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Full text of "Geschlecht und Gesellschaft 10.1921"

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UNIVERSITY OF ILLINOIS LIBRARY AT URBANA-CHAMPAIGN 


1.161—0-1096 








GESCHLECHTUND\ 
GESELLSCHAFT 


HERAUSGEGEBEN 
IN VERBINDUNG MIT NAMHAFTEN FACHLEUTEN 
VON FERDINAND FREIHERRN VON REITZENSTEIN 


X 


VERLAG RICHARD A. GIESECKE 
DRESDEN :: LEIPZIG 
1921 


ALLE RECHTE VORBEHALTEN 





INHALTS-VERZEICHNIS 


I. SACHREGISTER 


Abbindung des Samenleiters . 269 
Aberglauben des TIEURBIEDENE 411 


Abortus . . . 87,115 
Abschaffung der ` ehelichen 
Geburt . Sr 
Abschaffung der Ehe . . 229 
Absperrung der Frau . . 170 
Abstammung des Menschen . 16C 
Abtreibung . : 199, 228, 392 
Abwehrfermente . . 149, 176 
Acceleranzreizung ` .. «212 
Accessorische Samenblasen . . 252 


Addison’sche Krankheit . 241, 436 


Adrenalin . 211, 215 
After... 22... 8 0 203 
Afterdrüsen . . . .... 7 
Agglutinine . . 175, 179 
Akzessorische Nebennieren . . 214 
Akzidentelle Geschlechtsteile . 244 
Alimente . 1 en a 396 
Alkohol und Liebe . . 137 
Alkoholverbot . 5 . . 438 
Alter der Eheschließenden . . 62 
Altern . 70, 132, 321, 322, 324 
Alterserscheinungen . . 39, 68, 166, 
316, 322, 325, 328 
\itershaarkleid . 24, 26 
\literstod . . 326 
- Hinausschieben des 327 
lveoli . . z . 146 
Iveolo-tubulose Drüsen . . . 250 
mbozeptor : > 181 
mphimixiss . .... . 103 
nploidkörper . . . 252 
ıalerotische Charakterzüge . 221 
talyse der Nervösen . . . 226 
aphrodisie . > s a a AS 
drenolin . o tana a AO 
drin . . 27, 28, 248 
drogynie . . . 293, 436 
žstgefühl . 257, 329 


tängsel d. Hodensystems 242, 252 
äherungstrieb . . . . . 310 
teckungsgefahr bei Syphilis 
id Tripper ... 89, 262 
tgonistische Drüsen . 215 


Anthropoiden . 153, 180, 377, 378 
Anthropomorphen . . . 180, 377 
Antidiabetin . . . . . 151, 213 
Antienzyme ee a 
Antifetischismus . . . . . . 49 
Antigene . . . . . . 174, 178 
Antiproteal. . . . ... . 18I 
Antiserum . 180 
Antitoxine . 149, 174, 175, 117 
Appendix epididymis N 242, 252 
Appendix testis . | 243, 2 


Appendix vesicularis . . 
Arbeitsleistung d. ie P; 321, 324 


Ars amandi . 408 
Arsenophenglycin . 183 
Arterienverkalkung . 322, 324 
Asexualität . . 240, 319 
Atmung und Herztätigkeit . . 325 
Atmungsapparat . . . . 324 
Aufhören des Zentrallebens . 231 
Aufklärung . 22, 440 
Aufschlitzen des Penis . 371 


Auftreten des ersten Orgasmus 405 
Ausbildung der Geschlechts- 
charaktere . . . . . 212, 428 


Auslese, geschlechtliche . . 440 
Auslösbarkeit des Orgasmus . 311 
Ausreifung des Geschlechts- 
apparats. . . . . 243 
Ausschläge . 5 . 260 
Ausschneiden der Eierstöcke . 434 
Ausstoßung des Samens . . 250 
Autokoide-Drüsen . 203 
Bad nach der Menstruation . 132 
Bakterientoxine . . . . . . 178 
Bart der Frauen. . . ... 28 
Bartbildung . 244, 2 
Bartholinische Drüsen x 
Basedow’sche Krankheit . 209, 320 
Bauchspeicheldrüse . 148, 151, 213 
Bazillen, Fermentbildung der . 149 
Beckenenge der Frau . . 437, 439 


Bedürfnis, sexuelles . 89 
Befriedigung der Geschlechtiust > 
Befriedigungsgefühl 5 





Befruchtung 45, 96, 257, 320 
Befruchtungszauber . . 351 
Begattung am Tage . . . . 133 
Begattungstrieb . . 297, 298 


Beginn einer geschlechtlichen 


eiwohnung . . 365 

Behaarung 29, 30, 212, 349, 362, 
426, 427, 429 

Beihoden $ : 243, 252 
Berührungstrieb . + .:00 
Beschneidung . 351, 352 
Bewegung, EUER! 2.434 
Bigamie . . 5: Tue 45, 218 
Bildung der Hormone . im S 324 
Bildungsdotter . . . . . . 100 
Bindegewebslamelle . . . . 253 
Biogene . A Saas 97, 100 
Biokolloide . 


Biologische Blutserum-Reaktion 383 
Biologische Ursachen der Ge- 
schlechtlichkeit . . . - . 319 
Bisexualität 240, 265, 271 273, 319 
Blindgang der Nebenhoden . . 253 


Blumenkönigtum . . 2.374 
Blutandrang zum Kopf en = | 
Blutdrüsen . . . 5 148 
Bluterkrankheit "46, 436, = 
Blutserum RR . 

Blutuntersuchung REIF 81 
Brieseldrüse . . . . . . . 208 
Bronchialdrüsen . . . . . . 157 
Bronzekrankheit . . rl 


Brown’sche Bewegung 36, 37, 40, K 
Brunsterscheinungen 


Brust . . . . 258, 345, 347, 2 
Brustdrüsen . . 243, 258, 259, 287 
Brustkorbanomalien . . 436 
Brustwarzen. . = 2 2..2...2%4 
Brustpflege . . . . . . . 282 
Carotisdrüse . . . . . . . 214 
Catarrhinen . . . . . . .180 
Centrosoma . . . 247, 254 
Chemische Erotisation . . . 245 
Chemismus der Geschlechts- 
drüsen : . 325 
Cholesterin Fe 211, 257 
Cholin. . ar 103, 211, 212 
Chromaffines System . . . 214 
Chromatin . . 98, 253, 254 
Chromosomen 101, 103, 246, 247, 319 
Clitoris . . . 108, 307 
Coitus 11, 12, 14, 2, 74, 91, 106, 
107, 108, 131, 133, 251, ’365, 372, 
406, 407 
Coitusovulation . 255, ER 
Corpora cavernosa . . . 107, 


Corpus Highmori . 
Corpus luteum 203, 212, 255, "256, 
257, 258, 269, 273, 316 


IV 


Corpuscula arenacea . . . . 207 
Cowpersche Drüsen 239, 257, 251 
Cytolysine . . z AR 176 
Cytophile Gruppe f 181, 182 
Damenbüste . 423 
Dämonenangriffe "auf Wöchne- 
rinnen . . 142 
Dämonengewalt bei Coitus. . 133 
Darmbakterien . . . . . . 325 
Darmperistaltik . . . .. ` 211 
Daumenschwielen ein a DRA 
Defloration 405, 406, 407 
Denunzianten . . . . . . . H5 
Descendenztheorie . . . . . 181 
Descensus ovariorum . . . . 243 


Descensus testiculorum . . . 243 
E a 282, 297, 298, 302, 


Deutoplasma . . . . . 100 
Diabetes i 151, 213, 436 
Diagnose der Arche 5 #182 
Dialysation.. . . lat 2er 88 
Dianephroide . . . . . . . 212 
Didymis . . . u. re, 223 
Discus proligerus m nan ra 24 
Disposition zum Coitus . . . 310 
Doppelehe . . . ern 038 
Doppelphallus . . . . . . 350 
Doppelte Moral . . . 389 


Drang nach sexueller Betätigung 297 
Dritte Geschlecht . . . 397, 399 
Drüsen 146, 147, 148, 151, 203, 2 


Drüsensubstanz '. 

Drüsenzellen . . . . 2... = 
Ductus aberrans. . . . . . 253 
Ductus deferens. . . . . . 243 
Ductus ejaculatoriae . . . . 251 
Dystrophia adiposogenitalis . 206 
P enONrIEReIN n ER 62 
Ehe. „+; "; 8, 94, "282, 390, 395 
Ehebruch 23, 134 


Ehefrau a ihren ehe- 
lichen Pflichten zu genügen 387 
Ehelosigkeit 392 


Eherechtsreform . . - . . . 393 
ENEireuninE REN 11, 393 
Eheverbot für Geisteskranke . 432 
— für Epileptiker . . . . . 432 
Enrlich- Hata . . . . 183, 606 
. . 44, 99, 100, 330, 398 
Eleinbettung . . . 245, 257 


Eientwickelung . . 0,52 
Eierstöcke 6, 148, 239, 241, 245, 
253, 267, 293, 313, 321, 398, 427 


Eierstockmännchen a s Te ai 
Eifersucht . . . . 395 
Eileiter x 242, 293, 428 
Einehe . 282, 390 


si 


Einkindeltern . . 167, 168 

Einpflanzung eines männlichen 
oder weiblichen Keimstocks 398 

Eintritt der Geburt. . . . . 216 

Eiweißart . . . . . 69, 149, 180 

Ejakulation 11, 12, 13, 14, 105, 108, 
133, 250, 405 


Ekp horie . 294 
Elastizitätsverlust 5/3283 
Elektrolyte . 97, 150 
Elektronen . FR ER Sr: © 
Embryo . . 118, 231, 241, 258 
Embryonale Entwicklung 118, 141 
Embryonalextrakt ee, 208 
Embryotötung . . . . 57, 131 
a sr Verhinderung der 12, 
14, 91 
Empfängnistrichter . . . 242, 255 
Encyme . i . 146, 149, 151 
Energieerhaltungsgesetz . . 148 
Energieerzeugung buoi pe NAS 
Engbrüstigkeit . 435, 439 
Entartung, fettige . . . . . a1 
Entartung, soziale Ursachen . 438 
Entfernung der Nebennieren . 212 
Entfettungskuren 703 


an Geschlechtliche 85, 
1 132 
Entlastung der Frau r . 388 
Entmannte T 397, 398 
Entmannung von Gewohnheits- 
verbrechern . . . 433 
Entspannung, Geschlechtliche . 108 
Entwickelungsgang des Kindes 358 
— des Volkes . . . 358 


Epididymis . . 241, 248 
Zpiglandol . . . 207 
Zpiphyse "204, 207, 215, 216 
ipithelkörperchen . . . 213 
ipithelzellen 3.1 0% art ar 2 
‚poophoron . . . 241 


‚rbansprüche der Kinder der 
Nebenfrau $ 
rbliche NETTE von Tu: 


berkulose . 185 
FON GEAHIORNNE ; . 430 
regsin 2 492 
rektion 108, 108, 354 
"ektionszentrum . . . . 105 
"haltung der Potenz . . 212 
'kennungsmittel für Menschen- 

blut nf . 180 
otischer Tanz à . 360 


otische Ursachen der | Kunst 342 


otisierung . . . 285, 299, 300 
regung, geschlechtliche . 294 
stickungskrämpfe . . . 250 
weiterung der Blutgefäße . 212 
weiterung der Ehegesetze . 387 
sentielle Geschlechtsteile . 244 


Ethnologie . . 332, 380 
Eugeniker . . . 434, 437 
Eulenburg-Prozeß ; . 266 
ad 171, 216, 244, 316, 


320, 335 
Exkrete . . s ara IAT 
Exkretionstriebe . . 219, 220 
Exophtalamus EN 200 
Exoplasma . . re e O 
Extremitätenknochen . 244 
Familiensyphilis . . . . 263 
Färbungsprozeß . . . . 98 
Fasttage, geschlechtliche . 134 
Fastnacht š . . . 76, 82 
Fehlen von Fingern STAAT a SOL 
Fehlgeburt, Aypaliüäche . . 89 
Fellhaar . . 25 


Felsmalereien von Cogul 345, "354, 
356, 360 


Felsskulpturen . , 354, 365 
Femininer Einschlag . 336 
Feminierte Meerschweinchen . 287 


Feminierungsversuche . . . . 312 
Femmes de glace . . . 301 
Fermente 146, 149, d 176, 215 
Fetischismus . . 48, 49. 50 , 52, 55 
Fettansatz . BE one 216, 244 
Fettleibige Kinder . - . . 216 
Fettsucht . . . . 206, 212, = 
Fettsteißbildung . . 341 

Fettverbrennung . . 209 
Fetusextrakt 2 28 
Feuerspende . . . . . . . 92 
Fibrin . . M E E 
Figur mit Gürtel . 342 
Fitzelnächte 73, 74 
Flamme, rote . . 425 
Flimmerzellen . nn. 248 
Flockenbildung . . . 71 


Folliculus oophorus primarius 253 
Folliculus oophorus vesiculosus 254 


Follikel 246, 253, 256, 257. 293 
Form des männlichen Ge- 
schlechtsteils . . iP aN 
Fortpflanzung . 100, 165, 432, 440 
Fortpflanzungstrieb . 91, 297, 298 
Fötus. . .. ; . 204, 216 
Frau, anaesthetische i 109, 408 
Frau, öffentliche . 130 


Frauen, die als Mann empfinden 390 


Frauen mit Männerbart . 320, 396 
Frauenbüste . . ur 422, 423 
Frauenideal, indisches . . 169 
Frauenkörper . . 422 
Frauenlob . 421 
Frauenmangel . - „110 
Frauenrechtlerinnen 293, 305, 389 
Frauenrechtliche Utopien . 390 
Fauenüberschuß . . 391 


Frauenvollbart . 212 
Freie Ehe . . 390 
Freigabe der Vernichtung lebens- 
unwerten Lebens 

Freiheit der Mutter . . . .195 
Freudenmädchen . . . . .136 
Frigidität . . . 109, 307, 310 
Frucht, Wesen und Entwickelung 117 
Fruchtabtreibung en: 9 
Fruchtbarkeit . . . 430 
Fruchtbarkeit der Mulattenkinder 375 
Frühgeburt . s 187 
Frühreife > 207, 212, 320 
Funktionen der Placenta 33 


Funktionserhöhung der Puber- 
tätsdrüse : . 315 
Fürsorge für uneheliche Mütter 394 


Fürsorgepflicht des Gatten . . 389 
F-Zellen . - 270, 295, 296 
Galle: #1... 3 an o #5 0152 
Gallensäure . de . . 152 
Gandharva — Ehe . 58, 59— 61 
Gattenwahl . . 439 
Gebärmutter 212, 242, 244, 245, 
257, 292 
Gebiß-Abnormitäten . . . . 380 
Geburt . 120, 140, 305, 362, 367 
Geburteneinschränkung . . . 168 
Geburtenleistung . . . .. . 173 
Geburtenrückgang . . » -» . 125 
Gefahren durch Entartung . . 438 


‘Gefährlichkeit des Salvarsan . 193 


Gefühle der Zuneigung . 306 
Gefühllosigkeit, geschlechtliche, 
der Frau . . . 307 
Gehirnzentren . 245 
Geisteskrankheit . 333 
Geistige TARREI Beginn beim 
Kinde . . . 120 
Gelbsucht - . - a = -< ..152 
Gelber Körper 2 
Geldehe . q . . 439 
Gemeinsame Vorfahren a Aian BI 
Genese der Moral . . . 223 
Genitale . . 244, 428 
Genitalzentren s a . . 204 
Geschichte der Ernährung . . 163 
Geschlecht der kommenden 
Kinder . . . 217 
Geschlechtlicher "Verkehr mit 
Müttern . . 225 


Geschlechtsapparat, weiblicher 241 


— männlicher . . . 242 
Geschlechtsbefriedigung, 
adäquate . . 329 


Geschlechtsbestimmung 141, 401, 402 
Geschlechtscharaktere und 
Temperatur ; . 430 


Geschlechtsdifferenzierung der 
Menschen 


Be ya 28 
Geschlechtsdrüsen 148, 215, 216, 
239, 265, 311, 334, 436 
Geschlechtsempfindung . » 5.297 
a an ‚ regelmäßiger 130 
Geschlechtshöcker . . . . A 
Geschlechtskälte 


Geschlechtskrankheiten 2; 3; "86, 250 
Geschlechtsliebe . 2 : 


Geschlechtslippen . 291, 344, "346, 
356, 429 

Geschlechtslust š . . 297 

Geschlechtsmerkmale . . 6, 243 

Geschlechtsorgane . . 323 


Geschlechtsreife 22, 24, 28, 83, "215, 
243, 352, 361, 429 


Geschlechtsrinne Ent nas SAOI 
Geschlechtssünde as rare Bd 
Geschlechtstätigket . . . . 85 
OFERECE, männlicher . 342, 
50 
Geschlechtsteile, Behaarung 
der . . . . 25, 28, 244, 429 
Geschlechtstrieb . 4, 6, 107, 245, 


281, 288, 289, 293, 297, 298, 300, 
301, 302, 306, 309, 591, 427, 429 
Geschlechtsumstimmung . . 402 
Geschlechtsunterschiede 24, 30, 31 


Geschlechtsverkehr 392, 393, 394 
Geschlechtszellen 240 
Gesetze zur Beschränkung der 
Eheschließung š . 432 
Gestalten, geschwänzte . . 347 
Gesundheit der Mutter . 229 
Gewandung, rote, bei öffent- 
lichen Mädchen . . . . . 135 
Geweihbildung . . . 288 
Giftwirkung des Menstruations- 
blutes. . . a a AD 
Gigantismus F 2a. 2200 
Giralde’sche Organ 2 a DZ 
Glandulae 146, 204, 207, 208, 210, 
214, 250, 259 
Glatze der Frauen . . - . . 28 
Glatze des Mannes . 25 


Gleichstellung der ehelichen. 
und unehelichen tumes . . 228 


Globuline . . . 2.8.5209 
Glonnis coccygeum 2. en 
Graremugenkraukhelk . . . 209 
Glykogen . 150, 213 
Gonaden . hs 148, 270 
Gorilla 156, 157, 180, 377, 378, 379 
Graaf’sche Follikel . z . 257 
Granulationen . . . - . . 254 
Grausamkeit zor a 219 
Gründonnerstag . . 78 


Grundstamm der Menschen 377, 379 


VII 


Guanidin W . 213 
Gynaeceum . . . . . . -171 
Gynäcin (Gynin) . . . . . 28 
Haarausfall . 261 
Haarbänder . aS. eE x 
Haarkleid . - ara 
Haarunterschiede beider Ge- 
schlechter . . . E a] 
Halbmenschliche Wesen ; . 377 
Halbmonatseunuchen . . 145 
Hageiasordimg, B Baur: 
bergische . . . . 112 
Hammelbiutkörper . . 182 
Hämolysine . 175 
Händeabdrücke ii a al 
Hängebrüste . . 345, 346, 366 
Haptophore Gruppe 178, 179, 181 
Harem . re en y AOS 
Haremswirtschaft N E E A. 
Harnblase . . . 251 
Harndrang und Blasenkatarrh 250 
Harnentleerung z Y . 84 
Harnleiter . Pair 29 
Harnröhre . 250, 259 


Harnsystem 239, 240, 250, 259, 323 
Hassal’sche Körperchen s . 208 


Hautausschläge . 261 
Heiratsordnungen : Gr 
Helium i 

Hemmungen . 107, 108, 218, 3 
Hemmungsbahnen 


Herabsetzung des Stoffwechsels 209 


Heraklit von Ephesus . . 106, 190 
Hermaphroditismus 212, 252, 265, 
290, 314, 317, 318, 398 

Herpes srg . 261 
Herrenmoral ia e 303 
Herz . . . 323, 410 
4erzklopfen ` Fe 
1lerzmuskelzellen . 325 
lerzstillstand . 2.250 
letären . ; . 135, 170 
leterochromosonen . . 1% 
leuchelei . . . . . . 329, 393 
lintergehung des Gatten . 393 
linterhauptloch . . 5,198 
irnanhang "204, 207, 334, 427 
irnanhangdrüse ; . 320 
irnquotient E . 325 
irschfeld’s Theorie . 335 
istamin . ....206 
istologische Prozesse . . . 71 
itzeratten a re 
>chzeit ; 80, 92 
»chzüchtun . . . 379 
»den 6, 148, 239, 242, 245, 267, 
321, 398, 427 

‚denanhang . . 243, 252 
‚denentzündung .. 86 


Hodengewebe . . 293 
Hodenkanälchen . : 246, 326 
Hodensack . 245, 291, 292 
Hodentuberkulose . . . . . 315 
Hodenverluste D ` 316 
Hodenweibchen . . 288 
Hodenwucherung . . . . . 208 
Homosexualität 54, 133, 265, 266, 


271, 294, 296, 317, 335, 336, 400, 


Homosexuelle Komponente der 
Libido . . 8 
Homosexuelle Körperform . . 335 


RER 24, 148, 203, 216, 259, 
Hormonen des Hodens . . . 248 
Hottentottenschürze . 345, 429 
Hungertodesfälle . . 199 
Hydatide . nr ner ae 5,208 
Hydrosol . . 2.2... 38 
Hymen . 407 


Hyperaemie des Scheidenein- 
ganges . ; 
Hyperästhesie, nervöse . . . 54 


Hypernephrome . i . 213 
Hyperplasie der Hoden . = 
Hyperthyreoidismus . 

Hypophyse 203, 204, 215, 216, 2. 

320, 427 

Hypophysenextrakt 5.18.10. 216 
Hypospadie : = 291, 292 
Hysterie ar 192 
Ichtriebe . . š . 217 
Idealbildung Ben Kindes . > 
Ideal-Ich f 
Imbibition . 97, 101 
Immissio penis . . . 107 
Immunisierungseinheit . 175 
Immunität . . 174 
Immunkörper . . e 174 
Implantation 266, 267, 285 


Impotenz . 27, 105, 106, 145, 316 
Inadäquate Eheschließung . e 90 
Indifferenz des Geschlechts- 


apparats. . . . 240 
Indisposition zum Coitus . . 310 
Infantile Geschlechtsentwicke- 

lung . : 206, 319 
Infantilismus 206, 208, 301, 436 
Infektionen . aoa HS 
S Sekretion 107, 203, 245, "256, 
Interstitielle Zellen . 247, 255, 285 
Intercellularsubstanz .. 99 
Intime Szene . . 364 
Invertase . 2 1492 
Involution der "Keimdrüsen .. 311 
Inzucht . . 46, 373 
Ityophallische Gottheiten . 359 


unggesellenheime . 


Kalkausscheidung im Kot . 
Kamasutram 17, 19, 20, 21, 59, 61, 
62, 95, 132, 133, 135, 138, 139 
Kanalsystem der Urniere 


"212, 216, 295, 398, 399, 


Katalytische Spaltung . 


6, 203, 238, 265, 295 
28 


Keimdrüsen-Hormone : 


ehe 3 
Kettenversuche Steinachs 
Kind des Fremden . 
Kinder der Witwe . 
Kinderhaarkleid . 
Kinderlosigkeit 
Kinderpsychologie . 
Kindersterblichkeit i 


Kinderunterstützungen 
Klimaminimum . 

Klimaschwankungen . 
Klitoris am Tod der Br 


Knabe oder Mädchen i 
Knabengeburten, Überwiegen ” 


Knochenerweichung 
Knochenkamm 


Knochenwachstum . 3 
und Muskelsystem, 


. 73, 131, 297, 300 


Vin 


351 


=. SIE, 322 
: 103, 150, 176 
ugendeniwickėlung 1 beim Men- 


< 110, 388 
: 130 


‚11 
. 210 


. 241 
73 


Kastration 6, 27, 244, 248, 257, 266, 
269, 284, 285, 309, 316, 320 


. 148 
. 176 


. . 58, 61 
- 244, 293 


. 119 
. 100 


. 314 
« 97 
398 


99, 240, 308 


98 
. 428 
. 389 
. 395 
. ;28 
. 111 
. 358 
. 90 
, 200 
. 396 
, 294 
” 309 
9, 381 


. 352 
, 401 
110 


. 257 
, 158 
, 257 


34, 428 


. 436 
. 179 
. 149 
149 


Kolberger Magistratsbeschluß 
über Eheschl aind von Ju- 
gendlichen . . . . 122 

Kolloidaler Vorgang aoa Daes aai 

Kolloide 32, 34, 39, 69, 150, 35 

Komponente, weibliche i 


— männliche . . . a 335 
Kongreß für Sexualreform .. 329 
Konstitutionsanomalien . . . 319 


Kontrektationstrieb 282, 297, 298, 
302, 305 

Konzeption . 14 

Konzeptionsmöglichkeit Erwei- 
terung 


Kopfschmerzen . . . . . . 261 
Kopulationsteile . . . . . „291 
Krankheitsstoffe . . . . . . 174 
Kräpelins Theorie . . . . . 335 
Kretinismus . . . . . 209, 436 
Kreuzung . . . 46, 374 
Kreuzungsversuche . : . 330 
Kriminalistik der Abtreibung . 113 
Kristalle, flüssige . . 72 
Kristalloide . . . |: 35, 323 
Kropf . I 
Krüppelhaftigkeit et, 
Kryptorchismus . . A; 296, 315 
Künstlerinnen . é . . 305 
Kurzbeinige Personen. . . . 219 
Kurzbefingrigkeit . . . . . 437 
Kurzsichtigkeit . . . . . .436 
Labfermentt . . . . . . . 151 
Labia minora . . . . . . . 356 
Ladungsbahnen . . . . : .299 
Laktase . . . EEEN ET 
Längenwachstum Br . 428 
Langerhans’sche Insel . . 151, 213 
Leben ein langsames Sterben . 324 
Leben und Tod . . . . . „121 
Lebensmittel, Verdauung der . 149 
Lebensvorgang . . . .. . 68 
Leber. . . . 151, 152, 203, 213 
Lecitin . . 130 
Legalisierung der Fruchtabtrei- 
bung . 195 


Legitimation unehelicher Kinder 395 


Leistendrüsen . . . .» . 60 
Leistenhoden . . . . . 315, 400 
Leistungskern. . . . . . . 177 
Leitungsorgane . . . . . . 291 
Leukozyten . . . + 177 


Leydig’sche Zellen 24, 217, 268, 273, 
274, 289, 296 

Libido 107, 204, 217, 221, 222, 297, 
300, 306, 307 


Liebesaberglauben ze . . 409 
Liebesgebräuche, abergläubische 409 
Liebeskommunismus . 111 


Liebeskomplex . . . . . . 305 


pn 


Liebeskraft. . . . 298 
Liebesleben der Minnedienstes 409 
Liebestränke 5 à 138 
Liebeszauber . 5 138, 351 
Linin . . . aa OIO 
Lininfäden . T 
Lipoide . . . 69, 182, 183 
Lipoide-Körner 20.247 
Lipoide Pigmente 2.324 
Lipoidstoffe a . 211, 212 
v. Liszt’s Formulierung der Ab- 
treibungsfrage . . . . . . 196 
Littre’sche Drüsen à . 251 
Lumbalmark 108 


Lust des Kindes an den Vor- 


gängen der Exkretion . : 2 
Lustgefühl . 
Luteinzellen 256, 273, 289 
Lymphe . . . 
Lymphdrüsen . Sr 
Lruphogangiit eT NS AS 
Lysine . . e 175, 181 
Mädchen, öffentliche . . . . 135 
Mädchen in den Wachstums- 
jahren den Knaben voraus . 429 
Mädchen, sexuell unerfahren . 300 


Mädchenbesuche in Klubhäusern 111 


Mädchenmord . . i “e 16,17 
Magen- und Darmdrüsen 151, 2 
Malaria . 

Maltase . ? i51, 152 
Mammae . . . . 259 
Mandelentzündung 263 


Mangelhafte ndung . Drüsen 436 
Mann, verweiblichter . . 292 


Mannbarkeit für Knaben. . 427 
— Mädchen . . . . 427 
a, bildende Samenzellen 247, 
Männer und Frauenbrust 399 


Männer, die als Frau empfinden > 
Männer, heiratsfähige . 


Männergesellschaft . -a 
Männerstaat r 3.0226 
Mannweibigkeit . . 293, 397 
Märchen von der Widernatür- 

lichkeit ` 
Marksubstanz . . 263 
Martinstag . j . 78 
Masken . š : 346, 351 
Maskentänze . : . 346 
Maskulinität A a . 110 
Maskulierungsversuche . 312 
Masochismus . å . 54 
Masturbation . 83 
Meerfrauen mit den Brüsten zu- 

sammengebunden 347 
Membran 


. 38, 70, 96, 102 
Membrana granulosa a 256 


’ 


IX 


Menarche š f ; on 
Mendel’schen Regeln ; 46 
Menschenaffen . š 153 
Menstruation . 17, 22, 23 59, 84, 
131, 245, 254, 255, 257, 300, 309, 
313, 427, 429 
Menstruationsbinde 84 
Mesonephros . 239 
Metabolismus . i 49 
Metamorphotische Prozesse 71 
Metanephros . 2.240 
Mikaoperation . 371 
Mikronen si SO 
Mikrosomen . . . 98 
Milchabsonderung 216, 258, 268 
Milchdrüsen 204, 267, 429 
Milz . . 204, 215 
Minnedienst 111, 409, 411 
Minnekleinod . ; . 412, 419 
Minnepfänder . 2.412 
Mischehen . . . 62 
Mischung von Weißen und 
Schwarzen . 2 “2 


Mischzwergstämme . 
Mißbilligung der unehel. Mütter 303 
Mitom SN 


Mitose . . m 
Moltke-Harden-Prozeß . 266 
Monogame Ehe . . 389 


Monogame Veranlag. d. d. Mannes 276 


Monogamie . 283, 305 
Monogenese N daS 
Monogyne Beziehungen š . 282 
Monotheisums . 283 
Moral, gessellschaftliche . 3, 5, 11, 
218, 393 
Moral als Reaktionsbildung . 223 
Moral, sexuelle, eine trage des 
Individuums = a993 
Moralheuchelei 38) 


Moralismus der Kaiserin Viktoria 
Auguste . 125 


Morgagnische H adite . . 252 
Morpholog. Nachweis der Ho- 
mosexualität i an 
Moschus . 
Müllerscher Gang 240, 4 24?, 243, 253 
Mundspeicheldrüsen 
Muskelermüdungen . $ : 208 
Muskelkrämpfe . 213 
Muskelsubstanz . . 69 
Mutterinstinkt . 306 
Mutterkorn . . 206 
Mutterkuchen . . 258 
Myosin sér a 09 
Myxödem . 209, 436 
Nächstenliebe . . 220 
Nahrungsdotter . 100 
Narkotica . 272 


Narzissmus . . . 51, 221, 244 
Naturphänomen der Liebe . . 331 


Naturvölker . . 439 
Nebeneierstock : 241, 2-3 
Nebenfrau . Dne iE 387 
Nebenhoden 239, 242, 248, 293 
Nebenhodenanhang . . . . 152 
Nebenmilz . 216 
Nebennieren 210, 215, 257. 320, 436 
Nebenpankreas ; 3 2 
Nebenschilddrüsen . 22 
Negativer Ausfall der Serumre- 
aktion. . . et 
Negroide Merkmale . . 349 
Nekrobiose . . aate Tl 
Namengebung der Tiere . . 82 
Nervenleiden I ae 20 
Nervensystem . . 245 
Nervenzellen ar BD 
Nervus sympathicus . 211, 214 
Neumalthusianismus 164, 165 
Neurocranium . o a a ISA 
Niederkunft- Darstellung 2... 366 
Nieren . . . . 203, 215, 239 
Nordische Rasse . . + 216 
Normalserum . . so #129 
Normaltypus der Menschen . 435 
Nukleus . . . . lt: 
Nukleinstränge . . . . . . 98 
Oberflächenspannung . . . . 36 
Oberlippe, konvexe 220.354 
Oberunterkörperindex . 337 
Oleinsäure . . . . . . . . 102 
Opsonine - » 2.2.2.2... ..177 
Oktoronen . a a Sr l 
Oogenese . . . . 241 
Orangutan 156, 158, 180, 277, 378, 
379 
Orchis . 242 


Ordnungspflicht der Hausfrau . 142 
Organe des weiblichen Ge- 
schlechtsapparats Leos 
Organextrakt-Injektion 315 
Organismen mit getrennten Ge- 
schlechtern . > 
Organsafteinspritzungen rel 
Orgasmus . 13, 107, 108, 133, 135, 
297, 307, 405, 406, 407 
Osmose . . Se a ER 


Osmotischer Druck . 34, 72 
Ostium tubae . < -s 242 
Ovarialextrakt . 2: Yu 10 258 
Ovarium . 241, 253, 268, 311 
Ovotestis 273, 293, 318 
Ovulation . 254, 255 
Palaeolithikum . -79 
Palaeosinna s . 373 
Palmsonntag . . . . 46 
Pankreas 2 203, 213, 214 


Pankreasdrüse . 151, 436 
Paradidymis . 243, 252 
Paraganglien . . . 214, 212 
175 RSt.G. . 22.266 
arallelismus zwischen Ge- 


schlechtlichkeit und Gestalt . 335 
Paranephroide . 203, 213 
Paranoia š u 150228 
Parathyreoidea ; . 213 
Parenchymzellen. . . . . . 207 
Parietalorgan . . 207 
Parietalauge z S si raa OT 
Paroophoron . . see. 37241 
Partialismus, sexueller. . 48, 49 
Passivität der Frau . . 303 
Pathologische ESNS . . . 348 
Penis . . + 428 ‚429 
Penis cerebri . 2 20 
Penisfutteral . 355 
Feniasteiung; wagerechte . 352 
Penisvergrößerung, Rezept zur 133 
Pepsin . . . 150, ı51 
Periode gemeinsamer Entwicke- 

lung . . . IBI 
Periodengesetz, Fließ’sches . . 84 
Periodizität des Geschl. Lebens 310 
Perversion . . ee 6 
Pflichten, elterliche . . 395 


Pflichten, häusliche der Hausfrau 142 


Pfropfung 97, 399 
Phagorzytose . » » . . . . 177 
Phallus . o eo = . 372 
Phallusdienst . . 359 
Phineuswage . en a 5 008 
Phosphorsäure 98, 102, 103 
Pigmentkörner Eai TAAl 
Pituitrin - . 2 22.2.2. 206 
Placenta . 204, 216, 239, 245, 258 
Plasma... -:-12  ..0 Swen O 
Plastin - : » 2 2 22.2... 
Pocken . . Er) 
Polarvölker, sibirische . . . 382 
Polyandrie . 64, 92, 281, 282 
Polygamie . 63, 64, 278, 282 
Polygenismus . . Da STI 
Polyglanduläres System . 319 
Polypeptide . & #97 


Polyphyletische Abstammung 160 
Positiver Ausfall der Serum- 


reaktion . . . ee eAB2 
Postmenstruationszeit . - . 255 
Potenzprüfung des Mannes . . 144 
Praemenstruationszeit. -. . . -55 
Präventivverkehr . . . : . 9 
Präzipitat ws & +2 30-9 
Präcipitine . . . . . 176, 179 
Primärfollikel . 253, 254 
Primordiafollikeln . 254 
Processus pyramidalis . 208 
Promiskuität . - . . 277, 278 





XI 
Pronephros . . 239 Recht der Frau auf Kinder . . 394 
Prostata . "203, 239, 249, 292 Reform der Ehe . 387 
Prostatadrüsen . 251 Regression der Triebentwicke- 
Prostataneurasthenie . . . . 87 lung Dg . 217 
Prostatasteine 2 a Reife, geschlechtliche . 84, 427 
Prostituierte . Reifezustand des Keimes . 403 
Prostitution . Sn 177, 281, 388, 300 Reifung des Eies 2. .257 
Protramia . š , 102 Reifungsprozeß 102, 247. 253 
Proteal . . ion a .. +10 Reinigung monatliche . . . . 131 
Proteine . . .-. . . . . 96 Reinkesche Kristalle . 247 
Proteinsubstanz . . . . 249 Reizserum . . . I . 261 
Protisteen -. . . . . . . . 72 Reizstoffe . . er 245, 424 
Protoplasma š , 453 Reizung der Brusthaut . . 285 
Prozesse, krankhafte 325 Resorption der Lebensmittel . 149 
Pseudohermaphroditen . . 292 Retentionshypothese . . . . 177 
Pseudo-homosexuelle Betäti- Rezepte, erotische . . . . . 133 
gung . . 295 Rezeptoren. 177, 178, 179 
Psyche der ‘Menschenaffen . . 156 Riesenwuchs . . . à 206, 320 
Psyche, sexuelle . . 335 Rinderserum . Š . 179 
Psychoanalyse 33, 217, 331 Ring als Liebespfand .. . . 44 
Psychogenese . . . 226 Röntgenstrahlen . 8, 269, 272, 399 
Psychologie des Junggeseilen . 168  Roentgenisierung d. Keimdrüsen 315 
Psychoneurosen . . . . 217 Rückfallfieber. . . . . . . 182 
Psychopathia sexualis. . . . 331 Rückgang an Energie . . . . 324 
ESS SHOPAR, Konstitution ; 2 Russische Auffassung der Ehe 394 
tyalin . . . ; An | 
Pubertas praecox . . . . . 212 Sadismus è x aa 
Pubertät. . . 215, 243, 309, 436 Sagenforschung . . 358, 359 
Pubertätsdrüse 6, 8, 27, 203, 207, Sakralmark . ...105 
216, 247, 256, 258, ‚265, 268, 270, Salpingectomie 2.0. 454 
272, 286, 300, 313, 316, 317, 428 Salvarsan 183, 261 
Pubertätsdrüsenextrakt 2 316 Samenbildung . . . . 243, 246 
Pubertätsdrüsenfunktion . . 316 Samenblasen . 203, 239, 241, 243, 
Puritanismus . EE 248, 428 
Pygmäen . . . . 348, 380, 381 Samenentwickelung. . . . . 241 
Pygmäenskelette in Europa. . 348 Samenfädchen . . 44, 100 
Pyrinin DE . . 98 Samenkörperchen 2.90 
Samenleiter . 243, 250 
Quadronen AE Samenmutterzellen . . 246 
Quecksilber . . Samenzellen . . . . . 398 
Quellungserscheinungen 39, 69, 97. Schädelkapazität . . . . 155, 380 
101, , 324 Schädigung durch Verlust der 
Fleischnahrung . . 164 
Pachindach-Hypophyae . . -204 Schädigung der Zelle durch 
Rachitis . . . 208 Stoffwechselprodukte nah 
Radilen . . . . . . . . 72 Schamgefühl Fee 50, 218 
Radiumstrahlen . . . . 176 Schanker, weicher . . 261 
Rassenhygiene . . . . . 41 Scharlach . . .. . . . .182 
Rassenmischung . ; 374, 381 Scheide . z o an ai Aa 
Rassezucht . . . . 432 Scheide, männliche . à 23, = 
Rattenversuche 8, 9, 27, 326 Scheinmoral ts 
Raubehe . . . 58  Scheinzwitter . 
Reaktion zwischen Mensch und Schilddrüse 203, 208, 215, 320, 322 
anthropoiden Affen . . . . 180 334, 427, 436 
Reaktionsbildungen . ; 219, 220 Schimpansen . 156, 157, 159, 180, 
Recht auf die Frucht im Mutter- 377, 379 
leib . . 201 Schlafstörungen . . . . . . 157 
Recht auf geschlechtlichen Ver- Schlangengift . . . . . . . Me 
kehr in Rußland . . . . . 394 Schleim, belebter . . . . . 97 
Recht, Frau zu werden . . . 395 Schleimiges Sekret. . . . . 251 


Schleimdrüsen . 259 
Schmalnasen . 180 
Schmerzgefühll . . . . 405 
Schönheit des Weibes . . . 169 
Schöpfung der Frau, indisch . 169 
Schulterhüftindex u o gor ai 
Schutz des Lebens . . 231 
Schutzmittel für den geschlecht: 
lichen Verkehr ; . 199 
Schwabenspiegel . . 112 
Schwangerschaft 141, 209, 257, 258 
Schwangerschaft in Indien . . 140 
Schwangerschaftsreaktion 177 
Schwängerung eines Mannes . 142 
Schwängerung durch Weih- 
wasser . . ; . 142 
Schweißausbrüche 25 


Schwirrholz . . Se ee 
Schwund des Hoden ee 
Seelenunterschiede der Ir 


schlechter . 2 . 160 
Sehens, Ausbildung des . . 119 
Sehnen und Drängen des Mäd- 

chens . . . . 301 
Sehstörungen bei Syphilis . 261 
Seitenketten . . 177, 181 
Sekrete von Hoden und Eier- 

stöcken . . . 286 
Sekreterguß, täglicher in den 

Darm . . . 150 
Sekretion, Aeußere 146, 147, 148, 

150, 151, 152, 

Sekretion, Innere . . . 146, 148 
Selbstbefriedigungsinstrument . 350 
Selbsterhaltungstrieb . 217 
Selbstmord 5 . 231 
Selektion, sexuelle f . 48 
Sertolische Zellen . 246 
Sexualanamnese . . . 301 
Sexual-Anästhesie des Weibes 304 
Sexualempfindung, konträre . 294 
Sexualforschung . i g ro 
Sexualhormone . 256 
Sexualkonstitutionen . . 319 
Sexualorgane, anomale Bil- 

dungen 5 2 . 437 
Sexualpartialismus dor 51 
Sexualperiodizität des Weibes 311 
Sexualreizung, äußere . . 298 
Sexualtrieb. . . . 217, 297, 301 
Sexualverdrängung . . . 329, 331 
Sexualwissenschaft . . . 265, 385 
Sexuelle Bipotenz Naa i5 
Sezernierende Zellen . 248 
Sinnlichkeit . 164 
Sinnlichkeit des weiblichen Ge- 

schlechts . 2.304 
Sinus prostaticus . . . 243, 252 
Sinus urogenitalis masc. . . 250 
Sivapithecus A 378 


XII 


Skene’sche Drüsen. . . . . 259 
Sklaverei . . 2: 208 y 2a 
Sonntagsheiligung sukoi w a B 
Sozialisten . . Sn. 5.2. = 188 
Soziologie . . aea ha Sa a a2 
Spalte, weibliche . . . . 291 
Spannung, geschlechtliche . . 309 
Spätkastration . . . . 244 
Speichel. . 6 191 
Speichel bei Uebertragung í des 
Syphilis à 
Speicheldrüsen . . . . 21 


Spermabildung nach indischer 
Meinung 


Spermageruch . . . . . . 249 
Spermakristale . . . . . . 252 
Spermatocyten . . . . . . 246 
Spermatogenese . . . . . . 241 
Spermatogonien . . . . . . 246 
Spermatozoen. . . . . .. 99 
Sperminkristalle . . . . . . 249 
Spirochaeten . . . . . 183, 261 
Splanchnocranium . . . . . 157 
Sprachen der Menschheit . . 382 
Stamm-Mutter . . . . . . 344 
Standesamt . . . . . . . 387 
Standesehe . . -439 
Stärke des Tieres auf Kind über- 
tragen . . 363 


Stärke des Geschlechtstriebs . 407 
Statistik über Salvarsanwirkung > 
Status thymicus . . 
Status thymo-Iymphaticus à 208 
Steagsin.. . . ; 151 
Steatopygie . 341, 343, 346, 356 
Steigerung des Blutdrucks . . 250 
Steigerung der Lebensnot- 
wendigkeiten . . . . . . 163 
Steinach- Operationen, Folgen 
der . - 8, 
Steinach’s Theorie, Gegner . 318 
en -Hirschfeld’sche Lehre 266, 
26 


Steinwerkzeuge . . . . . . 338 
Steißdrüse . . . Re unaia 
Stellung einer Ehefrau . . . 395 


Stellung der öffentl. Mädchen . 135 
Stellung des Weibes bei Coitus 365 


Sterblichkeit . . . 163, 391, 392 
Sterilisation . . . 433, 434, 438 
Sterilitätt . . sea 72.316 
Stillstand der Samenbildung . 213 
Stoffaustausch . . . 38 
Stoffwechsel . . I 68, 257 
Stoffwechselprodukte I 
Storchenmärchen . . 83 


Störungdes Geschlechtsapparats 244 
Störung des Wachstums . 213 
Strafunrecht . . . . 228 
Strahlungsbildung der Zelle . 101 


XIH 


Strahlungsfiguren . . . . . 101 
Streichen - » . 22.2... 3 
Streptokokken . . . . . . 261 
Stroma ovarii. . Toe > 203 
Struma aberrans penis . 320 
Stuhlentleerung . . . . . . 84 
Substanz, lebende . . . . . 68 
Sulfate u. s Ss Mara ra A 
Suprarenin. » . 2.2.0. 0.211 
Suspension . . ..... 3I 
Sylvesternacht . . . . . . 82. 
Symbolismus . . . 2. 49 
Synergetische Drüsen . . 319 
Synergetische Substanz . . 250 
Syphilis . . . . 88, 89, 263, 437 
Syphiliserreger oe are ve aO 
Syphilisschutzmittel 86 
Syphilitischer Krankheitsprozeß 183 
Tastempfindungen . . . . . 51 
Taubheit ae D 8 439 
Taylor-System . . . . . 235 
Tomang. 5 . 48 
Teilung der elle . 100 
Teilungsmöglichkeit . 323 
Temperamente . . 333 
Tendenz die Mutter zu besitzen 225 
Tendenz, den Vater zu beseitigen 225 
Terminalhaarkleid #7 sr. 2124,25 
Testiculus rer 23.242 
Testis . 242 
Tetanie . . 213 
Tethelin . 2202. 206 
Theca folliculi ee 
Theca-Luteinzellen . 254, 255, 256 
Thorax asthenicus . . . . . 435 
Thymischer Fettkörper 206 
Thymoglandol . . . . . . 208 
Thymus . 208, 216, 257, 320 
Thymusdrüse . 203, 215, 216, 334 
Thyreoidin . ee en, BRAD 
Thyreoglobulin . . . . . . 209 
Tochter, Geburt der . . . . 16 
Tochterkerne . . . . . . . 101 
Tod .. . . . . 71, 323, 325 
Todesanzeige . . 167 
Tonus der Gefäßmuskulatur . 211 
Totem und Tabu . . . 224, 225 
Totemismus . . 2. . . . . 361 
Totenstarre . . ..... 1 
Totenzeremonien . . . . . 35l 
Toxine . . . . . 149, 174 
Toxophore Gruppe . . 179, 182 
Transplantation . . . . 245, 269 
Transplantation von in und 
Eierstock S s p a 205 
Transvestitismus. . . . 51, 294 
Treubruch . . uf 393 
Treue, eheliche . 393 


Trieb nach sozialer Erhöhung . 188 


Trieb zum Herrschen . . 390 
— zum Teilen . . 390 
Trieb zur Mutterschaft . 297 
Triebbahnen . 3 . 298 
Triebentspannung . 299 
Triebhemmung . . . . 209 
Triebleben . 217, 399, 426 
Triebrichtung . 299, 335, 426 
Triebstärke . 299 
Tripper . . » . 86, ‘87, 261, 437 
Trippererreger im Blut . . 8. 
Tripperfolgen . . . . . . . 86 
Tripperschutzmittel ` S. c wia BO 
Trocnautegtpone Ei 
Tuben Zr . . . 255, 258 
Tuberkulose 182, 272, 435, 437 


Tuberkulose der Mütter. . . 185 
Tuberkulose der Nebenniere . 211 
Tuberkulose aa ee 


trieb . . . 85 
Tubuli . . KUN ORA 146 
Tumescenztrieb . : 298, 310 
Tunica albuginea . 246, 253 
Tunica interna et eatem . 254 
Typhus . .... . . 182 
Uebergabe des Mädchens . . 92 
Ueberlassung der Frau an den 

Gat ay. ., «Re. ya 172 
Uebertritt in das Haus des 

Gatten . » 22.202.018 
Ultramikroskop | 
Umklammerungstrieb . . 284 
Unbewußtes Seelenleben . 217 
Uneheliche Geburten 65, 66, 67, 392 
ee ven Ser 432, 437 
Ungeziefer . . . ER 
Unizeptoren ee re aO 
Unreinheit . . 23, 132 
Unsterblichkeit der Einzeller . 322 
Unterentwickelung der vag 

lien. . a . 320 
Unterkieferwinkel ee w. a ia 
Unterricht der Mädchen . . . 18 
Unterschied in der Körperbe- 

haarung . . . . 429 
Untersuchung vor der ‘Ehe . . 432 
Unverheiratete . . . . . . 392 
Uranismus . . 335 


Urbewohner der Philippinen . 381 


Ureter . . . 240 
Urgeschichte der Ehe. . . . 277 
Urgeschichte der Moral . . . 224 


Urheimat der Menschen . . 278 
Urinieren nach der Beiwohnung 86 


Urnieren . . 2... .. 239, 241 
Urnierenfalte . 2.240 
Urnierengang . . 240 
Urnische Neigun ng . . 2906 
Ursachen der Immunität . . . 177 


XIV 


Ursamenzellen F . . 246 
Ursprung der bildenden Kunst 372 


Ursprung der Menschen . . 377 
Uterus . .. . 242, 258, 428 
Uterus-Contraktionen . 259 
Utriculus prostaticus 25, 243 
Vagina . 12, 242 
Vagina masculina . 243, 252 
Vaginaverengung .. 13 
Vaginaerweiterung . . . . . 133 
Vakuolen . . ... 9 
Variante, intersexuelle . 317, 318 
Variationsbedürfnis, geschlecht- 
liches . . 277, 
Variationsbereich . 435 
Vasectomie 5 . 434 
Vasodilatatorenzentrum . . . 105 
Vatermord . . s a a ZRO 
Vegetabilische Ernährung 163 


Venerische PUTENSERERRNE der 
Insel Jap . G .1 
Venus von Brassempouy 341, 342 
Venus von Willendorf. . 342, 343 
Verantwortlichkeit des Arztes . 195 
Verbesserung der Erbanlagen . 431 

Verbie egung der DIAROUACREIIE* 
wan . 43 


Verblendung, religiöse . . 438 
Verblödung. . . i 209, 322 
Verdauungsapparat . . 323 
Vereinigung, fleischliche . . 297 


Verengung der Biut efäße . . 211 


Vererbung . , 102, 103, 104 
Vererbungskraft . $ 44 
Vererbungssubstanz ` 44, 47 
Verfolgungswahn 3 
Verfügungsgewalt . . . . . 231 


Vergiftungserscheinungen 325 

Verhältnis zwischen Ober- und 
Unterkörper . . 

Verhältnis der Schulterbreite ass 


zur Hüftbreite . 


Verheiratung . . . . . . . 57 
Verhungern . . 7ı 
Verjüngung . 245, 269, 321, an 
Verjüngungsgedanken ; 
Verkalkung . . et KA 
Verknöcherung . . 216 
Verlangen nach fleischlicher 
Vereinigung Sg : 
Verlangen nach Kindern . . 298 
Verlängerung der kleinen Ge- 
schlechtslippen . . 457 
Vermännlichung . . 328 


Vermehrung des Bindegewebes 
in den Drüsen ‚ 32 

Verminderung der unehelichen 
Kinder F A 


Vernachlässigung der Erziehung 
der Kinder . . . . 395 
Verpflanzung der Keimdrüsen . 6 
Verschleierung der Frau. . . 170 
Vertauschung von männlichem 


und weiblichen Charakter . 393 
Verweiblichung 2. 286 
Vesiculae seminales . 243, 248 
Vielehe . . . en ee 
Viriler Typus . . an el 
Vitellin . . . rear art 
Volksvermehrung” A fa ee iR 
Vollidioten . . . . 189 
Vorbereitung der Gebärmutter 258 
Vorbote des Todes . . . 326 
Vorhaut . . PA) 
Vorkern, weiblicher . 254 
Vornieren ; . 239 
Vorsteherdrüse . 428 
Vorstellungsbahn . . 298 
Vorwassermann’sche Stadium . 183 
Valva s o a 22.20.02. 342, 372 
Wachstum des Körpers . 215 
Wachstumdrüsen . . 148 
Wahnideen, menschheitsbe- 

glückerische rar . 434 
Wahrnehmungsbahn . 298 
Walpurgisnacht . . . 78 
Wasserausscheidung im Harn . 209 


Wassergehalt eine menschliche 
Frucht . . . 70 
Wassermann’ sches Aggregat . 182 
Wassermann’sche RENo} 182, 260 
Wechseljahre . . . ; . 311 


Wechseln des Hemdes ...412 
Wechselseitige Wirkung der Drü- 
sen mit innerer Sekretion . 215 


Wegfall d. Abtreibungsvorschrift 232 
Weglassen der Geschlechtsteile 349 


Wegnahme der Sraa . 209 
Wehen . . . . . 206, 216 
Weib als Gattin . . 139 
Weib als Geschlechtswesen . 340 
Weib Gemeingut der Männer . 279 


Weib der Inbegriff des Schlechten 171 


Weib als Kriegsbeute . . . . 172 
Weibchen bildende Samen- 
fädchen ; . 247, 254 
Weiber mit männlichem Keim- 
organ . Se Ah . 399 
Weibmänner , 327, 401 
Weise Frauen . 232 
Werdende Mutter . . 202 
Wiederverheiratung . . . . 144 
Wilde Weiber > ; 423 
Wimpern RE '24, >, Rn 
Winterschlafende Tiere 
Wintersonnenwende . . - - a 





XVI 


Wirkung der amerikanischen 
REIES, . . 434 
Witwe 44, 392, 395 
Witwenverbrennung . . 145 
Wochenbett 3 . 210 
Wöchnerin . . . . .142 
Wolff’scher Gan 240, 241, 243 
Wollustgefühl 13, 14, , 297, 406, 407 
Wollustkraft . . SA a a 2O 
Wollustorgane š . 107 
Wuchs, zwerghafter . 380 
X-Chromosonen . 104 
Y-Chromosonen . 104 
Zahnfunde von Schansi . 382 
Zauberhöhlen . . ž . 372 
Zauber der Niederkunft . 362 
Zauber, der die Weiber zu ge- 
schlechtlichen Verkehr Den 
mache . 
Zauber, sich reichlichen Geschl.- 
Verkehr zu sichern . . 
Zaubergestalt . . . . . . . 361 
Zauberknochen . 352 
Zauberstäbe ee | 
Zauberzeremonie . . . . . 361 
Zellhaut . SAN Fr E00 
Zellkern . : %, AR 103 
Zellteilung . 103 
Zentraldrang . : 2.298 
Zentralnervensystem . 325, 326 
Zentrifugale Ausdrucksbahn . 298 
Zentriolen . . . 99 
Zentripetale Eindrucksbahn . . 298 
Zentriplasma . i i 99 
Zentrosoma 5 99, 103 
Zentrum, genito spinales . 105, 109 


Zeremonie der Wassertotem . 361 
Zerrüttung der Ehe . . 393 
Zerschneidung der Samenleiter 434 


Zerschneidung der Eileiter . . 433 
Zeugungshelfer . Sioda. 9k 
Ziegengeschlechtsdrüsen . . . 8 
Zipperlein . Sus 83 
Zippeldrüse 203, i, 207, ee 
Zisvestitismus ns 

Zona pellucida . . 190 
Zuchtwahl, künstliche 431, 435, 439 
Zuckerausscheidun à . 211 
Zuckerkrankheit . i 151, 213 


Zuckerspaltung . . . . 151, 
Zurückbleiben, geistiges . . 
Zurückdrängung d. Geschlechts- 
triebs . . 
Zusammenhang vonBeiwohnung 
und Befruchtung . . ` 
zu neose i bei ai 
weikindersystem bei en 
Zwerge 216, 34 Eho 
Zwergenwuchs 
Zwergrassen 
Zwillinge : 
Zwischengewebe 


152 


. 348, 355 

6, 148, 398, "309 

EIEEDENEEERST IL UCHENUNE . 312, 
1 


Zwischenglieder . . . . . 377 
Zwischenstufentheorie . 270, = 
Zwischensubstanz 


Zwischenzellen 247, 285, 300, 3% 
400, 428 

290, 293, 397, 400 

Zwitterdrüse 493 


Zwittrige Geschlechtsanlage . . 401 
Zin igoa Pubertätsdrüse 269, "271, 


Zwitter 


Zwölf Nächte... 2»... 75 
Zylinderepithel . . . 248 
Zymogene . 3 5,0 MO 
Zymophore Gruppe ee 9 
Zymotoxische Gruppe . 182 


SI 





II. TEXTÜBERSCHRIFTFN. 


Buschan Dr. G., DasRutenschla- 
gen ein Fruchtbarkeitszauber. 
Mit Abbildungen . . . 73 
Classen, K, Die mehrstämmige 
Ableitung des Menschenge- 
schlechts und ihre Bedeutung 
fürd.Völkerkunde. MitAbbild. 377 
Eckstein, Dr. E., Bevölkerungs- 
politik und Eherechtsreform 391 
Fehlinger, H., Persönliche Fort- 
pflanzungshy. iene . 83 
Fehlinger, H., esellschaftliche 
Fortpflanzungspflege ak 
Friedenthal, Geschlechts- 
alian am Haarkleid der 
Menschen. Mit Abbild. . . 24 
Friedländer, Dr. K., Ueber den 
Begriff derImpotenz d. Weibes 105 
Friedländer, Dr. Kurt, Der Ge- 


schlechtstrieb des Weibes . 297 
Fritsch, Zur Reform der Ehe . 384 
Goldmann, Dr, O., Gibt es noch 

eine Rettung? . 199 


Guenther, Dr.K., Die Bedeutung 
der Vererbungslehre für das 
Volk are tr ar Al 

Heyn, Dr. A., Studien zur Physio- 
logie des Geschlechtslebens 


der Frau. . . 11, 405 
Hirschfeld, Dr. M., Uebersexuelle 
Teilanziehung i 48 


Hirschfeld, Magn , Diel. internat. 
Tagung für Sexualreform auf 
sexual-wissenschaftl. Grund- 
lage . 

