Rücken austeilten, worauf sie ihnen ein kleines Geldgeschenk
spenden mußte. In Belgien wurden am Kindeltage vorzugs-
weise die im Laufe des vergangenen Jahres getrauten Paare in
der Frühe aus dem Bette mittels Ruten getrieben. In Schwaben
tut die Mutter ihrer Tochter in die Ecken des Brautbettes
Palmen(Weiden)kätzchen hinein, und in Mittelfranken steckt
die Braut am Hochzeitstage ein solches in ihr Mieder. Durch
alle diese Handlungen soll symbolisch angedeutet werden, daß
den Jungvermählten ein reicher Kindersegen erblühen möge.
Auch die Sprüche, die beim Fitzeln hergesagt werden,
nehmen verschiedentlich darauf Bezug, z. B.: „Ich pfeffre eure
junge Frau, ich weiß, sie hat es gern, ich pfeffre sie aus Herzens-
grund, Gott erhalte sie gesund!“ In einem Verse, der aus dem
Jahre 1850 stammt und beim Beklopfen der Obstbäume her-
gesagt wurde, heißt es: Hüse, büse, up et Jahr tw& — up et
Jahr noch en paar — denn geiht de Wiege up un dal“, womit
offenbar auf reichen Kindersegen hingedeutet wird. Im allge-
meinen aber ist in den Segenssprüchen, die mit dem Ruten-
schlagen verknüpft sind, die Erinnerung an die Fruchtbarkeit
schon erblaßt; die in ihnen enthaltenen Wünsche beziehen sich
mehr auf allgemeines Gedeihen, Gesundheit, Reichtum u. a. m.
Ein solcher Reim aus Sachsen-Koburg lautet: „Grü(n), grü(n)
Ehestand — Wachsen Ähren auf dem Land — Daß euch Gott
behüt, — Daß euch Gott bewahr — Daß euch das Jahr kein
Leid widerfahr!“, oder „Fitz’l, fitzI Krona — Fitz’! net ums
Lohna — Fitz’ bloß aus G’fälligkeit — Daß Ihr recht gesund
bleibt!“ In Deutsch-Böhmen ruft man beim Rutenschlagen aus:
„Gräun, gräun!“ (d. h. grüne oder bleibe gesund), und in Ruß-
land: „Werde groß und gesund und reich, Krankheit in den
Wald, Gesundheit in die Beine!“ Auch ohne daß ein Wunsch
dabei ausgesprochen wird, ist mit dem Fitzeln beim Volk
ziemlich allgemein die Annahme verbreitet, daß wer gefitzelt
werde, jung und gesund bleibe, und in Steiermark nennt man
das Schlagen mit der Rute direkt den „Frisch und G’sund“.
Auch mit dem Schlagen des Viehs verknüpft der Volks-
aberglaube den Wunsch, daß die Tiere fruchtbar sein, wachsen
und gedeihen, vor Krankheit und Ungeziefer verschont bleiben
und reichlich Milch geben mögen. Bezeichnend ist es, daß man
gerade das Jungvieh schlägt (Niederdeutschland, Schweden,
Normandie) — es sei an den Ausdruck Stärkeschlagen er-
82 Buschan: Das Rutenschlagen ein Fruchtbarkeitszauber
innert — und gelegentlich damit die Namengebung des Tieres
verbindet.
Recht deutlich tritt der Fruchtbarkeitszauber, der mit dem
Rutenschlagen verknüpft ist, an dem Peitschen der Obst-
bäume zutage. Allgemein meint man, dadurch sie anzuregen,
daß sie sich üppig entwickeln und reichlich Früchte tragen
oder, wie man in Oberfranken sagt: „Damit sie selbig’s Jahr
or’nlich trag’'n“. Der Ausdruck „Wecken der Bäume“, wie das
Schlagen auch wohl heißt, sowie „de Böm bin Bullen bringen“,
wie man in Oldenburg sagt, wobei man allerdings die Bäume
nicht schlägt, sondern mit einem Strohseil in der Christnacht
umwindet und begießt, lassen dies deutlich erkennen. Ver-
schiedentlich (Schwaben, Thüringen, Oldenburg, Schweden,
Siebenbürgen usw.) besteht die Förderung der Fruchtbarkeit
der Obstbäume nämlich nur in dem Umbinden eines Strohseiles
um den Stamm oder in einem Schütteln; bei letzterem ruft man
in Thüringen aus: „Schlaf nicht, Bäumchen, Frau Holle kommt“.
Unter der Frau Holle ist aber die Göttin Perachta, das Urbild
der Fruchtbarkeit zu verstehen. In Mähren streichelt man die
Obstbäume mit den von dem Kneten des Teiges für den
Weihnachtskuchen noch klebrigen Händen und ruft dabei aus:
„Bäumchen, bringe viel Früchte“, und im Braunschweigischen
springt und tanzt man in der Sylvesternacht um die Bäume im
Garten und ruft dabei: „Freuet jüch Böme, Nüjoor is kömen!
Dit Jär ne Käre vull, up et Jär en Wagen vull“. — Übrigens
hat man das Schlagen auch auf andere Gewächse ausgedehnt,
um deren Fruchtbarkeit zu steigern. In Hessen-Nassau z. B.
schlägt die Hausfrau am Jakobitage (25. Juli) mit einem Stock
auf einen Krautkopf und spricht dabei: „Jakob-Dickkopp (oder
Dekkob), Haver (= Häupter) wai mei Kobb, Blarres (= Blätter)
wai mei Schürz’n, Strunk wai mei Been“. In Südhannover ruft
man beim Fuön der Menschen (am Fastnachtsabend) aus: „Fassl-
ahmt, wenn du geren geben wutt, schaßt du sau langen Flaß
(= Flachs) hebben“ (nämlich so langen Flachs wie der Arm
des Schlagenden ist). In der Steiermark pflegt man den Ort,
wo Pilze zu wachsen pflegen, mit einem Kranewitt-(Wacholder)
Bunten oder einer einjährigen Haselrute zu schlagen, damit im
nächsten Jahre der Boden wieder solche wachsen läßt.
Auf Grund der zahlreichen Argumente kann es keinem
Zweifel unterliegen, daß das Schlagen mit der Rute ursprüng-
Fehlinger: Persönliche Fortpflanzungshygiene 83
lich einen Zauber bedeutet hat, mit dem man den Zweck ver-
folgte, den in dem frischen, kräftigen Grün als Wohnsitz
hausenden Geist der Fruchtbarkeit auf Menschen und Tiere
zu übertragen. Es lag nahe, ebenso wie die Haustiere, auch
die gleichsam zum Haushalt gehörigen Obstbäume und Garten-
pflanzen mit der Rute zu behandeln, um auch sie der befruch-
tenden Kraft des betreffenden Geistes teilhaftig werden zu
lassen. Mit der Zeit wurde dieser Aberglaube dahin erweitert,
daß das Schlagen mit der fräischgrünenden Rute ganz allgemein
die Gesundheit fördern, im besonderen vor Krankheit — in
Franken sagt man direkt vor dem Zipperlein —, das Vieh auch
vor Ungeziefer, besonders Flöhen, Mücken, Fliegen (Schaum-
burg-Lippe, Österreich-Schlesien) bewahren, bezw. wenn von
derartigen Dingen befallen, befreien solle. Mit Recht hat man
daher dieses Schlagen auch das Schlagen mit der Lebensrute
genannt.
U
PERSÖNLICHE FORTPFLANZUNGSHYGIENE.
Von H. FEHLINGER, München.
wischen persönlichem Gesundsein und den Fortpflanzungs-
vorgängen bestehen enge Beziehungen. Schon der Eintritt
der Geschlechtsreife wirkt auf den ganzen Menschen, auf Körper
und Geist. Oft kommt es in dieser Zeit zum Auftreten bis
dahin verdeckt gewesener Mängel, doch gestaltet sich häufig
auch ohne solche der Gesundheitszustand des reifenden Men-
schen ungünstig. Bei Knaben ist daran in gar nicht wenigen
Fällen die Schwächung des Körpers und geistige Nieder-
gestimmtheit infolge fortgesetzter Masturbation schuld. In keinem
anderen Lebensabschnitt ist es so wichtig, das Alleinsein zu
vermeiden als in diesem. Bei Mädchen scheinen Schädigungen
der Gesundheit aus gleicher Ursache verhältnismäßig selten
vorzukummen. Um sie gegen vielleicht folgenschwere seelische
Erschütterung zu schützen, soll ihnen die Bedeutung der Men-
struation, noch bevor sie eintritt, verständlich gemacht werden.
Aufklärung über die Fortpflanzung zuerst im Pflanzen-, dann
im Tierreich ist Sache der Schule, die Entschleierung des
Rätsels der Fortpflanzung beim Menschen wäre am besten den
Müttern vorzubehalten. Bedauerlicherweise sind von den
84 Fehlinger: Persönliche Fortpflanzungshygiene
Müttern der Arbeiter- und Kleinbürgerbevölkerung nur wenige
so erzogen, daß sie zur Erfüllung dieser Aufgabe imstande sind.
Schwächliche Mädchen sollen während der Menstruation
das Bett hüten, doch dürfen sie dabei nicht verzärtelt werden.
Wenn sich keine krankhaften Erscheinungen ergeben, ist späterhin
lediglich auf Reinlichkeit, auf Schutz vor Erkältung und auf
Stuhlgang zu sehen. Anstrengungen und seelische Aufregungen
müssen vermieden werden. Den Anforderungen an Reinlichkeit
wird durch Tragen einer Menstruationsbinde sehr gedient; ob
Wäschewechsel zu empfehlen ist, oder ob er tatsächlich all-
gemein die Blutung verstärkt, ist noch nicht sicher erwiesen.
Lauwarme Waschungen und Spülungen schaden nicht und sie
können entzündlichen Vorgängen vorbeugen. Wichtig ist be-
sonders zur Zeit der Geschlechtsreife der Mädchen die regel-
mäßige Stuhl- und Harnentleerung, denn jede starke Füllung
des Mastdarmes und der Blase verursacht einen Druck auf die
dazwischenliegenden Geschlechtsorgane, der zu weitgehenden
Störungen führen kann. Namentlich Dehnung der Gebärmutter-
bänder kann leicht veranlaßt werden.
Selbst nach dem Reifealter treten bei vielen Frauen mit
der Menstruation Beschwerden auf, welche so weit gehen können,
daß die Betroffenen völlig arbeitsunfähig sind. Aber das trifft
keineswegs bei der Mehrheit aller Frauen zu, sondern vielmehr
nur in Ausnahmefällen.
In neuerer Zeit haben manche Biologen auch beim Manne
ein regelmäßiges Auf und Ab der Lebensvorgänge angenommen,
ähnliche Verhältnisse, wie sie bei der Frau in der Menstruation
sich kundgeben. Am meisten Beachtung fand Wilhelm Fließ’
Lehre von den periodischen Tagen. Sie besagt, daß der Lebens-
verlauf einem Periodengesetz folgt, und zwar laufen in allen
Lebewesen zwei Perioden ab, die eine von genau 28 tägiger,
die andere von genau 23 tägiger Dauer. Nur, weil diese beiden
Perioden sich miteinander mischen, entsteht der Anschein von
Unregelmäßigkeit. Fließ glaubte auch feststellen zu können,
daß die periodischen Änderungen des persönlichen Zustands
plötzlich auftreten, daß den Tagen des periodischen Miß-
befindens ein Tag erhöhten Wohlseins voraufgeht und daß die
periodischen Tage nicht den Einzelnen allein treffen, sondern
immer zugleich mehrere nahe Blutsverwandte. Eine übersicht-
liche Darstellung seiner Auffassungen von der Periodizität der
Fehlinger: Persönliche Fortpflanzungshygiene 85
Lebensvorgänge, welche auch die Fortpflanzung einschließt,
gibt Flie in dem Büchlein „Vom Leben und vom Tod“
(4. Aufl., 1919).
Krankheiten beeinflussen stets die Fortpflanzungsfunktion,
und zwar meist hemmend. Doch ist auch eine Einwirkung im
gegenteiligen Sinne möglich. So wird allgemein angenommen,
daß bei tuberkulösen Menschen die Fähigkeit zu Geschlechts-
tätigkeit und Fortpflanzung außerordentlich gesteigert ist; es
kann sich hier wohl um eine nur scheinbare Wechselbeziehung
handeln, weil die Tuberkulose in jenen Volksschichten am
häufigsten ist, bei denen mangels Ablenkung durch geistige
Tätigkeit das Geschlechtliche im allgemeinen eine große Rolle
spielt. Entschieden viel zu weit mit der Annahme sexueller
Bedingtheit von Krankheiten, besonders Geisteskrankheiten,
geht die Freud’sche Schule der Psychopathologen!) welche
nicht nur verschiedene Neurosen, sondern auch Blödsinn, Homo-
sexualität, die Basedowsche Krankheit usw. auf sexuelle Er-
lebnisse in der Kindheit oder frühen Jugend zurückführen.
Erzwungene Enthaltsamkeit von den natürlichen sexuellen
Funktionen hat nicht bei allen Menschen die gleichen Folgen,
ebensowenig wie das Verhalten in sonstiger Hinsicht alle in
derselben Weise betrifft. Die Unterdrückung des Geschlechts-
triebes macht sich nicht nur bei körperlich oder geistig kranken
Menschen in Gestalt verschiedener Übel geltend, sondern auch
bei Gesunden; ja in der Regel wird die Sache wohl so liegen,
daß die Krankheit nicht die Ursache des sexuellen Verlangens,
sondern die Wirkung des Unbefriedigtseins ist, das nur allzuoft
zu abnormer Befriedigung drängt. Ein Gewöhnen an sexuelle
Abstinenz ist bei allen Menschen ausgeschlossen, deren Puber-
tätsdrüsen richtig funktionieren. Ebenso leicht als der Fort-
pflanzungstrieb wäre der Trieb auf Erhaltung des eigenen
Lebens zu ertöten. Der Umstand, daß man das noch nicht
öffentlich anerkennt, ist die Hauptschuld an dem sexuellen
Elend beider Geschlechter. Aber es geht auch nicht an, ganz
allgemein statt der Enthaltsamkeit die Art der geschlechtlichen
Befriedigung zu empfehlen, die unter den bestehenden Ver-
hältnissen mindestens den Männern leicht möglich ist, nämlich
den Verkehr mit Prostituierten, denn dieser Verkehr bedroht
1) Hitschmann, Freuds Neurosenlehre. Leipzig 1911.
86 Fehlinger: Persönliche Fortpflanzungshygiene
sowohl die persönliche Gesundheit wie das Wohl der ganzen
Lebensgemeinschaft, er trägt weitaus am meisten zur Ver-
breitung der Geschlechtskrankheiten bei, welche den Erkrankten
nur allzuoft das ganze weitere Leben verderben und sie zur
Fortpflanzung unfähig machen oder mindestens das Hervor-
bringen gesunder Nachkommen in Frage stellen. Selbst die
strengste Überwachung der Prostitution kann nicht hindern,
daß durch sie das Volk verseucht wird; denn besonders der
Tripper, dessen Gefahren noch gewöhnlich unterschätzt werden,
ist durchaus nicht immer leicht feststellbar. Einigen Schutz
gegen sexuelle Ansteckung bieten Condome, doch ist dieser
Schutz durchaus nicht vollkommen, da viel minderwertige
Ware verkauft wird, die bei der Benutzung zerreißt. Überdies
werden chemische Schutzmittel sowohl gegen Tripper wie
Syphilis empfohlen (beispielsweise Protargol, Argonin oder
Nargo! gegen erstere und Waschungen mit Sublimatlösung von
1 Promille gegen letztere Krankheit). Unsicher ist die Ent-
fernung von Ansteckungsstoffen aus der Harnröhre durch Uri-
nieren nach dem Geschlechtsakt. Immerhin soll es nicht unter-
bleiben, wenn sonst kein Schutzmittel angewendet wurde. Es
sei aber kein Mann, der sich mit Prostituierten abgibt, so leicht-
sinnig, auf ein Schutzmittel zu verzichten. Den Frauen kann
äußerste Reinlichkeit nur nutzen, nicht bloß außer, sondern
ebensowohl in der Ehe. Hat eine Infektion stattgefunden, so
ist raschestens ärztliche Hilfe zu suchen, denn nur so kann
verhütet werden, daß ein geschlechtliches Leiden bleibend wird.
Das gilt besonders vom Tripper. Woh! heilt dieser in der
Mehrzahl der Fälle selbst ohne Behandlung in einigen Wochen
aus, aber verhältnismäßig oft kommt es vor, und zwar
gewöhnlich in der dritten Woche, daß er auf die hintere Harn-
röhre übergreift, in welche die Harnblase, die Vorsteherdrüse
und die Samenleiter münden, und daß es zu Entzündungen
dieser Organe, sowie der Hoden und Nebenhoden kommt.
Die Hodenentzündung pflegt sich nach acht Tagen langsam
zurückzubilden; doch geschieht diese Rückbildung in der Regel
nicht restlos. Es bleiben im Kopf und Schwanz des Neben-
hodens, gelegentlich auch in den Samensträngen, harte Knoten
-zurück, welche jahrelang bestehen bleiben können. Diesen
Verhärtungen kommt eine wesentliche Bedeutung zu. Sie sind
wie Narben aufzufassen. An diesen Stellen ist das Stützgewebe
Fehlinger: Persönliche Fortpflanzungshygiene 87
vermehrt und narbig-entzündlich umgewandelt; die Samenkanäle
können durch das gewucherte und narbige Stützgewebe ab-
geschlossen werden. Auf die Weise wird den Samenfäden
der Weg verlegt, und zwar in der Regel dauernd. Die Folge
ist Zeugungsunfähigkeit. Auch wenn es nicht zu solcher
Narbenbildung kommt, kann die Fortpflanzungsfähigkeit des
Erkrankten aufgehoben werden. In den Ausführungsgängen
der Vorsteherdrüse und in den Samenblasen bleiben Tripper-
erreger unter Umständen manchmal jahrelang am Leben,
gerade wie in den Drüsen und Gängen der vorderen Harn-
röhre. Sie unterhalten dann eine Örtliche Entzündung und
Eiterung. Das kann ohne jede Empfindung des Kranken ge-
schehen. In anderen Fällen spürt derselbe doch gelegentlich
in dieser Gegend Brennen oder Stechen. Der Saft der Vor-
steherdrüse enthält oft Trippererreger und Eiter, was wichtig
ist, denn diesem Saft kommt die Aufgabe zu, die Samenfäden
beweglich zu machen, so daß sie in das weibliche Ei ein-
dringen und dieses befruchten können. Der kranke Vorsteher-
drüsensaft erfüllt seine Aufgabe nur mehr ungenügend: Un-
fruchtbarkeit der Ehe ist die Folge. Endlich hat die Erkrankung
dieser Teile die verhängnisvolle Wirkung, daß sie nicht gar so
selten die Begattungsfähigkeit des Mannes zerstört. Es bildet
sich ein Komplex nervöser Erscheinungen heraus, den man
mit dem Namen Prostataneurasthenie zusammenfaßt und dessen
Teilerscheinung die Impotenz sein kann. Beim Weibe betrifft
die Tripperentzündung gewöhnlich nur die Harnröhre, den
Gebärmutterhals und die am Scheideneingang befindlichen
`” Drüsen; selten kommt es auch zu heftigen Scheidenentzün-
dungen. Manchmal ergreift die Krankheit jedoch sogar die
Gebärmutter, das Beckenzellgewebe neben der Gebärmutter,
Eileiter und Eierstöcke. Sind die Trippererreger so weit vor-
gedrungen, so ist gewöhnlich auch die Fortpflanzungsfähigkeit
aufgehoben, weil es zu Wucherungen und Verwachsungen
kommt, welche das Austreten von Eiern und deren Zusammen-
treffen mit Samen hindern. Das in die Gebärmutterhöhle ge-
langte Ei kann sich in der entzündeten Schleimhaut nicht ein-
betten, und wenn auch dies geschehen wäre, dann stößt sich
nach wenigen Wochen oder höchstens Monaten der Schwanger-
schaft die Schleimhaut samt der Frucht ab; es kommt zur
Fehlgeburt, zum Abortus. Der Tripper ist die hauptsächlichste
88 Fehlinger: Persönliche Fortpflanzungshygiene
Ursache der Unfruchtbarkeit der Ehe, sei es, daß er das Weib
selbst steril macht, sei es, daß er die Zeugungsfähigkeit des
Mannes verdirbt2). Am gefährlichsten sind wohl jene Tripper,
die sich anfänglich nicht viel bemerkbar machen; gerade dann
besteht die Neigung der Krankheitserreger, tiefer in den Körper
einzudringen. Ein alter Tripper mag sich bei dem Behafteten
vielleicht kaum mehr bemerkbar machen, weil die ihn ver-
ursachenden Kleinlebewesen ihren Nährboden schon stark „ab-
gegrast“ haben und nur mehr kümmerlich dahin vegetieren.
Wenn sie aber auf einen neuen Nährboden gebracht werden,
dann erwachen sie zu neuem Leben und erweisen sich wieder
als so giftig wie einst. Es stellen sich daher bei Frauen, die
sich nie für angesteckt gehalten haben, schwere Wochenbett-
erkrankungen ein, wenn infolge der Erneuerung der Uterus-
schleimhaut den Trippererregern abermals ein guter Nährboden
geschaffen wurde.
Die Trippererreger können von den Schleimhäuten weg-
geführt und in andere Organe verpflanzt werden; in der Regel
geschieht das durch das Blut. Es kommt dann zur Erkrankung
der Gelenke, Sehnenscheiden und anderer seröser Häute, der
Augen, der Knochen und des Rückenmarks.
Bei Syphilis sind die Krankheitserscheinungen viel schwerer,
die Gesundheit wird durch sie mehr geschädigt als durch
Tripper, doch sind die Gefahren der Weiterverbreitung kleiner,
weil die Erreger weniger leicht übertragen werden können:
Um in den Körper eindringen zu können, verlangen sie eine
Wunde. Überdies sind die körperlichen Entstellungen und
die funktionellen Beeinträchtigungen der Syphilitiker oft so
bedeutend, daß sie weiteren Geschlechtsverkehr und namentlich
die Eheschließung unmöglich machen. Während aber der
Tripper fast nur durch Geschlechtsverkehr verbreitet wird,
findet Übertragung von Syphiliserregern auch sonst oft statt.
Es ist schwer zu sagen, welche der beiden Krankheiten das
größere Unheil stiftet. Gemeinsam ist ihnen, daß ihr Über-
stehen keinen Schutz gegen neuerliche Ansteckung gewährt.
Sofort nach der Heilung können die Krankheiten wieder er-
worben werden; der Tripper kann trotz noch bestehender
Erkrankung (z. B. der Harnröhre) auf andere Schleimhäute
(Augenbindehaut) übertragen werden.
2) Notthafft, Geschlechtskrankheiten und Ehe, S. 9—15.
Taf. Il. Zellteilung oder Mitose (n. Moll)
Zum Aufsatz „Zum Verständnis der inneren Sekretion“
von F. v. Reitzenstein.
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“Zunga], pun Zunypnuyag "II eL
Fehlinger: Persönliche Fortpflanzungshygiene 89
Die Syphiliserkrankung kommt in manchen Fällen nicht
deutlich zum Ausdruck, woher. es kommt, daß anscheinend
gesunde Frauen, die doch krank sind, die Krankheit auf
die noch ungeborenen Kinder übertragen; oder die Über-
tragung findet nach der Geburt beim Säugen statt. Die Über-
tragung der Krankheit im Mutterleib täuscht ihre Vererbung
vor, doch gibt es eine solche nicht. „Je nach dem Zeitpunkt,
zu welchem die Frucht von der Mutter angesteckt wird, ent-
stehen syphilitische Fehlgeburten, Frühgeburten, Geburten toter
Kinder, Geburten kranker und zuletzt Geburten erst gesunder,
dann bald krank werdender Kinder. Das Übergehen der
Syphilis von der Mutter auf das Kind müssen wir den Syphilis-
rückfällen bei der Mutter gleichwertig betrachten. Werden
auch bei der Mutter, wie so häufig, die Rückfälle nicht be-
achtet, in der Erkrankung der Kinder finden sie ihren Aus-
druck. Allmählich werden bei den kranken Müttern die Rück-
fälle seltener. Daher sehen wir häufig in Syphilisehen erst
Fehl-, dann Frühgeburt, dann ausgetragene tote, kranke, scheinbar
gesunde und wirklich gesunde Kinder geboren werden. Die
nicht seltenen Ausnahmen, wo zwischen kranken Kindern ge-
sunde geboren werden und umgekehrt, erklären sich sehr
einfach aus den Unregelmäßigkeiten, mit welcher alle Syphilis-
rückfälle auftreten. Es ist Glücks- beziehungsweise Unglücks-
sache, ob eine Schwangerschaft in eine rückfallsfreie oder in
eine Rückfallsperiode hineinfällt.* (Notthafft, a. a. O., S. 61—62.)
Die meisten in der Gebärmutter mit Syphilis angesteckten
und lebend geborenen Kinder sterben bald. Überhaupt sind
Syphilitikerehen durch große Kindersterblichkeit ausgezeichnet.
Unfruchtbar macht Syphilis nur in Ausnahmefällen. Im allge-
meinen erlischt die Übertragbarkeit der Syphilis (auch ohne
Behandlung) nach etwa 5 Jahren, oft aber hält sie weit länger
an. Auch der Tripper kann ein Jahrzehnt hindurch und länger
ansteckungsfähig bleiben. Zeitweiliges Nichtauftreten von Krank-
heitszeichen täuscht bei Tripper- wie bei Syphiliskranken nur
zu oft Gesundheit vor und es kommt vor, daß sich ledige
Leute in dem Zustande zur Eheschließung herbeilassen, dann
aber den chronischen Tripper oder die rückfällige Syphilis auf
den Ehepartner übertragen.
Die Meinung herrscht vor, daß in der Ehe das sexuelle
Bedürfnis weiblicherseits in der Regel bedeutend geringer sei,
7
90 Fehlinger: Persönliche Fortpflanzungshygiene
als männlicherseits. Die Sache ist zwar noch nicht endgiltig
entschieden, aber es ist ganz gut denkbar, daß im Laufe von
Jahrtausenden eine Ausmerzung der Frauen mit starkem Ge-
schlechtstrieb stattfand, da seit undenklichen Zeiten die damit
Ausgestatteten sozial zurückgesetzt und benachteiligt wurden.
Es ist auch möglich, daß oft durch die Roheit der Ehemänner
beim ersten Verkehr mit ihren Frauen sexuelle Anästhesie als
‚Dauerzustand bei diesen entsteht und die Weckung der nor-
malen Sinnlichkeit ausbleibt. Dasselbe Ergebnis kann fort-
gesetztes Unbefriedigtbleiben junger Ehefrauen haben. (Vergi.
Wolfgang Sorge, Geschichte der Prostitution, S. 24 u. folg.)
Die Häufigkeit des ehelichen Geschlechterverkehrs, welche
der eigenen Gesundheit und langer Dauer der Fortpflanzungs-
fähigkeit am dienlichsten ist, läßt sich nicht für alle Menschen
gleichmäßig festsetzen; die persönliche Veranlagung ent-
scheidet. Wo verschiedene Naturen in der Ehe zu-
sammentreffen, ist die Gefahr des Ehebruches und
damit der Einschleppung von Krankheiten am wahr-
scheinlichsten. Noch schlimmer ist es, wenn auf einer Seite
ein perverser Trieb vorhanden ist. Es gibt sehr harmonische
Ehen, in denen der Verkehr nur selten stattfindet, ohne daß
einer der beiden Teile etwas vermißt. Wahrscheinlich ist, daß
das Verlangen nach Geschlechtsverkehr nicht nur mit zuneh-
mendem Alter, sondern auch dann abnimmt, wenn zahlreiche
Kinder vorhanden sind. Namentlich auf seiten der Frau ist
diese Tatsache ausgeprägt.
Rasch aufeinanderfolgende Geburten sind im Interesse der
Gesundheit sowohl der Mutter wie der Kinder zu vermeiden.
Sie schwächen nicht nur den mütterlichen Organismus und
führen zu frühzeitigem Altern (das oft die Ehe unglücklich
werden läßt), sondern belasten die Familie und das Volk mit
schwächlichen Mitgliedern. Durch eine Reihe von Unter-
suchungen ist nachgewiesen, daß namentlich die Sterblichkeit
im ersten Lebensjahr bedeutend geringer ist, wenn die Ge-
burten ziemlich weit auseinanderliegen, als wenn sie rasch
aufeinanderfolgen. Beträgt der Zeitraum zwischen zwei Ge-
burten weniger als ein Jahr, so sterben doppelt so viele Säug-
linge, als wenn der Geburtenzwischenraum zwei Jahre umfaßt.
Weniger deutlich ausgeprägt ist der Unterschied noch bis zum
5. Lebensjahre verfolgbar.
Fehlinger: Persönliche Fortpflanzungshygiene 91
Die Wahrscheinlichkeit einer bald auf eine Geburt folgenden
neuerlichen Empfängnis wird durch Säugen des Kindes ver-
mindert, doch schließt das Säugen nicht die Möglichkeit einer
Empfängnis überhaupt aus, was man bei den Naturvölkern
deutlich beobachten kann, denn bei manchen von ihnen kann
man nicht selten schwangere Frauen sehen, welche das vorher-
gegangene Kind noch an der Brust haben. Auch in Europa
ist eine Wechselwirkung zwischen Stilldauer und Geschwister-
entfernung festgestellt worden.
Dauernder Präventivverkehr in der Ehe hat in weitaus
den meisten Fällen seelische Schädigungen zur Folge; er läßt
beide Teile unbefriedigt, macht gereizt und entfremdet die
Ehegatten. Es wird wenige Ehen geben, in denen viele Jahre
lang Präventivverkehr gepflogen wurde, ohne daß es zum Ehe-
bruch kam. Von den einzelnen Arten des Präventivverkehrs
ist der Coitus interruptus die verbreitetste und schädlichste.
Diese Tatsache ist ein Beweis dafür, daß beim Menschen ein
Fortpflanzungstrieb (neben dem Vereinigungstrieb) besteht.
Notwendig ist dauernder Präventivverkehr im Falle hochgradiger
Beckenenge, die eine normale Geburt ausschließt. Auch manche
Krankheiten, die erfahrungsgemäß durch die Schwangerschaft
verschlimmert werden und die das Leben unmittelbar bedrohen,
erfordern Empfängnisverhütung, freiwilligen Verzicht auf die
Fortpflanzung im Interesse der behafteten Person und darüber
hinaus im Interesse der Lebensgemeinschaft. Albert Moll
(Handbuch der Sexualwissenschaften, $S. 450) rechnet hierzu:
Marasmus, schwere Herzfehler, schwere Tuberkulose und
‚Nephritis; doch ließe sich die Liste der Krankheiten, die Ver-
zicht auf die Fortpflanzung geboten erscheinen lassen, leicht
verlängern. Die Empfängnisverhütung ist bei körperlich oder
geistig mangelhaften Personen nicht nur ratsam, sondern dringend
geboten.
DAS WEIB IM .ALTINDISCHEN EPOS.
Von Universitäts-Professor Dr. RICHARD SCHMIDT, Münster.
(Fortsetzung.)
M*® es aber nun mit der Polyandrie gewesen sein wie es will;
mag das Gericht von der Sittenlosigkeit mancher Gegenden
Indiens auf Wahrheit beruhen, und mag es an Stellen nicht
fehlen, an denen die völlige Ungebundenheit in Liebesangelegen-
heiten als das Ursprüngliche und Ideale bezeichnet wird, so
ist und bleibt doch die Achtung vor der Ehe bestehen, und
die so häufig bekundete ernste, strenge Auffassung davon
kehrt auch im Epos wieder. Dem entspricht denn auch das
umständliche Zeremoniell bei der Hochzeitsfeier, aus dessen
verwirrender Fülle von altererbten abergläubischen Handlungen
zwei schöne Ziele winken: Kindersegen, d. h. Reichtum an
tüchtigen Söhnen, und ein in gegenseitiger Liebe wurzelndes
inniges Verhältnis der Gatten. Daß man auch in Indien —
geradeso wie bei uns — oft genug diesem Ideale ferngeblieben,
daß in der rauhen Wirklichkeit dieses Sehnsuchtsbild nicht
selten verdunkelt wurde, das will nicht viel sagen. Daß man
sich überhaupt so ein Ideal aufgerichtet hatte, war schon
Ehre genug.
Schon daß man die Hochzeitsfeier auf einen glückbringenden
Tag und eine verheißungsvolle Stunde verlegte, spricht für die
außerordentliche Wichtigkeit der Begehung, nicht minder auch
die Menge der heiligen Sprüche, die dazu rezitiert wurden,
und das festliche Gepränge, was man dabei entfaltete. Die
Schilderung freilich von dem geradezu verschwenderischen
Aufwande, den sich Janaka leistet, darf man nicht wörtlich
nehmen; denn gleich 100000 Kühe mit vergoldeten Hörnern
den Brahmanen zu schenken, ist sicherlich eine dichterische
Übertreibung, ebenso wie die 10000000 Kleider, die der Braut-
vater seinen Töchtern als Aussteuer mitgibt. Aber wir finden
doch in diesen epischen Schilderungen der Hauptsache nach
die heiligen Handlungen wieder, die in den Ritualbüchern als
zur richtigen Feier gehörig aufgezählt werden: die Übergabe
des Mädchens an den Bräutigam, die Handergreifung, die
Feuerspende, die dreimalige Umschreitung des Opferfeuers,
die sieben gemeinschaftlichen Schritte des jungen Paares. Es
R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos 93
fehlen nicht die verschiedenen glückbringenden Geräte und
Gegenstände wie junge Zweige, Wasserkrüge, geröstetes Korn,
Muscheln, Pauken und Trommeln, und Rauschtrank wird in
erheblichen Mengen genossen.
Ist nun die Ehe rite geschlossen, so erwartet man von der
Frau, daß sie ihren Gatten mit Nachkommenschaft beschenkt,
vor allem mit einem Sohne. Das ist ihre große Lebensaufgabe,
in deren starker Betonung die ganze Literatur mit dem Epos
einig ist. Welche schrecklichen Folgen die Unterlassung der
Sorge um die Fortpflanzung des Geschlechtes hat, zeigt ein-
dringlichst die von Meyer S. 111 f. wiedergegebene Legende
von Jaratkaru, der als ausgedorrter, von der Luft lebender
Büßer die Welt durchzieht und eines Tages hungergequälte,
ausgemergelte, trübselige Wesen mit dem Kopfe nach unten
in einer Höhle hängen sieht, wobei sie sich an einem Büschel
Gras festhalten, dessen letzten Stengel eine Maus benagt,
Aus Rede und Gegenrede ergibt sich schließlich, daß diese
Jammergeschöpfe die Ahnen Jaratkaru’s sind, die der Mangel
an Nachkommen aus ihrer reinen, heiligen Welt in solch elende
Lage gebracht hat; und wenn die Maus, d. h. die Zeit, ihre
Zähne auch in den letzten Sproß, eben jenen Jaratkaru, schlägt.
der seine Ahnen allein noch retten kann, indem er heiratet und
einen Sohn in die Welt setzt — dann stürzen sie in die Tiefe
der Hölle, und allerdings auch er! Askese oder Opfer oder
was es sonst noch für Entsühnungsmittel geben mag, hat nicht
die rettende Stärke wie die Fortsetzung des Geschlechtes.
Der bestürzte Jaratkarı geht nun in sich, und wiewohl er
bereits ein alter Mann ist, begibt er sich doch auf die Suche
nach einer Frau, die er denn schließlich auch in der Schwester
des Schlangenkönigs findet.
„Mit viererlei Schuld werden die Menschen auf Erden
geboren“, sagt Pandu (Mah. I, 120), „gegen die Ahnen, die
Götter, die Heiligen und die Menschen, und sie muß nach
dem heiligen Gesetz ihnen bezahlt werden. Die Menschen
aber, die dieser vierfachen Schuld nicht zurzeit wahrnehmen,
für die gibt's keine himmlischen Welten; so haben die Rechts-
kenner festgesetzt. Durch Opfer befriedigt man die Götter,
durch das Studium der (von den Heiligten verfaßten) Veden
und durch Askese die Heiligen, durch Söhne (und damit) durch
Ahnenspenden die Väter, und durch wohlwollende Barmherzig-
94 R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos
keit die Menschen.“ — „Die Verschenkung eines Königreiches,
die Geburt eines Sohnes und die Errettung eines Feindes aus
seiner Not, die drei sind eins und dasselbe“ (III, 243, 13).
So gilt denn unter den vier Lebensstadien der Inder der
Stand des Hausvaters als der würdigste und die Ehe als das
für die Frau Wichtigste. Eine Anerkennung derselben als
Mutter haben wir darin zu sehen, daß Epos und eine ganze
Reihe Rechtsgelehrter gebieten, der Gattin, besonders der in
gesegneten Umständen befindlichen, zuerst zu essen zu geben;
bei Visnu (LXVII, 69) wird sie in diesem Falle sogar von dem
Gaste bedient. Das steht allerdings mit der indischen Ge-
pflogenheit durchaus nicht im Einklang: das Kāmasūtram z. B.
zählt von der Gattin so viele Pflichten her, die alle ihre
demütige Stellung kennzeichnen, daß sein Verfasser gewiß, auch
wenn er es nicht ausdrücklich bekennt, den strengen Stand-
punkt Narada’s gebilligt hat, der eine Frau rasch aus dem
Hause jagen heißt, wenn sie vor ihrem Gemahl zu essen wagt.
Möglich, daß man gegen schwangere Frauen in diesem
Punkte zuvorkommender dachte.
Eine unfruchtbare Ehe ist ein sehr schweres Mißgeschick;
die kinderlose Frau gilt für wertlos; was sie ansieht, das
nehmen die Götter beim Opfer nicht entgegen, denn es gilt
als befleckt, und die Gaben, die eine Gatten- und Kinderlose
darreicht, rauben dem Empfänger die Lebenskraft. Darum
sucht man nach allen möglichen Mitteln, um Kindersegen zu
erzielen; das vorzüglichste darunter aber ist die Askese, neben
der seit alten Zeiten natürlich auch Zaubersprüche und Schwarz-
kunst im Schwange waren. Da finden wir die von einem
Heiligen besprochene Mango-Frucht, nach deren Genuß die
beiden Frauen des Brhadratha schwanger werden, nachdem
alle Feueropfer und sonstige auf die Geburt eines Sohnes ab-
zielende Darbringungen versagt hatten. Auch die Umarmung
eines Baumes wirkt befruchtend, wozu man Meyer, S. 120,
Anm. 3 vergleichen möge.
Wenn aber weder Glaube noch Aberglaube helfen will,
und auch keiner von den heilkräftigen Tempeln mit ihren
„barmherzigen Brüdern“ in der Nähe ist, so bleibt schließlich,
falls die Schuld am Manne liegt, als letzte Zuflucht das
„Zeugungsvikariat“ übrig, das auch im Mahäbhäratam eine
große Rolle spielt, so daß selbst der Schüler als ehelicher
R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos 95
Stellvertreter seines Lehrers erscheint. Solche Liebesdienste
erregten keinen Anstoß, wenn der Mann seine Frau selbst er-
mächtigte, bei einem Anderen ihr Heil zu versuchen. Aber
aus den Klauseln, mit denen die Juristen das Levirat (niyoga)
umgeben, läßt sich doch mit Leichtigkeit entnehmen, daß diese
Sitte dem strengen brahmanischen Bewußtsein widerstrebte und
nur noch besprochen wurde, weil sie aus der vedischen Zeit
überliefert war und deshalb nicht gut umgangen werden konnte.
Mit der Beschreibung der zwölf Arten von Söhnen, die
die Rechtsgelehrten aufgestellt haben und auch das Mahäbhäratam
mehrfach erwähnt (Meyer S. 131 ff.), wollen wir uns nicht
aufhalten. Erfreulicher ist das Loblied des Kinderglücks, das
Sakuntala (I, 74) anstimmt: „Wenn der Sohn dem Vater ent-
gegeneilt, befleckt mit dem Staub der Erde (in dem er gespielt
hat), und seine Glieder umarmt, was könnte es Herrlicheres
geben als das!... Der Brahmane ist der beste unter den
Zweifüßlern, die Kuh die vorzüglichste unter den Vierfüßlern,
der beste unter den Ehrwürdigen ist der Lehrer, der Sohn das
Vorzüglichste unter allem, was man berührt.“ Aber wie die
Eltern ihre Kinder lieben, so vergelten diese nun auch die
Zärtlichkeit. „Kein Land und kein Volk kennt eine schönere
Stellung der Kinder zu ihren Eltern, wenige eine, die sich
der indischen vergleichen ließe“, sagt Meyer $. 146 mit Recht.
Die Mutter zu preisen wird das Epos so wenig müde wie
die Iyrischen Dichter und die trockenen Juristen. Sie steht
unter den Respektspersonen an allererster Stelle; wie einen
Gott soll man sie ehren; tausendmal wiegt sie den Vater auf;
alle Flüche lassen sich abwenden und lösen, aber nicht einer
Mutter Fluch. Trotzdem aber stand in den epischen Zeiten
so gut wie noch heute „der hohen Rangordnung der Mutter
ihre in vieler Hinsicht niedere Wertung als Weib entgegen“,
da ja vor dem Gesetze das patriarchalische System galt. Wir
ersehen jedoch aus zahlreichen Stellen, daß damals die Frau
im allgemeinen eine bedeutendere Rolle gespielt hat als später.
Jedenfalls ist es doch beachtenswert, daß die Söhne nicht nur
der leiblichen Mutter, sondern auch den übrigen Frauen des
Vaters gegenüber eine liebevolle Gesinnung bekunden.
(Fortsetzung folgt.)
IE
96 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion
ZUM VERSTÄNDNIS DER INNEREN SEKRETION
UND DER VERJÜNGUNG.
Von FERD. FRHR. VON REITZENSTEIN, Dresden.
II.
Die Zelle und der Befruchtungsvorgang.
W" ein Gebäude aus kleinsten Teilen, etwa aus Back-
steinen errichtet ist, so ist auch der menschliche Körper, ja
jeder Organismus, also auch jede Pflanze aus kleinsten Teil-
chen entwickelt, die man Zellen nennt. Aber zwischen einem
Backstein und der Zelle besteht ein fundamentaler Unterschied.
Wie das Haus, trotz kunstvollstem Aufbaues ein lebloses Ge-
bilde ist, so ist es auch der Backstein. Die Zelle dagegen
lebt. Jede einzelne dieser zahllosen — nur dem Mikroskop
sichtbaren — Zellen unseres Körpers ist Träger aller jener
Vorgänge, die man die Lebensvorgänge nennt. Der Begriff
Lebewesen besteht also nicht darin, daß einem an sich leb-
losen Körper — etwa einem „Erdenkloß“* — eine „Seele ein-
geblasen“ ist, sondern das Wesen des Lebens knüpft sich in
gleicher Art schon an jedes der zahllosen Bausteinchen, an
jede Zelle, jedes Leben ist aufs engste verknüpft mit dem
„Material“, aus dem diese Zelle selbst besteht.
Zunächst sehen wir bei flüchtiger mikroskopischer Be-
trachtung, daß die Zelle aus dem Zellenleib und dem Zellen-
kern besteht. Die Begrenzungsart der Zelle gegen die anderen
Zellen ist nicht absolut sicher, denn nicht jede Zelle scheint
eine Zellhaut oder Membran zu besitzen. Sie gleicht dann
einem einfachen Tröpfchen, dessen Masse allerdings nach. außen
hin eine andere Beschaffenheit zu haben scheint. Die Ober-
flächenspannung zwingt sie in Tröpfchenform. Der Zellenleib
ist gebildet von der eigentlichen Zellsubstanz oder dem Proto-
plasma; es stellt zunächst eine stark quellungsfähige, haupt-
sächlich aus Eiweiß, Wasser und Salzen bestehende Masse
dar. Doch darf man es nicht einfach als einen chemischen
Körper definieren, sondern als einen biologischen Begriff,
denn es lebt. Die wichtigsten seiner Bestandteile sind Proteine,
besonders das Plastin, das der Hauptlebensträger zu sein
scheint. Die Proteine sind kolloidale Stoffe, die höchst kom-
pliziert zusammengesetzt sind und überaus hohes Molekular-
v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 97
gewicht besitzen. Hauptbestandteile sind wie bei allen Eiweiß-
arten die Aminosäuren, stickstoffhaltige Substitutionsprodukte
der verschiedenen Fettsäuren‘). Wie nun die Atome zu Mole-
külen zusammentreten (s. Aufs. I in Heft I), so bilden diese
manchmal weitere Einheiten, die Nägeli Mizellen genannt hat.
Bei ihnen liegen die Moleküle kettenartig nebeneinander fest-
gebunden, so daß sie gleichsam ein Netz bilden, zwischen
dessen Maschen sich bei der Quellung die Wassermoleküle
einlagern. (Imbibition.) Da aber Mizellenverbände weder
Stoffwechsel noch Teilung vollziehen, können sie nicht die
einfachsten Träger des Lebens sein. Diese müssen vielmehr
so gebaut sein, daß kleinste Gruppen (Mizellenverbände) ver-
schiedener Eiweißarten dicht nebeneinander in einer Einheit
liegen, so daß eine Wechselwirkung von Quellen und Entquellen
entsteht. Diese Wechselwirkung wird uns immer wieder ent-
gegentreten; wir werden sie bereits bei den einzelnen kleinsten
uns noch erkennbaren Bestandteilen der Zelle beobachten.
Daraus folgt, daß die Zelle nicht der kleinste lebensfähige
Verband ist, und bereits Darwin nahm daher die sogenannten
Gemmulae oder Keimlinge an, aus denen dann die Zellen
aufgebaut erscheinen. (Hertwig nennt sie Bioblasten, Verworn:
Biogene, Weißmann: Biophoren etc.)
- Da das Protoplasma lebende Substanz ist, besteht es also
zunächst aus solchen kleinsten Einheiten. Wir dürfen annehmen,
daß die erste lebende Materie in dieser Form, als eine Art
belebter Schleim, auf der Erde erschien. Aus ihm sonderten
sich Tropfen ab, in denen sich deutlich zwei verschiedene
Eiweißsubstanzen unterscheiden, die Kernsubstanz und das
Plasma (Häckels Moneren). Die Kernsubstanz ist aber noch
über das Plasma verteilt; erst ihre Vereinigung zu einem Kerne
bedingt das Wesen der eigentlichen Zelle.
21) Aminosäuren entstehen durch hydrolitische Spaltung der Eiweiß-
stoffe. Es sind organische Verbindungen, die in ihren Molekülen stets
die sauern Karboxylgruppe — COCH und die basische Aminogruppe
— NH, enthalten, Sie können sowohl mit Basen als mit Säuren Salze bilden
(amphotere Elektrolyte). Es können sich die — COOH-Gruppe der einen
Säure mit der — NH,-Gruppe einer anderen verbinden, wodurch ein Peptid
entsteht. Die Peptide zerfallen wieder in Di- und Polypeptide. Die
Eiweißkörper sind nun wahrscheinlich hochmolekulare sehr kompliziert
gebaute Polypeptide verschiedener Aminosäuren.
98 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion
Bei schärfster Vergrößerung läßt sich aber im Protoplasma
selbst eine feine Struktur erkennen. Freilich wurde noch
keine richtige Einigung über die Art dieser Struktur erzielt.
Sicher ist, daß die Struktur des Protoplasma einem Wechsel
unterworfen ist, daß die Schaumform besonders für den Kern
wenig wahrscheinlich ist, daß aber dagegen unbedingt fädige
Anordnungen bestehen und, wie wir sehen werden, in Form
der Spindelfasern etc. deutlich hervortreten. Auch kleine Körn-
chen sind darin vorhanden, sie sind dem Protoplasma ein-
gelagert und scheinen an den Fäden anzuliegen. Man nennt
sie Mikrosomen und das Fadennetz Mitom.
Unsere Abb. I zeigt das
schematische Bild einer Zelle
mit Zellkern. p ist das Proto-
plasma, in dem die Fädchen-
substanz mit dem eingelagerten
Mikrosomen sichtbar ist. In
der Mitte erscheint der Zellkern
(Nucleus) k, der ebenfalls sehr
feine Details erkennen läßt. Er
ist in jeder Zelle vorhanden
und besteht aus einem Netz
feiner Lininfäden und Nuklein-
stränge, die wieder aus Reihen
kleinster Körnchen (Chromi-
Abb. 1. Zelle mit Kern nach Günther. olen) bestehen, die den Linin-
fasern aufgelagert sind. Zwischen diesem Gerüste liegen kleine
Körperchen, die Kernkörperchen oder Nucleoli, die aus
Paranuklein bestehen und im Kernsafte, der Albumine gelöst
enthält, liegen. Die Chromiolen bestehen aus Chromatin, ver-
mutlich einem Nukleinprotoid (Protamin), in dem Phosphor-
säure eine besondere Rolle spielt. Sie wachsen selbst und
teilen sich. Vom Protoplasma unterscheiden sie sich haupt-
sächlich durch ihre Begierde Farbstoffe aufzunehmen. Das
Paranuklein (oder Pyrenin) hat diese Neigung auch, aber es
trennt sich scharf vom Chromatin. Die zum Färben benutzten
Anilinfarben zerfallen nämlich in zwei Gruppen; die saueren
Anilinfarben wirken auf das Paranuklein und die basischen
auf das Chromatin. Unsere Abb. 1 zeigt innerhalb des Kernes
alle diese Details; ein Kernkörperchen ist oben links sichtbar.
km. '
zu“
v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 99
In gleicher Weise Abb. 2. In dieser sind aber noch andere
Teile der Zelle zu sehen. Da tritt uns vor allem links ein
eigenartiges strahliges Gebilde entgegen, das man Zentrosoma
l nennt. Es besteht zunächst
£ aus einer meist gleichartig
erscheinenden Masse, dem
„mu Zentroplasma, in der ein
oder zwei Kernchen liegen,
die Zentriolen. Sie sind
in schärfsten Mikroskopen
>! eben noch sichtbar. Außer-
dem enthält die Zelle noch
sogenannte Organellen.
Man bezeichnet so Ein-
N, schlüsse, die nicht etwa
chr nur momentan auftreten,
Abb. 2. Zelle (schematisch) sondern dauernder Natur
pi Protoplasma, km Kernmembran, 1 Linin,
chr Chromiolen, nu-Nucleolus, s Centrosoma, Sind und zu den wesent-
sn aemembrah: lichen Bestandteilen der
Zellen gehören. Dazu sind auch die Vakuolen, kleine von
Gas oder Flüssigkeiten erfüllte Hohlräume zu rechnen, dann
verschiedene Fett- und Öltröpfchen, Dotterkügelchen und
ähnliches.
Da die Zelle dem Stoffwechsel unterworfen ist, also
Nahrungsstoffe aufnimmt und wieder abgibt, müssen wir uns
auch um die Ausscheidungsprodukte der Zellen kümmern.
Hier sind zwei Möglichkeiten gegeben. Entweder werden sie
vollständig durch den Stoffwechsel des Körpers entfernt oder
sie werden zwischen den Zellen aufgespeichert und als Inter-
cellularsubstanz bezeichnet. Zu dieser Substanz gehören
auch die Umwandlungsprodukte der äußeren Schichten (Exo-
plasma) von Protoplasma selbst. Wo nicht derartige Sub-
stanzen bestehen, liegen die Zellen direkt aneinander oder sie
greifen durch Fortsätze des Protoplasma ineinander über.
Wir besitzen also in unserem Körper zweierlei Arten von
Zellen; solche, die durch direktes Aneinanderlegen den Körper
aufbauen und solche, die gleichsam eine Einzelexistenz führen:
die Keimzellen. Diese zerfallen in männliche (Samen-
körperchen, Spermatozo&n) und in weibliche (Eichen, Ovium).
Während die Eichen zu den größten Zellen des menschlichen
100 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion
Körpers gehören, sind die Samenkörperchen den kleinsten bei-
zuzählen. Das weibliche Eichen steht gerade an der Grenze
der Sichtbarkeit mit bloßem Auge; es hat etwa */,mm (0,2 mm)
Durchmesser; man nennt seine Protoplasma auch Dotter und
seinen Kern Keimbläschen, seinen Nucleolus: Keimfleck,
während die Membran, die es umgibt zona pellucida genannt
war. Der Dotter zerfällt in das eigentliche Protoplasma oder
den Bildungsdotter und das Deutoplasma oder den
Nahrungsdotter. Die männlichen Samenkörperchen weichen
insofern von der bisher beschriebenen Form der Zelle ab, als
ihre sehr geringe Protoplasmamasse dem Zellkern (Köpfchen)
als beweglicher Schwanz anhängt. Zwischen dem Köpfchen
und dem eigentlichen Schwanz ist ein Mittelstück eingeschoben,
in dessen kopfwärts gerichteten Teil das Zentrosoma liegt
und dessen übriges Stück einen Achsenfaden enthält, um den
ein anderer Faden wie eine feine Spirale gewunden ist. So
ein Samenkörperchen ist 0,05 mm lang, das Köpfchen
0,003 mm breit. In einem cmm Samen sind etwa 60000
solcher Samenkörperchen enthalten, so daß ein Mann, der bei
einer Beiwohnung etwa 3—4 ccm Samen abgibt, damit
3 x 1000 X 60.000 = 180 Millionen (resp. 240 Millionen) Samen-
körperchen auf das Weib überträgt.
Der wichtigste Lebensvorgang der Zelle ist ihre Fort-
pflanzung, d.h. ihre automatische Vermehrung durch Teilung
(Mitose). Man könnte sie auch als ein Wachstum der Zelle
über das normale Maß hinaus bezeichnen. Diesem Vorgang
unterliegen sowohl die den Körper aufbauenden Zellen als die
Keimzellen. Je kleiner eine Zelle ist, desto größer ist ver-
hältnismäßig ihre Oberfläche, wie wir im 1. Aufsatz in Nr. I der
Zeitschrift genau ausführten. Wächst also die Zelle im Innern,
so entsteht ein Mißverhältnis zwischen der inneren und äußeren
Substanz. Wird nun die Grenze erreicht, so muß eine gewalt-
same Änderung erfolgen und diese ist eben die Teilung der
Zelle. Denkt man sich die Zelle aus kleinsten Einheiten be-
stehend (— Biogenen —) so könnte man sie etwa mit einem
Bienenstaat vergleichen, der sich ebenfalls teilt, wenn seine
Einzelwesen an Zahl zugenommen haben, denn das Wachstum
der Zelle würde auf einer Vermehrung der Biogenen beruhen.
Untersuchen wir nun den Vorgang näher. Wie gesagt, bestehen
sowohl die Chromiolen als die Zentriolen aus Biogenen. Die
v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 101
Teilung beginnt also hier. Wir können zunächst eine Ver-
größerung des Zentrosoms durch Imbibition (Quellung) be-
obachten. Die Quellungsflüssigkeit wird dem Protoplasma
entnommen. Zunächst beobachten wir denn auch, daß dieses
stärker lichtbrechend wird und sich gegen das Zentrosoma zu-
sammenzieht. Es tritt eine Strahlungsbildung ein, die wir
bereits in Abb. 2 beobachten können. Das eine Zentralkörperchen
teilt sich, es erscheinen zwei (Diplosoma) Tfl. II Fig. A, die
nun auseinanderrücken und sich in den beiden Polen der Zelle
aufstellen, so daß zwei Strahlungsfiguren entstehen. (Siehe
Tfl. II Fig. B.C.D.). Gleichzeitig geht nun im Zellkern eine
Veränderung vor. Die Chromiolen des Netzwerkes ordnen sich
zu SFanlTER, gleich Perlenketten an, Abb. 3, die man Chromo-
somen nennt. (Tfl. II Fig. B u. C). Haben
nun die beiden Zentrosomen die Pole
erreicht, dann legen sich die Schleifen
der Chromosomen in eine der Äquator-
fläche entsprechende Ebene (Tfl. II Fig. D).
Die Bildung der Chromosomen scheint
< nichts anderes als die Folge der durch die
Abb. 3. Chromosomen Quellung des Zentrosomes veranlaßten Ent-
aus Chromiolen zusam- s i LT
mengesetzt(Samenzele quellung der übrigen Zellteile, die sich auch
eines Salamander) nach uf dem Kern erstreckt, zu sein. Zwischen
beiden Polen entsteht eine Art Spindel (Kernspindel) aus
feinsten Fädchen (Linin), durch die die Chromosomen, die sich
der Länge nach geteilt haben (Tfl. II Fig. E) in gleichen Hälften
nach oben und nach unten gezogen werden (Tfi. II Fig. F). In
diesem Momente schnürt sich die Zelle in der Mitte ein (Tfi. II
Fig. G) und trennt sich durch. Kaum sind die Chromosomen
in der Nähe der entsprechenden Zentrosomen angelangt, so
beginnen nun sie ihrerseits Quellungserscheinungen zu zeigen.
Ihre Linien werden unklar, verwaschen und erscheinen dadurch
in ihrer Gesamtheit wieder als Netzwerk; es sind Tochter-
kerne entstanden, während sich die Zelle in zwei Tochter-
zellen gespalten hat (Tfl. II Fig. H u. J).
Demnach entstammt jede Zelle wieder einer anderen und
schon 1858 konnte Virchow den klassischen Satz: Omnis
cellula e cellula (jede Zelle aus einer anderen Zelle) aufstellen,
der heute durch zwei weitere, nämlich omnis nucleus e nucleo
(jeder Zellkern entsteht wieder aus einen Zellkern) und omnis
102 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion
gemmula e gemmula (jedes Biogen entsteht wieder aus einem
Biogen) erweitert werden kann. Diese Vorgänge bestehen nun
für alle Zellen in der Natur zu Recht; bei Organismen mit
getrennten Geschlechtern aber ist weiterhin eine Vereinigung
der beiderseitigen Geschlechtszellen, also die Befruchtung nötig,
d. h. es muß vorher das Samenkörperchen in das Ei eindringen.
Nun ist für jedes Wesen die Zahl der Chromosomen eine
absolut festliegende und Art bestimmende. Alle Zellen des
Menschen enthalten z. B. höchstwahrscheinlich 24 Chromosomen;
folglich auch das menschliche Ei und das Samenkörperchen.
Durch ihre Vereinigung würden nun 48 entstehen. Das ist un-
angängig und so geht der Befruchtung ein Vorgang der Ver-
minderung der Chromosomen voraus, so daß die Zahl der
Chromosomen der Eizelle und der Samenzelle vor der Be-
fruchtung die Hälfte der Chromosomen der Körperzellen des
betreffenden Tieres ist. Man nennt diesen Vorgang die Reifung.
Zunächst wissen wir nun aus Erfahrung, daß in erster
Linie bei den höher stehenden Säugetieren, also auch beim
Menschen eine Befruchtung nur möglich ist, wenn der Same zum
Ei gelangt, d. h. wenn ein Samenkörperchen in das Eichen ein-
dringt. Sein Zweck ist die Entwicklung anzuregen und die
väterlichen Erbstoffe mit den mütterlichen in der
Frucht zu vereinen (Entwicklung und Vererbung). So-
bald nun ein Samenkörperchen in das Ei eindringt, bildet sich
sofort eine Membran um das Ei, die das Eindringen eines
zweiten Samenkörperchens verhindert. Die Bildung dieser Mem-
bran scheint sowohl durch eine Fett lösende Substanz des Samen-
körperchens und durch die Wirkung einer basischen Fettsäure
zu geschehen. Vermutlich führt das Protoplasma des Samen-
körperchens etwas freie Oleinsäure. Nun ist der Kern des
Samenkörperchens im Ei angelangt (Tfl. IlI Fig. a 1) und nähert
sich dem Eikern. Der männliche Kern hat aber ein Zentrosom
mitgebracht (Tfl III Fig. a 2). Die Wirkung des Samenkernes
ist nun vor allem die, daß sich sehr schnell Nukleinstoffe aus
dem Eiprotoplasma bilden,!) aus denen sich Säuren unter
2) An sich ist, wie Loeb gezeigt hat, der Hauptbestandteil des Samen-
kernes ein nukleinsaures Salz, dessen basischer Teil ein Eiweißkörper, das
Protamin ist. Die Orundlage der Nukleinsäure ist aber, wie oben gesagt,
wahrscheinlich eine kondensierte Phosphorsäure, die für die erste Ent-
v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 103
gleichzeitiger Ionenbildung entwickeln, wodurch im Ei eine
Gelbildung eintritt (s. Aufsatz I in Heft 1 S. 33 und 38—40).
Dabei werden dann eine Reihe von Nahrungsstoffen absorbiert.
Die weitere Entwicklung des nun befruchteten Eies kann aber
nur bei Anwesenheit von Sauerstoff, den wir durch die
Atmung aufnehmen, vor sich gehen. Nun erfolgt der Vorgang
der Zellteilung, wie oben geschildert, nur wird jetzt dabei
der Chromatingehalt des männlichen und des weiblichen Zell-
kernes verarbeitet. Es teilt sich zunächst das Zentrosom (Tfl. IIl
Fig. a 3). Dann quillt der männliche Kern unter Heranziehung
von Stoffen aus dem Eiprotoplasma auf das 10—20 fache und
erreicht die Größe des weiblichen Kernes (Tfl. III Fig. a4 und
Tfi. HI Fig. b A—C, wobei in A der männliche mit s, der
weibliche Kern mit e bezeichnet ist). Im Verlaufe von etwa
20 Minuten verschmelzen dann beide Kerne zu einem (in unsern
Bildern nicht dargestellt). Es tritt die Chromosomenbildung auf,
deren eine Hälfte folgerichtig dem Eikern, deren andere dem
Samenkerne entstammt, so daß nun die Gesamtzahl der Chromo-
somen der befruchteten Eier wieder der der übrigen Zellen des
Individuums gleich ist. Die in den Polen stehenden Zentro-
somen ziehen nun die Hälfte der männlichen und die Hälfte der
weiblichen Chromosomen an sich (Tfl. III Fig. a 6 und b E und F).
Dann schnürt sich die Zelle durch und ihre Tochterkerne sind
nun in ihrem Chromatingehalt aus väterlichen und mütterlichem
Erbstoff gemischt (Amphimixis [Tfl. II, Fig. b G)).
Der Charakter jeder Zelle ist nun bestimmt durch die
Art ihres Stoffwechsels (er ist beim Menschen anders als etwa
beim Pferd oder beim Fliegenpilz).. Sollen nun die Eigen-
tümlichkeiten einer Zelle vererbt werden und so wieder das
gleiche Wesen erstehen, so muß der charakteristische Stoff-
wechsel übertragen werden und das geschieht eben dann, wenn
sowohl Kernsubstanz als Protoplasma auf die Tochterzellen
vererbt wird. Bei zweigeschlechtlichen Wesen wird dabei, wie
wir gesehen haben, der Stoffwechsel der beiden Eltern
kombiniert, d.h. das Wesen der väterlichen und mütterlichen
Ahnen übertragen. Das nennt eine Vererbung.
wicklung aus dem Eiinhalt genommen wird, der aber an sich keine Nuklein-
säure enthält, dafür aber Lecithin (s. Aufsatz I) und Fett. Lecithin besteht
aber aus 2 Hauptgruppen: Glycerin-+ Phosphorsäure und Fettsäure-+ Cholin.
104 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion
Vererbt werden aber auch die Geschlechter. Über die
Entstehung der Geschlechter wissen wir noch wenig. Umsomehr
wird allerdings von gewissen Seiten mit der Frage „Wie zeugt
man einen Knaben oder ein Mädchen nach Wunsch“ Unfug
getrieben. Die Wissenschaft ist hier noch in den Anfängen.
Von den verschiedenen Beobachtungen, die hier gemacht worden
sind, ist eine der interessantesten bei Insekten beobachtet
worden. Es zeigte sich, daß bei Reifung der Samenzellen die
Chromosomen sehr ungleich erscheinen und zwei Arten davon
vorhanden sind, die sich durch ihren Chromatingehalt unter-
scheiden. Es gibt z. B. Insekten (Gryllus domesticus), bei denen
das Geschlechtschromosom (Heterochromosom oder
X-Chromosom) im Ei geteilt wird, so daß jedes Tochterei ein
X-Chromosom enthält (Abb. 4
9 (0000000. . unten), beim Samenkörperchen
; gedonnnen. aber nicht geteilt, so daß das
eine Tochterkörperchen das
e . X-Chromosom hat, das andere
en nicht. Bei anderen Insekten
erscheint neben dem X-
Chromosom noch ein anderes,
das Y-Chromosom, wobei
`z
x
Abb. 4. Die Chromosomen der
Wanze. Idie der Samenzelle II die
der Eizelle. In beiden Fällen er- dann in jede Tochterzelle ein
scheinen links die Gruppen vor der
Teilung des Samenkörperchens (oben) anderes wandert usw. Nun ent-
resp. des Eies (unten), rechts aber die ss .
einzeinen aufgelegten Chromosomen. steht bei diesen Insekten immer
Die Geschlechts- oder X-Chromo- i
somen sind nicht ausgefüllt (weiß) männliches Geschlecht, wenn
nach Kammerer. das Eichen von einem Samen-
körperchen befruchtet wird, dem das X-Chromosom fehlt,
weibliches aber, wenn die Befruchtung mit dem X-Chromo-
som erfolgt. Es ist möglich, daß dieser Vorgang Rückschlüsse
auf dem Menschen erlaubt.
NA
Geschlecht und Gesellschaft
Neue Folge X, 4
Taf. I. Junges Karolinenpaar (Faisleute).
Zum Aufsatz: Külz „Aus dem Liebes- und Gesellschaftsleben der
aussterbenden Karoliner“.
Taf. Il. Alter Jap-Karoliner mit seinem Vermögen (Steingeld u. alte Kanone).
Zum Aufsatz: Külz „Aus dem Liebes- und Gesellschaftsleben der
aussterbenden Karoliner“.
Taf. III. Ngollog, Klubhaus mit Steingeld.
Zum Aufsatz: Külz „Aus dem Liebes- und Gesellschaftsleben der aussterbenden Karolirer.
r
ÜBER DEN BEGRIFF DER IMPOTENZ
DES WEIBES. '
Von Dr. med. KURT FRIEDLAENDER, Berlin-Lichterfelde.
m allgemeinen nimmt man an, daß die Frau doch nur in
einer verschwindend kleinen Zahl von Fällen zu einem
Coitus außerstande sei, und daß diese vereinzelten Fälle mit
wenigen Worten erklärt und abgetan seien.
Der Begriff der Impotenz ist uns bis jetzt nur beim Manne
geläufig, und es ist daher ratsam, zur Klärung der Termino-
logie von dieser Störung beim Manne auszugehen, zuvor aber
sich den normalen Vorgang klar zu machen. Unter der Potenz
eines männlichen Individuums verstehen wir die Fähigkeit, den
Beischlaf in physiologischer Weise auszuüben. Erforderlich ist
dazu eine ausreichende Erektion und zur Beendigung des
Coitus die Ejakulation. Die Potenz ist der Ausdruck eines
genügend starken Geschlechtstriebes, der wiederum nicht eine
elementare somatische und psychische Leistung ist, sondern
eine Resultante aus dem Zusammenwirken einer Anzahl von
Grundkräften. Diese Funktionen beruhen teils auf Funktionen
des Gehirns, teils auf der Wirksamkeit der Keimdrüsen. Eine
vermittelnde Tätigkeit spielt das Zentrum genitospinale im
Rückenmark. Bei ausbleibender oder unvollkommener Erek-
tionsfähigkeit des membrum virile spricht man von einer
Impotentia coeundi; als körperlich bedingte Gründe nenne ich
nur allgemeine Schwäche, das Alter und Nervenleiden, die das
Erektionszentrum im unteren Sakralmark direkt schädigen.
Wenn aber auch körperlich alle Bedingungen zu einer Erektion
gegeben sind, so können doch Hemmungsvorstellungen irgend
welcher Art den Ablauf des Erektionsmechanismus so stören,
daß der Erfolg vereitelt wird. Wir wissen, daß das Erektions-
zentrum unter dem herrschenden Einfluß des Vasodilatatoren-
zentrums der Oblongata steht. Die psychische Tätigkeit des
Großhirns hat auf das Gebiet der genitalen Vasodilatatoren
auf dem Wege über das Zentrum der Oblongata im positiven
und im negativen Sinne einen Einfluß. Diese psychischen
8
106 Friedländer: Über den Begriff der Impotenz des Weibes
Hemmungen sind ein ungemein häufiger aber der Therapie
gut zugänglicher Grund der männlichen Impotenz. Trotz
fehlender Erektionsfähigkeit kann eine normale Ejakulation mit
Samenfäden vorhanden sein. Von einer Impotentia generandi
dagegen spricht man, wenn unabhängig von einer Impotentia
coeundi die Spermatogenese fehlt oder wenn, ganz allgemein
gesprochen, zum Beispiel nach Durchschneidung des Samen-
stranges keine Samenfäden nach außen befördert werden,
Der gewöhnliche Sprachgebrauch nennt solche Männer steril.
Diese bis heute gebräuchliche Einteilung der Impotenz in
eine Impotentia coeundi und Impotentia generandi haftet zu sehr
am Äußerlichen und Oberflächlichen und steht nicht auf der
gleichen Stufe mit unseren jetzigen Vorstellungen und Kennt-
nissen dieser Störung des Geschlechtslebens.
Wir verdanken Magnus Hirschfeld eine bessere Einteilung,
besser, weil sie durch eine genauere Spezifizierung der Im-
potenz nach ihren Angriffspunkten uns das Verständnis der
weiblichen Impotenz wesentlich erleichtert. Er unterscheidet
eine Impotentia cerebralis, spinalis, genitalis und germinalis.
Bei der Impotentia germinalis haben wir zu trennen zwischen
einer intrasekretorischen und extrasekretorischen. Unter der
extrasekretorischen germinalen Impotenz ist ein Zustand zu
verstehen, bei dem keine Keimprodukte nach außen befördert
werden, beim Manne also keine Samenfäden, beim Weibe
keine Ovula. Diese letzte Form entspricht der Impotentia gene-
randi, alle anderen Formen der Impotentia coeundi. Wenden
wir diese Begriffe auf die Frau an, so können wir, ohne
Widerspruch zu erregen, von Impotentia germinalis extrasekre-
toria sprechen in den Fällen, in denen eine Vereinigung von
Ovulum und Sperma nicht möglich ist. Mißbildungen der
inneren Genitalien, Verschluß der Tuben, Entzündungen (spe-
ziell Gonorrhoe), das Fehlen der Eibereitung, zum Beispiel
nach Kastration, geben hierfür die hauptsächlichsten Gründe
ab; auch bei der Frau spricht man in solchen Fällen von
Sterilität. Im Sinne der früher gebräuchlichen Impotentia coeundi
liegt für das Weib eine direkte Unmöglichkeit des Beischlafes
vor, wenn Hemmungsbildungen, Mißbildungen und Tumoren
der äußeren Geschlechtsteile und der Vagina eine Immissio
penis unmöglich machen, es handelt sich dann um eine Im-
potentia genitalis.
Friedländer: Über den, Begriff der Impotenz des Weibes 107
Der Begriff der Impotenz ist beim Weibe aber damit
durchaus nicht erschöpft, sondern in einem viel umfassenderen
Sinne anzuwenden. Zur Ausführung eines normalen physiolo-
gischen Geschlechtsverkehrs und zur Durchführung des Aktes
bis zur restlosen Befriedigung und Entspannung ist bei beiden
Geschlechtern erforderlich die Entwickelung des Geschlechts-
triebes, der Libido und das Eintreten des Orgasmus, der sich
beim Manne sichtbar in der Ejakulation äußert, und beim
Weibe in einem Zustand der Entspannung seinen Ausdruck.
findet, der von den verschiedenen Beobachtern durchaus noch
nicht eindeutig beurteilt und bewertet wird.
Fehlt beim Manne der Geschlechtstrieb oder sind starke
psychische Hemmungen vorhanden, die eine genügende Blut-
füllung der Corpora cavernosa penis verhindern, oder liegen
Störungen im Rückenmark, im Zentrum genitospinale vor, so
wird infolge fehlender oder mangelhafter Erektion der Coitus
physisch unmöglich oder nur unvollkommen möglich sein, der
betreffende Mann gilt als impotent oder unvollkommen potent.
Beruht die Impotenz auf Störungen im Zentrum genitospinale,
so haben wir eine Impotentia spinalis, wird die an sich aus-
reichende Libido von den Hemmungsvorstellungen überwunden,
so ist die Grundursache im Gehirn zu suchen, wir sprechen
dann von einer psychischen Impotenz, von einer Impotentia
cerebralis. Ist die mangelhafte Erektionsfähigkeit auf eine
mangelhafte oder fehlende Libido zurückzuführen, so haben
wir es mit einer Impotentia germinalis intrasekretoria zu tun.
Nach unseren heutigen Kenntnissen über das Zwischengewebe
von Hoden und Eierstock und seinem Einfluß auf die soma-
tischen und psychischen Sexusmerkmale, wie sie uns speziell
durch die Experimente Steinachs vermittelt wurden, sind wir
zu der Annahme berechtigt, daß auch die Libido ein Ausdruck
der inneren Sekretion der Keimdrüsen ist.
Völlig analog liegen die Verhältnisse beim Weibe. Zwar
ist, wie schon ausgeführt, bei normalen anatomischen Verhält-
nissen, also abgesehen von der Impotentia genitalis, eine Im-
missio penis ausführbar, aber während sonst beim Akte beide
Partner beteiligt sind und „die Wollust-Organe in dem Augen-
blicke, wo sich beide Geschlechter zur Begattung anschicken,
bereits die nötigen Vorbereitungen erfahren“ (Kobelt), ist die
impotente Frau, die Frau mit fehlender Libido, völlig unbeteiligt
8*
108 Friedländer: Über den Begriff der Impotenz des Weibes
oder sogar im negativen Sinne beteiligt, die sexuelle Berührung
ist ihr unsympathisch. Genau wie beim Manne mit fehlender
Libido oder starken Hemmungsvorstellungen oder irgendwelchen
Prozessen im Rückenmarke, die Blutfüllung der Corpora caver-
nosa penis ausbleibt, so unterbleibt unter den gleichen Be-
dingungen auch beim Weibe die Blutfüllung der Schwellkörper
des Vestibulum und der Clitoris. Durch diese Hyperaemie der
sensiblen Punkte des Scheideneinganges und durch die Erektion
der Clitoris wird eine innige allseitige Berührung der männ-
lichen und weiblichen Geschlechtsteile gewährleistet, die dann
durch Summation der Reize zum beiderseitigen Orgasmus führt.
Ist diese Vorbedingung nicht erfüllt, so ist die Frau als impo-
tent zu bezeichnen. Mehr umstritten ist es, den Begriff der
Impotenz auch auf das Weib mit fehlendem Orgasmus auszu-
dehnen, also auf eine Frau, die bei vorhandener Libido keine
Entspannung in actu findet, auf die dyspareunische Frau. Die
Verhältnisse sind hier nicht die gleichen wie beim Manne, da
beim weiblichen Orgasmus keine Keimprodukte nach außen
befördert werden. Wesentlich für unsere Begriffsbestimmung
ist die Bedeutung des weiblichen Orgasmus für die Befruch-
tung, die besonders von Rohleder betont wird.
-Ist das dem männlichen Ejakulationszentrum im oberen
Lumbalmark analoge Zentrum genitospinale geschädigt, und
wird dadurch das Auslösen des Orgasmus verhindert, so wäre
man berechtigt, voneinerlmpotentiaspinaliszu sprechen. Genauso,
wie man beim Manne von einer Impotenz im allgemeinen spricht,
wenn die Erektion aus irgendwelchen Gründen mangelhaft oder
unmöglich ist, ohne sich um die qualitative Beschaffenheit des
Ejakulats zu kümmern, so ist auch für das Weib in der Haupt-
sache das Wort Impotenz im Sinne eines fehlenden oder ver-
minderten und abgeschwächten Geschlechtstriebes zu gebrauchen,
oder in den Fällen, wo starke psychische Gegenvorstellungen
den Congressus der Frau gleichgültig, unerwünscht oder sogar
widerwärtig erscheinen lassen. Ich muß von einer Impotenz
sprechen, wenn die Frau passiv im wahren Sinne des Wortes
die Annäherung des Partners an sich herantreten läßt. Ist für
den potenten Mann zur Ausübung des Coitus rein physisch eine
ausreichende Erektion nötig, so muß ich für die potente Frau
eine psychische Aktivität postulieren, beruhend auf einer gut
entwickelten Libido und ungestört von Hemmungsvorstellungen.
Külz: A.d. Liebes- u. Gesellschaftsleben d. aussterbenden Karoliner 109
Das Wort Frigidität und seine Verdeutschung Kälte, Gefühls-
kälte möchte ich ganz fallen lassen, es ist zu unbestimmt und
nichtssagend. Schon eher nehme ich den Begriff der anaesthe-
tischen Frau auf, wenn von vornherein darüber Klarheit herrscht,
daß damit nur eine Frau gemeint ist, deren Geschlechtstrieb
herabgemindert oder gehemmt ist oder bei der die Mechanik
des Zentrum genitospinale gestört ist.
Ich spreche also, um zu wiederholen, von einer Impotenz
der Frau, wenn es sich um Zustände handelt, die als Ursache
einer Impotenz des Mannes analog zu setzen sind.
KK
AUS DEM LIEBES- UND GESELLSCHAFTSLEBEN
DER AUSSTERBENDEN KAROLINER.
Von Professor Dr. med. L. KÜLZ (mit Tafeln I—IV).
U“ der Tropensonne im fernen Stillen Ozean gehörte zu
unserem Kolonialbesitz eine liebreizende, weitab von jeder
Festlandküste gelegene kleine Insel, Jap, die größte unter den
vielen noch kleineren als paradiesische Oasen über die weite
Wasserwüste hingestreuten Korallen-Eilanden der Westkarolinen.
An Stelle der deutschen Flagge weht heute die japanische dort.
Als ich kurz vor Kriegsbeginn unter dem gastfreien Inselvölkchen
hauste, da lebten noch über 6000 Menschen auf der reichlich
200 qkm großen Fläche des fruchtbaren Eilands, betraut von
der väterlichen Fürsorge eines deutschen Arztes, in dessen
Händen zugleich seine Verwaltung lag. Trotz der für ein
Naturvolk dichten Besiedelung (30 auf 1 qkm) gehören diese
Westkaroliner doch zu den von raschem Aussterben bedrohten
Volksstämmen. Ihr jährlicher Bevölkerungsrückgang betrug
damals ungefähr neun Prozent. Die Einwirkungen unserer
westlichen Kultur seit der Einbeziehung der Insel in den
Weltverkehr mit regelmäßiger Dampferverbindung auf ihre
Eigenkultur, die in jahrhundertlanger Ungestörtheit hoch, aber:
‘ einseitig entwickelt war, wurden ihnen zum Verhängnis. Durch
Einschleppung ihnen unbekannter Seuchen (Tuberkulose, Grippe,
Typhus, venerische Leiden usw.) wurde es noch beschleunigt.
Der neuerliche Herrschaftswechsel aus deutscher, verständnis-
voller Fürsorge und Pflege in rücksichtslosen japanischen
Eigennutz nimmt die letzte Hoffnung auf ihre Rettung. Mit
110 Külz: A. d. Liebes- u. Gesellschaftsleben d. aussterbenden Karoliner
ihnen werden verschwinden ihre Sitten und Bräuche, an denen
sie mit zäher Anhänglichkeit festhielten, und von denen gerade
im Liebes- und Gesellschaftsleben viele nur dieses einzige Mal
in der ganzen Welt gerade bei ihnen zu finden sind und ihnen
im Urzustand zu Glück und Gedeihen, im Kulturwandel der
neuen Zeit zum Verderben wurden.
Die entscheidende biologische Grundtatsache in ihrem
Volksaufbau ist das starke Überwiegen des männlichen Ge-
schlechtes, oder negativ ausgedrückt, der Frauenmangel.
Bei uns daheim besteht wie bei allen europäischen Kultur-
völkern ein mäßiger Knabenüberschuß unter den Neugeborenen,
indem 105—106 Knaben- auf 100 Mädchengeburten entfallen.
Durch erhöhte Sterblichkeit der Knaben (sie sind also eigentlich
das „schwächere Geschlecht“) gleicht sich allmählich der
männliche Überschuß aus und wandelt sich schließlich für die
älteren Jahresklassen, wie bekannt, zu einem Überwiegen des
weiblichen Geschlechts um. Bei unseren Karolinern steigt nun
diese „Maskulinität“ ganz gewaltig an, so daß bei ihnen auf
100 Mädchen 130 Knaben geboren werden und dieser hohe
Überschuß nie völlig durch stärkere Knabensterblichkeit zum
Verschwinden gebracht wird. Daß es keine „alten Jungfern“
auf Jap gibt, ist danach wohlverständlich. Aber es gibt auch
nur wenige Junggesellen trotz Frauenmangel und Frühehe beider
Geschlechter. Ermöglicht wird dieser Ausgleich durch einen
eigenartigen Stammesbrauch, die Einrichtung von „Klubhäusern“
(Bewai). Wenn man durch die sauberen Inseldörfer wandert,
die sich unter dichten Palmenbeständen und inmitten sorglich
gepflegter, üppiger Obst- und Gemüsegärten am Strande hin-
ziehen, fällt mitten unter den anderen Wohnhütten hie und da
ein Einzelhaus auf, das seine Geschwister ums sechs- bis
achtfache an Größe überragt, das Klubhaus. Bisweilen
steht es auch stolz für sich allein am Ende eines vom Strande
her über den Korallengrund in die See hinausgeführten mächtigen,
langen Steindammes, wie er mehrfach auch als reiner Luxusbau
von ihnen ohne besonderen Zweck errichtet wurde, weil die
einst überschüssige Kraft dieses jetzt totwunden Volkes eine
imponierende Beteiligung suchte. Auch im Klubhaus kommt
dieses kraftvolle Streben zu beredtem Ausdruck; denn trotz
des primitiven Baumaterials sind Ausmaße von 15 m Höhe und
30 m Länge bei halber Breite keine Seltenheit. Ihre hallen-
. Külz: A.d. Liebes- u. Gesellschaftsleben d. aussterbenden Karoliner 111
artigen Innenräume aber sind dem Minnedienst geweiht. Es ist
die Wohnstätte der unverheirateten Dorfjünglinge, ein „Jung-
gesellenheim“ mit sorglos heiterem und liebeverklärtem Leben.
Aus einem .Nachbarorte wirbt man sich mit elterlicher Ein-
willigung und Entschädigung eine Anzahl der Dorfschönen
fürs Klubhaus. Sie sorgen für Sauberkeit, führen den Haus-
stand dieses Jugendbundes, schenken aber auch seinen männ-
lichen Mitgliedern ihre volle Liebesgunst, wofür sie mit ritter-
lichen Auszeichnungen und reichen Geschenken sowie vielen
Privilegien bedacht werden. Fühlt sich eine Klubhausdienerin
Mutter, so tritt sie stets in den Ehestand mit dem mutmaß-
lichen Vater. Dank einer streng geregelten Hausordnung sind
Zwistigkeiten innerhalb des Klubs ausgeschlossen. Da die
Klubhauszeit für den weiblichen Teil durchweg ein von der
Ehe abgelöstes Provisorium war, hatte sie für Volksgesundheit
und Volksvermehrung im Urzustande nichts Bedenkliches.
Zum Verhängnis wurde diese Volkssitte eines „Liebes-
kommunismus“, als in Begleitung der Kultur die venerische
Durchseuchung der Insel anhub, so daß ein einziger Kranker
die ganze Gemeinschaft und damit auch Zahl und Güte des
Nachwuchses gefährdete. Auch das ganze Eheleben wurde
dadurch aufs schwerste erschüttert. Obwohl die Vielehe ge-
legentlich.. vorkommt, lebt der Karoliner infolge des Frauen-
mangels monogam. Aber nur solange wirkliche Neigung das
Paar verbindet, bleibt die Gemeinschaft in Kraft; erlischt sie,
so gibt der eine Teil den andern frei und sucht sich eine
neue Ehe. Ein zweites Motiv der Ehelösung ist der Makel,
der beim Karoliner der Kinderlosigkeit anhaftet. Seit dem
Einzuge der Geschlechtskrankheiten nun schleppt der Karoliner
seine ungeheilten Leiden als verderbliches Heiratsgut von einer
Zeitehe zur andern, um so mehr, wenn er durch sie steril
wurde und ohne den Grund der Kinderlosigkeit zu kennen,
diesem unehrenhaften Zustand durch Ehewechsel zu entrinnen
trachtete. So sind die Geburtenzahlen der Inselbevölkerung
auf einen erschreckenden Tiefstand gesunken, (s. Tabelle Heft V)
und im letzten statistisch abgeschlossenen Jahre 1913 standen
389 Todesfällen nur 128 Geburten gegenüber. Wie die
kulturelle Zerrüttung der Ehe die Geburtenverminderung, so
hat die Seucheneinschleppung ihre Sterblichkeitserhöhung ver-
schuldet. Diese zu bekämpfen war die leichtere Aufgabe, und
112 Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt `
ich konnte selbst dieses Völkchen von einer Typhus-Epidemie
befreien helfen und ihre Zuneigung sowie ihr Vertrauen er-
werben.
Durchschnittlich ist der Karoliner ein unserm Empfinden
(im Gegensatz zum Neger!) an Körper und Geist äußerst
sympathischer Menschenschlag, mittelgroß, von ebenmäßigem,
schlanken Bau und gelbbrauner Hautfarbe, deren hellere Ab-
tönungen bevorzugt sind und denen durch eine allgemein,
namentlich von den Japfrauen gewissenhaft geübte Toiletten-
kunst nachgeholfen wird: die Färbung der Haut mit einer
Paste („Renp“ genannt), die sie aus der Curcuma-Gelbwurzel
bereiten. Ihrem schlichten, schwarzen, ungeschorenen Haar
verleihen sie durch Kokosfett oder Öl einen prächtigen Glanz.
DRK
GESETZLICHE FREIGABE DER FREIWILLIGEN
KÜNSTLICHEN FRÜHGEBURT.
Von Professor Dr. med. KAFEMANN, Königsberg i. Pr.
ährend der Schwabenspiegel dem „Jungeline* mit 14,
der „Juncfrowe“ mit 12 Jahren auch gegen den Willen
des Vaters die Ehe erlaubte und keinerlei Bestrafung der
Fruchtabtreibung (F.-A.) vorsieht, wurde im Widerspruch zu
den Rechtsanschauungen des deutschen Mittelalters das Ver-
brechen der F.-A. erst 1507 durch die Bamberger Halsgerichts-
ordnung und die auf ihr beruhende peinliche Gerichtsordnung
des Kaisers Karl V. vom Jahre 1532 geschaffen. 1794 ver-
langte das preußische allgemeine Landrecht, daß der außer-
eheliche Schwängerer die abtreibende Mutter anzeige; schwieg
er oder hatte er Beistand geleistet, wurde er mit zehn Jahren
Festungshaft bestraft und gezwungen, der in der Regel an der
geschwächten Mutter verhängten Todesstrafe beizuwohnen.
Die in der Geschichte aller Völker unerhörte Roheit dieses
urpreußischen Gesetzesparagraphen wurde durch § 218 des
am 1. Januar 1872 in Kraft getretenen preußischen St. G. B.
vom Jahre 1851 erheblich gemildert. Er lautet: Eine
Schwangere, welche ihre Frucht vorsätzlich abtreibt oder im
Mutterleibe tötet, wird mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren
bestraft. Nach den Entscheidungen des Reichsgerichts Bd. I
(S. 439) findet diese Betrafung auch dann statt, wenn der
114 Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt
Tausende von ihnen einem vorzeitigen qualvollen Tode ent-
gegenführt, indem sie zur mangelhaften Selbsthilfe und zur
bedenkenlos gewährten Mithilfe pfuscherischer Kräfte ihre
Zuflucht nehmen. Die Zahl der sogenannten kriminellen
F.-A. in Deutschland schätzen eingeweihte Fachkreise auf
mindestens 500000 im Jahre. Mit dieser Ziffer erreichen oder
übertreffen wir die Vereinigten Staaten, in denen die F.-A.
zwar rechtlich verboten, aber stillschweigend gebilligt und von
der öffentlichen Meinung nicht mehr als strafbar angesehen
wird — erreichen oder übertreffen wir Frankreich. Aus
diesem Land drang kürzlich durch das Sprachrohr des Matin
(11. 11. 19) folgender Alarmruf zu uns: Vom teuren Leben
zur Abtreibung! Die Zahl der Kinder, welche man opfert,
übersteigt die der Kinder, welche geboren werden. Frankreich
in seinem vollen Ruhm stirbt an Erschöpfung; es zerreißt sich
mit seinen eigenen Händen; es stirbt am Kindermord. Unsere
Untersuchung hat mit Sicherheit ergeben, daß bei zwei Drittel
der in den Hospitälern behandelten Fälle von Frühgeburt es
sich um absichtlich hervorgerufene handelt... Die Zahl dieser
schätzten Professor Lacassagne, Bertillon usw. auf 500000 vor
dem Kriege... heute ist das Übel bei weitem größer! Es ist
sicher, daß heute die Zahl der kleinen Franzosen, welche das
Tageslicht erblicken, bei weitem denen unterlegen ist, welche
man verhindert, geboren zu werden... Nach Beendigung des
Krieges verlieren wir täglich eine große Schlacht... In den
Orten, wo Frauen sich anhäufen — in den Werkstätten,
Ateliers usw. wütet eine wahrhafte Ansteckung, indem die
Frauen, die einmal abortiert haben, eine regelrechte Propaganda
entfalten, die Bedenken besiegen, Ratschläge und Adressen
geben. Der seelische Zustand der Frau ändert sich; die
Abtreibung erscheint als einfacher und gestatteter Eingriff und
das Übel breitet sich aus wie ein Prairiebrand. In einem
nördlichen Bezirk operieren die Engelmacherinnen für fünf
Franks, und so groß ist ihre Kundschaft, daß sie viel Geld
verdienen. In Paris gibt es Ateliers, in denen man sich
abonnieren und nach kaum erkannter Gefahr im Abonnement
erlösen lassen kann... Täglich werden in Paris über 200
Abtreibungen vorgenommen, — eine Zahl, welche die der
Geburten übersteigt. Jeder kleinste Winkel besitzt seine
„Aborteuse“, von denen einzelne sich rühmen, täglich drei
Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt 115
bis vier auszuführen. Die Frauen gewöhnen sich außerdem
daran, sich selbst zu operieren. Die Resultate sind zwar
nicht immer glückliche, aber wie bequem ist das! Sie bedienen
sich bestimmter Spezialinstrumente, die hinter den Schau-
fenstern gewisser Magazine ausliegen. Ironie! Man kann
sich nicht zwei Tropfen Opium besorgen, wenn man Zahn-
schmerzen hat, aber man findet, wenn man will, diese Todes-
werkzeuge. Die Abtreibung findet gleichmäßig in allen sozialen
Schichten statt... Welches sind die Heilmittel? Die Frage
ist offenbar eine schwierige. Man kann sich nicht verhehlen,
daß das teure Leben, dessen Last so hart für die Frauen ist,
ein wichtiger Faktor ist. Jede wirksame Maßnahme gegen die
Teuerung wird eine wirksame Maßnahme gegen das Abtreiben
sein... Das Leiden ist schrecklich. Die Gleichgiltigkeit hat
zu lange gedauert. Mögen die Konsuln zusehen! Und wie
steht es in Wien? Dort ist nach Maßgabe der Krankenhaus-
zahlen die Zahl der Aborte in den letzten sieben bis acht
Jahren um 35 Prozent gestiegen. In Wirklichkeit ist sie aber
bedeutend höher. Die jüngeren Frauen abortieren viel häufiger -
als die älteren, schreiten also in der Entwicklungsvorrichtung
voran. Von hundert Frauen abortierten 1915 12—13, also
jede achte von Hundert, von denen, die zweimal geschwängert
waren 23—27, d. h. jede vierte von Hundert, mit vier Schwanger-
schaften 41—47, d. h. jede zweite Frau. Wenn irgendwo, so
muß in Wien dieses Verhalten der Frauen als sittlich gerecht-
fertigt angesehen werden. Was die Könige delirierten, büßen
die Völker. Also auch in Wien und Frankreich, wie in den
Vereinigten Staaten streckt die Strafrechtspflege vor einem
Übel die Waffen, das zu einer deutlichen Ausdrucksformel
einer inneren Gesetzgebung der Volksseele geworden ist und
infolge des Bestehens des $ 218 in Deutschland zu einer
Quelle ruchloser Bedrängnis durch Erpressung oder Rachsucht
wird. So stellte sich kürzlich bei einem befreundeten
Frauenarzt ein junger Bräutigam mit der Bitte vor, den
weiblichen Partner daraufhin zu prüfen, ob Schwängerung
resp. Abtreibung stattgefunden habe. Er sei bei der
Staatsanwaltschaft angezeigt worden, bei seiner Braut eine
F.-A. vorgenommen zu haben. Das Resultat der Unter-
suchung war vernichtend für die Denunziantin, die an ihrem
früheren Bräutigam, der sie angeblich verlassen hatte, Rache
116 Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt
zu üben sich getrieben fühlte. Die Auffassung der F.-A. als
eines vom Staat zu sühnenden Verbrechens ist keineswegs zu
allen Zeiten wirksam gewesen. Wie es keine Philosophie
überhaupt gibt, vielmehr jede Kulturepoche im Aufstieg und
Abstieg ihre eigene hat, so hat jede ihre eigene instinktive
Moral und auf ihr sich gründende Strafrechtspflege. Die viel-
gerühmte deutsche Treue z. B. gehört mehr der nationalen
Bewunderung als der tatsächlichen Geschichte an. War doch
die deutsche Treulosigkeit sogar bei den Römern sprichwörtlich
geworden, da bei den Deutschen jeder Vertrag, mochte er auch
mit den heiligsten Eiden bekräftigt sein, nur so lange Geltung
behielt, bis die Versammlung der Volksgenossen etwas Neues
zu beschließen für gut- befand. Die „braven“ alten Deutschen
waren der einzige Zweig der arischen Völkerfamilie, der es
nicht als schimpflich empfand, für den Mord des Blutgenossen
baren Lohn einzutreiben. (Seek, Geschichte des Untergangs
der antiken Welt Bd. 1 S. 192). Das Christentum predigte
Liebe, ließ aber auf seinem Acker eine Saat unergründlichen
-Hasses, eines giftigen häßlichen Hasses erwachsen. Niemals
in der Geschichte der Menschheit ist so tief, so ruchlos gehaßt
worden wie bei den Christen, niemals vorher sind von den
Anhängern eines Religionsgebildes derartige Feindschaften
innerhalb der Menschheit entzündet worden, welche zu schmerz-
haften, noch heute blutenden Wunden und zur erbarmungslosen
Ausrottung ganzer Völker führten. Die Blendung, die Basilius II.
1014 an 15000 geschlagenen und gefangenen Bulgaren vor-
nehmen ließ, wurde als ehrenwerte Tat betrachtet und gegen
Blendungen, das Nasenaufschlitzen und qualvolles Töten, das
die oströmischen christlichen Kaiser gegenüber ihren Feinden
bevorzugten, hat die christliche Kirche niemals Widerspruch
zu erheben weder den Mut, noch den Willen gehabt (Lindner,
Weltgeschichte, pg. 160). Carpzow fällte allein 20000 grausame
Todesurteile. Torquemada ließ von 1483—1498 8800 eines
anderen Glaubens Verdächtige verbrennen und am 30. Mai 1660
ließ man zur Feier der Vermählung Karls II. von Spanien mit
Maria Louise von Orleans vor dem jungen Paar zu dessen
Erheiterung und wollüstigen Aufstachelung 17 Protestanten bei
langsamem Feuer braten. Solche Strafakte können natürlich
heute nicht anders bewertet werden als Verbrechen. Indem wir
sie als solche empfinden, büßen wir gewissermaßen die Schuld
Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt 117
der Ahnen, und indem wir das fun, und die Fähigkeit dazu
in uns erkennen, enthüllt sich uns die Tatsache des Menschheits-
gewissens. Während die Gelehrten der heidnischen Antike
durchweg die Frage, ob die Frucht als Mensch zu betrachten
sei, verneinten, während nach einem mosaischem Gesetz die
F.-A. nicht als Menschentötung zu betrachten war, während die
Stoa, die dem römischen Kaiserthron nahe stand, der fast alle
bedeutenden Staatsmänner angehörten, mit erstaunlicher Sach-
kenntnis den Foetus für einen Teil der mütterlichen Eingeweide
hielt, weshalb auch die Gesetzgeber den Keim vor der Geburt
als einen Teil der Mutter betrachteten, auf den der Vater im
Falle der Tötung kein klagbares Recht habe, blieb es der
katholischen Kirche vorbehalten, durch eine falsche Übersetzung
einer mosaischen Bibelstelle die Auffassung zu der herrschenden
zu machen, daß der Embryo in einem bestimmten Zeitpunkt
der Schwangerschaft Mensch werde, und eine Handlung, die
zu seiner vorzeitigen Abtötung führe, als Mord zu betrachten
und von der Justiz zu verfolgen sei. Und so führte die Kraft
der Kirche, die in die weltlichen Kodificationen des Fremden-
rechtes siegend einbrach, zu einer allgemeinen Herrschaft der
Vorurteile und zu einer Verfinsterung der Köpfe, welche für
die Frauen von den furchtbarsten Folgen begleitet war. Erloschen
war das Licht, das Philosophie und Wissenschaft angezündet
hatten; zerstreut durch eine betrügerische Sophistik die Kenntnisse,
nach denen die Antike ihr praktisches Handeln berichtigt hatte.
Die Begründungen, welche die Kirche für ihr Handeln verlaut-
baren ließ, sind von einer so grotesken Lächerlichkeit, daß es
nicht einmal lohnt, ihnen auch nur eine Zeile zu opfern.
Rechtfertigt z. B. die Beleidigung Gottes, — also eines Wortes:
denn „Gott“ ist weiter nichts als ein Wort, das die Menschen
hören und anbeten, — welche die Bulle des Papstes Sixtus V.
vom Jahre 1588 darin erkennt, daß durch die künstliche Früh-
geburt Gott von einem Geschöpf weniger angebetet wird, die
bestialische Bestrafung ungezählter Frauen, die aus edlen
Motiven ihre Früchte opferten resp. opfern -mußten? Von
neuem ist die Zeit dafür reif geworden, daß
der Geist der freien Untersuchung die Wahn-
begriffe zerstreut, welche Jahrhunderte hin-
durch der Wahrheit eine trügerische Maske
auferlegten und den Boden unterwühlten, auf
118 Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt
demFanatismusundIrrtumihren Thronerrichtet
haben. Die Behauptung der Kirche, der Embryo sei schon
in den frühesten Stadien seiner Entwicklung ein denkendes
und fühlendes Wesen, muß als Irreführung mit der größten
Schärfe zurückgewiesen werden. Das befruchtete Ei setzt sich
in den ersten Wochen in der Gebärmutterschleimhaut fest,
nachdem diese durch gewisse Zellen der Eierstöcke .dafür
empfänglich gemacht worden ist. Es entsteht eine Grube unter
gleichzeitiger Bildung einer für das Ei bestimmten Hülle
mütterlichen Gewebes. Der ganze Vorgang wird von gewissen
„inneren“ Absonderungen ausgelöst und beherrscht. Diese
stellen chemische, z. T. wohl bekannte Stoffe dar, welche von
gewissen Drüsen (Schilddrüse, Eierstock, Hoden usw.) ab-
gesondert in die Blutbahn treten und formbildend und form-
verändernd den ganzen Körper beeinflussen. Wenn man ein
abgeschnittenes Stück der Regenbogenhaut eines Tritonenauges
unter die Haut bringt, so ist es imstande, eine neue Linse zu
bilden, vorausgesetzt, daß ein genügender Teil der Netzhaut
mitverpflanzt wird, ohne deren Mitwirkung der Vorgang nicht
eingeleitet werden kann, da deren innere Absonderungen,
welche unmittelbar durch Nachbarschaftswirkung in die Gewebe
übergehen und die Linsenbildung auslösen, dazu erforderlich
sind. (Cohen-Kysper, Rückläufige Differenzierung und Entw.
1918, S. 19). Und so ist das Ei von vornherein ein Parasit
des mütterlichen Körpers, ebenso wie die „Geschlechtszellen“
selbst aus denen er herstammt. Am Ende des dritten Monats
ist der Embryo 7—9 cm lang und wiegt ca. 35 gr. Die
Lider sind durch ein feines Häutchen verschlossen, Gaumen,
After, Darm sind völlig in die Bauchhöhle zurückgezogen.
Ein Geschlechtshöcker ist deutlich erkennbar, ohne daß man
in der Lage wäre, eine Geschlechtsbestimmung vorzunehmen.
Eine Hypothese der neuesten Zeit, deren baldige Bestätigung
durch die Erfahrung zu erwarten steht, nimmt eine geschlechtslose
Embryonalform an, ein geschlechtsloses Gewebe, das durch die
innere Absonderung der schon in der frühesten Zeit angelegten
sog. Geschlechtszellen der Keimbahn lange vor der Ausbildung
des Blutkreislaufs nach der männlichen oder weiblichen Richtung
gestaltet wird. Die ersten vollständigen Nervenzellen erscheinen
im Rückenmark und ermöglichen dem Foetus im vierten bis
fünften Monat die ersten einfachen Bewegungen; aber erst im
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Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt 119
achten Monat erfolgt die völlige Ausbildung gewisser Fasern,
die bis zur oberen grauen Hirnsubstanz und zur Hirnrinde
emporsteigen. Wo wir aber die unserem Nervensystem ana-
logen Bedingungen nicht vorfinden, dürfen wir auch kein dem
unseren analoges Bewußtsein erwarten. Der Embryo ist bis
zum Ende des vierten Monats ein im Mutterleibe parasitierender,
zu einem lebendigen System geordneter Zellhaufen, der später
ein Mensch werden kann. Ihn als Mensch GREHADFOENEN, ist
ein schwerer erkenntnis-theoretischer Irrtum.
Das Auge des Neugeborenen reagiert zwar deutlich
auf Lichteinfall, aber nach einigen Wochen erst bildet sich
das zentrale Sehen aus. Der Neugeborene ist taub und
wird erst nach fünf bis sechs Tagen hörend. Ich erwähnte
vorhin die sog. Keimbahn. Was heißt Keimbahn? Keimbahn
ist die Zellfolge, welche von der Keimzelle des elterlichen
Menschen bis zur Keimzelle des Kindes führt. Bei allen Tier-
klassen wurde die Beobachtung gemacht, daß sich diese Zellen
in bedeutender Weise schon nach einigen Zellgenerationen
von den anderen Furgemgszellen unterscheiden, und daß sie
unmittelbar vom Ei abstammen, nicht von den zum Aufbau
der Körperorgane bestimmten. Diese höchst charakteristischen
Zellen des Keimlagers bilden sich im Laufe der Entwicklung
zu den Geschlechtszellen heran und in weiterer Folge zu den
hochkomplizierten Systemen des reifen Eis, des reifen Samen-
fadens. Und so steht denn fest, daß jedes Individuum nicht
von seinen augenscheinlichen Eltern, sondern von den Geschlechts-
zellen abstammt, die praktisch in jenen vegetieren. Mit Recht
bemerkt deshalb Lapouge, daß jedes lebende Wesen nur ein
Seitenverwandter seiner Eltern und nicht einmal ein Halbbruder
von ihnen beiden ist. (Pol.-Anthrop. Revue 1908, S. 416).
Wahrlich! eine Erkenntnis, aus der die Menschen Bescheiden-
heit lernen müßten. Jeder Mensch hält sich für ein mächtig
ausgreifendes Wesen, für eine wichtige Individualität. In Wirk-
lichkeit ist man nur ein bedeutungsloser Behälter einer ewig
jungen Substanz, die sich ewig um-, zurück- und neubildend
eine stetig fortlaufende Kette darstellt, wo jeder Ring notwendig
in den andern greift. Ewig eilt sie rastlos von Veränderung
zu Veränderung, ewig stößt sie neue Systeme aus sich heraus,
die Lebewesen, die selber vergänglich, der Unvergänglichkeit
jener Substanz dienen. Geburt, sagt schon Empedokles, der
120 Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt
berühmte Entwicklungstheoretiker der Hellenen, gibt es eigent-
lich bei keinem einzigen von allen sterblichen Dingen und kein
Ende im verderblichen Tode. Nur Mischung gibt es und
Austausch des Gemischten: Geburt ist nur ein dafür bei
den Menschen üblicher Name. Aber in einem feineren
geistigen Sinne wird, wie Spengler in seinem ausgezeichneten
Werk „Der Untergang des Abendlandes“ ausführt, der Mensch
viel später erst zum Menschen. Und welches ist das Ereignis,
durch welches sich bei dem Kinde der Eintritt in das Knaben-
alter ankündigt? Es ist das Tiefenerlebnis, das mit ungeheurer
Wucht in jedes Menschen Leben einmal auftritt. Wenn das
Kind aufhört, nach dem Monde zu greifen, wenn es Ferne und
Tiefe zu verstehen beginnt, wenn ein Weltbewußtsein auftaucht
und damit ein Gefühl ungeheurer Einsamkeit in einem un-
ermeßlichen Raum und die Vorstellung vom Tode und vom
Sterbenmüssen: dann erst ist in Wirklichkeit der Mensch
geboren. Vorher lebte er wie das Tier mit dem Augenblick
beschäftigt dahin; mit dem Erwachen des Innenlebens steigt
dämmernd herauf die Ahnung von der Menschheitstragödie.
Die Weltangst, die Angst vor dem Raum, dem Ende, dem un-
verständlich Rätselvollen, das uns umbrandet, beginnt, und mit
ihr die Philosophie, welche jenes durch Begriffe und Gesetze,
durch Benennen und Erkennen zu bewältigen hofft. Leider
sind alle Bemühungen der Philosophie bis jetzt vergeblich
gewesen und werden es bleiben immerdar. Alles, was wir
Erkenntnis nennen, besteht aus Schalen und Begriffen, unter
welchen wir das uns Gegebene zusammenfassen, ohne daß
etwas Neues dabei entstündee Die sogenannten Welt-
rätsel werden wir niemals lösen, weil wir selbst sie
schaffen. Was uns rätselhaft erscheint, sind von uns selbst
geschaffene Widersprüche. Ein Spiel ist alles mit den Formen
und Hülsen der Erkenntnis. „In der Geburt liegt der Tod, in
der Verwirklichung die Vergänglichkeit... Es stirbt etwas
im Weibe, wenn es empfängt, der ewige aus der Weltangst
geborene Haß der Geschlechter hat hier seinen Grund. Der
Mensch vernichtet in einem sehr tiefen Sinn, in dem er zeugt:
durch leibliche Zeugung in der sinnlichen, durch „Erkennen“
in der geistigen Welt . . . Noch bei Luther hat das Wort
„erkennen“ den Nebensinn der geschlechtlichen Zeugung.“
(Spengler) So wird auch das Hühnchen in Wirklichkeit erst
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Taf. V. Weibliche Kolossalstatue von Besnagar (Gwalior-Zentralindien),
Älteste indische Frauenstatue 3. Jh.? nach Smith.
Zum Aufsatz: Schmidt „Das Weib im altindischen Epos“.
Die Tafeln VI—VIII sind Beigaben der Schriftleitung.
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'gjuefy uoA JAX 2IYQH UI VOPJEWwaD) uap u Antazyl0]3 ‘6P—6Lr I edeisey uon pneqıa eAıdıs)
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Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt 121
geboren, wenn es nach Entfernung des Schalendeckels erkennt,
daß die Welt aus einem erlebenden Ich und einem Widerstand
leistenden Du, der Umwelt besteht. Dann erst wird seine
Welt aus der Empfindung heraus geboren. Und in einem
noch tieferen geistigen Sinne können wir Menschwerdung erst
dann anerkennen, wenn das Wesen der Fortpflanzung begriffen
ist. Wenn der Mensch mit ungeheurer Klarheit mit Buddha
einsieht: alles Leben besteht anfanglos; alle Individualität ist
nur Schein, es bestehen nur ewig neu auftauchende Prozesse,
deren innerstes Wesen wir nicht verstehen. Tod und Leben
ist dasselbe und nur durch Nichtgeborenwerden erkauft man
sich „Totlosigkeit“; Leben ist nur Leiden und was wir Freuden
des Lebens nennen, ist nur eine andere Form unseres Elends.
Wohl Dir! oder besser: weh Dir! daß Du blind bist und vergiß
nicht, daß jeder einmal in seinem Leben, wenn auch spät bis-
weilen, sehend wird und werden muß und der Stunde fluchen
wird, die ihn gebar. Nur wer diese Erkenntnis besitzt, sei es,
daß er mit lebendiger Energie sie sich erarbeitet hat, sei es,
daß sie als innere Anschauung schon früh in ihm lebendig
wirksam ist, wessen Geist gesetzgebend in die Handlungen
des blinden Instinktes eingreift, darf in höchstem Sinne sich
als Mensch bezeichnen. Freilich ist die Zahl dieser Wisser
und Erkenner nur gering. Nur wenige machen sich eine Vor-
stellung davon, wie groß Denkschwäche und Unfähigkeit zur
Gehirnanstrengung in der großen Masse der vorgeschrittensten
Völker sind. In Frankreich gelingt es von 100 Kindern, die
von auserlesenen Eltern stammen, selbst schon auserlesen sind
und in das College eintreten, kaum 15 zum Diplom zu kommen.
Nur eine kleine Auswahl steht in der geistigen Rangstufe über
den Negern und der Rest ist mit Kaffern gleichwertig. Zur
Befriedigung kann es den Armen gereichen, daß die
Geistesarmut der sogenannten „Großen“ vielleicht
noch größer ist als die ihrige. In Deutschland aber steht
es keineswegs besser. Unsere Gesittung ist nur eine farben-
schillernde dünne Decke, herumgelegt um die Fratzen der
Urzeit. Schulzwang ist Spiegelfechterei; Volksbildung Humbug;
der stolze Palast der Wissenschaft, an dem die Menschheit
unermüdlich baut, steht auf Fundamenten, die in einem un-
erschöpflichen Sumpf menschenähnlicher Tierheit errichtet sind.
Nie wird ein Strahl der Erkenntnis durch die tiefe Nacht ihres
9
122 Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künst!. Frühgeburt
Nichtwissens zittern, nie wird ihr rohes Denken, das um die
Befriedigung tierischer Bedürfnisse und praktischer Vorteile
kreist, einer Abstraktion fähig sein. Nichts ist lächerlicher, als
der Glaube sozialistischer Wanderprediger und Führer, die
Masse der Proletarier sei eine gesunde, fortschrittsfähige, nur
durch den Druck der Verhältnisse niedergehaltene Masse.
Nichts anderes ist sie, als der Rückstand zahlloser Geschlechter,
die in Jahrhunderten keinen Mann hervorzubringen vermochten,
der die immer vorhandenen Gelegenheiten zum Aufstieg zu
ergreifen fähig genug gewesen wäre, und solcher Familien, die
durch Entartung und Exzesse die Fähigkeiten verloren, sich
oben zu erhalten. Unfähig das jeweilige wirtschaftliche Ge-
triebe zu verstehen, zufrieden mit der rohen Einfachheit ihrer
Existenz, lieferten sie den oberen Kreisen Hände, Arbeitskräfte
und „Bajonette“, welche diese so nötig zur Erhaltung ihrer
Vorzugsstellung und ihrer Riesenvermögen bedurften. Wenn
zu viele Menschen angeboten werden, verlieren sie Preis und
Würde. Da in Rom und in den anderen zahlreichen großen
Städten des römischen Kaiserreichs die freien und unfreien
Proletarier kein eigenes Grab besaßen, auch keiner Begräbnis-
gesellschaft angehörten, wurden ihre Leichen in Massen über-
einandergeworfen und der Verwesung überlassen. Besonders
berüchtigt war der Esquilin bei Rom, dessen unbeerdigte
massenhafte Leichen weithin die Luft verpesteten, während
Hunde und Vögel sich von ihnen nährten und weiße Knochen
weithin das Feld bedeckten. Die Wohnungsverhältnisse dieser
Proletarier waren schon damals so grauenhaft wie heute. Im
Senat wurde es öfters deutlich ausgesprochen, daß der auf dem
Staate lastende Druck des städtischen Proletariats nur dadurch
beseitigt werden könne, daß man, wie der Tribun Servilius
Rullus meinte, das Gesindel ausschöpfe, welche Äußerung
Cicero mit der heuchlerischen Phrase hervorzog, der Tribun
habe von den achtbarsten Bürgern gesprochen, wie von der
Reinigung einer Kloake. Die Mehrzahl der bevölkerungs-
politischen Maßnahmen jener Zeit trugen mehr zur Steigerung
der Not der übervölkerten Großstädte, in deren Interesse mehr
eine Verlangsamung der Volksvermehrung gelegen hätte, bei,
während jene eine Beschleunigung des Tempos herbeiführten.
Der allgemein verbreitete und mit der Not entschuldigte, aber
wenig Ersprießliches leistende Kindermord veranlaßte Lactantius
Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt 123
zu der öffentlichen Warnung — wie heute den Kolberger
Magistrat die Eheschließungsmanie der Jugendlichen — sich
leichtsinnig zu verehelichen und Kinder zu erzeugen, während
Constantins Edikte vom Jahre 315 und 322 eine weitgehende
Erwerbslosenunterstützung einführten, die den Fiskus allzusehr
belastete. Was aber vermochten Warnungen bei der Menge,
die nach des großen Ephesiers Ausspruch sich mästet wie das
Vieh und nach dem Magen und den Schamteilen und dem
Verächtlichsten messend das Glück? Und was nützten Wohl-
tätigkeitsedikte wie die Constantins, die, da sie unausführbar
waren, bald der verdienten Vergessenheit anheim fielen. Daß
unsere heutigen regierenden Kreise aus der Geschichte der
Erwerbslosenfürsorge nicht das Geringste zu lernen ver-
mochten, kann uns nicht in Erstaunen versetzen, da wir wissen,
daß die Erfahrungen älterer Generationen für die folgenden
stets ohne Nutzen geblieben sind.
Wenn ich vorhin das überflüssige europäische Gesindel
auf eine Rangstufe mit den Kaffern erhob, so müßte ich auf
deren Widerspruch gefaßt sein, falls diese Arbeit zur Kenntnis
ihrer Literaten käme. Die afrikanischen Naturvölker überragen
vielfach inbezug auf Kenntnis der Sexualvorgänge im All-
gemeinen und auf geburtenbeschränkende Maßnahmen im
Besonderen bei weitem große europäische Schichten. In
zahlreichen Orten unserer Schutzgebiete sowie der englischen
und portugiesischen geht die Bevölkerungsziffer dauernd
zurück, teils infolge gegengeburtlicher Maßnahmen, teils infolge
enormer Kindersterblichkeit. Die Bevölkerungszunahme in
Deutschland war in den letzten zwanzig Jahren eine derartig
ungezügelte, daß sie bei Kennern Befremden und Besorgnis
einflößen mußte. Nur einige wenige kleine Staaten haben von
1900—1910 eine gleich große oder gar größere Zunahme
aufzuweisen gehabt. Sowohl in Österreich-Ungarn, Rußland,
Italien, Spanien, Frankreich, Belgien, den Niederlanden, Groß-
britannien ist die Zunahme zum Teil sehr erheblich geringer
gewesen. Nur die Balkanstaaten erreichen Deutschland. Die
Vereinigten Staaten übertreffen es (1,89 Prozent : 1,45 Prozent),
Japan nähert sich ihm mit 1,31 Prozent. Im Jahre 1910 haiten
innerhalb des preußischen Staatsgebietes 1,388,122 Frauen
mindestens sieben Kinder geboren, 17336 mehr als 16 und
748 mehr als 20. Eine politische Zeitung bemerkte kindischer
9*
124 Kafemann: Oesetzliche Freigabe d. freiwilligen künsti. Frühgeburt
Weise zu diesen Ziffern, sie seien nicht nur erfreulich für
uns, sondern auch lehrreich für unsere Feinde! Man muß
überhaupt täglich darüber staunen, mit welcher Unverfrorenheit
öffentlich über bevölkerungspolitische Fragen Männer und
Frauen, Ärzte, Gelehrte und Ungelehrte urteilen, welche Kraft
ihrer ungenügenden Kenntnisse und ihrer intellektuellen Un-
fähigkeit, mehr als die Wordergründe und Oberfläche eines
derartigen Problems zu erkennen, die ungeeignetsten Instanzen
für Beurteilung dieses darstellen. Was sollen alle diese
Tausende geburtenhetzerischer Arbeiten mit dem patriotisch
grollenden Unterton, welche etwas zu sagen glauben, während
sie doch nur tausendmal ausgesprochene Irrtümer wiederholen,
unendlich Durchgekautes ewig ruminieren, eructieren, regurgi-
tieren und erbrechen. Daß die übermäßige Kinderproduktion
überhaupt nur in solchen halbidiotischen Familien beobachtet
wird, welche den Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher
sozialer Stellung und Kinderzahl nicht zu durchschauen ver-
mögen, sich von selber aufzehrt, und bevölkerungspolitisch
nur die Aufwuchsziffer in Frage kommt, sollte doch wohl
mehr bekannt sein als es anscheinend der Fall ist. (Würz-
burger, Rückblick auf die Literatur des Geburten-Rückganges,
soziale Praxis Nr. 21, 216). Ganz besonders deutlich läßt die
Bevölkerungsentwicklung zweier europäischer Staaten, Italiens
und Portugals (Demogr. Materialien-Archiv für soziale Hygiene
und Demogr. 11. Bd. 4 H) erkennen, daß trotz sehr hoher
Geburtenziffern die tatsächliche Bevölkerungszunahme eines
Landes sehr gering sein kann. Es ist falsch, daß die Geburten
seit 49 Jahren in beständigem Rückgang sein sollen, während
dieser unverkennbar doch erst im Beginn des 20. Jahrhunderts
eingesetzt hat. Die Ziffer der Geburten des Jahres 1901 ent-
sprach noch genau der nämlichen des Jahres 1892 und 1890,
ja sogar 1862. Aus der Gepflogenheit, nicht die einzelnen
Jahre zu betrachten, sondern Jahrfünfte und Jahrzehnte, quillt
dieser Irrtum. Was wir durch sie an Bequemlichkeit ge-
winnen, verlieren wir an Schärfe des Bildes. Irrtümlich ist
auch die Angabe, daß durch die Sterblichkeitsverminderung
die angenommene Bevölkerungszunahme annähernd ausge-
glichen worden sei. Was sollte ausgeglichen worden sein,
da doch nichts auszugleichen war? Der Sterblichkeitsrückgang
ist bis 1901 uneingeschränkt der Bevölkerungsvermehrung
—
Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstt. Frühgeburt 125
zugute gekommen, und ist die Ursache der vorher erwähnten
in Europa bisher unerhörten Volkszunahme gewesen. Als
dann der Geburtenrückgang um 1902 wirklich einsetzte und
im letzten Friedensjahre 200000 Geburten weniger als das
Jahr 1901 mit der geradezu ungeheuerlichen Ziffer von
2032313 lieferte, da stellte es sich heraus, daß trotzdem in
den 13 Jahren ausgesprochenen Geburtenrückgangs die Be-
völkerung sich um elf Millionen vermehrt hatte. Diese erstaunliche
Erscheinung lehrt uns erkennen, daß die Geburtenziffer über-
haupt keinen richtigen Maßstab für die Bevölkerungsentwicklung
bietet. Die Aufwuchsziffer, d. h. die Zahl derjenigen Kinder,
welche die ersten stark gefährdeten Lebensjahre bis zum
siebenten überschreiten, ist diejenige Instanz, welche über den
Volksbestand entscheidet (Würzburger). Diese so wichtige
Ziffer ist von den bevölkerungspolitischen Schwätzern über-
haupt nicht beachtet worden. Gewohnt mit Oberflächen-
phänomenen sich zu begnügen und das Einfache zu bevor-
zugen, suchten sie den Schein der Wahrheit, während sie
doch fast durchweg national alldeutschen Zielen nachjagten.
Nur wenigen Deutschen der Gegenwart ist es bis jetzt ge-
lungen zu erkennen, daß diese beispiellose Volksvermehrung
niedrigstehender Menschheitsgruppen die einzige Veranlassung
des, Weltkrieges gewesen ist.*) Einer dieser Wenigen ist Prof.
Lensch, der 1917 in den süddeutschen Monatsheften schrieb:
„Nichts ist rührender als die sanften Beteuerungen’ deutscher
Politiker und Professoren von der deutschen Friedfertigkeit.
Gewiß! An der subjektiven deutschen Friedfertigkeit ist
nicht zu zweifeln. Aber das sollte nicht hindern zu erkennen,
daß wir objektiv gesehen die Friedensstörer sind und sein
müssen. Unsere „Schuld“ liegt in unserem Wachstum. Es
ist ein zwangläufiger Prozeß, den auch der eifrigste Pazifist
nicht zum Stillstand bringen kann, es sei denn durch die
Niederlage.“ Nichts ist törichter und ungerechter als
Wilhelm Il. als den Kriegsentfesseler anzuklagen und zu ver-
urteilen.**) Unsere sinnlose Volksvermehrung zwang zwischen
*) Dies ist auch der Grundgedanke meiner sexualwissenschaftlichen
Vorträge, (Anm. des Herausgebers.)
*) Aber Wilhelm Il. und seine Umgebung, insbesondere die ehe-
malige Kaiserin, waren die Hauptschützer und Erzeuger jener Moral,
der wir die Irrlehre vom Werte übermäßiger Vermehrung danken.
(Anm. des Herausgebers.)
126 Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt
1901 und 1911 die Kinder der Midlands und Lancashires in
ungeheuren Massen abzuwandern, da die an sich nicht geringe
Steigerung der englischen Ein- und Ausfuhr nicht genügte,
um den ganzen Bevölkerungsüberschuß — etwa vier Millionen
— im eigenen Lande festzuhalten (vergl. Quessel, England und
wir, 1919). Während unsere Alldeutschen und auch anders
orientierte Blätter höhnisch triumphierend auf den Niedergang
englischer Wirtschaft hinwiesen, waren sie unfähig zu erkennen,
daß dieses mächtige Wachstum Deutschlands und die durch
dieses ausgelöste wirtschaftliche Besiegung Englands zu einer
blutig grauenhaften Tragödie führen mußte, die ihresgleichen
nicht in der Weltgeschichte findet. Nicht Dynastien, harmlose
Prinzen und Generäle sind es, die heute Kriege inszenieren:
die Völker selber sind es, deren Erhaltungstrieb um den
Vorrang mit einander in zähem Kampfe ringt. Nicht gewillt
das Glück der nachfolgenden Generationen durch das Elend
der gegenwärtigen zu befestigen, unfähig in dem Phantom einer
glänzenden Arbeiterzukunft etwas anderes zu suchen als die
Gegenwart, werden sie stets bereit sein, die Ideale gegen-
wärtiger wirtschaftlicher Glückseligkeit durch alle Gräuel des
Krieges zu verfolgen. Und keine wilderen Kriege wird es
geben als die bevorstehenden der sozialistischen Regierungen
gegen einander. Fern von Madrid haben unsere Könige jetzt
Zeit, über die Nachteile einer allzugroßen Volksvermehrung
nachzudenken! Da die Menschen noch nicht einmal begonnen
haben, über die Ursachen ihres Elends nachzudenken, da ihre
müden Gehirne sich dauernd alten Gedankenreihen hinzugeben
pflegen, auch schlechterdings nicht einzusehen ist, wie, wenn
sie erkannt wären, die wirtschaftlichen Interessen aller mit-
einander in ein peinlich geregeltes, auf Gerechtigkeit auf-
gebautes Gleichgewicht gesetzt werden könnten, wird der
blutige Kampf der Menschheit nie erspart bleiben. Das Herz
des Menschen will ihn, wenn auch der Intellekt ihn verab-
scheut. Allen anders lautenden Beteuerungen sozialistischer
Führer können nur Kinder, Frauen und Schwachköpfe Glauben
schenken. Nicht in einer phantastischen Geburtenhetze liegt
bevölkerungspolitisch das Heil für die alten Kulturländer
Europas — insbesondere Österreich-Ungarns, Deutschlands,
aber auch Sowjetrußlands, das 1918 die Bevölkerung des alten
Zarenreiches auf 195000000 berechnete, sondern in der
Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt 127
Schaffung genügender Möglichkeiten des Erwerbs, welche die
Existenz des Einzelnen und ihrer Familien über dem soge-
nannten „Minimum“ gewährleisten. Auch in kleineren Staaten
wie Schweden, Holland und Dänemark werden auch heute
noch zahlreichere Kinder geboren als zur Erhaltung der
Volkszahl nötig ist. (Rössle, Demogr. Material der Bevölkerung
indischer Kulturstaaten in den ersten Jahrzehnten dieses Jahr-
hunderts, Archiv für soziale Hygiene und Demogr. II Bd. 1916.)
Dieses widrige Gewäsch über den Geburtenrückgang wirkt
deshalb so aufstoßBend, weil es besonders aus jenen staats-
und kirchenerhaltenden Kreisen stammt, welche das grausame
Herrschaftsverhältnis des Mittelalters je eher je lieber wieder
aufrichten, Massen hungernder Proletarier mit der Miene be-
lästigter Wohltäter und der Knute hinter dem Rücken Brot
verabfolgen und wenn es nötig sein sollte, sie auf Anraten
eines neuen Luther wie tolle Hunde totschlagen und mit
„Schlachten und Würgen von Bauernvieh“ sich das Himmelreich
erwerben möchten. Es ist eine beliebte Spielerei berühmter
Geographen, auszurechnen, wie viel Menschen die Erde zu
ernähren imstande ist. So bezeichnete kürzlich der Berliner
Gelehrte Penck in seiner Rede über „die Grenzen der Mensch-
heit“ die Ziffer von 16 Milliarden als die Grenze, bis zu welcher
die Ernährungsmöglichkeiten der Erde unter Hinzunahme aller
tropischen Urwaldgürtel zu steigern seien und entrollte damit
vor der inneren Anschauung derer, die noch die Einsamkeit
als einen unermeßlichen, die Denkkraft und die Gesundheit
steigernden Wert zu schätzen wissen, ein Bild des Grauens,
dem gegenüber Dante’s Hölle nur ein gemütliches Kabarett
darstellt. Es bedarf übrigens nur einer kurzen Betrachtung,
um das völlig Illusionäre dieser Penck’schen Berechnung nach-
zuweisen. Die Völker der heißen Zone vermehren sich im
Allgemeinen im Gegensatz zu der weißen Rasse, insbesondere
der deutschen, nur in äußerst schleppendem Tempo. Während
z.B. in den neuesten wissenschaftlichen Handbüchern die Zahl
der Bewohner Marokkos, das an Größe Deutschland weit überragt,
auf 10 Millionen angegeben wird, sind es nach genauen Be-
rechnängen der Franzosen nur 3200000. Demgegenüber hat
Groß-Berlin allein heute trotz der Kriegsverluste schon die
vierte Million erreicht. Allerdings sind die Marokkaner keine
Krüppelzüchter wie die Deutschen, die in der Erhaltung minder-
128 Kafemann; Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt
wertiger Leben eine wichtige „soziale Aufgabe“ sehen. Darfur
sollte nach Nachtigalls Angaben 3500000 Einwohner besitzen,
während es nach heutigen Berechnungen der englischen Regierung
nur 500000 sind. Eine Besiedlung dieser tropischen Gebiete
durch Europäer, die sich wohl bereitwilliger zur Zeugung zeigen
würden, ist aber des Klimas wegen völlig ausgeschlossen.
Versuche gewaltsamer Akklimatisierung würden in der zweiten,
spätestens dritten Generation zum völligen Erlöschen der aus-
gewanderten Europäerfamilien führen. Bezüglich der Zukunfts-
aussichten der Vereinigten Staaten hielt einige Jahre vor dem
Kriege der kluge Mr. James Hill, Präsident der Great Northern
Eisenbahn, einen höchst bedeutenden Vortrag, dem ich folgendes
entnehme: Hill schätzte die mutmaßliche Bevölkerungszahl der
Vereinigten Staaten im Jahre 1920 auf 117036229, 1930 auf
142091663 und 1950 auf 204041223. Die erstaunliche Be-
schaffenheit dieser Zahlen stelle die Größe unseres Problems
dar, Es sei nicht ein Problem von morgen, sondern von heute.
Binnen 44 Jahren würden wir uns den Bedürfnissen von
200000000 Menschen gegenüber sehen. In weniger als 30 Jahren
von diesem Moment an werde unser Land 130000000 Menschen
beherbergen. Wie sei diese Volksmenge, die nicht irgendeinem
dämmerigen, entfernten Zeitalter angehöre, sondern der gegen-
wärtigen zur Mannheit heranwachsenden Generation, zu be-
schäftigen, wie zu ernähren?? Werde plötzlich dieses Problem
mit grellem Licht beleuchtet, so erkennen wir, daß wir nicht
etwa eine Spekulation vor uns haben, sondern das grimmige
Angesicht einer Erscheinung, welche die die abscheulichen
Straßen in der Hoffnung auf Nahrung und Obdach ablaufenden
Arbeitslosen bedroht. Dieses Bevölkerungsproblem werde ohne
Zweifel auf eine Beschränkung der Einwanderung hinwirken,
und es werde mehr akut werden, wenn das verfügbare Land
zu Ende gehe, Jeder Acre öffentlichen Landes werde während
der nächsten 15 Jahre bei dem gegenwärtigen Maßstab der
Aufsaugung verschwunden sein. Holz und mineralische Hilfs-
quellen würden verschwenderisch vergeudet, und obgleich der
Verlust des ersteren bis zu einem gewissen Grade wieder gut
gemacht werden könne, könnten die letzteren niemals wieder
ersetzt werden. Mr. Hill glaubt, daß um 1950 herum Amerika
sich dem eisenlosen Zeitalter nähern, und daß zu derselben
Zeit die beste und geeignetste Kohle verbraucht sein wird.
Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt 129
„Woran wird man dann seinen Rückhalt haben?“ — „Einzig
und allein an dem Lande“ sagt Mr. Hill. „Amerika sei vor-
wiegend und ursprünglich ein Ackerbau treibendes Land. Sein
Boden sei bis jetzt behandelt worden wie seine Wälder und
seine mineralischen Schätze. Einzig und allein weil der Boden
länger duldend, weil der Prozeß der Erschöpfung schwieriger
ist und einen längeren Zeitraum in Anspruch nimmt, seien wir
der Gefahr entronnen, welche so deutlich in anderen Gebieten
sichtbar werde. Die sorglose Verteilung von Land, seine
Verteilung an alle, die darnach lüstern waren, die Preisgabe
großer Strecken zu Weidezwecken, habe viel von dem nationalen
Erbteil verschlungen. Nur die Hälfte des in privatem Besitz
befindlichen Landes sei jetzt beackert. Die Kultur dieser Hälfte
produziere nicht die Hälfte dessen, was das Land zu erzeugen
imstande wäre, ohne auch nur ein Atom von seiner Fruchtbarkeit
zu verlieren. Zu der Schätzung Hill’s möchte ich hier nur
berichtigend bemerken, daß wie so ziemlich alle derartigen
Schätzungen auch die seinige erheblich größere Zahlen
annimmt, als dann zu den verschiedenen Terminen von
den in Frage kommenden Volkskörpern erreicht wurden.
So hat die soeben vollzogene Volkszählung der Vereinigten
Staaten zur großen Enttäuschung der an Kolossalismus ge-
wöhnten Amerikaner nur 105000000 ergeben, während man auf
110, Hill sogar auf 117 Millionen gerechnet hatte. Sehr
rosig urteilte kürzlich der Statistiker des amerikanischen
Ministeriums des Innern, Franklin K. Lano. Von zehn ameri-
kanischen Familien hätten nicht weniger als sechs ein Telephon.
Von den 25 Millionen Familien, die die Bevölkerung der Ver-
einigten Staaten enthält, seien nicht weniger als 14 Millionen
Besitzer eigener Häuser. Von dem Grund und Boden der
Vereinigten Staaten sei bisher nur erst der vierte Teil kultiviert;
wäre demnach der Boden in dem gleichen Verhältnis wie in
Europa der Kultur zugänglich gemacht, so würde die Er-
nährung einer Bevölkerung von 500 Millionen Köpfen gesichert
sein. Wir glauben, daß sich beider Anschauungen gut ver-
einigen lassen. Lano scheint nur die aufs äußerste ausgenutzte
Produktionsmöglichkeit ‘des Landes, die ja auch Hill hoch
einschätzt, aber einer Chinaisierung gleich kommen würde, in’s
Auge zu fassen, dagegen nicht die drohende RER der
Rohstoffe. Bleiben wir bei Deutschland!
(Fortsetzung folgt.)
130 R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos
DAS WEIB IM ALTINDISCHEN EPOS.
Von Universitäts-Professor Dr. RICHARD SCHMIDT, Münster.
(Mit Tafel V—VII.) (Fortsetzung.)
Mas bespricht nun in Kapitel VI—IX das rein Sexuelle: Das
Weib in seinen geschlechtlichen Beziehungen, der Ge-
schlechtsgenuß (surata), die geschlechtliche Enthaltsamkeit des
Mannes und die öffentliche Frau (der käufliche Liebesgenuß).
Seiner Gewohnheit entsprechend stellt er an die Spitze eine
Charakterisierung der indischen Ansichten über diese Dinge,
die so gelungen ist, daß ich es mir nicht versagen kann, das
Treffendste hier wörtlich mitzuteilen. Es ist ja von vornherein
zu erwarten, daß auch das Epos zu diesem unerschöpflichen
Gegenstande viele Einzelheiten beisteuert. „Aber gemäß der
strengeren, verhältnismäßig reinen und sittlichen Anschauung,
von der die epische Dichtung beherrscht wird, dürfen wir hier
keine bunte Menge verliebter oder gar schlüpfriger Abenteuer,
Anspielungen usw. suchen. Ehebruchsdramen und -dramolette
oder lustige Hahnreihanekdoten gehören nicht zu der Kost, die
hier vorgesetzt wird, und auch die in vielen anderen Ländern
so alltäglichen und in der späteren indischen Literatur nicht
seltenen lockeren Verhältnisse zwischen Mädchen und Männern
sind dem Epos eigentlich fremd, trotzdem sogar Vyasa, der
angebliche Verfasser und nicht unwichtige Mitspieler des
Mahabharatam, und der in der indischen Literatur unerreichte
Held Karna Jungfernsöhne sind... Wahr ist es: auch das
Epos enthält gar manche Geschichten und Angaben, die in der
westlichen Welt als unanständig gebrandmarkt würden. Aber
da tut man ihnen sehr unrecht. Dergleichen wird fast durch-
weg geradezu mit wissenschaftlichem Ernste vorgetragen, mit
einer solchen einfachen Selbstverständlichkeit, als ob man sich
in einem anatomischen Lehrsaal befände. Der Inder, der ältere
italienische Novellist, ein französischer Dichter der Troubadour-
zeit und z. B. ein Brantöme können anscheinend so ungefähr
dasselbe erzählen, aber si duo faciunt idem, non est idem.
Brantöme grunzt in seiner Pfütze wie fünfhundert erotomanische
Säue; der Fabliaupoet bewirtet sogar mit den widerlichsten
Schlüpfrigkeiten, manchmal ziemlich fein, oft aber nach unserem
Empfinden unsäglich roh; aus des Italieners Gesicht schaut
nicht selten mehr ein recht unartiger, aber beinah unschuldiger
R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos 131
Naturmensch, man möchte beinah sagen: Gassenbube' hervor,
dies sogar bei vollendeter Geistes- und Stilbildung. Wie aber
der alte Inder, wenigstens gewöhnlich, so etwas darstellt, das
zeigt sich hoffentlich deutlich genug auch in diesem Buche.
Liebesmären nach der landläufigen, vor allem auch europäischen
Art, sind also nicht Sache des Epos. Liebe und Ehe läßt
sich hier nicht trennen. Der trojanische Krieg entstand, weil
eine leichtfertige Gattin sich gerne entführen ließ — der
Kampf zwischen den Pandava und den Kaurava, der Gegen-
stand des eigentlichen Mahabharatam, entbrennt, wie uns die
Dichtung selber mehrere Male versichert, weil man die Schmach
nicht vergessen kann, die einer edlen Frau angetan worden
ist, obgleich dies ja nur gelten kann als „the straw that breaks
the camel’s back“; und im Ramayana handelt’s sich eigentlich
bloß darum, den frechen Räuber der keuschen Sita zu züch-
tigen und die Hoheitsvolle zu befreien. Die Weltliteratur hat
keine schöneren Lieder von der gattentreuen Liebe des Weibes
als die Dichtung von Damayanti und die von Savitri. Beide
stehen im Mahabharatam, und es sind nicht die einzigen, die
diesen Vorwurf behandeln. Die Heldin des Ramayana vollends
hat seit Jahrtausenden in Indien als Bild fleckenlosester
Weiblichkeit geleuchtet.“
Mit dem Eintritt der monatlichen Reinigung beginnt für
die Frau nicht nur die Befähigung und das Recht zum vollen
geschlechtlichen Leben, sondern auch die Verpflichtung dazu.
Daher die Sorge, die nun für die Eltern anhebt, falls sie nicht
das Glück gehabt haben, ihre Tochter noch vor der ersten
Menstruation zu verheiraten; denn es bedeutet eine schlimme
Sünde, ein menstruierendes Mädchen im Hause zu haben; da
dieses sozusagen nicht mehr dahin gehört, sondern unter die
Botmäßigkeit der Gottheiten des Ehestandes gekommen ist.
Bei jeder Monatsreinigung hat aber die Frau nicht nur
das erhöhte Verlangen nach der Kohabitation, sondern auch ein
heiliges Anrecht darauf; und so ergibt sich denn die so oft
eingeschärfte Pflicht des rtugamanam für den Gatten, d. h.
er muß sich der Frau in den ersten zwölf bezw. sechzehn
Nächten nach Eintritt der Menstruation nahen; Unterlassungs-
sünden gelten hier als schwerer Frevel! Fährt die pflicht-
vergessene Frau zur Strafe zur Hölle, so wird der nachlässige
Mann einem Embryo-Töter gleichgeachtet. Beide Epen zählen
+32 R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos
solche Versäumnis unter der Zahl der schaurigsten Vergehen
auf, die in der anderen Welt schwer zu büßen sind; umgekehrt
aber wird das rtugamanam eine hohe Tugend genannt, die
in den Himmel führt und selbst einem Sudra (Pariah) dazu
verhilft, mit der Zeit als Brahmane wiedergeboren zu werden;
es wird ebenso bewertet wie die völlige Enthaltsamkeit des
Mönches. Wer außerhalb der angegebenen Zeit seiner Gattin
sich naht, also die für die Erzielung von Nachkommenschaft
geeigneten Nächte unbenutzt vorübergehen läßt, der sündigt
ebenso wie der Verfehmte, der eine Kuh tötet, seinen Leib
ins Wasser entleert oder den göttlichen Ursprung der Veden
leugnet. Daß man sich nicht in Liebesbrunst, sondern nur in
Erfüllung der heiligen Pflicht des rtugamana begattete, macht
eine der Segnungen des goldenen Zeitalters aus, wo die
Menschen von allen körperlichen und seelischen Schmerzen
befreit waren, niemand als Kind starb, keiner ein Weib erkannte,
ehe er die Jugendblüte erreicht hatte, die Könige mit Gerechtig-
keit regierten und es zur richtigen Zeit regnete.
So koscher aber die Frau ist, wenn sie nach Beendigung
ihres Monatsflusses das vorgeschriebene Bad genommen hat,
so unsauber (im rituellen Sinne) ist sie, während sie noch
menstruiert; und sie da besuchen ist streng verpönt, wie wir
gesehen haben.
Entsprechend der indischen Anschauung, daß die Frau
erotischer ist als der Mann — sie soll ein achtmal so starkes
Liebesverlangen haben als dieser — ist der Liebesgenuß für
sie sehr nötig; sie altert, wenn er ihr versagt bleibt: asam-
bhogo jara strinam, heißt es mit natürlicher Offenheit in
Indien, und die Heldinnen des Epos tragen denn auch kein
Bedenken, gelegentlich ihre gesunde Freude an den „goldenen
Geschenken der Dione“ zu bekunden, wie z. B. Lopamudra es
tut. Aber es wird auch von Männern erzählt, deren Ideal der
Umgang mit Tausenden von jugendschönen Frauen ist.
Die raffinierte Liebeskunst, wie sie uns im Kamasutram
und in der Iyrischen Dichtung entgegentritt, mit ihren zahl-
reichen figurae Veneris und oft gar zu absonderlichen Arten
von Zärtlichkeitsbezeugungen, werden wir im Epos vergeblich
suchen; Meyer gibt S. 179 nur eine einzige Strophe, die auf
das Kratzen mit den Nägeln anspielt. So hört man auch so
gut wie nichts von Stimulantien, abgesehen vom Fleischgenuß,
R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos 133
der einmal für diejenigen empfohlen wird, die mit ganzer Seele
dem „Dörflerbrauch“ ergeben sind. Die Erotiker haben hier
eine reiche Auswahl von Rezepten, für die ich auf meine Beiträge
zur indischen Erotik $. 842 ff. verweisen darf. Erwähnen will
ich nur, daß das Pflanzenreich dabei eine sehr große Rolle
spielt; man bereitet die Drogen gewöhnlich mit Milch, die mit
Zucker oder Süßholz gesüßt wird. An erster Stelle nennt das
Kamasutram den Knoblauch; von anderen Zutaten wären Bocks-
und Widderhoden sowie der Inhalt von Sperlingseiern und
Moschus zu nennen. Mucuna pruritus, Buchanania latifolia,
Sanseviera Roxburghiana, Hedysarum gangeticum, Trapa
bispinosa, Scirpus kysoor, Asparagus racemosus, Piper longum,
Anethum sowa sind einige der gebräuchlichsten Pflanzen, die
hier der Natur zu Hilfe kommen müssen. Weiter gibt es
Vorschriften zur Vergrößerung des Penis, zur Erweiterung resp.
Verengerung der Vagina, zur Verhütung vorzeitiger Ejakulation,
zur Erzielung des Orgasmus der Frau und noch manche andere
schöne Sachen, wozu auch noch meine Zusammenstellung be-
sonderer Praktiken zu vergleichen wäre, die ich in Liebe und
Ehe S. 161 ff. gegeben habe.
Von den Lehren, die sonst noch aus dem Epos zu ent-
nehmen sind, wäre noch zu erwähnen, daß die Ausübung des
Coitus als verunreinigend angesehen wird, weshalb die Be-
treffenden danach der Gewalt der Dämonen verfallen sind.
(Daher die im Kamasutra und bei den Juristen vorgeschriebene
Waschung!) Auch soll der Akt im Verborgenen stattfinden.
Einen scheußlichen Frevel bedeutet der coitus in ore conficiendus,
der als eine der Verirrungen namhaft gemacht wird, die gegen
Ende der Welt aufzutreten pflegen.*) Ebenso verpönt ist die
Homosexualität, die Unkeuschheit während der Darbringung
des Ahnenopfers und die Begattung am Tage. Als Fasttage
8) Das Kamasutram hat ein eigenes Kapitel darüber (S. 165ff. des
Textes, 211 ff. meiner Übersetzung) und bespricht alle möglichen Variationen,
Aber die Sache ist dem Verfasser selber so widerlich erschienen, daß er
am Schlusse seine Lehren sehr mit Vorbehalt empfiehlt: „Sund quidam
eiusmodi homines, sunt quaedam regiones, sunt quaedam tempora, quibus
praecepta illa non inutilia erunt. Itaque postquam et regionem et tempus
et usum et compendium et te ipsum consideraveris, praeceptis illis aut
obtemperato aut ne obtemperato. Quae res cum sec-etum aliquod
atque mens varia sit, quis igitur est, qui disceptare possit, quis aut quando
aut quo modo quidque conficiat?“
134 R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos
endlich sind gesetzt die Neumondsnacht, die Vollmondsnacht,
die achte und vierzehnte Nacht jeder Monatshälfte. Viel mehr
bieten für alle diese und ähnliche Dinge die Rechtsgelehrten
und dann natürlich die Erotiker, die z.B. einen richtigen Ka-
lender für die vier Klassen der Frauen aufgestellt haben, anderer
höchst belehrender Sachen gar nicht zu gedenken. (Eine Menge
Einzelheiten bei Meyer S. 172ff. und in meinen Beiträgen zur
indischen Erotik.)
Daß der Ehebruch immer wieder im Epos gebrandmarkt
wird, kann bei der hier geltenden Hochachtung vor der Ehe
nicht wundernehmen. „Die Männer, die nur an der eigenen
Gattin ihre Lust finden und gegen andere Frauen beständig
wie gegen ihre Mutter, ihre Schwester, ihre Tochter handeln,
die, deren Augen gegen fremde Frauen durch den guten Wandel
zugedeckt sind; die fremde Frauen, auch wenn diese ihnen im
geheimen mit Liebe nahen, selbst in Gedanken nicht schädigen,
die gehen in den Himmel ein“. Die mannigfachsten Strafen
werden dem Ehebrecher angedroht: er muß so viele Jahre in
der Hölle sitzen, als die Frau Poren am Leibe hat; er wird als
Impotenter wiedergeboren oder als Schwein, Hund, Katze, Hahn
und Wurm; in der Hölle wird er gebraten wie ein Fisch oder
muß dort Eiter und Blut essen. Als besonders schlimm be-
zeichnet das Epos und mit ihm die ganze übrige Literatur die
Schändung des Bettes des Lehrers durch den Schüler. Ein
solcher Sünder soll sich auf eine glühende Eisenplatte legen,
sein Glied abschneiden und mit emporgehobenen Augen so weit
gehen, bis er tot hinfällt; dann ist seine Tat gesühnt. Das
glühende Lager wird auch für den Ehebrecher empfohlen, zu
dem sich eine Frau aus höherer Kaste herabgelassen hat: sie
selbst soll auf öffentlichem Platze von Hunden zerfleischt werden!
Man sieht, theoretisch wenigstens ist es dem Indern Ernst
mit dem Schutze des Thorus. Nicht einmal ansehen soll man
ein fremdes Weib, wenn es nackt ist; wer es doch tut, wird
als Blinder wiedergeboren. So wird denn im Epos die Keuschheit
des Mannes hoch gefeiert; sie ist „die höchste Tugend“, aber
der Gipfel ist doch die völlige Enthaltsamkeit, wie der Asket
sie übt. Für einen solchen gibt es auf Erden nichts Unerreich-
bares; seine Tugend verbrennt alles Böse und Unreine. Freilich
ist auch er gegen die Weiblichkeit nicht durchaus gefeit: das
Epos kennt den später so oft verwerteten Zug, daß die Götter,
R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos 135
um sich der unwiderstehlichen, selbst ihre Stellung bedrohenden
Macht eines solchen Heiligen zu erwehren, eine der Himmels-
hetären entsenden, die dann für gewöhnlich mit ihren Reizen
den Sieg davongetragen, wenn es auch bisweilen nicht gleich
gelingt. Es gibt aber im Mahabharatam auch Fälle, wo der
Asket schon durch den bloßen Anblick eines schönen Weibes in
Orgasmus gerät.
Ein ganz merkwürdiger Gegensatz ist es nun nach allem,
was wir bisher von Frauenwert und -würde gehört haben, daß
wir die öffentliche Dirne in Indien eine Rolle spielen sehen,
die uns einfach unerklärlich erscheinen müßte, wenn wir nicht
bedächten, daß wir eben in Indien, dem Musterlande der grellen
Gegensätze, sind. Dort in Waldeinsamkeit der Büßer, der
den tiefsten Geheimnissen nachgeht und sein Fleisch abtötet,
hier im Gewoge der Stadt die oft sehr reiche und vornehme,
wie nicht minder gebildete Kurtisane! Schon im Veda wie im
Epos ist die Hetäre eine ganz selbstverständliche Erscheinung
und bildet einen wichtigen Teil des städtischen Gemeinwesens,
wenn sie auch in der gesellschaftlichen Rangordnung einen
tiefen Stand einnahm. Ihre rote Gewandung, die ja an Tod
und öffentliche Hinrichtung erinnern könnte, soll nichts der-
gleichen andeuten, sondern sie nur den Männern leichter
kenntlich machen.
Die Helden des Mahabharatam sind reichlich mit solchen
Schönen versehen, die zu Beginn des Kampfes hinten beim Troß
ihren Platz finden. Sie bilden überhaupt das unentbehrliche Zu-
behör jedes feierlichen Auf- und Auszuges, bei Jagden, ländlichen
Vergnügungen und Picknicks, wie es das Kamasutram ebenso
anschaulich als amüsant beschreibt (S. 71 meiner Übersetzung;
man vergleiche auch den ganzen sechsten Teil sowie Meyers
oben erwähnte Bücher, denen noch seine Übersetzung von
Damodaragupta’s Kuttanimatam [Lehren einer Kupplerin] Leipzig
1903, hinzuzufügen wäre.) So ist „die Buhldirne nicht nur der
Schmuck des Lagers, sondern auch des bürgerlichen Gemein-
wesens; die farbenschönste, duftigste Blume, die sich die Stadt
recht offensichtlich ins Haar steckt, wenn ein Fest oder sonst
ein frohes Ereignis gefeiert wird“ (Meyer S. 201). Den sieg-
reichen König begrüßen bei seinem Einzuge in die Stadt die
schön geschmückten Kurtisanen; bei Rama’s Weihe zum „Jung-
könig“ stellen sich die Freudenmädchen innerhalb des Palastes
136 R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos
auf: alles Züge, die auf das lebhafteste an abendländische
Erscheinungen erinnern. (Meyer S. 198—205 und namentlich
seine Anmerkungen dazu.)
Selbstverständlich eifert das Epos gelegentlich auch heftig
gegen die Freudenmädchen. Dem Fürsten wird geraten, Trink-
hallen, Dirnen, Handelsleute, Schauspieler, Glücksspieler und
ähnliche Leute als Schädlinge des Reiches zurückzustemmen.
Besonders kräftig aber ist der Spruch XIII, 125, 9: „So schlimm
wie zehn Schlachthäuser ist ein Ölmüllersrad, so schlimm wie
zehn Ölmüllersräder ein Wirtshausschild, so schlimm wie zehn
Wirtshausschilder eine Hure, so schlimm wie zehn Huren ein
König.“
Nach solchen Expektorationen darf man ruhig annehmen,
daß die Hetäre im Epos, bei aller ihrer unleugbaren Bedeutung
für das Geschlechtsleben des Inders der damaligen Zeit, doch
keineswegs als die Verkörperung wahrer Frauenhuld gefeiert
wird, wie es wohl in der Kunstpoesie so ausgiebig geschieht.
Man braucht ja nur an die herrliche Gestalt einer Damayanti,
einer Savitri zu erinnern, denen man noch viele ähnliche, zart
und treu liebende Mädchen und Frauen aus dem Epos zur
Seite stellen könnte, um gewiß zu sein, daß diese das wahre
Ideal des Inders sind, nicht die käuflichen Schönheiten. Meyer
ist durchaus im Rechte, wenn er auch für die epischen Zeiten
ein gut Teil echter Liebesromantik bei den Frauen, aber auch
bei den Männern in Anspruch nimmt, die uns ganz deutsch-
innig anmutet. Die Liebesgeschichte des Samvarana, des Ruvu,
der Riesin Hidimba, die Klagen Rama’s um seine geraubte
Gattin — all das ist so schön, so voll tiefster Empfindung,
wie nur irgendein Herzensroman sein kann. Es fehlt hier auch
nicht der Ritter, der für die Dame seines Herzens mit Riesen
und Geistern kämpft: Bhimasena, der „übermütige Kraftgeselle“,
der sich auch darin ritterlich zeigt, daß ihn allein unter fünf
Brüdern die der gemeinsamen Gattin angetane Schmach empört.
Er rächt sie denn auch fürchterlich. —
*
Der Mann wendet seine Liebe oder besser gesagt: seine
Brunst häufig genug auf ein Weib, nicht um es zu heiraten,
sondern um es zu genießen, wobei er auch in Indien ganz wie
bei uns mit Vorliebe die Dienerinnen und Mägde aufsucht,
ohne dabei auch nur das geringste Bedenken zu haben. Ne sit
R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos 137
ancillae tibi amor pudori ... Schwerenöter gab es da eine
hübsche Menge, und sie hatten zu ihrer Entschuldigung, falls
sie eine brauchten, den Hinweis auf den Götterkönig Indra, der
in diesem Punkte aufs Haar genau Zeus gleicht. Ihm wird
geradezu die Schuld daran zugeschrieben, daß durch sein böses
Beispiel die Buhlerei auf Erden eingerissen sei (Ramayana VII,
30, 33). Was der Don Juan aber hienieden nicht fertig bringt,
dazu hat er reichlichste Gelegenheit im Himmel, wo ihn die
Heerscharen der Apsarasen, eine Art Walküren und Huris, mit
überschwänglichen Liebesfreuden erwarten. Sie sind der Preis
der Tapferkeit, dessen Erreichung die Krieger anspornt; sie sind
auch der Lohn für Askese, Almosengeben, Beschenkung der
Brahmanen usw., wenn auch im Epos der Krieger „als Haupt-
anwärter auf jene feschen Himmelsweiber hervortritt“.
Sine Baccho friget Venus — das wußten die alten Inder
auch schon und haben sich, Männlein und Fräulein, ehrlich
bemüht, Venus hübsch warm zu halten. Die Helden des Epos
verachten Liköre und Schnäpse so wenig wie Fleisch (Rama
ist auf diesem Gebiete geradezu Gourmet!), was alles in
späterer Zeit, in den Gesetzbüchern und sonstigen streng-
brahmanischen Schriften ja bekanntlich durchaus verpönt ist.
Gelegenheit zu galanten Abenteuern bieten die öffentlichen
Gärten und Lusthaine, und dazu gehört der Rauschtrank, den
sich selbst die edelsten Frauen fleißig einschenken lassen, bis
sie einen allerliebsten Schwips weghaben. Das war keine
Schande, bewahre! Die größten indischen Kunstdichter haben
das Motiv „das trunkene Mädchen“ gern benutzt, um es zu
den phantasievollsten Strophen zu verarbeiten. Unter dem
Einfluß des Alkohols erscheint die Frau dem Inder ganz be-
sonders reizend, weil dadurch die Liebe entflammt wird; die
von Natur verschämte Geliebte umarmt im Rausche gern den
Mann, und im Ramayana trinkt sich die Witwe Valin’s sozusagen
erst Mut, bevor sie sich neuen Liebesfreuden hingibt. Aber
man betrank sich ganz gern auch noch bei anderen Gelegen-
heiten, an denen es ja nicht mangelte: weltliche Feste gab es
genug, und selbst die großen Opferfeiern wurden dazu von
beiden Geschlechtern benutzt.
Natürlich kennt das Epos auch noch die poetischen,
romantischen Entflammer der Liebe: den Frühling vor allem
mit der erwachenden Pracht der Natur, dem Pilanzengrün,
10
138 R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos
Vogelgesang und Bienengesumme; den Mondschein und den
Wind vom Malaya (unsere „lauen Lüfte“). Alles dies gehört
zum eisernen Bestande der indischen Poesie von den epischen
Zeiten an, und es gibt wohl kaum einen Dichter, der nicht
wenigstens mit einer Strophe dieser Liebeserreger gedächte,
die auch in den Werken der Ästhetiker eine bedeutende Rolle
spielen. Für einen locus classicus über diese Dinge erklärt
Meyer S. 244 die Stelle Ram. IV, 1 ff, die er dort in Über-
setzung wiedergibt.
Wer aber der Herrlichkeit der Natur und allen sonstigen
Lockungen gegenüber immer noch kühl blieb, für den hielt
Indien, das Land der Magie, eigens gebraute Liebestränke und
kräftige Zauber bereit. Namentlich hantierten die Frauen mit
derartigen Sachen, sei es, um sich die Liebe des Gatten zu
erwerben oder zu erhalten, sei es, um einen Nebenbuhler zu
vernichten. Vergl. darüber weiter oben, S. ?. Daß die Inder
alles daran setzten, eine geliebte Person zu gewinnen, ist ja
ganz natürlich. Nicht die Erotiker allein erklären die Liebe
für das höchste aller Erdengüter: auch die fünf Heldenbrüder
des Mahabharatam unterhalten sich über die schwere Frage,
welches der drei Lebensziele — dharma (Pflicht, Religion,
Tugend), artha (weltlicher Vorteil, Reichtum, hohe Stellung
usw.) und kama (Vergnügen, Genuß, Liebe) — das vor-
nehmste sei, und Bhima entscheidet sich für das letztere.
„Denn besser ist das Öl als der ausgepreßte Ölkuchen, und
besser die geschmolzene Butter als die Buttermilch. Besser
ist die Blüte und die Frucht als das Holz, vorzüglicher kama
als artha und dharma. Wie der Honig der süße Saft ist aus
der Blume, so kama aus diesen beiden nach der Lehre der
Überlieferung. Kama ist der Mutterschoß des dharma und des
artha, und kama macht ihr Wesen aus. Ohne kama wäre das
verschiedenartige Treiben der Welt nicht denkbar.“
Endlich sei noch der Tatsache gedacht, daß im Epos
häufig genug auch Liebes- und Eheregeln vom makrobiotischen
Standpunkte gegeben werden. Sie stehen im Einklang mit
dem, was die Ars amandi und die Gesetzbücher darüber zu
sagen wissen, d. h. verboten ist der Coitus am Tage, mit der
Gattin des Königs, von Ärzten, Dienern, Verwandten, Schutz-
befohlenen usw. (Das Kamasutram nennt Aussätzige, Verrückte,
Ausgestoßene, Geheimnisse Verratende, öffentlich Einladende;,
R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos 139
solche, deren Jugend größtenteils vorüber ist; allzu Helle, allzu
Dunkle, übel Riechende, Verwandte, Freundinnen, Nonnen und
die Frauen von Verwandten, Freunden, Lehrern und Königen.)
Auch die zum Liebesbesuche in das Haus des begehrten
Mannes gehende Schöne treffen wir im Epos; aber sie spielt
doch bei weitem nicht die Rolle wie in der späteren Lyrik.
Ganz fehlt die pedantische Einteilung der Männer und Frauen
nach zum Teil sehr delikaten Merkmalen, mit der uns die
Erotiker und Poetiker aufwarten und die z. B. für die Frauen
bei letzteren die hübsche Summe von 384 Arten umgibt, wie
man sich in meinen Beiträgen zur indischen Erotik S. 255—315
überzeugen kann.
Dafür gibt uns das Epos aber eine Definition der Liebe,
allgemeiner gesagt: des kama, die ich den Lesern nicht vor-
enthalten darf: „kama, diese begehrende Vorstellung des
Geistes, ist die Freude, die bei der berührenden Verbindung
mit körperhaften Dingen entsteht, wenn die fünf Sinne, der
Geist und das Herz sich mit einem Sinnengegenstande be-
schäftigen.“ Noch schöner freilich definiert das Kamasutram
(S. 19/20 meiner Übersetzung): „Das in der gehörigen Ordnung
und je ‘auf ihrem Gebiete stattfindende Wirken der in dem
zur Seele gehörenden Empfinden zusammengefaßten Sinne:
Gehör, Gefühl, Gesicht, Geschmack und Geruch ist kama
(Lust). Das erfolgreiche, infolge der besonderen Berührungen
von der Wonne des Selbstbewußtseins begleitete richtige
Empfinden derselben (Sinne) aber ist hauptsächlich kama
(Geschlechtsliebe“). Wer es nun noch nicht erfaßt hat, was
Liebe ist!!
*
Das Weib als Gattin: das ist ein Thema, welches in der
ganzen indischen Literatur, folglich auch im Epos, immer
wiederkehrt und unendlich schöne Variationen gezeitigt hat.
Das strengere Sittengesetz erkannte der Frau eigentlich nur
dann eine Daseinsberechtigung zu, wenn sie Gattin und Mutter
wurde, weshalb auch das Mädchen nur als ein dem Vater vom
Schöpfer übergebenes Pfand angesehen wird, welches jener
sorgsam für den künftigen Gatten aufheben muß. So ist denn
das Epos voll des Lobes der gattentreuen Frau; in immer
neuen Wendungen preist der Dichter den Segen und das
Glück, das sie ins Haus bringt. „Die Hälfte des Menschen
10*
140 R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos
ist die Gattin, die Gattin ist der allerbeste Freund, die Gattin
ist die Wurzel der drei Lebensziele, die Gattin ist die Wurzel
dessen, was da retten wird. Wer eine Gattin hat, führt Taten
aus, wer eine Gattin hat, ist Hausvater; wer eine Gattin hat,
genießt Freude, wer eine Gattin hat, ist vom Glück begleitet.
Sie sind die Liebes redenden Freunde in der Einsamkeit,
Väter bei den Obliegenheiten der Pflicht, Mütter für den
Leidenden, Ruhe sogar in Waldwildnissen für den wegemüden
Wandrer.“ Solche und ähnliche Lobsprüche auf die treue
Gattin könnte man einen stattlichen Band voll sammeln; aber
wir werden sehen, daß das Lied manchmal auch ganz
anders klingt!
Die Aufgabe, die ein treffliches Weib zu erfüllen hat, ist
jedenfalls ebenso erhaben als schwer, aber dafür ist auch der
Lohn schon auf Erden ein köstlicher. Ja, die Phantasie des
Inders weiß sie ins Märchenhafte zu steigern und hat Gestalten
geschaffen wie die Brahmanin, die wegen ihrer Gattentreue
allwissend ist, oder wie die, deren Keuschheit ihr die Gabe
eingebracht hat, sich für jeden, der nicht völlig rein ist, un-
sichtbar machen zu können (Meyer S. 259 ff). Da nun aber
der Gatte nach indischer Anschauung für die Frau von edler
Eigenart die höchste Gottheit ist, ob er auch einen schlechten
Charakter hat, oder nach seinen Lüsten lebt, oder der irdischen
Güter beraubt ist, und diese Gottheit, wie man sich wohl
denken kann, in ihren Ansprüchen nicht immer gar zu be-
scheiden war, so ist es für die Frau gewiß oft genug recht
sauer geworden, den Ruf einer treuen Gattin zu erlangen und
zu behalten. Am niederträchtigsten pflegten sich die „Heiligen“
zu benehmen, und man darf es der schikanierten Ehefrau eines
solchen eingebildeten, leicht reizbaren Rüpels wahrlich nicht
verdenken, wenn ihr schließlich auch einmal die Galle über-
läuft und sie ihrem Herrn und Gebieter einfach durchbrennt.
Was aber eine indische Hausfrau an körperlicher Arbeit zu
leisten hatte, darüber später.
Meyer bringt jetzt erst im XIl. Abschnitt (S. 269 ff.) eine
Zusammenstellung dessen, was uns das Epos über Zeugung,
Schwangerschaft und Geburt zu sagen hat. Was zunächst die
Bildung des Sperma anlangt, so sind im Körper des Menschen
tausende von Äderchen vorhanden, die, wie Flüsse das Meer,
so den Leib speisen, indem sie die Säfte in Haut, Fleisch,
R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos 141
Sehnen, Knochen, Mark usw. überleiten. In der Mitte des
Herzens ist nun die Ader manovaha (die Trägerin des
manas, der Begehrlichkeit und Phantasie), die aus allen
Gliedern das Sperma auslöst. Wie durch den Butterstößel
die in der Milch befindliche Butter ausgeschieden wird, so“
das Sperma durch die verlangende Phantasie. Seine Gottheit
ist Indra; daher heißt es auch indriya, Indra-Kraft. Aus
seiner Vermischung mit dem Menstrualsafte bildet sich die
Leibesfrucht, mit der sich dann die Seele verbindet, so daß die
Frucht Bewußtsein bekommt und ihre Glieder bewegt. Zuerst
heißt der Embryo kalala (Pünktchen), daraus entwickelt sich
ein Bläschen (budbuda), und daraus ein Fleischklumpen
(pesi), aus dem dann die Gliedmaßen hervortreten. Nach dem
neunten Monat bildet sich die Individualität, Männlein oder
Weiblein, je nach den Geschlechtsmerkmalen (oder besser,
nach Meyers Vorschlag S. 275, Anm. 2: man erkennt die
Individualität).
Über die willkürliche Bestimmung des Geschlechtes sagt
das Mahabharatam, wenn man in der Monatshälfte, in der der
Mond abnimmt, am zweiten Tage die Ahnen verehre, so gebe
es Mädchen; verehre man sie am fünften, so erlange man
viele Söhne. XIII, 104, 151 heißt es dagegen: „Der Kluge
gehe in der Nacht zu seiner Gattin, wenn sie sich am vierten
Tage (nach dem Eintritt der Periode) gebadet hat; am fünften
Tage wird’s ein Weiblein, am sechsten ein Männlein.“ Einig-
keit herrscht hier so wenig wie in den Angaben, was die
beiden Eltern zu der Bildung des Leibes beisteuern. Bald
heißt es, vom Vater kämen Knochen, Sehnen und Mark, von
der Mutter Haut, Fleisch und Blut; bald sollen die Söhne nach
dem Vater, die Töchter nach der Mutter geraten, bald wird
als landläufige Meinung vorgetragen, die Menschen würden in
ihrem Charakter überhaupt nur von der Mutter bestimmt.
Das Epos weiß endlich auch noch von fabelhaft lange
dauernden Schwangerschaften zu berichten, die der Kuriosität
halber hier erwähnt werden sollen. Sakuntala geht drei Jahre
mit ihrer Leibesfrucht, Gandhari zwei: diese pufft schließlich
ihren Bauch unter großen Qualen, worauf sie einen Fleisch-
klumpen hart wie Eisen gebiert, den sie mit kaltem Wasser
und dann mit zerlassener Butter behandelt, worauf sich hundert
Söhne und eine Tochter entwickeln. Zwölfjährige Schwanger-
142 R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos
schaften kommen ein paar mal vor; eine Frau bringt es sogar
zu hundert Jahren, trägt allerdings die Frucht dabei im
Schenkel, geradeso wie der König Yuvanasva, der durch den
Genuß von Weihwasser schwanger wurde, das eigentlich für
seine Gemahlin bestimmt war!
*
Als Wöchnerin gilt die Frau für unrein und ist deshalb
mitsamt dem Neugeborenen den Angriffen der bösen Geister
ausgesetzt, die das Kind rauben und fressen; ja manchmal
wird der Foetus noch im Mutterleibe durch Dämonen ver-
nichtet. Daher werden denn eine Menge glückverheißender,
geisterscheuchender Dinge im Zimmer der Kindbetterin auf-
gestellt, Krüge mit Wasser, Kränze, Schmelzbutter, Senfkörner,
blanke Waffen und Feuerbrände. Noch heute spielt das Feuer
in der Wochenstube die wichtigste Rolle; es muß immer in
Brand gehalten werden und ist dann allerdings das beste
Abwehrmittel gegen die dunklen Gewalten. Sonst ist aus dem
Epos über die Entbindung selbst nichts zu entnehmen; da
muß man schon die Mediziner von Fach befragen, und wer
es nicht kann, dem ist ja Jolly ein vortrefflicher Führer
(Grundriß der indo-arischen Philologie III, 10).
In ihrer Stellung als sorgende Hausfrau hat die indische
Gattin auch im Epos oft ihre liebe Not. Meyer nennt da an
erster Stelle das Abenteuer der Dranpadi mit dem wegen
seines Jähzorn berüchtigten Heiligen Durvasas, der „eine
kannibalische Freude darin findet, andere bis aufs Blut zu
scharnickeln.“ Er kommt eines Tages, als die Essenszeit
bereits vorüber ist, mit einer ungeheuren Schar von Schülern
herbei und setzt die Hausfrau in die größte Verlegenheit, aus
der ihr dann aber der Gott Krsna gnädiglich heraushilft.
Andere Kochabenteuer bei Meyer 299 f. und im Dasakumara-
caritam $. 302 ff. seiner Übersetzung.
Im Hause soll die Frau auch sonst auf Ordnung halten
und nichts herumliegen lassen. „Wo Geschirr umhergestreut
ist oder zerbrochenes Gerät oder Sitzgerät sich befindet, in
solch einem sündenschmutzverdorbenen Hause kommen die
Frauen um. Die Gottheiten und die Ahnen kehren an den
Festen und Feiertagen von dem sündenschmutzverdorbenen
Hause hoffnungslos wieder um (weil sie dort nichts entgegen-
nehmen können). Zerbrochenes Gerät und Bettgestell, Hahn
R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos 143
und Hund und ein am Hause wachsender Baum — das sind
alles unheilbringende Dinge. Im zerbrochenen Gerät wohnt die
Zwietracht, sagt man, im Bettgestell Schwund des Vermögens,
in der Gegenwart des Hahnes und des Hundes essen die
Gottheiten die Opferspeise nicht, in der Wurzel des Baumes
wohnt sicherlich ein Kobold; darum soll man den Baum nicht
pflanzen.“ Viel näher als das Epos macht uns freilich das
Kamasutram mit den Pflichten einer Idealhausfrau bekannt: sie
sind so zahlreich, daß man sich beinahe zu der Frage ver-
anlaßt fühlt, was denn nun eigentlich noch für den Mann zu
tun übrig bleibe! Die Forderung, daß die Frau auf Ordnung
zu sehen habe, steht auch hier (S. 293ff. meiner Übersetzung)
an erster Stelle: „Das Haus halte sie rein und wohlgesäubert;
an den geeigneten Stellen sollen mannigfache Blumen hingestellt
werden; der Fußboden sei glatt; der Anblick herzerfreuend;
dreimal am Tage sollen die Opferspenden dargebracht werden;
der Hausaltar werde in Ehren gehalten. Nichts anderes als
dies (eine saubere Wohnung) wirkt auf den Hausherrn so
herzgewinnend.“ Sie hat aber auch den Garten anzulegen, mit
allerlei Küchenkräutern, Nutz- und Ziersträuchern zu bepflanzen,
darin einen Brunnen und Teich zu graben, Geräte rechtzeitig
und wohlfeil einzukaufen, auch Salz und Öl, kostbare Arz-
neien usw. sorglich zu verwahren und in jeder Weise sparsam
zu wirtschaften. „Sie verstehe das Bereiten von Schmelzbutter
aus der bei der Mahlzeit übriggebliebenen Milch; ebenso von
Öl und Melasse; das Spinnen von Garn aus Baumwolle und
das Weben des Garnes; das Zusammendrehen von Hängen,
Seilen, Stricken und Bast; die Arbeit des Stampfens und Ent-
hülsens (von Getreide und Reis); den Gebrauch von Schaum
und Schleim (zu Getränken für die Dienerschaft), Spelzen,
Körnern, Parfüms und Kohlen; die Abschätzung des Lohnes
urid Lebensunterhaltes der Diener; die Sorge für Landwirtschaft
und Viehzucht und die Regeln für den Wagenbau; die Prüfung
der Widder, Hähne, Wachteln, Papageien, Predigerkrähen,
Nachtigallen, Pfauen, Affen und des Wildes; endlich das Ver-
einbaren der täglichen Einnahmen und Ausgaben.“ Alle diese
Pflichten und noch viele andere gegenüber dem Gatten und den
Verwandten hat die Hausfrau in so ersterbender Demut zu
erfüllen, daß sie sicherlich, wie auch das Epos deutlich genug
sagt, im häuslichen Kreise nicht regier. Es heißt zwar im
144 R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos
Vermählungshymnus, der der uralten vedischen Zeit entstammt:
„Sei Oberherrin über den Schwiegervater, sei Oberherrin über
die Schwiegermutter“; aber sie darf ja in deren Gegenwart
nicht einmal der Dienerschaft einen Befehl geben, und auch
das Kamasutram schreibt ihr vor, sie solle den Schwiegereltern
dienen, ihnen untertan sein, keine Gegenantwort geben, gemessene,
nicht heftige Worte im Munde führen und nicht laut lachen.
Aber doch ist eins gewiß: im Epos erklingt nie „ein Ton von
dem uns so wohlbekannten Schwiegermutterliede. Ob die
damalige indische Schwiegertochter wirklich so viel glänzender
gestellt war, als häufig ihre spätere Schwester, läßt sich natürlich
nicht ganz bestimmt entscheiden“.
Um so besser werden wir im Epos über die Witwe unter-
richtet, deren Los hier als durchaus traurig erscheint, wenn es
auch zu den Pflichten des Landesvaters gehörte, die Gattinnen
der Männer zu erhalten, die in seinem Dienste ums Leben
gekommen waren. Das konnte aber naturgemäß nur ein kleiner
Teil aller Witwen sein, und für die anderen war durch die
gesetzliche Bestimmung, daß man ihnen von dem Nachlaß des
Gatten in keiner Weise etwas wegnehmen dürfe, doch nur
bedingungsweise gesorgt. An die Schließung eines neuen
Ehebundes war nach der die beiden Epen beherrschenden
Ansicht nicht zu denken, wenn auch schwache Spuren erkennen
lassen, daß wenigstens in der Kriegerkaste eine neue Heirat
der Witwe (oder der Verstoßenen) nicht ausgeschlossen -war.
Auch die alten Juristen kennen eine ganze Anzahl Fälle, in denen
die Wiederverheiratung erlaubt, ja sogar vorgeschrieben ist:
wenn nämlich der Gatte auf einer Reise verschollen, Asket
geworden, impotent oder seiner Kaste verlustig gegangen ist;
oder der Mann einem makellosen Mädchen bei der Verheiratung
wissentlich verschwiegen hat, daß er mit einer chronischen,
häßlichen Krankheit behaftet oder mißgestaltet ist, oder daß er
heimatlos, von seinen Verwandten verstoßen, widerwärtig oder
wahnsinnig ist. Es gehört denn auch nach einigen Rechts-
gelehrten mit zu den Vorbereitungen der Hochzeit, daß der
Mann auf seine Potenz hin sorgfältig geprüft wird. Am aus-
führlichsten ist da Narada XII, 8—13: „Der Mann ist in Bezug
auf seine Potenz gemäß den Merkmalen an seinem Körper zu
prüfen; wenn er zweifelsohne ein Mann ist, darf er das Mädchen
bekommen. Wenn sein Schlüsselbein, sein Knie und die (übrigen)
R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos 145
Knochen kräftig gebaut sind; wenn seine Schultern und sein
Haupthaar kräftig entwickelt ist; wenn sein Nacken stämmig,
die Haut an den Schenkeln zart und Gang und Sprache nicht
schleppend ist; wenn sein Sperma im Wasser nicht auf der
Oberfläche schwimmt, und wenn sein Harn erfrischend ist und
schäumt, so ist er auf Grund dieser Merkmale als Mann, um-
gekehrt als impotent anzusehen. Als vierzehnfach wird der
Impotente von den Verständigen im Lehrbuche angesehen, als
heilbar und unheilbar; die Regeln für sie werden der Reihe
nach angegeben. Von Natur impotent, entmannt, Halbmonats-
eunuch?) infolge einer Verfluchung seitens des Lehrers, infolge
einer Krankheit, ferner infolge des Zornes der Götter; impotent
aus Eifersucht;!°) sevya (?); einer mit windigem Samen; einer,
der ore pro vulva utitur; einer, dessen Sperma rückwärts fließt;
einer, dessen Sperma nicht zeugungsfähig ist; einer, dessen Penis
coitu facto collabitur; und einer, der bei anderen Frauen, aber
nicht bei seiner eigenen Gattin Erektion hat.“
Daß aber trotz aller Klagen der Witwen über ihr trauriges
Geschick von einer Verbrennung mit der Leiche des Gatten in
beiden Epen auffallend wenig die Rede ist, betont Meyer so
gut wie Jolly (Recht und Sitte 68). Im Ramayana läßt sich
keine der dort auftretenden Witwen verbrennen, und im Maha-
bharatam, dessen ungeheurer Umfang doch Gelegenheit genug
dazu gäbe, spielt das anugamanam, das (dem Gatten im Tode)
Nachfolgen weiter keine belangreiche Rolle. Ganz anders liegen
ja bekanntlich die Dinge in der späteren Zeit, und die Engländer
haben noch im 19. Jahrhundert ihre liebe Not gehabt, ehe sie
mit der Bekämpfung der Witwenverbrennung dauernden Erfolg
hatten. (Schluß folgt.)
NA
9) u... is one capable of approaching a woman once in every
half-month“ (Jolly, Sacred Books of the East XXXIII, p. 167, Anm.).
10) „Qui nisi alius cujusdam ineuntis feminam conspectu non potest“
(ebenda).
146 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion
ZUM VERSTÄNDNIS DER INNEREN SEKRETION
UND DER VERJÜNGUNG.
Von FERD. FRHR. v. REITZENSTEIN, Dresden.
IV.
Innere und äußere Sekretion; Fermente und Enzyme.
Me zwar unscheinbare, aber überaus wichtige Organe
unseres Körpers sind die Drüsen (Glandulae). Ihrem
Bau nach unterscheidet man solche, deren Gewebe aus
kleinen Epithel-
zellensträngen')
z- besteht, die ein Netz-
f» werk bilden, dann
solche, deren Ge-
webe kleine Bläs-
chen bilden, die mit
der freien Ober-
fläche nicht in Ver-
bindung treten, (ge-
schlossene Drü-
sen) und schließ-
lich solche, deren
Abb. 1. Abb. 2. Hohlräume durch
Tubulöse Drüsenform. Alveolare Drüsenform. Ausführungs-Gänge
mit der freien Oberfläche verbunden sind
(offene Drüsen). Diese zerfallen ihrem Auf-
bau nach wieder in solche, deren Grundform
röhrenartige Gebilde (Tubuli) und solche,
deren Grundform bäuchige Säcke (Alveoli)
darstellen. Demnach unterscheidet man tubu-
löse und alveolare (auch acinöse) Drüsen und
eine Zwischenform, die alveolotubulösen Drüsen.
Unsere Abbildungen zeigen diese 3 Typen.
Abbild. 1 stellt die Formen einer tubu-
lösen Drüse dar. In Fig. 1 sehen wir den
röhrenförmigen Grundtypus, in Fig. 2 das
Röhrensystem, wobei a der Ausführungsgang
- ist, in Fig. 3 aber das Schema einer zusammen-
Abb. 3. alveolotubulöse vesetzten tubulösen Drüse. In ganz ähnlicher
1) Von nån, thele-Warze.
v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 147
Weise führt Abb. 2 die alveolare Drüsen-
form vor. Fig. 1 zeigt den Grundtypus,
der hier ein Säckchen bildet, im Gegen-
satz zur vorigen Form, die ein Röhr-
chen erkennen ließ. Abb. 3 zeigt eine
Mischform aus den beiden besprochenen
Typen und zwar wieder in einfacher und
in zusammengesetzter Form. Es gibt nun
auch Drüsen, die feine Verästelungen
haben, mit Wandungen, denen Epithel-
zellen eingelagert sind, die ihrerseits
gewisse Stoffe ausscheiden (Abb. 4b).
Die Wände bilden dann Zellenlager,
deren einzelne Zellen das Sekret in
Abb.4. VerschiedeneAbschnifte mikroskopisch kleinen Tröpfchen ab-
a) Ausführungsgang, b) Sekret- geben. (s. Abb. 5.) Die Drüsen mit
a tee” Ausführungsgängen führen ihre Pro-
dukte an die Oberfläche ab.
N
Diese Produkte zerfallen in
solche, die für den Organis-
mus nicht mehr brauchbar
sind, sogenannte Exkreteund
solche, die für bestimmte Auf-
Y gaben des Organismus dienen.
Zuden Exkreten oderAusschei-
dungen gehören die Kohlen-
säure, dann eine Reihe chemischer Produkte, in denen der ganze in
den Körper aufgenommene Stickstoff wieder beseitigt wird (Harn-
stoff, Hippursäure, Kreatin, Xanthin usw.,) denn Wasser, Kohlen-
säure wird durch die Atmungsorgane, der Harn durch die
Nieren, der Schweiß durch die Schweißdrüsen ausgeschieden.
Auch Samen- und Milchabsonderungen gehören hierher. Die
andere Gruppe, die man als spezielle äußere Sekretion
bezeichnet, versieht bestimmte Zwecke, so die Absonderung des
Hauttalges zum Schutze der Haut, die Absonderung von Schleim
zum Schutz der Schleimhäute, und die Absonderung bestimmter
anderer Produkte für die Verdauung. Auf diese Gruppe kommen
wir noch zurück. Die andere Gruppe von Drüsen gibt ihre
Sekrete direkt an das Blut ab, nachdem sie z. T. auf osmo-
tischen Weg (Heft I, S. 34) von Zelle zu Zelle gegeben worden
Abb. 5. secernierende Zellen.
148 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion
sind. So werden sie zu oft weit entfernten Organen getragen,
wo sie ihre Wirkung ausüben. Man nennt dies innere Sekretion
und ihre Sekrete heißen auch Hormone (von ogudw-hormäo
erregen, anreizen, ermuntern). Die Drüsen selbst werden auch
Blut- oder Wachstumsdrüsen, auch endokrine Drüsen
genannt, weil sie z. T. gerade das Wachstum zu regeln bestimmt
sind. Von Interesse ist, daß verschiedene Drüsen sowohl eine
innere als eine äußere Sekretion betätigen. Dazu gehört
die Bauchspeicheldrüse und besonders die Gonaden oder Ge-
schlechtsdrüsen, also beim Manne die Hoden, beim Weibe die
Eierstöcke. Bei den Gonaden unterscheidet man dementsprechend
ein generatives Gewebe, d. h. jenen Teil, in dem die Keim-
stoffe,also die Exkretegebildet werden, die durch die Geschlechts-
wege (die Ei- und Samenleiter) nach außen abgeführt werden
und ein Zwischengewebe, das Produkte der inneren Sekretion
liefert. Sehr oft geht die innere Sekretion der äußeren parallel,
Dies gilt besonders für die Geschlechtsdrüsen. Manche Drüsen
der inneren Sekretion arbeiten dann wieder: mit anderen der-
artigen Drüsen in gleicher Art, so daß sie auch gleichartige
Resultate zeugen. Man nennt sie synergistisch gerichtet; oder
aber sie halten sich gegenseitig das Gleichgewicht, d. h. sie
arbeiten sich entgegen und sind so antagonistisch gerichtet.
Mit anderen Worten, das gesamte Drüsensystem unseres Kör-
pers steht in einer inneren Verbindung, kein Teil darf das
Übergewicht erlangen, wenn nicht schwere Störungen entstehen
sollen. So kann man von einem polyglandulären oder einem
vieldrüsigen System sprechen.
Wir haben vorhin erwähnt, daß verschiedene Sekrete der Ver-
dauung dienen. Obwohl dieser Kreis nicht in direkter Beziehung
zu unserem Thema steht, wollen wir ihn doch wenigstens in
den Grundzügen behandeln, weil gerade er in der Lage ist,
die Wirkung der Sekrete zu erklären.
In der Chemie sind verschiedene Stoffe bekannt geworden,
die selbst in äußerst geringen Mengen einem chemischen
Vorgang beigegeben, eine sonst überaus langsam verlaufende
Reaktion ganz überraschend schnell gestalten. Man nennt
solche Stoffe Katalysatoren. Der berühmte Entdecker des
Gesetzes von der Erhaltung der Energie, Julius Robert v. Mayer
(* 25. Nov. 1814, } 20. März 1878) erklärt sie wie folgt: „Kata-
Iytisch heißt eine Kraft, sofern sie mit der gedachten Wirkung
v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 149
in keinerlei Größenbeziehung steht. Eine Lawine stürzt in das
Tal; der Windstoß oder der Flügelschlag eines Vogels ist die
katalytische Kraft, welche zum Sturze das Signal gibt und die
ausgebreitete Zerstörung bewirkt.“ Über den inneren Vorgang
sind wir noch nicht klar. Man nimmt an, daß die Katalysatoren
mit den reagierenden Stoffen des Vorgangs Zwischenprodukte
bilden, die dann unter eignem Zerfall die Reaktion vollziehen.
Durch diesen Zerfall werden die Katalysatoren frei und finden
sich schließlich wieder unverändert vor. Was für die anor-
ganische Chemie gilt, gilt auch für die organischen Vorgänge,
einschließlich derer, die sich in unserem Körper vollziehen.
Durch die Sekretion bestimmter Drüsen werden nun solche
Katalysatoren abgegeben, dieman Fermente oder Enzyme nennt.
Die Lebensmittel, die in den Organismus gelangen, müssen
entweder die Form von Gasen oder Kristallen haben, um auf-
nahmefähig zu sein, d. h. um diffundieren zu können (s. Heft I.
S. 38). Sie müssen also durch die Darmschleimhaut auf-
genommen und durch Blut und Lymphe zu den Geweben weiter
befördert werden. Dies nennt man Resorption, während man
unter Assimilation dann jene chemischen Veränderungen
versteht, die notwendig sind, um die resorbierten Stoffe in die
Zellen überzuführen. Bei Pflanzen werden nun die Nahrungs-
mittel nur in gasförmigen (durch die Blätter) oder kristalloiden
(durch die Wurzeln) Zustand aufgenommen; bei Tieren und
damit auch beim Menschen hingegen gelangen neben Wasser
nur wenige Kristalloide (wie Salze und Zucker) in den Körper.
Die Hauptnahrung bilden Pflanzen oder andere Tiere, deren
Grundstoffe Kolloide sind und so erst erschlossen, d. h. in
kristalloide Form gebracht werden müssen.
Fermente bilden auch die Krankheitserreger, also die Bazillen
usw. Sie üben eine zersetzende Wirkung auf unser Blut und
unsere Eiweißarten aus; man nennt sie Toxine. Diesen stehen
dann Antitoxine gegenüber, die sie wieder entgiften, denn
der Körper erzeugt gegen artfremde Materie Abwehrfermente.
Sie zerlegen jedes artfremde Eiweiß, das, ohne den Verdauungs-
weg passiert zu haben, in den Körper gelangt ist und machen
es so unschädlich. Es gibt aber auch Enzyme, die außer
kolloidalen Bestandteilen auch kristalloide, die sogenannten
Koenzyme oder Kofermente enthalten. Wie zu erwarten ist,
besitzt der Körper auch Enzyme, die die Wirkung der anderen
150 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion
Enzyme aufheben und die man deshalb Antienzyme nennt.
Die Enzyme wirken aber nur in katalysatorischem Sinne, wenn
sogenannte Elektrolyte anwesend sind. Ein Elektrolyt ist ein
Körper, der durch den elektrischen Strom (die elektrolytische
Dissoziation) zersetzbar ist. Die Elektrolyte zerfallen dabei teil-
weise in Jonen (s. Heft I. S. 33 u. 39). Darauf beruht es, daß
gewisse Salze (s. Heft II. S. 71) z. B. die Chloride (etwa Koch-
salz) die Quellung erhöhen.
Bei Umwandlung unserer Nahrung sind nun die Enzyme
beteiligt, die in der Mund- und Bauchspeicheldrüse, von Magen-
und Darmdrüsen u. a. gebildet werden. So ergießen sich täglich
bei einem Erwachsenen folgende Sekrete in den Darm:
700—1000 ccm Mundspeichel
700—900 ccm Galle
600—800 ccm Pankreassaft
1000—2000 ccm Magensaft
200 ccm Darmsaft
zusammen etwa 3,1—4,9 It.!
Etwa 400—500 ccm werden davon täglich mit dem Kot
entleert, so daß also 2,7—4,5 I im Darm rückgebildet werden.
Nun verhält sich der Darm genau wie Gelatine (s. Heft I S. 38u. 39)
denn das Dermepithel (= das Gewebe, das die Oberfäche der Haut
oder Schleimhaut überzieht und aus enggelagerten Zellen besteht)
ist mit Quellbarkeit ausgestattet. Deshalb werden im Darm
verdünnte Salzlösungen schneller aufgesaugt, als Wasser und
entsprechend der Diffusion erfolgt die Resorbtion (s. Heft II
S. 69). Versuchen wir uns diesen Vorgang an einem Beispiel
klar zu machen. Wenn wir Pepsin (ein Ferment des Magen-
saftes) in Wasser lösen, diesem 0,4 °/, Salzsäure zusetzen (also
einen künstlichen Magensaft herstellen), eine Fibrinflocke (Mus-
kelsubstanz), also kolloidales Eiweiß, darein legen und auf Blut-
temperatur erwärmen, dann quillt die Flocke, wird durchsichtig
und löst sich. In dieser Lösung ist dann ein im Wasser lös-
barer Eiweißkörper, das Pepton enthalten, der durch tierische
Membran diffundieren kann. Es gibt Fermente, die Zucker in
Stärke und diese wieder in Zucker verwandeln: So passiert die
kristallinische Form des Zuckers die Darmwand, wird der Leber
zugeführt, wo sie in Kolloide (Glykogen) zurückverwandelt wird,
und für nötige Fälle aufbewahrt bleibt. Ähnlich bei anderen
Nahrungskörpern. Als Kolloide können sie nicht zurückwandern
v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 151
und werden festgehalten. So haben wir es mit den Sekreten
der Mundspeicheldrüse, der Bronchialdrüsen, der Magendrüse,
der Bauchspeicheldrüse, der Darmdrüsen (Brunner’sche und
Lieberkühn’sche Drüsen) und der Leber zu tun.
Die Mundspeicheldrüsen liefern den Speichel (Sali-
vation) dessen Sekretion von der Wassermenge des Körpers
abhängig ist. Wird der Kochsalzgehalt des Blutes vermehrt,
so vermehrt sich auch die Salivation. Der Speichel ist das
Gemisch dreier Drüsen, der Ohr-, Unterkiefer- und Unterzungen-
speicheldrüse. Sein wirksames Ferment ist das Ptyalin, das
auf Kohlehydrate wirkt und Stärkemehl in Zucker verwandelt.
DieBronchialdrüsensindinihren sekretorischen Wirkungen
noch ziemlich unklar; jedenfalls sind hier Alkalikarbonate tätig.
Die Magendrüsen liefern eine wasserklare Flüssigkeit,
die aus freier Salzsäure (0,3 °/,) Pepsin zur Eiweißverdauung
und Labferment zur Kas&inbildung der Milch besteht. Die
Entstehung der Salzsäure ist zunächst unklar, doch zeigt H. Bech-
hold, daß sich Neutralsalze auch sonst in Säure und Gase
spalten können. Das Pepsin würde die Magenschleimhaut
selbst verdauen, wenn in ihr nicht ein Gegenferment, das Anti-
pepsin enthalten wäre.
Die Bauchspeicheldrüse (Pankreasdrüse) sondert ein
nahezu neutrales Sekret ab, das eine zähe klare Flüssigkeit
darstellt. Es enthält Ptyalin, das Stärke in Malzzucker, dann
Maltase, die Malzzucker in Traubenzucker spaltet, ferner
Trypsin, das Eiweiß in Proteosen (klein-molekulare, leichter
lösliche Polypeptide und Aminosäuren s. Heft III S. 97 Anm.)
und Steapsin, das Neutralfette in Glyzerin und Fettsäuren
spaltet. Pankreassaft besitzt, da er mehr Natriumbikarbonat
enthält, eine große Kraft, Säuren zu binden. Seine Kolloide
sind elektropositiv, während die des Darmsaftes elektronegativ
sind, sodaß beide Komplexe bilden, die in neutraler Umgebung
löslich sind, wie Bechhold zeigt. Die Bauchspeicheldrüse er-
zeugt in den Zellen eines besonderen Gewebes, den Langer-
hans’schen Inseln, zugleich ein Hormon, das Antidiabetin,
das mit der Leber zusammen zur Zuckerbildung beiträgt; fehlt
es, so findet diese nicht statt, sodaß Diabetes (Zuckerkrankheit)
auftritt. Die Bauchspeicheldrüse besitzt also äußere und innere
Sekretion.
Die Darmdrüsen sondern eine farblose Flüssigkeit, den
152 v Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion
Darmsaft ab; er enthält Maltase, die den Malzzucker, Laktase
die den Milchzucker und Invertase, die den Rohrzucker spaltet,
dann Erepsin, das Proteosen in Aminosäuren zerlegt, weiterhin
ein fettspaltendes Ferment u. dergl. mehr.
Die Sekretion der Leber ist die Galle, eine rotgelbe
bis grüne Flüssigkeit, deren kolloide Bestandteile wahrscheinlich
elektronegativ geladen sind. Sie schmeckt intensiv bitter. In
nüchternem Zustand fließt sie nicht direkt in den Darm, sondern
wird in der Gallenblase gesammelt. Die Leber ist die größte
Drüse des menschlichen Körpers (ca. 1,5 kg schwer). Tritt
Galle ins Blut über, entsteht Gelbsucht. Durch die Gallen-
säure werden in Gegenwart von Soda die freien Fettsäuren
gelöst.
Geschlecht und Gesellschaft
Neue Folge X, 5
Tafel I. Ausgewachsener männlicher Schimpanse (nach Elliot.)
(Zum Aufsatz: Sokolowsky, Geschlechts- und Altersunterschiede bei Menschenaffen)
GESCHLECHTS- UND ALTERSUNTERSCHIEDE
BEI MENSCHENAFFEN.
Von Dr. ALEXANDER SOKOLOWSKY, Hamburg.
(Mit Tat. I—II)
D! Menschenaffen oder Anthropoiden, deren Er-
forschung ich mir als Spezialaufgabe gestellt habe, lassen
innerhalb der einzelnen Gruppen große körperliche und seelische
Unterschiede erkennen. Das gilt besonders für die erwachsenen
Tiere, denn es ist begreiflich, daß sich bei diesen, ihrer Lebens-
aufgabe entsprechend, die für sie charakteristischen Merkmale
ausgebildet haben. Aber auch schon bei jugendlichen Exemp-
laren lassen sich bereits die für ihre biologische Eigenart
charakteristischen Merkmale und Eigenschaften nachweisen.
Verfolgt man den Entwickelungsweg, den diese bis zum Stadium
des erwachsenen Lebensalters genommen haben, so ergibt sich
die Entwicklungsrichtung, die von ihnen im Rahmen ihrer
Lebensaufgabe eingeschlagen wurde. Für die Wissenschaft ist
es von hohem Interesse, im Hinblick auf die nahe Verwandtschaft
dieser Affen mit dem Menschen, die Veränderungen zu erforschen,
die sich im Laufe der individuellen Entwickelung bei diesen Tieren
geltend. machen. Von besonderer Bedeutung ist es dabei, wenn
auch die Geschlechtsunterschiede Berücksichtigung finden.
Durch einen Vergleich der auf diese Weise von den
Affen erzielten Resultate mit den Stadien der individuellen
Entwickelung des Menschen, lassen sich Rückschlüsse erzielen,
welche Merkmale und Eigenschaften als von den tierischen
Ahnen ererbte anzusehen sind und nach welcher Richtung das
spezifisch Menschliche zur Ausbildung gelangt. Auch in ge-
schlechtlicher Hinsicht ist ein Vergleich von großem Interesse,
denn die Geschlechtsunterschiede des Menschen erhalten da-
durch eine stammesgeschichtliche Begründung.
So außerordentlich weit von einander Menschenaffe und
Mensch im erwachsenen Zustand von einander differieren, so
lassen sich bei einem Vergleich von jugendlichen Exemplaren
dieser Primatenformen Annäherungen im Verhalten des Körper-
baues nachweisen, die auf verwandtschaftliche Beziehungen
zurückzuführen sind. Das gilt besonders für die Schädelform.
Der menschliche Schädel unterscheidet sich nach Rudolf
Martin besonders durch zwei Momente von demjenigen der
übrigen Säuger und der ihm stammverwandten Primaten,
11
154 Sokolowsky: Geschlechts- u. Altersunterschiede b. Menschenaffen
erstens durch starke Entfaltung des Neurocraniums im Zu-
sammenhang mit der außerordentlichen Volumvergrößerung des
Gehirns, und ‚zweitens durch die geringe Entwicklung des
Splanchnocraniums, bedingt durch die Reduktion des Gebisses.
Diese beiden Momente ziehen eine große Reihe von Bildungen
im einzelnen nach sich, die wir bei allen Menschenrassen an-
treffen, jedoch in sehr wechselndem Grade. Nur wo die so-
genannten niederen Merkmale sich häufen, wie bei einigen
prähistorischen Typen und unter den rezenten Hominiden,
z. B. beim Australier, wird man nach Martin von wirklich
niederen Formen sprechen können. Viel geringer, obwohl
immer noch sehr deutlich, sind die Unterschiede beim Neu-
geborenen und im Kindesalter. Der Schädel des jugendlichen
Affen erscheint menschenähnlicher als derjenige des erwachsenen,
da beim jugendlichen Tier die Gebißentwicklung noch relativ
gering, die Gehirnentfaltung aber schon relativ sehr groß ist,
Während nun aber die Letztere bei den meisten Affen später
nur noch geringe Fortschritte macht, nimmt das Gehirnvolumen
beim Menschen von der Geburt bis zum Stadium der Reife
noch beständig zu. Da bei den Tieren bis hinauf zu den
Affen das definitive Volum des Gehirnschädels viel früher er-
reicht wird, als beim Menschen, so hat nach Hopf der Gehirn-
schädel des Menschen viel mehr Zeit, sich zugunsten des
Wachstums des Gehirns weiter zu entwickeln. Gratiolet hat
als Ursache davon bei den Menschenaffen nachgewiesen, daß
das Verstreichen der Nähte bei den Affen vorn in der Frontal-
region beginnt, bei höheren Menschenrassen dagegen an der
Sutura parito-occipitalis. Die niederen Menschenrassen ähneln
in dieser Beziehung den Menschenaffen. Während bei den
Tieren der Gehirnschädel früher zu wachsen aufhört, schreitet
die Ausbildung ihres Gesichtsschädels durch die ganze Jugend-
zeit fort. Daher die stärkere Entwickelung des Gesichtsschädels
bis hinauf zu den Menschenaffen, und die viel stärkere Aus-
bildung des Gebisses und der Kaumuskeln, welche ihrerseits
wieder, namentlich bei den Männchen, zur Entstehung eines
knöchernen Scheitelkammes führt. Der so sehr divergente
Schädelbau der erwachsenen Formen bildet sich nach Martin
erst allmählich im postfetalen Leben heraus und ist als eine
verschieden gerichtete Anpassungserscheinung an divergente
Lebensformen aufzufassen.
Sokolowsky: Geschlechts- u. Altersunterschiede b. Merschenaffen 155
Ein wesentlicher Unterschied in der Gestaltung des Schädels
der Menschenaffen und des Menschen beruht darauf, daß die
Richtung des Hinterhauptsloches bei den ersteren nach hinten,
bei dem letzteren nach unten geht. Diese Stellung des Hinter-
hauptsloches wird beim Menschen durch eine Knickung des
Schädels und des Gehirns während des Foetallebens verursacht.
Bei anderen Tieren bis hinauf zu den Menschenaffen hat die
Vorderhälfte des Schädels das Übergewicht, was wiederum zu
einer stärkeren Entwickelung der Nackenmuskulatur Veran-
lassung gegeben hat.
Von besonderem wissenschaftlichen Interesse ist es, daß
die Schädelkapazität männlicher und weiblicher Menschenaffen,
sowie männlicher und weiblicher Vertreter des Menschen-
geschlechts sich insofern übereinstimmend verhalten, daß das
absolute Maß des Innenraums des weiblichen Schädels kleiner
ist, als das der männlichen. Bei allen höheren Menschen-
rassen ist nach Hopf als sekundärer Geschlechtscharakter des
Weibes dessen geringere Schädelhöhe, die größere Abflachung
der Scheitelgegend und die mehr senkrechte Stellung der Stirne
nachgewiesen. Dabei ist es besonders interessant, daß bei
den höheren Menschenrassen diese Unterschiede auffallender
als bei den niederen sind, die sich in ihrem Verhalten mehr
den Menschenaffen anschließen, da sich bei diesen keine be-
sonders großen Differenzen in der Schädelkapazität nachweisen
lassen. Bei den Menschenaffen zeigt der Schädel der weib-
lichen Tiere lange nicht in dem Maße als der der Männchen
die starke Ausbildung des Kammes und der Augenbrauen-
wulste, vielmehr nähert er sich im allgemeinen mehr dem
Typus der jungen Tiere. Daraus geht aber unzweideutig durch
diesen anthropologischen Nachweis hervor, daß den weiblichen
Menschenaffen, wie auch dem menschlichen Weibe eine ganz
andere Lebensaufgabe zufallen muß, als den Männchen. Die
Differenzierung der beiden Geschlechter erhält dadurch die
anthropologische Begründung.
Bisher wurde nur von morphologischen Befunden der in
Untersuchung stehenden Pirmaten gesprochen. Es ist daher
zu untersuchen, wie sich die psychischen Regungen bei den
jungen Menschenaffen zu ihren älteren resp. erwachsenen
Stammesgenossen verhalten, auch ist zu beobachen, wie sie
sich vergleichsweise zu den menschlichen Kindern, wie zu den
11*
156 Sokolowsky: Geschlechts- u. Altersunterschiede b. Menschenaffen
erwachsenen Menschen, inbezug auf die Ausbildung ihrer Seelen-
eigenschaften stellen.
Während meiner achtzehnjährigen tiergärtnerischen Praxis
habe ich eine große Anzahl junger Menschenaffen in der
Gefangenschaft beobachten können. Bei den meisten derselben
handelte es sich um junge Schimpansen, aber auch eine größere
Anzahl junge Orangs und etliche Gorillas befanden sich darunter.
Ausgelassene, muntere Babies waren die Schimpansen. Sie
erwiesen sich schon im jugendlichen Alter als ausgesprochene
Sanguiniker, die nicht müde werden, umherzutollen. Die jungen
Orangs benahmen sich bedeutend ruhiger. Ihr phlegmatisches
Naturell kam schon bei den jungen Tieren zum Ausdruck.
Sie saßen häufig still da und schauten den Besucher scheinbar
fragend an, was er mit ihnen vorhatte. Das unterschiedliche
Benehmen zwischen Schimpansen- und Orangsbabies war auf-
fallend. Auch die jungen Gorillas zeigten nicht die Aus-
gelassenheit des Schimpansen. Sie waren still in sich gekehrt,
konnten aber, wenn sie sich ganz vertraut fühlten, munter und,
wie Oberleutnant Heinicke von seinem Exemplar berichtet,
bis zu einem gewissen Grad übermütig sein. Dennoch läßt
sich auch bei ihnen, den Schimpansenkindern gegenüber, ein
ruhigeres und besonneneres Benehmen nachweisen. Es geht
aus diesen Beobachtungen hervor, daß die Psyche der drei
verschiedenen Menchenaffenkinder von einander abweichend
ist. Diese Unterschiede, ja man kann direkt sagen: Gegen-
sätze, kommen bei fortschreitender Entwickelung immer deut-
licher bei diesen Affen in Erscheinung. Der Schimpanse be-
hält sein unruhiges, sanguinisches Temperament. Er erweist
sich als ein beweglicher, unsteter Geselle, der sich immer etwas
zu schaffen macht, wenn er nicht gerade ruht. Das phleg-
matische Naturell der jungen Orangs findet mit zunehmendem
Alter bei diesen Affen erst recht ihren Ausdruck. Die Tiere
erweisen sich als sehr bequem und ruhig, ziehen sich gern auf
ihren Lagerplatz zurück und lassen sich ungern stören. Zwar
habe ich große Orangs kennen gelernt, die sehr lebhaft waren,
mit dem Besucher umhertollten und nicht müde wurden, immer
wieder von neuem anzufangen. Aber auch deren Bewegungen
waren gemessen und sie erciferten sich niemals so,
wie die Schimpansen, deren ideenflüchtiges Benehmen ein-
ganz anderes war, Ausgewachsene Gorilla’s habe ich niemals
Sokolowsky: Geschlechts- u. Altersunterschiede b. Menschenaffen 157
lebend zu Gesicht bekommen, da nur jüngere Exemplare in die
Gefangenschaft gelangten. Diese waren still und in sich ge-
kehrt, mieden die menschliche Gesellschaft und zeigten eine
Scheuheit und ein Mißtrauen, so daß sich ihr Benehmen weit
von dem des Schimpansen, aber auch von dem der Orangs
entfernte. Sie waren nichts weniger als phlegmatisch, sondern
sehr sensibel, so daß man ihr Benehmen als cholerisch be-
zeichnen kann. Diese Beobachtung steht in vollem Einklang
mit ihrem Verhalten in der Freiheit. Den Berichten der ver-
schiedenen Reisenden nach, sind die erwachsenen Gorillas
sehr scheu und vorsichtig, meiden die Annäherung des
Menschen und ziehen sich, wenn sie nur irgend können,
ungesehen in den dichten Wald zurück. Einmal gestellt, sind
sie furchtbare Gegner, die in blinder Wut den Menschen
sofort annehmen.
Worauf begründet sich nun die Verschiedenartigkeit in
Organisation und Seeleneigenschaft der Menschenaffen? Das
Verständnis hierfür ergibt sich aus der Berücksichtigung ihrer
Lebensweise resp. Lebensaufgabe.
Der Gorilla ist hauptsächlich ein Bodenbewohner, der die
Bodenzone des Urwaldes bewohnt Obwohl er gut klettern
kann, ist er dennoch meist am Boden zu finden. Für einen
ausgeprägten Baumbewohner ist sein Körperbau zu massig und
schwer. Namentlich kennzeichnet sich der männliche Gorilla
durch enorme Größen- und Massenentfaltung seines Körpers.
Während das Weibchen mit dem Jungen in einem selbst-
angefertigten, lagerartigen Nest auf einem Baume schläft, hält
der männliche Riese unter dem Baum ruhend, Wacht für seine
Familie. Die Entwickelungsrichtung beim Gorilla geht daher
nach Größe und Massigkeit des Körpers in ihrer Ausbildung.
Da der auf dem Boden wandernden Gorillafamilie eher Feinde
entgegentreten, als im Laubdach, hat sich wahrscheinlich
Körpergröße und Körperkraft bei ihm in so hohem Maße ent-
faltet. Auch mag die Größe und Kraft des Körpers günstig
für das Durchbrechen des Dickichts, das an der Bodenzone
besonders entwickelt ist, gewesen sein.
Anders beim Schimpansen. Er ist mehr Baumtier, obwohl
er auch noch viel sich am Boden zu schaffen macht. Große
Geselligkeit und Rührigkeit sind die Haupteigenschaften seines
Charakters. Seine mäßige Körperschwere eignet ihn zum vor-
158 Sokolowsky: Geschlechts- u. Altersunterschiede b. Menschenaffen
züglichen und gewandten Kletterer, auch ist er erstaunlich
schnell in seinen Bewegungen. Die Entwicklungsrichtung geht
bei ihm mehr nach der Ausbildung als Baumtier, ohne ein
ausgesprochener einseitiger Bawmbewohner zu sein.
Völlig abweichend hierzu verhält sich der Orang. Er ist
ein spezialisierter Baumbewohner. Die Länge seiner Arme,
die Kürze seiner Beine, namentlich aber die Länge seiner
Hände und Füße und die Stellung der letzteren kennzeichnen
ihn unter anderen Eigenschaften als solchen. Beim Gehen auf
dem Boden watschelt er ungeschickt auf der Außenkante seines
Fußes, während die beiden anderen Menschenaffenformen mit
der ganzen Fußsohle auftreten. Hinzu kommt noch, daß die
Orangs eine erstaunliche Klettergewandheit besitzen, da sie mit
ihren langen Armen weit ausholen können, um sich von Ast
zu Ast, von Baum zu Baum zu schwingen. Sie sind als Baum-
bewohner gesellig. Obwohl sie im Familienverband leben, so
finden sich doch häufig mehrere Familien in der Nähe bei
einander. Die Entwickelung eines mächtigen Stimmorgans
durch die Ausbildung eines Kehlsackes als Resonanzboden
kennzeichnet ihre gesellige Natur. Die Entwickelung der drei
Menschenaffenformen geht demnach nach verschiedenen Rich-
tungen.
Von hohem Interesse ist nun die Entwickelung und das
Verhalten der Geschlechter bei diesen Tieren. Während die
Weibchen in ihrer körperlichen und seelischen Ausbildung im
allgemeinen mehr den Charakter der jungen Tiere beibehalten
und in potentieller Ausbildung zur Entwickelung bringen,
nimmt die Entwickelung der männlichen Tiere eine weit aus-
geprägtere Eigenform an. Das gilt besonders für den männ-
lichen Gorilla und Orang. Beide Affen entwickeln sich im
männlichen Geschlecht zu wahren Scheusalen in Gestalt und
Ausdruck. Die raubtierartige Entfaltung des Gebisses, die
Ausbildung eines mächtigen Knochenkammes auf dem Schädel
zum Ursprung der starken Schläfen- und Beißmuskulatur, die
gewaltige Entwickelung seiner Körpermuskeln u. a. m. kenn-
zeichnen den Gorilla als einen grimmigen Feind und
Gegner. Auch der männliche Orang steht dem Gorilla darin
nicht nach. Als sexuelle Kennzeichen finden sich bei ihm
außer einer gewaltigen Zahnentwickelung und Körperkraft noch
eine absonderliche Bartenfaltung und bei einzelnen Rassen des
m
Sokolowsky: Geschlechts- u. Altersunterschiede b. Menschenaffen 159
Orangs mächtige Backenwülste, deren Zweck bisher nicht er-
gründet wurde. Während auffallenderweise manche dieser
unglaublich häßlichen Urwaldriesen ganz gutmütig im Charakter
waren, entpuppten sich andere dagegen als wahre Scheusale.
In manchen Gegenden fürchten die Eingeborenen die männ-
lichen Orangs sehr, da sie als furchtbare Gegner bekannt sind.
Obwohl auch die männlichen Schimpansen große und sehr
wehrhafte Tiere sind, die gefährlich beißen können, so werden
sie dennoch nicht so gefürchtet. Es geht auch aus ihrem
Schädelbau hervor, dem die enorme Kammbildung des Gorillas
fehlt, daß der männliche Schimpanse nicht in dem Maße ein
Unhold ist, wie die Männchen der beiden anderen Formen,
Wir hätten damit wichtige Einblicke in die individuelle
Entwicklung, in die Artenentfaltung und in die Geschlechts-
ausbildung erlangt. Fragt man sich nach den Gründen hierfür,
so kann es sich für diese Affen dabei nur um verschiedene
Lebensaufgaben inmitten der Natur ihrer Heimat handeln.
Die Entwickelungsrichtungen, welche die Menschenaffen
durch die Höhe ihrer Organisation einschlugen, kommt uns
besonders zum Bewußtsein, wenn wir die Ausbildung des
Seelenorgans, des Gehirns, dieser Tiere in’s Auge fassen. Bei
den höchsten Tieren, besonders den Säugetieren, brauchen sich
die Jungen nach P. Ch. Mitchel keine Nahrungssorgen zu
machen; nur selten müssen sie sich verteidigen, und der
Übergang vom Ei zum Embryo, sowie vom Embryo zum er-
wachsenen Tier vollzieht sich so einfach und geradlinig wie
nur möglich. Nichtsdestoweniger wird die Dauer der Jugend
immer größer, je weiter man die Stufenleiter der Tiere empor-
steigt. Der Mensch, bei dem die Jugend die längste Zeit in
Anspruch nimmt, hat auch das größte Gehirn.
Beim Schimpansen ist das Gehirn bedeutend kleiner als
beim Menschen, bei einem Makaken ist es noch kleiner usw.
Während bei den niedriger organisierten Tieren die Jungen
schon frühe eine Selbständigkeit erworben haben, um sich auf
eigene Faust durchs Dasein zu bringen, sehen wir bei den im
System am höchsten stehenden Geschöpfen bis zu den Menschen
hinauf, die Jungen an Hilflosigkeit zunehmen. Dafür ist aber
die Intelligenz der Eltern eine besonders große. In diesen
Fällen ersetzen demnach die Eltern, in erster Linie die Mutter,
die den jungen Tieren noch fehlende Selbständigkeit durch
160 Sokolowsky: Geschlechts- u. Altersunterschiede b. Menschenaffen
ihre Intelligenz. Die Entfaltung des Seelenorgans bis zur Höhe
der Gehirnentwickelung des Menschen, findet hierdurch dem-
nach eine Begründung. Während die psychischen Regungen
der Frauenseele in erster Linie auf die Ernährung, Pflege und
Fürsorge der Kinder eingestellt ist, erweist sich der Mann als
Ernährer und Schützer seiner Familie. Diese beim Menschen
so ausgeprägten beiden Direktiven für die Lebensaufgaben der
beiden Geschlechter lassen sich in ihren Anfängen bereits aus
den psychischen Erscheinungen der Tierseelen nachweisen.
Es wäre eine sehr wichtige Aufgabe für den Anthro-
pologen und Ethnologen bei den tiefstehenden Menschenrassen
Anklänge und Übergänge von den Tieren zum Menschen hinauf
in seelischer Hinsicht nachzuweisen. Auch die Seelenunterschiede
der beiden Geschlechter würden durch eine vergleichende
Forschungsmethode in die richtige Beleuchtung gerückt werden.
Auch für die Abstammung des Menschen hat die Er-
forschung vorstehender Probleme Bedeutung. Wenn nach-
gewiesen werden kann, daß die Seelenunterschiede der drei
Menschenaffenformen so große sind, dann ist nicht einzusehen,
weshalb der Mensch geradlinig aus einer Wurzel des Affen-
geschlechts stammen soll. Vielmehr ist anzunehmen, daß die
Menschwerdung bereits ihren Anfang genommen hatte, als
die Trennung der Menschenaffenformen bereits vor sich ge-
gangen war.
Dann ist es nur verständlich, wenn der Menschenstamm-
baum von vorn herein aus mehreren, von einander differenten
Menschenaffenwurzeln, schimpansiden, gorilliden und oran-
giden Formen, seinen Ursprung genommen hat. Es mehren
sich immer mehr die Stimmen solcher Forscher, die für eine
polyphyletische Abstammung des Menschen eintreten. Hatte
man bisher nur von morphologischen Gesichtspunkten aus
diese Möglichkeit ins Auge gefaßt, so können auch die
psychischen Erscheinungen zur Beweisführung mit herangezogen
werden. .
Es eröffnen sich dadurch dem vorurteilslosen Forscher
nach den verschiedensten Richtungen Perspektiven und gelingt
es dadurch neue Wege der Forschung einzuschlagen, die zu
einer Lösung des Menschheitsproblems führen können.
IE
Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt 161
GESETZLICHE FREIGABE DER FREIWILLIGEN
KÜNSTLICHEN FRÜHGEBURT.
Von Professor Dr. med. KAFEMANN, Königsberg i. Pr.
(Fortsetzung).
J" der berüchtigten, streng vertraulichen im Dezember 1917
an die Reichs- und oberste Heeresleitung gerichteten Denk-
schrift des Vereins deutscher Eisen- und Stahlindustriellen,
lesen wir folgendes: „ ... AuBerdem muß man bedenken,
daß der deutsche Eisenerzbergbau bereits in vier bis
fünf Jahrzehnten zum Erliegen kommen wird, weil dann
unsere Erzvorräte erschöpft sein werden. Wir sind also in
einem halben Jahrhundert am Ende der deutschen Eisenkräfte
angekommen und wir können uns dann in einem künftigen
Krieg nicht mehr mit deutschem Eisen zur Wehr setzen“ ...
„Der volkswirtschaftliche Wert der Erzbecken von Briey und
Longwy (den reichsten der Welt) zeigt sich ferner darin,
daß uns diese Einverleibung vom ausländischen Erzbezug
wieder unabhängig macht, die Leistungsfähigkeit der deutschen
Eisen- und Stahlindustrie wieder erhöht, die Selbstkosten
wieder senkt, uns den alten Platz auf dem Weltmarkt wieder
erringen und auch die Lebensdauer des deutschen Eisenberg-
baues auf mindestens ein Jahrhundert verlängern läßt. Vor
allem könnten wir den zwei Millionen deutscher Arbeiter und
ihren fünf bis sechs Millionen Angehöriger auch in der Zukunft
Arbeit, Brot und gutes Auskommen sichern. Würden wir
künftig jedoch an einer Erznot leiden, dann würden Hundert-
tausende von Arbeitern und Millionen von Menschen allein
schon durch stillgelegte Betriebe unserer Industrie brotlos
werden.“ ... Wie-aber nun? Nicht nur sind wir nicht in
den Besitz dieser kolossalen französischen Erzvorräte gelangt,
sondern haben unser wichtigstes Erzgebiet Lothringen, ohne
das wir nach der Denkschrift diesen die größten Eisen- und
Stahlmengen verschlingenden Krieg nie und nimmer „siegreich (?)
hätten führen können“, für unabsehbare Zeit, wenn nicht für
immer — verloren! Die riesigen Waldbestände der Erde
nähern sich — Kanada, Rußland, Finnland ausgenommen —
ihrer Erschöpfung. Polen war infolge seiner riesigen Volks-
vermehrung schon seit 25 Jahren nicht mehr im Stande, sich
162 Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt
selbst zu ernähren, und ist der Überschuß der Einfuhr von
Getreide, Mehl und Hülsenfrüchten über die Ausfuhr von
14 Millionen im Jahre 1897, auf 22 Millionen in 1910 gestiegen.
Rohstoffe mußte es schon vor dem Kriege für 174 Millionen
Rubel einführen. Der Steinkohle Ende braucht uns hier nicht
zu beschäftigen. Wichtiger ist das völlige Versiegen der Erd-
öle, das wir schon nach ca. 100 Jahren zu erwarten haben.
Lange vor dem völligen Verlust dieser Naturschätze werden
die Völker sich zu ihrem Raube rüsten. Um die Reste wird
man blutig kämpfen, und nicht wird das Schwert des Über-
winders den besiegten Feind verschonen, den überflüssigen
Verbraucher unersetzlicher Naturerzeugnisse. Was soll uns
heute der zum Ekel gewordene Schrei: mehr Kinder?! Setzt
Euch doch nur 10 Minuten in ein Café der Berliner Friedrich-
straße und beobachtet scharf die Tausende dort vorüber-
ziehender Menschen! Seht sie Euch an, diese Knechte der
Menschheit, die Jahrtausende lang die Sklavenarbeit für sie
getrieben, die die verhäßlichenden Spuren ihrer Dienstbarkeit
in ihren Zügen tragen, die nur existieren, damit etliche Tausende
dem freien Ausleben ihrer Menschlichkeit sich hinzugeben in
der Lage sind, seht sie Euch an, diese Arbeiterzüge, wenn ihr
morgens aus Eurem Schlafwagen schauend, den Bahnhöfen der
Großstadt Euch nähert! Wie sie gepreßt aneinandersitzen,
mißvergnügt ihrer Arbeit zueilend, die sie verfluchen. Seht
ihre Kinder an, die schlecht genährten und gekleideten, von
denen Tausende nicht ein eigenes Bett zur Verfügung haben.
Studiert die Kurven ihrer Kränklichkeit, ihrer Sterblichkeit, und
ihr werdet erschrecken und erkennen, daß Gold auch heute
noch das beste Heilmittel gegen den Tod ist. Oder wollt Ihr
Eure Kinder in die Hölle der sizilianischen Schwefelminen, der
Erzgebirgshausindustrie, der Mais- und Reispflanzungen Ober-
italiens, der japanischen Fabrikindustrie schicken, welche an
verbrecherischer Ausbeutung jugendlicher Arbeitskraft über
alles europäische Maß hinauswächst? Ihr werdet triumphierend
auf die kolossal gestiegenen Löhne der Neuzeit hinweisen,
werdet berichten, daß 1908 etwas über Zweidrittel der Gesamt-
bevölkerung von einem das sogenannte Existenzminimum von
900 Mk. nicht übersteigenden Einkommen leben mußten, daß
noch 1914 erst der siebenzehnte Teil der Gesamtbevölkerung
ein Einkommen zwischen 3000—9500 Mk. hatte, während heute
Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt 163
Einkommen von 12—18000 Mk. bei gelernten Arbeitern die
Regel sind. Ihr irrt Euch, da Ihr nicht mit der Schlauheit
der Händler gerechnet habt, die Euch in schamlosem Eigennutz
jede Steigerung des Einkommens durch sofortige Steigerung
aller Eurer Lebensnotwendigkeiten, Materialien, Kleider,
Wohnungen, Nahrungs- und Genußmittel usw. rauben. Be-
trachtet doch endlich die Armut nicht nur als das
größte Übel, sondern auch für das schwerste Ver-
brechen und die schlimmste Gefahr der Menschheit.
Eine Menschheit, welche den Anblick der Armut erträgt, ist
noch immer eine barbarische und weit entfernt von jener Form,
welche sein wird, wenn der Staat, wie er jetzt beschaffen ist,
der des Übels Urheber ist, und mit träger Genügsamkeit auf
der Oberfläche ruht, gelernt haben wird, eine bessere Mensch-
heit zu begründen. Allerdings ist dazu erforderlich, daß vorher
der einzelne Mensch eine große innere Wandlung in sich
selber durchmacht, daß er seine Natur genug entwickelt, um
den Staat zu einer völligen Umprägung seiner staatserhaltenden
Begriffe und daraus abgeleiteten Gesetze langsam zu erziehen.
Jagt die Vorurteile und die Finsternis aus Euren eigenen
Köpfen, und das Licht der Vernunft wird in den Staatsgesetzen
sich entzünden; zerstreut Eure eigenen Wahnbegriffe und der
Bau wird fallen, den Fanatismus und Betrug eigensüchtiger
Kreise zu Eurem Nachteil aufgerichtet haben. Es war stets
die Weisheit regierender Kreise, den Armen so zu beschäftigen,
daß ihm zum Nachdenken keine Gelegenheit blieb. Es war
stets ihr Grundsatz, seine Ernährung durch kärglichen Lohn
derart zu gestalten, daß er die Wirkungen einer kraftvollen Kost
nicht erfahren konnte. Die Geschichte der Ernährung aber lehrt
unzweifelhaft, daß, je weiter ein Volk von der Pflanzennahrung
sich entfernt, die Männer des Volkes desto länger und schwerer
werden, daß die Krankheitswahrscheinlichkeit, die Sterblichkeit
um so größer werden, je weniger tierisches Eiweiß genossen
wird. Erhöhung der Fleischkost bedingt erhöhte Lebensdauer.
Zweifetlos vermögen es einzelne Völker wie die Japaner und
Inder, freilich erst nach vielen Generationen, sich an die
vegetabilische Ernährung derart zu gewöhnen, daß sie sich
ausgezeichnet dabei stehen. Andere Völker, wie die Türken,
die ursprünglich ein Fleisch verzehrendes Nomadenvolk waren,
und heute infolge ihrer großen Armut bis auf geringe Kreise
164 Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt
zur Pflanzennahrung haben übergehen müssen, haben sich bis
heute nicht an diese anzupassen vermocht. Erhebliche
Schädigungen des Verdauungskanals sowie des Gesamt-
organismus sind von Professor Rieder Pascha in 20jähriger
Lazarettbeobachtung unzweifelhaft festgestellt worden. (Für die
Türkei, S. 508—1204). Die immer wieder angeführte irreführende
Behauptung, wir hätten vor dem Kriege zu luxuriös gelebt und
unsere heutige Ernährung wäre erst die zweckmäßige, ist 1918
in einer Sitzung der Münchner Ärzteschaft von den Professoren
für innere Medizin, Physiologie und Hygiene als den Tatsachen
nicht entsprechend abgelehnt worden. Wir haben vor dem
Kriege gerade richtig gelebt. Diese denkwürdige Sitzung war
nur Ärzten zugänglich, um zu verhindern, daß durch Reporter
beunruhigende Mitteilungen dem Publikum gemacht würden.
Mehr gefühlt und geahnt als klar erkannt sind diese Zusammen-
hänge die Quelle der neumalthusianischen, auf Beschränkung
der Kinderzahl hinzielenden Bestrebungen. Wer mit dem Wesen
des Geschlechtlichen gründlich vertraut ist, weiß, welche
merkliche Gewalt und große Anstrengung es erfordert, der
Sinnlichkeit kraftvoll und mit Ausdauer zu widerstehen, wie
schwer es ist, die Natur nicht in volle Freiheit zu setzen, mit
einem Teil sich zu begnügen, wo doch das Ganze in verlockender
Nähe ist, Vernunft und Sinnlichkeit in ständiger wacher Auf-
merksamkeit zu paaren. Es konnte nicht ausbleiben, daß die
Anhänger dieser Bewegung von ihren zahlreichen Feinden mit
den Vorwürfen der Unsittlichkeit, der egoistischen Fürsorge
für das eigene Wohlergehen, der Staatsfeindlichkeit usw. ohne
Nachsicht angegriffen wurden. Es kann hier nicht meine
Aufgabe sein, unwissende Menschen, die an Oberflächen-
phänomen haften bleiben oder von der Kirche eine geistige
Kastration erfahren haben, zu belehren. Eine eigene Abhandlung
würde dazu nötig sein. Hier nur folgendes: Der Malthusianismus
ist nur religiös zu verstehen. In die Brust des edlen Menschen
zieht schon früh die Selbstbesinnung ein, und er fühlt die ganze
Wucht der Verantwortung für die Existenz eines neuen Wesens
von der Wiege bis zum Grabe. Wird dieses zerbrechliche
Geschlecht ihm einst fluchen oder ihn segnen? Schon früh
fühlt er den ganzen Ernst, das Problematische, die Fragwürdigkeit
des Lebens. Was ihm als unverbrüchlich heilig galt — das
Leben selber — wird ihm bald verdächtig. Er erkennt jetzt,
Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt 165
daß es nicht das Höchste ist, dem Leben an sich zu dienen,
daß Unreines und Häßliches den Namen der Tugend unter
falscher Beglaubigung an sich gerissen haben, daß die Fort-
pflanzung nicht die ehrwürdige Äußerung moralischer Freiheit,
sondern nur eine unrühmliche Art von Knechtschaft ist. Leiden
ist — das sieht er jetzt ein — der Welt und des Lebens letzte
Wahrheit: Leiden im tieferen Sinne gefaßt als die ungeheure
Trostlosigkeit eines sinnlosen Werdens, eines Entwicklungs-
geschehens, das törichte Phantasten für Vervollkommnung halten,
das aber in Wahrheit nichts anderes darstellt, als blinde Ent-
wicklungsrichtungen in den Organismenreihen. Was da
aufkeimt, besonders bei dem Anblick einer ersten Geburt, sind
buddhistische Gedanken, mag auch der Vater niemals auch
nur den Namen dieses größten aller Menschen vernommen
haben, dessen Seelenleben von der erschrecken-
den Gewalt der überragenden Einsicht in die
Nichtigkeit und Vergänglichkeit, die offen-
sichtliche und absoluteSinnlosigkeit desLebens
beherrscht und bewegt wurde, der als erster
die unerhörteKühnheit und Geisteskraft besaß,
das Leben selber nach seiner Legitimation zu
fragen. Die Vielzuvielen damals und auch heute glauben,
Leben sei ein Wert an sich und müsse sein, und unheimlich
erscheint ihnen der Kopf, der an diesem Grundpfeiler ihrer
Existenz zu rütteln wagt und nicht in scheuer Ehrfurcht ihm
zu nahen wagt. Buddha ist Fleisch von unserem Fleisch und
Blut von unserem Blut. Seine Lehre ist lebendig, unheimlich
lebendig bis heute, und wenn nicht alle Zeichen trügen, wird sie
auch im barbarischen Europa eine mächtige Auferstehung erleben.
Wie wir im Wechsel der geistigen Strömungen in Bezug auf
die Frage nach den letzten Zusammenhängen alles Seins immer
wieder der Antwort des Pessimismus begegnen, so erhebt auch
bei besonderen Gelegenheiten immer wieder diese Frage drohend
ihr Gorgonenhaupt. Dies bezeugt die Größe und Tiefe dieses
Gedankens. Er allein ist die geheime Quelle des Neumal-
thusianismus. In allen seinen Formen und Beweggründen läßt
sich leicht ein starkes religiöses Element nachweisen. Der Weg
ins Leben führt immer in das Leiden hinein. In jedem Menschen
schlummert es und wird und muß sich einst entfalten, mag
auch des Einzelnen Brust heute noch von Glück geschwellt
166 Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt
sein. Aber das Triumphgeschrei der Mutter über ihre Lieben,
des Mannes über seine Erfolge im Geldverdienen und in der
Liebe, des Gelehrten über seine vermeintlichen Entdeckungen
übertönt das große Schweigen der Wissenden und Einsamen.
Deine glänzenden Ideen und Experimente werden nach dir
kommende Menschen mit anders gebautem Gehirn als lächer-
liche Irrtümer belächeln, wenn sie sich überhaupt die Mühe
nehmen sollten, von dir heute so berühmtem Manne Notiz zu
nehmen. Diese zarten Erzeugnisse deines Unterleibs werden
als Ekel und Mitleid erregende Greise bald der Umgebung
lästig sein, und man wird ihrer Todesstunde froh werden. Du
kraftvoller Mann in den Dreißigern, der du im vertrauten Kreise
deiner Heldentaten im Bett dich rühmst, wirst bald die un-
erhörten Jahre langen, nur uns Ärzten bekannten Qualen einer
chronischen Nierenerkrankung, eines Krebsleidens, einer Rücken-
marksentartung, einer Verkalkung der Herzschlagader kennen
lernen! Sterben ist ja gewiß nicht das Schwierigste; schwer
aber ist der Weg zum Sterben, und auch der tödliche Schlag-
anfall ist gewissermaßen ein chronisches, mit vielen Leiden
verknüpftes Übel. Die Regierungen und Könige haben ja
immer das Sterben für eine harmlose Angelegenheit ge-
halten und ihre „Landeskinder* in den Tod geschickt,
neuerdings sogar ca. zwölf Millionen, wobei sie sich immer
heuchlerischer, die Jugend verführender Phrasen bedienten
und sich weise zynischer Bekenntnisse enthielten wie Na-
poleons (an den Bürger Carnot, Hauptquartier Verona
9. 3. 1796) „Die Menschen nicht alt werden zu lassen,
muß die große Regierungskunst sein.“ Sie fanden ja auch
immer gefällige Philosophen, die sie unterstützten wie Fichte,
der in seinem Naturrecht erklärte, „daß der Einzelne für die
Gemeinschaft da ist und nicht umgekehrt.“ Buddhistische
Gedankenregungen sind keinem besser gearteten Menschen
fremd. Sie kommen, gehen, wir haben keine Macht über sie,
sie verschwinden. Wir finden sie bei Dichtern und Schrift-
stellern, die das Leben auf das Stärkste zu bejahen pflegen.
So Schiller in seinen Xenien: „Wozu nützt denn die ganze
Erscheinung? Ich will es Dir sagen, Leser, sagst Du mir
erst, wozu die Wirklichkeit nützt.“ Von dem geistesgewaltigen
Heraklit von Ephesus, dem Zeitgenossen Buddhas, wissen wir,
daß er das Geborenwerden für ein Unglück gehalten hat.
Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt 167
Das geht aus dem Satzfragment hervor: „Wenn sie (die
Menschen) geboren sind, schicken sie sich an zu leben und
den Tod zu erleiden... und sie hinterlassen Kinder, daß auch
sie den Tod erleiden.“ Und wer erinnert sich nicht hierbei
der berühmten Worte des Sophokles im Oedipus: „Nie ge-
boren zu sein, wo ist höhrer Wunsch? Und der andre Dir,
der Du lebest, er ist, zu gehen wieder, von wannen Du
kommst, in Eile.“ Niemand hat aber weder vor ihm noch
nach ihm mit so unerbitterlicher Schärfe und Klarheit wie
Buddha auch in seinen philosophischen Gedankengängen die
Welt und das Leben erfaßt und mit den Problemen und
Rätseln dieser Wirklichkeit unter Ausschaltung jeglicher Gottes-
idee in einem festgeschlossenen System sich auseinander-
gesetzt. Alles, was wir erleben, ist nur ein Traum, der Furcht
einflößt und lockt zugleich, ist wie ein Ton, der nächtlich in
den Wald verhall. Mit dem „Nichtwissen“ beginnt das
_ Leben und mit ihm das Leiden, mit dem „Nichtgeboren-
werden“ muß das „Nichtsterbenmüssen“ erkauft werden.