Kafemann, Prof.Dr. ‚Gesetzliche 
Freigabe der freiw. künstlichen 
Frühgeburt . 112, 161, 185, 233 

Kammerer, Dr. P., Altern und 
Verjüngen ee a ra 

P., Die Ge- 


Kammerer, Dr. 
schlechter . 

Kronfeld, Dr. Arth. „Kurze Ueber- 
sicht über d. Pubertätsdrüsen- 
Frage . . 311 

Külz, Dr. L., Aus dem Liebes- 
und Gesellschaftsleben der 


. 329 


397 


aussterbenden Karoliner. Mit 

4 Tafeln. . 109 
Külz, Prof. Dr. E; Statistik des 

Bevölkerungsaufbaues und 

der Bevölkerungsbewegung 

der Karolineninsel Jap . 173 


Meyenberg, Dr. Albr., Wie tritt 
Syphilis auf? s . . 260 
Nuller-Brannschveig: Dr. C, 
Psychoanalyse und Moral . 217 
Prange, Fr, Die konstitutionelle 
Basis der Homosexualität. 
Mit Abbild. . . 295 
Reitzenstein, F. v., Geleitworte 
zur Neuen Folge . 
Reitzenstein, F. v., Zum Ver- 
ständnis der inneren Sekretion 
und der Verjüngung. Mit 
Abbildungen. 32, 68, 96, 146, 174, 
203, 239, 284, 321 
Reitzenstein, F. v., Die ältesten 
sexuellen Darstellungen der 
Menschheit. Mit Abbild . . 338 
Reitzenstein, F. v., Einflüsse des 
Minnedienstes auf diedeutsche 
Heraldik. Mit Abbild... . . 409 
Schmidt, Dr. R., Das Weib im 
altindischen Epos. Mit Ab- 
bildungen . 15, 57, 92, 130, 169 
Schneickert, Dr. Hans, Die be- 
strittene monogame Veran- 
lagung des Mannes . . 
Sokolowsky, Dr. A., Geschlechts- 
und Altersunterschiede bei 
Menschenaffen. Mit Abbild. 163 
Weil, Dr. Arth., Geschlecht und 
Gestalt . . . 333 
Weil, Dr. A., Der Einfluß des 
Keimes auf die Geschlechts- 
differenzierung . . 426 
Werthauer, Dr. J., Die Abtreibung 228 
Wirth, A., Kreuzung und Bastar- 


276 


dierung È 373 
Würzburger, Dr. E., Richtige und 

falsche Folgerung aus der Ge- 

burtenstatistik . . . . . . 65 


A 


Druck von G. Reichardt, Groitzsch (Bezirk Leipzig). 


Geschlecht und Gesellschaft 
Neue Folge X 1 





. 


Erwachsene reichbehaarte Europäerin. 32 Jahre alt. 


Die Abbildung zeigt das Kinderhaarkleid der erwachsenen Frau. Die 
Schambergbehaarung gleicht der beim Jüngling. Die Augenbrauen sind 
für eine Frau stark entwickelt. In der Achselhöhle und am Schamberg 
finden sich häufige Zweiergruppen starker Haare. Die reiche und lange 
Kopfbehaarung bildet einen wärmenden Mantel. 
(Nach Friedenthal: Das Dauerhaarkleid des Menschen.) 


(Zu dem Aufsatz: Friedenthal Geschlechtsunterschiede S. 18.) 





GELEITWORTE ZUR NEUEN FOLGE. 


Vom Herausgeber 
FERD. FRHR. VON REITZENSTEIN, Dresden. 


s war am 17. Februar 1600, da loderte auf dem Campo di 
Fiore zu Rom ein greller Feuerschein auf. Ein Scheiter- 
haufen war es, einer von den vielen, die der Wahrheit die 
Stille der Todesnacht bescheren sollten. Denn auf dem Scheiter- 
haufen brannten die sterblichen Reste eines Mannes, eines 
Jüngers der Wahrheit, Giordano Brunos. Der weltliche Arm 
hatte den Wunsch der Kirche erfüllt, die Großen des Landes 
nickten .beifällig und das Volk freute sich. Was war das todes- 
würdige Verbrechen? Bruno hatte die Lehre des Kopernikus 
verteidigt, weiten Massen gelehrt, daß sich die Erde um die 
Sonne bewege. Damit war es unwahr, was in der Bibel steht: 
„Sonne.stehe still zu Gibeon und Mond im Thale Ajalon“, 
(Jos. 10, 12) und unrichtig, wenn Luther von Kopernikus sagte: 
„Der Narr will die ganze Kunst Astronomia umkehren, aber die 
hl. Schrift sagt uns, daß Josua die Sonne still stehen hieß und 
nicht die Erde“. — Und mit dem Machtspruche wollte mans 
beweisen. Neun Jahre rauschten über die Asche des gemordeten 
Zeugen der Wahrheit dahin, da war es der Himmel selbst, der 
durch den ewig stillen, aber unabänderlichen Mund der Sterne 
Einspruch erhob, gegen die finsteren Taten der Dunkelmänner. 
Galilei hielt das erste Fernrohr hinauf zum dunklen Himmels- 
gewölbe und die Sterne antworteten die unabänderliche Wahr- 
heit: Jupiter zeigte seine Monde und die Venus ihre Sichel- 
gestalt! Das war der lapidare Beweis für die Richtigkeit. der 
neuen Lehre. Trotzdem rettete Galilei vor der Wut der Kirche 
aur ein Zufall. Am 22. Juni 1633 mußte aber der Größten 
der Menschen einer im Inquisitionsgebäude niederknien und 
abschwören, daß die Erde sich um die Sonne bewegt! Man 
zwang ihn zum falschen Eide — denn sie bewegtesich doch! 
Warum wir das sagten? Weil dieser Kampf gegen die 


Wahrheit, wenn sie gewissen Kreisen unbequem ist, noch heute 
1 


2 v. Reitzenstein: Geleitworte 


unvermindert fortdauert. Freilich wirkliche Scheiterhaufen 
flammen nicht mehr, um so mehr aber die geistigen! Ohne 
eigentlich zu wissen warum, schleppt man eine veralterte Moral 
weiter, zwingt sie der Menschheit auf, die sie nicht will und 
nicht verträgt. Man vergewaltigt die Natur, achtet nicht der 
furchtbarsten Geisel der Erdenbewohner, der Geschlechts- 
krankheiten, ja man bekämpft die Krone der Schöpfung den 
Menschen, wenn er in seiner wahren Gestalt dargestellt wird 
und bezeichnet jede Erörterung seines Werdeganges als un- 
sittlich! Und doch vermag keiner der Eiferer jemals einen 
wahren Grund dafür aus den Naturgesetzen abzuleiten. Niemals 
wurde ein Mensch in Kleidern geboren, niemals gelang es einem 
Menschen anders Dasein zu verleihen, als auf dem Wege der 
Zeugung, der Vereinigung der beiden Geschlechter. Das sind 
unabänderliche Gesetze und niemals waren und können un- 
abänderliche Gesetze der unvergänglichen Natur für den ver- 
gänglichen Menschen schlecht sein. Man will Kinder, man will 
Gesundheit, Wahrheit, Schönheit, Ehre, aber man will verbieten, 
dazu zu erziehen! Das Volk soll nichts hören über das Gebiet 
des Geschlechtslebens! Noch knüpft der Mutter liebevolle Hand 
die ersten Blüten in den Lebensfaden des Kindes, noch streut 
das Mädchen glühende Rosen auf den Pfad des Jünglings und 
bedauernswert ist der, der sie niemals fand, noch schwebt es 
durch die Träume seiner Jugend, noch ist die Liebe die ge- 
waltigste Fessel, die Herz und Körper bindet, ein Zauberland, 
das niemals betreten zu haben, der bedauerlichste Verlust des 
Lebens ist, eine Heimat, die wie keine andere Schutz und Ruhe 
dem Kinde, dem Pfande der Ehe spendet, ein Füllhorn, das 
Schönheit, Jugendträume, Reinheit und Ehre über die ersten 
Jahre ausgießt! Und darüber soll man nicht sprechen? Die 
Kunst soll das Werk des Schneiders verherrlichen, das Werk 
der Natur aber, das den wahren Künstler am meisten begeistern 
muß, soll er verachten lernen? Nichts reizt mehr als die ver- 
botene Frucht. Glaubt man wirklich, daß man die Geschlechts- 
krankheiten bekämpfen kann, wenn man den Reiz des Ver- 
botenen über das Geschlechtsleben breitet? Man verleumdet 
das Volk, wenn man behauptet, es dränge sich zum Wissen 
über den Werdegang des Menschen nur aus unreinen Motiven! 
Oft denkt das Volk edler als der Salonmensch und kann es 
nicht begreifen, weshalb seine eigne Entstehung geräde un- 


v. Reitzenstein: Geleitworte 3 


sauber sein soll! Weshalb wollen wir denn durchaus aus dem 
Schmutze geboren sein? Jahrhunderte predigt die heutige 
Moral mit verhülltem Gesichte ihre Gesetze, die Großen des 
Landes stehen als Wächter und das Volk hört die Predigt. 
Aber die Kraft der Jugend durchbricht immerwährend die 
Schranken und wird es tun, so lange es eine gesunde Jugend 
gibt, sieht sie doch noch dazu täglich, daß die Wächter, wenn 
sie sich unbeobachtet glauben, selbst der verschleierten Predigt 
spotten! Nicht in der Zurückdrängung, sondern in der Reinigung 
der Geschlechtssphäre liegt das Ziel. Was man in die Winkel 
drängt, lernt von selbst das Licht schauen und im Zwielichte 
gedeihen die giftigen Pilze. Man muß über geschlechtliche 
Dinge ebenso ruhig und rein sprechen können, wie über andere 
Naturerscheinungen. Unser Moralkodex muß geändert werden. 
Überall wurden Gesetze und Grundlagen des modernen Staats- 
lebens neuzeitlicher Empirik entsprechend ausgestaltet — nur 
das Gebiet des Sexuallebens erfuhr nichts davon. Wir be- 
strafen oft Dinge, die nicht einen Funken des Schlechten ent- 
halten, ja wir bestrafen sie schwerer als manche der ehrlosesten 
und gemeingefährlichsten Handlungen, wir haben Moralgesetze 


‘in unserem Strafkodex, von denen die ersten juristischen 


Autoritäten selbst sagen, daß sie sinnlos sind. Wir haben sie 
noch, weil wir diese vergilbte Moral nicht mit Logik und Ver- 
nunft, sondern nur mit Gewalt stützen können. Aber warum 
schützen wir sie, sie, die wie ein verschleierter Dämon unter 
uns sitzt und uns Geschlechtskrankheiten, unglückliche Ehen, 
Unehrenhaftigkeit und Verbrechen beschert? Niemand weiß 
es, und doch — jeder sagt: Das Geschlechtsleben muß in 
andere Bahnen gelenkt werden! Aber eine Ironie ist es, zäher 
wie keine: Wer es versucht, wird gerade am schärfsten von 
den Kreisen angefallen, die ihm zuerst folgen sollten. Sie 
ziehen sich zurück, sie verleumden und beschimpfen ihn und 
nur zu oft gehen sie dann hin und beweisen durch ihre Hand- 
lungen das Gegenteil von dem, das sie eben gepredigt haben. 
Sie schaffen selbst den Stoff zu jenen Romanen, die, wenn sie 
erschienen sind, von ihren Vorbildern nicht nur verleugnet, 
sondern als Schundliteratur bezeichnet werden! Oft allerdings 
mit Recht. Aber ebenso oft gesellt sich zur ersten Ironie die zweite: 
in ihrem Heim lesen sie diese Schundliteratur, diesen Spiegel 


ihrer eignen Taten mit Vorliebe! Und dazu übertreffen sie sich 
1* 


4 v. Reitzenstein: Geleitworte 


selbst, wenn sie verlangen, daß jede Aufklärung weiterer 
Kreise unterbleiben muß, sie gründen manchmal sogar Vereine 
zur Hebung der Sittlichkeit im Volke! Wäre es nicht 
besser, in redlicher Arbeit die Spreu vom Weizen zu trennen? 

Sollten wir nicht weiter kommen, wenn man Natur Natur 
sein läßt, wenn man das schöne Nackte, wo es sich un- 
gezwungen zeigt, schön sein läßt, wenn man das normale 
Geschlechtsleben und schließlich sogar ein Stück gesunder 
Erotik dem Volke läßt, um ihm dafür das Krankhafte zu nehmen? 
Vor allem aber, wenn man es durch Belehrung gewöhnt, im 
Geschlechtlichen das Natürliche zu sehen und ihm so den Reiz 
nimmt? Jahrhunderte hat die alte Moral geherrscht und nichts, 
rein nichts, erreicht. Ist das nicht ein Beweis, daß sie falsch 
ist; haben wir sie nicht bereits an ihren Früchten erkannt? 
Wollen wir es. nicht nach diesem armseligen Zusammenbruch 
versuchen, anstatt mit Prüderie, Heuchelei und Unwahrheit zu 
arbeiten, einmal mit Natürlichkeit, Wahrheit, Offenheit, Schönheit 
und Ehre ein neues. Zeitalter mit neuen Gesetzen vorzubereiten? 
Das aber will eine der jüngsten Wissenschaften, die Sexual- 
wissenschaft. Baut ihr keine Scheiterhaufen, verurteilt sie nicht 
zur Grabesruhe, denn einmal möchte euch gellend in die Ohren ° 
tönen: Und sie bewegt sich doch! 

Unsere Zeitschrift will das, sie will mit Freimut, ohne 
Prüderie aber auch ohne Pikanterie vom Werden und Sein des 
Einzelnen und der Gesellschaft sprechen und dabei das Ge- 
schlechtliche, als die Grundlage alles Seins und alles Werdens, 
als rein natürlich betrachten und ihm so dem gleichen Platz 
einräumen. Schön hat diesen Gedanken einmal Iwan Bloch in 
die Worte gekleidet: „Ausschließlich im Dienste der Wahrheit 
wollen wir vorurteilsios und voraussetzungslos Wissenschaft 
treiben, niemandem zu Liebe und niemandem zu Leide“, und wollen 
dahin streben, daß die Worte, die Bethmann-Hollweg 1907 im 
preußischen Abgeordnetenhaus moralistischen Vorrednern gegen- 
über äußerte, recht bald Wahrheit werden. Er sagte vom Ge- 
schlechtstrieb, daß er die „Lebenskraft sei, der wir nicht nur 
das Böse, sondern auch im letzten Grunde das Dasein verdanken, 
folglich Leben, Lust und auch das Gute und Edle, das wir 
schaffen“ und kam zu dem folgenschweren Schluß, daß die 
Behandlung solcher praktischer Fragen der Sexualhygiene be- 
stimmten Spezialisten obliegen müsse, die sich mit „Kopf und 


Kammerer: Altern und Verjüngen 5 


Herz“ mit der Sache beschäftigen und auch bei der neuen 
Formulierung des Strafgesetzbuches zugezogen werden müßten. 
So ergibt sich von selbst das Arbeitsgebiet der Sexualwissen- 
schaft und damit das unserer Zeitschrift. Alle jene Wissen- 
schaften, die zu ihrer Förderung nötig sind, begrenzen es, keine 
hat vor der anderen etwas voraus, alle sind sie gleichberechtigte 
Geschwister. Weder der Jurist noch der Mediziner noch ein 
anderer kann allein entscheiden, denn Biologie, Physiologie, 
Psychologie, Anthropologie und Ethnologie, Medizin und Hygiene, 
Jurisprudenz, Soziologie und Kulturgeschichte tragen in gleicher 
Weise dazu bei; nur ein Gebiet, die anerzogene Moral und Ethik, 
hat nichts zu entscheiden, denn sie ist es, die durch die ge- 
nannten Wissenschaften nach reiflicher Empirik das neue Ge- 
wand erhalten soll, ist sie doch eine Modefigur, wie jede andere. 


ie 


ALTERN UND VERJÜNGEN. 
Von Dr. P. KAMMERER, Wien. 


t. ist unmöglich, mit der Faust einen Stein zu zertrümmern“, 
meinte Adam; da erfand er den Hammer und zerschlug 
den Stein. Unter den Begriffen, denen kein Gegenstand ent- 
spricht, also unter den unmöglichen Gegenständen zählte 
Höflers „Logik“ 1890 den lenkbaren Luftballon auf; unmittelbar 
darauf erwies sich das Unlogische solcher Logik. „Es ist 
unmöglich, das Alter wieder jung zu machen!“ Damit 
mußte sich die Menschheit bisher bescheiden: viele Forscher- 
generationen gaben sich damit zufrieden; als ihr letzter Sproß 
Prof. Sternberg, der im Tagesboten für Mähren und Schlesien 
vom 30., 31. März und 1. April seinen in der Gesellschaft für 
Wissenschaft und Kunst zu Brünn gehaltenen Vortrag „Über 
Altern und Sterben“ veröffentlichte. 

„Es handelt sich hier um eherne Naturgesetze“, ruft 
Sternberg aus, „die unabänderlichen Naturgesetze willkürlich 
abzuändern, dürfte nach allen bisherigen Erfahrungen vergeb- 
liches Bemühen sein“. Es ist ein Naturgesetz, hieß es, daß der 
Blitz von hochragenden Objekten angezogen wird und deshalb 
auch in Häuser einschlägt. Da erfand Franklin den Blitz- 
ableiter. Man ließ also dem Gesetz seine Wege; man umging 
es nicht einmal, sondern ließ den Blitz einschlagen; aber man 


” 


6 Kammerer: Altern und Verjüngen 


gehorchte ihm in einer Art, die den Schaden abwandte. „Alle 
darauf gerichteten Bestrebungen und Hoffnungen“, sagt nun 
wieder Sternberg, „gehören in das Reich der Phantasie, das 
dem Künstler offen steht, das aber der Naturforscher nicht 
betreten darf, solange er seinem Berufe treu bleiben, die Wahr- 
heit finden und verkünden will“. Sternberg meint wohl mich: 
denn am 17. Dezember 1919 hatte ich dem Naturforschenden 
Verein zu Brünn einen Vortrag gehalten, den ich in die Er- 
wartung ausklingen ließ, es werde gelingen, die Beschwerden 
des Alters hinauszuschieben; und zwar mit Hilfe des Steinach- 
schen Verfahrens, Geschlechtsorgane zu verpflanzen. 

Worin besteht das Verfahren? Das Geschlechtsorgan 
(Eierstock des Weibes, Hoden des Mannes) ist eine doppelte 
Drüse: die „Keimdrüse“ (Eitäschchen des Weibes, Samen- 
kanälchen des Mannes) entleert die Zeugungsstoffe (Eier und 
Samenfäden) durch die Geschlechtswege (Ei- und Samenleiter) 
nach außen; ein Zwischengewebe, die „Pubertätsdrüse“, ent- 
leert Stoffe nach innen ins Blut. Im Wege des Kreislaufes 
entfalten sie die Geschlechtsmerkmale, erreichen sie das Gehirn 
und entfachen dort den Geschlechtstrieb. Man würde fehl- 
gehen — und schon diesem Irrtum verfiel Sternberg — wollte 
man dem inneren Sekret der Pubertätsdrüse nur geschlechts- 
bildende Wirkungen teils leiblicher, teils seelischer Art zubilligen; 
das Sekret beeinflußt vielmehr den Gesamtorganismus: das 
Wachstum der Knochen, die Blutbeschaffenheit, den Muskel- 
und Fettansatz, ja jegliche Lebenskraft, äußere sie sich im 
Tatendrange der Glieder oder im Schwunge des Geistes. 

Wie erhärte ich meine Behauptung? Wenn man Geschlechts- 
drüsen verpflanzt, das heißt an eine ihnen fremde Stelle des 
eigenen oder eines anderen Körpers versetzt, so geht das 
Keimgewebe zugrunde, aber das Zwischengewebe wuchert. 
Daraufhin bemerkt man nicht etwa ein Nachlassen der auf- 
gezählten geschlechtlichen und außergeschlechtlichen Wirkungen; 
sondern sie alle werden gerade zum höchsten Maße gesteigert. 
Da dies zu einer Zeit statthat, wo die Keimdrüse zurückgeht, 
kann nicht sie dafür verantwortlich gemacht werden; sondern 
nur jenes Gewebe, das selber im gleichzeitigen Aufschwunge 
begriffen ist, eben die Pubertätsdrüse. Ihre Wirkung hört 
erst auf, wenn das ganze Geschlechtsorgan entfernt worden 
(„Kastration“) oder wenn seine Verpflanzung mißlungen war 


Kammerer: Altern und Verjüngen 7 


(„Degeneration“). Die Folgen gewaltsamer Entfernung oder 
mißratener Einheilung ähneln in mancher Beziehung den Ver- 
änderungen, die der Organismus mitmacht, wenn er von der 
Zeugungsfähigkeit zur Zeugungsunfähigkeit übergeht (im 
weiblichen und männlichen „Klimakterium“): abnorm krank- 
haftes und normal greisenhaftes Eingehen der Geschlechts- 
drüse („senile Degeneration“) liefern teilweise übereinstimmende 
Bilder. 

Freilich beurteilt Sternberg die Steinachschen Versuche, 
die mit Meerschweinchen und Ratten ausgeführt sind, wie folgt: 
„Wir wissen, daß solche überpflanzte Gewebe oder Organe 
nicht dauernd einheilen“. Ich möchte nur wissen, woher 
„wir“ das wissen; denn an gegenteiligen, also bejahenden 
Erfahrungen — auch an höheren Tieren und an Menschen — 
fehlt es nicht mehr. Lichtenstern, der mit Steinachs 
Methode Soldaten heilte, die durch Schußverletzung oder 
Tuberkulose ihrer Geschlechtsteile beraubt worden waren, 

` blickt auf fünfjährige, ungeschwächt andauernde Erfolge zurück. 
Sternberg erklärt sich Steinachs Erfolge dadurch, „daß 
Steinach an Tieren desselben Wurfes, also an Geschwister- 
tieren operierte, ferner daß er zunächst die eigene Keimdrüse 
der Tiere entfernte... . endlich daß bei ganz jungen, wenige 
Wochen alten Tieren die Bedingungen für eine Einheilung 
übertragener Gewebsstücke jedenfalls günstiger liegen.“ All 
das war überholt, als der Herr Verfasser es niederschrieb: 
Fortschritte der chirurgischen Technik ermöglichten die dauernde 
Übertragung auch bei alten Tieren; sie gelang Knut Sand, 
der Steinachs Ergebnisse bestätigt, und Lichtenstern auch 
ohne vorherige Entfernung der eigenen Geschlechts- 
drüse; schließlich war in den Fällen aufgehobener Kastrations- 
folgen und zur Norm gelenkter Homosexualität das der Heilung 
dienende Einpflanzungsmaterial nicht von Verwandten ge- 
schweige von Geschwistern der Patienten genommen worden. 

Einen ganz anderen Einwand hätte Sternberg mit damals 
größerem Rechte erheben können: fremde menschliche Organe, 
die zur Einpflanzung dienen, stehen nur in seltenen Glücks- 
fällen zur Verfügung. Man müßte schon zu Organen tierischer 
Herkunft greifen; da aber streikt vorläufig unsere Operations- 
technik. Zwar kommen Nachrichten aus Paris, es sei dort 
einem Professor Veronoff gelungen, Affendrüsen mit bestem 


8 Kammerer: Altern und Verjüngen 


Dauererfolg auf Menschen zu übertragen; sogar das ist jedoch 
für uns arme „Mittelmächte“ mindestens ein teurer Spaß. In 
Amerika soll Dr. Brinklay Ziegendrüsen mit noch größerem 
Vorteil verwendet haben. Zu unserm Segen antwortet die 
Pubertätsdrüse mit mächtigem Wachstum nicht bloß auf die 
Verlagerung des Geschlechtsorganes, sondern ebenso auf 
jede Zumutung, mit der wir die Lebensfähigkeit der eigentlichen 
Keimdrüse in Frage stellen: auch bei Röntgenbestrahlung, 
Erwärmung, Vergiftung (z.B. mit Alkohol, Jod, Bakterien- 
giften), ja bereits bei Durchschneidung und Unterbindung 
seiner Ableitungswege geht das empfindliche Keimgewebe 
zugrunde, überläßt seinen Platz dem widerstandsfähig um sich 
greifenden Pubertätsdrüsengewebe. Von allen Mitteln, die 
Pubertätsdrüse zum Wachstum anzuregen, kamen für unsere 
Zwecke beim Manne die Abbindung des Samenstranges, beim 
Weibe die Bestrahlung des Eierstockes in Frage. Ganz unab- 
hängig von jeder Transplantation, sind wir durch beide Ein- 
griffe imstande, verjüngende Einflüsse auf alternde, gleichviel 
ob tierische oder menschliche Wesen auszuüben. 

Wie zeigen sich die verjüngenden Einflüsse? Machen 
wir es anschaulich durch Herausgreifen je eines Beispieles 
beim ‚männlichen und weiblichen Versuchstier, beim mensch- 
lichen Patienten. 

Ein greises Rattenmännchen wird ausgewählt: längst 
hatte es keinen Sinn mehr für sein Weibchen; feige weicht es 
dem Nebenbuhler; es läuft und springt nicht, träge kriecht es 
nur; das Rückgrat ist krumm, das Fell unreinlich, kahle Flecken, 
zumal auf Kehle, Rücken und Schenkel, wechseln mit schütter 
und struppig behaarten Stellen ab; trotzdem ihm die Knochen 
herausstehen, bezeigt das Tier wenig Freßlust; Augenlinse und 
Glaskörper sind getrübt; äußere und innere Geschlechtsteile 
klein und welk; Gekröse, Gedärme und Muskulatur blaß, trocken, 
fettlos. Nun werden die Samenstränge — entweder nur einer oder 
beide abgebunden. Schon drei Wochen nachher bespringt.und be- 
fruchtet allenfalls das Tier wiederum Weibchen, bekämpft seine 
Rivalen, reinigt seinen Pelz, der schmiegsam und voller wurde; 
die Glatzen bedeckt junge Haarsaat; heftige Freßgier ist er- 
wacht, zeitigt Zunahme des Gewichts und Fettpolsters; klar 
leuchtet das Auge auf; die Genitalien werden prall, alle Gewebe 
gut durchblutet, die Muskulatur daher wieder frisch und rot. 


10 Heyn: Physiologie des Geschlechtslebens der Frau 


oft muß der Friseur seine Dienste tun. Sechs Wochen nach 
der Unterbindung begann — dem ahnungslosen Manne unfaßbar 
— heftiger Geschlechtshunger aufzutreten, wie er ihn seit 20 
Jahren nicht mehr empfand; anhaltend besteht das glück- 
spendende Gefühl erfrischter, jugendlicher Vollkraft. — 

All das war mir natürlich schon bekannt, als ich meine 
von Sternberg so übel aufgenommene Hoffnungsfreudigkeit 
vortragsweise betätigte; andernfalls nämlich hätte ich weder 
meine Künstlerschaft noch meine Phantasie — diese beiden in 
den Augen des Zunftgelehrten so verbrecherischen Regungen — 
dazu mißbraucht, ein durch die düstere Gegenwart bedrücktes 
Auditorium an dem Glanze unerhörter Zukunftsmöglichkeiten zu 
erfreuen. Wohlvertraut damit, daß kühnste Erwartungen binnen 
kurzem übertroffen sein würden, durfte und mußte ich auch 
Sternberg’s Vorhaltungen gegenüber, die sich mühten, den 
von mir entzündeten Hoffnungsschimmer wieder auszulöschen, 
Stillschweigen bewahren, — bis zum heutigen Tage. Denn 
eben ist (in Berlin, beim Verlage J. Springer) Steinach’s 
Schrift erschienen, die eine neue Epoche der biologischen 
Technik, ja vermutlich der menschlichen Kultur bedeutet: 
„Verjüngung durch experimentelle Neubelebung der 
alternden Pubertätsdrüse“. 

Wie ein Aprilscherz mutet an, was wir dort lesen; aber — 
o stets schlagfertige Ironie des Schicksals — nicht Steinach’s 
Werk, sondern Sternberg’s Schlußartikel erschien am ersten 
April! Wenn es etwas gibt, was mit den Dunkelheiten des 
Daseins aussöhnt, so ist es die häufig wiederkehrende Er- 
fahrung, daß nicht die Recht behalten, die der hochfliegenden 
Hoffnung, den wagemutigen Strebungen abhold sind. Sondern 
den endgiltigen Triumph behauptet die Verwirklichung von 
Möglichkeiten, die das Größte überragen, was künstlerische 
Einbildungskraft sich auszudenken vermag. 





STUDIEN ZUR PHYSIOLOGIE 
DES GESCHLECHTSLEBENS DER FRAU. 


Von Dr. A. HEYN, Frauenarzt, Reichenbach (Schlesien). 
J" der Frauenheilkunde gibt es trotz des großartigen Ausbaues, 
den gerade die Pathologie und Therapie in den letzten 20 bis 
30 Jahren erfahren hat, eine Reihe besonders in sexologischer 
Hinsicht sehr interessanter Gebiete, die noch einer systematischen 
Bearbeitung bedürfen. In Laienkreisen hat ja die Beschäftigung 
mit geschlechtlichen Dingen noch vor nicht allzulanger Zeit als 
unanständig und unsittlich gegolten, und für weite Kreise gilt 
dies auch heute noch. Auch die Ärzte sind davon zum Teil 
nicht ganz freizusprechen, wie eigene Erfahrungen mich lehren. 
„Selbst die Sexologen, die eigentlichen Forscher auf dem 
Gebiete der Geschlechtswissenschaft, haben speziell das Studium 
des physiologischen Coitus bis heute noch als ein Noli me 
tangere betrachtet.“ (Rohleder, Zeugung beim Menschen.) Der 
„Stacheldraht der ethischen und moralisch theologischen An- 
schauungen Hemmungen“ ist durchaus noch nicht restlos 
durchbrochen und das stolze Wort Adlers in seiner 4. Auflage 
der Anaesthesia sexualis, daß es einer entschuldigenden Ein- 
führung nicht mehr bedürfe, scheint mir leider noch verfrüht. 
Und doch eröffnet gerade die genaue Kenntnis der physio- 
logischen Verhältnisse erst die rechte Vorstellung für die tief- 
gehende Bedeutung dieser Dinge für das gesamte Geschlechts- 
leben der Frau. 
Fühlt die Frau den Ejakulationsdruck des Mannes? 
Durch die gesamte Literatur Europas zieht sich wie ein 
roter Faden die Behauptung, daß das Weib beim Coitus die 
Ejakulation, das heißt den Druck der Ejakulation des Spermas 
in die Scheide fühle. In dem sexualwissenschaftlichen Kommentar 
von A. Kind Antonii Panormitae Hermaphroditus wird darauf 
hingewiesen, daß dies eine pure Einbildung sei. Von älterer 
Literatur nenne ich Joannis Meursii elegantiae latini sermonis 


12 Heyn: Physiologie des Geschlechtslebens der Frau 


seu Aloisia Sigaea Toletana etc. Dort findet man im Collo- 
quium IV: . . . defluxit tunc in me deliciosus imber, ferner: 
demum semine prolui in intimo utero (scil. vagina) sensi, ferner: 
Colloquium V: mox et ipse fervido me ferit semine ictu. Derartige 
Angaben finden sich. noch eine ganze Reihe. Dieser Glaube ist 
auch heute noch vielfach verbreitet in der Laienwelt, wie in 
Ärztekreisen, und man begegnet öfters einem ungläubigen 
Lächeln, wenn man diese „selbstverständliche Tatsache“ leugnet. 
In älteren ärztlichen Schriften findet sich ebenfalls dieser Glaube 
vertreten. Schröder (Verhinderung der Empfängnis aus Ehenot) 
schreibt, nachdem er zur Vermeidung der Deponierung des 
Spermas in die Scheide der Frau den Rat gibt, durch eine 
Beinbewegung das Herausgleiten des männlichen Gliedes aus 
der Scheide im entscheidenden Augenblick, und damit die 
Entleerung des Samens außerhalb der Scheide, zu bewirken. 
„Es ist das beiläufig eine Muskelbewegung, welche die jung- 
fräuliche Gattin bei ihrem ersten Beiwohnen in dem instinktiven 
Schrecken, den gerade dieser Moment der Auslösung des 
höchsten Reizes seitens ihres Gemahls in ihr verursacht, un- 
bewußt und ohne eine Ahnung der Folgen, die es für das 
Organ des Mannes bewirkt, bisweilen ausführen soll.“ Es ist 
von vornherein unwahrscheinlich, daß die junge Frau gerade 
bei der ersten Beiwohnung, bei den verschiedenen neuen Ein- 
drücken, die gerade der erste Coitus ihr bringt, diesen geringen 
Druck merken soll. Klein sagt an der angeführten Stelle weiter: 
Das Weib kann in der nur sehr grob empfindlichen Vagina 
höchstens die Kontraktion des Muskulus bulbo-cavernosus, resp. 
ihre Fortleitung durch die Harnröhre wahrnehmen. Aber auch 
diese Wahrnehmung halte ich für eine Ausnahme. Meist wird 
das Weib das Eintreten des physiologischen Momentes aus den 
begleitenden Symptomen erkennen, z. B. aus dem Stocken der 
schnellen Inspiration, dem leichten Streckkrampf des ganzen 
Körpers usw. Die Vorstellung von einer „herausgeschleuderten 
Flüssigkeit“ des Mannes tritt nur ein, weil sie erwartet wird. 
Gerade der Erstcoitierenden wird die genaue Kenntnis dieses 
Vorganges in der Regel abgehen, wenn man auch annehmen 
kann, daß ein großer Teil der Frauen über die gröbsten Vorgänge 
beim Coitus orientiert sein wird. Selbst erfahrene Frauen, wenn 
sie in voller Kenntnis des Kommenden auf die Ejakulation 
achten, können in den meisten Fällen nicht angeben, wann der 


Heyn: Physiologie des Geschlechtslebens der Frau 13 


Erguß in die Scheide erfolgt, obwohl sie aus dem Verhalten 
des Mannes genau die Zeit erkennen, in der das Ereignis erfolgt. 
Ich habe aus dem Munde vieler Frauen dieses Eingeständnis 
gehört. Sie gaben übereinstimmend an, daß sie den Erguß selbst 
nicht merkten, daß es-ihnen-aber so vorkomme,-als ob in der 
Harnröhre des Mannes etwas hin- und hergehe, oder daß das 
Glied des Mannes zucke. Nur in ganz wenigen Fällen wurde 
auch bei genauerem Examen die Behauptung aufrecht erhalten, 
daß die Ejakulation an einem gewissen Drucke manchmal, nicht 
immer, gemerkt würde; in einem Falle, dem ich mißtraue, gab 
eine jüngere Frau an, daß sie den Erguß merke, weil er sehr 
heiß sei. Wenn man nur obenhin nach der Wahrnehmung des 
Ergusses fragt, hört man öfters, daß dies der Fall sei, wenn 
man sich aber durch genauere Fragen Gewißheit verschafft, 
bekommt man nicht so selten die Antwort, das müsse doch so 
sein. Viele Frauen machen eben zunächst eine positive Angabe, 
weil sie die Befürchtung haben, daß sie mit einer Verneinung 
eine gewisse Minderwertigkeit zugeben würden. Ich halte es 
nicht für unwahrscheinlich, daß diese falschen Angaben der 
Grund sind, weshalb noch in so weiten Kreisen der Glaube an 
das Bemerken des Ergusses seitens der Frau sich erhalten hat. 
Nach meinen Aufzeichnungen merkt längst noch nicht ein Prozent 
der Frauen den Erguß des Mannes. 

Beim Orgasmus des Mannes wird das Sperma mit einem 
gewissen Druck durch die Kontraktion des Muskulus bulbo- 
cavernosus usw. herausgeschleudert, je nach der Kräftigkeit des 
Muskels und seiner geringeren oder stärkeren Erregung seitens 
des Zentrums im Lendenmark. Die Strecke, die der Same 
fortgeschleudert wird, beträgt einige Zentimeter bis zu einem 
Meter und darüber, und es ist deshalb nicht ausgeschlossen, 
daß in Fällen, in denen ein stärkerer Muskel und eine kräftigere 
Innervation vorliegen, doch ein so bedeutender Druck auf die 
Scheidewände ausgeübt werden kann, daß trotz der bereits 
angeführten geringen Empfindlichkeit der Scheide in Fällen, in 
denen die Erregung der Frau beim Coitus dies zuläßt, der 
Ejakulationsdruck als solcher empfunden wird. Auf jeden Fall 
sind solche Fälle relativ selten. Auch bei Frauen, denen das 
Wollustgefühl beim Verkehr fehlte, fand sich ein Unterschied nicht. 

Ich gebe noch einige Notizen aus der Literatur. In dem 
Lehrbuch der Physiologie des Menschen von G. Valentius, 1844, 





14 R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos 


finde ich folgende Angabe: „Ob jedoch nicht auch die Aus- 
spritzung des Samens an den Wänden der Scheide und vor- 
züglich an den Muttermundslefzen und an den Innenwänden 
‚des Uterus mit Wollustempfindungen verbunden sei, steht dahin.“ 
Ferner sagt Frau Fischer - Dückelmann (Geschlechtsleben des 
Weibes): „Es liegt daher nahe, anzunehmen, daß der Erguß des 
Spermas auf den Halsteil des Uterus von besonderer Wirkung 
auf das Gefühl der Frau und von großer Bedeutung für den 
Fortpflanzungszweck sein muß“. 
Die Ansicht, daß der Ejakulationsdruck von Einfluß auf 
die Wollusterregung des Weibes sei, basiert eben auf dem alten 
Glauben, daß der Erguß von der Frau regelmäßig und als 
gefühlserhöhendes Moment bemerkt würde. 
In den meisten mir zugänglichen neueren Lehr- und 
Handbüchern der Sexualwissenschaft fehlt eine Hindeutung auf 
die angeschnittene Frage gänzlich. Aus meinen eigenen Auf- 
zeichnungen, aus einem Material von über 700 über sexuelle 
Fragen genauer befragter Frauen und Mädchen, scheint sich 
eindeutig zu ergeben, daß 
1. der Ejakulationsdruck von der Frau beim Coitus nur aus- 
nahmsweise gefühlt wird, und 

2. daß ihm ein Einfluß auf eine höhere Wollusterregung der 
Frau und damit auf eine Erleichterung der Konzeption ab- 
zusprechen ist. 








DAS WEIB IM ALTINDISCHEN EPOS. 

Von Universitäts-Professor Dr. RICHARD SCHMIDT, Münster. 
U diesem Titel hat der Professor an der Universität Chicago 

Johann Jacob Meyer (Leipzig 1915 bei Wilhelm Heims) 
ein 440 Seiten starkes Buch als Beitrag zur indischen und ver- 
gleichenden Kulturgeschichte erscheinen lassen, zu dessen Ab- 
fassung kaum "einer so geeignet sein dürfte wie dieser mein 
schreibgewandter Freund mit seiner außerordentlichen Belesen- 
heit. Er ist auf dem Gebiete kein Neuling mehr: hat er doch 
bereits 1903 Ksemendra’s Samayamätrkä übersetzt und in der 
58 Seiten fassenden, glänzend stilisierten Einleitung dazu gezeigt, 
daß er den Stoff meisterlich beherrscht. Wenn er dabei die 
Kunst versteht, gerade die heikelsten Stellen, an denen hier 
wahrlich kein Mangel ist, mit köstlichstem Humor zu behandeln, 
so ist das ein Vorzug, der auch die der Indologie Fernstehenden 
zur Lektüre einlädt, die abgesehen von gründlichster Belehrung 
obendrein auch noch einen hohen ästhetischen Genuß gewährt, 
was man bekanntlich durchaus nicht von allen wissenschaft- 
lichen Werken behaupten kann. Man lese Meyers Einleitung 
zu seiner Übersetzung von Dandin’s Dasakumäracaritam, einem 
altindischen Schelmenroman (Leipzig 1902), und beantworte mir 
dann die Frage, ob man noch gründlicher, noch glänzender in 
den Geist eines Buches eingeführt werden kann. In diesen 
139 Seiten steckt so viel Gelehrsamkeit, so viel feines Ver- 
ständnis für den Autor, so viel Humor, daß diese Einleitung als 
ein Buch für sich betrachtet und als ein Kunstwerk eingeschätzt 
zu werden verdient. Nörgelnde Kleingeisterei wird ohne große 
Mühe manche Stelle entdecken können, die der Richtigstellung 
bedarf. Aber in einer Fülle von Vorzügen verschwinden die 
Mängel, geradeso wie die Flecken des Mondes in seinem strah- 
lenden Lichte, um einen indischen Ausdruck zu gebrauchen, den 
Kälidäsa (Kum. I, 3) geprägt hat. 

Der Zweck des Meyer’schen Buches ist, an der Hand der 
beiden großen indischen Epen, des Mahäbhärata und des 
Rämäyana, eine getreue und lebendige Anschauung von der 
Geltung und Stellung der Frau in Indien zu geben. Daß sich 
als Quelle dazu die epische Dichtung ganz besonders eignet 


16 R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos 


und in allererster Linie wieder das Mahäbhärata, muß jeder 
zugeben, der die eigentümlichen Verhältnisse kennt, unter denen 
dieses Riesengedicht entstanden ist. Ursprünglich nämlich war 
es ein Heldengesang, aber im Laufe der Jahrhunderte hat sich 
eine solhe Menge neuer Stoff um diesen Kern herum angesetzt, 
daß schließlich daraus eine förmliche Enzyklopädie geworden 
ist, in der man so ziemlich alles finden kann, was der indische 
Geist bis zum Abschluß des Epos, d.h. etwa bis zum Ende 
des vierten Jahrhunderts nach Chr., hervorgebracht hat. Rechnen 
wir nun noch dazu, daß die obere Grenze für die Festlegung 
des Mahäbhärata in seiner jetzigen Gestalt das 4. Jahrhundert 
vor Chr. ist, so ist damit dieses Gedicht der Spiegel des inter- 
essantesten Zeitabschnittes der indischen Geschichte. 

In diesem langen Werdegange liegt es nun natürlich be- 
gründet, daß die Quellen von inneren Widersprüchen wimmeln 
und also auch über das Weib, „jene große Vereinigung von 
Widersprüchen,“ oft Urteile abgegeben werden, die sich schnur- 
straks entgegengesetzt sind. Nicht nur deshalb, weil die Inder 
für gewöhnlich zwei Seelen in der Brust tragen: eine welt- 
suchende und eine weltfliehende, muß die Wertschätzung der 
Frau von Fall zu Fall eine ganz verschiedene sein. 

Endlich aber bieten uns die beiden großen Epen, worauf 
auch Meyer ausdrücklich hinweist, keineswegs ein vollständiges 
Bild vom Weibe, vielmehr sind ihre Angaben in gewisser Hin- 
sicht recht lückenhaft. Hier ergänzend einzugreifen, soll mit 
die Aufgabe der folgenden Zeilen sein, wobei ich die treffliche 
Gliederung des Stoffes zugrunde lege, wie sie der Verfasser 
gewählt hat. i 

Die Anschauung des Epos, der zufolge die Geburt einer 
Tochter unerwünscht kommt, ja, für ein Unglück und das ärgste 
Elend erklärt wird, zieht sich durch die ganze spätere Literatur 
und hat ihren krassesten Ausdruck in den berüchtigten Kinder- 
morden gefunden, die bis in die neuere Zeit skrupellos ver- 
übt wurden, wie man es des Näheren bei Billington, Woman 
in India, nachlesen kann. Die englische Regierung ist freilich 
seit 1802 bemüht gewesen, diesem Greuel zu begegnen, z. B. 
auch durch die Einführung von Geburtsregistern; in Rajputana 
setzte auch eine nationale Bewegung gegen den Mädchenmord 
ein: aber es gibt immer noch Eltern, die es verstehen, durch 





Terminalhaarmaximum bei einem Aino (Nordjapan). 50 Jahre alt. 


Die Abbildung zeigt einen Terminalhaarreichtum des ganzen Körpers, wie er 

selbst bei den reichbehaarten Aino nur selten angetroffen wird. Das lockige 

Haupthaar geht ohne scharf sichtbare Grenze in das reiche Barthaar über. 
(Nach Friedenthal: Das Dauerhaarkleid des Menschen.) 


(Zu dem Aufsatz: Friedenthal Geschlechtsunterschiede S. 18.) 





R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos 17 


tausend heimliche und hinterlistige Mittel sich des unerwünschten 
Familienzuwachses zu entledigen. Erdrosselung oder Aussetzen 
im Dschangel ist ja bald genug getan, falls die Mutter es nicht 
vorzieht, das Neugeborene vor dem Bilde des elefantenköpfigen 
Gottes Gaņeśa in einem Kessel mit siedender Milch zu er- 
tränken, um zur Belohnung für diese fromme Tat das nächste 
Mal mit einem Knäblein niederzukommen!! Die Entsühnung 
der Eltern und des Hauses macht auch gar keine Schwierig- 
keiten; es finden sich Brahmanen genug, die das mit ein wenig 
Hokuspokus gern besorgen; denn — sie tun es nicht umsonst. 

Die Gründe für den Mädchenmord sind zahlreich und 
wurzeln zum Teil in den religiösen Anschauungen des Inders, 
zum Teil in wirtschaftlichen Bedenken. Für den Hindu ist das 
Ziel all und jeder Religion und Philosophie die Erlösung ‘vom 
Weiterleben nach dem Tode, vom Wiedergeborenwerden, vom 
Kreislauf der Existenzen; die Frau aber ist gerade die Ver- 
anlassung, daß dieser circulus vitiosus weiterbesteht. Ferner 
ist eine Tochter nicht berechtigt noch befähigt, dem toten Vater 
die Spende darzubringen, die ihm die Ruhe im Grabe gewähr- 
leistet; dazu ist ein leiblicher Sohn erforderlich. Endlich aber 
kostet die Ausstattung und Verheiratung eines Mädchens ein 
solches Heidengeld, daß sich damit mehr als eine Familie ein- 
fach ruiniert. So ist es denn sehr wohl zu verstehen, wenn 
ein geplagter Vater in seiner Not ausruft (Mahäbh. V, 97, 15-16): 
„Pfui doch über das Aufwachsen einer Tochter in dem Hause 
von Männern, die tüchtigen Charakters, hervorragend, ruhmvoll 
und milde geartet sind. Die Familie der Mutter, die Familie 
des Vaters und die, wohin sie vergeben wird, drei Familien bringt 
die Tochter der Trefflichen in Gefahr.“ Die religiöse Forderung 
endlich, die Tochter vor Eintritt der Menstruation an den Mann 
zu bringen, ist sicherlich oft genug ganz dazu angetan gewesen, 
dem Vater die schwersten Sorgen zu bereiten. Aber auch in 
Indien sprach schließlich auch das Herz der Eltern mit: wenn 
nun einmal eine Tochter da war, wünschte man sie auch glück- 
lich verheiratet zu sehen. Die Ungewißheit, wie die Dinge sich 
gestalten würden, ob man einen Bräutigam finden möchte, der 
einem an Familie und Charakter Ehre bringen würde, hat 
manchem Elternpaar das Herz schwer gemacht. Ein Dichter 
vergleicht die Sorge des Vaters einer Tochter mit der des 
Autors einer Erzählung, der voll banger Zweifel ist, ob seine 

2 


18 R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos 


Schöpfung nun auch in die Hände von geschmackvollen Lesern 
kommen werde, die sie mit dem Herzen nicht minder als mit 
dem Verstand zu schätzen verstehen wissen. 

Sollte nun aber das Unglück es gar wollen, daß die Tochter 
ein körperliches Gebrechen hat, so ist die Not natürlich aufs 
höchste gestiegen. Dann sehen wir den geplagten Vater im 
Lande umherziehen, um für sein armes Kind doch vielleicht 
noch einen Mann zu ergattern! Wohl nicht im Epos, aber in 
den Rechts- und Ritualbüchern und dann natürlich auch im 
Kämasutram, der indischen Ars amandi, wird eine lange Liste 
von Fehlern und Gebrechen am Mädchen vorgetragen, die die 
Schließung der Ehe mit einem solchen nicht rätlich erscheinen 
lassen. Danach soll man rothaarige und rotäugige, gar zu 
stark- und gar zu schwachhaarige, mit einer chronischen oder 
schimpflichen Krankheit behaftete, verstümmelte, schielende, 
bucklige, zwergenhafte und an starker Schweißabsonderung 
leidende Mädchen meiden. Ferner auch solche, die einer Misch- 
ehe entsprossen sind, die Mannbarbeit bereits erreicht haben, 
stumm sind, eine schöne jüngere Schwester besitzen und un- 
gebräuchliche Namen (auch solche von Sternbildern, Flüssen, 
Bäumen) führen. Es soll hier nicht verschwiegen werden, daß 
in diesen Verzeichnissen teilweise wenigstens noch ein gewisses 
Dunkel herrscht, welches aufzuhellen weder den indischen noch 
den europäischen Erklärern bisher geglückt ist. Anderseits 
dürfen wir unbedenklich Banerjee und Jolly zustimmen, die viele 
dieser Vorschriften nur für wohlgemeinte Ratschläge, für 
„merely directory“ und nicht für „imperative“ ansprechen, weil 
sonst notwendigerweise gar viele Mädchen sitzen bleiben würden. 

Vor dem Übertritt in das Haus des Gatten verleben die 
Töchter eine glückliche Zeit. Wenn das Epos auch so gut wie 
nichts davon berichtet, so ist das gewiß nur Zufall, und J. J. 
Meyer wird schon Recht haben, wenn er alles das auch für 
die epische Welt gelten läßt, was wir für die Jetztzeit aus 
Ramabai Sarasvati (The High Caste Hindu Woman) und Sister 
Nivedita (The Web of Indian Life) von dem Leben und Treiben 
junger Inderinnen erfahren. Von einer strengen Schulung war 
keine Rede; sie wurden in der Kunst des Tanzens, Singens 
und Musizierens unterwiesen, blieben aber ernster wissenschaft- 
licher Beschäftigung fern. Gewiß kennt die indische Literatur- 
geschichte auch ein paar Dichterinnen, aber das sind so seltene 


R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos 19 


Ausnahmen, daß uns eine Königin als etwas ganz Besonderes 
vorgeführt wird, die vermöge ihrer gründlichen Kenntnis des 
Sanskrit ihren Gatten blamiert! Erst ganz neuerdings hat man 
in Indien begonnen, Mädchenschulen einzurichten, ja, man hat 
dort sogar bereits studierende Frauen gesehen. Aber was für 
endlose Schwierigkeiten zu überwinden waren, um erst einmal 
ein Schullokal zu bauen und vielleicht ein halbes Dutzend 
Schülerinnen zusammenzubringen, das hat Menant in .den 
Annales du Musée Guimet II, 7 sehr anschaulich beschrieben. 
Es mag hier genügen, darauf hinzuweisen, daß nach Mary 
Frances Billington in den neunziger Jahren 99,44 Prozent 
der gesamten weiblichen Bevölkerung illiterate waren! 
Der Census of India, 1901 gibt die Gesamtsumme der Hindu- 
Frauen und -Mädchen mit 101945436 an, darunter 101468049 
illiteratæ! 

So ging also in der Hauptsache die Mädchenzeit mit 
kindlichen Spielen *) vorüber, deren beliebtestes das mit Puppen 
war. Die Vorliebe dafür geht so weit, daß Uttarä noch zur 
Zeit ihrer Vermählung sich damit ergötzt, ebenso wie Jolekhä 
(= Suleikha) im Kathäkautukam; und durch Billington erfahren 
wir, daß selbst die Studentinnen eine Puppe als Schulprämie 
höher bewerten als alle anderen Preise: „Big girls, who have done 
well in the school examinations, are more pleased with a doll 
as a prize than almost anything that can be given to them, 
and I have seen those whom I may fairly call young women 
show real disappointment at a distribution to find that their 


1) Das Kämasütram hat S. 56 und 207/208 (=S. 72 und 264 meiner 
Übersetzung) zwei Listen von Spielen, deren erste für erwachsene elegante 
Herrschaften bestimmt ist, während die zweite Kinderspiele umfaßt, die 
der Knabe mit dem Mädchen spielt, dem er sich nähern will. Da gibt 
es ein „Brechen von Mangofrüchten“, ein „Jungblattspiel“, ein „Wasser- 
spritzspiel“, Kämpfe, bei denen blühende Zweige als Waffen dienen, das 
Essen von Lotusfasern und Marionettenspiel. Unter den Kinderbelustigungen 
finden wir solche, die auch uns ganz geläufig sind: Blumensammeln, 
Kränzeflechten, Häuserbauen, Kochen, Verstecken, Fingertippen, Frosch- 
hüpfen usw. Für viele andere, die da noch erwähnt werden, wünschte 
man wohl eine genauere Beschreibung, als der indische Erklärer sie gibt: 
Paar oder unpaar, Mittelfingerfangen („wobei der Mittelfinger durch 
Umstellen der anderen Finger versteckt wird“), Sechssteinespiel, („wobei 
sechs kleine Steine mit dem Handteller hochgeworfen und mit dem 
Handrücken aufgefangen werden“), Salzmarkt, Windschlagen („wobei man 
die Arme wie Flügel ausstreckt und sie wie ein Rad dreht“), Weizenhaufen 

2* 


20 R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos 


first prize was a new sari”), while a third or fourth received 
some showily attired guryen?) [Puppen], as they will call them“. 
— Aus dem Kämasutram erfahren wir, daß die Puppen aus 
Garn, Holz, Büffelhorn oder Elfenbein hergestellt waren und daß 
die Jünglinge es nicht verschmähten, ihrerseits mitzuspielen, um 
auf diese Weise mit den Mädchen vertraut zu werden, oder 
ihnen zu demselben Zwecke Puppen — natürlich besonders 
schöne! — zu schenken; ja, diese werden auch benutzt, um den 
postillon d’amour zu machen, und fungieren also als Gelegen- 
heitsmacherinnen. Wohlgemerkt: verheirateten Frauen gegenüber, 
deren Herz man dem Gatten abwendig machen möchte! 

Fast ebenso gern spielten die Mädchen und Jungfrauen Ball. 
Von Säntä wird es im Epos ausdrücklich berichtet, und die 
spätere Literatur ist voll von Schilderungen derart, deren berühm- 
teste im Da$akumäracaritam (S.290 der Meyer’schen Übersetzung) 
zu finden ist. Hier verehrt die Prinzessin Kandukävati mit ihrem 
Ballspiel die Göttin Parvati und erweist sich dabei als so ge- 
schickt, daß die Zuschauer ihr ganz hingerissen von ihrer Kunst 
laut Beifall zollen. „... spielend lässig warf sie ihn (den Ball) 
zu Boden. Als er dann langsam in die Höhe gegangen war, 
gab sie ihm mit ihrer schossengleichen Hand, deren Daumen 
sich etwas krümmte und deren zarte Finger sie ausstreckte, 
einen Schlag, und zwar trieb sie ihn mit dem Rücken ihrer Hand 
empor, heftete ihre beweglichen (dunkeln) Blicke an ihn, so daß 
er ein bienenkranzbesetzter Blumenstrauß schien, und fing ihn 
so beim Herabfallen in der Luft. Und sie warf ihn in mittel- 
mäßigem und langsamem Tempo und in raschem Tempo, und 
ihn sanft und unsanft schlagend, stellte sie in diesem Augen- 
blick das Curnapada*) dar. Wurde der Ball ruhiger, so jagte 
sie mit unbarmherzigen Schlägen ihn empor. Fand das Gegen- 
teil statt, so beruhigte sie ihn. Ging er geradeaus zur Seite, 


(„hierbei nimmt je einer unter vielen einige Rupien, tut sie unter Weizen 
oder Reis, vermischt sie damit und macht so und so viele Teile. Nun 
nehmen jene nach Belieben je einen Teil und suchen die Rupie; wer sie 
nicht findet, gibt eine andere“), und ganz selbstverständlich auch das 
Puppenspiel. 

2?) Ein Kopfschal, den die indischen Mädchen und Frauen sehr malerisch 
umzutun verstehen. 

3) Plural von Hindustani guriyä. 

*) Ein dem Hin- und Hergehen entsprechendes heftigeres Werfen des 
Balles heißt nach dem Kommentator so. 


R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos 21 


so schlug sie ihn abwechselnd mit der linken und der rechten 
Hand und trieb ihn so wie einen Vogel empor. Wenn er, weit 
weggeflogen, niederfiel, so holte sie, indem sie den Gitamärga®) 
ausführte, ihn wieder herbei. Nachdem sie ihn in jede Himmels- 
richtung getrieben hatte, trieb sie ihn wieder zurück... Also 
jetzt niederhockend, jetzt aufstehend, jetzt die Augen schließend, 
jetzt sie aufschlagend, jetzt stehend, jetzt gehend, spielte überaus 
wunderbar die Königsmaid. Den Ball gegen den Boden und 
in die Luft schlagend, stellte sie mit einem Balle, doch dem 
Anschein nach mit mehreren, die verschiedenen sehenswerten 
Spiele dar.“ Hier erfahren wir auch aus dem Kommentare, daß 
es in Indien eine besondere „Spielballwissenschaft“ gab, gewiß 
der schlagendste Beweis für die große Beliebtheit des Spieles. 
Dem entsprechend verwendete man auch nicht geringe Mühe 
auf die Herstellung der Bälle; die der Vornehmen waren besonders 
farbenprächtig. Das Kämasutram rät dem Jünglinge, seiner Aus- 
erwählten „einen mit vielen Streifen versehenen und mit kleinen 
Linien verzierten Ball“ zu verehren; und wenn er bei einer ver- 
heirateten Frau verbotene Früchte pflücken will, soll er als Signal 
seiner Leidenschaft einen bedeutungsvoll gezeichneten Ball auf 
dem Wege niederlegen, den sie zu gehen pflegt. 

Jedenfalls wußten die so ungemein scharf beobachtenden 
Inder recht gut, daß das Ballspiel ganz besonders geeignet war, 
die Grazie der Spielenden zu zeigen und ihre Sieghaftigkeit zu 
steigern. Sie rechneten denn auch den Anblick hübscher, schön 
geputzter Mädchen zu den glückbringenden Dingen, und so sind 
bei Räma’s Kronprinzenweihe, bei seiner Rückkehr aus der Ver- 
bannung und bei seiner Krönung eine ganze Anzahl solcher 
Ehrenjungfrauen unterwegs. Es wohnt eben im Leibe der Frau 
— der verheirateten wie der unverheirateten — Sri, die Göttin 
der Schönheit und des Glückes; und so stehen wir denn vor der 
im widerspruchsvollen Indien nicht weiter überraschenden Tat- 
sache, daß die eigentlich so verachteten Mädchen doch auch 
wieder recht begehrt sein können. So sehr, daß das Mahä- 
bhäratam gelegentlich Anweisung gibt, wie man eine Tochter 
bekommen kann! Sie dient eben nicht nur als angenehme, 
glückbedeutende Augenweide, sondern vermag sich auch bis- 


$) „Zehn Schritt umhergehen, das ist der Gitamärga“, sagt der 
Kommentator. 


22 R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos 


weilen in wahrhaft heroischer Weise verdient zu machen, wie 
z.B. die in I, 159 erwähnte, die sich einem bösen Geiste als 
Fraß darbietet, um den Eltern den Sohn zu erhalten und damit 
den Weiterbestand der Familie sicher zu stellen. Oder man 
lese bei Meyer S. 19 ff. nach, welche Mühe sich Kunti als Haus- 
tochter gibt, einem als Gast gekommenen Brahmanen all die 
demütigen Dienste zu seiner Zufriedenheit zu erweisen, die er 
wie die meisten seiner Standesgenossen im Epos zu bean- 
spruchen beliebt. x 

Die sorglosen Tage der Kindheit sind mit einem Schlage 
vorüber, wenn die Tochter gesehen hat, daß sie physiologisch 
Weib geworden ist, d.h. zum ersten Male menstruiert hat. Sie 
bedarf zwar nicht der „sexuellen Aufklärung“, denn sie weiß 
schon längst alles, dank der Ehrlichkeit, mit der man in Indien 
das „naturalia non sunt turpia“ zu handhaben pflegt. Wenn 
aber von Kunti ausdrücklich gesagt wird, daß sie über den 
ersten Anblick ihres Monatsflusses voll Scham ward, so ist ihr 
das als eine zarte Seelenregung zu eben so großer Ehre an- 
zurechnen wie J. J. Meyer die schöne Anmerkung dazu S. 24. 

Wohlbekannt sind im Epos alle die Vorstellungen, die uns 
in der sonstigen Literatur, speziell in den Rechtsbüchern, be- 
züglich der Menstruierenden entgegentreten; vor allem die, daß 
sie rituell unrein ist. „Während des Monatsflusses einer Frau 
beizuwohnen, zählt zu den in Arjunas Selbstverfluchungsformel 
aufgeführten entsetzlichen Freveln (XII, 73, 42). Eine rajasvalä 
(Menstruierende) besuchen, gehört unter die sieben Dinge, durch 
die ein Mann sein Glück verscherzt (XVI, 8, 5, 6), und als 
Sünder (päpakarmin) erscheinen die sich also verfehlenden 
Brahmanen XII, 165, 26. Die Apsaras (Himmels-Hetären) 
mußten auf Brahmas Befehl ein Viertel des Brahmanenmordes 
auf sich nehmen, an dem Indra so schwer trug. Sie flehten 
den Weltenvater an, er möge ein Mittel aussinnen, sie davon 
zu befreien. Er sprach: „Wer bei menstruierenden Frauen den 
Beischlaf ausführt, auf den wird er (der Brahmanenmord) un- 
verzüglich übergehen. Möge eure Seelenqual weichen!“ (XII, 
282, 43ff) Wer zu einer geht, die nicht besucht werden darf 
(agamyä), soll zur Sühne sechs Monate lang ein nasses Kleid 
tragen und in Asche schlafen (XII, 35, 35). Die agamyä sind 
nun sehr verschiedener Art — s. weiter unten — aber zu ihnen 


R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos 23 


gehört eben auch die rajasvala.... Die bloße Gegenwart so 
einer Befleckten ist verderblich.. Was sie ansieht, nehmen die 
Götter nicht als Opfer an (XII, 127, 13). In der Nähe der 
Ahnenspende darf sie nicht sein (XIII, 92, 15), sonst sind die 
Vorfahren sogar dreizehn Jahre lang unzufrieden (XII, 127, 13, 
14). Für den Brahmanen ist nur die Speise rein, auf die nicht 
der Blick einer Menstruierenden gefallen ist (XIII, 104, 40). 
So verdorbene Speise ist sogar das Teil der Dämonen (XIII, 
104, 90). Sogar mit ihr zu sprechen ist verboten (XIII, 104, 
53).“ Meyer, S. 169f. 

Anderseits aber entleert sich mit dem Menstrualblute alles 
Grausige und zauberische Verderben, was der Frau innewohnt; 
und so sagt denn das Epos: „Dies ist nach dem Gesetze ein 
unvergleichliches Reinigungsmittel des Weibes; denn Monat um 
Monat führt das Menstrualblut alles Schlimme in ihnen weg“. 
Das geht so weit, daß selbst eine untreue Frau von der Sünde 
des Ehebruchs geläutert wird wie ein schmutziges Gefäß durch 
Behandlung mit Asche, sobald sie ihre Regel gehabt hat. 

Aus der Anschauung, daß die Menstruierende unrein, ja 
sogar gefährlich ist, ergibt sich nun ganz von selbst das Verbot 
der Kohabitation mit einer solchen, das die Ritualbücher unter 
Androhung von Strafen immer wieder einschärfen, wobei ihnen 
die Mediziner zustimmen (Beiträge zur indischen Erotik S. 91). 
„Man nähere sich seiner Frau nicht, wenn ihre menses sich 
zeigen, und wäre man auch trunken vor Begierde, noch ruhe 
man mit ihr auf demselben Lager. Wenn sich nämlich ein 
Mann der Frau nähert, die mit ihrem Menstrualblute besudelt 
ist, schwindet sein Verstand, seine Energie, seine Stärke, sein 
Gesicht und seine Lebenskraft. Wenn er aber die Frau meidet, 
solange sie mit ihrem Menstrualblute besudelt ist, gedeiht sein 
Verstand, seine Energie, seine Stärke, sein Gesicht und seine 
Lebenskraft“, lehrt Manu IV, 40—42. 

Von den Gebräuchen, die sich bei den verschiedenen 
Völkern Indiens als Begleiterscheinungen der Menstruation 
herausgebildet haben, sind die wichtigeren zusammengestellt 
in meinen beiden Schriften „Beiträge zur indischen Erotik“ 
und „Liebe und Ehe im alten und modernen Indien“. 

(Fortsetzung folgt.) 


IL 


24 Friedenthal: Geschlechtsunterschiede am Haarkleid 


GESCHLECHTSUNTERSCHIEDE AM HAARKLEID 
DES MENSCHEN. 
Von Universitäts-Professor HANS FRIEDENTHAL, Charlottenburg. 


D* Haarkleid des Menschen, dessen Rückbildung nicht wie 
bei vielen andern Säugetieren auf ein Leben im Wasser 
zurückgeführt werden kann, gibt beim Europäer und seinen 
Verwandten so auffällige Geschlechtsunterschiede zu erkennen, 
daß wir versuchen können, an ihm die Aufgabe der Entstehung 
der Geschlechtsunterschiede überhaupt, die noch nicht erledigt 
werden konnte, ihrer Lösung näher zu bringen. Der Knabe 
der poikilodermen oder buntfarbigen Mittelrasse!) unterscheidet 
sich bis zur Zeit der Geschlechtsreife nicht wesentlich vom 
Mädchen. Das Haupthaar des Knaben besitzt dieselbe Länge 
wie das Haupthaar der Mädchen, die Leibesbehaarung besteht 
bei beiden Geschlechtern mit Ausnahme der Kopfkappe und 
den Augenbrauen und Wimpern ausschließlich aus Flaumhaar. 
Die Wimpern der Mädchen sind weder länger noch dicker als 
die der Knaben. Der Reichtum an Flaumhaaren ist bei beiden 
Geschlechtern gleich. Zur Zeit der Geschlechtsreifung entstehen 
unter dem Einfluß der Hormone der Leydig-Zellen mit dem 
Hervorbrechen des Terminalhaarkleides (Altershaarkleid) die 
ersten Geschlechtsunterschiede der Behaarung. Beim Mädchen 
sprossen Terminalhaare (Fellhaare) zuerst am Schamberg, später 
in den Achselhöhlen, beim Knaben behaart sich ebenfalls zuerst 
der Schamberg, dann aber zugleich mit den Achselhöhlen die 
Oberlippe, dann das Kinn, die Wange, die Brust, der Unterleib, 
häufig auch die seitlichen Teile am Rücken mit Freilassung der 
Mittellinie. In höherem Alter überzieht das Fellhaar schließlich 
mehr oder weniger die ganze Körperoberfläche mit Ausnahme 
der dauernd haarlosen Hand- und Fußflächen. Sehr schwach 
behaart bleiben die Innenseiten der Gliedmaßen im Gegensatz 
zu den Außenseiten, wo bei reichbehaarten Individuen das 
Terminalhaar ein zottiges die Haut streckenweise unsichtbar 
machendes Fell bildet, namentlich bei Ainos in Nord-Japan, 
Uraustraliern und Russen. Die Geschlechtsunterschiede der 
Behaarung sind bei reichbehaarten Menschenrassen im Alter 
von etwa 50 bis 60 Jahren recht bedeutende. Die Kopfkappe 


1) Siehe darüber H. Friedenthal, Beiträge zur Naturgeschichte des 
Menschen. Jena, Verlag Gustav Fischer, 1908. 


Friedenthal: Geschlechtsunterschiede am Haarkleid 25 


des Weibes mit jahrzehntelang wachsenden bis zur Hüfte 
reichenden Haaren, welche am Wirbel am längsten sind, steht 
gegenüber der Glatze des Mannes, welche an den unteren Kopf- 
teilen umsäumt ist mit Haaren, die ungeschnitten nur wenig 
über die Schultern reichen würden. Um die Ohren findet sich 
stets eine nach hinten weiter als nach vorn reichende sehr haar- 
arme Strecke bei beiden Geschlechtern. Die Kopfkappe endigt 
im Nacken häufiger als bei der Frau in einem spitzen an der 
Mittellinie sich herabziehenden Zipfel im Gegensatz zu der 
häufigeren rundlichen Haargrenze der Frau. Der Bart bei 
haarreichen Männern ungeschnitten oft bis zum Nabel reichend, 
bedeckt bis auf Nase, Stirn und Augenring das Gesicht, woher 
außer dem Augenbrauenbart aus Nasenloch und Gehörgang 
Bartfocken hervorquellen. Der Hals ist in seiner oberen Hälfte 
von Bart bedeckt, so daß nur ein schmaler Streifen haararmer 
Haut bis zum oberen Beginn des Brustfelles, das sich bis zum 
Schamberg als Bauchfell fortsetzt, übrig bleibt. Die Schamberg- 
behaarung geht besonders dicht in der Mittellinie nach oben, 
während die seitlichen Teile des Bauches haararm bleiben. An 
den Gliedern fallen an den Außenseiten besonders haarreiche 
Stellen auf, indem an den Fingern und Zehen sich von haar- 
ärmerer Haut umgebene förmliche Bärte bilden. Der After ist 
von dichten Haaren umgeben, während die Beckengegend nur 
bei den haarreichsten Individuen der haarreichsten Rassen sich 
fellbesetzt zeigt. Die Nabelnarbe bleibt bei beiden Geschlechtern 
völlig haarlos. Das Weib der haarreichen Rassen dagegen be- 
wahrt die Terminalhaararmut der 14jährigen Jungfrau bis zur 
Beendigung der Geschlechtsperiode. Fellhaar findet sich nur 
in den Achselhöhlen und besonders lang und dicht am Scham- 
berg (Wybsbart der alten Deutschen). An den Außenseiten der 
Glieder finden sich zuweilen Haare, welche einen Übergang von 
Flaumhaar zu Fellhaar darstellen bei Kindern beiderlei Ge- 
schlechts und bei Frauen, bis zum Greisenalter. 

Fassen wir die hauptsächlichsten Geschlechtsunterschiede 
am Haarkleid des Europäers kurz zusammen, so finden wir als 
männliche Merkmale die Glatzenbildung und kürzere Lebens- 
dauer der Kopfkappenhaare, den Augenbrauenbart aus Fell- 
haaren, den Nasenbart, den Ohrenbart, den Lippen-, Wangen- 
und Halsbart, das Brustfell, das Bauchfell, die schwächere 
Schambergbehaarung, die Afterfellhaare, Rückenhaare, Fellhaare 


26 Friedenthal: Geschlechtsunterschiede am Haarkleid 


auf der Streckseite der Glieder, namentlich an den freien Glied- 
enden und die schwächeren Wimperhaare am Auge und den 
Mangel an Flaumhaaren auf dem ganzen Körper. Weibliche 
Merkmale am Haarkleid sind das Dauerwachstum der Haare 
der ‚Kopfkappe, die starken Wimper- und Augenbrauenhaare 
des Kinderhaarkleides, der Mangel an Fellhaaren mit Ausnahme 
der Achsel- und starken Schamhaare, der Reichtum an Flaum- 
haaren an den Backen und in der Umgebung der Kopfkappe 
namentlich an der seitlichen Stirn. So groß scheinbar der 
Reichtum an Geschlechtsunterschieden am Haarkleid des Euro- 
päers und der andern haarreichen Rassen ist, so erlaubt doch 
die zusammenfassende Betrachtung des Haarkleides des Menschen, 
wie sie in den oben zitierten Beiträgen zur Naturgeschichte des 
Menschen gegeben wurde, eine ganz knappe und verständliche 
Formulierung. Der Mann ist ausgezeichnet durch Unterdrückung 
des Flaumhaarkleides und des Kinderhaarkleides und Be- 
günstigung des Fellhaarkleides, welches in Form eines Wärme- 
schutzmantels für den aufrecht gehenden Mann hervorsproßt, 
der allerdings recht unvollständig bleibt, die Frau ist aus- 
gezeichnet durch teilweise Beibehaltung des Flaumhaarkleides 
und Begünstigung des Kinderhaarkleides, wobei ein Haarmantel 
gebildet, allein aus den Dauerhaaren der Kopfkappe den Wärme- 
schutz für die sitzende Frau in vollkommenerer Weise ausübt 
als Bart und sonstiges Fellhaar für den Mann. In seinem Buche 
„Allgemeine und spezielle Physiologie des Menschenwachstums“, 
Verlag Springer, Berlin 1914, hat Verfasser ausgeführt, wie die 
Formprobleme neues Leben gewinnen, wenn sie von dem Ge- 
sichtspunkt des Werdens — also der Wachstumsphysiologie — 
aus in Angriff genommen werden. Chemische Einflüsse be- 
wirken eine Umwandlung des Flaumhaarkleides und des Kinder- 
haarkleides des Menschen in ein Altershaarkleid (Fellhaarkleid). 
Daß das Wachstum des Fellhaares beim männlichen Früh- 
kastraten und wahrscheinlich auch beim weiblichen Frühkastraten 
(über den nur unzureichende Angaben beim Menschen vorliegen) 
unterbleibt, weist darauf hin, daß von der männlichen Geschlechts- 
drüse ein Stoff in die Blutbahn abgeschieden wird, der von 
den Oberhautzellen aufgenommen, diese zum Fellhaarwachstum 
anregt. Die nähere Art, wie dies geschieht und welche Art 
von Stoffe nötig ist, kann noch nicht des Näheren ausgeführt 
werden. Es besteht offenbar ein verschieden großes Aufnahme- 


Friedenthal: Geschlechtsunterschiede am Haarkleid 27 


bedürfnis der Oberhautzellen verschiedener Örtlichkeit für das 
Andrin, wie Magnus Hirschfeld das unbekannte Hormon der 
männlichen Geschlechtsdrüse benannte. Wird nur wenig Andrin 
abgeschieden, so wächst das Fellhaar am ehesten an der Ober- 
lippe, dem Kinn und den seitlichen Wangen, an der Unterlippe 
bildet sich die sogenannte Fliege durch Freibleiben der seit- 
lichen Teile von Bartwuchs. Der Wuchs des Kinderhaares der 
Kopfkappe wird nur wenig behindert, ebensowenig das Wachs- 
tum der Augenbrauen und der Wimperhaare. Bei sehr reich- 
licher Abscheidung von Andrin bilden sich erst sämtliche oben 
aufgezählten Behaarungsmerkmale des Mannes, so daß wir in 
der Ausbildung des männlichen Fellhaarkleides einen förmlichen 
Mengenmesser für die Abscheidung von Andrin vermuten dürfen. 
Es erscheint dem Verfasser wenig wahrscheinlich, daß die 
Hormonwirkung der Steinachdrüse nur von einem einzigen 
Stoffe ausgeht, doch genügt der Name Andrin bis zur Auf- 
findung der chemischen Komponenten als arbeitserleichterndes 
Verständigungsmittel. Weil bis zum Tode die Erneuerung der 
Oberhautorgane niemals ruht und hier die Wachstumsprozesse 
bis in die höchst bekannten menschlichen Altersjahre (168 bis 
207 Jahre sind nachgewiesen) andauern, können wir, wenn die 
obigen Erwägungen richtig sind, bei Versiegen der „Andrin“- 
Quelle einen Rückgang des Fellhaarwachstums vermuten. 
Tatsächlich finden wir bei impotent werdenden Greisen 
häufig ein Aufhören des Dauerwachstums der Barthaare und ein 
Spärlichwerden des Brustfelles und Minderung der Haardichte 
an verschiedenen Körperstellen. Dank der Steinachschen Ver- 
jüngungsversuche wird sich wohl bald der Grad der Abhängig- 
keit des Fellhaarwuchses von der „Andrin“menge genauer an- 
geben lassen, als es heute möglich ist. Bei Ratten stellte Steinach 
die Herstellung der früheren Pelzdichte im höchsten Alter bereits 
fest. Es würde nicht überraschen, wenn auch beim Menschen- 
greise der Bartwuchs nach „Andrin“zufuhr zunehmen würde. 
Auf Dichte und Länge des Kastratenhaarwuchses beim Menschen, 
also bei Fehlen von „Andrin“zufuhr, ist bisher nicht genügend 
geachtet worden, namentlich darauf nicht, wie bei diesen das 
Haarwachstum im höchsten Alter sich verhält. Durch das 
Fehlen der Beobachtung an Kastraten, welche in frühster Kind- 
heit kastriert wurden, sind wir in schwierige Lage versetzt be- 
züglich der Frage, ob wir bei der Frau uns mit der Annahme 


28 Friedenthal: Geschlechtsunterschiede am Haarkleid 


des Fehlens einer beachtlichen Menge von „Andrin“ zufrieden 
geben sollen, oder ob wir annehmen sollen, daß bei der Frau 
ein Hormongemenge „Gynin“ einen positiv fördernden Einfluß 
auf das Kinderhaarkleid der Frau ausübt. Verfasser möchte 
eine Entscheidung darüber verschoben wissen bis zur Vervoll- 
ständigung unserer Kenntnisse über das Haarwachstum weib- 
licher Frühkastraten. Das Auftreten eines besonders dichten 
Fellhaarwuchses am Schamberg und in der Achselhöhle der 
Frau zur Zeit der Geschlechtsreife weist darauf hin, daß zu 
dieser Zeit vielleicht derselbe Stoff, welcher im „Andrin“ das 
Fellhaarwachstum anregt, zunächst abgeschieden wird, daß aber 
sehr bald die Abscheidung eines das Fellhaarwachstum an- 
regenden Stoffes stockt, so daß der weiteren Ausbildung des 
Kinderhaarkleides und der Erhaltung des Flaumpelzes keine 
Hindernisse im Wege stehen. Verfasser hält es für besser einen 
neuen Stoff nur dann anzunehmen, wenn es unmöglich scheint 
die bekannten Formenverhältnisse mit der Annahme eines ein- 
zigen Stoffes befriedigend zu beschreiben. Da beim Menschen 
die Trennung der Geschlechter nicht vollständig ist, wird jede 
Frau eine geringe Menge „Andrin“ in das Blut abgeben, welche 
im weiblichen Körper zuerst von den Oberhautzellen des Scham- 
berges und der Achselhöhle verbraucht werden. Erst bei 
erhöhter „Andrinproduktion“ seitens der Frau wird das Fell- 
haarwachstum auch an den Mundwinkeln und am Kinn ver- 
einzelt angeregt werden und das Kopfhaarwachstum gehemmt 
werden. Frauenbart und Frauenglatze. Der erste Beginn der 
Glatzenbildung an der Stirn zeigt sich daran, daß die Haar- 
grenze unklar wird und die mittellangen Übergangshaare 
zwischen Kinderhaar und Flaumhaar ausfallen. Möglich wäre 
es, daß bei der Frau ein Hormon „Gynin“ das gleichzeitig 
gebildete Andrin bände, so daß das Mengenverhältnis der 
Antagonisten für das Ergebnis am Haarkleid entscheidend wäre. 
Wie wichtig eine Vermehrung unserer chemischen Kenntnisse 
über die Sexualhormone wäre neben genauer Beobachtung der 
Kastraten geht wohl aus obigen Darlegungen klar hervor. Für 
den Arzt wäre eine Möglichkeit, den weiblichen Haarwuchs 
durch Andrinbindung indirekt zu fördern und den Fellhaarwuchs 
zu hemmen, gewiß sehr willkommen. Die Entfernung der 
Frauenbärte ohne Schädigung der Patienten gehört zu den 
schwierigsten Aufgaben der ärztlichen Kosmetik — während 


Friedenthal: Geschlechtsunterschiede am Haarkleid 29 


eine fachgemäße hormonale Beeinflussung das Wachstum der 
Barthaare zu hemmen imstande wäre. Die Fellhaarbildung des 
Weibes in Achselhöhle und am Schamberg hindert uns ohne 
weitere Erörterung, die Hemmung des Fellhaarwuchses als den 
maßgebenden Geschlechtsunterschied gegenüber dem Haarkleid 
des Mannes zu bezeichnen. Wir haben in den bisherigen 
Ausführungen stets von Mann und Weib gesprochen und die 
Gliederung der Menschheit in Rassen nicht in Betracht gezogen. 
Die oben angeführten Geschlechtsunterschiede beziehen sich 
zunächst nur auf den Mann der reich behaarten (europäer- 
ähnlichen) Mittelrassen. Die Geschlechtsunterschiede am 
Haarkleid der schwach behaarten dunkelhäutigen und gelb- 
häutigen Menschenrassen erfordern eine besondere Besprechung. 
Bei den dunkelhäutigen kraushaarigen Rassen fehlt beim Manne 
die Fellhaarbildung, die beim Europäer nach den Zeiten der 
Pubertät erst sich auszubilden pflegt, selbst im höheren Alter. 
Es fehlen Nasenbart, Ohrenbart, Teile des Wangenbartes, 
Brustfell-, Bauchfell-, Rückenhaare und Gliederbehaarung. Nur 
die kraushaarigen Melanesier haben zahlreiche Individuen mit 
reichem Fellhaarwuchs am ganzen Körper nach Art der locken- 
haarigen Australier, ein Gegensatz zu der Fellhaararmut der 
übrigen kraushaarigen Rassen. Den Frauen der kraushaarigen 
Menschenstämme fehlt ferner das Dauerwachstum der Kopfhaare, 
welches ein so charakteristisches Merkmal der Europäerfrau 
bildet. Die krausen Haare besitzen eine weit kürzere Lebens- 
dauer als die lockigen oder gar die straffen Haare, die Kopf- 
haare werden auch bei diesen Rassen länger als die übrigen 
Körperhaare. Glatzen sind sehr selten beim Mann der kraus- 
haarigen Rassen. Die kürzesten aller Kopfhaare besitzen die 
jetzt fast ausgestorbenen Buschmänner, bei denen von einem 
Geschlechtsunterschied zwischen den Kopfbehaarungen von 
Mann und Frau nichts bekannt geworden ist. Wir können 
annehmen, daß bei den kraushaarigen Rassen die Geschlechts- 
unterschiede bei reinrassigen! Individuen am Haarkleid sich 
beschränken auf unvollständige Bartbildung beim Mann, bei 
einem Teil der Melanesiern, noch ferner auf Ausbreitung des 
Fellhaares beim Mann über die auch beim Europäer reich 
behaarten Hautregionen. Der Schamberg der kraushaarigen 
Rassen trägt weder beim Manne noch bei der Frau eine ähnlich 
dichte Behaarung wie beim Europäer, auch die Achselbehaarung 


30 Friedenthal: Geschlechtsunterschiede am Haarkleid 


erscheint recht dürftig; der Bart überwächst fast nie beträchtliche 
Teile der Wangen, nur am Kinn, nicht an der Oberlippe finden 
sich zuweilen Haare mit Dauerwuchs. Die gelben und braunen 
straffhaarigen Menschenrassen, zu denen auch die Indianer 
gehören, weisen als besondere Eigentümlichkeit eine Umkehr 
der Geschlechtsunterschiede der Kopfkappe gegenüber den 
schlichthaarigen Rassen auf. Nicht die Frau sondern häufig 
der Mann trägt Kopfhaare mit Dauerwachstum. Bei nord- 
amerikanischen Indianern reichen die Kopfhaare des Mannes 
zuweilen bis unter die Kniee. Während bei den Indianern 
Glatzenbildung unbekannt oder ganz außerordentlich selten sein 
soll, ist bei den Chinesen entsprechend dem langdauernden 
Schädelwachstum Glatzenbildung beim Manne nicht selten zu 
beobachten. Die Mehrzahl der straffhaarigen Rassen kennt bei 
reinrassigen Individuen kaum Glatzenbildung als Geschlechts- 
unterschied am Haarkleid. Wir finden also an der Kopfkappe 
Gleichheit der Haarlänge bei kraushaarigen Rassen, Über- 
wiegen der Kopfhaarlänge bei dem Weib bei den schlicht- 
haarigen Rassen und bei straffhaarigen Rassen Überwiegen der 
Haarläinge beim Manne bei typischen Individuen. Eine 
Menschenrasse, bei welcher die Frauen fellhaarreicher (Terminal- 
haarreicher) sind als die Männer, ist nicht bekannt und die 
Verhältnisse der Haarlänge an der Kopfkappe das einzige 
Beispiel von Kreuzung zweier Geschlechtsunterschiede bei zwei 
verschiedenen Menschenrassen. Die tief eingepflanzten Haar- 
wurzeln der terminalhaararmen straffhaarigen Menschenrassen 
neigen zu Dauerwuchs und wechseln weit langsamer als die 
weniger tief eingepflanzten Haare der schlichthaarigen oder gar 
der kraushaarigen Menschenrassen, daher erreichen beim Manne 
die spärlichen aber dicken Barthaare häufig eine recht ansehn- 
liche Länge. Bei allen Menschenrassen erschwert das Abschneiden 
oder Ausreißen von Haaren sehr die Erlangung sicherer Kenntnisse 
über den natürlichen Ablauf des Haarwechsels im Laufe des 
Lebens und damit auch über die typischen Geschlechtsunter- 
schiede am Haarkleid der verschiedenen Menschenrassen. 

Von Geschlechtsunterschieden am einzelnen Haare wäre 
darauf aufmerksam zu machen, daß nur bei ganz reinrassigen 
Individuen sich feststellen läßt, daß beim Manne (Europa) das 
gesunde Kopfhaar häufig dicker, die Schamhaare dünner ge- 
funden werden als beim Weibe. Viel fehlt uns noch zur Lösung 


Friedenthal: Geschlechtsunterschiede am Haarkleid 31 


der Aufgabe an jedem einzelnen Haare das Geschlecht des 
Trägers feststellen zu können. Dies ist in besonders günstigen 
Fällen möglich. Finden wir in Europa im Freien ein feines, 
mehr als meterlanges Haar, so können wir sicher sein, dab es 
nur auf dem Kopfe eines Menschenweibes gewachsen sein 
kann. Eine Verwechslung mit irgend einem Tierhaar oder mit 
einem Männerhaar ist nicht zu befürchten. Umgekehrt hätten 
wir in Nordamerika zur Zeit der Entdeckung aus dem Befund 
eines anderthalb Meter langen straffen Haares auf die frühere 
Anwesenheit eines Mannes schließen müssen. Ein menschliches 
Barthaar von mehr als 30 cm Länge ist mit Sicherheit als 
Männerbart zu erkennen und von jedem Tierhaar und Frauen- 
haar zu unterscheiden. Besonders starke Schamhaare sind 
sowohl nach Aussehen als auch für längere Zeit nach ihrer 
Ausdünstung als weiblich zu erkennen, gelockte Augenbrauen- 
haare sind stets als Männerhaare anzusprechen. Daß in Deutsch- 
land Frauen slawischer Abkunft oft straffere Kopfhaare haben 
als Männer niedersächsischer Herkunft, daß die Haardicke bei 
Haarerkrankungen sehr abnehmen kann, macht die Unter- 
scheidung von Männer- oder Frauenhaar oft recht schwierig. 
Für den Gerichtsarzt wäre eine sichere Unterscheidung von 
Männer- und Frauenhaar an Bruchstücken von Haaren wichtig. 
Ob bei den kraushaarigen und den straffhaarigen Menschen- 
rassen Geschlechtsunterschiede der Haardicke bestehen, ist nicht 
genügend untersucht, dem Verfasser erscheint für die Kopflraare 
annähernde Gleichheit der Haardicke bei beiden Geschlechtern 
der kraushaarigen Menschenrassen zu bestehen, dagegen Über- 
wiegen der Haardicke beim Manne der straffhaarigen Rassen, 
natürlich abgesehen von Fällen beginnender Glatzenbildung. 

Bei den Säugetieren haben wir in der Mähne des Löwen 
eine Haarbildung, welche als Überschußbildung über die 
asexuelle Tierform (Lipschütz) wohl der Bart- und Fellhaar- 
bildung des Mannes analog gesetzt werden kann. Bei Früh- 
kastration wird die Mähnenbildung ebenso wie beim gewesenen 
Manne die Bartbildung und wie es bartlose Menschenrassen 
gibt, so gibt es auch mähnenlose Löwen. 

Das Gefieder des Hahnes verhält sich dagegen ganz anders, 
indem männliche und weibliche Frühkastraten bei den Haus- 
hühnern Prachtgefieder ausbilden im Gegensatz zum Bartverlust 
des Eunuchen. 


v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 33 


daß ein Stoff den Raum, den er ausfüllt, nicht gleichmäßig und 
einheitlich erfüllt, sondern daß er aus überaus kleinen Teilchen 
besteht, die man Moleküle oder Molekeln nennt. Nun ist 
aber klar, daß selbst das kleinste denkbare Teilchen Kochsalz 
immer noch aus einem Teilchen Chlor und einem Teilchen 
Natrium bestehen muß. Ist ein Molekül der kleinste selbständige 
Teil einer Verbindung oder eines Elements, so bezeichnet man 
die kleinen Bestandteile jener Elemente, aus denen das 
Molekül besteht als Atome. 1 Atom Gold ist daher die 
kleinste denkbare Menge, in der das Element Gold bei irgend 
einem Vorgang in Wirksamkeit treten kann. So besteht also 
alle Materie aus Molekülen und Atomen. Die Materie selbst 
aber ist nicht denkbar ohne die Energie, sie ist gleichsam 
ihre Trägerin. Man kann sagen, daß Materie und Energie die 
Hauptbestandteile der Natur sind, denn absolut ruhende Körper 
gibt es in der Natur nicht. Man nimmt deshalb an, daß auch 
die Energie im Raum gleicher Art verteilt ist und Planck be- 
hauptet, daß jeder schwingende Körper eine bestimmte Anzahl 
von „Energieatomen“ oder Quanten besitzt. Der Wert dieser 
Quanten entspräche der Anzahl der Schwingungen in der 
Sekunde. Es hängt in erster Linie vom Energieinhalt ab, in 
welcher Form uns die Materie erscheint, ob als feste, flüssige 
oder gasförmige Formar. Man nennt dies Aggregat- 
zustände. Im festen Zustand liegen die Moleküle so ver- 
kettet, wie etwa die Körner eines Sandsteins, im flüssigen 
liegen sie lockerer, etwa wie die Körner eines Sandhaufens, 
im Gas dagegen fliegen sie durcheinander wie die Körnchen 
einer Staubwolke — sie sind ohne Zusammenhang. Bringt 
man feste Körper in flüssige, so haben manche die Eigen- 
schaft, sich darin zu lösen, z. B. Kochsalz im Wasser, (echte 
Lösungen). Kochsalz besteht aus Natrium (Na) und Chlor (CI). 
Durch die Lösung wird nun mindestens ein Teil der Moleküle 
zerspalten (dissociiert) und zwar erscheinen jetzt elektrisch 
geladene Atome, die man Jonen nennt. Na ® und CI 9). 
Ein Jon ist also ein Atom + seiner elektrischen Ladung, den 
Elektronen. Damit kommen wir zu einem wichtigen Gebiet, 
der Elektronentheorie (1883 von Lorentz aufgestellt und 1895 
von Zeemann bewiesen). Ihr zufolge nimmt man an, daß die 
Elektrizität ähnlich aufzufassen wäre, wie etwa der gasförmige 


Zustand der Materie und aus ebenfalls kleinsten Teilchen, den 
3 


34 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 


Elektronen besteht, die aber viel, viel kleiner sind als die Atome. 
Jedermann weiß; daß Bakterien zu den kleinsten Existenzen 
gehören, die wir mit dem Mikroskop gerade noch feststellen 
können. Trotzdem bestehen sie aus Millionen von Atomen. 
Das kleinste Atom ist das des Wasserstoffes, aber ein Elektron 
ist etwa 1/2000 davon. In jedem Atom sind Elektronen und 
man nimmt an, daß es davon umkreist wird. Alle elektrischen, 
magnetischen und optischen Erscheinungen gehen darauf zurück, 
es hilft die Materie aufbauen und wieder zerstören. 

Soeben wird eine hochbedeutsame Arbeit des englischen 
Physikers Rutherford bekannt (Bakterian Lecture Juni 1920) 
in der die bekannte Tatsache, daß Atome aus feineren Bestand- 
teilen bestehen müssen, da ohne Zweifel bei radioaktiven 
Elementen eine Verwandlung in ein anderes Element stattfinden 
kann (Transmutation). Bekanntlich werden in der Strahlung 
(Emanation) des Radium unendlich kleine Teilchen (x-Teilchen), 
die aus einem doppelt geladenen Heliumkern (Electrone) be- 
stehen, abgeschleudert (siehe später Aufsatz X). Es geht also 
das Element Helium (ein Gas) aus dem Element Radium her- 
vor. Rutherford entdeckte weiter, daß bei Zertrümmern des 
Stickstoffatoms zwei Wasserstoffkerne und drei Kerne eines 
neuen Gebildes, das er mit X, bezeichnet, frei werden und das 
vielleicht mit dem aus der Spektralanalyse erschlossenen 
Nebulium der Sternnebel identisch ist. Vier Kerne dieses 
X, bilden Kohlenstoff; vier Kerne von X, und ein Heliumkern 
bilden Sauerstoff usw. Demnach wären folgende Grund- 
bausteine aller Materie zu unterscheiden: Wasserstoff, 
Helium X, und die Elektronen. 

Ein wichtiges Moment bei Lösungen ist nun der osmo- 
tische Druck, das Bestreben einer Lösung, sich zu verdünnen. 
Schichtet man vorsichtig Wasser über eine Lösung (etwa von 
Zucker), so wandern so lange Teilchen des gelösten Stoffes 
entgegen der Schwerkraft nach oben, bis die Verteilung der 
gelösten Teilchen im ganzen Gefäß gleich groß ist. Der Druck, 
der hier wirkt, ist ein ungeheuer großer. 

Nehmen wir nun ein ganz kleines Stückchen Gold, also 
etwa ein Würfelchen von 1 mm Seitenlänge und lassen es 
vom Goldschläger ausschlagen, so kann er diesen cbmm zu 
einem Plättchen von 10000 qmm (also etwa der Größe einer 
Handfläche) ausdehnen. Die Dicke dieses Plättchens ist also 


v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 35 


1/10000 mm. Schneiden wir nun das Plättchen in Würfelchen, 
dann besitzt jedes 1/10000 mm Kantenlänge. Ein derartiges 
Gebilde ist so winzig, daß es mit unseren besten Mikroskopen 
kaum mehr sichtbar ist. Dennoch ist es noch kein Molekül.t) 
Ein Molekül Kohlensäure ist z. B. = 0,29 uu. Die feine Haut 
einer Ölschicht, die über Wasser ausgebreitet ist, hat eine 
Dicke von 2/100000 mm. 

Nun können wir uns solche feine Teilchen herstellen. 
Im elektrischen Lichtbogen können wir z. B. Metall derartig 
zerstäuben. Körper in dieser ungemein feinen Verteilung 
nennt man Kolloide. Sie haben eine ganze Reihe der 
interessantesten Eigenschaften, die uns noch beschäftigen 
werden. Der Name kommt von collum, der Leim, weil dieser 
diese Eigenschaften besonders gut besitzt. 

Während nun ein Teil der Materie, z. B. Zucker, Kochsalz 
das Bestreben hat, seine Moleküle nach bestimmten Gesetzen 
(nach einem charakteristischen Gitter) anzuordnen, erscheinen 
die Kolloide zunächst außerhalb dieser Gesetze. Sie stehen 
also den Kristalloiden gegenüber und haben auf der Erd- 
oberfläche eine weit größere Verbreitung als diese. Doch 
bestehen zwischen den Kolloiden und den Kristalloiden Über- 
gänge. Können wir nun solche kolloide Teilchen sehen? 
Direkt nicht. Aber jeder von uns kennt die sogenannten 
Sonnenstäubchen. Fällt ein Sonnenstrahl in einen Raum, der 
von absolut reiner Luft erfüllt zu sein scheint, so sehen wir, 
wenn wir von der Seite in diesen Sonnenstrahl blicken, lauter 
feine Staubteilchen in ununterbrochener Bewegung. Und 
dennoch sehen wir diese Teilchen, die natürlich den ganzen 
Raum erfüllen, selbst nicht; wir empfinden nur die Wirkung 
des Lichtes, das von ihnen zurückgeworfen wird, die Teilchen 
sind zu klein dazu. Genau so, wie wir selbst im schärfsten 
Fernrohr einen Fixstern nicht sehen, sondern nur das von ihm 
ausgestrahlte Licht. Er selbst ist zu fern. Wir beobachten 
aber, daß diese Teilchen in ständiger Bewegung sind und 


1) Im folgenden müssen wir von einem Maß Gebrauch machen, das 
in der Wissenschaft benutzt wird. Teilen wir 1 mm in 1000 Teile, so 
erhalten wir 1/1000 mm. Dies bezeichnet*man mit 1 « (1 Mikrom). 
Teilt man dieses wieder in 1000 Teile, haben wir 1/1000000 mm = 1 ur. 
Mit den besten Mikroskopen kann man 0,5 u noch sehen. Das Ultra- 
mikroskop, das wir noch besprechen, zeigt dagegen noch 5 uw. 


36 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 


trotzdem sie Körperchen sind, dem Gesetze der Schwerkraft 
nicht gehorchen, d. h. nicht zu Boden fallen. Hier müssen 
also Kräfte besonderer Art wirken. Nun wissen wir, daß 
kleine Wassermengen, die durch den Raum fallen, sofort 
Tropfengestalt, also Kugelform annehmen. Die Kugel ist aber 
jene Gestaltung, bei der ein Körper die im Verhältnis zu 
seinem Körper kleinste Oberfläche hat und die Kraft, die ihn 
zur Annahme dieser Gestalt bringt, ist die Oberflächen- 
spannung. Je mehr ich nun bei einem Quantum Materie 
Oberfläche schaffe, d. h. je mehr ich sie verteile, desto mehr 
wird von dieser Kraft im Verhältnis zur Masse wirksam. 
Nehme ich ein Quantum irgend eines Stoffes, sagen wir Gold, 
in der Größe eines Würfels von 1 cm Seitenlänge, dann hat 
dieser Würfel — da er sechs Flächen hat — 6 qcm Oberfäche. 

Zertrümmere ich nun eine Goldmasse von 1 ccm in lauter 
kleine Würfel von I mm Seitenlänge, dann erhalte ich 1000 
Würfel, die zusammen 60 qcm Oberfläche haben, also zehnmal 
so viel Oberfläche. Damit wird folgende Tabelle klar: 


Seitenlänge des Würfels Anzahl der Würfel Oberfläche 


1 cm 1 6 qcm 
DL. 1000 60 , 
0,001 „ =l u 1 Milliarde 6000 ,„ 
0,0001 „ =Q, u 1000 Milliarden 6 qm 


1 
0,000001 „ luu 1 Milliarde X 1 Milliarde 600 qm! 





Fig. 1. Brown’sche Molekularbewegung eines in 
Wasser suspendierten Teilchens nach Perrin. 


v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 37 


Da nun die Oberflächenspannung der Oberfläche entspricht, 
sehen wir, daß diese Kraft, die in einem bestimmten Quantum 
Materie schlummert, durch immer feinere Verteilung zuletzt 
ungeheure Werte annimmt. Bringt man nun solche Teilchen 
in Wasser, so ist ihre Oberflächenenergie im Verhältnis zu ihrer 
Maße so groß, daß sie nicht mehr der Schwerkraft gehorchen, 
sondern schwebend bleiben. Die Teilchen sind in der Flüssigkeit 
suspendiert und man nennt das Resultat eine „Suspen- 
sion“, Sie befinden sich dabei in einer eigenartigen Bewegung, 
die nach ihrem Entdecker R. Brown die Brown’sche Be- 
wegung heißt. Diese Bewegung wird hervorgerufen durch 
das Aufeinanderprallen der Teilchen und der Flüssigkeits- 
moleküle, denn innerhalb von Gasen und Flüssigkeiten sind 
die Moleküle in ständiger Bewegung, die mit steigender 
Temperaturerhöhung stärker wird. Ein kleines Körperchen, 
das sich in der Flüssigkeit befindet, wird so ständig von Stößen 
getroffen. Diese verursachen das Hin- und Herschwingen 
dieser Teilchen, wenn sie kleiner sind als 3 « (0,003 mm). 
Bei 3 u ist diese Bewegung gerade noch zu merken. So 


BEER 
| 
1 
o-o 





2 





oo 
a 5 
= Oe g 
G S y È & 





Fig. 1. Größenverhältnisse mikroskopischer und kolloider Teile. 


1. Blutkörperchen des Menschen (0,0065 mm). 2. Milzbrandbazillus 

(Länge 0,004—0,015 mm). 3. Kugelbakterien (0,0005—0,001 ni 4. Teil- 

chen einer kolloiden Goldlösung (0,000 006—0,000015 mm). 5. Kügelchen 

von 0,5 # = 0,0005 mm Durchmesser. 6. Gummigutt-Teilchen. 7. Teilchen 

von ca. 1,1 u — 0,0011 mm Durchmesser. 8. Teilchen von ca. 4 u = 0,004 mm 

Durchmesser. 9. Brownsche Molekularbewegung nach O. Lehmann (in 
willkürlichem Maßstab). 


38 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 


unterscheiden sich Aufschwemmungen kollodialer Teilchen von 
solchen gröberer. Bringen wir Schlemmkreide oder Ton in 
Wasser, so wird es trüb; nach einiger Zeit aber gehorchen 
die Teilchen der Schwerkraft und sinken zu Boden. Auch 
bleiben sie, wenn wir sie auf einen gewöhnlichen Filter schütten, 
in diesem zurück. Bringen wir dagegen kolloides Gold in 
Wasser und beleuchten seitlich, so sehen wir einen Lichtkegel 
wie bei den Sonnenstäubchen. Darauf beruht die Wirkung des 
Ultramikoskops. Hier wird das Präparat, also in diesem Fall 
die Flüssigkeit nicht von unten, sondern seitlich beleuchtet. 
So können wir noch ein 0,00000000001 gr. Gold sichtbar 
machen, d. h. ein Zwanzigmarkstück auf 1’, Millionen Liter 
Wasser verteilt. Man nennt dann solche Flüssigkeiten mit 
suspendierten Goldteilchen „kolloidale Lösungen“. Die Teilchen 
sinken nicht zu Boden und gehen auch durch Filter aus Fließ- 
papier hindurch. Man bezeichnet weiterhin solche Suspensionen 
kolloider Teilchen in Flüssigkeiten als „Sol“ und spricht von 
Hydrosol, wenn die Flüssigkeit Wasser ist (sol von lat. 
solvere lösen; Hydro von griech. Hydor Wasser). Verdampft 
man nun die Flüssigkeit, so bleiben die feineren Teilchen als 
trockene schlammartige Konsistenz zurück und man heißt diese 
Form Gel (weil Gelatine die bekannteste Art dieser Form von 
Kolloiden ist). Gallerte (Gel) ist also weder ein fester Körper 
noch eine Flüssigkeit. Man nennt weiterhin z.B. in einem 
Silbersol das fein verteilte Silber die feste „disperse Phase“. 
Nun unterscheiden sich aber die kolloidalen Lösungen deutlich 
von den oben besprochenen echten. 

Wir sahen oben, wie echte Lösungen sich gegen darüber 
gegossenes Wasser ausgleichen (diffundieren oder dialysieren). 
Dies gilt nun auch für Gallerten. Die Gele gleichen also darin 
den Flüssigkeiten. Machen wir aber die Gele dichter, d. h. 
wasserärmer, dann wird die Diffussion mehr und mehr ver- 
hindert. Werden sie ganz wasserarm, d. h. werden sie zu 
einer Membran, dann hört die Diffussion auf. Während nun 
echte Lösungen (Lösungen der Kristalloide) auch durch solche 
Membrane (z.B. Pergamenthäutchen) hindurchgehen, diffundieren 
hier kolloidale Lösungen nicht. Die kolloiden Teilchen bleiben 
auf der Membran als Gel zurück. So kann in einer Gallerte 
Stoffaustausch stattfinden, wie in einer Flüssigkeit; aber 
die Veränderungen, die der Austausch mit sich bringt, sind 


v.Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 39 


mehr fixiert. Dadurch nähert sich die Gallerte mehr dem festen 
Körper, denn in einer Flüssigkeit kann die leiseste Bewegung 
das Diffussionsresultat stören. Dieser Stoffwechsel äußert sich 
besonders deutlich in der Aufnahmefähigkelt von Flüssigkeit. 
Wir sagen z.B. vom Leim, daß er Wasser aufsaugt und wieder 
austrocknet. Damit berühren wir die für uns wichtigste 
Seite der Kolloide speziell der Gallerten. Man nennt diese 
Vorgänge Quellung und Entquellung. Verschiedene Stoffe 
haben nun die Eigenschaft, bei Berührung mit Wasser frei- 
willig in Gallertform überzugehen (sie quellen). Ganz ähnlich 
verhält sich, wie wir im zweiten Aufsatz sehen werden, das 
tierische Gewebe. In dieser Eigenschaft Flüssigkeiten gegen- 
über liegt wieder — wie aus dem Vorhergehenden bereits klar 
wurde — ein Unterschied zu den Kristalloiden. Wirft man ein 
Kristalloid (Zucker oder Kochsalz) in Wasser, so löst es sich. 
Die einzelnen Teilchen haben ihren Zusammenhang verloren. 
Die Kolloide, z. B. Leim, hingegen vergrößern ihr Volumen, 
aber die Teilchen behalten zumeist ihren Zusammenhang. Bei 
manchen kolloidalen Körpern, wie Holz ist jedoch bald eine 
Grenze dieser Quellbarkeit erreicht, während allerdings einige 
Kolloide — man nennt sie die hydrophilen (die „Wasser- 
freundlichen“) — auch ihren Zusammenhang zerreißen lassen, 
(so das Eiweiß) und in ein Sol übergehen. Dem Holz ähneln 
noch andere kolloide Stoffe, wie die Haut usw, die eine 
geringe Quellbarkeit besitzen, weil sie ja die Form erhalten 
und als Stütze für andere Gewebe dienen müssen. Die Ent- 
quellung, d. h. die Wiederabgabe von Wasser bringt eine 
Schrumpfung mit sich und ist die Grundlage des Alterns, 
wie wir ebenfalls im folgenden Aufsatz sehen werden. 

Die Kolloide besitzen aber noch eine charakteristische 
Eigenschaft, die uns späterhin interessieren wird. Wenn man 
z. B. Eiweiß kocht, so gerinnt oder koaguliert es und kein 
physikalischer Vorgang vermag es wieder in den vorigen 
Zustand zurückzuführen. Ein ähnliches Moment tritt ein, 
wenn wir eine stark verdünnte Eiweißlösung, also ein Hydrosol 
des Eiweißes kochen. Es bleibt klar und macht den Eindruck, 
daß die Koagulution nicht erfolgt. Fügen wir aber einige 
Tropfen Amoniumsulfat hinzu, so bilden sich Flocken. Diesen 
Vorgang nennt man Ausflockung. Die Flocken sind im 
Wasser unlöslich. Allgemein tritt die Ausflockung ein, wenn 





40 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 


man einem Sol ein Salz mit Jonen hinzufügt. Die Brown’sche 
Bewegung der Moleküle hört auf, sie legen sich aneinander 
und ballen sich zu kleinen Klümpchen zusammen. Das Aus- 
flocken oder Gerinnen ist also eine elektrische Erscheinung. 
Manche Kolloide werden auch durch kurzwelliges Licht, durch 
ultraviolette Strahlen, dann durch Röntgenstrahlen (Strahlen 
von kleinster Wellenlänge) und durch Radiumstrahlung zum 
Ausflocken gebracht. 