Daß die Menschheit nach nun Millionen von Jahren währen-
dem Aufenthalt auf der Erde noch in völligem „Nicht-Wissen“
inbezug auf die Schrecken und Ekel erregenden Leiden des
Alterns dahinlebt, denen die Mehrzahl der Menschen hilflos
ausgeliefert ist, ist eine des höchstens Erstaunens würdige
Tatsache. Und doch könnte ein flüchtiger Blick in jede
Zeitung den an das Leben geketteten Leser belehren! Tausende
von Todesanzeigen verweisen täglich auf die lange, qualvolle,
mit äußerster Geduld getragenen Leiden hin. Ich nehme eine
vor und lese: Am 13. 3, verschied nach qualvollem Leiden
der Lehrer pp....; darunter: Am morgen verschied nach
schwerem Todeskampf meine inniggeliebte Frau (30); ferner:
heute endete nach qualvoller Krankheit das Leben unserer
Schwester. In der Danziger Zeitung vom 1. 5. 20 finde ich
sogar das Ableben eines angesehenen Bürgers als „nach qual-
vollstem Leiden“ erfolgt angezeigt. Und so fort im endlosen
Zuge des Todes. In dunkler Regung erkennen das viele Eltern
und verzichten nunmehr auf weitere Fortpflanzung. Es ist
subalternes Gewäsch eines Provinzialen, für diesen Entschluß
Regungen der Eigenliebe sowohl inbezug auf die eigene
Existenz als auf die des Kindes verantwortlich zu machen.
Wer wie ich Jahrzehnte sich in das Seelenleben der Einkind-
168 Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt
und Zweikindereltern hineingearbeitet hat, hat für diese Ober-
flächenauffassung nur ein mitleidiges Lächeln. Dabei ergibt
sich, daß Zweikindeltern in der Regel Einkindeltern sind,
insofern als die beabsichtigte Geburteneinschränkung durch
Mängel der dazu erforderlichen Technik nicht zum Erfolge
führte. Solchen Eltern wird allerdings ihr Kind oder das
Kindespaar zu etwas Heiligem, weil sie die Schuld, die sie
mit dessen Erzeugung auf sich luden, weil sie die endlose
‚Kette der Leichen um ein Glied vermehrten, durch vermehrte
Fürsorge für die kurze leibliche Existenz gutzumachen gewillt
sind. Auch die Psychologie des Junggesellen ergibt, daß von
wenigen Wüstlingen abgesehen deren Ehe- und Kinderscheu
nur metaphysisch und pessimistisch zu verstehen ist, so wenig
ihnen selbst dieser Urquell ihres der Volksvermehrung feind-
lichen Verhaltens bewußt geworden sein mag. Sie denken
mehr oder weniger alle so wie unser großer von Humboldt
in seinen Memoiren: „...Ich bin nicht geschaffen um Familien-
vater zu sein. Außerdem halte ich das Heiraten für eine
Sünde, das Kinderzeugen für ein Verbrechen. Es ist auclhı
meine Überzeugung, daß derjenige ein Narr, noch mehr ein
Sünder ist, der das Joch der Ehe auf sich nimmt. Ein Narr,
weil er seine Freiheit damit von sich wirft ohne eine ent-
sprechende Entschädigung zu gewinnen, ein Sünder, weil er
Kinder in das Leben stellt, ohne ihnen die Gewißheit des
Glücks geben zu können. Ich verachte die Menschheit in
allen ihren Schichten. Ich sehe es voraus, daß unsere Nach-
kommen noch weit unglücklicher sein werden als wir — (wie
wahr trotz aller Kinos, Automobile und Flugschiffe!) — Sollte
ich nicht ein Sünder sein, weil ich trotz dieser Aussicht für
Nachkommen, deshalb für Unglückliche sorge?“ Wer so
denkt, stellt eine höhere Art von Mensch dar.
5 (Fortsetzung folgt.)
NA
Tafel I. Orang-Utan aus dem Hagenbeckschen Tierpark in Stellingen.
(Zum Aufsatz: Sokolowsky, Geschlechts- und Altersunterschiede bei Menschenaffen.)
Tafel Il. Kopf eines männlichen Orang-Utan mit Backenwülsten
und Kinnbart.
(Zum Aufsatz: Sokolowsky, Geschlechts- und Altersunterschiede bei Menschenaffen.)
R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos 169
DAS WEIB IM ALTINDISCHEN EPOS.
Von Universitäts-Professor Dr. RICHARD SCHMIDT, Münster.
(Schluß.) .
W" hören im Epos viel Frauenklage um die im Kampfe
gefallenen Männer — auch sonst leiht es dem Weibe im
Schmerze oft schöne Herzensworte, so daß Meyer ein ganzes
Kapitel, das XVI., diesem Gegenstande widmen konnte — aber die
sati, oder wie die Engländer sie schreiben: die Suttee ist nicht
populär. Der Zug, daß die Frau sich mit dem Leichnam. des
Gatten verbrennen läßt, fehlt in dem Bilde, das der Inder der
epischen Zeit von dem Frauenideale seines Herzens entwirft.
„Sita ist ganz das indische Frauenideal: zart und sanft, weich
und verträumt wie Mondesglanz, selbstvergessen, völlig Liebe,
Hingebung, Innigkeit, Treue, und doch, wo es Frauentugend,
Seelenadel und Leibesreinheit zu verteidigen gilt, eine starke
Heldin, groß vor allem im Dulden, groß aber auch in ihrem
unnachgiebigen, kühnen Stolze“ (Meyer S. 319). Daneben kommt
aber die körperliche Schönheit des Weibes im Epos nicht zu
kurz; im Gegenteil, es finden sich Stellen genug, die die körper-
lichen Reize der indischen Schönen in das rechte Licht setzen;
indisch ungeniert, versteht sich. Langgeschnittene Augen, breite
Hüften, rote Nägel, hochgewölbte, aber ja nicht zusammen-
gewachsene Brauen, schwellende Brüste, ein Duft wie der des
blauen Lotus, die Lippen rot wie die Bimba-Frucht, die Schenkel
wie Elefantenrüssel und nicht behaart, die Zähne ohne Zwischen-
räume — das alles sind Eigenschaften, die man schließlich an
jeder Frau gern sieht. Aber man hält wenigstens einen Teil
davon in Indien zugleich für ein Anzeichen dafür, daß die Be-
sitzerin keine Witwe werden wird, und dazu gehören auch
gewisse Linien in der Haut der Hände und Füße, aus denen
die Phantasie die Gestalt eines Lotus, eines Rades usw. zusammen-
bringt. Eine bekannte Legende weiß davon zu berichten, wie
die guten und schlimmen Seiten des Weibes entstanden sind:
Der Schöpfer hatte bei der Erschaffung des Mannes sein ganzes
Material verbraucht und war nun in großer Verlegenheit, wie
er die Frau herstellen sollte. Da nahm er denn schließlich
die liebliche Rundung des Mondes, die wellenförmigen Linien
und die Geschmeidigkeit des Schlangenkörpers, die graziösen
Windungen der Schlingpflanze, das leichte Zittern des Gras-
halmes, die Schlankheit und Biegsamkeit der Weide, die samt-
12
170 R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos
artige Weichheit der Blume, die Leichtigkeit der Feder, den
sanften Blick der Taube, das Tändelnde, Scherzhafte des
spielenden Sonnenstrahles, die Tränen der vorüberziehenden
Wolke, die Unbeständigkeit des Windes, das Scheue des Hasen,
die Eitelkeit des Pfaus, die Härte des Diamanten, das Süße des
Honigs, die Grausamkeit des Tigers, die Glut des Feuers und
die Kühle des Schnees, das Schwatzhafte des Papageis und
das Girren der Turteltaube und das Einschmeichelnde, aber
auch die Falschheit und Tücke der Katze. Alles das mischte
der Schöpfer zusammen und formte daraus das Weib, das er
dem Manne zur Gefährtin gab...
Wenn nun aber auch das Epos und alle Autoren bis auf
unsere Tage herab die Weichheit und Fülle des Seelenlebens
der indischen Frau rühmen, so würde man doch sehr irren,
wenn man glaubte, dort nun lauter Zuckerpüppchen zu finden.
Gerade das Mahabharatam ist vielmehr reich an recht
energischen Damen, namentlich auch wenn es sich um Liebes-
angelegenheiten handelt: „nicht Leander, sondern Hero schwimmt
zum Stelldichein“ (Meyer 326). Gefühls- und willensgewaltig
ist vor allem Draupadi, eine echte Tochter des Kriegerstandes,
die dem späteren Überarbeiter des Epos viel Mühe gemacht
hat, da sie sich „gar nicht recht in die brahmanische Zwangs-
jacke stecken lassen“ will. Sie spielt deshalb auch „wiederholt
den brahmanischen Moraltanten gar böse Streiche“. Daß sie
als höchst energische Frau an dem Kriegsrate der Männer
teilnimmt, die Zaudernden mit Flammeneifer zur Entscheidung
drängt, ist aus ihrer Rachgier begreiflich — ist sie doch in der
rohesten Weise bei dem verhängnisvollen Würfelspiel fast
nackt den Blicken der Spieler preisgegeben worden! — es
beweist das aber auch nebenbei, daß sich damals die indische
Frau viel freier bewegen durfte. Sie kannte die später so
beliebte Absperrung und Verschleierung noch nicht, die freilich
nicht erst der Islam gebracht, aber doch wesentlich ver-
schärft hat.
So stehen die Heldinnen des Epos ihren Männern getreulich
zur Seite, meist zwar antreibend, aber natürlich oft auch aus-
gleichend, besänftigend. Daß sie selbst mit in die Schlacht
ziehen, sehen wir oft genug, und daß sie Festlichkeiten nicht
fern blieben, ist nicht minder sicher. Es war das Schauen
und Jubeln kein Reservatrecht der Hetären. Trotz aller Freiheit
R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos 171
aber ist die Haremswirtschaft an der Tagesordnung, und das
Epos gibt uns farbenglühende Schilderungen des Lebens im
Gynaeceum. Da sind allerlei Ziervögel wie Papageien, Pfauen
und Schwäne, es erklingen Musikinstrumente, Bucklige und
Zwerge treiben sich umher, Lauben mit Schlingpflanzen, Bade-
häuser, herrliche Bäume und Sträucher bieten sich dem Auge
dar, kostbare Sitze aus Gold, Silber und Elfenbein laden zum
Ausruhen ein, köstliche Speisen und Getränke letzen den
Gaumen. Als Tugendwächter sind Greise und Eunuchen da,
denn daß man den Harem und seine Insassinnen streng beauf-
sichtigen müsse, wird oft eingeschärft. Freilich finden wir
auch das resignierte Eingeständnis, daß bei der unersättlichen
Geschlechtsgier der Frau alles Behüten umsonst sei wie ein
Faustschlag in die Luft! Viel besser ist es schon, wenn die
Frauen sich selber gegen Anfechtungen schützen; und das
haben im Epos und auch sonst viele gute Frauen getan. Des
Mannes Pflicht ist es vor allem, die Frau zu hegen und zu
pflegen, sie namentlich gut mit Speise und Trank zu versorgen.
Wer das unterläßt, verfällt hier der Schande und dort der
Hölle; und wer seine Gattin roh behandelt, fällt vom Stiel wie
die reife Frucht. Wer sich aber von seiner Frau erhalten läßt
oder gar unter ihrer Herrschaft steht, der fährt in eine schaurige
Hölle, denn er befindet sich auf einer Stufe mit dem Brah-
manenmörder, Kuhtöter und Ehebrecher, geradeso wie der
Ruchlose, der ein Weib tötet.
Dem im Epos immer wieder erklingenden „Ehret die
Frauen“ stehen — wie in allen Literaturen der Welt — eine
Fülle von Aussprüchen schroff gegenüber, die den Gedanken
zum Ausdruck bringen, daß das Weib der Inbegriff des
Schlechten ist. (Mayer, Kap. XX). An erster Stelle finden
wir da die unstillbare Geschlechtsliebe und infolgedessen die
Neigung, nach anderen Männern Ausschau zu halten und sich
selbst gemeinem Volke in die Arme zu werfen. „Das Feuer
wird nicht satt der Scheiter, der Flüsse nicht das große Meer,
der Tod nicht aller Wesen, und der Männer nicht die Schön-
geaugte.“ Die wahre Natur des Weibes, ihren tausendfachen
Trug vermag kein Mann zu durchschauen; Streitsucht, Neugier,
Haß sind die gewöhnlichen Untugenden. Darum soll auch ein
Verständiger die Frau zwar mit Klugheit genießen, aber nicht
an ihnen hängen; denn das bringt Verderben.
12°
172 R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos
Müssen wir dieses guten Rates gedenken, wenn wir im
Epos so oft hören, daß das Weib als Sache behandelt wird?
Sie erscheint oft genug als Kriegsbeute; schöne Weiber als
Geschenke sind etwas durchaus Gebräuchliches, wobei es uns
gar verwunderlich vorkommt, daß selbst Büßer und Heilige
solche Gaben nicht verschmähen; als Opferlohn wird die holde
Weiblichkeit immer wieder genannt; dann als Hochzeitsgabe,
als Botenlohn, als Tribut, und endlich kennt man auch bereits
die Überlassung der eigenen Frau oder Tochter an den Gast,
um ihm eine ganz besondere Ehre zu erweisen. Diese Sitte
der gastlichen Prostitution hat im Epos eine bemerkenswerte
Verherrlichung erfahren in der Geschichte von dem Manne,
der den Tod überwand (Meyer 383 ff.); sie ist aber sonst wohl
dem arischen Inder nicht so recht vertraut. Gleichwohl ist
die Frau rechtlich das Eigentum des Mannes, der damit machen
kann was er will. „Aber edlere Anschauungen von der Frau,
eine wenigstens in den oberen Schichten der Bevölkerung
wirklich vorhandene hohe Achtungs- und Tätigkeitsstellung
des Weibes und eine feinere, geläutertere Ethik waren am Werke.“
*
Wenn ich damit am Ende von Meyer’s Buch angelangt
bin, so weiß ich am besten, daß ich den überreichen Inhalt
eben nur gestreift habe. Etwas Wesentliches, soweit es dem
Epos entnommen ist, werde ich kaum übersehen haben; aber
das Wichtigste steht eigentlich in den Anmerkungen, die oft
sehr umfangreich sind und Abhandlungen für sich bilden.
Da findet nun der Spezialforscher die Parallelstellen aus aller
Herren Ländern, kann man beinahe sagen, und der Weg dazu
ist leicht zu finden, da das Buch selbstverständlich ein reich-
haltiges Register aufweist. So ist denn nur zu wünschen, daß
Meyer recht viele Leser finden möge, die es verstehen, die
Bausteine, die er hier mit unendlichem Fleiß zusammengetragen
hat, voll zu würdigen und zu verwerten. Der Verfasser hat
auch eine große Arbeit über die Kulturgeschichte Indiens in
der nachvedischen Zeit in Aussicht gestellt. Nach allem, was
er bisher geleistet hat, darf man diesem Buche mit um so
größerer Spannung entgegen sehen, als die Literatur hierüber
sehr spärlich ist.
IKK
Külz: A.d. Liebes- u. Gesellschaftsleben d. aussterbenden Karoliner 173
STATISTIK DES BEVÖLKERUNGSAUFBAUES
UND DER BEVÖLKERUNGSBEWEGUNG DER
KAROLINENINSEL JAP.,
Von Prof. Dr. med. L. KÜLZ.
m Anschluß an den Aufsatz vom Geh. Medizinalrat Prof.
Dr. Külz „Aus dem Liebes- und Geschlechtsleben der aus-
sterbenden Karoliner“
träglich die folgende Statistik.
in Heft 4, S. 111 bringen wir nach-
Die Schriftleitung.
Einwohnerzahi der ganzen Insel
darunter Männer : Frauen : Knaben : Mädchen
= 2454: 2492 : 750 : 573.
Es ‘ergibt sich demnach:
eine Geschlechtsproportion fürErwachsene von
eine e ERL OR OPRIOO | für das Kindes-
alter von :
632 befragte Frauen hatten im ganzen Kinder
geboren . .
also durchschnittlich
davon lebten
Im 1. Lebensjahr (Säuglingsalter) gestorben
Jenseits des Klimakteriums stehende 306 Frauen
haben eine Geburtenleistung von
also durchschnittliche Fruchtbarkeit
Von 498 über 30 Jahre alten Frauen waren
geburtenlos $
Von 133 Frauen unterhalb dieser Altersstufe
Von 308 jenseits der Gebärgrenze stehenden
Frauen waren steril nach dem ersten
Kinde .
Zahl der Todesfälle auf der ganzen Insel im
letzten gezählten Jahr .
der Geburten dagegen
Also jährliche Bevölkerungsabnahme v von
es
6269
98 : 100
130 : 100
901
1,6
227 = 23°,
109 — 11°],
591
19
55 = 11°%
87 = 61°
102 = 33°%
389
128
261 = 4h
174 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion
ZUM VERSTÄNDNIS DER INNEREN SEKRETION
UND DER VERJÜNGUNG.
Von FERD. FRHR. VON REITZENSTEIN, Dresden.
V.
Immunitätsreaktionen.
A" Seite 149 des Heftes IV haben wir den Begriff der
Toxine und Antitoxine bereits gestreift und damit ein
Gebiet angeschnitten, das zwar nicht direkt einen Teil unseres
Themas darstellt, aber doch im. gewissen Sinne damit eng
verwoben ist, so daß es hier mit behandelt werden soll. Wir
haben dort bereits erwähnt, daß durch verschiedene dem Tier-
körper schädliche Stoffe von unterschiedlichen Zellen an das
Blut Gegenstoffe oder Antikörper abgegeben werden, die
ihnen entgegenwirken. Dies tritt besonders ein, wenn art-
verschiedenes Eiweiß oder die von Bakterien gebildeten Gift-
stoffe (Toxine) ins Blut gelangen. So sind die Antikörper
gleichsam Schutzstoffe des Blutes. Manchmal sind sie übrigens
in geringer Menge bereits im Blute vorhanden. Alle jene Stoffe,
die nun die Bildung solcher Antikörper veranlassen, nennt man
Antigene. Es sind z. B. Bakterien Antigene. Die Antikörper
heben die schädliche Wirkung der schädlichen Stoffe ganz
oder teilweise auf und heißen so auch Immunkörper, weil
durch sie nach einer Infektion das Blutplasma auf kürzere oder
längere Zeit die Fähigkeit besitzt, z. B. Krankheitserreger un-
schädlich zu machen. (Immunität.) Alle dabei reagierenden
Stoffe sind entweder gelöste oder suspendierte Kolloide (vgl.
Heft IT) Kristalloide haben niemals Antikörper erzeugt.
Krankheitsstoffe können nun bekanntlich auf den ver-
schiedensten Wegen in den Körper gelangen; Luft und Nahrung,
dann direkte Berührung sind die häufigsten. Sind sie ein-
gedrungen, so wird entweder ihre Vermehrung verhindert
(Immunität) oder der betreffende Körper wird rasch durch-
seucht (er ist disponiert). Immunität kann sowohl angeboren
als erworben sein. Erworben wird Immunität entweder durch
das Überstehen einer Krankheit, wodurch in vielen Fällen der
Körper für immer oder zeitweise gegen Wiedererwerbung ge-
sichert wird, oder aber durch Immunisierungsverfahren.
Dabei unterscheidet man spezifische durch die Immunität
v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 175
gegen einen bestimmten Erreger erreicht wird, oder nicht
spezifische, die den Körper gegen Infektionen überhaupt
sichern. So sichert die Impfung mit Kuhpockengift den Körper
gegen die Pocken. Diese Impfstoffe stellen abgeschwächte oder
abgetötete Erreger der betreffenden Krankheiten dar. Aber
auch durch Einspritzung von Blutserum eines Tieres, das gegen
‚eine Erkrankung immun gemacht worden war (also ohne die
Bakterien oder die von ihnen direkt gebildeten Giftstoffe) kann
immunisiert werden. Statt Blutserum kann auch die Milch usw.
des immunisierten Tieres verwendet werden. Ist nun von
einem Serum z.B. 0,1 ccm ausreichend, um die 100fache töd-
liche Giftdosis unschädlich zu machen, so bezeichnet man
nach Behring und Ehrlich dieses Serum als Normalserum
und 1 ccm davon enthält dann eine Immunisierungseinheit:.
Die Antikörper lassen nun verschiedene Arten unterscheiden,
"je nachdem sie ihre Wirkung ausüben; es sind dies:
1. Die Agglutinine. Sie verkleben Bakterien, rote Blut-
körperchen oder Leukozyten (weiße Blutkörperchen),
d. h., sie verändern sie so, daß sie durch Alkalisalze')
ausgeflockt werden (s. Heft I, S. 39). Der Elektrolyt
(s. Heft IV, S. 150) selbst wird dabei jedoch nicht
absorbiert.
2. Antitoxine. Sie machen den Körper gegen ein Toxin
immun. So kann man also umgekehrt die Toxine als
Gifte bezeichnen, die bei ihrer Einspritzung in den
tierischen Körper Antitoxine erzeugen. Toxine und
Antitoxine scheinen sich wie eine Suspension (Ss. Heft I,
S. 37) oder ein Hydrosol (s. Heft I, S. 38) zu verhalten.
3. Lysine. Sie wirken lösend. Man unterscheidet dem-
entsprechend Hämolysine, die die Blutkörperchen
auflösen; um dies zu ermöglichen sind zwei Stoffe
nötig, der Ambozeptor und das Komplement (s. später),
doch scheint wie Bechhold zeigt, das Komplement
kein besonderer Stoff zu sein, sondern ein bestimmter
psysikalischer Zustand (Dispersitätsgrad) des Globulins
(s. Heft II, S. 69), dann die Bakteriolysine, die
1) Salze der Alkalimetalle, d. h. der Leichtmetalle der Natriumgruppe
(Lithium, Natrium, Kalium, Rubidium, Cäsium). Sie sind mit Ausnahme
von Rubidium und Cäsium leichter als Wasser.
176 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion
Bakterien und Cytolysine die Zellen anderer Art
lösen.
4. Präcipitine. Sie erregen in dem Stoff, mit dem ein
Tier vorbehandelt wurde, Niederschläge. Injiziert man
z. B. einem Kaninchen Menschenblut, so entsteht ein
Serum, das nur im Menschenblut Niederschläge ergibt;
injiziert man es dagegen mit Rinderblut, so ergibt sich
der Niederschlag nur mit Rinderblut. Man ist so in
der Lage Rinderblut und Menschenblut zu unter-
scheiden, sogar in kleinsten Qualitäten usw. Die Nieder-
schläge beruhen auf Ausflockung von Eiweißen (s. Heft II,
S.69). Dieser Prozeß läßt sich mit dem eines an-
organischen Hydrosols (I, 38) vergleichen?).
5. Abwehrfermente (vgl. auch Heft IV, S. 149). Sie
bilden sich im Blute, wenn blutfremde gelöste Sub- ,
stanzen in dasselbe gelangen. Durch den Verdauungs-
apparat werden nur plasmaeigene Substanzen ab-
gegeben, obwohl die durch die Nahrung aufgenommenen
Substanzen eigentlich artfremd sind; aber sie werden
durch den Verdauungsprozeß (Heft IV, S. 149) in
plasmaeigene Substanz verwandelt (normaler Weg).
Dagegen bilden blutfremde Substanzen, die unter Um-
gehung des Verdauungskanals (parenteral) in den
Körper gelangen, im Blutsplasma Fermente (IV, 149),
die dann wieder diese Substanzen bei weiterem Ein-
dringen abbauen. So erzeugt z. B. die Injektion von
Rohrzucker im Blute Inversin, das die Spaltung des
Rohrzuckers einleitet (s. Heft IV, S. 152). Eine für die
Praxis äußerst wichtige Beobachtung hat dabei Abder-
halden gemacht. Er zeigte, daß im Blute männlicher
oder nicht schwangerer weiblicher Personen niemals
Fermente zu finden sind, die das Plazentalgewebe
1) Für die Lösung und die Ausflockung der Blutkörperchen und
Bakterienarten ist die Konzentration der H oder OH Jonen (Wasserstoff
und Hydroxyl-Jonen) bei bestimmter Temperatur maßgebend. Die H-Jonen
(s. Heft 1, S.33 und 40) bewirken eine katalytische Spaltung (s. Heft IV,
S. 148), die OH-Jonen dagegen eine Verseifung der Fettsubstanz, die
als halbdurchsichtige Masse die roten Blutkörperchen umgibt, wodurch
das Blut lackfarbig wird. Auch elektrische Einwirkungen sowie Radium-
strahlen wirken lösend.
v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 177
abzubauen vermögen, daß sie aber vom 8. Tage nach
der Schwängerung an, im Blute auftreten, so daß damit
einwandfrei gleich nach der Schwängerung die
Schwangerschaft festgestellt werden kann.
6. Leukozyten oder weiße Blutkörperchen (die auch in
der Lymphe, im Knochenmarke usw. vorkommen) gehören
im gewissen Sinne auch hierher. Sie fressen wie die
freilebenden Amöben Bakterien auf (Phagozytose).
Allerdings müssen nach neueren Forschungen diese
erst durch Immunstoffe (im Serum Opsonine genannt)
vorbereitet werden.
Über die Ursachen der Immunität hat man ver-
schiedene Hypothesen aufgestellt. Pasteur glaubte, daß durch
Überstehen der Krankheit die Nährstoffe für das Wachstum
der Erreger derselben aufgebraucht würden. Diese Hypothese
ist aber ebenso wie die Retentionshypothese, daß durch
Überstehen einer Krankheit im Körper Stoffe zurückblieben,
die das Aufkommen einer neuen Infektion verhindern, veraltet.
Dagegen hat die Seitenkettentheorie Ehrlichs sich die
moderne Wissenschaft erobert. Nach Ehrlich besteht das
lebende Protoplasma (Ill, S. 96) aus einem Leistungskern,
dem eigentlichen Zentrum, und zahlreichen Atomkomplexen im
Protoplasmamolekül, die sowohl Nahrungsstoffe als Toxine
chemisch zu binden (zu verankern) vermögen. Man nennt sie
Seitenketten oder Rezeptoren. Tritt eine artfremde Sub-
stanz in den Körper ein, so treten Vergiftungserscheinungen
auf. Kommt nun die Zelle mit dem Leben davon, so wird
das an die Seitenketten gebundene Gift ausgeschieden und die
abgestoßenen Zellteile erneuert. Durch den Reiz, den das
Gift ausübt, werden aber nicht die gleiche Zahl von Seiten-
ketten, sondern bedeutend mehr neugebildet, die überschüssigen
stößt jedoch die Zelle ab und gibt sie ins Blut, wo sie frei
zirkulieren. Sie vermögen nun hier alle ihnen begegnenden
Gifte: gleicher Art zu binden: sie sind die Antitoxine. Das
Toxin wird also nach Ehrlich durch das Antitoxin nicht
zerstört, sondern geht im chemischen Sinne mit ihm eine
ungiftige Verbindung ein.
Unsere Abb. 1 zeigt eine Zelle. Der Leistungskern ist
von einer Reihe von Rezeptoren a, b, c umgeben, die ver-
178 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion
schiedene Toxine gebunden haben (d, e, f, g, g,). Es kann
sich nun nicht jedes Toxin mit jedem Rezeptor verbinden,
sie müssen in einander passen, wie ein Schlüssel in das Schloß.
Ein Gift bildet auch nur dann ein Antitoxin, wenn es vorher
vom Zellplasma chemisch gebunden werden konnte. Diese
Gifte sind dann Antigene (Erzeuger von Antikörpern). Dazu
Abb. 1. Zelle mit verschiedenen Rezeptoren ~ Abb. 3. Zelle mit Rezeptoren und Über-
(a, b, c) u. Toxinen (d, e, f, £, g,) n. Ehrlich. produktion (n. Ehrlich).
Toxophore 5 Nährstoffmotekül.
Gruppe --. \
Haptophore. í | Toxin s: = Komplemen
r. p
Haptophore
Receptor Gr ~> Komplemento-
phile Gr
Amboceptor ”
Zelle Zeile
Abb. 2. Rezeptor 1. Ordnung Abb. 4. Rezeptor Il. Ordnung
(n. Ehrlich). (n. Ehrlich).
gehören Bakterientoxine, tierische Sekrete (wie Schlangengift)
usw. Die Rezeptoren verbinden sich nun chemisch mit be-
stimmten Atomgruppen des Giftes; diese Teilgruppe heißt man
die haptophore Gruppe. Würde ein eindringendes Gift im
Körper keine Rezeptoren finden, mit denen es eine haptophore
Zwischengruppe bilden kann, dann kann es auf die Zelle
auch nicht wirken; der Körper ist also von Natur aus immun.
Tritt die Bindung dagegen ein, so bleiben die übrigen Atom-
v. Reitzenstein; Zum Verständnis der inneren Sekretion 179
gruppen des Giftes als „toxophore“ Gruppe übrig und üben
die Giftwirkung aus. Dies zeigt unsere Abb. 2.
Durch die Bindung ist nun aber der Rezeptor für die
Bindung von Nahrungsmolekülen nicht mehr brauchbar, der
Leistungskern stößt ihn nun samt dem Toxin ab (Abb. 3) und
bildet nun neue Rezeptoren, aber in solcher Menge, daß sie
nicht mehr Platz finden. In unserer Abbildung 3 steht ein
Teil der Rezeptoren noch mit dem Leistungskern in Verbindung
(a’), während der andere Teil (a”) abgestoßen ist und als
Antitoxin in die Blutbahn gelangt. Alle diese Rezeptoren haben
dabei nur eine Haftstelle und heißen deshalb Rezeptoren
I. Ordnung, während zu den abgestoßenen Rezeptoren
II. Ordnung die Agglutinine, Präzipitine und Koaguline ge-
hören. Sie bestehen aus einer haptophoren und einer zymo-
phoren Gruppe.!) Sie entspricht der toxophoren Gruppe der
Toxine. (Vgl. Abb. 4). Auf diesem Wege bewirken die
Agglutinine das Zusammenballen oder Ausflocken bestimmter
zelliger Elemente. Die Präzipitine und Koaguline bedingen
dagegen Treibungen und Fällungen; z. B. spritzt man Rinder-
blut einem Kaninchen ein, so werden im Kaninchen Präzipitine
gebildet. Nimmt man nun von diesem „Rinderkaninchen“
Blut und mischt es mit Rinderserum, so entsteht eine. Fällung
(ein Präzipitat). Diese Fällung entsteht aber nur bei Rinder-
blut. Spritzt man dem Kaninchen Hundeblut ein, so kann die
Fällung nur mit dem Blute von Tieren des Hundegeschlechtes
erzielt werden. (Also von Hund und Wolf usw.) Statt Blut
können auch andere Körpersäfte, z. B. Milch oder Samen
benutzt werden. Hamburger nennt diese Vorgänge „Das
Gesetz der biochemischen Arteinheit und Artver-
schiedenheit.“ Die verschiedenen Zellen und die Körper-
flüssigkeiten der gleichen Art besitzen nämlich Atomkomplexe,
die Träger der Arteinheiten sind und sie gegen andere Arten
unterscheidbar machen. So kommen also jeder Zelle zwei
Eigenschaften zu: die durch ihre Tätigkeit, ihre Funktion
bedingte und die ihr durch die Rasse oder Individualität zu-
gehörige artcharakteristische Eigenschaft. Abderhalden drückt
1) Unter Zymogenen versteht man Substanzen der sezernierenden
Zellen, die an sich unwirksam sind und erst durch andere Substanzen (die
sogenannten zyınoplastischen) Fermente bilden und dadurch in Wirksam-
keit treten.
180 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion
dies in dem Satz aus: „Jede Zelle besitzt einen organ-
spezifischen und einen artspezifischen Aufbau.“ Diese
Erscheinungen sind ungemein wichtig, denn durch Einspritzung
von Menschenblut in ein Kaninchen kann ein Serum gewonnen
werden, das sogar in den stärksten Verdünnungen von Menschen-
blut noch eine Trübung verursacht. Damit haben wir ein für
die Gerichte ungemein wirksames Erkennungsmittel für
Menschenblut (Uhlenhut). Weiterhin aber zeigten Nuttal und
H. Friedenthal, daß eine vollständige Übereinstimmung in der
Reaktion zwischen Mensch und den anthropoiden Affen besteht.)
Hierher gehören vor allem die vorzüglichen Arbeiten
Mollisons (Nachfolger von Professor H. Klaatsch an der
Universität Breslau). Injiziert man einem Versuchstier, etwa
einem Kaninchen alle 6—8 Tage eine kleine Menge (ca. 1—5 ccm)
reines steriles Serum jener Tierart, deren verwandtschaftliche
Stellung geprüft werden soll, so liefert meistens dieses Ver-
suchstier ein Antiserum, d. h. ein Serum, das mit dem Blute jener
Tierart, von der die Injektionsflüssigkeit genommen wurde,
einen Niederschlag bildet. Dies gilt auch für das Blut der
dem Tiere zunächst verwandten Tierarten. Auf diese Weise
kann der schlagende Beweis für die Verwandtschaft des
Menschen mit dem Anthropomorphen geliefert werden, und
ebenso für die der Anthropomorphen mit dem niedrigen
Affen der alten Welt anderseits. Nuttal fand nun, daß Orang-
Utanserum mit Menschenblut stärker reagiert als mit dem
Makakenblut.?) Also ist die Verwandtschaft des Orang mit
dem Menschen näher, als die des Orang mit den übrigen
niederen Affen. Mollison fand weiterhin in gleicher Art, daß
auch der Schimpanse dem Menschen näher steht als dem
Makaken.
Wir haben nun bereits erwähnt, daß jeder Pflanze, jedem
Tiere, ja auch jeder Rasse eine besondere Eiweißart entspricht
(s. Heft II S. 69). Da nun die Entwicklung der Tiere und
damit auch der Menschen einem Stammbaum entspricht, in
dem die tieferen Arten zu den höheren sich entwickeln, der
!) Anthropoiden oder Anthropomorphen (eine Unterabteilung der
Catarrhinen — Schmalnasen, Affen der alten Welt) sind die menschen-
ähnlichen Affen: Gorilla, Schimpanse, Orang-Utan (vergl. dazu die Tafel-
beigaben dieses Heftes) und Gibbon.
®) Eine andere tiefer stehende Gruppe der Catarrhinen.
v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 181
Mensch also verschiedene tierische Vorfahren gehabt hat und
jeder Tierform eine bestimmte Eiweißstruktur entspricht, müssen
im Blute jedes Tieres jene Eiweißarten vertreten sein, die
seinen Vorfahren entsprechen; je weiter im Stammbaum hinauf,
desto schwächer. Mollison bezeichnet nun eine Einheit jeder
dieser Eiweißstrukturen als ein Proteal. Proteale sind also
Atomgruppen, die sich an die vorhandenen Molekule an-
gliedern, also Seitenketten im Sinne Ehrlichs. Auf jedes
Proteal wirkt also anscheinend eine dazugehörige Präzipitin-
einheit, die Mollison Antiproteal nennt. Es bildet also jedes
Tier Antiproteale nur gegen diejenigen Proteale, die es in
seinem eigenen Eiweiß nicht besitzt (die also Tieren an-
gehören, die in seinem Stammbaum nicht vorkommen). Mensch
und Schimpanse z. B. haben nun mehr Proteale gemeinsam,
als Schimpanse und Makak. Mensch und Schimpanse müssen
also eine Periode gemeinsamer Entwicklung durchgemacht
haben, die der Makak nicht mehr mitgemacht hat, d. h. sie
müssen noch nach der Abzweigung von den niedrigen Affen
gemeinsame Vorfahren gehabt haben. Dies ist eine glänzende
Bestätigung der Deszendenztheorie, die Geh. Rat v. Luschan-
Berlin als eine einwandfreie Untersuchung bezeichnete.
Die Rezeptoren I. und II. Ordnung nennt man gemeinsam
auch Unizeptoren, siehaben nur eine haptophore Gruppe. Die
Rezeptoren Ill. Ordnung haben dagegen mindestens 2 hapto-
phore Gruppen; man nennt sie
daher Ambozeptoren (vgl. Abb. 5).
RaT Wir haben oben bereits gesehen,
ER X "or daB z. B. die Lysine aus zwei
Stoffen bestehen, dem Ambozeptor
und dem Komplement. Jeder
- Ambozeptor besitzt nun zwei
So BER ge D haptophore Gruppen (daher der
m Ehrlich), “Name Ambozeptor). Mit dem
einen bindet er die haptophoren
Gruppen des Blutkörperchen oder Nährstoffmolekül; sie wird
cytophile Gruppe genannt, die andere haptophore Gruppe
bindet dagegen die entsprechende Gruppe des Komplements,
weshalb sie die komplementophile Gruppe heißt.
Anderseits besitzt auch das Komplement eine haptophore
Gruppe, durch die es sich mit der komplementophilen Gruppe
Nöhrstotfmoleköl,
Zymophore
182 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion
des Ambozeptors bindet und eine zweite Gruppe, die die
lösende Wirkung ausübt und die zymotoxische Gruppe
heißt. Sie entspricht wieder der toxophoren Gruppe der
Toxine (siehe oben und Abb. 5). Dieses Komplement kann
nun eine ganz verschiedenartige Wirkung ausüben, es kann
giftig, fermentartig (s. Heft HI S. 149) auflösend, verdauend
wirken. Es kann also auch die Assimilierung (s. Heft IV
S. 149) der von der cytophilen Gruppe verankerten Stoffe ver-
ursachen. Wie schon oben gezeigt, gehören hierher die
bakteriolytischen Ambozeptoren, die Bakterien zerstören oder
auflösen. Auf diesen Grundlagen beruht die Wirkung des
Blutserums, die die Bakterien im Tierkörper erfassen oder
schwächen und so den Körper gegen tödliche Infektion schützen.
Im Zusammenhang damit wollen wir auch noch der
Wassermannschen Reaktion gedenken, die man auch eine
serologische Diagnose der Syphilis nennen kann. Bei dieser
Reaktion werden Hammelblutkörper in einem Reaganzglas
unter Mitwirkung verschiedner Sera gelöst, wenn nicht syphi-
litisches Serum (d. h. ein mit Spirochäteneiweiß präpariertes
Serum) beigefügt wird. Tritt die Lösung ein, so hat man einen
negativen Ausfall, tritt sie nicht ein — was z.B. nach Zu-
fügung von syphilitischem Serum der Fall ist — so hat man
positiven Ausfall. Allerdings wird sie auch positiv bei
Malaria, Scharlach, Pest, Rückfallfieber, Typhus, Tuberkulose
usw. Aber diese Krankheiten lassen sich dann auf anderen
Wege wieder von Syphilis unterscheiden.
Fällt nun aber die Reaktion negativ aus, so durfte man
bisher nicht ohne weiteres den Schluß ziehen, daß Syphilis nicht
vorliegt, dies war erst ratsam, wenn mehrere Untersuchungen
negativ waren. Positiver Ausfall läßt dagegen mit fast voller
Sicherheit auf eine der oberen Krankheiten schließen. Nun teilt
Wassermann soeben in einer Sitzung der Berliner Medizinischen
Gesellschaft mit, es sei ihm gelungen festzustellen, daß die
Reaktion sich bei Syphilitikern an das Auftreten einer bestimmten
Substanz knüpft, die mit den Lipoiden zusammentritt. (II. S. 69.)
Dabei bildet sich ein neuer Körper, das „Wassermannsche
Aggregat,“ das einen Ambozeptor für Lipoide darstellt, und sich
von den übrigen Bestandteilen des Serums trennen läßt. Dadurch
ist nun die Reaktion eine ganz sichere geworden, weil man
in der isolierten Substanz die Reaktion selbst nachprüfen kann.
v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 183
Überhaupt erfolgt positiver Ausfall erst nach der vierten Woche,
denn in dieser Zeit ist der Erreger der Syphilis, die Spirochaeta
pallida noch allein in den Blut- und Lymphbahnen (sogenanntes
Vorwassermann’sches Stadium). Sobald aber die Spirochaeten
in die Gewebe eindringen, beginnt die Reaktion positiv zu
werden. Daraus folgt auch die Heilungsmöglichkeit der Syphilis.
Bekanntlich verwendete Ehrlich, der Urheber der Seitenketten-
theorie dazu das Salvarsan (Ehrlich-Hata 606). Es ist eine
Arsenverbindung (Arsenophenylglycin), das sich als das stärkste
Gift gegen Spirillen erwiesen hat. Salvarsan hat sich glänzend
bewährt und darf heute als vollkommen ungefährlich bezeichnet
werden, wenn die dazu nötigen Vorsichtsmaßregeln beobachtet
werden. ‘(Vor allem dürfen früher geöffnete Gefäße mit Sal-
vàrsan nicht mehr benutzt werden.) Wird es bereits in dem
Vorwassermannschen Stadium angewendet, dann ist die Ver-
nichtung aller Spirochaeten fast sicher. Durch die soeben
stattgefundenen neuen Beobachtungen Wassermanns ist aber
auch der syphilitische Krankheitsprozeß selbst geklärt. Der
syphilitische Organismus bildet Lipoide. Sie werden
hervorgerufen durch den Infektionsstoff der Spirochaete und
die erkrankten Zellen des Organismus, denen überhaupt die
schwerwiegendere Wirkung zukommt. Wir erfahren auch da-
durch, daß Salvarsan auf die Spirochaeten lösend wirkt, während
Quecksilber die erkrankten Zellen behandelt. Was über die
Gefährlichkeit des Salvarsan geredet wird, ist Unsinn oder völlige
Unkenntnis. Die Hetze dieser Unsachlichen hat eine genaue
Untersuchung der sogenannten Salvarsanschäden nach dem
Kriege veranlaßt, die durch eine amtliche Kommission vor-
genommen wurde. Das Resultat ist in der Märznummer der
„Deutschen medizinischen Wochenschrift“ veröffentlicht. (Stati-
stik, die sich tiber Deutschland, Österreich, Holland und Däne-
mark erstreckt.)
Es wurde festgestellt, daß in dem statistisch verarbeiteten
Jahre ca. 225000 Einspritzungen vorgenommen wurden. Auf
diese Viertelmillion Einspritzungen kommen 15 Todesfälle. Die
Untersuchung dieser Todesfälle ergab nun, daß 11 vermeidbar
gewesen wären (meist zu große Dosen oder zu rasche Folge
der Einspritzungen). Es stellten sich die Todesfälle zu den
günstigen Fällen also wie 1:162792! Damit ergibt Salvarsan
eine der günstigsten Statistiken fast aller Heilmittel, ein Beweis,
184 v Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion
daß die Ehrlich’schen Entdeckungen zu den größten Geistes-
taten der gesamten Medizin gehören und ein wahrer Segen
für die Menschheit geworden sind und es noch mehr werden,
wenn in weitesten Kreisen die Meinung durchdringt, bei einer
erworbenen Geschlechtskrankheit sich sofort in die Behand-
lung eines sachkundigen Arztes zu begeben.
Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt 185
GESETZLICHE FREIGABE DER FREIWILLIGEN
KÜNSTLICHEN FRÜHGEBURT.
Von Professor Dr. med. KAFEMANN, Königsberg i. Pr.
(Fortsetzung).
ie beschränkungslos zeugenden Menschen sind eine noch
tierähnliche Art von Menschheit, auf die der in seinem Werk
„Principles of economy“ geäußerte Gedanke des berühmten
Nationalökonomen Stuart Mill zutrifft: Man kann nicht hoffen,
daß die Moralität Fortschritte mache, so lange man nicht die
zahlreichen Familien mit derselben Verachtung betrachtet wie
die Trunkenheit oder sonst einen körperlichen Exzeß. Diese
Anschauung des alten englischen Nationalökonomen besteht
auch heute noch zu Recht, ja mehr als jemals, nachdem wir er-
kennen mußten, daß die Lehre fanatischer Rassehygieniker, nach
der die ererbte Veranlagung wichtiger ist für die Entwicklung der
Kinder als das Milieu, diees umgebenden Verhältnisse, unter denen
es aufwächst, heute als irreführend und verderblich zurück-
zuweisen ist. Das Gegenteil ist richtig, indem zahlenmäßig
der Einfluß ungünstiger sozialer Verhältnisse weit denjenigen
ererbter Veranlagung übertrifft. Selbst bei der Lungenschwind-
sucht hält die Berufsschädigung der mitgebrachten Disposition
das Gleichgewicht und so überall auf dem Gebiet der sozialen
Versicherung. Trotzdem ist speziell bei der Tuberkulose die
Wirkung erblicher Veranlagung eine gewaltige. Die Nach-
kommen tuberkulöser Eltern verfallen in 42,5°/, der Fälle dem
Leiden der Eltern. Die Tuberkulose der Mütter ist gefähr-
licher. In kinderreichen Familien erkranken relativ mehr, später
Geborene mehr die früheren Kinder.
Von besonderem Interesse ist die 1915 von Irene Case
und Cate Lewis im amerikanischen Journal of Soc. 1915
Nummer 5 veröffentlichte Geschichte von zehn untereinander
verwandten, seit 50 Jahren in Chicago lebenden, der öffent-
lichen Wohltätigkeit unterliegenden Familien. Sie lehrt un-
weigerlich, daß, wenn es diesen Menschen in einer besseren
Umgebung zu leben gestattet worden wäre, ihre geschlecht-
liche Minderwertigkeit durch den sozialen Druck überwunden
worden wäre. Das lebendige Protoplasma hat die Fähigkeit
unendlichen Aufnehmens und Gegenwirkens; es ruht und rastet
nicht und antwortet mit der feinsten Beweglichkeit auf alle
13
186 Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt
Reize der Außenwelt, sie auch körperlich registrierend und
bewahrend. Der große Wohltäter Carnegie hätte besser getan,
seine Milliarden in Menschenzucht als in Bibliotheken —
wahren Bücherfriedhöfen! — anzulegen. Tausende von
Kindern frühzeitig dem Einflusse ihrer verelendeten Eltern
entzogen und in ländlichen gut geleiteten Erziehungsheimen
erzogen, hätten dafür einen gewissermaßen experimentellen
Nachweis geliefert. Die ganze Magie der Vererbungslehre
beruht auf ihrem noch heute ungelösten Geheimnis und könnte
durch die Erfahrungen eines so sonnenklaren Riesenexperimentes
wenigstens teilweise gelöst werden. Mit dem sozialen Aufstieg
hat zu allen Zeiten, von denen wir Kunde haben, auch die
Massenerzeugung nachgelassen, — nicht etwa weil das
„Können“ erschöpft, sondern das Wissen um den Unwert des
Lebens größer geworden war. In den gehobenen Schichten
würde es für unschicklich, ja unerlaubt gehalten werden, sich
von den Sitten und Gepflogenheiten des Zirkels, in dem man
lebt, auszuschließen. Dieses möchte ich bevölkerungspolitisch
nur an den Juden der ungarischen und österreichischen Staaten
erweisen. In Ungarn findet man nicht nur bei der zahlreichen,
in die Städte abgewanderten reichen Judenschaft das Ein- und
Zweikindersystem, sondern auch bei den Dorfjuden. Die
600,000 Juden des deutschen Reiches sind entschieden un-
fruchtbar und nehmen kaum noch an Volkszahl zu. Ihre
natürliche Zunahme in Ungarn erreicht nicht einmal den
Landesdurchschnitt. Dem gegenüber behielt das zum größten
‚Teil kulturlose und unbemittelte Judentum der östlichen und
nordöstlichen Teile des Landes seine riesige Vermehrungslust
bei, die so groß ist, daß sie in den Komitaten Maramares,
Bereg und Ugocsa in manchen Jahren 30 auf 1000 übersteigt,
bei den Kulturjuden nur fünf bis sechs Prozent. Der Nicht-
wissende Arme unterliegt dauernd der gesetzgebenden Gewalt
des Erhaltungstriebes im Gebiete des Willens und wird von
ihm wie das Tier beherrscht. In seinen Taten malt sich der
Mensch. Das zärtliche Getue einer Proletariermutter kon-
kurriert mit dem eines Tieres. Wehe aber dem Kinde, wenn
es imstande ist, Geld zu verdienen, und damit das Los der
Eltern zu erleichtern! Dann beginnt die Kinderarbeit, und diese
ist eins der schauerlichsten Kapitel der Menschheitsgeschichte.
Und dann tritt das Kausalgesetz des Buddha in die Erscheinung:
Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt 187
„Ist dieses, wird jenes; ist dieses nicht, wird jenes nicht“.
Das seiner Bestimmung früh entzogene Kind, gehetzt vom
Leben, verliert naturgemäß jegliche Empfindsamkeit gegenüber
seinen Erzeugern, und der Egoismus ihnen gegenüber wird die
Formel ihrer inneren Gesetzgebung. Wie sich ‚solche Kinder
ihren alternden und erwerbslosen Eltern gegenüberstellen, kann
man in jedem Landratsbüro erfahren. Ich habe darüber ein-
gehende Erkundigungen eingezogen. Die Ärzte, welche im
Prinzip jeden künstlichen, aus sozialer Anzeige eingeleiteten
Abort verwerfen, verstoßen gegen die Logik und das juristische
Denken. Fälle wie der folgende Leipziger sind alltäglich: Eine
Proletarierfrau gebar 1901 ein normales Kind, 1903 eine lebens-
fähige Mißbildung, 1905 wieder eine, 1906 ein normales Kind,
ebenso 1909; 1911 eine Mißbildung, ebenso 1915; 1916 ein
normales Kind, 1917 eine Mißbildung. Nunmehr entschloß
man sich nach Überwindung endloser Bedenken bei der nächsten
Schwangerschaft im dritten Monat zur künstlichen Frühgeburt.
Das so geborene Kind zeigte ein unbedecktes Gehirn, dem die
Hirnschale völlig fehlte. Diese Frau war erst 40 Jahre alt.
Was sollen uns die Millionen in einem derartigen Milieu ge-
borener Kinder nützen? Das Deutschland von 1920 bedarf
einer kleineren Volkszahl als das Wilhelminische, das seine
` Bürger nur insoweit schätzte, als sie als „Bajonette“ zu ge-
brauchen waren! Das neue Deutschland bedarf zahlreicher
intellektuell tätiger Leute, gebildeter Ingenieure, Ackerbauer,
Schulmeister, Ärzte, also eines hochgebildeten zahlreichen
Mittelstandes. Dieses riesengroße Proletariat, an dem auch
das kaiserliche Rom zu Grunde gegangen ist, müssen die
Völker der Zukunft schnell und entschlossen abstoßen, über
die Meere senden, vergiften, abortieren, zeugungsunfähig machen,
Welches am schnellsten in dieser Richtung vorangeht, wird
noch vor dem beginnenden einundzwanzigsten Jahrhundert das
führende unter den Nationen sein. Im Staat der Zukunft muß eine
Familie unmöglich sein, wie sie heute noch alltäglich ist: ein
hustender Vater, eine unterernährte, abgehetzte, unsaubere
Mutter, umgeben von 12 schwächlichen, häßlichen Kindern,
welche von vornherein dazu bestimmt sind — falls sie leben
bleiben, — im Souterrain des Lebens zu verweilen und zu
sterben, dabei aber so lange sie leben, wüste Ansprüche an
weniger fruchtbare und daher wohlhabendere Familien zu
13*
188 Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt
stellen sich für berechtigt halten. Man würde allerdings der
gehobenen Arbeiterschaft Unrecht tun, wenn man sie wie diese
Familien einschätzen würde. Der Trieb nach sozialer Erhöhung,
wenn nicht für sich, so doch für die Nachkommen ist bei
großen Teilen jener lebendig. Dafür spricht die während des
Krieges beobachtete erstaunliche Zunahme — von 22 v. 100
auf 47 v. 100 = der aus Arbeiter- und Handwerkerkreisen
stammenden Besucher der höheren Lehranstalten Westpreußens,
sprechen zahlreiche Beobachtungen, die der Arzt in diesen
Kreisen täglich in der Lage ist anzustellen. Die Kriegsnot-
standskommission Neuköllns bewilligte 1915 für die Kinder der
städtischen Arbeiter eine Zulage von 10 Pfg. pro Tag. Die
durch Fragebogen ermittelte Kinderzahl bei 366 dieser Arbeiter
ergab, daß 214 überhaupt keine Kinder hatten, 77 je 1, 47 je 2,
22 je 3, 9 je 4, 5 je 5 und je 1 6, bez. 8 Kinder im Alter
von unter 16 Jahren. Also nur 38 hatten mehr als 2 Kinder
unter 16 Jahren. Diese Arbeiterkreise, aus der die spätere
Bourgeoisie emporsproßt, bedürfen ebenso wenig wie letztere,
nicht so dringlich wie die vorhin geschilderten einer Änderung
des dem Empfinden der heutigen Menschheit nicht mehr an-
gemessenen & 218, weil sie sich selbst zu helfen in der Lage
sind. Den in der tiefsten sozialen Schichtung vegetierenden
Frauen muß aber die Möglichkeit gegeben werden, ohne
Schädigung ihrer Gesundheit die viel zu vielen Produkte ihres
ausgemergelten Leibes frühzeitig durch den Eingriff eines vom
Staat beglaubigten Arztes gefahrlos zu verlieren. Man kann
von diesen Geschöpfen nicht verlangen, daß sie gegen die
Sinnlichkeit Widerstand ausüben und verhindern, daß durch
ihre selbständige Kraft Naturgesetze nicht zwingend werden.
Andrerseits hat der Staat die Pflicht, zu verhindern, daß seine
Intelligenz unter die Botmäßigkeit der unwissenden Masse ge-
lange. Die Sozialisten sind eine christliche Sekte; in den
Lehren des Christentums ist bereits enthalten das Majestäts-
recht der zahlreichen Minderbegabten über die höher organi-
sierten Volksgenossen, ganze Klassen von Menschen, bei denen
jene Anlagen, die den höheren Menschen auszeichnen, kaum
mit matter Spur angedeutet sind, reißen die Herrschaft über
jene an sich. Welche Folgen diese gemeine und grobe von
den Sozialisten erstrebte Mechanik des Lebens haben wird,
das zu erkennen, dürften heute nur wenige befähigt genug sein.
Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt 189
Verraten will ich aber heute schon, daß niemand in diesem
idealen, sozialen Staate glücklich sein wird — außer den
herrschenden Führern. Will die heutige Menschheit diesem
schauerlichen Endzustand entgehen, so muß sie entschlossen
die Wahnbegriffe zerstreuen, welche bis jetzt den Zugang zu
der Wahrheit verwehrten. Fallen muß zuerst der Wahnbegriff,
es sei für jedes an Zahl mächtig zunehmende Volk erforderlich,
die Weltherrschaft anzustreben. Die unter despotische Formen
gebändigte Masse wird eines Tages der tyrannischen Willkür
müde, ihrer Freiheit, die man ihr nicht zu zeigen wagte, sich
bemächtigen, sie gesetzlos mißbrauchen und die Ziele der
Welteroberer zertrümmern. Viele Könige und Prinzen haben
jetzt Muße genug, über den zweifelhaften Segen einer riesigen
Volksmasse nachzudenken. Schon im Jahre 1906 zählte man
in Preußen 18845470 Seelen, welche, da ihr Einkommen ge-
ringer als 900 Mk. war, steuerfrei waren. Der zweite Wahn-
begriff, der zu zerstören ist, ist der, daß das menschliche
Leben an sich als etwas Heiliges, nicht Anzurührendes, ge-
wissermaßen Sakrosanktes sei. In der medizinischen Literatur
begegnet man täglich der sentimentalen abgelegten Phrase,
auch dem niedrigsten schwangeren Weibe müsse man mit
tiefster Ehrfurcht begegnen, da man ja nicht wissen könne, ob
sie nicht ein Genie in sich beherberge. Lächerlicher, von der
Geschichte der Genies längst erkannter Unsinn, der um nichts
ehrwürdiger wird, je häufiger er wiederholt wird. Der Mensch
besitzt vor dem Tier, dem Einzeller, einem Darmparasiten usw.
gegenüber keine besondere Würdigkeit. Teilerzeugnis des
lebenden Protoplasmas entwickelt die Natur spät in ihm das
Neugehirn zu dem Urgehirn, dessen die niedrigsten Tiere schon
sich erfreuen. Durch dieses befähigt, lernt er Werkzeuge
bauen, zu dichten und zu philosophieren. Durch seine Philo-
sophie bildet er sich ein, an dem Fortschritt des Bewußtseins
zu arbeiten, welches das All von sich selber hat, während er
in Wirklichkeit so wenig Philosophie besitzt wie sein Hund,
der im Studierzimmer zu seinen Füßen liegt. Alles durch sie
erreichte Begreifen war niemals etwas anderes als psychische
Illusion. Sie bildete Abstraktionen. Der Mensch aber verlor
infolge seiner Unfähigkeit, hinter den abstrakten Begriffen die
Fülle des Lebens in ihrer Wucht und Macht zu erblicken, die
Fähigkeit, leere Begriffe von dem Tatsächlichen zu unter-
190 Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt
scheiden und zu erkennen, daß in den Hülsen der Abstraktion
jede Unklarheit, Falschheit, Lüge und schlaue Phrase sich breit
macht. Der Mensch lebt in einem wahnsinnigen Dünkel. Und
was erst sollen wir von den Dichtern sagen, deren Wirken
Nietzsche, dessen reicher vielstimmiger Natur wir so viele
feine Erkenntnisse verdanken, also schildert (Zarathustra: von
den Dichtern) „Die Dichter lügen zu viel, wir wissen auch zu
wenig. Und wer von uns Dichtern hätte nicht seinen Wein
verfälscht? Manch giftiger Mischmasch geschah in unseren
Kellern. Das aber glauben alle Dichter, daß, wer im Grase
oder an einsamen Gehängen liegend die Ohren spitze, etwas
von den Dingen erfahre, die zwischen Himmel und Erde
sind... Ach, wie bin ich der Dichter müde! Oberflächlich
sind sie mir alle und seichte Meere. Sie trüben alle ihre
Gewässer, daß es tief scheine.“ Und dann im Lied der
Schwermut: Nur Narr, nur Dichter. Schnell einige Proben.
(Adalbert Luntowski: Menschen)... „Alles in der Welt ist
ohne Sinn, wenn der Mensch nicht wäre. Alles in der Welt
hat seinen Zweck im Menschen... Alle Dinge warten auf den
Menschen . . . Es gibt nichts Herrlicheres als das Wort: Mensch.
Es muß uns heilig sein wie ein Gebet. „Die Menschheit im
Ganzen ist ein verschwendeter Keim, wie milliardenhaft ver-
geudeter Samen und zugleich mit größter Wahrscheinlichkeit
ein seltenes, ja vielleicht nur auf unserer Erde vorkommendes
Erzeugnis der Welt. Das nächtliche Gefunkel der Sterne ist
mit größter Wahrscheinlichkeit nur ein unserer eingebildeten
Gottähnlichkeit dargebrachtes Brillantfeuerwerk. Lhotzky redet
von einer unendlichen Gottes- und Lebensherrlichkeit, die uns
umgibt und von dem „großen“ Ziel der Entwicklung, d. h.
„die herrliche Freiheit der Kinder Gottes“. Die so oft be-
sungene Schönheit der Natur, die bejahende Natursentimentalität
ist nichts als eine Erfindung der Dichter, denen die Menschen
glauben. In Wirklichkeit ist die Natur von einer erschreck-
lichen Monotonie, die erst von malenden Künstlern in hin-
gebender Liebe aufgelöst, erträglich wird, und das „große
Ziel der Entwickelung“ ist nur Illusion. Wahrhaft exstatisch
gebärdet sich der liebenswürdige Meister der Medizin Schleich
in seinem „Schaltwerk der Gedanken“: Die Freude verlängert
das Leben. Heiliger Quell der Freude, der du hernieder-
rieselst auf unser nach Labung immer durstiges Herz aus den
Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt 191
selig gepriesenen Gefilden eines erträumten Himmels, durch
den ein Meer ewiger Harmonien wogt und brandet, seinem
Erschaffer und Erhalter ein hohes Lied zu rauschen! Funken
du vom ewigen Licht in Brudersphären rollender Wetter-
leuchten, der du herniederglühst in die Menschenbrust,
mündend und schürend das Flammengefühl der Einheit mit
dieser, brausenden, jauchzenden Fülle im gigantischen Gleich-
takt schwebender Kreise usw. Sogar der Tod ist für ihn
(pg. 168) immer der gleiche heilige und unendliche weihevolle
Augenblick und immer währt er nur einen Moment, — während
doch der Tod schon mit dem Leben beginnt und in dem
langsamen Sterben des Lebens ganze Verruchtheit zu finden
ist. Der weise Heraklit hat inbezug auf das Sterben tiefer
gesehen als der moderne Schleich. Für ihn war Leben
identisch mit dem Sterben, eines umschlagend in das andere
seinen absoluten Gegensatz, beide nur daseiend durch die
Vermittlung mit ihrem Gegensatz. In dem das Leben sich
selbst aufgibt, aus der Zeit heraustritt und aufhört, das All-
gemeine in sich aufzunehmen, wird es zu einem Gegenstand,
der nur noch Raumbeziehungen hat, wird es zu einem auf
sich verharrenden Leichnam und dadurch „verächtlicher als
Mist.“ Für Bogumil Goltz (Buch der Kindheit pg. 117) ist
die Schöpfung so „wunderschön, so zum Rasendwerden
schön.“ Oder Hölderlin: „O Seele, Seele! Schönheit der
Welt! Du unzerstörbare! Du entzückende! mit deiner ewigen
Jugend. Du bist... „Ein neuer Dichter, Curt Corrinth,
phantasiert: „... Wiege mich, wäge mich, wage mich, welt-
geliebte Allerde. Du bist schön, schöner noch, unaussprechlich
schöner als der, so im Zucken seiner heilig geschwungenen
Braue Dich schuf“ ... „Segne mich, weltgeliebte Allerde,
einzige Mutter, höchste Lust, Geliebte, Geliebte. Segne mich
... laß mich eingehen ganz, ganz in Dich... Amen.“ Bekannt
ist Whalt Whitmanns überirdische Verzücktheit über Tod und
Leben, Liebe und Seele. Über J. M. Beckers Buch „Syrinx“
schreibt Schnack im B. Bc. 9. 1. 20: „Es geht um Idee, die
Idee von neuer Musik, Sphärenmusik, ungeheurer Musik, un-
endlicher Musik.“ Diese „Sphärenmusik“, ein Modewort aus
der romantischen Periode, sollte in der Rumpelkammer ver-
schlissener Dichterrequisiten ruhen bleiben. — Endlich noch
Detlev v. Lilienkron: „... Doch ehe mein Sarg die Erde noch
192 Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt
erreicht, brüll ich empor, daß alles rings erbleicht, Hurra das
Leben“ ... Genug der Beispiele dichterischer, fast maniakalischer
Seelenerregung. Glauben denn diese Herren wirklich, ihre
dichterische Selbstschau werde „intuitiv“ die verborgene
Wahrheit ihnen offenbaren? Glauben sie, daß ihre „apriorische
Einsicht“ Tatsacheneinsicht ist? Und daß sie das Wahre
nicht als Ergebnis des Urteilens sondern als „innere“ An-
schauung vor sich haben? Eine einzige kurze Betrachtung
wird diese Äußerungen als Privatmeinungen Einzelner kenn-
zeichnen und damit ihrer Wertlosigkeit den Stempel aufdrücken,
Was wir Seele nennen, gibt es nicht; es gibt nur Seelisches,
keine Energie, sondern zu seelischer Funktion werdende
Leistungen des Nervensystems, der Zellsysteme des Körpers.
Was ich erlebe, unterscheidet sich gänzlich von ähnlichen
Erlebnissen anderer. Die meinem Nervensystem besondere
Bauart gestaltet dieses Erlebnis zu meinem ureigensten
Erlebnis. Ich als Arzt weiß niemals, was der vor mir Sitzende
„fühlen“ nennt. Ich bin auch gar nicht in der Lage, Gefühle
zu untersuchen. Wollte ich gar untersuchen wollen, wie Reize
sich in Empfindungen und Vorstellungen umsetzen, würde ich
ein uferloses Meer von Spekulationen befahren. Niemals
können wir von den Empfindungen eines Anderen etwas
wissen. Wie nach Buddha die ganze Welt in Flammen steht,
so gleicht auch die Seele dem Feuer, das ein Geschehen ist,
das auch nicht in der Kohle sitzt wie die Seele im Gehirn
oder sonst wo sitzt, sondern in den Milliarden Elementar-
organismen, den Zellen (Kronthal, Psychiatrie und Nerven-
krankheiten. Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten,
Bd. 44, pg. 171 ff) Wie diese bei gewissen Nervenkrankheiten
z. B. der Hysterie, falsch auf Reize antworten, so muß auch
bei den Dichtern ein besonderes Geschehen nicht nur in den
Zellen des Gehirns und Nervensystems, sondern auch in den
Körperzellen angenommen werden, welches zu so eigentüm-
lichen Äußerungen sprachlichdichterischen Triebes führt.
Natürlich kann von einer Allgemeingültigkeit dieser nicht im
entferntesten die Rede sein. Wie sollte ich solchen grotesken
Meinungen zu folgen geneigt sein, wenn ich nicht einmal
weiß, was mein Nachbar unter blau versteht? Keiner versteht
den andern. Das sogenannte „Verstehen“ ist nur eine leben-
fördernde Illusion wie in der Politik. Einsam sitzt jeder auf
Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt 193
seinem Leuchtturm, brennt herunter, einsam wie eine Kerze,
„selbstleuchtend, nur sich selbst erleuchtend“ (Dahlke). Wie
Schneeflocken fallen seine Worte herunter, lautlos, und ver-
gehen in der Pfütze des Nichtverstehens. Keiner der Könige
im Gebiet der Geister hat diese unausrottbare Neigung der
Menschen, zu schwatzen und diskutierend sich zu verständigen,
d. h. aneinander vorbeizureden, mehr verachtet und mit feinerer
Ironie getadelt als Buddha. Ich erinnere hier nur kurz an
Dighanikaya (übersetzt von O. Francke pg. 5): „Leeres Ge-
schwätz verabscheut und vermeidet der Samana Gotama; er
redet nur zur rechten Zeit und redet, was wahr ist, was zum
Heile dient; er spricht über die Lehre, die Regeln der inneren
Schulung; wo es angebracht ist, spricht er Worte, die im
Gedächtnis aufbewahrt zu bleiben verdienen. Er würzt mit
Gleichnissen seine gemessene inhaltsreiche Rede. Und an
das Brahmajala-Sutta. „Oder sie verwenden ihre Zeit auf
nichtiges Geschwätz, als da ist: Geschwätz über Könige,
Spitzbuben, Minister, Kriegsheere, Gefahren, Krieg, Speisen,
Getränk, Kleidung, Lager, Blumen, Wohlgerüche, Verwandte,
Beförderungsmittel, Dörfer, Flecken, Städte, Länder, Weiber,
(Männer), Helden, Straßen, Wasserschöpfplätze, früher Ver-
storbene, zusammenhanglose Einzelheiten. Ursprung der Welt
und des Ozeans, über „so“ und „nicht so“... — der Samana
Gotama findet keinen Geschmack an solchem Geschwätz...
Oder sie ergehen sich in streitsüchtigen Bemerkungen wie
„Du kennst diese Lehre und Regel nicht, ich kenne sie, wie
solltest Du sie auch kennen? Du bist auf dem falschen
Pfade, ich bin auf dem rechten usw.!“ Für uns hat im
Gegensatz zu jenen Dichtern physisch, logisch und ethisch
das Leben jeden Wert verloren. Es schafft unendlich viele
Gehäuse, die es sofort wieder verläßt, um in neuen
unterzukommen. — Ruhelos, unablässig strömend bildet es
immer neue Daseinsformen, mit denen es sich sofort nach ihrer
Bildung in Widerspruch setzt. Dauernd kämpft es gegen seine
eigenen Erzeugnisse an. Unruhe ist sein Wesen, Vernichtung
sein Ziel, sodaß man im Sinne Heraklits berechtigt ist, zu sagen:
Nur das Nichtsein ist wirklich. Ein ewiger Kreislauf, endlos,
anfangslos, ohne erkennbaren Sinn und Zweck. Ein ewiger
Widerstreit des Nichtseins gegen das Sein, pein- und qualvoll
für die geformte Existenz und erst im Tode in ruhigem Aus-
194 Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt
ruhen erlöschend. Ein ewiger Kreislauf der Illusionen über
Geburt und Tod, an den der Nichtwissende, der Nichterkennende
gekettet ist. Hier spricht nicht verschwommener Gefühls-
pessimismus, sondern der Pessimismus des Erleuchteten, des
strengen Denkers. Von Buddha bis Schopenhauer an haben
alle großen Pessimisten in ihrer abgeklärten weltüberlegenen
Weisheit erkannt, daß alles Begreifen nur eine Illusion ist, und
alles Leben und Handeln auf Illusionen beruht und direkt in
das Leiden hineinführt. Diese großen Denker wußten besser
um ‘das Leid der Vielzuvielen als diese selber. Je mehr einer
„weiß“, desto größer wird das Leid. Es ist urwesentlich allem
Leben und Erleben. Es ist wirklich da, nicht subjektiv wie
mancher glückliche Schwachkopf glaubt. Der tief Erleuchtete
kann sich auch einen Zustand von Leidensfreiheit ersinnen.
Er erkennt auch den Grund unseres Leidens, unsere Verkettung
mit den Existenzformen der elementaren und unorganischen
Welt, deren Entwicklungsstufen alles Werden durchläuft und
sich selbst aufhebend wiederum zurücklegt. In ihrer Lebens-
führung waren aber diese pessimistischen Denker die größten
Optimisten. Von Buddha an, den ich als den größten Hygieniker
aller Zeiten bezeichnen möchte, haben alle sich bemüht, ihre
natürlichen Anlagen frei zu entfalten, im Einklang mit sich
selber zu leben, Einflüssen der Umgebung keinen Raum zu
geben und schmerzhafte Zusammenstöße mit der Außenwelt zu
vermeiden. Wer sein Leben in dieser Weise zu gestalten in
der Lage ist, folgerichtig im Sinne eines stets bewußten
Motivierens handelnd, hat sicher Anspruch auf einen gewissen
Glücksertrag im Leben. Außerdem waren es keine Asketen.
Sie hieiten es mit Zarathustra sowohl inbezug auf die Ernährung
als den Geschlechtsverkehr: „Gut essen und trinken, oh meine
Brüder, ist wahrlich keine Kleinkunst.“ „Und rate ich euch, eure
Sinne zu töten? Ich rate zur Unschuld eurer Sinne. Rate ich euch
zur Keuschheit? Die Keuschheit ist bei einigen eine Tugend, aber
bei vielen beinahe ein Laster.“ Auch Buddha wurde im Einklang
mit seiner Natur erst geschlechtlich enthaltsam nach einem reichen
Liebesleben und speiste häufig an den Tischen der Reichen,
denen er eindrucksvolle Rede und lehrreiches Gespräch spendete,
Über gesellschaftliche Vorurteile erhaben, selber mit königlichen
Ehren empfangen, nahm er auch ‚keinen Anstand, der Einladung
der schönen und reichen Buhldirne Amba Folge zu leisten.
Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt 195
Nachdem wir uns mit dem Leben auseinandergesetzt haben,
können wir uns der Praxis des $ 218 zuwenden. Wir sahen
bereits, daß in allen Ländern das Leben über ihn hinwegflutet,
als wenn er nicht bestände. Welche Schritte sind von einzelnen
oder korporativ geschehen, um ihn zu Fall zu bringen? Kor-
porativ nahm sich der IV. russische Kongreß für Geburtshilfe
zu Petersburg im Dezember 1911 seiner an. Nach ruhiger
Debatte, an der auch Juristen teilnahmen, faßte der Kongreß
einstimmig folgende Resolution: „Der Kongreß erklärt für
gänzlich unbefriedigend die gegenwärtig geltenden strafrecht-
lichen Bestimmungen über die Verantwortlichkeit des Arztes
wie der Mutter für die Fruchtabtreibung und beauftragt den
Geschäftsausschuß, den Entwurf einer vollkommeneren Lösung
dieser Frage behufs Überreichung an die gesetzgebenden
Körperschaften auszuarbeiten“ ... Erregter verliefen die Ver-
handlungen auf dem XIl. Pirogoff-Ärztekongreß zu Petersburg
im Juni 1913. Leidenschaftlich beteiligten sich an ihnen die
Ärztinnen. Sie traten einstimmig für das Recht der Frau ein,
über ihr Leben nach Gutdünken zu verfügen und für die
Freiheit der Mutter, so viele Kinder zur Welt zu bringen als
sie zu erziehen vermag. Das geschriebene Gesetz wahre die
Interessen des Staates, sei aber mit den Forderungen der Ethik
und der Gerechtigkeit unvereinbar. Die Frau, die konzipiert
hat, trete gewissermaßen in ein Vertragsverhältnis zum Staat,
wobei jedoch sämtliche Pflichten der Mutter zufielen, der Staat
dagegen allein die Vorteile daraus ziehe. Es sei an der Zeit,
in der Frau nicht mehr nur ein Muttertier zu erblicken; sie sei
in erster Linie ein Mensch mit bestimmten Kulturbedürfnissen,
sie mache auf die gleiche Freiheit Anspruch wie der Mann;
sie wolle nicht viele Male gebären, um sodann die Kinder der
Reihe nach fast alle zu beerdigen oder sie in einem gewissen
Alter als Kanonenfutter benutzen zu lassen. Sie fordere die
Zulässigkeit und die Legalisierung der F.-A., die auszuführen
sei, sobald die Frau es verlange. Ganz besonders sei diese
Forderung für die Frauen der ärmeren Volksklassen zu erheben,
da die Vertreterinnen der höheren Gesellschaftsschichten schon
ohnehin mit Leichtigkeit ihr Ziel erreichten.“ Nach zweitägigen
Verhandlungen, an denen die hervorragendsten russischen
Kriminalisten Teil nahmen, und denen die russische Gesell-
schaft mit größter Spannung folgte, wurde mit 39 gegen
196 Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt
19 Stimmen folgende Resolution gefaßt: „In Anbetracht
dessen, daß die Strafbarkeit der F.-A. sowohl den juristischen
Grundlagen der Strafrechtspflege als auch den Anforde-
rungen der Kriminalpolitik widerspricht, erachtet es die
X. Tagung der russischen Sektion des internationalen
Kriminalistenverbandes für notwendig, die F.-A. aus der Zahl
der verbrecherischen Handlungen auszuschließen.“ Im Jahre
1919 sah sich Basel-Stadt infolge Antrages des Dr. Welti vor
die Aufgabe gestellt, für oder gegen das barbarische Gesetz
Stellung zu nehmen. Der Wortlaut des Antrags war folgender:
„Die Abtreibung bleibt straflos, wenn sie bei ehelicher
Schwangerschaft im gegenseitigen Einverständnis der Ehe-
gatten, bei außerehelicher Schwangerschaft mit Einwilligung
der Schwangeren erfolgt, vorausgesetzt, daß die Frucht nicht
älter als drei Monate ist und ihre Entfernung aus dem Mutter-
leib durch einen patentierten Arzt vorgenommen wird.“ Der
Welti’sche Antrag wurde am 22. 5. 1919 von dem großen Rat
des Kantons Basel-Stadt angenommen, in einer späteren
Lesung jedoch unter dem Druck ärztlicher Kreise wiederum
abgelehnt, neuerdings jedoch endgültig angenommen. Damit
hat die königliche Stadt unvergleichlichen Ruhm und den
Dank endloser Frauengenerationen sich gesichert. Wie wir
sofort erkennen, entspricht dieser Antrag der Formulierung,
welche v. Liszt in seinem berühmten Werk über die kriminelle
Fruchtabtreibung (1910) gibt. Die Fruchtabtreibung soll zu-
lässig sein, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind. 1. Vor-
nahme innerhalb einer gesetzlich festzulegenden, nicht zu
langen, aber auch nicht zu kurzen Frist am Beginn der
Schwangerschaft. 2. Wenn bei ehelicher Schwangerschaft die
Gatten, bei unehelicher die Schwangere selbst damit einver-
standen sind. 3. Wenn sie von sachverständiger und der
Behörde verantwortlicher Seite vorgenommen wird. — Ist
nicht allen diesen Bedingungen entsprochen, so ist die
Fruchtabtreibung strafbar. Und zwar ist das Strafmaß im
Einzelfalle vom Richter unter tunlichster Berücksichtigung aller
Umstände innerhalb eines vom Gesetz möglichst weit zu
spannenden Strafrahmens zu bestimmen. v. Liszt fragt (pg. 52),
ob man denn wirklich von einem normalen Menschen ver-
langen könne, daß er im Staatsbürgertum aufgehe und zum
alleinigen — obendrein problematischen Nutzen der Gesell-
Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt 197
ee En
schaft durch die Geburt und Aufziehung von Kindern, durch
Verminderung der Arbeitskraft einesteils, andrerseits durch
Vermehrung des Bedarfs der Familie sein Dasein unerträglich
gestalte. Beide, v. Liszt und Dr. Welti, erkennen die soziale
Indikation an, deren hohe Bedeutung auch heute noch von
zahlreichen Ärzten nicht im entferntesten geahnt wird. Der
Chor der unentwegten Leugner der sozialen Indikation wird
natürlich eine Beweisführung ablehnen, welche damit beginnt,
den Menschen alles zu nehmen, was Wert für sie besitzt und
auf die schwere Beschädigung der Interessen des Staates hin-
weisen, der vor der Willkür der Menschen inbezug auf die
Volksvermehrung absolute Immunität genießen sollte. Der
Lehre von der Relativität aller Wertungen müsse Todfeind-
schaft angesagt werden. Die Idealität d. h. die Fähigkeit an
absolute Werte zu glauben, müsse eine Richtung auf den
Staat erhalten. Aus der Idealität müsse Idealismus d. h.
Anhänglichkeit an ein bestimmtes Ideal in erster Linie, den
Staat, sich entwickeln. Die daraus entspringende Staats-
gesinnung erfordere eine Steigerung der Fähigkeit zu handeln,
nicht jener duldend zu reagieren. In endlosen politischen
Reden kehrt immer wieder von neuem die aufstoßend wirkende
Phrase vom deutschen Idealismus und deutscher Opferfreudig-
keit wieder, von der Majestät des Staates, der sich der
Einzelne, mag er noch so viel versprechen, hemmungslos zu
opfern habe. Ein mir befreundeter älterer Herr sollte 1916
Schilf aus einem Morast für die Fuhrparkpferde holen. Als
er diesen Dienst höflich unter Hinweis auf seinen Gelenk-
rheumatismus ablehnte, brüllte ihn der Unteroffizier also an:
Wenn Du, infamer Hund, nicht sofort in den Sumpf gehst,
haue ich Dir eins in die Fresse, daß Du hineinfällst und
ersäufst; denn ob Du Hund lebst oder nicht lebst, ist für den
Staat doch ganz gleichgiltig. Dieser Mann hatte nicht nötig,
ein Colleg über organische Staatsauffassung zu hören!*) Wie
aber — kennen wir den Staat überhaupt schon? Wenn er
schließlich nichts anderes wäre als eine äußerliche Ganzheit,
wie irgend eine Vereinsbildung? Ein Mittel für allseitige
Wohlfahrtszwecke? Wie? Wenn auch heute noch Schillers
Auffassung zu Recht bestünde (über die ästhetische Erziehung
*) Der Verlag kann der Aufnahme der Stelle nicht beipflichten.
198 Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt
des Menschen usw.), daß der Staat ewig seinen Bürgern
fremd bleibe, weil sein Gefühl ihn nirgends finde, daß der
„Regierte“ nicht anders als mit Kaltsinn die Gesetze empfangen
könne, die an ihn selbst so wenig gerichtet seien, daß die
öffentliche Macht nur eine Partei mehr sei, gehaßt und hinter-
gangen von dem, der sie nötig mache. Ist etwa jene Be-
merkung des großen Franzosen Voltaire: „Dans toutes les
guerres, il ne s'agit que de voler“ heute weniger wahr als
vor 200 Jahren? Plünderung in Feindesland, noch schamlosere
Ausplünderung der Mitbürger in der Heimat unter dem
Schutz der Regierung. Wissen die Bürger auch heute
noch nicht, daß Kriege, insbesondere der letzte Krieg
nur um des besseren Lebens der reichen Leute und
derer, die es werden wollen, geführt worden sind?
Woher stammen diese ungeheuren Dividenden zahlloser früher
krebsender Industrieanlagen? Woher die riesigen Gewinne
im Holz-, Textil-, Chemikalien-, Eisen-, Papier- und Grund-
stücks-usw.-Handel? Was schiert es einen schlauen Händler,
wenn Hunderttausende von an Krebs, Schwindsucht, Herz-
krankheiten Leidenden sich in Schmerzen winden und sich
aufhängen müssen, weil sie kein Morphium kaufen können?
Nicht der Versailler Friedensvertrag peitscht allein die Preise in
die Höhe, sondern der Großaufkauf und der Großwucher ge-
wisser überaus potenter Kreise. Woher die Mammutgewinne
der rheinischen Fabrikherrn und der Großagrarier?
(Schluß folgt.)
GIBT ES NOCH EINE RETTUNG?
Von Staatsanwalt Dr. OTTO GOLDMANN, Leipzig.
er hat Rettung nötig? Das deutsche Volk? 20 Millionen
Einwohner hat es zuviel. Der Vertrag von Versailles er-
drückt und erstickt uns. Wir haben keine Rohmaterialien, keine
Arbeit. Unseren Auswanderern will oder kann niemand Arbeit
geben. Der geistige Arbeiter verhungert langsam; wielange
wird der andere noch verdienen? Eine sächsische Landes-
anstalt berichtet über 55 % Hungertodesfälle; Kranke suchen
dort in Schutthaufen nach Nahrungsmitteln, essen Gräser und
Kräuter. In hunderten von öffentlichen und privaten Anstalten
füttern wir rund 35000 Vollidioten. Aufwand jährlich durch-
schnittlich je 2000 Mk., Personal nicht eingerechnet. Der älteste
Insasse ist 80 Jahre alt...
Die Schutzmittel für den geschlechtlichen Verkehr sind der
Anpreisung und dem öffentlichen Handel entzogen...
Auf Abtreibung und Kindestötung steht Zuchthausstrafe...
Früher schwebte als Leitsatz über dem Werden und Ge-
bären: je zahlreicher ein Volk, desto glücklicher und betrieb-
samer. Außerdem „brauchte der Kaiser Soldaten“.
Und heute?
Schwache, sehr schwache Ansätze zu einer Einsicht wagen
sich ans Tageslicht.
Ich nenne Namen wie Frau Dr. Stöcker, Freih. von Reitzen-
stein. Mehrheitssozialisten sollen einen Antrag gestellt haben,
wonach innerhalb der ersten drei Monate die Abtreibung ge-
stattet sein soll.
Zuerst eine andere Frage, eine wichtigere.
Es handelt sich nicht darum, weniger zu „produzieren“,
als den Betrieb und seine Kosten einzuschränken.
Sind in unserem heutigen Deutschland unter obigen Ver-
hältnissen noch lebenswert: hoffnungslos Kranke? Tödlich
Verletzte? Vollidioten?
200 Goldmann: Gibt es noch eine Rettung?
Ein doppelstimmiges Nein! hallt von höchster, geistiger
Warte herab. Die Professoren Karl Binding (einst in Leipzig)
und Alfred Hoche (Freiburg) haben ein Schriftchen heraus-
gegeben, betitelt: „Die Freigabe der Vernichtung lebensun-
werten Lebens“.
„So kann es nicht weiter gehen!“ schreit es aus jeder
Seite dieser Arbeit, die den Extrakt eines von lebhaftestem
Verantwortungsgefühl und tiefster Menschenliebe getragenen
Studiums und Nachdenkens darstellt.
Alle Bedenken werden zerpflückt.
Unrein ist die Auffassung der Kirche, daß der Mensch
erst nach unendlichen körperlichen oder seelischen Qualen
sterben dürfe.
Humanität? Das wollen wir sagen, die wir zur Erreichung
eines höheren Zweckes fünf Jahre lang in einem maßlos blu-
tigen Krieg Millionen von blühenden Männern geopfert haben?
Kann die Rechtsordnung weiterhin verlangen, daß Tot-
kranke durchaus an ihren Qualen langsam zu Grunde gehen
müssen? Du sollst nicht töten! spricht die Norm des Gesetzes.
Töte ich aber einen Menschen (und einen solchen kann diese
Norm doch nur im Auge haben), wenn ich die Lebensfunktionen
eines Tieres auslösche, das doch nur ein furchtbares Gegenbild
echter Menschen ist?
Dabei wissen wir alle, daß nach Gesetz und Recht zur
Zeit ein Todesurteil gegen den Täter erfolgen muß, der kalten
Blutes einer höheren, sittlichen Regung (Mitleid) folgend einen
Vollidioten getötet hat.
So will es das Gesetz. Gesetze können aber geändert
werden. Und solche Gesetze müssen geändert werden. Die
Zeit verlangt es. Wir leben in einer Zeit des Notstandes,
Notstand. Wir Deutschen müssen uns mit den Teilnehmern
an einer schwierigen Expedition vergleichen, bei welcher die
größtmöglichste Leistungsfähigkeit aller die unerläßliche Vor-
aussetzung für das Gelingen der Expedition bedeutet. Es ist
kein Platz für Kräfte, die keine Kräfte sind.
Ich erinnere weiter an Sparta. In diesem Staat wurden
mißgestaltete und schwächliche Kinder, nachdem sie den Äl-
testen des Geschlechts vorgezeigt worden waren, in den
Schluchten des Taygetos ausgesetzt.
Geschlecht und Gesellschaft
Neue Folge X, 6
Pars infundi-
bularis
Lobus
posterior
~ Gland. thyreoid
B
S
Art. subclav.
Thymus
E g Pericardium ;
2 ; =]
a
ae
nl,
Fig. 2.
Tafel I. Fig. 1. Schnitt durch den hinteren Lappen der Hypophyse. Fig. 2. Rumpf
eines Neugebornen, die Thymusdrüse und die Schilddrüse zeigend. (Nach Merkel
„Anatomie der Menschen“, IV. Abt. Verlag J. F. Bergmann, Wiesbaden.
Zum Aufsatz: Reitzenstein, Innere Sekretion.
Goldmann: Gibt es noch eine Rettung? 201
Wir waren bisher geneigt, dies für barbarisch: zu halten.
Höchstens als höhere Schüler haben wir einst Verständnis für
den Begriff Heroismus aufbringen können.
Besaßen die Spartaner eine höhere oder niedrigere Sittlich-
keit als wir modernen?
Doch sehen wir ab von den Begriffen Sittlichkeit und
Heroismus! Es ist einfach eine Nervenfrage.
Professor Binding fragt sehr skeptisch, ob in unserer heu-
tigen Entnervtheit sich überhaupt noch jemand zum Bekenntnis
der Notwendigkeit einer solchen spartanischen Handlungs-
weise aufschwingen kann? In unserer Zeit der Schieberei, des
Wuchers, des Revolutionsgewinnes, des Tanzes, der Völlerei,
des Baccaratspieles, des sittlichen und moralischen Verfalles...
Ich weiß, es gibt noch Männer. Aber diese sind einzeln,
ohne Einfluß, an und durch Rücksichten gebunden usw.
Binding und Hoche sind Ausnahmen. Sie setzen den ersten
Hebel an.
Dieser erste Hebel heißt:
Staatlicher Freigabeausschuß; zwei Ärzte und ein Jurist.
Diese prüfen, ob eine unheilbare Krankheit vorliegt usw. An-
tragsberechtigt sind Angehörige, Vormünder, Ärzte. Den Be-
schluß des Ausschusses hat nur ein ärztlicher Sachverständiger
zu vollziehen.
Die Zahl der aufkommenden Bedenken dürfte Legion sein.
Aber es handelt sich doch um den ersten Hebel. Ist er falsch
angesetzt, so hat er doch den trägen Stein etwas gerückt.
Rücken wir weiter! Gehen wir ruhig zur Frage Nummero
zwei über!
Ist es sittlich, Kinder in die Welt zu setzen, die wir nicht
ernähren können? Die, von kranken Eltern stammend, in gei-
stiger oder körperlicher Hinsicht Viertel- oder Achtelkräfte für
unsere deutsche Expedition werden müssen? Wenn sie nicht
gar Tiere werden, die wir als solche in einer der hundert oben
erwähnten Anstalten bis in das Greisenalter füttern müssen...
Hat der Staat ein Recht auf die Frucht im Mutterleibe?
Dann muß er auch in der glücklichen Lage sein, die aus diesem
Recht erwachsenden Pflichten zu erfüllen. Dies kann er aber
nicht. Er hat es durch seine Vertreter selbst zugeben lassen.
„Niemanden in Deutschland kann das Existenzminimum zuge-
sichert oder gewährt werden, auch den Beamten nicht...“ So
14
202 Goldmann: Gibt es noch eine Rettung?
mußten wir es vor wenigen Wochen schaudernd hören. Selbst
den Beamten, den Dienern des Staates, nicht. Es steht nirgends
geschrieben, daß die werdende Mutter Dienerin des Staates
sei. Und wenn dieser Staat sie durch seine Strafgesetze (Verbot
der Abtreibung) zur gebärenden Dienerin machen will, ohne
für sie und ihr Kind sorgen zu können, warum soll die Mutter
dann nicht streiken? Sie liefert einfach die, nicht einmal vom
Staat bestellte, Arbeit nicht. Kriegt ja auch keine genügende
Bezahlung für monatelanges Sorgen, Mühen und Quälen!
Sind beide Eltern gesund, reichen Einkommens oder Ver-
mögens, so liegt keinerlei Grund vor, die Natur nicht walten
und auswirken zu lassen.
Im anderen Falle, wo diese Voraussetzungen fehlen:
Freigabeausschuß, dem — damit dem bitteren Ernste
das Salz des Witzes nicht fehle — als viertes Mitglied ja ein
Steuerbeamter zugefügt werden könnte.
Wer hilft mit, seine beiden Hände an den Hebel anzu-
legen?? i
v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 203
ZUM VERSTÄNDNIS DER INNEREN SEKRETION
UND DER VERJÜNGUNG.
Von FERD. FRHR. VON REITZENSTEIN, Dresden.
yI.
Innere Sekretion |.
r Aufsatz IV Seite 146 u. f. haben wir bereits den allgemeinen
Teil über „Innere Sekretion und das Wesen der Drüsen“
behandelt und daran anschließend jene Drüsen im speziellen
besprochen, die Abführungsgänge nach außen besitzen und so
der „äußeren Sekretion“ dienen. Es obliegt uns jetzt in gleicher
Weise auf die für unsere Zwecke besonders wichtigen Drüsen
der inneren Sekretion überzugehen und sie einer genaueren
Betrachtung zu würdigen. Bei einzelnen Drüsen ist noch keine
Einigkeit erzielt, ob man ihnen innere Sekretion zusprechen soll.
Auch über die Einteilung besteht z. T. noch Streit. Da einige
Drüsen außer der eigentlichen anreizenden Tätigkeit auch
eine hemmende ausführen, schlägt Schäfer vor, die Sekrete
der für uns in Betracht kommenden Drüsen einzuteilen,
1. in Hormone (von ögudo [hormao] anreizen),
2. in Chalone oder hemmende Sekrete (von xaldo =
chalao nachlassen, erschlaffen)
und möchte ihnen den gemeinsamen Namen autokoide
Drüsen (von dvros und äxog — wirksam, also „selbstwirkende“)
geben. Gley unterscheidet dagegen die Hormone, also die
Reizstoffe im engeren Sinn, die eine spezifische Funktion be-
stimmter Organe anregen, von Harmozonen (von dguolo —
harmozo „regeln“) die einen Einfluß auf die Bildung und Ge-
staltung der Organe und Gewebe ausüben und rechnet dazu
die Pubertätsdrüse, die Hypophyse, das Corpus luteum, die
Schilddrüse und die Thymusdrüse. Sehr gut erscheint dagegen
die Einteilung Waldeyers. Er nimmt vier Gruppen an:
1. echte endokrine Drüsen (s. S. 148) und rechnet
dazu Hypophyse, Zirbeldrüse und Nebennierenmark, Neben-
nierenrinde und Keimdrüsen, die Paranephroide sowie die
Schilddrüse, Beischilddrüsen und Thymusdrüse.
2. solche mit doppelter Funktion, also äußerer und
innerer Sekretion (S. 148): Prostata, Samenblasen und Nieren,
dann Leber, Pankreas, Magen- und Darmdrüsen.
14°
204 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion
3. Drüsen und Gebilde, deren Sekretion noch un-
sicher (z. B. Milchdrüsen Milz, Placenta, Fötus usw.)*).
Für unsere Zwecke ist nun von besonderem Interesse, daß
eigentlich alle diese Drüsen in Wechselbeziehung zum
Genitalsystem stehen, also unser Geschlechtsleben irgendwie
beeinflussen. Anderseits bestehen weitgehende Beziehungen
zum Nervensystem, insbesondere auch zu dessen zentralem
Teil, dem Gehirn. Hier ist allerdings noch viel zu klären.
So zeigt P. F. Richter, daß physiologische Experimente er-
weisen, daß im Hirn Genitalzentren liegen (besonders im
Zwischenhirn. Manche mit der Hypophyse und Epyphyse
(s. später) zusammenhängende Krankheitsbilder erklären sich
nicht: nur durch Wirkungen der Sekrete der betreffenden
Drüsen auf die Blutwege, sondern lassen eine direkte hormo-
nale Reizung der betreffenden Zentren wahrscheinlich erscheinen:
Mit diesen Zentren hängt aber die Libido sexualis, das
geschlechtliche Verlangen, zusammen. Man hat weiterhin
beobachtet, wie wir im nachfolgenden genauer sehen werden, daß
Nebennieren Hypophyse und Schilddrüse fördernd, Nebennieren
und Epiphyse aber hindernd auf die Genitalsphäre wirken:
Betrachten wir nun die einzelnen Drüsen.
1. Die Hypophyse (der Hirnanhang) Glandula pituitaria.
Wie unsere Abb. 1 zeigt, liegt sie an einer sehr geschützten
Stelle inmitten des Kopfes, auf der Unterseite des Gehirnes.
Sie besteht aus zwei oder, wenn man will, drei Teilen: einem
hinteren kleinen Lappen (Lobus posterior, Methhypophyse oder
Neurohypophyse) und einem größeren vorderen Lappen (Lobus
anterior, Prähypophyse oder Orohypophyse) zwischen denen eine
Art Mittellappen liegt (s.Abb.2). Die ganze Hypophyse hat etwa
die Größe einer Bohne, ist länglichrund, von einem Venenkranz
umgeben und den beiden inneren Karotiden direkt benachbart,
so daß sie also engsten Anschluß an das Blutkreislaufsystem
hat. Neuerdings wird noch eine Nebenhypophyse, die sogenannte
Rachendach-Hypophyse am Keilbeine unterschieden.
Der vordere Lappen enthält Schläuche (Lumen), die zuweilen mit
einer kolloiden Masse gefüllt sind. Seine Farbe ist gelbgrau-
rötlich. Der hintere Lappen besteht hauptsächlich aus Nerven-
*) Die einzelnen Drüsen werden nachfolgend genau besprochen.
v. Reitzenstein; Zum Verständnis der inneren Sekretion
Hinterer >
Lappen Ä
[Lotus posteriorf
Abb. 2. Hypophyse.
205
206 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion
gewebe und Bindegewebe und liefert das wichtige Sekret
Pituitrin (auch Hypophysin genannt), das dem Adrenalin der
Nebennieren ähnlich wirkt und eine langandauernde Zusammen-
ziehung der peripheren Blutgefäße veranlaßt. Wird dieFunktion
derHypophyse herabgesetzt oder durchExstirpation (Her-
ausnahme) ganz aufgehoben, so treten sehr eigenartige Erschei-
nungen auf. Bei zu geringer Funktion bleiben die Geschlechts-
teile in ihrer Ausbildung zurück, das Wachstum des Menschen
wird gehemmt und geht in Zwergenwuchs über, während
zugleich Neigung zur Fettsucht besteht. Diese Art der Fett-
sucht, hypophysäre Fettsucht (oder Dystrophia adiposogenitalis),
die also mit infantiler (kindlicher) Geschlechtsentwicklung Hand
in Hand geht, hängt wahrscheinlich von der Verkümmerung
des Mittellappens (nach anderen Vorderlappens) ab. Tritt
diese Störung schon in früher Jugend ein, so bleibt das Wachs-
tum fast ganz stehen. Würde man die. ganze Hypophyse oder
auch nur den ganzen Vorderlappen entfernen, so würde der
Tod die Folge sein. Der Hinterlappen könnte ohne Lebens-
gefahr entfernt werden. Umgekehrt bringt eine schon in früher
Jugend krankhaft vergrößerte Hypophyse Riesenwuchs
(Gigantismus) hervor; der betreffende Mensch wächst über das
normale Maß. Auch die Injektion des Sekretes bewirkt Be-
schleunigung des Wachstums. Tritt die Störung erst nach
Vollendung des Wachstums ein, so beobachten wir akro-
megalitische Erscheinungen, d. h. Hände und Füße nehmen
eine unförmliche große Gestalt an, Knochenbau wird grob, die
Überaugenwülste entwickeln sich stark, Unterkiefer wird plump,
die Nase derb und die Lippen wulstig. Diese Entwicklung
hängt mit dem Vorderlappen, der einen chemischen Stoff
Tethelin enthält, zusammen. Eine ganz andere Wirkung hat
dagegen das Sekret des hinteren Lappens, das Pituitrin,
in dem Histamin, das wirksame Prinzip des Mutterkornes
enthalten ist. Seine Injektion steigert den Blutdruck und verstärkt
die Herztätigkeit (Schäfer). Besonders aber erregt sie die
Muskulatur der Gebärmutter zu starken Zusammenziehungen,
d. h. sie ruft Wehen hervor und es ist eigenartig, daß sich
während der Schwangerschaft die Hypophyse vergrößert. Bei
Ratten hat man nach der Injektion Frühreife beobachtet (Kron-
feld). So ergibt sich, daß der mit dem Gigantismus auf-
tretende psychische Infantilismus mit einer Vergrößerung der
v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 207
Hypophyse zusammenhängt, ja daß in diesem Falle sogar die
Pubertätsdrüse ihre Funktionen ganz einstellen kann (Peritz).
P. F. Richter nimmt an, daß dabei auch dem Zwischenhirn
eine bedeutende Rolle zuzuschreiben ist (vgl. auch Tafel I, Fig. 1).
Der Mittellappen wirkt auf die Nierentätigkeit.
2. Die Zirbeldrüse, Epiphyse, Conarium oder Glandula
pinealis (Penis cerebri).
Sie ist der Hypophyse benachbart (Abb. 1) und stellt
eine etwa erbsengroße, länglich-runde, hinten zugespitzte Drüse
dar, die ungefähr die Form der Frucht der Zirbelkiefer hat.
Sie hat Farbe und Konsistenz der grauen Gehirnrinde. Ganz
neben der Zirbeldrüse befindet sich das sogenannte Parietal-
organ, das sich bei Reptilien (z. B. bei Eidechsen) als der
Überrest eines Auges (Parietal- oder Scheitelauge) erwiesen
hat. Bereits in der Mitte des Kindesalters tritt eine Rück-
bildung (Involution) der Drüse ein. Ihre Parenchymzellen*)
(an die sich die Sekretion knüpft) zerfallen dann, und hinter-
lassen kleine Körnchen aus phosphor- und kohlensaurem Kalk,
die man als Hirnsand (Acervulus cerebri oder Corpuscula
arenacea) bezeichnet. Doch erhalten sich Reste der Parenchym-
zellen bis ins höchste Alter (Waldeyer). Fehlt die Zirbel-
drüse, so tritt besonders bei männlichen Individuen eine früh-
zeitige Entwicklung der primären und sekundären Ge-
schlechtsmerkmale auf; ihre Tätigkeit scheint also darin zu
bestehen, daß sie die Entwicklung der Hoden und der sekun-
dären Geschlechtsmerkmale hemmt. Meistens geht damit ein
geistiges Zurückbleiben Hand in Hand. Geschwülste der
Epiphyse zeigen entsprechend häufig ein vorzeitiges Wachs-
tum der Geschlechtsorgane (Kronfeld). Das organische Prä-
parat der Zirbeldrüse, das Epiglandol, wird daher mit Erfolg
zur Herabsetzung der geschlechtlichen Funktion gebraucht. So
steht sie in gewissem Gegensatz zur Hypophyse und muß sich
also folgerichtig mit dem Ende der Kinderzeit zurückbilden
(etwa vom siebenten Jahr ab) damit die normale Geschlechts-
reife eintreten kann. Geht ihre Tätigkeit schon in frühen
*) Unter Parenchym (= das Zwischenhineingegossene) versteht man
Gewebemassen, die zwischen die Blutgefäße verschiedener Organe ein-
gelagert sind.
208 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion
Jahren zurück, so haben wir es mit körperlicher und geistiger
Frühreife zu tun (Landois). In früherer Zeit glaubte man, die
Zirbeldrüse sei der Sitz der „Seele“!
3. Die Brieseldrüse oder Thymus.
Die Brieseldrüse (vgl. Tafel I, Fig. 2) liegt im oberen
Teil des Brustkorbes. Sie besteht aus 4—11 mm großen
Lappen, die wieder in kleine Läppchen zerfallen, deren Gewebe
außen dichter und dunkler ist als im Innern, also eine Rinden-
substanz und eine Marksubstanz unterscheiden läßt. Besonders
bei Neugeborenen erscheinen in dieser Marksubstanz Gruppen
von Epithelzellen, die sogenannten Hassal’schen Körperchen,
die nach der Geburt zunehmen. In der Zeit des Fötus ist sie
sehr mächtig entwickelt und wächst noch in den beiden ersten
Jahren; gegen das zehnte Lebensjahr bleibt sie stehen und
entartet: dann dadurch, daß in ihr Gewebe Fett einwandert
zum „thymischen Fettkörper“. Ihre Entfernung bei jungen
Tieren erzeugte nach Asher eine vorzeitige Hodenwuche-
rung, nach Paulsen Störungen, die der Rachitis gleichen.
Ohne Zweifel steht sie im engsten Zusammenhang mit der
Geschlechtsentwicklung. Einspritzung von frischen Thymus-
extrakt (oder von Thymoglandol, La Roche) beeinflussen nach
H. Müller und Asher Muskelermüdungen, die nicht zu stark
sind, in günstigem Sinne. Klose und Vogt behaupten eine
enge Zusammenwirkung mit der Schilddrüse und ebenso be-
stehen Wechselbeziehungen zu den Keimdrüsen. Der so-
genannte Status thymo-Iymphaticus ähnelt z. B. sehr dem
eunuchoiden Typus und dem Infantilismus (P. F. Richter).
4. Die Schilddrüse (Glandula thyreoidea).
Sie liegt dem Kehlkopf benachbart (vgl. Abb. 1) und be-
steht aus zwei seitlichen Lappen, die durch ein Mittelstück,
den Isthmus, verbunden sind. Von ihm aus geht häufig
nach oben ein schmaler Fortsatz (Processus pyramidalis),
der oft bis zum Zungenbeinkörper emporragt (vgl. Tafel II,
Abb. 1 und 2). Sie besitzt eine bindegewebige Grundlage, in
der zahlreiche Bläschen eingeschlossen sind (Follikeln), die von
würfligen Zellen umschlossen und im Innern mit einer zähen
kolloidalen Flüssigkeit gefüllt sind (das Sekret der Schild-
drüse). Es ist ein jodhaltiger Eiweißstoff, das Thyreo-
v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 209
globulin, aus dessen Spaltung Jodothyrin entsteht, das
dieselbe Wirkung wie Schilddrüsenpräparat hat. Jede gesunde
Schilddrüse enthält Jod (etwa 2—9 mg pro Drüse) (Baumann).
Mit angeborenem Fehlen oder starker Unterentwicklung geht
geistige Verblödung (Kretinismus) und Myxödem (teig-
artige Schwellung des Unterhautbindegewebes) Hand in Hand.
Auch gewisse Formen von Fettsucht werden beobachtet.
Die völlige Wegnahme der Schilddrüse ruft die Er-
scheinungen einer chronischen Vergiftung hervor und endet
mit dem Tod. Wird ihre Funktion gestört, d.h. Teile ent-
fernt, so vergrößert sich die Hypophyse, es tritt Herabsetzung
des Stoffwechsels ein, die Temperaturregulation wird gestört,
das Wachstum des Körpers gehemmt, Leber und Nieren ent-
arten und bedeutende Störungen des sympathischen Nerven-
systems .treten auf, die Haare fallen aus, die roten Blutkörper-
chen nehmen ab, Somnolenz und Apathie machen sich bemerk-
bar. Diese Ausfallserscheinungen treten aber nicht auf, wenn
man irgendwo im Körper Schilddrüsengewebe zur Einheilung
bringt (Schiff). Umgekehrt verhält sich der Hyperthyreoidismus,
d. h. die Überfunktion der Schilddrüse. Sie führt zu ver-
stärktem Wachstum des Körpers, das mit Abmagerung Hand
in Hand geht. Die Überentwicklung bedingt auch jene Er-
scheinung, die man als Kropf bezeichnet, mit der eine ge-
steigerte Oxydation und Fettverbrennung einher geht. Die
Erscheinungen treten ähnlich auf, wenn ein gesundes Indi-
viduum Schilddrüsenpräparate verzehrt. Man beobachtet dann
erhöhte Wasserausscheidung im Harn und gesteigerte physio-
logische Verbrennung desFettes, weshalb dasKörperfett schwindet
und das Körpergewicht abnimmt (Schenk und Gürber). Be-
sonders auffallend ist aber, daß die Basedow’sche oder
Glotzaugenkrankheit mit der Schilddrüse in Verbindung
steht. Sie schwillt an, der Puls beschleunigt sich, die Augen
treten aus ihren Höhlen hervor (Exophtalamus), Stoffwechsel
und Herztätigkeit erhöhen sich, die Hände zittern. Die Menschen
werden dabei sehr reizbar. Die Krankheit befällt Frauen
häufiger als Männer und tritt oft ganz plötzlich nach heftigen
Gemütserregungen auf. Heilung der Erkrankung ist möglich,
doch verlaufen schwere Fälle auch tötlich.
Das weibliche Geschlecht hat überhaupt mehr Neigung
zu Schiddrüsenstörungen. Schon während der Schwanger-
210 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion
schaft tritt häufig eine Vergrößerung ein, die im Wochenbett
dann allerdings meist wieder zurückgeht (E. v. Graff). Beim
Mann ist die Wechselbeziehung von Schilddrüse und Geschlechts-
apparat geringer (P. F. Richter). Zwischen Schilddrüse und
Milz besteht ein Antagonismus, die Blutbildung betreffend,
denn die Schilddrüse arbeitet im Sinne einer Erregung, die
Milz im Sinne einer Hemmung, sie regulieren also gemeinsam
die normale Funktion des blutbildenden Apparates (Marcel
Dubois). Das Thyreoidin bewirkt auch eine Steigerung der
Kalkausscheidung im Kot (Scholz).
5. Die Nebennieren (Glandulae suprarenales).
Den Nieren angelagert, ohne jedoch mit deren Funktion
zusammenzuhängen. Über die Lage der Nieren im Verhältnis
zu den übrigen Organen der Bauchhöhle vergleiche Tafel II,
Fig. 4. Das Bild zeigt einen Querschnitt durch den Unterleib.
Die Lage von Nieren und Nebennieren gibt Tafel II, Figur 3.
Abb. 3. Nebenniere Schnitt.
Einen Schnitt durch eine Nebenniere zeigt unsere Textabbildung 3.
Wie die Nieren, so sind auch die Nebennieren doppelt vor-
handen und bei Erwachsenen etwa 5—7 gr schwer. Merk-
würdigerweise sind sie jedoch ungleich. Die rechte Neben-
niere bildet ein Dreieck mit der Spitze nach oben; die linke
dagegen ist mehr halbmondförmig geformt. An jeder Neben-
niere läßt sich zweierlei Gewebe unterscheiden, das auch
entwicklungsgeschichtlich eine getrennte Herkunft aufweist: die
Rinde und die Marksubstanz (vgl. Abb. 3). Die Rinde ist
weißgelb und auffallend reich an fettähnlichen Körnchen (Lipoid-
v Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 211
substanzen besonders Cholesterin) und Lehmann wieß darin
einen Sekretstoff, das Cholin nach. Das Mark ist grauweiß-
lich bis graurötlich und zeigt manchmal schwärzliche Ein-
lagerungen, die in hohem Alter als Pigmentstreifen erscheinen,
Es enthält ein sehr wichtiges Sekret, das Adrenalin oder
Suprarenin, dessen chemische Zusammensetzung eine be-
kannte ist. Es ist Brenz-katechin-oxäthylmethylamin (C,H,,NO,)
es wird von hier an das Blut abgegeben und wahrscheinlich
in der Leber wieder zerstört. Sowohl Rinde wie Mark ent-
halten zahlreiche marklose Nervenfasern und Ganglien. Adre-
nalin wirkt auf alle Organe, die vom Nervus sympathicus inner-
viert werden im Sinne einer Reizung. Es beschleunigt den
Herzschlag, erweitert die Pupillen und veranlaßt starke Ab-
sonderung der Tränen- und Speicheldrüsen (Brücke). Im
Körper wird es schnell durch Oxydation wieder zerstört, während
es im Blute länger wirksam bleibt. Seine Wirkung auf den
Nervus Sympathicus gleicht einer elektrischen Reizung (Elliot),
die Wegnahme beider Nebennieren führt nach einigen Stunden
oder Tagen zum Tode, der unter großer Muskelschwäche, Er-
müdung, Gewichtsverlust und Blutdrucksenkung erfolgt. Es
dürfte jedoch heute feststehen, daß das Eintreten des Todes
hauptsächlich auf den Mangel der Rindensubstanz zurückzu-
führen ist, über die wir allerdings heute noch sehr wenig
wissen (Landois). Die Entartung der Nebennieren hat die Addi-
sonsche Krankheit im Gefolge. Es ist eine Tuberkulose
der Nebenniere, durch die die Kranken eine bronzefarbene Haut
bekommen (daher auch Bronzekrankheit), der Blutdruck
rasch sinkt und große Muskelschwäche eintritt. Sie verläuft
meistens tödlich. Einspritzungen (Injektionen) von Adrenalin
in die Gefäße erregt die Endigungen faßt aller sympathischen
Nerven und hebt den Tonus der Gefäßmuskulatur, so daß eine
Verengung der Blutgefäße eintritt und der Blutdruck erhöht
wird. Die Darmperistaltik (Darmbewegung) wird gehemmt, die
Pupillen erweitert, die Haare sträuben sich und im Harn ist
Zuckerausscheidung bemerkbar. Bei größeren Dosen tritt eine
lebhaftere Sekretion der Speicheldrüsen ein und es ist von In-
teresse, daß eine solche Hypersekretion bei normalen Menschen
besonders auch im Zustande der geschlechtlichen Begierde
stattfindet (Berg). Große Dosen wirken tödlich. Es genügt
zu einer entsprechenden Wirkung 0,001 mg pro kg des Körper-
212 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion
gewichtes, als 1/1000000 gr! Das stillstehende Herz kann durch
Adrenalin zum Schlagen gebracht werden (sog. Accelerans-
reizung). Auch die Gebärmutter wird stark kontrahiert.
Während nun Adrenalin die Blutgefäße verengert und den Blut-
druck erhöht, wirkt Cholin, also das Rindensekret, umgekehrt.
Es erweitert die Gefäße und setzt den Blutdruck herab. Adre-
nalin und Cholin wirken also antagonistisch (einander entgegen).
Die Lipoidstoffe der Rinde haben außerdem die Fähigkeit,
die giftigen Stoffwechselprodukte zu absorbieren und zu ent-
giften. Dies geschieht nach Abelous besonders mit den giftigen
Produktionen der Muskeltätigkeit, die die Ermüdung bewirken
(Berg). Daher kommt es, daß nach Entfernung der Nebennieren
der Tod unter Muskelschwäche und Ermüdungserscheinungen
auftritt. Pulvermacher hat ferner gezeigt, daß die Nebennieren
auch für Pigmentveränderungen (Hautfarbstoffe) und Haar-
wachstum in Frage kommen. Für das Geschlechtsleben sind
die Nebennieren von besonderem Interesse. Schon 1806 zeigte
J. F. Meckel, daß eine eigenartige Zusammenwirkung zwischen
mächtiger Entwicklung der Geschlechtsreife bei Meerschweinchen
und einer beträchtlichen Vergrößerung der Nebennieren besteht.
Weiterhin ist klar, daß die Abschwächung der Ermüdung über-
aus wichtig ist für die Erhaltung der Potenz. Die Aus-
bildung der seelischen und körperlichen Geschlechtscharaktere,
besonders beim Weibe, ist nach P. F. Richter ebenfalls von den
Nebennieren abhängig, und es ist vielleicht kein Zufall, daß
die Zellen der Nebennieren sehr denen des corpus luteum der
Eierstöcke (siehe nächster Aufsatz) gleichen. Bei Anomalien
der Nebennieren treten allerlei geschlechtliche Abnormitäten
auf. So hängt der Frauenvollbart mit Geschwülsten des
Nebennierensystems zusammen. In anderen Fällen geht Herm-
aphroditismus, Frühreife (Pubertas präcox) abnorme
Fettentwicklung, abnorme Behaarung und der sogenannte
Hirsutismus, d. h. die prämature Entwicklung des Körpers,
besonders der Geschlechtsteile mit anormalen Erscheinungen der
Nebennieren zusammen (P. F. Richter.) Bei Kastraten scheinen
die Nebennieren einen Teil der Tätigkeit der Geschlechtsdrüsen
zu ersetzen.
Von den übrigen Drüsen und drüsenähnlichen Organen
wissen wir sehr wenig inbezug auf ihre innere Sekretion.
Wir können sie daher nur kurz behandeln.
v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 213
6. Die Nebenschilddrüsen oder Epithelkörperchen
(Parathyreoidea).
Sie sitzen wie Fig. 2 auf Tafel II zeigt an der rück-
wärtigen Seite der Schilddrüse. Ihre Entfernung bringt eine
Störung des Wachstums, besonders der Knochenbildung
mit sich und vor allem Muskelkrämpfe (Tetanie). Da sie
einen Giftstoff, das Guanidin zerstören, dessen Erhaltung
Tetania parathyreopriva hervorruft.
7. Das Pankreas (Bauchspeicheldrüse).
Eine in der Nähe der Leber liegende Drüse (siehe Tafel II,
Fig. 4 und Tafel III. Fig. 1). Sie hat doppelte Sekretion. Über die
äußere haben wir auf Seite 151 unseres 4. Aufsatzes berichtet
und dabei schon erwähnt, daß ihr Hormon, das Antidiabetin,
den Zellen der Langerhans’schen Inseln entstammen soll und
daß bei ihrer Wegnahme oder Erkrankung Zuckerkrankheit
oder Diabetes auftritt.
8. Die Leber.
Über ihre Lage siehe wieder Tafel II, Fig. 4, über ihre
Gestalt Tafel III, Fig. 2. Auch sie besitzt eine äußere Sekretion,
über die wir auf Seite 152 berichtet haben und eine innere,
die bei der Glykogenbildung (siehe Seite 150) eine Rolle spielt.