Unsere folgenden Aufsätze werden behandeln: II, Biokolloide 
und Altern. Formbildung. III. Die Zelle und der Befruchtungs- 
vorgang. IV. Sekretion und Exkretion, Fermente und Encyme. 
V. Immunitätsreaktionen. VI. Innere Sekretion I. VII. Innere 
Sekretion II (Gonaden). VIII. Sexuelle Zwischenstufen. IX. Ver- 
jüngung. X. Röntgen- und Radiumstrahlung. 


W 


Geschlecht und Gesellschaft 
Neue Folge X, 2 






Abb. 1. Künstlicher osmotischer Tang. 


Abb. 2. Hindufrau durch Hunger gealtert. 
(Aus Bechhold, Kolloide.) 


(Aus Ploß-Bartels, Das Weib.) 
Zum Aufsatz „Zum Verständnis der inneren Sekretion« von F. v. Reitzenstein. 





DIE BEDEUTUNG DER VERERBUNGSLEHRE 
FÜR DAS VOLK. 
Von Universitäts-Professor Dr. KONRAD GUENTHER, Freiburg. 


y” allen Wissenszweigen gehört die Naturkunde zu denen, 
die bei uns am stiefmütterlichsten behandelt werden. Natur- 
kundliche Unkenntnisse sind so gang und gäbe, daß sich nie- 
mand mehr über sie aufhält. Wenn jemand einen Feuersalamander 
für eine Schlange hält, einen Buchfinken für ein Rotkehlchen und 
die Ansicht äußert, daß das Weibchen vom Hirsch das Reh 
sei — alles nicht etwa erdachte, sondern erlebte Beispiele — 
so wird man deswegen den betreffenden Menschen in seiner 
Bildungsstufe nicht tiefer stellen, ebensowenig wie jemand auf- 
fallen würde, der von seinem Körper und dessen Leben, vom 
Werden des Kindes, von den Vorgängen, wie die elterlichen 
Eigenschaften auf das Kind übertragen werden, keine blasse 
Ahnung hat — denn so geht’s ja so gut wie allen! Wohl aber 
würde sofort ein spöttisches Lachen erschallen, wenn jemand 
noch nie den Namen Michelangelo gehört haben wollte, nichts 
von Expressionismus wüßte oder von Hannibal und Cäsar. 

Überlegt man sich das recht, so muß einem diese heutige 
Art unserer Bildung doch recht komisch vorkommen. Es ist, 
wie wenn ein Junge die Straßen des alten Roms sehr genau 
inne hätte und den ganzen Stadtplan entwerfen könnte, sich 
aber in seiner eigenen Stadt bei den kleinsten Entfernungen 
verirrte und nicht einmal den Weg zur Schule oder zum Bäcker 
wüßte. Man würde mit Recht zu einem solchen Jungen sagen, 
es solle doch zuerst das Nächstliegende und das was er täglich 
braucht, lernen, dann möge er studieren, was weit entfernt ist 
und oder gar Jahrhunderte nicht mehr existiert. 

Wahrlich, mehr als Cäsar und Michelangelo gehen uns 
doch die Bäume an, die vor unserem Hause stehen und an 
denen wir täglich vorübergehen, und ist es nicht wunderlich 
daß niemand die Tiere und Pflanzen kennt, die ihm bei seinen 
Spaziergängen begegnen? Er schädigt sich ja selbst durch 
solche Unkenntnis! Wie viel reicher wäre sein Leben, wenn 
er die Wunder der Natur sehen könnte, das Buch der Natu 

4 


42 Günther: Die Bedeutung der Vererbungslehre 


zu lesen verstünde! Jeder Spaziergang wäre ihm dann ein 
Genuß, Langeweile gäbe es für ihn nicht mehr und die Be- 
schäftigung in der freien Luft würde ihn gesund erhalten‘). 

Man nennt unser Zeitalter das der Naturwissenschaften, 
und alles, was das Leben des Volkes treibt, wie Land- und 
Forstwirtschaft, Bergbau, Industrie beruht auf naturwissenschaft- 
licher Grundlage und ist ohne naturwissenschaftliche Kenntnisse 
nicht zu verstehen. Man sollte denken, da würden nun die 
Staatsleiter in der Naturwissenschaft ganz besonders ausgebildet 
werden, aber nichts davon! Ihrer hauptsächlich juristischen 
Ausbildung fehlt bis heute der naturwissenschaftliche Einschlag. 
Und wie vom Minister abwärts naturwissenschaftliche Kenntnisse 
vermißt werden, so natürlich auch bei den Volksvertretern. 
Und da wundert man sich, wenn es mit unserer Politik nicht 
klappen will! Erst wenn der Naturwissenschaft der rechte Platz 
in der gesamten Volksausbildung eingeräumt wird, wird es mit 
Deutschland aufwärts gehen. 

Denn aufwärts und vorwärts sein Volk zu bringen, ist doch 
eine Hauptaufgabe für jeden, der nicht nur für sich lebt. Wie 
kann man aber Völker oder — es entspricht das denselben 
Grundsätzen im Kleinen — Kinder erziehen wollen, wenn man 
gar nicht weiß, ob das, was man anerziehen will, sich auch 
anerziehen läßt? Über diese Grundfrage müßte man sich doch 
zuerst klar werden! Aber niemand tut das, weder Volks- noch 
Kindererzieher. Die Eltern haben da ihre bestimmten Begriffe 
von guten und schlechten Eigenschaften und ihre Erziehungs- 
methoden, die Eigenschaften, die sie für die guten halten, 
ihren Kindern anzuerziehen, die schlechten auszurotten. Und 
wenn sie nur zu oft später sehen müssen, daß all’ ihr Mühen 
umsonst war, dann suchen sie alle möglichen Gründe, den 
wahren aber erkennen sie nicht. Das aber ist der, daß sie ihr 
Material nicht studiert haben und nicht wußten, wozu es sich 
eignete. Der Bildhauer weiß genau, daß sich aus Sandstein 
nicht dieselben Figuren meißeln lassen, wie aus Marmor, ist 
er aber ein rechter Künstler, so gibt er dem Sandstein die 
Form, die diesem paßt und schafft doch ein Kunstwerk. Er 
kennt eben sein Material. 

1) Näheres bei Günther, Heimatlehre als Grundlage aller Volks- 


entwicklung. Ein Programm für den Wiederaufbau. Freiburg i. Br., 
Th. Fischer. 1920. 


Günther: Die Bedeutung der Vererbungslehre 43 


Die Eltern können nun ihr Material und seine Behandlungs- 
methode nicht von selbst kennen. Es gibt aber eine Wissen- 
schaft, die sie darüber belehrt, das ist die Vererbungslehre. 
Gerade in neuester Zeit hat diese Lehre gewaltige Fortschritte 
gemacht und es ist eine notwendige Aufgabe, den weitesten 
Kreisen von ihnen Kenntnis zu geben. 

Die Vererbungslehre stellt zwei grundlegende Fragen auf: 
gibt es bestimmte Gesetze, nach denen die Entwicklung des 
Kindes — und natürlich ebenso der jungen Pflanze und des 
jungen Tieres — vor sich geht und ist es dem Menschen mög- 
lich, diese Gesetze zu beeinflussen? Wir sehen, von der Be- 
antwortung dieser Fragen hängt in der Tat auch der ganze 
Erfolg der Erziehung ab, und es ist eben nur durch unsere 
allgemeine Naturentfremdung zu erklären, daß die Mütter sich 
überhaupt noch gar nicht gefragt haben, ob hier ein Problem 
vorliegt, ebensowenig, wie sie sich über die Entstehung und 
Entwicklung des Kindes zu belehren suchen, obgleich doch hier 
das Mysterium ihres ganzen eigenen Wesens liegt. 

Damit will ich aber beileibe nicht sagen, daß die Ursache 
zu solcher Unkenntnis eingeborenes, mangelndes Interesse ist. 
Niemand hat die Frauen eben bisher darauf hingewiesen, in 
der Schule wird von den Mädchen ängstlich jede Kenntnis- 
nahme dieser Dinge ferngehalten, und später fehlt die Gelegen- 
heit zur Belehrung. Das hat dann die Folge, daß, wenn das 
heranwachsende Mädchen durch Freundinnen von solchen Dingen 
erfährt, nicht selten auf recht unzarte Weise, es mit seiner 
Mutter sich nicht ausspricht, da es von dieser ja nie etwas 
über die Entstehung des Kindes erfuhr und somit annehmen 
muß, daß es sich hier um Dinge handelt, die nur im Geheimen 
erfahren werden dürfen oder gar sündhaft sind. So klafft plötz- 
lich ein tiefer Spalt der Entfremdung in das Verhältnis zwischen 
Mutter und Kind hinein. Sehr wohl spürt die Mutter das 
Schwinden des Vertrauens, aber wie dem abhelfen? Da gibt 
es nur eines für sie, sich zu belehren, und von Anfang an das 
Kind zart und allmählich auf den Weg des Mysteriums seines 
Körpers hinzuführen. Die Frage ist so wichtig, daß außer 
Büchern und Zeitschriften auch Kurse für Frauen gehalten werden 
sollten, denn durch das Wort und vor allem durch das Vor- 
zeigen der ersten Entwicklungsvorgänge im Mikroskop und an 
Präparaten werden die wunderbaren Vorgänge erst wirklich 

4* 


44 Günther: Die Bedeutung der Vererbungslehre 


verständlich. Ich selbst habe solche Kurse im hiesigen Museum 
für Naturkunde, das ich zu einer Anstalt für naturkundliche 
Volksbildung ausbaue mit Kursen, Exkursionen in Wald und 
Feld, Plätzen zu eigenen Arbeiten usw., gehalten, und habe mit 
Freuden die große Anteilnahme gerade der Frauen festgestellt. 
Manche Mutter hat mir nachher erklärt, daß nun wieder das 
Einverständnis mit ihrer Tochter gekommen sei, da das An- 
hören der Vorträge zu gegenseitiger Aussprache einen natür- 
lichen Anlaß gegeben hätte. Man sieht also, die Frauen sind 
nicht naturfremd von Natur, sie sind es, weil ihnen nichts 
anderes übrig bleibt! 

Doch nun zurück zur Vererbungslehre. Wenn diese die 
Gesetze, nach denen die Entwicklung des Kindes vor sich geht, 
untersuchen will, so muß sie zunächst das Wesentliche dieser 
Entwicklung feststellen. So hat man denn als erste Grund- 
bedingung alles Verständnisses erkannt, daß die Anteile von 
Vater und Mutter am Kinde gleich sind. Da wir sehen, daß 
im Durchschnitt der Fälle das Kind genau dieselbe Möglichkeit 
hat, väterliche, wie mütterliche Eigenarten anzunehmen, daß mit 
anderen Worten, das männliche Geschlecht dieselbe Vererbungs- 
kraft hat wie das weibliche, muß dem ja auch so sein. Man 
hat es aber früher nicht verstehen können, wie das geschehen 
konnte, wenn man etwa beim Huhn den winzigen Samenfaden 
des Hahnes mit dem großen Ei verglich. Beim Menschen ist 
der Unterschied zwischen Samen und Ei nicht so groß, wenn 
auch immer noch sehr beträchtlich, dafür aber entwickelt sich 
das nur in einem Augenblick vom väterlichen Samen befruchtete 
Ei die ganze Zeit im Körper der Mutter und wird bis zur 
Geburt von ihren Säften ernährt. 

Es ist nun festgestellt worden, daß in jedem Ei, mag es 
nun groß oder klein sein, die eigentliche lebende Substanz, aus 
der sich das spätere Wesen entwickelt, nur ein winziges Pünktchen 
ist, der sogenannte „Kern“ mit seiner Umgebung. Er entspricht an 
Größe und Beschaffenheit einem anderen Kern, der den „Kopf“ des 
Samenfädchens des Vaters bildet. Aus lauter solchen, wie win- 
zigste Kaulquappen aussehenden und beweglichen Samenfädchen 
besteht nämlich der Samen des Mannes; von all’ den Milliarden, 
die zur Befruchtung dem Ei zugeführt werden, dringt aber nur 
ein einziges in dieses hinein. Beide Kerne enthalten die „Ver- 
erbungssubstanz“, so lehrt die Vererbungslehre, diese enthält 


Günther: Die Bedeutung der Vererbungslehre 45 


alle körperlichen und geistigen Eigenschaften der Mutter (Ei- 
kern) und des Vaters (Samenkern). Bei der Befruchtung ver- 
einigen sich die beiden Kerne, das Kind erhält also eine 
Mischung aus väterlichen und mütterlichen Eigenschaftenmasse, 
aber von beiden Seiten in ganz gleicher Menge. Seine Ent- 
wicklung wird bestimmt durch eine Auswahl aus diesem Gemisch. 

Wie diese Entwicklung vor sich geht, wie überhaupt die 
Vererbungssubstanz beschaffen ist und auf welche Weise Ei 
und Samen sie erhalten, über alle diese Fragen gibt uns die 
Vererbungslehre Aufschlüsse. Doch können wir uns hier mit 
ihnen nicht beschäftigen. Aber eines wird der Leser schon 
aus diesen kurzen Hinweisen erkennen. Das Wesen des Kindes 
wird bei der Befruchtung bestimmt, und seine Eigenarten ent- 
wickeln sich durch innere Kräfte, die hierbei ihren Anfang 
nehmen. Mit anderen Worten, alle späteren körperlichen und 
geistigen Eigentümlichkeiten des Menschen liegen bereits als 
„Anlagen“ in Ei und Samen, aus denen er entsteht. Es spielt 
keine Rolle, ob das Ei viel oder wenig Nahrungssubstanz ent- 
hält oder ob es in der Mutter bis zur Geburt ernährt wird. 
Wenn aber schon eine so innige Verknüpfung, wie die es ist, 
welche zwischen Mutter und Kind besteht, keinen Einfluß auf 
den Ausbau des kindlichen Körpers hat — bis etwa auf 
Störungen durch Blutstockungen oder ähnliches — dann werden 
die späteren Versuche der Erziehung erst recht in das Kind 
keine neuen Eigenschaften hineinbringen können. Das ist das 
erste, für die ganze Erziehung ausschlaggebende Ergebnis der 
Vererbungslehre. 

Sehen wir uns aber diese Anlagen näher an, so bemerken 
wir, daß wir sie nicht einfach als väterliche und mütterliche 
bezeichnen dürfen. Auch die Eltern haben bei ihrer Entstehung 
die Anlagen von ihren Eltern geerbt und so weiter. Da hat 
nun die Vererbungslehre die überraschende Lehre aufgestellt, 
daß die Anlagensubstanz von Samen und Ei nicht nur die An- 
lagen zu einem Menschen, sondern zu vielen enthalten. Um 
ein drastisches Beispiel zu nehmen, enthält das Ei Anlagen zu 
mehreren Nasen, und auch der Same bringt solche mit. Welche 
Form bei der Zusammenmischung während der Befruchtung in 
der Überzahl ist, ob Stumpfnase oder Adlernase oder eine 
andere Form, die gibt den Ausschlag. Die anderen Formen 
gehen aber in der Vererbungssubstanz nicht zugrunde, sondern 


46 Günther: Die Bedeutung der Vererbungslehre 


werden weitergeschleppt und können bei irgend einer späteren 
für sie günstigen Befruchtung wieder herausschlagen. So erklärt 
es sich, daß eine Eigenart der Urgroßmutter, die Großmutter 
und Enkelin nicht aufwiesen, plötzlich in der Urenkelin wieder 
auftritt. So erklärt es sich ferner, daß typisch männliche Krank- 
heiten, wie die Bluterkrankheit, an der z.B. der unglückliche 
russische Thronfolger litt, sich über die Tochter auf den Enkel 
übertragen können, es erklären sich die schädlichen Folgen der 
Inzucht, die gleichen oder ungleichen Zwillinge und anderes. 
Ja, noch mehr! Es ist der Vererbungslehre gelungen, bestimmte 
Regeln festzustellen, nach denen bei der Kreuzung von zwei 
entgegengesetzten Eigenarten, wie etwa lange oder kurze Nase, 
schwarzes und weißes Fell gewisser Tiere usw. die Nach- 
kommenschaft diese Eigenarten erhält. Ergibt zum Beispiel die 
Kreuzung eines schwarzen und weißen Tieres graue Nach- 
kommen, so treten bei deren Jungen doch wieder weiß und 
schwarz hervor und zwar in ganz bestimmtem Prozentsatz zu 
grau. Man nennt diese Erscheinungen die „Mendelschen Regeln“. 
Von ihnen soll ein andermal die Rede sein. 

Und noch eine Frage steht heute im Vordergrund der Ar- 
beiten der Vererbungslehre. Stehen die Anlagen im Ei mit dem 
Körper der Mutter in solcher Verbindung, daß Veränderungen 
eines Organs der Mutter auch die entsprechende Anlage im Ei 
beeinflussen können? Und ebenso beim Manne und seinem 
Samen? Werden, wenn ich meine Armmuskeln durch Turnen ver- 
stärke, auch die Anlagen dieser Muskeln, die in meinen Samen- 
fädchen im Hoden aufgespeichert liegen, für die nächste 
Generation ebenfalls so beeinflußt, daß ich meinen Kindern 
schon die Anlagen zu stärkeren Armmuskeln mitgebe? Diese 
Frage, ob es eine „Vererbung erworbener Eigenschaften“ gibt 
oder nicht, ist heute noch nicht gelöst, immerhin sind die Aus- 
sichten für eine verneinende Antwort größer. Wie wichtig es 
aber nicht nur für den Züchter, sondern für jeden Menschen 
ist, sich mit dieser Frage zu beschäftigen, das wird nun wohl 
jeder einsehen. 

Wir müssen abbrechen, denn die Vererbungslehre ist ein 
zu großes Gebiet, als daß wir sie hier auf wenig Seiten wieder- 
geben könnten, selbst in den Hauptergebnissen und -problemen. 
Aber eines möge der Leser festhalten. Es besteht ein Unter- 
schied zwischen der äußeren Erscheinung eines 


Günther: Die Bedeutung der Vererbungslehre 47 


Menschen und seiner Vererbungssubstanz, also den 
Anlagen, die er seinen Kindern mitzugeben hat. Ein kern- 
gesundes Mädchen kann doch in seinen Eiern die Bluterkrank- 
heit schlummern haben, die selbst bei der Heirat mit einem 
gesunden Mann plötzlich im Sohne wieder herausschlägt. Ein 
gutmütiger Mann kann in seinem Samen boshafte Anlagen haben 
usw. Welche Bedeutung das für die Heirat und Nachkommen- 
schaft, also für die Volksentwicklung überhaupt hat, ist klar, 
und manche Staaten Nordamerikas haben denn auch bereits 
begonnen, die Volksvermehrung nach diesen Gesichtspunkten 
wenigstens in der Weise zu überwachen, daß sie krankhafte 
Anlagen von ihrer Weiterübertragung auszuschalten suchen. 
Auch bei uns hat die „Rassenhygiene“ eine Anzahl eifriger 
Verfechter. 

Ich denke, der Leser wird mir schon nach diesen kurzen 
Hinweisen die Bedeutung der Vererbungslehre für das Volk zu- 
geben. Wer Kinder hat, versündigt sich geradezu, wenn er 
ihre Ergebnisse nicht kennen zu lernen sucht, lehrt sie ihn 
doch, daß die erste Aufgabe des Erziehers ist, die Anlagen des 
Kindes zu studieren, und daß für seine weitere Arbeit nur der 
Gesichtspunkt maßgebend sein kann, daß die guten Anlagen 
durch möglichste Pflege entwickelt, die schlechten zurückgehalten 
werden. Nur wenn das Kind nach seinen Anlagen den Lebens- 
weg gewiesen bekommt, wird es sich recht entwickeln. Und 
dasselbe gilt auch für die Erziehung des Volkes. Auch das Volk 
hat seine Anlagen, man kann ihm nicht Eigenschaften aufzwingen, 
die es nicht hat. Wohl mag es auch solche für eine Zeitlang 
annehmen, aber sobald die Zucht aufhört, wird es sie wieder 
fallen lassen. So erklärt sich der Sturz vieler Völker von der 
Höhe, auf die geniale Führer sie mitgerissen hatten, die zu er- 
reichen aber nicht in ihren Fähigkeiten lag. Dauerndes werden 
nur die Staatsleiter erzielen, die das Volk dahin führen, wo 
seine Anlagen hinweisen. 

Jetzt aber, wo wir unser tiefgestürztes Volk wieder aufzu- 
richten suchen, ist es doppelt notwendig, die Lehren der Ver- 
erbungslehre zu berücksichtigen. Sonst könnte es kommen, 
daß wir von neuem ein Gebäude errichten, das nach kurzer 
Zeit wieder zusammenstürzt, weil wir es versäumt haben, den 
Boden zu erforschen, auf dem wir den Bau aufsetzten und das 
Fundament zu legen. 


48 Hirschfeld: Sexuelle Teilanziehung 


ÜBER SEXUELLE TEILANZIEHUNG. 

Von San.-Rat Dr. MAGNUS HIRSCHFELD, Berlin. 
D! Anziehungskraft, welche eine Person auf eine andere ausübt, 

geht niemals von ihrer Gesamtheit aus. Es sind vielmehr 

immer nur einige körperliche und seelische Eigenschaften, bald 
in geringerer, bald in größerer Anzahl, die reizen und fesseln; 
es kommt sogar nicht selten vor, daß es nur eine einzige Eigen- 
schaft an einem Menschen ist, der sich jemandes Liebe zuwendet. 
Fehler und Mängel der Person werden dann zwar noch objektiv 
als solche empfunden, aber subjektiv um des einen Vorzugs 
willen völlig übersehen. 

Diese Teilanziehung oder partielle Attraktion wurde von 
Kraff-Ebing „individueller Fetischzauber“ genannt und von ihm 
„als Keim jeder physiologischen Liebe“ erachtet. Als physio- 
logischem Fetischismus steht ihr ein pathologischer gegenüber, 
der in krassester Form darin seinen Ausdruck findet, daß ein 
von seinem Träger gänzlich losgelöster Teil, beispielsweise ein 
abgeschnittener Haarzopf oder Schuh, geschlechtlich in hohem 
Grade erregend wirkt. Zwischen diesen beiden, der normalen 
Teilanziehung, auf der das große Gesetz der sexuellen Selek- 
tion beruht, und der krankhaften Partialattraktion, welche sich 
auf eine isolierte Eigentümlichkeit allein erstreckt, liegt das weite 
Gebiet leidenschaftlicher Zuneigungen, bei denen die Sinne zwar 
auf einen Teil in Verbindung mit dem zu ihm gehörigen Men- 
schen eingestellt sind, dieser Bestandteil aber so überwertet 
wird, daß viel weniger der Mensch mit der bestimmien Eigen- 
schaft, als die Eigenschaft mit der an ihr befindlichen Person 
begehrt wird. 

Binet hat unter Zugrundelegung dieser Beobachtungen einen 
kleinen und großen Fetischismus unterschieden; beim kleinen 
steht der.erotisch wirksame Teil stark im Vordergrunde sowohl 
hinsichtlich der sexuellen Empfindung als der Betätigung, löscht 
aber den Träger nicht aus, auf den sich vielmehr allmählich 
die Verliebtheit überträgt. Beim großen Fetischismus bleibt eine 
solche Übertragung in der Regel aus; es findet eine völlige 
Substitution statt, indem der anziehende Gegenstand, selbst wenn 
er ein lebloser ist, vollkommen an die Stelle einer geliebten 
Person tritt. Von Binet, welcher im Jahre 1887 durch seine 
Arbeit: „Du Fétichisme dans lamour“ in der Revue philo- 
sophique diesen sexualpathologischen Begriff in die Wissen- 


Hirschfeld: Sexuelle Teilanziehung 49 


schaft einführte, rührt auch der Name her. Meist wird dieses 
Wort mit dem portugiesischen „fetisso“ zusammengebracht, was 
eine gefeite Sache bedeutet, eine Art Zaubermittel, etwas Ähn- 
liches wie in der religiösen Verehrung ein Amulett, ein Talisman, 
eine Reliquie; oder auch wie ein Götzenbild, wobei man berück- 
sichtigen muß, daß der primitive Mensch sich diese unbelebten 
Gegenstände und Symbole als innerlich beseelte Wesen vor- 
stell. Bereits im Jahre 1769 war in Paris ein Buch mit dem 
Titel: „Du Culte des dieux-fitishi“ erschienen, das sich mit der 
Anbetung vieler sonderbarer Dinge beschäftigte, denen ein 
fetischistischer Charakter zuerteilt wird. Die Bezeichnung Feti- 
schismus hat sich durchgesetzt, während andere nicht minder 
zutreffende Ausdrücke für dieselbe Erscheinung, wie sexueller 
Partialismus (von „pars pro toto“ = der Teil an Stelle des 
Ganzen) oder sexueller Idolismus — Idol im Sinne von Götze 
— nicht durchgedrungen sind. Ebensowenig auch der von 
Eulenburg vorgeschlagene Name: sexueller Symbolismus, der 
den Vorteil hat, mit einem Schlagwort das innerste Wesen der 
Erscheinung zu beleuchten; in der Tat handelt es sich bei den 
Fetischen um assoziativ entstandene Sinnbilder, konzentrierte 
Symbole. Übrigens soll das portugiesische Ursprungswort 
fétisso aus dem lateinischen factitius gebildet sein, das von 
facere = machen herstammt und soviel wie ein künstlich her- 
gestelltes Abbild bedeutet. Ein Philologe hat vorgeschlagen, 
den Fetischismus statt Symbolismus, welcher Terminus bereits 
anderweitig mit Beschlag belegt ist, Metabolismus zu nennen, 
hergeleitet vom griech. metaballo, was eintauschen oder ersetzen 
heißt, ein zweifellos gut geprägtes, biegsames und klares Wort, 
da ja der ganze Vorgang in der Tat eine Substitution ist. Gegen 
die von mir in den „Naturgesetzen der Liebe“ eingeführte 
Bildung: Teilanziehung oder partielle Attraktion, der als Revers 
nicht weniger bedeutungsvoll und verhängnisvoll die Teil- 
abstoßung oder partielle Aversion gegenübersteht, ist eingewandt 
worden, daß diese Worte keine Wandlungen, vor allem keine 
Eigenschaftswörter zulassen. Für den Begriff der partiellen 
Aversion haben sich in der Literatur auch die Bezeichnungen 
Anufetischismus und Fetischhaß eingebürgert. 

Der Fetischismus verhält sich zum Antifetischismus wie 
etwas Positives zu etwas Negativem, Zuneigung zu Abneigung, 
wie Lustbetontes zu Unlustbetontem, Liebe zu Haß. So heftige 


50 Hirschfeld: Sexuelle Teilanziehung 


Formen der Fetischhaß gelegentlich annimmt — kann er doch 
selbst kriminelle Zerstörungen im Gefolge haben —, so stellt 
er im Grunde meist doch nur einen verkappten Fetischismus 
dar, bei dem das Unlustgefühl aus dem Nichtvorhandensein der 
lustbetonten Sinneswahrnehmung erwächst. Um ein Beispiel zu 
geben, rührt die antifetischistische Aversion vieler Frauen gegen 
den Vollbart des Mannes vielfach von einer fetischistischen 
Vorliebe für ein glattes Gesicht her; das positive Anzeichen — 
der männliche Geschlechtscharakter des Bartes — entfaltet eine 
negative, das negative — die Bartlosigkeit — eine positive 
Wirkung, entsprechend einem Minus von Weiblichkeit und weib- 
licher Reaktionsfähigkeit bei der liebenden Person. Als Ursache 
seelischer Impotenz spielt die antifetischistische Idiosynkrasie 
eine nicht geringe Rolle. 

Die Zahl der Fetische ist unbegrenzt groß. Vom Kopf bis 
zum Fuß gibt es kein Fleckchen am Körper, und von der Kopf- 
bedeckung bis zur Fußbekleidung kein Fältchen am Gewand, 
von dem nicht eine fetischistische Reizwirkung ausgehen könnte. 
Da es sich hierbei oft um ganz außerordentlich kleine Beson- 
derheiten handelt, etwa eine bestimmte Art des Lächelns oder 
eine eigentümliche Haltung, so verbirgt sich sowohl das, was 
anzieht, als das, was abstößt, nicht selten in der Tiefe des Un- 
bewußten oder wird als rein ästhetische Geschmacksrichtung 
aufgefaßt. Die ersten Zweifel, ob der Empfindung des Schönen 
nicht doch eine erotische Unterströmung beigemischt ist, pflegen 
in der Reifezeit aufzutauchen, wenn sich zu dem Lustgefühl 
das Schamgefühl gesellt. Instinktiv fängt der junge Mann oder 
das junge Mädchen dann an, sich des Wohlgefallens zu schämen, 
das der Anblick des schönen Fußes oder Schuhes in ihnen 
auslöst, sie erröten bei ihrer Erwähnung und unterdrücken 
Äußerungen darüber, weil sie von ihnen als peinlich empfunden 
werden. 

Dabei ist es sehr beachtenswert und differentialdiagnostisch 
von entscheidender Bedeutung, ob jemand einen Gegenstand am 
eigenen oder fremden Körper begehrt. Der wirkliche Fetischist 
interessiert sich lediglich für den Teil oder die Sache an einer 
anderen Person oder für das Ding an sich. Er selbst trägt 
meist sogar das Gegenteil von dem, was ihn bei einem zweiten 
Menschen fetischistischfesselt; liebter Frauen mitkurzgeschnittenen 
Haaren, so hat er die Neigung, sich die seinigen lang wachsen 


Hirschfeld: Sexuelle Teilanziehung 51 


zu lassen; ist er auf Lack-, Schnür- oder Knopfschuhe eingestellt, 
so findet man ihn selbst vielfach in plumpen Zug-, Schnallen- 
oder Rohrstiefeln. Wohl kommt es vor, daß jemand ein fetisch- 
istisches Kleidungsstück anlegt, um es in möglichste Nähe mit 
sich zu bringen, aber meist nur vorübergehend, sehr selten auf 
die Dauer. Erstreckt sich hingegen seine Leidenschaft darauf, 
Samt und Seide, Perlen und Diamanten oder gar Frauenkleider 
am eigenen Leibe zu haben, so sind dies Begehrungsvorstellungen, 
die in das Gebiet des Narzißmus, Transvestitismus oder Zis- 
vestitismus fallen; sexueller Autismus und Altruismus verhalten 
sich zueinander wie Eitelkeit zu Neugier. Freilich werden oft 
auch Fetische angelegt, um Fetischisten anzulocken; namentlich 
die Prostitution bedient sich seit alters bewußt und unbewußt 
solcher Reizmittel („Reizstrümpfe“, „Lockstiefel“, „Lockpelze u.a.) 
in großem Umfange. ji 

Es bildet nun aber niemals ein Teil ganz im allgemeinen 
die Sehnsucht des Fetischisten, sondern nur dann, wenn er von 
ganz bestimmter Beschaffenheit ist, wird er so stürmisch ver- 
langt. Die Sinnesorgane wenden sich zwar zunächst spontan 
im allgemeinen nach den betreffenden Teilen (aus der Blick- 
richtung eines Menschen kann ein Kenner in dieser Hinsicht 
gewichtige Schlüsse ziehen), die Sinne bleiben an einem Teil 
aber nur dann lusterfüllt haften, wenn dieser Teil spezielle Eigen- 
schaften besitz. Es wird also niemals jemand, der schöne 
Augen liebt, durch jedes Auge gefesselt, sondern nur durch die, 
auf welche er subjektiv lustbetont reagiert: Augen von beson- 
derer Art, Form, Farbe und Umrahmung, etwa solche mit langen 
Wimpern. Wie das Sehorgan nur Gesichtseindrücke von eigener 
Artung wünscht, so sucht auch das Ohr bestimmte Tonhöhen 
und Klangfarben, und auch das Geruchs- und Gefühlsorgan 
nicht alle, sondern nur gewisse Gerüche und Tastempfindungen. 
So wird der Sexualpartialismus zu einem Sexualpartial- 
spezialismus, der eine ganz außerordentlich große Differen- 
zierung bedingt. Dieser erotische Schönheitsbegriff ist ein 
absolut persönlich gefärbter, wie es ja überhaupt fraglich ist, 
ob es eine objektive Schönheit gibt, so sehr sich auch Ästhe- 
tiker bemüht haben, bestimmte Harmoniegesetze für Formen, 
Farben und Töne aufzustellen. Mögen solche Regeln in der 
Ästhetik vielleicht objektive Gültigkeit haben, in der Erotik ver- 
sagen absolute Schönheitsgesetze völlig, so daß der generali- 


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UNIVERSITY OF ILLINOIS 
AT URBANA -CHAMPAIGN 


52 Hirschfeld: Sexuelle Teilanziehung 


sierende Ausspruch: „die Liebe macht blind“ von einer völligen 
Unkenntnis sexualpsychologischer Elementargesetze zeugt. 

Aus dem Gesagten erhellt, daß die Grenze zwischen 
gesundem und krankhaftem Fetischismus und ebenso auch 
zwischen dem „petit“ und „grand fétichisme“ keineswegs leicht 
zu ziehen ist. Die Haarlocke des geliebten Mädchens im Me- 
daillon ihres Liebhabers ist gewiß ein sehr verbreiteter Fetisch, 
in dessen Aufbewahrung schwerlich jemand etwas Krankhaftes 
erblicken dürfte; nennt aber ein Mann mehrere Hundert Haar- 
büschel sein eigen —- ein Fall, den ich wiederholt, so erst vor 
kurzem in meiner forensischen Praxis erlebte —, jedes mit 
einem bunten Seidenbändchen und dem Namen der einstigen 
Besitzerin versehen, aus deren pubes die Haare stammen, so 
wird man ebensowenig Bedenken tragen, in diesem Sammel- 
trieb den Ausdruck eines pathologischen Fetischismus zu er- 
blicken. 

Daß der Fetischismus mit einem objektiven Schönheitssinn, 
falls es solchen überhaupt gibt, wenig gemein hat, lehren die 
zahlreichen Beispiele, in denen sich Fetischisten für verbildete, 
verkrüppelte und verstümmelte Körperteile leidenschaftlich er- 
wärmen, einer Neigung, der auf dem Gebiet des Kleidungs- 
fetischismus eine Vorliebe für zerlumpte Gewänder und zerrissene 
Schuhe entspricht. Ein Seitenstück zu der Liebhaberei des 
Philosophen Cartesius für schielende Frauen erlebte ich in 
meiner Praxis: die schwärmerische Vorliebe eines Patienten für 
die Glotzaugen an Morbus Basedowii leidender Frauen. Auch 
auf lahme und bucklige Mädchen sind manche Männer „scharf“, 
und ebenso gelegentlich Weiber auf hinkende und verwachsene 
Männer, ganz besonders auch auf solche, die im Krieg ein 
Glied verloren haben. 

Es scheint, als ob bei allen Anziehungen durch Ano- 
malien und Defekte, das Mitleid ein nicht zu unterschätzen- 
des Motiv der Zuneigung ist. Ganz charakteristisch schreibt 
eine Patientin: „Vor vier Jahren lernte ich meinen Mann R. 
kennen, Schweizer von Geburt, furchtbar häßlich, wie seine 
Schwester; beide seit langen Jahren verwaist. Ich lernte ihn 
auf einer Gesellschaft kennen. Ich hatte gleich Zuneigung zu 
ihm, weil er häßlich war; ich habe häßliche Leute immer gerne, 
weil sie meistens von den Leuten schief angesehen werden, 
besonders wenn sie Gebrechen haben, doch habe ich immer 


Hirschfeld: Sexuelle Teilanziehung 53 


in häßlichen Menschen gute, goldene Herzen gefunden. So- 
genannte schöne Männer sind mir dagegen direkt zuwider.“ 

Es gibt Männer und Frauen, die von nichts erotisch mehr 
eingenommen sind, als von der Hilflosigkeit des anderen. 
Sowohl aus der Beherrschung als aus der Bedienung solcher 
Wesen ziehen sie Lustgewinn. Die Mehrzahl der Ehen, die 
wegen der Stärke gesellschaftlicher, körperlicher und sonstiger 
Gegensätze Dritten unbegreiflich erscheinen, erklären sich aus 
fetischistischer Reizwirkung. 

Worin aber findet diese selbst ihre Erklärung? Binet hat 
1887 in der Revue philosophique (Paris Nr. 8) die These auf- 
gestellt, daß hier ein „choc fortuit“, ein psychisches Trauma, 
wirksam sei, und fast alle Autoren dieses Gebietes haben seit- 
her mit verhältnismäßig geringen Modifikationen ähnliche An- 
schauungen vertreten, so Ziehen‘), der von „determinierenden“ 
Erlebnissen spricht und auch die Freudsche Schule, die den 
„akzidentellen Faktoren“ und „infantilen Eindrücken“ ein sehr 
großes, nach unserer Überzeugung allzu großes Gewicht bei- 
legt. Freud selbst hat sich allerdings wiederholt gegen den 
mißverständlichen Vorwurf gewandt, als hätte er die Bedeutung 
der angeborenen konstitutionellen Momente geleugnet, weil er 
die der infantilen Eindrücke hervorgehoben habe; er schreibt: 
„Ein solcher Vorwurf stammt aus der Enge des Kausalbedürf- 
nisses der Menschen, welches sich im Gegensatz zu der gewöhn- 
lichen Gestaltung der Realität mit einem einzigen verursachenden 
Moment zufrieden geben will. Die Psychoanalyse hat über die 
akzidentellen Faktoren der Ätiologie viel, über die konstitutionellen 
wenig geäußert, aber nur darum, weil sie zu den ersteren etwas 
Neues beibringen konnte, über die letzteren hingegen zunächst 
nicht mehr wußte, als man sonst weiß. Wir lehnen es ab, 
einen prinzipiellen Gegensatz zwischen beiden Reihen von 
ätiologischen Momenten zu statuieren; wir nehmen vielmehr 
ein regelmäßiges Zusammenwirken beider zur Hervor- 
bringung des beobachteten Effekts an. Beide gemeinsam be- 
stimmen das Schicksal eines Menschen; selten, vielleicht nie- 
mals, eine dieser Mächte allein. Die Aufteilung der ätiologischen 
Wirksamkeit zwischen den beiden wird sich nur individuell und 
im einzelnen vollziehen lassen. Die Reihe, in welcher sich 


%) Charit&-Annalen 1910, S. 242 ff. 


54 Hirschfeld: Sexuelle Teilanziehung 


wechselnde Größen der beiden Faktoren zusammensetzen, wird 
gewiß auch ihre extremen Fälle haben. Je nach dem Stande 
unserer Erkenntnis werden wir den Anteil der Konstitution oder 
das Erlebnis anders einschätzen und das Recht behalten, mit 
der Veränderung unserer Einsichten unser Urteil zu modifizieren.“ 
Wer allerdings vorurteilslos die Arbeiten der Psychoanalytiker 
prüft, wird sich des Eindrucks nicht erwehren können, daß in 
ihnen der äußeren „Tücke“ des exogenen „Zufalls“ eine un- 
gleich größere Rolle zuerkannt wird, als dem inneren „Dämon“, 
der sexuellen Konstitution. 

Auch Krafft-Ebing, welcher in bezug auf andere Erschei- 
nungen des Sexuallebens, wie der Homosexualität, des Masochis- 
mus und Sadismus, die Theorie Binets mit Entschiedenheit 
verwirft, macht hier eine Ausnahme, indem er in bezug auf den 
Fetischismus die Lehre vom „accident agissant sur un sujet 
predispose“ akzeptiert. Unter „accident“ soll hierbei ein be- 
liebiges zufälliges Geschehnis, unter „predisposition“, wie Binet 
ausdrücklich hervorhebt, nur eine allgemeine nervöse Hyperäs- 
thesie verstanden werden. Mir erscheint die Hypothese der 
okkasionellen Verknüpfungen, deren Vertreter um die Prädis- 
position, also das Konstitutionelle und Endogene doch nicht 
herumkommen, in ihrer bisherigen Form gänzlich unzureichend. 
Tatsächlich handelt es sich bei der Annahme, daß eine erst- 
malige und von da ab dauernde sexuelle Exzitation und Attraktion 
primär durch das reizauslösende Objekt, nicht aber durch die 
individuelle Beschaffenheit der sexuellen Empfangsorgane im 
Nervensystem bedingt ist, um eine Theorie, die bisher weder 
bewiesen ist, noch kaum bewiesen werden kann. Denn daß 
das erstmalige Zusammentreffen des entwickelten Geschlechts- 
sinnes mit dem, was „sein Fall“ ist, Lustempfindungen aus- 
lösen muß, die, wenn sie eine bestimmte Stärke erreicht haben, 
auch als solche ins Bewußtsein dringen, bedarf als selbstver- 
ständlich kaum einer Erörterung; vergleichen wir aber die Ubi- 
quität geschlechtlicher Reize mit der Rarität der individuellen 
geschlechtlichen Reaktion, berücksichtigen wir den enormen 
Elektivismus, welcher den menschlichen Geschlechtstrieb be- 
herrscht, denken wir daran, daß an demselben Objekt, das die 
einen in die höchste Ekstase versetzt, Millionen andere achtlos 
und reaktionslos vorübergehen, so liegt es nach allen Gesetzen 
der Logik klar zutage, daß nur die Beschaffenheit der sexuellen 


Hirschfeld: Sexuelle Teilanziehung 55 


Psyche, der nervösen Zentralorgane, daß es nur die spezifische 
Konstitution sein kann, welche den Ausschlag gibt. Von dem 
bestimmten individuellen Gepräge unseres Inneren hängt es ab, 
was wir als Reiz empfinden, nicht vom Reiz als solchem. Dafür 
spricht auch die elementare, zielstrebende Durchschlagskraft, 
mit der allem Wollen und Wünschen, allen Einflüssen und Ein- 
flüsterungen zum Trotz der Geschlechtstrieb auf sein Reiz-Ziel 
sein Objekt lossteuert, auf dasselbe „fliegt“. 

Daß infantile Eindrücke hier nicht in entscheidender Weise 
maßgebend sein können, lehrt auch der Umstand, daß Fetisch- 
isten sehr häufig an Gegenstände fixiert sind, die in ihrer Jugend 
überhaupt noch nicht vorhanden waren. Die Kriegserfahrungen 
haben sich in dieser Richtung lehrreich erwiesen. So bildete 
die „feldgraue“ Uniform bald nach ihrem Auftauchen für viele 
Frauen einen überaus intensiven Fetisch, dem gegenüber die 
bunte Friedensuniform vielfach nahezu als Antifetisch wirkte. 
Eine alte Dame suchte mich im zweiten Kriegsjahr auf, die von 
den Ledergamaschen der Offiziere, wie sie sich ausdrückte, „ganz 
konfus geworden sei; ein homosexueller Jurist, 45 Jahre alt, 
wurde ab 1914 durch das Eiserne Kreuz in höchste sinnliche 
Erregung versetzt. Menschen ohne diese Auszeichnung ließen 
ihn „gänzlich kalt“. Schon ein bloßes Streicheln des schwarz- 
weißen Ordensbändchens bewirkte Erektion. Ir diesen Fällen, 
die sich durch viele ähnliche Beispiele vermehren ließen, an- 
zunehmen, daß der zufällige Anblick des ledernen oder eisernen 
Gegenstandes auf jeden beliebigen Neuropathen dieselbe Wirkung 
hätte haben können, beruht, um mit Möbius zu reden, „wie jede 
Erklärung aus dem Milieu auf Oberflächlichkeit“. 

In folgendem will ich kurz die Erklärung wiedergeben, die 
ich in meinem „Wesen der Liebe“ (S. 152) für den Fetischismus 
in seinen mannigfachen Arten und Graden gegeben habe. „Primär 
angeboren ist zuvörderst der die Lebensrichtung gebende Cha- 
rakter der eigenen Persönlichkeit. Der so oft zitierte horazische 
Satz von der ewigen Wiederkehr der selbst mit der Heugabel 
nicht auszutreibenden Menschennatur gehört zu den wahrsten 
Maximen der Biologie. Gewiß sind Lebensumstände und Lebens- 
weise, die Erziehung und allerlei Erlebnisse und Ereignisse für 
den äußeren Ablauf eines Lebens von hohem Belang, aber das 
Gepräge des Menschen bleibt. Entsprechend dem Wesen der 
Persönlichkeit ist auch der Geschlechtstrieb und die Liebe in 


56 Hirschfeld: Sexuelle Teilanziehung 


ihrer Eigenart und individuellen Wesentlichkeit einem jeden an- 
geboren, eine Mitgift der Natur, — zum Glück oder Unglück, 
zum Guten oder Bösen. Der Mensch und seine Liebe sind 
eine untrennbare Einheit. — Aber nicht nur die Triebrichtung 
im allgemeinen, gleichviel zu welchem Geschlecht, ist in der 
Natur des einzelnen begründet, sondern auch die spezielle Vor- 
liebe für eine in bestimmter Weise charakterisierte Personengruppe 
dieses Geschlechts. Ob ein Mann ein sich ihm voll hingebendes 
junges Mädchen liebt, die er seinerseits stützen will, oder eine 
ältere, geistig überlegene Frau, auf die er sich stützen möchte, 
ob ein Weib dem schwärmerischen Jünglingstyp oder dem „ge- 
setzten Mann“ den Vorzug gibt, alles das ist nicht vom Zufall, 
sondern von der eigenen innersten Natur des Liebenden abhängig.“ 

Wenn nun aber eine besondere Eigenschaft vornehmlich 
anregt: das Auge, die Hand, die Kopf- oder Fußbekleidung, so 
beruht dies darauf, daß dieser Teil in seiner Eigenart als etwas 
für die Gefühlsrichtung ganz speziell Bezeichnendes empfunden, 
als für den Typus besonders typisch angesehen, als konzen- 
triertes Symbol gefühlt wird. Die Teilanziehung gründet sich 
also auf kein zufälliges Zusammentreffen, sondern auch auf die 
Eigenart der psychosexuellen Natur, nur daß diese verwickelten 
Assoziationen und anastomosierenden Neuronverbindungen ätio- 
logisch meist schwieriger zu fassen sind als die Triebrichtung 
auf ein Geschlecht, einen Typus oder ein Individuum. 

Ich stimme demnach mit meinem Freunde Professor Lip- 
schütz in Dorpat vollkommen überein, daß es sich bei dem 
Fetischismus um etwas ganz Ähnliches handelt wie bei den von 
dem Physiologen Pawlow in seiner Arbeit über die psychische 
Sekretion der Speicheldrüsen beschriebenen bedingten Reflexe. 
Wie die Verdauungsdrüsen ihre Absonderung bereits beginnen, 
bevor der Mund und Magen die lecker scheinende Speise um- 
schließen, bei ihrem bloßen Anblick, ja bei Nennung ihres Namens 
oder Erwähnung einer sich auf sie oft nur entfernt beziehenden 
Vorstellung sezernieren, so verhält es sich ganz ähnlich mit der 
Sekretion der Geschlechtsdrüsen bei dem Anblick oder münd- 
lichen, schriftlichen oder bildlichen Erinnerung an ein Objekt, 
die das nur viel individueller geartete sexuelle Hungergefühl zu 
sättigen geeignet wäre. 

I 





Javanisches Mädchen. 


(Aus Stratz, Schönheit des weiblichen Körpers.) 
Zum Aufsatz „Zum Verständnis der inneren Sekretion“ 
von F. v. Reitzenstein. 





Donna Marianne im Alter von 131 Jahren. 
Aus Ploß-Bartels, „Das Weib«. 
Zum Aufsatz „Zum Verständnis der inneren Sekretion“ 
von F. v. Reitzenstein. 


-i 








ORORONOROHOKROHOHONROR: 





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OROHOROROHOHOROHON 





DAS WEIB IM ALTINDISCHEN EPOS. 
Von Universitäts-Professor Dr. RICHARD SCHMIDT, Münster. 
(Fortsetzung.) 


Mt dem Eintritt der Reife erlangt das Mädchen das Anrecht auf 
das einzig ihr zukommende Sakrament, das der Verheiratung, 
die zugleich auch eine Art Wiedergeburt bedeutet, genau so, 
wie der Mann durch die Umgürtung mit der heiligen Schnur 
zum zweiten Male geboren (dvija) wird. Des Vaters heilige 
Pflicht aber ist es, seine Tochter alsbald zu vermählen; denn 
„wer nicht seine leibliche, schöne Tochter einem würdigen 
Freier gibt, den halte man für einen Brahmanenmörder,“ sagt 
das Mahābhāratam, und die Juristen sind ganz auf seiner Seite. 
Sie drohen den lässigen Eltern mit der grausigen Schuld der 
Embryotötung oder sie weisen darauf hin, daß die Ahnen in 
der anderen Welt ohne Unterlaß das Blut trinken, das die nicht 
rechtzeitig unter die Haube gebrachte Tochter jeden Monat 
ausscheidet! So beeilte sich denn jeder Vater, der ja in aller- 
erster Linie als verantwortlich angesehen wurde, seiner Pflicht 
nachzukommen, wenn ihm auch ihre Erfüllung noch so sauer 
werden mochte. Das dornenvolle Amt des Brautvaters hat es 
schließlich verschuldet, daß die Mädchen oft genug als zarte 
Kinder von vier Jahren verheiratet wurden — natürlich nur 
de jure, nicht de facto — und daß namentlich manche Brah- 
manen aus der Sache ein recht einträgliches Geschäft zu machen 
wissen, indem sie sich den verzweifelten Vätern als Schwieger- 
sohn anbieten; oft wohlbetagte Mummelgreise, die gar nicht 
mehr daran denken können, ihre Rechte irgend geltend zu machen. 

Wünschen wir aber dem Brautvater oder seinen Stell- 
vertretern, unter denen wir, den indischen Anschauungen von 
der Frau entsprechend, die Mutter des Mädchens erst an aller- 
letzter Stelle finden, alles Gute bezüglich der Wahl des künftigen 
Schwiegersohnes. Er hat nun, falls er der Kaste der Brahmanen 
angehört, das Aussuchen unter vier Hochzeitsriten, bei denen 
das Mädchen ohne Kaufpreis hingegeben wird; höchstens darf 


er dabei ein Ehrengeschenk in Gestalt eines Rinderpaares vom 
5 


58 R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos 


Bräutigam annehmen. Denn die eigentliche Kaufehe, bei der 
also der Vater seine Tochter wie eine Ware verschachert, gilt 
so wenig wie die noch übrigen drei Arten für die oberste Kaste 
als fein; sie ist dem dritten und vierten Stande überlassen, während 
die Raubehe, als der Art des Krieges entsprechend, den An- 
gehörigen der zweiten Kaste erlaubt ist und die letzte Form, 
die man (nach einer besonderen Art von Dämonen) paisaca 
nennt, sich als gemeine Notzucht charakterisiert und von Meyer 
mit „Diebstahlsehe“ bezeichnet wird. Die noch nicht erwähnte 
Gandharvenehe besteht in der Vollziehung der Hochzeit ohne 
jede Förmlichkeit hinter dem Rücken der Eltern oder Vormünder 
des Mädchens; sie spielt in der Literatur eine ziemlich große 
Rolle und wird samt der Kaufehe von einigen Autoritäten noch 
für erlaubt erklärt und demnach in der Zahl der sozusagen 
orthodoxen Formen aufgezählt. Alle diese Riten erscheinen in 
Übereinstimmung mit den Satzungen ‚der Rechtsgelehrten im 
Epos; das Mahäbhäratam hat richtige juristische Kolloquien 
darüber, z. B. XIII, 44, bei Meyer S. 43ff. 

Am genausten werden die einzelnen Formen wie natürlich 
von den Juristen erklärt. Es möge hier genügen, die Definitionen 
aus Manu, IIl, 27—34 wiederzugeben: „Als die brahm a-Form 
gilt es, wenn man das Mädchen, nachdem man es gekleidet 
und (ihm Schmucksachen) verehrt hat, einem Mann von Wissen 
und Charakter gibt, den man selbst dazu eingeladen hat. — 
Die daiva-Form nennt man es, wenn man die Tochter ge- 
schmückt dem Opferpriester gibt, der die heiligen Handlungen 
vollzieht, während das Opfer in der gehörigen Weise vor sich 
geht. — Als prajapatya-Form gilt es, wenn das Mädchen 
unter Ehrenbezeugungen hingegeben wird, wobei die begleitenden 
Worte gesprochen werden: „Erfüllt Beide zusammen die heilige 
Pflicht!“ — Wenn man das Mädchen nach Vorschrift hingibt, 
nachdem man vom Freier ein oder zwei paar Rinder zu frommer 
Pflichterfüllung®) erhalten hat, so nennt man das die arsa- 
Form. — Die asura-Form nennt man es, wenn das Mädchen 
hingegeben wird, nachdem der Freier den Verwandten des 
Mädchens und diesem selbst nach Kräften und freiwillig Geld 
gezahlt hat. — Die auf geschlechtliche Vermischung abzielende, 
aus der Liebe entspringende gegenseitige Vereinigung von 


e) Nicht in der Absicht, sein Kind zu verkaufen. 