Man hat auch festgestellt, daß Degeneration des Lebens mit
einer Verminderung oder einem Stillstand der Samenbildung
zusammengeht.
9. Die Paranephroide.
Unter diesem Namen wird nach "Waldeyer eine ganze
Reihe kleiner und kleinster drüsiger oder knötchenförmiger
Organe zusammengefaßt.
a) Die Beizwischennieren oder Dianephroide.
Es sind dies abgesprengte Gewebeteile des Nebennieren-
systems, die außerhalb der Nebennieren liegen, also oft in
deren Umgebung (renale Hypernephrome) oder in der Leber
und im Pankreas, an den großen Bauchgefäßen oder dem
Bauchsympathikus, am Samenstrang oder den Hoden beim
Manne oder an den breiten Bändern, den Eileitern oder dem
Eierstock des Weibes auftreten.
214 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion
b) Die echten akzessorischen Nebennieren (Glandulae
suprarenales accessoriae).
Mit diesem Namen werden selten vorkommende abge-
sprengte Teile des Nebennierensystems bezeichnet, die wie
die Nebennieren selbst Rinden- und Marksubstanz enthalten,
wobei merkwürdigerweise manchmal die Marksubstanz die
äußere Lage bildet.
c) Das Nebenpankreas (Pankreaaccessoria)
unterhalb der Bauchspeicheldrüse liegend.
d) Die Paraganglien.
Man versteht darunter nach A. Kohn kleine, an ver-
schiedenen Stellen des Körpers liegende knötchenförmige Or-
A. carotıs
ext.
A. carotis
int,
Glomus
caroticum A. thyrecid
sup.
A. carotis
commun.
Glomus caroticum.
Abb. 4. Carotisdrūse nach Merkel „Anatomie des Menschen“.
gane, in denen Zellen auftreten, die man als akzessorisches
Nebennierenmark will ansprechen können. Dazu gehört die
Carotisdrüse (Glandula carotica, Paraganglion inter-
caroticum). Sie entspricht dem Mark der Nebenniere, hat
die Struktur eines Epithelkörpers und sitzt in einer Gabelung
der Carotis*) (siehe Abb. 4). Ferner die Steißdrüse (Glan-
dula coccygea oder Glomus coccygeum), die nach Jacob-
*) Unter Carotiden oder Arteriae carotides versteht man die beiden
großen Halsschlagadern, die das Blut nach dem Kopfe führen.
v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 215
son in Beziehung zum Nervus sympathicus steht. Dann die
Paraganglia lumbalia, die Zuckerkandl als Nebenorgane
des Nervus sympathicus bezeichnet. Sie liegen an der Aoarta
abdominalis und besitzen eine Vorliebe zu Chromsalzen, daher
auch chromaffines System genannt.
Wir wissen über alle diese Gebilde so viel wie nichts.
10. Die Milz (Lien).
Über ihre Lage vgl. Tafel II, Fig. 4. Sie steht nach
Landois in Beziehung zur Bildung und Zersetzung der roten
und bildet die weißen Blutkörperchen. Weiterhin enthält sie
Fermente und speichert Eisen auf. Es besteht auch eine
Nebenmilz (Lienae cessorius) von Haselnußgröße.
11. Das rote Knochenmark.
Es bildet ebenfalls nach Landois rote Blutkörperchen und
zwar bei Erwachsenen ausschließlich. Die Milz wirkt gegen
die Funktion des Knochenmarkes, während die Schilddrüse
dieses anregt.
12. Die Nieren.
Über ihre Lage vgl. Tafel II, Fig. 4, über ihre Form Tafel II,
Fig. 3. Nach Tigerstedt und Bergmann besitzen sie ein inneres
Sekret, das Renin, das eine blutdrucksteigernde Wirkung aus-
üben soll.
13. Die Lymphdrüsen.
Enthalten eine dem Adrenalin entgegenwirkende Substanz
das Lymphoganglin.
Damit haben wir die Organe, die für eine innere Sekretion
in Betracht kommen können, besprochen und es erübrigt sich,
nun noch einige Worte über ihre wechselseitige Wirkung
zu sagen. Wir dürfen heute etwa folgende Vorgänge an-
nehmen. Die Geschlechtsdrüsen wirken zur Mehrzahl der
übrigen Drüsen antagonistisch, besonders aber zur Thymus-
drüse, Schilddrüse, Epiphyse und Hypophyse. Die Neben-
nieren dagegen wirken mehr im Sinne der Geschlechtsdrüsen.
Die frühe Jugend wird durch die Thymusdrüse beherrscht.
Sie wird späterhin in gewissem Sinne von der Schilddrüse
abgelöst. Beide veranlassen zusammen mit der Hypophyse
das Wachstum des Körpers und unterdrücken die dem
Wachstum feindlichen Geschlechtsdrüsen. Tritt also Ge-
216 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion
schlechtsreife früher ein, so wird im allgemeinen das Körper-
wachstum mehr zurückbleiben. Tandler bemerkt, daß beim
Weibe im Allgemeinen die Pubertät früher eintritt als beim
Manne, daß es aber deshalb eine geringere Körpergröße er-
reicht. Peritz hat Zwerge mit Hypophysenextrakt behandelt
und sie so zum Wachsen gebracht. Dabei blieb aber die
Pubertätsdrüse in ihrer Entwicklung zurück. Wohl werden es
die Nebennieren sein, die die Thymusdrüse zurückbilden helfen
und so die Entwicklung der Geschlechtsdrüsen ermöglichen,
die wieder die Hormone der Hypophyse in ihrer, die Ver-
knöcherung hindernden, Tätigkeit hemmen und durch die Ver-
knöcherung das Wachstum abbrechen. Solange nämlich, wie
schon Kammerer betont, die Knorpelmassen im Skelett vor-
handen sind, kann dessen Wachstum weitergehen. Deshalb
ist z. B. auch die nordische Rasse groß gewachsen, aber ge-
schlechtlich spät reif und geistig weniger regsam. Deshalb
werden auch Kastraten, denen ja die Geschlechtsdrüsen fehlen,
sehr groß und da Hypophyse und Epiphyse den Fettansatz
begünstigen, auch mit stärkerer Fettbildung versehen. Wir
dürfen sogar heute behaupten, daß ein Teil unserer Rassen
sich aus wenigen, vielleicht 3—4 Stammrassen, nur durch
Verschiedenheiten der inneren Sekretion gebildet hat, worauf
wir später in besonderer Arbeit zurückkommen wollen. Aber
auch der Eintritt der Geburt und die Milchsekretion ist
durch die Drüsentätigkeit geregelt. Sowohl Hypophyse wie die
Milchdrüsen scheinen von einem Sekrete der Placenta (oder
des Fötus — dessen Thymus?) angeregt und zu stärkerer
Sekretion veranlaßt zu werden. Das Sekret der Hypophyse
erzeugt aber, wie. wir gesehen haben, Wehen und leitet so die
Geburt ein. Es ergibt sich also, daß die feine Abstimmung
der inneren Sekretion ganz wesentlich dazu beiträgt, ob sich.
der Körper normal oder wie er sich entwickelt. Kammerer
zeigt z. B, daß kurzbeinige Personen mit niedrigen Hüften
meist geschlechtlich frühreif sind, da gleichzeitig das Sekret
der Hypophyse gehemmt wurde und der Verknöcherungsprozeß
früher eintrat; daß weiterhin gewisse fettleibige Kinder
auf ein Überwuchern der Hypophyse und der Zirbeldrüse
schließen lassen und geschlechtlich zurückbleiben, ja
zum Eunuchoidismus (eine angeborene Unterentwicklung
der Keimdrüsen) neigen.
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Fig. 3. Fig. 4.
Tafel Il. Fig. 1. Schilddrüse a mit pyramidenförmigen Fortsatz b, (Schildknorpel des Kehl-
kopfes c, Zungenbein d). Fig. 2. Schilddrüse h von rückwärts (e Speiseröhre, f Luftröhre)
g Nebenschilddrüse. Fig. 3. Rechte Niere und Nebenniere a. Fig. 4. Lage von Niere (ren),
Milz (lien) Pankreas, Leberu.Magen insel Nach Merkel, „Anatomie des Menschen“,
Stelle der
Leber
Zum Aufsatz: Reitzenstein, Innere Sekretion.
Corpus pancr.
(Tuber omentale)
Fig. 2. a
Tafel III. Fig. 1. Pankreas. Fig. 2. Leber mit Gallenblase (a) und Vena cava (b).
(Nach Merkel, „Anatomie des Menschen«.) Zum Aufsatz: Reitzenstein, Innere Sekretion.
218 Müller-Braunschweig: Psychoanalyse und Moral
mit dem Ich verlieren. Sie werden unbewußt, und sie sind
der Beherrschung durch das Ich entzogen. Diesen wichtigen
Vorgang nennt die Psychoanalyse Verdrängung.
Die Psychoanalyse als Therapie besteht, kurz gesagt, darin,
diese verdrängten Regungen über den Weg der Bewußt-
machung wieder dem Ich und damit der Beherrschung zu-
zuführen. Es werden gleichzeitig damit die seelischen Energien,
die durch die Verdrängung als Hemmung innerhalb des see-
lischen Haushalts wirkten, diesem zu aktiver Verwendung wieder
bereitgestellt.
Diese wenigen Worte über die Psychoanalyse. Was wollen
wir nun für unser Thema unter Moral verstehen? Wir wollen
die seelische Tatsache darunter verstehen, daß der Mensch
sich Konventionen, Gesetzen, Maximen, Idealen unterwirft und
durch sie sein Handeln bestimmen läßt. Wir wollen dabei
unberücksichtigt lassen, inwieweit gesellschaftliche Gruppen,
Völker, Zeitalter eine geringere oder ‚größere Gleichartigkeit in
der Aufstellung solcher Ideale aufweisen, oder inwieweit nach
Gruppen, Völkern und Zeiten, ja nach Individuen, diese Ideale
auseinander gehen. Wir werden andrerseits aber in dem-
jenigen, der gegen irgend eine Moralvorschrift, sagen wir, die
einer Gesellschaftsgruppe, Protest erhebt, nicht etwa einen
Verneiner der Moral überhaupt sehen, sondern nur einen, der
anstelle der bekämpften moralischen Anschauung eine andre,
seine eigene setzen will.
Es genügt uns für unsre Betrachtung, daß bei aller Ver-
schiedenheit der Inhalte der Ideale der Gruppen und Zeiten,
ja der einzelnen Menschen, sie doch formal übereinstimmen,
in dem Sinne, daß sie sich überhaupt an irgendwelche Vor-
stellungen von dem, was nach ihrer Meinung sein sollte,
binden, und daß sie diesen Vorstellungen gemäß zu handeln
suchen.
Unter den Fragestellungen, die aus einer Beziehung der
beiden Gegenstände, der Psychoanalyse und der Moral, hervor-
gehen, soll uns hier folgende beschäftigen:
Was kann die Psychoanalyse als Psychologie über die
Moral als seelische Erscheinung, als psychologischen Unter-
suchungsgegenstand aussagen ?
Freud hat die Moral neben zwei andern Erscheinungen,
dem Ekel und der Scham, als einen der Dämme oder Wälle
Müller-Braunschweig: Psychoanalyse und Moral 219
bezeichnet, die vom Kinde unter Nachhilfe der Erziehung gegen
die primitiven Triebbetätigungen aufgeworfen werden. Er hat
diese Erscheinungen in Beziehung auf die Triebe Reaktions-
bildungen genannt. Es scheint, als wenn die Erziehung hier
nur etwas in der Anlage des Kindes Mitgegebenes zu berück-
sichtigen und allenfalls zu verstärken braucht, damit diese
Bildungen in Wirksamkeit treten. So scheinen bestimmte, für
das ganze spätere Leben maßgebende Charakterzüge, wie
Ordnungsliebe und Reinlichkeit, in direkter Beziehung zu jenen
primitiven Triebregungen der Kinder zu stehen, die wir Ex-
kretionstriebe nennen können. Sie scheinen reaktiv aus diesen
Trieben hervorgegangen in dem Sinne sowohl, daß die in
ihnen wirksamen Energien aus den Energien der primitiven
Triebe abgespalten werden, als auch in dem Sinne, daß die
Funktion dieser Energien sich nun im Gegensatze zur Richtung
der primitiven Triebe, im Sinne ihrer Bekämpfung, ihrer Ver-
meidung betätigt. Aus der ursprünglichen Lust des Kindes an
den Vorgängen der Exkretion wird nun Sinn für Sauberkeit
und Ordnung. Ähnlich vermag als Reaktionsbildung gegen
die primitive Angriffslust des Kindes, die sich bekanntermaßen
bis zu ansgesprochener Grausamkeit erweitern kann, eine
Tendenz zur Rücksichtnahme, zum schonenden Mitgefühl
zustandekommen. Diese Beispiele für viele und für die in
Wirklichkeit differenzierten und verwickelteren Vorgänge. Das
Gemeinsame bei ihnen ist die Entstehung moralischer Ten-
denzen als reaktiv aus denjenigen Triebrichtungen, deren
Gegensatz sie bilden, und deren Beschränkung oder Über-
windung sie zu leisten haben.
Ich möchte hier, ehe ich fortfahre, zwei Einwendungen
berühren. Man könnte sagen, daß es sich bei den Er-
scheinungen der Ordnungsliebe und Reinlichkeit eher oder
ebenso sehr um ästhetische als moralische Ideale handle. Der
Einwand ist für unsere Zwecke aber wohl unerheblich. Dann
könnte man einwerfen, daß es sich für unser Thema doch
nur um Ideale und nicht um Charakterzüge handeln dürfe.
Wenn man aber zugibt, daß die Ideale lediglich in Forde-
rungen umgewandelte habituelle Tendenzen sind, so wird
man, auch wenn man in dem genetischen Zusammenhang
zwischen diesen habituellen Tendenzen und den gleichsam auf
einer anderen psychischen Ebene befindlichen idealen Forde-
15*
220 Müller-Braunschweig: Psychoanalyse und Moral
rungen ein besonderes Problem sehen mag, dessen Erörte-
rung in unserem Zusammenhange unnötig finden.
Einen anderen Gesichtspunkt neben dem Begriffe der
Reaktionsbildung bietet der der Sublimierung. Unter Sub-
limierung versteht die Psychoanalyse die Abwendung der
Energie eines Triebes von dessen eigentlichem primitiven Ziele
und deren Hinwendung zu einem sozial höherwertigen Ziele.
Während die Reaktionsbildung mehr vom Prinzip des Gegen-
satzes, der Zielumkehrung beherrscht ist, — man denke an
die Umwandlung der primitiven Lust des kleinen Kindes am
Schmutz in die Liebe zur Reinlichkeit —, so ist die Subli-
mierung mehr gekennzeichnet durch die Zielveredlung, wie sie
etwa in der Verwandlung eben jener Kleinkinderlust in die
Liebe des Erwachsenen zum Gelde zutagetritt*).. Während
es sich hier aber um die Erzeugung eines außermoralischen
Phänomens handelt, ist es für unsere Zwecke geeignet, auf
ein Sublimierungsprodukt hinzuweisen, das von altersher durch
den Sprachgebrauch, durch Kunst, Sitte und Religion als ein
solches beurteilt worden ist. Ich meine die Entstehung aller
höheren Liebe, „Nächstenliebe“, aller den Egoismus über-
windenden Rücksichtnahme auf den Andern aus dem primitiven
Sexualtrieb. Wir werden hier natürlich nicht behaupten, daß
die Nächstenliebe und die sie vertretende moralische Forderung
aus dieser einzigen Quelle stamme, sondern es handelt sich
hier wie überall um komplexe, mehrfach determinierte Phäno-
mene. Und so können wir gleich daran erinnern, daß wir
oben die Rücksichtnahme auf den Andern als eine Reaktions-
bildung der infantilen Angriffs- und Grausamkeitstendenzen
beschrieben haben, und können darauf hinweisen, wie sich zu
ein und demselben Ergebnis Strebungen gegensätzlichster Her-
kunft vereinigen können.
Ein weiterer Gesichtspunkt, den die Psychoanalyse
neben den Begriffen der Reaktionsbildung und Sublimierung
*) Über die Wirksamkeit der Reaktionsbildung und Sublimierung in
Beziehung zu der Verwertung von Energien der Exkretionstriebe bei der
Erzeugung moralisch wertvoller Charakterzüge wie Ordnungsliebe, Ent-
schlossenheit, Tüchtigkeit, Verläßlichkeit, Gründlichkeit, Sorgsamkeit, siehe
die — freilich in andrer Absicht als unser Aufsatz geschriebene — feine
und reiche Studie von Ernest Jones: „Über analerotische Charakterzüge“.
(Internat. Zeitschr. für ärztl. Psychoanalyse 1919, Heft 2.)
Müller-Braunschweig: Psychoanalyse und Moral 221
zur Frage der Genese der Moral beizustellen hat, ist gegeben
in der Beziehung der Moral zum sogenannten Narzissmus.*)
Ich muß hier ein wenig ausholen. Wenn die Psychoanalyse
von Narzissmus spricht, so meint sie damit nicht etwa eine
sexuelle Abnormität, für die dieser Terminus geprägt worden
ist, sondern, einmal eine normale allgemein menschliche Teil-
erscheinung der Libidokonstitution wie andererseits eine nor-
male und durchgängige Phase der Libido-Entwicklung. Wir
alle haben in unserer Kindheit, ehe wir es lernen, andere zu
lieben (in der Sprache der Psychoanalyse: unsere Libido auf
ein Objekt zu richten) eine Phase durchzumachen, wo wir fast
ausschließlich uns selbst lieben, wo unsere Libido auf uns
selbst, auf unser eigenes Ich gerichtet ist. Diese Entwicklungs-
phase nennt die Psychoanalyse die Phase des Narzissmus.
Aber abgesehen vom Narzissmus als Phase versteht sie unter
ihm auch einen dauernden Tatbestand. In individuell ver-
schiedenem Grade besteht diese Richtung der Libido auf unser
Ich bei allen Menschen das ganze Leben hindurch notwendiger-
weise fort, und die Phase des Narzissmus ist nur dadurch
gekennzeichnet, daß diese Libidoeinstellung hier auffällig vor-
herrscht, weil die Einstellung der Libido auf das Objekt neben
ihr noch nicht genügend entwickelt und zur Geltung ge-
kommen ist.
Wie nun kann das Phänomen der Moral mit dem Nar-
zissmus in Verbindung gebracht werden?
Im Menschen besteht eine mehr oder minder große Ten-
denz, die Phase des Narzissmus festzuhalten. Nun bringt aber
das fortschreitende Leben eine Fülle von Erlebnissen, welche
geeignet sind, den Narzissmus, diesen in der Liebe zu sich
selbst wurzelnden Frieden zu stören. Solche Erlebnisse sind
zum Beispiel Eindrücke von Leistungen und Fähigkeiten andrer
Kinder im Zusammenhang mit dem Wunsche, daß man das
Gleiche zu leisten vermöchte. Aus solchen, das Selbstbewußt-
sein herabmindernden Vergleichen, aus Fehlschlägen bei irgend-
welchen Versuchen, sich mit der Außenwelt zu messen, bei
Fehlschlägen und Enttäuschungen insbesondere auf dem Gebiet
der Liebe (im Verhältnis zu Eltern, Erziehern, Freunden und
andern ‚geliebten Personen) entsteht einerseits eine Störung
*) Liebe zum eigenen Körper.
222 , Müller-Braunschweig: Psychoanalyse und Moral
des primitiven Narzissmus und andrerseits ein seelisches Pro-
dukt, das den Zweck hat, diese Störung wieder auszugleichen,
nämlich die Bildung einer idealen Vorstellung des Ichs, des
von Freud sogenannten Ideal-Ichs. In diesem Ideal-Ich liebt
sich daß Individuum so, wie es sein möchte, und erweitert
und sichert damit zugleich den primitiven Narzissmus, in wel-
chem es sich noch ungestört so liebte, wie es wirklich war.
Mit dieser Idealbildung ist eine für das menschliche
Seelenleben hochbedeutsame Spaltung gegeben. Das Ich zer-
fällt nunmehr in zwei Gruppen von Strebungen, in das Ideal-
Ich und, wie es Freud nennt, das Aktual-Ich, zwei Gruppen,
die in einer mehr oder minder starken Spannung, zu einander
stehen. In diesem Zusammenhange findet auch die wichtige
moralische Produktion, die wir Gewissen nennen, einen Platz.
Das Gewissen erscheint hier gleichsam als die Zensur, die
das ldeal-Ich über das Aktual-Ich ausübt. Alles das am Aktual-
Ich an Eigenschaften und Strebungen, das dem Ideal-Ich nicht
gemäß ist, wird von der Zensur, dem Gewissen, verworfen.
Wir haben also ausgeführt, wie aus dem Bestreben, die
aus dem primitiven Narzissmus stammende Befriedigung zu
sichern, die Produktion der Idealbildung hervorgegangen ist,
und haben, da diese Idealbildung in einem wesentlichen Teile
mit der Bildung moralischer Urteile zusammenfällt, damit zu-
gleich den Zusammenhang von Moral und Narzissmus aufgezeigt.
Nun können wir aber neben dem Bestreben, die Befriedi-
gung des Narzissmus zu sichern, noch auf andere die Ideal-
bildung verursachenden Momente hinweisen, die freilich immer
eng mit jenem Bestreben zusammenhängen, aber doch ge-
sondert von ihm betrachtet werden können. Da ist es ins-
besondere der Einfluß der Eltern, Erzieher und Freunde, der
für die Idealbildung wirksam wird, und zwar nicht nur in
dem Sinne, als er das Wert- und Leistungsbewußtsein und
damit den Narzissmus stört, und dadurch zu seelischen Aus-
gleichsproduktionen anregt, sondern einmal durch einen Vor-
gang, den die Psychoanalyse Identifizierung benennt, ein
andermal durch eine der Libidokonstitution a priori anhaftende
Tendenz zur Unterwerfung.
Im ersten Sinne bildet das Kind sein Ideal von sich selbst
nach den Vorbildern seiner Eltern, Erzieher oder Freunde da-
durch, daß es der automatischen Tendenz der Indentifizierung
Müller-Braunschweig: Psychoanalyse und Moral 223
mit diesen Vorbildern folgt. In seiner Idealvorstellung von
sich selbst handelt es nun wie jene Personen, werden die
geliebten Objekte, ihm selbst zum größten Teile unbewußt,
zur korrigierenden, zensurierenden Macht gegenüber seinem
übrigen und eigentlichen Wesen.
Im zweiten Sinne richtet sich die Idealbildung des Kindes
nach den Geboten und Anordnungen der Erzieher und anderer
Personen, die auf es Einfluß haben, aus einer Tendenz, die
wir als normale Teilerscheinung jeder Libidokonstitution be-
trachten müssen, aus einer Tendenz zur Unterwerfung unter
das Objekt. Es besteht bei Jedem eine mehr oder minder
starke Lust an der Unterwerfung unter einen Andern, und diese
Lust ist ebensosehr eine Seite, eine Form, eine Teilerscheinung
der Libido wie ihr Gegenteil, die Lust, den Andern zu unter-
werfen. Die Psychoanalyse hat diese beiden zueinandergehö-
renden Strebungen, die der aktiven und passiven Unterwerfungs-
lust, die sadistische und masochistische Komponente der Libido
genannt. Im moralischen Akte ist der Mensch Unterwer-
fender und Unterworfener in einer Person, er spielt
gleichsam in seiner Person sowohl den Erzieher, dem er sich
damals unterworfen hat, wie das Kind, das sich jenem unter-
warf; beide Komponenten, die sadistische wie die masochistische,
sind im moralischen Akte zugleich in ihm lebendig.
Bei dieser Betrachtung des Zusammenhanges der Ideal-
bildung mit der Beziehung des Kindes zu den beeinflussenden
Personen gewinnt das Phänomen des Gewissens an Klarheit.
Die Stimme des Gewissens erscheint hier als ein Niederschlag
der Stimme, jener beeinflussenden Personen, besonders der
Eltern und Erzieher. Freud ist auf diesen Zusammenhang be-
sonders aufmerksam geworden durch die Betrachtung einer
pathologischen Vergrößerung und Verzerrung dieser Stimme des
Gewissens, wie sie in der Paranoia im Verfolgungswahn auftritt.
Die Stimmen, die der Paranoiker hört, und die ihn fortwährend
kritisieren und korrigieren, sind die wiederum nach außen pro-
jizierten, durch die Verwandlung in die innere Zensur hindurch
gegangenen ehemaligen Stimmen der Eltern und Erzieher.
Wenn wir kurz wiederholen wollen, was uns bisher die
Psychoanalyse über die Genese der Moral zu sagen wußte, so
hat sie hingewiesen: 1. auf die Moral als Reaktionsbildung-
und Sublimierungsprodukt aus primitiven Trieben; 2. auf den
224 Müller-Braunschweig: Psychoanalyse und Moral
Zusammenhang der Moral mit dem Narzissmus und der nar-
zisstischen Idealbildung.
Diese Idealbildung fanden wir einmal hervorgegangen aus
dem Bestreben, die Befriedigung aus dem primären Narzissmus
durch dessen Erweiterung zu sichern, weiterhin aus den Iden-
tifizierungsstreben und zuletzt aus der Unterwerfungslust gegen-
über den beeinflussenden Personen der Kindheit.
Wir müssen uns nun freilich zugestehen, daß das, was wir
über die Psychogenese der Moral zu sagen wußten, nur den
Kulturmenschen, den Menschen der Geschichte betraf. Es drängt
sich uns die Frage auf: wie haben wir uns die Urgeschichte
der Moral vorzustellen, wie ist so etwas wie Moral im Laufe
der Früh- oder Vorgeschichte des Menschen überhaupt ins
Leben getreten? Diese Frage geht scheinbar über die Kompetenz
der Psychoanalyse, die sich mit der Zergliederung des gegen-
wärtigen Einzelmenschen beschäftigt, weit hinaus. Immerhin
hat es diese Wissenschaft nicht ohne einen bedeutsamen Erfolg
versucht, das, was sie aın Einzelindividuum der Gegenwart ge-
funden hat, auf Erscheinungen anzuwenden, die gleichsam aus
der Urgeschichte der Menschheit in die Gegenwart hineinragen,
nämlich auf die Sitten primitiver Völker, von denen man an-
nehmen darf, daß sie, wenn auch in vielfach entstellter Form,
noch vieles vom Seelenleben des vorgeschichtlichen Menschen
in sich enthalten. Freud hat in seinem Buche „Totem und
Tabu“ mit Hilfe der psychoanalytischen Ergebnisse die sozial- .
religiösen Systeme des Totemismus und des Tabuismus aufzu-
hellen versucht. Wir können aus diesen bedeutsamen Unter-
suchungen, ohne auf die Beweisführung einzugehen, nur das
für unsern Zweck Wichtige herausheben.
Diese primitiven Völker unterwerfen sich einem ausge-
dehnten System von Vorschriften, die sie peinlich zu befolgen
suchen, und deren Übertretung vom ganzen Stamme mit den
schärfsten Strafen gesühnt wird. Bestimmte Tiere dürfen nicht
getötet, bestimmte Dinge nicht berührt werden, bestimmte Per-
sonen müssen scheu gemieden werden. Erst die analytische
Deutung hat Licht in diese eigentümlichen Gebote und Verbote
gebracht. Sie hat gezeigt, daß sie Entwicklungsformen von
weit zurückliegenden ursprünglichen Vorschriften sind, die sich
alle um zwei Hauptgebote herumgruppieren: diese beiden Haupt-
gebote — — für den Mann bestimmt — — sind: das Verbot des
Müller-Braunschweig: Psychoanalyse und Moral 225
Vatermordes und das Verbot, die Mutter geschlechtlich zu
besitzen.
Diese wichtige Entdeckung zu machen, war die Psycho-
analyse nur befähigt durch die Funde, die sie bei der analy-
tischen Erforschung der Seele des Gegenwartsmenschen gemacht
hatte. Bei dieser hatte sie durchgängig gefunden, daß wir alle-
samt eine große Reihe antikultureller Tendenzen beherbergen,
die gemeinhin für die Selbsterkenntnis nicht ohne weiteres er-
faßbar sind, sondern erst durch die psychoanalytische Technik
dem Bewußtsein zugänglich gemacht werden können. Unter
diesen beiden Geschlechtern zugehörenden Tendenzen ragen
nun besonders zwei, die dem männlichen Geschlechte eigen
sind, hervor, die Tendenz, den Vater zu beseitigen und die
Mutter zu besitzen.
Wenn wir diese Entdeckung auf unser Thema anwenden,
so mögen wir zu der Überzeugung kommen, daß es in der
Hauptsache diese beiden Verbote sind, mit welchen die Er-
scheinung der Moral im Laufe der Urgeschichte der Menschen
eingesetzt hat.
Aus dem Kampfe des Vaters und des Sohnes um die
Mutter mag sich die moralische Spannung letzten Endes her-
leiten. Der Vater verbietet dem Sohne, daß er die Mutter besitzt.
Er vertreibt den Sohn. Die vertriebenen Söhne vereinigen sich,
kehren zurück und erschlagen den Vater. Im Laufe langer
Entwicklung kommt es zur Versöhnung zwischen Vater und
Sohn. Die Söhne, schon um sich gegen das gleiche Schicksal
zu sichern, das sie dem Vater bereitet hatten und wieder be-
reiten möchten, verzichten auf die Mutter, der Vater verzichtet
auf die Vertreibung des Sohnes. Anstelle des Kampfes tritt
die religiös-soziale Bindung, wie sie in den Systemen des Tote-
mismus und Tabuismus noch heute wirksam ist, und in ihr
liegt zugleich der Keim eines sich nach und nach differen-
zierenden moralischen Wesens.
Wir müssen hier, da die beiden Tendenzen den Vater zu
beseitigen und die Mutter zu besitzen, allein das männliche
Geschlecht betreffen, anfügen, daß im Unbewußten der Frau
die ganz entsprechenden Tendenzen durch die Analyse zutage
gefördert werden können; der Wunsch, die Mutter zu beseitigen
und den Vater zu besitzen. In der historischen Folge der
Stammesentwicklung aber scheint der Kampf der Männer das
226 Müller-Braunschweig: Psychoanalyse und Moral
Primäre zu sein, und damit rechtfertigt sich die Hervorhebung
der männlichen Tendenzen.
In diesem Zusammenhange ist auch auf das oft überstarke
Schuldgefühl hinzuweisen, das in den Analysen der Nervösen
zutage tritt. Es hat sich erwiesen, daß dieses, so sehr es im
Bewußtsein des Analysierten mit Vorwürfen wegen leichterer
Verstöße gegen irgendwelche moralischen Gebote verknüpft
scheint, im Grunde, im Unbewußten, noch mit jenen auf die
Eltern gerichteten inzestuösen und feindseligen Tendenzen
verwurzelt ist.
— Ich möchte hier noch kurz hinzufügen, daß man gegen
diese Zurückführung der Moral auf primitive sexuelle Verhält-
nisse nicht recht einwenden kann, daß sie einseitig sei und
etwa die sozialen Verhältnisse -vernachlässige. Sicher läßt sich
auch die Entwicklung der Moral an der Linie der sozialen und
Machtverhältnisse verfolgen, und wir haben in der Psychogenese
der Moral des Gegenwartsmenschen diese Beziehung selber
bereits gestreift, indem wir auf die Bedeutung der Konkurrenz
des Kindes mit seinen Altersgenossen hingewiesen haben.
Hier kehrt sozusagen in der Einzelgeschichte wieder, was auch
in der Stammesgeschichte seine Bedeutung hat, aber andrer-
seits ist es auch wichtig zu bedenken, wie die Entstehung der
sozialen Bindungen mit der Entwicklung der sexuellen Verhält-
nisse aufs engste verknüpft ist. So werden wir mit Recht
annehmen, daß gerade die Vereinigung der vertriebenen Söhne
an der Gründung des Männerstaates wesentlich beteiligt ist.
Die Vereinigung der Söhne aber geschah aus sexuellen Mo-
tiven, aus dem Kampfe um die Mutter.
Ehe wir schließen, wollen wir noch bemerken, daß es
nicht unsre Absicht war, in der Aufstellung dessen, was die
Psychoanalyse für die Frage der Entstehungsbedingungen der
Moral beizutragen hat, vollständig zu sein*), und daß die auf-
gezeigten Gesichtspunkte nicht eigentlich ausgeführt, sondern
nur im Umriß vorgetragen werden sollten.
Dann möchten wir zum Schluß noch darauf hinweisen,
daß die Beziehung, die wir zwischen den beiden Gegenständen,
+) Es ist z. B. über die aus dem Studium der Zwangsneurose ge-
wonnenen Einsichten nichts gesagt worden, desgleichen nichts über die
Beziehungen von Moral und Staat zur homosexuellen Komponente der
Libido.
Müller-Braunschweig: Psychoanalyse und Moral 227
Psychoanalyse und Moral hergestellt haben, nur eine unter
einer Reihe möglicher Beziehungen darstellt:
Unsere Fragestellung lautete: Was hat die Psychoanalyse
als Wissenschaft über die Moral als ihren Untersuchungs-
gegenstand auszusagen? Wir könnten nun zum Beispiel den
Spieß umkehren und fragen: Was hat die Moral über die
Psychoanalyse zu sagen? Auch bei dieser Fragestellung
würden wir die Moral in dem skizzierten formalen Sinne fest-
halten.
Oder wir könnten eine andre Frage aufwerfen, eine Frage,
die bisher gegenüber allen Versuchen, Kulturerscheinungen wie
Kunst, Religion, Sittlichkeit und Staat in genetischer Hinsicht
zu untersuchen, aufgetaucht ist: ob und wie weit eine solche
Untersuchung etwa zersetzend auf die Moral und ihren innern
Gehalt und Wert einwirke.
Diese aber und andre Fragen würden umfassende ge-
sonderte Untersuchungen und andre methodische Einstellungen
erfordern.
Literatur: Freud, Vorlesungen zur Einführung in den Ps., I. und
II. Teil. — Freud, 3 Abhandlungen zur Sexualtheorie. 1915, S. 41 f, 78 f. —
Freud, Zwangshandlungen und Religionsübung, Charakter und Analerotik,
beides in „Kleine Schriften zur Neurosenlehre“ Bd. lII. — Freud, Zur Ein-
führung des Narzissmus „Kleine Schriften zur Neurosenlehre“ Bd. IV. —
Freud, Totem und Tabu. — Reik, D. Pubertätsriten der Wilden, in „Prob-
leme der Religionspsychologie“. — Jones, Über analerotische Charakter-
züge (siehe oben Note). — Ferenczi, Ontogenese des Geldinteresses.
I. Ztschr. f. &. Ps. 1914, Heft 6.
228 Die Abtreibung
DIE ABTREIBUNG.
Von Justizrat Dr. JOHANNES WERTHAUER, Berlin.
D* gesamte Strafrecht wird wegen der Mängel seiner mora-
lischen Begründung, seiner politischen Notwendigkeit und
seiner praktischen Wirkung von verschiedenen Richtungen be-
kämpft, welche jedoch nicht als herrschend bezeichnet werden
können. Es sei in dieser Hinsicht Bezug genommen auf die
letzte von mir veröffentlichte Schrift „Strafunrecht“.
Wenn auch unbewußt, liegt den Wünschen auf Beseitigung
bestimmter einzelner Strafrechtsvorschriften, wie dem Verbot
der Gotteslästerung, der Majestätsbeleidigung, des Ehebruchs,
der Abtreibung, in letzter Wurzel all das zu Grunde, was gegen
das Strafrecht selbst sich einwenden läßt, von welchem Goethe
bemerkte, daß es sich wie ein ewiges Unrecht fortpflanze.
Gleichwohl soll auf jene wissenschaftlich-philosophischen
Erwägungen nicht eingegangen werden, sondern auf die Rück-
sichten, welche praktisch gegen die Abtreibungsvor-
schriften sprechen.
Man geht davon aus, daß im Interesse der Volksver-
mehrung die Abtreibung verhütet werden müsse, ferner im
Interesse der Gesundheit der durch Körperverletzung bedrohten
Mutter.
Beides ist, wie die Praxis zeigt, unrichtig.
Die Abtreibung wird vorgenommen zur Vermeidung gesell-
schaftlicher Ächtung und wirtschaftlicher Not. Diese beiden
Momente sind derartig überwiegend, daß keine, auch noch so
drakonische Gesetzesbestimmung irgendetwas als Gegengewicht
bieten könnte. Wer deshalb die Abtreibung aus obigen Er-
wägungen heraus verhüten will, müßte die Ursachen beseitigen,
nämlich die gesellschaftliche Ächtung und die wirtschaft-
liche Not. Beides ist unmöglich. Der Makel der unehelichen
Geburt läßt sich durch kein noch so schönes Mittel beseitigen,
sondern nur durch die Gleichstellung der unehelichen und
ehelichen Geburt. Da aber die Praxis aus 4 nicht 5 machen
kann und stets ein Unterschied zwischen unehelicher und ehe-
licher Geburt bestehen wird, ferner die Natur von der unehe-
lichen Geburt niemals lassen wird, würde sich dieser Unter-
schied nur beseitigen lassen durch Abschaffung der ehe-
lichen Geburt, welche eine positiv-menschliche Einrichtung
Die Abtreibung 229
ist, also durch Abschaffung der Ehe. Die Ehe aber ist ein
reines Ergebnis der kapitalistischen Gesellschaftsordnung,
welche, um sich der Gesellschaftspflicht der Verpflegung der
Kinder zu entziehen, die Ehe braucht, um einen bestimmten
Vater mit jener auf ihn abgewälzten Pflicht zu belegen.
Ebensowenig wie die kapitalistische Gesellschafts-
ordnung bei Gelegenheit dieser Spezialfrage, die sich aus
ihr ergibt, beseitigt werden kann, ebenso kann auch natürlich
nicht ein Gesetz zur Abschaffung der wirtschaftlichen Not
gegeben werden.
Die beiden gewaltigen Antriebsmomente der Abtreibung
werden deshalb stets in ihren Erfolgen sich zeigen. Die Volks-
vermehrung wird viel weniger durch die Abtreibung bedroht,
als durch die Mittel zur Verhütung der Empfängnis. Diese Mittel
aber können, da sie der Natur abgelauscht sind, überhaupt
nicht beseitigt werden.
Eirie Verminderung der Abtreibung würde deshalb durch
eine Vermehrung der Verhütung der Empfängnis sofort bei
Personen hervorgerufen, welche die Folgen ihrer Handlung zu
überlegen in der Lage sind.
Bei den anderen aber wird stets aus den obigen Gründen
die Abtreibung einsetzen.
Das Volk läßt sich durch Verminderung weder der Ver-
hütung der Empfängnis noch der Abtreibung vermehren. Die-
jenigen, welche deshalb sich für berufen glauben, der Natur
in das Handwerk zu pfuschen und die Vermehrung des Volkes
durch positive Anordnungen herbeizuführen glauben, sollen
sich mit der Frage der gesellschaftlichen Ächtung der unehe-
lichen Geburt und der wirtschaftlichen Not der unehelichen
Mutter beschäftigen. Sie sollen die Finger von dem Strafrecht
lassen, weil sie unfähig sind, zu erkennen, daß das Strafrecht
die Folge gegebener Zustände ist, denen es automatisch
folgt, ohne durch seine Existenz das Geringste an diesen Zu-
ständen ändern zu können.
Statistik und Praxis lehren deshalb, daß die Abtreibungs-
kurve, mit der gesellschaftlichen Anschauung und wirtschaft-
lichen Notlage, unbekümmert um jeweilige Strafbestimmungen,
steigt und fällt.
Noch schlimmer aber ist es mit dem zweiten Gesichtspunkt
bestellt, welcher im Interesse der Gesundheit der Mutter,
230 Die Abtreibung
also indirekt auch wieder des ganzen Volkes, die Abtreibung
verbieten will. Gerade das Verbot steigert das Entgelt für die
Abtreibung, da die strafrechtliche Risikoprämie den Gestehungs-
kosten hinzugerechnet werden muß. Derartige Geschäfte aber
machen nur minderwertige Personen, welche auch auf dem von
ihnen gewerblich ergriffenen Abtreibungsberufe als minder-
wertig in der Regel sich zeigen. Es wird, und zwar nur in-
folge des Verbotes, die Abtreibung in die Hände heimlicher,
untergeordneter, unverantwortlicher Personen gelegt, welche in
der Tat der Mutter oft dauerndes Siechtum zufügen und da-
durch auch für die Zukunft die Volksvermehrung verhindern.
Das sonst vollständig wirkungslose Verbot hat deshalb die
eine unglückliche Folge, daß die Abtreibung zu einer besonders
gefährdeten gemacht wird. Gerade das Interesse an der Er-
haltung der Volksgesundheit zwingt deshalb zur Abschaffung
des Verbotes der Abtreibung, wenn das Verbot aus anderen
Gründen überhaupt unbedingt nötig wäre.
Es ist deshalb in der Tat die einzige Rechtfertigung
für das Verbot der Abtreibung in der Erwägung zu suchen, daß
nach allgemeinem Sittengesetz der Angriff gegen jedes Leben
abgelehnt werden muß, und wenn überhaupt ein Strafgesetz
einen Sinn haben soll, der Angriff gegen das Leben mit Straf-
sanktion versehen werden muß.
Es spitzt sich deshalb die Frage des Abtreibungsverbotes
in Wirklichkeit auf diesen Gesichtspunkt zu, wenn man die
heuchlerischen Erwägungen ausgeräumt hat, welche man an-
geblich religiösen, nationalen, kapitalistischen, sozialistischen,
patriotischen, ethischen, sanitären, gewerblichen Meinungen
entnommen hat.
Es ist auch ohne weiteres zuzugeben, daß der Satz „das
Leben ist der Güter höchstes nicht“ im Strafgesetz keine Be-
rücksichtigung finden darf, da, wie angegeben, jedes Straf-
gesetz seine Bedeutung verliert, wenn es nicht einen Schutz
des Lebeus und zwar rückhaltlos unter allen Umständen
bietet.
Eine andere Einschränkung aber ergibt sich daraus, daß
wir unter Leben nur das Ichbewußtsein der Gesamtpersönlich-
keit verstehen dürfen. Es ist zweifellos, daß man unter Leben
auch die organische Veränderung jeder einzelnen Zelle oder
jedes einzelnen Zellensystems verstehen könnte, so daß nach
Die Abtreibung 231
dem Aufhören des zusammengefaßten Zentrallebens,
also des Ichbewußtseins, diese einzelnen Zellen und Zellensysteme
ihr organisches Leben noch weiter führen. Der Arm am Körper
ebenso wie jeder Teil der Leiche, führt insoweit ein eigenes
Leben, ohne daß jedoch jemand die Beseitigung des Armes
oder die gewaltsame Veränderung an einer Leiche vor dem
definitiven Zerfall der Leiche als Beseitigung eines Lebens
anspricht.
Ebenso ist der Embryo ein Körperteil der Mutter, bis er
ein eigenes zentrales Leben, ein eigenes Ich, bildet, also bis
zu der Trennung von der Mutter.
Solange körperliche Ernährung, Blutlauf, ihn als Teil des
Körpers der Mutter leben lassen, solange bildet er einen
Körperteil der Mutter, und der Angriff gegen seine Existenz
ist nicht ein Angriff gegen das Leben, sondern gegen einen
Körperteil der Mutter.
Der Schutz des Lebens jeder Person ist deshalb nicht
auf den Embryo anzuwenden. Der Embryo steht nur unter
dem Schutz der Körperteile eines jeden Lebenden, wie das
Strafrecht ihn auch anderen Körperteilen je nach ihrer Wichtig-
keit zugute kommen läßt.
Daraus folgt aber, daß die freie Herrschaft des Menschen
über seinen Körper (Selbstmord) und über Teile seines Körpers
(Operation) seinem eigenen Verantwortungsgefühl überlassen
bleiben muß, soweit nicht andere Bestimmungen (strafbare
Militär-Selbstverstümmelung) dem entgegentreten.
Es ist deshalb auch von diesem Gesichtspunkt aus keine
Notwendigkeit gegeben, eine Abtreibungsstrafe im Falle des
unbeeinflußten freien, reifen und klar vorliegenden
Willens der über ihren Körper frei disponierenden Frau
aufrecht zu erhalten.
Dadurch ergibt sich zugleich, daß Eingriffe ohne den
Willen der Berechtigten als schwere Körperverletzung geahndet
werden, und daß ärztliche Behandlung ohne den freien Willen
der Frau oder der Ergänzung durch den Willen des gesetz-
lichen Vertreters unzulässig sind. Es ist selbstverständlich,
daß bezüglich der freien Verfügungsgewalt nicht positiv-recht-
liche zivile Einschränkung wie Zustimmung des Ehegatten und
dergleichen in Frage kommen können, weil dies mit dem
natürlichen, freien Willen nichts zu tun hat und derartige Zu-
232 Die Abtreibung
stimmungen nur auf vermögens-rechtlichem Gebiete — leider —
zulässig sind.
In der Praxis wird jetzt schon meist von einsichtigen
Richtern eine ungewöhnlich geringfügige Strafe den armen
Müttern auferlegt, weil die Richter ein Verständnis für das
Allzumenschliche meist haben. Sehr töricht dagegen ist, wenn
man glaubt, die weisen Fräuen müßten besonders scharf
bestraft werden, um dadurch die Abtreibung einzudämmen,
weil auch deren Existenz sich lediglich nach dem ewigen
Gesetz, daß das Angebot der Nachfrage folgt, regelt. Die
sogenannten scharfen Zuchthausstrafen für gewerbsmäßige Ab-
treiberinnen nehmen deshalb ebenso ab, wie die geschärfte
Strafung der peinlichen Halsgerichtsordnung der modernen
Empfindung nicht standhalten kann.
Je mehr deshalb durch Wegfall der Abtreibungsvor-
schrift der medizinische Eingriff den berufenen Medizinern
überlassen wird, umsomehr fällt die Gefahr desselben weg, da
gerade dann auch die Haftung für Kunstfehler eintritt.
Unter den Tausenden von Abtreibungsanklagen, die mir
durch die Hände gegangen sind, ist nicht eine einzige, deren
vollständige Überflüssigkeit nicht aus ihrem Inhalt sicher er-
kennbar gewesen wäre. Die wirklich eintretenden Strafen der
heutigen Vorschrift beweisen deshalb schon die Unrichtigkeit
der Vorschrift selbst.
Ihre Beseitigung kann jedoch nur von einer geläuterten,
wissenschaftlichen, medizinischen, juristischen, volkswirtschaft-
lichen Erkenntnis erwartet werden.
Zu dieser ist angesichts der jetzigen Reaktion auf
dem Rechtsgebiete, welche weit über die Zustände von 1850
zurückgehen, nichts zu erhoffen. Solange Bierzimpfel, Professor,
Student und Philister in Deutschland mehr zu sagen haben
als Goethe und Boelsche, darf auch von einer Verbesserung
des Strafrechts nichts erwartet werden.
=
Geschlecht und Gesellschaft
Neue Folge X, 7
Ampulla recti rn
Corpus cavernosum
Vesicula seminalis penis (durehschnitten ı
M. levator anı —
f Gland, M.
Prostata bulbo- bulbo-
urethrahs cavernosus
(€ owperi
Fig. 1.
om
Infond
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c é a K -
diy A.
( Appendix '
_vesiculosa `
. (Morgagni).
Gi Ampulla-
tubae
%
Isthmus
tubae .
Fig. 2.
Tafel I. Fig. 1. Männliche Geschlechtsorgane. Fig. 2. Weibliche Geschlechtsorgane.
(Nach Corning topogr. Anatomie Bergmann, Wiesbaden ) Zum Aufs.: Reitzenstein Innere Sekretion.
Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt 233
GESETZLICHE FREIGABE DER FREIWILLIGEN
KÜNSTLICHEN FRÜHGEBURT.
Von Professor Dr. med. KAFEMANN, Königsberg i. Pr.
(Schluß.)
FR Landbesitzer haben mir versichert, vor dem Kriege
150—200000 Mk. besessen und mit diesem Vermögen sich
reich gefühlt zu haben, heute dagegen Millionen zu besitzen.
Und um welche Summen — es handelt sich um mindestens
100 Milliarden — sich die neuen Hausbesitzer bereichern
werden, wird der in Lumpen gekleidete und kümmerlich er-
nährte Mittelstand (die sog. Intelligenz) mit Schrecken in den
nächsten Jahren zu erfahren Gelegenheit haben. „Wir müssen
hoffen, daß im Himmel den Tapferen die Erkenntnis verborgen
bleibt, daß sie — (die gefallenen Soldaten) umsonst gestorben
sind.“ Umsonst? Verehrter englischer Herr Kanzelredner?
Für den schmählich erworbenen Reichtum zahlloser listiger
Händler sind sie gestorben. Für Schieber, Spekulanten und
Gauner! Auf sie -häuft der Staat alle Ehren, behütet, schont,
befördert sie; den Tod aber verfügt er über die armen ver-
führten Jungen, die jungen braven Reservisten. In den ersten
Tagen des August zog ein berühmtes Regiment ins Feld. Ernst,
mit gesammelter Kraft und gebändigter Erregung. Ein junges
Weib, halb Kind, begleitete einen jugendlichen Soldaten, dem
so machtvoll die Tränen aus den Augen stürzten, daß seine
Frau, zur Seite gehend, ihm nicht schnell genug die Wangen
mit ihrem Taschentuch abtrocknen konnte. Der Mann ist tot
und ihr lebt, ihr schamlosen Wucherer und Gauner, die ihr
über die Papiergesetze lacht, die der Staat erließ, um eure
unberechtigten Gewinne einzuziehen. Sein Werk besitzt ja
keine Autorität, vor der der Kapitalist sich zu beugen nötig
hätte. Die deutsche Regierung hat hierin seit Kriegsbeginn
völlig versagt. Während die englische Regierung schon vom
Frühjahr 1915 sich wenigstens bemühte, die Kriegsgewinne zu
erfassen und den Besitzenden ungeheure Steuern auferlegte,
hielt man in Deutschland die Geldsackleute bei guter Laune,
duldete die Verschiebung riesiger Vermögen ins Ausland und ver-
wies triumphierend auf den einträglichen Enderfolg. Während die
englische und amerikanische Regierung auch die Preise der
16
234 Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt
Kriegsindustrie kontrollierte und beeinflußte, erfüllte die deutsche
die wahnwitzigsten Forderungen der Fabrikherren. Und so
züchtete man bei uns Millionäre ohne Zahl, während in einem
glücklichen sozial vielleicht am weitesten von allen Staaten der
Erde vorgeschrittenen Dominion Großbritanniens Neuseeland,
die Anhäufung von Millionen durch eine weise Gesetzgebung
erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht ist. Es ist ein-
leuchtend, daß diese Bemühungen um Gerechtigkeit der tiefste
Quell für Englands Macht und Größe ist, indem sie eine
Harmonie zwischen der Idealität der einzelnen und dem Staate
schaffte, wie wir sie erst im Glanze der altrömischen Republik
wiederzufinden in der Lage sind. Millionärszüchtung gehörte
ja schon im Wilhelminischen Zeitalter, in dem die Verachtung
der Armut begann, zu dem wohlbegründeten System des
Staates. Alle Statistiken müssen zugeben, daß in Preußen die
großen Einzeleinkommen und Vermögen im Zeitraum 1892 bis
1916 sehr erheblich und viel erheblicher zugenommen haben
als die der mittelgroßen und kleinen. Willst du diese ehren-
werte Klasse der Kriegsgewinnler näher kennen lernen, so
schlage Zarathustra auf Buch IV: Der freiwillige Bettler
»... Was trieb mich doch zu den Ärmsten, o Zarathustra?
War es nicht der Ekel vor unsern Reichsten? — vor den
Sträflingen des Reichtums, welche sich ihren Vorteil aus jedem
Kehricht auflesen, mit kalten Augen, geilen Gedanken, vor
diesem Gesindel, das gen Himmel stinkt, — vor diesem ver-
güldeten verfälschten Pöbel, dessen Väter Langfinger oder
Aasvögel oder Lumpensammler waren, mit Weibern willfährig,
lüstern, vergesslich; — sie habens nämlich alle nicht weit zur
Hure — Pöbel oben, Pöbel unten...“ Du kannst ihre Be-
kanntschaft auch schon im Dante machen. Schlag auf den
16. Gesang und lies: „Jedoch die Bürgerschaft, buntscheckig
heute, aus Campi und Certaldo und Figghin, war eine bis auf
die letzten Handwerksleute. „O wie viel besser wär’s, zum
Nachbarn ihn zu haben, diesen Troß, als in den Mauern, und
eure Grenze bei Trespian zu ziehn,“ als nun zu dulden den
Gestank des Bauern von Signa und des Mannes von Aguglion,
die scharfen Auges schon auf Schacher lauern. „Wär die
Entartete auf ihrem Thron Stiefmutter nicht gewesen den
Cäsaren, nein, milde wie die Mutter für den Sohn,“ gar
mancher hätte sich, der Geld und Waren tauscht in Florenz,
Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt: 235
nach Simifont gewandt, wo seine Väter Knecht’ und
Pracher waren“... Die ganze heutige Schwindelmoral ist
freilich ein naturnotwendiges Produkt unserer ganzen gesell-
schaftlich-staatlichen Zivilisation, die zum Betrug und zur Lüge
nicht nur reizt, sondern direkt nötigt und verpflichtet. Von
einem Ausgleich der Interessen aller kann heute weniger ge-
sprochen werden als jemals, und weniger existiert deshalb
„Gerechtigkeit“. Weniger als jemals findet man Rücksicht auf
das Gemeinwohl, mehr als je tut es not, die Egoismen der
Einzelnen, einzelner Gruppen und Verbände zu zermalmen.
Ein Staat, der wohl den Mut hat, einen kümmerlichen Höker
anzufassen, aber schlotternd vor den Palästen der Schlotbarone,
der Hochagrarier, der Millionenaufkäufer unentbehrlicher
Materialien und anderer Wucherer zurückweicht, der so wenig
seinen Bürgern Schutz vor Ausbeutung bietet, daß er sie sogar
begünstigt, kann wahrlich nicht verlangen, daß seine verarmten
kapitalschwachen Bürger freudevoll ihm zahlreiche Kinder
liefern. Welches Los winkt denn heute den „vielzuvielen“
Kindern. Das Los der Sklaverei, die dadurch, daß sie
heute unpersönlich ist, nicht weniger drückend wirkt
als früher. Das Los, in einer unzufriedenen Gemeinschaft
Güter zu erzeugen ohne eigentlichen Zweck mit Hilfe
einer Arbeitsleistung, die freudlos — vielleicht mittels des
verruchten Taylor-Systems — im Dienste unbekannter Groß-
kapitalisten geleistet wird. Verrucht ist solche Arbeit immerdar
und verdammt der Vater, der leichtfertig seine Kinder solcher
Sklavenarbeit ausliefert. Spezialisierte Sklavenarbeit ist immer
ekelhaft, auch wenn sie nur vier Stunden dauern sollte. Nicht
darauf kann es ankommen, daß wir noch Hunderttausende
von Schustern, Schneidern, Maschinenschlossern, Dichtern und
Klavierspielern hinzugewinnen. Was uns not tut, ist, daß wir
entschlossen unsere minderwertigen, riesengroßen Volks-
bestandteile abstoßen, indem wir es den geplagten Müttern
ermöglichen, ihrer überflüssigen Produkte sich zu entledigen
im Interesse ihrer selbst und der schon vorhandenen. Das-
jenige Volk, das zuerst entschlossen diesen Weg betritt, wird
unvergleichlichen Ruhm vor allen anderen gewinnen. Kommen
wird der Tag, an dem diese vom Staate geleitete Geburten-
rationierung von allen Völkern kühn begonnen werden muß.
Diese kann natürlich nur so gemeint sein, daß es Müttern
16°
236 Kafemann: Gesetzliche Freigade d. freiwilligen künstl. Frühgeburt
mit überflüssiger Kinderzahl freigestelll sein soll, weiteren
unerwünschten Zuwachs schmerz- und gefahrlos in öffent-
lichen Instituten zu verlieren. Der Zeitpunkt dieser Rationierung
dürfte im Ende des 20. Jahrhunderts liegen, wenn die be-
ginnende Erschöpfung der Rohstoffe der Erde auch dem
blödesten Auge erkenntlich geworden sein wird. Vielleicht
wird die Menschheit dann auch die Kriege ihres romantischen
Schimmers entkleiden und sie als etwas ordinäres betrachten
und das Kriegsbeil für immer der Erde übergeben. Dann
hätte sie allerdings auch für immer ein Ventil gegen sinnlose
Volksvermehrung verstopft, dessen wohltätige wenn auch
grausame Wirkungsweise sie bis heute zu erkennen noch
nicht fähig gewesen ist. Dann aber wäre auch Rationierung
doppelt geboten. Es könnte sein, daß zu leben dann erst
wieder sich verlohnte, wenn der Druck der Allzuvielen auf
den menschlichen Grundstoff, der von Anbeginn an gierig,
egoistisch, eifersüchtig und blutdürstig ist, nachzulassen an-
fängt. Wo ist denn heute der Mensch, der in voller Charakter-
schönheit als reifster Frucht seiner Humanität nur dem
Gemeinwohl lebt? Wo sind die Menschen, die nicht an der
allgemeinen gegenseitigen Plünderung Teil haben? Und sind
nicht Stadtverordnete, Ehrenbürger, Beamte alltägliche Erschei-
nungen, die mit der imposanten Hülle moralischer Zwecke
drapier, während der kraftvollen Äußerungen über das
„Gemeindeinteresse“ angestrengt ihre neuesten Schiebungen in
Zucker, Heringen oder Getreide erwägen? Wahrlich! Dann erst
wird die häßliche Grundsubstanz der Menschen sich ändern, wenn
sie von der Umgebung sich zu ändern gezwungen werden wird.
Wenn ich meinen Nachbarn dringend brauche, werde ich
ihn zu erzürnen, übers Ohr zu hauen, mich weislich hüten.
Unser „Gemeininteresse* wird dann auch ein anständiges,
ehrenhaftes Einvernehmen gebieten, und wird der Tag nicht
fern sein, da das herrliche Wort des römischen Philosophen
Seneca: homo res sacra homini (der Mensch sei dem Menschen
heilig) zur Wahrheit wird. Jetzt erscheint die Schellenkappe
des Weltverbesseres, der zwar eine kleine aber besser gezüchtete
Volkszahl herbeisehnt, der ebensosehr den Prunk der großen
Gauner als die ärmliche Dürftigkeit der Vielzuvielen ablehnt
und eine mittlere, aber gut situierte Volkszahl im Sinne des
großen Laotse für erstrebenswert hält. Treffend schildert der
Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt 237
Satiriker Martial das Ideal, das für alle Menschen durch Züchtung
und weise Geburtenbeschränkung wohl zu erreichen sein sollte.
Dieser geistvolle Zyniker, der mit erbarmungslosem Spott die
Schwächen seiner Zeitgenossen im kaiserlichen Rom verfolgte,
hatte auch zarte Töne in seiner Leier. Vergleiche Nr. 47:
„Was uns glücklich machen kann das Leben, mein Teuerster,
Martialis, dieses: nicht erworbenes, sondern Erbvermögen; ein stets
flammender Herd, ein Acker fruchtbar; nie Streit, selten die Toga (Frack),
Seelenruhe; gesunder Körper, kräftige Natur, Klugheit
ehrlicher Art, die Tafel kunstlos, keine trunkenen, doch
sorgenfreien Nächte, ein lustspendendes, und doch keusches Ehebett,
Schlaf, der kurz uns die Nächte erscheinen läßt: Gern sei das,
was du bist und wolle mehr nicht und fürchte nicht den
letzten Tag, noch wünsche ihn.“
Wie die Geschichte lehrt, erreichte Martial durch eine Heirat
dieses von jedem echten Hygieniker und Philosophen erstrebte
Ziel unbedingter, mit mäßigem Behagen verbundener Selb-
ständigkeit — ein Ziel, das weltenweit von dem des modernen
Unternehmers verschieden ist, der in sinnloser Ausdehnung
seiner Geschäfte seine einzige Befriedigung findet, dessen
Seelenbetrieb, wie Sombart in seinem „Der Bourgeois“ (S. 425ff.)
vortrefflich ausführt, eine Art Rückfall in die einfachen Zustände
der Kinderseele erleidet. Ehrt nur die Schieber, Wucherer und
Gauner in Stadt und Land, die für eure Steuergesetze nur ein
mitleidiges Lächeln haben, raubt den ehrenwerten mittleren
Ständen alles, was ihnen zur Erreichung des Zieles Martials
behilflich zu sein vermag, so werdet ihr Folgen erleben, die
ihr nicht erwartet habt. Alle Streiks der Handarbeiter werden
nur ein Kinderspiel sein gegenüber dem Kinderstreik der
Intellektuellen, dessen Anfänge wir schon erleben, über den
die Ärzte allein vertrauliche Auskünfte geben könnten. Es gibt
keine physische und moralische Nötigung, die in das Majestäts-
recht der Person, über seine Fortpflanzung zu bestimmen,
eingreifen könnte. Wenn schamlose Händlergier die Existenz
des Kopfarbeiters unerträglich macht, wenn blinde sozial-
staatliche Willkür den mühsam und ehrlich erworbenen Besitz
zertrimmert und anmaßend genug mit einem Schein von
Ehrwürdigkeit ihr Werk umgibt, dann werden die Machthaber
erkennen müssen, daß dieses keine Autorität besitzt, vor
welcher die Freiheit sich zu beugen nötig hätte. Eingepfercht
zwischen zügellosen Massen und einer oberen nichtswürdigen
238 Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt
Gesellschaftsschicht, von der öffentlichen Macht gehaßt und
ausgebeutet, werden wir entschlossen unserem Untergang zu-
eilen. Es ist die größte, von keinem tiefer als von Buddha
erkannte Illusion des menschlichen Geschlechts, daß es ein
Glück ist, Kinder zu besitzen, sich fortzupflanzen; es ist eine
seiner größten Irrtümer zu meinen, daß überhaupt ein Fort-
pflanzungstrieb existiert. Es existiert nur eine gewisse Körper-
unruhe, die durch gewisse Versuche geschlechtlicher Annäherung
zur Ruhe gebracht wird, wobei es häufig zur Entstehung eines
neuen Lebewesens kommt. Und es existiert vielleicht auch
eine durch suggestive Einflüsse aus der Umgebung dauernd
lebendig gehaltene Neigung zur Fortpflanzung, die aber bei
Leibe nicht als Trieb aufzufassen ist. Jede andere Darstellung
ist Schwindel. Wohlan! So wollen wir die Konsequenzen
daraus ziehen! Verweigern wir den Vielzuvielen einerseits,
einer verbrecherischen Hochfinanz, die einzig und allein einer
sinnlosen Volksvermehrung ihr Dasein verdankt (vgl. Sombart
loc. cit. 464) andrerseits, unseren intelligenten Nachwuchs, so
gehen beide an schwerer Blutarmut zu Grunde, — der Reiche
wie der Arme! — Discite, moniti! Merkt euch das, ihr seid
gewarnt!
v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 239
ZUM VERSTÄNDNIS DER INNEREN SEKRETION
UND DER VERJÜNGUNG.
Von FERD. FRHR. VON REITZENSTEIN, Dresden.
v1.
Innere Sekretion II.*)
A" die im vorigen Aufsatz genannten Drüsen schließt sich
noch eine weitere Gruppe an, die mit dem Geschlechtsleben
in direkter Beziehung stehen und die infolgedessen nach
den beiden Geschlechtern verschieden sind. Über ihre
Sekretion sind wir teilweise noch sehr im Unklaren, obwohl
feststeht, daß sie in dieser Hinsicht eine ganz bedeutende Rolle
spielen. Wir werden also in erster Linie zu betrachten haben
beim Manne die Hoden, Nebenhoden, Samenbläschen, Cowper-
schen Drüsen und die Prostata; beim Weibe die Eierstöcke,
die Bartholinischen Drüsen und die Placenta.
Bevor wir zur Einzelbetrachtung übergehen, wird es nötig
sein, einige Worte über die Entwicklung der Geschlechtsdrüsen
vorauszuschicken.
1. Entwicklung der Geschlechtsdrüsen.
a) Indifferente Periode.
Ob ein Individuum als männlich oder weiblich anzusprechen
ist, entscheidet letzten Endes die Art der Geschlechtsdrüse.
Ist diese als Eierstock gebildet, ist das Wesen weiblich, ist sie
als Hoden entwickelt, ist es männlich, ganz gleich, ob das
Äußere zu widersprechen scheint. Diese Drüsen sind jedoch
im Embryo nicht von Anfang an unterschieden — wenigstens
nicht erkenntlich. Geschlechts- und Harnsystem sind eng mit
einander verknüpft und zwar nistet sich das erstere gleichsam
in das zweite ein, so daß das Harnsystem gezwungen ist, sich
neu anzulegen. Dem wichtigsten Organ des Harnsystems, den
Nieren gehen nämlich zwei Vorstufen voraus, die Vornieren
(Pronephros) und die Urnieren (Mesonephros). Beiden Stufen
entspricht ein Ableitungskanal (Harnleiter). Die Vorniere bildet
sich frühzeitig zurück, während ihr Harnleiter bleibt und neue
Querkanälchen bildet, aus denen die Urniere entsteht. Der
*) Hier sei gleich auf das soeben erschienene Werk von Dr. Arthur
Weil „Die Innere Sekretion“, Berlin, Springer, 1921, verwiesen.
240 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion
Harnleiter selbst wird so zum Urnierengang, auch Wolff’scher
Gang genannt. (Vergl. die Abbildungen im nächsten Aufsatz.)
Als eine Ausstülpung dieses Ganges an seinem hinteren
Ende tritt dann der Ureter auf, der als neuer Kanal nach
dem Innern des Körpers in die Länge wächst und am
anderen Ende die bleibende Niere (Metanephros) anlegt*).
Die Nieren werden so Träger des Harnsystems. Ein Teil der
Urniere verfällt nun dem Untergang, während der Rest (Sexual-
teil) mit dem Urnierengang (Wolff’schen Gang) für den Ge-
schlechtsapparat beansprucht wird. Nun haben sich seit der
Zeugung im Körper des Embryo Reste des befruchteten Eies —
bestimmte Zellen, Keim- oder Geschlechtszellen — er-
halten, die mit Resten des Dottergewebes in der Gegend des
Ur-afters sitzen und etwa im 20Otägigen Embryo zu wandern
anfangen, bis sie schließlich in eine dem Urnierensystem be-
nachbarte Falte, die Urnierenfalte gelangen, wo sie sich
festlegen. Ein Teil dieser Falte bildet dann einen Längswulst,
die Keimleiste, die ebenfalls teilweise wieder untergeht, aber
die Keimdrüsenanlage, den Keimstock zurückläßt. Die Grund-
lagen des Geschlechtsapparates bestehen also aus der Keim-
drüsenanlage (Keimstock) und den von ihm beschlagnahmten
Teilen des Urnierensystems, also dem Rest der Urniere (Sexual-
teil) und dem Wolff’schen Gang, neben dem sich ein zweiter
Gang, ihm parallel laufend ausbildet: der Müller’sche Gang.
Die Keimzellen sind bereits am 30. Tag im Keimstock durch
ihre größere rundliche Form und ihre hellere Konsistenz scharf
von den kleinen, mehr würfelförmigen Zellen des Keimstockes
zu unterscheiden. So scheint also zunächst der Geschlechts-
apparat des Embryo weder männlich noch weiblich zu sein,
also indifferent. (Asexuell.) Dennoch gehören die Keim-
zellen von Anfang an einem bestimmten Geschlechte an
(siehe später), die Anlage ist also nach der Einwanderung
wohl ursprünglich mindestens doppelgeschlechtlich
(bisexuell). Je vom Überwiegen des männlichen oder weib-
lichen Elementes der Keimzellen hängt es ab, ob die Keim-
drüsenanlage (Keimstock) sich männlich oder weiblich ent-
wickelt. Es liegen also Ureier und Ursamenzellen nebenein-
*) Natürlich vollzieht sich dieser Entwicklungsgang beiderseitig (also
doppelt).
v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 241
ander, die sich nun getrennt weiterbilden (Oogenese = Ei-
entwicklung und Spermatogenese —= Samenentwicklung).*)
b) Der weibliche Typus.
Gelangen im Keimstock die weiblichen Keimzellen zur
Vorherrschaft, so entwickelt sich der Embryo weiblich und der
[äng nis-
trichter
blase.
(r d Seile
öffnun
Scheide rl
Abb. 1. Der weibliche Geschlechtsapparat schematisch dargestellt.
Keimstock wird zum Eierstock oder Ovarium. Der Rest
der Urniere geht jetzt fast vollständig unter und bleibt nur
als Nebeneierstock (Epoophoron) erhalten (vergl. Abb. 1).
An ihm ist noch ein Rest des Wolff’schen Ganges verblieben,
der sich zu einer Art Samenblase (Appendix vesicularis)
umbildet (Tfl. I, Fig. 2) sonst aber untergeht. Ein weiterer noch
unbedeutenderer Rest des Kanalsystems der Urniere ist der
Beieierstock (Paroophoron), in unserer Abbildung 1 erkenntlich
als die beiden kleinen s-förmigen Gebilde links vom Epoo-
phoron. Die Vorherrschaft tritt dagegen bei der weiblichen
*) Wenn nicht bereits die Vernichtung des einen Oeschlechtes nor-
malerweise im befruchteten Ei vor sich geht.
242 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion
Entwicklung der Müller'sche Gang an. Sein Trichter wird nun
zum Empfängnistrichter (Ostium tubae), der anschließende
Rohrteil zum Eileiter (Tuba), sein Endabschnitt verwächst
mit dem der anderen Seite zur Gebärmutter (Uterus) und
zur Scheide (Vagina). (Vergl. dazu auch Tfl. I, Fig. 2 und
die Abb. im nächsten Aufsatz.)
Abb. 2. Der“männliche Geschlechtsapparat schematisch dargestellt.
c) Der männliche Typus.
Im Keimstock gelangen männliche Keimzellen zur Vor-
herrschaft; er wird zum Hoden (Testis, testiculus, orchis,
didymis*) umgebildet, während der Rest (Sexualteil) der Ur-
niere zum Nebenhoden (Epididymis) wird, der dem Haupt-
hoden direkt angelagert ist. Eines der Querkanälchen der
Urniere bildet den Anhang des Nebenhodens (Appendix
epididymidis), ein kleines gestiltes Bläschen (in unserer
Abb. 2 oben am Nebenhoden zu erkennen). Während nun bei
der weiblichen Entwicklung sich der Müller'sche Gang weiter-
*) Testis—=Zeuge, soll daher kommen, weil die Juden bei einem
feierlichen Eid die Hoden ergriffen haben (Gen. 24, 9 u. 47, 29) Didymos
doppelt, Zwilling, weil die Hoden doppelt liegen.
v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion -243
bildet und der Wolffsche Gang zu Grunde geht, ist es beim
Manne umgekehrt. Vom Müllerschen Gang erhalten sich nur
die beiden Endstücke. Das obere bildet den Hodenanhang
(Appendix testis) (im Bilde oben als kleines Bläschen am
Hoden sichtbar), das untere dagegen die männliche Scheide,
ein eigenartiges im Prostatabezirk liegendes Organ (Sinus
prostaticus, oder Vagina masculina, oder Utriculus
prostaticus). Dagegen bleibt der Wolff’sche Gang erhalten.
Er geht vom Nebenhoden — den er schon als gewundenes
Kanälchen durchzieht — als Samenleiter (ductus deferens)
aus und bildet späterhin die Samenblasen (Vesiculae semi-
nales). Einige Urnierenkanälchen lösen sich wie beim Weibe
los und bilden die Beihoden (Paradidymis) (vgl. auch
Tfl. I Fig. 1).
Im 7. Monat der foetalen Entwicklung senkt sich nun der
größere Teil dieser Organe, die bisher in der Bauchhöhle
lagen, herab und tritt in den Hodensack ein (also Hoden,
Neben- und Beihoden); der sogenannte .Descensus testi-
culorum). Auch beim Weibe findet eine Umlagerung statt,
hier senkt sich der Eierstock mit Tuben, Neben- und Bei-
eierstock aus der Lendengegend in das kleine Becken (Des-
census ovariorum).
d) Ausreifung des Geschlechtsapparates
und die sekundären Geschlechtsmerkmale.
Die Geschlechtsdrüsen, Hoden und Eierstöcke, beginnen
ihre äußere sekretorische Tätigkeit (vgl. Aufs. IV S. 148) aber
nicht sofort nach ihrer Entwicklung, sondern erst mit der
Geschlechtsreife des betreffenden Individuums. Die Zeit
der Geschlechtsreife nennt man seine Pubertät. Sie tritt je
nach Rassen in verschiedenem Alter ein. Bei uns für das
männliche Geschlecht zwischen dem 14. und 16. Jahr, für das
weibliche zwischen dem 13. und 15. Lebensjahr, um bei diesem
zwischen dem 45. und 50. Jahr wieder zu erlöschen (Klimak-
terium, anni climacterici, involutio). Beim Manne kann
die Samenbildung bis ins höchste Alter fortdauern. Durch
die Geschlechtsreife werden aber auch andere als die Ge-
schlechtsorgane von Veränderungen betroffen. Beim Weibe
gewinnt die Beckengegend ihre charakteristische rundliche
Form, die menstruelle Blutung beginnt, Brustdrüsen und
244 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion
Brustwarzen werden voll entwickelt. Beim Manne sprießt
der Bart hervor, der Kehlkopf beim Knaben wächst und die
Stimmbänder werden länger und dicker, wobei die Stimme
mindestens eine Oktave tiefer wird. Bei beiden Geschlechtern
wachsen die Haare an den Geschlechtsteilen und unter
den Achseln, die charakteristischen Momente der Körper-
gestalt treten auf und die geistige Richtung erhält ihre
unterschiedliche Art. Man nennt diese Merkmale die sekun-
dären Geschlechtsmerkmale im Gegensatz zu denen, die
die Geschlechtsteile selbst betreffen und primäre genannt
werden.*)
e) Störung des Geschlechtsapparates.
Wird die Tätigkeit der Geschlechtsdrüsen gewaltsam
unterbrochen, d. h. werden sie entfernt, so spricht man von
Kastration. Der Vorgang hat eine Rückbildung der ge-
schlechtlichen Merkmale zur Folge. Wird sie bereits in der
Jugend ausgeführt, so entwickeln sich weder die primären noch
die sekundären Geschlechtsteile entsprechend. Erfahrungen
haben wir hier nur bei Knaben. Harnröhre, Samenblasen,
Prostata usw. bleiben zurück, der Kehlkopf wird nicht männ-
lich und die Stimme bleibt kindlich, Behaarungen fehlen; da
die Extremitätenknochen länger Knorpelsubstanz enthalten, tritt
gesteigertes Wachstum ein (vgl. Aufs. IV, S. 215) und der
Fettansatz wird größer. Im späten Alter sind die Erscheinungen
geringer. Beim Weibe kennen wir, wie gesagt, nur die Spät-
kastration (wegen Erkrankung der Ovarien usw.). Gebärmutter
und Scheide verkümmern, Menstruation hört auf, auch die
Brustdrüse geht zurück. Der Geschlechtstrieb erlischt jedoch
in beiden Fällen nicht. Beim Weibe tritt aber manchmal eine
Annäherung an den männlichen Typus, oder besser gesagt an
einem indifferenten Typus ein (tiefere Stimme, Bartwuchs usw.).
Es kann aber eine Störung der Tätigkeit der Geschlechtsdrüsen
durch natürliche Veränderung in ihrer Entwicklung erfolgen.
Dieser Fall betrifft vor allem die Hoden und man spricht
dann von Eunuchoidismus. Auch in diesem Falle tritt ge-
steigertes Körperwachstum und gesteigerter Fettansatz ein.
*) Die neue Einteilung von Poll in essentielle oder germinale und
akzidentelle dürfte für unsere Zwecke zu viele Schwierigkeiten bieten,
weshalb wir die ältere beibehalten.
v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 245
Damit stehen wir nun vor der Frage, woher alle diese
Erscheinungen kommen. Früher schrieb man sie dem Nerven-
system zu, wie das heute noch so gerne von denen geschieht,
die aus moralistischen Gründen alle geschlechtlichen Erschei-
nungen als dem Willen unterworfen erklären wollen. Heute
wissen wir, daß alle diese Vorgänge ihre Ursache im Wesen
der inneren Sekretion haben.
Während die Physiologen noch vor 30 Jahren glaubten,
daß Menstruation, Eieinbettung (des Eies in die Gebärmutter-
schleimhaut) und Placentabildung durch Reize veranlaßt werden,
die vom Gehirnzentrum dem Eierstock und der Gebärmutter
zugeführt werden, konnte 1901 Fraenkel beweisen, daß nach
Entfernung der Eierstöcke keine Eieinbettung mehr erfolgt.
Damit war, wie Weil zeigt (S. 109 seiner eingangs erwähnten
Arbeit), der Beweis erbracht, daß die innere Sekretion der
weiblichen Keimdrüse der eigentliche Regler dieser physio-
logischen Funktionen ist und daß Gehirn und Sekretion hierbei
völlig unabhängig von einander sind. Wir wissen heute, daß
die Keimdrüsen dem nervösen Zentrum bestimmte Reizstoffe
auf dem Blutwege zuführen, die die Ursachen der tierischen
Brunsterscheinungen und des menschlichen Geschlechtstriebes
sind. Jedermann weiß, daß bei Tieren während der Brunst-
periode ganz auffallende Veränderungen in ihrem motorischen
Verhalten auftreten, die außerhalb dieser Zeit nicht vorhanden
sind, die aber kastrierten Tieren fehlen. Es ist der Einfluß
der inneren Sekretion, der auf das Gesamtnervensystem ein-
wirkt und es umstimmt (die chemische Erotisation). Da
wir uns in den folgenden beiden Aufsätzen (VIII u. IX) mit
der Transplantation und Verjüngung und der anormalen Ent-
wicklung des Geschlechtssystems näher beschäftigen wollen,
obliegt es uns heute, die einzelnen Teile des Geschlechts-
apparates, soweit sie für die Sekretion in Betracht kommen,
näher zu behandeln.
2. Die Organe des männlichen Geschlechtsapparates,
1. Die Hoden.
Die Hoden liegen als paariges Organ normalerweise im
Hodensack und stellen Drüsen dar, die aus feinen, schlauch-
förmigen, verästelten Kanälchen bestehen und von einer binde-
246 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion
gewebigen Hülle, der Tuniça albuginea, umgeben werden.
Die Kanälchen sind auf kleine pyramidenförmige Läppchen
verteilt, die mit ihrer Spitze nach einem Bindegewebkörper, dem
Mediastinum oder Corpus Highmori, weisen. In jedem
Läppchen verläuft ein Hodenkanälchen nach Art unserer Abb. 3.
Jeder Hoden hat etwa 4—4,5 cm Länge und 2—2,8 cm Breite
und ist etwa 15—25 gr schwer. Der linke ist meistens etwas
Hopf.
Grenıe
d. Kopf Happe
vord.) Centrosom-
Hals ( el arne J Krötchen
pi
d D> Spiralfa?en.
N
R
sÉ
3 4
S
9
Abb. 3. ;
Schematischer Verlauf eines Hoden- Ar
kanälchens in einem Läppchen. Abb, 4. Samenkörperchen.
größer und hängt tiefer herab. In den Hodenkanälchen voll-
zieht sich die Samenbildung und man nennt sie deshalb in
ihrer Gesamtheit den generativen Teil des Hodens. Man
kann nun in den Kanälchen zweierlei Arten von Zellen nach-
weisen, die Ursamenzellen oder Spermatogonien und die
Follikelzellen oder Sertolische Zellen. Der Ursamen-
zellen oder der männlichen Keimzellen haben wir oben (S. 240)
schon gedacht; sie haben Kugelgestalt mit großem, rundem
Kern, der zwei Kernkörperchen umschließt. Sie vermehren
sich erst mit der Pubertät; dann entstehen aus ihnen die so-
genannten Samenmutterzellen (Spermatocyten) und zwar
auf dem Wege der Teilung (vgl. Aufs. Ill, S. 100). Wir haben
gesehen (S. 102), daß der Mensch 24 Chromosomen in seinen
248 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion
annehmen, daß ihre Vermehrung bis zu dieser Zeit zusammen-
hängt mit der Ausbildung des Geschlechtes des werdenden
Kindes, das heißt mit der Umwandlung des Keimstockes im
Hoden. Über die Wechselwirkungen mit andern Drüsen der
inneren Sekretion haben wir bereits im vorigen Aufsatz ge-
sprochen. Magnus Hirschfeld hat das unbekannte Hormon des
Hodens mit dem Namen Andrin bezeichnet. Seine Injektion
ruft stark anregende Wirkungen hervor, sein Fehlen dagegen
die oben skizzierten Erscheinungen der Kastration, auf die wir
noch zurückkommen. Sicher ist, daß unsere geistigen Fähig-
keiten davon abhängen, was schon Lohmer mit den Worten:
„Auch das Forschen des Gelehrten, das künstlerische Zeugen
des Genies beruht ja im Grunde auf einer sublimierten Ge-
schlechtstätigkeit“ ausdrückt. Über den Einfluß auf die Haar-
bildung hat Prof. H. Friedenthal anfangs dieser Zeitschrift
(S. 24ff.) berichtet.
2. Der Nebenhoden (Epididymis).
Die Nebenhoden sind wie die Hoden selbst ein paariges
Organ, das ihnen direkt anliegt. Sie stellen ein längliches
s-förmig gekrümmtes Gebilde, ca. 3,2 gr schwer, dar (vergl.
Abb. 2). Der obere oder Kopfteil enthält eine Reihe von Ge-
fäßen, deren Zylinderepithel zwei Zellenarten: Flimmerzellen
und sezernierende Zellen enthält. Man nimmt an, daß
das Sekret zunächst als Nährmaterial für die Samenzellen dient,
dann aber auch den Zweck einer den Samen verdünnenden
Flüssigkeit ausübt. Im Kopf und Körper des Nebenhodens
liegen die Samenmassen als dicke Stränge und sind unbeweg-
lich; im Schwanzteil liegen sie lockerer, das Sperma ist flüssiger
und die Fäden bewegen sich lebhaft darin. Stigler und
Pollitzer glauben daher, daß der Nebenhoden die Beweglich-
keit und Widerstandsfähigkeit der Samenzellen beeinflußt. Ob
das Sekret noch weitere Folgen veranlaßt, wissen wir noch nicht.
3. Die Samenbläschen (Vesiculae seminales).
Ihre Länge beträgt 4,5—5,5 cm, ihre Breite 2 cm, ihre
Dicke 1 cm. Sie zweigen, wie schon erwähnt, vom Samen-
leiter ab (vergl. Abb. 2 und Tft. I, Fig. 1). Das rechte Bläschen
ist meist größer als das linke; beide sind oben umgebogen.
Das Sekret ist eine trübe aber nicht deutlich körnige Masse,
Hoden-
kanälchen
substanz
Hoden-
kanälchen
kanälchen
Interstitielle
Hodenzellen
Fig. 4. Fig. 5.
Tafel II. Fig. 1. Zwischensubstanz zwischen Hodenkanälchen eines 30 jähr. Mannes
(120 x vergr.). Fig. 2. Gruppe von Hodenzwischenzellen (800 x vergr.). Fig. 3 und 4
zwei interstitielle Hodenzellen mit Reinke’schen Kristallen eines 30jähr. Mannes
i 000 x vergr.). Nach Eberth „Die männlichen Geschlechtsorgane“, (G. Fischer, Jena.)
ig. 5. Schnitt durch einen Teil des Hoden. (Nach Merkel „Anatomie des Menschen“.)
Zum Aufsatz: Reitzenstein Innere Sekretion.
M'tosis einer
— Bindegew ebs
zelle
Lutemeien
Theca externa
folliculi
Ovulum
Cumulus
oophorus
Liquor
folliculi
Fig. 2. Fig. 3.
Tafel III. Fig. 1. Eierstock (Ovarium) eines 19jähr. Mädchens mit geplatztem Follikel
(Corpus luteum) und Graaf’schen Follikeln. Fig. 2. Follikel aus dem Eierstock eines
7jähr. Mädchens. (Nach Merkel „Anatomie des Menschen“.) Fig 3. Theca und Lutein-
zellen. (Fig. 1 und 3 nach Collmann). Zum Aufsatz: Reitzenstein Innere Sekretion.
v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 249
von gelblicher Farbe und ziemlich klebrig. Im Samen erscheint
es als eine Proteinsubstanz, die Sagokörnern ähnlich sieht und
beim Erkalten gallertartig erstarrt. Im Wasser ist es nicht
löslich. Da Fürbringer bei 80°/, menschlicher Leichen Samen-
fäden in den Bläschen fand, darf man wohl annehmen, daß
sie als Samenbehälter dienen, daß ähnlich wie beim Neben-
hoden die Menge des Samens vermehrt und daß die Beweg-
lichkeit der Fädchen erhöht wird. Werden sie entfernt, so
wird dadurch die geschlechtliche Fähigkeit der Versuchstiere
nicht beeinflußt, aber die Zeugungsfähigkeit stark herabgesetzt.
Lipschütz zeigt, daß, wenn es überhaupt zu einer Befruchtung
kommt, die Zahl der Jungen in einem Wurf auf die Hälfte
fällt. Die Prostata zeigt sich dabei vergrößert. Über allen-
falsige innere Sekretion wissen wir nichts.
4. Die Prostata.
Sie stellt einen abgeplatteten oder kugelförmigen drüsigen
Körper dar, der etwa die Größe einer Kastanie besitzt und
den Samenleiter umgibt. Ihr Hauptbestandteil ist eine Drüsen-
substanz, die auf 30—50 Läppchen verteilt ist und eine gelb-
rötliche Farbe zeigt. Das Sekret ist eine dünne leicht milchige,
schwach alkalische, proteinreiche und schleimfreie Flüssigkeit
von starkem Lecithingehalt. Es ist Träger des charakteristischen
Spermageruches. Bei Leichen findet man im Sekret zahlreiche
Kristalle (Sperminkristalle) die im Sekrete Lebender fehlen,
während bei alten Leuten darin runde bis zu 0,7 mm große
Sekretkörner auftreten, die man Prostatasteine nennt. Ent-
fernt man die Prostata, dann tritt Schwund der Hoden ein
und die Produktion der Samenfädchen hört auf (Serralach und
Martin). Weiterhin können nervöse und psychische Störungen
auftreten. Steinach entfernte bei Ratten die Prostata und die
Samenbläschen. Nach der 5. Woche kehrte zwar das normale
geschlechtliche Verhalten zurück, aber, obwohl die Männchen
die Weibchen wie sonst besprangen, warfen diese nicht ein
einziges Mal, trotzdem sich Samenfäden im Vaginalsekret der
Weibchen vorfanden. Wird der Saft der Prostata in die Venen
injiciert, wird bei solchen Tieren, deren Prostata entfernt war,
vorübergehend wieder Samen gebildet und Fürbringer zeigt,
daß bei normalen Individuen die Injektion von Prostatasaft
sofort die Lebhaftigkeit und Bewegungsfähigkeit der Samen-
17
250 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion
zellen steigert. Frischer Extrakt der Prostata in die Venen
gespritzt, rief bei Hunden eine Bewegung der Blase hervor
(Dubois und Boulet). Ja, es kann dahin kommen, daß Harn-
drang und Blasenkatarrh auftritt. Bei Injektion von Prostata-
sekret, das dem Stier entnommen wurde, beobachtete man’ eine
starke Steigerung des arteriellen Blutdruckes, dem dann wieder
ein Druckabfall folgte. Weiterhin traten Erstickungskrämpfe
und Herzstillstand ein. Geringe Mengen brachten eine Be-
schleunigung der Atmung hervor. Samenfäden erhalten sich
im Prostatasekret sehr lange beweglich und Fürbringer zeigte,
daß die Prostata das in den starren Samenfädchen schlummernde
Leben auszulösen vermöge, weshalb Hirschfeld annimmt, daß
in ihrem Sekret eine synergetische Substanz (vgl. Aufs. IV, S. 148)
des Andrin enthalten ist.
Bei der Ejakulation (der Ausstoßung des Samens) mischen
sich ihm die Säfte der Prostata und der übrigen Drüsen
(Samenleiter, Samenbläschen und Cowper’schen Drüsen) bei.
Wir können also bestimmt annehmen, daß die Prostata eben-
falls im Sinne einer inneren Sekretion wirkt, wenn uns auch
noch genauere Kenntnis fehlt. (Vergl. Abb. 2 und Tfl. I, Fig. 1).
5. Die Cowper’schen Drüsen.
(Glandulae bulbo-urethrales).
Es sind zwei rundliche ungefähr erbsengroße Drüsen von
4—9 mm Durchmesser; sie erscheinen weiß und farblos, dabei
derb und von höckeriger Oberfläche (vergl. Abb. 2 und Tfl. I,
Fig. 1). Sie finden sich bei fast allen Säugetieren vor. Ihr
Sekret scheint eine schleimartige Flüssigkeit zu sein. Man
nimmt an, daß es dazu dient, die Harnröhre in schlüpferigem
Zustand zu erhalten, insonderheit die letzten Reste des Harnes
zu beseitigen. Diese wirken bekanntlich sauer, und saure
Flüssigkeiten schädigen die Samenfädchen. Über eine weitere
Sekretion wissen wir nichts.
6. Die Samenleiter und die Harnröhre.
Die Harnröhre des Mannes (Sinus urogenitalis masc.)
enthält verästelte, alveolo-tubulose Drüsen (s, Aufs. IV, S. 146)
(Glandulae urethrales Litrii nach Littr&, einem französischen
Anatomen 1658— 1726), die zwischen dünnen Schleimhautbuchten
v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 251
liegen, die man als Lakunen bezeichnet. Auch am Fundus,
der Harnblase finden sich Drüsen, die erst bei Erwachsenen
hervorsprossen und den Prostatadrüsen gleichen. Über den
Zweck wissen wir nichts. Bei geschlechtlicher Erregung tritt
bekanntlich aus der Harnröhre etwas schleimiges Sekret; es
entstammt sowohl den Littre’schen als den Cowperschen Drüsen.
Auch der Samenleiter enthält Drüsen. In seinem Endteil
erweitert er sich beträchtlich und man nennt diesen Teil Am-
pulle (vergl. Abb. 2). In ihrer Schleimhaut finden sich Falten,
Abb.5. Menschlicher Samen (nach Moll).
@ unreife Spermien, 4 u. 5 reife Spermien, 9 u. 13 Spermakristalle,
14 Amploidkörper aus der Prostata.
von denen aus sich drüsenartige Verlängerungen entwickeln,
die ein feinkörniges Sekret enthalten. Die Länge der Ampulle
beträgt 3—4 cm, ihre Breite 0,7—1 cm. Man nimmt an, daß
sie mit der Beiwohnungsdauer zusammenhängt. Tiere, denen
sie fehlt, vollziehen nämlich die Beiwohnung langsam (so der
Hund, der Kater, der Eber usw.), während die anderen, die sie
besitzen (Rind, Schaf, Pferd, Esel, Bär, Mensch), kurz bei-
wohnen. Ihr Sekret ist dem der Samenblasen ähnlich. Die
Ampulle ist bis zur Pubertät klein und bildet sich in höherem
Alter zurück. Weiterhin schließen sich an der Ausspritzungs-
apparat oder die Ausspritzungsgänge (Ductus ejaculatorii).
Auch sie zeigen Drüsen und ähneln so dem Samenbläschen,
17°
252 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion
sodaß sie von manchen als accesorische Samenblasen be-
zeichnet werden. Durch diese Vorrichtung wird der Samen
ausgestoßen. Unsere Abb. 5 zeigt ein mikroskopisches Bild
des menschlichen Samens bei etwa 300facher Vergrößerung.
Wir sehen darin die verschiedenartigsten Gebilde. Zunächst
fallen die kleinen schlangenartigen Gebilde, die Samenfädchen,
auf. Eines davon, rechts unten am Rande, zeigt unter dem
Köpfchen eine Verdickung; es ist ein unreifes Fädchen, dem
noch Protoplasma anhängt. Dann fallen noch die Sperma-
kristalle und rechts unten die beiden dunklen Körper auf, die
Amyloidkörper aus der Prostata darstellen.
7. Die männliche Scheide (Utriculus prostaticus oder
masculinus; Vagina masculina, Sinus prostaticus.
Wir sahen, daß sie ein Rest des Müller’'schen Ganges ist
und der weiblichen Scheide entspricht. Es ist ein längliches,
birnförmiges am Ende erweitertes Säckchen, etwa 10—12 mm
lang und 1 mm breit (vgl. Abb. 2). Nach Kölliker steigert ihr
Sekret bei Kaninchen die Lebhaftigkeit und die Bewegungs-
fähigkeit der Samenzellen. Ab und zu vergrößert sie sich stark,
so daß hermaphroditische Mißbildungen entstehen.
8. Die Anhängsel (Appendices) des Hodensystems.
Ihre Entstehung haben wir oben (S. 242) bereits geschil-
dert (vgl. Abb. 2).
a) Der Hodenanhang (Appendix testis) oder die
Morgagnische Hyadite. Es ist der Rest des oberen
Endes des Müllerschen Ganges und stellt ein Körperchen
, dar, das zwischen der Größe eines Hirsekornes und
eines Kirschkernes wechselt. Es ist blaßrot und besteht
aus weichem gefäßreichen Bindegewebe.
b) Der Nebenhodenanhang (Appendix epidi-
dymitis), ein kugliges birn- bis keulenföriniges
Bläschen, etwa 3—4 mm lang und 2—3 mm breit.
Manchmal jedoch nur von der Größe eines Mohn-
körnchens, ja ab und zu fehlt es ganz. Die großen
Bläschen enthalten eine feinkörnige Masse.
c) Die Beihoden (Paradidymis) oder das Giralde'-
sche Organ stellen Reste der Urnierengänge dar. Es
sind längliche, glatte, weißliche Körper von 5—6 mm
v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 253
Durchmesser, die schon beim Neugeborenen vorhanden
sind und bis zum 6.—10. Lebensjahr wachsen, dann
sich aber zurückbilden. Die Kanälchen besitzen einen
trüben mit gelblichen Pigmentkörperchen gefüllten
Inhalt. Der untere Teil enthält manchmal Samenfädchen.
d) Der Blindgang des Nebenhoden (Ductus
aberrans).
Wir dürfen annehmen, daß alle diese Anhängsel eine
Sekretion ausüben, wenigstens teilweise, denn ihr Inhalt
scheint darauf hinzuweisen. Die Erfahrungen mit Epiphyse
und Hypophyse, die man früher auch für funktionslos erklärt
hat, dürften einen Fingerzeig geben.
3. Die Organe des weiblichen Geschlechtsapparates.
1. Die Eierstöcke (Ovarien).
a) Follikelbildung und Reifung.
Über die Entstehung der Eierstöcke haben wir bereits
oben gesprochen. Wir sahen, daß sie sich aus den Keim-
stöcken dadurch bilden, daß in ihnen weibliche Keimzellen die
Vorherrschaft gewinnen. Auch sie wandern hier von der
Gegend des späteren Afters etwa beim 25 Tage alten Embryo
ein. Von den Gewebszellen des Eierstockes sind die Keim-
zellen durch ihren großen Chromatinbestand (s. Aufs. III, S. 98),
durch ihre große Protoplasmamasse, durch ihr helleres Aus-
sehen und ihre größeren Zellkerne leicht zu unterscheiden. So-
bald nun diese Keimzellen von den Körperzellen des Eier-
stockes umgeben sind, beginnt die Eierstockbläschenbil-
dung, die bis zum Ende des 3. Lebensjahres fortdauert und
etwa 30000 derartige Bläschen erzeugt. Die Keimzelle umgibt
sich dabei mit einer einfachen Schicht von Epithelzellen und
wird nun Primärfollikel (Folliculus oophorus primarius)
genannt. So besteht nun der Eierstock (vergl. Abb. 2, Tfl. I,
Fig. 2) aus drei Gewebeteilen:
1. Dem Bindegewebe (Stroma ovarii) als Hülle. Dieses
setzt sich zusammen aus der Bindegewebslamelle (Tunica
albuginea) und der Rindensubstanz.
2. Der Drüsensubstanz (den Eifollikeln).
3. Der Marksubstanz.
Die erste Entwicklung des Eies innerhalb des Eierstockes
254 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion
vollzieht sich in der embryonalen Zeit. Es bilden sich kuglige
Körper, die oben bereits erwähnten Primärfollikeln (Primordial-
follikeln) (vergl. Tfl. III, Abb. 2, oben). In diesem Stadium wird
das Ei von einer einfachen Schicht glatter Epithelzellen um-
geben, aus denen sich durch Zellteilung eine umhüllende Mem-
bran, die Theca folliculi entwickelt. Die innere Schicht dieser
Membran heißt Follikelmembran oder Membrana granulosa.
An der Stelle, wo im Innern des Follikels das Ei liegt, bildet
sich eine Anhäufung von Zellen um das Ei herum, die man
als Cumulus oder discus proligerus bezeichnet. Die
Theca folliculi selbst aber läßt wieder eine innere Schicht
(Tunica interna) und eine äußere (Tunica externa) unter-
scheiden. In dieser Tunica interna beobachtet man nun große
Zellen, die neben einem rundlichen Kern feine Körner (Granu-
lationen) zeigen, die den Zellen ein gelbliches Aussehen geben
und Theca-Luteinzellen (Tfl. III, Fig. 3) heißen. Der Follikel
selbst bildet nun ein kleines Bläschen, das sich mit einer
hellen eiweißhaltigen Flüssigkeit füllt und wird so zum Graaf-
schen Follikel (Folliculus oophorus vesiculosus).
Ganz ähnlich wie bei den männlichen Samenzellen wird
auch beim weiblichen Ei durch die Reifung die Chromatin-
masse halbiert. Dies geschieht dadurch, daß bei verschiedenen
Teilungen 3 untergehende Polzellen abgetrennt werden, so daß
schließlich das reife Ei nur noch 12 Kernschleifen enthält, die den
weiblichen Vorkern bilden. Bei der Befruchtung dringt nun das
Samenkörperchen in das Ei ein und bringt das Centrosoma
(vergl. Aufs. III, S. 99 u. 102) mit, das dem Ei fehlt. Je nachdem
diese Samenkörperchen 12 ganze Schleifen (Weibchen bildendes
Samenfädchen) oder nur 11 vollständige Schleifen und eine
unvollständige (Männchen bildendes Samenfädchen) enthalten,
wird das Ei zu einem weiblich oder männlich befruchteten Ei.
Der männliche und weibliche Vorkern nähern sich nun und
verschmelzen. Das befruchtete Ei gleicht jetzt einem Hohltiere,
das die Tuben durchwandert und wahrscheinlich Reizstoffe ab-
sondert, durch die es sich in die Schleimhaut der Gebärmutter
einnistet und dort sich als Schmarotzer weiterentwickelt.
b) Ovulation und Menstruation.
Die Befruchtung vollzieht sich aber nicht im Eierstock,
sondern in den Tuben. Das Ei mußte vorher dorthin gelangen.
Dies geschieht dadurch, daß ein reifer Follikel an die Ober-
v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 255
fläche des Eierstockes gelangt und hier platzt. Das Ei verläßt
den Follikel und wandert durch den Empfängnistrichter in die
Tuben (vgl. Abb. 2 und Tfl. III, Fig. 1). Das Platzen des
Follikels bezeichnet man als Ovulation. Sie geht Hand in
Hand mit der Menstruation. Über den Zusammenhang der
beiden Vorgänge ist man sich noch nicht völlig klar. Jedenfalls
fallen sie aber zeitlich nicht zusammen. Es gibt nun zwei
Arten von Ovulation. Bei der einen tritt das Platzen des
Follikes nur beim Koitus ein (Coitusovulation). Sie ist
allgemein bei Katze, Maus, Meerschweinchen usw. Beim
Menschen ist sie denkbar, aber nicht gewöhnlich. Die andere
Form ist die spontane oder periodische Ovulation. Bei
ihr tritt das Platzen zu gewissen Zeiten ein, ohne Rücksicht,
ob eine Beiwohnung stattfindet oder nicht (Hund, Pferd,
Schwein, Rind, höhere Affen und Mensch). Nachdem der
Follikel geplatzt, das Ei ausgetreten und die Flüssigkeit ent-
leert ist, bildet sich in dem zurückgebliebenen Follikel der
sogenannte gelbe Körper (Corpus luteum), dessen gelbe
Farbe von kleinen Körnchen der ihn ausfüllenden Zellen her-
rührt, zwischen die außerdem Theca-Luteinzellen einwandern
(Tfl. IN, Fig. 1). Wird nun das Ei nicht befruchtet, so bildet
sich der gelbe Körper bald zurück, da er ja im nächsten
Monat durch einen neuen abgelöst wird; wird es dagegen be-
fruchtet, hält er sich längere Zeit und wird als Corpus
luteum gravidatis bezeichnet. Bei Tieren mit Coitus-
ovulation gibt es nur diese zweite Form, bei denen mit spon-
taner Ovulation (also beim Menschen) dagegen beide Formen.
Man glaubt nun annehmen zu können, daß das Platzen des
Follikeß auf den 14.—16. Tag nach Beginn der Menstruation
fällt, und so ist Siegel der Meinung, daß die der Menstruation
direkt folgende Zeit die für die Befruchtung am günstigsten
(Postmenstruationszeit) ist, während die ihr vorausgehende
(Prämenstruationszeit) die unglünstigste ist. Sicher ist also,
daß das Corpus luteum zurzeit der Menstruation bereits in
Rückbildung begriffen ist und daß niemals eine Menstruation
ohne Ovulation, wohl aber eine Ovulation ohne Menstruation
eintreten kann.
c) Interstitielle Zellen.
Es entsteht nun die Frage, ob es beim Weibe im Eierstock
auch Zwischenzellen gibt, die denen des Mannes im Hoden
256 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion
entsprechen. Die Frage ist noch nicht ganz klar gestellt.
Aimé ist der Meinung, daß es nicht der Fall ist. Biedi da-
gegen, daß ihre Existenz sichergestellt ist. Zunächst glaubt
man, daß sie Tieren, die eine spontane (periodische) Ovulation
besitzen (also Mensch) fehlen, weil hier ständig ein Corpus
luteum vorhanden ist, das ihre Funktion versieht, daß sie aber
bestimmt bei solchen mit Coitusovulation vorhanden sind.
Dennoch dürfen wir uns wohl mit mehr Recht auf den
Standpunkt stellen, daß auch der Eierstock interstitielle Zellen
besitzt, die in ihrer Gesamtheit wie beim Manne eine weib-
liche Pubertätsdrüse bilden. Limon hat bei Säugetieren
deutlich große Zellen erkannt, die um die Blutgefäße gruppiert
und denen der Nebenniere und der Leber ähnlich, jedoch
kleiner als die des Corpus luteum sind und Seitz und Wallart
wiesen das gleiche für den Menschen nach. Nach Wallart
nimmt ihre Zahl bis zur Pubertät ständig zu, dann aber treten
sie hinter den Follikelapparat zurück. Dies ist eigentlich logisch,
da ja bis zur Pubertät der Follikelapparat als sekretierendes
Organ noch nicht ausgebildet ist. Auch während der
Schwangerschaft nehmen sie wieder zu. Im Klimakterium
(nach Aufhören der menses) sind nur noch Reste vorhanden.
Doch treten diese Zwischenzellen beim Menschen niemals zu
einer kompakten Drüse zusammen. Es zerfallen nach Seitz
alle größeren Follikel bis zum Schlusse der Schwangerschaft
und liefern so einen frischen Schub von fett- und luteinhaltigen
Zellen, die Theca-Luteinzellen, wie sie Seitz im Gegensatz
zu den Luteinzellen des Corpus luteum nennt (s. oben S. 254 ff.).
d) Die innere Sekretion des Eierstockes..
Alle drei Gewebe, also die Follikeln, das Corpus luteum
und die Theca-Luteinzellen dürften Sexualhormone (siehe
Aufs. IV, S. 148) liefern. (Am wenigsten die Follikel, am
meisten das Corpus luteum.) Es fragt sich nun aus was die
Luteinzellen des Corpus luteum entstehen. Bilden sie sich aus
der Membrana granulosa, (S. 253) dann sind sie etwas ganz
anderes als die Theca-Luteinzellen.
Beobachten wir nun zunächst, was eintritt, wenn wir die
Eierstöcke wegnehmen. Geschieht dies vor der Pubertät,
so wird die Pubertätsentwicklung gehemmt. Geschieht es
später, so entarten die Geschlechtsteile.e. Geschieht die
Operation am Beginn der Schwangerschaft, dann wird deren
v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion. 257
Weiterentwicklung gehemmt. Die Entartung besteht in einer
Schrumpfung und Rückbildung der Geschlechtsteile und einem
Ausbleiben der Periode. v. Franque zeigt, daß dabei Störungen
im Gefäßnervensystem erscheinen, ganz ähnlich, wie sie später
im Gefolge des Klimakteriums auftreten. Man nennt sie hier
Ausfallerscheinungen und beobachtet Herzklopfen, Blut-
andrang zum Kopf, Angstgefühl, Schwindel, heftige Schweiß-
ausbrüche, Störungen des Schlafes. Diese Erscheinungen sind
auf erhöhte Tätigkeit der Nebennieren zurückzuführen, die
durch die Beseitigung der Eierstöcke die Oberherrschaft er-
langen. Auch die Periode bleibt aus. Vor der Kastration
speichern sich die Sekrete des Eierstockes in der Gebärmutter
auf, erweitern die feinen Blutgefäße so, daß sie schließlich
platzen und die Blutung hervorrufen. Die Sekretstoffe sind
sowohl in der Gebärmutter als im Menstruationsblut nach-
zuweisen. Sie besitzen ausgesprochene Giftwirkung (vermut-
lich durch ein Cholesterinderivat). Weiterhin hat die Weg-
nahme eine interessante Folge. Bei vielen schwangeren
Frauen tritt Knochenerweichung ein, die durch Heraus-
nahme der Eierstöcke sofort heilt. (87°/, Heilungen nach
Fehling.) Es ist anzunehmen, daß bei der Knochenerweichung
eine andere Drüse der inneren Sekretion erkrankt und zu
schwach geworden ist. (Nebenniere, Thymus oder wahr-
scheinlich das Knochenmark?) Durch die Wegnahme der
antagonistisch (s. Aufs. IV, S. 148) wirkenden Eierstöcke kann
ihr Tätigkeit wieder erstarken. Setzt man dagegen dem
Weibe, dem die Eierstöcke fehlen, wieder Eierstockgewebe ein,
dann kehrt die Knochenerweichung zurück, dagegen wird das
Schwinden des Uterus aufgehalten, die Menstruation setzt
neuerdings ein und der Stoffwechsel wird wieder günstiger.
Nun ist festgestellt, daß bei Frauen der Eintritt der
nächsten Menstruation unterbleibt, wenn man das frische
Corpus luteum ausbrennt. Die Menstruation ist also vom
Corpus luteum (besonders von dem gravidatis) abhängig.
Während der Schwangerschaft ruht sowohl normalerweise
Ovulation als Menstruation, denn die Follikel wachsen zwar,
zerfallen aber vor der Reifung. Tritt — was in den ersten
drei Monaten vorkommen kann — doch Menstruation ein, dann
ist die Einbettung des befruchteten Eies gefährdet und damit
die Schwangerschaft überhaupt. Der Corpus luteum bereitet
258 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion.
also die Gebärmutter für die Aufnahme des Eies vor.
Weiterhin, bereitet er die Brust für die Milchsekretion vor,
indem er auf das Brustdrüsengewebe fördernd einwirkt. Die
Funktion des Corpus luteum hält jedoch nicht während der
ganzen Schwangerschaft an. In der 2. Hälfte tritt eine narbige
Umwandlung ein. In dieser Zeit scheinen nun die interstitiellen
Zellen (Theca-Luteinzellen) oder wie Steinach sagt, die weib-
liche Pubertätsdrüse, diese Funktion zu übernehmen. Ist
die Schwangerschaft zu Ende, kann sich wieder ein Corpus
luteum bilden. Ähnlich zeigt auch neuerdings O. Fellner, daß
die Sekretion der interstitiellen Zellen außerhalb der Schwanger-
schaft sehr gering ist, in der Schwangerschaft aber bedeutend
zunimmt.
2. Die Tuben und der Uterus.
Moreaux hat nachgewiesen, daß auch die Epithelzellen
der Tuben (s. Abb. 2 und Tfl. I, Fig. 2) nach dem Follikel-
sprung an der inneren Sekretion teilnehmen, ihre Tätigkeit also
wohl ebenfalls vom Corpus luteum ausgelöst wird. Auch vom
Uterus selbst behauptet Guggisberg, daß sich aus ihm im
schwangeren Zustand Stoffe darstellen lassen, die fördernd
auf seine Muskulatar einwirken.
3. Placenta und Fetus.
Halban zeigte, daß der Mutterkuchen oder die Placenta
Sekrete absondert, die in ihrer Wirkung noch stärker als die
des Corpus luteum sein sollen und vor allem auf die Milch-
drüsen einwirken. Besonders interessant ist dagegen, daß
Starling-London feststellte, daß die Sekrete, die in erster Linie
die Milchabsonderung hervorrufen und fördern, vom Embryo
selbst ausgehen. Auch schon das befruchtete Ei soll ähnlich
wirken. Sie werden durch die Vermittlung der Placenta in
den Blutkreislauf übergeführt. Brücke bestätigt das und be-
hauptet, daß Ovarial- und Gebärmutterextrakt ohne Einfluß
auf die Brustdrüse sei, daß dagegen Embryonalextrakt eine
deutliche Vergrößerung und Milchabsonderung auslöst. Injiciert
man jungfräulichen Kaninchen Fetusextrakt, wachsen die
Brustdrüsen. Mit der Geburt hört Hormonbildung und Brust-
wachstum auf und die Milchsekretion beginnt (Oppenheimer.)
Soeben meldet Guggisberg, daß Injektion von Placentahormon
bei Kaninchen die Erscheinungen der Kastration aufhebt.
v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion. 259
4. Die Bartholinischen Drüsen (Glandulae bulbou-
rethrales oder vestibulares maiores).
Der Name kommt von Bartholin, einen dänischen Anatomen
(1655— 1738). Zwei erbsengroße Drüsen des Scheidenvorhofes,
deren Ausgang in die inneren Flächen der kleinen Geschlechts-
lippen mündet. Sie entsprechen den Cowperschen Drüsen
des Mannes. Sie sondern bei der geringsten geschlechtlichen
Erregung ein Sekret ab, das vielleicht dazu dient, den Scheiden-
eingang anzufeuchten, um so die Reibung der Beiwohnung zu
mildern. Neben ihnen bestehen die Glandulae vestibulares
minores, Schleimdrüsen am Eingang der Scheide entsprechen
den Littr@’schen Drüsen des Mannes. Über innere Sekretion
wissen wir nichts.
5. Drüsen der Harnröhre (Glandulae urethrales und
paraurethrales).
Die Harnröhre des Weibes ist mit Schleimhaut aus-
gekleidet, in der einzelne tuberöse Drüsen vorhanden sind.
An der Harnröhrenmündung befinden sich kleine Drüsen-
gruppen (paraurethrale Drüsen). Weiterhin liegen hier die
Skene’schen Drüsen (nach Skene, einen amerikanischen Arzt
[1838— 1900] benannt), kleine Blindgänge, die der Prostata des
Mannes entsprechen (Glandulae urethrales). Über die
Sekretion wissen wir nichts.
6. Die Brustdrüsen (Mammae).
Es wird behauptet, daß sie ein Hormon bilden, das an-
regend auf den Geschlechtsapparat wirkt und Uterus-Contrak-
tionen auslöst, also ähnlich wirkt wie der hintere Lappen der
Hypophyse (Aufs. VI, S. 206) (Oppenheimer).
NA
WIE TRITT SYPHILIS AUF?
Von Dr. med. ALBR. MEYENBERG.
p derjenigen Fragen, die aus Laienkreisen immer wieder
gestellt werden, ist die nach der schnellen und richtigen
Erkennung von Geschlechtskrankheiten, die sich durch Ge-
schwüre oder Ausschläge am Körper äußern. So wichtig es
ist, dem Laien stets von neuem zum Bewußtsein zu bringen,
daß er sich in Fällen des Zweifels unbedingt sofort an einen
Facharzt wenden muß, ist es doch nicht zu verkennen, daß
auch der Laie gewisse Kenntnisse besitzen muß, die ihm die
Selbstbeurteilung einer Geschlechtskrankheit ermöglichen, ihm
sagen, wie er sich zu verhalten, und auch, wie er die Maß-
nahmen des Arztes, den er aufsucht, zu bewerten hat. Zu be-
rücksichtigen ist dabei von vornherein, daß der Patient weder
in der Lage ist, die Wassermannsche Reaktion vorzunehmen,
noch mit dem Mikroskop an die Untersuchung seiner Krank-
heit heranzugehen. Eine bestimmte Entscheidung kann also
schließlich immer nur der Arzt treffen. Im Folgenden seien
nun diejenigen Kennzeichen genannt, die als syphilitische oder
als syphilisähnliche Erscheinungen am Körper aufzufassen sind.
Der Schulfall der ersten syphilitischen Erscheinung besteht
beim männlichen Geschlecht in einem linsengroßen Geschwür,
das gewöhnlich am Eichelrande auftritt. Es besitzt harte
Ränder und zeigt nicht in allen Fällen einen eitrigen Belag,
sondern lediglich einen speckigen Grund. Besteht dies Ge-
schwür schon einige Wochen, sind die Leistendrüsen ge-
schwollen, hart und auf Druck unempfindlich, so ist stets mit
voller Sicherheit auf syphilitische Ansteckung zu schließen.
Meyenberg: Wie tritt Syphilis auf? 261
Schwieriger wird die Entscheidung, wenn das Geschwür unter-
minierte Ränder hat, eitrig ist, einen zweifelhaften Grad von
Härte aufweist und wenn die Drüsen schmerzempfindlich sind,
ja sogar in Vereiterung übergehen. Es kann sich dann so-
wohl um gewöhnlichen weichen Schanker handeln, wie auch
um die ungefährliche Herpes, um diese letzte Erkrankung
namentlich dann, wenn ein bläschenförmiger Ausschlag mit
Branderscheinung vorhanden ist. Es besteht aber auch die
Möglichkeit, daß gemischter Schanker vorliegt, und die An-
steckung sowohl von Streptokokken, den Erregern des weichen
Schankers, als auch von Spirochaeten, den Syphiliserregern,
herrührt. Tritt das Geschwür ausgesprochen erst drei Wochen
nach dem Verkehr auf, handelt es sich meist, ganz gleich wie
die Art des Geschwürs ist, nur um Syphilis. Tritt es aber
bereits zwei Tage nach dem Verkehr auf, so handelt es sich
meist um weichen Schanker, der freilich immer noch die
charakteristischen Befunde des syphilitischen Schankers be-
kommen kann, wenn der Patient auch mit Spirochaeten ange-
steckt worden ist.