R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos 59 


Mädchen und Freier auf Grund (ihres eigenen) Wunsches muß 
als gandharva-Ehe angesehen werden. — Der gewaltsame 
Raub des schreienden und weinenden Mädchens aus dem 
(Eltern-)Hause unter Morden, Verwunden und Einbrechen heißt 
die raksasa-Weise. — Wenn man mit Hinterlist ein schlafendes, 
trunkenes oder (sonst) seiner Sinne nicht mächtiges Mädchen 
beschläft, so ist das als paisaca-Ehe bekannt; die echte und 
sündhafteste unter den Heiratsformen.“ 

Als letztes Mittel endlich, an den Mann zu kommen, steht 
dem Mädchen die Selbstwahl (svayamvara) zu Gebote. Im 
Epos und in konventionellen Schilderungen ist es damit nicht 
so ängstlich; es fehlt der tragische Hintergrund. Diese Art ist 
nie allgemeine Sitte gewesen, sondern auf Töchter der Krieger- 
kaste und namentlich königliche Prinzessinnen beschränkt 
geblieben. Häufig genug handelt es sich dabei weniger um 
eine Auslese, die das Mädchen trifft, als um eine Probe 
kriegerischer Tüchtigkeit, wie in der Selbstwahl der Draupadi l, 
184ff., Meyer S.60ff., der man ein ganz ähnliches Stück aus 
dem Rämäyana (I, 66, 67; Meyer S. 67) zur Seite stellen kann: 
in beiden Fällen muß ein gewaltiger Bogen gespannt werden. 
Das Epos kennt aber auch das recht primitive Mittel des 
regelrechten Kampfes der Nebenbuhler bei dem Svayamvara: 
Mah. VII, 144. l 

Ganz anders liegt nun die Sache in den Fällen, wo die 
Selbstwahl von der Not geboten erscheint. Die Rechtsgelehrten 
haben dabei ein Mädchen im Auge, dem gegenüber der „Braut- 
geber“, d. h. der Vater oder sein Stellvertreter, seine Pflicht 
vernachlässigt. Die Juristen schreiben vor, das Mädchen solle 
drei Menstruationen oder (so auch das Mahäbhärata) drei 
Jahre abwarten, dann aber auf eigene Faust auf die Suche 
gehen und, wenn sie einen Mann gefunden hat, die vom Vater 
oder ihren sonstigen Verwandten erhaltenen Geschenke zurück- 
lassen. Viel ausführlicher und amüsanter ist hier das Kamasutram 
(S. 278ff. meiner Übersetzung, 5. Auflage). Es kennzeichnet 
zunächst die zur Selbstwahl Gezwungenen mit den Worten: 
„Ein Mädchen von geringer Gelegenheit (d. h. ohne Umgebung), 
wenn auch reich an Vorzügen; arm an Geld, wenn auch aus 
ediem Geschlechte; das von Gleichgestellten nicht aufgesucht 
wird oder der Eltern beraubt ist oder im Hause von Verwandten 
lebt, soll sich auf eigene Faust um ihre Verheiratung kouer, 


60 R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos 


wenn sie das jugendliche Alter erreicht hat (d.h. wenn sie 
menstruiert).“ Dann gibt Vatsyayana gute Ratschläge, wie eine 
solche zu Werke gehen soll: „Sie umwerbe mit Kindesliebe 
einen mit Vorzügen versehenen, kräftigen und ansehnlichen 
Mann. Oder von wem sie meint: Er wird mir von selbst, 
ohne Rücksicht auf die Eltern, infolge der Schwachheit des 
Fleisches angehören“, den mache sie sich geneigt durch Um- 
werben voller Liebe und Fürsorge und beständiges Sichzeigen. 
Die Mutter (oder, wenn diese nicht mehr lebt, eine Stellvertreterin) 
stelle sie in Gesellschaft der Milchschwestern .und Freundinnen?) 
jenem vor Augen. Mit Blumen, Wohlgerüchen und Betel in der 
Hand sei sie in der Einsamkeit und am Abend bei ihm. Beim 
Offenbaren ihrer Geschicklichkeit in den Künsten, beim Massieren 
und Drücken des Kopfes zeige sie ihre Erfahrung. Sie erzähle 
dem Wesen des Umworbenen entsprechende Geschichten und 
richte sich nach dem, was in dem (Kapitel) „Herangehen an 
ein Mädchen“ angegeben ist. Auch wenn sie dem Manne ganz 
nahe steht, soll sie ihn nicht selbst (sexuell) angehen; denn 
eine junge Frau, die den Mann selbst angeht, verliert ihr Glück. 
So lehren die Meister. Die von ihm gezeigten Umwerbungen 
aber nehme sie in gehöriger Weise an. Umarmt zeige sie 
keine Aufregung. Eine zarte (Liebes-)Äußerung nehme sie hin, 
als verstände sie sie nicht. Das Ergreifen (d.h. Küssen) ihres 
Mundes geschehe nur mit Gewalt. Wenn sie um Ausführung 
des Liebesgenusses gebeten wird, geschehe die Berührung der 
Pudenda nur unter Schwierigkeiten. Wenn auch aufgefordert, 
sei sie selbst nicht gar zu offen, da die Zeiten sich ändern 
können. Wenn sie aber meint: „Er ist mir zugetan und wird 
nicht zurücktreten“, dann beschleunige sie den Werbenden, 
behufs Austritts aus dem Kinderstande; und wenn sie den 
Mädchenstand verloren hat, melde sie es den Vertrauten.“ 
Der Abschluß eines solchen Liebeshandels leitet uns zu 
dem Gandharven-Ritus über, so benannt, weil die Gandharven, 
die Musikanten des Himmels, mit den schönen Apsarasen, den 
Himmels-Hetären, auch nicht viel Umstände machen. Der 
Unterschied zwischen der eben geschilderten Selbstwahl und 
der Gandharven-Ehe liegt einzig darin, daß dort der Mann erst 
gesucht werden muß, während hier alles glatt geht und das 


?) Der Kommentator bemerkt dazu: „Damit ihre Verschämtheit weicht.“ 


R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos 61 


Pärchen bloß die Zeit nicht abwarten kann. Das weltliche 
Kämasütram hält die Gandharven-Heirat für die beste Art 
schlechtweg, eine aus seinem Geiste heraus leicht erklärliche 
Ansicht, der sich auch das Epos anschließt. Zum mindesten 
empfiehlt es sie besonders der Kriegerkaste, wobei es sich auf 
berühmte Rechtsbücher berufen kann (Manu Ill, 26; Visnu XXIV, 
28). Aber selbst der Verfasser der Ars amandi rät doch, den 
so geschlossenen Liebesbund nachträglich noch feierlich zu 
weihen, indem der Mann aus dem Hause eines Brahmanen. 
Feuer holt, heiliges Gras streut, nach Vorschrift opfert und mit 
seiner Frau das Feuer dreimal umschreitet. Letzteres macht 
nämlich die Ehe unlöslich, wie die Meister lehren. 

Wenn der Jurist Narada unbedenklich erklärt, die Gan- 
dharven-Ehe sei allen Kasten gemein, so ist das wohl keine 
besonders tiefe Weisheit: Neigungsheiraten hat es eben auch 
in Indien immer und überall gegeben, und die Beteiligten haben 
durchaus kein Bedenken getragen, ihre Eltern realpolitisch vor 
die vollendete Tatsache zu stellen, so daß diese wohl oder 
übel ja und Amen dazu sagen mußten, wie das Vatsyayana 
p. 229 schelmisch andeutet. So zahlreich auch die Bedenken 
sind, die die Schließung des Ehebundes erschweren, so hat es 
doch nicht an gewichtigen Stimmen gefehlt, die der Liebes- 
heirat das Wort reden; und zwar nicht allein das ganz 
realistische Kämasütram, sondern auch strenge juristische Texte, 
wie z.B. das (von Winternitz, Hochzeitsrituell $..39 angezogene) 
Bharadvajagrhyasütram, wo es heißt: „An der sein Herz sich 
freut und zu der sein Auge sich hinneigt, die, wisse er, ist 
glückverheißend und mit guten Merkmalen ausgestattet; was 
bedarf es da erst noch einer Prüfung!“ — Das bekannteste 
Beispiel einer Gandharven-Ehe bietet die Geschichte von Dus- 
yanta und Sakuntala, die übrigens Kalidasa viel dramatischer 
gestaltet hat als sie im Epos (Mah. I, 68 ff) vorgetragen wird. 

„Neben solchen romantischen Liebes- und Heiratsabenteuern 
der Kshattriya mußte natürlich die bei der Masse des Volkes 
erbeingesessene Kaufehe als gemein und niedrig erscheinen“ 
(Meyer 76). Trotzdem hat uns das Mahabharata ein paar Fälle 
aufbewahrt, in denen auch in höheren und höchsten Kreisen 
ein Brautpreis gezahlt wird; und die Heftigkeit, mit der die 
Rechtsgelehrten gegen das Verkaufen der Töchter losziehen, 
beweist doch, daß die Kaufehe das Gewöhnliche war. Sie ist 


62 R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos 


auch heute noch in Indien ganz gebräuchlich und keineswegs 
auf die unteren Schichten der Bevölkerung beschränkt. 

Zu den Punkten, die vor der Verheiratung noch zu be- 
denken sind, gehört nun noch die Frage nach der Ebenbürtigkeit 
und dem Alter der Kontrahenten. Die strenge Ansicht ist die, 
daß man in seiner Kaste bleibt und nicht über oder unter seinen 
Stand heiratet. Doch weiß das Epos von solchen Verirrungen 
lange nicht so viel zu sagen wie die Juristen, und selbst das 
Kämasütram, dem man- gewiß keine Engherzigkeit vorwerfen 
kann, erinnert an hervorragender Stelle an die Segnungen, die 
der Ehebund mit einer ebenbürtigen Frau im Gefolge hat: die 
Geburt rechtmäßiger Söhne, die Mehrung des Anhangs und eine 
ungekünstelte Liebe. Selbstverständlich hat es auch in Indien 
immer unebenbürtige Ehen gegeben, die nicht nur von den 
Rechtsgelehrten, sondern auch von der Gesellschaft eine ganz 
verschiedene Beurteilung erfahren haben. Wenn sich nämlich 
ein Brahmane huldvoll herabließ, die Tochter eines gemeinen 
Mannes zu freien, so drückte man wohl ein Auge zu; es mochte 
sogar vorkommen, daß sich die Beteiligten von solcher Gnade 
geschmeichelt fühlten. Aber wehe, wenn ein armer Teufel es 
wagte, seine Augen zu einer Höherstehenden zu erheben! Am 
ruhigsten dachte man über solche Mischehen, bei denen die 
Fräu nur um eine Stufe tiefer stand als der Mann. Jedenfalls 
aber erscheint bei den brahmanisch-exklusiv angehauchten 
Rechtsgelehrten die Forderung der Ebenbürtigkeit an erster 
Stelle, wenn sich auch die Herren im einzelnen so wenig einig 
sind, daß bisweilen bei einunddemselben Autor zwei ver- 
schiedene Ansichten unvermittelt nebeneinander stehen. 

Was endlich das Alter anlangt, so darf der jüngere Bruder 
nicht vor dem älteren, die jüngere Schwester nicht vor der 
früher geborenen heiraten. Auch hier gehen die Ansichten des 
Epos wie der Juristen über die Schwere der dabei möglichen 
Verschuldung und die Höhe der Sühne wieder auseinander. — 
Für das Mädchen allein spielt das Alter insofern noch eine 
Rolle, als die Rechtsgelehrten dafür eine untere Grenze fest- 
gesetzt haben, wobei freilich die Angaben zwischen dem zwölften 
und vierten (!!) Lebensjahre schwanken. Eine Quelle gibt zu 
verstehen, daß die Geldgier den Zeitpunkt möglichst weit 
herabrückt. Es ist natürlich überflüssig zu bemerken, daß es 
sich hierbei weniger um eine wirkliche Verheiratung, als viel- 


R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos 63 


mehr um eine bindende Verlobung handelt. Die Braut, wenn 
der Ausdruck erlaubt ist, bleibt so lange im Elternhause, bis 
die Natur sie in den Stand setzt, die Pflichten der Ehe zu er- 
füllen. Das Epos sagt hierüber so gut wie nichts; Meyer 
erwähnt S. 44/45 nur die Vorschrift, ein Dreißigjähriger solle 
eine zehnjährige Gattin, der Einundzwanzigjährige eine mit 
sieben Jahren heiraten. (Vgl. aber Jolly, Recht und Sitte, 56/57.) 

Von sonstigen Eheformen ist für Indien noch die Polygamie 
zu nennen, die dort uralt ist und „für das brahmanische System 
nicht das geringste Ärgernis“ erregt. So ist denn auch im 
Epos der Harem eine selbstverständliche Einrichtung, deren 
„Vorteile“ freilich nur dem Manne zufließen. „Keine Schuld 
lastet auf den Männern, die viele Frauen heiraten, eine sehr 
große Schuld aber auf den Frauen, wenn sie ihren ersten 
Gatten (durch eine neue Ehe) beleidigen“, sagt das Mahäb- 
häratam. Nun hatte ja wohl der Mann die Pflicht, alle seine 
Frauen gleichmäßig liebevoll zu behandeln — der Mond, der 
von seinen siebenundzwanzig Gattinnen eine einzige nur leiden 
mochte, bekam dafür die Schwindsucht zur Strafe — aber es 
ist doch zu natürlich, daß eine Favoritin vorhanden ist. Und 
so hören wir denn im Epos genug ergreifende Klagen zurück- 
gesetzter Frauen, wie nicht minder von den Eifersüchteleien 
und Feindseligkeiten der Haremsinsassen. Darüber wäre zur 
Ergänzung das Kämasütram nachzulesen, welches in Kapitel 
32—39 eine höchst anschauliche Schilderung des Haremsleben 
gibt und sich über die Pflichten der einzelnen Frauen gegen- 
einander und gegen den Mann eingehend äußert. Es gibt auch 
die Gründe an, weshalb der Gatte noch bei Lebzeiten seiner 
Frau zu einer neuen Ehe schreitet: „Man heiratet eine zweite 
Frau bei Lebzeiten der ersten wegen deren Beschränktheit und 
Boshaftigkeit; wenn man ihre Liebe nicht erwidern kann; wenn 
sie keine Kinder gebiert; wenn sie in häufiger Wiederholung 
Mädchen zur Welt bringt, oder wenn der Gatte unbeständig ist.“ 
Dazu stimmen im allgemeinen die Lehren der Juristen, z. B. 
Manu IX, 80/82: „Eine Frau, welche berauschende Getränke 
trinkt, von schlechter Führung, widerspenstig, krank, boshaft und 
verschwenderisch ist, darf stets überheiratet werden. Eine un- 
fruchtbare Frau darf im achten Jahre überheiratet werden; eine, 
deren Kinder tot sind, im zehnten; eine, die nur Mädchen 
gebiert, im elften; aber eine, die unfreundliche Reden führt, 


64 R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos 


sofort. Eine kranke, aber sonst treffliche und von Charakter 
tüchtige Frau dagegen kann nur mit ihrer Bewilligung über- 
heiratet und darf niemals mißachtet werden.“ 

Ist also die Polygamie etwas ganz Gebräuchliches, so ver- 
stößt die Polyandrie durchaus gegen das Gefühl des arischen 
Inders, und so finden sich im Epos auch nur ganz wenig 
Beispiele dafür, bei denen es sich auch nur um Weiber- 
gemeinschaft unter Brüdern handelt, wie in dem bekanntesten 
Falle: der ehelichen Verbindung der fünf Söhne des Pandu mit 
Draupadi. Meyer hält die Sitte für unarisch, während Jolly 
geltend macht, daß sich die Frage, ob die Polyandrie des Alter- 
tums auf nichtarische Stämme beschränkt war oder nicht, jeden- 
falls nicht entscheiden läßt. Sicher ist nur, daß heutigentags 
die Polyandrie bei nichtarischen Stämmen, und zwar tibetanischen 
im Norden (in Kumaon, Seoraj, Lahoul, Spiti) und dravidischen 
im Süden, noch in viel weiterem Umfange vorkommt als man 
gewöhnlich annimmt. Unter den letzteren sind die Nairs (im 
nördlichen Kanara) zu wahrer Berühmtheit gelangt; ältere und 
jüngere Reisebeschreibungen (Linschoten, Della Valle, Billing- 
ton etc.) berichten von dem merkwürdigen Eheleben dieser 
Leute, von denen Della Valle berichtet, sie hätten keine eigenen 
Weiber, „sondern es seyn dieselbe unter ihnen gemein, und 
wann ein Mann eine besuchen will, so lässet er seyn Gewehr 
vor der Thür, welches dann ein Zeichen ist, daß, so lang er 
darinnen bey ihr bleibt, kein anderer zu ihr hinein begehrt, 
noch deßwegen unwillig, oder eyffersüchtig wird, und werden 
die Weiber von denen, so ihnen beywohnen, mit Nahrung und 
Kleidung unterhalten. Sie fragen nichts nach den Kindern, und 
kan man nicht eigentlich wissen, wer Vatter darzu ist, sondern 
man siehet allein auff die Ankunfft von den Müttern her, nach 
welcher alle Erbschafften gerichtet werden.“ 

(Fortsetzung folgt.) 





RICHTIGE UND FALSCHE FOLGERUNGEN 
AUS DER GEBURTENSTATISTIK. 
Von Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. E. WÜRZBURGER, Dresden. 


Eire Schwierigkeit, die sich der Klärung von Problemen durch 

die Ergebnisse der Statistik immer und immer wieder ent- 
gegenstellt, liegt in der Art, wie die literarischen, der Statistiker- 
zunft nicht selber angehörenden Konsumenten der Statistik das 
bekannte Wort „Zahlen beweisen“ zu verstehen oder vielmehr 
mißzuverstehen pflegen. Gewiß läßt der Parallelismus sowie 
das Auseinanderlaufen von Zahlenreihen Schlüsse auf die Ur- 
sachen zu; aber der ein statistisches Ergebnis erzeugenden 
Ursachen sind meist mehrere oder viele, und um die richtigen 
herauszufinden, ist es in der Regel notwendig, nicht bloß die 
Zahlenergebnisse selbst, sondern auch die Art, wie sie erhoben 
und bearbeitet worden sind, genau in Erwägung zu ziehen, 
Einen unter den zahllosen Belegen hierfür bietet die Statistik 
einer Erscheinung, die in diesen Blättern gewiß noch oft von 
dieser oder jener Seite zu erörtern sein wird: der unehelichen 
Geburten. 

Von 100 im Deutschen Reiche im Jahre 7973 — wir wählen 
dieses Jahr als letztes vor dem Kriege — geborenen Kindern 
(einschl. der totgeborenen) waren 9,7 unehelich, also etwas weniger 
als eins unter je zehn. Diese sogenannte Unehelichkeitsziffer 
schwankt innerhalb der verschiedenen Reichsgebiete nicht un- 
erheblich; für Sachsen war sie mit 16,3 am höchsten. Man 
könnte auf die Vermutung kommen, daß hier weniger als in 
anderen Teilen des Reiches geheiratet wird und aus diesem 
Grunde mehr uneheliche Geburten vorkommen; aber diese Er- 
klärung ist unstatthaft, weil die Zahl der auf 1000 Einwohner 
treffenden Eheschließungen im gleichen Jahre 7973 im Reich 7,7, 
in Sachsen aber mehr, nämlich 8,2 betrug und ein ähnliches 
Verhältnis beider Zahlen seit einer langen Reihe von Jahren 
bestanden hat. Unehelichkeits- und Heiratsziffer stehen also 
hier in keiner erkennbaren Beziehung zueinander. 


66 Würzburger: Richtige u. falsche Folgerungen a. d. Geburtenstatistik 


Blicken wir um einige Jahrzehnte zurück, so sehen wir, 
daß das Zahlenverhältnis der Unehelichen unter den Geborenen 
damals ein anderes und die Reichsziffer lange nicht so weit 
unter der sächsischen stand wie in der neueren Zeit. Zum 
Beispiel betrug im Jahre 7883 jene 9,2, diese 12,9; aber auch 
hier liegt wieder ein Schluß nahe, der sich nachher als falsch 
erweist, daß nämlich die Häufigkeit der unehelichen Geburten 
in Sachsen im Laufe der 30 Jahre zugenommen hätte. Das 
Gegenteil ist der Fall, wie man bei Anwendung einer exakteren 
Berechnungsmethode erfährt, die in der Messung der Zahl nicht 
an der der gleichzeitigen ehelichen Geburten, sondern an der 
der unverheirateten weiblichen Personen der in Betracht 
kommenden Altersklassen besteht. Auf 1000 solche kamen 
1883 in Sachsen 47, dagegen /913 nur mehr 35 uneheliche 
Geburten. Das Steigen des am Eingang angeführten Anteils 
der unehelichen an der Gesamtgeburtszahl von 12,9 auf 16,0 vom 
Hundert bringt daher nur zum Ausdruck, daß sowohl die ehe- 
lichen wie die unehelichen Geburten abgenommen haben, 
erstere aber in stärkerem Maße. Aber auch das ist wieder 
eine jener statistischen Nachweisungen, die leicht zu irrigen 
Schlüssen aus an sich zweifellosen Tatsachen verführen. Sie 
erklärt sich nämlich einfach dadurch, daß die allgemeine 
Geburtenverminderung hauptsächlich auf eine Abnahme der 
wiederholten Entbindungen der einzelnen Frauen zurück- 
zuführen ist, während sie die Erstentbindungen nur wenig be- 
rührt hat. Gerade die Erstgeburten stellen aber das Haupt- 
kontingent der Unehelichen. Unter diesem Gesichtspunkt bietet 
die ganze, viel mißdeutete Statistik der unehelichen Geburten 
einen anderen Ausblick. Man übersieht meist, daß es zu einem 
recht großen Teil voreheliche Geburten sind, denen die Legi- 
timation durch Eheschließung der Eltern nachfolgt, sobald die 
Verhältnisse sie gestatten. Andererseits aber deckt sich dieser 
Teil der unehelichen Geburten nicht etwa auch nur annähernd 
mit der Gesamtheit der vorehelichen Zeugungen, zu denen man 
vielmehr erst die große Zahl der in den ersten Ehemonaten 
Geborenen hinzurechnen muß. So kommt man zu dem Schluß, 
daß der oft genug von Zufälligkeiten abhängige Umstand, ob 
die Eheschließung kurz vor oder nach der Entbindung erfolgt 
ist, die statistische Zurechnung einer Geburt zu den unehelichen 
bestimmt, womit die Bedeutung der ganzen Unehelichenstatistik, 


Würzburger: Richtige u. falsche Folgerungen a. d. Geburtenstatistik 67 


insofern sie als Anhalt zur Beurteilung geschlechtlicher Be- 
ziehungen dienen soll, in Frage gestellt wird; ganz abgesehen 
davon, daß ja die unehelichen Geburten überhaupt nur einen 
nach Ort und Zeit sehr verschieden zu bewertenden Maßstab 
hierfür bieten können. 

Einige Zahlen mögen auch dies verdeutlichen; sie müssen 
sich auf die sächsische Landesstatistik allein beschränken, da 
die Reichsstatistik in dieser Hinsicht noch nicht genügend aus- 
gebildet ist. 

In Sachsen wurden 7913 20779 Kinder. unehelich geboren 
und weitere 12824 in den ersten sieben Ehemonaten (die Ein- 
rechnung der 1362 Geburten im 7. Ehemonat, trotzdem ein Teil 
von ihnen gewiß ehelichen Ursprungs ist, rechtfertigt sich da- 
durch, daß hinwiederum ein Teil der 2577 im 8. und 9. Ehe- 
monat Geborenen dies nicht ist). Unter jenen 20779 waren 
1477, deren Eltern sich im Jahre 79/3 noch verheirateten, so 
daß ihre Kinder ehelich wurden. Dazu kommen bis Ende 1917 
noch 5432 weitere Legitimationen von im Jahre 79/3 unehelich 
geborenen Kindern; und da bis dahin 4750 bereits unlegitimiert 
verstorben waren (außer den 873 totgeborenen), so bleiben nur 
so wenige uneheliche Kinder aus dem Jahre 1913 übrig, daß 
die Verhältnisziffer zur Gesamtzahl der noch lebenden Kinder aus 
dem gleichen Geburtsjahr heute nur noch 8,6 vom Hundert — 
statt der ursprünglichen 16,3 — beträgt. Ganz verfehlt ist es 
demnach, wenn man, wie es häufig geschieht, den Prozentsatz 
der unehelichen unter den Geborenen demjenigen unter den 
Lebenden gleichachtet und demgemäß ihn zur Berechnung des 
Anteils der Unehelichen an der Kriminalität, der Prostitution 
und dergl. benützt. 


NA 


68 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 


ZUM VERSTÄNDNIS DER INNEREN SEKRETION 


UND DER VERJÜNGUNG. 
Von FERD. FRHR. VON REITZENSTEIN, Dresden. 


II. 
Biokolloide, Altern und Formbildung. 


D“ vorige Kapitel hat uns mit dem Wesen der Kristalloide 
und Kolloide bekannt gemacht; wir wollen uns nun speziell 
mit jenen Kolloiden beschäftigen, die in den Organismen eine 
Rolle spielen, also den Biokolloiden (vom griechischen Bios 
Leben). Neben dem Wasser und einigen wenigen organischen 
Stoffen (so Zucker) sowie anorganischen Salzen finden sich in 
den Organismen nur Kolloide. Wir dürfen also erwarten, daß 
die lebende Materie sich in vielen Dingen jenen Gesetzen anpaßt, 
denen die Kolloide unterliegen. Da, wie wir gesehen haben, 
die Kristalloide auch die tierische Membran durchdringen, also 
sehr beweglich sind, kann man sie auch die mobilen (beweg- 
lichen) Bestandteile des Körpers nennen, während die Kolloide 
das stabile Moment darstellen. Nicht ganz unzutreffend hat 
Bechhold einmal die Kolloide mit den Häusern einer Stadt 
verglichen und die Kristalloide mit den Menschen, die darin 
umhergehen, die Gebäude zerstören und sie wieder errichten. 
Das führt uns eigentlich von selbst zur Frage des Lebens- 
vorganges. In der lebenden Zelle findet man etwa dieselben 
Stoffe wie in der toten, freilich ist die Untersuchung gerade 
im wichtigsten Punkte erschwert, nämlich darin, daß man 
vorher die lebende Zelle töten muß und wir wissen, daß die 
lebende Substanz im Tode bedeutende chemische Veränderungen 
erfährt, wie schon daraus hervorgeht, daß die lebende Substanz 
fast stets alkalisch oder neutral, die tote dagegen sauer reagiert. 
In der lebenden Substanz müssen also Stoffe oder Verbindungen 
davon vorhanden sein, die der toten fehlen. Es ist anzunehmen, 
daß die lebende Substanz auf Atomgruppen aufbaut, die sehr 
leicht chemischen Umsetzungen unterworfen sind (labile Atom- 
komplexe). Man kann also sagen, die lebende Substanz be- 
findet sich in labiler, die tote in stabiler (unveränderlicher) 
Konstitution. Mithin ist der Stoffwechsel die Grundlage dessen, 
was wir Leben nennen. Damit kommen wir aber wieder auf 
die Kolloide zurück. Im wesentlichen haben wir es mit drei 


v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 69 


Arten von Kolloiden zu tun, die hauptsächlich im tierischen 
oder pflanzlichen Organismus vorhanden sind. Es sind das die 
Kohlenhydrate, also Körper, die sich hauptsächlich aus 
Kohlenstoff, Sauerstoff und Wasserstoff aufbauen. Die Kohlen- 
hydrate erscheinen auch in kristalloider Form (als Zucker). Die 
Pflanzen bilden aus ihnen Stärke und Zellulose, während sie 
der tierische Organismus durch einen Prozeß, den wir im vierten 
Aufsatz näher behandeln werden, in die tierische Stärke, das 
Glykogen, also ein Kolloid verwandelt. Dann gehören hierher 
die Lipoide. Man versteht darunter verschiedene fettartige 
Substanzen, und rechnet zu ihnen wichtige Bausteine unseres 
Nervensystems, die Lezithine. Die wichtigste Gruppe sind 
die Eiweißarten. Leider sind gerade hier unsere Kenntnise 
sehr lückenhaft, da die Eiweiße äußerst kompliziert zusammen- 
gesetzt sind. Sie bestehen aus etwa gleichen Teilen Kohlenstoff, 
Wasserstoff, Stickstoff, Sauerstoff und Schwefel. Jedenfalls 
sind sie die einzigen Stoffe, die ausnahmslos in jeder Zelle 
gefunden werden. Auf ihren Verbindungen und Atomkomplexen 
muß also in erster Linie der Vorgang des Lebens beruhen, 
auf ihrem Zerfall der Tod. Heute kennen wir noch nicht ein- 
mal die Hauptgruppen der Eiweißarten näher, dürfen also ein 
klares Urteil über die Lebensvorgänge nicht erwarten. Jedenfalls 
besitzen wir verschiedene Eiweißarten im Körper, ja wir wissen, 
daß die Serumalbumine der verschiedenen Rassen verschieden 
sind. Auch jedes Tier und jede Pflanze hat andere Arten. 
Der Hauptsache nach lassen sich drei Gruppen von Eiweiß- 
arten unterscheiden; solche, die im Wasser löslich sind, — 
dazu gehören vor allem die Serumalbumine — dann solche, 
die in Salzlösungen löslich sind (Globuline, Myosin, Vitellin) 
und schließlich solche, die in keinen von beiden löslich sind 
(Fibrin oder Muskelsubstanz). Die nicht gelösten Eiweißkörper 
verlieren durch Hitze ihre Quellbarkeit und man nennt diesen 
Prozeß die Denaturierung. Von Interesse ist, daß die 
Eiweißarten sehr große Moleküle besitzen. Wie wir schon 
sahen, ist ein Teil der Kolloide kristallisierbar; dazu 
gehören besonders die Eieralbumine. Bei diesem Prozeß ist 
jedoch von größter Wichtigkeit, daß der Lösung dieser Kristalle 
dann stets Quellungserscheinungen vorausgehen und daß sie 
immer andere Bestandteile (z. B. Kochsalz) enthalten. 

Der Aufbau der lebenden Substanz ist also ein gallert- 


70 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 


artiger. Gallerte (Gel) ist aber, wie wir sahen, weder ein fester 
Körper noch eine Flüssigkeit, sie steht in der Mitte und hat 
so an den beiderseitigen Eigenschaften Anteil. Demnach kann 
in Gallerten der Stoffwechsel wie in einer Flüssigkeit stattfinden, 
ohne daß aber die Gallerten dabei fortwährenden inneren 
Störungen ausgesetzt wären, also sich darin den festen Körper 
nähern. Sie können die aufgenommenen Stoffe fixieren und so 
Reserven anlegen, zumal da die Zellwandungen der Organismen 
(Haut, Membranen) immer Gele von ganz geringer Quellbarkeit 
sind, während das eingeschlossene Zellgewebe umgekehrt sehr 
quellbar ist. 

Auf diesen Eigenschaften beruht z. T. auch der Vorgang 
des Alterns. Wie wir im nächsten Abschnitt sehen werden, 
- sind die ersten Entwicklungsstufen des Lebewesens mit starken 
Quellungserscheinungen verbunden. Dieser Quellungsprozeß 
beherrscht aber auch das ganze Leben. Jedes Kolloid hat eine 
Lebenskurve. Im dritten Fötalmonat hat z. B. die menschliche 
Frucht einen Wassergehalt von 94 Prozent, bei der Geburt 
nur einen solchen von 69—66 Prozent. Der Hauptrückgang 
dieses Wassergehaltes findet im fünften Monat statt und so 
erscheinen Föten, die im sechsten Monat ausgestoßen werden, 
runzlig. Wird die Frucht ausgetragen, so rundet sich der Körper 
wieder durch Aufnahme von Fettlagern. Als Erwachsener hat 
der Mensch noch 58 Prozent Wasser, der Greis noch weniger. 
Mit dieser Abnahme ist wieder das Erscheinen von Runzeln 
verbunden. Das Wesen des Alterns liegt also darin, daß die 
Organkolloide ihre Quellbarkeit verloren haben. Während nun 
bei Solen die Alterserscheinungen hauptsächlich in einem 
engeren Zusammenschluß der kolloidalen Teilchen beruhen, 
das heißt, in einer großen Neigung auszuflocken, treten bei 
den Zellen vor allem Änderungen in der Elastizität hinzu, sie 
werden trübe. Je älter eine erstarrte Gelatine wird, desto 
weniger wird sie für gelöste Kristalloide durchgängig, der Stoff- 
austausch wird langsam, die Elastizität geringer, das Volumen 
weniger. Nun ist von großem Interesse, daß jede Arbeits- 
leistung des Körpers mit einer Entquellung verbunden ist. 
Schon bei der Ausflockung beobachten wir zunächst, wie gesagt, 
ein nahes Zusammentreten der kolloiden Teilchen und eine 
Verlangsamung der Brown’schen Bewegung. Sie ist eine 
elektrische Erscheinung, wie wir im 1. Abschnitt sahen, und 


v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 71 





wird durch Kolloide entgegengesetzter elektrischer Ladung be- 
wirkt. Erhitzt man eine Eiweißlösung und setzt ihr Ammonium- 
sulfat zu, so findet sofort Flockenbildung statt, denn Sulfate, 
Azetate, Zitrate und Tartrate vermindern das Quellungsvermögen, 
während es Chloride, Chlorate, Cyanide, Bromide, Jodide und 
Nitrate erhöhen. Zugleich ist auch mit Quellung Wärmeentwick- 
lung verbunden. Es besteht also zwischen Quellungsvermögen 
und den Eigenschaften, die wir mit dem Begriffe der Jugend 
verbinden ein Zusammenhang, während andererseits die Ent- 
quellungserscheinungen sich mit denen des Alterns decken. 
(s. Abbildung.) 

Am Ende des Alterns steht der Tod. Es ist kein momentaner 
Vorgang, wie wir gewöhnlich glauben; es haben nur die äußeren 
Erscheinungen aufgehört. Das Leben der Muskeln erlischt erst 
nach Eintritt der Totenstarre, dann leben aber noch verschiedene 
andere Zellen im Körper weiter. Der Tod entwickelt sich also, 
wie Verworn sagt, aus dem Leben und diese Zwischenzeit 
zwischen dem Aufhören der äußeren Lebenserscheinungen und 
dem völligen Absterben der Zellen nennt man die Nekrobiose. 
Es gibt also keine scharfe Grenze zwischen Leben und Tod 
und dieser selbst beruht auf dem Absterben der Zellen. Der 
Absterbeprozeß beruht aber wieder auf einer unheilbaren Schädi- 
gung des normalen Lebensprozesses. So hat die religiöse 
Seelenlehre eigentlich Jahrtausende lang den Kampf gegen die 
Nekrobiose aufgehalten und die Menschheit aufs schwerste ge- 
schädigt. Verworn unterscheidet zwei Gruppen von Nekro- 
biose: die histologischen Prozesse, bei denen die normalen 
Lebensvorgänge ausfallen und die metamorphotischen 
Prozesse, bei denen sie in perverse Bahnen gelenkt werden 
und entarten. Zu den ersteren gehören z.B. die Atrophien, 
bei denen die lebendige Substanz an Masse einbüßt, die Zelle 
immer kleiner wird und zerfällt. (Dazu zählt das Verhungern.) 
(Abb. 2). Auch die Atrophien infolge Mißbrauchs von Organen 
gehören hier her. Zu den metamorphotischen Prozessen gehört 
besonders die fettige Entartung und die Verkalkung. 

Wir haben nun in diesem Zusammenhange noch kurz eines 
wichtigen Vorganges zu gedenken, nämlich der Formbildung, 
Wie entstehen Formen? Vor allem zunächst, wie entstehen die 
Formen der einfachen Grundlagen aller Organismen, der Zellen 
usw.? Zweifelsohne betreten wir damit eins der allerschwierig- 


72 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 


sten Gebiete biologischen Forschens. Eigenartige Formbildungen, 
die an Pflanzen erinnern, sehen wir ja in den Eisblumen; es 
ist eine kristallinische Erscheinung. Ahmen doch auch die 
flüssigen Kristalle Formen nach, die den einzelligen niedrigen 
Lebewesen, den Protisten gleichen. Auch die Radioben, die durch 
Einwirkung von Radium auf sterile Gelatine, die Baryum- 
individuen, die Eoben sind solche Bildungen. Hier treten neben 
die chemischen Grundlagen des Lebens physikalische Erschei- 
nungen, die seine Formenwelt wachrufen. Bei Formbildungen 
spielt der osmotische Druck eine große Rolle und Leduc und 
andere haben interessante Formen, die solchen der organischen 
Welt gleichen, entstehen lassen. Bedeckt man den Boden eines 
Napfes mit reinem Sand, streut darauf verschieden große Kristalle 
von chromsauren Kali, Eisen- und Kupfersulfat und füllt die Schale 
mit verdünntem Wasserglas, so wachsen darin pflanzenähnliche 
Gebilde hervor, oder erscheinen Formen, die an das Aussehen 
bestimmter Tiere erinnern. Es ist eine Erscheinung, die durch 
das Diffundieren der chemischen Stoffe im Wasserglas, das hier 
wie ein Gel wirkt, hervorgerufen wird, also durch osmotischen 
Druck bedingt wird. Besonders merkwürdig ist, daß bei Ver- 
wendung von Süßwasser auch tatsächlich Binnenwasserformen 
(Schimmelpilze, Moose, Algen), bei Verwendung von Seewasser 
dagegen Meeresformen (Röhrenwürmer, Austern, Kalkalgen, Po- 
Iypen, Napfschnecken) nachgeahmt werden. Selbst die Nahrungs- 
aufnahme niederer Lebewesen läßt sich nachahmen, dann der 
Bau der Zellen in allen Arten, die äußeren Formen von Blättern, 
Blüten, Pilzen, Ästen, von Tieren niederer Art usw. Und es 
ist interessant, daß Leduc zeigen konnte, daß der innere Bau 
dieser Gebilde ebenfalls denen der Lebewesen gleicht, denn 
er enthielt Gruppen von Bläschen und Zellen, gefüllt mit Flüssig- 
keit und getrennt durch Zwischenwände. Es fehlt ihnen nur 
das Leben selbst. So würde es sich erklären, weshalb bereits 
in der Urzeit eine so reichlich gegliederte Formenwelt vor- 
handen ist. (s. Abb. 1.) 


œZ] 


Geschlecht und Gesellschaft 
Neue Folge X, 3 














Originalzeichnung von C. Schildt. 


Heissweckenpeitschen am Fastnachtsmorgen in Holstein. 


Zum Aufsatz: „Das Rutenschlagen“ von Georg Buschan, Stettin. 





DAS RUTENSCHLAGEN — 
EIN FRUCHTBARKEITSZAUBER. 


Von San.-Rat Dr. med. et phil. GEORG BUSCHAN, Stettin. 


B" in das Ende des vorigen Jahrhunderts hinein war es ein 
in Deutschland noch ziemlich verbreiteter Brauch an be- 
stimmten Tagen des Jahres sich gegenseitig mit Ruten leicht 
zu schlagen oder zu streichen. Zahlreich sind die Worte, mit 
denen das Volk diesen Vorgang bezeichnet; Freiherr v. Gutten- 
berg, dem wir hierüber eine eingehende Studie verdanken, 
zählt allein 18 verschiedene Ausdrucksweisen des volks- 
tümlichen Sprachgebrauches auf, die sich indessen nicht auf 
bestimmte Gegenden beschränken, sondern auch anderwärts 
vorkommen. Die gebräuchlichsten Bezeichnungen sind fitzeln 
(wohl von der Fitze, d. i. die Schnur an der Peitsche, entstanden, 
hauptsächlich in Niederbayern und Oberfranken verbreitet), 
futen oder fuän (Niedersachsen. und Oberbayern), kindeln 
(Thüringen, Bayern), tengeln oder dengl’n (Oberbayern, 
Schwaben, thüringische Staaten), pfeffern (Niederdeutschland, 
Schwaben, Oberpfalz), peitschen oder frischgrünpeitschen, 
hauen (Sachsen, Westböhmen), äschen (Braunschweig), 
schmackostern, aus dem slavischen smagaß, litauisch smagöti 
= peitschen, entstanden (Schlesien, Posen, Ostpreußen, Ober- 
hessen), stiepen oder stäupen, utstüpen (Mecklenburg, 
Niedersachsen, Mark Brandenburg, Holstein, Pommern),quitschen 
(Niederdeutschland), streichen (Württemberg, Bayern) u. a. m. 
Der Gegenstand, mit dem diese Handlung vorgenommen wird, 
eine Rute, Gerte oder ein Busch, führten einen entsprechenden 
Namen, wie Fitzel-, Dengel-, Fu&-, Kindel, Pfeffer-, Schmack-, 
Lebensrute, -gerte, -kraut oder buschen, Osterschmack, ebenso 
der betreffende Tag, wie Fudel-, Fitzeltag und schließlich auch 
das Lösegeld, das man spendet, wie Fudel-, Dengel-, Fitzel-, 
Pfeffer-, Quitschgeld oder -lohn. Die Stechpalme heißt im 
Westfälischen und Braunschweigischen auch Fu£. 

Der Brauch des Rutenschlagens oder Fitzelns ist sehr 


alt, schon aus dem 12. Jahrhundert bekannt. Denn 1162 ist 
6 


G -E TG A C. —_ 


74 Buschan: Das Rutenschlagen ein Fruchtbarkeitszauber 


urkundlich belegt, daß „Männer und Frauen sich gegenseitig 
schlugen an zwei Nächten, den sogenannten Fitzel-, Pfeffer- oder 
Peitschnächten, und zwar in den meisten Gegenden die Frauen 
am zweiten Tage nach Ostern ihre Ehegatten und diese am 
dritten Feiertag ihre Frauen. Dies tun sie deswegen, um zu 
zeigen, daß sie beiderseitig schuldig seien fehlerhaftes zu be- 
seitigen, damit nicht zu jener Zeit einer vom andern die ehe- 
lichen Pflichten fordere.“ Als Erklärung dazu diene, daß im 
Mittelalter die Ausübung des Beischlafes an Sonn- und Fest- 
tagen verboten war; dieses Verbot sollten sich die Eheleute 
durch das gegenseitige Peitschen deutlich vor Augen führen. 
Im Jahre 1409 erscheint für das alte deutsche Ordensland zum 
ersten Male der Ausdruck „smackostern“. Ursprünglich mag 
sich das Rutenschlagen auf die Gegend der Geschlechtsteile, 
bezw. des Gesäßes beschränkt haben, und dies am entblößten 
Körper, später mußten aber alle übrigen Körperteile dazu her- 
halten. Beliebt war das Fitzeln des Rückens, der Beine, be- 
sonders der Waden und Füße, ferner der Arme, Hände und 
Fingerspitzen; selbst der Hals, das Gesicht und die Nase blieben 
nicht verschont, d. h. man strich mit der Rute leicht über sie 
hinweg oder vorbei. Selten ist es ein wirkliches Schlagen oder 
Peitschen, wobei allerdings manchmal den davon Betroffenen 
so kräftig zugesetzt worden sein soll, daß sie bluteten, sondern 
vielmehr ein mehr oder minder starkes Streicheln. In früheren 
Jahrhunderten hatte sich die Sitte des Rutenschlagens über 
ganz Deutschland verbreitet, heutzutage ist sie aber, wie alles 
Volkstümliche, mehr und mehr in Abnahme gekommen. Wie 
weit sie noch geübt wird, entzieht sich meiner Kenntnis. Außer- 
halb der schwarz-weiß-roten Pfähle hatte der Brauch auch 
ziemliche Verbreitung gefunden, so in Österreich, der Schweiz, 
Rußland, Schweden, selbst in Frankreich (Normandie) und 
anderwärts. Der Grund für das Nachlassen der Sitte lag in 
ihrem Ausarten, das manche ursprünglich schöne Volksbräuche 
mit sich zu bringen pflegten, so daß polizeiliche Verordnungen 
erlassen werden mußten. Ein solches Verbot erging bereits 
im Jahre 1°99 für die Herrschaft Lauenstein, 1671 für das Hoch- 
stift Eichstedt usw. Die erstere verbot „das Kindeln oder 
Dingeln zu Weihnachten getrieben wird, da die großen starken 
Knechte den Leuten in die Häußer laufen, die Mägde und 
Weiber entblößen und mit Gerten und Ruten hauen“. 


Buschan: Das Rutenschlagen ein Fruchtbarkeitszauber 75 


Es sind bestimmte Tage, an denen das Rutenschlagen 
in Tätigkeit tritt; allerdings ist der Termin nicht überall der 
gleiche, er fällt aber immer in das erste Drittel des Jahres 
(nach altgermanischer Zeitrechnung, die mit der Wintersonnen- 
wende begann). Mit Vorliebe ist dazu der Zeitraum der so- 
genannten Zwölften ausersehen, d. h. der Zeit zwischen Weih- 
nachten und Neujahr. Die alten heidnischen Nordländer faßten 
den Wechsel der Jahreszeiten als einen Kampf des Lichtes 
(Sonne) mit der Finsternis auf und legten das Einsetzen der 
Winterkälte und der kurzen Tage dahin aus, daß der Winter 
als böse Macht die Natur in Schnee und Eis erstarren lasse, 
also anscheinend die den Menschen wohlgesinnte Macht, die 
Sonne, überwunden habe. Der 22. Dezember, an dem der 
Sonnenball am Himmelszelt stillzustehen scheint, also seinen 
tiefsten Stand erreicht hat, war nach ihrer Auffassung der Zeit- 
punkt, von dein an es dem Licht wieder gelingt, zum neuen 
Leben zu erwachen und den Kampf mit den dunklen Mächten 
der Finsternis wieder aufzunehmen. Dieser Tag währte zwölf 
Tage, bis man es an der zunehmenden Länge der Tage deutlich 
merkte, daß die Sonne wirklich als Siegerin hieraus hervorgehen 
wird. Daher waren die Zwölften für die alten Germanen wirk- 
liche Festtage. Unter diesem Gesichtspunkte lag es nahe, auch 
aus dem Körper die feindlichen Mächte, die nach der alten 
animistischen Auffassung Krankheiten, Unheil, Unfruchtbarkeit usw. 
erzeugten, auszutreiben. Daher wurde das Rutenschlagen für 
den Zeitraum zwischen Weihnachten und Neujahr sehr beliebt. 
Mit Vorliebe wählten die jungen Burschen den 26. Dezember, 
den Stefanstag, dazu aus, um die Mädchen zu peitschen — 
Pfefferlostag hieß er daher — und die jungen Mädchen den 
Folgenden oder noch häufiger den 28. Dezember, den Tag der 
unschuldigen Kindlein, um jene dies entgelten zu lassen und 
die Schläge wieder zu geben. Dieser Tag führt daher vielfach 
den Namen Kindeltag. Die Behauptung, dieser Name rühre 
davon her, daß an ihm Herodes alle männlichen Kinder zu 
Bethlehem habe umbringen lassen, trifft nicht zu, vielmehr 
bestand bereits von Alters her die Bezeichnung Kindeltag, die 
Benennung des Tages des unschuldigen Kindlein wurde erst 
später von der christlichen Kirche im Anklang an seinen ur- 
sprünglichen Namen dem 28. Dezember beigelegt, um ihm eine 
christliche Deutung zu geben. — Auch am Neujahrstage wurde 

6* 


76 Buschan: Das Rutenschlagen ein Fruchtbarkeitszauber 


früher gefitzelt. Ein zweiter Abschnitt, in dem das Ruten- 
schlagen vorgenommen wird, ist die Frühjahrszeit. Seine Wahl 
beruht auf der gleichen Voraussetzung, daß um diese Zeit die 
Natur aus dem Winterschlafe zu wachen und Fruchtbarkeit 
zu entwickeln beginnt, und daß man diesem Vorgange am 
Menschen und auch am Vieh zu Hilfe kommen müsse durch 
das Auspeitschen. Mariä Lichtmeß, Sonntag Lätare, Fastnacht- 
dienstag, bezw. Aschermittwoch, Palmsonntag und das Oster- 
fest, ganz vereinzelt auch Himmelfahrtstag und Pfingsten sind 
die Tage des Fitzelns, alles Tage, die den alten Germanen 
heilig waren und daher auch von der christlichen Kirche über- 
nommen, aber in ihrem Sinne gedeutet wurden. Im Spreewald 
besteht augenblicklich noch die eigentümliche Sitte, daß der 
Ortsschulze und drei Schöffen in die einzelnen Häuser am 
Fastnachtstage gehen, jeder mit einem Bündel Birkenruten, die 
an einem langen Stabe mit bunten Bändern befestigt sind, und 
an die Hausbewohner drei Schläge austeilen, wofür sie bewirtet 
werden. Bei dem sogenannten Hudellaufen in Tirol, das an 
dem gleichen Tage stattfindet, schlagen die Läufer die Zuschauer 
mit langen Peitschen. Der Palmsonntag ist als Fitzeltag be- 
sonders in Rußland beliebt; in der Ukraine stellen sich die 
jungen Burschen nach Beendigung des Gottesdienstes vor die 
Kirchentür und schlagen die Frauen und Mädchen auf den 
Rücken; dafür werden die männlichen Langschläfer, die die 
Frühmesse versäumt haben, von diesen aus den Betten gejagt, 
ein in ganz Rußland und in den von Slawen besiedelten 
Landesteilen Deutschlands (Ostpreußen, Posen, Schlesien, 
Böhmen, Mähren usw.) weit verbreiteter Brauch. — Während 
bezüglich des Tages, an dem man sich mit Ruten schlägt, 
keine Übereinstimmung herrscht, wie wir sahen, besteht eine 
solche eher bezüglich der Tageszeit, meistens geschieht dies 
nämlich in den frühen Morgenstunden. Gegenstand des Schlagens 
sind zumeist die Langschläfer, die unvermutet in ihren Betten 
überrascht werden. Burschen fitzeln die jungen Mädchen, 
Eltern die Kinder und umgekehrt, die Kinder auch wohl die 
Paten und Verwandten, selbst den Lehrer, das Gesinde die 
Herrschaft usw. Oft genug begibt man sich auf die Dorfstraße 
und sucht den Vorübergehenden Schläge auf den Rücken, die 
Waden oder die Hände auszuteilen. Alt und jung beteiligt sich 
am Fitzeln. 


Buschan: Das Rutenschlagen ein Fruchtbarkeitszauber 77 


Die Rute, mit der man schlägt, wird von verschiedenen 
Waldbäumen und Sträuchern — v. Guttenberg zählt zwölf 
wildwachsende Bäume und zehn Ziersträucher oder Kräuter auf —, 
dann aber auch von Obstbäumen hergenommen. Zumeist sind 
es die Bäume und Sträucher, die im Frühling zuerst junges 
Grün ansetzen, sodann aber auch die immergrünen Pflanzen. 
Beliebt sind zur Fitzelgerte die Zweige der Birke, des Haselnuß- 
strauches, der Salweide, der Eberesche oder des Vogelbeer- 
baumes (Quitschbaumes), des Holunderstrauches, des Wacholder- 
strauches, des Buchsbaumes, der Fichte, der Stechpalme und 
des Rosmarins oder Seidelbastes, zumeist Pflanzen, die in der 
Götterverehrung der alten Germanen eine wichtige Rolle spielten. 
Aus diesem Grunde knüpfen sich an sie auch sonst noch allerlei 
abergläubische Vorstellungen. Gelegentlich werden Zweige mit 
Beginn des Winters in angewärmtes Wasser gesetzt oder in 
die Nähe des wärmenden Ofens gebracht, um sie vorzeitig zum 
Grünen zu bringen. Verschiedentlich werden die Ruten auch 
mit bunten Bändern und Blumen geschmückt, selbst ganze 
Blumensträuße an sie gebunden, die zudem mit vergoldeten 
Äpfeln, Nüssen u. a. m. ausgeputzt sind. 

Das Rutenschlagen beschränkt sich indessen nicht bloß auf 
die Menschen, sondern auch das Vieh und selbst die Obst- 
bäume, die Saat des Ackers werden mit Rutenschlägen bedacht. 
Am üblichsten ist das Schlagen beim ersten Austrieb des 
Viehs. Nach altem Brauch hörte man mit dem 1. Mai mit der 
Stallfütterung auf, und trieb dann zum ersten Male wieder das 
Vieh hinaus auf die Gemeindewiese. Dieses Ereignis wurde 
von dem Landvolk festlich begangen, das Vieh dabei mit 
Blumen bekränzt und mit einer Rute auf den Rücken geschlagen, 
ein in verschiedenen Teilen Deutschlands, in Österreich, der 
Schweiz, Rußland, Esthland und anderwärts noch ziemlich 
verbreiteter Brauch. Zum Schlagen werden vorzugsweise die 
Zweige der Haselnuß, der Birke, Eberesche, Kornelkirsche, 
Weide, des Wacholders und des Seidelbastes verwendet. In 
Norddeutschland nimmt man mit Vorliebe dazu ein Reis vom 
Ebereschen- oder Quitschenbaum, weshalb die Handlung hier 
Viehquitschen oder auch Viehquatschen heißt. In Westfalen 
hat man dafür den Ausdruck Stärkeschlagen, weil hauptsächlich 
die Stärken, die jungen Kühe, mit der Rute geschlagen werden. 
Zunächst schlägt man das Vieh aufs Kreuz, aufs Euter oder 


78 Buschan: Das Rutenschlagen ein Fruchtbarkeitszauber 


streicht darüber; zuweilen teilt man drei Schläge oder in Form 
eines Kreuzes aus. In Österreich, Niederbayern und der Ober- 
pfalz pflegten die Hütejungen bereits beim letzten Austrieb, am 
Martinstage (10. November) die Gerten für den ersten Austrieb 
im nächsten Jahre zu schneiden, die man daher Martini-, 
Martins-, Mirtnasgerten oder Mirtesgerdn hieß, und am gleichen 
Abend in die Häuser der Viehbesitzer zu bringen, wo man sie 
sorgfältig bis zum nächsten Frühjahr aufbewahrte. Anderwärts 
bestand der Brauch die Ruten erst am zweiten Weihnachtstage 
(Masuren) oder am Gründonnerstage, bezw. Charfreitage (Ober- 
bayern) abzuschneiden. Aus dem Jahre 1732 liegt uns eine 
Magdeburger Urkunde vor, die besagt, daß es „alberne Leute 
unter dem Pöbel gibt, welche in der Christnacht Kohl vor das 
Rindvieh und Pferde stellen, Ruten schneiden, um das Vieh 
damit zu schlagen“ usw. Im Aberglauben der westfälischen 
Bauern muß das Abschneiden der Ruten unter gewissen Förm- 
lichkeiten vor sich gehen; sie müssen nämlich mit einem einzigen 
Schnitt schweigend von einem Aste abgetrennt werden, den 
die ersten Strahlen der Morgensonne treffen; nach oberbayerischem 
Brauch müssen sie vor Sonnenaufgang unbesehen abgeschnitten 
und wortlos nach Hause gebracht werden. — In Ostpreußen 
schlägt man das Vieh erst am Ostermorgen, in Albanien am 
1. März, wenn man am Lätaresonntag von dem „Todaustreiben“ 
ins Dorf zurückkehrt, und in Großrußland am St. Georgstage 
(23. April). 

Das Schlagen der Obstbäume mit einer Rute, einem 
Stock oder einer Stange blickt gleichfalls auf ein ziemliches 
Alter zurück, denn für 1597 wird berichtet, daß die Burschen 
von Büdingen (Oberhessen) in der Walpurgisnacht scharenweise 
mit Stangen ausgezogen wären um über die Äcker zu schießen 
und die Obstbäume zu schlagen. In ganz Norddeutschland bis 
nach Kurland hin war vordem die Sitte verbreitet in den 
Nächten der Zwölften die Stämme und Äste der Obstbäume 
mit Ruten zu peitschen und auch wohl in das Astwerk hinein- 
zuschießen, was man das „Wecken“ derselben nannte. In den 
südlicheren Landesteilen bevorzugte man dazu die Faschings- 
tage (Welschtirol), die Nacht vom Charfreitag zum Oster- 
sonnabend (Deutschtirol, Böhmen, Oberbayern usw.), oder auch 
den 1. Mai (Schwaben), weswegen man das Schlagen der 
Bäume hier als Maierklopfen oder Lenzerwecken bezeichnet. 