In diesem Falle kann einen sicheren Anhaltspunkt über
Art und Schwere der Erkrankung nur die mikroskopische
Untersuchung geben. Der Arzt entnimmt dem Geschwür,
nachdem er es gereinigt hat, etwas Reizserum durch Abschaben
der Oberfläche des Grundes des Geschwürs, färbt es entweder
mit Tusche oder nach Giemsa, oder bedient sich der Dunkel-
feldbelichtung. In den meisten Fällen gelangt er mit diesen
Methoden zu einem ziemlich sicheren Ergebnis, doch lassen
sich auch jetzt noch immer keine sicheren Schlüsse auf die
Schwere der Erkrankung ziehen, wie die ausgezeichnete
Arbeit von Oelze in der Dermatologischen Wochenschrift
beweist. Da die Sachlage infolgedessen so ist, daß der
Arzt Syphilis nie mit völliger Sicherheit ausschließen kann,
wenn ein :Geschwür auftritt, so dürfen wir mit Neißer in allen
Fällen keine Bedenken tragen, sofort neben der üblichen ört-
lichen Behandlung Salvarsaneinspritzungen zu machen. Handelt
es sich offensichtlich nur um einen eitrigen Ausfluß, so ist
ohne weiteres durch das Mikroskop festzustellen, ob es sich
um einen Tripper oder um einen Katarrh handelt. Ist aber
der Katarrh hartnäckig und treten in der Folge auch Drüsen-
erscheinungen auf, dann darf nicht vergessen werden, daß auch
262 Meyenberg: Wie tritt Syphilis auf?
eine syphilitische Ansteckung der Harnröhre stattgefunden
haben kann. In diesem Falle ist der eitrige Ausfluß der Harn-
röhre durch Färbe und sonstige Methoden auf Syphiliserreger
zu untersuchen. Ein besonderer Hinweis auf Syphilisverdacht
sind harte Schwellungen der Lymphgefäße des Gliedes. Oft-
mals gibt eine örtliche Untersuchung der ganzen Harnröhre,
insbesondere durch Ableuchtung, hinreichenden Aufschluß.
Sollte sich auch dadurch ein zweifelsfreies Ergebnis nicht
herausstellen, so ist auch dann mit Salvarsan nicht zurück-
zuhalten.
Die bisher geschilderten Erkrankungsformen sind ver-
hältnismäßig einfach festzustellen. Schwieriger gestaltet sich
die Erkennung, wenn die Ansteckung durch Kuß erfolgt ist
und eine Mandelentzündung den Leidenden lange Zeit im
Zweifel läßt, ob er eine gewöhnliche Erkältung hat oder ernst
erkrankt ist. Der Arzt wird den syphilitischen Charakter einer
hartnäckigen Mandelentzündung häufig dadurch erkennen, daß
die Mandeln, mit dem Finger angefaßt, Verhärtungen aufweisen.
Auch wenn die Drüsen am Hals geschwollen und auf Druck
schmerzlos sind, liegt Syphilisverdacht vor. Der Arzt sollte
dann keinen Augenblick zögern, mit der Salvarsanbehandlung
einzusetzen.
Tückischer ist der Charakter dieser Ansteckung, wenn
nach dem syphilitischen Kuß keine Erscheinungen an den
Mandeln auftreten und das Gift gleich durch die Buchten des
Mandelgewebes in den Körper eindring. Dann wird der
Patient erst auf seine Krankheit aufmerksam, wenn sich weitere
Stadien seiner Erkrankung zeigen. Als Kennzeichen für diese
Stadien sind hauptsächlich Hautausschläge, Kopfschmerzen,
Haarausfall und weiterhin gerade bei Gesichtssyphilis häufig
auch Sehstörungen anzusehen. In allen diesen Fällen wird
bei irgendwelchem Zweifel die Blutuntersuchung völlige Auf-
klärung darüber geben, ob es sich um Syphilis handelt. Die
Blutuntersuchung wird immer positiv, sobald die Syphilis aus
dem Stadium der örtlichen Erkrankung in das Stadium der
Gewebeerkrankung übergegangen ist und zwar in der Regel
etwa neun Wochen nach der Ansteckung.
Leider gibt es auch viele Fälle, in denen das zweite
Stadium nur schwach oder überhaupt in keiner Form auftritt,
so daß der Patient erst dann aufmerksam wird, wenn sich die
Meyenberg: Wie tritt Syphilis auf? 263
Erscheinungen des dritten oder vierten Stadiums zeigen. Diese
Fälle rechnen zu den traurigsten, die dem Arzte begegnen.
Ihre Geschichte kann vom Patienten schwer gegeben werden.
Es handelt sich da meist entweder um die halbmondförmigen
Geschwüre, die im dritten Stadium an den Gliedern auftreten
und bei denen die Erkennung ihres syphilitischen Charakters
leicht ist, oder bereits um reine Nervenleiden, deren syphi-
litischer Ursprung, wenn keine Vorstadien vorhanden sind,
schwer nachzuweisen ist. Deswegen sollte bei keinem Nerven-
leiden mit unklaren Angaben über die Herkunft mit der Blut-
untersuchung zurückgehalten werden. Das Mittel der Blut-
untersuchung ist im allgemeinen bei allen zweifelhaften Er-
krankungsfällen heranzuziehen, insbesondere bei Nierenleiden,
welche oft scheinbar unbegründet in den schwersten Formen
schnell auftreten. Auch bei Gelbsucht, die übrigens nicht selten
schon im ersten Stadium auftritt, ist Blutuntersuchung stets zu
empfehlen.
Da oftmals von den Patienten auch die harmlosen Feig-
warzen mit Syphilis verwechselt werden, so sei zur Beruhigung
ängstlicher Gemüter hier bemerkt, daß Wucherungen nicht-
geschwürigen Charakters keinerlei Anlaß geben, auf syphilitische
Ansteckung zu schließen. Sind die Feigwarzen allerdings
geschwürig verändert, dann trifft auch auf sie das bereits
Gesagte zu.
Wie beim Manne, so treten die beschriebenen Erkrankungs-
formen in allen Stadien auch beim Weibe auf. Leider ist es
als feststehend anzusehen, daß das Weib, das ja im allge-
meinen stets irgendwie über Kopf-, Unterleibs- oder Men-
struationsschmerzen zu klagen hat, bei dem schmerzlosen
Charakter der Syphilis auf den Verdacht einer syphilitischen
Erkrankung erst dann kommt, wenn ihm vorgehalten wird, daß
sie einen anderen mit dem Gifte angesteckt hat. Der ana-
tomische Bau der weiblichen Geschlechtsteile ist für jede Art
von Selbstbeobachtung derart ungünstig, daß Frauen nur selten
von selbst auf eine syphilitische Ansteckung aufmerksam werden.
Zur Frage der Übertragung der Syphilis, die ebenfalls
immer wieder gestellt wird, möchte ich nur kurz anmerken,
daß sie in erster Linie durch syphilitische Geschwüre erfolgt.
Es ist aber eine der häufigsten Beobachtungen des Arztes, daß
Ehepaare an Syphilis erkranken, wenn einer von beiden nach
264 Meyenberg: Wie tritt Syphilis auf?
durchgemachter Syphilis in die Ehe ging, obwohl der betreffende
während des Verlaufs der Ehe keine Erscheinungen mehr ge-
habt hat. Es muß in solchen Fällen darauf geschlossen werden,
daß das syphilitische Gift auch durch Speichel, durch kleine
Hautritzten oder Wunden des syphilitisch erkrankten Indi-
viduums in geöffnete Hautspalten oder wunde Stellen des
Körpers des anderen übertreten kann.
Zum Aufsatz „Gesetzliche Freigabe der freiwilligen künstlichen
Frühgeburt“ von Prof. Dr. Kafemann.
Der Verlag hat trotz räumlicher Ausdehnung den Aufsatz
des Herrn Prof. Kafemann ungekürzt zum Abdruck gebracht,
obwohl dieser stellenweise politisch gefärbt ist und die Zeit-
schrift natürlich jede Politik meidet. Er glaubte aber, dies tun
zu müssen, um die volle Stoßkraft und überzeugende Natur-
wüchsigkeit in dieser wichtigen Frage nicht zu beschränken.
Der Verlag.
Tafel I
Frühreifer Zwitter (Hedwig X. geb. 27. Dez. 1902 i. d. Prov. Posen, Polin).
Nach Hirschfeld, Sexualpathologie (Bonn, Marcus u. Weber) zu Reitzenstein, zum
: Verständnis der inneren Sekretion.
Männlich sind gebildet: Penis (4,5 cm lang) mit Hypospadie; Körperbehaarung
(dazu kräftiger, schwarzer Vollbart) Brust; Kehlkopf u. Stimme; Skelett; Muskulatur. Die
männl. Organe zeigen Frühreife. — Weiblich sind gebildet: große und kleine Ge-
schlechtslippen; Scheide (7 cm lang) mit ringförmigen Hymen. Harnröhre, Gebärmutter
7,5 cm lang); geistige Eigenschaften (liebt weibl. Beschäftigung). Menstruation zur Zeit
der Beobachtung noch fraglich. Keimdrüsen damals noch nicht aufgefunden; sind
doppelgeschlechtlich vorauszusetzen.
Tafel II
Abb. 1. Hodenschnitt von einem hochgradig femininen 19jähr. Mann.
(Die dunklen Teile sind die Samenkanälchen) s. S. 274.
Abb. 2. Hodenschnitt von einem 45jähr. Mann (s. S. 274).
Zu Prange: „Die konstitutionelle Basis“
Prange: Die konstitutionelle Basis der Homosexualität 265
Geh. Justizrat Dr. Horch-Mainz +}
Am 26. Juni verstarb in Mainz unser hochverehrter Mit-
arbeiter, Herr Geheimer Justizrat Dr. Horch. In ihm verliert
m die Sexualwissenschaft und besonders auch die Sexual-
reform einen ihrer bedeutendsten juristischen Vorkämpfer.
Die Schriftleitung.
DIE KONSTITUTIONELLE BASIS
DER HOMOSEXUALITÄT.
(UNTER ZUGRUNDLEGUNG DER EXPERIMENTELLEN GE-
SCHLECHTSUMWANDLUNGEN STEINACHS SOWIE EIGENER
BEFUNDE AN HODEN HOMOSEXUELLER MÄNNER.)
Von FRANZ PRANGE, Rostock. .
D: experimentellen Studien Steinachs über die Wirkungen
der von ihm als „Pubertätsdrüse“ bezeichneten innersekre-
torischen Apparate der Keimdrüse haben den verschiedensten
biologischen Forschungsgebieten ungeahnte Perspektiven er-
öffnet. Die Tatsache einer Doppelfunktion der Geschlechts-
drüse, die sich in einer Exkretion der zur Fortpflanzung
dienenden Elemente wie Ei- und Samenzelle, als auch in einer
Innersekretion geschlechtsspezifischer Sexualhormone doku-
mentiert, hat vor allem die Physiologie in der Erkenntnis des
Wesens der inneren Sekretion sehr gefördert. Neben der
Physiologie hat auch eine junge Wissenschaft, die Sexual-
wissenschaft, aus der konsequenten Anwendung der
Steinachschen Theorie eine Anzahl der in ihrer Entstehung
bisher völlig verkannten sexuellen Erscheinungen einer ein-
wandfreien Erklärung zuzuführen vermocht, wie z. B. sexuelle
Frühreife, Hypererotismus, angeborener und erworbener Ge-
schlechtsdrüsenverlust, Bi- und Homosexualität und ver-
schiedene Fälle von echtem und scheinbarem Hermaphroditismus.
Hier wird es vor allem interessieren, wie weit die Steinachschen
Entdeckungen und die im Anschluß daran am Menschen ge-
wonnenen operativen Eingriffe zwecks Behebung der Homo-
sexualität die von Magnus Hirschfeld seit Jahren in seiner
Zwischenstufentheorie vertretene Anschauung der endogen-
konstitutionellen Bedingtheit der gleichgeschlechtlichen Empfin-
dungen im Sinne einer biologischen, durch unvollkommene
Differenzierung der bisexuellen Keimanlage bedingten Variante
bestätigen.
18
266 Prange: Die konstitutionelle Basis der Homosexualität
Die Frage nach dem Angeborensein der Homosexualität
hat neben einem rein wissenschaftlichen Interesse eine un-
geheure praktische, soziale Bedeutung, da Staat und Gesell-
schaft auf Grund haltloser und unbewiesener Behauptungen
seit Jahrhunderten bis in die Gegenwart hinein einen nicht
unerheblichen Teil vollwertiger Mitglieder ‘der menschlichen
Gesellschaft — ihre Zahl wird auf zwei Prozent gewöhnlich
geschätzt — der strafrechtlichen und moralischen Ächtung
ausliefern. Es sei hier nur in Deutschland an den Moltke-
Harden- und an den Eulenburg-Prozeß, in England an den
wegen gleichgeschlechtlicher Betätigung zu mehrjähriger
Zuchthausstrafe verurteilten, hochbegabten Dichter Oscar
Wilde erinnert. Durch die Annahme, daß die Ursache der
Homosexualität in der moralischen Verdorbenheit eines Men-
schen, in zügelloser Ausschweifung und der sogenannten
Übersättigung am Weibe zu suchen sei, unbeschadet der Tat-
sache, daß der überwiegende Teil der Homosexuellen ethisch
durchaus vollwertige Menschen aufweist, suchte man die
Notwendigkeit einer strafrechtlichen Verfolgung zu erklären,
die sich in Deutschland durch den § 175 RStG. inkonsequenter-
weise nur gegen das männliche Geschlecht wendet, während
der weibliche Teil, der nach den Erfahrungen von Hirschfeld,
Rohleder und anderen einen gleichen Prozentsatz homosexuell
Empfindender aufweist, straffrei bleibt. Es ist daher ohne
weiteres klar, daß die Beantwortung der Frage der erworbenen
oder angeborenen Homosexualität von eminenter praktischer
Bedeutung ist, auf deren weitere Konsequenzen hier jedoch
nicht näher eingegangen werden soll.
Gerade die Zwischenstufentheorie und ihre Ätiologie*) sind
ein interessantes Beispiel, wie sich in der Wissenschaft
Theorie und Praxis, von zwei ganz verschiedenen Seiten aus-
gehend, in einem Punkte treffen und zu einer abgerundeten
biologischen Tatsache werden. Die Steinach-Hirschfeld-
sche Lehre, von der ein Spezialfall im folgenden eingehend
erörtert werden soll, sei zunächst in ihren wesentlichsten
Punkten kurz skizziert. Man ging von der Tatsache aus, daß
einem Säugetier (Meerschweinchen, Ratte) nach Kastration der
homologen (d. h. der eigenen) Geschlechtsdrüse eine heterologe
(d. h. des anderen Geschlechts) implantiert werden kann, die
angewachsen die psychischen und somatischen Geschlechts-
charaktere in ihrem Sinne beeinflußt; mit anderen Worten:
*) Lehre von den Krankheitsursachen. (Anm. der Schriftl.)
Prange: Die konstitutionelle Basis der Homosexualität 267
entfernte man z. B. einem Meerschweinchen die Hoden und
setzt ihm dafür einen Eierstock unter die Bauchhaut, so ver-
mochte dieser die männlichen Geschlechtsattribute in weibliche
umzuwandeln; die urentwickelten Milchdrüsen wurden zu
funktionierenden, die imstande waren, beigegebene Junge zu
ernähren, die Behaarung und das Skelettwachstum nahm den
spezifisch weiblichen Charakter an, und endlich wurde der
Geschlechtstrieb ein völlig weiblich passiver. Die Voraus-
setzung einer gelungenen Verwachsung des überpflanzten
Organs mit dem betreffenden Tiere war zunächst die totale
Kastration desselben. Erfolgte diese nicht, so wurde das
Transplantat in kurzer Zeit völlig zurückgebilde. Aus
dieser Tatsache schlo man, daß Hoden und Eierstock
geschlechtsspezifische Hormone sezernieren, die in Gegen-
Wirkung zu einander stehen; ein männlich erotisierter Orga-
nismus ließ daher einen implantierten Eierstock, der durch
die infolge der Operation zunächst unterbrochene Blutver-
sorgung geschwächt ist, gar nicht zum Anwachsen resp. zur
Entfaltung einer innersekretorischen Tätigkeit kommen. Erst
wenn der Organismus durch doppelseitige Kastration sozu-
sagen „neutralisiert“ war, gelang die Operation. Der nächste
Schritt bestand nun in der gleichzeitigen Implantation eines
Hoden- und Eierstockstückes in ein vorher neutralisiertes Tier.
Es war klar, daß in diesem Falle beide Teile die gleichen
Chancen für ein sich Behaupten besaßen, und beiden Ge-
legenheit gegeben war, ihre geschlechtsspezifische Wirkung
zu entfalten. Diese beobachtete man nun tatsächlich, und
zwar erstreckte sie sich auf eine positive Beeinflussung beider
Sexualcharaktere, d. h. die beiden Transplantate förderten die
ihnen homologen Sexuszeichen ohne die heterologen zu
hemmen. Es resultierten Tiere mit starkem männlichen
Knochengerüst, männlichem Behaarungstypus und vollweiblich
entwickelten Milchdrüsen. Interessant war in diesen Fällen
das Verhalten des Geschlechistriebes: die Tiere zeigten ein
bisexuelles Benehmen, das sich teils in einem Nebeneinander-,
teils in einem Hintereinanderbestehen männlicher und weib-
licher Erotisierung äußerte.
Die den erwähnten operativen Eingriffen unterzogenen
Tiere zeigten nun zwar im Prinzip stets das gleiche Verhalten
in der Aus- resp. Rückbildung der somatischen und psychischen
Sexualcharaktere, jedoch war die Stärke der Ausbildung
individuell außerordentlich schwankend, analog den Erschei-
nungen, wie sie auch in den Reihen der sexuellen Varianten
18*
268 Prange: Die konstitutionelle Basis der Homosexualität
des Menschen beobachtet werden. Bei den experimentellen
Geschlechtsumwandlungen konnte Steinach nun zeigen, daß
der Ausbildungsgrad der Sexualorgane proportional der
Funktionskraft jenes Zellkomplexes war, den er als „Puber-
tätsdrüse“ bezeichnete. In diesem Organ, das in den Jahren
der Geschlechtsreife außerordentlich stark entwickelt ist, er-
blickte Steinach die Ursache gesteigerter sexueller Reife, die
durch das Erwachen des Geschlechtstriebes, beim Knaben
durch die Mutation, beim Mädchen durch die Menstruation und
das Anschwellen der Brüste das Pubertätsalter charakterisiert.
Jene Pubertätsdrüse war also, wie das Experiment zeigte,
von so eminenter Bedeutung für die Entfaltung der sexuellen
Persönlichkeit durch die Sekretion eines geschlechtsspezifischen
Hormons. Was stellt sie nun anatomisch dar? Beim Hoden
sind es jene großen Zellen, die einzeln oder in kleinen Gruppen
als Leydigsche Zellen in dem Bindegewebe liegen, das die
Lücken zwischen den samenbildenden Kanälen ausfüllt. In
der Pubertät sind jene Leydigzellen außerordentlich vermehrt,
so daß sie einen drüsigen Eindruck machen. Zahl und Auf-
treten der Leydigzellen, der „männlichen Pubertätsdrüse“, sind
außerordentlichen Schwankungen unterworfen, die durch die
verschiedensten äußeren und inneren Faktoren bedingt sein
können. Zunächst sah man bei dem transplantierten Hoden,
daß, auch wenn er in dem operierten Tier die Folgen der
Kastration zu verhindern und die ihm homologen Geschlechts-
charaktere zur Entwickelung zu bringen vermochte, bei späterer
mikroskopischer Untersuchung, daß die samenbildenden Kanäl-
chen bis auf einen dünnen Epithelbelag völlig degeneriert
waren, somit die exkretorische Fähigkeit erloschen war, hin-
gegen die inkretorischen Elemente, die Leydigzellen, nicht nur
erhalten, sondern sogar vermehrt waren, wodurch verständlich
wurde, daß das Versuchstier den Vergleichstieren nicht nur
sexuell gleichwertig, sondern sogar überlegen war, was sich
durch überstarken Geschlechtstrieb bei beiden Geschlechtern
und beim Weibchen noch besonders durch Milchsekretion und
hochentwickelten Uterus kundtat, was um so auffälliger sein
mußte, da es sich um junge und keineswegs ausgewachsene
Tiere handelte.
Dieselben Gesetze, wie sie die männliche Pubertätsdrüse
zeigte, gelten auch für die weibliche, nur daß hier die anato-
mischen Verhältnisse andere sind, wie ja schon der ganze
Bau und die Funktion des Ovariums von denen des Hodens
stark verschieden sind. Im Ovarium kann man, genau ge-
Prange: Die konstitutionelle Basis der Homosexualität 269
nommen, zwei Elemente für die innere Sekretion verant-
wortlich machen, die beim Menschen zeitlich von einander
getrennt sind. Es sind das einmal die sogenannten atretischen*)
Follikel, zweitens das Corpus luteum. Erstere sind unreife
Eier, die nach einer gewissen Zeit zugrunde gehen und Ver-
anlassung zu einer Umwandlung des sie umhüllenden Binde-
gewebes in innersekretorische Zellen geben. Normalerweise
wird zur Zeit der Pubertät diese Pubertätsdrüse von dem
Corpus luteum abgelöst, das aus dem Follikelapparat eines
reifen, ausgestoßenen Eies hervorgeht, und dessen vermehrte
innere Sekretion die Uterusschleimhaut für die zu erwartende
Empfängnis vorbereitet. Bei den transplantierten Ovarien
kommt es nun zwar nie zu einer Reifung und Ausstoßung des
Eies, somit auch nicht zu einer Corpus luteum-Bildung, jedoch
gehen hier zahlreiche halbreife Eier zugrunde, die dadurch
eine bedeutende Vermehrung der innersekretorischen Zellen
bedingen, wodurch die sexuelle Persönlichkeit des betreffenden
Individuums erhalten bleibt. An dieser Stelle sei kurz darauf
hingewiesen, daß die Fähigkeit einer künstlich zu verstärkenden
innersekretorischen Wirkung die Grundlage der Verjüngung
geschaffen hat, die primär in einer Neubelebung der alternden
Pubertätsdrüse, die durch die Transplantation einer jungen
Drüse, Abbindung des Samenleiters oder Röntgenbestrahlung
relativ leicht zu erreichen ist.
Die oben geschilderten Fähigkeiten der Pubertätsdrüse
wurden bald von chirurgischer Seite zu therapeutischen Maß-
nahmen verwendet, um bei erworbenem und angeborenem
Geschlechtsdrüsenverlust Ausfallserscheinungen des Sexual-
charakters zu beheben, was durch Einpflanzung gesunder
Hodenstücke unter die Bauchhaut vollauf gelang. Nachdem
die Steinachschen Tierexperimente in ihrer therapeutischen
Anwendung auf den Menschen bei den erwähnten inner-
sekretorischen Störungen so erfolgreich ausgefallen waren,
wandte man sich den Erscheinungen der menschlichen Homo-
sexualität zu, die nach der Steinach-Hirschfeldschen Lehre als
die Auswirkung einer zwitterigen Pubertätsdrüse analog den
experimentell erzeugten Zwitterbildungen anzusprechen war.
Wenn also die Ursache der inversen Triebrichtung in der
Keimdrüse lokalisiert war, so mußte man durch Kastration und
Wiedereinsetzung eines gesunden Hodens nicht nur die Homo-
*) atretischer Follikel = ein nicht gereifter Follikel der Rückbildung
anheim fällt. (Anm. der Schriftl.)
270 Prange: Die konstitutionelle Basis der Homosexualität
sexualität zum Verschwinden, sondern auch die normalsexuelle
Triebrichtung zur Entfaltung bringen können.
Die von dem Chirurgen Lichtenstein in diesem Sinne
ausgeführten Operationen an sechs homosexuellen Männern
führten nun tatsächlich zu dem gewünschten Ergebnis einer
Umstimmung des Trieblebens, Man kann also damit den
Beweis für erbracht ansehen, daß die homosexuelle Neigung
mit verschwindenden Ausnahmen die Ursache einer ange-
borenen Anomalie des innersekretorischen Keimdrüsenanteils
ist. Da die Erfolge der .Gonadentransplantation ganz gemäß
den Erfahrungen des Tierexperiments verliefen, und damit die
Annahme einer mangelhaften geschlechtsspezifischen Differen-
zierung der Pubertätsdrüse — das Postulat für die Ätiologie der
Zwischenstufentheorie Hirschfelds — zu bestätigen schienen,
wandte Steinach seine Aufmerksamkeit der histologischen
Untersuchung der menschlichen homosexuellen Hoden zu.
Nach seiner Ansicht handelt es sich tatsächlich um eine
zwittrige Pubertätsdrüse, die er in allen sechs Fällen nach-
gewiesen zu haben glaubt; die Keimdrüsen homosexueller
Männer zeigen nach ihm folgende Abweichungen: eine mehr oder
weniger weitgehende Degeneration des samenbildenden Ge-
webes, die mit fortschreitendem Alter zum völligen Verschwinden
desselben führt; die Leydigzellen, das innersekretorische Organ
für die männliche Erotisierung, ist nicht vermehrt, eher ver-
mindert, teilweise degenerativ verändert. Im Gegensatz hierzu
beobachtete er auffallend große Zellen, die einzeln oder in
Gruppen überall in homosexuellen Hoden anzutreffen waren
und ihn morphologisch an die Luteinzellen, die innersekre-
torischen Zellen des Eierstocks, erinnerten. Diesen Zellen, die
er als F-Zellen bezeichnet, glaubt er nun die feminierende
Wirkung zuschreiben zu müssen.
Die Annahme Steinachs hat viel Bestechendes, und der
objektive histologische Nachweis der sexuellen Inversion würde
weitreichende medizinische und forensische Konsequenzen zu-
lassen. Man könnte dann durch die Probeexstirbation eines
Hodenstückes bei einem Patienten den Nachweis einer endo-
krinen Homosexualität führen, sodaß im positiven Falle die
operative Beeinflussung gegeben erscheint. Auch auf juristischer
Seite wird auf die einwandfreie Beantwortung der Frage, ob an-
geborene oder erworbene Homosexualität vorliegt, Wert gelegt;
fordert doch der bekannte Strafrechtslehrer Wachenfeld für die
erstere Straffreiheit, während er für die erworbene, die er für
die überwiegend häufigere und für eine Erscheinung verderbter
Prange: Die konstitutionelle Basis der Homosexualität 271
Sexualethik hält, den 8 175 beibehalten wissen will. Zur Kritik
dieser Forderung sei nur gesagt, daß, wenn der Steinachsche
Nachweis einwandfrei zu erbringen wäre, es in praxi kaum
irgendwelchen Zweck hätte, alle aus & 175 inkriminierten Fälle
einem operativen Eingriffe zwecks Nachweis kongenitaler Homo-
sexualität zu unterziehen, denn einerseits würde in den positiven
Fällen, die nicht zur Bestrafung kämen, die Tatsache einer gericht-
lichen Untersuchung allein die Angeklagten gesellschaftlich ruinie-
ren, andererseits würde die Ausübung homosexueller Handlungen,
die zu-inhibieren ja die primäre Aufgabe des betreffenden
Paragraphen sein soll, kaum irgendwelche Einschränkung er-
fahren, da nur ein ganz geringer Prozentsatz homosexueller
Triebäußerungen auf eine erworbene Homosexualität zurück-
zuführen ist. So hat bereits Krafft-Ebing den ätiologischen
Begriff der erworbenen Homosexualität durch den zeitlichen
der spät auftretenden Homosexualität in seiner letzten, 1900
veröffentlichten Arbeit ersetzt, in der Erkenntnis, daß die bei
Bisexuellen oder im späteren Alter beobachteten homosexuellen
Handlungen, die bei oberflächlichem Betrachten als Äußerungen
acquirierter Homosexualität im Sinne von Übersättigung am
Weibe oder anderer moralischer Lasterhaftigkeit bewertet
wurden, sich bei eingehender Untersuchung als konstitutionell
bedingte, zunächst verborgene Triebvariationen erwiesen, die in
sehr vielen Fällen alsBisexualität aller Schattierungen fortzudauern
vermögen. So wichtig für die klinische und biologische Beur-
teilung der morphologische*) Nachweis der Homosexualität ist,
so gleichgültig ist er für die juristische. Falls diese für die ange-
borene gleichgeschlechtliche Betätigung Straffreiheit verlangt, die
infolge ihrer ganzen Struktur nicht als ein Produkt der Immo-
ralität anzusprechen ist, so wäre der $ 175 zu eliminieren, da
die Homosexualität, auf dem Wege der Keimdrüsentransplantation
umstimmbar als angeborene Anomalie für bewiesen gelten muß.
Der histologische**) Nachweis einer zwittrigen Pubertätsdrüse,
wie sie Steinach für das mikroskopische Bild des homosexuellen
Hodens postuliert, kann jedoch auf Grund weiteren Unter-
suchungsmaterials, das von Patienten des Berliner „Instituts
für Sexualwissenschaft“ von Dr. Magnus Hirschfeld her-
rührt, die der Kastration und der Hodenüberpflanzung zwecks
Beseitigung resp. Umstimmung ihres homosexuellen Geschlechts-
*) Morphologie = Lehre von den Formen der Organismen. (Anm.
der Schriftl.)
*) Histologie = Gewerbelehre. (Anm. der Schriftl.)
272 Prange: Die konstitutionelle Basis der Homosexualität
triebes unterzogen wurden, nicht in der von Steinach als
typisch geschilderten Weise bestätigt werden. Im folgenden
sei der Befund von vier Fällen mitgeteilt, von denen zwei am
Anfange des zweiten, zwei in der Mitte des vierten Lebens-
jahrzehnts standen. Bei den der Tranplantation unterzogenen
Fällen konnte nun zwar deutlich die Wirkung einer veränder-
ten Erotisierung wahrgenommen werden, ein für die Homo-
sexualität typischer Befund war aber nicht nachweisbar, wenn-
gleich in allen Fällen beträchtliche Abweichungen vom normalen
histologischen Bilde auffällig waren. Wenn nun auch im Ge-
dankengang der Steinachschen Experimente per analogiam das
ätiologische Postulat einer zwittrigen Pubertätsdrüse in homo-
sexuellen Hoden psychologisch verständlich erscheint, so scheint
die Steinachsche Auslegung doch etwas einseitig zu sein.
Zunächst sind die die Kriterien, die Steinach an seine Befunden
erhebt, ziemlich dürftig und unbestimmt. Er spricht von
degenerierten Samenkanälchen und von verschieden färbbaren
interstitiellen Zellen von teils auffallender Größe, ohne jedoch
numerische Werte anzugeben. Wenn man bedenkt, wie variabel
das Bild des normalen Hodens je nach dem Alter des betr.
Individuums ist, wie verändernd die verschiedensten endogenen
und exogenen *) Schäden — Tuberkulose, Gonorrhoe, Mißbrauch
der mannigfaltigen Narkotika, Röntgenbestrahlung, endlich die
klimatischen Einflüsse — auf die in- und exkretorischen Anteile
dieses Organs einzuwirken vermögen, so erscheinen die von
Steinach verlangten Merkmale zur einwandfreien morphologischen
Beurteilung der homosexuellen Konstitution nicht ausreichend.
Überhaupt muß schon eine objektive theoretische Überlegung von
Anfang an das sporadische Auftreten von den innersekretorischen
Ovarialzellen morphologisch gleichwertigen Zellen im Hoden
bezweifeln, wenn man sich die Funktion des eingangs ge-
schilderten innersekretorischen Apparats des Ovariums ver-
gegenwärtigt. Als Pubertätsdrüse war dort immer jener Zell-
komplex anzusprechen, der aus dem Prozeß der atretischen
oder normal ausgereiften Eifollikel — im letzten Falle als
Corpus luteum — resultierte. Es war also stets eine Eizelle
als primäres Bildungssubstrat erforderlich. Die von Steinach
veröffentlichten Abbildungen und ebensowenig die späteren
Untersuchungen lassen den Schluß zu, daß im Hodenzwischen-
gewebe Follikelbildungen den F-Zellen den Ursprung gegeben
*) endogen innerlich entstehend; exogen von außen stammend.
(Anm. der Schriftl.)
Prange: Die konstitutionelle Basis der Homosexualität 273
haben; auch hätte man ja bei dem verschiedenen Altersstufen
angehörigen Material in verschiedenen Schichten auch einmal
Primärfollikel antreffen müssen, was jedoch nie der Fall
war. Die von Steinach als analoge natürliche Parallele heran-
gezogenen Befunde an den Hoden einer homosexuellen Ziege
lassen die Abkunft der weiblichen Pubertätsdrüsenzellen von
atretischen Follikeln anatomisch deutlich erkennen und sind
nicht geeignet, seine Auffassung der F-Zellen beim
Menschen zu stützen. Wenn schon die topographische An-
ordnung der F-Zellen die Ableitung von typischen Ovarial-
bestandteilen nicht zuläßt, so ist das bloße Kriterium der
Größe ohne numerische Wertangaben noch hinfälliger, da
die Größe der Leydigzellen und Luteinzellen keine wesent-
lichen Unterschiede aufweist; gerade diese Tatsache sprang
bei einem menschlichen Ovotestis*) von Benda besonders
deutlich in die Augen, wo männlicher und weiblicher Anteil
anatomisch scharf voneinander gesondert waren, die Lutein-
zellen des Corpus luteum und die stark vermehrten Leydig-
zellen einzeln miteinander verglichen, in Größe und Färbbarkeit
keine prinzipiellen Abweichungen zeigten. Erscheint daher das
Suchen nach spezifischen Zellelementen, die den ovariellen
Sekretzellen als morphologisch gleichwertig zu erachten wären,
nach dieser Überlegung zwecklos, so muß man doch immerhin
annehmen, daß ein Hoden, dessen sexualphysiologische
Wirkung bisexueller Erotisierung auf Grund der Beeinflussungs-
möglichkeiten in der Keimdrüse lokalisiert sein muß, doch
irgendwelche anatomische Abweichungen vom normalen Befunde
bieten muß.
Wie schon erwähnt, ist, ganz abgesehen von allen exogenen
Schädigungen, die das mikroskopische Bild des Hodens weit-
gehend zu verändern vermögen, die große Variationsbreite
des Hodens eines gesunden Individuums auffallend. Und
in die extremen Richtungen sind nun die Befunde bei
Homosexuellen zu gruppieren, die, ohne unter sich be-
sondere Übereinstimmungen zu zeigen, sich von der Norm
und dem ihren Jahren entsprechenden Status weit entfernen.
Auf Tafel II in Abbildungen 1 und 2 sind zwei Hodenschnitte
(Vergr. 46) dargestellt, von denen 1 einem hochgradig femi-
ninen 19jährigen, 2 einem 45jährigen Manne angehört. Die
Divergenz ist schon bei oberflächlicher Betrachtung sofort
*) Geschlechtsdrüse, die Eierstock- und Hodengewebe enthält.
(Anm. der Schriftl.)
274 Prange: Die konstitutionelle Basis der Homosexualität
auffällig: bei dem Jüngling eine starke Vermehrung des Inter-
stitiums, das die Samenkanälchen völlig voneinander isoliert,
bei dem Manne sind die Lageverhältnisse der Kanälchen der
Norm entsprechend, auffallend ist hier die in diesen Jahren
ungewöhnliche Vermehrung der Leydigzellen, die in der Ab-
bildung 2 in der Mitte und rechts unten deutlich als dunkle,
kompakte, wuchernde Massen sich zwischen die Kanälchen
drängen. Ihr succulentes*) Aussehen und ihre teilweise be-
trächtliche Größe erinnern zwar an die Corpus luteum-Zellen,
lassen jedoch in ihrer topographischen Anordnung die Ab-
leitung von Eifollikeln höchst unwahrscheinlich erscheinen. Diese
Wucherung der Leydigzellen, die ebenfalls bei einem weiteren
älteren Patienten beobachtet wurde, wird jedoch bei den
jugendlichen Hoden völlig vermißt. Dort liegen sie nur
spärlich zu zwei bis drei in dem hypertrophischen Bindegewebe,
auch die Größe der einzelnen Zellen bietet nichts Ungewöhn-
liches. Auffällig ist für ein Individuum an der Schwelle
sexueller Reife das ziemlich zahlreiche Vorhandensein degene-
rierender Samenkanälchen, eine Erscheinung, die dieser und
ein weiterer jugendlicher Hoden mit den älteren gemeinsam
hat. Tafel III zeigt in Abbildung 1 einen normalen Hoden
(Vergr. 150), in Abb. 2 das Bild von Tafel II, Abb. 2 stark ver-
größert. Der Unterschied zwischen beiden Bildern ist auch
hier evident. In 1 einige Leydigzellen sporadisch zwischen
den Samenkanälchen, deren Samenbildung in vollem Gang
ist, bei 2 die große Wucherung der Leydigzellen, rechts oben
ein degenerierendes Kanälchen, deutlich charakterisiert durch die
großen Vakuolen im Keimepithel. Außerdem waren in diesem
Hoden noch chromatinreiche Riesenkernzellen in einigen Kanäl-
chen anzutreffen, über deren Natur jedoch z. Z. noch nichts
Bestimmtes ausgesagt werden kann. Die numerischen Werte
der Leydigzellen stehen bei den jüngeren und älteren homo-
sexuellen Hoden gerade im umgekehrten Verhältnis zu denjenigen,
wie sie beim normalen Hoden angetroffen werden, der in den
Pubertätsjahren eine relativ zu den Samenkanälchen vermehrte
Zahl von Leydigzellen aufweist, die mit zunehmender Mann-
barkeit nur noch verstreut in den Winkeln zwischen den
Kanälchen erscheinen (Abbildung Il, Tafel 2), während man bei
den homosexuellen Hoden mit zunehmenden Jahren eine
ungewöhnlich starke Vermehrung beobachtet.
Ob nun die divergenten Befunde bei älteren und jüngeren
*) von lat succus Saft.
Prange: Die konstitutionelle Basis der Homosexualität 275
homosexuellen Hoden für das betreffende Alter typisch sind, —
es sind dieser Betrachtung ja nur vier Fälle zugrunde gelegt,
von denen die Befunde bei den jugendlichen und den älteren
unter sich übereinstimmen — kann erst nach Durchsicht
größeren Materials entschieden werden, jedenfalls sind im
Gegensatz zu der Steinachschen Auffassung für die homo-
sexuelle Struktur typische, in allen vier Fällen nachweisbare
Merkmale nicht vorhanden. Anatomisch muß man sich zur
Zeit mit der Tatsache zufrieden geben, daß die Befunde an
Hoden, die eine von der Norm abweichende innersekretorische
Tätigkeit zeigten, innerhalb der sehr beträchtlichen Variations-
breite des Hodenbildes höchst extrem gruppiert sind. Da
man einerseits den Leydigzellen an sich es nicht ansehen kann,
ob sie männliches oder weibliches Hormon sezernieren, das
Experiment andererseits diese Fähigkeit einer doppelgeschlecht-
lichen Sekretion wahrscheinlich erscheinen läßt, kann man
heute nur von einer „sexuellen Bipotenz“ der innersekre-
torischen Elemente im Sinne der Funktion der zwittrigen
Pubertätsdrüse sprechen, die vielleicht auf dem physiologisch-
chemischem Wege, etwa der Abderhaldenschen Abbaureaktionen,
objektiv eindeutig nachweisbar gemacht werden könnte.
*
AnmerkungderSchriftleitung: Wir bringen die vorstehenden Aus-
führungen, die in sehr interessanter Weise die histologische Seite der Homo-
sexalitätzubehandeln suchen, möchten aber unsere Leser aufmerksam machen,
daß hier noch sehr wenig Klarheit herrscht. Vielleicht gibt die Arbeit die
Ursache einer weiteren Behandlung dieser Frage von verschiedenen Seiten.
NNV.
Yy
HOROHORO KOI
DIE BESTRITTENE MONOGAME VERANLAGUNG
DES MANNES.
Von Dr. jur. HANS SCHNEICKERT, Berlin.
fr der „Zeitschrift für Sexualwissenschaft“, Band 3, Heft 9
(Dezember 1916), Seite 359 ff. habe ich die Frage „Die
Monogamie des Mannes ein Naturgesetz?“ näher behandelt,
ausgehend von der Behauptung Vaertings (in der gleichen
Zeitschrift, Heft 6/7, Seite 244 ff. 1916): „Der Mann neigt von
Natur aus mehr zur Monogamie als das Weib“. Ich habe dort
die von Vaerting angeführten Gründe im einzelnen näher ins
Auge gefaßt und zu widerlegen versucht. Daraufhin hat
Vaerting in Heft 11/12, Seite 141 ff. derselben Zeitschrift seine
Gründe wieder verteidigt. Da mir bisher keine Gelegenheit
geboten war, auf diese Erwiderung einzugehen, so soll dies
hier geschehen.
Wenn die Frage, ob Mann oder Frau mehr monogam
veranlagt sei, nur eine akademische Frage wäre, könnte der
Streit und die Lösung der Frage für das praktische Leben
sehr gleichgültig sein. In der heutigen Sexualpolitik aber spielt
diese Frage doch eine gewisse Rolle, ihre Bedeutung für die
öffentliche Moral, die Ethik, die Ehereform und die Prostitution
kann nicht geleugnet werden. Nur aus diesem Grunde sehe
ich mich veranlaßt, mich weiter mit dieser Streitfrage zu
beschäftigen.
Vaerting vertritt, wie einige andere Schriftsteller vor ihm,
den Standpunkt, daß die monogame Veranlagung des
Mannes ein Naturgesetz sei und hat dafür eine Reihe
Beweisgründe angeführt, deren Beweiskraft ich aber bestritten
habe. Es ist ein Irrtum des Verfassers, zu glauben, ich wollte
exakte Beweise für die Behauptung, daß die monogame Ver-
anlagung des Mannes kein Naturgesetz ist, in. meiner kurzen
Entgegnung erbringen. Das hatte ich gar nicht nötig, da dies
bereits lange vor mir andere getan haben. Es wäre also Sache
des Verfassers gewesen, sich eingehend mit den in der Liter-
atur bereits vielfach vertretenen Gegenbeweisen zu beschäftigen.
Ich überlasse es dem unbefangenen Leser, zu beurteilen, was
Schneickert: Die bestrittene monogame Veranlagung des Mannes 277
von des Verfassers zahlreichen Behauptungen als von ihm auch
„bewiesen“ anzusehen sei. Wenn sich Verfasser aber wirklich
die Mühe eines ernsthaften Beweises geben will, so darf er
am wenigsten versäumen, die Formen der Geschlechts-
verbindungen der Völker in ihrem Urzustande genauer zu
studieren, mit anderen Worten die Urgeschichte der Ehe.
Dr. Bloch hat in seinem Buche „Das Sexualleben unserer
Zeit“ im 10. Kapitel über die sozialen Formen der sexuellen
Beziehungen und über die Ehe ein reichhaltiges geschichtliches
Material zusammengetragen und kommt auf Grund seiner
Studien zu einem, meinen hier vertretenen Standpunkt recht-
fertigenden Ergebnis; ich zitiere aus seiner voll überzeugenden
Darstellung folgende drei Stellen: „Wer die Natur des Ge-
schlechtstriebes kennt, wer sich über den Gang der Entwicklung
des Menschengeschlechts klar geworden ist, und wer endlich
die noch heute herrschenden Zustände auf geschlechtlichem
Gebiete bei primitiven Völkern und modernen Kulturvölkern
studiert, dem kann gar kein Zweifel darüber aufkommen, daß
in den Anfängen der Menschheitsentwicklung tatsächlich ein
Zustand der geschlechtlichen Promiskuität*) geherrscht
hat.“ ... „Es ist auch sonnenklar, daß das geschlechtliche
Variationsbedürfnis des Menschen, welches eine anthro-
pologische Erscheinung darstellt, in der Urzeit sich um so
stärker und ungezügelter äußern mußte, als noch das ganze
Leben sich nicht über das Niveau rein physischer Bedürfnisse
erhob. Wenn nun heute, im Zustande der fortgeschrittensten
Zivilisation, nach Ausbildung einer das ganze gesellschaftliche
Leben durchdringenden und beeinflussenden geschlechtlichen
Moral, dieses natürliche Variationsbedürfnis sich beinahe noch
in unverminderter Stärke äußert, so bedarf es eigentlich keines
Beweises mehr, daß in primitiven Zuständen geschlecht-
liche Promiskuität das Ursprüngliche, ja eigentlich das
Natürlichere ist als die Ehe.“ ... „Es liegt in dieser Vor-
stellung durchaus nichts das Menschengeschlecht Herab-
würdigendes, im Gegenteil bekundet sich in der Entwicklung
individueller Dauerbeziehungen zwischen Mann und Weib aus
dem Zustande einer ursprünglichen Promiskuität heraus ein
ständiges Fortschreiten von niederen zu höheren sozialen
Formen der Geschlechtsbeziehungen, eine sukzessive Vervoll-
kommnung und Veredelung derselben bis zur monogamen
Ehe, die auch heute noch ein bloßes Ideal ist, da die
*) geschlechtliche Verbindung ohne gesetzliche Form.
278 Schneickert: Die bestrittene monogame Veranlagung des Mannes
Wirklichkeit ihr nicht entspricht oder die ursprüngliche reine
Idee verfälscht und verdunkelt hat.“
Dr. Bloch hat sich dort auch schon mit Westermarck
näher beschäftigt und erklärt, daß die neueren ethnologischen
Forschungen die Unhaltbarkeit der Westermarck’schen Kritik
der Promiskuitätslehre dargetan habe.
Wer andererseits z. B. die Schrift von Dr. Josef Müller,
Das sexuelle Leben der alten Kulturvölker (Leipzig, 1902)
studiert, der den Standpunkt vertritt, daß schon bei den primi-
tiven Menschen die Monogamie gepflegt wurde,*) und daß
rohe Auswüchse des geschlechtlichen Lebens auf dieser Stufe
schon eher als Entartungserscheinungen einer vorgeschritteneren
Zeit, denn als Vorstufen einer höheren Kultur anzusprechen
seien, wird aber finden, daß die geschlechtliche Promis-
kuität stets das Primäre war, und daß die Statuierung
der Monogamie stets ein dieses schützendes Verbot und die
Bestrafung der Bigamie und zuweilen auch des Konkubinats
begleitet hat. Diese Begleiterscheinungen walten bei den heu-
tigen Kulturvölkern genau noch so und beweisen, daß es
irgendwelche Naturtriebe im Geschlechtsleben geben muß, die,
wie z. B. die diebischen Neigungen des Menschen, bekämpft
und unterdrückt werden müssen, sie beweisen ferner, daß
zwischen einem Geschlechtstriebe, sei er monogam oder polygam,
scharf zu unterscheiden ist die gebotene Einrichtung der
Monogamie oder die geduldete Polygamie als Eheform.
Verfasser will die Ansicht eines Philosophen wie
Schopenhauer nicht anerkennen, weil er keine Autorität in
Fragen der Monogamie sei, verweist sogar auf den „alternden“
Philosophen, der die polygame Veranlagung des Mannes
betont habe. Richtig ist zwar, daß in Fragen der Moral und
sexuellen Angelegenheiten die Ansicht der Menschen leicht
wechseln und im Alter im Gegensatz stehen zu den in der
Jugend bekannten und gepflegten Ansichten. Schopenhauer
ist aber nicht der Mann, dem eine Änderung seiner Ansicht,
wenigstens nicht bei der Frage der Polygamie des Mannes,
vorgeworfen werden könnte. Und was seine Menschenkennt-
nisse und insbesondere seine geschichtlichen, religiösen und
ethischen Kenntnisse anlangt, so wird er noch jeder unserer
Autoritäten in der Frage der Monogamie als gleichwertig gegen-
*) Die Studie von Dr. Müller scheint mir einen mehr den Sittlich-
keits- oder religiösen Standpunkt der alten Kulturvölker beleuchtenden
Zweck zu haben, weniger aber einen sexualwissenschaftlichen,
Schneickert: Die bestrittene monogame Veranlagung des Mannes 279
übergestellt werden dürfen. Mit solchen oberflächlichen Be-
merkungen fertigt man Gegner nicht ab.
Wenn aber Verfasser sich nur mit Forschern der Sexual-
wissenschaft abgeben will, so kann ich ihm auch solche nam-
haft machen, die über die polygame Veranlagung des Mannes
auf Grund ihrer Studien am Menschengeschlechte selbst keinen
Zweifel haben. v. Krafft-Ebing sagt z. B. in seiner
„Psychopathia sexualis“ im einleitenden Kapitel: „Von hohem
psychologischem Interesse erscheint es, die Entwicklungsphasen
zu verfolgen, durch welche im Laufe der Kulturentwicklung
der Menschheit das Geschlechtsieben bis zu heutiger Sitte
und Gesittung hindurchgegangen ist. Auf primitiver Stufe
erscheint die Befriedigung sexueller Bedürfnisse der Menschen
wie die der Tiere. Der geschlechtliche Akt entzieht sich nicht
der Öffentlichkeit, und Mann und Weib scheuen sich nicht,
nackt zu gehen. Auf dieser Stufe sehen wir (vergl. Ploß,
Das Weib in der Natur- und Völkerkunde) heute noch wilde
Völker, wie z. B. die Australier, Polynesier, Malayen der
Philippinen. Das Weib ist Gemeingut der Männer, temporäre
Beute des Mächtigsten, Stärksten. Dieser strebt nach den
schönsten Individuen des anderen Geschlechts und erfüllt
damit instinktiv eine Art geschlechtlicher Zuchtwahl.*
v. Krafft-Ebing kommt zu dem Schlusse, daß die seelische
Neigung des Weibes eine monogame ist, während der Mann
zur Polygamie neigt.
Ich bin nun, wie bereits in meinem zitierten Artikel her-
vorgehoben, der Ansicht, daß die Frage der monogamen oder
polygamen Veranlagung nicht unter Betonung eines bestimmten
Geschlechts beantwortet werden kann, und daß man die Frage nur
"so stellen kann: Sind die Menschen monogam veranlagt? Dieser
Standpunkt findet eine Stütze in dem von Dr. Bloch (a. a. O.
Seite 228) aufgestellten Prinzip des sexuellen Variations-
bedürfnisses: „Die menschliche Liebe als Ganzes und in ihren
einzelnen Äußerungen wird in diesem Bedürfnis nach Ab-
wechslung, nach Veränderung beherrscht und beeinflußt. Auf
dieses Ur- und Grundphänomen der menschlichen Liebe hat
schon Schopenhauer hingewiesen, es aber mit Unrecht nur
auf den Mann beschränkt.“ Genau betrachtet ist aber
das sexuelle Variationsbedürfnis und die polygame Veranlagung
des Menschen dasselbe.
Auf einen Punkt, dem Dr. Vaerting eine besondere Be-
deutung beimißt, als Beweis der monogamen Veranlagung des
Mannes muß ich noch einmal zurückkommen. Es ist die
280 Schneickert: Die bestrittene monogame Veranlagung des Mannes
Statistik, die ein Überwiegen der Knabengeburten be-
stätige und es schon aus diesem Grunde dem Manne un-
möglich mache, mehr als ein Weib begatten zu können.
Verfasser ist auf meine Einwendungen gegen diesen Beweis
der Statistik nicht näher eingegangen und kann jedenfalls
auch nicht in Abrede stellen, daß eine Geburtenstatistik zum
Nachweis des Bevölkerungszuwachses oder der Bevölkerungs-
abnahme geführt wird, und daß eine Statistik, die zum Nach-
weis einer monogamen oder polygamen Veranlagung der
Menschen aufgestellt würde, von ganz anderen Voraussetzungen
ausgehen müßte, sofern sie überhaupt möglich wäre. Aber
angenommen, auf 110 Knaben kämen nur 100 Mädchen, zu-
folge eines statistischen Nachweises des Knabenüberschusses.
Steht aber fest, in welchem Verhältnis die hier möglichen
Geschlechtspaare zeugungs- oder begattungsfähig sind? Es
ist bis jetzt durch nichts bewiesen, daß die Natur -immer nur
zugunsten des männlichen Geschlechts Korrekturen dieses
ungleichen Geschlechtsverhältnisses eintreten läßt, sodaß ich
zunächst (allerdings, ohne es beweisen zu können, weil solche
Beweise die Grenzen des Menschenmöglichen streifen oder
gar übersteigen), den Einwand machen kann, daß sich sehr
wohl das Verhältnis 110 M — 100 W bis zur Geschlechts-
reife in das Verhältnis 55 M — 60 W, oder 110 W — 100 M
verwandeln kann. Dann stünde einem (wenn auch nicht allen)
Manne mehr als ein Weib zur Verfügung. Die zweite Ein-
wendung betrifft die willkürliche Begünstigung des
Knabenüberschusses und die infolge krimineller Betätigung
eintretende, mehr zufällige Korrektur des natürlichen Ge-
schlechtsverhältnisses, bei dem die Knabengeburten überwiegen
sollen. In diesem Falle würde das Verhältnis 110 M — 100W °
wohl auf den gesamten statistischen Komplex zutreffen, nicht
aber auf die einzelnen Völker oder einzelnen Bevölkerungs-
zentren, wo eben wieder das Verhältnis zugunsten des Weibes
anwachsen könnte, sodaß einem Mann mehr als ein Weib
zur Verfügung stünde. Oder mit anderen Worten, nur durch
eine ungewöhnlich hohe Zahl willkürlicher und zufälliger
Einschränkungen der Mädchengeburten in einzelnen Bevölke-
rungszentren wird die Gesamtstatistik zum Nachteil der
Mädchengeburten in den anderen Zentren verschlechtert.
Da alle diese Verschiebungen und Schwankungen der
Geschlechtsverhältniszahlen nicht berechnet werden können,
bestreite ich, daß die Zahlen der Geburtsstatistik, so wie sie
uns jetzt dargeboten werden, zu einem einwandfreien Beweis
y
Tafel IH
Abb. 2. Derselbe Schnitt wie Tfl. I, Abb. 2, stärker vergrößert.
Zu Prange: „Die konstitutionelle Basis“, S. 274.
Tafel IV
Abb. 1. Daumenschwiele
eines normalen Frosch-
männchens während der
Brunstzeit und eines,
Kastraten in der Brunst-
zeit (n. Meisenheimer).
Abb. 2. Männl. Pseudo-
hermaphrodit G. Maus
St. Denis, als Mädchen
Abb. 3. Männlicher
Scheinzwitter; 24 jähriger
Jude; behandelt von Bill-
roth 1878.
Abb. 4. Weibl. Schein-
zwitter mit Hodensack
u. penisartiger Klitoris
(n. Fiebiger).
Abb. 5. Echter Zwitter
der Königsberger Klinik
x (n. Hirschfeld).
Mastrıere
erzogen.
Hände von
Froschmannchen
normal in der
Brönstze, 5
Atb. 1.
DE Geschl. Gte).
Lippe N! Al.Lippen |
rechte JH
Hoe r s y KAN
Fistel. Öffnung.
Abb. 2.
Eileiter
Nebeneierstock
> Eierstock
Schwellkorper
Abb. 4.
Zu Reitzenstein: „Zum Verständnis der inneren Sekretion“,
ze I mcŇÃĂ—
Schneickert: Die bestrittene monogame Veranlagung des Mannes 281
eines monogamen Naturgesetzes herangezogen werden können.
Dazu kommt, daß es eine, alle Völker umfassende und ein-
heitliche Bevölkerungs- und Geburtenstatistik noch nicht gibt
und wahrscheinlich auch nie geben wird.
Da der Geschlechtstrieb ein Naturtrieb ist, bei dessen
Befriedigung es auf den Willen oder die Möglichkeit einer
Fortpflanzung gar nicht ankommt, steht der polygamen Be-
tätigung des Mannes trotz — angenommener — Weiber-
minderzahl doch nichts im Wege, sie wird durch die bestehende
Polyandrie des Weibes, die sich zu allen Zeiten in der weiblichen
Prostitution dargeboten hat, in genügendem Maße ausgeglichen.
Wenn Verfasser schließlich einen Widerspruch daran findet,
daß ich sagte, die monogame Neigung des Mannes sei „ererbt
oder anerzogen“, so beruht dies auf einem Mißverständnis, da
der Vordersatz übersehen worden ist; ich sagte: „Ich habe
keinen Zweifel, daß die ursprüngliche Veranlagung des Mannes
eine polygame ist, daß aber seine monogame „Neigung“ ererbt
oder anerzogen ist.“ Statt „Neigung“ hätte ich allerdings besser
sagen müssen „Betätigung“, Bekenntnis oder Lebensweise. So
kommt der Gegensatz, den ich zwischen Veranlagung und Art der
Betätigung eines Naturtriebes mache, klar zum Ausdruck. Wenn
Westermarck der Wahrheit näher kommt, indem er die monogame
Veranlagung für eine angeborene Eigenschaft hält, die aber durch
die Erziehung zerstört wird, so kann ich von meinem Stand-
punkt aus ebensogut das Gegenteil sagen: Die polygame Ver-
anlagung ist eine angeborene Eigenschaft, die aber durch die
Erziehung zerstört wird; sie wird aber nicht einmal zerstört,
sondern nur eingeschränkt oder temporär unterdrückt, sei es
durch Erziehung oder durch Gesetze. Insofern könnte man
von einer „anerzogenen“ Polygamie oder Monogamie sprechen.
Von einer ererbten oder anerzogenen Polygamie kann man
ebensogut sprechen, wie von einer ererbten und anerzogenen
Homosexualität, sobald man die Ansicht vertreten wollte: die
Polygamie eines Menschen ist zwar kein Naturgesetz, sie kommt
aber bei sehr vielen Menschen in echter (ererbter) oder un-
echter (anerzogener) Form vor, ebenso wie andere Formen
geschlechtlicher Neigungen und Betätigungen. Es ist nicht
richtig, hier von einem Naturgesetz überhaupt zu sprechen, da
ein Naturgesetz, wenigstens so, wie wir sie in der Physik oder
Astronomie kennen gelernt haben, eine Regelmäßigkeit und
Ausnahmelosigkeit voraussetzt. Es kommt bei unserer Frage
nur darauf an: Entspringt die Monogamie oder Polygamie des
Menschen einer natürlichen Veranlagung oder sind sie als bloße
19
282 Schneickert: Die bestrittene monogame Veranlagung des Mannes
ee U
Formen der Geschlechtsbeziehungen unnatürlich, weil an-
erzogen? Davon ist wieder zu unterscheiden die Einsetzung
der „Einehe“ und anderer Eheformen, wie Polygamie und
Polyandrie.
Die Gefahren der Unklarheit durch Vermischung der
Gedanken über Veranlagung und geschlechtliche Betätigungen
in bestimmten Formen scheint der Verfasser doch nicht ganz
überwunden zu haben.
* s
+
Zusatz der Schriftleitung: Die Frage des ein- oder
mehrgeschlechtlichen Verkehrs ist an sich keine naturwissen-
schaftliche. Von Haus aus besitzt der Mensch lediglich den
Geschlechtstrieb, der sich als Detumescenztrieb oder als
Kontrektationstrieb äußert, Keiner dieser beiden Kompo-
nenten richtet sich auf ein Einzelwesen, sondern versucht
ihre Befriedigung, wo die Möglichkeit gegeben ist. Die Zahl
der vorhandenen Einzelvertreter beider Geschlechter spielt
dabei keine Rolle. Die Entwicklung zu monogynen Verhält-
nissen liegt in der „Brutpflege“. Tiere, die in Herden leben
— und dazu gehört von jeher der Mensch — blieben polygyn,
d. h. zum Verkehr mit mehreren Weibchen geneigt, weil die
Brutpflege durch die Gesamtheit der Herde geschützt wird;
ihnen fehlt der monogyne „Trieb“. Tiere die dagegen isoliert
hausen, gelangen wenigstens auf die Dauer der jeweiligen
Brutpflege zu monogynen Verhältnissen. Der Mensch gehörte
dazu nicht. Bei ihm haben sich die monogynen Beziehungen
überhaupt nur in der Ehe geäußert. Diese ist aber nicht der
ursprüngliche Zustand menschlicher Geschlechtsgenossen-
schaft, sondern ein erworbenes Kulturideal, ein soziales
Institut, das, wie ich schon in meiner „Urgeschichte der Ehe“
(Stuttgart 1908) betonte, mit dem Geschlechtsverkehr nicht
mehr zu tun hat, als daß dieser in ihr eben auch vorhanden
ist. Aus der Ehe, die aus wirtschaftlichen und statistischen
Gründen von selbst zur Einehe führen mußte, entwickelte sich
allmählich als kulturelles Ideal die Forderung, daß der ge-
schlechtliche Verkehr nur zwischen Ehegatten stattfinden soll,
Den Hauptanteil daran trägt das Weib, das in seiner Angst,
seine Versorgung zu verlieren, unter Verzicht auf seine Natur-
anlage (polyandrisch) auch den Mann zu monogynen Be-
ziehungen, d.h. zur Beziehung zu ihm allein zu zwingen suchte.
Die Religion und gewisse staatliche Interessen stützten dies
Ideal. Vaertings Ansicht ist gänzlich haltlos, genau wie die
Schneickert: Die bestrittene monogame Veranlagung des Mannes 283
m en
seiner Vorgänger. Ihnen fehlt hier die ethnologische Schulung,
und Vaerting folgt hier, wie auch in anderen seiner Arbeiten
weniger empirisch-wissenschaftlichen Grundlagen, sondern
nimmt als Richtschnur die Forderungen der heute giltigen Moral
und sucht damit retrospektiv den Aufbau unseres Sexuallebens
zu begründen. Diese Tätigkeit ist heute sehr beliebt geworden.
Die Kirche und ihre Moral sah ein, daß im modernen Ideen-
kreis die Berufung auf ein „Dogma* keine beweisende Kraft
mehr hat. So versucht sie nun mit wissenschaftlichen
Momenten zu arbeiten, aber die dogmatische oder politische
Voraussetzung überwiegt dabei so sehr, daß sie unwillkürlich
durch gesuchte Gruppierung der Belege die wissenschaftliche
Grundlage beugt. Monotheismus, Monogenese, Monogamie usw.
müssen der Märchen eingangs der Bibel und der neuplato-
nistisch-christlichen Ethik zu Liebe unter allen Umständen
gerettet werden. Den gleichen Weg geht eine Gruppe von
Forschern, deren Ideenkreis durch bestimmte politische
Richtungen festgelegt ist — wobei sie zum Teil das Beste
wollen mögen. Sie verbinden sich mit der Kirche, weil sie
in ihr ein staatserhaltendes Moment erblicken — was aber
die Revolution sicherlich nicht bestätigt hat — und machen
darum ihr Ideal zu dem ihrigen. Auch sie gruppieren an sich
wissenschaftliches Material nach ihren festliegenden Prämissen.
Diese Forscher bilden eine besondere Gruppe, deren „For-
schung“ nicht dem Zweck freier Erkenntnis, sondern den des
erzwungenen Nachweises der Gründigkeit heute giltiger
politischer und moralischer Ideale verfolgt. Ernst zu nehmen
sind vom Standpunkt voraussetzungsloser Wissenschaft also
solche Arbeiten nicht. Sie stellen allerdings — da diese
Richtungen mit bedeutenden äußeren Mitteln arbeiten — eine
gewisse Gefahr für den Bildungsgang weiterer Kreise dar.
Dazu gehört vor allem auch die Schule Gobineaus und ähn-
licher Rassenfanatiker. Sie arbeiten mit Dogmen, genau wie
die Religion. In einer demnächst erscheinenden Arbeit „Ehe
und Prostitution“ in der Sammlung „Das Wissen dem Volke“
werde ich näher darauf eingehen Frhr. v. Reitzenstein.
NA
19*
284 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion
ZUM VERSTÄNDNIS DER INNEREN SEKRETION
UND DER VERJÜNGUNG.
Von FERDINAND FRHR. VON REITZENSTEIN, Dresden.
VIII.
Sexuelle Zwischenstufen.
me denn zwei Jahrzehnte sind es her, daß Magnus Hirsch-
feld diesen Begriff geprägt hat. Wie immer derartige
bahnbrechende Ideen, so wurde auch diese zunächst von den
Meisten abgelehnt und bekämpft, so klar sie an sich war und
so leicht sie zugleich eine ganze Reihe von Erscheinungen
erklärte, für die sonst eine brauchbare entwicklungsgeschicht-
liche Ableitung fehlte. Der scharf denkende Geist Hirschfelds
war vorausgeeilt und der eigentliche Nachweis folgte nur
schrittweise. Wohl hatte man erkannt, daß die Entstehung der.
beiden Geschlechter aus einer ihnen beiden gemeinsamen
Grundlage erfolgte, wie wir im vorigen Aufsatz zeigten. Auch
die schon über ein Jahrzehnt zurückliegenden Beobachtungen
Nußbaums haben merkwürdigerweise den klaren Gedanken-
gängen nicht zum Siege verholfen. Nußbaum nahm Frosch-
männchen die Hoden heraus. Die Folge war, daß diese Tierchen
keine Daumenschwielen mehr entwickelten*). Brachte er
nun solchen kastrierten Froschmännchen Hodenbrei anderer
Froschmännchen unter die Haut, so bildeten die kastrierten
Froschmännchen wieder Daumenschwielen. Damit war gezeigt,
daß von den Hoden etwas ausgeht, was die sog. sekundären
Geschlechtsmerkmale beeinflußt; mit anderen Worten es war
gezeigt, daß die Hoden im Sinne einer inneren Sekretion (siehe
vorigen Aufsatz) tätig sind. Steinach knüpfte an diese Ver-
suche an und er sollte es sein, der die Ideen Hirschfelds am
Experiment nachweisen konnte. Er spritzte nämlich kastrierten
Froschmännchen, die weder Schwielen besaßen noch Um-
klammerungstrieb zeigten, Hodenbrei von brünstigen Fröschen
ein; sofort traten schon in wenigen Stunden die Erscheinungen
auf. Nun hatte man früher die Meinung vertreten, daß die
geschlechtlichen Vorgänge lediglich Funktionserscheinungen des
Nervensystems wären; Steinach mußte daher jetzt die Frage
beantworten, wie diese frühere Ansicht sich zu den neuen Be-
obachtungen verhalte. Schon längst hatte man bemerkt, daß
bei Froschmännchen der Umklammerungsreflex auch ausgelöst
v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 285
wird, wenn man ihre Brusthaut durch mechanische Mittel reizt.
Es lag also für Steinach nahe, anzunehmen, daß durch die
Sekrete ein Reiz auf das Zentralnervensystem ausgeübt wurde,
Er injizierte jetzt kastrierten Froschmännchen anstatt des
Hodenbreies einen Brei aus Gehirn und Rückenmark von
brünstigen Fröschen. Das Resultat war, daß an diesen
Froschmännchen nun der gleiche Umklammerungsreflex aus-
gelöst wurde, wie bei denen, die Hodenbrei eingespritzt be-
kamen, während Hirnbrei von nicht brünstigen Froschmännchen
wirkungslos blieb. Damit war klar erwiesen, daß das Sekret
der Hoden eine „chemische Erotisierung“ des Nerven-
systems der männlichen Wesen hervorruft.
Nun ging Steinach einen Schritt weiter. Er kastrierte
sehr junge Rattenmännchen (etwa im Alter von 3—6 Wochen).
Es zeigte sich, daß folgerichtig alle Merkmale, die mit dem
Wesen eines männlichen Tieres zusammenhängen, unentwickelt
blieben; sie blieben auf „kindlicher“ Stufe stehen. Nähte
er jetzt aber solchen kastrierten Tierchen an irgend einer Körper-
stelle Hoden ein, so entwickelten sich diese Merkmale voll-
ständig, aber nur dann, wenn diese eingenähten Hoden anheilten,
d. h. dadurch ihre Funktion verrichten konnten. Es zeigte sich
also, daß von dieser inneren Sekretion nicht nur der Geschlechts-
trieb, sondern auch die Ausbildung der männlichen Ge-
schlechtsmerkmale abhängig war. Besonders wichtig für die
Erkenntnis des ganzen Vorganges wurde aber, daß in den ein-
genähten Hoden die Samenkanälchen verkümmert, dagegen
aber die Zwischenzellen oder interstitiellen Zellen kräftig
entwickelt waren. Ganz ähnlich ergaben sich die Resultate
beim Kastrieren von Weibchen, mit nachfolgendem Ein-
heilen von Eierstöcken. Die Kastration hemmte die Entwick-
lung der weiblichen Geschlechtsorgane und den weiblichen
Geschlechtstrieb, während die nachfolgende Einheilung beides
wieder in Entwicklung brachte; nur sind die Vorgänge im Eier-
stock nicht so einfach. Wenn — was wahrscheinlich ist —
im Hoden außer den Zwischenzellen vielleicht auch noch
andere Elemente an der inneren Sekretion beteiligt sind (vgl.
*) Wenn ein Froschmännchen brünstig wird, bilden sich an den
Daumen seiner Vorderfüße eigenartige Schwielen (siehe Tfl. IV, Abb. 1),
die es benötigt um bei der geschlechtlichen Umklammerung (Umklam-
merungsreflex) das Weibchen festzuhalten.
286 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion
den vorigen Aufsatz), dann ist deren Wirkung doch eine parallele
zu den Zwischenzellen selbst. Im Eierstock ist, wie wir eben-
falls im vorigen Aufsatz gezeigt haben, die Sekretion sehr
kompliziert. Jedenfalls aber faßt Steinach die Gesamtheit der
sekretierenden Elemente in den beiden Drüsen unter dem
Namen „Pubertätsdrüse“ zusammen. Dieses Wort ist zweifel-
los nicht glücklich gewählt und hat anfangs begreiflicherweise
vielfach ein falsches Bild entstehen lassen. Neuerdings traten
auch viele Forscher gegen die innersekretorische Bedeutung
dieser Zwischenzellen überhaupt auf. Im Anschluß an ältere
Arbeiten von Kyrle, der zu erweisen suchte, daß ihnen ledig-
lich eine trophische (ernährende) Wirkung zukomme, möchten
sie die innersekretorische Tätigkeit der Geschlechtsdrüsen
entweder ganz leugnen oder doch wenigstens mit anderen
Gewebeteilen in Verbindung bringen. Aber aus dem Nicht-
gelingen entsprechender Versuche durch andere folgt noch
lange nicht, daß sie überhaupt Täuschungen waren. Besonders
die Arbeiten von Benda und Stieve können in den Haupt-
punkten wenig überzeugen, wiewohl selbstverständlich die Bei-
bringung eines möglichst großen Tatsachenmaterials für die
ganze Frage von großer Wichtigkeit ist. Solange aber nicht
positive Resultate der Gegner Steinachs vorliegen, liegt kein
Grund vor, von seinen Resultaten allzusehr abzugehen*).
Für Steinach erwuchs dann die weitere Aufgabe, zu zeigen,
daß die Sekrete von Hoden und Eierstöcken grund-
sätzlich verschieden sind, d. h. daß das vom Manne
produzierte Sekret anderer Natur sei, als das vom Weibe
produzierte. Wäre die Wirkung der beiden Sekrete die gleiche,
dann müßte es natürlich auch gleichgiltig sein, ob man bei
Übertragung von Geschlechtsdrüsen männliche oder weibliche
nimmt und es müßte sich so ein männliches Tier auch dann
zur vollen Männlichkeit weiterentwickeln, wenn man ihm Eier-
stöcke einnäht. Würde aber dieses männliche Tier dadurch
in seiner Weiterentwicklung nach der weiblichen Seite ab-
gelenkt, dann muß selbstverständlich auch das Wesen des
Eierstockssekrets ein anderes sein, als das der Hoden. Dann
wäre eine weitere Folge, "daß man durch Übertragung von
Eierstöcken ein Männchen gleichsam verweiblichen und
2 Wir bringen zugleich auf Seite 265 ff. einen Aufsatz von Prange,
der diesen Auffassungen näher steht.
v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 287
Weibchen vermännlichen könnte. Die Versuche, die nicht
nur Steinach sondern auch Brandes in Dresden und mehreren
anderen geglückt sind, haben das letztere bewiesen. Man
kastrierte also junge Ratten, junge Meerschweinchen usw. und
nähte nun den weiblichen Tieren Hoden, den männlichen Eier-
stöcke unter die Haut. Nach zirka 14 Tagen war etwa bei
der Hälfte der Tiere die Anheilung gelungen und es zeigte
sich bald, daß beide Geschlechter sich nicht normal, sondern
im Sinne des anderen Geschlechtes weiter entwickelten. Bei
den Eierstockmännchen wurde die weitere Ausbildung des
Geschlechtsapparates unterbrochen und blieb etwa auf kind-
licher Stufe stehen, ja man konnte sogar konstatieren, daß
der Geschlechtsapparat noch weniger entwickelt wurde, als
bei einer Kastration. Weiterhin aber zeigte sich, daß sich der
Bullenkopf der Männchen nicht durchbildete, sondern eine
weibliche Kopfbildung eintrat; der Brustumfang schloß sich
an; er war weit geringer als er bei Männchen oder selbst bei
Kastraten zu sein pflegt, das Skelett ergab bei Röntgenunter-
suchung ebenfalls weibliche Formen. Das für die Böcke
charakteristische struppig-derbe Fell verwandelte sich in das
feine und weiche Haarkleid des Weibchens. Was aber besonders
wichtig war, war die Ausbildung der Brustdrüsen in rein
weiblichem Sinne, selbst in ihrem mikroskopischen Bilde. Sie
sonderten eine völlig normale und fettreiche Milch ab. Lassen
wir Steinach selbst sprechen: „Wenn man zu so feminierten
Meerschweinmännchen Junge setzt, so werden sie von diesen
sofort als Milchtiere erkannt und verfolgt. Sie nehmen die
Jungen an, säugen sie und zeigen bei diesem komplizierten
Akt ein Wohlgefallen, eine Geduld, Haltung und Aufmerksam-
keit, wie solche sonst nur bei normalen säugenden Weibchen
zu beobachten ist. Die umstimmende Kraft der weiblichen
Pubertätsdrüse hat aus dem ursprünglichen Männchen im
Äußeren und im Wesen ein Weibchen, eine säugende liebreiche,
sorgende Mutter gemacht.“ Dementsprechend ist auch der
Geschlechtstrieb dieser Eierstockmännchen nicht mehr
als männlich anzusprechen, denn sie haben kein Interesse
mehr für brünstige Weibchen, werden aber folgerichtig von den
wirklichen Männchen für Weibchen gehalten und besprungen.
Man kann aus diesem Merkmalbestand also schließen, daß der
Eierstock jenen Stoff, der männliche Geschlechtsmerkmale aus-
288 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion
bildet, nicht enthielt, ja daß sein Sekret sogar die männliche
Entwicklung hemmt und soweit als es noch möglich ist, zu
verweiblichen sucht. In ganz ähnlicher Weise ergab sich
die Entwicklung der Hodenweibchen. Die weibliche Ge-
schlechtsmerkmalentwicklung wird nach der männlichen Seite
abgebogen. Brustdrüsen, Gebärmutter und Geschlechtsteile
bleiben in ihrer Ausbildung stehen, ja in manchen Fällen bilden
sie sich sogar zurück. Entsprechend den ähnlichen Erschei-
nungen bei den Eierstockmännchen verloren die Hodenweibchen
ihr zartes Haarkleid und bekommen das derb-struppige, das
sonst normalen Männchen eigentümlich ist. Der Kopf näherte
sich dem männlichen Bullenkopf, übertraf ihn teilweise sogar
an Größe. Folgerichtig war auch der Geschlechtstrieb der
Hodenweibchen männlich orientiert; sie suchten normale
Weibchen auf und vermochten ohne weiteres ein brünstiges
und ein nichtbrünstiges Weibchen zu unterscheiden. „Sobald
sie ein solches aufspürten, verfolgten sie es unaufhörlich, um-
warben es leidenschaftlich und sprangen auf. Normalen Männ-
chen gegenüber benehmen sie sich mit männlicher Eigenart.“
Daß diese Resultate keine Täuschungen sind, bestätigt der
Dresdner Zoologe Prof. Brandes, der sagt:
„Ich habe selbst solche feminierte Männchen bei Steinach gesehen
und mich durch genaue Untersuchung der äußeren Geschlechtsorgane —
obwohl auch diese beeinflußt waren — davon überzeugt, daß diese aus-
geprägtesten aller weiblichen Eigenschaften wirklich einem männlichen
Körper anhafteten.“
Ja Brandes ging noch weiter, er dehnte die Versuche auch
auf höher stehende Tiere aus, so auf Damhirsche und zog als
Direktor des Zoologischen Gartens in Dresden bereits Löwen
in Betracht, wurde darin aber durch den moralistisch be-
einflußten Aufsichtsrat gestört, da ja leider die Wissenschaft
im Gegensatz zur Religion nur allzuhäufig von ihren Gegnern °
abhängig gemacht wird. Über die Erfolge an den Damhirschen
sagt Brandes:
„Wir haben den Hoden eines Damhirsches in die Weiche eines
weiblichen Damtieres eingepflanzt und dessen Eierstöcke herausgenommen
und diese dann dem Hirsch eingepflanzt. Beide Tiere waren selbst-
verständlich noch ganz jung. jetzt zeigt sich bereits bei beiden die Um-
wandlung. Das frühere Weibchen zeigt deutliche Ansätze zu einem
Geweih, es zeigt den sonst nur den männlichen Tieren eigenen Adams-
apfel und vor allem fängt es auch an zu springen, wie sonst nur die
Hirsche tun. Umgekehrt läßt der frühere Hirsch jeden Geweihansatz
vermissen, ebenso ist von dem Adamsapfel keine Spur zu sehen.
v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 289
Dafür sind aber sonderbarerweise schon die Milchdrüsen vorhanden,
die bei den Weibchen erst entstehen, wenn Junge da sind*).“
Es kann also keinem Zweifel unterliegen, daß die
begleitenden Geschlechtsmerkmale und der Ge-
schlechtstrieb abhängig sind von Stoffen, die ihren
Ausgang von den Gechlechtsdrüsen nehmen und, daß
diese Drüsen in ihren abgesonderten Stoffen von ein-
ander verschieden sind, so daß die männliche Ge-
schlechtsdrüse die begleitenden Geschlechtsmerkmale
im männlichen Sinne entwickeln läßt und den Ge-
schlechtstrieb auf das Weib einstellt und sich die
weibliche Geschlechtsdrüse umgekehrt verhält. Ob
nun die Zwischenzellen oder andere Gewebeteile dieser Ge-
schlechtsdrüsen die Erzeuger der Sekrete sind, tut an sich
nichts zur Sache. Brandes sagt dazu: „Da sich bei genauer
Untersuchung der unter der Haut eingewachsenen transplan-
tierten Keimdrüsen ergibt, daß sowohl die Samenfäden und ihre
Bildungszellen, als auch die Eizellen gänzlich zurückgebildet
werden, daß dagegen das Zwischengewebe und in ihm eine
besondere Art von Zellen (Leydigsche beim Männchen und
Luteinzellen beim Weibchen*)) stark wuchern, so kann man
füglich nicht die Geschlechtszellen selber für die Herkunft der
Säfte verantwortlich machen, sondern muß auf die vermehrten
Zwischenzellen zurückgreifen.“ Bekanntlich behaupten die
Gegner Steinachs, zum Teil, daß die Zwischenzellen dafür nicht
in Betracht kämen. Wie oben gesagt, ist das für die Grund-
frage gleichgiltig, übrigens nahm Kammerer von Anfang an,
daß außer den Zwischenzellen noch andere Gewebeteile be-
teiligt seien. Jedenfalls aber müssen sie in den Geschlechts-
drüsen enthalten sein, da andere Teile nicht vertauscht wurden.
Da nun durch diese Übertragungen auch der Geschlechts-
trieb anders orientiert, also gleichsam verdreht wird, lag es
von vornherein nahe, die ganze Frage mit der eingangs er-
wähnten Lehre von M. Hirschfeld in Verbindung zu bringen,
d. h. die Frage aufzustellen, ob die sexuellen Zwischen-
stufen (Zwitterbildungen, Homosexuelle usw.) nicht darin
begründet seien. Die Versuche haben, wie es eigentlich
nicht anders zu erwarten war, dem recht gegeben.
*) Vgl. dazu meine beiden kleinen Schriften: „Zeugung und Werden
des Menschen“ und „Liebe und Sitte“ in der nächster Tage erscheinenden
Bibliothek „Das Wissen dem Volke“.
**) vgl. Aufsatz VII S. 247 und S. 254ff.
290 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion
Wir müssen daher diese sexuellen Zwischenstufen etwas
näher betrachten. In Aufsatz VII S. 239 sahen wir bereits, daß
die ursprüngliche Anlage für beide Geschlechter die gleiche
ist*), und daß die Trennung erst in den ersten Embryonal-
monaten stattfindet. Gelingt der Natur nun die Trennung nicht
scharf und klar, dann muß ein Wesen entstehen, das weder
ganz rein männlich noch ganz rein weiblich durchgebildet ist,
also eine „Zwischenstufe“ zwischen den beiden Geschlechtern
einnimmt. Diese Unklarheit kann nun sowohl inbezug auf die
Geschlechtsteile als inbezug auf die begleitenden Geschlechts-
merkmale**) oder aber inbezug auf den Geschlechtstrieb ge-
bildet sein. Daß so zahllose Varianten entstehen können ist
klar. Wir wollen nur die hauptsächlichsten Typen heraus-
greifen***) und sehen, ob sie in Einklang mit den Forschungen
Steinachs, Brandes und Hirschfelds zu bringen sind, die wir
eben skizziert haben.
Da wir also gesehen haben, daß sowohl die sekundären
(begleitenden) Geschlechtsmerkmale als der Geschlechts-
trieb beeinflußt wurden, dürfen wir erwarten, daß wir beim
Menschen ebensolche Störungen vorfinden. Nun sind die
vorhin gekennzeichneten Versuche aber alle mit bereits voll
entwickelten Tieren gemacht worden, deren primäre Ge-
schlechtsmerkmale (Geschlechtsteile) zur Zeit des Versuches
bereits angelegt waren. Wären wir in der Lage, die Versuche
schon an einem Tiere im frühen Embryonalstadium vor-
zunehmen, also zu einer Zeit, wo die Geschlechtsteile noch
nicht nach männlich und weiblich verschieden sind, dann stünde
zu erwarten, daß auch die Durchbildung der Geschlechtsteile
selbst beeinflußt würde. Und tatsächlich treten bekanntermaßen
bei allen Tieren und so auch beim Menschen Zwischenstufen
auf, die man Zwitter bezeichnet. Die Erscheinung selbst
nennt man Hermaphroditismus (von dem griechischen
Götterpaar Hermes und Aphrodite, deren Kind eine derartige
*) vgl. auch das oben erwähnte Werkchen „Zeugung und Werden
des Menschen“, wo sich entsprechende Abbildungen finden.
**) Siehe das Nähere in „Liebe und Sitte“ (wie oben zitiert).
+++) Eine genaue Behandlung findet der Leser in Reitzenstein „ -
haftes Liebesleben“ (in „Das Wissen dem Volke“) und in dem großen
Werke von Mag. Hirschfeld „Sexualpathologie“. 3 Bde. 1918—1921. Bonn.
Ferner in Steckel „Störungen des Trieb- und Affektlebens“ (bis jetzt
4 Bände erschienen).
v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 291
Zwitterbildung gezeigt haben soll). Nun liegt natürlich zunächst
die Frage nahe, gibt es Menschen, bei denen nebeneinander
sowohl die männlichen als die weiblichen Geschlechts-
teile so ausgebildet sind, daß das betreffende Wesen
in einer Person sowohl zeugen als gebären kann.
Wissenschaftlich nachgewiesen ist ein derartiger Fall ebenso-
wenig wie der, daß in einem Individuum räumlich getrennt
sowohl Hoden als Eierstöcke vorkommen. Dagegen finden
sich Personen, bei denen die Keimdrüse sowohl Hoden- als
Eierstockgewebe enthält. Auch die Leitungsorgane können
gemischt sein, vor allem aber die Kopulationsteile. In
diesem Falle kann es oft selbst für den Arzt unmöglich sein,
ohne weiteres zu entscheiden, ob ein Kind männlichen oder
weiblichen Geschlechtes ist. Wer den Aufsatz VII gründlich
gelesen hat, wird den Entwicklungsgang leicht verstehen können.
Die hauptsächlichsten Vorstufen dieser Erscheinung liegen in
drei Momenten. Zunächst entwickelt sich der Geschlechts-
höcker unklar; er ist größer als eine Klitoris und kleiner als
ein männliches Glied. Dann aber vor allem bleibt die Aus-
bildung der Geschlechtsrinne in der Entwicklung zurück.
Würde das Kind männlich sein sollen, müßte sie, wie wir ge-
sehen haben, bis auf die kleine Öffnung der Harnröhre an
ihrer Spitze verwachsen. Geschieht dies nicht, bleibt sie viel-
mehr einer weiblichen Spalte entsprechend mehr oder minder
offen, dann trägt dies Moment sehr dazu bei, eine Unklarheit
zu schaffen. Man nennt solche Fälle Hypospadie (vom
griechischen hypospao ziehe nach unten, d. h. die Harnröhren-
mündung). Das dritte Moment ist die Ausbildung des Hoden-
sackes. Wir sehen, daß er sich aus den Geschlechtswülsten
entwickelt. Beim weiblichen Geschlechte bleiben sie getrennt,
polstern sich mit Fett aus und bilden die Geschlechtslippen.
Beim Manne dagegen werden sie zu hautigen Taschen, die
unter sich verwachsen und später die Hoden aufnehmen. Es
kann nun vorkommen, daß das betreffende Individuum zwar
Hoden besitzt, daß aber weder ein Verwachsen der Geschlechts-
wülste noch ein Herabsteigen der Hoden stattfindet. Die Hoden
bleiben im Leistenkanal stecken (Kryptorchismus vom griech.
krypto verberge und orchis Hoden, also Verborgenhodigkeit).
Diese drei Entwicklungsstörungen können nun teilweise oder
sämtlich zu gleicher Zeit vorhanden sein; je mehr sie vorhanden
292 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion
sind, desto schwerer wird die Entscheidung über das tatsäch-
liche Geschlecht. Selbstverständlich liegt — abgesehen von
jenen Wesen, bei denen die Keimdrüsen beiderseits sowohl
Eierstock als Hodengewebe enthalten, immer ein bestimmtes
Geschlecht vor, auch wenn es äußerlich nicht erkennbar ist,
denn männlich ist, was Samenfädchen, weiblich was Eichen
erzeugt. Es ist klar, daß auch die inneren Organe (Scheide,
Gebärmutter usw.) unklar entwickelt sein können, so daß oft
ein Kind als Mädchen oder Knabe erzogen wird, später aber
eine „Umgruppierung“ stattfinden muß, weil sich das wahre
Geschlecht bei der Reife zeig. Um diese Verhältnisse klarer
zu machen, wollen wir einige Beispiele auf Tafel IV anführen.
Abb. 2 stellt einen m chen Pseudohermaphroditen G.M.,
geboren zu St. Denis bei Paris dar. Die allgemeine Körperbildung
erscheint weiblich; es ist kein Bart vorhanden, das prächtig entwickelte
Haupthaar mädchenhaft. Die Brüste sind ebenfalls gut weiblich aus-
gebildet, ebenso ist Stimme und Becken weiblich. Dagegen erscheint
ein hypospadischer Penis, der aber nur 2—3 cm (erragiert 4—5 cm)
lang ist. Hodensack ist getrennt in zwei Taschen, von denen jede
einen Hoden enthält. Harnröhrenöffnung ist dagegen wieder weib-
lich. Uterus ist nicht vorhanden. Der Onkel und die „Tante“ waren
ebenfalls Hermaphroditen. Die „Tante“ lebte als Prostituierte in London,
verkehrte sowohl mit Männern als mit Weibern und lebte mit einem
Weib in wilder Ehe. In Wirklichkeit ist „sie“ ein männlicher Zwitter.
G. M., als Mädchen erzogen, entwickelte vom 15. Jahre ab männlichen
Geschlechtstrieb, onanierte vom 18. ab und hatte Liebesverhältnisse
mit jungen Mädchen, mit denen sie aber „aus Angst sich lächerlich zu
machen“ nicht verkehrte, tat dies aber mit Männern. Die Behandlung
erfolgte 1906.
Abb. 3 zeigt einen männlichen Scheinzwitter mit Hypospadie,
scheinbar äußeren weiblichen Geschlechtsteilen (großen und kleinen
Lippen). In der linken „Lefze“ fand sich ein normaler Hoden mit
Nebenhoden und Samenstrang. In der rechten dagegen eine Geschwulst
mit einer Fistelöffnung. Mit dem 16. Lebensjahr traten aus dieser
Fistel und der Harnröhre Blutungen auf, die sich alle vier Wochen
wiederholten und von Kreuzschmerzen begleitet waren. Die Brüste
waren groß und weiblich. Eine Gebärmutter war vorhanden ünd
steckte im rechten Leistenkanal. Die Scheide mit einem Hymen
öffnete sich in die Harnröhre. Prostata und Samenbläschen fehlten. Es
wurde angenommen, daß die Geschwulst des rechten Hodensackes aus
einem Eierstock hervorgegangen wäre. Leider wurde dies nicht näher
untersucht. Wir hatten dann den Fall eines wirklichen Zwitters. Der
Patient starb nach der Operation durch Billroth.
Abb. 4 weiblicher Scheinzwitter nach Fibiger. War zur Zeit
der Behandlung 47 Jahre und lebte als verheirateter Gartenaufseher.
Er war Vater von drei Kindern, die allerdings nicht von ihm stammten.
Der Penis war klein und zeigte Hypospadie, während der Hoden-
sack leer war. Die Prostata war gut entwickelt und die Scheide
mündete in den prostatischen Teil der Harnröhre. Die Gebärmutter
v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 293
war 51, cm lang. Jeder Eileiter hatte eine Länge von 10 cm und be-
saß eine Hydatide, einen Nebeneierstock und einen Eierstock.
Die Kehlkopfbildung war im allgemeinen weiblich, dagegen das
Becken männlich. Er selbst hielt sich zeitlebens für einen Mann und
besaß, obwohl er Weib war, starken männlichen Geschlechtstrieb.
Abb. 5. Echter Zwitter, behandelt von Prof. Garr& 1903 in der
Königsberger Klinik. Es war ein 20jähriger „Mann“, der von Anfang
an als Knabe erzogen war und sich entschieden als Mann fühlte. Trotz-
dem bildeten sich schon frühzeitig Brüste aus. Allmonatlich trat bei
geringen Kreuzschmerzen eine mehrtägige Blutung aus den Genitalien
auf. Der Penis war 4 cm lang, und war ebenso wie der Hodensack
gespalten. Die Harnröhrenöffnung lag dazwischen. Sonst zeigten
sich deutlich männliche und weibliche Charaktere gemischt; so
waren Bauch und Becken weiblich, ebenso die Beine, die Arme waren
männlich gebildet, die Geschlechtsbehaarung dagegen wieder weiblich.
Lippen waren angedeutet. Garré vollzog nun auf der rechten Seite einen
Bauchschnitt. Es zeigte sich ein 7 cm langer Eileiter mit Fimbrien,
daneben lag ein umgebogener Wulst, der sich als Nebeneierstock
entpuppte. Dann folgte die große Zwitterdrüse (Ovotestis), die aus
einem großen rundlichen Teil, der Hodengewebe und einen ihm auf-
sitzenden kleinen Teil, der Eierstockgewebe enthielt, bestand. Rechts
davon am Rand des Schnittes ist der Nebenhoden gerade noch sicht-
bar (Mitte der dunklen Stelle). Das Eierstockgewebe ist typisch und
enthielt gut entwickelte Follikeln. Der untersuchte Teil des Hoden-
gewebes war nicht funktionsfähig und enthielt keine Samenfädchen.
Der Uterus war einfach. Garré vermutet, daß links ein Eierstock und
ein Hoden gelegen sei. Ein sehr interessantes Gesamtbild gibt Tafel 1.
Neben diesen Zwitterformen erscheinen aber auch Formen
von Zwischenstufen, bei denen die eigentlichen Geschlechts-
teile mehr oder minder normal gebildet sind, die sekundären
Merkmale aber nach dem anderen Geschlecht neigen. Man
nennt solche Fälle Androgynie (von griech. aner genitiv
andros = Mann und gyne = Weib) oder Mannweibigkeit.
„Was wir an dem Weibe weibliches bewundern, sagt schon Virchow,
ist nur eine Dependenz des Eierstockes. Man nehme ihn weg, und das
Mannweib in seiner häßlichen Halbheit, den großen Formen, den starken
Knochen, dem Schnurrbart, der rauhen Stimme, der flachen Brust, dem
mißgestalteten, selbstsüchtigen Gemüt und dem schroffen Urteil steht vor uns.“
Es ist eine Störung der inneren Sekretion der Geschlechts-
drüsen. Die Mehrzahl unserer Frauenrechtlerinnen gehört
in diese Gruppe. Ihr steht der verweiblichte Mann mit
seinen weiblichen Formen, seiner Urteilsschwäche und seiner
Unterordnung gegenüber. Die Erscheinung tritt ein, wenn die
Hoden verkümmert sind, der Penis klein und das Becken breit
ist. Gewöhnlich ist hohe Stimme und Bartlosigkeit damit ver-
bunden. In beiden Fällen kann die Grundlage in krank-
haften Veränderungen der Geschlechtsdrüsen (besonders
Hoden- und Eierstockgeschwülsten) beruhen. Beim Weibe
294 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion
bringt das Klimakterium, d. h. das Aufhören der Menstruation
ähnliche Erscheinungen mit sich, beim Manne die Kastration,
d. h. die Wegnahme der Hoden. Eine besondere Form ist der
Transvestitismus (von lat. trans hinüber und vistis das Kleid),
d. h. der Trieb die Kleidung des anderen Geschlechtes
zu bevorzugen. Sie erregen oft die Aufmerksamkeit der Polizei,
weil man gewöhnlich zunächst an eine (zum Zweck eines Ver-
brechens oder zur Unkenntlichmachung) beabsichtigte Verklei-
dung, nicht aber an die unschuldige Triebäußerung eines
anormal veranlagten Menschen denkt. Vor allem aber gehört
hierher die Homosexualität, d. h. das gleichgeschlechtliche
Empfindungsleben oder wie man auch sagt die „konträre
Sexualempfindung“. Welch große Bedeutung die Frage der
Homosexualität in unserem Staatsleben hat, wissen wir alle.
Die Betätigung dieser Geschlechtsempfindung ist bekanntlich
nach verschiedenen europäischen Gesetzen schwer strafbar.
Während einige Staaten sie nämlich straflos lassen und dabei
sehr gut fahren, bestraft Österreich beide Geschlechter, Deutsch-
land merkwürdigerweise nur das männliche. Es herrscht in
unseren Gesetzen noch immer die veraltete auf religiösen Grund-
sätzen ruhende Ansicht, daß homosexuelle Betätigung eine
Verkommenheit, eine Folge von Degeneration sei, während die
Wissenschaft nachgewiesen hat, daß sie auf einer Natur-
veranlagung, d.h. eben auf einer Störung der inneren Sekretion
beruht. Es wirken hier nämlich sowohl die männlich als die
weiblich einstellenden Sekrete und es liegt in der Natur der
Sache, daß der Prozentsatz dieser Sekrete ein verschiedener
sein kann. Ein gewisser, wenn auch ganz leichter Einschlag
der Empfindung des andern Geschlechts ist wohl bei den
meisten Menschen vorhanden, er wird aber durch die mächtig
überragende eingeschlechtliche Veranlagung unterdrückt. Ist
jedoch der Einschlag des andern Geschlechts etwas stärker,
dann ist maßgebend, welche Jugendeindrücke mitwirken. Die
erste geschlechtliche Erregung (Ekphorie) in der Rich-
tung der schwächeren Veranlagung kann diese stärken, so daß
sie weiterhin bestimmend wird. Es kann so auch ein zeit-
weiliges Überwiegen der einen oder anderen Empfindungs-
richtung auftreten. Ist dagegen in einem Menschen die Trieb-
richtung im Sinne des anderen Geschlechtes stärker, dann
besitzt er eben das Empfindungsleben seines eigenen Ge-
v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 295
schlechtes gar nicht, er ist chemisch im Sinne des andern
Geschlechtes orientiert. Immer liegt aber eine bestimmte
angeborene Störung zugrunde, die nicht vom Willen des Einzelnen
„abhängig ist, sowenig wie etwa die Farbenblindheit. Für diese
Veranlagung kann also der Mensch nichts*). Die Betätigung
seines Geschlechtslebens ist aber denselben Gesetzen unter-
worfen, wie das der normal veranlagten Menschen, sie ist ab-
hängig von der Stärke der Erotisierung einerseits und der
Hemmungen andererseits.
Kehren wir jetzt zu Steinach zurück. Er setzte nun einem
noch ganz jungen Meerschweinchen, das er vorher durch
Kastration „ungeschlechtlich“ gemacht hatte, sowohl einen
Hoden als einen Eierstock ein und es entstanden Zwitter-
bildungen, in denen männliche und weibliche Eigenschaften
vereint waren. Samenbildungszellen und Eifollikel waren stark
rückgebildet. Steinach sagt dazu:
„Aber nicht allein die somatischen (körperlichen) Merkmale, sondern
auch die psychischen (geistigen) Geschlechtsmerkmale stehen unter dem
Einfluß der Zwittrigkeit.“
Die Hormone verstärkten bald die männlichen, bald die
weiblichen Empfindungen. Man ging nun an die Unter-
suchung der Keimdrüsen von Zwittern und Homosexuellen.
An der Keimdrüse eines Ziegenzwitters, der äußerlich weiblichen
Geschlechtes war, aber männliches Empfindungsleben bekundete,
zeigte Steinach, daß das Sexualgewebe in rückgebildetem Zu-
stand, die Zwischenzellen aber sehr stark gewuchert und von
beiden Geschlechtern vorhanden waren. Steinach nennt die
weiblich orientierenden Zellen „F-Zellen“. Auch in den Hoden
Homosexueller behauptet Steinach, beide Arten von Zellen ge-
funden zu haben — was allerdings von anderen bestritten
wird**) — es ist wieder die Frage, ob die Zwischenzellen die
Erzeuger der geschlechtlich orientierenden Sekrete sind. Nun ist
aber besonders wichtig, daß auch der umgekehrte Weg ge-
lungen ist. Lichtenstern, der chirurgische Mitarbeiter Steinachs
und Mühsam, der bekannte Berliner Chirurg, konnten nämlich
in Kastraten durch Übertragung von Hoden anderer, die
~») Selbstverständlich existieren auch Fälle, in denen absolute Degene-
ration — die sich dann aber auch anderwärts zeigt — eine pseudo-
homosexuelle Betätigung entstehen läßt. Auch der Mangel an Frauen
(in Gefängnissen, Schiffen) kann solche Formen hervorrufen. Dies hat
mit wahrer Homosexualität nichts zu tun.
**) Siehe oben den Aufsatz von Prange S. 270 ff.
296 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion
geschlechtlichen Funktionen wieder wecken. Man muß dabei
jedoch beachten, daß man Hoden anderer nicht leicht bekommt.
Gewöhnlich sind es Hoden von Menschen, die mit Krypt-
orchismus behaftet sind, bei denen die Hoden also im Leisten-.
kanal stecken geblieben sind und schließlich entfernt werden
müssen. Solche Hoden sind aber meist, wie wir gesehen
haben, nicht ganz normal gebildet. Dies erklärt, daß die
Versuche nicht immer voll und ganz gelingen. Weiterhin haben
nun aber Lichtenstern, Mühsam und der bekannte Berliner
Chirurg Dr. Stabel diese Operation auch an Homosexuellen
ausgeführt. Vorzüglich gelang die Operation Lichtenstern an
einem homosexuellen Manne, dem er seine Geschlechtsdrüsen
entfernte und ihm dafür den Hoden eines gesunden und
normal empfindenden Mannes einsetzte. Er wurde in den
Bauchmuskel eingenäht und heilte da ein. Die weiblichen
Formen seines Körpers bildeten sich bald zurück, ver-
wandelten sich in rein männliche und das unnormale Geschlechts-
empfinden wurde normal. Daß auch hier nicht alle Fälle gleich-
gut ausfielen, liegt eben wieder an der Verwendung des Materials,
das in gleicher Weise gewonnen wird, wie oben geschildert.
Es wird berichtet, daß sich in den herausgenommenen Ge-
schlechtsdrüsen des homosexuellen Mannes zwischen den
Samenkanälchen, deren Samenbildungszellen teilweise degeneriert
waren, sowohl Leydig’sche Zellen als F-Zellen fanden;
diese Zellen wären dann — was eigentlich ganz folgerichtig ist —
die Ursache der unnormalen Geschlechtsermpfindung gewesen.
Steinach selbst erklärt den Vorgang mit folgenden Worten:
„Auch die dauernde oder im individuellen Leben auftretende Homo-
sexualität läßt sich auf das Vorhandensein einer zwittrigen Pubertäts-
drüse zurückführen, also wie es Hirschfeld richtig vermutet hat, wenn er
von der angeborenen Disposition der Homosexualität spricht. Innerhalb
einer solchen zwittrigen Pubertätsdrüse — nehmen wir den Fall eines
männlichen Individuums mit scheinbar normalen Hoden — hemmen die
in Masse überwiegenden männlichen Pubertätszellen, und es entwickelt
sich zunächst der durchaus männliche Geschlechtscharakter mit all seinen
körperlichen Merkmalen. Wenn nun früher oder später aus irgend einer
Ursache die männlichen Zellen in ihrer Lebensfähigkeit zurückgehen und
ihre innersekretorische Funktion einstellen, so werden die vorhandenen
weiblichen Zellen durch das Nachlassen der Hemmung aktiviert. Ebenso
wie dadurch der eine oder andere körperliche weibliche Geschlechts-
charakter hervorgerufen werden kann und etwa eine Brustdrüse entsteht,
kann sich der Einfluß auch auf das zentrale Nervensystem allein er-
strecken, und nun tritt die urnische Neigung (Homosexualität) in die
Erscheinung.“
Geschlecht und Gesellschaft,
Neue Folge X, 9.
Tafel I
Abb. 2.
Ein Rattenmännchen gealtert (Abb. 1) und wieder verjüngt (Abb. 2). Nach Steinach: „Verjüngung“,
Berlin, Jul. Springer 1920. Zu Reitzenstein: „Zum Verständnis der inneren Sekretion“.
ei N
“ Friedlaender: Der Geschlechtstrieb des Weibes 297
DER GESCHLECHTSTRIEB DES WEIBES,.
Von Dr. med. KURT FRIEDLAENDER.
W" haben scharf zu trennen zwischen dem Geschlechtstrieb,
der Libido einerseits und der Geschlechtslust, der Ge-
schlechtsempfindung, dem Orgasmus andererseits. Die Libido
entspricht dem von Moll eingeführten Begriff des Kontrektations-
triebes, das Verlangen nach Herbeiführung des Orgasmus, dem
Detumeszenztriebe. Magnus Hirschfeld spricht kurz und
klar von Lust zum Verkehr und Lust im Verkehr.
Als Geschlechtstrieb wird der dem Weibe (wie dem Manne)
innewohnende Trieb zum körperlichen Berührungs- und zum
sexuellen Verkehr mit Personen des entgegengesetzten Geschlechts
bezeichnet. Das eigentliche Endziel dieses Triebes ist nach
Kisch nicht „der Trieb zur Mutterschaft“, sondern volle Aus-
lösung des Wollustgefühls durch Kohabitation mit dem Manne.
Rohleder definiert den Geschlechtstrieb als das Begehren
zu geschlechtlichen Handlungen ohne besondere logische Über-
legung dieser Handlungen und ihrer Folgen.
Er setzt sich zusammen erstens aus dem Begattungstrieb
(dem Geschlechtstrieb sensu stricto), der sich in sinnlichem
Streben nach fleischlicher Vereinigung mit einer Person des
anderen Geschlechts äußert. Zweitens aus dem Fortpflanzungs-
trieb, einem nur dem menschlichen Geschlecht anhaftenden
Verlangen, dem Wunsche, Nachkommen zu erzeugen. Doch
tritt dieser Trieb auch beim Menschen meist stark in den
Hintergrund. Der Sexualtrieb setzt sich zusammen aus einer
zentripetalen Tätigkeit, dem Sexualgefühl, einer Vorstellung im
Hirn, der zentralen Tätigkeit, und einer zentrifugalen Tätigkeit,
dem Drange nach sexueller Betätigung. Die Entwicklung des
Sexuallebens nimmt ihren Anfang aus Organempfindungen der
sich entwickelnden Sexualdrüsen. Es entwickelt sich nun eine
gegenseitige Abhängigkeit zwischen Hirnrinde als Entstehungsort
der Empfindungen und Vorstellungen und den Generations-
organen. Der psychophysiologische Hergang, welchen der
Begriff Geschlechtstrieb umfaßt, setzt sich demgemäß nach von
Krafft-Ebing zusammen: 1. aus zentral oder peripher ge-
weckten Vorstellungen; 2. aus damit sich assoziierenden Lust-
gefühlen. Daraus entsteht der Drang zu geschlechtlicher Be-
20
298 Friedlaender: Der Geschlechtstrieb des Weibes
friedigung. Hegar teilt ebenfalls den Geschlechtstrieb in einen
Begattungstrieb, dem Verlangen nach fleischlicher Vereinigung
mit einer Person des anderen Geschlechts und in einen Fort-
pflanzungstrieb, dem Verlangen nach Kindern. Von einem
Fortpflanzungstrieb kann man bei einem Kulturmenschen kaum
noch reden. Höchstens ist er bei der Frau noch angedeutet.
Das Zentralnervensystem ist bei der Entstehung und dem
Ablauf unserer Geschlechtstätigkeit in hohem Grade beteiligt
in förderndem und in hemmendem Sinne. Schopenhauer
nennt den Geschlechtstrieb die vollkommenste Äußerung des
Wollens zum Leben, mithin die Konzentration alles Wollens.
Moll hat für die Determinierung des Geschlechtstriebes
neue Begriffe eingeführt. Er versteht unter dem Kontrektations-
trieb den Drang, sich einer Person des anderen Geschlechts
zu nähern, sie zu berühren, zu küssen; unter dem Tumeszenz-
trieb das Verlangen nach körperlicher Vereinigung und unter
dem Detumeszenztrieb den Drang, an den Genitalien eine Ver-
änderung herbeigeführt zu sehen.
Johanna Elberskirchen spricht etwas laienhaft von
Liebeskraft, Begattungskraft und Wollustkraft.
Der heterosexuelle Geschlechtstrieb ist als ein sekundärer
Geschlechtscharakter zu betrachten, der in ähnlicher Weise
durch die natürliche Zuchtwahl begründet ist, wie Darwin '
es für zahlreiche körperliche Eigenschaften nachwies.
Trotzdem halte ich für die Definition des Geschlechts-
triebes die Betonung der Richtung auf das andere Geschlecht,
wie es fast alle Autoren tun, nicht für wesentlich und erschöpfend.
Eine tiefergehende weniger äußerliche Einteilung, die auch diesen
erwähnten Fehler vermeidet, gibt Magnus Hirschfeld. Er
unterscheidet:
a) die zentripetale, von den sensorischen Nerven zum Gehirn
verlaufende sexuelle Eindrucksbahn (Wahrnehmungs- und
Vorstellungsbahn);
b) den von der äußeren Sexualreizung, vor allem aber von der
intrasekretorischen Ladung abhängigen Zentraldrang;
c) die zentrifugale, vom Gehirn zu den motorischen Nerven
verlaufende Ausdrucksbahn (sexuelle Trieb- und Handlungs-
bahnen);
d) die regulatorischen Hemmungsbahnen (siehe Figur).
Friedlaender: Der Geschlechtstrieb des Weibes 299
Hemmungsbahnen
Ladungsbahnen
Nach einem Schema von Magnus Hirschfeld.
Dem zentripetalen Anteil des Reflexbogens entspricht die
Triebrichtung, dem zentralen die Triebstärke, dem zentrifugalen
die Triebentspannung, während von der regulatorischen Bahn
die Triebhemmung abhängt. Diese Einteilung des Geschlechts-
triebes, dessen Verständnis durch das beigegebene, von Hirschfeld
entworfene Schema noch erleichtert wird, dringt in das eigent-
liche Wesen der Libido ein. Besonders durch die Erwähnung
der Ladungsbahnen ist der Einfluß der inneren Sekretionen
gekennzeichnet, ohne damit die Bedeutung irgend einer be-
stimmten innersekretorischen Drüse vorwegzunehmen oder
einer einzelnen Drüse die alleinige Herrschaft zuzusprechen.
An der Hand dieses Schemas werden wir auch Störungen des
Geschlechtstriebes, Abweichen der Triebrichtung, ja auch ein
scheinbares Fehlen besser verstehen können.
Eine ebenfalls die innere Sekretion speziell der Keimdrüsen
in den Vordergrund stellende Definition des Geschlechtstriebes
gibt Iwan Bloch: „Der Geschlechtstrieb ist eine chemische
Wirkung des inneren Keimdrüsensekretes und beruht auf einer
„Erotisierung“ des Zentralnervensystems. Diese Erotisierung
20*
300 Friediaender: Der Geschlechtstrieb des Weibes
ist ausschließlich durch die innere Sekretion der Zwischenzellen,
der Keimdrüsen bewirkt. Die „Pubertätsdrüse“ bewirkt die
Erotisierung des Gehirns und des Zentralnervensystems, die
Änderung und Entwicklung des Geschlechtstriebes in körper-
licher und geistiger Beziehung“.
Überblicken wir die Literatur über die Libido, so stoßen
wir auf grundlegende Verschiedenheiten in der Beurteilung der
Stärke des männlichen und weiblichen Geschlechtstriebes. Die
einen Autoren glauben, die Libido des Weibes sei schwächer
als die des Mannes, die anderen kommen zu einem umgekehrten
Ergebnis, die dritte Gruppe meint: Männlicher und weiblicher
Geschlechtstrieb halten sich in ihrer Stärke die Wage.
Wenden wir uns zuerst zu Kisch, wohl dem besten
Kenner des weiblichen Geschlechtslebens überhaupt. Nach ihm
ist der Geschlechtstrieb beim geschlechtsreifen weiblichen
Individuum stets vorhanden, wenn auch die Stärke desselben
von individueller Veranlagung, körperlichen und psychischen
Zuständen, sowie von äußeren Verhältnissen abhängig und seine
Kundgebung durch die Willenskraft eingedämmt ist. Der Ge-
schlechtstrieb der jungen Mädchen in der Menarche ist anfänglich
undifferenziert, nicht auf einen bestimmten sexuellen Akt oder
einen bestimmten Mann gerichtet. Erst später, zuweilen mit
dem Eintritt der ersten Menstruation, differenziert sich der
Geschlechtstrieb auf sexueller Grundlage und das Beispiel von
Genossinnen ist es zumeist, welches aus dem allgemeinen
Verliebtsein den leidenschaftlichen Trieb schaff. Wenn auch
zur Zeit der Menstruation sich ein stärkeres erotisches Empfinden
bemerkbar macht, so fehlt doch beim menschlichen Weibe die
Beschränkung des Geschlechtstriebes auf bestimmte Zeiträume
und die Gebundenheit desselben an die Fortpflanzung. Kisch
glaubt nicht an einen geringeren Grad des weiblichen Geschlechts-
triebes im allgemeinen, sondern möchte nur die schwächere
Ausprägung dieses Triebs beim adoleszenten sexuell unerfahrenen
Mädchen gegenüber dem geschlechtlich wissenderen Jüngling
annehmen. Von dem Augenblick an, wo das Weib, sexuell
vollständig aufgeklärt und schon berührt, sinnliche Anregungen
empfangen hat, ist dessen Berührungs- und Kohabitationstrieb
ebenso machtvoll und impulsiv, wie der des Mannes. Zu be-
rücksichtigen sind freilich die Willensimpulse, denen der
weibliche Geschlechtstrieb zugänglicher ist.
Friedlaender: Der Geschlechtstrieb des Weibes 301
An dieser Stelle möchte ich mir eine kurze Einwendung
gestatten. Schon das unbewußte Sehnen und Drängen des
jungen unerfahrenen Mädchens ist bereits eine Äußerung des
vorhandenen Geschlechtstriebes, nicht erst eine Vorstufe.
Wenn er noch undifferenziert ist, so ist dieses eine Schuld der
mangelhaften oder zu spät einsetzenden sexuellen Aufklärung.
Diese Aufklärung, sei sie theoretisch oder praktisch, kann die
Triebrichtung auf ein bestimmtes Individuum fixieren, niemals
aber wird sie den Geschlechtstrieb „wecken“. In diesem Punkte
befinde ich mich hinsichtlich der normalen Frau in voller Über-
einstimmung mit Johanna Elberskirchen, wenn sie sagt: „der
auf den Mann gerichtete Geschlechtstrieb kann unabhängig
von jeder Erfahrung, unabhängig von der Begattung, also ehe
überhaupt die erste Begattung statthatte, bestehen“. Sie fährt
fort: „Treffen wir beim Weibe auf einen mangelhaften oder
krankhaften Geschlechtstrieb, so müssen wir daraus schließen,
daß diese Erscheinungsform nicht die dem Weibe grundsätzlich
eigentümliche Form des Geschlechtstriebes ist, nicht die normale,
sondern eine kulturell gegebene abnorme Form, bedingt durch
mangelhafte, krankhafte Einflüsse der Kultur- und Entwicklungs-
bedingungen. Der Geschlechtstrieb der Frau äußert sich unter
annähernd natürlichen Verhältnissen möglichst befreit von
kulturellem Ballast in befriedigender Form und läßt keine
Mangelhaftigkeit und Krankhaftigkeit erkennen.“
A. Eulenburg tritt ebenfalls der Sexual-Anästhesie des
Weibes als einer normalen Erscheinung entgegen. Bei den
„femmes de glace“*) ist anzunehmen, daß es sich um neuro-
pathische Naturen handelt oder um eine Art von psychosexueller
Entwicklungshemmung, um sexuellen Infantilismus.
Sehr ausführlich äußert sich Rohleder über die Stärke
des weiblichen Geschlechtstriebes im Vergleich mit der des
Mannes. Nachdem er früher selbst den Sexualtrieb des Weibes
für einen durchschnittlich schwächeren gehalten hat, ist er nach
weiteren Erfahrungen zu der Ansicht gekommen, daß der Ge-
schlechtstrieb bei beiden Geschlechtern ungefähr der gleiche ist,
daß die Annahme, derselbe sei beim weiblichen Geschlecht
schwächer, herrührt von der größeren diesbezüglichen Reser-
viertheit des weiblichen Geschlechts in der Sexualanamnese.**)
*) Kalten Naturen.
*) Anamnese — Vorgeschichte der Krankheit.
302 Friediaender: Der Geschlechtstrieb des Weibes
„Schon vom physiologischen Endzwecke des Sexualtriebes aus
betrachtet, ist es nicht einzusehen, warum die Natur bezüglich
der Stärke des Triebes das eine Geschlecht vor dem anderen
weit vorgezogen haben sollte. Nicht in der Stärke, sondern
in der Art, dem Wesen variiert der Geschlechtstrieb bei beiden
Geschlechtern. Das ist m. E. der Fundamentalsatz. Der Ge-
schlechtstrieb ist bei beiden Geschlechtern außerordentlich
variabel innerhalb der verschiedensten Grenzen, sich richtend
in erster Linie nach der Veranlagung, dann aber besonders
nach der Ernährung, dem Klima und verschiedenen anderen
mehr oder weniger großen kulturellen Einflüssen, ganz besonders,
wie bekannt, dem Alter“. „Es ist im allgemeinen schwer, die
Stärke des Geschlechtstriebes eines Menschen zu bestimmen,
ganz unmöglich das Aufstellen gleichsam einer feststehenden
Skala, eines Schemas der Stärke des Sexualtriebes, denn der
Geschlechtstrieb ist das differenzierteste und variabelste Ding,
das überhaupt in der Welt existiert“.
In diesem Zusammenhang sind die Ansichten des Philo-
sophen Weininger erwähnenswert, der neben manchem
Richtigen viel stark Anfechtbares bringt. Sicher falsch ist seine
Behauptung, daß beim Weibe ein eigentlicher Detumeszenztrieb
überhaupt nicht vorhanden ist; daß der Kontrektationstrieb die
größte, weil alleinige Rolle spiele. Ohne Hervorhebung dieser
zwei analytischen Momente, des Kontrektationstriebes und des
Detumeszenztriebes findet er in der Stärke des Begattungs-
triebes (d. h. der Libido) keinen Unterschied zwischen den
beiden Geschlechtern.