Buschan: Das Rutenschlagen ein Fruchtbarkeitszauber 79 


Nachdem wir im vorstehenden die Verbreitung, sowie die 
Art und Weise des Rutenschlagens geschildert haben, liegt die 
Frage nach der Bedeutung und dem Ursprung dieses 
Brauches vor. Derselbe geht, um es sogleich vorweg- 
zunehmen, auf uralte animistische Vorstellungen zurück. 
Wie Ferd. Frhr. v. Reitzenstein an zahlreichen Beispielen aus 
der Völkerkunde nachgewiesen hat, kennt der primitive Mensch 
noch nicht den Zusammenhang zwischen geschlechtlicher Bei- 
wohnung und Empfängnis. Wie er alle Ereignisse seines 
Lebens auf übernatürliche Weise zu erklären sucht, so faßt er 
auf der niedrigsten Stufe der Entwicklung (wie es heutzutage 
die Australier noch tun) auch die Schwangerschaft als über- 
natürlichen Vorgang auf. Erst als er eine höhere Stufe der 
Entwicklung erreicht hatte, d. h. als Mann und Frau sich enger 
aneinander schlossen und nicht mehr eine wilde Kommunalehe 
führten, und zudem die Züchtung von Haustieren wegen ihrer 
kürzeren Trächtigkeit, dem Menschen die Möglichkeit gab, die 
Vorgänge bei der Schwangerschaft zu beobachten und über sie 
nachzudenken, mag ihm die Erkenntnis von einem Zusammen- 
hang zwischen Kohabitation und Empfängnis aufgedämmert 
sein. Eine allgemein anerkannte Tatsache ist ferner, daß der 
primitive Mensch die ganze Umgebung für belebt hält, im be- 
sonderen die Geister seiner Vorfahren in dieser sich aufhalten 
läßt, in den Steinen, Felsen, Bäumen, Pflanzen, Tümpeln, Quellen, 
in der Luft, unter der Erde u. a. m. und alle diese Gegenstände 
für belebt ansieht. Dementsprechend erklärt er sich das Zustande- 
kommen einer Schwangerschaft, die Entstehung eines Menschen 
dadurch, daß ein solcher Vorfahrengeist, den er sich meistens 
in einer Pflanze hausend denkt, in den weiblichen Körper 
hineindringe und sich hier zu einem Menschlein entwickle. 
Dieser Einzug in den menschlichen Körper kann entweder 
durch Zauberei vor sich gehen oder durch Verzehren einer 
Frucht der betreffenden Pflanze, auch schon durch Verweilen 
unter einem Baum, durch das Fällen desselben, wodurch der 
Baumgeist frei werde, durch Berühren desselben oder durch 
Streichen mit einem aus ihm hergestellten Gegenstand (Schwirr- 
holz) u. a. m. Zahlreiche Beispiele nicht nur aus dem Leben 
der Primitiven (im besonderen der Australier), sondern auch 
der modernen Kulturvölker (abergläubische Gebräuche) lassen 
dies deutlich erkennen. Auch das Schlagen mit der Rute 


80 Buschan: Das Rutenschlagen ein Fruchtbarkeitszauber 


zählt zu einem solchen Verfahren der Befruchtung, 
besonders mit einer frischgrünenden, da man aus der Üppig- 
keit, mit der aus ihr das junge Leben sprießt, einen Rückschluß 
auf eine besonders mächtig wirkende befruchtende Kraft 
schließen kann. 

Der kräftige Trieb der Bäume zur Frühjahrszeit legt also 
den Gedanken zu einem Vergleich mit einem männlichen Gliede 
nahe; die Rute wird zu einem Symbol desselben. Die deutschen 
Worte Rute und Gerte, sowie die römische virga (französisch 
verge) bezeichnen auch direkt diese letztere. Daß die Frauen 
mit der Gerte ursprünglich auf die Gegend der Geschlechts- 
teile geschlagen wurden, spricht ebenfalls zugunsten unserer 
Auffassung, schließlich auch der Ausdruck fudeln, der von Fud, 
Vud (Vot) = cunnus abzuleiten sein dürfte, vielleicht auch das 
Wort kindeln = Kindermachen (?). Das Schlagen auf andere 
Körperteile kam erst später auf. Hingegen behielt man an 
den Haustieren die ursprüngliche Stelle des Schlagens bei, denn 
sie werden vorzugsweise auf das Kreuz, die Hüften und das 
Euter, also auf die Körperstellen, die zur Fruchtbarkeit in Be- 
ziehung stehen, gepeitscht. Verschiedene der am Eingange 
angeführten Bezeichnungen für das Rutenschlagen (wie fudeln, 
pfeffern, dengeln) haben im Volksmunde direkt die Bedeutung 
des Begattens angenommen. — Der Umstand, daß gerade zur 
Frühjahrszeit, also zur Zeit des Wiedererwachens der Natur, 
der Liebe und der Paarung das Fitzeln vorgenommen wird, 
hängt offenbar mit der ursprünglichen Bedeutung dieser Sitte 
zusammen. 

Früher bestand verschiedentlich der Brauch junge Eheleute 
bei der Hochzeit mit Ruten zu schlagen. In Roding (Oberpfalz) 
trieb der Hochzeitsbitter die Braut von der Kirchtüre unter be- 
ständigen Schlagen mit einer weißen Birkenrute in die Kirche; 
bei den Polen in Ermland, ebenso bei den Letten im westlichen 
Samlande (um 1526) und bei den Litauern (um 1690) drängte 
man mit einem Stock die Braut ins Schlafgemach bezw. Hoch- 
zeitsbet. Noch vor kaum einen Jahrzehnt soll es in einem 
märkischen Dorfe (Tunxdorf bei Papenburg) üblich gewesen 
sein, daß die jungen Mädchen am 1. Sonntag im Mai (also 
auch wieder zur Frühlingszeit) Spalier bildeten, eine etwa vor- 
handene jungvermählte Frau zwischen sich durchzulaufen zwangen 
und ihr dabei mit einer grünen Gerte leichte Schläge auf den 


Buschan: Das Rutenschlagen ein Fruchtbarkeitszauber 81 


Rücken austeilten, worauf sie ihnen ein kleines Geldgeschenk 
spenden mußte. In Belgien wurden am Kindeltage vorzugs- 
weise die im Laufe des vergangenen Jahres getrauten Paare in 
der Frühe aus dem Bette mittels Ruten getrieben. In Schwaben 
tut die Mutter ihrer Tochter in die Ecken des Brautbettes 
Palmen(Weiden)kätzchen hinein, und in Mittelfranken steckt 
die Braut am Hochzeitstage ein solches in ihr Mieder. Durch 
alle diese Handlungen soll symbolisch angedeutet werden, daß 
den Jungvermählten ein reicher Kindersegen erblühen möge. 
Auch die Sprüche, die beim Fitzeln hergesagt werden, 
nehmen verschiedentlich darauf Bezug, z. B.: „Ich pfeffre eure 
junge Frau, ich weiß, sie hat es gern, ich pfeffre sie aus Herzens- 
grund, Gott erhalte sie gesund!“ In einem Verse, der aus dem 
Jahre 1850 stammt und beim Beklopfen der Obstbäume her- 
gesagt wurde, heißt es: Hüse, büse, up et Jahr tw& — up et 
Jahr noch en paar — denn geiht de Wiege up un dal“, womit 
offenbar auf reichen Kindersegen hingedeutet wird. Im allge- 
meinen aber ist in den Segenssprüchen, die mit dem Ruten- 
schlagen verknüpft sind, die Erinnerung an die Fruchtbarkeit 
schon erblaßt; die in ihnen enthaltenen Wünsche beziehen sich 
mehr auf allgemeines Gedeihen, Gesundheit, Reichtum u. a. m. 
Ein solcher Reim aus Sachsen-Koburg lautet: „Grü(n), grü(n) 
Ehestand — Wachsen Ähren auf dem Land — Daß euch Gott 
behüt, — Daß euch Gott bewahr — Daß euch das Jahr kein 
Leid widerfahr!“, oder „Fitz’l, fitzI Krona — Fitz’! net ums 
Lohna — Fitz’ bloß aus G’fälligkeit — Daß Ihr recht gesund 
bleibt!“ In Deutsch-Böhmen ruft man beim Rutenschlagen aus: 
„Gräun, gräun!“ (d. h. grüne oder bleibe gesund), und in Ruß- 
land: „Werde groß und gesund und reich, Krankheit in den 
Wald, Gesundheit in die Beine!“ Auch ohne daß ein Wunsch 
dabei ausgesprochen wird, ist mit dem Fitzeln beim Volk 
ziemlich allgemein die Annahme verbreitet, daß wer gefitzelt 
werde, jung und gesund bleibe, und in Steiermark nennt man 
das Schlagen mit der Rute direkt den „Frisch und G’sund“. 
Auch mit dem Schlagen des Viehs verknüpft der Volks- 
aberglaube den Wunsch, daß die Tiere fruchtbar sein, wachsen 
und gedeihen, vor Krankheit und Ungeziefer verschont bleiben 
und reichlich Milch geben mögen. Bezeichnend ist es, daß man 
gerade das Jungvieh schlägt (Niederdeutschland, Schweden, 
Normandie) — es sei an den Ausdruck Stärkeschlagen er- 


82 Buschan: Das Rutenschlagen ein Fruchtbarkeitszauber 


innert — und gelegentlich damit die Namengebung des Tieres 
verbindet. 

Recht deutlich tritt der Fruchtbarkeitszauber, der mit dem 
Rutenschlagen verknüpft ist, an dem Peitschen der Obst- 
bäume zutage. Allgemein meint man, dadurch sie anzuregen, 
daß sie sich üppig entwickeln und reichlich Früchte tragen 
oder, wie man in Oberfranken sagt: „Damit sie selbig’s Jahr 
or’nlich trag’'n“. Der Ausdruck „Wecken der Bäume“, wie das 
Schlagen auch wohl heißt, sowie „de Böm bin Bullen bringen“, 
wie man in Oldenburg sagt, wobei man allerdings die Bäume 
nicht schlägt, sondern mit einem Strohseil in der Christnacht 
umwindet und begießt, lassen dies deutlich erkennen. Ver- 
schiedentlich (Schwaben, Thüringen, Oldenburg, Schweden, 
Siebenbürgen usw.) besteht die Förderung der Fruchtbarkeit 
der Obstbäume nämlich nur in dem Umbinden eines Strohseiles 
um den Stamm oder in einem Schütteln; bei letzterem ruft man 
in Thüringen aus: „Schlaf nicht, Bäumchen, Frau Holle kommt“. 
Unter der Frau Holle ist aber die Göttin Perachta, das Urbild 
der Fruchtbarkeit zu verstehen. In Mähren streichelt man die 
Obstbäume mit den von dem Kneten des Teiges für den 
Weihnachtskuchen noch klebrigen Händen und ruft dabei aus: 
„Bäumchen, bringe viel Früchte“, und im Braunschweigischen 
springt und tanzt man in der Sylvesternacht um die Bäume im 
Garten und ruft dabei: „Freuet jüch Böme, Nüjoor is kömen! 
Dit Jär ne Käre vull, up et Jär en Wagen vull“. — Übrigens 
hat man das Schlagen auch auf andere Gewächse ausgedehnt, 
um deren Fruchtbarkeit zu steigern. In Hessen-Nassau z. B. 
schlägt die Hausfrau am Jakobitage (25. Juli) mit einem Stock 
auf einen Krautkopf und spricht dabei: „Jakob-Dickkopp (oder 
Dekkob), Haver (= Häupter) wai mei Kobb, Blarres (= Blätter) 
wai mei Schürz’n, Strunk wai mei Been“. In Südhannover ruft 
man beim Fuön der Menschen (am Fastnachtsabend) aus: „Fassl- 
ahmt, wenn du geren geben wutt, schaßt du sau langen Flaß 
(= Flachs) hebben“ (nämlich so langen Flachs wie der Arm 
des Schlagenden ist). In der Steiermark pflegt man den Ort, 
wo Pilze zu wachsen pflegen, mit einem Kranewitt-(Wacholder) 
Bunten oder einer einjährigen Haselrute zu schlagen, damit im 
nächsten Jahre der Boden wieder solche wachsen läßt. 

Auf Grund der zahlreichen Argumente kann es keinem 
Zweifel unterliegen, daß das Schlagen mit der Rute ursprüng- 


Fehlinger: Persönliche Fortpflanzungshygiene 83 


lich einen Zauber bedeutet hat, mit dem man den Zweck ver- 
folgte, den in dem frischen, kräftigen Grün als Wohnsitz 
hausenden Geist der Fruchtbarkeit auf Menschen und Tiere 
zu übertragen. Es lag nahe, ebenso wie die Haustiere, auch 
die gleichsam zum Haushalt gehörigen Obstbäume und Garten- 
pflanzen mit der Rute zu behandeln, um auch sie der befruch- 
tenden Kraft des betreffenden Geistes teilhaftig werden zu 
lassen. Mit der Zeit wurde dieser Aberglaube dahin erweitert, 
daß das Schlagen mit der fräischgrünenden Rute ganz allgemein 
die Gesundheit fördern, im besonderen vor Krankheit — in 
Franken sagt man direkt vor dem Zipperlein —, das Vieh auch 
vor Ungeziefer, besonders Flöhen, Mücken, Fliegen (Schaum- 
burg-Lippe, Österreich-Schlesien) bewahren, bezw. wenn von 
derartigen Dingen befallen, befreien solle. Mit Recht hat man 
daher dieses Schlagen auch das Schlagen mit der Lebensrute 
genannt. 


U 


PERSÖNLICHE FORTPFLANZUNGSHYGIENE. 
Von H. FEHLINGER, München. 


wischen persönlichem Gesundsein und den Fortpflanzungs- 

vorgängen bestehen enge Beziehungen. Schon der Eintritt 
der Geschlechtsreife wirkt auf den ganzen Menschen, auf Körper 
und Geist. Oft kommt es in dieser Zeit zum Auftreten bis 
dahin verdeckt gewesener Mängel, doch gestaltet sich häufig 
auch ohne solche der Gesundheitszustand des reifenden Men- 
schen ungünstig. Bei Knaben ist daran in gar nicht wenigen 
Fällen die Schwächung des Körpers und geistige Nieder- 
gestimmtheit infolge fortgesetzter Masturbation schuld. In keinem 
anderen Lebensabschnitt ist es so wichtig, das Alleinsein zu 
vermeiden als in diesem. Bei Mädchen scheinen Schädigungen 
der Gesundheit aus gleicher Ursache verhältnismäßig selten 
vorzukummen. Um sie gegen vielleicht folgenschwere seelische 
Erschütterung zu schützen, soll ihnen die Bedeutung der Men- 
struation, noch bevor sie eintritt, verständlich gemacht werden. 
Aufklärung über die Fortpflanzung zuerst im Pflanzen-, dann 
im Tierreich ist Sache der Schule, die Entschleierung des 
Rätsels der Fortpflanzung beim Menschen wäre am besten den 
Müttern vorzubehalten. Bedauerlicherweise sind von den 


84 Fehlinger: Persönliche Fortpflanzungshygiene 


Müttern der Arbeiter- und Kleinbürgerbevölkerung nur wenige 
so erzogen, daß sie zur Erfüllung dieser Aufgabe imstande sind. 

Schwächliche Mädchen sollen während der Menstruation 
das Bett hüten, doch dürfen sie dabei nicht verzärtelt werden. 
Wenn sich keine krankhaften Erscheinungen ergeben, ist späterhin 
lediglich auf Reinlichkeit, auf Schutz vor Erkältung und auf 
Stuhlgang zu sehen. Anstrengungen und seelische Aufregungen 
müssen vermieden werden. Den Anforderungen an Reinlichkeit 
wird durch Tragen einer Menstruationsbinde sehr gedient; ob 
Wäschewechsel zu empfehlen ist, oder ob er tatsächlich all- 
gemein die Blutung verstärkt, ist noch nicht sicher erwiesen. 
Lauwarme Waschungen und Spülungen schaden nicht und sie 
können entzündlichen Vorgängen vorbeugen. Wichtig ist be- 
sonders zur Zeit der Geschlechtsreife der Mädchen die regel- 
mäßige Stuhl- und Harnentleerung, denn jede starke Füllung 
des Mastdarmes und der Blase verursacht einen Druck auf die 
dazwischenliegenden Geschlechtsorgane, der zu weitgehenden 
Störungen führen kann. Namentlich Dehnung der Gebärmutter- 
bänder kann leicht veranlaßt werden. 

Selbst nach dem Reifealter treten bei vielen Frauen mit 
der Menstruation Beschwerden auf, welche so weit gehen können, 
daß die Betroffenen völlig arbeitsunfähig sind. Aber das trifft 
keineswegs bei der Mehrheit aller Frauen zu, sondern vielmehr 
nur in Ausnahmefällen. 

In neuerer Zeit haben manche Biologen auch beim Manne 
ein regelmäßiges Auf und Ab der Lebensvorgänge angenommen, 
ähnliche Verhältnisse, wie sie bei der Frau in der Menstruation 
sich kundgeben. Am meisten Beachtung fand Wilhelm Fließ’ 
Lehre von den periodischen Tagen. Sie besagt, daß der Lebens- 
verlauf einem Periodengesetz folgt, und zwar laufen in allen 
Lebewesen zwei Perioden ab, die eine von genau 28 tägiger, 
die andere von genau 23 tägiger Dauer. Nur, weil diese beiden 
Perioden sich miteinander mischen, entsteht der Anschein von 
Unregelmäßigkeit. Fließ glaubte auch feststellen zu können, 
daß die periodischen Änderungen des persönlichen Zustands 
plötzlich auftreten, daß den Tagen des periodischen Miß- 
befindens ein Tag erhöhten Wohlseins voraufgeht und daß die 
periodischen Tage nicht den Einzelnen allein treffen, sondern 
immer zugleich mehrere nahe Blutsverwandte. Eine übersicht- 
liche Darstellung seiner Auffassungen von der Periodizität der 


Fehlinger: Persönliche Fortpflanzungshygiene 85 


Lebensvorgänge, welche auch die Fortpflanzung einschließt, 
gibt Flie in dem Büchlein „Vom Leben und vom Tod“ 
(4. Aufl., 1919). 

Krankheiten beeinflussen stets die Fortpflanzungsfunktion, 
und zwar meist hemmend. Doch ist auch eine Einwirkung im 
gegenteiligen Sinne möglich. So wird allgemein angenommen, 
daß bei tuberkulösen Menschen die Fähigkeit zu Geschlechts- 
tätigkeit und Fortpflanzung außerordentlich gesteigert ist; es 
kann sich hier wohl um eine nur scheinbare Wechselbeziehung 
handeln, weil die Tuberkulose in jenen Volksschichten am 
häufigsten ist, bei denen mangels Ablenkung durch geistige 
Tätigkeit das Geschlechtliche im allgemeinen eine große Rolle 
spielt. Entschieden viel zu weit mit der Annahme sexueller 
Bedingtheit von Krankheiten, besonders Geisteskrankheiten, 
geht die Freud’sche Schule der Psychopathologen!) welche 
nicht nur verschiedene Neurosen, sondern auch Blödsinn, Homo- 
sexualität, die Basedowsche Krankheit usw. auf sexuelle Er- 
lebnisse in der Kindheit oder frühen Jugend zurückführen. 

Erzwungene Enthaltsamkeit von den natürlichen sexuellen 
Funktionen hat nicht bei allen Menschen die gleichen Folgen, 
ebensowenig wie das Verhalten in sonstiger Hinsicht alle in 
derselben Weise betrifft. Die Unterdrückung des Geschlechts- 
triebes macht sich nicht nur bei körperlich oder geistig kranken 
Menschen in Gestalt verschiedener Übel geltend, sondern auch 
bei Gesunden; ja in der Regel wird die Sache wohl so liegen, 
daß die Krankheit nicht die Ursache des sexuellen Verlangens, 
sondern die Wirkung des Unbefriedigtseins ist, das nur allzuoft 
zu abnormer Befriedigung drängt. Ein Gewöhnen an sexuelle 
Abstinenz ist bei allen Menschen ausgeschlossen, deren Puber- 
tätsdrüsen richtig funktionieren. Ebenso leicht als der Fort- 
pflanzungstrieb wäre der Trieb auf Erhaltung des eigenen 
Lebens zu ertöten. Der Umstand, daß man das noch nicht 
öffentlich anerkennt, ist die Hauptschuld an dem sexuellen 
Elend beider Geschlechter. Aber es geht auch nicht an, ganz 
allgemein statt der Enthaltsamkeit die Art der geschlechtlichen 
Befriedigung zu empfehlen, die unter den bestehenden Ver- 
hältnissen mindestens den Männern leicht möglich ist, nämlich 
den Verkehr mit Prostituierten, denn dieser Verkehr bedroht 


1) Hitschmann, Freuds Neurosenlehre. Leipzig 1911. 


86 Fehlinger: Persönliche Fortpflanzungshygiene 


sowohl die persönliche Gesundheit wie das Wohl der ganzen 
Lebensgemeinschaft, er trägt weitaus am meisten zur Ver- 
breitung der Geschlechtskrankheiten bei, welche den Erkrankten 
nur allzuoft das ganze weitere Leben verderben und sie zur 
Fortpflanzung unfähig machen oder mindestens das Hervor- 
bringen gesunder Nachkommen in Frage stellen. Selbst die 
strengste Überwachung der Prostitution kann nicht hindern, 
daß durch sie das Volk verseucht wird; denn besonders der 
Tripper, dessen Gefahren noch gewöhnlich unterschätzt werden, 
ist durchaus nicht immer leicht feststellbar. Einigen Schutz 
gegen sexuelle Ansteckung bieten Condome, doch ist dieser 
Schutz durchaus nicht vollkommen, da viel minderwertige 
Ware verkauft wird, die bei der Benutzung zerreißt. Überdies 
werden chemische Schutzmittel sowohl gegen Tripper wie 
Syphilis empfohlen (beispielsweise Protargol, Argonin oder 
Nargo! gegen erstere und Waschungen mit Sublimatlösung von 
1 Promille gegen letztere Krankheit). Unsicher ist die Ent- 
fernung von Ansteckungsstoffen aus der Harnröhre durch Uri- 
nieren nach dem Geschlechtsakt. Immerhin soll es nicht unter- 
bleiben, wenn sonst kein Schutzmittel angewendet wurde. Es 
sei aber kein Mann, der sich mit Prostituierten abgibt, so leicht- 
sinnig, auf ein Schutzmittel zu verzichten. Den Frauen kann 
äußerste Reinlichkeit nur nutzen, nicht bloß außer, sondern 
ebensowohl in der Ehe. Hat eine Infektion stattgefunden, so 
ist raschestens ärztliche Hilfe zu suchen, denn nur so kann 
verhütet werden, daß ein geschlechtliches Leiden bleibend wird. 
Das gilt besonders vom Tripper. Woh! heilt dieser in der 
Mehrzahl der Fälle selbst ohne Behandlung in einigen Wochen 
aus, aber verhältnismäßig oft kommt es vor, und zwar 
gewöhnlich in der dritten Woche, daß er auf die hintere Harn- 
röhre übergreift, in welche die Harnblase, die Vorsteherdrüse 
und die Samenleiter münden, und daß es zu Entzündungen 
dieser Organe, sowie der Hoden und Nebenhoden kommt. 
Die Hodenentzündung pflegt sich nach acht Tagen langsam 
zurückzubilden; doch geschieht diese Rückbildung in der Regel 
nicht restlos. Es bleiben im Kopf und Schwanz des Neben- 
hodens, gelegentlich auch in den Samensträngen, harte Knoten 
-zurück, welche jahrelang bestehen bleiben können. Diesen 
Verhärtungen kommt eine wesentliche Bedeutung zu. Sie sind 
wie Narben aufzufassen. An diesen Stellen ist das Stützgewebe 


Fehlinger: Persönliche Fortpflanzungshygiene 87 


vermehrt und narbig-entzündlich umgewandelt; die Samenkanäle 
können durch das gewucherte und narbige Stützgewebe ab- 
geschlossen werden. Auf die Weise wird den Samenfäden 
der Weg verlegt, und zwar in der Regel dauernd. Die Folge 
ist Zeugungsunfähigkeit. Auch wenn es nicht zu solcher 
Narbenbildung kommt, kann die Fortpflanzungsfähigkeit des 
Erkrankten aufgehoben werden. In den Ausführungsgängen 
der Vorsteherdrüse und in den Samenblasen bleiben Tripper- 
erreger unter Umständen manchmal jahrelang am Leben, 
gerade wie in den Drüsen und Gängen der vorderen Harn- 
röhre. Sie unterhalten dann eine Örtliche Entzündung und 
Eiterung. Das kann ohne jede Empfindung des Kranken ge- 
schehen. In anderen Fällen spürt derselbe doch gelegentlich 
in dieser Gegend Brennen oder Stechen. Der Saft der Vor- 
steherdrüse enthält oft Trippererreger und Eiter, was wichtig 
ist, denn diesem Saft kommt die Aufgabe zu, die Samenfäden 
beweglich zu machen, so daß sie in das weibliche Ei ein- 
dringen und dieses befruchten können. Der kranke Vorsteher- 
drüsensaft erfüllt seine Aufgabe nur mehr ungenügend: Un- 
fruchtbarkeit der Ehe ist die Folge. Endlich hat die Erkrankung 
dieser Teile die verhängnisvolle Wirkung, daß sie nicht gar so 
selten die Begattungsfähigkeit des Mannes zerstört. Es bildet 
sich ein Komplex nervöser Erscheinungen heraus, den man 
mit dem Namen Prostataneurasthenie zusammenfaßt und dessen 
Teilerscheinung die Impotenz sein kann. Beim Weibe betrifft 
die Tripperentzündung gewöhnlich nur die Harnröhre, den 
Gebärmutterhals und die am Scheideneingang befindlichen 
`” Drüsen; selten kommt es auch zu heftigen Scheidenentzün- 
dungen. Manchmal ergreift die Krankheit jedoch sogar die 
Gebärmutter, das Beckenzellgewebe neben der Gebärmutter, 
Eileiter und Eierstöcke. Sind die Trippererreger so weit vor- 
gedrungen, so ist gewöhnlich auch die Fortpflanzungsfähigkeit 
aufgehoben, weil es zu Wucherungen und Verwachsungen 
kommt, welche das Austreten von Eiern und deren Zusammen- 
treffen mit Samen hindern. Das in die Gebärmutterhöhle ge- 
langte Ei kann sich in der entzündeten Schleimhaut nicht ein- 
betten, und wenn auch dies geschehen wäre, dann stößt sich 
nach wenigen Wochen oder höchstens Monaten der Schwanger- 
schaft die Schleimhaut samt der Frucht ab; es kommt zur 
Fehlgeburt, zum Abortus. Der Tripper ist die hauptsächlichste 


88 Fehlinger: Persönliche Fortpflanzungshygiene 


Ursache der Unfruchtbarkeit der Ehe, sei es, daß er das Weib 
selbst steril macht, sei es, daß er die Zeugungsfähigkeit des 
Mannes verdirbt2). Am gefährlichsten sind wohl jene Tripper, 
die sich anfänglich nicht viel bemerkbar machen; gerade dann 
besteht die Neigung der Krankheitserreger, tiefer in den Körper 
einzudringen. Ein alter Tripper mag sich bei dem Behafteten 
vielleicht kaum mehr bemerkbar machen, weil die ihn ver- 
ursachenden Kleinlebewesen ihren Nährboden schon stark „ab- 
gegrast“ haben und nur mehr kümmerlich dahin vegetieren. 
Wenn sie aber auf einen neuen Nährboden gebracht werden, 
dann erwachen sie zu neuem Leben und erweisen sich wieder 
als so giftig wie einst. Es stellen sich daher bei Frauen, die 
sich nie für angesteckt gehalten haben, schwere Wochenbett- 
erkrankungen ein, wenn infolge der Erneuerung der Uterus- 
schleimhaut den Trippererregern abermals ein guter Nährboden 
geschaffen wurde. 

Die Trippererreger können von den Schleimhäuten weg- 
geführt und in andere Organe verpflanzt werden; in der Regel 
geschieht das durch das Blut. Es kommt dann zur Erkrankung 
der Gelenke, Sehnenscheiden und anderer seröser Häute, der 
Augen, der Knochen und des Rückenmarks. 

Bei Syphilis sind die Krankheitserscheinungen viel schwerer, 
die Gesundheit wird durch sie mehr geschädigt als durch 
Tripper, doch sind die Gefahren der Weiterverbreitung kleiner, 
weil die Erreger weniger leicht übertragen werden können: 
Um in den Körper eindringen zu können, verlangen sie eine 
Wunde. Überdies sind die körperlichen Entstellungen und 
die funktionellen Beeinträchtigungen der Syphilitiker oft so 
bedeutend, daß sie weiteren Geschlechtsverkehr und namentlich 
die Eheschließung unmöglich machen. Während aber der 
Tripper fast nur durch Geschlechtsverkehr verbreitet wird, 
findet Übertragung von Syphiliserregern auch sonst oft statt. 
Es ist schwer zu sagen, welche der beiden Krankheiten das 
größere Unheil stiftet. Gemeinsam ist ihnen, daß ihr Über- 
stehen keinen Schutz gegen neuerliche Ansteckung gewährt. 
Sofort nach der Heilung können die Krankheiten wieder er- 
worben werden; der Tripper kann trotz noch bestehender 
Erkrankung (z. B. der Harnröhre) auf andere Schleimhäute 
(Augenbindehaut) übertragen werden. 


2) Notthafft, Geschlechtskrankheiten und Ehe, S. 9—15. 





Taf. Il. Zellteilung oder Mitose (n. Moll) 


Zum Aufsatz „Zum Verständnis der inneren Sekretion“ 
von F. v. Reitzenstein. 


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Fehlinger: Persönliche Fortpflanzungshygiene 89 


Die Syphiliserkrankung kommt in manchen Fällen nicht 
deutlich zum Ausdruck, woher. es kommt, daß anscheinend 
gesunde Frauen, die doch krank sind, die Krankheit auf 
die noch ungeborenen Kinder übertragen; oder die Über- 
tragung findet nach der Geburt beim Säugen statt. Die Über- 
tragung der Krankheit im Mutterleib täuscht ihre Vererbung 
vor, doch gibt es eine solche nicht. „Je nach dem Zeitpunkt, 
zu welchem die Frucht von der Mutter angesteckt wird, ent- 
stehen syphilitische Fehlgeburten, Frühgeburten, Geburten toter 
Kinder, Geburten kranker und zuletzt Geburten erst gesunder, 
dann bald krank werdender Kinder. Das Übergehen der 
Syphilis von der Mutter auf das Kind müssen wir den Syphilis- 
rückfällen bei der Mutter gleichwertig betrachten. Werden 
auch bei der Mutter, wie so häufig, die Rückfälle nicht be- 
achtet, in der Erkrankung der Kinder finden sie ihren Aus- 
druck. Allmählich werden bei den kranken Müttern die Rück- 
fälle seltener. Daher sehen wir häufig in Syphilisehen erst 
Fehl-, dann Frühgeburt, dann ausgetragene tote, kranke, scheinbar 
gesunde und wirklich gesunde Kinder geboren werden. Die 
nicht seltenen Ausnahmen, wo zwischen kranken Kindern ge- 
sunde geboren werden und umgekehrt, erklären sich sehr 
einfach aus den Unregelmäßigkeiten, mit welcher alle Syphilis- 
rückfälle auftreten. Es ist Glücks- beziehungsweise Unglücks- 
sache, ob eine Schwangerschaft in eine rückfallsfreie oder in 
eine Rückfallsperiode hineinfällt.* (Notthafft, a. a. O., S. 61—62.) 

Die meisten in der Gebärmutter mit Syphilis angesteckten 
und lebend geborenen Kinder sterben bald. Überhaupt sind 
Syphilitikerehen durch große Kindersterblichkeit ausgezeichnet. 
Unfruchtbar macht Syphilis nur in Ausnahmefällen. Im allge- 
meinen erlischt die Übertragbarkeit der Syphilis (auch ohne 
Behandlung) nach etwa 5 Jahren, oft aber hält sie weit länger 
an. Auch der Tripper kann ein Jahrzehnt hindurch und länger 
ansteckungsfähig bleiben. Zeitweiliges Nichtauftreten von Krank- 
heitszeichen täuscht bei Tripper- wie bei Syphiliskranken nur 
zu oft Gesundheit vor und es kommt vor, daß sich ledige 
Leute in dem Zustande zur Eheschließung herbeilassen, dann 
aber den chronischen Tripper oder die rückfällige Syphilis auf 
den Ehepartner übertragen. 

Die Meinung herrscht vor, daß in der Ehe das sexuelle 


Bedürfnis weiblicherseits in der Regel bedeutend geringer sei, 
7 


90 Fehlinger: Persönliche Fortpflanzungshygiene 


als männlicherseits. Die Sache ist zwar noch nicht endgiltig 
entschieden, aber es ist ganz gut denkbar, daß im Laufe von 
Jahrtausenden eine Ausmerzung der Frauen mit starkem Ge- 
schlechtstrieb stattfand, da seit undenklichen Zeiten die damit 
Ausgestatteten sozial zurückgesetzt und benachteiligt wurden. 
Es ist auch möglich, daß oft durch die Roheit der Ehemänner 
beim ersten Verkehr mit ihren Frauen sexuelle Anästhesie als 
‚Dauerzustand bei diesen entsteht und die Weckung der nor- 
malen Sinnlichkeit ausbleibt. Dasselbe Ergebnis kann fort- 
gesetztes Unbefriedigtbleiben junger Ehefrauen haben. (Vergi. 
Wolfgang Sorge, Geschichte der Prostitution, S. 24 u. folg.) 

Die Häufigkeit des ehelichen Geschlechterverkehrs, welche 
der eigenen Gesundheit und langer Dauer der Fortpflanzungs- 
fähigkeit am dienlichsten ist, läßt sich nicht für alle Menschen 
gleichmäßig festsetzen; die persönliche Veranlagung ent- 
scheidet. Wo verschiedene Naturen in der Ehe zu- 
sammentreffen, ist die Gefahr des Ehebruches und 
damit der Einschleppung von Krankheiten am wahr- 
scheinlichsten. Noch schlimmer ist es, wenn auf einer Seite 
ein perverser Trieb vorhanden ist. Es gibt sehr harmonische 
Ehen, in denen der Verkehr nur selten stattfindet, ohne daß 
einer der beiden Teile etwas vermißt. Wahrscheinlich ist, daß 
das Verlangen nach Geschlechtsverkehr nicht nur mit zuneh- 
mendem Alter, sondern auch dann abnimmt, wenn zahlreiche 
Kinder vorhanden sind. Namentlich auf seiten der Frau ist 
diese Tatsache ausgeprägt. 

Rasch aufeinanderfolgende Geburten sind im Interesse der 
Gesundheit sowohl der Mutter wie der Kinder zu vermeiden. 
Sie schwächen nicht nur den mütterlichen Organismus und 
führen zu frühzeitigem Altern (das oft die Ehe unglücklich 
werden läßt), sondern belasten die Familie und das Volk mit 
schwächlichen Mitgliedern. Durch eine Reihe von Unter- 
suchungen ist nachgewiesen, daß namentlich die Sterblichkeit 
im ersten Lebensjahr bedeutend geringer ist, wenn die Ge- 
burten ziemlich weit auseinanderliegen, als wenn sie rasch 
aufeinanderfolgen. Beträgt der Zeitraum zwischen zwei Ge- 
burten weniger als ein Jahr, so sterben doppelt so viele Säug- 
linge, als wenn der Geburtenzwischenraum zwei Jahre umfaßt. 
Weniger deutlich ausgeprägt ist der Unterschied noch bis zum 
5. Lebensjahre verfolgbar. 


Fehlinger: Persönliche Fortpflanzungshygiene 91 


Die Wahrscheinlichkeit einer bald auf eine Geburt folgenden 
neuerlichen Empfängnis wird durch Säugen des Kindes ver- 
mindert, doch schließt das Säugen nicht die Möglichkeit einer 
Empfängnis überhaupt aus, was man bei den Naturvölkern 
deutlich beobachten kann, denn bei manchen von ihnen kann 
man nicht selten schwangere Frauen sehen, welche das vorher- 
gegangene Kind noch an der Brust haben. Auch in Europa 
ist eine Wechselwirkung zwischen Stilldauer und Geschwister- 
entfernung festgestellt worden. 


Dauernder Präventivverkehr in der Ehe hat in weitaus 
den meisten Fällen seelische Schädigungen zur Folge; er läßt 
beide Teile unbefriedigt, macht gereizt und entfremdet die 
Ehegatten. Es wird wenige Ehen geben, in denen viele Jahre 
lang Präventivverkehr gepflogen wurde, ohne daß es zum Ehe- 
bruch kam. Von den einzelnen Arten des Präventivverkehrs 
ist der Coitus interruptus die verbreitetste und schädlichste. 
Diese Tatsache ist ein Beweis dafür, daß beim Menschen ein 
Fortpflanzungstrieb (neben dem Vereinigungstrieb) besteht. 
Notwendig ist dauernder Präventivverkehr im Falle hochgradiger 
Beckenenge, die eine normale Geburt ausschließt. Auch manche 
Krankheiten, die erfahrungsgemäß durch die Schwangerschaft 
verschlimmert werden und die das Leben unmittelbar bedrohen, 
erfordern Empfängnisverhütung, freiwilligen Verzicht auf die 
Fortpflanzung im Interesse der behafteten Person und darüber 
hinaus im Interesse der Lebensgemeinschaft. Albert Moll 
(Handbuch der Sexualwissenschaften, $S. 450) rechnet hierzu: 
Marasmus, schwere Herzfehler, schwere Tuberkulose und 
‚Nephritis; doch ließe sich die Liste der Krankheiten, die Ver- 
zicht auf die Fortpflanzung geboten erscheinen lassen, leicht 
verlängern. Die Empfängnisverhütung ist bei körperlich oder 
geistig mangelhaften Personen nicht nur ratsam, sondern dringend 
geboten. 





DAS WEIB IM .ALTINDISCHEN EPOS. 
Von Universitäts-Professor Dr. RICHARD SCHMIDT, Münster. 
(Fortsetzung.) 

M*® es aber nun mit der Polyandrie gewesen sein wie es will; 

mag das Gericht von der Sittenlosigkeit mancher Gegenden 
Indiens auf Wahrheit beruhen, und mag es an Stellen nicht 
fehlen, an denen die völlige Ungebundenheit in Liebesangelegen- 
heiten als das Ursprüngliche und Ideale bezeichnet wird, so 
ist und bleibt doch die Achtung vor der Ehe bestehen, und 
die so häufig bekundete ernste, strenge Auffassung davon 
kehrt auch im Epos wieder. Dem entspricht denn auch das 
umständliche Zeremoniell bei der Hochzeitsfeier, aus dessen 
verwirrender Fülle von altererbten abergläubischen Handlungen 
zwei schöne Ziele winken: Kindersegen, d. h. Reichtum an 
tüchtigen Söhnen, und ein in gegenseitiger Liebe wurzelndes 
inniges Verhältnis der Gatten. Daß man auch in Indien — 
geradeso wie bei uns — oft genug diesem Ideale ferngeblieben, 
daß in der rauhen Wirklichkeit dieses Sehnsuchtsbild nicht 
selten verdunkelt wurde, das will nicht viel sagen. Daß man 
sich überhaupt so ein Ideal aufgerichtet hatte, war schon 
Ehre genug. 

Schon daß man die Hochzeitsfeier auf einen glückbringenden 
Tag und eine verheißungsvolle Stunde verlegte, spricht für die 
außerordentliche Wichtigkeit der Begehung, nicht minder auch 
die Menge der heiligen Sprüche, die dazu rezitiert wurden, 
und das festliche Gepränge, was man dabei entfaltete. Die 
Schilderung freilich von dem geradezu verschwenderischen 
Aufwande, den sich Janaka leistet, darf man nicht wörtlich 
nehmen; denn gleich 100000 Kühe mit vergoldeten Hörnern 
den Brahmanen zu schenken, ist sicherlich eine dichterische 
Übertreibung, ebenso wie die 10000000 Kleider, die der Braut- 
vater seinen Töchtern als Aussteuer mitgibt. Aber wir finden 
doch in diesen epischen Schilderungen der Hauptsache nach 
die heiligen Handlungen wieder, die in den Ritualbüchern als 
zur richtigen Feier gehörig aufgezählt werden: die Übergabe 
des Mädchens an den Bräutigam, die Handergreifung, die 
Feuerspende, die dreimalige Umschreitung des Opferfeuers, 
die sieben gemeinschaftlichen Schritte des jungen Paares. Es 


R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos 93 


fehlen nicht die verschiedenen glückbringenden Geräte und 
Gegenstände wie junge Zweige, Wasserkrüge, geröstetes Korn, 
Muscheln, Pauken und Trommeln, und Rauschtrank wird in 
erheblichen Mengen genossen. 

Ist nun die Ehe rite geschlossen, so erwartet man von der 
Frau, daß sie ihren Gatten mit Nachkommenschaft beschenkt, 
vor allem mit einem Sohne. Das ist ihre große Lebensaufgabe, 
in deren starker Betonung die ganze Literatur mit dem Epos 
einig ist. Welche schrecklichen Folgen die Unterlassung der 
Sorge um die Fortpflanzung des Geschlechtes hat, zeigt ein- 
dringlichst die von Meyer S. 111 f. wiedergegebene Legende 
von Jaratkaru, der als ausgedorrter, von der Luft lebender 
Büßer die Welt durchzieht und eines Tages hungergequälte, 
ausgemergelte, trübselige Wesen mit dem Kopfe nach unten 
in einer Höhle hängen sieht, wobei sie sich an einem Büschel 
Gras festhalten, dessen letzten Stengel eine Maus benagt, 
Aus Rede und Gegenrede ergibt sich schließlich, daß diese 
Jammergeschöpfe die Ahnen Jaratkaru’s sind, die der Mangel 
an Nachkommen aus ihrer reinen, heiligen Welt in solch elende 
Lage gebracht hat; und wenn die Maus, d. h. die Zeit, ihre 
Zähne auch in den letzten Sproß, eben jenen Jaratkaru, schlägt. 
der seine Ahnen allein noch retten kann, indem er heiratet und 
einen Sohn in die Welt setzt — dann stürzen sie in die Tiefe 
der Hölle, und allerdings auch er! Askese oder Opfer oder 
was es sonst noch für Entsühnungsmittel geben mag, hat nicht 
die rettende Stärke wie die Fortsetzung des Geschlechtes. 
Der bestürzte Jaratkarı geht nun in sich, und wiewohl er 
bereits ein alter Mann ist, begibt er sich doch auf die Suche 
nach einer Frau, die er denn schließlich auch in der Schwester 
des Schlangenkönigs findet. 

„Mit viererlei Schuld werden die Menschen auf Erden 
geboren“, sagt Pandu (Mah. I, 120), „gegen die Ahnen, die 
Götter, die Heiligen und die Menschen, und sie muß nach 
dem heiligen Gesetz ihnen bezahlt werden. Die Menschen 
aber, die dieser vierfachen Schuld nicht zurzeit wahrnehmen, 
für die gibt's keine himmlischen Welten; so haben die Rechts- 
kenner festgesetzt. Durch Opfer befriedigt man die Götter, 
durch das Studium der (von den Heiligten verfaßten) Veden 
und durch Askese die Heiligen, durch Söhne (und damit) durch 
Ahnenspenden die Väter, und durch wohlwollende Barmherzig- 


94 R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos 


keit die Menschen.“ — „Die Verschenkung eines Königreiches, 
die Geburt eines Sohnes und die Errettung eines Feindes aus 
seiner Not, die drei sind eins und dasselbe“ (III, 243, 13). 

So gilt denn unter den vier Lebensstadien der Inder der 
Stand des Hausvaters als der würdigste und die Ehe als das 
für die Frau Wichtigste. Eine Anerkennung derselben als 
Mutter haben wir darin zu sehen, daß Epos und eine ganze 
Reihe Rechtsgelehrter gebieten, der Gattin, besonders der in 
gesegneten Umständen befindlichen, zuerst zu essen zu geben; 
bei Visnu (LXVII, 69) wird sie in diesem Falle sogar von dem 
Gaste bedient. Das steht allerdings mit der indischen Ge- 
pflogenheit durchaus nicht im Einklang: das Kāmasūtram z. B. 
zählt von der Gattin so viele Pflichten her, die alle ihre 
demütige Stellung kennzeichnen, daß sein Verfasser gewiß, auch 
wenn er es nicht ausdrücklich bekennt, den strengen Stand- 
punkt Narada’s gebilligt hat, der eine Frau rasch aus dem 
Hause jagen heißt, wenn sie vor ihrem Gemahl zu essen wagt. 
Möglich, daß man gegen schwangere Frauen in diesem 
Punkte zuvorkommender dachte. 

Eine unfruchtbare Ehe ist ein sehr schweres Mißgeschick; 
die kinderlose Frau gilt für wertlos; was sie ansieht, das 
nehmen die Götter beim Opfer nicht entgegen, denn es gilt 
als befleckt, und die Gaben, die eine Gatten- und Kinderlose 
darreicht, rauben dem Empfänger die Lebenskraft. Darum 
sucht man nach allen möglichen Mitteln, um Kindersegen zu 
erzielen; das vorzüglichste darunter aber ist die Askese, neben 
der seit alten Zeiten natürlich auch Zaubersprüche und Schwarz- 
kunst im Schwange waren. Da finden wir die von einem 
Heiligen besprochene Mango-Frucht, nach deren Genuß die 
beiden Frauen des Brhadratha schwanger werden, nachdem 
alle Feueropfer und sonstige auf die Geburt eines Sohnes ab- 
zielende Darbringungen versagt hatten. Auch die Umarmung 
eines Baumes wirkt befruchtend, wozu man Meyer, S. 120, 
Anm. 3 vergleichen möge. 

Wenn aber weder Glaube noch Aberglaube helfen will, 
und auch keiner von den heilkräftigen Tempeln mit ihren 
„barmherzigen Brüdern“ in der Nähe ist, so bleibt schließlich, 
falls die Schuld am Manne liegt, als letzte Zuflucht das 
„Zeugungsvikariat“ übrig, das auch im Mahäbhäratam eine 
große Rolle spielt, so daß selbst der Schüler als ehelicher 


R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos 95 


Stellvertreter seines Lehrers erscheint. Solche Liebesdienste 
erregten keinen Anstoß, wenn der Mann seine Frau selbst er- 
mächtigte, bei einem Anderen ihr Heil zu versuchen. Aber 
aus den Klauseln, mit denen die Juristen das Levirat (niyoga) 
umgeben, läßt sich doch mit Leichtigkeit entnehmen, daß diese 
Sitte dem strengen brahmanischen Bewußtsein widerstrebte und 
nur noch besprochen wurde, weil sie aus der vedischen Zeit 
überliefert war und deshalb nicht gut umgangen werden konnte. 
Mit der Beschreibung der zwölf Arten von Söhnen, die 
die Rechtsgelehrten aufgestellt haben und auch das Mahäbhäratam 
mehrfach erwähnt (Meyer S. 131 ff.), wollen wir uns nicht 
aufhalten. Erfreulicher ist das Loblied des Kinderglücks, das 
Sakuntala (I, 74) anstimmt: „Wenn der Sohn dem Vater ent- 
gegeneilt, befleckt mit dem Staub der Erde (in dem er gespielt 
hat), und seine Glieder umarmt, was könnte es Herrlicheres 
geben als das!... Der Brahmane ist der beste unter den 
Zweifüßlern, die Kuh die vorzüglichste unter den Vierfüßlern, 
der beste unter den Ehrwürdigen ist der Lehrer, der Sohn das 
Vorzüglichste unter allem, was man berührt.“ Aber wie die 
Eltern ihre Kinder lieben, so vergelten diese nun auch die 
Zärtlichkeit. „Kein Land und kein Volk kennt eine schönere 
Stellung der Kinder zu ihren Eltern, wenige eine, die sich 
der indischen vergleichen ließe“, sagt Meyer $. 146 mit Recht. 
Die Mutter zu preisen wird das Epos so wenig müde wie 
die Iyrischen Dichter und die trockenen Juristen. Sie steht 
unter den Respektspersonen an allererster Stelle; wie einen 
Gott soll man sie ehren; tausendmal wiegt sie den Vater auf; 
alle Flüche lassen sich abwenden und lösen, aber nicht einer 
Mutter Fluch. Trotzdem aber stand in den epischen Zeiten 
so gut wie noch heute „der hohen Rangordnung der Mutter 
ihre in vieler Hinsicht niedere Wertung als Weib entgegen“, 
da ja vor dem Gesetze das patriarchalische System galt. Wir 
ersehen jedoch aus zahlreichen Stellen, daß damals die Frau 
im allgemeinen eine bedeutendere Rolle gespielt hat als später. 
Jedenfalls ist es doch beachtenswert, daß die Söhne nicht nur 
der leiblichen Mutter, sondern auch den übrigen Frauen des 
Vaters gegenüber eine liebevolle Gesinnung bekunden. 
(Fortsetzung folgt.) 


IE 


96 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 


ZUM VERSTÄNDNIS DER INNEREN SEKRETION 
UND DER VERJÜNGUNG. 
Von FERD. FRHR. VON REITZENSTEIN, Dresden. 


II. 
Die Zelle und der Befruchtungsvorgang. 

W" ein Gebäude aus kleinsten Teilen, etwa aus Back- 

steinen errichtet ist, so ist auch der menschliche Körper, ja 
jeder Organismus, also auch jede Pflanze aus kleinsten Teil- 
chen entwickelt, die man Zellen nennt. Aber zwischen einem 
Backstein und der Zelle besteht ein fundamentaler Unterschied. 
Wie das Haus, trotz kunstvollstem Aufbaues ein lebloses Ge- 
bilde ist, so ist es auch der Backstein. Die Zelle dagegen 
lebt. Jede einzelne dieser zahllosen — nur dem Mikroskop 
sichtbaren — Zellen unseres Körpers ist Träger aller jener 
Vorgänge, die man die Lebensvorgänge nennt. Der Begriff 
Lebewesen besteht also nicht darin, daß einem an sich leb- 
losen Körper — etwa einem „Erdenkloß“* — eine „Seele ein- 
geblasen“ ist, sondern das Wesen des Lebens knüpft sich in 
gleicher Art schon an jedes der zahllosen Bausteinchen, an 
jede Zelle, jedes Leben ist aufs engste verknüpft mit dem 
„Material“, aus dem diese Zelle selbst besteht. 

Zunächst sehen wir bei flüchtiger mikroskopischer Be- 
trachtung, daß die Zelle aus dem Zellenleib und dem Zellen- 
kern besteht. Die Begrenzungsart der Zelle gegen die anderen 
Zellen ist nicht absolut sicher, denn nicht jede Zelle scheint 
eine Zellhaut oder Membran zu besitzen. Sie gleicht dann 
einem einfachen Tröpfchen, dessen Masse allerdings nach. außen 
hin eine andere Beschaffenheit zu haben scheint. Die Ober- 
flächenspannung zwingt sie in Tröpfchenform. Der Zellenleib 
ist gebildet von der eigentlichen Zellsubstanz oder dem Proto- 
plasma; es stellt zunächst eine stark quellungsfähige, haupt- 
sächlich aus Eiweiß, Wasser und Salzen bestehende Masse 
dar. Doch darf man es nicht einfach als einen chemischen 
Körper definieren, sondern als einen biologischen Begriff, 
denn es lebt. Die wichtigsten seiner Bestandteile sind Proteine, 
besonders das Plastin, das der Hauptlebensträger zu sein 
scheint. Die Proteine sind kolloidale Stoffe, die höchst kom- 
pliziert zusammengesetzt sind und überaus hohes Molekular- 


v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 97 


gewicht besitzen. Hauptbestandteile sind wie bei allen Eiweiß- 
arten die Aminosäuren, stickstoffhaltige Substitutionsprodukte 
der verschiedenen Fettsäuren‘). Wie nun die Atome zu Mole- 
külen zusammentreten (s. Aufs. I in Heft I), so bilden diese 
manchmal weitere Einheiten, die Nägeli Mizellen genannt hat. 
Bei ihnen liegen die Moleküle kettenartig nebeneinander fest- 
gebunden, so daß sie gleichsam ein Netz bilden, zwischen 
dessen Maschen sich bei der Quellung die Wassermoleküle 
einlagern. (Imbibition.) Da aber Mizellenverbände weder 
Stoffwechsel noch Teilung vollziehen, können sie nicht die 
einfachsten Träger des Lebens sein. Diese müssen vielmehr 
so gebaut sein, daß kleinste Gruppen (Mizellenverbände) ver- 
schiedener Eiweißarten dicht nebeneinander in einer Einheit 
liegen, so daß eine Wechselwirkung von Quellen und Entquellen 
entsteht. Diese Wechselwirkung wird uns immer wieder ent- 
gegentreten; wir werden sie bereits bei den einzelnen kleinsten 
uns noch erkennbaren Bestandteilen der Zelle beobachten. 
Daraus folgt, daß die Zelle nicht der kleinste lebensfähige 
Verband ist, und bereits Darwin nahm daher die sogenannten 
Gemmulae oder Keimlinge an, aus denen dann die Zellen 
aufgebaut erscheinen. (Hertwig nennt sie Bioblasten, Verworn: 
Biogene, Weißmann: Biophoren etc.) 

- Da das Protoplasma lebende Substanz ist, besteht es also 
zunächst aus solchen kleinsten Einheiten. Wir dürfen annehmen, 
daß die erste lebende Materie in dieser Form, als eine Art 
belebter Schleim, auf der Erde erschien. Aus ihm sonderten 
sich Tropfen ab, in denen sich deutlich zwei verschiedene 
Eiweißsubstanzen unterscheiden, die Kernsubstanz und das 
Plasma (Häckels Moneren). Die Kernsubstanz ist aber noch 
über das Plasma verteilt; erst ihre Vereinigung zu einem Kerne 
bedingt das Wesen der eigentlichen Zelle. 


21) Aminosäuren entstehen durch hydrolitische Spaltung der Eiweiß- 
stoffe. Es sind organische Verbindungen, die in ihren Molekülen stets 
die sauern Karboxylgruppe — COCH und die basische Aminogruppe 
— NH, enthalten, Sie können sowohl mit Basen als mit Säuren Salze bilden 
(amphotere Elektrolyte). Es können sich die — COOH-Gruppe der einen 
Säure mit der — NH,-Gruppe einer anderen verbinden, wodurch ein Peptid 
entsteht. Die Peptide zerfallen wieder in Di- und Polypeptide. Die 
Eiweißkörper sind nun wahrscheinlich hochmolekulare sehr kompliziert 
gebaute Polypeptide verschiedener Aminosäuren. 


98 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 


Bei schärfster Vergrößerung läßt sich aber im Protoplasma 
selbst eine feine Struktur erkennen. Freilich wurde noch 
keine richtige Einigung über die Art dieser Struktur erzielt. 
Sicher ist, daß die Struktur des Protoplasma einem Wechsel 
unterworfen ist, daß die Schaumform besonders für den Kern 
wenig wahrscheinlich ist, daß aber dagegen unbedingt fädige 
Anordnungen bestehen und, wie wir sehen werden, in Form 
der Spindelfasern etc. deutlich hervortreten. Auch kleine Körn- 
chen sind darin vorhanden, sie sind dem Protoplasma ein- 
gelagert und scheinen an den Fäden anzuliegen. Man nennt 
sie Mikrosomen und das Fadennetz Mitom. 

Unsere Abb. I zeigt das 
schematische Bild einer Zelle 
mit Zellkern. p ist das Proto- 
plasma, in dem die Fädchen- 
substanz mit dem eingelagerten 
Mikrosomen sichtbar ist. In 
der Mitte erscheint der Zellkern 
(Nucleus) k, der ebenfalls sehr 
feine Details erkennen läßt. Er 
ist in jeder Zelle vorhanden 
und besteht aus einem Netz 
feiner Lininfäden und Nuklein- 
stränge, die wieder aus Reihen 
kleinster Körnchen (Chromi- 

Abb. 1. Zelle mit Kern nach Günther. olen) bestehen, die den Linin- 
fasern aufgelagert sind. Zwischen diesem Gerüste liegen kleine 
Körperchen, die Kernkörperchen oder Nucleoli, die aus 
Paranuklein bestehen und im Kernsafte, der Albumine gelöst 
enthält, liegen. Die Chromiolen bestehen aus Chromatin, ver- 
mutlich einem Nukleinprotoid (Protamin), in dem Phosphor- 
säure eine besondere Rolle spielt. Sie wachsen selbst und 
teilen sich. Vom Protoplasma unterscheiden sie sich haupt- 
sächlich durch ihre Begierde Farbstoffe aufzunehmen. Das 
Paranuklein (oder Pyrenin) hat diese Neigung auch, aber es 
trennt sich scharf vom Chromatin. Die zum Färben benutzten 
Anilinfarben zerfallen nämlich in zwei Gruppen; die saueren 
Anilinfarben wirken auf das Paranuklein und die basischen 
auf das Chromatin. Unsere Abb. 1 zeigt innerhalb des Kernes 
alle diese Details; ein Kernkörperchen ist oben links sichtbar. 





km. ' 


zu“ 


v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 99 


In gleicher Weise Abb. 2. In dieser sind aber noch andere 
Teile der Zelle zu sehen. Da tritt uns vor allem links ein 
eigenartiges strahliges Gebilde entgegen, das man Zentrosoma 
l nennt. Es besteht zunächst 

£ aus einer meist gleichartig 

erscheinenden Masse, dem 

„mu Zentroplasma, in der ein 
oder zwei Kernchen liegen, 

die Zentriolen. Sie sind 

in schärfsten Mikroskopen 

>! eben noch sichtbar. Außer- 
dem enthält die Zelle noch 
sogenannte Organellen. 

Man bezeichnet so Ein- 

N, schlüsse, die nicht etwa 

chr nur momentan auftreten, 

Abb. 2. Zelle (schematisch) sondern dauernder Natur 


pi Protoplasma, km Kernmembran, 1 Linin, 
chr Chromiolen, nu-Nucleolus, s Centrosoma, Sind und zu den wesent- 


sn aemembrah: lichen Bestandteilen der 
Zellen gehören. Dazu sind auch die Vakuolen, kleine von 
Gas oder Flüssigkeiten erfüllte Hohlräume zu rechnen, dann 
verschiedene Fett- und Öltröpfchen, Dotterkügelchen und 
ähnliches. 
Da die Zelle dem Stoffwechsel unterworfen ist, also 
Nahrungsstoffe aufnimmt und wieder abgibt, müssen wir uns 
auch um die Ausscheidungsprodukte der Zellen kümmern. 
Hier sind zwei Möglichkeiten gegeben. Entweder werden sie 
vollständig durch den Stoffwechsel des Körpers entfernt oder 
sie werden zwischen den Zellen aufgespeichert und als Inter- 
cellularsubstanz bezeichnet. Zu dieser Substanz gehören 
auch die Umwandlungsprodukte der äußeren Schichten (Exo- 
plasma) von Protoplasma selbst. Wo nicht derartige Sub- 
stanzen bestehen, liegen die Zellen direkt aneinander oder sie 
greifen durch Fortsätze des Protoplasma ineinander über. 
Wir besitzen also in unserem Körper zweierlei Arten von 
Zellen; solche, die durch direktes Aneinanderlegen den Körper 
aufbauen und solche, die gleichsam eine Einzelexistenz führen: 
die Keimzellen. Diese zerfallen in männliche (Samen- 
körperchen, Spermatozo&n) und in weibliche (Eichen, Ovium). 
Während die Eichen zu den größten Zellen des menschlichen 





100 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 


Körpers gehören, sind die Samenkörperchen den kleinsten bei- 
zuzählen. Das weibliche Eichen steht gerade an der Grenze 
der Sichtbarkeit mit bloßem Auge; es hat etwa */,mm (0,2 mm) 
Durchmesser; man nennt seine Protoplasma auch Dotter und 
seinen Kern Keimbläschen, seinen Nucleolus: Keimfleck, 
während die Membran, die es umgibt zona pellucida genannt 
war. Der Dotter zerfällt in das eigentliche Protoplasma oder 
den Bildungsdotter und das Deutoplasma oder den 
Nahrungsdotter. Die männlichen Samenkörperchen weichen 
insofern von der bisher beschriebenen Form der Zelle ab, als 
ihre sehr geringe Protoplasmamasse dem Zellkern (Köpfchen) 
als beweglicher Schwanz anhängt. Zwischen dem Köpfchen 
und dem eigentlichen Schwanz ist ein Mittelstück eingeschoben, 
in dessen kopfwärts gerichteten Teil das Zentrosoma liegt 
und dessen übriges Stück einen Achsenfaden enthält, um den 
ein anderer Faden wie eine feine Spirale gewunden ist. So 
ein Samenkörperchen ist 0,05 mm lang, das Köpfchen 
0,003 mm breit. In einem cmm Samen sind etwa 60000 
solcher Samenkörperchen enthalten, so daß ein Mann, der bei 
einer Beiwohnung etwa 3—4 ccm Samen abgibt, damit 
3 x 1000 X 60.000 = 180 Millionen (resp. 240 Millionen) Samen- 
körperchen auf das Weib überträgt. 

Der wichtigste Lebensvorgang der Zelle ist ihre Fort- 
pflanzung, d.h. ihre automatische Vermehrung durch Teilung 
(Mitose). Man könnte sie auch als ein Wachstum der Zelle 
über das normale Maß hinaus bezeichnen. Diesem Vorgang 
unterliegen sowohl die den Körper aufbauenden Zellen als die 
Keimzellen. Je kleiner eine Zelle ist, desto größer ist ver- 
hältnismäßig ihre Oberfläche, wie wir im 1. Aufsatz in Nr. I der 
Zeitschrift genau ausführten. Wächst also die Zelle im Innern, 
so entsteht ein Mißverhältnis zwischen der inneren und äußeren 
Substanz. Wird nun die Grenze erreicht, so muß eine gewalt- 
same Änderung erfolgen und diese ist eben die Teilung der 
Zelle. Denkt man sich die Zelle aus kleinsten Einheiten be- 
stehend (— Biogenen —) so könnte man sie etwa mit einem 
Bienenstaat vergleichen, der sich ebenfalls teilt, wenn seine 
Einzelwesen an Zahl zugenommen haben, denn das Wachstum 
der Zelle würde auf einer Vermehrung der Biogenen beruhen. 
Untersuchen wir nun den Vorgang näher. Wie gesagt, bestehen 
sowohl die Chromiolen als die Zentriolen aus Biogenen. Die 


v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 101 


Teilung beginnt also hier. Wir können zunächst eine Ver- 
größerung des Zentrosoms durch Imbibition (Quellung) be- 
obachten. Die Quellungsflüssigkeit wird dem Protoplasma 
entnommen. Zunächst beobachten wir denn auch, daß dieses 
stärker lichtbrechend wird und sich gegen das Zentrosoma zu- 
sammenzieht. Es tritt eine Strahlungsbildung ein, die wir 
bereits in Abb. 2 beobachten können. Das eine Zentralkörperchen 
teilt sich, es erscheinen zwei (Diplosoma) Tfl. II Fig. A, die 
nun auseinanderrücken und sich in den beiden Polen der Zelle 
aufstellen, so daß zwei Strahlungsfiguren entstehen. (Siehe 
Tfl. II Fig. B.C.D.). Gleichzeitig geht nun im Zellkern eine 
Veränderung vor. Die Chromiolen des Netzwerkes ordnen sich 
zu SFanlTER, gleich Perlenketten an, Abb. 3, die man Chromo- 
somen nennt. (Tfl. II Fig. B u. C). Haben 
nun die beiden Zentrosomen die Pole 
erreicht, dann legen sich die Schleifen 
der Chromosomen in eine der Äquator- 
fläche entsprechende Ebene (Tfl. II Fig. D). 
Die Bildung der Chromosomen scheint 

< nichts anderes als die Folge der durch die 
Abb. 3. Chromosomen Quellung des Zentrosomes veranlaßten Ent- 


aus Chromiolen zusam- s i LT 
mengesetzt(Samenzele quellung der übrigen Zellteile, die sich auch 


eines Salamander) nach uf dem Kern erstreckt, zu sein. Zwischen 
beiden Polen entsteht eine Art Spindel (Kernspindel) aus 
feinsten Fädchen (Linin), durch die die Chromosomen, die sich 
der Länge nach geteilt haben (Tfl. II Fig. E) in gleichen Hälften 
nach oben und nach unten gezogen werden (Tfi. II Fig. F). In 
diesem Momente schnürt sich die Zelle in der Mitte ein (Tfi. II 
Fig. G) und trennt sich durch. Kaum sind die Chromosomen 
in der Nähe der entsprechenden Zentrosomen angelangt, so 
beginnen nun sie ihrerseits Quellungserscheinungen zu zeigen. 
Ihre Linien werden unklar, verwaschen und erscheinen dadurch 
in ihrer Gesamtheit wieder als Netzwerk; es sind Tochter- 
kerne entstanden, während sich die Zelle in zwei Tochter- 
zellen gespalten hat (Tfl. II Fig. H u. J). 

Demnach entstammt jede Zelle wieder einer anderen und 
schon 1858 konnte Virchow den klassischen Satz: Omnis 
cellula e cellula (jede Zelle aus einer anderen Zelle) aufstellen, 
der heute durch zwei weitere, nämlich omnis nucleus e nucleo 
(jeder Zellkern entsteht wieder aus einen Zellkern) und omnis 





102 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 


gemmula e gemmula (jedes Biogen entsteht wieder aus einem 
Biogen) erweitert werden kann. Diese Vorgänge bestehen nun 
für alle Zellen in der Natur zu Recht; bei Organismen mit 
getrennten Geschlechtern aber ist weiterhin eine Vereinigung 
der beiderseitigen Geschlechtszellen, also die Befruchtung nötig, 
d. h. es muß vorher das Samenkörperchen in das Ei eindringen. 

Nun ist für jedes Wesen die Zahl der Chromosomen eine 
absolut festliegende und Art bestimmende. Alle Zellen des 
Menschen enthalten z. B. höchstwahrscheinlich 24 Chromosomen; 
folglich auch das menschliche Ei und das Samenkörperchen. 
Durch ihre Vereinigung würden nun 48 entstehen. Das ist un- 
angängig und so geht der Befruchtung ein Vorgang der Ver- 
minderung der Chromosomen voraus, so daß die Zahl der 
Chromosomen der Eizelle und der Samenzelle vor der Be- 
fruchtung die Hälfte der Chromosomen der Körperzellen des 
betreffenden Tieres ist. Man nennt diesen Vorgang die Reifung. 

Zunächst wissen wir nun aus Erfahrung, daß in erster 
Linie bei den höher stehenden Säugetieren, also auch beim 
Menschen eine Befruchtung nur möglich ist, wenn der Same zum 
Ei gelangt, d. h. wenn ein Samenkörperchen in das Eichen ein- 
dringt. Sein Zweck ist die Entwicklung anzuregen und die 
väterlichen Erbstoffe mit den mütterlichen in der 
Frucht zu vereinen (Entwicklung und Vererbung). So- 
bald nun ein Samenkörperchen in das Ei eindringt, bildet sich 
sofort eine Membran um das Ei, die das Eindringen eines 
zweiten Samenkörperchens verhindert. Die Bildung dieser Mem- 
bran scheint sowohl durch eine Fett lösende Substanz des Samen- 
körperchens und durch die Wirkung einer basischen Fettsäure 
zu geschehen. Vermutlich führt das Protoplasma des Samen- 
körperchens etwas freie Oleinsäure. Nun ist der Kern des 
Samenkörperchens im Ei angelangt (Tfl. IlI Fig. a 1) und nähert 
sich dem Eikern. Der männliche Kern hat aber ein Zentrosom 
mitgebracht (Tfl III Fig. a 2). Die Wirkung des Samenkernes 
ist nun vor allem die, daß sich sehr schnell Nukleinstoffe aus 
dem Eiprotoplasma bilden,!) aus denen sich Säuren unter 


2) An sich ist, wie Loeb gezeigt hat, der Hauptbestandteil des Samen- 
kernes ein nukleinsaures Salz, dessen basischer Teil ein Eiweißkörper, das 
Protamin ist. Die Orundlage der Nukleinsäure ist aber, wie oben gesagt, 
wahrscheinlich eine kondensierte Phosphorsäure, die für die erste Ent- 


v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 103 


gleichzeitiger Ionenbildung entwickeln, wodurch im Ei eine 
Gelbildung eintritt (s. Aufsatz I in Heft 1 S. 33 und 38—40). 
Dabei werden dann eine Reihe von Nahrungsstoffen absorbiert. 
Die weitere Entwicklung des nun befruchteten Eies kann aber 
nur bei Anwesenheit von Sauerstoff, den wir durch die 
Atmung aufnehmen, vor sich gehen. Nun erfolgt der Vorgang 
der Zellteilung, wie oben geschildert, nur wird jetzt dabei 
der Chromatingehalt des männlichen und des weiblichen Zell- 
kernes verarbeitet. Es teilt sich zunächst das Zentrosom (Tfl. IIl 
Fig. a 3). Dann quillt der männliche Kern unter Heranziehung 
von Stoffen aus dem Eiprotoplasma auf das 10—20 fache und 
erreicht die Größe des weiblichen Kernes (Tfl. III Fig. a4 und 
Tfi. HI Fig. b A—C, wobei in A der männliche mit s, der 
weibliche Kern mit e bezeichnet ist). Im Verlaufe von etwa 
20 Minuten verschmelzen dann beide Kerne zu einem (in unsern 
Bildern nicht dargestellt). Es tritt die Chromosomenbildung auf, 
deren eine Hälfte folgerichtig dem Eikern, deren andere dem 
Samenkerne entstammt, so daß nun die Gesamtzahl der Chromo- 
somen der befruchteten Eier wieder der der übrigen Zellen des 
Individuums gleich ist. Die in den Polen stehenden Zentro- 
somen ziehen nun die Hälfte der männlichen und die Hälfte der 
weiblichen Chromosomen an sich (Tfl. III Fig. a 6 und b E und F). 
Dann schnürt sich die Zelle durch und ihre Tochterkerne sind 
nun in ihrem Chromatingehalt aus väterlichen und mütterlichem 
Erbstoff gemischt (Amphimixis [Tfl. II, Fig. b G)). 

Der Charakter jeder Zelle ist nun bestimmt durch die 
Art ihres Stoffwechsels (er ist beim Menschen anders als etwa 
beim Pferd oder beim Fliegenpilz).. Sollen nun die Eigen- 
tümlichkeiten einer Zelle vererbt werden und so wieder das 
gleiche Wesen erstehen, so muß der charakteristische Stoff- 
wechsel übertragen werden und das geschieht eben dann, wenn 
sowohl Kernsubstanz als Protoplasma auf die Tochterzellen 
vererbt wird. Bei zweigeschlechtlichen Wesen wird dabei, wie 
wir gesehen haben, der Stoffwechsel der beiden Eltern 
kombiniert, d.h. das Wesen der väterlichen und mütterlichen 
Ahnen übertragen. Das nennt eine Vererbung. 


wicklung aus dem Eiinhalt genommen wird, der aber an sich keine Nuklein- 
säure enthält, dafür aber Lecithin (s. Aufsatz I) und Fett. Lecithin besteht 
aber aus 2 Hauptgruppen: Glycerin-+ Phosphorsäure und Fettsäure-+ Cholin. 


104 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 


Vererbt werden aber auch die Geschlechter. Über die 
Entstehung der Geschlechter wissen wir noch wenig. Umsomehr 
wird allerdings von gewissen Seiten mit der Frage „Wie zeugt 
man einen Knaben oder ein Mädchen nach Wunsch“ Unfug 
getrieben. Die Wissenschaft ist hier noch in den Anfängen. 
Von den verschiedenen Beobachtungen, die hier gemacht worden 
sind, ist eine der interessantesten bei Insekten beobachtet 
worden. Es zeigte sich, daß bei Reifung der Samenzellen die 
Chromosomen sehr ungleich erscheinen und zwei Arten davon 
vorhanden sind, die sich durch ihren Chromatingehalt unter- 
scheiden. Es gibt z. B. Insekten (Gryllus domesticus), bei denen 
das Geschlechtschromosom (Heterochromosom oder 
X-Chromosom) im Ei geteilt wird, so daß jedes Tochterei ein 

X-Chromosom enthält (Abb. 4 
9 (0000000. . unten), beim Samenkörperchen 
; gedonnnen. aber nicht geteilt, so daß das 
eine Tochterkörperchen das 

e .  X-Chromosom hat, das andere 

en nicht. Bei anderen Insekten 
erscheint neben dem X- 

Chromosom noch ein anderes, 
das Y-Chromosom, wobei 


`z 
x 


Abb. 4. Die Chromosomen der 
Wanze. Idie der Samenzelle II die 


der Eizelle. In beiden Fällen er- dann in jede Tochterzelle ein 

scheinen links die Gruppen vor der 

Teilung des Samenkörperchens (oben) anderes wandert usw. Nun ent- 

resp. des Eies (unten), rechts aber die ss . 

einzeinen aufgelegten Chromosomen. steht bei diesen Insekten immer 

Die Geschlechts- oder X-Chromo- i 

somen sind nicht ausgefüllt (weiß) männliches Geschlecht, wenn 
nach Kammerer. das Eichen von einem Samen- 


körperchen befruchtet wird, dem das X-Chromosom fehlt, 
weibliches aber, wenn die Befruchtung mit dem X-Chromo- 
som erfolgt. Es ist möglich, daß dieser Vorgang Rückschlüsse 
auf dem Menschen erlaubt. 


NA 


Geschlecht und Gesellschaft 
Neue Folge X, 4 








Taf. I. Junges Karolinenpaar (Faisleute). 


Zum Aufsatz: Külz „Aus dem Liebes- und Gesellschaftsleben der 
aussterbenden Karoliner“. 





Taf. Il. Alter Jap-Karoliner mit seinem Vermögen (Steingeld u. alte Kanone). 


Zum Aufsatz: Külz „Aus dem Liebes- und Gesellschaftsleben der 
aussterbenden Karoliner“. 








Taf. III. Ngollog, Klubhaus mit Steingeld. 
Zum Aufsatz: Külz „Aus dem Liebes- und Gesellschaftsleben der aussterbenden Karolirer. 





r 


ÜBER DEN BEGRIFF DER IMPOTENZ 
DES WEIBES. ' 

Von Dr. med. KURT FRIEDLAENDER, Berlin-Lichterfelde. 

m allgemeinen nimmt man an, daß die Frau doch nur in 

einer verschwindend kleinen Zahl von Fällen zu einem 
Coitus außerstande sei, und daß diese vereinzelten Fälle mit 
wenigen Worten erklärt und abgetan seien. 

Der Begriff der Impotenz ist uns bis jetzt nur beim Manne 
geläufig, und es ist daher ratsam, zur Klärung der Termino- 
logie von dieser Störung beim Manne auszugehen, zuvor aber 
sich den normalen Vorgang klar zu machen. Unter der Potenz 
eines männlichen Individuums verstehen wir die Fähigkeit, den 
Beischlaf in physiologischer Weise auszuüben. Erforderlich ist 
dazu eine ausreichende Erektion und zur Beendigung des 
Coitus die Ejakulation. Die Potenz ist der Ausdruck eines 
genügend starken Geschlechtstriebes, der wiederum nicht eine 
elementare somatische und psychische Leistung ist, sondern 
eine Resultante aus dem Zusammenwirken einer Anzahl von 
Grundkräften. Diese Funktionen beruhen teils auf Funktionen 
des Gehirns, teils auf der Wirksamkeit der Keimdrüsen. Eine 
vermittelnde Tätigkeit spielt das Zentrum genitospinale im 
Rückenmark. Bei ausbleibender oder unvollkommener Erek- 
tionsfähigkeit des membrum virile spricht man von einer 
Impotentia coeundi; als körperlich bedingte Gründe nenne ich 
nur allgemeine Schwäche, das Alter und Nervenleiden, die das 
Erektionszentrum im unteren Sakralmark direkt schädigen. 
Wenn aber auch körperlich alle Bedingungen zu einer Erektion 
gegeben sind, so können doch Hemmungsvorstellungen irgend 
welcher Art den Ablauf des Erektionsmechanismus so stören, 
daß der Erfolg vereitelt wird. Wir wissen, daß das Erektions- 
zentrum unter dem herrschenden Einfluß des Vasodilatatoren- 
zentrums der Oblongata steht. Die psychische Tätigkeit des 
Großhirns hat auf das Gebiet der genitalen Vasodilatatoren 
auf dem Wege über das Zentrum der Oblongata im positiven 
und im negativen Sinne einen Einfluß. Diese psychischen 

8 





106 Friedländer: Über den Begriff der Impotenz des Weibes 


Hemmungen sind ein ungemein häufiger aber der Therapie 
gut zugänglicher Grund der männlichen Impotenz. Trotz 
fehlender Erektionsfähigkeit kann eine normale Ejakulation mit 
Samenfäden vorhanden sein. Von einer Impotentia generandi 
dagegen spricht man, wenn unabhängig von einer Impotentia 
coeundi die Spermatogenese fehlt oder wenn, ganz allgemein 
gesprochen, zum Beispiel nach Durchschneidung des Samen- 
stranges keine Samenfäden nach außen befördert werden, 
Der gewöhnliche Sprachgebrauch nennt solche Männer steril. 

Diese bis heute gebräuchliche Einteilung der Impotenz in 
eine Impotentia coeundi und Impotentia generandi haftet zu sehr 
am Äußerlichen und Oberflächlichen und steht nicht auf der 
gleichen Stufe mit unseren jetzigen Vorstellungen und Kennt- 
nissen dieser Störung des Geschlechtslebens. 

Wir verdanken Magnus Hirschfeld eine bessere Einteilung, 
besser, weil sie durch eine genauere Spezifizierung der Im- 
potenz nach ihren Angriffspunkten uns das Verständnis der 
weiblichen Impotenz wesentlich erleichtert. Er unterscheidet 
eine Impotentia cerebralis, spinalis, genitalis und germinalis. 
Bei der Impotentia germinalis haben wir zu trennen zwischen 
einer intrasekretorischen und extrasekretorischen. Unter der 
extrasekretorischen germinalen Impotenz ist ein Zustand zu 
verstehen, bei dem keine Keimprodukte nach außen befördert 
werden, beim Manne also keine Samenfäden, beim Weibe 
keine Ovula. Diese letzte Form entspricht der Impotentia gene- 
randi, alle anderen Formen der Impotentia coeundi. Wenden 
wir diese Begriffe auf die Frau an, so können wir, ohne 
Widerspruch zu erregen, von Impotentia germinalis extrasekre- 
toria sprechen in den Fällen, in denen eine Vereinigung von 
Ovulum und Sperma nicht möglich ist. Mißbildungen der 
inneren Genitalien, Verschluß der Tuben, Entzündungen (spe- 
ziell Gonorrhoe), das Fehlen der Eibereitung, zum Beispiel 
nach Kastration, geben hierfür die hauptsächlichsten Gründe 
ab; auch bei der Frau spricht man in solchen Fällen von 
Sterilität. Im Sinne der früher gebräuchlichen Impotentia coeundi 
liegt für das Weib eine direkte Unmöglichkeit des Beischlafes 
vor, wenn Hemmungsbildungen, Mißbildungen und Tumoren 
der äußeren Geschlechtsteile und der Vagina eine Immissio 
penis unmöglich machen, es handelt sich dann um eine Im- 
potentia genitalis. 


Friedländer: Über den, Begriff der Impotenz des Weibes 107 


Der Begriff der Impotenz ist beim Weibe aber damit 
durchaus nicht erschöpft, sondern in einem viel umfassenderen 
Sinne anzuwenden. Zur Ausführung eines normalen physiolo- 
gischen Geschlechtsverkehrs und zur Durchführung des Aktes 
bis zur restlosen Befriedigung und Entspannung ist bei beiden 
Geschlechtern erforderlich die Entwickelung des Geschlechts- 
triebes, der Libido und das Eintreten des Orgasmus, der sich 
beim Manne sichtbar in der Ejakulation äußert, und beim 
Weibe in einem Zustand der Entspannung seinen Ausdruck. 
findet, der von den verschiedenen Beobachtern durchaus noch 
nicht eindeutig beurteilt und bewertet wird. 

Fehlt beim Manne der Geschlechtstrieb oder sind starke 
psychische Hemmungen vorhanden, die eine genügende Blut- 
füllung der Corpora cavernosa penis verhindern, oder liegen 
Störungen im Rückenmark, im Zentrum genitospinale vor, so 
wird infolge fehlender oder mangelhafter Erektion der Coitus 
physisch unmöglich oder nur unvollkommen möglich sein, der 
betreffende Mann gilt als impotent oder unvollkommen potent. 
Beruht die Impotenz auf Störungen im Zentrum genitospinale, 
so haben wir eine Impotentia spinalis, wird die an sich aus- 
reichende Libido von den Hemmungsvorstellungen überwunden, 
so ist die Grundursache im Gehirn zu suchen, wir sprechen 
dann von einer psychischen Impotenz, von einer Impotentia 
cerebralis. Ist die mangelhafte Erektionsfähigkeit auf eine 
mangelhafte oder fehlende Libido zurückzuführen, so haben 
wir es mit einer Impotentia germinalis intrasekretoria zu tun. 
Nach unseren heutigen Kenntnissen über das Zwischengewebe 
von Hoden und Eierstock und seinem Einfluß auf die soma- 
tischen und psychischen Sexusmerkmale, wie sie uns speziell 
durch die Experimente Steinachs vermittelt wurden, sind wir 
zu der Annahme berechtigt, daß auch die Libido ein Ausdruck 
der inneren Sekretion der Keimdrüsen ist. 

Völlig analog liegen die Verhältnisse beim Weibe. Zwar 
ist, wie schon ausgeführt, bei normalen anatomischen Verhält- 
nissen, also abgesehen von der Impotentia genitalis, eine Im- 
missio penis ausführbar, aber während sonst beim Akte beide 
Partner beteiligt sind und „die Wollust-Organe in dem Augen- 
blicke, wo sich beide Geschlechter zur Begattung anschicken, 
bereits die nötigen Vorbereitungen erfahren“ (Kobelt), ist die 
impotente Frau, die Frau mit fehlender Libido, völlig unbeteiligt 

8* 


108 Friedländer: Über den Begriff der Impotenz des Weibes 


oder sogar im negativen Sinne beteiligt, die sexuelle Berührung 
ist ihr unsympathisch. Genau wie beim Manne mit fehlender 
Libido oder starken Hemmungsvorstellungen oder irgendwelchen 
Prozessen im Rückenmarke, die Blutfüllung der Corpora caver- 
nosa penis ausbleibt, so unterbleibt unter den gleichen Be- 
dingungen auch beim Weibe die Blutfüllung der Schwellkörper 
des Vestibulum und der Clitoris. Durch diese Hyperaemie der 
sensiblen Punkte des Scheideneinganges und durch die Erektion 
der Clitoris wird eine innige allseitige Berührung der männ- 
lichen und weiblichen Geschlechtsteile gewährleistet, die dann 
durch Summation der Reize zum beiderseitigen Orgasmus führt. 
Ist diese Vorbedingung nicht erfüllt, so ist die Frau als impo- 
tent zu bezeichnen. Mehr umstritten ist es, den Begriff der 
Impotenz auch auf das Weib mit fehlendem Orgasmus auszu- 
dehnen, also auf eine Frau, die bei vorhandener Libido keine 
Entspannung in actu findet, auf die dyspareunische Frau. Die 
Verhältnisse sind hier nicht die gleichen wie beim Manne, da 
beim weiblichen Orgasmus keine Keimprodukte nach außen 
befördert werden. Wesentlich für unsere Begriffsbestimmung 
ist die Bedeutung des weiblichen Orgasmus für die Befruch- 
tung, die besonders von Rohleder betont wird. 

-Ist das dem männlichen Ejakulationszentrum im oberen 
Lumbalmark analoge Zentrum genitospinale geschädigt, und 
wird dadurch das Auslösen des Orgasmus verhindert, so wäre 
man berechtigt, voneinerlmpotentiaspinaliszu sprechen. Genauso, 
wie man beim Manne von einer Impotenz im allgemeinen spricht, 
wenn die Erektion aus irgendwelchen Gründen mangelhaft oder 
unmöglich ist, ohne sich um die qualitative Beschaffenheit des 
Ejakulats zu kümmern, so ist auch für das Weib in der Haupt- 
sache das Wort Impotenz im Sinne eines fehlenden oder ver- 
minderten und abgeschwächten Geschlechtstriebes zu gebrauchen, 
oder in den Fällen, wo starke psychische Gegenvorstellungen 
den Congressus der Frau gleichgültig, unerwünscht oder sogar 
widerwärtig erscheinen lassen. Ich muß von einer Impotenz 
sprechen, wenn die Frau passiv im wahren Sinne des Wortes 
die Annäherung des Partners an sich herantreten läßt. Ist für 
den potenten Mann zur Ausübung des Coitus rein physisch eine 
ausreichende Erektion nötig, so muß ich für die potente Frau 
eine psychische Aktivität postulieren, beruhend auf einer gut 
entwickelten Libido und ungestört von Hemmungsvorstellungen. 


Külz: A.d. Liebes- u. Gesellschaftsleben d. aussterbenden Karoliner 109 


Das Wort Frigidität und seine Verdeutschung Kälte, Gefühls- 
kälte möchte ich ganz fallen lassen, es ist zu unbestimmt und 
nichtssagend. Schon eher nehme ich den Begriff der anaesthe- 
tischen Frau auf, wenn von vornherein darüber Klarheit herrscht, 
daß damit nur eine Frau gemeint ist, deren Geschlechtstrieb 
herabgemindert oder gehemmt ist oder bei der die Mechanik 
des Zentrum genitospinale gestört ist. 

Ich spreche also, um zu wiederholen, von einer Impotenz 
der Frau, wenn es sich um Zustände handelt, die als Ursache 
einer Impotenz des Mannes analog zu setzen sind. 


KK 


AUS DEM LIEBES- UND GESELLSCHAFTSLEBEN 
DER AUSSTERBENDEN KAROLINER. 
Von Professor Dr. med. L. KÜLZ (mit Tafeln I—IV). 

U“ der Tropensonne im fernen Stillen Ozean gehörte zu 

unserem Kolonialbesitz eine liebreizende, weitab von jeder 
Festlandküste gelegene kleine Insel, Jap, die größte unter den 
vielen noch kleineren als paradiesische Oasen über die weite 
Wasserwüste hingestreuten Korallen-Eilanden der Westkarolinen. 
An Stelle der deutschen Flagge weht heute die japanische dort. 
Als ich kurz vor Kriegsbeginn unter dem gastfreien Inselvölkchen 
hauste, da lebten noch über 6000 Menschen auf der reichlich 
200 qkm großen Fläche des fruchtbaren Eilands, betraut von 
der väterlichen Fürsorge eines deutschen Arztes, in dessen 
Händen zugleich seine Verwaltung lag. Trotz der für ein 
Naturvolk dichten Besiedelung (30 auf 1 qkm) gehören diese 
Westkaroliner doch zu den von raschem Aussterben bedrohten 
Volksstämmen. Ihr jährlicher Bevölkerungsrückgang betrug 
damals ungefähr neun Prozent. Die Einwirkungen unserer 
westlichen Kultur seit der Einbeziehung der Insel in den 
Weltverkehr mit regelmäßiger Dampferverbindung auf ihre 
Eigenkultur, die in jahrhundertlanger Ungestörtheit hoch, aber: 
‘ einseitig entwickelt war, wurden ihnen zum Verhängnis. Durch 
Einschleppung ihnen unbekannter Seuchen (Tuberkulose, Grippe, 
Typhus, venerische Leiden usw.) wurde es noch beschleunigt. 
Der neuerliche Herrschaftswechsel aus deutscher, verständnis- 
voller Fürsorge und Pflege in rücksichtslosen japanischen 
Eigennutz nimmt die letzte Hoffnung auf ihre Rettung. Mit 


110 Külz: A. d. Liebes- u. Gesellschaftsleben d. aussterbenden Karoliner 


ihnen werden verschwinden ihre Sitten und Bräuche, an denen 
sie mit zäher Anhänglichkeit festhielten, und von denen gerade 
im Liebes- und Gesellschaftsleben viele nur dieses einzige Mal 
in der ganzen Welt gerade bei ihnen zu finden sind und ihnen 
im Urzustand zu Glück und Gedeihen, im Kulturwandel der 
neuen Zeit zum Verderben wurden. 

Die entscheidende biologische Grundtatsache in ihrem 
Volksaufbau ist das starke Überwiegen des männlichen Ge- 
schlechtes, oder negativ ausgedrückt, der Frauenmangel. 
Bei uns daheim besteht wie bei allen europäischen Kultur- 
völkern ein mäßiger Knabenüberschuß unter den Neugeborenen, 
indem 105—106 Knaben- auf 100 Mädchengeburten entfallen. 
Durch erhöhte Sterblichkeit der Knaben (sie sind also eigentlich 
das „schwächere Geschlecht“) gleicht sich allmählich der 
männliche Überschuß aus und wandelt sich schließlich für die 
älteren Jahresklassen, wie bekannt, zu einem Überwiegen des 
weiblichen Geschlechts um. Bei unseren Karolinern steigt nun 
diese „Maskulinität“ ganz gewaltig an, so daß bei ihnen auf 
100 Mädchen 130 Knaben geboren werden und dieser hohe 
Überschuß nie völlig durch stärkere Knabensterblichkeit zum 
Verschwinden gebracht wird. Daß es keine „alten Jungfern“ 
auf Jap gibt, ist danach wohlverständlich. Aber es gibt auch 
nur wenige Junggesellen trotz Frauenmangel und Frühehe beider 
Geschlechter. Ermöglicht wird dieser Ausgleich durch einen 
eigenartigen Stammesbrauch, die Einrichtung von „Klubhäusern“ 
(Bewai). Wenn man durch die sauberen Inseldörfer wandert, 
die sich unter dichten Palmenbeständen und inmitten sorglich 
gepflegter, üppiger Obst- und Gemüsegärten am Strande hin- 
ziehen, fällt mitten unter den anderen Wohnhütten hie und da 
ein Einzelhaus auf, das seine Geschwister ums sechs- bis 
achtfache an Größe überragt, das Klubhaus. Bisweilen 
steht es auch stolz für sich allein am Ende eines vom Strande 
her über den Korallengrund in die See hinausgeführten mächtigen, 
langen Steindammes, wie er mehrfach auch als reiner Luxusbau 
von ihnen ohne besonderen Zweck errichtet wurde, weil die 
einst überschüssige Kraft dieses jetzt totwunden Volkes eine 
imponierende Beteiligung suchte. Auch im Klubhaus kommt 
dieses kraftvolle Streben zu beredtem Ausdruck; denn trotz 
des primitiven Baumaterials sind Ausmaße von 15 m Höhe und 
30 m Länge bei halber Breite keine Seltenheit. Ihre hallen- 


. Külz: A.d. Liebes- u. Gesellschaftsleben d. aussterbenden Karoliner 111 


artigen Innenräume aber sind dem Minnedienst geweiht. Es ist 
die Wohnstätte der unverheirateten Dorfjünglinge, ein „Jung- 
gesellenheim“ mit sorglos heiterem und liebeverklärtem Leben. 
Aus einem .Nachbarorte wirbt man sich mit elterlicher Ein- 
willigung und Entschädigung eine Anzahl der Dorfschönen 
fürs Klubhaus. Sie sorgen für Sauberkeit, führen den Haus- 
stand dieses Jugendbundes, schenken aber auch seinen männ- 
lichen Mitgliedern ihre volle Liebesgunst, wofür sie mit ritter- 
lichen Auszeichnungen und reichen Geschenken sowie vielen 
Privilegien bedacht werden. Fühlt sich eine Klubhausdienerin 
Mutter, so tritt sie stets in den Ehestand mit dem mutmaß- 
lichen Vater. Dank einer streng geregelten Hausordnung sind 
Zwistigkeiten innerhalb des Klubs ausgeschlossen. Da die 
Klubhauszeit für den weiblichen Teil durchweg ein von der 
Ehe abgelöstes Provisorium war, hatte sie für Volksgesundheit 
und Volksvermehrung im Urzustande nichts Bedenkliches. 
Zum Verhängnis wurde diese Volkssitte eines „Liebes- 
kommunismus“, als in Begleitung der Kultur die venerische 
Durchseuchung der Insel anhub, so daß ein einziger Kranker 
die ganze Gemeinschaft und damit auch Zahl und Güte des 
Nachwuchses gefährdete. Auch das ganze Eheleben wurde 
dadurch aufs schwerste erschüttert. Obwohl die Vielehe ge- 
legentlich.. vorkommt, lebt der Karoliner infolge des Frauen- 
mangels monogam. Aber nur solange wirkliche Neigung das 
Paar verbindet, bleibt die Gemeinschaft in Kraft; erlischt sie, 
so gibt der eine Teil den andern frei und sucht sich eine 
neue Ehe. Ein zweites Motiv der Ehelösung ist der Makel, 
der beim Karoliner der Kinderlosigkeit anhaftet. Seit dem 
Einzuge der Geschlechtskrankheiten nun schleppt der Karoliner 
seine ungeheilten Leiden als verderbliches Heiratsgut von einer 
Zeitehe zur andern, um so mehr, wenn er durch sie steril 
wurde und ohne den Grund der Kinderlosigkeit zu kennen, 
diesem unehrenhaften Zustand durch Ehewechsel zu entrinnen 
trachtete. So sind die Geburtenzahlen der Inselbevölkerung 
auf einen erschreckenden Tiefstand gesunken, (s. Tabelle Heft V) 
und im letzten statistisch abgeschlossenen Jahre 1913 standen 
389 Todesfällen nur 128 Geburten gegenüber. Wie die 
kulturelle Zerrüttung der Ehe die Geburtenverminderung, so 
hat die Seucheneinschleppung ihre Sterblichkeitserhöhung ver- 
schuldet. Diese zu bekämpfen war die leichtere Aufgabe, und 


112 Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt ` 


ich konnte selbst dieses Völkchen von einer Typhus-Epidemie 
befreien helfen und ihre Zuneigung sowie ihr Vertrauen er- 
werben. 

Durchschnittlich ist der Karoliner ein unserm Empfinden 
(im Gegensatz zum Neger!) an Körper und Geist äußerst 
sympathischer Menschenschlag, mittelgroß, von ebenmäßigem, 
schlanken Bau und gelbbrauner Hautfarbe, deren hellere Ab- 
tönungen bevorzugt sind und denen durch eine allgemein, 
namentlich von den Japfrauen gewissenhaft geübte Toiletten- 
kunst nachgeholfen wird: die Färbung der Haut mit einer 
Paste („Renp“ genannt), die sie aus der Curcuma-Gelbwurzel 
bereiten. Ihrem schlichten, schwarzen, ungeschorenen Haar 
verleihen sie durch Kokosfett oder Öl einen prächtigen Glanz. 


DRK 


GESETZLICHE FREIGABE DER FREIWILLIGEN 
KÜNSTLICHEN FRÜHGEBURT. 
Von Professor Dr. med. KAFEMANN, Königsberg i. Pr. 

ährend der Schwabenspiegel dem „Jungeline* mit 14, 

der „Juncfrowe“ mit 12 Jahren auch gegen den Willen 
des Vaters die Ehe erlaubte und keinerlei Bestrafung der 
Fruchtabtreibung (F.-A.) vorsieht, wurde im Widerspruch zu 
den Rechtsanschauungen des deutschen Mittelalters das Ver- 
brechen der F.-A. erst 1507 durch die Bamberger Halsgerichts- 
ordnung und die auf ihr beruhende peinliche Gerichtsordnung 
des Kaisers Karl V. vom Jahre 1532 geschaffen. 1794 ver- 
langte das preußische allgemeine Landrecht, daß der außer- 
eheliche Schwängerer die abtreibende Mutter anzeige; schwieg 
er oder hatte er Beistand geleistet, wurde er mit zehn Jahren 
Festungshaft bestraft und gezwungen, der in der Regel an der 
geschwächten Mutter verhängten Todesstrafe beizuwohnen. 
Die in der Geschichte aller Völker unerhörte Roheit dieses 
urpreußischen Gesetzesparagraphen wurde durch § 218 des 
am 1. Januar 1872 in Kraft getretenen preußischen St. G. B. 
vom Jahre 1851 erheblich gemildert. Er lautet: Eine 
Schwangere, welche ihre Frucht vorsätzlich abtreibt oder im 
Mutterleibe tötet, wird mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren 
bestraft. Nach den Entscheidungen des Reichsgerichts Bd. I 
(S. 439) findet diese Betrafung auch dann statt, wenn der 


114 Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt 


Tausende von ihnen einem vorzeitigen qualvollen Tode ent- 
gegenführt, indem sie zur mangelhaften Selbsthilfe und zur 
bedenkenlos gewährten Mithilfe pfuscherischer Kräfte ihre 
Zuflucht nehmen. Die Zahl der sogenannten kriminellen 
F.-A. in Deutschland schätzen eingeweihte Fachkreise auf 
mindestens 500000 im Jahre. Mit dieser Ziffer erreichen oder 
übertreffen wir die Vereinigten Staaten, in denen die F.-A. 
zwar rechtlich verboten, aber stillschweigend gebilligt und von 
der öffentlichen Meinung nicht mehr als strafbar angesehen 
wird — erreichen oder übertreffen wir Frankreich. Aus 
diesem Land drang kürzlich durch das Sprachrohr des Matin 
(11. 11. 19) folgender Alarmruf zu uns: Vom teuren Leben 
zur Abtreibung! Die Zahl der Kinder, welche man opfert, 
übersteigt die der Kinder, welche geboren werden. Frankreich 
in seinem vollen Ruhm stirbt an Erschöpfung; es zerreißt sich 
mit seinen eigenen Händen; es stirbt am Kindermord. Unsere 
Untersuchung hat mit Sicherheit ergeben, daß bei zwei Drittel 
der in den Hospitälern behandelten Fälle von Frühgeburt es 
sich um absichtlich hervorgerufene handelt... Die Zahl dieser 
schätzten Professor Lacassagne, Bertillon usw. auf 500000 vor 
dem Kriege... heute ist das Übel bei weitem größer! Es ist 
sicher, daß heute die Zahl der kleinen Franzosen, welche das 
Tageslicht erblicken, bei weitem denen unterlegen ist, welche 
man verhindert, geboren zu werden... Nach Beendigung des 
Krieges verlieren wir täglich eine große Schlacht... In den 
Orten, wo Frauen sich anhäufen — in den Werkstätten, 
Ateliers usw. wütet eine wahrhafte Ansteckung, indem die 
Frauen, die einmal abortiert haben, eine regelrechte Propaganda 
entfalten, die Bedenken besiegen, Ratschläge und Adressen 
geben. Der seelische Zustand der Frau ändert sich; die 
Abtreibung erscheint als einfacher und gestatteter Eingriff und 
das Übel breitet sich aus wie ein Prairiebrand. In einem 
nördlichen Bezirk operieren die Engelmacherinnen für fünf 
Franks, und so groß ist ihre Kundschaft, daß sie viel Geld 
verdienen. In Paris gibt es Ateliers, in denen man sich 
abonnieren und nach kaum erkannter Gefahr im Abonnement 
erlösen lassen kann... Täglich werden in Paris über 200 
Abtreibungen vorgenommen, — eine Zahl, welche die der 
Geburten übersteigt. Jeder kleinste Winkel besitzt seine 
„Aborteuse“, von denen einzelne sich rühmen, täglich drei 


Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt 115 


bis vier auszuführen. Die Frauen gewöhnen sich außerdem 
daran, sich selbst zu operieren. Die Resultate sind zwar 
nicht immer glückliche, aber wie bequem ist das! Sie bedienen 
sich bestimmter Spezialinstrumente, die hinter den Schau- 
fenstern gewisser Magazine ausliegen. Ironie! Man kann 
sich nicht zwei Tropfen Opium besorgen, wenn man Zahn- 
schmerzen hat, aber man findet, wenn man will, diese Todes- 
werkzeuge. Die Abtreibung findet gleichmäßig in allen sozialen 
Schichten statt... Welches sind die Heilmittel? Die Frage 
ist offenbar eine schwierige. Man kann sich nicht verhehlen, 
daß das teure Leben, dessen Last so hart für die Frauen ist, 
ein wichtiger Faktor ist. Jede wirksame Maßnahme gegen die 
Teuerung wird eine wirksame Maßnahme gegen das Abtreiben 
sein... Das Leiden ist schrecklich. Die Gleichgiltigkeit hat 
zu lange gedauert. Mögen die Konsuln zusehen! Und wie 
steht es in Wien? Dort ist nach Maßgabe der Krankenhaus- 
zahlen die Zahl der Aborte in den letzten sieben bis acht 
Jahren um 35 Prozent gestiegen. In Wirklichkeit ist sie aber 
bedeutend höher. Die jüngeren Frauen abortieren viel häufiger - 
als die älteren, schreiten also in der Entwicklungsvorrichtung 
voran. Von hundert Frauen abortierten 1915 12—13, also 
jede achte von Hundert, von denen, die zweimal geschwängert 
waren 23—27, d. h. jede vierte von Hundert, mit vier Schwanger- 
schaften 41—47, d. h. jede zweite Frau. Wenn irgendwo, so 
muß in Wien dieses Verhalten der Frauen als sittlich gerecht- 
fertigt angesehen werden. Was die Könige delirierten, büßen 
die Völker. Also auch in Wien und Frankreich, wie in den 
Vereinigten Staaten streckt die Strafrechtspflege vor einem 
Übel die Waffen, das zu einer deutlichen Ausdrucksformel 
einer inneren Gesetzgebung der Volksseele geworden ist und 
infolge des Bestehens des $ 218 in Deutschland zu einer 
Quelle ruchloser Bedrängnis durch Erpressung oder Rachsucht 
wird. So stellte sich kürzlich bei einem befreundeten 
Frauenarzt ein junger Bräutigam mit der Bitte vor, den 
weiblichen Partner daraufhin zu prüfen, ob Schwängerung 
resp. Abtreibung stattgefunden habe. Er sei bei der 
Staatsanwaltschaft angezeigt worden, bei seiner Braut eine 
F.-A. vorgenommen zu haben. Das Resultat der Unter- 
suchung war vernichtend für die Denunziantin, die an ihrem 
früheren Bräutigam, der sie angeblich verlassen hatte, Rache 


116 Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt 


zu üben sich getrieben fühlte. Die Auffassung der F.-A. als 
eines vom Staat zu sühnenden Verbrechens ist keineswegs zu 
allen Zeiten wirksam gewesen. Wie es keine Philosophie 
überhaupt gibt, vielmehr jede Kulturepoche im Aufstieg und 
Abstieg ihre eigene hat, so hat jede ihre eigene instinktive 
Moral und auf ihr sich gründende Strafrechtspflege. Die viel- 
gerühmte deutsche Treue z. B. gehört mehr der nationalen 
Bewunderung als der tatsächlichen Geschichte an. War doch 
die deutsche Treulosigkeit sogar bei den Römern sprichwörtlich 
geworden, da bei den Deutschen jeder Vertrag, mochte er auch 
mit den heiligsten Eiden bekräftigt sein, nur so lange Geltung 
behielt, bis die Versammlung der Volksgenossen etwas Neues 
zu beschließen für gut- befand. Die „braven“ alten Deutschen 
waren der einzige Zweig der arischen Völkerfamilie, der es 
nicht als schimpflich empfand, für den Mord des Blutgenossen 
baren Lohn einzutreiben. (Seek, Geschichte des Untergangs 
der antiken Welt Bd. 1 S. 192). Das Christentum predigte 
Liebe, ließ aber auf seinem Acker eine Saat unergründlichen 
-Hasses, eines giftigen häßlichen Hasses erwachsen. Niemals 
in der Geschichte der Menschheit ist so tief, so ruchlos gehaßt 
worden wie bei den Christen, niemals vorher sind von den 
Anhängern eines Religionsgebildes derartige Feindschaften 
innerhalb der Menschheit entzündet worden, welche zu schmerz- 
haften, noch heute blutenden Wunden und zur erbarmungslosen 
Ausrottung ganzer Völker führten. Die Blendung, die Basilius II. 
1014 an 15000 geschlagenen und gefangenen Bulgaren vor- 
nehmen ließ, wurde als ehrenwerte Tat betrachtet und gegen 
Blendungen, das Nasenaufschlitzen und qualvolles Töten, das 
die oströmischen christlichen Kaiser gegenüber ihren Feinden 
bevorzugten, hat die christliche Kirche niemals Widerspruch 
zu erheben weder den Mut, noch den Willen gehabt (Lindner, 
Weltgeschichte, pg. 160). Carpzow fällte allein 20000 grausame 
Todesurteile. Torquemada ließ von 1483—1498 8800 eines 
anderen Glaubens Verdächtige verbrennen und am 30. Mai 1660 
ließ man zur Feier der Vermählung Karls II. von Spanien mit 
Maria Louise von Orleans vor dem jungen Paar zu dessen 
Erheiterung und wollüstigen Aufstachelung 17 Protestanten bei 
langsamem Feuer braten. Solche Strafakte können natürlich 
heute nicht anders bewertet werden als Verbrechen. Indem wir 
sie als solche empfinden, büßen wir gewissermaßen die Schuld 


Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt 117 


der Ahnen, und indem wir das fun, und die Fähigkeit dazu 
in uns erkennen, enthüllt sich uns die Tatsache des Menschheits- 
gewissens. Während die Gelehrten der heidnischen Antike 
durchweg die Frage, ob die Frucht als Mensch zu betrachten 
sei, verneinten, während nach einem mosaischem Gesetz die 
F.-A. nicht als Menschentötung zu betrachten war, während die 
Stoa, die dem römischen Kaiserthron nahe stand, der fast alle 
bedeutenden Staatsmänner angehörten, mit erstaunlicher Sach- 
kenntnis den Foetus für einen Teil der mütterlichen Eingeweide 
hielt, weshalb auch die Gesetzgeber den Keim vor der Geburt 
als einen Teil der Mutter betrachteten, auf den der Vater im 
Falle der Tötung kein klagbares Recht habe, blieb es der 
katholischen Kirche vorbehalten, durch eine falsche Übersetzung 
einer mosaischen Bibelstelle die Auffassung zu der herrschenden 
zu machen, daß der Embryo in einem bestimmten Zeitpunkt 
der Schwangerschaft Mensch werde, und eine Handlung, die 
zu seiner vorzeitigen Abtötung führe, als Mord zu betrachten 
und von der Justiz zu verfolgen sei. Und so führte die Kraft 
der Kirche, die in die weltlichen Kodificationen des Fremden- 
rechtes siegend einbrach, zu einer allgemeinen Herrschaft der 
Vorurteile und zu einer Verfinsterung der Köpfe, welche für 
die Frauen von den furchtbarsten Folgen begleitet war. Erloschen 
war das Licht, das Philosophie und Wissenschaft angezündet 
hatten; zerstreut durch eine betrügerische Sophistik die Kenntnisse, 
nach denen die Antike ihr praktisches Handeln berichtigt hatte. 
Die Begründungen, welche die Kirche für ihr Handeln verlaut- 
baren ließ, sind von einer so grotesken Lächerlichkeit, daß es 
nicht einmal lohnt, ihnen auch nur eine Zeile zu opfern. 
Rechtfertigt z. B. die Beleidigung Gottes, — also eines Wortes: 
denn „Gott“ ist weiter nichts als ein Wort, das die Menschen 
hören und anbeten, — welche die Bulle des Papstes Sixtus V. 
vom Jahre 1588 darin erkennt, daß durch die künstliche Früh- 
geburt Gott von einem Geschöpf weniger angebetet wird, die 
bestialische Bestrafung ungezählter Frauen, die aus edlen 
Motiven ihre Früchte opferten resp. opfern -mußten? Von 
neuem ist die Zeit dafür reif geworden, daß 
der Geist der freien Untersuchung die Wahn- 
begriffe zerstreut, welche Jahrhunderte hin- 
durch der Wahrheit eine trügerische Maske 
auferlegten und den Boden unterwühlten, auf 


118 Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt 


demFanatismusundIrrtumihren Thronerrichtet 
haben. Die Behauptung der Kirche, der Embryo sei schon 
in den frühesten Stadien seiner Entwicklung ein denkendes 
und fühlendes Wesen, muß als Irreführung mit der größten 
Schärfe zurückgewiesen werden. Das befruchtete Ei setzt sich 
in den ersten Wochen in der Gebärmutterschleimhaut fest, 
nachdem diese durch gewisse Zellen der Eierstöcke .dafür 
empfänglich gemacht worden ist. Es entsteht eine Grube unter 
gleichzeitiger Bildung einer für das Ei bestimmten Hülle 
mütterlichen Gewebes. Der ganze Vorgang wird von gewissen 
„inneren“ Absonderungen ausgelöst und beherrscht. Diese 
stellen chemische, z. T. wohl bekannte Stoffe dar, welche von 
gewissen Drüsen (Schilddrüse, Eierstock, Hoden usw.) ab- 
gesondert in die Blutbahn treten und formbildend und form- 
verändernd den ganzen Körper beeinflussen. Wenn man ein 
abgeschnittenes Stück der Regenbogenhaut eines Tritonenauges 
unter die Haut bringt, so ist es imstande, eine neue Linse zu 
bilden, vorausgesetzt, daß ein genügender Teil der Netzhaut 
mitverpflanzt wird, ohne deren Mitwirkung der Vorgang nicht 
eingeleitet werden kann, da deren innere Absonderungen, 
welche unmittelbar durch Nachbarschaftswirkung in die Gewebe 
übergehen und die Linsenbildung auslösen, dazu erforderlich 
sind. (Cohen-Kysper, Rückläufige Differenzierung und Entw. 
1918, S. 19). Und so ist das Ei von vornherein ein Parasit 
des mütterlichen Körpers, ebenso wie die „Geschlechtszellen“ 
selbst aus denen er herstammt. Am Ende des dritten Monats 
ist der Embryo 7—9 cm lang und wiegt ca. 35 gr. Die 
Lider sind durch ein feines Häutchen verschlossen, Gaumen, 
After, Darm sind völlig in die Bauchhöhle zurückgezogen. 
Ein Geschlechtshöcker ist deutlich erkennbar, ohne daß man 
in der Lage wäre, eine Geschlechtsbestimmung vorzunehmen. 
Eine Hypothese der neuesten Zeit, deren baldige Bestätigung 
durch die Erfahrung zu erwarten steht, nimmt eine geschlechtslose 
Embryonalform an, ein geschlechtsloses Gewebe, das durch die 
innere Absonderung der schon in der frühesten Zeit angelegten 
sog. Geschlechtszellen der Keimbahn lange vor der Ausbildung 
des Blutkreislaufs nach der männlichen oder weiblichen Richtung 
gestaltet wird. Die ersten vollständigen Nervenzellen erscheinen 
im Rückenmark und ermöglichen dem Foetus im vierten bis 
fünften Monat die ersten einfachen Bewegungen; aber erst im 


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Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt 119 


achten Monat erfolgt die völlige Ausbildung gewisser Fasern, 
die bis zur oberen grauen Hirnsubstanz und zur Hirnrinde 
emporsteigen. Wo wir aber die unserem Nervensystem ana- 
logen Bedingungen nicht vorfinden, dürfen wir auch kein dem 
unseren analoges Bewußtsein erwarten. Der Embryo ist bis 
zum Ende des vierten Monats ein im Mutterleibe parasitierender, 
zu einem lebendigen System geordneter Zellhaufen, der später 
ein Mensch werden kann. Ihn als Mensch GREHADFOENEN, ist 
ein schwerer erkenntnis-theoretischer Irrtum. 