Nachdem wir nunmehr gelernt haben, den Geschlechtstrieb
nach anderen Gesichtspunkten zu zergliedern, werden wir mit
dieser allgemein gehaltenen Feststellung nicht mehr viel be-
ginnen können. Dagegen muß ich es als richtig anerkennen,
wenn er jenen Unterschied in der verschiedenen Intensität des
Sexualtriebes zu finden sucht. „Man hüte sich also vor einer
Verwechslung der Häufigkeit des sexuellen Begehrens und der
Stärke der sexuellen Affekte mit der Breite, in welcher geschlecht-
liche Wünsche und Besorgnisse den männlichen oder weiblichen
Menschen ausfüllen. Bloß die größere Ausdehnung der Sexual-
sphäre über den ganzen Menschen bei W(eibe) bildet einen
spezifischen Unterschied von der schwersten Bedeutung zwischen
den geschlechtlichen Extremen“. „W ist nichts als Sexualität, M
Friedlaender: Der Geschlechtstrieb des Weibes 303
ist sexuell und noch etwas darüber. Die Frau ist nur sexuell,
der Mann ist auch sexuell“. „Der Geschlechtstrieb ist beim
Weibe immer vorhanden, beim Manne ruht er immer längere
oder kürzere Zeit. Daraus erklärt sich auch der eruptive
Charakter des männlichen Geschlechtstriebes, der diesen soviel
auffallender erscheinen läßt als den weiblichen und zur Ver-
breitung des Irrtums beigetragen hat, daß der Geschlechtstrieb
des Mannes intensiver sei als der des Weibes. Der wahre
Unterschied liegt darin, daß für M der Begattungstrieb so-
zusagen ein pausierendes Jucken, für W ein unaufhörlicher
Kitzel ist“.
Gerhard Hahn findet ebenfalls keinen Unterschied in
der Stärke des Sexualtriebes zwischen Mann und Weib.
Hamm behauptet, daß ein der Selbstbefriedigung nicht
ergebenes Mädchen bei Beginn der Geschlechtsreife ohne jede
Reizung durch einen Mann von innen heraus sinnliche An-
wandlungen örtlicher und seelischer Art hat, die, wenn keine
Selbstbefriedigung eintritt, in regelmäßigen Zwischenräumen von
drei (?) Tagen eine Traumentleerung übermäßig gespannter
Schleimdrüsen auslösen. Ich zitiere den Autor hier nur, weil auch
nach seiner Ansicht die Sinnlichkeit gesunder Jungfrauen, d.h.
die Libido, spontan ohne jede Reizung und Verführung auftritt.
Havelock Ellis schreibt zur Psychologie des normalen
Geschlechtstriebes: „Die Passivität der Frau in der Liebe ist
die Passivität des Magneten, der in seiner anscheinenden Un-
beweglichkeit das Eisen an sich heranzieht. Eine starke Energie
liegt hinter einer solchen Passivität; das zu erreichende Ziel
ist vorher bestimmt. Wenn der Geschlechtstrieb richtig geweckt
wird, kann über seine Stärke bei normalen und gesunden
Frauen kein Zweifel herrschen. Er ist komplizierter, tritt weniger
leicht spontan hervor, ist häufiger der äußeren Anregung bedürftig
als beim Manne. Er entwickelt sich erst nach Beginn des
regelmäßigen Geschlechtsgenusses zu seiner vollen Stärke.“
Um noch eine Frau zu zitieren, da eigentlich die Frauen für
die Beurteilung des weiblichen Sexualtriebes am kompetentesten
sein sollten, nenne ich Helene Stöcker, die eine geringere
Ausbildung der weiblichen Libido entschieden leugnet. „Bei
den Wilden würde man den als einen in Sachen der Liebe
ungebildeten und rohen Menschen einfach auslachen, der an
einen Prozentsatz von 25 bis 30°/, frigider Frauen glaubt“.
304 Friedlaender: Der Geschlechtstrieb des Weibes
Damit deutet gleichzeitig Helene Stöcker einen Vorwurf an,
der sehr berechtigt einem großen Teil aller Untersuchungen
und daraus sich ergebenden Schlüssen zu machen ist, nämlich
daß die meisten Ergebnisse an Frauen gewonnen sind, die
starken kulturellen Einwirkungen ausgesetzt sind, speziell den
Einwirkungen der Großstadt. Wir bekommen schon ein ganz
anderes Bild, wenn wir unsere Beobachtungen auf dem Lande
anstellen. Ich zitiere hier Placzek: „Auf dem Lande, wo wir
viel natürlichere Verhältnisse vorfinden, wo die kulturellen
Hemmungen wegfallen und künstliche, sinnliche Anreize nicht
mitwirken, ist die Sinnlichkeit des weiblichen Geschlechtes,
nach Schilderungen C. Wagners, mindestens ebenso groß wie
die des männlichen Geschlechtes, „ja vielfach sind es die
Mädchen, die die Burschen zum Geschlechtsgenuß an sich
locken und die Knechte in deren Schlafräumen und oft schon
in deren Betten erwarten.“
Die reinsten Resultate würden wir erhalten, wenn es ge-
länge, bei der Verwertung unserer Untersuchungen und Er-
fahrungen diese kulturellen Einflüsse in Abzug zu bringen oder
die Frauen unter möglichst natürlichen und physiologischen
Bedingungen zu beobachten. Vorläufig wird dies aus leicht
erklärlichen Gründen eine ideale, d. h. eine kaum erreichbare
Forderung bleiben müssen. Wir werden aber aus dieser Be-
trachtung einen gewissen Nutzen ziehen, wenn wir unter diesen
Gesichtspunkten die Urteile derjenigen Autoren betrachten, die
sich über die größere oder geringere Stärke des weiblichen
Trieblebens äußern.
In einen direkten Gegensatz zu Johanna Elberskirchen und
Helene Stöcker setzt sich Margarete Kossack. Nach ihrem
Urteil ist das Weib von Hause aus nicht nur viel weniger
sinnlich als der Mann, sondern noch viel weniger als er glaubt-
Aber das Sexuelle im engsten und weitesten Sinne nimmt in
ihrem Dasein einen ungleich größeren Raum ein als in dem
seinen, und das zwar im umgekehrten Verhältnis seiner Sinne.
„Auch damit irrt man sich, das man immer annimmt, der Ge-
schlechtstrieb äußere sich bei Eintreten der Geschlechtsreife
wie beim Jüngling ganz von selbst. Er erwacht erst beim
Zärtlichkeitsaustausch mit dem Manne.“
Sehr wertvolle Beiträge zur Sexualpsychologie des Weibes
Friedlaender: Der Geschiechtstrieb des Weibes 305
hat in allerjüngster Zeit Max Marcuse veröffentlicht: „Der
allgemeinen Beobachtung des Lebens offenbaren sich Mann
und Weib als Gegensätze, die gerade das sexuelle Wollen,
Empfinden und Urteilen in geschlechtsspezifischer Weise be-
stimmen. Die bestimmenden Unterschiede stellen sich dem
Psychologen und Sexuologen etwa folgendermaßen dar: Be-
herrschung der männlichen Geschlechtlichkeit durch den Detu-
meszenztrieb, der weiblichen durch den Kontrektationstrieb,
Getrenntheit oder doch Trennbarkeit des Geschlechts- vom
Liebeskomplex beim Manne gegenüber ihrer Einheit bei der
Frau, Episodenhaftigkeit und Untiefe des männlichen, Dauer-
und Tiefenwirkung des weiblichen Sexualerlebnisses. Meist
Frauenrechtlerinnen oder Künstlerinnen behaupten, daß der
Drang nach geschlechtlicher Entladung beim Weibe ebenso
groß sei wie beim Manne und betonen auch ein sexuelles
Variationsbedürfnis der Frau.*
Die Zusammenstellung von Frauenrechtlerinnen und Künst-
lerinnen, also von Frauen, die nach der Hirschfeldschen
Zwischenstufentheorie einen männlichen Einschlag zeigen, soll
die Behauptung Markuses stützen, daß, da beim Manne der
Detumeszenztrieb vorherrsche, bei diesen Frauen der Drang
nach geschlechtlicher Entladung die männlichen Komponente
verrate, also unweiblich sei. Ich kann den Ausführungen
Markuses nur bedingt zustimmen. 1. Ich glaube, daß den
Frauen sicher ein starker Detumeszenztrieb zuzugestehen ist
und zwar ein Detumeszenztrieb, der in coitu seine Entspannung
sucht und nicht seine Lösung im Geburtsakt finden soll, wie
es in hypothetischer Künstelei zu deuten versucht wird. 2. Die
Annahme einer Episodenhaftigkeit und Untiefe des männlichen
Sexualerlebnisses im Gegensatz zum weiblichen muß ich be-
streiten. 3. Eine Trennbarkeit des Geschlechts- vom Liebes-
komplex ist beim Manne durchaus nicht ausgesprochener wie
bei der Frau. Diese Differenzen, die natürlich durch Beobachtung
zahlreicher Einzelfälle aufgestellt sind, sind kulturbewirkt, nicht
naturgegeben. Die Einflüsse der Kultur auf das weibliche
Sexualleben müssen andere sein wie beim Manne, müssen bei
der Frau stärkere Hemmungen auslösen, eben wegen der Ge-
fahren und Folgen, die ein Sexualerlebnis für sie hat. Natur-
gegeben ist de Monogamie für Mann und Frau. Schon
rein vom teleologischen Gesichtspunkte aus: Die Monogamie
306 Friedlaender: Der Geschlechtstrieb des Weibes
bietet die beste Gewähr, ja vielleicht die einzige für die sach-
gemäße Aufziehung der Kinder.*)
Max Dessoir glaubt, daß der Geschlechtstrieb in der
Jugend undifferenziert sei, nicht auf ein bestimmtes Geschlecht
gerichtet. Er behauptet, daß das sexuelle Verlangen bei der
Frau weniger mächtig sei als beim Manne. Freilich gibt er
eine stärkere Bedürftigkeit zur Zeit der Menses zu.
Lombroso hält die Frauen für kälter und den Geschlechts-
trieb für weniger stark. „Die Liebe des Weibes ist im Grunde
nichts als ein sekundärer Charakter der Mutterschaft und alle
Gefühle der Zuneigung, die eine Frau an den Mann fesseln,
entstehen nicht aus sexuellen Impulsen, sondern aus den durch
Anpassung erworbenen Instinkten der Unterwerfung und Hin-
gabe (?)“. Lombroso hält die Liebe für die wichtigste An-
gelegenheit im Leben der Frau. Der Grund hierfür liegt aber
nicht in der Erotik, sondern in dem Wunsche nach Befriedigung
des Mutterinstinktes. „Das Weib hat weniger Erotik und mehr
Sexualität. Das ist im Grunde dasselbe, was Rohleder von der
Stärke und Breite des Geschlechtstriebes sagt. Ich möchte zur
Erläuterung einen Vergleich aus der Elektrizitätslehre anführen:
Der Geschlechtstrieb des Mannes mißt mehr Volt, der des
Weibes mehr Amp£res“.
Hegar hält den Geschlechtstrieb des Mannes für stärker.
„Die natürliche Neigung des Weibes zur physischen Liebe ist
im allgemeinen, von Ausnahmen natürlich abgesehen, nicht sehr
groß.“ Die gleiche Ansicht vertritt Litzmann. „Der Ge-
schlechtstrieb ist bei der Frau im allgemeinen weniger rege
als bei Männern“.
Löwenfeld meint, die Libido fehle gänzlich bei jungen
Mädchen vor der Pubertät und bei alten Frauen. (Auch Kisch
hat diese Stelle mit einem Fragezeichen versehen müssen). Bei
einem nicht unerheblichen Teile der Mädchen bleibt dieser
Zustand auch nach der Pubertät bestehen, so lange sexuelle
Reizungen irgendwelcher Art von ihnen fernbleiben; bei vielen
Frauen ändert sich dieser Zustand auch nicht nach der Ein-
leitung des Geschlechtsverkehrs.
*) Wenn Friediaender mit „naturgegeben“ eine von Natur aus im
Menschen liegende Veranlagung zur geschlechtlichen Verbindung mit
einem Weibe meint, können wir ihm nicht beistimmen. Daß sie natür-
lich die beste Gewähr für die Erziehung ist, ist klar. Sie sollte die reifste
kulturelle Frucht der Verbindungen sein, (Die Schriftleitung.)
Friedlaender: Der Geschlechtstrieb des Weibes 307
Erb spricht jugendlichen und jungfräulichen Individuen
ebenfalls einen geringen Sexualtrieb zu; erst nach Beginn des
Geschlechtsverkehrs wachsen die sexuellen Bedürfnisse.
Nach Hammonds ist ebenfalls beim weiblichen Ge-
schlecht der Geschlechtstrieb geringer als beim männlichen.
Mangel der Libido kann bedingt sein durch völliges Fehlen oder
unvollkommene Entwicklung der Clitoris (!). Fehlt der Sexual-
trieb, ohne daß eine Ursache nachgewiesen ist, so spricht Ham-
monds von einem angeborenen Fehlen des Geschlechtstriebes.
Roubaud bestreitet diesen Zustand von Frigiditas organica
idiopathica; er hat solche Fälle weder selbst beobachtet, noch
bei anderen Autoren verzeichnet gefunden. Die beiden von
Hammonds angeführten Fälle zumindest zwingen uns, der
Ansicht Roubauds beizutreten. Die eine Patientin hatte angeblich
keine Libido, aber allmählich entwickelte sich doch sexuelles
Verlangen. Bei der zweiten Patientin fehlte Libido und Orgasmus,
zuweilen war sie aber durch den Akt „angenehm erregt“. Diese
nunmehr zwanzig Jahre zurückliegenden Beobachtungen sind
wohl nicht mit der nötigen Schärfe und Exaktheit angestellt,
um daraus wirkliche Schlüsse auf die Stärke des weiblichen
Trieblebens ziehen zu können. Ich erwähne diese Beobachtungen
wesentlich deshalb, um zu zeigen, wie so oft auf Grund un-
bestimmter, unexakter und unzuverlässiger Angaben feste Urteile
gebildet werden. Vielleicht ist auch unter diesem Gesichtspunkt
die Ansicht von Reinhold Günter zu verstehen, der die
sexuelle Unempfindlichkeit und Gileichgiltigkeit der Frau als
den natürlichen (!) Zustand ansieht. Hätte Günter recht, wäre
die geschlechtliche Gefühlslosigkeit der Frau „natürlich“, dann
wäre die Welt zu bedauern, dann wäre, so glaube ich, ein
großer Teil der Kulturgüter, wohl der beste, ungeschaffen ge-
blieben. Das müßte eine sonderbare Natur sein, die die Rollen
so jämmerlich verteilt hätte.
Noch weiter geht H. Fehling, der sogar das Hervortreten
des sexuellen Elements in der Liebe eines jungen Mädchens
für etwas Pathologisches hält.
Mehr der Kuriosität halber zitiere ich Windscheidt:
„Beim normalen Weibe, besonders dem der höheren Klassen,
ist der sexuelle Instinkt (gemeint ist wohl die Libido) erworben,
nicht angeboren. Wo er angeboren ist oder von selbst erwacht,
haben wir es mit einer Anomalie zu tun“. Ich will hier nicht
308 Friediaender: Der Geschlechtstrieb des Weibes
näher auf diese merkwürdige Anschauung eingehen; es ist leicht,
die Haltlosigkeit einer derartigen Annahme darzutun.
Über den weiblichen Geschlechtstrieb und seine Ver-
minderung, über die mangelhafte Geschlechtsempfindung des
Weibes verdanken wir O. Adler eine schöne ausführliche
Monographie. Wenn ich auch in vielen Punkten mit ihm nicht
übereinstimme, und das ganze Thema unter einem wesentlich
anderen Gesichtswinkel, speziell dem der inneren Sekretion,
betrachte, so verdanke ich doch der Lektüre seines Buches
vielerlei Belehrung und Anregung. O. Adler nimmt an, daß
der Geschlechtstrieb (Verlangen, Drang, Libido) des Weibes
sowohl in seinem ersten spontanen Entstehen wie in seinen
späteren Äußerungen wesentlich geringer ist als derjenige des
Mannes, daß die Libido oftmals erst in geeigneter Weise geweckt
werden muß und oft überhaupt nicht entsteht. Diese geringere
oder verspätete Ausbildung betrachtet er rein teleologisch als
natürliche Abwehr gegen die Gefahren des weiblichen Ge-
schlechtslebens.. Diese Abwehr kann auf zweierlei Wegen
erreicht werden. 1. Der Geschlechtstrieb ist de facto von Hause
aus absolut wesentlich geringer, bedarf also für sein Erwachen
und Erwecken weit bedeutenderer und längerer Reize als der-
jenige des Mannes. 2. Der Geschlechtstrieb ist zwar (latent)
in gleicher oder ähnlicher Stärke vorhanden, allein er ist ge-
fesselt, eingeschlossen, gehemmt. Und erst wenn diese
Hemmung vom geeigneten Partner entweder mühsam in lang-
samer Arbeit aufgehoben, eventuell auch in besonderen Fällen
durch einen einzigen treffenden Schlag gesprengt ist, erwacht
das bis dato kalte und empfindungslose Weib zum Bewußtsein
des geschlechtlichen Verlangens und Begehrens. Adler glaubt,
daß beide Momente zugleich — angeborene Schwäche des
Triebes einerseits, Hemmungen andererseits — je nach der
Individualität in verschiedenartigster Mischung den Mangel des
weiblichen Geschlechtstriebes bedingen. Auch nach meiner
Auffassung sind dies ja die beiden hauptsächlichsten Kompo-
nenten der weiblichen Impotenz, wie ich an anderer Stelle
ausführen werde.
Es muß doch sehr auffallend erscheinen, daß so viele gute
Beobachter des weiblichen Geschlechtslebens zu so stark von-
einander abweichenden Ergebnissen kommen. Während, um
nur einige wenige Autoren noch einmal zu nennen, Kisch,
Friedlaender: Der Geschlechtstrieb des Weibes 309
Rohleder und Elberskirchen dem weiblichen Geschlechtstrieb
eine gleiche Stärke zuschreiben, wie dem männlichen, sind auf
der anderen Seite Hegar, Löwenfeld, Lombroso und Adler von
dem geringeren sexuellen Drange der Frau überzeugt. Wie ist
das zu erklären? Das Material ist wohl bei den Vertretern
beider Richtungen das gleiche. Die examinierten Frauen
stammen aus allen Volksschichten und gehören allen Alters-
klassen an. Bei so erfahrenen Frauenärzten und Sexuologen
sind beabsichtigte Irreführungen seitens der Frau in der Sexual-
anamnese auszuschließen. Eine Erklärung für dieses Abweichen
der Anschauungen scheint mir Bucura zu geben. Er vereinigt
die einander widersprechenden Urteile auf einer mittleren Linie.
Er hält den Geschlechtstrieb des Mannes für sekundär, für von
der Frau induziert, also der Sexualtrieb der Frau wäre das
primäre, von innen heraus physiologisch bedingt. Die ge-
schlechtliche Spannung tritt beim gesunden Weibe mit der
monatlichen Regel ein und ist am stärksten am dritten oder
vierten Tage, unmittelbar bei oder nach Abschluß derselben;
in dieser Zeit ist auch die Befriedigung der Geschlechtslust
am stärksten und wohltuendsten. Aus den Äußerungen schrift-
stellernder Frauen entnimmt er: 1. Der Geschlechtstrieb tritt
beim Mädchen ebenso wie die Pubertät und die erste Men-
struation von selbst auf und braucht nicht erst „geweckt“ zu
werden. 2. Der Geschlechtstrieb äußert sich in der Pubertät
unabhängig, später regelmäßig nach der Menstrualblutung.
3. Im Intermenstruum tritt er kaum je spontan auf. Der Ge-
schlechtstrieb kann von verschiedenen Seiten her geweckt
werden, wenn nur das Nervensystem unter der Einwirkung
der spezifischen Keimdrüsensekretion steht, hauptsächlich durch
Reize, die von höheren Funktionen des Gehirns ausgehen,
wie die verschiedenen Vorstellungen, Erinnerungsbilder usw.
Das Prävalieren der zerebralen Auslösung des Geschlechts-
triebes und die dadurch entstandenen besseren und stets
funktionierenden Bahnen der Nervenleitungen erkläre nicht nur
die stete Bereitschaft und Ausführbarkeit des Geschlechtstriebes
beim menschlichen Weibe, sondern auch das Weiterbestehen
des Sexualtriebes beim Menschen nach der Kastration. Ober-
flächlich betrachtet ist ein Unterschied des Geschlechtstriebes
zwischen Mann und Weib nicht nachweisbar, bei näherer Be-
trachtung scheint ein Überwiegen der spezifischen Funktionen
310 Friedlaender: Der Geschlechtstrieb des Weibes
der weiblichen Keimdrüse vorhanden zu sein, wodurch eine
deutliche Periodizität des Geschlechtstriebes in Erscheinung
tritt. Er fährt dann fort — und ich möchte die Wichtigkeit
folgender Zeilen betonen. Es ist nicht richtig, eine große Zahl
frigider Frauen anzunehmen. Es stimmt nur die hohe Zahl
der Geschlechtsakte, nach denen die Frau kein wirkliches Ver-
langen und in denen sie keine volle Befriedigung findet, nicht
weil sie eine geringere Libido hat, nicht weil sie frigider ist,
sondern weil die Frau zum Geschlechtsakte nur zu bestimmten
Zeiten disponiert ist, die der Mann nicht berücksichtigt. In
der Zwischenzeit, abgesehen von äußeren und künstlichen
Reizen verlangt sie den Geschlechtsverkehr wenig oder garnicht,
was ihr oft als Frigidität ausgelegt wird. Die Frau ist im
Annäherungstriebe aktiv, in der Werbung aktiv, in der Zeit des
Tumeszenztriebes aktiv, aber viel mehr gehemmt als der Mann.
Auch ich möchte mich in dieser Hinsicht völlig Bucura
anschließen, nicht von Hause aus einen geringeren Geschlechts-
trieb des Weibes, sondern eine Disposition und Indisposition
zum Coitus zu bestimmten Zeiten anzunehmen. Würde es ge-
lingen, die Männerwelt über diese Zustände aufzuklären und
auch die Frauen damit vertraut zu machen, so würden wir
bald zum Resultat kommen, daß die Libido bei beiden Ge-
schlechtern gleich groß ist; und wir müßten auch hier fragen,
warum sollte ein so wesentlicher Unterschied in der Triebstärke
vorhanden sein? Die Frau würde einen Congressus wohl
stets verweigern, zumal noch er für sie mit gewissen Gefahren
verbunden ist, wenn nicht auch ihrerseits ein Drang zum
Manne, ein starkes Verlangen nach der Umarmung vorhanden
wäre. „Das geringere oder stärkere Hervortreten des geschlecht-
lichen Elements in der Liebe eines jungen Mädchens ist ein-
fach naturnotwendig gegeben als Äußerung und Betätigung
einer normalen Organleistung“ (Elberskirchen). Der Grad, die
Stärke der Libido ist individuell verschieden. Und ferner ver-
schieden bei demselben Individuum zu verschiedenen Zeiten.
Während beim Manne eine wesentliche Steigerung der Libido
zu irgend einer Zeit nicht beobachtet wird, (vielleicht nimmt
der Geschlechtstrieb im Frühjahr zu bei den australischen Ur-
völkern) finden wir beim Weibe eine deutliche Periodizität des
Geschlechtslebens, die auch von den meisten Autoren anerkannt
wird, die im engen Zusammenhang mit den Vorgängen im
Kronfeld: Kurze Übersicht über die Pubertätsdrüsen-Frage 311
Ovarium steht. Es darf als bekannt vorausgesetzt werden,
daß unmittelbar post menstruationem, wie auch Bucura hervor-
hebt, eine Steigerung der Libido und eine leichtere Auslösbar-
keit des Orgasmus eintritt. Ferner ist bekannt, daß häufig in
den Wechseljahren zur Zeit der Involution der Keimdrüsen ein
vermehrter Geschlechtstrieb sich bemerkbar macht. Es darf
nicht verschwiegen werden, daß Fürbringer neuerdings eine
Sexualperiodizität des Weibes leugnet „von einer ausnahmslos
intramenstruellen Steigerung der Libido als endogener Eigen-
schaft kann keine Rede sein“.
An anderer Stelle werde ich auf diese Vorgänge und ihren
Zusammenhang mit der interstitiellen Eierstocksdrüse noch aus-
führlicher eingehen.
IK
KURZE ÜBERSICHT
ÜBER DIE PUBERTÄTSDRÜSEN-FRAGE.
Von Dr. med, et phil. ARTHUR KRONFELD, Berlin.*)
A“ experimentellem Wege hatten zunächst Nußbaum
und dann insbesondere Steinach, beim Studium der Be-
dingungen, unter welchen der Umklammerungsreflex brünstiger
Froschmännchen zustande kommt, einen ursächlichen Zusammen-
hang zwischen den hormonalen Funktionen der Keimdrüse
einerseits, spezifischen Erregungszuständen des Zentralnerven-
systems, insbesondere des Mittelhirns andererseits festgestellt —
Erregungen, die für das sexuelle Verhalten der brünstigen
Tiere entscheidend sind. War so der innersekretorische Ein-
fluß der Keimdrüsen auf das funktionelle Verhalten des
Organismus in seiner geschlechtlichen Spezifität erwiesen, so
zeigten die Kastrationsexperimente an Vögeln, welche Foges,
Pezard, Goodale u. a. m. gleichzeitig ausführten, den forma-
tiven Einfluß der inneren Sekretion der Keimdrüsen, der sich
auf die Ausbildung und Differenzierung der sekundären Ge-
schlechtsmerkmale erstreckte. Die klinischen Erfahrungen,
welche man über den angeborenen und früher oder später
erworbenen, ganzen oder teilweisen Geschlechtsdrüsen-
ausfall gesammelt hatte, wiesen ja bereits seit langem in
diege Richtung. Jedoch erst die experimentelle Untersuchung
am Säugetier konnte die näheren Umstände und die Wirkungs-
breite der innersekretorischen Keimdrüsenfunktion mit voller
*) Vortrag, gehalten im Ärzte-Verein West-Berlin, am 23. September 1920.
312 Kronfeld: Kurze Übersicht über die Pubertätsdrüsen-Frage
Exaktheit analysieren. Sie in geradezu wundervoll syste-
matischer Weise durchgeführt zu haben, wird das unsterbliche
Verdienst Steinachs bleiben. Bei der Hochflut von Literatur
über die Steinachschen Forschungen erübrigt sich ein näheres
Eingehen darauf; sie sind heute in jedermanns Munde. Es sei
nur ganz kurz erinnert an seine Rattenversuche aus dem Jahre
1910, vermittelst deren er die Folgen der Kastration bei jungen
Tieren durch Autotransplantation*) von Hoden aufhob; es
sei erinnert vor allem an seine Maskulierungs- und Femi-
nierungsversuche bei Ratten und Meerschweinchen aus den
folgenden Jahren. Der Umfang der innersekretorischen Keim-
drüsenwirkung auf die geschlechtsspezifische Differenzierung
ist nach diesen Versuchen ein weit größerer, als das vorher
abgegrenzte Gebiet der sekundären Geschlechtszeichen an-
nehmen ließ; er umfaßt auch den äußeren Geschlechtsapparat
selber, er umfaßt nach der anderen Richtung das Gesamt-
gebiet aller überhaupt vorhandenen geschlechtlichen Differenzen
im körperlichen Aufbau wie in den Funktionen des Organismus,
die psychischen einbegriffen. Steinachs Forschungen wurden
im großen Ganzen von gleichzeitigen oder späteren Experimen-
tatoren bestätigt, vor allem von Sand, wenngleich andere, wie
Bucura, so gewaltige formative Kräfte der Keimdrüse bei
ihren Tranplantations-Versuchen nicht beschrieben. Die In-
tensität der Wirkung schien in großem Maße abhängig von
der Entwicklung der Transplantate. So sah Steinach bei
einigen kastrierien Ratten, denen er ihren eigenen Hoden
wieder angepflanzt hatte, keine so weitgehende männliche
Differenzierung, wie bei den eigentlichen Männchen; sie bildeten
gewissermaßen Zwischenstufen zwischen den Kastraten und
den Männchen. Wichtiger noch, und für seinen Verjüngungs-
gedanken grundlegend, wurde die zweite hierhergehörige Be-
obachtung: daß nämlich die feminierten Männchen und die
maskulierten Weibchen in ihrer körperlichen und funktionellen
Geschlechtsumwandlung einen Grad erreichten, der weit über
denjenigen normaler Männchen oder Weibchen hinausging.
Es trat ein Plus in der innersekretorischen Trans-
plantatwirkung ein, gegenüber der gewöhnlichen Keim-
drüsenwirkung. So lauten einige Zahlen zum Vergleich der
Gewichte und der Kopflängen:
Meerschweinchen:
Normal & Gewicht 980 g Kopflänge 80 mm**)
Feminierung | Normal 9 „ 808, 72, ;
Feminiertes & = 516 „ 5 67
*) Transplantation — Überpflanzung.
**) 3 — männlich, ? = weiblich.
Tafel II
Abb. 2.
Abb. 1. Sekundäre Geschlechtsmerkmale eines alten Rattenmännchens.
Abb. 2. Sekundäre Geschlechtsmerkmale eines verjüngten Rattenmännchens
(Wurfbruder.) Aus Steinach: „Verjüngung“, Berlin, Jul. Springer 1920.
Zu Reitzenstein: „Zum Verständnis der inneren Sekretion“.
Tafel II
-„UON2149S UaJauuI Jap SIupurjssa‘ WNZ“
:uiajsuazyoy nZ 0761 Jedunds nf
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Kronfeld: Kurze Übersicht über die Pubertätsdrüsen-Frrage 313
Normal ? Gewicht 845 g Kopflänge 74 mm
Maskulierung Normal 3 „ 1002 „ » 8l „
Maskuliertes ? „ 1200 „ 5 87 „
Worauf beruht diese Steigerung der innersekretorischen
Transplantatwirkung? Steinach konnte an vortrefflichen
Bildern zur Histologie der Transplantate dartun, daß ihr gene-
rativer Anteil, seien es Samenkanälchen oder Eifollikel, sehr
bald einem Rückbildungsprozeß und völligem Zerfall
anheimfiel, während eine kompensatorische Wucherung des
Zwischengewebes eintrat, deren Grad und Umfang die
Transplantate aufs stärkste von den gewöhnlichen Keimdrüsen
unterschied. Er sprach also mit logischer Konsequenz diesem
Zwischengewebe die innersekretorische Funktion zu,
sah in ihm ein besonderes endokrines Organ und gab ihm den
Namen Pubertätsdrüse. Ob die Lokalisation der inner-
sekretorischen Keimdrüsenfunktion in diesem Gewebe be-
rechtigt ist, ob es sich wirklich um ein Hormone bildendes
oder nur aktivierendes oder nur speicherndes Organ
handelt, darüber sind — ebenso wie über seine innere Ein-
heitlichkeit und seinen histologischen Aufbau — endgültige
Entscheidungen noch in der Schwebe. Es gilt noch gewisse
Schwierigkeiten und Unklarheiten zu klären; diese aber sind
ihrerseits in keiner Weise unüberwindliche Einwände
gegen die Steinachsche Annahme. So ist in der männlichen Keim-
drüse des gesunden reifen Mannes das Stützgewebe ein äußerst
geringes, wenn man es etwa mit dem des neugeborenen männ-
lichen Kindes oder mit dem im kryptorchen Hoden vergleicht.
Niemand aber wird glauben, daß die innersekretorische Funktion
im Sinne der Virilisierung im ersteren Falle nicht mindestens
ebenso stark ist wie im letzteren. Beim weiblichen Geschlechte
sind die Forscher sich noch nicht darüber einig, welcher
Anteil des Gewebes im Eierstock Träger der innersekre-
torischen Sexualfunktionen ist. Ein Teil schreibt den ganzen
Follikeln diese Funktion zu, ein Teil der Granulosa interna
genannten Zellschicht, Steinach macht die Thekaluteinzellen
dafür verantwortlich. Die Existenz der letzteren hängt aber
mit der Follikelreifung eng zusammen; und diese hinwiederum
kann doch erst eine Folge innersekretorischer Eierstock-
vorgänge sein; hieraus entsteht ein schwieriges genetisches
Problem. Indessen kommen dem Eierstock sicher mehrere
hormonale Funktionen zu, ein Teil derselben erstreckt sich
auf Eintritt und Hemmung der Menstruation, ein anderer auf die
Entwicklung der Milchbildung (vermutlich im Zusammenhange
mit hormonalen Funktionen der Placenta); diese beiden Funk-
21
314 _Kronfeld: Kurze Übersicht über die Pubertätsdrüsen-Frage
tionen sind sicher in hohem Maße von der eigentlichen inner-
sekretorischen Funktion im Sinne der Verweiblichung im weiten
Maße abtrennbar. Vielleicht haben alle Auffassungen in ge-
wissen Grenzen recht und sind miteinander vereinbar.
Eine der wichtigsten Feststellungen Steinachs betrifft die
Tatsache, daß ohne vorangegangene Kastration die gegen-
geschlechtliche Keimdrüse sich nicht einpflanzen läßt. Er
schließt hieraus auf eine antagonistische Wirkung der
Keimdrüsen-Hormone, die also nicht nur die ihnen ent-
sprechenden Geschlechtsmerkmale in ihrer Entwicklung för-
dern, sondern die gegengeschlechtlichen hemmen. Hin-
gegen gelang ihm die künstliche Hermaphrodisierung
dann, wenn er männliche und weibliche Keimdrüse zugleich
bei einem frühkastrierten Tier, gewissermaßen unter gleichen
Existenzbedingungen, einpflanzte.e Er sah dann echte inter-
sexuelle Varianten, bei welchen ein periodischer Wechsel im
Vorwiegen der männlichen oder weiblichen Symptome be-
obachtet wurde. Sand prüfte diesen Teil der Steinachschen
Experimente nach, vermochte ihn aber in dieser Fassung nicht
zu bestätigen. Ihm gelang es ohne Kastration, Eierstocksgewebe
innerhalb des Hodens von Tieren zur Anheilung und Entwick-
lung zu bringen; es resultierten ebenfalls Hermaphrodisierungs-
formen, bei welchen aber ein permanentes Nebeneinander-
bestehen der beidgeschlechtlichen Eigenschaften festgestellt
wurde. Sand spricht deshalb nicht von einem Antagonismus
der beiden Hormone, sondern davon, daß eine Unempfänglichkeit
für Einpflanzung des Keimgewebes des anderen Geschlechts
bestehe, in ähnlichem Sinne, wie zuerst Apolant beim Mäuse-
karzinom sie beschrieben hat. Beide Forscher, Steinach und
Sand, sind aber über die Geschlechtsspezifität der inner-
sekretorischen Funktion beider Keimdrüsen einig, und wider-
legen damit die älteren Annahmen Halbans.
Was diesen Forschungen ihr ungeheures Relief in der
Öffentlichkeit gegeben hat, das ist die ärztliche Anwendung
derselben auf den Menschen. Die von Stocker und von
Lichtenstern bewirkte operative Aufhebung aller Ausfalls-
erscheinungen bei Kastraten, durch Einpflanzung gesunder Reste
des eigenen Hodens (Stocker), oder eines fremden Hodens
(Lichtenstern, Mühsam), die sensationellen Heilungserfolge
bei Homosexuellen, dies alles hat der ärztlichen Wissenschaft
neue Bahnen gewiesen. Zur Zeit liegen die Dinge hier folgender-
maßen: Wir besitzen eine Reihe von Techniken, die gleich-
sam zur Anreicherung und Funktionssteigerung der
Kronfeld: Kurze Übersicht über die Pubertätsdrüsen-Frrage 315
Pubertätsdrüse dienen. Und wir haben ein in Klärung
begriffenes Anwendungsgebiet für diese Technik.
Die technischen Maßnahmen zur Funktionserhöhung
der Pubertätsdrüse bestehen erstens in der Überpflanzung
deselben von einem Individuum auf ein anderes. Die Art der
Überpflanzung, die Einheilungs- und Entwicklungschancen des
Transplantates werden zur Zeit praktisch von verschiedenen
Forschern studiert. Das Anwendungsgebiet dieser Methode
ist insofern eingeengt, als die Schwere des Eingriffs, um
Transplantat zu erhalten, beim Hoden eine viel geringere ist
als beim Eierstock. Aber auch gesunder Hoden wird nicht
leichthin zur Verfügung stehen können, der Eingriff mag so
leicht sein wie er wolle. Man ist auf den Leistenhoden bei
Kryptorchismus beschränkt. Bei Hodentuberkulose, welche die
Kastration notwendig macht, kann man daran denken, gesunde
Stücke des Hodens autoplastisch zu verwenden. — Ein wich-
tigeres und vielleicht ebenso erfolgverheiBendes Verfahren wird
in Zukunft die Roentgenisierung der Keimdrüsen sein.
Französische Forscher, die fast gleichzeitig mit Steinach die
gleichen Probleme bearbeiteten, Bergonié und Tribondeau,
Ancel und Bouin, Villemin, ferner die Deutschen Simonds
und Steinach und Holzknecht beobachteten bei Roentgen-
bestrahlung eine lebhafte Wucherung des Zwischengewebes in
Keimdrüsen von Tieren, vor allem in der weiblichen Keim-
drüse, aber auch in der männlichen.
Eine dritte Technik wurde experimentell von Ancel und
Bouin sowie von Tandler und Groß geprüft und von
Steinach insbesondere für seine Verjüngungsversuche syste-
matisch durchgebildet: es ist die Unterbindung des Samen-
ausführungsganges bei der männlichen Keimdrüse. Nach
ihr tritt eine Rückbildung des generativen Anteils infolge von
Funktionslosigkeit ein, und diese ist von einer kompensatorischen
Wucherung des Zwischengewebes begleitet. Besonders die
Steinachschen histologischen Präparate zeigen die Wucherung
aufs Deutlichste.
Eine vierte Technik der Funktionserhöhung geschlechts-
spezifischer Art sei noch erwähnt, weil sie zur Zeit, trotz ihrer
Ungeklärtheit, ärztlich das größte Anwendungsgebiet besitzt:
nämlich die Injektionen von Organextrakt, der aus den
Keimdrüsen gewonnen wird. Es läßt sich gegen die Kon-
stanz in der Zusammensetzung sowie gegen die Spezifität der-
artiger Extrakte allerlei stichhaltiges sagen. Zu eindeutigen
objektiven Resultaten hat ihre Anwendung jedenfalls noch nicht
21°
316 Kronfeld: Kurze Übersicht über die Pubertätsdrüsen-Frage
geführt. Hingegen sind Experimente unternommen worden,
um spezifischen Pubertätsdrüsenextrakt hinsichtlich seiner
hormonalen Wirksamkeit zu prüfen. So haben Ancel und
Bouin den Extrakt aus kryptorchen Hoden, den sie mit Glyzerin
und Wasser auszogen, während neun Monaten bei frühkastrierten
Meerschweinchen eingespritzt. Sie fanden, daß diese ihre
männlichen Geschlechtszeichen wesentlich besser entwickelten
als die Kontrollkastraten, wenn auch nicht so stark als die
gewöhnlichen Männchen. Einen ähnlichen a} hatte Her-
mann bei sehr exakten Injektionsversuchen von ÄAtherauszügen
aus dem Corpus luteum in bezug auf die Entwicklung weib-
licher Geschlechtszeichen. Hier ist noch ein weites und frucht-
bares Arbeitsfeld für die künftige therapeutische Forschung.
Was nun das ärztliche Anwendungsgebiet und die
Indikationen für eines dieser Verfahren der Anregung der
Pubertätsdrüsenfunktion anbelangt, so sind sie zusammen-
zufassen als alle diejenigen Zustände, die auf eine Störung
der natürlichen Pubertätsdrüsenfunktion zurückzuführen
sind. Hierzu gehört also der völlige Ausfall der Pubertäts-
drüse, wie wir ihn bei der angeborenen oder früh erworbenen
Kastration, Eunuchoidismus und den Hodenverlusten durch
Krankheit beobachten. Auch die verschiedenen Formen zer-
störender Eierstockserkrankung bei der Frau gehören hierher.
Zweitens gehört hierher die Unterfunktion der Geschlechts-
drüse. Neben der Impotenz und Sterilität hat Steinach
hierfür in den Alterserscheinungen den wichtigsten Aus-
druck der Unterfunktion der .Pubertätsdrüse zu erblicken ge-
glaubt. Sein so berühmt gewordenes Verjüngungsbuch weist
innige experimentell beweisbare Zusammenhänge zwischen dem
Zustand der Pubertätsdrüse und dem allgemeinen Reifezustand
des Organismus nach. Ausgehend von den gesteigerten Effekten,
die bei seinen Maskulierungs- und Feminierungsexperimenten
durch die Wucherung des Transplantates erzielt wurden und
die die normale Pubertätsdrüsenwirkung weit übertrafen, ver-
suchte Steinach, durch Anregung der Pubertätsdrüse
zum Wuchern bei greisenhaften Ratten beiderlei Ge-
schlechts die regressiven Altersveränderungen auf-
zuheben und einen erneuten Zustand funktioneller Vollreife
herbeizuführen. Wie man weiß, hatte er bei seinen Ratten
verblüffenden Erfolg damit. Beim Menschen liegen diese Dinge
noch nicht so, daß irgend eine Entscheidung über ihre Brauch-
barkeit möglich wäre. Insbesondere sind die Zusammenhänge
zwischen der Pubertätsdrüsenfunktion und dem Gewebs-
Kronfeld: Kurze Übersicht über die Pubertätsdrüsen-Frage 317
aufbrauch der einzelnen menschlichen Organe im Alter (Herz,
Kreislauf, Niere, Gehirn) keineswegs so durchsichtig, wie der
Laie auf Grund der Steinachschen Rattenexperimente voraus-
setzen möchte. Ich teile den Optimismus, der zur Zeit durch
die Presse geht, garnicht; gerade im gegenwärtigen Momente
aber scheint mir eine allzulaut geäußerte Skepsis gegenüber
der Möglichkeit, Steinachs Experimente auf den senilen Menschen
zu übertragen, unfruchtbar zu sein; vielmehr ist aufs dring-
lichste eine Nachuntersuchung und Prüfung der sich hier er-
gebenden Möglichkeiten im weitesten Umfang geboten.
Als letztes Indikationsgebiet für Steinachsche Pubertäts-
drüsenüberpflanzung kommen diejenigen Störungen in Frage,
welche auf einer Doppelfunktion der Pubertätsdrüse be-
ruhen. Dies sind neben den echten Hermaphroditen vor
allem die intersexuellen Varianten, insbesondere die
Homosexualität. Hier würde es notwendig sein, die zu
behandelnden Fälle ihrer eigenen Pubertätsdrüse zu berauben
und ihnen dann eine gesunde einzupflanzen. In dieser Richtung
ist seit Lichtensterns Vorgang schon ein kleines Material
gesammelt worden. Der therapeutische Erfolg entsprach keines-
wegs immer den Erwartungen. Bei der Wichtigkeit dieses
Gegenstandes sei noch ein kurzes Wort darüber gestattet.
Eines der eindruckvollsten Präparate, die Steinach über
seine künstlichen Hermaphrodisierungsversuche an Tieren im
Archiv für Entwicklungsmechanik abgebildet hat, betrifft ein
Meerschweinchen, bei welchem beiderlei Geschlechtsdrüsen an
dieselbe Körperstelle eingepflanzt worden sind. Die Pubertäts-
drüsen wucherten; und die beiden Gewebe mischten sich mit-
einander. Im histologischen Bilde entstand so eine zwittrige
Pubertätsdrüse, bei der weibliche Pubertätsdrüsenzellen in das
männliche Pubertätsdrüsengewebe in Strängen eingesprengt
waren. Männlich und weiblich ließen sich durch Färbemethoden
und Größe klar auseinanderhalten.
Absolut ähnliche Bilder erhielt Steinach nun, als er
an einer Reihe von Fällen den Hoden von homosexuellen
Männern histologisch untersuchte. Es fanden sich, eingesprengt
in die geringen Bestände der Pubertätsdrüse, Haufen und
Stränge von Zellen, welche sich nach Größe und färberischem
Verhalten deutlich gegen die männlichen Pubertätsgewebe ab-
hoben. Sie glichen in jeder Hinsicht den Thekaluteinzellen
des Eierstocks. Mit dieser Feststellung war der Schluß ge-
geben, daß es sich bei der Homosexualität um einen echten
Hermaphroditismus der Pubertätsdrüsen handele. Die
318 Kronfeld: Kurze Übersicht über die Pubertätsdrüsen-Frage
bisherige Trennung des Hermaphroditismus nach dem Gesichts-
punkte, wie sich die Geschlechtsorgane grob-anatomisch ver-
hielten, in einen echten und unechten Hermaphroditismus mußte
-aufgegeben werden: lediglich der mikroskopische Befund der
Pubertätsdrüsen erlaubte die Geschlechtsbestimmung; und da
standen zwischen der rein männlichen und der rein weiblichen
Pubertätsdrüse gradweise abgestuft alle möglichen Mischungs-
formen. Hirschfeld hatte in seiner Theorie der intersexuellen
Varianten als nahezu Einziger, trotz aller Anfeindungen und
Vorurteile der herkömmlichen Klinik, seit mehr als zwanzig
Jahren diese Auffassung auf Grund seines reichen klinischen
Wissens bereits vertreten. Steinachs Befunde brachten der
Hirschfeldschen Theorie die exakte experimentelle und histo- :
logische Stütze.
Nun sind aber die Steinachschen Hodenbefunde an Homo-
sexuellen nicht unbestritten. Erfahrene Mikroskopiker wie
Hansemann und Benda haben derartige Funde bei Homo-
sexuellen nicht gemacht. Indes würde ich dies nur dafür
sprechen, daß diese Befunde nicht in jedem homosexuellen
Hoden vorzuliegen brauchen, sodaß also die Homosexualität
verschiedene Ursprünge haben könnte. Die Steinach-Hirsch-
feldsche Lehre von den intersexuellen Varianten und ihrer
biologischen Grundlage in der zwittrigen Pubertätsdrüse ist
davon nicht berührt. Und wenn Poll derartige Einsprengungen
auch bei den Hoden angeblich gesunder Männer gefunden hat,
so ist über deren psychosexuelle Konstitution doch nichts ge-
nügendes bekannt. Schwierig scheint mir nur der folgende
Einwand widerlegbar: Die weiblichen Pubertätszellen stammen
genetisch aus zerfallenden Follikeln. Es ist nicht denkbar, daß
sie sich ohne solche bilden. Derartige Follikelbildungen sind
aber bisher in homosexuellen Hoden nicht nachgewiesen worden.
In diesem Sinne ist der Hoden Homosexueller kein herma-
phroditischer Ovotestis. Hier klafft eine Lücke.
Sicher ist soviel: der Hoden Homosexueller ist in einer
Vielzahl von Fällen in seinem Pubertätsdrüsenanteil sicher, um
ein berühmt gewordenes Wort zu gebrauchen, „anders als die
anderen“. Läßt sich aber für diesen Teil der Fälle die Homo-
sexualität als eine Folge abnormer Pubertätsdrüsenfunktion
auffassen, so ist dies von grundlegender Bedeutung. Die bis-
herige psychiatrische Forschung sah in der Homosexualität nur
eine psychisch bedingte, durch Kindheitserlebnisse und Ein-
drücke ausgelöste Abwegigkeit einer allgemeinen psycho-
pathischen Konstitution. Die biologischen Befunde Steinachs
Kronfeld: Kurze Übersicht über die Pubertätsdrüsen-Frage 319
engen diese Auffassung ein. Es gibt hiernach spezifische,
biologisch bedingte Sexualkonstitutionen, deren Aus-
druck nicht nur die Objektwahl, sondern das gesamte psycho-
sexuelle und allgemeinpsychische Verhalten ist. Derartige
Inversionen der Sexualkonstitution können sich oft mit psycho- *
pathischen allgemeinen Konstitutionsanomalien verbinden. Diese
Verbindung ist keine zufällige, sie ist vermutlich erbbiologisch
bedingt, und außerdem besteht eine enge Wechselwirkung
zwischen der allgemeinen psychopathischen Seelenreaktion auf
das sexuelle Anderssein, und umgekehrt zwischen dem Haften
infantiler Sexualeindrücke und psychopathischen Dispositionen.
Auch hier ist Zukunftsland für exakte biologische und psychi-
atrische Zusammenarbeit.
Nach den dargelegten Forschungen haben wir mancherlei
wesentliche Bereicherung gewonnen hinsichlich unseres Wissens
von den biologischen Ursachen der Geschlechtlichkeit.
Wir wissen jetzt, daß der embryonale Gesamtorganismus, das
Soma, in geschlechtlicher Hinsicht asexuell ist. Er erhält seine
geschlechtliche Differenzierung nach der einen oder anderen
Seite lediglich durch die geschlechtsspezifische Differenzierung
der Pubertätsdrüse. Er hat also die Möglichkeit zur Ent-
wicklung nach beiden Richtungen, damit ist die alte Darwinsche
Lehre von der potentiellen Bisexualität des Soma aufs Neue
gerechtfertigt.
Wodurch die primäre geschlechtliche Differenzierung der
Geschlechtsdrüsen selber determiniert wird, darüber ist sich die
Forschung noch nicht einig. Die Gleichheit oder Differenz
der Chromosomen-Zahl in Ei und Samenfaden, erbbiologische
Gesichtspunkte, Regeln des Mendelismus, Verschiedenheit der
Erbvalenzen in den Keimzellen und ähnliche Momente werden
zu dieser Erklärung herangezogen. Soviel aber ist sicher, daß,
sobald diese Differenzierung einmal gegeben ist, die gesamte
Geschlechtlichkeit des Organismus nur durch das
Zentrum der Pubertätsdrüse bestimmt wird.
Freilich übt auch die Pubertätsdrüse im Organismus keine
unangefochtene Alleinherrschaft aus. Sie ist vielmehr ein-
geordnet in eine einheitliche Ordnung antagonistischer und
synergetischer Drüsen mit innerer Sekretion, die wir als Poly-
glanduläres System kennen, und die insgesamt auch von
Einfluß auf die Geschlechtlichkeit sind. Freilich ist dieser
Einfluß von Drüse zu Drüse wechselnd nach Stärke und Art;
und er wird in weitem Umfange beherrscht vom Vorwiegen
der Pubertätsdrüsenfunktion.. Um nur einiges Wichtigste kurz
320 Kronfeld: Kurze Übersicht über die Pubertätsdrüsen-Frage
herauszugreifen: Wir wissen von der Zirbeldrüse, daß sie
auf die Geschlechtsfunktion hemmende innersekretorische
Einflüsse ausübt. Zerstörung durch Geschwülste derselben
bedingt vorzeitiges Größenwachstum der Geschlechtsorgane.
Zirbeldrüsenextrakte können die Erscheinungen vorzeitiger kind-
licher Sexualreife zur Rückbildung bringen. Einen umgekehrten
fördernden Einfluß auf die geschlechtliche Entwicklung hat
die Hirnanhangsdrüse, die Hypophyse. Und zwar zeigt
ihn ausschließlich der Vorderlappen dieser innersekretorischen
Drüse. Damit decken sich auch klinische Erfahrungen;
insbesondere kennen wir bei Erkrankungen der Hypophyse
bestimmte Formen allgemeiner Wachstumsstörung (Riesenwuchs),
verbunden mit völliger Unterentwicklung der Genitalien und
Keimdrüsen und sekundärem Eunuchoidismus. — Ebenso
wirken die innersekretorischen Funktionen der Schilddrüse
und der Thymus hemmend auf die Funktionen der Keim-
drüse ein. Bei der sogenannten Basedowschen Krankheit ist
ein Verharren der Geschlechtsorgane auf infantiler Stufe häufig,
ebenso bei der Persistenz der Thymus (Status thymicus).
Aschner gelang es, durch operative Entfernung der Thymus
eine Hyperplasie*) der Hoden zu erzielen. Endlich scheint im
Gegensatz hierzu dem sogenannten Nebennierensystem,
ähnlich wie der Hypophyse, eine fördernde Wirkung auf die
Geschlechtsfunktionen zugestanden werden zu müssen. Man
sieht zuweilen bei den bekannten Frauen mit Männerbart ein-
gesprengte Verlagerungen von Nebennierengeschwülsten in der
Leibeshöhle (Struma aberrans renis), auch bei anderen Fällen
von sexueller Frühreife. Umgekehrt scheint nach Kastration das
Nebennierensystem eine Art Ersatzfunktion für die ausgefallene
Keimdrüse in gewissen Grenzen übernehmen zu können.
Diese Teile der innersekretorischen Forschung, welche auf
die verborgendsten Zusammenhänge chemischer und formativer
Faktoren im Organismus gehen, dürften in nächster Zukunft
noch wesentliche Vertiefung unseres Wissens von der Ge-
schlechtlichkeit mit sich bringen.
*) Hyperplasie = Wucherung durch Anwachsen der Zellenzahl,
Hypertrophie = Wucherung durch Vergrößerung der Zellen.
ZUM VERSTÄNDNIS DER INNEREN SEKRETION
UND DER VERJÜNGUNG.
Von FERDINAND FRHR. VON REITZENSTEIN, Dresden.
IX.
Verjüngung.
Verlüngung! Ein alter Traum der Menschheit, ein Stück eines
Paradiesmärchens. Seit Jahrtausenden ist sie ein Wunsch
der Menschheit. Und gerade in jener trostlosen Zeit, in der
Europa den tiefsten kulturellen Fall durchmachte, der seit dem
Untergang der Antike und der Zerstörung der mittelamerika-
nischen Kulturen in der Weltgeschichte verzeichnet ist, sollte
diese Entdeckung gemacht sein. Steinach, dem die Er-
forschung des innersten Wesens des Sexuallebens so unendlich
viel zu danken hat, sollte sie gemacht haben. Wir wollen
gleich vorausschicken, daß wir ihm hier mit Vorsicht folgen
wollen. Wir glauben, daß seine Beobachtungen auf diesem
Gebiete viel zu früh in ein abschließendes Gewand
gekleidet wurden und daß der Name dafür falsch ge-
wählt wurde. Es handelt sich dabei wohl nicht um eine
tatsächliche Verjüngung, sondern wohl nur um ein neues
Reizmittel. Der Prozeß des Alterns hängt natürlich nicht
allein von den Keimdrüsen ab, mehr oder weniger sind daran
auch die anderen Drüsen der inneren Sekretion beteiligt, er
kann daher durch Reize, die die Keimdrüsen (Hoden und
Eierstöcke) zu verstärkter Sekretion antreiben, wohl deren
allerdings sehr große Wirkungssphäre beeinflußt, nicht aber
der Prozeß des Alterns rückgängig gemacht werden.
Der Name „Verjüngung“ ist also viel zu umfassend gewählt
und erweckt falsche Vorstellungen. Stellen wir also von
vornherein unsere Erwartungen auf diese Stufe ein, dann werden
322 von Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion
wir uns keinen falschen Hoffnungen hingeben. Interessantes
und Wertvolles bleibt deshalb an der ganzen Frage noch
übergenug. Die Schuld an der Aufbauschung liegt überdies
nicht an Steinach selbst, der vor Überschätzung‘warnte, sondern
an der Presse, die ziemlich kritiklos Aufsätze aus der Feder
gänzlich unberufener Schriftsteller entgegennahm, von denen
leicht nachzuweisen ist, daß einer mehr oder weniger vom
andern abschrieb und dabei seine schriftstellerische Fantasie
walten ließ, ohne entsprechend geschult zu sein, oder Steinachs
Originalwerk gelesen zu haben.
Machen wir uns zunächst das Wesen des Alters klar.
Die Grundbegriffe des Alterns haben wir im zweiten
Aufsatz Seite 70 behandelt und dabei gesehen, daß es ein
kolloidaler Vorgang ist. Wir sahen, daß mit geringerem
Quellungsvermögen ein Verlust an Elastizität der Zellen
verbunden ist und daß jede Arbeitsleistung des Körpers mit
Entquellung verbunden ist. Dies zeigen Tiere sehr deutlich.
Während die freilebenden Tiere selten Erkrankungen der
Blutgefäße aufweisen, sind solche, insbesondere die Arterio-
sklerose (Arterienverkalkung mit ihrem typischen Elastizitäts-
verlust) bei Jagdhunden, Zugochsen usw. häufig. Wir sehen
weiter, daß z. B. Jodide (Jodverbindungen) das Quellungsver-
mögen erhöhen. Im sechsten Aufsatz (S. 209) aber erfuhren
wir, daß die Schilddrüse ein Speicher für Jod ist und daß
ihre Unterfunktion Verblödung, ja im gewissen Sinne Alters-
erscheinungen hervorruft. Das alles gibt uns bereits einen
Fingerzeig, worin die Alterserscheinungen begründet sind. Die
Altersvorgänge vollziehen sich also letzten Endes im Zellenstaate.
Als wir die Zelle im Aufsatz 3 näher betrachteten, gingen
wir von Lebewesen, die aus einer Zelle bestehen (Einzeller)
aus. Weißmann zeigte, daß diese einfachsten Gebilde eigent-
lich unsterblich sind, d. h. daß sie normale Weise nicht in
den Zustand einer Leiche übergehen. Sie teilen sich vielmehr
und hinterlassen so zwei Tochterzellen, die sich wieder teilen
und so fort. Man hat diese Meinung bekämpft (besonders
Hertwig) und behauptet, es würden doch nach einiger Zeit
(etwa nach 500 Generationen) Alterserscheinungen auftreten,
denn man sah, daß die Tierchen immer kleiner wurden, der
Zellinhalt sich zu trüben anfing und die Zelle schließlich zu
Grunde ging. Neuerdings hat aber Wooddruff gezeigt, daß
Weißmann im Rechten ist. Die Gegner haben nicht beachtet,
daß die Nährflüssigkeit, in denen sie die Tierchen hielten,
mit der Zeit so mit Stoffwechselprodukten angefüllt wurde,
von Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 323
daß damit die weitere Lebensfähigkeit unmöglich wurde. Er
brachte nach der Teilung jedes Tierchen immer wieder in
neue Nährflüssigkeit und setzte im gleichen Stamme die
Beobachtungen über sieben Jahre fort (also durch mehr als
5000 Generationen), ohne daß ein Zugrundegehen oder auch
nur Alterserscheinungen auftraten. Die Schädigung wurde also
durch die eigenen Stoffwechselprodukte vollzogen, die
allmählich die Quellungsvorgänge verhinderten. Elastizitäts-
verlust und Teilungsunmöglichkeit waren die Folgen
und so die Ursache von Alterserscheinungen und Tod. Daß
die Teilung der Zelle aber selbst nur eine Folge des Stoff-
wechsels ist, sehen wir Seite 100. Auch der Kern vollzieht
einen Stoffwechsel, denn Woodruff konnte beobachten, daß
die Teilungen plötzlich langsamer wurden und daß in dieser
Zeit der Kern Teile seiner Substanz ausschied. Wir
sehen also, daß die Zelle von Natur aus nicht altert, wenn
ihr der Stoffwechsel entsprechend ermöglicht wird; ein
physiologischer Tod findet also in diesem Falle nicht statt.
Nun sind die höher stehenden Tiere und damit der
Mensch aus einem Zellenstaate aufgebaut. Die einzelnen
Zellen sind nicht von der Nährflüssigkeit umgeben, die gleich-
zeitig die Stoffwechselprodukte wegspült, sondern sie liegen
dicht nebeneinander und erhalten die Nährflüssigkeit in
Gestalt des Blutes und der Lymphe durch bestimmte
Organe (so Blutgefäße), die aber ihrerseits wieder aus
Zellen aufgebaut sind. Auch die Stoffwechselprodukte
werden auf ähnlichem Wege entfernt. Mit der Bildung des
Zellenstaates haben diese Tiere ihre höhere Entwicklung
erreicht, aber sie bezahlten sie mit einem Defekt im Stoff-
wechsel, sie geben die Unsterblichkeit für den Fortschritt und
müssen sich deshalb das Altern gefallen lassen. Dieser
komplizierte Apparat, den wir Körper nennen, bedarf nun zu
seinen Verrichtungen vieler Organe, so die schon erwähnten
Blutgefäße, das Herz, die Lunge, um den zur Energie-
erzeugung nötigen Sauerstoff zuzuführen, den Verdauungs-
apparat, um die Kolloide in Krystalloide zu wandeln und
die unbrauchbaren Nahrungsreste abzuführen, den Harn-
apparat, um die Stoffwechselprodukte auszuscheiden, die
Drüsen, um die Chemie des Körpers zu verrichten, das
Nervensystem, um die höheren Funktionen des Körpers zu
ermöglichen, die Geschlechtsorgane, um die Keimzellen
zu vermengen usw. Aber alle diese Organe sind Zellenstaaten.
Nun beobachteten wir soeben, daß die Zellenstaaten unvoll-
324 von Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion
kommen sind, daß sie den Stoffwechsel nicht genügend
durchführen können; ja er schädigt nicht nur die Gewebe im
allgemeinen, sondern auch seine eigenen Apparate. Wird der
Zellenstaat an sich schon durch ungenügenden Stoffwechsel
geschädigt, so wird er es umsomehr, als die Organe, die den
Stoffwechsel vollziehen sollen, selbst immer schlechter
werden. So ist das Altern eine Folge der höhern
Organisation und Virchow hatte Recht, als er das Leben
ein langsames Sterben nannte.
Wir können also beobachten, daß die Stoffwechselprodukte
nicht genügend entfernt werden. So konnte Hertwig fest-
stellen, daß bei jugendlichen Individuen die Zellkerne kleiner
und reichlicher von Protoplasma umgeben sind, daß aber mit
fortschreitendem Alter das Protoplasma weniger wird und die
Kerne größer. Sie enthalten Stoffwechselprodukte, die sie in
ihrer Funktion schädigen. Die Zellen selbst scheiden zwar
ihre Stoffwechselprodukte aus, sie werden aber nicht genügend
weggespült und bleiben als Zwischensubstanz zwischen
den Zellen liegen. Dort bilden sie sogenanntes Bindegewebe.
Mit fortschreitendem Alter vermehrt sich dieses mehr und
mehr, während die Zellen selbst schwinden. Ähnlich verhält
es sich mit bestimmten chemischen Ausscheidungsprodukten,
Kalksalzen und dergl. Schon Friedenthal machte darauf auf-
merksam, daß dadurch das Gewebe an funktionell toter Masse
zunimmt, an lebenswichtiger aber verliert. Dies betrifft be-
sonders schwer die Blutgefäße, das Herz usw. (Arterien-
verkalkung). Die Gewebe verlieren dabei an Elastizität.
Solche Schlacken bleiben aber auch in der Zelle selbst liegen;
sie erscheinen als fetthaltige Farbkörnchen (lipoide Pig-
mente). Mit fortschreitendem Alter nimmt diese Erscheinung
mehr und mehr zu und beeinträchtigt die Quellungs-
` fähigkeit der Zelle und damit auch ihre Teilung, also die
Neubildung des Gewebes. Die Folgen sind natürlich ganz
gewaltige. Greifen wir nur einige heraus. Wird der Atmungs-
apparat geschädigt, so wird die Aufnahme von Sauerstoff
verringert, die Folge ist ein Rückgang an Energie, die wieder
Arbeitsleistung und Wärmeerzeugung bedingt. Vermehrt sich
in den Drüsen das Bindegewebe, so leidet ihre Funktion; für
die Drüsen der inneren Sekretion zeigte Falta, daß dabei die
Bildung der Hormone zurückgeht, also der Chemismus des
Körpers leidet. Diese Störung beeinflußt natürlich wieder alle
übrigen Organe, insbesondere auch die Beseitigung einer Reihe
von Giftstoffen, die im Körper fortwährend entstehen, vor-
von Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 325
allem als Nebenprodukte der Verdauung. Metschnikoff
schrieb ja diesen Vergiftungserscheinungen' allein das Altern
zu und wies besonders auf jene Gifte hin, die als Aus-
scheidungsprodukte der Darmbakterien gebildet werden. Sie
schädigen am schwersten die Nervenzellen, zerstören sie
und lassen Bindegewebe dafür entstehen. Damit berühren
wir eine besonders wichtige Frage. Wir sahen, daß für das
Wesen der „Unsterblichkeit“ der Einzeller die fortwährende
Teilung ausschlaggebend war und wissen, daß für die höheren
Organismen dies Nervensystem das wichtigste Organist.
Bei den Vielzellern teilen sich nun auch alle Zellen während
des Lebens mit wenigen Ausnahmen und diese Ausnahmen
bilden gerade die wichtigsten Zellen, nämlich die der Nerven,
des Herzmuskel und gewisse Drüsenzellen! Von ihnen be-
sitzt jeder Mensch so viel, als er bei der Geburt
mitbekommt. Ihre Vernichtung ist unersetzlich und bedroht
die aus ihnen gebildeten Organe und damit die hochwichtigen
Vorgänge, die diese Organe ausführen. Dazu gehört in erster
Linie die Atmung und die Herztätigkeit. Beide werden
von bestimmten Partien des Zentralnervensystems (Zellen des
verlängerten Markes) aus geregelt. Die Schädigung der
Drüsenzellen schädigt aber wieder die Sekretionsvorgänge.
In diesen Momenten liegen die Hauptursachen des Alterns.
Von besonderem Interesse ist noch die Beobachtung Frieden-
thals; er zeigte, daß für die Lebensdauer der Hirnquotient,
d. h. das Verhältnis des Gehirngewichtes zur Protoplasma-
menge des Körpers eine besondere Rolle spielt. Als Nerven-
zellen sind aber die Gehirnzellen einer Vermehrung nicht
fähig. Ihre Schädigung ist also eine dauernde Schädigung
des ganzen Körpers. Alle diese Erscheinungen ziehen als
Schlußresultat den Tod nach sich und bedingen die körper-
liche Entwicklung, die zu ihm führt und die sich als Altern
äußert.
An reiner Altersschwäche (physiologischer Tod)
sterben nur sehr wenige Menschen; Nothnagel behauptete
einmal, daß unter rund 100000 Menschen nur einer diesem
Zwang unterliegt; für die Mehrzahl der Menschen kommen
krankhafte (pathologische) Prozesse in Betracht.
Wir sehen aus all dem, daß an sich genommen die
Steinach’schen Versuche wenig Aussicht haben, eine tat-
sächliche Verjüngung beim Menschen zustande zu bringen.
Sie können wohl den Chemismus der Geschlechtsdrüsen er-
höhen, aber dieser reicht nicht aus, alle die erwähnten Vor-
326 von Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion
gänge zu beseitigen, die eben das Altern bedingen. Und
diese Vorgänge sind bereits bei Haustieren (domestizierten
Tieren) weit bedeutender als bei frei lebenden, am be-
deutendsten aber beim Menschen. Deshalb braucht nicht
ohne weiteres für diesen zu gelten, was wir bei den
Versuchstieren Steinachs sahen. Dazu kommt noch,
daß die Entwicklung des Menschen gerade mit dem Zentral-
nervensystem enger verknüpft ist, als dies beim Tiere der
Fall ist, daß bei ihm das Aufhören der Geschlechtsfunktionen
nicht in dem Grade ein Vorbote des Todes ist, wie es bei
den meisten Tieren der Fall ist, daß also offenbar bei ihm
die Geschlechtsdrüse für den Vorgang des Alterns nicht die-
selbe Rolle spielt.
Trotzdem aber sind Steinachs Versuche auch in dieser
Hinsicht sehr wertvoll und seine Gegner mögen immerhin be-
denken, daß man aus dem Mißlingen eines Versuches bei
anderen nicht schließen darf, daß Steinachs Resultate unrichtig
sind. Ein positives Resultat sagt mehr, als verschiedene
negative, bei denen eben allerlei Fehlerquellen mitsprechen
können. Steinach machte seine Versuche zunächst an Ratten-
männchen und wählte solche, die dem Alterstod (physio-
logischen Tod) nahe waren. Ihre Behaarung pflegt struppig
und lückenhaft zu werden, ihr Rücken krümmt, der Kopf senkt
sich. Die Freßlust wird geringer, das seelische Verhalten
teilnahmsloser. Nicht einmal die Weibchen können noch ihr
Interesse wecken und vor andern Männchen ziehen sie sich
ängstlich zurück. Solche Tiere „verjüngte“ nun Steinach. Drei
Wege standen ihm offen. Entweder entfernte er ihre ge-
alterten Keimdrüsen (Hoden) und ersetzte sie durch solche
von jugendlichen Tieren oder er unterband den Samen-
strang (schnitt ihn durch) oder er bestrahlte den Hoden
mit bestimmten Strahlen, über die wir im nächsten Aufsatz
sprechen werden. Der erste Fall liegt klar. Die erneuerte
Keimdrüse vollzieht eine stärkere Sekretion mit all ihren Folgen
(s. Aufsatz VII, S. 245—248). In den beiden andern Fällen
wird der generative Anteil der Keimdrüsen (Hodenkanälchen)
zerstört und die Zwischenzellen erweisen sich auf deren
Kosten als vermehrt. Die Folge der Operation zeigte sich
bereits nach drei Wochen. Die Behaarung der Tierchen wurde
wieder glatt, die Lücken verschwinden. Der Rücken wurde
gerade, der Kopf hochgetragen, die matten Augen glänzten
wieder; sie griffen andere Männchen an und besprangen die
Weibchen, wie in der Jugendzeit. War die Abbindung des
von Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 327
Samenstranges nur einseitig erfolgt, so zeugten sie auch Nach-
kommen, die sich völlig normal entwickelten. Das Wieder-
erwachen jener Funktionen des Körpers, die mit der
inneren Sekretion der Geschlechtsdrüsen zusammen-
hängen, ist also hier evident. Da die Hodenkanälchen (also
der generative Teil der Keimdrüsen) zerstört wurden und die
Zwischenzellen wucherten, bleibt wohl kein anderer Ausweg,
als diesen die Veränderung zuzuschreiben. Die Versuche sind
von vielen anderen bestätigt worden. Steinach glaubt aber
damit zugleich den Alterstod der Rattenmännchen um etwa
1/, ihrer Lebenszeit hinausgeschoben zu haben. Unter diesen
Voraussetzungen hatten wir es also bei den Rattenmännchen
` tatsächlich mit einer Verjüngung zu tun. Unsere Tafel V wie
die beiden andern Tafeln, entnommen der interessanten Schrift
Steinachs „Verjüngung“* durch experimentelle Neu-
belebung der alternden Pubertätsdrüse, Berlin, Julius
Springer 1920, zeigt uns den Verjüngungsvorgang an einem
Rattenmännchen deutlich. Abb. 1 bringt das senile Ratten-
männchen vor der Operation mit den oben geschilderten
Alterserscheinungen. Abb. 2 führt dasselbe Tier zwei Monate
nach der Operation vor. Die neue dichte Behaarung ist
vollendet; die Haltung ist frisch und mutig, die Augen lebhaft,
die Ohren aufmerksam. Tafel I, Abb. 1 zeigt ein Formal-
präparat der sekundären Geschlechtsmerkmale eines senilen
Rattenmännchens. Samenblasen und Prostata sind geschrumpft
und leer, der Hodensack ist haarlos. Das Tier ging im Alter-
tod mit 28°/, Monaten ein. Abb. 2 zeigt das Formalpräparat
der sekundären Geschlechtsmerkmale seines Wurfbruders im
Zustande der Wiederherstellung durch Unterbindung der Hoden
(fünf Wochen nach der Operation), die Samenblasen sind groß
und voll, die Prostata ist mächtig entwickelt, der Hodensack
neu behaart. Vor der Operation glich das Tier völlig seinem
Bruder. Weitere Belege findet man in der oben erwähnten
sehr lesenswerten Schrift Steinachs.
Schwieriger ist das Verfahren bei weiblichen Tieren.
Hier fällt die Unterbindung weg und es besteht zunächst die Mög-
lichkeit, die Eierstöcke durch andere von jugendlichen Tieren
zu ersetzen. Steinach tat dies mit gutem Erfolg. Tafel Ill
zeigt in Abb. 1 das Formalpräparat eines senilen Ratten-
weibchens mit völlig eingeschrumpften Zitzen. Abb. 2 dagegen
das Formalpräparat der verjüngten Wurfschwester. Es
wurden ihr zwei Eierstöcke junger Tiere eingepflanzt und vor
allem die Zitzen bestätigten das Resultat. Die beiden Weib-
328 von Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion
chen hatten bereits viele Monate nicht mehr gezüchtet, das
operierte wurde aber wieder brünstig, und auch geschwängert,
warf normale Junge, säugte sie und zog sie auf.
Anders wird nun die Frage beim Menschen. Wohl
haben Steinach und seine Mitarbeiter auch hier Erfolge gehabt.
Die Fälle sind ja beinahe in jeder Tageszeitung berichtet
worden; tiber neuere Resultate haben wir in Sexualreform der
Hefte 7 und 8 unserer Zeitschrift berichtet. Dort ging Littaur
auch sehr genau auf die Bedeutung ein. Allein die Fälle sind
zweifellos zu wenig und in ihren Nebenumständen und Folgen
noch zu unsicher, um darauf zu große Hoffnungen zu bauen.
Freilich sind die Beobachtungen der Gegner Steinachs an
ihrem Material eigentlich noch unsicherer. Die Mehrzahl
der Behandelten war krank und man kann natürlich die von
Steinach der „Verjüngung“ zugeschriebenen Merkmale der
Heilung zuschreiben. Bei frühzeitig Impotenten kann selbst-
verständlich auch auf das Konto der Suggestion sehr viel
geschrieben werden. Sicherlich mit Recht macht Payr darauf
aufmerksam, daß viele gealterte Männer an einer Vergrößerung
der Prostata leiden, die bedeutende Störungen nach sich
zieht und deren Entfernung dann eine „Verjüngung“ mit sich
bringt. Eines dürfte aber aus Steinachs Forschungen über die
Verjüngung gesichert sein, daß nämlich die innere Sekretion
der Geschlechtsdrüsen erneut wird, und daß deren
Hormone (Reizstoffe), einen erneuten oder verstärkten Reiz
auf ihr Wirkungsgebiet ausüben. Da aber gerade die
Grenze zwischen innerer Sekretion und Nerventätigkeit vor-
läufig noch eine sehr unklare ist, muß man den Einfluß auf
das Rückgängigmachen der Alterserscheinungen mit
großer Vorsicht aufnehmen, erst dann könnte man von
Verjüngung sprechen. Diese Frage energisch angeschnitten
und dauernd ins Rollen gebracht zu haben, bleibt aber das
unvergängliche Verdienst Steinachs.
SS
Geschlecht und Gesellschaft,
Neue Folge X, 10
Tafel I
Venus von Willendorf (oberes Aurignacien)
Zu Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen
Hirschfeld: Erste internationale Tagung für Sexualreform 329
DIE ERSTE INTERNATIONALE TAGUNG
FÜR SEXUALREFORM AUF
SEXUAL-WISSENSCHAFTLICHER GRUNDLAGE.
Von Sanitätsrat Dr. MAGNUS HIRSCHFELD (Berlin).
m 15. September 1921 tritt in Berlin der erste internationale
Kongreß für Sexualreform auf sexualwissenschaftlicher
Grundlage zusammen. Dem einberufenden Ausschuß gehören
Gelehrte fast aller Kulturländer an; von Finnland bis Argentinien,
vom fernsten Osten (Tokio) bis zum weitesten Westen (San
Francisco) finden sich hier Persönlichkeiten zusammen, die alle
das gleiche Ziel verfolgen: der Wahrheit zu dienen und dem
Rechte, das in der Erkenntnis der Wahrheit wurzelt.
Es ist sicherlich kein Zufall, daß einer der ersten inter-
nationalen Kongresse nach dem furchtbaren Gemetzel des
Weltkriegs der Sexualwissenschaft gilt. Handelt es sich doch
hier um ein Gebiet, an dem alles, was Menschenantlitz trägt,
in gleicher Weise beteiligt ist, unabhängig von jeder
sonstigen Zugehörigkeit. Daher kann ein echter Sexual-
forscher auch niemals Chauvinist im gewöhnlichen Sinne sein;
es gibt keine stärkeren Gegensätze als Krieg und Liebe; der
eine Lebensverneinung, die andere Lebensbejahung, dort negative
Zerstörung und pessimistisches Mißgönnen, hier optimistische
Freudigkeit und positive Fruchtbarkeit. Solange man freilich
bewußt und unbewußt mit dem Geschlechtlichen an und für
sich die Vorstellung der Erbsünde verband und damit den
Boden schuf für Sexualverdrängung*), sexuelle Angst und
Heuchelei, wird man größte Mühe haben, den Weg frei zu
machen für natürliche Reinheit und reine Natürlichkeit. Man
hat sich während des Weltkriegs oft gewundert, daß die Ver-
treter der Kirche sich nicht in höherem Grade, als sie es
taten, der Idee des Krieges als solcher widersetzten. Solange
eine Religion in der Geschlechtssünde wurzelt und von ihr
lebt, wird sie stets letzten Endes nicht nur liebesfeindlich,
sondern auch lebensfeindlich sein müssen.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, daß gerade der-
jenige Kirchenvater, welcher die Suggestion von der „Schlechtig-
*) Wird für einen Menschen die adäquate (d. h. die seiner Ver-
anlagung entsprechende) Geschlechtsbefriedigung unmöglich gemacht, so
spricht man von Sexualverdrängung. (Die Schriftl.)
22
330 Hirschfeld: Erste internationale Tagung für Sexualreform
keit der Geschlechtlichkeit“ besonders tief und nachhaltig der
Mit- und Nachwelt einprägte, der heilige Augustinus, zweifel-
los aus einem Verdränger zum Verfolger wurde. Seit ihm
haben in der Jahrhunderte Lauf viele seiner Schüler den Meister
übertroffen. Im Grunde ringen zwei Welt- und Lebens-
anschalungen in der Beurteilung des menschlichen Geschlechts-
und Liebeslebens miteinander: die theologische Rich-
tung der Verdränger-Verfolger auf der einen Seite, die
biologische Richtung unvoreingenommener Wahrheitssucher
und Rechtsfinder auf der andern. Erbsünde nennen die
Theologen, was bei den Biologen höchstens Erbfehler heißt.
Daß die augustinische Richtung so lange die Oberhand
hatte und auch jetzt noch bis weit in die Kreise sogenannter
„Freidenker“ ihre traditionelle Vorherrschaft ausübt, liegt frei-
lich nicht allein in der Autorität ihrer Verkünder, sondern auch
darin, daß ihre Verfechter leichtes Spiel hatten, als Führer auf
einem naturwissenschaftlichen Gebiet aufzutreten, von dem
man wohl sagen kann, daß es noch bis vor wenigen Jahr-
zehnten im wesentlichen ein dunkles Gebiet, in vieler Hinsicht
direkt eine terra incognita war.
Wie lange ist es denn her, seit Karl Ernst v. Bär in
Würzburg das menschliche Ei entdeckte? Es war im Jahre
1827, also vor noch nicht 100 Jahren, und kaum ein halbes
Jahrhundert ist verflossen, seit im Jahre 1875 Oskar Hertwig
in Ajaccio auf Corsika als erster den Befruchtungsvorgang —
die Vereinigung einer männlichen und weiblichen Keimzelle —
beobachtet und beschrieben hat. Wie winzig kurz ist, am
Weltgeschehen gemessen, die Spanne Zeit, seit Darwin mit
seiner Lehre von der Entwicklung alles Lebendigen der
biblischen Schöpfungsgeschichte den stärksten Stoß versetzte
und der Abt Gregor Mendel mit seinen Kreuzungsversuchen
im Brünner Klostergarten auch aus dem Reiche der Varianten
den Zufall verbanntee Solche wissenschaftliche Großtaten
vollziehen sich meist still und unmerklich; selbst diejenigen,
denen wir sie verdanken, ahnen oft nichts von dem Unermeß-
lichen, was sich in ihrem Geist vollzogen — so wie eine
Mutter nichts von der Stunde spürt, in der in ihrem Schoße
ein neues Leben zu keimen beginnt. Kaum ein Menschenalter
ist es her, seit in Deutschland der umfangreiche Kreis der
intersexuellen Abstufungen in nahezu lückenloser Linie auf-
Hirschfeld: Erste internationale Tagung für Sexualreform 331
gedeckt wurde und in Frankreich der alte Brown Sequard (im
Juni 1889) seinen Vortrag über Organsafteinspritzungen am
eigenen Körper hielt, mit dem recht eigentlich die so ungemein
wichtige Lehre von der form- und richtunggebenden Bedeutung
der Inkrete ihren Anfang nahm; nur wenige Jahrzehnte liegen
zurück, seit v. Krafft-Ebing durch die Psychopathia sexualis
das Wissen und Gewissen der Ärzteschaft schärfte und Freud
mit seinen Veröffentlichungen über Sexualverdrängung und
Psychoanalyse ein Werk von noch unabsehbarer Seh- und
Tragweite inaugurierte.
So ist die Sexualforschung in der Tat als Zweig der
Naturwissenschaft eine verhältnismäßig noch recht junge
Wissenschaft und deshalb sollte man sich auch nicht gar so
sehr darüber aufhalten, daß bis vor kurzem durch viele Jahr-
hunderte die drei andern Fakultäten: Theologie, Jurisprudenz
und Philosophie in allen Fragen des menschlichen Geschlechts-
und Liebeslebens sich als maßgebend fühlten und für maß-
gebend galten. Hier setzt nun der Kongreß für Sexualreform
auf sexualwissenschaftlicher Grundlage ein. Nicht daß auf
ihm die genannten Fakultäten nicht auch zu Worte kommen
sollen: was wir wünschen, ist nur, daß sie den schwankenden
Boden subjektiver Empfindungen, auf den sie bisher ihre An-
schauungen gründeten, mit dem festen Fundament objek-
tiven Wissens vertauschen, daß aus den sich überheblich
als magistri naturae*) Fühlenden ehrfürchtig-bescheidene ministri
naturae**) werden. Denn je mehr wir uns in das allgewaltige
Naturphänomen der Liebe versenken, ein schier unbegrenztes
Feld des Forschens und Denkens, um so mehr wächst unsere
Bewunderung vor den hier waltenden Naturgesetzen. Leider
gilt aber auch heute noch der Satz, den einer der Vorläufersexual-
wissenschaftlicher Erkenntnis, der treffliche Mantegazza
einst ausgesprochen hat: „Gegenüber der Liebe sind wir alle
noch mehr oder weniger Wilde, — eine schreckliche Stupidität
herrscht angesichts der größten aller menschlichen Leiden-
schaften.“
Dieser Stupidität gilt unser Wahrheitskampf, er muß vor-
urteilslos und voraussetzungslos geführt werden, so voraus-
setzungslos, daß, wenn eine unvoreingenommene Sexualforschung
*) Lehrmeister der Natur.
**) Diener der Natur.
332 Hirschfeld: Erste internationale Tagung für Sexualreform
ergeben sollte, daß die Lehre von den sexuellen Konstitutionen
falsch ist, daß es keine sexuelle Zwischenstufen gibt, daß die
asketische Auffassung zutrifft, daß der ausschließliche Zweck
der Sexualität die Erhaltung der Art ist und alles, was diesem
Zwecke nicht unmittelbar dient, Fleischessünde und vom Übel
ist, wir uns dann nicht scheuen dürfen, daraus die Schluß-
folgerungen zu ziehen, selbst wenn alles damit zusammenfällt,
was wir bis dahin für recht und gut ansahen. Wenn irgend-
wo, muß es auf dem Gebiet der Sexualwissenschaft und muß
es deshalb auf diesem Kongresse heißen: Die Wahrheit über
alles! Nur in diesem Zeichen können Sittengesetze wahrhaft
sittlich und nicht wie bisher so oft nur überlieferte und
gedankenlos übernommene Sitten oder richtiger Unsitten sein.
Im Bewußtsein dieses Wahrheitsstrebens können uns auch
die Angriffe kalt lassen, die nun einmal untrennbar mit jeder
sexologischen Arbeit, mit jeder das Licht der Öffentlich-
keit nicht scheuenden Erörterung sexueller Probleme
verbunden zu sein scheinen. Diese Widerstände sind dazu
da, daß sie durch unablässige Klärung überwunden werden.
Je affektbetonter und darum gröber sie in der Form sind, um
so deutlicher verraten sie ihren psychologischen Tiefenursprung.
Es gibt auch Seelenmikroskope.
Auf der bevorstehenden Tagung werden die vier Haupt-
gebiete der Sexualwissenschaft die sexuelle Biologie, Pathologie,
Soziologie und Ethnologie behandelt werden; sie auch nur im
entferntesten zu erschöpfen, ist natürlich nicht möglich und
auch nicht nötig, da wir hoffen, daß dieser ersten Tagung in
den kommenden Jahren noch viele andere folgen werden. Im
Mittelpunkt stehen diesesmal drei hochbedeutsame Probleme:
am ersten Verhandlungstage „die Bedeutung der inneren
Sekretion für die menschliche Sexualität“, die von führenden
Autoren dieses Forschungsgebiets, wie Professor A. Biedl-
Prag, dem weltberühmten Verfasser der großen Enzyklopädie
über innere Sekretion und Prof. A. Lipschütz-Dorpat, dem
wir das klassische Werk über die Pubertätsdrüse verdanken,
erörtert werden wird. Das Hauptthema des zweiten Ver-
handlungstages lautet: Geschlecht im Recht. Auch hier
werden wir hervorragende Fachleute hören, wie Justizrat
Werthauer-Berlin und Staatsanwaltschaftsrat K. A. Dehnow-
Hamburg, der die Güte hatte, für Geh. Justizrat Horch-Mainz
Weil: Geschlecht und Gestalt 333
einzutreten, den leider kurz nach Übernahme des Referats ein
unerwarteter Tod dahinraffte. Das Hauptthema des letzten
Tages soll die Sexualität des Kindes und Sexualpädagogik
sein, zu der neben tüchtigen Fachärzten und guten Sach-
kennern wie Kronfeld und Saaler sowie dem Leiter des
psycho-pädagogischen Instituts in Leipzig Max Döring, in der
praktischen Fürsorge stehende Frauen wie Frau Dr. Uhlmann-
Berlin und Frau Senator Kirchhoff-Bremen ihre Erfahrungen
und die sich aus ihnen ergebenden Schlußfolgerungen mit-
teilen werden. Außerdem werden zahlreiche andere Fragen
des sexuellen Lebens, unter denen die Geburtenregelung eine
umfangreiche Gruppe bildet, in kleineren Vorträgen und Refe-
raten zur Sprache kommen.
Allen Erörterungen aber wird ein Gedanke gemeinsam sein:
Fort mit der sexuellen Phrase und Heuchelei! Fördern wir
den Fortschritt der Menschheit, indem wir dazu beitragen, daß
ihr höchstes Gut sich zu dem entfalte, was es sein sollte und
sein kann: Zur schönsten Blüte am Baume des Lebens,
Willkommen, Sexualforscher, in Berlin; auf zum Dienste einer
neuen und besseren Zeit der Menschenverständigung und
Menschenveredelung.
DIE
GESCHLECHT UND GESTALT
Von Dr. med. ARTHUR WEIL, Berlin.
LI ist das Bestreben der Menschen, aus den äußeren
Formen des Körpers die seelischen Veranlagungen zu er-
raten. In den Papyros der Ägypter, in den alten griechischen
Schriften des Aristoteles finden wir schon Hinweise darauf,
wie in den verschiedenen Gestaltungen die verschiedenen
Temperamente zum Ausdruck kommen: das ruhige, phlegmatische
des Wohlbeleibten, das aufbrausende sanguinische des Langen,
Hageren. Spätere Zeiten sammelten diese Erfahrungen von
Menschenaltern in der Lehre von „der Symbolik der mensch-
lichen Gestalt“, die aus den Formen des Schädels, aus den
Verhältnissen der Körperteile zueinander, aus den Linien der
Hand usw. auf seelische Eigenschaften Rückschlüsse ziehen
wollte. Je nach den philosophischen Anschauungen der ver-
schiedenen Kulturepochen wechselte die Bedeutung dieser
Lehre; je nachdem, ob man Körper und Seele als etwas Ge-
trenntes, voneinander Unabhängiges betrachtete, oder in dem
334 Weil: Geschlecht und Gestalt
einen den Ausdruck des anderen sah, leugnete man auch jeden
Zusammenhang zwischen Körperform und Charakter, oder sah in
dieser Lehre von der Symbolik eine Offenbarung, die dem kundigen
Auge das Innere verriet. Am bekanntesten sind wohl die Lehren
Galls geworden, der am Ausgange des 18. Jahrhunderts versuchte,
aus den Formen des menschlichen Schädels Rückschlüsse auf die
Ausbildung des Gehirns und damit bestimmter geistiger Fähig-
keiten zu ziehen. Die übertriebene Einseitigkeit dieser Lehre
brachte sie aber bald in Verruf, so daß man bis in die Neuzeit
hinein diese Lehre von dem Zusammenhang des Inneren mit
äußeren Körperformen sehr stiefmütterlich behandelte.
Wir wissen heute, daß die Formen des menschlichen
Körpers nichts von Geburt ab unabänderlich Bestehendes sind,
daß wohl die gesamte Körperlänge abhängig ist von der von
den Eltern mitgegebenen Erbmaße, daß aber die Verhältnisse
der einzelnen Teile zueinander, die Wohlgestalt der Proportionen,
abhängig ist von der Tätigkeit bestimmter Drüsen, vor allem
der Schilddrüse, des Hirnanhanges, der Thymusdrüse und der
Geschlechtsdrüsen. Während die drei ersteren Stoffe absondern,
welche die Knochen zu stärkerem Wachstume anregen, hemmen
die letzteren das Wachstum, so daß auf dem Höhepunkte der
Entwicklung, mit dem Abschluß des Längenwachstums um das
25.Lebensjahr herum, ein ganz bestimmter Gleichgewichtszustand
dieser Drüsen erreicht wird, der äußerlich in einem bestimmten
Verhältnis der einzelnen Körpermaße zueinander zum Ausdruck
kommt. Vor allem sind es zwei Verhältnisse, die abhängig
sind von der Tätigkeit der Keimdrüsen: das Verhältnis zwischen
dem Ober- und Unterkörper (gemessen vom Scheitel bis zum
Ende der Wirbelsäule und von dieser bis zum Boden) und
das Verhältnis der Schulterbreite zur Hüftbreite. Bei einem
ausgewachsenen normalen Manne verhalten sich die beiden
ersten Längen im Durchschnitt etwa wie 100:93, bei der Frau
etwa wie 100:91. Die letzteren Verhältnisse sind beim Manne
durchschnittlich 100:81, bei der Frau 100:97. — Wenn die
Tätigkeit der Keimdrüsen gehemmt wird oder ausfällt, sei es
nun durch angeborene Entwicklungshemmungen oder spätere
Störungen, so verschiebt sich das Verhältnis Oberkörper zu
Unterkörper beim Manne und beim Weibe nach 100:125 hin.
Von der geregelten Tätigkeit der Keimdrüsen sind aber nicht
nur die Proportionen des menschlichen Körpers abhängig,
Weil: Geschlecht und Gestalt 335
sondern auch die Stärke seines Geschlechtstriebes, denn wir
wissen, daß bei geborenen Eunuchen oder Frühkastraten kein
Trieb vorhanden ist. Zwischen dem Vollmanne und dem Voll-
weibe gibt es nun nicht nur in bezug auf die äußeren Körper-
formen die mannigfaltigsten Mischungen und Übergänge, sondern
auch in bezug auf das sexuelle Verhalten besteht die größte
Mannigfaltigkeit. Um diesen Parallelismus zwischen Ge-
schlechtlichkeit und Gestalt noch weiter zu beweisen, nahm
ich Körpermessungen an mehreren Hunderten von Menschen
vor (z. Z. etwa 400), deren sexuelle Psyche ich durch ein-
gehende psychische Analyse kennen gelernt hatte. Ich richtete
mein Hauptaugenmerk auf die extremen Abweichungen der
Triebrichtung auf das andere Geschlecht, die Homosexualität,
in deren Erklärung sich heute hauptsächlich zwei Theorien
entgegenstehen: einmal die von Magnus Hirschfeld vertretene
Anschauung, daß es sich hierbei um eine angeborene, inner-
sekretorisch bedingte Anlage handele, dann die von Kraepelin
verfochtene Ansicht, daß sie als eine erworbene Anomalie zu
deuten sei, als Beeinflussung einer psychopathischen Persönlich-
keit durch irgendein äußeres Erlebnis, das unverlöschliche
Spuren in die jugendliche Psyche eingegraben hat.
Bei den von mir gemessenen homosexuellen Männern fand
ich nun, daß bei ihnen diese beiden Verhältniszahlen von dem
allgemeinen männlichen Durchschnitte abweichen: Ober- : Unter-
länge verhielten sich bei ihnen wie 100:108, Schulter- : Hüft-
breite wie 100:85. Bei homosexuellen Frauen fand sich das erstere
Verhältnis wie 100: 106, das zweite wie 100:94. Mit anderen
Worten: Bei 95 von 100 aller untersuchten Homosexuellen
brachten die Körperformen zum Ausdruck, daß die formende
Kraft der Keimdrüsen nicht stark genug gewesen war, um die
wachstumsfördernden Eigenschaften der anderen Drüsen so zu
beeinflussen, daß die Proportionen des erwachsenen Durch-
schnittskörpers gebildet wurden. Daß bei den homosexuellen
Männern sich den weiblichen Zahlen nähernde Verhältnisse
der Schulter- zur Hüftbreite und bei den homosexuellen
Frauen sich den männlichen Zahlen nähernde entsprechende
Verhältnisse finden, deutet darauf hin, daß bei den Männern
die weibliche Komponente, bei den Frauen die männliche
Komponente ihrer zweigeschlechtlichen Anlage stärker zum
Durchbruch gekommen war. — In dem ersten Aufsatze der
336 Weil: Geschlecht und Gestalt
„Jahrbücher für sexuelle Zwischenstufen hat bereits Magnus
Hirschfeld darauf hingewiesen, daß die objektive Diagnose
der Homosexualität aus den äußeren Körperformen gestellt
werden müsse, um das „Märchen von der Widernatürlichkeit“
durch naturwissenschaftliche Forschungsergebnisse zu wider-
legen, und später (1903) führt er an derselben Stelle in einem
Aufsatze „Ursachen und Wesen des Uranismus“ die ver-
schiedensten homosexuellen Typen an, die sich in ihren
Körperformen dem weiblichen Durchschnitte ‚nähern. — Man
hat seine Theorien damit zu widerlegen versucht, daß man
homosexuelle Männer anführte, die in ihrem Äußeren nicht die
geringste Andeutung an weibliche Körperformen zeigten, deren
Schulter-Hüftverhältnisse durchaus männlich waren und die in
ihrer aktiven Psyche nicht den geringsten femininen Einschlag
erkennen ließen. Auch ich habe viele von diesen Typen ge-
messen; aber immer wieder fand ich auch bei ihnen die ab-
weichende Proportion Ober-:Unterlänge, die sie von dem
heterosexuellen Manne unterschied.
Aber nicht alle Menschen, die eine von dem normalen
Durchschnitt abweichende Längenproportion haben, sind homo-
sexuell. Ich fand diese Maße auch bei manchen Männern, die
in ihrer Triebrichtung eindeutig auf das andere Geschlecht
gerichtet waren; aber sie waren nie das, was man als Durch-
schnittsmann inbezug auf die Sexualität bezeichnet: der das
Weib begehrende, aktive Teil. Sie hatten in ihrer Psyche stets
ausgesprochen feminine Eigenschaften; entweder waren sie
selbst sehr passiv, ließen sich von den Frauen begehren, hatten
weibliche Kleidung, liebten weibliche Beschäftigungen; oft auch
waren sie bei höheren Proportionen (über 100: 108 hinaus) ab-
gesehen von sehr wenigen sexuellen Erlebnissen in den zwanziger
Jahren ganz asexuell, hatten jeden Geschlechtstrieb verloren.
Je mehr Untersuchungen ich vornahm, desto mehr wurde
ich so in meiner Auffassung bestärkt, daß in den äußeren
Körperproportionen die Stärke der Keimdrüsentätigkeit zum
Ausdruck kommt, und da wir ja heute durch die Forschungs-
ergebnisse der Lehre von der inneren Sekretion wissen, daß
nicht nur die Körperformen, sondern auch der Geschlechtstrieb
abhängig ist von den Keimdrüsen, bei deren Fehlen, sei es
nun als Geburtsfehler oder nach der Entfernung vor der Reife,
auch der Geschlechtstrieb fehlt, ist damit wohl der Beweis
Weil: Geschlecht und Gestalt 337
erbracht, daß die äußeren Körperformen auch gleichzeitig die
Ausdrucksformen für die Geschlechtlichkeit sind.*)
Zur näheren Erläuterung der gefundenen Verhältnisse lasse
ich eine Kurve folgen, welche die Variationsbreite der Proportion
Ober- : Unterlänge bei homosexuellen und heterosexuellen
Männern veranschaulichen soll. Die Abszisse gibt die Unter-
länge in Prozenten der Oberlänge an, die Ordinate die Anzahl
der Fälle von je hundert gemessenen, die auf eine bestimmte
Proportion entfallen.
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Verhältnis der Oberlänge zur Unterlänge (- --- heterosexuelle, — homosexuelle Männer) 200 Fälle,
*) Ausführlichere Zahlenangaben vgl. Zeitschrift für Sexualwissenschaft,
Band 8, Heft 5, 1921 und Archiv für Entwicklungsmechanik 1921.
Anmerkung: Diese Beobachtungen Weils dürften von großem
Werte für die Anthropologie werden, die, wie wir demnächst näher
ausführen wollen, unbedingt Rücksicht auf die Resultate der inneren
Sekretion nehmen muß. Aus Weils Beobachtungen werden sich zwei
Indices ergeben: der Oberunterkörperindex x und der Schulterhüftindex y.
Bezeichnen wir die Oberkörperlänge mit o, die Unterkörperlänge mit u,
die Schulterbreite mit s und die Hüftbreite mit h, so erhalten wir
ux 100 h x 100
a ee er
Ist beim Manne x < 93 und y >> 81, so hätten wir einen femi-
ninen Typus, ist dagegen beim Weib x >91 und y <{ 97, so hätten
wir einen virilen Typus. Bekanntlich treten uns diese Typen bereits
deutlich an den Frauenfigürchen des Paläolithikum entgegen.
In vieler Beziehung ist eine derartige Einteilung ja schon durch die
Franzosen Chaillou und Mac Auliffe in „Morphologie médicale“, Paris
1912, vorbereitet. Frhr. v. R.
338 Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen der Menschheit
DIE ALTESTEN SEXUELLEN DARSTELLUNGEN
DER MENSCHHEIT.
Von FERD. FRHRN. VON REITZENSTEIN, Dresden.
N liegt die Zeit nicht sehr weit zurück, da glaubte man
kulturgeschichtliche Fragen der menschlichen Frühzeit
höchstens auf altägyptischem oder altbabylonischem Boden
lösen zu können. Daß Europa, insonderheit Frankreich und
Spanien, uns weit ältere Denkmäler bieten würde, schien
damals undenkbar. Wohl kannte man längst roh behauene
Steinwerkzeuge, aber ihr Mund blieb stumm über die Lebens-
art und die äußere Erscheinung ihrer Träger. Die letzten drei
Jahrzehnte haben hier Wandel geschaffen. Der Vorhang, der
über die Anfänge menschlicher Kultur ausgebreitet lag und
der sie so fest zu umhüllen schien, daß kein menschliches
Auge einen Blick in die Geheimnisse jener Zeiten werfen
konnte, ist mehrfach zerrissen und läßt uns auf eine Bühne
menschlicher Darstellung schauen, die uns das größte Er-
staunen abringt. Nicht nur die Reste der Menschen selbst
konnten wir hervorholen, sondern Geräte, Malerei, Plastik
und Zeichnung verraten uns gar manches über das Leben
jener Zeiten. Längst ausgestorbene Tiere traten da in Wechsel-
beziehung zum Menschen und beweisen seine Gleichzeitigkeit
mit ihnen. Die hintersten Szenen verdämmern im grauen
Lichte der Urzeit und nur der Geologe vermag uns ungefähr
die Jahrtausende abzuschätzen, die der Weg zu ihnen beträgt.
Man rechnet heute mit mehr denn 100000 Jahren erkennbarer
menschlicher Geschichte. In dieser Frühzeit ist allerdings
unser kulturgeschichtliches Wissen sehr gering, aber gehen
wir nur etwa 20—30000 Jahre zurück, dann fließen die
Quellen bereits ziemlich reichlich. Was ist dagegen die
biblische Zeitrechnung, die die Weltschöpfung etwa ins 5. Jahr-
tausend vor unser Zeitrechnung setzen will!! Ein gewaltiger
Rechenfehler, der auf Märchen Geschichte bauen wollte! Man
faßt diese alten Kulturen unter dem Namen altsteinzeitliche
oder paläolithische zusammen. Unter ihnen unterscheidet
man wieder alt- und jungpaläolithische Kulturgruppen.
Für uns kommt, wie schon gesagt, nur die zweite Reihe in
Betracht. Sie zerfällt nach den Namen der Fundplätze in drei
Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen der Menschheit 339
große Gruppen, die Stufe von Aurignac (das Aurignacien),
in der der Faustkeil nicht mehr Verwendung fand, wohl aber
verschiedenartigste steinerne Schaber, Steinmesser, Bohrer und
Stichel. Neben diesen Steingeräten traten dann auch Knochen-
werkzeuge auf. Wichtig für unsere Zwecke ist, daß hier die
ersten künstlerischen Formen erscheinen, kleine Rund-
figürchen, zum Teil aus Stein, zum Teil aus Elfenbein geschnitzt.
Ihr folgt die Stufe von Solutr& (das Solutreen), aus-
gezeichnet durch besonders schön gearbeitete feine Stein-
werkzeuge von blattförmiger Gestalt. An künstlerischen Dar-
bietungen erfreuen uns besonders Relieffiguren und Ritz-
zeichnungen auf Rennknochen. Daran schloß sich die
Stufe von La Madeleine (das Magdalénien). Ungefähr in
seiner Mitte traten zu den Steinwerkzeugen Harpunen. Das
Magdalénien hinterließ uns besonders zahlreiche Ritzzeichnungen
und figürliche Schnitzereien. Die drei Perioden zusammen
nennt man auch die Renntierzeit und zwar die ältere, mittlere
und jüngere. Die beiden ersteren waren warme Erdperioden,
das Magdalénien dagegen eine Kältezeit. Sie sind, wie schon
erwähnt, noch belebt durch Tiere, die heute in unsern Ländern
ausgestorben oder, wie das Renntier, ausgewandert sind. Schon
in den uns benachbarten letzten Schichten des Magdalénien
gibt es keine Tiere mehr, die nicht. heute unter uns leben,
Auf diese jungpaläolithischen Perioden folgt dann eine
Übergangszeit, die kulturell noch völlig dem Paläolithikum
gleicht, in der Tierwelt aber unserer Gegenwart angehört, das
sogenannte Asylien (nach der Grotte von Mas d’Azil).
Die bildende Kunst geht in dieser Periode unter.
Über das Alter der Zeiten, die uns hier beschäftigen sollen,
haben wir bereits Andeutungen gemacht. Penck nahm seit
dem Ende des Magdalénien einen Zeitraum von 20000 Jahren
auf Grund geologischer Forschungen an, Menzel zeigte, daß
das Abschmelzen des letzten Inlandeises in der Berliner
Gegend etwa vor 23000 Jahren begonnen hat und daß somit
die Magdalenienzeit vor etwa 15500 Jahren ihr Ende erreichte.
Besonders wichtig aber ist, daß Nils Ekholm auf astro-
nomischem Weg das Klimaminimum als vor 28000 Jahren
eingetreten festlegen konnte. Dieses fällt natürlich dann mit
dem Höhepunkt der letzten Vereisung zusammen und dieser
liegt nach Wiegers im Aurignacien. Nach dieser wohl ein-
340 Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen der Menschheit
wandfreien Berechnung würden also unsere ältesten jetzt zu
betrachtenden Denkmäler rund 28000 Jahre alt sein.')
Für die Sexualwissenschaft aber hat nun die Erforschung
der paläolithischen Perioden ein sehr wichtiges Resultat ge-
zeitigt: nämlich, daß es das sexuelle Empfinden war, das
den Menschen überhaupt zur bildenden Kunst, wenigstens zur
Darstellung des Menschen selbst, trieb. Schon in meiner Ur-
geschichte der Ehe (Stuttgart 1908) konnte ich darauf hinweisen.
Ich lasse die Stelle hier folgen: „Wir sehen Frauengestalten
(es sind die Rundfigürchen aus Elfenbein usw. gemeint, die in
südfranzösischen Höhlen und anderwärts gefunden wurden)
die mit höchster Liebe und Hingabe gefertigt sind, Frauen-
!) Von verschiedenen Seiten klassischer Archäologen wurde gegen
diese Datierungen Einspruch erhoben. Diese Archäologen glaubten nämlich
Beziehungen zwischen der paläolithischen Kunst und der kretisch-minoischen
feststellen zu können und sagen, diese Verbindung stütze sich „auf aller-
hand feine Mittel“. Solche Mittel werden auch angegeben. Einige Rund-
figuren scheinen schon so zu beten und zu opfern, wie später die Leute
im kretisch-mykenischen, im ägyptischen, im semitischen Kreis. Das ist
tatsächlich ein merkwürdiger Beweis! Wer sich nur einigermaßen mit
Völkerkunde abgab, der wird wissen, daß derartige Dinge ganz unabhängig
voneinander an verschiedenen Stellen auftreten, umsomehr, als das Beten
und Opfern nicht nur nicht bewiesen, sondern gänzlich unwahrscheinlich
bei den genannten Figuren ist. Die fortwährende Übertragung des „Gott-
begriffes“ auf primitive Völker, die meist einen Dämonen- oder Zauberglauben
hatten, widerspricht gänzlich ethnologischem Denken, wenn es auch bei
Philologen und Archäologen sehr beliebt ist. Es ist ein Anachronismus
wie etwa der, im Goldfunde von Eberswalde den „Hausschatz eines
Semnonischen Großen“ zu sehen, der „uns die der gleichzeitigen homerischen
Welt merkwürdig gleichartige Kultur (!) der hiesigen Gegenden enthüllt“.
Anzunehmen, daß zur mittleren Hallstattzeit (oder der Zeit Homers) im
mittleren Norddeutschland Semnonen saßen, ja daß diese Stammesbildungen
schon vollzogen waren, ist eine derartig ungeheuerliche Behauptung,
daß dagegen die auf recht guten Boden stehenden geologischen Berech-
nungen wirklich von erdrückender Beweiskraft wären. Mit Recht sagt dazu
Wiegers, die Entwicklung der diluvialen Kunst in Ztsch. f. Ethnol. 46, 1914,
S. 859, daß eben die Vertrautheit mit der Geologie für den klassischen
Archäologen (in diesem Falle Schuchhardt-Berlin) nicht notwendig sein
müsse. Da diese Einwände also weder geologisch noch ethnologisch
zu halten sind, noch vor allem naturgeschichtlich (die paläolithischen Funde
werden von Tierresten begleitet, die z. T. ausgestorbenen, z. T. längst
ausgewanderten angehören und deren Lebensmöglichkeiten bei uns in histo-
rischer Zeit nicht mehr gegeben waren), können sie als unhaltbar und
wissenschaftlich unbegründet ruhig als erledigt bezeichnet werden.
Verbindungen sind nicht über Kulturvölker, sondern höchstens über
Naturvölker denkbar, die eben Jahrtausende, durch das Milieu gezwungen,
auf dem gleichen Kulturzustande stehen blieben.
Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen der Menschheit 341
gestalten, die wir getrost als den vollendetsten Ausdruck der
damaligen Kunst ansprechen dürfen. Und sein ganzes Können
stellte der Urmensch lediglich und allein in den Dienst des
Weibes, der gesamte ihm innewohnende Gestaltungstrieb
konzentrierte sich in diesem einen Gedanken. Noch inter-
essanter aber sprechen die uralten Statuetten, wenn wir sie
genauer betrachten. Für alle ist eine starke Betonung der
Geschlechtsorgane sofort in die Augen fallend, die sogar
deutlich zeigt, daß sie das Weib als Geschlechtswesen
darstellen. Bedenkt man, wie lange der damalige Mensch mit
seinen primitiven Werkzeugen an einem derartigen Figürchen
arbeiten mußte, dann geht man nicht fehl, zu behaupten, daß
es in erster Linie geschlechtliche Gedanken waren, die ihn
beschäftigten und deren Stärke ihm die Ausdauer verlieh, das
Ziel seiner Wünsche bildlich darzustellen. Als wichtigstes
Figürchen tritt uns die sogenannte Venus von Brassempouy
entgegen. Das Fragment ist 8 cm lang und zeigt scharf aus-
geprägte Steatopygie!) (d. h. Fettsteißbildung); die Sexual-
organe sind deutlich wiedergegeben. Ähnlich ist das Figürchen,
1) Es wird neuerdings von Verschiedenen behauptet, daß eine klare
Darstellung der Steatopygie nicht nachweisbar sei. Dies ist eine ziemlich
inhaltslose Behauptung, denn man kann natürlich nicht erwarten, daß der
primitive Mensch eineanthropologisch einwandfreie Darstellung gibt. Daß er
es aber wollte, ist kein Zweifel. Übrigens steht auch Martin, Lehrbuch
der Anthropologie, Jena 1914, S. 29, auf dem Standpunkte, daß wir es
mit Steatopygie zu tun haben und nennt speziell die Figuren von Maz
d’Azil, Mentone, Laussel und Willendorf. Werner, Ztsch. f. Ethnologie
1916, Heft 3, glaubt behaupten zu können, daß die Steatopygie ursprünglich
den Hottentotten angehört und die reinen Zwergvölker zunächst davon frei
waren, eine Meinung, der sich Kuhn über die Pygmäen am Sanga, Ztsch.
f. Ethn. 46 1914, S. 134, anschließt. Pöch hingegen, einer der besten Kenner
der Buschleute, sagt — Korresp.-Bl. f. Anthrop., Ethnol. und Urgeschichte,
42. Jahrg., Nr. 8—12, Aug.—Dez. 1911, Seite 76 (anthropol. Kongreß von
Heilbronn): „Das Unterhautfettgewebe fehlt fast am ganzen Körper, die
Haut neigt sehr zur Faltenbildung. Die Runzelung ist im späteren Alter
oft eine ganz exzessive. Dagegen vermißt man fast nie ein Fett-
polster in der Glutäalgegend, das bei guter Ernährung und
beim weiblichen Geschlecht auffallend groß wird, „Stea-
topygie“. BeidenFrauengibtesfaststetsauchinder Trochanter-
gegend Fettpolster. Es ist naheliegend, in dieser lokalen Fettan-
sammlung ein Reservoir zu sehen, welches sich der Organismus angelegt
hat, um den Ausfall in Hunger- und Durstperioden zu decken. Das
Abenteuerliche der Körperform wird meist noch vergrößert durch jenen
stark hervortretenden Unterleib, der aber nur eine Folge unge-
regelter Ernährung und unverdaulicher Kost ist und bei geregelter Er-
nährung normalen Verhältnissen Platz macht.“
342 Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen der Menschheit
dem Piette den Namen „Dolchgriff von Brassempouy“
gab; ihm fehlten von Anfang an Kopf und Arme, während
Brüste und Unterleib äußerst ausgeprägt sind. Zur gleichen
Gruppe gehört die 1896 entdeckte Statuette von Brassem-
pouy, wenn sie sich auch durch geringeren Fettansatz unter-
scheidet. Zur zweiten Gruppe gehören eine Reihe schlanker
Skulpturen, von denen besonders die sogenannte „Figur mit
dem Gürtel“ Beachtung verdient. Die Beine sind eng
geschlossen, der Bauch flach mit äußerst stark gewölbtem
mons veneris. Ganz ähnlich mag eine andere Statuette ge-
wesen sein, von der nur die Beine erhalten sind. Ein anderes
Figürchen, gefunden in Laugerie Basse (Coll. Marq. de
Vibraye), besitzt sehr flache Brüste und Unterleib; trotzdem
sind die Geschlechtsorgane geradezu übertrieben dargestellt.“
Wir geben von all diesen Figürchen nur eines wieder, wohl
das schönste, die sogenannte Venus von Willendorf (siehe
Tafel I) und werden nachher noch genauer darauf zurück-
kommen. Jedenfalls erkennt man sofort die überaus starke
Betonung des sexuellen Momentes. Diese von mir also schon
vor 1'/, Jahrzehnten ausgesprochene Meinung hat sich auch durch
die weiteren Funde bestätigt, ja heute können wir sagen, daß
der Ursprung der bildenden Kunst überhaupt in sexu-
ellen Vorstellungen begründet ist. So sagt Wiegers in
einem vorzüglichen Aufsatz über die Entwicklung der dilu-
vialen Kunst?), diese Objekte lehren uns, „daß die erste Dar-
stellung der Menschen lediglich aus erotischen Ursachen
erfolgt ist“.
Und tatsächlich steht — wörtlich genommen — an der
Spitze aller menschlichen Kunsttätigkeit das Sexuelle. An-
scheinend sind die ältesten menschlichen Kunsterzeugnisse
drei Steinplatten, die im Musée du Périgord in Perig-
neux aufbewahrt werden. Sie fanden sich im Abri Blanchard
(Commune Sergeac) in einer Schicht, die nach Wiegers dem
mittleren Aurignacien angehört. Dargestellt ist auf jedem Relief
ein weiblicher Geschlechtsteil (vulva) in stilisierter Form?)
(Abb. 1). In der gleichen Schicht fanden sich auch Nach-
bildungen des männlichen Geschlechtsteiles aus Renntier-
1) Ztsch. f. Ethnolog. 46, 1914, Heft VI, S. 845.
2) Vgl. Didon, L’abri Blanchard gisement aurignacien moyen. Bull.
soc. hist. et archéol. du Périgord 1911.
Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen der Menschheit 343
horn geschnitzt‘). Das Sexuelle war es also, das den
Menschen der Urzeit zuerst soweit zu fesseln vermochte,
daß er sich an seine Darstellung wagte. Es soll damit nicht
etwa behauptet werden, daß er die Darstellungen ohne jeden
Zweck, lediglich zur sexuellen Unterhaltung (oder als Ent-
spannungsmittel), gefertigt hat; wir können beim Aurignacien-
menschen sicherlich einen entwickelten Geister- oder
Dämonenglauben und Zauberhandlungen voraussetzen,
so daß die Darstellungen möglicherweise damit in Zusammen-
hang zu bringen sind.
Abb. 1. Darstellung der Vulva (älteste künstlerische Darstellung der Geschichte) nach Didon.
Nicht viel jünger ist die Mehrzahl der oben erwähnten
Figürchen, auch sie gehören dem mittleren Aurignacien an.
Als Beispiel geben wir auf Tafel I die Venus von Willen-
dorf, wohl etwas später als die anderen. Willendorf liegt in
Niederösterreich an der Donau, gegenüber der Ruine Aggsstein.
Die ausgegrabenen Schichten zeigten alle Stufen des Aurig-
nacien; unter anderen Funden kam 1908 auch das prächtige,
unendlich wertvolle Figürchen zu Tage, das der Arbeiter Joh.
Veran fand. Szombathy, der die Ausgrabungen leitete, sagt
darüber: „Es ist ein Il cm hohes Figürchen aus oolithischem,
feinporösen Kalkstein, vollkommen erhalten, mit unregelmäßig
verteilten Resten einer roten Bemalung. Es stellt eine überreife,
dicke Frau dar, mit großen Brüsten, ansehnlichem Spitzbauch,
vollen Hüften und Oberschenkeln, aber ohne eigentliche Steato-
pygie (Fettsteißbildung)®); die Genitalien sind stark aus-
geformt, die Rückenseite ist anatomisch richtig, mit mehreren
naturwahren Details ausgestaltet. Das Kopfhaar ist durch
1) Vgl. Montaudon à propos du phallus en bois de renne de l'abri
Blanchard in „L'homme préhistorique“ 1913. S. 337—341.
2) Wir haben darüber schon oben gesprochen; sie ist sicher ge-
meint, wenn es auch dem Künstler nicht gelang, sie deutlicher heraus-
zuarbeiten.
344 Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen der Menschheit
eine Anzahl in konzentrischen Kreisen um den größten Teil
des Kopfes gelegte Wulste ausgedrückt‘), das Gesicht absolut
vernachlässigt. Von keinem Teile desselben (Auge, Nase, Mund,
Ohren, Kinn) findet sich auch nur eine Andeutung. Die Arme
sind reduziert, die Unterarme und die Hände nur in flachen,
über die Brust gelegten Reliefstreifen ausgedrückt. Die Kniee
sind sehr wohl ausgebildet, die Unterschenkel zwar mit Waden
versehen, aber stark verkürzt, die Vorderfüße ganz weggelassen.
Von Bekleidung oder Schmuck ist an der Figur nichts an-
gedeutet, als an jeden Unterarme ein grobzackiger Handgelenk-
ring“?). Man sieht also deutlich, worauf es dem Künstler
ankam und Obermaier sagt in seinem „Mensch der Vorzeit“,
Berlin 1911, Seite 292 mit vollem Recht: „Das ganze Figürchen
zeigt, daß sein Verfertiger die Gestalt des menschlichen Körpers
künstlerisch vorzüglich beherrschte, daß es ihm aber nur darauf
ankam, die primären und sekundären weiblichen Ge-
schlechtscharaktere in die Erscheinung zu rücken.
Der Rest ist genial auf das nötigste Minimum der Darstellung
reduziert.“ Leider gelangt er dann auf die unglückliche Idee,
darin ein „Idol der Fruchtbarkeit“ zu erblicken.
Es ist eine große Gefahr, derartige Personifikationen ab-
strakter Begriffe für jene Zeit vorauszusetzen, und eine noch
größere, ein Idol oder gar Götterbild derartiger Personifikationen
anzunehmen. Höchstens läßt sich darin die Personifikation
einer Stamm-Mutter erblicken, aber auch hier war sichtlich
das Motiv für die Ausarbeitung ein sexuelles. Was uns nun
aber an dieser Figur besonders interessiert, ist die Darstellung
der Brüste und die der Geschlechtslippen. Betrachten wir
diese zuerst. Es ist nicht zu leugnen, daß sie besonders
hervorgehoben sind. Daß dies nicht Zufall ist, lehren die
andern Figürchen, die zumeist ähnliche Darstellungsweise
zeigen. Es gibt nun zwei Lösungen: Entweder nimmt man
an, daß bei den Frauen jener Zeit die Geschlechtsteile sehr
weit nach vorne geschoben lagen, was gerade bei primitiven
Völkern öfter zu beobachten ist. Ich verweise z.B. auf das
Bild eines jungen australischen Weibes vom Stamme der
!) Dies dürfte wohl eine Haube aus kleinen Muscheln sein, wie sich
davon Reste in den Höhlen fanden oder sollte es „pfeiferkornartiges Kraus-
haar“ sein, wie es die Buschmannfrauen haben?
?) Szombathy, Die Aurignacienschichten im Löß von Willendorf,
Korresp.-Blatt f. Anthropologie 19,9, S. 85.
Fig. 2. Frau unter dem Renntier nach Piette
Zu Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen
Tafel II
Tafel Ill
Flachrelief von Laussel nach Lalanne
Zu Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen
Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen der Menschheit 345
Warramunga!) oder auf die zahlreichen Beispiele in Stratz’
Rassenschönheit des Weibes usw., oder aber man nimmt eine
Verlängerung der Lippen (d. h. allerdings der kleinen Ge-
schlechtslippen) an und kommt so zu einem rassenhaften
Momente. Bekanntlich zeigen Buschmann- und Hottentotten-
mädchen derartig verlängerte Lippen, die man in extremen
Fällen als Hottentottenschürze bezeichnet?). Wir werden sehen,
daß wir berechtigt sind, diese zweite Auffassung als die näher-
liegende nehmen zu dürfen. Das andere uns interessierende
Moment sind die riesigen Hängebrüste. Auch sie erscheinen
zumeist an diesen Figürchen, sind also ebenfalls kein Zufall.
Ganz ausgeschlossen wird aber das zufällige Moment durch
die Felsenmalereien. Ich verweise auf Abb. 10, die eine Gruppe
aus dem bekannten Bilde der Felsmalereien von Cogul in
der Provinz Lerida in Katalonien (Spanien) darstellt. Die Malerei
befindet sich in einem halboffenen Schutzfelsen und wurde von
Ceferi Rocafort und Breuil entdeckt.®) Sie gehört zweifels-
ohne der spätesten Zeit an und liegt vielleicht sogar schon
außer der eigentlichen paläolithischen Periode. Sie ist in rot
und schwarz gehalten. (In unserer Zeichnung sind die roten
Teile nicht ausgefüllt.) Auf das Bild selbst kommen wir später
zurück. Jetzt interessieren uns nur die Brüste der Frauengestalten.
Wir beobachten, daß sie alle sehr deutlich dargestellt sind,’ daß sie
auffallend groß und hängend sind. Sehen wir uns wieder in
der Welt um, so finden wir Parallelen dazu in den Malereien
der Buschleute. Es ist nun auffallend, daß sich diese Ähn-
lichkeiten nicht nur auf die von uns speziell besprochene
Erscheinung erstrecken, sondern auf die ganze Darstellungsart
der Malereien selbst, die so groß ist, daß ein Zusammenhang
1) Abgebildet in Spencer and Gillen the native tribes of Central
Australia, London 1899, S. 51 und in Reitzenstein, Geschlechtsieben und
Ehe in Australien, „Geschlecht und Gesellschaft“ 5. Bd., Berlin 1910, Tfl.
z. Seite 240, 241. Übrigens gilt gerade diese Erscheinung auch für die
Buschmannweiber. v. Luschan sagt in seinem Aufsatz Pygmäen und
Buschmänner, Ztsch. f. Ethn. 46 1914, S. 156, daß die Geschlechtsspalte
auch bei erwachsenen Frauen oft nach vorne gerichtet zu sein scheint,
wie sonst nur bei kleinen Mädchen. Siehe später auch eine Bemerkung
von Pöch.
1?) Vgl. Dazu Ploß-Barthels, Das Weib I, Berlin 1913, S. 259 ff.
3) Vgl. Breuil, Les peintures rupestres du bassin inférieur de l'Ebre.
L’Anthropologie 1909. Comte Begouen Notes d'’archéol. prehist,
Toulouse 1913.
23
346 Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen der Menschheit
wohl kaum von der Hand zu weisen ist, umsomehr, als wir in
der Steatopygie, den langen Geschlechtslippen und den Hänge-
brüsten diese Übereinstimmung finden. Gerade bei den Busch-
leuten wäre auch möglicherweise an einen Zusammenhang
zu denken, denn bei einem Naturvolke wie diesem, das in die
unwirtlichen Gegenden Südafrikas zurückgedrängt ist und in
seinem Kulturbesitz nicht vorgeschritten ist, kann man sehr wohl
an ein jahrtausende langes Verharren in
gleicher Kulturstufe denken. Die Buschmann-
malereien sind uns durch v. Luschan in einer
sehr interessanten Arbeit nähergebracht?). Wir
geben zunächst in Abb. 2 zwei Frauen-
gestalten aus einer Buschmannmalerei vom
Buschmannsklipp?) und erkennen hier die-
selbe Darstellung der Hängebrüste, wie in
Abb. 7, wo zwei Buschmannfrauen, die offen-
bar Kinder tragen, dargestellt sind®). Die
eine zeigt genau wie der eine Mann einen
Tierkopf; v. Luschan verweist dabei auf
Abb. 2.
mie schmannfrauen die zahlreichen Tierfabeln der Buschleute.
Steatopygie n. y. Luschan. S [che Personen mit Tierköpfen sehen wiraber
auch inden Darstellungen des paläolithischen Zeitaltersundkönnen
hier ziemlich sicher behaupten, daß es sich um Masken handelt.
Bei den meisten primitiven Völkern spielen Masken und Masken-
tänze in ihrem Dämonen- und Zauberglauben und bei der Jagd
eine große Rolle. Wir werden sehen, daß auch in männlichen
Bildern ein sexuelles Moment zu diesen Beziehungspunkten
ritt, sodıd der Zusam nenhanz gröte Wahrscheinlichkeit be-
kommt. Erwähnt mag werden, daß im Gegensatz zu den
Malereien die heutigen Buschweiber durchaus nicht immer
diese Hängebrust zeigten, so beschreibt Fritsch‘) diese Form
nicht; während sie die alten Reisenden, so Lichtenstein,?°)
erwähnen. Von den den Buschleuten benachbarten und mit
ihnen stark vermischten Hottentotten, die vielleicht sogar aus
1) v. Luschan, Über Buschmannmalereien in den Drakensbergen, Ztsch.
f. Ethnol. 4), 1908, Heft X.
®) Ebenda. Tafel XI.
3) Ebenda S. 081. Dieses Bild stammt aus einer Höhle bei Harrismith.
4) Fritsch, G , Die Eingeborenen Südafrikas. Breslau 1873, S. 111, 28).
®) Lichtenstein, H., Reisen im südlichen Afrika in den Jahren
1803—18)6. Berlin 1811.
Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen der Menschheit 347
den Buschleuten hervorgegangen sind,:) berichtet uns der alte
Kolb im Anfang des vorigen Jahrhunderts, daß man sehen kann,
daß die Mutter das Kind in einem Sacke auf dem Rücken trägt
und „wenn es schreyet oder durstig ist, die lange, abhängende
Brust nehmen, über die Schulter hin werffen und dem Kinde in
den Mund stecken könne“ und gibt dazu eine Abbildung, die
bei Ploß-Bartels wiederholt ist.) Es ist nun von größtem In-
teresse, daß sich in unserem Sagenmaterial eine Überlieferung
an solche Brüste erhalten hat. Da lesen wir z. B. im Iwein:
ir brüste nider hiengen, di siten sie beviengen gelich zwei
grözen taschen dä®). Eine ganze Reihe von Fällen berichtet
Grundtvig.) So hat hier der wilde Jäger Un die Meerfrauen
mit den Brüsten zusammengebunden®). König Valle-
mand jagt eine Frau mit langen Brüsten, die ihr über den
Leib niederhängen®) oder das gejagte Weib hat ein Paar
Brüste, die auf die Erde schlagen; der Jäger fragt dann
einen vorbeigehenden Mann, ob er die Frau mit den langen
schlaffen Brüsten (Slatte Langpatte) nicht gesehen hat”). Von
der Skogsnufva, einem bösgesinnten, leichtfertigen Wesen, be-
richtet Mannhardt,®) daß ihre wahre Gestalt die eines in
in Tierfelle gekleideten alten Weibes mit fliegenden Haaren
und langen Brüsten ist, die über die Achseln geschlängt
sind. Im Rücken trägt sie einen langen Kuhschwanz. Es
ist von größtem Interesse, daß einige unserer paläolithischen
Ritzzeichnungen solche geschwänzte Gestalten darstellen
(vgl. Abb. 5), offenbar sind auch sie in Tierfelle gekleidet ge-
wesen, wobei vom Felle hinten der Schwanz herabhing. Diese
Beobachtung brachte schon Mannhardt, dem damals ja noch
gar kein paläolithisches Material vorlag, auf einen interessanten
1) Vgl. Reitzenstein, Die Völker der Erde, Oldenburg, 131), S.52 ff.
Man kann übrigens auch der Ansicht sein, daß die Buschleute — wie das
bei Zwergvölkern häufig ist — in ältester Zeit die Hottentottensprache
entlehnten, bevor diese hamitische Einschläge bekam und so einen alten
Dialekt bewahrt haben, wobei sie sich körperlich vermischten.
®) Ploß-Bartels, Das Weib II, Leipzig 1913, S. 495 und 501
(Abb. 600).
%) Hartmann, Iwein, v., 425 ff.
4) Grundtvig, Gamle Danske Minder i Folkemunde.
s) Ebenda Ill, 58.
*) Ebenda 60, 6.
1) Ebenda 61, 9.
®s) Mannhardt, Wald- und Feldkulte I, Berlin 1875, S. 128.
23°
348 Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen der Menschheit
Gedanken. Er schreibt‘): Aus einer Notiz des Prof. Schaaf-
hausen, Arch. f. Anthropologie I, 1866, S. 188, ersehe ich, daß
bei den eingeborenen Weibern Neuhollands, mithin unter
einem auf niedrigster Stufe stehendem wilden Volke, birn-
förmige Brüste, welche nachBelieben überdie Schultern
geworfen werden können, in Wirklichkeit vorkommen.
Ich halte das für sehr beachtenswert, wage jedoch nicht, aus
diesem einen Umstand die Einwirkung einer realen Erinnerung
an wilde Ureinwohner auf die von uns besprochenen Sagen
zu folgern.“ Hätte Mannhardt das heute vorliegende Material
gehabt, er hätte dies nicht zu schreiben gebraucht. Unsere aus
sexuellen Merkmalen gegebene Erklärung dieser Sagen erhält
nämlich eine ganz wesentliche Stütze durch anthropologische
Momente. Die Buschleute zählt man wenigstens teilweise zu
den sogenannten Zwergrassen oder Pygmäen. Zwerge
gibt es bekanntlich zweierlei. Solche Menschen, die infolge
von Störungen der inneren Sekretion klein geblieben sind,
obwohl ihre Eltern und Geschwister normal sind, pflegt man
als pathologische Zwerge zu bezeichnen?); sie kommen
hier nicht in Betracht, wohl aber eine Gruppe von Völker-
schaften, die rassenhaft klein gestaltet sind. Man nennt sie
Pygmäenvölker und zählt dazu jene Völkerschaften, die eine
Körpergröße nur von 1,20—1,50 (höchstens 1,60) aufweisen.
Sie zeigen auch sonst ganz bestimmte Merkmale, durch die sie
sich als bestimmte Rassenbildung ausweisen. Solche Völker-
schaften hat man nun allenthalben als in die Wildnis zurück-
gedrängte Stämme gefunden und wie gesagt, gehören dazu die
Buschleute®). Nun haben sich tatsächlich Reste von Pyg-
mäenskeletten in Europa und zwar in den Gebieten der
paläolithischen Kultur gefunden. Bereits 1893 war der
italienische Anthropologe Sergi in der Lage, die Existenz von
Pygmäen in Europa zu erweisen, ihm folgte 1894 die vorzüg-
1) Ebenda 4, S. 147. Anm. 4.
”) Vgl. Reitzenstein, Zum Verständnis der inneren Sekretion, „Ge-
schlecht und Gesellschaft“, X. Jahrgang 1921, S. 206. Reitzenstein,
Liebe und Sitte („Das Wissen dem Volke“) 1921, S.9. Weil, Die innere
Sekretion, Berlin 1921, S. 75.
23) Vgl. dazu Pater W. Schmidt, Die Stellung der Pygmäenvölker in
der Entwicklung der Menschheit, Stuttgart 1910, ein Werk, das sehr reiches
Material bringt, in seiner Tendenz (es dient dem Interesse der soge-
nannten „katholischen“ Wissenschaft) aber abzulehnen ist. Dann Horst,
Die natürlichen Grundstämme der Menschheit, 2. Aufl., 1918/1919.
Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen der Menschheit 349
liche Arbeit von Kollmann') beide vom anthropologischen
Standpunkt. So fanden sich beispielsweise ostwärts von Mentone
an der Riviera bei Balzi Rossi (oder Grimaldi) Höhlen,
unter denen uns die „Grotte des Enfants“ interessiert. In
der Aurignacienschicht findet sich eine Begräbnisstätte, in der
auf der erkalteten Oberfläche einer Feuerstätte die Bewohner
der Höhle bestattet wurden. Es ist ein junger Mann von
etwa 17 Jahren, der ein altes Weib umschlungen hält. Der
junge Mann war etwa 1,54 m, die Greisin 1,58 m groß, also
immerhin Pygmäen. Hirn- und Gesichtsschädel zeigen negroide
Merkmale?). Weiterhin erwähnen die Sagen oft die Behaarung
dieser Waldfrauen. So berichtet ein Junge, daß er eine
Waldfrau habe weglaufen gesehen; ihr ganzer Leib habe ge-
wackelt und war voll lauter Haare:). Diese Behaarung ist
an unsern paläolithischen Zeichnungen ebenfalls deutlich an-
gegeben, und um auch hier die Kette zu schließen, beschreibt
Stuhlmann‘“) das lange zarte Körperhaar der mittel-
afrikanischen Pygmäen. So kam, ähnlich wie Mannhardt, ohne
die neusten Funde noch zu kennen, Virchow°) zu dem Re-
sultat, daß die Steatopygie und Hyperplasie der Geschlechts-
lippen auf eine buschmannähnliche Rasse in Altfrank-
reich schließen lassen. Ich gedenke demnächst eine Arbeit
über diese Frage vom Standpunkte der Volkssage zu bringen.
Weiterhin zeigt aber gerade diese Betrachtung, wie wichtig für
die Lösung mancher Erscheinungen sexuelle Momente sind,
daß es also ein wissenschaftliches Verbrechen ist, bei
Publikation mancher Denkmäler Geschlechtsteile und ähnliches
wegzulassen, bei Forschungsreisen sexuelle Dinge nicht zu
sammeln und daß es geradezu unerhört ist, gerichtlicherseits
1) Kollmann, Das Schweizerbild bei Schaffhausen und Pygmäen
in Europa. Ztsch. f. Ethnol. 26, 1894, S. 189ff. Thilenius in der
Münchener Allg. Ztg. 1902, Beilage 110, zeigt Pygmäen in Schlesien.
1) Vgl. das groBe Werk: Les grottes de Grimaldi (Baoussé — Rousé)
Monaco 1906 I. Historique et description v. L. de Villeneuve und Il. 1. An-
thropologie von Renè Verneau.
°) Schönwerth aus der Oberpfalz ll, S. 378.
4) Stuhlmann, Mit Emin Pascha ins Herz von Afrika. S. 445.
Kuhn, Über die Pygmäen am Sanga, Ztsch. f. Ethn. 46, 1914, S. 122: Die
Behaarung ist bei Männern häufig vorhanden. Ferner vgl. Le Roy les
Pygmees 82ff. 1. David im Globus 84, 1906, S. 19.
5) Virchow in Mitt. d. Anthrop. Gesellschaft in Wien 1894, Bd. XXIV,
Sitzungsberichte des Innsbrucker Anthropologen-Kongresses, 5. 135.
350 Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen der Menschheit
in einer unglaublichen Verständnislosigkeit Sammelwerke wie die
„Anthropophyteia* zu beschlagnahmen, bloß weil einige unge-
bildete oder moralistisch-krankhaft empfindende Menschen daran
„Anstoß“ nehmen. Diese Leute brauchen ja die Anthropo-
phyteia nicht in die Hand zu nehmen, sie sind ja nicht für sie
bestimmt, denn sie könnten doch nichts damit anfangen. Die
Forschung braucht sie aber.
Zu ganz ähnlichen Resultaten kommen wir aber auch
durch die Betrachtung der Darstellung des männlichen
Geschlechtsteiles. Außer den schon oben erwähnten Dar-
stellungen des mittleren Aurignacien besitzen wir einen so-
genannten „Kommandostab“, der als Doppelphallus geschnitzt
ist (Abb. 3). Er gehört den älteren Magdalénien an und
Abb. 3. „Kommandostab“ mit doppeltem Phallus (nach Girod et Massénat).
wurde in Laugerie-Basse gefunden.!) An ein Selbstbefrie-
digungsinstrument zu denken, wäre für die damalige Zeit absurd.
Da man sich über den Zweck und die Bedeutung der soge-
nannten Kommandostäbe heute noch in keiner Weise klar ist
— sie traten in ihren Anfängen zuerst im Solutr&en auf und
sind in Magdalénien sehr häufig — ist es auch schwer, über
die Beziehung, die die Phallen zum Zweck des ganzen In-
struments haben, etwas zu sagen. Wären sie, wie man ge-
meint hat, Bogenspanner oder Pfeilstrecker usw., dann hätten wir
natürlich lediglich eine sexuelle Spielerei vor uns. Waren sie
aber, wie Reinach neuerdings vermutet, Zauberstäbe, dann
4) Vgl. Girod et Massénat les stations de l’âge du renne dans les
vallés de la Vézère et de la Corrèze, Paris 1900, Tafel I.
Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen der Menschheit 351
würden wir hier wohl an einen Liebeszauber denken dürfen.
Befruchtungszauber war es sicher nicht, denn in jener Zeit
fehlte den Menschen, wie ich bereits gezeigt habe'), die Kenntnis
des Zusammenhangs zwischen Beiwohnung und Befruchtung,
sodaß die Beiwohnung lediglich als ein angenehmes Spiel be-
trachtet wurde. Während man z. B. bei „Kommandostäben“,
auf denen Wildpferde dargestellt sind, an einen Zauber zur
Vermehrung der Wildpferde oder ihrer leichten Jagbarkeit denken
könnte, läge es hier nahe, an einen Zauber zu denken, der die
Weiber zu geschlechtlichem Verkehr bereit mache. Ein anderer
zeigt menschliche Gestalten mit Gemsköpfen, also Masken-
träger, mithin wohl sicher ein Jagdzauber. Von ganz besonderem
Interesse ist aber die Möglichkeit, daß mir an unserm Stab eine
Beschneidung des Gliedes dargestellt zu sein scheint, denn
die Vorhaut ist, wie die linke Seite zeigt, zweifelsohne zurück-
gezogen.?) Die Operation an sich kann uns für jene Zeit
nicht wundern, da wir auch bei den Australiern solche — ja
noch kompliziertere Operationen an den Geschlechtsteilen finden.
Dies wird wahrscheinlich, da wir auch andere Operationen
mit ähnlicher Grundidee nachweisen können. So finden wir
besonders in den Höhlen von Gargas (Haute Pyrénées) in
Südfrankreich an den Felsen Händeabdrücke, die wohl da-
durch hergestellt wurden, daß man eine glatte Stelle des Felsens
einfettete, die Hand gespreizt darauf legte und trockene, ge-
pulverte Farbe darüber blies. Nahm man die Hand weg, so
erschien ihr Bild hell auf farbigem Untergrund. Unter diesen
Händen sehen wir nun solche, bei denen an einzelnen Fingern
einige Glieder fehlen, eine Sitte, die bei Naturvölkern häufig
vorkommt und die besonders bei Totenzeremonien auftritt.
Vor allem die Frauen lassen sich bei Todesfällen jedesmal
ein Fingerglied abhauen, eine Sitte, die wieder besonders bei
Buschleuten vorkommt, die sich dadurch, wie Stow berichtet,
eine lange Reihe von Festen nach dem Tode sichern wollen’).
Ähnliches liegt auch der Beschneidung ursprünglich
1) Reitzenstein, Der Kausalzusammenhang zwischen Cohabitatio
und Conceptio in Glaube und Brauch der Natur- und Kulturvölker.
Ztsch. f. Ethnol. 1909, Heft V, S. 644—683.
2) Auch unsere Abb. 4 zeigt diese Erscheinung.
5) Dieses Abhauen der Fingerglieder berichtet z. B. auch als Trauer-
zeichen Williamson von den Mafulu, einem Zwergenvolk im Hinter-
land des Mekeogebietes von Neu-Guinea. In ähnlicher Weise werden auch
352 Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen der Menschheit
zu Grunde. Bekanntlich wird sie zur Zeit der Geschlechtsreife
geübt (auch die Völkerschaften, die sie heute in frühester Kind-
heit üben, vollzogen sie früher zur Reife); man könnte also an-
nehmen, daß ihr ursprünglicher Zweck der war, sich reichlichen
Geschlechtsverkehr zu sichern.
Beim Weibe dagegen mag von Anfang an die Beschnei-
dung mit dem Wohlergehen der Kinder in Beziehung gestanden
sein; so berichtet uns Krauß), daß einer Suahilifrau, der alle
Kinder starben, mit einen Messer die übermäßig große Klitoris
entfernt wurde, die am Tode schuld sein soll. Also eine
andere Grundidee als beim Manne, was an sich zu erwarten
ist, da ja beim Manne ursprünglich eine sexuelle Beziehung
zum Kinde nicht erkannt wurde. Für ihn kämen wir wieder
auf den oben angedeuteten Zweck des „Kommandostabes“ selbst
zurück). Ein weiteres wichtiges Moment ist aber die Form des
männlichen Geschlechtsteiles selbst; er steht fast wagrecht
vom Körper ab und zwar auf allen Darstellungen, auf denen
er erkennbar ist. Unsere Abb. 4 zeigt ein männliches Wesen
(die Behauptung es sei ein halbmenschliches Wesen, wohl
Pithecanthropus atavus ist natürlich ganz sinnlos) mit Angabe
der Behaarung und dieser Penisform. Es ist eine dem älteren
Magdalenien angehörige Gravierung aus der Höhle von Mas
d’Azil®). Die Darstellung der Nase und der Mundpartie auf den
meisten Wiedergaben dieses Stückes ist ebenso auffallend als
unklar. Bei Luquet, sur les caractères des figures humaines
die Fußzehen behandelt. So berichtet Schönwerth aus der Oberpfalz ll,
Augsburg 1858, S. 35, von Zwergen, denen eine Zehe fehlt, sodaß sie
dadurch im Gehen behindert werden. S. 294 erzählt er, daß Leute über
diese Zwergenfüße mehr wissen wollten, und deshalb vor ihrer Wohnung
am Giebenberg bei Rötz Mehl streuten. Es drückten sich Kinderfüße ab,
denen je eine Zehe fehlte. Merkwürdig ist dazu folgende Notiz von Pöch
(Korresp.-Blatt d. d. Gesch. f. Anthr., Ethn. und Urgesch., 42. Jahrgang 1911,
S. 77): Sehr auffallend ist das Anliegen der großen Zehe, der Zwischen-
raum zwischen erster und zweiter Zehe ist niemals groß, ein
Abstehen der großen Zehe, wie es bei den Australiern und Melanesiern
häufig vorkommt, sah ich niemals bei den Buschmännern.
2) Krauß, H., Der Suahiliarzt. Münchner Mediz. Wochenschrift
1908, Nr. 10.
®) Die Kommandostäbe wären dann dasselbe, wie die Zauberknochen
der Australier; vgl. Buschan, Sitten der Völker. Stuttgart c. 1912.
J]. Abb. 228 u. 229.
®) Vgl. Piette, Gravure du Mas d’Azil et Statuettes de Mentone
Bull. soc. d’Anthrop. 1907, S. 772—779.
Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen der Menschheit 353
Abb. 5.
Männliche Figur der Laugeri Basse (nach Oirod et Mass£nat).
Abb. 4. Männliche Figur aus der Abb. 6.
Höhle von Mas d’Azil (nach Piette). Jäger vom Felsgemälde von Cogul (nach Begouen).
Abb. 7. Buschleute, Malerei aus Harrismith (nach v. Luschan).
354 Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen der Menschheit
dans lart paléolithique, Paris 1909, Bd. 21, ist sie deutlicher;
freilich kann man ohne das Original nichts nachprüfen. Hier
sieht man eine fliehende Stirne, eine große, rundliche Nase
und eine konvexe Oberlippe. All das sind Merkmale der
Pygmäen; so sagt Kuhn „Über die Pygmäen am Sanga“, Ztsch.
f. Eth. 46, 1914, S. 121, daß besonders die starken Nasen, deren
Breite manchmal die Höhe übertrifft, auffallen, die Stirne sei
in einigen Fällen stark fliehend, und die konvexe Oberlippe
gilt bekanntlich als Hauptmerkmal der Pygmäen. Eine weitere
Darstellung gleicher Art bietet Abb. 5, ebenfalls dem älteren
Magdalénien angehörig.‘) Es stellt einen Jäger dar, der
einen Auerochsen anschleicht. Abb. 6 bringt einen Ausschnitt
aus dem schon erwähnten Felsgemälde von Cogul (s. oben);
auch hier sehen wir den wagrecht stehenden Penis; also
sicherlich kein Zufall. Ist es nun, nachdem wir bereits eine
ganze Reihe von Beziehungen zu den Buschleuten feststellten,
nicht direkt auffällig, daß gerade diese sonst nirgends wieder
auftretende Penisstellung und Art ebenfalls bei den Busch-
mannmalereien vorkommt??) Unsere Abb. 7 zeigt dies sehr
deutlich; sie entstammt einer Malerei aus einer Höhle bei
Harrismith.®) Von Interesse ist übrigens, daß auf den bekannten
süidwestschwedischen Felsskulpturen von Bohuslän eben-
falls eine derartige Penisstellung erscheint. Ich habe drei
Figuren davon herausgegriffen (aus der Gegend von Tanum)
und zwar solche, bei denen es einwandfrei ist, daß der Penis
dargestellt sein soll. Bei zahlreichen andern ließe sich etwa
an den Schwertgriff denken. Abb. 8. Dies ist hier aus-
geschlossen. Daß die Skulpturen von Bohuslän etwa das
Glied in Erektion darstellen sollen, kann man füglich doch
nicht annehmen; man könnte höchstens denken, daß es hier
in diese Form gebracht wurde, um deutlich sichtbar zu sein
und die Figuren besonders charakteristisch als Männer vor-
1) Vgl. Girod et Masse&nat: Stations de l’äge du renne Laugerie
Basse. Paris 1900. Tafel XI.
») Die Behauptung W. Zudes in der Zeitschrift für Sexualwissen-
schaft III, 1916, S. 318, er hätte als erster darauf aufmerksam gemacht,
ist unrichtig. In Fachkreisen war diese Beziehung längst bekannt, ich
erinnere mich, sie schon früher gelesen zu haben und erwähnte sie schon
in meinen Vorträgen lange vor Kriegsbeginn.
2) Nach v. Luschan, Über Buschmannmalereien in den Drakensbergen.
Ztschr. f. Ethn. 40, 1908, Heft X, S. 681.
Reitzenstein : Die ältesten sexuellen Darstellungen der Menschheit 355
zustellen. Das ist aber wenig wahrscheinlich, da Frauen
selten sind und durch das Haar deutlich genug herausgehoben
sind. Übrigens sind die Frauengestalten fast immer nur mit
Männern gemeinsam in Coitusszenen dargestellt‘) Die
Männer sämtlich aber als Angehörige einer Zwergrasse
anzunehmen, dürfte — gerade bei der Bewaffnung — nicht
angängig sein. So bleiben für Bohuslän wohl nur zwei
Möglichkeiten. Man könnte annehmen, daß sie Penis-
futterale tragen, eine Sitte, die bei Naturvölkern sehr häufig,
sowohl in der alten, wie in der neuen Welt vorkommt; wir
geben in Abb. 9 eine Skizze, die eine wagerechte Penisstellung
infolge eines Penisfutterals zeigt, wieder. Es ist ein Bogenschütze
Abb. 8. Figuren der Felsskulptur von Bohuslän Abb. 9. Bogenschütze mit Penis-
(nach Tanum). futteral (nach Roesicke).
aus der Gegend des Nordflusses in Neu-Guinea.?) Leider
versagt das Sagenmaterial bei Europa auf diesem
Gebiete ganz, da die unselige Prüderie Berichte über den
Penis entweder nicht überliefern oder seitens der Aufzeichner
unterdrücken ließ. Es bestünde aber noch eine andere Mög-
lichkeit. Unsere Sagen schildern die Zwerge stets als die
Kunstfertigen. Sollten vielleicht Zwerge, die, wie das bei
Pygmäen häufig ist, auch im Norden unter der großgewachsenen
ı) Vgl. Reitzenstein, Liebe u. Ehe im europ. Altertum, Stuttg. 1910.
Abb. 24, S. 53.
®) Nach Roesicke, Kaiserin-Augustafluß-Expedition Neu-Guinea,
Ztschr. f. Ethn. 46, 1914, S. 521.
356 Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen der Menschheit
Rasse lebten — was die Sage ja vermittelt — die Hersteller
der Kunstwerke von Bohuslän gewesen sein, etwa im Auf-
trage bestimmter Machthaber und bei dieser Darstellung von
sich ausgegangen sein? Sei es nun bei den Skulpturen von
Bohuslän wie ihm wolle, bei den Buschmannbildern haben
wir wenigstens den Beweis, daß diese Penisstellung der
Wirklichkeit entspricht. Seiner, dem wir eine ganze Reihe
von vorzüglichen Buschmannphotographien verdanken, zeigt
uns, daß diese eigenartige Stellung noch heute bei Busch-
leuten nicht selten ist.) Wir geben Tafel II Fig. 1 eines seiner
Bilder wieder.) Auch v. Luschan, der bereits 1906 ent-
sprechende Mitteilungen machte, sagt,®) der Penis stehe bei
den Buschleuten oft fast wagrecht ab; ebenso Pöch. Er gibt‘)
folgende klare Schilderung: „Bei reinrassigen Buschmännern
fand ich den Penis auch in nicht erigiertem Zustande
in nahezu horizontaler Stellung und kann so die Beobach-
tung F. v. Luschans bestätigen. Die Labia minora (kleine
Geschlechtslippen) stehen auch bei jugendlichen Individuen aus
der Schamspalte heraus, sie sind oft um mehrere Zentimeter
verlängert; bei Hottentottenfrauen fand ich diese Verhältnisse
noch exzessiver; nach meinen Informationen bin ich überzeugt,
daß diese Verlängerung natürlich vorgebildet ist. Steatopygie,
horizontal stehender Penis und verlängerte Labia
minora sind übrigens körperliche Merkmale, mit
welchen sich die Buschmänner auf ihren Malereien
selbst charakterisieren.“
Weiterhin ist nun für uns die eigenartige Felsenmalerei
von Cogul, die wir oben schon in die Betrachtung zogen, von
größtem Interesse; vgl. Abb. 10. Der Mangel an völkerkundlichen
Kenntnissen einerseits und die daraus entspringende Unmög-
lichkeit, das geistige Leben bestimmter Kulturgruppen zu beur-
teilen, ließ wieder die sonderbarsten Deutungen hervorgehen.
Voran steht wieder die Idee des Idols. Dieses Wort für alles
muß selbstverständlich für solche Beurteiler gern herhalten,
1) Seiner, Beobachtungen und Messungen an Buschleuten. Ztschr.
f. Ethn. 44, 1912. . .
2) Ebenda, S. 279.
3) v. Luschan, Pygmäen und Buschmänner, in Ztschr. f. Ethn. 46,
1914, S. 156.
4) Pöch, Stellung der Buschmannrasse unter den übrigen Rassen.
Korresp.-BI. d. d. Ges. f. Anthr., Ethn. und Urgesch., 42. Jhg. 1911, S. 77.
Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen der Menschheit 357
deren Altertumsstudien auf der „klassischen Philosophie“ auf-
bauen, wo ihnen natürlich schon an der Schwelle der Gottesbegriff
entgegen tritt, weil man sich leider noch viel zu wenig Mühe
gab, den wirklichen volkskundlichen Grundlagen des griechisch-
religiösen Denkens nachzugehen. Dasselbe gilt für Deutsch-
land. Wer den deutschen religiösen Glauben auf den Erzeug-
nissen der Literatur aufbauen will und dabei gar zur nor-
dischen greift, wird ihn nicht einmal feststellen, geschweige
denn erklären können. Er gewinnt eine Flut von „Götter-
Abb. 10. Felsenmalerei von Cogul (nach Comte Begouen).
namen“ und eine Menge Mythen dazu, die schon die damaligen
Dichter längst nicht mehr verstanden und zum Teil poetisch
umgedeutet haben, niemals aber den Glauben des Volkes oder
gar dessen wirkliche Wurzeln. Nichts hält zäher als der Volks-
glauben und dieser Satz hatte bis vor etwa 80 Jahren sogar
absolute Geltung, wo weitere Volkskreise weder durch die Auf-
klärung der Zeitungen, noch des Heeresdienstes, noch des
Fremdenverkehrs beeinflußt waren. Nur eine gründliche Durch-
arbeitung des volkskundlichen Materials, der Sagen, Sitten
und Gebräuche, unter ständiger Vergleichung mit den Ge-
bräuchen der Naturvölker, kann uns die religiösen Ideen unserer
Vorfahren oder der Slaven usw. wieder erstehen lassen. Vor
allem muß man aber auf das fortwährende Suchen nach
„Göttergestalten“ dort verzichten, wo keine oder nahezu keine
vorhanden waren. Man kann vielleicht mit Recht sagen, daß
Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen der Menschheit 359
philologische Sagenforschung, die auf Dichtern aufbaut. Jener
kommt nicht zum Kinde selbst, dieser nicht zum Volke, beide
sehen durch meist gefärbte Brillen anderer. Doch kehren wir
zu unserem Bilde zurück. Wollen wir diesen Vorgang zu klären
suchen, so geht es nicht an, einfach die Begriffe, die aus
griechischen Schriftstellern oder ähnlichen Quellen geläufig
sind, auf Grund einzelner äußerlicher Ähnlichkeiten einfach
auf jene fernen Zeiten zu übertragen, und dabei die kleine männ-
liche Figur zu einem Idol zu machen, um das Frauen einen Tanz
ausführen, d. h. es sozusagen göttlich verehren; es geht auch
nicht an, weil an diesem Figürchen ein männlicher Geschlechts-
teil sichtbar ist, sofort von Phallusdienst zu sprechen; be-
sonders originell ist aber, wenn der Archäologe Lange die
Hypothese aufstellt, daß diese Gestalt nicht sowohl einen
lebenden Mann, als einen phallischen Götzen (!!) dar-
stellen soll, und H. Schoen, der diesen Satz zitiert,*) diese
Erklärung als die bis jetzt befriedigendste bezeichnet und
dann weiterfährt, „das Bild wäre also wohl das älteste heute
bekannte Zeugnis eines Dienstes, der zwar bei den alten
Griechen (Heraklit Fragment 127 über den Phallusdienst), nicht
aber bei den Ägyptern, noch bei den Israeliten vorkam und
von dem fast ganz Amerika frei war“! Zunächst ist diese
Erklärung deshalb so unbefriedigend wie nur möglich,
weil sie ganz oberflächlich ist und den Gesamtmerkmalbestand
des Bildes gar nicht berücksichtigt, weiterhin dürfte sie sicher
ein Anachronismus sein. Dann zeigt der Nachsatz eine merk-
würdige Kenntnis völkerkundlicher Tatsachen. Die Herein-
ziehung der lsraeliten wirkt sonderbar, weil wir über ihren
tatsächlichen Volksglauben fast nichts ungetrübtes wissen.
Phalluskult den Ägyptern abzusprechen, ist unrichtig, weil
die Ägypter sogar ityophallische Gottheiten und zwar seit
ältester Zeit verehrten; zu sagen, „daß fast ganz Amerika vom
Phallusdienst frei war“ aber zeigt, daß der Autor davon gar
keine Kenntnisse besitzt, denn Amerika ist in fast allen seinen
Teilen geradezu das klassische Land des Phallusdienstes!
Betrachten wir nun unser Bild genauer. Zunächst fällt
auf, daß einige Teile des Bildes (bei uns nicht ausgefüllt) mit
1) Vgl. H. Schoen. Die Kunst der Höhlenbewohner im südwestlichen
Europa in „Deutscher Rundschau“ XXXIX, 12 S. 384.
360 Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen der Menschheit
roter Farbe gemalt sind; da nun über dem Bilde (in unserer
Darstellung nicht wiedergegeben) eine rotgemalte Herde und
darüber ebenfalls in Rot die Figur, die wir in Abb. 6 brachten,
dargestellt ist, könnte man sagen, die roten Figuren und die
schwarzen sind nicht gleichzeitig, mit anderen Worten, die
Gruppe, die in unserem Bilde dargestellt ist, gehört nicht zu-
sammen. Aber gerade in diesem Bilde ist dieser Schluß äußerst
unwahrscheinlich, Betrachten wir von links die dritte Figur,
so sehen wir, daß der Künstler gleichzeitig über rote und
schwarze Farbe verfügte, ebenso bei der dritten Figur von
rechts, bei der nur die Beine rot sind. Es mag sein, wie Breuil
und Obermaier vermuten, daß die Tiergruppen selbst einer
älteren Zeit angehören, die stilisierten Figuren aber scheinen
zusammenzugehören, eine Meinung, die auch Obermaier zu
vertreten scheint, wenn er sagt'): „Die dortigen Hirsche, Capriden
und Rinder reihen sich nach Stil und Ausführung entschieden
an das nordspanische Quartär an, dazwischen befinden sich
aber stilisierte Figuren, die einen jüngeren Eindruck machen,
einige direkte Jagdgruppen und eine Art Tanzszene“, und dann
sagt: „die diluviale Felsmalerei von Cogul (Spanien) gibt einen
Reigen wieder, den neun Frauen mit bloßem Oberkörper und
langen Röcken um einen unbekleideten Mann aufführen“ *). Sind
aber die Figuren des von uns in der Abb. 10 dargestellten Aus-
schnittes gleichzeitig, dann haben wir ohne jenen Zweifel eine
Szene vor uns, die einen bestimmten Vorgang, eine Zeremonie
darstellt. Nun erkennen wir zunächst weiter, daß von den
neun „weiblichen“ Figuren eine kleiner dargestellt ist als die
anderen, ohne daß äußere Gründe dazu zwingen; ebenso ist
die männliche Figur kleiner dargestellt; es handelt sich also
anscheinend auch nicht um einen „erotischen“ Tanz, der um
einen nackten Mann aufgeführt wird, sondern die beiden kleinen
Figuren dürften Kinder sein. Bei der männlichen Figur erkennen
wir, daß sie um die Beine einen Schmuck trägt. Weiter fällt
aber die vierte Figur (von links) auf, die ganz rot gemalt ist.
Sie ist deutlich und scharf verschieden gezeichnet von den
anderen Frauenfiguren, ja sie erweckt überhaupt nicht den
Eindruck einer menschlichen Figur, sondern einer Puppe, ja
1) Obgrmaier, Der Mensch der Vorzeit. Berlin 1911/12, S. 249.
®) Ebenda S. 427.
Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen der Menschheit 361
es sieht sogar aus, als ob diese „Puppe“ von der anderen
Figur getragen wird. Damit würden wir auf die Darstellung
einer jener oft übermenschengroßen Masken kommen, wie sie
bei vielen Naturvölkern vorkommen und sich in ihren Aus-
läufern (z. B. in den Perchtentänzen) bis in die moderne Zeit
erhalten haben. Bei den Australiern spielen sie eine größere
Rolle. So bildet Buschan!) eine Zaubergestalt von Nord-
queensland ab, die zur Vertreibung der Moskitos verbrannt wird.
Ebenso werden derartige hohe, einem Aufsatz ähnliche
Puppen, bei den verschiedenartigsten anderen Zeremonien ver-
wendet, so bei der Zeremonie des Wassertotem?) oder des
Opossumtotem®). Wir können also annehmen, daß irgend eine
Zauberzeremonie vorliegt. Betrachten wir nun Zauberzeremonien
bei Naturvölkern, bei denen ein junger Mann und Frauen im
Vordergrunde stehen, dann kommen wir zur Geschlechts-
reifezeremonie. Bekanntlich befinden sich die Knaben viel-
fach bis zur Geschlechtsreife in der Erziehung der Weiber. Mit
der Geschlechtsreife scheiden sie aus diesem Kreise aus und
treten in die Männergesellschaft ein. Solche Übertritte von
einem Kreis in den anderen pflegen Naturvölker durch be-
stimmte Zeremonien zu betätigen, und so setzen sich auch die
Reifezeremonien teilweise zusammen aus Austritts- und Eintritts-
zeremonien. Es liegt nahe, daß wir hier die Austrittszeremonie
aus dem Kreise der Frauen vor uns haben, ein Vorgang, der
vollständig in die damalige Kulturwelt passen würde. Vielleicht
steht damit auch das darüber befindliche, in unserer Abbildung 6
wiedergegebene Bild in Zusammenhang. In vielen Fällen muß
nämlich der junge Mann vor seinem Eintritt in die Männer-
gesellschaft Proben seiner Geschicklichkeit als Jäger ablegen.
Es ist nicht unmöglich, daß der Maler an diese Vorgänge dachte,
als er das Bild fertigte und es über die bereits vorhandene
Herdendarstellung malte.
1) Buschan, Die Sitten der Völker. I. Stuttgart. o.J. S. 171.
®) Vgl. Spencer and Gillen, the native tribes of Central Australia.
London 1899, S. 307.
s) ebenda S °39. Bei den Perchtentänzen haben die Aufsätze aller-
dings den figürlichen Charakter, den sie sicherlich ursprünglich besessen
haben, verloren (vgl. Andree-Eysen, Die Perchten im Salzburgisch.
Braunschweig 1905, S. 10). Dagegen hat sich die riesige Figur noch heute
bei den Stabausfesten (so in Heidelberg, Mannheim usw.) erhalten.
24
362 Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen der Menschheit
Ein altbekanntes Stück stellt weiterhin unsere Tfl. II in
Fig. 2 dar: Die Frau unter dem Renntiere''). Es ist eine Ritz-
zeichnung aus Laugerie Basse und gehört ebenfalls dem älteren
Magdalénien an und ist vom selben Fundort wie der Bison-
jäger. Wir sehen ein nacktes Weib, dem der Kopf fehlt, in
hochschwangerem Zustande auf dem Rücken liegen. Die Brüste
sind nicht dargestellt, dagegen die Geschlechtsteile deutlich
hervorgehoben, obwohl sie eigentlich in dieser Lage gar nicht
sichtbar wären. Die Behaarung ist wieder deutlich angegeben.
Weiterhin sehen wir die Beine eines Renntieres und im Hinter-
grunde verschiedene bogenförmige Linien. Leider ist die Dar-
stellung nur ein Fragment. Wie alle menschlichen Darstellungen
des Magdalénien ist sie im Gegensatze zu den Tierdarstellungen
nicht gerade gut wiedergegeben. Nun liegt natürlich zunächst
die Frage nahe, sind die drei Darstellungen Teile eines Bildes.
Obermaier?) ist der Meinung, daß beim Auerochsjäger (vgl.
Abb. 5) und bei unserer Zeichnung „tatsächlich nichts berechtige,
die dargestellten Figuren in inneren Zusammenhang zu bringen“;
dort also den Auerochsen und den Jäger, hier die Frau und
das Renntier. Ich meine, dies geht entschieden zu weit. Wenn
nicht nachweisbar ist, daß die Figuren zeitlich getrennt eingeritzt
wurden, so müßte es doch höchst sonderbar zugehen, wenn
auf solche räumlich beschränkte Stücke ein Künstler gleich-
zeitig mehrere Figuren in derartig spezialisierten Stellungen
zwecklos nebeneinander einritzen würde, die bei ungezwungener
Betrachtung auf den ersten Blick einen Zusammenhang ver-
muten lassen. Bei Wänden in Höhlen ist das eher denkbar,
. weil dort verschiedene Vorübergehende je nach Laune oder
Anregung ihren jeweiligen Gedanken zur Darstellung bringen
können. Bei kleinen Knochenstücken dagegen, die in jener
Zeit doch an sich einem Zwecke gedient haben, ist es
sicherlich die fernerliegende Erklärung. Der Auerochsjäger
führt ohne Zweifel Speer oder Lasso in der Hand, mit denen
er nach dem Tiere zielt, die Frau liegt sicherlich unter dem
Renntiere, ja Ranke?) deutet sogar an, daß unsere Zeichnung
Renntier und Weib in einer Hürde darstellen (er glaubt also
1) Vgl. Piette in I’Anthropologie 1895, Tfl. V, Fig. 4.
2) Obermaier, Der Mensch der Vorzeit. Berlin 1911/12. S. 231.
®) Ranke, Der Mensch. Leipzig 1912. Il, S. 442.
Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen der Menschheit 363
in den Bogenlinien eine Hürde zu sehen). Freilich ist das
Weib verhältnismäßig etwas klein geraten und ihre Beine
sollten streng genommen den linken Hinterfuß des Renntieres
überschneiden. Aber gerade diese Fehler kehren stets wieder.
Ohne Zweifel ist also der Zusammenhang näherliegend als das
Gegenteil, und es besteht kein Grund, das Näherliegende zu-
gunsten des Fernliegenden abzulehnen, da bis jetzt noch nie-
mand auf die Idee kam, die Gleichzeitigkeit der einzelnen Teile
der Darstellung zu bestreiten. Wir sind also berechtigt, den
Versuch zu machen, die als Einheit gedachte Darstellung zu
deuten zu versuchen. Auch hier dürfte ein Zauber dargestellt
sein. Das hochschwangere Weib steht vor der Niederkunft
und alle Naturvölker, ja selbst die Mehrzahl der Angehörigen
der Kulturvölker, versucht durch Zauber oder Sympathiemittel
den Geburtsvorgang zu erleichtern. Diesem Zwecke dient
eine abergläubische Handlung, die über die ganze Welt ver-
breitet ist. Besonders charakteristisch berichtet sie uns Baker")
von den arabischen Weibern. Frauen, die der Niederkunft
entgegensehen, kriechen einem recht starken Kamel zwischen
Vorder- und Hinterbeinen hindurch, in dem Glauben, daß diese
Handlung die Stärke des Tieres auf das Kind übertragen
würde. Nimmt man an, daß unser Knochenstück einem der-
artigen Zauber diente, dann wäre schon dadurch die mächtige
Darstellung des Renntiers — es soll ein recht starkes sein —
erklärt. Die Sitte des Durchkriechens und Durchziehens zwischen
Tieren oder durch Höhlungen in Steinen und Pflanzen ist, wie
gesagt, ebenso alt als verbreitet. Sie wird schon von den
Römern berichtet?). Reiches Material stellen Hovorka und
Kronfeld®) zusammen. Im wesentlichen liegt der Sitte die Idee
zu Grunde, daß das Leben des Menschen innig verknüpft ist
mit einem Baume, einem Steine usw., worüber Mannhardt‘*)
manches ausführt.
Aber die damalige Zeit gibt uns auch Aufschluß über die
Beziehungen der beiden Geschlechter zu einander; haben wir
bisher nur mit Kleinskulpturen, Ritzzeichnungen auf kleinen
ı) Baker, Nilzuflüsse in Abyssinien I, S. 251.
3) Marcellus empir de medic. p. 229.
3) Hovorka und Kronfeld, Vergleichende Volksmedizin, Stuttgart
1909, I. 57, 253, II. 49, 59, 483, 668, 694—696, 714, 879.
“ Mannhardt, Wald- und Feldkultur, Bd. I, Berlin 1875, S. 32.
24°
364 Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen der Menschheit
Knochenstücken usw. und Wandgemälden zu tun gehabt, so
kommen wir jetzt zu Ritzzeichnungen auf Felswänden.
Man kann wohl behaupten, daß die ältesten derartigen Dar-
stellungen dem Aurignacien angehören; leider sind menschliche
Darstellungen ebenso selten als schlecht; sie kommen nur in
drei Höhlen vor, in Combarelles, Marsoulas und Altamira.
In Combarelles sind, wie Wiegers') mitteilt, zwei als sicher
menschlich anzusehen, „die anscheinend einen Mann und eine
Frau, vielleicht vor einer intimen Szene, vorstellen“. Wir
geben diese hochwichtige Darstellung in unserer Abb. 11 wieder.)
Abb. 11. Coitusstellung (?) Höhle von Combarelles (nach Cartallhac et Breuil).
Die Höhle von Combarelles liegt im Tale der Beune bei
Les Eyzies in der Dordogne in Frankreich und wurde 1902
von Capitan, Breuil und Peyronie entdeckt. Sie ist eigentlich
ein viel gewundenes, unterirdisches Bachbett, 225 m lang, etwa
1,5 bis 2 m breit und durchschnittlich 0,5 bis 3m hoch. Die
Zeichnungen beginnen etwa 119 m vom Eingang entfernt. Solche
Höhlen dienten, da sie im Innern ziemlich warm waren, den
prähistorischen Menschen als Winteraufenthalt, mußten aber na-
türlich künstlich beleuchtet werden. Die Umrißzeichnungen
1) Wiegers, Die Entwicklung der diluvialen Kunst, Ztsch. f. Ethnol.
46, 1914, Heft VI, S. 857.
3) Cartailhac et Breuil: La caverne d’Altamira. Monaco 1906.
366 Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen der Menschheit
gekommen wäre, wenn sie nicht eben auf die Felsen selbst ge-
malt worden wären. Nun glaubt Wiegers wohl mit Recht,
daß das von uns behandelte Relief nicht dem unteren Solutreen,
sondern ebenfalls dem oberen Aurignacien angehört. Er
sagt:') „wenn dieses Relief auch im unteren Solutr&en gefunden
wurde, so glaube ich doch, daß ihm ein höheres Alter zu-
kommt. Die Übereinstimmung in der Herstellung ist bei den
fünf Reliefs von Laussel so groß, daß wir unbedingt ein gleiches
Alter annehmen müssen. Es ist wohl möglich, daß die in den
Kulturschichten gefundenen Reliefs ursprünglich in der Fels-
wand gesessen haben, eigentlich also zur Wandkunst zu
stellen sind, und im Laufe der Zeit durch die Verwitterung des
Felsens abgestürzt und dabei z. T. zerbrochen sind. Es ist als
ein Zufall anzusehen, daß das letzte Relief später als die
anderen, nämlich zur Solutreenzeit, erst heruntergefallen ist.
Andererseits ist es ebensogut möglich, daß die fünf Reliefs auf
vorgefundenen losen Steinplatten hergestellt wurden, von denen
eine wieder durch irgend einen Zufall den Solutr&enleuten zu-
gänglich blieb und somit später erst in die Solutr&enschicht
eingebettet wurde.“
Unser Relief ist nun auf einem Kalksteinblock von 46 cm
Länge und 31 cm Breite dargestellt und zeigt zwei Personen,
die in eigenartiger Weise zu einander gestellt sind. Über die
Deutung der Darstellung ist man geteilter Meinung. Ploß-
Bartels?) schreibt dazu: In der abgebildeten Szene haben
wir wahrscheinlich die überhaupt älteste Darstellung einer
Niederkunft zu erblicken, die existiert, falls nicht die andere
vom Entdecker Dr. S. Lalanne ebenfalls für annehmbar gehaltene
Deutung, daß es sich um die Darstellung eines Coitus handelt,
richtiger ist. Zwei Personen, von denen die eine, obere, durch
die kräftigen hängenden Brüste sicher als weiblich erkennbar
wird, sind in Gegenüberstellung dargestellt. Die starken
Hängebrüste der Frau reichen nicht über die Gürtelgegend
herab; der Bauch ist durch einen starken medianen Vorsprung
angedeutet, welcher zwei weniger starke seitliche Vorsprünge
zeigt. Die Schenkel sind gebeugt, die Arme hängen am Leibe
1) Wiegers, Die Entwicklung der diluvialen Kunst. Ztsch. f. Ethn. 46,
1914, Heft VI, S. 844.
%) Ploß-Bartels, Das Weib in der Natur- und Völkerkunde. Map
zig 1913. (10. Aufl.) T. S. 179.
Reitzen stein: Die ältesten sexuellen Darstellungen der Menschheit 367
herab und die Hände unterstützen anscheinend die unteren
Gliedmaßen. Die andere Gestalt ist weniger deutlich erkennbar.
Dr. Lalanne ist geneigt, da diese letztere Figur für ein Kind
zu groß erscheint, anzunehmen, daß es sich nicht um eine
Geburtsszene, sondern um die Darstellung eines Coitus
(der dann also wohl in hockender Stellung gedacht wäre)
handelt. Dasselbe glauben Boule und Cartailhac. Abbé Bréuil
hält aber auch die andere Deutung für annehmbar, daß eine
Geburtsszene geschildert werden sollte.“ Nun, diese letztere
Auffassung dürfte sicherlich unrichtig sein, denn bei der da-
maligen immerhin hohen Leistungsfähigkeit wäre zweifelsohne
das Kind charakteristischer dargestellt worden. Freilich ist das
Relief nicht vollendet worden. Nun hat neuerdings Prof.
Schiefferdecker-Bonn die Frage, ob es sich um eine Ge-
burts- oder eine Coitusdarstellung handelt, genauer untersucht. *)
Er sagt: „Daß es sich nicht um eine Geburt handeln kann,
geht meiner Meinung nach zweifellos daraus hervor, daß die
auf dem Rücken liegende Person viel zu groß für ein neu-
geborenes Kind ist. Außerdem besitzt diese Person einen
Kinnbart, der in der Mitte geteilt is. Auch die Ausbildung
von Augen, Ohren, Nase und Mund deuten auf einen Er-
wachsenen.“ Das mag sicherlich stimmen, wenn auch die
Spitzbartfrage etwas verdächtig anmutet. Mötefindt, der die
Ausführungen Schiefferdeckers bespricht,?) sagt: „Mir persönlich
erscheint es zwar noch fraglich, ob der Spitzbart, vor allem
auch in der eigenartigen Form, wirklich als einwandfrei fest-
gestellt gelten darf, aber an und für sich sind Bartdarstellungen
aus dem Paläolithikum Spaniens bereits bekannt, so daß der
Nachweis einer Bartdarstellung aus dem südfranzösischen
Paläolithikum weiter nichts Auffälliges wäre. Die fragliche
Bartform eines zweigeteilten Kinnbartes kenne ich freilich auch
aus Spanien nicht; über diese Einzelheit wird man also erst
eine£Nachprüfung abwarten müssen. Aber diese dürfte
schwerlich an der Deutung des Gesamtbildes etwas
ändern.“ Diesen Ausführungen kann man sich nur völlig
1) Schiefferdecker in der Zitsch. f. Ethnol. 51. 1919. Heft 2—3
S. 179—184, und „Eine merkwürdige Darstellung aus der Vorzeit“ in
„Umschau“ Nr. 8 vom 19. Febr. 1921, S. 91.
®) Mötefindt, Die älteste menschliche Coitusdarstellung in Natur-
wissenschaftl. Wochenschr. Nr. 44. Jena, Oktober 1920. S. 701.
368 Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen der Menschheit
anschließen. Es würde also zweifelsohne die Definition als
Coitus der als Geburt vorzuziehen sein. Nun stellt sich
Schiefferdecker den Vorgang selbst folgendermaßen vor: „Die
Frau hockt in der Geschlechtsgegend des Mannes auf seinem
Körper, die kräftigen Schenkel sind infolgedessen in den Knien
stark gebogen. Mit den Armen und Händen stützt sie sich,
die Schenkel vielleicht umgreifend, auf den Boden, neben dem
Körper des Mannes, Die richtige Darstellung dieser recht
schwierigen Szene ist nun über das Vermögen des Künstlers
hinausgegangen, denn er stellt Mann wie Frau in voller Ansicht
von vorn her dar, was unmöglich ist. Ferner scheinen die
Füße der Frau auf dem Körper des Mannes zu stehen. Die
Füße, die selbst nicht dargestellt worden sind, haben aber zu
beiden Seiten des männlichen Körpers auf dem Boden ge-
standen und sind wohl von dem Körper verdeckt worden,
ebenso wie die Hände. Es handelt sich hier also um die Form
des Coitus, bei dem die Frau in einer Art von Hockerstellung
auf dem Manne sitzt. Sie ist auch jetzt noch als Nebenform
gebräuchlich und soll nach Lalanne im Altertume auch auf
'Vasenbildern künstlerisch dargestellt worden sein.“ Mötefindt
führt diese Hinweise auf antike Vasenbilder besonders durch
Heranziehung der Phineusvase näher aus. Ich gebe nun in
Abbildung 12b die Auffassung Schiefferdeckers nach der in der
„Umschau“ veröffentlichten Skizze wieder. Die Hinweise auf
das klassische Altertum, insbesondere die Phineusschale,
halte ich jedoch für wenig wertvoll. Die mir vorliegenden
Bilder zeigen deutlich, daß wir hier einfach Szenen vor uns
haben, denen eine beabsichtigte Reizsteigerung zu Grunde
liegt und jeder Nachweis des Volkstümlichen fehlt.
Wohl aber läßt sich die Stellung durch chinesische Elfenbein-
täfelchen belegen und vor allem durch einen altbabylonischen
Zylinder. Hier fehlt sicherlich jede Pikanterie, die Dar-
stellung zeigt zweifelsohne eine übliche Form; vgl. Abb. 13.1)
Ich habe bereits früher?) auf diese eigenartige Darstellung
hingewiesen und damals die Frage zwischen Geburt und
Coitus offengelassen. Heute möchte ich mich doch für die
!) Nach Sarzec, Decouverts Pi. 30.
2) Reitzenstein, Liebe und Ehe im alten Orient. Stuttgart 1909,
S. 56 u. Abb. 25.
Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen der Menschheit 369
h
13. Altbabylonischer Siegeizylinder (nach Sarzec)
370 Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen der Menschheit
letztere Auffassung entscheiden und diese Figur zu unserer in
Vergleich setzen, wenn man die Schieferdecker’sche Erklärung
beibehalten will. Ich glaube aber, daß diese nicht zwingend
ist, die Coitusstellung des Reliefs läßt sich noch
anders erklären. Ich möchte vermuten, das Weib liegt
auf dem Rücken, der Mann kniet vor ihm und zieht die
Beine des Weibes an sich. Durch diese Erklärung, die wir in
Abb. 12a wiedergeben, würden vielmehr Details des Reliefs
benutzt und wir erhalten eine Coitusform, die auf der Welt
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Abb. 14. Australische Coitusstellung (nach Roth)
besonders weit verbreitet ist und zwar vor allem bei primi-
tiven Völkern. Es liegen mir aber auch Bilder von Kultur-
völkern vor, so eine derartige Darstellung von einem Fries an
einem Tempel zu Benares; dann eine persische Miniatur usw.,
denen ebenfalls der gesuchte Charakter fehlt. Was aber das
wichtigste ist, ist, daß diese Vornahme des Coitus die in
Australien übliche ist. Vgl. Abb. 14, eine Darstellung, die
nach einer sehr kleinen Aufnahme von Roth gezeichnet ist.*)
1) W. E. Roth, Ethnological studies among the North-West-Central
Queensland Aborigines, London 1897, Tafel 26, Fig. 433 u. S. 179, Abs. 320d.
372 Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen der Menschheit
auf die Hälfte der vielen Tierfiguren kleine Pfeilspitzen auf-
malt, muß einen bestimmten Zweck haben und das kann nur
der eines Zaubers sein. Der Jäger malte auf das Tierbild
— z. T. sind die Pfeilspitzen im Vergleich zur Tierzeichnung
sehr unbeholfen, also sicher nicht von gleicher Hand — eine
Pfeilspitze und verband damit den Zweck, auf der nun
kommenden Jagd Glück zu haben. Diese stark bemalten
Höhlen könnten also „Zauberhöhlen“ gewesen sein und etwa
jenen Höhlen der Australier entsprechen, in denen sie ihre
Schwirrhölzer usw. aufbewahren. Man brachte dort nach
Bedarf Zeichnungen an, um die darin wohnenden Dämonen
zu Diensten zu zwingen. Solchen und ähnlichen Zwecken
mögen auch unsere sexuellen Darstellungen gedient haben,
so daß der Ausspruch von Wiegers (S. 485 der mehrfach
zitierten Arbeit) voll und ganz berechtigt erscheint: Die
ersten Darstellungen des Menschen sind lediglich aus
erotischen Ursachen erfolgt. Von der Vulva und dem
Phallus im mittleren bis zum Coitus im oberen Aurignacien
zeigen fast alle menschlichen Figuren eine ausgesprochene
Betonung des „Sexuellen“. Das „Feigenblatt“ steht also eben-
sowenig an der Spitze der menschlichen Kultur wie die Einehe
oder der Monotheismus.
KREUZUNG UND BASTARDIERUNG.
Von Universitäts-Professor Dr. A. WIRTH,
MN" muß um wirksam und widerstandsfähig zu sein, mit
einem anderen Metall verbunden, muß legiert werden. Ein
guter richtiger Müller nimmt australisches und argentinisches
oder rumänisches Korn mit deutschem Korn zusammen, um ein
schönes Mehl zu erzielen. Tuchweber verfahren gleichermaßen.
Sie nehmen englische oder australische, dazu rumänische oder
russische Wolle, damit das Tuch stark und dauerhaft werde.
So ist es auch mit den Rassen, sie müssen gekreuzt werden,
um Kraft und Dauer zu erhalten, besonders aber, um schöpferisch
zu werden. Tatsächlich gibt es denn auch kein Volk auf der
ganzen Erde, sicherlich kein Kulturvolk, ich glaube jedoch auch
kein Naturvolk, das nicht Mischungen aufwies. Freilich „Zu
wenig und zu viel, ist jedem Narren sein Ziel“, oder mit einem
anderen Sprichwort: „Zwischen erstickt und erfroren ist viel in
der Mitte“.
Höchste Kultur ist weder bei den Eskimos, noch bei den
Negern unter dem Gleicher denkbar. Inzucht bringt Erstarrung,
während zuviel gemischte Rassen entarten. Wir haben Beispiele
von lange fortgesetzter Inzucht bei den Feuerländern, bei den
Koreanern und bei einzelnen Herrschersippen, wie den Mikados
und, obgleich nicht so streng durchgeführt, bei den Habs-
burgern. In Feuerland hat die Vereinzelung dazu geführt, daß
die Rasse ausstirbt. Weit entfernt, enger zusammenzuwachsen
und sich innig zu lieben, hassen sich vielmehr die von aller
Welt abgeschlossenen Feuerländer aufs heftigste, ähnlich wie
Leute, die zu lange auf demselben Schiff oder bei einer Fest-
landskarawane zusammenlebten, sich gegenseitig verabscheuen
374 Wirth: Kreuzung und Bastardierung
und einander nicht mehr riechen können. Die Feuerländer
liefern sich unaufhörlich Zweikämpfe und veringern sich dadurch
die Zahl der ohnehin kopfarmen Rasse. Viele enden auch aus
Überdruß über die unausgesetzten Quälereien ihr Leben durch
Selbstmord. Bedeutend munterer und geradezu von heiterer
Sinnlichkeit sind die Koreaner. Was aber bedeuten die Koreaner
in der Weltgeschichte? Sie hätten etwas bedeuten können, so
wie Italien, dem nach Lage und Klima und teilweise in der
Lebensführung und künstlerischen Begabung das Land des
Morgenstrahls gleicht. Auch wurde das Land von anderen
Rassen -aufgesucht. Chinesen und Türken kamen dorthin;
Araber ließen sich im zehnten Jahrhundert dort nieder, weil sie
die Luft und die Annehmlichkeiten des Lebens dort schätzten.
Alles aber wurde durch die strenge Abschließung gegen die
Außenwelt verdorben, die seit dem vierzehnten Jahrhundert
geübt, und die in der Hauptsache nur einmal, durch den Feld-
zug-Einfall der Japaner, 1592—1598, durchbrochen wurde.
Freilich, die Abschließung war auch in China und Japan be-
liebt. Allein sie wurde nicht solange durchgeführt, im Insel-
reiche etwas über zwei Jahrhunderte und im „Blumenkönigtume“
nicht sonderlich streng. Das ausschlaggebende ist indessen
folgendes: Was sich ein großes kopfreiches Volk erlauben
kann, schlägt einem kleinen zum Unheil aus. Daher offenbarten
sich auch in der Schweiz, die sich keineswegs hermetisch
gegen außen abschloß, 200 Jahre nach dem dreißigjährigen
Kriege deutliche Spuren von Verknöcherung und Verkalkung,
zum mindesten bei den regierenden Sippen und in den Regierungs-
methoden, sodaß Bonaparte mit leichter Mühe die Berner
Bureaukratie umwarf. Heute ist umgekehrt die Schweiz durch
den Zufluß von Italienern, Juden, Russen, Balkaniern und
Orientalen, Polen und Flüchtlingen aus aller Herren Ländern,
der Gefahr einer bedrohlichen Überfremdung ausgesetzt. Jeden-
falls ist durch planlose Überschwemmung mit Fremden und
durch wahllose Mischung einst das Griechentum und das-
Römertum zugrunde gerichtet worden.
Wir können auch hier bestimmte Perioden nachweisen.
Der fruchtbaren Kreuzung während und infolge der Völker-
wanderung entspricht ein tüchtiges, in Neigungen und Ab-
neigungen ziemlich einheitliches Geschlecht, das die Reinheit
seines Blutes ein gutes Jahrtausend hindurch leidlich behauptet.
Wirth: Kreuzung und Bastardierung 375
Dann setzt der Verfall ein. Mit der sinkenden Kraft schwindet
die Widerstandsfähigkeit wider den Zustrom des Fremd-
tumes. Bundesgenossen, alle möglichen Postgänger und Nutz-
nießer der überreifen Kultur, gedungene Wanderarbeiter und
Sklaven, endlich anmaßende Eroberer. Sie alle drängen und
tummeln sich in einem alten Staate. So wird das Alter jeder
Kultur durch übermäßige Mischung der Rassen gekennzeichnet.
Die völlige Auflösung ist dann der Schluß des Schauspieles.
Nicht alle Farben sind gut zur Mischung. Deckfarben ver-
tragen sich nicht mit Lasurfarben und beide nicht mit Asphalt;
noch weniger kann man die eine Pferderasse bei der anderen zu-
lassen. Ein Brabanter ist durchaus ungeeignet, eine Panjestute
zu decken und selbst ein kleiner Panjehengst taugt nicht für
einen Shettlandponny. So passen auch nicht alle Menschen-
rassen zusammen. In Amerika wird die Verbindung von Weißen
und Schwarzen insgemein als widrig, unstatthaft, ja verbrecherisch
empfunden. Trotzdem ist die Verschmelzung von weißen und
schwarzen. Blut recht häufig auf der Erde, während Kreuzung
zwischen Schwarzen und Gelben noch zu den Seltenheiten ge-
hört, und lediglich am Amur in größerem Maßstabe Platz
greift. Eine viel umstrittene Frage ist nun, inwieweit Mulatten-
kinder fruchtbar seien. Es ist jedoch nicht ersichtlich, daß es
da Grenzen gebe. Wohl aber ist erwiesen, daß die Bastarde
von Schwarzen und Malaien, die durch die Verbindungen der
Holländisch-ostindischen Gesellschaft mit Jafa ternate seit Ende
des siebzehnten Jahrhunderts aufkamen und im vierten Ge-
schlecht erloschen sind. Maultiere sterben schon im zweiten
Geschlechte aus. Ganz unfruchtbar sind nämlich, wie lange
geglaubt wurde, Maultiere nicht. Es scheint indessen, daß jene
malaische Erfahrung vereinzelt dastehe. Die anderen Erfahrungen
beweisen das Gegenteil. Gerade in Südafrika leben noch heute
die Griqua, aus Heiraten hervorgegangen, die vor länger als
einem Jahrhundert von Buren und Hottentottinnen abgeschlossen
wurden. Die Mulatten auf Mauritius, in Westindien, in Mittel-
amerika und in dem tropischen Südamerika vermehren sich
mit ungeminderter Kraft. Dabei herrscht in Südamerika das
tollste Rassendurcheinander, vier völlig getrennte Rassen mengen
sich dort: Indianer, Schwarze, Ostasiaten und Weiße, dazu
Juden und in jüngster Zeit noch christliche Syrier. Die Mestizen,
Quadronen und Oktoronen werden demnächst noch um weitere
376 Wirth: Kreuzung und Bastardierung
Mischungsgrade vermehrt werden. Es gibt heute Freistaaten
im tropischen Amerika, bei denen nur ein Prozent der Bevölkerung
weißen Blutes ist, und selbst dieser geringe Bruchteil ist nicht
über jede Zweifel erhaben. Ähnlich wird man sich nur zu oft
den Hergang in vorgeschichtlicher, frühgeschichtlicher und selbst
in klassischer Zeit vorzustellen haben. In gar manchen Gegenden
Persiens und Indiens, werden die Arier nicht mehr als ein
Prozent der Bevölkerung ausgemacht haben und ich möchte
keinen Eid dafür leisten, daß in Tirol und Graubünden, in der
Auvergne und der Mandscha, in der irischen Grafschaft Clare,
auf Sardinien und Korsika mehr als fünf Prozent vorhanden seien.
Geschlecht und Gesellschaft,
Neue Folg X, 11
Tafel I
Fig. 2;
Fig. 1 links Vergleich des Halbmenschenkiefers von Piltdown (Mitte), mit einem
Kaffernkiefer (oben) und einem Schimpansenkiefer (unten), rechts: Rekonstruktion
des Piltdown-Schädels (oben) und Hirnschädelausguß desselben (unten).
Fig. 2. Der Mahlzahn von Schansi verglichen mit dem des Palaeopithekus (auf
den ihn Schlosser bezieht) und dem des Orangutan.
III
L
OROHOHOHOHOHOHOROHOROL
;
IOROWOWHOROROROHOHO
DIE MEHRSTÄMMIGE ABLEITUNG DES
MENSCHENGESCHLECHTS UND IHRE
BEDEUTUNG FÜR DIE VÖLKERKUNDE.
Von Dr. med. K. CLASSEN, Grube in Holstein.
Is der berühmte Infektionskrankheiten-Erforscher Robert
Koch wegen des Studiums der „Schlafkrankheit“ das öst-
liche Innerafrika bereiste und dabei vielfach Gelegenheit hatte,
die einheimischen Negervölker zu beobachten, kam er zu der
Anschauung, daß der dortige Neger physiologisch nicht zu
derselben Gattung der Menschen gehören könne, wie der
Europäer, sondern vielmehr im zoologischen Sinne eine Gattung
für sich bilde. Der große Hygieniker hat hiermit von seinem
Standpunkte aus einer Überzeugung Ausdruck gegeben, welche
schon früher von einzelnen hervorragenden Anatomen und
Anthropologen geahnt und vorsichtig angedeutet wurde, neuer-
dings jedoch in der wissenschaftlichen Welt mehr und mehr
an Boden gewinnt: nämlich, daß- die Menschheit nicht ein-
heitlich aus dem gemeinsamen Grundstamm der. Anthro-
poiden oder menschenähnlichen Affen herzuleiten ist, sondern
daß sie entsprechend der Mehrheit der Anthropoiden auch
einen mehrheitlichen Ursprung habe.
Ohne auf die Entwicklung dieser Lehre vom „Polygenis-
mus“ des Menschengeschlechts im Einzelnen einzugehen,
will ich hier nur hervorheben, daß dieselbe in neuester Zeit
an Boden gewinnt. Hiernach lassen sich beim Menschen drei
„Grundstämme“ unterscheiden, welche den drei großen
Anthropoiden, auch „Anthropomorphen“ oder Menschen-
gestaltige benannt, nämlich dem Schimpansen, dem Gorilla
und dem Orangutan entsprechen.
Versuchen wir es nun, diese Lehre vom paläontologischen,
ethnologischen und sprachwissenschaftlichen Standpunkt. aus
übersichtlich zu erörtern.
Die paläontologische Grundlage für den „Polygenis-
mus“ bilden eine Anzahl fossiler Funde, welche die ehemalige
Existenz von Zwischengliedern zwischen den Anthropoiden
und den Menschen, also von „halbmenschlichen“ Wesen,
25
378 Classen: Die mehrstämmige Ableitung des Menschengeschlechts usw.
beweisen. Es sind dies hauptsächlich: Einige Schädelteile und ein
Unterkieferstück aus der Umgegend von Piltdown in England
(s. Tafel I, Fig. 1); einige Zähne und Kieferteile aus den Sivalik-
bergen im nördlichen Vorderindien; ein Schädeldach, Schenkel-
bein und einige Zähne von Trinil auf der Insel Java; ein
oberer Backenzahn aus der Provinz Schansi, östlich von
Peking in China; endlich ein oberster Halswirbel von Monte
Hermoso in Argentinien. Sehen wir von dem letzten Funde
ab, der für die Bestimmung der „Urheimat“ des Menschen
zunächst nicht in Betracht kommt, — denn in Amerika haben
niemals anthropoide Affen existiert, — so erhalten wir drei,
örtlich weit voneinander entfernte Gebiete als Ursprungsorte:
Europa-Afrika, Südasien und Ostasien. Und jene ver-
schiedenen dortigen Funde gehören nicht etwa einer und der-
selben Gattung an, vielmehr beweisen sie, daß am Ausgang
des heißen Tertiär-Zeitalters, wesentlich innerhalb der ge-
mäßigten Zone, also im damaligen Verbreitungsgebiet der
Anthropoiden, drei Arten von Affen- oder Halbmenschen
(Pithekantropen) existiert haben. Wie die Fossilreste dieses
begründen zeigt sich im folgenden: Die Unterkieferstücke von
Piltdown nebst zwei Mahlzähnen (gefunden von Dawson
1911/12) sind sicherlich den entsprechenden „Schimpansen*-
Skeletteilen auffallend ähnlich, so daß man sie mehrfach
sogar einem Schimpansen zuschreiben wollte. Das Schädel-
dach von Trinil, (gefunden von Dubois schon 1891), ähnelt
mit seinem geradlinig vorspringenden Augenbrauenwulst
und Hinterhauptbein dem „Gorilla“,*) (nach Vergleichsbildern
der Professoren Schwalbe und Rudolf Martin), und Gorilla-
Ähnlichkeit besitzen auch die wichtigsten nordwestindischen
Anthropoiden-Gebißfunde, insbesondere die von Pilgrim (1910
bis 1915) dort entdeckten des Sivapithecus. Indessen gleicht
der Zahn von Schansi (der vom Reiseforscher Dr. Haberer
aufgefunden und 1906 von Prof. Schlosser beschrieben wurde)
in der Gestaltung der Kauflächen dem Backenzahn des Orang-
utan und des ihm vorausgehenden fossilen Palaeosinna. (Vgl.
Tafel I, Fig. 2.) So bilden alle diese fossilen Funde zweifellos
„Übergangsformen“ zwischen jenen Anthropoiden und den
heutigen Menschen!
*) Würde wohl besser der gibbonoiden Gruppe zugeteilt.
Classen: Die mehrstämmige Ableitung des Menschengeschlechts usw. 379
Gehen wir noch einen Schritt weiter, so kommen wir
unabweisbar zu der Schlußfolgerung, daß die Menschheit nicht
aus einem Stamm erwachsen ist, sondern sich aus den ver-
schiedenen Stämmen der Primaten entwickelt hat, und zwar
offenbar aus drei Wurzeln, entsprechend den drei Ge-
schlechtern der Anthropoiden: Dem Schimpansen (nebst
seiner fossilen Frühform, dem Dryopithecos), dem Gorilla
(nebst seiner Frühform, dem Pavian) und dem Orang-Utan (nebst
dem ihm naheverwandten, älteren und kleineren Gibbon).*)
(Vgl. Tafel IL) Wir sind also berechtigt, von einem
„schimpansoiden“, einem „gorilloiden“ und einem „orangoiden“
Grundstamm der Menschheit zu reden, und wir dürfen
deren Entstehung mit höchster Wahrscheinlichkeit in Afrika-
Europa, Südasien und Ostasien suchen. Sie ist nach neuerer
Auffassung wesentlich der geisteshebenden Einwirkung der
„Eiszeiten“ zuzuschreiben.
Von diesen drei Grundstämmen hat sich jeder seit den
frühesten Zeiten, anfangs durch die Eiszeiten, später durch
spontane Wanderungen, weit über seine engere Heimat hinaus
ausgebreitet, und ist dabei mit einem oder den beiden anderen
Grundstämmen in nähere Berührung gekommen. So finden
wir unter den menschlichen Schädeln und Skelettfunden aus
dem Paläolithikum (der älteren Steinwerkzeuge-Zeit) Europas
Vertreter aller drei Grundstämme. Die Ausbreitung durch
den ganzen Kontinent Amerika, von Norden nach Süden, konnte
vielleicht schon vor dem frühesten Quantär (Eiszeitalter) vor
sich gehen, — daher der für spättertiär gehaltene Zwerg-
menschenfund von Monte Hermoso in Argentinien —, weil
hier keine in äquatorialer Richtung verlaufende Hochgebirge
hindernd im Wege waren.
Die mannigfachen Vermischungen, welchen auf diese Weise
die Grundstämme unterworfen wurden, müssen alsdann neben
den tiefgreifenden Klimaschwankungen der Eiszeiten mit
den warmen Zwischeneiszeiten, zur Bildung neuer Rassen- und
Zwischenstufen geführt und zugleich die Hochzüchtung
einzelner Stammteile zu „Kulturvölkern“ und die schärfere Aus-
wirkung ihres „Geschlechtscharakters* bewirkt haben.
+*+) Vgl. hierzu „Geschlecht und Gesellschaft“, Jahrgang X, S. 153
Sokolowsky Geschlechts- und Altersunterschiede bei Menschenaffen und
die.dazu gehörigen Tafeln.
25*
380 Classen: Die mehrstämmige Ableitung des Menschengeschlechts usw.
Wenden wir uns nun der Frage zu, welche Folgerungen
sich aus den paläontologischen Tatsachen für die Ethnologie
oder Völkerkunde ergeben, so steht im Vordergrund die Frage,
ob es unter den heute lebenden Menschenrassen noch „ein-
stämmige“ gibt, d. h. solche, die lediglich das Blut eines der
drei Grundstämme ohne Vermischung mit einem der andern
enthalten.
Je höher eine neuzeitliche Rasse in geistiger und kultureller
Beziehung steht, um so mehr entfernt sie sich in ihrem Körper-
bau von den Anthropoiden. Bei den europäischen Rassen
finden sich „pithekoide“ Merkmale oder Zeichen von Affen-
ähnlichkeit, wie mangelhafte Kinnbildung, enger Unterkiefer-
winkel, geringe Schädelkapazität, Abnormitäten im Gebiß, über-
mäßig lange Arme, zwerghafter Wuchs usw., höchstens noch
atavistisch, d. h. ahnenhaft vererbt als vereinzelte Vorkommnisse,
nicht als konstante Merkmale. Je, niedriger eine Rasse heut-
zutage steht, d. h. je mehr bei ihr die pithekoiden Merkmale
noch hervortreten, um so mehr darf man vermuten, daß sie
einem einzelnen der drei Grundstämmen nahesteht und nicht
durch Vermischung der drei Grundstämme aufeinander in
höherem Grade und geistige Einwirkung „vermenschlicht“
worden ist.
Von diesen Gesichtspunkten aus betrachtet stehen die am
frühesten entstandenen Pygmäen- oder Zwergmenschen-Völker
noch auf der niedrigsten Stufe; sie erscheinen wie lebend
gebliebene Reste aus fernster Vergangenheit des Menschen-
geschlechts. Solche echte Pygmäen sind die heutigen Akka in
Zentralafrika, die kurzköpfigen Bewohner der Andamanen-Inseln,
die ursprünglichen Wedda auf Ceylon, und einzelne solche
Atta-Stämme auf den Philippinen. Trotz mancher gemeinsamer
Züge, namentlich was den zierlich-rundlichen und kindskopf-
artigen oder insgesamt den sogenannten „infantilen“ Schädel
betrifft, unterscheiden sie sich doch so sehr von einander, daß
M. Horst einem jeden der drei Grundstämme eine bestimmte
dieser Pygmäenarten zuteilt. (Vgl. Tafel III, Fig. 1.)
Neben den echten Pygmäen, bei denen die Körperlänge
der Erwachsenen 1,50 m nicht überschreitet, stehen die durch
Vermischung mit benachbarten großwüchsigen Rassen ent-
standenen, körpergrößeren Mischzwergstämme, wie die Busch-
männer Südafrikas (? Die Schriftl.), die Wedda vom Dekhan
Classen: Die mehrstämmige Ableitung des Menschengeschlechts usw. 381
Südindiens, die Senoi und Semang auf Malakka nebst ähn-
lichen Stämmen im Innern von einigen der Sundainseln, und
schließlich die Negritos oder langköpfigen zwerghaften Ur-
bewohner der Philippinen (? Die Schrift.) und benachbarter
Inselgruppen.
Eine weitere Unterstufe, die sich ebenso wie die Pygmäen
in jedem der drei Grundstämme nachweisen läßt, bilden die
Neger, die auch wohl wegen der vielen sich bei ihnen vor-
findenden pithekoiden Merkmale als fast unvermischt aus je
einem Grundstamm hervorgegangen anzusehen sein dürften.
Die eben erwähnten Völker aus sozusagen „ewiger Urzeit“,
die Neger sowohl wie die Pygmäen, haben ihre Heimat heut-
zutage ausschließlich in tropischen und subtropischen Ländern.
Daß sie ehemals auch in der gemäßigten Zone gelebt haben,
"beweisen die Funde prähistorischer Skelette von großen
Negroiden in verschiedenen Gegenden Europas und von zwerg-
haften Negern bei Mentone und in der Schweiz. Diese Funde
gehören jedoch durchweg der paläolitischen oder höchstens der
ältesten postglazialen Periode, dem sogenannten Magdal£nien, an.
Bis in die neolithische Zeit der geschliffenen Steingeräte haben
sich echte Pygmäen in Europa öfters wie besonders gut am
Dachsenbühl bei Schaffhausen (vgl. Tafel Ill, Abb. 2), Urzeit-
Negerreste aber überhaupt nicht erhalten. Diese Rassen
scheinen also, jede zu ihrer Zeit, hier zugewandert zu sein;
denn sie haben den umbildenden und fördernden Einfluß der
Eiszeiten Europas nicht an sich erfahren, bzw. sind ihm erlegen.
Anders diejenigen Rassen, welche die Grundlagen der
Kulturvölker bilden. Bei diesen haben die beiden Faktoren,
welche wir als entwicklungsfördernd erkannt haben, nämlich
Schwankungen des Klimas bis zur Vergletscherung und
Mischung verschiedener Rassen aus mehreren Grund-
stämmen, am intensivsten ihren Einfluß geltend gemacht.
Wenn wir die Bevölkerung an den ältesten Kulturzentren
auf ihre Abstammung untersuchen, so stoßen wir überall auf
eine ursprüngliche Hauptrasse, welche später von verschiedenen
Seiten her mehr oder weniger „fremde“ Rassenelemente in sich
aufgenommen hat. Sehr deutlich nachweisbar ist diese Rassen-
mischung im unteren Mesopotamien und im Nillande, und
zwar sind es sehr wahrscheinlich Rassen aus verschiedenen
Grundstämmen, welche dort aufeinandergestoßen sind; im
382 Classen: Die mehrstämmige Ableitung des Menschengeschlechts usw.
Zweistromland die Sumerier und die Elmaiten (beide
wahrscheinlich nördlicher, kaukasischer oder zirkassischer Her-
kunft) mit den einheimischen „semitischen“, voraussichtlich aus
Arabien stammenden Elementen; in Ägypten einheimische afri-
kanische „Hamiten“ mit der zugewanderten semitischen und
später der zirkassisch-gemischten, sogenannten armenoiden
Urbevölkerung Vorderasiens. Auch für Kreta darf eine ähnliche
Volksmischung vorausgesetzt werden, bei welcher jeweils der
europäische Grundstamm stark mitspielt.
Weniger bekannt sind uns bisher die Rassenverhältnisse
in der Urheimat der ostasiatischen, insbesondere der alt-
chinesischen Kultur, dem Tale des mittleren Yangtsekiang.
Nach den Zahnfunden von Schansi liegt hier mongoloide
Urbevölkerung vor; jedoch ist sowohl bei den Ainos, wie bei
einzelnen sibirischen Polarvölkern Rassenverwandtschaft mit”
ureuropäischen Stämmen erkennbar.
Schließlich wollen wir untersuchen, wie weit sich die
polygenetische Theorie auch auf die gesamten Sprachen der
Menschheit anwenden läßt, denn mit der mehrfachen Mensch-
werdung muß auch die Sprache mehrmals entstanden sein.
In der Tat lassen sich nach Hommel die sämtlichen
Sprachen der Erde nach dem Prinzip, nach welchem sie Be-
griffe aneinanderreihen und die Glieder des Satzes zusammen-
zufügen, in zwei Gruppen einteilen, eine nördliche und eine
südliche; jene die europäischen und die meisten asiatischen
Sprachen, nebst den Sprachen der Australier; diese die meisten
afrikanischen Sprachen, das Semitische und die indonesisch-
polynesischen Sprachen umfassend. Hierbei fällt auf, daß das
Australische zum nördlichen Sprachstamm gehört, was uns daran
erinnert, daß die Australier im Skelett Ähnlichkeiten mit den
langköpfigen prähistorischen Rassen Europas aufweisen.
Die nördliche Sprachengruppe läßt sich wieder in zwei
Gruppen trennen, die indogermanischen Sprachen nebst
dem Baskischen und den Kaukasussprachen (auch dem alten
Sumerischen) auf der einen, die große Familie der mongo-
lischen Sprachen von Finnland bis Japan nebst den nord-
sibirischen Sprachen auf der anderen Seite. Der Unterschied
besteht darin, daß bei den asiatischen Sprachen die Stellung
der Wörter im Satz durch die grammatische Wortklasse be-
stimmt wird (z. B. muß das Verbum stets den Schluß des
Classen: Die mehrstämmige Ableitung des Menschengeschlechts usw. 383
Satzes bilden), daß bei den europäischen Sprachen dagegen
mehr oder weniger freie Wortstellung herrscht.
Wenn auch einige Sprachen übrig sind, die sich nicht
unmittelbar in einen dieser drei Hauptgruppen einreihen lassen,
wie die indischen Drawidasprachen und einige der kaukasischen
Sprachen, so darf man doch im Großen und Ganzen an der
Dreiteilung festhalten. Also gewinnen wir auch von dieser
Seite eine Bestätigung der dreiteiligen Abstammung des Menschen-
geschlechts, denn die drei Grundstämme der Sprachen lassen
sich unter Berücksichtigung der Möglichkeit sprachlicher Ver-
schiebungen von einem Volk zum anderen unschwer mit den
drei bekannten Grundstämmen der Rassen in Beziehung bringen.
Dies sind nur eine Reihe vereinzelter Tatsachen, auf denen
die polygenetische Theorie fußt; aber man sieht diese sich jedes
Jahr durch neue Funde vermehren. Eine weitere wichtige,
vielleicht entscheidende Aufhellung des Problems von der Ab-
stammung des Menschen ist offenbar von der um 1900 durch
Physiologie-Professor Friedenthal in Berlin entdeckten bio-
logischen Blutserum-Reaktion zu erwarten. Nach seinen
Versuchen und besonders nach des englischen Biologen Nuttall
noch umfassenderen Untersuchungen (vom Jahre 1914) steht
es fest, daß die Menschen den anthropoiden Affen aufs nächste
„blutsverwandt“ sind, und daß diese Verwandtschaft sogar
noch enger ist, als diejenige der verschiedenen Menschen-
Grundstämme unter sich, und gleichfalls viel enger, als die-
jenige mit den verschiedenen Affengeschlechtern. Von weiteren
Untersuchungen dieser Art werden demnach noch höchst inter-
essante und wertvolle Resultate zu erwarten sein. —
_ GEH. RAT FRITSCH ZUR REFORM DER EHE.
E: war am Begrüßungstag der ersten Internationalen Tagung
für Sexualreform auf sexualwissenschaftlicher Grundlage, *)
da bemerkte ich unter den Teilnehmern den Nestor der deut-
schen Anthropologen, Geheimrat Fritsch, noch immer, wie
seit jeher, allen durch sein patriarchalisches vornehmes Aus-
sehen auffallend. Es war sicherlich kein Leichtes für ihn, von
Großlichterfelde zu später Abendstunde hereinzukommen, um
mit gespannter Aufmerksamkeit den zahlreichen Rednern zu
lauschen, umsomehr, als er vor kurzem im Dienste der Wissen-
schaft durch eine Explosion schwer verletzt worden ist. Nach
kurzer Unterhaltung erzählte er mir, wie gerne er als Referent
beim Kongreß aufgetreten wäre, um eine Reform der Ehe zu
vertreten, die ihn seit langen Jahren beschäftigt habe, aber
seines vorgeschrittenen Alters halber doch darauf verzichten
wolle. Er stellte sie mir nun für unsere Zeitschrift zur Ver-
fügung. Mit großer Freude sagte ich die Aufnahme zu und
pünktlich brachte er das Manuskript am andern Morgen.
Wie so manche Wissenschaften, so hat gerade auch die
unsrige Geheimrat Fritsch besonders viel zu danken. Er war
es, der gleichsam die Brücke schlug zwischen der streng
wissenschaftlichen anthropologischen Erforschung des mensch-
lichen Körpers und seiner Darstellung in der Kunst (Unsere
Körperformen“ Berlin 1893 und „Die Gestalt der Menschen
für Künstler und Anthropologen“ Stuttgart 1899) und so die
Bahn freimachen half für die weltbekannten Werke von Stratz.
Er war es aber auch, der durch sein Werk „Rassenunter-
schiede der menschlichen Kopfhaut“ 1906—12 hauptsächlich
*) Über die in jeder Hinsicht hochwichtige Tagung, bei der sich
auf deutschem Boden zum ersten Male seit dem kulturvernichtenden
Weltkriege fast alle Kulturvölker der Erde — es fehlten von großen
Nationen eigentlich nur Spanien und — das offizielle Deutschland (!!)
die Hände reichten, über die in der deutschen Presse geradezu minder-
wertig berichtet wurde, werden wir unseren Lesern in den nächsten
Heften ausführlich Bericht erstatten. Da diese Hefte späterhin sehr ge-
sucht sein werden, bitten wir Interessenten, schon jetzt auf den Jahr-
gang XI zu abonnieren.
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v. Reitzenstein: Geh. Rat Fritsch zur Reform der Ehe 385
eine Rasseneinteilung begründete, die in Zukunft mehr und
mehr Anhänger finden dürfte.
So mag es unsere Leser sicherlich interessieren, zunächst
einiges Nähere über ihn zu erfahren, um seine Vorschläge
zur Ehereform um so besser zu bewerten. Die Sexualwissen-
schaft stattet ihm zugleich damit einen kleinen Teil des
Dankes ab, den sie ihm, als einen ihrer ersten Vorkämpfer
schuldet.
Gustav Fritsch wurde 5. März 1838 als Sohn eines
Baurates und Enkel (mütterlicherseits) von Geheimrat Kramsta,
dem Begründer der schlesischen Leinenindustrie, zu Cottbus
geboren. In den Jahren 1857—1862 studierte er an den
Universitäten Berlin, Breslau und Heidelberg zuerst Natur-
wissenschaften und dann Medizin. Sehr bald machte sich bei
ihm ein Scharfblick geltend, der für sein Leben entscheidend
werden sollte und der ebenso wertvoll für die gesamten
Naturwissenschaften wurde, nämlich die Erkenntnis der
Bedeutung von Mikroskop und photographischer
Kamera für die exakten Wissenschaften. Er wurde
so zu einer Autorität dieser Gebiete. Gleich nach Abschluß
seiner Studien ging er nach Südafrika, wo er in bahn-
brechender Weise von Kapstadt aus das englische Gebiet,
den Oranje-Freistaat, Natal und die Betschuanenländer durch-
forschte und bis zum 22. südlichen Breitegrad nach Norden
vordrang. (1863—66.) Vor allem Kaffern, Betschuanen, Busch-
männer und Hottentotten wurden einer für alle Zeiten wert-
vollen Erforschung unterzogen. Nach seiner Rückkehr wurde
er 1867 zum Assistenten am anatomischen Institut der Uni-
versität ernannt und schon 1868 eben wegen seiner oben an-
gedeuteten durch seine Expedition bewiesenen photographischen
Fähigkeiten als Leiter der Expedition zur Beobachtung der
Sonnenfinsternis nach Aden in Arabien geschickt. Nach
Erledigung dieser Aufgabe blieb er in Oberägypten bei der
preußischen Expedition, die unter dem Ägyptologen Dümichen
die altägyptischen Denkmäler aufnahm. Bald darauf erschien
sein erstes Werk über Südafrika (Drei Jahre in Südafrika,
Breslau 1868). 1869 nach Berlin zurückgekehrt, habilitierte
er sich an der dortigen Universität und begann mit Hitzig
seine überaus wertvollen Arbeiten über Lokalisationen der
Großhirnrinde, die er in dem 1870 erschienenen Werke
386 v. Reitzenstein: Geh. Rat Fritsch zur Reform der Ehe
„Die elektrische Erregbarkeit der Großhirnrinde“ niederlegte.
1873 erfolgte die Publikation einer weiteren hochwichtigen
Arbeit über das stereoskopische Sehen im Mikroskop
und das Jahr 1874 brachte ihm die Ernennung zum außer-
ordentlichen Professor. Im gleichen Jahre wurde er zur Be-
obachtung des Venusdurchganges nach Ispahan in
Persien geschickt. Auf der Rückreise verweilte er in Klein-
asien zu zoologischen Zwecken, Seine Erfolge in der
mikroskopischen Technik brachten dann seine Ernennung zum
Vorstand der histologischen Abteilung des physiologischen
Instituts. Die nächsten Jahre widmete er dem Studium des
Fischgehirnes und legte die Resultate in dem 1878 er-
schienenen Werk „Untersuchungen über den femininen Bau
des Fischgehirns nieder. Dies veranlaßte die Akademie der
Wissenschaften, ihn 1881—82 zum Studium der elektrischen
Fische nach Ägypten und dem östlichen Mittelmeer zu
schicken, eine Forschungsreise, die ein zweibändiges, 1886— 1890
erschienenes Werk krönte. 1893 wurde Fritsch zum Geheimen
Medizinalrat ernannt, ging 1894 und 1899 wieder nach
Ägypten zu Studienzwecken und wurde im gleichen Jahr
ordentlicher Honorarprofessor der Berliner Universität. In den
Jahren 1904 und 1905 sehen wir den nun bereits 67 jährigen
Gelehrten im Auftrage der Regierung eine Weltreise unter-
nehmen, deren Zweck Untersuchungen über das mensch-
liche Auge waren; wobei er besonderes Augenmerk auf die
Eingeborenen Australiens, der Sundainseln und der Insel
Ceylon richtete. Wieder schloß eine 1906 erschienene Publi-
kation „Vergleichende Untersuchungen menschlicher Augen“
die Resultate zusammen. Die nun folgenden Jahre füllten
einen Teil der eingangs erwähnten Arbeiten aus, durch die
Fritsch unserem Arbeitsgebiete näher getreten ist und das
ganz zu betreten ihn der Kongreß veranlaßte, der den Viel-
seitigen, wie so viele Dinge in früheren Jahrzehnten, sofort
zum selbständigen Mitarbeiten anregte.
Ferd. Frhr. v. Reitzenstein.
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$
Hören wir, was der nun 83jährige Gelehrte, der so
viel von der Welt gesehen, so viele Völker beobachtet hat, zu
dieser so wichtigen Frage äußert.
v. Reitzenstein: Geh. Rat Fritsch zur Reform der Ehe 387
Vorschläge zu einer Erweiterung der Ehegesetze.
Von Geh. Med.-Rat Prof. Dr. GUSTAV FRITSCH, Berlin.
Zur Reform der Ehe.
Zahlreiche literarische Veröffentlichungen in den letzten
Jahren haben eine Reform der Ehe wünschenswert erscheinen
lassen, ohne daß die Lösung des Problems wesentlich dadurch
gefördert worden wäre. Auch der augenblicklich tagende
Kongreß für Sexualreform wird sich in mehreren Vorträgen
mit der Ehe und Ehegesetzen beschäftigen, aber auch diese
fassen eine Ehereform nicht direkt ins Auge.
Es erscheint . ersichtlich, daß diese Reform nicht ohne
gewisse Abänderungen der Gesetzgebung durchführbar ist.
Der Gedanke einer solchen soll im Nachstehenden dar-
gelegt werden. Wenn man auch nicht auf Annahme der Vor-
schläge in absehbarer Zeit rechnen kann, so schien es doch
wünschenswert, den dabei leitenden Gedanken der Öffentlich-
keit zu objektiver Erwägung zu unterbreiten.
$ 1. Ist die Ehefrau durch irgend welche Umstände
verhindert, ihren ehelichen Pflichten und den Anforde-
rungen des Haushaltes zu genügen, so ist zur Beseitigung
der dadurch entstehenden Übelstände die Einführung einer
Nebenfrau zulässig.
$ 2. Die Erklärung dieser Zulässigkeit erfolgt auf den
sachlich zu begründenden Antrag des Ehemannes durch das
Standesamt,
§ 3. Die Zustimmung zu diesem Vorgehen von Seiten
der Ehefrau wird, da es in ihrem eigenen Interesse geschieht,
im allgemeinen vorausgesetzt. Verweigert die Ehefrau
ihre Zustimmung, so kann dieselbe zwangsweise durch das
Standesamt gegeben werden, wenn es die für das Vorgehen
beigebrachten Gründe als genügend erachtet.
8 4. Die Nebenfrau ist als ein Mitglied der Familie
zu erachten und zu behandeln, sie ist aber der großen Frau
untergeordnet und hat deren Befehlen zu gehorchen.
8 5. Der Ehemann hat der Nebenfrau die einer Frau
zukommenden Subsistenzmittel zu gewähren.
8 6. Werden von der Nebenfrau dem Manne Kinder
geboren, so sind dieselben berechtigt, den Namen ihres
388 v. Reitzenstein: Geh. Rat Fritsch zur Reform der Ehe
Vaters zu führen und werden wie die Kinder der großen
Frau erzogen.
8 7. Die Erbansprüche, welche die Kinder der Neben-
frau haben sollen, sind in dem beim Eingehen des Verhält-
nisses aufzusetzenden notariellen Vertrag festzusetzen.
8 8. In diesem Vertrage ist auch eine Abfindung für
die Nebenfrau zu bestimmen, falls sich eine Scheidung wegen
dauernder Unverträglichkeit oder aus anderen Gründen not-
wendig erweisen sollte und keine nachweisbare Schuld der
Nebenfrau vorliegt.
8 9. Im Falle einer Scheidung findet über den Verbleib
der Kinder eine Verständigung statt wie bei jeder anderen
Scheidung nach Bedarf unter Anrufung der richterlichen Ent-
scheidung.
§ 10. Die Frau der anderen Partei wird im häuslichen
Verkehr als „Tante“, ihre Kinder als „Stiefkinder“ bezw.
„Stiefgeschwister“ geführt.
Ersichtliche ethische Vorteile der Neuerung:
1. Entlastung der Frau vom Übermaße der ehelichen
und häuslichen Pflichten, wodurch ihre körperliche und geistige
Frische erhöht und vorzeitiges Altern vermieden wird. Da
die Gründe, welche die Zulässigkeit einer Nebenfrau ergeben,
gleichzeitig Gründe einer gesetzlichen Ehescheidung sind, so
wird die Mehrzahl der Frauen sicherlich lieber dem Eintreten
einer Nebenfrau zustimmen, als durch ihren Widerspruch den
Ehemann zur Scheidung drängen.
2. Der zeugungsfähige Mann, welcher dadurch seine ge-
schlechtlichen Bedürfnisse zu Hause befriedigen kann, wird
nicht Zeit, Geld und Zeugungskräfte vergeuden und als
Schürzenjäger sich unnütz machen, in den Hurenhäusern sich
vielleicht ansteckende Krankheiten holen. Die vielgeschmähte
„öffentliche Moral“ hätte den Gewinn davon.
3. Tausende von jungen Mädchen, welche die Not un-
vermeidlich in die Arme der Prostitution treibt, würden
mit Freuden als Nebenfrau den Anschluß an eine Familie und
die gesicherte Existenz annehmen und der Prostitution den
Rücken kehren, und brauchen nicht zu fürchten, als alte
Jungfern ein freudloses Dasein zu führen.
4. Die Verminderung der freien Liebe wird auch natur-
v. Reitzenstein: Geh. Rat Fritsch zur Reform der Ehe 389
gemäß eine Verminderung der unehelichen Kinder be-
wirken; anderseits steht durch die Erweiterung der Kon-
zeptionsmöglichkeit durch die Nebenfrau eine erhebliche Volks-
vermehrung zu erwarten. y
Da die Zulässigkeit einer Nebenfrau nur zutage tretende
Übelstände beseitigen soll, so wird dadurch die allgemein
gültige, das Fundament unseres Staatslebens, die monogame
Ehe in keiner Weise beeinträchtigt.
* *
+
Vergleicht man die Vorschläge über Reform der Ehe, so
muß man sagen, daß dieser Vorschlag einer der beachtens-
wertesten ist, die gemacht wurden. Gewiß wird er viel
Widerspruch erfahren; zunächst von denen, die nicht
sehen, welche Gefahren in der heutigen Ehe liegen und nicht
wissen mit welchen z. T. gemeinen Mitteln die heutige Ehe-
ordnung Abhilfe schaff. Dann von denen, die nicht sehen
wollen, die der Moralheuchelei zuliebe es vorziehen, nach
innen die größte Unmoral zu dulden, wenn nur nach außen
die heute übliche Form gewahrt bleibt; dann aber sicherlich
auch bei jener Gruppe von Frauenrechtlerinnen, die immer
mit einem oft komischen Eigensinn das in seinem Wesen
ebenso richtige, als in seiner Verwendung ebenso unsinnige
Schlagwort von der „doppelten Moral“ benutzen. Die
doppelte Moral ist dem Weibe nicht vom Manne auf-
gezwungen, sondern von der „Ehe“. Sie ist auch im Tier-
reiche überall vorhanden, wo „eheähnliche“ Zustände bestehen.
Wenn der Mann — aus irgendwelchen Gründen — seiner natür-
lichen aktiven Veranlagung außerhalb der Ehe folgt, so schädigt
er die Ehe erst, wenn er sie finanziell bedroht oder wenn
er die Gattin in den Pflichten zu ihr, wenn er Gattin und
Kinder in Ehre und Stellung zurücksetzt. Wenn die Gattin
dagegen dem aktiven Triebe anderer Männer nachgibt, schädigt
sie die Ehe immer, weil sie jedesmal mit der Möglichkeit
rechnen muß, ihre Fundamente, den Familienbegriff, die
stammesechten Kinder und das finanzielle Gleichgewicht zu
stören. Das Kind des Fremden kann unmöglich dem Manne
überantwortet werden. Mit Eingehen der Ehe verzichtet das
Weib auf das Recht, Kinder von andern zu empfangen, weil
sie sich in die Fürsorgepflicht des Gatten begibt und
den Schutz der Familie für ihre Kinder erkauft, während der
390 v. Reitzenstein: Geh. Rat Fritsch zur Reform der Ehe
Gatte beim Eingehen der Ehe, wohl nie die Fürsorgepflicht
für die Kinder anderer in der Ehe übernimmt. Will das Weib
das „freie Weib“ bleiben, darf sie die Ehe, das Institut des
allerdings „unfreien“ Weibes nicht eingehen. Die sogenannte
„freie Ehe“ ist keine Lösung, sie ist, da sie bei einer
Trennung dem Manne „Alimentation“ auferlegt, nichts anderes
als eine mildere Prostitution. Will man aber die Ehe nicht,
dann gibt es nur als einzigen Ausweg die freie Liebe und
zwar jene Form derselben, bei der auch das Weib frei ist.
Da aber dann die Vaterschaft keine Rechte hat, kann
sie auch keine Pflichten haben. Entweder muß dann das
Weib für seine Kinder selbst sorgen, oder der Staat muß es
tun. Damit haben wir aber eine Lösung der Fundamental-
grundsätze unseres heutigen Staatswesens und diese Lösung
könnte nur der Kommunismus bringen. Es ist nun aber die
Frage, ob man den Kommunismus für geeignet hält, der Träger
unserer Kultur sein zu können. Die Frage wächst damit über
die heutige Welt hinaus, denn so wenig ein einzelnes Land
die Frage des Weltfriedens lösen kann, so wenig kann es die
Frage der Weltwirtschaft lösen. Derjenige aber, der es ohne
die andern tut, wird immer deren Sklave werden, denn der
Trieb zum Herrschen wird im Kampfe ums Dasein immer
stärker sein, als der Trieb zum Teilen. So bleibt also die
Frage des Kommunismus vorerst Zukunftsmusik und damit
auch die Frage des ungebundenen Verkehrs ohne Familien-
begriff, der allein die doppelte Moral beseitigen könnte.
Sicherlich kann sie das Einzelweib für sich lösen, wenn es
keine Ehe eingeht und die Fürsorge für ihre Kinder selbst trägt.
Sehen wir also von dem Boden extrem frauenrechtlicher
Utopien ab, bleiben wir auf dem Boden der Einehe be-
stehen, die nach wie vor die edelste Form der Ehe ist,
dann verdient ohne jeden Zweifel der Fritsch’sche Vorschlag
ganz besondere Beachtung, denn in vielen Fällen wird er nicht
dem Manne allein nützen, sondern ganz besonders auch der
Frau, wenn ihr, bei sonst glücklicher Ehe, die geschlecht-
liche Annäherung des Mannes ein Martyrium ist, das
sie als wahrhaft liebende Gattin heute ertragen muß, nicht aus
äußerem Zwang, sondern aus innerem Pflichtgefühl, aus dem
der Liebe, jener Liebe, die sich selbst opfert, die aber zur
edelsten Freundschaft emporblühen könnte, wenn das, was zur
Schlacke geworden ist, abgelöst wird. Frhr.v. Reitzenstein.
Eckstein: Bevölkerungspolitik und Eherechtsreform 391
BEVÖLKERUNGSPOLITIK UND EHERECHTS-
REFORM.
Von Rechtsanwalt Dr. ERNST ECKSTEIN, Berlin.
wei bis drei Millionen mehr ledige Frauen als Männer in
Deutschland; auf 1000 heiratsfähige Männer 1155 Frauen
(vgl. Vorwärts 10. 4. 19.), welche Aufgabe stellt diese Tatsache
der Gesellschaft?
Die Aufgabe selbst ist nicht neu. Auch vor dem Kriege
war der Frauenüberschuß schon ein beträchtlicher, auf 100 hei-
ratsfähige Männer kamen wohl 105 Frauen. Von den verhei-
rateten Männern starben durch die Gefahren ihres Berufslebens
mehr Männer als Frauen, so daß der Frauenüberschuß durch die
Zahl der heiratsfähigen Witwen noch vergrößert wurde. Dazu
kamen die zahlreichen Männer, die wegen der Schwere des
Kampfes ums Dasein nicht heiraten konnten oder wollten, ferner
die, die zur Ehe nicht veranlagt sind, denen nur wenige geborene
Jungfern gegenüberstanden. Es war also die Zahl der Frauen,
die gegen ihren Willen ihrer Bestimmung nicht zugeführt werden
konnten, schon beträchtlich. Trotzdem war die Gesellschaft und
die Gesetzgebung an dieser Erscheinung vorbeigegangen, und
die Forderungen, die von einigen Dichtern und einigen Sozial-
und Sexualethikern aufgestellt wurden, wurden von der Gesell-
schaft nicht als wichtig hingenommen. Die Millionen Frauen,
denen ihre Männer, ihre Bräutigame und späteren Bräutigame
weggeschossen oder durch den Krieg sonst heiratsunfähig ge-
macht sind, dazu die bevorstehende Verelendung, die vielleicht
weitere Millionen Männer von einer Heirat, wenigstens von
einer frühzeitigen Heirat abhalten wird: das sind Zahlen die
wohl jedem die Augen Öffnen müssen.
Ich betrachte es als einen schweren Fehler, daß man sich
schon bisher diesen Fragen so gleichgiltig gegenüber verhalten
hat. Betrachten wir es doch einmal ganz menschlich, unab-
hängig von aller Moral. Das Weib hat die Bestimmung, Kinder
zu haben und der Geschlechtstrieb ist etwas Natürliches und
verlangt nach Befriedigung. Mag es sein, daß die Enthaltsam-
keit ohne gesundheitliche Nachteile ist,*) es ist und bleibt etwas
Furchtbares für eine Frau, den Trieb zur Nachkommenschaft
*) Vgl. darüber Reitzenstein „Liebe und Sitte“ 1921 (Verlag „Das
Wissen dem Volke“), wo gezeigt wird, daß diese Annahme nicht stimmt.
392 Eckstein: Bevölkerungspolitik und Eherechtsreform
zu haben und unbefriedigt bleiben zu müssen, weil es an Männern
fehlt, die heiraten wollen. Gewiß gäbe es genug Naturen, die
gezügelt genug wären, sich der Anschauung unserer Gesellschaft
zu fügen und ihr Martyrium auf sich zu nehmen und es ist
begreiflich, daß man bisher sich damit abgefunden hat, um
unsere gesellschaftlichen Anschauungen unberührt zu lassen,
weil es sich doch immer nur um einen geringen Bruchteil ge-
handelt hat. Auf diesem Wege darf es nicht weiter gehen, weil
es sich jetzt um Millionen handelt. Die Frau hat ein Recht,
ihrer Bestimmung zu dienen und die Gesellschaft eine Pflicht
zu helfen, und wenn es nicht anders ist, dann müssen eben
unsere bisherigen Anschauungen aufgehoben werden. Wie war
es denn bisher? Haben wirklich die vielen Unverheirateten und
früh Verwitweten sich mit ihrem Los abgefunden? Man wird
keine zahlenmäßige Schätzung abgeben können, aber gering an
Zahl sind diejenigen nicht gewesen, die ihrem Geschlechtstrieb
nachgegeben haben. Die Natur ist eben stärker als die Sitte.
Dieser Einsicht dürfen wir uns nicht verschließen.
Auch bei den durch Krieg zur Ehelosigkeit verurteilten
Millionen Frauen wird es nicht anders sein. Der Geschlechts-
verkehr läßt sich nicht unterdrücken, die gesellschaftliche Miß-
billigung hat nur zur Folge, daß er sich heimlich abspielt, zur
Anwendung von empfängnisverhütenden Mitteln, wenn nicht zur
Abtreibung führt, und daß die unehelich geborenen Kinder, mag
die Gesetzgebung sich ihrer auch noch so sehr annehmen, doch
unerwünscht sind, nicht weil sie da sind — in dieser Beziehung
ist das Muttergefühl viel zu stark — sondern weil sie nicht da
sein dürfen, und die Folge ist Vernachlässigung und Degeneration
und eine erschreckende Sterblichkeit.
Bisher hat man sich in dieser Beziehung so gut wie un-
tätig verhalten, man hatte ja eher zu viel als zu wenig Menschen.
Jetzt ist es anders. Mit allen Mitteln muß aber aus bevölkerungs-
politischen Gründen die Zahl der Geburten erhöht*) und die
Sterblichkeit der Geborenen vermindert werden, umsomehr als
mit der bevorstehenden Verelendung in zahllosen Familien die
Kinderzahl beschränkt werden wird. Von diesem Gesichtspunkt
aus tritt die Bedeutung der Tatsache erst so recht augenfällig
in die Erscheinung, daß wir in Millionen Frauen fruchtbares
Ackerland haben und das Land nicht bestellen, weil unsere ge-
=) Wir teilen diesen Standpunkt nicht. Die Schriftl.
in
Tafel II
ER
p
+
~
Negerknabe (gorilloid) mit jungem Schimpansen (am rechten Arm)
und jungem Orangutan (am linken Arm).
Tafel II
Fig. 1. Zwergneger aus Mwera (Ostafrika). Fig. 2. Skelette
Zwergmenschen vom Dachsenbühl (Körperhöhe 1,37 m).
der
Eckstein: Bevölkerungspolitik und Eherechtsreform 393
sellschaftliche Moral uns hindert. Für den Bevölkerungspoli-
tiker — und das zu sein gebietet die Pflicht jetzt jedermann —
bedeutet das eine furchtbare Anklage genau so wie für den
Wirtschaftspolitiker die Tatsache, daß etwa tausende von
Ziegeleien oder Fabriken stillstehen oder Millionen von Hektar
Getreideboden unbeackert bleiben.
Die gesellschaftliche und die rechtliche Mißbilligung der
unehelichen Mütter muß fallen! Die Forderung mag für
manchen ungeheuerlich klingen, sie ist es entfernt nicht so, wie
es einem im ersten Augenblick scheinen mag. Bisher wurde
nicht nur die uneheliche Geburt mißbilligt, sondern auch der
uneheliche Geschlechtsverkehr. Und mit welchem Erfolge! Das
Leben ging seinen eigenen Gang und wir lebten in einem un-
würdigen Zustand von Heuchelei. In den Kreisen der Männer
galt allgemein die „Herrenmoral“ und in den Kreisen der Frauen
— wenigstens in großem Umfange — wurde der Geschlechts-
verkehr für nicht weniger als selbstverständlich gehalten. Ich
will diesen Zustand durchaus nicht gut heißen, stehe aber auf
dem Standpunkt, daß die Frage der sexuellen Moral nicht eine
Frage der Gesellschaft ist, sondern des Individuums. Jeder hat
es mit sich auszumachen, ob er Geschlechtsverkehr pflegen will
oder nicht, verwerflich ist nur das Handeln gegen seine eigenen
Grundsätze. Ob insbesondere sich der Ehemann, der außer-
ehelich verkehrt, des Treubruchs schuldig macht (hier im ethischen
Sinne genommen), das ist eine Sache, die nur Ehegatten an-
geht; für den einen Ehegatten ist es gemein, für den anderen
nicht, durchaus gemein ist nur die Hintergehung des Gatten.
Ich trete durchaus für unsere bisherige Ehemoral ein, daß die
Ehegatten einen Anspruch auf eheliche Treue haben, wo sie
aber auf diesen Anspruch verzichten und wo sonstige Umstände
die Pflicht zur Treue aufheben oder hemmen, da soll nicht der
Gesetzgeber mit einer Scheinmoral kommen, die dem Leben
nicht mehr entspricht. Darum habe ich auch in einer Arbeit
über Eherechtsreform, den Vorschlag gemacht, die Ehescheidung
nicht schlechthin wegen Ehebruchs vorzusehen sondern nur
einen Scheidungsgrund gesetzlich zu normieren: die schuldhafte
Zerrüttung der Ehe insbesondere durch Ehebruch, böslichen
Verlasses, ehewidrigen Verhalten und die nicht schuldhafte Zer-
rüttung durch Geisteskrankheit. Damit soll dem Richter Spiel-
raum gegeben werden, die besonderen Verhältnisse jeder Ehe
26
394 Eckstein: Bevölkerungspolitik und Eherechtsreform
zu prüfen und zu berücksichtigen. Nicht der Geschlechtsverkehr
ist Gegenstand der sittlichen Beurteilung, sondern die Hinter-
gehung eines Dritten, der Frau, der Braut oder der zukünftigen
Braut oder das Handeln gegen eigne Grundsätze auf dem Ge-
biet der sexuellen Moral.
Den zahllosen Frauen, die ihrer Bestimmung zugeführt
werden sollen und dem Lande so den Geburtenausfall wieder
aufbringen wollen, muß geholfen werden. Das kann geschehen,
durch eine Legalisierung des Geschlechtsverkehrs und das
bedeutet nichts weiteres als offene Anerkennung dessen, was
auch bisher schon unoffen anerkannt war. Es soll im wahrsten
Sinne wieder das Recht der Frau werden, Kinder zu haben.
Ich bin durchaus nicht dafür zu haben, etwa der all-
gemeinen Zügellosigkeit das Wort zu reden. Die Ehefrau, die
während der Abwesenheit ihres Mannes sich einen Liebhaber
hält oder das junge Mädchen, das sich vom ersten besten Mann
verführen läßt, steht keinesfalls auf der Höhe der Kultur. Darum
ist ein Ausbau der Gesetzgebung über den Schutz und die
Fürsorge der unehelichen Mütter und Kinder hinaus nicht der Weg,
der in dieser Beziehung weiter führt. Mag es manche Naturen
geben, die polygam veranlagt sind und die auch in dieser Be-
ziehung vielleicht anders und mit einem anderen als dem sitt-
lichen Maßstab zu messen sind, den monogamen Gedanken
möchte ich nicht preisgeben. Und wenn nach einem Bericht
in der Deutschen Strafrechtszeitung in einem russischen Gou-
vernement es eingeführt ist, daß jedes geschlechtsreife Mädchen
— man verzeihe den Ausdruck, aber er allein trifft hier das
richtige — unter staatlicher Unterstützung gedeckt werden soll
und daß jeder Rotgardist das Recht des Geschlechtsverkehrs
unbeschränkt und unentgeltlich, jeder Arbeiter es in verhältnis-
mäßig weiten Grenzen zu geringem Entgelt, jeder Bourgeois
aber nur alle zwei Wochen einmal und gegen Bezahlung von
100 Rubeln haben soll, so bedeutet das nur eine völlige Korrup-
tion unserer Gesellschaftsmoral; und auch die von manchen
Rassenbiologen vertretenen „Gestütsgedanken“ sind nicht gerade
mein Ideal. Der monogame Gedanke ist in unserer Kultur-
anschauung fest eingewurzelt und seine grundsätzliche Preisgabe
kann zu recht unerwünschten Folgen führen. Es ist auch nicht
nötig, daß jedes Mädchen im geschlechtsreifen Alter mit dem
Kindergebären beginnen soll, wohl aber soll ein Mädchen
Eckstein: Bevölkerungspolitik und Eherechtsreform 395
oder eine Witwe, die auf keine neue Verheiratung mehr
rechnet, also keinem zukünftigen Manne die Treue bricht,
das Recht haben, Frau zu werden, wenn es nicht Ehefrau
werden kann.
Es macht sich hier und da wieder der Gedanke geltend,
ähnlich wie es vorübergehend nach dem dreißigjährigen Kriege
geschehen ist, die Doppelehe einzuführen. Ich halte den Ge-
danken nicht für gut. Abgesehen davon, daß nur wenige Männer
in der Lage sind, zwei Frauen mit ihren Kindern auszuhalten
und zwei Haushalte führen zu lassen — denn ein gemeinsamer
Haushalt wird wohl von keinem als allgemein möglich angesehen
werden — so bedeutet es doch für die Ehefrau im allgemeinen
eine Zumutung sondergleichen, ihren Ehemann grundsätzlich mit
einer anderen Frau teilen zu müssen. Eifersucht und Intrigue
werden unvermeidlich sein und das Verlangen der Ehefrau nach
Freiheit auch ihrerseits und eine allgemeine Zerrüttung unserer
ehelichen Moral, Vernachlässigung der Erziehung der Kinder,
schlechter Einfluß auf sie usw. sind die weitere Folge.
Gerade der entgegengesetzte Weg scheint mir der gang-
barste zu sein. Statt der Ehe mit mehreren Personen die Ehe
ohne Mann. Man sollte jeder Frau entweder von einem gewissen.
Alter an oder auf Grund einer von ihr abgegebenen Öffentlichen
Erklärung die Stellung einer Ehefrau geben. Ihre Kinder sind
ehelich, sie ist Träger der elterlichen Gewalt, die für solche
Verhältnisse jedenfalls unwürdige Nachforschung nach dem
Erzeuger ist verboten. Im übrigen denke ich mir die Stellung
dieser Frau genau so wie heute etwa die der Witwe, die auch
mit ihren Kindern die Familie allein fortsetzt. Es ließe sich
erwägen, ob man auch die Legitimation früherer unehelicher
Kinder zulassen will, was durchaus dem Gebot der Fürsorge
für sie entspräche. Die Umgestaltung der gesellschaftlichen
Moral kommt von selbst, wenn erst einmal dieser gesetzlich
gebilligte und gewünschte Weg von einer Reihe von Frauen
auch der besseren Stände beschritten sein wird.
Man wird einwenden: wer soll für diese Kinder sorgen,
wenn kein Vater vorhanden ist? So gestellt ist die Frage
ungerechtfertigt. Wer sorgt für die Kinder der Witwe, wenn
der Vater kein Vermögen hinterlassen hat? Grundsatz ist, daß
die Frau nicht nur die elterlichen Rechte sondern auch die
elterlichen Pflichten hat. Es ist ihre Sache, für die Kinder zu
26*
396 Eckstein: Bevölkerungspolitik und Eherechtsreform
sorgen; daß das nicht immer und ganz möglich ist, liegt auf
der Hand: hier muß der Staat eingreifen und muß Kinder-
unterstützungen gewähren. Das alles ist nicht im geringsten
etwas neues und ungewöhnliches. Hat der Staat ein Interesse
an möglichst viel Geburten, dann muß er auch, wenn er die
Geburten unterstützt, in höherem Maße als bisher für die Kinder
einstehen, und er muß es in würdiger Weise und nicht in der
Form von Armenunterstützung. Es ist genau so wie bei den
bisherigen und zukünftigen unehelichen Kindern. Läßt sich der
Vater nicht ermitteln, oder zahlt er keine Alimente, dann liegt
die Last auch dem Staate ob, und für die Zukunft wird es in den
gewöhnlichen Fällen auch nicht wesentlich anders sein. Will der
Staat Bevölkerungspolitik treiben, und muß er damit rechnen,
daß es dem vermögenslosen Arbeiter nicht möglich ist, eine
größere Familie zu ernähren, dann muß eben der Staat helfend
eingreifen. Man komme nicht mit dem Einwand, daß die Lasten
zu groß wären. Wenn sie es wären und der Staat nicht helfen
kann, dann kann er eben auch nicht Bevölkerungspolitik treiben
und dann ist der zahlenmäßige Rückgang der Bevölkerung un-
ausbleiblich. Im übrigen ist schon jetzt von Sozialpolitikern
mancher beachtenswerte Vorschlag gemacht und teilweise ver-
wirklicht; Mutterschaftsversicherung usw.
Der unendliche Vorteil meiner Vorschläge aber ist: den
vielen unverheirateten Frauen ist nicht nur in ihren menschlichen
Rechten geholfen, der Staat hat kein fruchtbares Land brachzu-
liegen und vor allem: Das Heer der degenerierten unehelichen
Kinder von heute wird im wesentlichen ersetzt werden durch
uneheliche Kinder, die ohne gesellschaftliche und gesetzliche
Verwerfung aufwachsen; die Mütter haben selbst ein Interesse
nicht an ihrem Eingehen sondern an ihrem Gedeihen.
Kammerer: Die Geschlechter 397
DIE GESCHLECHTER.
Von Univ.-Prof. Dr. PAUL KAMMERER, Wien.
„Mann ohne Weib, Haupt ohne Leib,
Weib ohne Mann, Leib ohne Haupt daran.“
(Deutsches Sprichwort.)
ie viele Geschlechter gibt es? Da wird jeder antworten:
Natürlich zwei, Männlein und Weiblein! Aber der Dichter
— in seinem Ahnungsdämmern dem klaren Licht des Denkers
allemal voraus — wußte schon, daß jene Zweiheit die tatsäch-
liche Mannigfaltigkeit nicht erschöpft: Wolzogens Roman „Das
dritte Geschlecht“ meint die Mannweiber, die Frauen mit männ-
lichen Berufen, männlichem Auftreten, männlichen Neigungen.
Und wer hätte nicht auch Weibmänner gesehen? Weininger,
der feine Psycholog, fand bald heraus, daß eigentlich jedes
Individuum eine Mischung ist aus Mann- und Weibcharakter,
nur in verschiedenem Mischungsverhältnis: die männlichsten
Männer, das sind nur solche mit verschwindend wenig Weib-
stoff; die weiblichsten Weiber — solche mit einem Minimum
Mannesstoff. So gibt es genau genommen wiederum nur ein
Geschlecht: den Zwitter; aber in diesem Rahmen eine unend-
liche Vielheit von Stufen. Am häufigsten sind ja zwei Typen:
vorwiegend weibliche Weiber, vorwiegend männliche Männer;
von da aus werden sie seltener nach entgegengesetzten Rich-
tungen, erstens bis zur (verhältnismäßig) ungemischten Männ-
lichkeit und Weiblichkeit, zweitens zum echten, mittenstehenden
Zwitter, zum richtigen geschlechtigen Halbblut, das aus Mann
und Weib zu gleichen Teilen gemengt ist und sich durch ein
Neben-, ja Ineinander männlicher und weiblicher Organe (ein-
schließlich sogar der Keimstöcke) auszeichnet.
Was der Dichter vorausahnte, der Denker ersann: das
bewies nachmals der Forscher. Worauf beruht es, wenn wir
ein Wesen im Aussehen und Gehaben als „Mann“, als „Weib“
empfinden, das Wesen selbst sich so empfindet und danach
handelt? Wird ihm vor der Reife durch Operation sein Keim-
stock genommen, so bleibt das Geschöpf gewissermaßen Kind,
nur in eigentümlich verzerrten Dimensionen, weil es ja weiter-
wächst und altert; es bleibt aber so bis zu dem Grade, daß
Entmannte und Entweibte in ihrer Sächlichkeit einander gleichen.
Wird solch geschlechtsios gemachtem Wesen ein Keimstock
zurückgegeben, durch dasselbe Verfahren der Pfropfung, das
398 Kammerer: Die Geschlechter
unsere Blumen und Obstbäume veredelt: so nimmt es alle
leibliche und geistige Eigenart des Geschlechtes an, die es
verloren oder nie erreicht hatte. Die Einpflanzung eines männ-
lichen Keimstockes (Hodens) macht es zum Mann; die eines
weiblichen Keimstockes (Eierstockes) zum Weib. Nicht einmal
davon wird diese Entwicklung berührt, ob der bei seiner ersten
Operation ungeschlechtlich gemachte Organismus gelegentlich
seiner zweiten Operation zurückempfängt, was ihm gebührt;
der weibliche Organismus den Eierstock, der männliche den
Hoden. Gesetzt, sie würden vertauscht: der „Entmannte“ wird
dann eben verweiblicht, die „Entweibte“ vermännlicht. Und
gesetzt den Fall, wir fügten demselben Organismus beides ein:
so wird er ein „echter“ Hermaphrodit, — Mann und Weib im
gleichen Körper, in der gleichen Seele vereinigt.
Unsere Frage von vorhin erscheint also folgendermaßen
beantwortet: vom Keimstock hängt es ab, welches Geschlecht
der Körper entfaltet. Aber so einfach liegen die Dinge noch
nicht. Mindestens schließt die Frage an: wie bewirkt der
Keimstock, daß der übrige Körper sich nach ihm richtet? Es
gibt ja zwei Wege, auf denen die Teile einander beeinflussen:
Blutkreislauf und Nerventelegraph; der Keimstock nun bedient
sich des ersteren. Das ist durch die Verpfropfungen bewiesen;
man befestigt den herausgenommenen Keimstock nicht am zu-
ständigen Ort; bequemer heilt er unter der Haut ein, oder an
Muskeln, und dort fehlt es an den richtigen Nerven. Ja man
braucht gar nichts einzuheilen, wenn vorübergehende Wirkung
genügt oder Dauerwirkung durch häufige Wiederholung des
Verfahrens erzielt werden soll: Verfütterung oder Einspritzung
von Keimstocksubstanzen erzeugt ebenfalls das Geschlechts-
gepräge, das ihrer Herkunft (aus einem Männchen, aus einem
Weibchen) entspricht; damit ist jede Nervenwirkung ausge-
schaltet.
In noch einer Beziehung muß unsere Antwort vertieft
werden. Jeder Keimstock besteht aus zweierlei Geweben: den
Keimzellen (Eiern, Samenzellen), die sich im reifen Zustande
ablösen und nach außen entleert werden, und einem Zwischen-
gewebe. Welches ist verantwortlich, wenn die Blutbeschaffen-
heit sich derart ändert, daß das Kind (oder der Kastrat) mit
männlichem Keimstock zum Manne, mit weiblichem zum Weibe
wird? Solcher Macht schien das Zwischengewebe verdächtig,
Kammerer: Die Geschlechter 399
seit man erfuhr, daß Röntgenstrahlen die Keimelemente zer-
stören, noch ehe sie das Zwischengewebe angreifen: Tiere
mit bestrahlten Keimstöcken behalten aber zunächst ihren Ge-
schlechtscharakter. Genauesten Aufschluß gibt wiederum die
Pfropfmethode: im verpflanzten Keimstock geht das eigent-
liche Keimgewebe endgiltig zugrunde, das Zwischengewebe
überlebt. Eben dieses ist allein befähigt, dem Kastraten vollen,
ja im Grade seiner wuchernden Zunahme übermäßigen Ge-
schlechtscharakter zurückzugeben und dauernd zu bewahren.
So schien das „Mysterium“ des Geschlechtes weitgehend
enträtselt, indessen manche Wahrnehmungen verschleierten es
wieder. Es gibt wohlgebildete Männer, die wie eine Frau
empfinden, namentlich sich zu Männern, scheinbar also zu
ihresgleichen hingezogen fühlen; ferner gibt es nach Anblick
und Anatomie zweifelsfreie Frauen, aber von männlichem Hang,
das berühmte „dritte Geschlecht“. Neben solchen Typen, wo
das Gegengeschlechtige nur im Triebleben nach Ausdruck
ringt, gibt es andere, wo es auch körperlich zum Vorschein
kommt: Männer mit Frauenbrust, Frauen mit Männerbart, ja
wohlgestaltete Weiber mit männlichen Keimorganen; so viele
und so abenteuerliche Zusammenstellungen man sich ausdenken
mag, die Natur hat sie schon etliche Male verwirklicht.
Halten wir jetzt zwei Versuchserfahrungen zusammen:
erstens der verpflanzte Keimstock wird zur Reinkultur von
Zwischenzellen; zweitens je eine solche Reinkultur männlichen
und weiblichen Ursprunges, im selben Körper kombiniert,
wandelt ihn zum Zwitter. Könnte nicht, was das Experiment
hervorrief, ab und zu im natürlichen Geschehen eintreffen? So
recht verstehen wir ja die Natur immer erst, wenn der Forscher
ihr nicht bloß nachspürt, sondern zum Künstler oder doch
Techniker wird und ihr planbewußt nachschafft. Absichtlich
betonte ich die Vergleichbarkeit von Kind und Kastrat: ob ein
indifferentes Geschöpf geschlechtlich heranreift, weil sein zu-
gehöriges Keimorgan mit ihm wächst und im gleichen Schritt
zunehmend spezifische Stoffe ins Blut entsendet; oder ob ge-
schlechtliche . Vollwertigkeit eintrit, weil Forscherhand das
Organ eingliedert, das in Verlust geriet (in anderen Fällen
auch wohl angeboren fehlte), grundsätzlich bedeutet dies offen-
bar ein und dasselbe. Könnte es daher nicht einmal geschehen,
daß das eingeborene Keimorgan sich von vornherein zwitterig
400 Kammerer: Die Geschlechter
entwickelt? Längst bekanntes Vorkommen von Naturzwittern
gibt bejahende Auskunft; und nur ein Teil ist neu daran: bis-
weilen versteckt sich die organische Grundlage des Zwittertums
ausschließlich in dem so wenig beachteten Zwischengewebe,
Führt es etwa neben männlichen eine Anzahl weiblicher
Zwischenzellen, so reichen diese nicht immer hin, um der von
jenen beherrschten Mannesgestalt weibliche Formen beizu-
mengen; sie erotisieren aber dennoch in weiblicher Richtung
das Bildsamste, was der Mensch besitzt, seine Psyche.
So beschaffen ist in der Tat die Zusammensetzung, der
gewebliche Aufbau einer Menschengattung — der Homosexuellen
— die bisher den Verbrechern, bestenfalls den Kranken zuge-
rechnet wurden. Um die Probe aufs Exempel zu machen, war
es nötig, aus aufgezählten Errungenschaften die Methode ab-
zuleiten, Homosexuelle zu „heilen“: gelänge es, ihr Blut mit
denjenigen Zwischensubstanzen zu überschwemmen, die ihrem
vorwaltenden Körpergepräge entsprechen, so müßte hiervon
auch ihre Seele genesen. Mehr als eine derartige Kur ist
schon vollkommen geglückt, nachdem zuvor gelungen war,
an ihren männlichen Teilen verstümmelte Soldaten durch Ein-
pflanzung männlichen Zwischengewebes dauernd wieder her-
zustellen. Zu den Einpflanzungen dienen die keineswegs seltenen
„Leistenhoden“: im Leistenkanal steckengebliebene, durch und
durch nur aus Zwischengewebe bestehende, also keimzellenfreie
Mannesorgane, die dem Patienten operativ entfernt werden
müssen und dann als Material zustatten kommen, sei es kast-
rierten, sei es homosexuellen Männern ihr normales Empfinden,
wenn schon nicht mehr Zeugungsfähigkeit zu verleihen.
Der sehr aufmerksame Leser wird noch eine Frage bereit
halten: verständlich ist, daß experimentelle Willkür das Keim-
zwischengewebe zwitterig einzusetzen vermag; welcher Mutwille
aber mischt es im unberührten Geschehen? Jetzt ist zu be-
herzigen, was in den ersten Zeilen steht: nicht säuberliche
Scheidung, sondern eben Mischung ist die Regel; es gibt nichts
anderes als Zwitter. Nur bei getrenntgeschlechtlichen Lebe-
wesen gewöhnlicherweise in so unmerklichem Grade, daß
bestenfalls ein Mikroskop darüber Aufschluß gewährt. Sind
nämlich die gegengeschlechtigen Zwischenzellen (also etwa die
weiblichen im Manne) ganz in der Minderzahl, so richten sie
nichts aus gegen die Übermacht der zuständigen Zellen; sind
Kammerer: Die Geschlechter 401
es der „falschen“ etwas mehr, so stimmen sie wenigstens die
Seele um; sind ihrer noch mehr, so geraten schon einige
Körperteile gegengeschlechtig; behaupten sie endlich die halbe
Zahl, so machen sie aus dem ganzen Körper (einschließlich
der Seele) ein Mann-Weib-Mosaik, äußerstenfälls mit Einschluß
der Keimzellen.
Das ist es ja gerade, was der Leser fragen wollte: wer
bestimmt das individuell so wechselnde Mengungsverhältnis
der Zwischenzellen im Gewebe des Keimstockes? Dafür, ob
Mann oder Weib oder Weibmann ersteht, ist eben dieses
Mengenverhältnis verantwortlich; welche Macht aber verant-
wortet ihrerseits das Mengenverhältnis der Geschlechtszwischen-
zellen selber? Daß Mann- und Weibstoff in jedem Individuum
sich gatten, erscheint so natürlich, wenn wir uns erinnern, wie
jedes Individuum erzeugt ward: indem doch je ein männliches
und weibliches Keimelement verschmolzen! So kam Mann-
und Weibstoff im befruchteten Ei zusammen; so bleiben sie
beisammen, wenn ihm der Nachkomme entkeimt! Aber anders
lautet jetzt die Frage: wovon hängt es ab, welcher Partner
künftig den Vorrang gewinnt, ob Mann- den Weibstoff über-
trifft, ob Weibes- den Mannesstoff unterdrückt? Wer wird
Sieger in diesem Kampf der Geschlechter, dem Daseinskampf
der beidgeschlechtlichen Elemente schon im Mikrokosmos des
einzelnen Keimlings?
In neuer wissenschaftlicher Formulierung steigt das uralte
Problem „Knabe oder Mädchen?“ vor uns empor; das Problem
der Geschlechtsbestimmung. Nachdem Hunderte von Schein-
lösungen fehlgeschlagen waren, hatte man sich gewöhnt, es als
ein unlösbares zu betrachten. Verführt durch irrig gedeutete
mikroskopische Beobachtungen am Zellkern, gewiß auch in
der Stimmung jenes Verzichtens, hatte man dann angenommen,
das Geschlecht könne überhaupt nicht „bestimmt“ werden;
vielmehr sei es von der Keimzelle begonnen schon unwider-
ruflich bestimmt. Daß diese präformistische Ansicht falsch ist,
zeigen die beschriebenen Ergebnisse über Verweiblichung von
Männchen, Vermännlichung von Weibchen. Zwar ist richtig:
die Struktur des Zellkernes und sein Größenverhältnis zum
Zellenleib enthüllen dem scharf bewaffneten Auge, daß schon
die Keimzelle, schon das Ei nicht mehr in des Wortes strengster
Bedeutung geschlechtslos ist. Da aber die Keimesanlage des
402 Kammerer: Die Geschlechter
Geschlechts noch im späteren Entwicklungsleben umschaltbar
ist, so konnte sie keine eindeutige, reine, sondern nur eine
zwiefache sein, in der bald das männliche, bald das weibliche
Element zur Vorherrschaft (niemals zur Alleinherrschaft) gelangt.
Und freilich bleibt angesichts der zwitterigen Geschlechts-
anlage im Keim nur mehr wenig zu „bestimmen“: genau be-
sehen, kann nimmermehr von Geschlechts-„Bestimmung“, son-
dern höchstens von „Umstimmung“ die Rede sein. Wird an
der aus dem Gleichgewichte gebrachten Entwicklungswage
männliche oder weibliche Materie das Übergewicht erlangen?
Und vor allen Dingen interessiert uns: wer bedient, wie bedient
man die Wagschalen? Gibt man sich nur mit einer Antwort
zufrieden, die uns instand setzt, aus jedem Keim (und selbst-
redend ohne grausam-gefährliche Eingriffe) nach Belieben Mann
oder Weib zu erziehen, so liegt in der Tat hier auch heute
noch das tiefste Geheimnis des Geschlechtes verschlossen: zu
unserem Heile, denn sonst würden wir lauter Buben produ-
zieren und der Krieg nähme kein Ende, bis mit dem Mangel
an Produktionskräften (an Erzeugerinnen) auch der Menschheit
letztes Stündlein schlüge.
Um Nützlichkeitserwägungen kümmert sich die Wissen-
schaft aber wenig: sie rückt dem Ziele immer näher, mag auch
der Schatz, den sie der Natur abtrotzt, von der kostbar be-
schenkten menschlichen Gesellschaft als „Stein der Unweisen“
gehandhabt werden. Zwei Einflüsse sind es namentlich, die
immer wieder hervortreten, wenn man die an niederen Tieren
und Pflanzen bereits gelungenen Versuche über Gechlechts-
bestimmung durchprüft: Ernährung und Keimreife. Güte der
ersteren beeinflußt dort den Keim nach der weiblichen Richtung,
ebenso Vollreife der bei der Zeugung verwendeten Keimzellen;
Hunger und Unreife oder Überreife begünstigen die männliche
Richtung...
Bisher sprach ich nicht von den Urhebern so weittragender
Errungenschaften; schon deshalb nicht, weil ihrer zu viele sind,
um in diesem Aufsatze genannt zu werden. Veranlassung zu
dem Aufsatze war mein kleines, jüngst erschienenes Buch
„Geschlechtsbestimmung und Geschlechtsverwandlung“ *), worin
*) 934 Seiten, 18 Abbildungen. Wien, Verlag von Moritz Perles,
2. vermehrte Auflage 1921.
wm
404 Kammerer: Die Geschlechter
Ruge aus der Bummschen Klinik zu Berlin. Mögen meine
verehrten Gegner auch weiterhin so prompt Recht behalten!
Wieder einmal zeigt sich eben, daß im alten Volksglauben
— und ein solcher erfordert das Ansteigen der Knabengeburten
im Gefolge von Kriegen — ein Korn Wahrheit steckt. Und
wenn es richtig ist, daß die Wissenschaft ununterbrochen vom
Alltag lernen kann, so bleibt nicht minder zutreffend, daß
Wissenschaft unablässig die Grenzen dessen erweitert, was
kühnste Laienträume sich ausmalen durfte. Laienverstand und
Forschergeist: verachte keiner den andern! Am besten schreiten
sie vorwärts, wenn sie sich wechselseitig stützen.
Heyn: Studien zur Physiologie des Geschlechtsiebens der Frau 405
STUDIEN ZUR PHYSIOLOGIE
:DES GESCHLECHTSLEBENS DER FRAU.
Von Dr. A. HEYN, Frauenarzt, Reichenbach (Schlesien).
Wann tritt bei der Frau der erste Orgasmus auf?
U: die Zeit des Auftretens des ersten Orgasmus sind die
Meinungen seit langer Zeit recht verschieden gewesen.
Es überwiegt die Ansicht derer, die annehmen, daß nur in der
geringeren Zahl der Fälle bald beim ersten Coitus, bei der
Defloration, ein Orgasmus zu erwarten sei. Als Grund wird
angegeben, daß das bei der blutigen Defloration auftretende
Schmerzgefühl in der Regel das Wollustgefühl übertönen
müsse. Adler sagt: „Man kann wohl mit Sicherheit be-
haupten, daß der erste Coitus, der eine blutige Defloration
bewirkte, wohl niemals ein Lustgefühl beim weiblichen Teil
bewirkt hat. Schmerzen, Blutungen, Zerreißungen und Deh-
nungen sind nicht geeignet, die Empfindungen der Wonne
wachzurufen, zumal die seelische Befangenheit hinzutritt.“
Ähnlich spricht sich Ellis aus. Stekel ist der Meinung, daß
die erste Kohabitation der Frau nur sehr selten einen Orgasmus
bringt. Er schätzt die Zahl der Frauen, die trotz der
Schmerzen der Defloration einen vollen Genuß haben, etwa
auf vier Prozent ein. „In einer größeren Zahl der Fälle kam
es schon in der ersten Woche zum Orgasmus. Ueber fünfzig
Prozent gelangen erst nach einigen Wochen zum Genuß.
Auch nach Monaten kann es nach einer Zeit der sexuellen
Anästhesie zu plötzlichem — oft durch eine besondere Variation
der Position ausgelösten — Orgasmus kommen.“ In einem
Falle kam es erst nach sieben Monaten zum ersten Orgasmus.
Ältere Autoren sagen ähnliches. Gutzeit berichtet, daß von
zehn Frauen infolge der Schmerzen bei der Defloration nur
zwei alsbald vollen Genuß haben, von den übrigen acht haben
vier nur ein angenehmes Gefühl bei der Friktion, aber es
kommt erst nach langer Zeit zu einem ähnlichen Gefühl, wie
es der Mann bei der Ejakulation hat. Bei einigen dauere es
ein Jahr, bei einigen ein Jahr und länger, bis sie zum Genuß
kommen, bei den letzten vier komme es überhaupt niemals
dazu. Janke sagt: „Die Anaphrodisie, d. h. die Unmöglichkeit
beim Weibe, es zum Ejakulationsgefühl zu bringen, pflegt
406 Heyn: Studien zur Physiologie des Geschlechtslebens der Frau
ziemlich regelmäßig allemal nach der zweiten bis dritten
Geburt wieder zu verschwinden.“
Seligson sagt, er habe unter den Frauen, mit denen er
über diesen delikaten Punkt überhaupt habe sprechen können,
selten eine gefunden, die gleich nach der Hochzeit Genuß am
ehelichen Zusammenleben gefunden habe. Der größte Teil
erklärte, daß sie erst nach der ersten Niederkunft ein Wollust-
gefühl kennen gelernt hätten. Nur eine (von wie vielen?
d. Verf.) hätte, trotzdem sie sich aus Liebe zu ihrem Manne
verheiratet hatte, nie ein Wollustgefühl während einer zehn-
jährigen Ehe gehabt, Er berichtet auch aus einer französischen
Quelle: Lutaud erklärt, von 43 Frauen hatten elf während der.
Begattung überhaupt kein Wollustgefühl, bei sieben trat es
nur zeitweise und dann sehr mäßig hervor, und bei sechs
bildete es sich erst während der Ehe, meist nach mehreren
Jahren heraus. Kisch behauptet, daß das Wollustgefühl sich
oft erst nach ein- bis zweijähriger Ehe zeige.
Meine Untersuchungen haben ergeben, daß von 512 über
ihre geschlechtlichen Gefühle beim Coitus befragten Frauen
263 — 51,3 Prozent stets Orgasmus hatten, 161 = 31,2 Prozent
meist und 88 — 17 Prozent nie ein Wollustgefühl verspürt
hatten. Es bleiben also 424 Frauen, die den Orgasmus
kennen. Von diesen Frauen sind 68 über das erste Auftreten
ihres Orgasmus befragt worden. Es ergab sich nun, daß 31
schon beim ersten Coitus, bei der Defloration, Orgasmus
gehabt hatten, bei sechzehn trat er schon nach den ersten
Malen ein, bei acht von ihnen nach einigen Wochen, und bei
derselben Anzahl nach einigen Monaten. Bei fünf zeigte sich
das erste Wollustgefühl erst nach einigen Jahren, nachdem sie
ein- oder mehrmals entbunden hatten. Es ist also bei
45,6 Prozent der befragten Frauen bereits bei der Defloration
der erste Orgasmus aufgetreten, bei 23,5 Prozent bei den
ersten Cohabitationen in den ersten Tagen, so daß also fast
70 Prozent der. Frauen in den ersten Tagen den Orgasmus
kennengelernt haben. Diese Zahlen weichen von der Meinung
der Schriftsteller soweit ab, besonders bei den Zahlen der
Frauen, die bereits beim ersten Coitus das Wollustgefühl
hatten, (Steckel schätzt die Zahl der mit Erfolg Erstcohabi-
tierenden auf vier Prozent und Adler nimmt offenbar noch
weniger an), daß ich die Vermutung aussprechen möchte,
Heyn: Studien zur Physiologie des Geschlechtsiebens der Frau 407
daß sogar Gutzeit mit seinen 20 Prozent noch zu wenig hoch
geschätzt hat. Man muß allerdings bei den Angaben mancher
Frauen berücksichtigen, daß der Volksglaube, wie er in der
erotischen Literatur zutage tritt, annimmt, daß der Orgasmus
unbedingt zum ersten Coitus gehört, und daß die eine oder
andere Frau, in der Furcht als minderwertig zu erscheinen,
wenn sie das Ausbleiben des Orgasmus beim ersten Coitus
zugibt, geneigt sein mag, dem befragenden Arzte eine falsche
Angabe zu machen. Ich möchte aber trotzdem aus den an-
gegebenen Zahlen den Schluß ziehen, daß die Zahl der
Frauen, bei denen bereits bei der Defloration ein Wollust-
gefühl auftritt, unterschätzt wird, und daß diese Frage noch
einer weiteren Klärung durch Beibringung neueren, einwands-
freien Materials bedarf. Durch bloße Vermutungen ist sie
nicht zu lösen.
Der Einfluß der Stärke des Geschlechtstriebes auf das
erste Auftreten des Befriedigungsgefühles ergibt sich aus der
Tabelle. Unter den Frauen, die sofort oder nach den ersten
Cohabitationen das Wollustgefühl kennen gelernt haben, be-
finden sich alle mit starkem oder sehr starkem Geschlechts-
trieb, unter den anderen befindet sich nicht eine mit starker
Libido. Offenbar ist eine gewisse Höhe der Libido erforder-
lich, um trotz der Deflorationsschmerzen zum Orgasmus zu
kommen. Es soll hierbei nicht verkannt werden, daß das
Zustandekommen des Orgasmus noch von einer ganzen Reihe
anderer Momente abhängig sein kann. Über eines derselben,
nämlich die Stärke und Festigkeit des Hymens, liegen bis
jetzt kaum mehr als Meinungsäußerungen vor.
Von Gründen, die schließlich zum Durchbruch des Orgas-
mus führten, konnte ich feststellen: Der Orgasmus trat in
voller Stärke ein, als die betreffende Frau zum ersten Male
eigene Bewegungen beim Coitus machte, nach Alkoholgenuß,
nach vorheriger Reizung durch den Ehemann, als eine „andere*
Lage versucht wurde, Coitus a posteriore, Coitus inversus usw.
Die Tabelle zeigt ferner noch, daß bei den Frauen, die
überhaupt zum Orgasmus kommen, eine schwache oder
fehlende Libido sehr selten ist. Die Anzahl der Frauen, die
nie zum Orgasmus kamen, betrug 88 = 17 Prozent von 512
Frauen, es sind das die Fälle von Dyspareunie im gewöhn-
lichen Sinne. Auch bei diesen 17 Prozent kann man nicht
408 Heyn: Studien zur Physiologie des Geschlechtsiebens der Frau
sagen, daß diese 38 Frauen dauernd oder definitiv als
anästhetisch zu bezeichnen wären, man kann nur feststellen,
daß sie bisher niemanden gefunden haben, der ihr Geschlechts-
gefühl zu wecken imstande gewesen wäre.
Ich pflichte durchaus Steckel bei, daß die anästhetische
Frau nur die Frau ist, welche die ihr adäquate Form der
Befriedigung nicht gefunden hat. Die Tatsache, daß ein
Weib bei einem oder mehreren Männern kühl geblieben ist,
beweist keinesfalls, daß sie nicht imstande wäre, sexuell zu
fühlen, es beweist nur, daß diese Männer nicht in der Lage
waren, dieses Geschlechtsgefühl zu wecken, „eine raffinierte
ars amandi kann mitunter über diese Frigidität obsiegen.“
Es ist deshalb sehr schwer, eine fakultative Anästhesie von
einer absoluten zu unterscheiden, man kann stets nur fest-
stellen, daß die Frau unter den vorliegenden Umständen
anästhetisch war. Der Beweis einer absoluten Anästhesie
ist vielleicht überhaupt nicht zu führen.
Libido
1. Orgasmus
w| sehr stark
» | unbekannt
bei der Defloration
nach den ersten Malen
nach den ersten Wochen
nach den ersten Monaten
nach einigen Jahren
Geschlecht und Gesellschaft,
Neue Folge X, 12
INEI DS
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V
Tafel I. Herzog Heinrich v. Breslau empfängt ein Minnekleinod.
(Miniatur der Manesseschen Liederhandschrift Heidelberg.)
(Zu Reitzenstein: Einflüsse.)
EINFLÜSSE DES MINNEDIENSTES AUF DIE
DEUTSCHE HERALDIK.
Von Ferd. Frhr. v. REITZENSTEIN, Dresden.
We man die verschiedenen Reste des Liebesaberglaubens
im Volke sammelt, stößt man immer wieder — besonders
bei Gegenständen des häuslichen Gewerbes — auf Dar-
stellungen, die ihren Weg von der Heraldik, der speziellen
Blüte des Mittelalters aus genommen haben. Dorthin aber
gelangten sie durch den Minnedienst, jener eigenartigen
Erscheinung des Liebeslebens, die das ganze. Mittelalter in
den Dienst von Weib und Liebe stellte und veredelte. Es
war daher sehr reizvoll, diesen Einflüssen näher nachzugehen
und so entstand schon vor zwanzig Jahren im Anschluß an
die Sammlung abergläubischer Liebesgebräuche auch die
nachfolgende Untersuchung.
Das Liebesleben des Minnedienstes selbst soll hier natür-
lich nicht behandelt werden. Es war ein in gewisse Formen
gepreßter Schematismus, der dem Manne sicherlich große
Zartheit gegen die Frauen auferlegte, aber nicht etwa — wie
das unsere heutigeSchulkulturhistorie so gerne fälschen möchte —
das Endziel der Liebe ausschloß. Im Gegenteil, man steuerte
sehr direkt darauf los und erreichte oft in wenigen Augen-
blicken sein Ziel, umsomehr als besonders die Mädchen gar
nicht prüde waren. Wir hoffen später näher darauf einzu-
gehen. Vor allem aber beobachten wir, daß sowohl vor der
Zeit des Minnedienstes als auch außerhalb desselben eine
Liebe bestand, die unserer heutigen Auffassung näher kam,
natürlich nicht deren moralistische Abbiegung zeigte. Dort
aber, wo der Minnedienst herrschte und gewissermaßen
Ehrensache war, war auch jeder Ritter bestrebt, sich der
Öffentlichkeit gegenüber als Frauenritter zu zeigen und dazu
bot ihm eben die Heraldik die beste Gelegenheit. Hier, an
seinem Helme und Schilde durfte er ohne weiteres seine
innersten Triebe durch einSymbol zum Ausdruck bringen.
2
410 v.Reitzenstein: Einflüsse des Minnedienstes auf die deutsche Heraldik
——
Abb. 1L.
Bereits in der Zeit, in der die
Wappenbilder gewählt wurden,
bildeten sich eine Reihe von Dar-
stellungen durch, die eine Beziehung
zum Liebesleben ausdrückten. Es
sind das vor allem die Herzen
(Abb. 1 und Tafel III, 1) und die
Rosen (Tafel III, 2); sodann aber
auch die Äpfel, die bereits im Alter-
tum, der Aphrodite heilig, in einem
gewissen Verhältnis zur Liebe stan-
den (Tafel III, 3). Ferner Ringe, das
alte Symbol der Ehe (Tafel III, 4),
Fackeln (Tafel III, 5) usw. Auch
die Katze, die schon der vorgriechische Orient mit besonderer
Vorliebe den Gottheiten der Liebe weihte, in der der alte
Deutsche das heilige Tier
nicht ohne Zusammen-
hang mit
worden zu sein.
die deutsche Heraldik
aber war es besonders
die Linde, die in der
älteren Zeit eine große |
Rolle spielte (vgl.
Abb. 2). Sie war der
bevorzugte Baum auf
der Burg, wie vor der
Stadtmauer, oder im
Dorfe. Unter ihre
Zweige eilte man im |
Frühjahr, wenn es die
Witterung gestattete,
die finsteren und kalten
Wohnräume zu ver-
lassen, wie sie unsere
Voreltern zu bewohnen
gezwungen waren. So
manches Herz fand
unserem |
Gesichtskreise gewählt |
Für
der Liebesgöttin erblickte, scheint
v. Reitzenstein: Einflüsse des Minnedienstes auf die deutsche Heraldik 411
sich hier zum Herzen, so mancher Bund der Liebe ward
darunter für immer geschlossen, kein Wunder, daß im
Lindenzweige und im Lindenblatte für unsere Vorfahren
eine tiefe Poesie lag und daß man beides so häufig ver-
wendete. Dazu kam noch die große Ähnlichkeit des Linden-
blattes mit dem Herzen, wie es denn in vielen Fällen in der
Heraldik nicht möglich ist, mit Sicherheit zu sagen, ob
man es mit Lindenblättern oder Herzen zu tun hat. Doch
genügten diese alten Symbole der höfischen Zeit nicht
mehr, ja zum Teil mag man bereits ihren alten Sinn vergessen
haben. Die Frauenritter schufen vielmehr in dieser Periode
eine ganz eigentümliche Art von Heraldik, die, wenn sie auch
im allgemeinen mit dem Minnedienst wieder verschwand,
doch nicht unbedeutende Spuren hinterließ, die Symbolik und
Aberglauben des Liebeslebens noch heute beherrschen.
Beachtung fand unser Gebiet seitens der heraldischen
Schriftsteller nur sehr wenig, da sich nur der geringste Bruch-
teil mit wissenschaftlicher Heraldik befaßte. Außer den kurzen
Bemerkungen bei Ganz, Geschichte der Heraldik in der
Schweiz 1899, ist es nur Seyler, der in seiner Geschichte der
Heraldik darauf zu sprechen kommt. Aber auch er gibt in dem
Kapitel, das Minnekleinod betitelt ist, eigentlich nur Fingerzeige.
Die Keime der Schildbilder sind in der Zeit der
fränkischen Könige also im 11. Jahrhundert zu suchen, sie
hatten damals noch etwas entschieden persönliches an sich
und selbst die Quellen des 12. Jahrhunderts geben noch keinen
Anhaltspunkt für die Erblichkeit der Wappen. Diese beginnt
erst während der Herrschaft der Staufen. Aber auch jetzt ist
noch von einer durchgehenden Benutzung desselben Wappens
bei einer Person meist keine Rede, besonders was die
Wappendarstellungen auf Siegeln anlangt.
Ganz willkürlich werden oft beliebige Bilder ange-
nommen und wie die wirklichen Wappen gebraucht.
Fürst Hohenlohe sagt darüber in seinen sphragistischen Apho-
rismen: Nicht selten kommen im Mittelalter Bild-Siegel vor,
welche man, ohne genaue Kenntnis des betreffenden Wappens,
leicht für Wappen-Siegel halten könnte. Diese Bilder haben
meist Bezug auf eine Liebhaberei des Sieglers, wie die
Jagd, auf Ereignisse in dessen Leben, wie Pilgerfahrten und
Reisen, oder sie beziehen sich auf den Namen desselben.“
27°
412 v.Reitzenstein: Einflüsse des Minnedienstes auf die deutsche Heraldik
So führt z. B. Otto von Lobdeburg 1186 auf seinem Siegel
einen Hirsch, während das Wappen einen Schrägbalken zeigt.
Gahmuret ändert, als er zu neuen Taten auszieht, auch das
Wappenbild, er setzt an Stelle des väterlichen Panthers weiße
Anker auf grünen Grund, ein deutliches Symbol seiner Hoff-
nungen.: Diese letztere Tatsache ist, wie sich zeigen wird,
für unsere Betrachtung von größter Wichtigkeit.
Im Folgenden müssen wir zwischen Minnepfändern
und Wappen selbst unterscheiden. Die ersteren waren
sozusagen eine Art Andenken, die die Dame ihrem Geliebten
mitgab. So lesen wir Lancelot Ill, 8821), daß sie die zwei
Ringe am Schwerte des Ritters mit ihren Haaren umflicht.
Chastelain de Couci erhält von seiner Dame eine Locke ihres
Haares (Chastelain de Couci 7344). Nach seinem Tode läßt er
sie der Geliebten zurückschicken. Weitaus am häufigsten sind
Kleider oder Schmuckteile, wobei wieder zu unterscheiden ist,
zwischen Kleidungsstücken, die für den Ritter selbst ge-
macht wurden, und solchen, die die Dame von ihrer eigenen
Kleidung nahm. Besonders war das Wechseln der Hemden
sehr beliebt*). Gahmuret trägt z. B. die Hemden der Herzeleide
über seiner Rüstung und schickt die im Kampf zerhauenen
dann zurück. Wichtiger aber sind j'ne Stellen, wo eine be-
stimmte Beziehung zur Heraldik gegeben wird. So schildert
uns Conrad von Würzburg in seinem „Engelhart“ die Aus-
rüstung desselben durch Engeltraut, die ihm einen prächtigen
Wappenrock und eine stattliche Couverture schenkt. Das
eigentliche Minnekleinod aber bilden zwei Borten, die an
Stelle des wirklichen Helmschmuckes, also am Helm selbst
und am Haupte des Pferdes, wo sich das Kleinod ja häufig
wiederholte, angebracht wurden. Die vom Kopf desselben
herabhängende wird als grüne Leiste geschildert, auf der in
Gold die Worte geschrieben standen: „Freund, Gott lasse dich
behalten Heil und ganzen Glückes Kraft zur Minne und zur
Ritterschaft**). Grün war die Borte, weil Engeltraut die Hoff-
nung ausdrücken wollte, daß er sich in diesem Tournier gut
halten möchte, da sie dann mit ihm in nähere Beziehung
treten könne. Häufig scheinen diese Borten in Gestalt kleiner
roter Bändchen getragen worden zu sein. So zeigt uns die
”) Es geht außerdem auf alte Zauberideen zurück.
**) Friunt, got läze dich behaben Heil und ganzer saelden Kraft üf
minne und üf ritterschaft. (Engelh. 2528 ff.).
v. Reitzenstein: Einflüsse des Minnedienstes auf die deutsche Heraldik 413
NET U NEL rn un ee ST
Manessische Handschrift ein Bild, das
den siegreichen Herzog von Breslau
(vgl. Tafel I und Abb. 3) darstellt, wie
er soeben von einer Dame das „Krän-
zelin“ erhält. Das vielumstrittene
Schleifchen am Wappenschild des
Herzogs ist weiter nichts als ein
Minnepfand, denn, daß der Herzog
Heinrich als Frauenritter auf diesem
Tournier erschien, zeigt Wappenrock 5,
und Couverture (Pferdedecke), auf denen die Buchstaben
A. M. O. R. zu lesen sind, die sich zum Wort Amor (Liebe)
ergänzen. Wir geben den Schild mit der Schleife vergrößert
wieder, wobei zugleich zu ersehen ist, daß sie nicht etwa
aufgemalt ist, da ein Teil über den Schildrand hinaustflattert.
Für den Ritter wäre es unverzeihlich gewesen, wenn er ohne
Pfand vom Kampf zurückkehrte, Diese Borten waren wohl
häufig vom Kleide der Damen genommen und wurden nach
dem Kampfe dann wieder dort befestigt, ähnlich wie wir es
bei dem Ärmel sehen werden. Auch Haarbänder mögen es
teilweise gewesen sein. Den Kampf geht Engelhart denn auch
wirklich mit einer auf seine Dame bezüglichen Devise ein:
„Schoener roeselehter munt“. Aber auch andere Teile ihrer
Toilette verehrte die Dame ihrem Ritter. So in erster Linie
Ringe. Der Ring mhd. bouc, rinc frz. orle rond, annelet
wurde oben schon erwähnt, aber er hatte dort lediglich
symbolische Bedeutung, jetzt wird er wirklich zum Minne-
kleinod (Tafel III, 6). In Athis und Prophilias, einem Gedichte,
das seinen Stoff einem gleichnamigen französischen, um 1184
von Alex. de Bernay verfaßt, entnimmt, bitten Pyrithous und:
Carsidorus die beiden Frauen Cardiones und Gayete um ein
Liebeszeichen, das sie an ihren Speeren befestigen wollen.
Cardiones gibt dem Pyrithous, Gayete dem Carsidorus einen
goldenen Ring. Beide Jünglinge werden in der Nacht von
dem Gedanken an die Tat erfüllt, durch welche sie sich in
den Augen der Frauen, deren Ritter sie sind, auszeichnen
wollen. Beim darauffolgenden Kampf besteigen die Frauen
die Türme, um zu sehen, wie ihre Ritter sich hervortun. Als
nun später Pyrithous verwundet zusammenbricht, hält ihn
Cardiones für tot und stirbt vor Schmerz. Und das Ganze
414 v.Reitzenstein: Einflüsse des Minnedienstes auf die deutsche Heraldik
geht vor sich, obwohl Cardiones, die Gemahlin des selbst am
Kampf beteiligten Prophilias und dessen Schwester Gayete
die Gemahlin des Athis ist.
Ebenso bildet ein Ring das Minnepfand in dem Gedichte
Wilhelm v. Orlens, des Rudolf v. Ems, das dieser in 16000
Versen nach einem gleichnamigen französischen bearbeitete.
Wilhelm, der Sohn des Wilhelm von Hennegau, hat sich in
Amelie, die Tochter des englischen Königs Reynher, verliebt.
Um nun ihrer Minne teilhaftig werden zu können, muß er
sich zum Ritter schlagen lassen und große Taten vollbringen,
Er geht an den Hof nach Brabant und Amelie gibt ihm einen
Ring mit einem Rubin mit. Im Besitze des Fürsten K. Anton
v. Hohenzollern zu Sigmaringen befand sich ein prachtvoller
Teppich mit Darstellungen dieses Gedichtes, den Hefner-
Alteneck in seinem großen Werke „Trachten und Gerät-
schaften“ abbildet. Im Iwein gibt Laudine diesem einen Ring,
der Heil und frohen Mut gibt, und wer ihn trägt, ist im
Besitze voller Glückseligkeit. Sie fordert ihn aber später
zurück, als Iwein treulos erscheint.
Der Ring als Liebespfand, abgesehen von Verlobungs-
ringen und Eheringen, erhielt sich im ganzen Mittelalter. Im
Niederl. Liederbuch unter Nummer 105 lautet ein Gedicht:
Se vern in jennem Frankrike
dar licht ein möle stolt
de malet alle morgen
dat sülver dat rode golt.
Hedd ich des goldes ein stücke
to einem schmalen vingerlin (Ringchen)
ick woldet minem finen bolen (Geliebte) schenken
dat se miner nicht vorget.
Wat gifft se wedderümme?
van perlin ein Krenzelin:
„sü dar, du hüpsche schlömer,
drag en umm den willen min“.
Diese Mühle scheint überhaupt nur Gold für den Liebesdienst
gemahlen zu haben, wie aus einem andern Lied hervorgeht,
das nebenbei bemerkt, die Veranlassung zu Eichendorffs: In
einem kühlen Grunde . . . wurde. Es lautet (ebenf. Niederl.
Liederbuch):
v. Reitzenstein: Einflüsse des Minnedienstes auf die deutsche Heraldik 415
Dört hoch auf jenem berge
da get ein mülenrad
Das malet nichts denn liebe
die nacht bis an den tag;
die müle ist zerbrochen,
die liebe hat ein end
so g’segen dich got mein feines lieb!
iez fahr ich in’s elend.
Dann tritt der Gürtel (Tafel III, 7) besonders häufig auf, der
oft sehr kostbar war. In Meleranz (689) wird ein solcher
beschrieben, auf dessen Borte mit
Edelsteinen die Inschrift eingelegt
war: „Mannes langer mangel daz ist
der herzen angel, die buochstab an
dem striche vorn die sprächen „dul-
cis läbor“*). Das sprichet, sô mir
ist geseit, Minne ist süeziu arbeit“.
Sodann kommen Spangen (Abb.
4A und Tafel II, 8 und 9) und
Handschuhe vor. Den Mantel
hielt man durch eine Schnur, an
yn der vorne zwei Plättchen befestigt
waren, welche Tassel hießen. (Tafel
IlI, 10.) Meleranz 655 heißt es: auf der einen Tassel war Frau
Venus mit Fackeln, auf der andern Amor mit Pfeil und Salben-
büchse dargestellt.
Weit häufiger, vielleicht überhaupt das häufigste Minne-
pfand war der Ärmel. (Vgl. Abb. 5—11) und zwar die großen,
—
+) — süße Arbeit.
416 v.Reitzenstein: Einflüsse des Minnedienstes auf die deutsche Heraldik
weit herabhängenden Prachtärmel. Sie waren jedoch nicht aus
einem Stück geschnitten, oder angenäht, sondern wurden jedes-
mal angeschnürt. Dies geschah am Oberkleid, da gewöhnlich
noch ein Unterärmel sichtbar ist. Häufig ist er nicht aus dem-
selben Stoff, wie das Gewand. Diese Mode kam im XI. Jahr-
hundert auf und wird gegen Ende des XII. Jahrhundert seltener,
verschwindet aber erst im XIII. Man nannte sie stüchen,
mouwen alfr mance. Die Dame nahm den Ärmel von ihrem
Kleide ab und gab ihn dem Ritter, der ihn nach dem Kampf
zurückbrachte. Dabei zog er ihn z. T. selbst an, so Blancandin
1213, oder er befestigte ihn am Helm, Lancelot IV 868. Am
liebsten aber ward er an den Schild genagelt, so Flamenca
7708, wo Guillems de Nevers als Belohnung für den Sieg den
Ärmel erhält. Manchmal findet man ihn auch an der Lanze
angehängt (Herb. Troj. 9516). Betrachten wir einzelne Beispiele:
Herbert von Fritzlar (1210) singt:
9509: Ir sult mir eine stuchen geben
Zu eine Kleinote
Des darf ich zu note (nötig)
Daz man erkenne da bi
Daz ich ein frouwen-ritter si
Ich meine uch frowe damite niet (allein).
9520: Die frowe sprach daz sol sin
Sie reiz im einen ciclatyn
Von irre zeswen (= rechten) hant
uf sinem schaft (= Lanze) er daz bant.
Das schönste Beispiel liefert aber wohl Wolfram v. Eschenbach
im Parzival (1212):
Die kleine Obilot hat Gawan gebeten ihr Ritter zu sein:
er sagt zu und verspricht zugleich, er wolle durch si wâpen
(Wappen) tragen. Bevor sie aber in der Lage ist, ein
würdiges Kleinod zu geben, muß sie selbst, die sie doch noch
mehr Kind als Jungfrau war, zuerst als Dame gekleidet
werden. Da bittet sie ihren Vater, er möge die Mutter er-
suchen ihren Wunsch zu erfüllen. Er sagt auch wirklich:
374,15 Obylöt wil bezzer kleit
si dunket sin mit wirde wert
sit so werden man ir minne gert
und er ir biutet dienstes wil.
Es wird ein kostbares Kleid zugeschnitten und dann heißt es:
v. Reitzenstein: Einflüsse des Minnedienstes auf die deutsche Heraldik 417
375,10 ir muose ein arm gebloezet sin: (freigemacht werden)
dä was ein ermel von genomn
der solte gåwân komn
daz was ir prisente
pfell von Neuriênte
15 verre uz heidenschaft gefuort
der het ir zeswen (rechten) arm geruort (berührt)
doch an de roc niht genaet
dane wart nie vadem zuo gedraet.
Klaudite bringt ihn Gawan, der ihn auf den Schild nagelt und
nach siegreichen Kampf zurückbringt. Es heißt dann:
390,20 Gâwân den ermel lôst
âne zerren vonme schilte
den gap er Clauditten:
an dem orte (Spitze) und ouch då mitten
25 was er durchstochen und durchschlagen
er hiez in Obilôte tragen,
dê ward der magede freude grôz
ir arm was blanc unde blôz
dar über hefte sin dô sån.
Außer dem Ärmel sind von Kleidungsstücken noch die Kopf-
bedeckungen, insbesondere das Gebende und das Schapel
wichtig. (Tafel II, 11 und Tafel II.) Das Gebende ist in
seiner Form vom Schapel verschieden. Es war ein Tuch, das
die Haare zusammenhielt und unter dem Kinn herumging, aber
nur den verheirateten Frauen zukam, altfr. hieß es guimple
(mhd. auch wimpel) und war in späterer Zeit besonders safran-
farbig beliebt (so Erec 8945).
Weit bevorzugter und zugleich am zierlichsten war das
Schapel. Es ist ursprünglich ein Blumenkranz aus lebenden
Blumen. Später erschien es auch als ein gewundenes Stoff-
band oder ein aus Metall gefertigter Kranz, oft reich mit Edel-
steinen verziert.
Wurde das Schapel vom Ritter getragen, so war dies
wohl nur am Helme möglich. Ein reiches Schapel wird
Titurel 1211 beschrieben. Sigune gibt Schionatulander ein
Schapel, der es am Helme befestigt. Es wurde im Unterschied
zum Gebende und Rise nur von Mädchen und Jungfrauen ge-
tragen und wird meist als blauer Ring mit einzelnen Rosen
seltener Lilien dargestellt. Franz. hieß es couronne oder cha-
pelet. Im Wigamur heißt es:
418 v.Reitzenstein: Einflüsse des Minnedienstes auf die deutsche Heraldik
Phyoplerin von Aratun
Auff einem ross praun
Der furt ein sper in seiner hand
dem hette sein amey (Geliebte) gesandt
Bey tausend marken ain clainot
Das was ain schappel von golde rot «
Das furt er auf dem helme sin.
Die Damen schenkten aber auch Geräte ihrer Umgebung,
so wird Tristan Il, 99 eine Schere erwähnt.
t4 Häufig kommen natürlich Blumen (vgl. Abb. 12 u. 13)
vor. Insbesondere Rosen und Vergißmeinnichte, was sich
übrigens ja bis heute als Geschenk der Liebenden erhalten hat.
Das Antwerpner Liederbuch sagt unter Nr. 96:
Had ic nu .drie wenschen
drie wenschen also eel,
so soude ic nu gaen wenschen
die rosen op eenem steel
Die een sonde ic plucken
die ander laten staen.
die derde soude ic schenken
der lieffter die ic haen.
Eine Hdsch. von 1603 (vgl. Hoffmanns Mon.-Schrift von
Schlesien 1829, III, 550) gibt folgendes Liedchen:
Drauf gab sie mir zu pfande
vergißmeinnicht ein Kranz
den gab sie mir zu pfande
mit ihrer schneeweißen Hand
drauf gab ich ir herwider
von gold ein ringlein klein
dem tragt von meinetwegen
Herzallerliebste mein.
v. Reitzenstein: Einflüsse des Minnedienstes auf die deutsche Heraldik 419
Wir haben somit gesehen, wie die Dame ihrem Ritter eine
Reihe Liebespfänder gab, die diese an Helm oder Schild,
also an dem Platze, wo sich auch das Wappenbild entwickelte,
befestigte. Da war es denn auch nur noch ein Schritt,
Bilder dieser Gegenstände zu verwenden, sei es in plasti-
scher Form als Kleinod auf dem Helm, oder gemalt als Schild-
bild. Und damit erreichen wir eine zweite Stufe: Der
Ritter, der ins Tournier zieht, nimmt für dieses
Tournier, seiner Dame zu lieb, ein eigenes Wappen
an, das mit seinem wirklichen Wappen nichts zu tun
hat, oder, er bedient sich an Steile seines Kleinods
eines Minnekleinods, oder anstatt seines Wappen-
bildes eines solchen mit Beziehung auf die Minne.
Hatte er bisher auf seinem Schilde oder Helme nur ein Pfand
seiner Geliebten befestigt, wobei das wirkliche Wappen vor-
handen war, so ward dieses jetzt durch ein Minnebild ersetzt,
wenn es auch nicht für immer getragen wurde. Dabei kommt
es auch vor, daß das wirkliche Wappen oft nur ein Bei-
zeichen erhält, das den Frauenritter bezeichnete.
Diese Gruppe ist besonders wichtig, weil sie oft erblich
wurde. So singt Hiltbolt von Swanegou:
Ain schappel brun und underwilent ieblang
hat mir gehöhet das herze und den mut.
Ein Angehöriger seiner Familie legt wirklich um sein
Wappenbild ein Schapel und tut es nicht nur für ein spezielles
Tournier, sondern er läßt sich ein Siegel schneiden, auf dem
es angebracht ist (Tafel Ill, 12). Wenn man bedenkt, wie
wertvoll damals ein Siegelstock war, wie er oft vom Vater
auf den Sohn vererbt ward, so sieht man, daß es Berthold
v. Swanegow damit wirklich. ernst war. Vielleicht hat bereits
sein Vorfahre Hiltbold das Schapel als erblich angenommen.
Bei der weiteren Betrachtung haben wir zu unterscheiden:
1. Solche Bilder, die Darstellungen von Gegenständen
waren, wie sie die Dame gab.
2. Solche, die auf die Liebe und das Liebesverhältnis
selbst anspielen.
3. Darstellung von Personen.
Besonders gerne wählten die Ritter den Ärmel, sehr häufig
jetzt als wirklichen Arm, der einen Ring hält; ein derartiges
Minnekleinod diente z. B. dem Grafen von Saarbrücken als
420 v. Reitzenstein: Einflüsse des Minnedienstes auf die deutsche Heraldik
Helmschmuck, während er auf dem Schild sein wirkliches
Wappenbild führt (Tafel Ill, 6). So beschreibt Hartmann
v. d. Aue im Erec 2295 drei Ärmel, wovon einer golden,
der ander von zinober röt
dur üf er slahen geböt
ein mowen von silber wiz.
Der dritte war aus Zobel auf Gold und darüber ein Buckel.
Hier ist es also eine Darstellung auf dem Schild.
Eine noch originellere Komposition gibt um 1360 der
Pleier. Der Helmschmuck des Meleranz (3297) stellte nämlich
eines Ritters und einer Frauen Arm dar, „Asö die liebe im
geböt“. Er hatte sie selbst gewählt, wie uns die Zeilen:
Die Minne in alsö wiset
Daz er die Kleinode truve
und .
durch daz der junge Meleranz
disiu Kleinät het erdäht,
af sinem helm und wol volbräht.
Die beiden Arme sollten die Treue bezeichnen; es heißt:
nach in triuwe zwuo hende schin
stuonden üf dem helme sin
ein arm was rôt der ander blâ
Die hende wiz, auch sach man dâ
an ieclîchen vingr ein vingerlîn (Ringchen)
von golt, die gäben liehten schîn.
Auch das Schapel ward dafür gewählt. So sagt Ulrich
von Lichtenstein von seinem Gegner:
und fuort ouch ûf dem helm sîn
ein schapel: daz gap liehten schîn
von golde und ouch von perlîn lieht.
Aber häufiger als diese Gegenstände, die den Rittern nicht
deutlich genug zu sein schienen, wählten sie andere Auswege.
So ist es zunächst der Pfeil mhd. stral. Wir finden ihn im
Schilde des Minnesänger Heinrich von Strettlingen (s. Abb.
19 und 20), wobei als Kleinod zwei Äste mit Rosen besetzt
dienen. Das Wappen ist der Manessischen Handschrift in
Heidelberg entnommen, die für diesen Abschnitt unserer Be-
trachtung überhaupt eine Reihe der originellsten Beispiele
liefert. So zeigt der Schild Alrams von Gresten in Gold
einen blauen Querbalken, auf dem in weißen Lettern Amor
steht (Tafel III, 13). Der Bucheimer führt einen roten Schild
mit aufgeschlagenem Buche, in dem zu lesen ist
Minne sinne. tninget
Strale Quale bringet. (Tafel VI, 14.)
v. Reitzenstein: Einflüsse des Minnedienstes auf die deutsche Heraldik 421
Beides sind, von den Aufschriften ganz abgesehen, wohl
kaum die wirklichen Wappenschilde. Der berühmte Frauen-
ritter Ulrich von Lichtenstein behält seinen Schild bei, nimmt
aber als Helmkleinod ein Bild der Frau Minne selbst. (Abb. 13a.)
Damit sind wir bei der dritten Art der Darstellung
von Personen und dergleichen angelangt.
Frau Minne erscheint als Königin in rotem Gewand und
hält einen roten Strahl in der Rechten und einen Feuerbrand
in der Linken. Ähnlich ist das Wappen, das Meister Heinrich
Frauenlob wählte. Wie dieser Minnesänger seinen Namen
wechselte (er soll der Markgraf Heinrich von Meißen, + 29. Nov.
1318, gewesen sein), so änderte er auch sein Wappen und
nahm ein reines Liebeswappen ein: Die Frau Minne als Helm-
kleinod und als Schildbild auf grünem Grund. Wahrscheinlich
ließ seine Geliebte ihn auch öfters lange hoffen. (Abb. 13b.)
Konrad v. Würzburg läßt in Partonopier und Meliur dem
Herzog Galathisgar des Liebesgottes Bild im Schilde führen.
20,724 Amûr, der süezen minne got
an sinêm schilde swebte
nach wunsche, als ob er lebte
was er mit lichter varwe dran
gemalet als ein nacked man
der vetech (fittige) angebunden hat,
noch roeter danne ein rosenblatt
was daz veld dar unter
und schein daruz ein wunder
der lichten margariten.
Am sonderbarsten aber ist der Schild des Feirefiß (Parci-
val 741,15). Er führt das Fabeltier Ecidämon:
durch der minne condwier (Führung)
ecidemön daz reine tier
422 v.Reitzenstein: Einflüsse des Minnedienstes auf die deutsche Heraldik
het im ze wäpen gegeben
diu Küngin Secundille
diz wäpen was ir wille.
Conrad von Würzburg, ł 1287, läßt dem Jason Jupiters
Bild als Helmkleinod tragen, auf das er der Medea Treue ge-
schworen hat.
Ganz besonders häufig aber scheint man eine Frauen-
büste gewählt zu haben, die die Geliebte selbst darstellte
(Tafel III, 15, 16, 17, 18).
Damit haben wir auch den zweiten Teil erledigt und
erübrigt uns nun nur noch zu untersuchen, ob es sich auch
nachweisen läßt, daß solche Minnewappen ganz oder ein-
fach erblich wurden, d. h. ob der Minnedienst einen fest-
stehenden Beitrag zur Heraldik lieferte. Wir werden sehen,
daß alle die obengenannten Minnepfänder sowie alle Symbole
in Wappen vorkommen. Der zuerst erwähnte Haarzopf
tritt allerdings selten auf, wie er dargestellt wurde, zeigt bei-
folgende Abbildung (Tafel III, 19). Dagegen findet sich der
Ärmel sehr häufig. Er macht eine vollständige Entwicklung
durch, so daß er manchmal kaum wieder zu erkennen ist.
Ein Kopftuch zeigt uns das Wappen der Fröwler aus Basel.
Wir sehen einen Frauenkörper als Kleinod, dessen Haupt von
dem oben erwähnten eigentümlichen Kopftuch bedeckt wird,
während dasselbe ausgebreitet als Schild-
bild erscheint (Abb. 14. Wenn unser
Wappen auch bis zu einem gewissen
Grade ein redendes ist, so war es doch
eine Folge des Minnedienstes und seiner
Pfänder, daß ein derartiges Wappenbild
entstehen konnte.
Das Gebende zeigt uns ein Wappen
der Ringenberg. Auch hier haben wir es
mit einem redenden Wappen zu tun, aber
gewiß war es die Folge des Minne-
dienstes, daß der Ring durch diese
Kopfbinde dargestellt wird, und nicht etwa durch einen
Fingerring (Abb. 15). Inwieweit uns im Wappen der
Schäppeler ein Minnewappen entgegentritt, mag dahin gestellt
bleiben, immerhin ist es jedoch interessant als Beispiel eines
deutlich und schön dargestellten Schapels (Abb. 16). Mit
v. Reitzenstein: Einflüsse des Minnedienstes auf die deutsche Heraldik 423
großer Sicherheit kann das Kleinod von Nr. 244 der Züricher
Wappenrolle als ein dem Minnedienste seine Entstehung ver-
dankendes Schapel bezeichnet werden. Ganz deutlich ist
diese Beziehung sicherlich im Wappen der Sina (Abb. 17).
Unser Beispiel ist der Wappenrolle der Gesellschaft zur „Katze“
Konstanz 1547 entnommen, so daß es also als wirkliches
Wappen hinzunehmen ist, da man im 16. Jahrhundert gewiß
keine Minnewappen für vorübergehenden Gebrauch mehr aus-
wählte. Auch Schnallen und Spangen kommen ab und zu
vor, ebenso der Armring. Für den Frauengürtel haben
wir ein sehr schönes Beispiel im Wappen der Herrn v. Stein,
einem kyburgischen Ministerialengeschlecht, das auf Siegeln
öfters zu finden ist. Sehr gern brachte der Frauenritter eine
Damenbüste auf seinem Helm an, die vielleicht oft sogar die
Geliebte persönlich darstellen sollte. ’
Es dürfte jedoch sehr schwer sein,
die in Rücksicht auf den Minne-
dienst gewählten Frauenbüsten von
denen der wilden Weiber usw. zu
unterscheiden. Die von uns hier
aus der Züricher Wappenrolle
zusammengestellten dürften aber
immerhin zu unserem Gesichtskreis
gehören, denn die Dämchen er-
scheinen zu modehaft, zu zierlich
um sie anderweitig zu erklären. Noch
deutlicher wird die Beziehung, wenn
der Damenbüste Rosenstengel in
424 v.Reitzenstein: Einflüsse des Minnedienstes auf die deutsche Heraldik
die Hand gegeben werden, oder wenn gar an Stelle der Arme
Rosenzweige, oder ein Geweih mit Rosen besteckt, dem Körper
entwachsen. (Tafel III, 15, 16 und Abb. 12.) So auf den
Wappen der Grafen von Tierstein oder von Rapperswil, wo
außerdem noch das Schildbild drei Rosen aufweist. (Abb. 18.)
Auch ganze Arme treten auf Siegelbildern und in Wappen
auf, die dann meistens zu ihrer Charakterisierung noch einen
auf die Minne bezüglichen Gegenstand halten. So hält der
Arm, den Egidius v. Cons 1199 in seinem Siegel führt, ein Ver-
gißmeinnicht oder eine Rose (Abb. 11), während ein Wappen
des Codex Balduineus einen Arm zeigt, der zwischen seinen
Fingern einen Ring hält. Sehr deutlich zeigt den Übergang
eines ursprünglich wohl nur zeitweise verwendeten Minne-
wappens in ein lebenslänglich verwendetes, ja in ein in ähn-
licher Form auch auf andereSprossen der Familie übergehendes,
das Minnewappen H. v. Strätlingens, dessen wir bereits Er-
wähnung getan haben. Wir finden es in der Manessischen
Handschrift, im Naglerschen Bruchstück in Berlin und auf dem
Grabstein Heinrich II. v. Strätlingen, f 1266 in Wettingen. Er
zeigt stets Stral (Pfeil) und Rosenäste, und wenn vielleicht auch
das Naglersche Bruchstück von der Manessischen Handschrift
abhängig ist, so ist doch der Grabstein für sich eigens zu
betrachten. Aber interessant wird das Verhältnis vor allem
dadurch, daß auf einem Siegel Rudolfs v. Strätlingen, Herrn zu
Wimmis von 1259 ebenfalls auf diese Wappenbilder Bezug
genommen wird. Doch enthält hier der Schild außer dem
P Fa tå
: À t ; d
Me IE rn oe
U Tr
Tafel II. Herr Jakob v. d. Warte im Bad.
(Miniatur der Manesseschen Liederhandschrift Heidelberg.)
(Zu Reitzenstein: Einflüsse.)
“ 2
vos
v. Reitzenstein: Einflüsse des Minnedienstes auf die deutsche Heraldik 425
Stral noch drei Rosen, so daß deutlich bewiesen ist, wie all-
mählich ein Minnewappen in ein wirkliches, erbliches überging.
(Abb. 19 und 20.) Ebenso deutlich ist ein Wappen, das wir
Gelre’s Wappenbuch entnehmen. Es ist den Herrn von
Graestoc (und zwar Fritz William Lord of Greystock, } 1358),
eigen. Deutlicher als hier könnte die Herkunft nicht aus-
gedrückt werden. Der gestreifte Schild ist vielleicht das ur-
sprüngliche Bild, das dann während der Minnezeit mit Schapeln
belegt wurde. Daß diese aber nicht von ungefähr hierher ge-
setzt wurden, zeigt die mächtige rote Flamme, die an Stelle
des Kleinodes aus einer goldenen Krone emporlodert. Sie ist
von jeher ein Bild der verzehrenden Leidenschaft der Liebe
gewesen. (Abb. 21) Ein echtes Minnewappen ist auch Nr. 245
der Züricher Wappenrolle. Wir sehen ein Rad, von jeher ein
Bild des Glückes, halb rot, halb grün, mit roten Rosen belegt,
worin deutlich die Hoffnung auf eine glückliche Liebe aus-
gesprochen liegt. (Abb. 22.) Rosen und ähnliche Gegenstände
werden als Minneabzeichen oft einem bestehenden Wappen
beigefügt und vererben sich dann. Gewiß sind die Rosen, mit
denen das Wappen der Kämrer belegt ist, ursprünglich nicht
dagewesen, da auch ohne sie das Wappen ein vollständiges
ist. Dasselbe wird wohl auch von Nr. 142, dem Wappen des
Gütingen, wo ein mit Rosen belegter Bischofshut das Helm-
kleinod bildet, was gewiß nicht ursprünglich ist, der Fall ge-
wesen sein. (Tafel Ill, 20.) Zu diesen Minneabzeichen, die zum
wirklichen Wappen hinzutreten, gehören in erster Linie die
28
426 Weil: Der Einfluß des Klimas auf die Geschlechtsdifferenzierung
Frauenbüsten, als zweites Kleinod neben dem ursprünglichen
am Helm angebracht. Der Ritter will das Bild seiner Dame an
bevorzugtem Platz mit sich tragen. So 295. Das eigentliche
Kleinod ist der Flügel, wie aus dem Schildbild hervorgeht.
Der Frauenkopf ist nur dazwischen geschoben, ebenso ist es
bei 275 und bei 64 der Zürcher Wappenrolle.e Ob auch in
Nr. 265 derartige Beziehungen zu finden sind, ist fraglich, ja
sogar wenig wahrscheinlich (Abb. 23 und 24).
Auch in den fliegenden Binden, die in späterer Zeit, be-
sonders bei Tyroler Wappen um die Kleinodien geschlungen,
auftreten, scheinen Nachklänge von Minneabzeichen zu
stecken (Abb. 25). Sie wurden in vielen Fällen auch erblich
verliehen, so beim Wappen der Annenberg.
Damit sind wir am Ende unserer Betrachtung angelangt,
es war ein weites Gebiet, das wir durchwandert haben; jene
Menschen sind alle dahin gegangen, aber die Liebe, die das
Motiv ihrer Handlungsweise war, sie dauert fort. Noch treibt
sie in gleicher Weise im Lebenslenze jedes Menschen ihre
schönsten Blüten, noch zieht sie mächtig durch der Dichtung
edelste Werke, noch haucht sie der Kunst ein frisches Leben
ein, und wie wir heute zurückblickten auf die frohesten
Stunden im Leben unserer Vorfahren, so blickt gar mancher
mit ergrautem Scheitel mit Freude zurück auf die frohen
Stunden seiner ersten Liebe, und wie wir heute über so
manche Handlungsweise unserer Väter lächeln, die ihnen die
Liebe eingegeben hat, so mag vielleicht auch manchmal einer
lächeln, wenn er der eigenen Jugendzeit gedenkt.
IK
DER EINFLUSS DES KLIMAS AUF DIE
GESCHLECHTSDIFFERENZIERUNG,.
Von Dr. ARTHUR WEIL, Berlin.
Abteilungs-Vorstand am Institut für Sexualwissenschaft, Berlin.
Ey immer weiter fortschreitende Erforschung des Einflusses
der Drüsen mit innerer Sekretion auf den Körperbau,
das Triebleben, ja auf die gesamte seelische Tätigkeit hat
uns heute zu der Erkenntnis geführt, daß der Unterschied
zwischen den beiden Geschlechtern hauptsächlich von den
männlichen und weiblichen Keimdrüsen abhängig ist. Die
Verschiedenheiten im Skelett, in der Behaarung, der Stimme,
in der Triebrichtung treten erst in der Pubertät, der beginnenden
Weil: Der Einfluß des Klimas auf die Geschlechtsdifferenzierung 427
Reifung der Hoden und Eierstöcke, auf; ihre operative Ent-
fernung vor dieser Zeit bewirkt, daß die Geschlechtsunterschiede
überhaupt nicht zur weiteren Ausbildung gelangen, daß ein
ungeschlechtlicher Typus, der Kastrat, entsteht. Umgekehrt
wird bei frühzeitiger Entwicklung der Keimdrüsen auch die
geschlechtliche Reife beschleunigt; Beispiele hierfür finden wir
in großer Anzahl in der medizinischen Literatur vor, Fälle von
6—9jährigen Knaben und Mädchen, die in der Behaarung, der
Entwicklung ihres Genitale und ihres Geschlechtstriebes auf
der Stufe von 18—20jährigen standen, und deren Keimdrüsen,
übermäßig schnell entwickelt waren. — In unseren mittel-
europäischen Breiten fällt die Zeit der Mannbarkeit für Knaben
etwa in das 14.—16,., für Mädchen in das 13.—15. Lebensjahr,
so daß die letzteren schneller die geschlechtliche Differenzierung
der Körperformen erkennen lassen. — Wir wissen aber schon
aus den Schilderungen älterer Forscher, daß in heißeren Klimaten
diese Reife bedeutend früher einsetzt und in den Äquator-
gegenden der Menstruationsbeginn für Mädchen in das 9. bis
11. Lebensjahr fällt.
Nach unseren theoretischen Voraussetzungen müssen wir
annehmen, daß diese früher einsetzende Pubertät durch eine
schnellere Reife der Keimdrüsen bedingt sein muß. Die Ab-
hängigkeit der Drüsen mit innerer Sekretion von der Temperatur
der Umgebung konnte L. Adler an winterschlafenden Tieren,
Fledermäusen und Igeln, nachweisen, deren Schilddrüse während
der kalten Jahreszeit ihre Tätigkeit stark einschränkt, um bei
Erhöhung der Außentemperatur ihre Sekretion wieder auf-
zunehmen, was im mikroskopischen Bilde an der Veränderung
der Drüsenzellen und ihres Sekretes nachgewiesen werden kann.
Ferner konnte er zeigen, daß bei jungen Froschlarven, die bei
abnorm hohen Temperaturen aufgezogen waren (28 Grad),
eine Verkümmerung der Schilddrüse eintrat als Ausdruck der
verminderten Wärmeerzeugung, während bei Kältetieren
(10 Grad) große Drüsen gefunden wurden, deren Zellen stark
gewuchert waren, ein Beweis für die erhöhte Zelltätigkeit und
damit für eine Steigerung des Stoffumsatzes in dem tierischen
Organismus, welche die vermehrte Wärmeabgabe wieder aus-
gleichen sollte. — Mit der Schilddrüse stehen die Keimdrüsen
und eine andere innersekretorische Drüse, der Hirnanhang, die
Hypophyse, in engstem Zusammenhange; ihre Vergrößerung
28*
428 Weil: Der Einfluß des Klimas auf die Geschlechtsdifferenzierung
bedingt nach Livinton und Degener eine Verkleinerung der
letzteren und nach anderen auch eine Hemmung der Keim-
drüsentätigkeit. — Den direkten Beweis für die Abhängigkeit
der geschlechtlichen Entwicklung von der Außentemperatur
konnten Steinach und Kammerer in Versuchen an Ratten er-
bringen, die bei einer Temperatur von 35 Grad mehrere Monate
lang aufgezogen wurden. Die Keimdrüsen dieser Versuchstiere
zeigten im Vergleich zu den Organen von Ratten, die in un-
geheizten Ställen gehalten waren, eine starke Vermehrung des
spezifischen Gewebes (Zwischenzellen, Pubertätsdrüse); ihr
Genitale, Samenblase, Vorsteherdrüse, Penis des Männchen,
Eileiter und Uterus der Weibchen zeigten eine vorzeitige Ent-
wicklung gegenüber den normalen gleichaltrigen Kontrollen,
und der Geschlechtstrieb erwachte bei solchen „Hitzeratten“
einen vollen Monat früher als bei ihren Geschwistern. — Der
Unterschied in der Körpergröße und im Gewicht, der bei
normalen Ratten mit der fortschreitenden Entwicklung immer
deutlicher wird, ist bei diesen Hitzetieren verwischt; bei fünf
Monate alten Versuchstieren betrugen die Gewichtsunterschiede
zwischen Männchen und Weibchen nur 5—7 g gegen 29 g
normaler Ratten. Eine Erklärung hierfür gibt uns auch wieder
die schnelle Reife der Keimdrüsen; sie beeinflussen schon
normaler Weise das Knochenwachstum so, daß durch Ver-
knöcherung der Wachstumszone der Knochen das Längenwachhs-
tum mit fortschreitender Geschlechtsreife zum Stillstand kommt;
entsprechend der schnelleren Entwicklung der weiblichen Drüse
ist auch das Wachstum des weiblichen Geschlechts schon zu
einer Zeit abgeschlossen, wo das männliche Skelett noch weiter
wächst, so daß später die Männer die Frauen an Körperlänge
überragen. Parallel hiermit geht auch eine schnellere Ent-
wicklung der übrigen Geschlechtsmerkmale, so daß die Dif-
ferenzierung des kindlichen Körpers in den männlichen und
weiblichen nicht so ausgesprochen ist wie es bei langsamerer
Reife der Fall gewesen wäre.
Diese im Tierversuch gefundenen Ergebnisse erklären uns
auch den schon lange bekannten Einfluß der Außentemperatur
auf die Geschlechtsdifferenzierung des Menschen. Durch eine
umfassende Literaturzusammenstellung haben die beiden Forscher
den Beweis geführt, daß auch die Ausbildung der menschlichen
Geschlechtscharaktere vom Klima abhängig ist. Bei den Völkern
Weil: Der Einfluß des Klimas auf die Geschlechtsdifferenzierung 429
tropischer Gegenden sind die Geschlechtsunterschiede in der
Körperlänge fast ausgeglichen, und die Mädchen sind in den
Wachstumsjahren den Knaben stets voraus, im Gegensatz zu
nördlichen Breiten, wo die letzteren nach dem 15. Lebensjahre
diesen Vorsprung wieder einholen: in der Gesamtlänge über-
ragen die Europäer stets die Völker der Äquatorialgegenden. —
Ein weiteres Geschlechtsmerkmal, der Unterschied in der
Körperbehaarung, ist ebenfalls in heißen Gegenden verwischt;
Bartbildung gehört bei den farbigen Negerrassen zu den Aus-
nahmen, und auch die übrigen Körperhaare sind nur spärlich
entwickelt, während bei Männern und Weibern kälterer Klimate
die Anordnung der Schamhaare, der Unterschied in der Körper-
und Kopfbehaarung Mann und Weib streng von einander
scheidet. — Ähnlich wie bei den Hitzetieren sind dagegen die
äußeren Geschlechtsteile stark entwickelt: der Penis der Männer
und die Schamlippen der Frauen in Aquatorialgegenden sind
bedeutend größer als die von Europäern (Hottentottenschürzen);
dagegen ist die Entwicklung der Brüste bei Negervölkern kein
so spezifisches Geschlechtsmerkmal; bei Männern findet man
oft stark entwickelte Milchdrüsen, die bei den Negerweibern
wieder schnell verfallen, so daß auch hier keine ausgesprochenen
Differenzierungen bestehen.
Ich erwähnte schon, daß die gesamte Geschlechtsreife in
heißen Klimaten bedeutend früher einsetzt als in nordischen
Ländern. Bei Mädchen ist das äußerlich sichtbare Zeichen
hierfür die beginnende Menstruation, die schon nach den alten
Berichten Albrecht von Hallers mit zunehmender Breite immer
später einsetzt, so daß sie bei Lappländern und Samojeden
erst im 20. Lebensjahre beginnt, bei Javanerinnen dagegen
bereits im 9. Jahre. Außer der geographischen Breite spielen
hierbei die Höhe über dem Meeresspiegel, die durchschnittliche
Luftfeuchtigkeit und andere Faktoren eine große Rolle. Dagegen
scheint der Menstruationsbeginn unabhängig von der Rasse und
Vererbung zu sein, da Kinder von Europäerinnen, die in wärmere
Gegenden ausgewandert waren, ebenso früh menstruierten wie
die Mädchen der Eingeborenen. — Bei Knaben tritt der Ge-
schlechtstrieb in wärmeren Klimaten ebenfalls früher auf als
in nördlichen Breiten; bekannt ist auch die Zunahme der Potenz
von Europäern, die in heiße Kolonien versetzt werden. —
Entsprechend der früh einsetzenden körperlichen Reife tritt in
430 Fehlinger: Gesellschaftliche Fortpflanzungspflege
warmen Klimaten aber auch wieder ein früheres Altern ein; so
ist die Indierin meist schon mit 30 Jahren zeugungsunfähig,
die Abessinierin angeblich in einzelnen Fällen schon mit 20 Jahren.
Die Fruchtbarkeit selbst scheint von einer günstigen mittleren
Temperatur abhängig zu sein, da in abnorm heißen Äquatorial-
gegenden und im hohen Norden weniger Kinder im Durchschnitt
von einer Frau geboren werden als in mittleren Breiten.
Alle diese Beispiele zeigen uns die Abhängigkeit der
Geschlechtscharaktere von der Temperatur der Umgebung. —
Früher suchte man diese Beschleunigung der Reife entsprechend
den damaligen theoretischen Anschauungen über die Regelung
der Lebenstätigkeit durch gesteigerte nervöse Erregbarkeit und
erhöhten Stoffwechsel zu erklären; heute wissen wir, gestützt
auf experimentale Befunde an Tieren, daß die schnelle Ent-
wicklung der Keimdrüsen in heißen Klimaten die Ursache dafür
ist, daß die überstürzte Reifung die körperlichen Geschlechts-
unterschiede bei den Völkern tropischer Gegenden nicht so zur
vollkommenen Ausbildung gelangen läßt, wie es bei den lang-
samer reifenden Völkern des Nordens der Fall ist.
DIR
GESELLSCHAFTLICHE FORTPFLANZUNGSPFLEGE.
Von H. FEHLINGER.
D! erbliche Veranlagung der Menschen, die eine Lebens-
gemeinschaft bilden, işt für deren Schicksale von aller-
‚ größter Bedeutung. Wo viele körperliche und geistige Kraft
vorhanden ist, werden bessere Zustände herrschen als dort,
wo Schwäche überwiegt, wo eine große Zahl von Menschen
der Hilfe anderer bedarf. Die Erhaltung und Fortentwicklung
der Kultur hängt ebenso wie das körperliche Wohlbefinden
von der Erbveranlagung ab. Wohl werden die Kulturgüter im
wesentlichen von Geschlecht zu Geschlecht überliefert, aber es
wirkt doch jedes Geschlecht in gewissem Maße gestaltend an
diesem Überlieferungsgut, das nur dann in seinem Reichtum
erhalten werden kann, wenn die geistige Befähigung der Nach-
kommen nicht geringer ist als die der Vorfahren.
Die Aufnahme und Verwertung der sich häufenden
Traditionsgüter hat eine Grenze an den geistigen Anlagen der
Menschen. Wo die steigenden Anforderungen des Kulturlebens
an die Völker nicht von einer Höherentwicklung der stärker
Fehlinger: Gesellschaftliche Fortpflanzungspflege 431
beanspruchten geistigen Erbanlagen begleitet sind, oder wo
statt dessen gar ein Rückgang der durchschnittlichen Tüchtig-
keit dieser Anlagen stattfindet, da müssen die gegebenen
Kräfte in zunehmendem Maße angespannt werden, an die
Stelle der mäßigen Anstrengung der geistigen Fähigkeiten tritt
eine stärkere. Diese Anspannung hat aber ebenfalls eine Grenze,
die nur auf Kosten der Lebensfreudigkeit überschritten werden
kann. Durch zweckmäßige Nutzung der vorhandenen Fähig-
keiten, durch Einziehung, kann viel erreicht werden; eine
Steigerung der Fähigkeiten selbst aber hat Verbesserung der
Erbanlagen zur Voraussetzung. Es entzieht sich unserer Be-
urteilung, ob eine solche in geschichtlicher Zeit stattfand.
Wilh. Schallmeyer hielt es nicht einmal für ausgeschlossen,
daß der Durchschnitt der ererbten geistigen Veranlagung der
europäischen Kulturvölker unter dem ihrer wilden Vorfahren
steht und daß auch die besonders guten geistigen An-
lagenverbindungen, aus denen sich heute bei geeigneter Er-
ziehung die erfindungsreichsten Köpfe entwickeln, bei unseren
unzivilisierten Vorfahren im Verhältnis nicht seltener waren
als heute; es fehlten nur damals die Bedingungen zur Wertung
der Anlagen. Der Wechsel von Hunger und Überfluß, Mangel
an Schutz gegen Unbilden der Witterung, gesundheits-
schädigende Lebensweise usw. haben diese Wertung gehemmt,
aber sie ist in vollem Maße auch nur dort möglich, wo durch
schrittweise Kulturarbeit, Häufung von Erkenntnissen usw. die
erforderliche Vorarbeit geleistet wurde.*)
Die Frage ist, ob über die zweckmäßige Wertung der
innerhalb einer Lebensgemeinschaft vorhandenen Erbanlagen
hinaus eine Verbesserung derselben erreichbar ist, ob wir
zu höheren Lebensmöglichkeiten kommen können, Jedenfalls
dürfen wir auf willkürliche Maßregeln, die hierauf zu richten
wären, keine allzugroßen Hoffnungen setzen, denn eine auf
Steigerung gewisser Eigenschaften gerichtete künstliche
Zuchtwahl ist doch beim Menschen nicht gut durchzuführen,
ohne zugleich wesentlichen Bestandteilen unseres Menschen-
tums ein Ende zu bereiten. Man muß Kurt Goldstein zu-
stimmen**): „Viel mehr dürfte zu erreichen sein, wenn wir die
Anlage als konstant annehmen und das Verhältnis zum Milieu
*) Schallmeyer W., Vererbung und Auslese, 3. Aufl.. S. 225.
+*+) Goldstein K., Über Rassenhygiene, S. 83, Berlin 1913.
432 Fehlinger: Gesellschaftliche Fortpflanzungspflege
umzugestalten suchen und für die günstigsten Anpassungs-
verhältnisse Sorge tragen. Diese werden aber dann gegeben
sein, wenn wir nicht nur äußerlich existenzfähig sind, sondern
wenn wir auch gleichzeitig die Entfaltungsmöglichkeit für alle
in uns wohnenden körperlichen wie seelischen Kräfte haben.“
Von praktischer Bedeutung sind jene Bestrebungen, die
auf Beseitigung gewisser erblicher Eigenarten abzielen, die als
schädlich gelten. Das Mittel dazu soll zielbewußte Fort-
pflanzungshygiene sein, welche die mit den Anlagen zu den
nicht geschätzten Eigenarten behafteten Personen von der
Zeugung von Nachkommenschaft ausschließt.
Eine ziemlich weitgehende hierauf bezügliche Gesetzgebung
besteht in den Vereinigten Staaten von Amerika.
Dort wurde zuerst die Beeinflussung der Bevölkerung durch
Gesetze zur Beschränkung der Eheschließung erstrebt. Geistes-
kranke und Schwachsinnige sind in mehr als 30 amerikanischen
Bundesstaaten von der Verehelichung ausgeschlossen, Ehe-
verbote anderer Art haben überdies die Staaten Alabama,
Connecticut, Kansas, Indiana, Michigan, Minnesota, New Jersey,
New York, Ohio, Utah, Vermont, Washington, Wisconsin,
Pennsylvanien, Nord-Dakota, Oregon. Sie erstrecken sich
hauptsächlich auf Epileptiker, Geschlechtskranke, der öffent-
lichen Wohltätigkeit zur Last fallende Personen und auf
Alkoholiker, in einigen Fällen auch auf Personen, die an
übertragbaren Krankheiten leiden (einschließlich Tuberkulose)
und auf Gewohnheitsverbrecher. Zur Durchführung dieser
Gesetze ist bisher wenig unternommen worden, man läßt
zumeist jeden heiraten, der will. Nur in den Staaten Alabama,
Nord-Dakota, Oregon und Wisconsin, muß sich jeder Bräutigam
vor der Eheschließung daraufhin untersuchen lassen, ob er
geschlechtskrank ist.*) In letzter Zeit wurde aber das Haupt-
gewicht auf mehr wirksame Mittel gelegt, nämlich die Ab-
sonderung gewisser Personenkreise in Anstalten und
deren Unfruchtbarmachung beim Verlassen der Anstalten.
Gesetze liber Unfruchtbarmachung von Verbrechern, Geistes-
kranken usw. wurden bisher in 15 von den 48 Unionstaaten
erlassen. In jenen Staaten, wo man die Unfruchtbarmachung
aus Gründen der Rassezucht und nicht als Strafmaßnahme
*) Roloff, B. C.: The Eugenic Marriage Laws. „Social Hygiene“,
1920, S. 227 u. f.
Fehlinger: Gesellschaftliche Fortpflanzungspflege 433
verfügte, wurden die betreffenden Gesetze in Berufungsfällen
von den Staatsgerichten stets als verfassungswidrig erklärt.
Die Entmannung von Gewohnheitsverbrechern und Notzüchtern
wurde nur deshalb gestattet, weil die Einzelstaatsverfassungen
„grausame und außergewöhnliche Strafarten“ nicht verbieten.
Ein derartiges Verbot enthält aber die amerikanische Bundes-
verfassung und es unterliegt keinem Zweifel, daß die Un-
giltigkeitserklärung aller Sterilisationsgesetze erfolgt, wenn
einmal an das oberste Bundesgericht berufen wird.
Die Wirksamkeit der Sterilisationsgesetze erstreckt sich
teils auf alle Personen, teils auf gewisse Kategorien von Per-
sonen, die in Gefängnissen und anderen Staatsanstalten für
antisoziale Elemente untergebracht sind. Unfruchtbar gemacht
werden können: 1. In Indiana alle von drei Ärzten als körper-
lich und geistig unverbesserlich und zur Fortpflanzung un-
geeignet befundenen Anstaltsinsassen. 2, In Washington
Gewohnheitsverbrecher sowie wegen geschlechtlichen Miß-
brauchs weniger als zehnjähriger Mädchen oder wegen Not-
zucht verurteilte Personen. 3. In Californien alle mit erblichen
Geisteskrankheiten behafteten Personen, Schwachsinnige, sexuell
Perverse, von normaler Mentalitäterheblich abweichende Personen
und Syphiliker. 4. In Connecticut alle Insassen der Staatsgefäng-
nisse und Staatshospitäler. 5. In Nevada dieselben Personen wie
in Washington. 6. In Iowa Schwachsinnige, Kretinen, Geistes-
kranke, Syphilitiker. 7. In New Jersey Notzüchter und un-
verbesserliche Verbrecher. 8. In New York die Insassen von
Staatsirrenanstalten, Staatsgefängnissen, Besserungs- und
Wohltätigkeitsanstalten und Notzüchter. 9. In Nord-Dakota
die Insassen von Staatsgefängnissen, Besserungsanstalten,
Anstalten für Schwachsinnige und Geisteskranke. 10. In
Michigan die Insassen aller Anstalten, die ganz oder teilweise
aus Öffentlichen Mitteln unterhalten werden. 11. In Kansas
die Insassen aller Anstalten für Geisteskranke, Epileptiker und
Schwachsinnige und der Besserungsanstalten für Mädchen.
12. Wisconsin die Insassen von Staats- und Bezirksanstalten
für verbrecherische Geisteskranke, Schwachsinnige und Epi-
leptiker. 13. In Nebraska die schwachsinnigen oder geistes-
kranken Insassen öffentlicher Anstalten. 14. In Oregon
Schwachsinnige, Geisteskranke, Epileptiker, Gewohnheits-
verbrecher, sittlich Entartete, sexuell Perverse. 15. In Süd-
dakota Insassen der Staatsanstalt für Schwachsinnige.
434 Fehlinger: Gesellschaftliche Fortpflanzungspflege
Die Tatsache der Unterbringung in einer der genannten
Anstalten berechtigt noch nicht zur Vornahme der Unfruchtbar-
machung; es ist dazu erforderlich die Zustimmung der leitenden
Ausschüsse der Anstalten, medizinischer Sachverständigen-
kollegien usw. In Californien und Norddakota kann jedoch
die Sterilisation auf Anordnung einzelner ärztlicher Anstalts-
beamter durchgeführt werden. In diesen Fällen werden selbst-
verständlich Willkürakte am meisten zu befürchten sein.
In fünf Staaten (Connecticut, Iowa, Michigan, Kansas und
Süddakota) ist in den Sterilisationsgesetzen die Art der
Operation, die auszuführen ist, vorgeschrieben, und zwar beim
Manne Zerschneidung der Samenleiter (Vasectomie), bei der
Frau Zerschneidung der Eileiter oder Ausschneiden der Eier-
stöcke (Salpingectomie); die letzterwähnte Operation ist in
Connecticut und Kansas vorgeschrieben. In den anderen
Staaten bestimmen die Gesetze, daß irgendeine Operation zur
Unfruchtbarmachung auszuführen sei, oder daß die Behörde,
welcher die Ausführung des Gesetzes obliegt, auch über die
Art der Operation zu entscheiden hat.
Eine Wirkung auf die allgemeine Erbveranlagung der
Bevölkerung hatten die bisher in Amerika vorgenommenen
Sterilisation ebensowenig wie eine Wirkung auf die sozialen
Zustände. Tiefgreifend müßten die Folgen sein, wenn das in
den Schriften der amerikanischen Eugeniker dargelegte Pro-
gramm verwirklicht würde; es brauchte nicht einmal in vollem
Umfange verwirklicht werden. Von dieser Seite wird ein
Mustergesetz vorgeschlagen, wonach alle Personen mit ent-
arteten oder mangelhaften erblichen Anlagen, die Eltern sozial
unzulänglicher Nachkommen abgeben können, durch chirurgische
Eingriffe zeugungsunfähig gemacht werden sollen, auch solche,
die nicht mit den Gesetzen in Konflikt kamen oder der Öffent-
lichkeit zur Last fielen.*) Dieser Gesetzentwurf ist ein
Musterbeispiel dafür, wohin menschheitsbeglückerische Wahn-
ideen führen können. Das Ziel, das er erstrebt, schwebt nicht
etwa bloß einem kleinen Häuflein vereinsamter weltfremder
Leute vor, sondern die Anhängerschaft der eugenischen Be-
wegung ist in Amerika ziemlich groß. Auch in Europa wird
vielfach empfohlen, denselben Weg zu gehen, den man in
*) Wir folgen dem Wortlaut des betr. Gesetzentwurfs in „Social
Hygiene“, Bd, 6, S. 519 u. f.
Fehlinger: Gesellschaftliche Fortpflanzungspflege 435
Amerika bereits einschlägt, und die Befürchtung ist wohl be-
gründet, daß das amerikanische Beispiel tatsächlich Nach-
ahmung finden könnte, umsomehr als die unsichere psychische
Verfassung nach dem Kriege für die Ausführung von allerhand
Versuchen günstig ist. Die Durchführung eines Programmes,
wie desjenigen der amerikanischen Eugeniker, bedeutet aber
nichts weniger als künstliche Zuchtwahl durch Beamte der
Staatsverwaltung, die weit schlimmere Gefahren in sich birgt
als die sind, welche zu bannen gesucht werden. Die staatliche
Zuchtwahl würde zweifellos eine Einschränkung des Variations-
bereiches der ihr ausgesetzten Lebensgemeinschaft zur Folge
haben, es würde alles Ungewöhnliche verschwinden gemacht,
bis der obrigkeitlich beliebte Normaltypus des Menschen er-
reicht ist. Man vergesse nicht, daß jeglicher Fortschritt auf
dem Auftreten abnormer geistiger Varianten beruht. Gewiß
würden die staatlichen Zuchtwahlbehörden nicht jene Ab-
weichungen beseitigen wollen, die sie als zweckdienlich an-
erkennen; aber es ist sehr zu befürchten, daß Kraut und
Unkraut gleichermaßen ausgerottet würden, daß nur allzuleicht
das Anderssein auch dem Genie zum Verhängnis werden könnte.
Fragen wir einmal, worin denn eigentlich die Gefahr der
Entartung besteht, der man in Amerika durch Massenunfruchtbar-
machung begegnen will. Als Entartungsmerkmale gelten solche
erbliche Eigenschaften, welche den Bestand der Art unter
den gegebenen Lebensbedingungen gefährden; Per-
sonen mit derartigen Eigenschaften sind der Umwelt nicht
gut angepaßt. Das Leben zu gefährden geeignet sind gewisse
Mangelhaftigkeiten der Körperbildung. So ist es sicher, daß
z. B. Anomalien der Form des Brustkorbes erblich sind und
daß namentlich Engbrüstigkeit und Rundrücken das Auftreten
der Tuberkulose begünstigen. (J. Paulsen, Archiv für Rassen-
und Gesellschaftsbiologie, XII, 10—31). Der Infektion mit
Tuberkuloseerregern sind fast alle Menschen ausgesetzt, aber
die Erkrankung befällt nicht alle, sondern hauptsächlich die
engbrüstigen. Thorax asthenicus und Rundrücken werden in
Mendel’scher Art dominant vererbt, -d. h. nur jene Personen,
bei denen die Anomalien sichtbar sind, können sie auf die
Nachkommenschaft vererben (wogegen bei rezessiver Erblich-
keit auch Anlagen, die eine Person von den Vorfahren erbte,
ohne daß dieselben bei ihr ausgebildet wurden, auf die Nach-
436 Fehlinger: Gesellschaftliche Fortpflanzungspflege
kommen übertragen werden können). Der Überhandnahme
von Brustkorbanomalien wird jedoch dadurch entgegengewirkt,
daß die Behafteten gegen krankmachende Einflüsse, namentlich
gegen Tuberkuloseerreger, weit weniger widerstandsfähig sind
als normale Menschen, sodaß sie zu einem großen Teil vor
der Fortpflanzung sterben.
Dem normalen Ablauf des Lebens nicht sehr gefährlich
sind Verbiegungen der Nasenscheidewand und andere un-
gewöhnliche Bildungen der Nase, die Erkältungskrankheiten
begünstigen.
Mangelhafte Funktion der Drüsen mit innerer Abscheidung
ist eine viel häufigere Krankheitsursache als man bisher annahm
und es ist wahrscheinlich, daß solche funktionelle Mängel
durchweg erblich übertragen werden. Doch ist die Forschung
auf diesem Gebiet über Anfänge noch nicht hinausgekommen.
Wir wissen beispielsweise, daß Diabetes, die so manchem
Leben ein vorzeitiges Ende bereitet, infolge einer Hypersekretion
von Zucker aus der Leber entsteht, ebenso infolge einer Aus-
schaltung der Funktion der Pankreasdrüse. Die Bluterkrankheit
ist auf einen Überschuß von Anthithrombin zurückzuführen,
eines Abscheidungsproduktes der Leber. Ungenügende innere
Abscheidung der Nebennieren hat vermutlich die Addison’sche
Krankheit und andere Störungen zur Folge. Anomalien der
Schilddrüse geben Anlaß zu Kretinismus und Myxöden, Ent-
artungserscheinungen gefährlichster Ar. Die Folge von
Anomalien der inneren Abscheidung der Geschlechtsdrüsen
sind Infantilismus, Androgynie, Perversion und andere Ab-
weichungen von normaler Körper- und Geistesbildung.
Kurzsichtigkeit, Blindheit. und Taubheit sind Folgen von
Bildungsmängeln der Sinnesorgane. In unserem Kulturkreis
werden sie den Betroffenen selten verderblich und selbst bei
Naturvölkern ermöglicht gegenseitige Hilfe vielen dieser Ent-
arteten das Weiterleben und die Fortpflanzung.
Ob Krankheiten der Blutkreislauforgane, der Verdauungs-
organe usw. häufig auf angeborner Mißbildung beruhen,
die vererbt wird, ist bisher nicht festgestellt worden; doch
ist es wahrscheinlich. Mißbildungen des Knochen- und
Muskelsystems werden verhältnismäßig selten beobachtet.
Schwere Knochenmißbildungen bedingen fast stets Lebens-
unfähigkeit. Leichte Knochenmißbildungen dagegen beein-
Fehlinger: Gesellschaftliche Fortpflanzungspflege 437
trächtigen gewöhnlich weder das persönliche Leben noch die
Fortpflanzung. Einen Hinweis darauf, wie schwere Knochen-
entartung entsteht, gaben jüngst die amerikanischen Biologen
Mohr und Wiedt (Veröffentlichungen des Carnegie-Instituts zu
Washington, Nr. 295). Sie verfolgten Kurzfingrigkeit durch
sechs Generationen einer Familie. Mit Ausnahme eines Falles
heirateten die anormalen immer normale Personen. In dem
einen Fall, wo die Anlage zu der gleichen Mißbildung von
beiden elterlichen Seiten her zusammentraf, ergab sich bei dem
einzigen Kind dieser Ehe nicht die übliche Verkürzung eines
Fingergliedes, sondern weitgehende Krüppelhaftigkeit, welche
die Lebensfähigkeit aufhob.*)
Von Tuberkulose abgesehen, sind die meisten wichtigen
Todesursachen nicht Folgen von entarteter Leibesbildung,
sondern Folgen der alltäglichen zufälligen Lebensgefährdungen,
die nichts mit schlechter erblicher Veranlagung zu tun haben.
Die Fortpflanzungsfähigkeit zu beeinträchtigen vermögen
die verhältnismäßig seltenen anomalen Bildungen der Sexual-
organe, sowie Tripper und Syphilis. Über die großen Gefahren,
die letztere mit sich bringen, wurde in Heft 3 des laufenden
Jahrganges geschrieben. Nicht entsprechende innere Abscheidung
der Ovarien und Testikel führt gewiß in einer ansehnlichen
Zahl von Fällen zu Fortpflanzungsunfähigkeit. Ferner kann
Beckenenge der Frau sowohl das Leben wie die Fortpflanzung in
Frage stellen. Schwere körperliche und geistige Abnormitäten
bewirken in der Regel — leider nicht immer — daß die be-
haftete Person keinen ehelichen Partner findet und von der
Fortpflanzung ausgeschlossen bleibt.
Das sind die Tatsachen der Entartung. Aus den Schriften
der amerikanischen Eugeniker und ihrer europäischen Ge-
sinnungsfreunde geht aber ganz deutlich hervor, daß sie gar
nicht die Absicht haben, sich hauptsächlich gegen die hier
gekennzeichneten Entartungserscheinungen zu wenden, sondern
ihr Kampf gilt ganz zweifellos in erster Linie den sittlich
Minderwertigen — wie sie sagen, wobei sie vor allem an
Menschen denken, deren sexuelle Wünsche oder Äußerungen
nicht dem entsprechen, was sie selbst als das Gute betrachten.
Dazu kommen noch mancherlei solche Menschen, die anderen
*) Tierexperimente weisen in gleicher Richtung.
AL mn an m u nn
438 Fehlinger: Gesellschaftliche Fortpflanzungspflege
sozialen Normen nicht entsprechen. Man will in Amerika
allen Ernstes jeden außerehelichen sexuellen Verkehr zum
Verbrechen stempeln und die „Missetäter“ mit den schwersten
Strafen treffen. Eine davon soll die Unfruchtbarmachung sein.
Diese Sinnesart ist ein Ausfluß des alten Puritanismus, der in
jüngster Zeit wieder viel stärker zur Geltung kam, als im
19. Jahrhundert, der die „Trockenlegung“ der Vereinigten
Staaten bereits als Erfolg verzeichnen kann und die absolute
Sonntagsheiligung bald erreicht haben wird. Die nächste
Forderung ist dann die radikale Unterdrückung aller außer-
ehelichen sexuellen Beziehungen.
Aber sehen wir von diesen durch religiöse Verblendung
verursachten lebensfeindlichen Tendenzen in Amerika ab und
fragen wir, ob die Sterilisation überhaupt das Mittel ist, um
einen erfolgreichen Kampf gegen die Entartung zu führen. Wie
schon vorhin gesagt, ist es ein gefährliches Ding, Beamten des
Staates oder seiner Unterorgane so weitgehende, das Wohl
aller Bürger in Frage stellende Befugnisse zu erteilen. Würde
nicht die Psyche einer großen Zahl fortpflanzungsunfähig ge-
machter Männer und Frauen alle Massenstimmungen ver-
hängnisvoll beeinflussen? Werden nicht schwere seelische
Leiden die gewaltsam entmannten zu furchtbaren Verbrechen
gegen die Gesellschaft treiben? Werden wir nicht eine
körperlich und geistig nivellierte Menschheit erzeugen, die in
ihrer Uniformität keine Möglichkeit zum Glücke hat? Und
noch viele andere Einwände gibt es.
Nein, auf diese Weise sollen wir nicht für gesunde
Nachkommenschaft sorgen!
Anstatt der Hochzucht wertvoller und der Ausmerzung
schädlicher Erbanlagen durch staatliche Auslese wird man
besser geeignete andere Vorschläge fordern müssen. Solche
sind allerdings nicht leicht zu machen. Aber jenen, die un-
gestüm staatliches Eingreifen auch auf dem Gebiete verlangen,
muß entgegengehalten werden, daß die Gefahren, die der
Kulturmenschheit durch Entartung drohen, lange nicht so groß
sind, als sie gewöhnlich dargestellt werden. De meisten Übel,
die man unter dem Begriff „Entartung“ zusammenfaßt, beruhen
nicht auf der Art der erblichen Veranlagung, sondern sie sind
sozial bedingt. Wären die Menschen des europäischen
Kulturkreises wirklich in bedeutendem Grade entartet, so hätten
Fehlinger: Gesellschaftliche Fortpflanzungspflege 439
sie während des mehr als vierjährigen Weltkrieges nicht die
körperlichen und geistigen Anspannungen bestehen können, die
sie bestanden haben. Angehörige von Naturvölkern, die den
vermeintlich. entarteten Wirkungen der Kultur nicht ausgesetzt
waren, hätte man in diesem furchtbaren Ringen nicht an unsere
Stelle setzen können, ohne daß sie recht bald versagt hätten.
Die Naturvölker sind eben durchaus nicht durch natürliche
Auslese von allen schädlichen Erbanlagen befreit; im Gegenteil,
sie sind zumeist mehr mit solchen belastet als die Völker, die
im Kampf mit einer feindlichen Umwelt erfolgreicher waren
und damit zu Kulturvölkern wurden.
Den Naturvölkern sehr zum Nachteil gereichen vielfach die
bei ihnen bestehenden Heiratsordnungen, welche die persönliche
geschlechtliche Zuchtwahl bedeutend einschränken oder ganz
aufheben. Wohl hat sich auch bei uns noch die Standes- und
Geldehe erhalten, aber trotzdem spielen körperliche und seelische
Vorzüge eine weit größere Rolle in der Gattenwahl als bei den
zurückgebliebenen Zweigen der Menschheit. Suchen wir die
Ehe von Einflüssen frei zu machen, die eigentlich nichts mit
ihr zu tun haben, so wird es auch zu einer noch besseren
Zuchtwahl kommen, es werden dann fast stets die an einander
Angepaßten und damit die Leistungsfähigsten zusammenfinden.
Wenn die Ehen nicht so häufig wie jetzt körperliche und
seelische Gegensätze vereinigen, sondern zusammenstimmende
Menschen, so werden aus ihnen auch viel weniger schwankende
Charaktere, zwischen Gegensätzen hin und her pendelnde
Menschen, hervorgehen und die mit Gebrechen Behafteten
werden von selbst sitzen bleiben, nicht zur Fortpflanzung
kommen.
In Bezug auf die Gattenwahl gibt es in unserem Kultur-
bereiche noch viel zu verbessern, wenn sie dem körperlichen
und geistigen Fortschritt in hervorragender Weise dienen soll.
Wie die Dinge liegen, heiraten viele Männer, um ein behag-
liches Wohlleben zu führen, ja selbst um einer kleinen Mitgift
willen; andere achten auf die natürlichen Vorzüge des Ehe-
partners nicht, obwohl sie sich nicht von materiellen Vorteilen
lenken lassen. Sie folgen in der Befriedigung des Triebes
noch zu sehr — wie die kulturarmen „Wilden“ — Eingebungen
des Augenblickes.
Neben der Verschärfung und Verfeinerung der geschlecht-
440 Fehlinger: Gesellschaftliche Fortpflanzungspflege
lichen Auslese wird die Aufklärung möglichst breiter Volks-
massen über die Gefahren der Vererbung von Mißbildungen,
die das Fortkommen der damit behafteten Personen ohne
fremde Hilfe erschweren, von großem Nutzen sein. Schließlich
muß auch die immer wiederholte Warnung vor offensichtlichen
Gefahren selbst auf verliebte junge Menschen einen gewissen
Eindruck machen, obwohl gerade diese Vernunftgründen nicht
leicht zugänglich sind, sich schwer von einer Ehe abhalten
lassen, welche untaugliche Nachkommen zu ergeben droht.
Leichter wird es sein, sie zu freiwilligem Verzicht auf die
Fortpflanzung zu bewegen.
Heute weiß die große Masse der Menschen noch nicht,
daß zum Beispiel Taubheit erblich übertragen wird, daß das-
selbe gilt von der Bluterkrankheit, der Beckenenge, der Eng-
brüstigkeit, dem Schwachsinn usw. Würde solche Kennt-
nis Volksgut sein, so würden mindestens sehr
viele jener Menschen, welche die Ehe nicht be-
sonders frühzeitig schließen, den zukünftigen
Lebensgenossen mit anderen Augen ansehen, als
sie esnun gewohnt sind. Aber man hüte sich auch, dem.
Volke im allgemeinen vor der Fortpflanzung Angst zu machen
und damit der Geburtenbeschränkung noch weiter Vorschub
zu leisten. Eine wichtige Aufgabe ist es jedoch, bei den
Eltern ein erhöhtes Verantwortungsgefühl hervorzurufen, denn
nur dieses kann ohne behördliche Zuchtwahl verhüten, daß
Kinder in die Welt gesetzt werden, von denen man vorhersagen
kann, daß sie sich selbst und ihren Nächsten zur Last fallen
werden. Vielleicht wäre es weiser, den Eltern solcher Kinder,
die ihrer Körper- oder Geistesmängel wegen der öffentlichen
Fürsorge bedürfen, die Kosten dieser Fürsorge vollständig
selbst tragen zu lassen, statt — wie bis nun — die Allgemein-
heit damit zu belasten.
Zur Bekämpfung jener Schäden der Volkskraft, die sozial
bedingt sind, werden soziale Reformen die tauglichsten Mittel
abgeben. Reformen, welche die Ursachen der Übel beseitigen,
wirken gewiß weniger hart als behördliche Maßnahmen gegen
die Person der Opfer dieser Übel. Es gilt namentlich, noch
manche soziale Einrichtung zu korrigieren, die Konträrselektion
zur Folge haben, Einrichtungen, welche die Untüchtigen auf
Kosten der Tüchtigen schützen und fördern.