Das Auge des Neugeborenen reagiert zwar deutlich 
auf Lichteinfall, aber nach einigen Wochen erst bildet sich 
das zentrale Sehen aus. Der Neugeborene ist taub und 
wird erst nach fünf bis sechs Tagen hörend. Ich erwähnte 
vorhin die sog. Keimbahn. Was heißt Keimbahn? Keimbahn 
ist die Zellfolge, welche von der Keimzelle des elterlichen 
Menschen bis zur Keimzelle des Kindes führt. Bei allen Tier- 
klassen wurde die Beobachtung gemacht, daß sich diese Zellen 
in bedeutender Weise schon nach einigen Zellgenerationen 
von den anderen Furgemgszellen unterscheiden, und daß sie 
unmittelbar vom Ei abstammen, nicht von den zum Aufbau 
der Körperorgane bestimmten. Diese höchst charakteristischen 
Zellen des Keimlagers bilden sich im Laufe der Entwicklung 
zu den Geschlechtszellen heran und in weiterer Folge zu den 
hochkomplizierten Systemen des reifen Eis, des reifen Samen- 
fadens. Und so steht denn fest, daß jedes Individuum nicht 
von seinen augenscheinlichen Eltern, sondern von den Geschlechts- 
zellen abstammt, die praktisch in jenen vegetieren. Mit Recht 
bemerkt deshalb Lapouge, daß jedes lebende Wesen nur ein 
Seitenverwandter seiner Eltern und nicht einmal ein Halbbruder 
von ihnen beiden ist. (Pol.-Anthrop. Revue 1908, S. 416). 
Wahrlich! eine Erkenntnis, aus der die Menschen Bescheiden- 
heit lernen müßten. Jeder Mensch hält sich für ein mächtig 
ausgreifendes Wesen, für eine wichtige Individualität. In Wirk- 
lichkeit ist man nur ein bedeutungsloser Behälter einer ewig 
jungen Substanz, die sich ewig um-, zurück- und neubildend 
eine stetig fortlaufende Kette darstellt, wo jeder Ring notwendig 
in den andern greift. Ewig eilt sie rastlos von Veränderung 
zu Veränderung, ewig stößt sie neue Systeme aus sich heraus, 
die Lebewesen, die selber vergänglich, der Unvergänglichkeit 
jener Substanz dienen. Geburt, sagt schon Empedokles, der 


120 Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt 


berühmte Entwicklungstheoretiker der Hellenen, gibt es eigent- 
lich bei keinem einzigen von allen sterblichen Dingen und kein 
Ende im verderblichen Tode. Nur Mischung gibt es und 
Austausch des Gemischten: Geburt ist nur ein dafür bei 
den Menschen üblicher Name. Aber in einem feineren 
geistigen Sinne wird, wie Spengler in seinem ausgezeichneten 
Werk „Der Untergang des Abendlandes“ ausführt, der Mensch 
viel später erst zum Menschen. Und welches ist das Ereignis, 
durch welches sich bei dem Kinde der Eintritt in das Knaben- 
alter ankündigt? Es ist das Tiefenerlebnis, das mit ungeheurer 
Wucht in jedes Menschen Leben einmal auftritt. Wenn das 
Kind aufhört, nach dem Monde zu greifen, wenn es Ferne und 
Tiefe zu verstehen beginnt, wenn ein Weltbewußtsein auftaucht 
und damit ein Gefühl ungeheurer Einsamkeit in einem un- 
ermeßlichen Raum und die Vorstellung vom Tode und vom 
Sterbenmüssen: dann erst ist in Wirklichkeit der Mensch 
geboren. Vorher lebte er wie das Tier mit dem Augenblick 
beschäftigt dahin; mit dem Erwachen des Innenlebens steigt 
dämmernd herauf die Ahnung von der Menschheitstragödie. 
Die Weltangst, die Angst vor dem Raum, dem Ende, dem un- 
verständlich Rätselvollen, das uns umbrandet, beginnt, und mit 
ihr die Philosophie, welche jenes durch Begriffe und Gesetze, 
durch Benennen und Erkennen zu bewältigen hofft. Leider 
sind alle Bemühungen der Philosophie bis jetzt vergeblich 
gewesen und werden es bleiben immerdar. Alles, was wir 
Erkenntnis nennen, besteht aus Schalen und Begriffen, unter 
welchen wir das uns Gegebene zusammenfassen, ohne daß 
etwas Neues dabei entstündee Die sogenannten Welt- 
rätsel werden wir niemals lösen, weil wir selbst sie 
schaffen. Was uns rätselhaft erscheint, sind von uns selbst 
geschaffene Widersprüche. Ein Spiel ist alles mit den Formen 
und Hülsen der Erkenntnis. „In der Geburt liegt der Tod, in 
der Verwirklichung die Vergänglichkeit... Es stirbt etwas 
im Weibe, wenn es empfängt, der ewige aus der Weltangst 
geborene Haß der Geschlechter hat hier seinen Grund. Der 
Mensch vernichtet in einem sehr tiefen Sinn, in dem er zeugt: 
durch leibliche Zeugung in der sinnlichen, durch „Erkennen“ 
in der geistigen Welt . . . Noch bei Luther hat das Wort 
„erkennen“ den Nebensinn der geschlechtlichen Zeugung.“ 
(Spengler) So wird auch das Hühnchen in Wirklichkeit erst 


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Taf. V. Weibliche Kolossalstatue von Besnagar (Gwalior-Zentralindien), 
Älteste indische Frauenstatue 3. Jh.? nach Smith. 


Zum Aufsatz: Schmidt „Das Weib im altindischen Epos“. 
Die Tafeln VI—VIII sind Beigaben der Schriftleitung. 


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Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt 121 


geboren, wenn es nach Entfernung des Schalendeckels erkennt, 
daß die Welt aus einem erlebenden Ich und einem Widerstand 
leistenden Du, der Umwelt besteht. Dann erst wird seine 
Welt aus der Empfindung heraus geboren. Und in einem 
noch tieferen geistigen Sinne können wir Menschwerdung erst 
dann anerkennen, wenn das Wesen der Fortpflanzung begriffen 
ist. Wenn der Mensch mit ungeheurer Klarheit mit Buddha 
einsieht: alles Leben besteht anfanglos; alle Individualität ist 
nur Schein, es bestehen nur ewig neu auftauchende Prozesse, 
deren innerstes Wesen wir nicht verstehen. Tod und Leben 
ist dasselbe und nur durch Nichtgeborenwerden erkauft man 
sich „Totlosigkeit“; Leben ist nur Leiden und was wir Freuden 
des Lebens nennen, ist nur eine andere Form unseres Elends. 
Wohl Dir! oder besser: weh Dir! daß Du blind bist und vergiß 
nicht, daß jeder einmal in seinem Leben, wenn auch spät bis- 
weilen, sehend wird und werden muß und der Stunde fluchen 
wird, die ihn gebar. Nur wer diese Erkenntnis besitzt, sei es, 
daß er mit lebendiger Energie sie sich erarbeitet hat, sei es, 
daß sie als innere Anschauung schon früh in ihm lebendig 
wirksam ist, wessen Geist gesetzgebend in die Handlungen 
des blinden Instinktes eingreift, darf in höchstem Sinne sich 
als Mensch bezeichnen. Freilich ist die Zahl dieser Wisser 
und Erkenner nur gering. Nur wenige machen sich eine Vor- 
stellung davon, wie groß Denkschwäche und Unfähigkeit zur 
Gehirnanstrengung in der großen Masse der vorgeschrittensten 
Völker sind. In Frankreich gelingt es von 100 Kindern, die 
von auserlesenen Eltern stammen, selbst schon auserlesen sind 
und in das College eintreten, kaum 15 zum Diplom zu kommen. 
Nur eine kleine Auswahl steht in der geistigen Rangstufe über 
den Negern und der Rest ist mit Kaffern gleichwertig. Zur 
Befriedigung kann es den Armen gereichen, daß die 
Geistesarmut der sogenannten „Großen“ vielleicht 
noch größer ist als die ihrige. In Deutschland aber steht 
es keineswegs besser. Unsere Gesittung ist nur eine farben- 
schillernde dünne Decke, herumgelegt um die Fratzen der 
Urzeit. Schulzwang ist Spiegelfechterei; Volksbildung Humbug; 
der stolze Palast der Wissenschaft, an dem die Menschheit 
unermüdlich baut, steht auf Fundamenten, die in einem un- 
erschöpflichen Sumpf menschenähnlicher Tierheit errichtet sind. 
Nie wird ein Strahl der Erkenntnis durch die tiefe Nacht ihres 
9 





122 Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künst!. Frühgeburt 


Nichtwissens zittern, nie wird ihr rohes Denken, das um die 
Befriedigung tierischer Bedürfnisse und praktischer Vorteile 
kreist, einer Abstraktion fähig sein. Nichts ist lächerlicher, als 
der Glaube sozialistischer Wanderprediger und Führer, die 
Masse der Proletarier sei eine gesunde, fortschrittsfähige, nur 
durch den Druck der Verhältnisse niedergehaltene Masse. 
Nichts anderes ist sie, als der Rückstand zahlloser Geschlechter, 
die in Jahrhunderten keinen Mann hervorzubringen vermochten, 
der die immer vorhandenen Gelegenheiten zum Aufstieg zu 
ergreifen fähig genug gewesen wäre, und solcher Familien, die 
durch Entartung und Exzesse die Fähigkeiten verloren, sich 
oben zu erhalten. Unfähig das jeweilige wirtschaftliche Ge- 
triebe zu verstehen, zufrieden mit der rohen Einfachheit ihrer 
Existenz, lieferten sie den oberen Kreisen Hände, Arbeitskräfte 
und „Bajonette“, welche diese so nötig zur Erhaltung ihrer 
Vorzugsstellung und ihrer Riesenvermögen bedurften. Wenn 
zu viele Menschen angeboten werden, verlieren sie Preis und 
Würde. Da in Rom und in den anderen zahlreichen großen 
Städten des römischen Kaiserreichs die freien und unfreien 
Proletarier kein eigenes Grab besaßen, auch keiner Begräbnis- 
gesellschaft angehörten, wurden ihre Leichen in Massen über- 
einandergeworfen und der Verwesung überlassen. Besonders 
berüchtigt war der Esquilin bei Rom, dessen unbeerdigte 
massenhafte Leichen weithin die Luft verpesteten, während 
Hunde und Vögel sich von ihnen nährten und weiße Knochen 
weithin das Feld bedeckten. Die Wohnungsverhältnisse dieser 
Proletarier waren schon damals so grauenhaft wie heute. Im 
Senat wurde es öfters deutlich ausgesprochen, daß der auf dem 
Staate lastende Druck des städtischen Proletariats nur dadurch 
beseitigt werden könne, daß man, wie der Tribun Servilius 
Rullus meinte, das Gesindel ausschöpfe, welche Äußerung 
Cicero mit der heuchlerischen Phrase hervorzog, der Tribun 
habe von den achtbarsten Bürgern gesprochen, wie von der 
Reinigung einer Kloake. Die Mehrzahl der bevölkerungs- 
politischen Maßnahmen jener Zeit trugen mehr zur Steigerung 
der Not der übervölkerten Großstädte, in deren Interesse mehr 
eine Verlangsamung der Volksvermehrung gelegen hätte, bei, 
während jene eine Beschleunigung des Tempos herbeiführten. 
Der allgemein verbreitete und mit der Not entschuldigte, aber 
wenig Ersprießliches leistende Kindermord veranlaßte Lactantius 


Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt 123 


zu der öffentlichen Warnung — wie heute den Kolberger 
Magistrat die Eheschließungsmanie der Jugendlichen — sich 
leichtsinnig zu verehelichen und Kinder zu erzeugen, während 
Constantins Edikte vom Jahre 315 und 322 eine weitgehende 
Erwerbslosenunterstützung einführten, die den Fiskus allzusehr 
belastete. Was aber vermochten Warnungen bei der Menge, 
die nach des großen Ephesiers Ausspruch sich mästet wie das 
Vieh und nach dem Magen und den Schamteilen und dem 
Verächtlichsten messend das Glück? Und was nützten Wohl- 
tätigkeitsedikte wie die Constantins, die, da sie unausführbar 
waren, bald der verdienten Vergessenheit anheim fielen. Daß 
unsere heutigen regierenden Kreise aus der Geschichte der 
Erwerbslosenfürsorge nicht das Geringste zu lernen ver- 
mochten, kann uns nicht in Erstaunen versetzen, da wir wissen, 
daß die Erfahrungen älterer Generationen für die folgenden 
stets ohne Nutzen geblieben sind. 

Wenn ich vorhin das überflüssige europäische Gesindel 
auf eine Rangstufe mit den Kaffern erhob, so müßte ich auf 
deren Widerspruch gefaßt sein, falls diese Arbeit zur Kenntnis 
ihrer Literaten käme. Die afrikanischen Naturvölker überragen 
vielfach inbezug auf Kenntnis der Sexualvorgänge im All- 
gemeinen und auf geburtenbeschränkende Maßnahmen im 
Besonderen bei weitem große europäische Schichten. In 
zahlreichen Orten unserer Schutzgebiete sowie der englischen 
und portugiesischen geht die Bevölkerungsziffer dauernd 
zurück, teils infolge gegengeburtlicher Maßnahmen, teils infolge 
enormer Kindersterblichkeit. Die Bevölkerungszunahme in 
Deutschland war in den letzten zwanzig Jahren eine derartig 
ungezügelte, daß sie bei Kennern Befremden und Besorgnis 
einflößen mußte. Nur einige wenige kleine Staaten haben von 
1900—1910 eine gleich große oder gar größere Zunahme 
aufzuweisen gehabt. Sowohl in Österreich-Ungarn, Rußland, 
Italien, Spanien, Frankreich, Belgien, den Niederlanden, Groß- 
britannien ist die Zunahme zum Teil sehr erheblich geringer 
gewesen. Nur die Balkanstaaten erreichen Deutschland. Die 
Vereinigten Staaten übertreffen es (1,89 Prozent : 1,45 Prozent), 
Japan nähert sich ihm mit 1,31 Prozent. Im Jahre 1910 haiten 
innerhalb des preußischen Staatsgebietes 1,388,122 Frauen 
mindestens sieben Kinder geboren, 17336 mehr als 16 und 
748 mehr als 20. Eine politische Zeitung bemerkte kindischer 

9* 


124 Kafemann: Oesetzliche Freigabe d. freiwilligen künsti. Frühgeburt 


Weise zu diesen Ziffern, sie seien nicht nur erfreulich für 
uns, sondern auch lehrreich für unsere Feinde! Man muß 
überhaupt täglich darüber staunen, mit welcher Unverfrorenheit 
öffentlich über bevölkerungspolitische Fragen Männer und 
Frauen, Ärzte, Gelehrte und Ungelehrte urteilen, welche Kraft 
ihrer ungenügenden Kenntnisse und ihrer intellektuellen Un- 
fähigkeit, mehr als die Wordergründe und Oberfläche eines 
derartigen Problems zu erkennen, die ungeeignetsten Instanzen 
für Beurteilung dieses darstellen. Was sollen alle diese 
Tausende geburtenhetzerischer Arbeiten mit dem patriotisch 
grollenden Unterton, welche etwas zu sagen glauben, während 
sie doch nur tausendmal ausgesprochene Irrtümer wiederholen, 
unendlich Durchgekautes ewig ruminieren, eructieren, regurgi- 
tieren und erbrechen. Daß die übermäßige Kinderproduktion 
überhaupt nur in solchen halbidiotischen Familien beobachtet 
wird, welche den Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher 
sozialer Stellung und Kinderzahl nicht zu durchschauen ver- 
mögen, sich von selber aufzehrt, und bevölkerungspolitisch 
nur die Aufwuchsziffer in Frage kommt, sollte doch wohl 
mehr bekannt sein als es anscheinend der Fall ist. (Würz- 
burger, Rückblick auf die Literatur des Geburten-Rückganges, 
soziale Praxis Nr. 21, 216). Ganz besonders deutlich läßt die 
Bevölkerungsentwicklung zweier europäischer Staaten, Italiens 
und Portugals (Demogr. Materialien-Archiv für soziale Hygiene 
und Demogr. 11. Bd. 4 H) erkennen, daß trotz sehr hoher 
Geburtenziffern die tatsächliche Bevölkerungszunahme eines 
Landes sehr gering sein kann. Es ist falsch, daß die Geburten 
seit 49 Jahren in beständigem Rückgang sein sollen, während 
dieser unverkennbar doch erst im Beginn des 20. Jahrhunderts 
eingesetzt hat. Die Ziffer der Geburten des Jahres 1901 ent- 
sprach noch genau der nämlichen des Jahres 1892 und 1890, 
ja sogar 1862. Aus der Gepflogenheit, nicht die einzelnen 
Jahre zu betrachten, sondern Jahrfünfte und Jahrzehnte, quillt 
dieser Irrtum. Was wir durch sie an Bequemlichkeit ge- 
winnen, verlieren wir an Schärfe des Bildes. Irrtümlich ist 
auch die Angabe, daß durch die Sterblichkeitsverminderung 
die angenommene Bevölkerungszunahme annähernd ausge- 
glichen worden sei. Was sollte ausgeglichen worden sein, 
da doch nichts auszugleichen war? Der Sterblichkeitsrückgang 
ist bis 1901 uneingeschränkt der Bevölkerungsvermehrung 


— 


Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstt. Frühgeburt 125 


zugute gekommen, und ist die Ursache der vorher erwähnten 
in Europa bisher unerhörten Volkszunahme gewesen. Als 
dann der Geburtenrückgang um 1902 wirklich einsetzte und 
im letzten Friedensjahre 200000 Geburten weniger als das 
Jahr 1901 mit der geradezu ungeheuerlichen Ziffer von 
2032313 lieferte, da stellte es sich heraus, daß trotzdem in 
den 13 Jahren ausgesprochenen Geburtenrückgangs die Be- 
völkerung sich um elf Millionen vermehrt hatte. Diese erstaunliche 
Erscheinung lehrt uns erkennen, daß die Geburtenziffer über- 
haupt keinen richtigen Maßstab für die Bevölkerungsentwicklung 
bietet. Die Aufwuchsziffer, d. h. die Zahl derjenigen Kinder, 
welche die ersten stark gefährdeten Lebensjahre bis zum 
siebenten überschreiten, ist diejenige Instanz, welche über den 
Volksbestand entscheidet (Würzburger). Diese so wichtige 
Ziffer ist von den bevölkerungspolitischen Schwätzern über- 
haupt nicht beachtet worden. Gewohnt mit Oberflächen- 
phänomenen sich zu begnügen und das Einfache zu bevor- 
zugen, suchten sie den Schein der Wahrheit, während sie 
doch fast durchweg national alldeutschen Zielen nachjagten. 
Nur wenigen Deutschen der Gegenwart ist es bis jetzt ge- 
lungen zu erkennen, daß diese beispiellose Volksvermehrung 
niedrigstehender Menschheitsgruppen die einzige Veranlassung 
des, Weltkrieges gewesen ist.*) Einer dieser Wenigen ist Prof. 
Lensch, der 1917 in den süddeutschen Monatsheften schrieb: 
„Nichts ist rührender als die sanften Beteuerungen’ deutscher 
Politiker und Professoren von der deutschen Friedfertigkeit. 
Gewiß! An der subjektiven deutschen Friedfertigkeit ist 
nicht zu zweifeln. Aber das sollte nicht hindern zu erkennen, 
daß wir objektiv gesehen die Friedensstörer sind und sein 
müssen. Unsere „Schuld“ liegt in unserem Wachstum. Es 
ist ein zwangläufiger Prozeß, den auch der eifrigste Pazifist 
nicht zum Stillstand bringen kann, es sei denn durch die 
Niederlage.“ Nichts ist törichter und ungerechter als 
Wilhelm Il. als den Kriegsentfesseler anzuklagen und zu ver- 
urteilen.**) Unsere sinnlose Volksvermehrung zwang zwischen 

*) Dies ist auch der Grundgedanke meiner sexualwissenschaftlichen 
Vorträge, (Anm. des Herausgebers.) 

*) Aber Wilhelm Il. und seine Umgebung, insbesondere die ehe- 
malige Kaiserin, waren die Hauptschützer und Erzeuger jener Moral, 


der wir die Irrlehre vom Werte übermäßiger Vermehrung danken. 
(Anm. des Herausgebers.) 


126 Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt 


1901 und 1911 die Kinder der Midlands und Lancashires in 
ungeheuren Massen abzuwandern, da die an sich nicht geringe 
Steigerung der englischen Ein- und Ausfuhr nicht genügte, 
um den ganzen Bevölkerungsüberschuß — etwa vier Millionen 
— im eigenen Lande festzuhalten (vergl. Quessel, England und 
wir, 1919). Während unsere Alldeutschen und auch anders 
orientierte Blätter höhnisch triumphierend auf den Niedergang 
englischer Wirtschaft hinwiesen, waren sie unfähig zu erkennen, 
daß dieses mächtige Wachstum Deutschlands und die durch 
dieses ausgelöste wirtschaftliche Besiegung Englands zu einer 
blutig grauenhaften Tragödie führen mußte, die ihresgleichen 
nicht in der Weltgeschichte findet. Nicht Dynastien, harmlose 
Prinzen und Generäle sind es, die heute Kriege inszenieren: 
die Völker selber sind es, deren Erhaltungstrieb um den 
Vorrang mit einander in zähem Kampfe ringt. Nicht gewillt 
das Glück der nachfolgenden Generationen durch das Elend 
der gegenwärtigen zu befestigen, unfähig in dem Phantom einer 
glänzenden Arbeiterzukunft etwas anderes zu suchen als die 
Gegenwart, werden sie stets bereit sein, die Ideale gegen- 
wärtiger wirtschaftlicher Glückseligkeit durch alle Gräuel des 
Krieges zu verfolgen. Und keine wilderen Kriege wird es 
geben als die bevorstehenden der sozialistischen Regierungen 
gegen einander. Fern von Madrid haben unsere Könige jetzt 
Zeit, über die Nachteile einer allzugroßen Volksvermehrung 
nachzudenken! Da die Menschen noch nicht einmal begonnen 
haben, über die Ursachen ihres Elends nachzudenken, da ihre 
müden Gehirne sich dauernd alten Gedankenreihen hinzugeben 
pflegen, auch schlechterdings nicht einzusehen ist, wie, wenn 
sie erkannt wären, die wirtschaftlichen Interessen aller mit- 
einander in ein peinlich geregeltes, auf Gerechtigkeit auf- 
gebautes Gleichgewicht gesetzt werden könnten, wird der 
blutige Kampf der Menschheit nie erspart bleiben. Das Herz 
des Menschen will ihn, wenn auch der Intellekt ihn verab- 
scheut. Allen anders lautenden Beteuerungen sozialistischer 
Führer können nur Kinder, Frauen und Schwachköpfe Glauben 
schenken. Nicht in einer phantastischen Geburtenhetze liegt 
bevölkerungspolitisch das Heil für die alten Kulturländer 
Europas — insbesondere Österreich-Ungarns, Deutschlands, 
aber auch Sowjetrußlands, das 1918 die Bevölkerung des alten 
Zarenreiches auf 195000000 berechnete, sondern in der 


Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt 127 


Schaffung genügender Möglichkeiten des Erwerbs, welche die 
Existenz des Einzelnen und ihrer Familien über dem soge- 
nannten „Minimum“ gewährleisten. Auch in kleineren Staaten 
wie Schweden, Holland und Dänemark werden auch heute 
noch zahlreichere Kinder geboren als zur Erhaltung der 
Volkszahl nötig ist. (Rössle, Demogr. Material der Bevölkerung 
indischer Kulturstaaten in den ersten Jahrzehnten dieses Jahr- 
hunderts, Archiv für soziale Hygiene und Demogr. II Bd. 1916.) 
Dieses widrige Gewäsch über den Geburtenrückgang wirkt 
deshalb so aufstoßBend, weil es besonders aus jenen staats- 
und kirchenerhaltenden Kreisen stammt, welche das grausame 
Herrschaftsverhältnis des Mittelalters je eher je lieber wieder 
aufrichten, Massen hungernder Proletarier mit der Miene be- 
lästigter Wohltäter und der Knute hinter dem Rücken Brot 
verabfolgen und wenn es nötig sein sollte, sie auf Anraten 
eines neuen Luther wie tolle Hunde totschlagen und mit 
„Schlachten und Würgen von Bauernvieh“ sich das Himmelreich 
erwerben möchten. Es ist eine beliebte Spielerei berühmter 
Geographen, auszurechnen, wie viel Menschen die Erde zu 
ernähren imstande ist. So bezeichnete kürzlich der Berliner 
Gelehrte Penck in seiner Rede über „die Grenzen der Mensch- 
heit“ die Ziffer von 16 Milliarden als die Grenze, bis zu welcher 
die Ernährungsmöglichkeiten der Erde unter Hinzunahme aller 
tropischen Urwaldgürtel zu steigern seien und entrollte damit 
vor der inneren Anschauung derer, die noch die Einsamkeit 
als einen unermeßlichen, die Denkkraft und die Gesundheit 
steigernden Wert zu schätzen wissen, ein Bild des Grauens, 
dem gegenüber Dante’s Hölle nur ein gemütliches Kabarett 
darstellt. Es bedarf übrigens nur einer kurzen Betrachtung, 
um das völlig Illusionäre dieser Penck’schen Berechnung nach- 
zuweisen. Die Völker der heißen Zone vermehren sich im 
Allgemeinen im Gegensatz zu der weißen Rasse, insbesondere 
der deutschen, nur in äußerst schleppendem Tempo. Während 
z.B. in den neuesten wissenschaftlichen Handbüchern die Zahl 
der Bewohner Marokkos, das an Größe Deutschland weit überragt, 
auf 10 Millionen angegeben wird, sind es nach genauen Be- 
rechnängen der Franzosen nur 3200000. Demgegenüber hat 
Groß-Berlin allein heute trotz der Kriegsverluste schon die 
vierte Million erreicht. Allerdings sind die Marokkaner keine 
Krüppelzüchter wie die Deutschen, die in der Erhaltung minder- 


128 Kafemann; Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt 


wertiger Leben eine wichtige „soziale Aufgabe“ sehen. Darfur 
sollte nach Nachtigalls Angaben 3500000 Einwohner besitzen, 
während es nach heutigen Berechnungen der englischen Regierung 
nur 500000 sind. Eine Besiedlung dieser tropischen Gebiete 
durch Europäer, die sich wohl bereitwilliger zur Zeugung zeigen 
würden, ist aber des Klimas wegen völlig ausgeschlossen. 
Versuche gewaltsamer Akklimatisierung würden in der zweiten, 
spätestens dritten Generation zum völligen Erlöschen der aus- 
gewanderten Europäerfamilien führen. Bezüglich der Zukunfts- 
aussichten der Vereinigten Staaten hielt einige Jahre vor dem 
Kriege der kluge Mr. James Hill, Präsident der Great Northern 
Eisenbahn, einen höchst bedeutenden Vortrag, dem ich folgendes 
entnehme: Hill schätzte die mutmaßliche Bevölkerungszahl der 
Vereinigten Staaten im Jahre 1920 auf 117036229, 1930 auf 
142091663 und 1950 auf 204041223. Die erstaunliche Be- 
schaffenheit dieser Zahlen stelle die Größe unseres Problems 
dar, Es sei nicht ein Problem von morgen, sondern von heute. 
Binnen 44 Jahren würden wir uns den Bedürfnissen von 
200000000 Menschen gegenüber sehen. In weniger als 30 Jahren 
von diesem Moment an werde unser Land 130000000 Menschen 
beherbergen. Wie sei diese Volksmenge, die nicht irgendeinem 
dämmerigen, entfernten Zeitalter angehöre, sondern der gegen- 
wärtigen zur Mannheit heranwachsenden Generation, zu be- 
schäftigen, wie zu ernähren?? Werde plötzlich dieses Problem 
mit grellem Licht beleuchtet, so erkennen wir, daß wir nicht 
etwa eine Spekulation vor uns haben, sondern das grimmige 
Angesicht einer Erscheinung, welche die die abscheulichen 
Straßen in der Hoffnung auf Nahrung und Obdach ablaufenden 
Arbeitslosen bedroht. Dieses Bevölkerungsproblem werde ohne 
Zweifel auf eine Beschränkung der Einwanderung hinwirken, 
und es werde mehr akut werden, wenn das verfügbare Land 
zu Ende gehe, Jeder Acre öffentlichen Landes werde während 
der nächsten 15 Jahre bei dem gegenwärtigen Maßstab der 
Aufsaugung verschwunden sein. Holz und mineralische Hilfs- 
quellen würden verschwenderisch vergeudet, und obgleich der 
Verlust des ersteren bis zu einem gewissen Grade wieder gut 
gemacht werden könne, könnten die letzteren niemals wieder 
ersetzt werden. Mr. Hill glaubt, daß um 1950 herum Amerika 
sich dem eisenlosen Zeitalter nähern, und daß zu derselben 
Zeit die beste und geeignetste Kohle verbraucht sein wird. 


Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt 129 


„Woran wird man dann seinen Rückhalt haben?“ — „Einzig 
und allein an dem Lande“ sagt Mr. Hill. „Amerika sei vor- 
wiegend und ursprünglich ein Ackerbau treibendes Land. Sein 
Boden sei bis jetzt behandelt worden wie seine Wälder und 
seine mineralischen Schätze. Einzig und allein weil der Boden 
länger duldend, weil der Prozeß der Erschöpfung schwieriger 
ist und einen längeren Zeitraum in Anspruch nimmt, seien wir 
der Gefahr entronnen, welche so deutlich in anderen Gebieten 
sichtbar werde. Die sorglose Verteilung von Land, seine 
Verteilung an alle, die darnach lüstern waren, die Preisgabe 
großer Strecken zu Weidezwecken, habe viel von dem nationalen 
Erbteil verschlungen. Nur die Hälfte des in privatem Besitz 
befindlichen Landes sei jetzt beackert. Die Kultur dieser Hälfte 
produziere nicht die Hälfte dessen, was das Land zu erzeugen 
imstande wäre, ohne auch nur ein Atom von seiner Fruchtbarkeit 
zu verlieren. Zu der Schätzung Hill’s möchte ich hier nur 
berichtigend bemerken, daß wie so ziemlich alle derartigen 
Schätzungen auch die seinige erheblich größere Zahlen 
annimmt, als dann zu den verschiedenen Terminen von 
den in Frage kommenden Volkskörpern erreicht wurden. 
So hat die soeben vollzogene Volkszählung der Vereinigten 
Staaten zur großen Enttäuschung der an Kolossalismus ge- 
wöhnten Amerikaner nur 105000000 ergeben, während man auf 
110, Hill sogar auf 117 Millionen gerechnet hatte. Sehr 
rosig urteilte kürzlich der Statistiker des amerikanischen 
Ministeriums des Innern, Franklin K. Lano. Von zehn ameri- 
kanischen Familien hätten nicht weniger als sechs ein Telephon. 
Von den 25 Millionen Familien, die die Bevölkerung der Ver- 
einigten Staaten enthält, seien nicht weniger als 14 Millionen 
Besitzer eigener Häuser. Von dem Grund und Boden der 
Vereinigten Staaten sei bisher nur erst der vierte Teil kultiviert; 
wäre demnach der Boden in dem gleichen Verhältnis wie in 
Europa der Kultur zugänglich gemacht, so würde die Er- 
nährung einer Bevölkerung von 500 Millionen Köpfen gesichert 
sein. Wir glauben, daß sich beider Anschauungen gut ver- 
einigen lassen. Lano scheint nur die aufs äußerste ausgenutzte 
Produktionsmöglichkeit ‘des Landes, die ja auch Hill hoch 
einschätzt, aber einer Chinaisierung gleich kommen würde, in’s 
Auge zu fassen, dagegen nicht die drohende RER der 
Rohstoffe. Bleiben wir bei Deutschland! 
(Fortsetzung folgt.) 


130 R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos 


DAS WEIB IM ALTINDISCHEN EPOS. 


Von Universitäts-Professor Dr. RICHARD SCHMIDT, Münster. 
(Mit Tafel V—VII.) (Fortsetzung.) 


Mas bespricht nun in Kapitel VI—IX das rein Sexuelle: Das 
Weib in seinen geschlechtlichen Beziehungen, der Ge- 
schlechtsgenuß (surata), die geschlechtliche Enthaltsamkeit des 
Mannes und die öffentliche Frau (der käufliche Liebesgenuß). 
Seiner Gewohnheit entsprechend stellt er an die Spitze eine 
Charakterisierung der indischen Ansichten über diese Dinge, 
die so gelungen ist, daß ich es mir nicht versagen kann, das 
Treffendste hier wörtlich mitzuteilen. Es ist ja von vornherein 
zu erwarten, daß auch das Epos zu diesem unerschöpflichen 
Gegenstande viele Einzelheiten beisteuert. „Aber gemäß der 
strengeren, verhältnismäßig reinen und sittlichen Anschauung, 
von der die epische Dichtung beherrscht wird, dürfen wir hier 
keine bunte Menge verliebter oder gar schlüpfriger Abenteuer, 
Anspielungen usw. suchen. Ehebruchsdramen und -dramolette 
oder lustige Hahnreihanekdoten gehören nicht zu der Kost, die 
hier vorgesetzt wird, und auch die in vielen anderen Ländern 
so alltäglichen und in der späteren indischen Literatur nicht 
seltenen lockeren Verhältnisse zwischen Mädchen und Männern 
sind dem Epos eigentlich fremd, trotzdem sogar Vyasa, der 
angebliche Verfasser und nicht unwichtige Mitspieler des 
Mahabharatam, und der in der indischen Literatur unerreichte 
Held Karna Jungfernsöhne sind... Wahr ist es: auch das 
Epos enthält gar manche Geschichten und Angaben, die in der 
westlichen Welt als unanständig gebrandmarkt würden. Aber 
da tut man ihnen sehr unrecht. Dergleichen wird fast durch- 
weg geradezu mit wissenschaftlichem Ernste vorgetragen, mit 
einer solchen einfachen Selbstverständlichkeit, als ob man sich 
in einem anatomischen Lehrsaal befände. Der Inder, der ältere 
italienische Novellist, ein französischer Dichter der Troubadour- 
zeit und z. B. ein Brantöme können anscheinend so ungefähr 
dasselbe erzählen, aber si duo faciunt idem, non est idem. 
Brantöme grunzt in seiner Pfütze wie fünfhundert erotomanische 
Säue; der Fabliaupoet bewirtet sogar mit den widerlichsten 
Schlüpfrigkeiten, manchmal ziemlich fein, oft aber nach unserem 
Empfinden unsäglich roh; aus des Italieners Gesicht schaut 
nicht selten mehr ein recht unartiger, aber beinah unschuldiger 


R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos 131 


Naturmensch, man möchte beinah sagen: Gassenbube' hervor, 
dies sogar bei vollendeter Geistes- und Stilbildung. Wie aber 
der alte Inder, wenigstens gewöhnlich, so etwas darstellt, das 
zeigt sich hoffentlich deutlich genug auch in diesem Buche. 
Liebesmären nach der landläufigen, vor allem auch europäischen 
Art, sind also nicht Sache des Epos. Liebe und Ehe läßt 
sich hier nicht trennen. Der trojanische Krieg entstand, weil 
eine leichtfertige Gattin sich gerne entführen ließ — der 
Kampf zwischen den Pandava und den Kaurava, der Gegen- 
stand des eigentlichen Mahabharatam, entbrennt, wie uns die 
Dichtung selber mehrere Male versichert, weil man die Schmach 
nicht vergessen kann, die einer edlen Frau angetan worden 
ist, obgleich dies ja nur gelten kann als „the straw that breaks 
the camel’s back“; und im Ramayana handelt’s sich eigentlich 
bloß darum, den frechen Räuber der keuschen Sita zu züch- 
tigen und die Hoheitsvolle zu befreien. Die Weltliteratur hat 
keine schöneren Lieder von der gattentreuen Liebe des Weibes 
als die Dichtung von Damayanti und die von Savitri. Beide 
stehen im Mahabharatam, und es sind nicht die einzigen, die 
diesen Vorwurf behandeln. Die Heldin des Ramayana vollends 
hat seit Jahrtausenden in Indien als Bild fleckenlosester 
Weiblichkeit geleuchtet.“ 

Mit dem Eintritt der monatlichen Reinigung beginnt für 
die Frau nicht nur die Befähigung und das Recht zum vollen 
geschlechtlichen Leben, sondern auch die Verpflichtung dazu. 
Daher die Sorge, die nun für die Eltern anhebt, falls sie nicht 
das Glück gehabt haben, ihre Tochter noch vor der ersten 
Menstruation zu verheiraten; denn es bedeutet eine schlimme 
Sünde, ein menstruierendes Mädchen im Hause zu haben; da 
dieses sozusagen nicht mehr dahin gehört, sondern unter die 
Botmäßigkeit der Gottheiten des Ehestandes gekommen ist. 

Bei jeder Monatsreinigung hat aber die Frau nicht nur 
das erhöhte Verlangen nach der Kohabitation, sondern auch ein 
heiliges Anrecht darauf; und so ergibt sich denn die so oft 
eingeschärfte Pflicht des rtugamanam für den Gatten, d. h. 
er muß sich der Frau in den ersten zwölf bezw. sechzehn 
Nächten nach Eintritt der Menstruation nahen; Unterlassungs- 
sünden gelten hier als schwerer Frevel! Fährt die pflicht- 
vergessene Frau zur Strafe zur Hölle, so wird der nachlässige 
Mann einem Embryo-Töter gleichgeachtet. Beide Epen zählen 


+32 R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos 


solche Versäumnis unter der Zahl der schaurigsten Vergehen 
auf, die in der anderen Welt schwer zu büßen sind; umgekehrt 
aber wird das rtugamanam eine hohe Tugend genannt, die 
in den Himmel führt und selbst einem Sudra (Pariah) dazu 
verhilft, mit der Zeit als Brahmane wiedergeboren zu werden; 
es wird ebenso bewertet wie die völlige Enthaltsamkeit des 
Mönches. Wer außerhalb der angegebenen Zeit seiner Gattin 
sich naht, also die für die Erzielung von Nachkommenschaft 
geeigneten Nächte unbenutzt vorübergehen läßt, der sündigt 
ebenso wie der Verfehmte, der eine Kuh tötet, seinen Leib 
ins Wasser entleert oder den göttlichen Ursprung der Veden 
leugnet. Daß man sich nicht in Liebesbrunst, sondern nur in 
Erfüllung der heiligen Pflicht des rtugamana begattete, macht 
eine der Segnungen des goldenen Zeitalters aus, wo die 
Menschen von allen körperlichen und seelischen Schmerzen 
befreit waren, niemand als Kind starb, keiner ein Weib erkannte, 
ehe er die Jugendblüte erreicht hatte, die Könige mit Gerechtig- 
keit regierten und es zur richtigen Zeit regnete. 

So koscher aber die Frau ist, wenn sie nach Beendigung 
ihres Monatsflusses das vorgeschriebene Bad genommen hat, 
so unsauber (im rituellen Sinne) ist sie, während sie noch 
menstruiert; und sie da besuchen ist streng verpönt, wie wir 
gesehen haben. 

Entsprechend der indischen Anschauung, daß die Frau 
erotischer ist als der Mann — sie soll ein achtmal so starkes 
Liebesverlangen haben als dieser — ist der Liebesgenuß für 
sie sehr nötig; sie altert, wenn er ihr versagt bleibt: asam- 
bhogo jara strinam, heißt es mit natürlicher Offenheit in 
Indien, und die Heldinnen des Epos tragen denn auch kein 
Bedenken, gelegentlich ihre gesunde Freude an den „goldenen 
Geschenken der Dione“ zu bekunden, wie z. B. Lopamudra es 
tut. Aber es wird auch von Männern erzählt, deren Ideal der 
Umgang mit Tausenden von jugendschönen Frauen ist. 

Die raffinierte Liebeskunst, wie sie uns im Kamasutram 
und in der Iyrischen Dichtung entgegentritt, mit ihren zahl- 
reichen figurae Veneris und oft gar zu absonderlichen Arten 
von Zärtlichkeitsbezeugungen, werden wir im Epos vergeblich 
suchen; Meyer gibt S. 179 nur eine einzige Strophe, die auf 
das Kratzen mit den Nägeln anspielt. So hört man auch so 
gut wie nichts von Stimulantien, abgesehen vom Fleischgenuß, 


R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos 133 


der einmal für diejenigen empfohlen wird, die mit ganzer Seele 
dem „Dörflerbrauch“ ergeben sind. Die Erotiker haben hier 
eine reiche Auswahl von Rezepten, für die ich auf meine Beiträge 
zur indischen Erotik $. 842 ff. verweisen darf. Erwähnen will 
ich nur, daß das Pflanzenreich dabei eine sehr große Rolle 
spielt; man bereitet die Drogen gewöhnlich mit Milch, die mit 
Zucker oder Süßholz gesüßt wird. An erster Stelle nennt das 
Kamasutram den Knoblauch; von anderen Zutaten wären Bocks- 
und Widderhoden sowie der Inhalt von Sperlingseiern und 
Moschus zu nennen. Mucuna pruritus, Buchanania latifolia, 
Sanseviera Roxburghiana, Hedysarum gangeticum, Trapa 
bispinosa, Scirpus kysoor, Asparagus racemosus, Piper longum, 
Anethum sowa sind einige der gebräuchlichsten Pflanzen, die 
hier der Natur zu Hilfe kommen müssen. Weiter gibt es 
Vorschriften zur Vergrößerung des Penis, zur Erweiterung resp. 
Verengerung der Vagina, zur Verhütung vorzeitiger Ejakulation, 
zur Erzielung des Orgasmus der Frau und noch manche andere 
schöne Sachen, wozu auch noch meine Zusammenstellung be- 
sonderer Praktiken zu vergleichen wäre, die ich in Liebe und 
Ehe S. 161 ff. gegeben habe. 

Von den Lehren, die sonst noch aus dem Epos zu ent- 
nehmen sind, wäre noch zu erwähnen, daß die Ausübung des 
Coitus als verunreinigend angesehen wird, weshalb die Be- 
treffenden danach der Gewalt der Dämonen verfallen sind. 
(Daher die im Kamasutra und bei den Juristen vorgeschriebene 
Waschung!) Auch soll der Akt im Verborgenen stattfinden. 
Einen scheußlichen Frevel bedeutet der coitus in ore conficiendus, 
der als eine der Verirrungen namhaft gemacht wird, die gegen 
Ende der Welt aufzutreten pflegen.*) Ebenso verpönt ist die 
Homosexualität, die Unkeuschheit während der Darbringung 
des Ahnenopfers und die Begattung am Tage. Als Fasttage 


8) Das Kamasutram hat ein eigenes Kapitel darüber (S. 165ff. des 
Textes, 211 ff. meiner Übersetzung) und bespricht alle möglichen Variationen, 
Aber die Sache ist dem Verfasser selber so widerlich erschienen, daß er 
am Schlusse seine Lehren sehr mit Vorbehalt empfiehlt: „Sund quidam 
eiusmodi homines, sunt quaedam regiones, sunt quaedam tempora, quibus 
praecepta illa non inutilia erunt. Itaque postquam et regionem et tempus 
et usum et compendium et te ipsum consideraveris, praeceptis illis aut 
obtemperato aut ne obtemperato. Quae res cum sec-etum aliquod 
atque mens varia sit, quis igitur est, qui disceptare possit, quis aut quando 
aut quo modo quidque conficiat?“ 


134 R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos 


endlich sind gesetzt die Neumondsnacht, die Vollmondsnacht, 
die achte und vierzehnte Nacht jeder Monatshälfte. Viel mehr 
bieten für alle diese und ähnliche Dinge die Rechtsgelehrten 
und dann natürlich die Erotiker, die z.B. einen richtigen Ka- 
lender für die vier Klassen der Frauen aufgestellt haben, anderer 
höchst belehrender Sachen gar nicht zu gedenken. (Eine Menge 
Einzelheiten bei Meyer S. 172ff. und in meinen Beiträgen zur 
indischen Erotik.) 

Daß der Ehebruch immer wieder im Epos gebrandmarkt 
wird, kann bei der hier geltenden Hochachtung vor der Ehe 
nicht wundernehmen. „Die Männer, die nur an der eigenen 
Gattin ihre Lust finden und gegen andere Frauen beständig 
wie gegen ihre Mutter, ihre Schwester, ihre Tochter handeln, 
die, deren Augen gegen fremde Frauen durch den guten Wandel 
zugedeckt sind; die fremde Frauen, auch wenn diese ihnen im 
geheimen mit Liebe nahen, selbst in Gedanken nicht schädigen, 
die gehen in den Himmel ein“. Die mannigfachsten Strafen 
werden dem Ehebrecher angedroht: er muß so viele Jahre in 
der Hölle sitzen, als die Frau Poren am Leibe hat; er wird als 
Impotenter wiedergeboren oder als Schwein, Hund, Katze, Hahn 
und Wurm; in der Hölle wird er gebraten wie ein Fisch oder 
muß dort Eiter und Blut essen. Als besonders schlimm be- 
zeichnet das Epos und mit ihm die ganze übrige Literatur die 
Schändung des Bettes des Lehrers durch den Schüler. Ein 
solcher Sünder soll sich auf eine glühende Eisenplatte legen, 
sein Glied abschneiden und mit emporgehobenen Augen so weit 
gehen, bis er tot hinfällt; dann ist seine Tat gesühnt. Das 
glühende Lager wird auch für den Ehebrecher empfohlen, zu 
dem sich eine Frau aus höherer Kaste herabgelassen hat: sie 
selbst soll auf öffentlichem Platze von Hunden zerfleischt werden! 

Man sieht, theoretisch wenigstens ist es dem Indern Ernst 
mit dem Schutze des Thorus. Nicht einmal ansehen soll man 
ein fremdes Weib, wenn es nackt ist; wer es doch tut, wird 
als Blinder wiedergeboren. So wird denn im Epos die Keuschheit 
des Mannes hoch gefeiert; sie ist „die höchste Tugend“, aber 
der Gipfel ist doch die völlige Enthaltsamkeit, wie der Asket 
sie übt. Für einen solchen gibt es auf Erden nichts Unerreich- 
bares; seine Tugend verbrennt alles Böse und Unreine. Freilich 
ist auch er gegen die Weiblichkeit nicht durchaus gefeit: das 
Epos kennt den später so oft verwerteten Zug, daß die Götter, 


R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos 135 


um sich der unwiderstehlichen, selbst ihre Stellung bedrohenden 
Macht eines solchen Heiligen zu erwehren, eine der Himmels- 
hetären entsenden, die dann für gewöhnlich mit ihren Reizen 
den Sieg davongetragen, wenn es auch bisweilen nicht gleich 
gelingt. Es gibt aber im Mahabharatam auch Fälle, wo der 
Asket schon durch den bloßen Anblick eines schönen Weibes in 
Orgasmus gerät. 

Ein ganz merkwürdiger Gegensatz ist es nun nach allem, 
was wir bisher von Frauenwert und -würde gehört haben, daß 
wir die öffentliche Dirne in Indien eine Rolle spielen sehen, 
die uns einfach unerklärlich erscheinen müßte, wenn wir nicht 
bedächten, daß wir eben in Indien, dem Musterlande der grellen 
Gegensätze, sind. Dort in Waldeinsamkeit der Büßer, der 
den tiefsten Geheimnissen nachgeht und sein Fleisch abtötet, 
hier im Gewoge der Stadt die oft sehr reiche und vornehme, 
wie nicht minder gebildete Kurtisane! Schon im Veda wie im 
Epos ist die Hetäre eine ganz selbstverständliche Erscheinung 
und bildet einen wichtigen Teil des städtischen Gemeinwesens, 
wenn sie auch in der gesellschaftlichen Rangordnung einen 
tiefen Stand einnahm. Ihre rote Gewandung, die ja an Tod 
und öffentliche Hinrichtung erinnern könnte, soll nichts der- 
gleichen andeuten, sondern sie nur den Männern leichter 
kenntlich machen. 

Die Helden des Mahabharatam sind reichlich mit solchen 
Schönen versehen, die zu Beginn des Kampfes hinten beim Troß 
ihren Platz finden. Sie bilden überhaupt das unentbehrliche Zu- 
behör jedes feierlichen Auf- und Auszuges, bei Jagden, ländlichen 
Vergnügungen und Picknicks, wie es das Kamasutram ebenso 
anschaulich als amüsant beschreibt (S. 71 meiner Übersetzung; 
man vergleiche auch den ganzen sechsten Teil sowie Meyers 
oben erwähnte Bücher, denen noch seine Übersetzung von 
Damodaragupta’s Kuttanimatam [Lehren einer Kupplerin] Leipzig 
1903, hinzuzufügen wäre.) So ist „die Buhldirne nicht nur der 
Schmuck des Lagers, sondern auch des bürgerlichen Gemein- 
wesens; die farbenschönste, duftigste Blume, die sich die Stadt 
recht offensichtlich ins Haar steckt, wenn ein Fest oder sonst 
ein frohes Ereignis gefeiert wird“ (Meyer S. 201). Den sieg- 
reichen König begrüßen bei seinem Einzuge in die Stadt die 
schön geschmückten Kurtisanen; bei Rama’s Weihe zum „Jung- 
könig“ stellen sich die Freudenmädchen innerhalb des Palastes 


136 R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos 


auf: alles Züge, die auf das lebhafteste an abendländische 
Erscheinungen erinnern. (Meyer S. 198—205 und namentlich 
seine Anmerkungen dazu.) 

Selbstverständlich eifert das Epos gelegentlich auch heftig 
gegen die Freudenmädchen. Dem Fürsten wird geraten, Trink- 
hallen, Dirnen, Handelsleute, Schauspieler, Glücksspieler und 
ähnliche Leute als Schädlinge des Reiches zurückzustemmen. 
Besonders kräftig aber ist der Spruch XIII, 125, 9: „So schlimm 
wie zehn Schlachthäuser ist ein Ölmüllersrad, so schlimm wie 
zehn Ölmüllersräder ein Wirtshausschild, so schlimm wie zehn 
Wirtshausschilder eine Hure, so schlimm wie zehn Huren ein 
König.“ 

Nach solchen Expektorationen darf man ruhig annehmen, 
daß die Hetäre im Epos, bei aller ihrer unleugbaren Bedeutung 
für das Geschlechtsleben des Inders der damaligen Zeit, doch 
keineswegs als die Verkörperung wahrer Frauenhuld gefeiert 
wird, wie es wohl in der Kunstpoesie so ausgiebig geschieht. 
Man braucht ja nur an die herrliche Gestalt einer Damayanti, 
einer Savitri zu erinnern, denen man noch viele ähnliche, zart 
und treu liebende Mädchen und Frauen aus dem Epos zur 
Seite stellen könnte, um gewiß zu sein, daß diese das wahre 
Ideal des Inders sind, nicht die käuflichen Schönheiten. Meyer 
ist durchaus im Rechte, wenn er auch für die epischen Zeiten 
ein gut Teil echter Liebesromantik bei den Frauen, aber auch 
bei den Männern in Anspruch nimmt, die uns ganz deutsch- 
innig anmutet. Die Liebesgeschichte des Samvarana, des Ruvu, 
der Riesin Hidimba, die Klagen Rama’s um seine geraubte 
Gattin — all das ist so schön, so voll tiefster Empfindung, 
wie nur irgendein Herzensroman sein kann. Es fehlt hier auch 
nicht der Ritter, der für die Dame seines Herzens mit Riesen 
und Geistern kämpft: Bhimasena, der „übermütige Kraftgeselle“, 
der sich auch darin ritterlich zeigt, daß ihn allein unter fünf 
Brüdern die der gemeinsamen Gattin angetane Schmach empört. 
Er rächt sie denn auch fürchterlich. — 

* 

Der Mann wendet seine Liebe oder besser gesagt: seine 
Brunst häufig genug auf ein Weib, nicht um es zu heiraten, 
sondern um es zu genießen, wobei er auch in Indien ganz wie 
bei uns mit Vorliebe die Dienerinnen und Mägde aufsucht, 
ohne dabei auch nur das geringste Bedenken zu haben. Ne sit 


R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos 137 


ancillae tibi amor pudori ... Schwerenöter gab es da eine 
hübsche Menge, und sie hatten zu ihrer Entschuldigung, falls 
sie eine brauchten, den Hinweis auf den Götterkönig Indra, der 
in diesem Punkte aufs Haar genau Zeus gleicht. Ihm wird 
geradezu die Schuld daran zugeschrieben, daß durch sein böses 
Beispiel die Buhlerei auf Erden eingerissen sei (Ramayana VII, 
30, 33). Was der Don Juan aber hienieden nicht fertig bringt, 
dazu hat er reichlichste Gelegenheit im Himmel, wo ihn die 
Heerscharen der Apsarasen, eine Art Walküren und Huris, mit 
überschwänglichen Liebesfreuden erwarten. Sie sind der Preis 
der Tapferkeit, dessen Erreichung die Krieger anspornt; sie sind 
auch der Lohn für Askese, Almosengeben, Beschenkung der 
Brahmanen usw., wenn auch im Epos der Krieger „als Haupt- 
anwärter auf jene feschen Himmelsweiber hervortritt“. 

Sine Baccho friget Venus — das wußten die alten Inder 
auch schon und haben sich, Männlein und Fräulein, ehrlich 
bemüht, Venus hübsch warm zu halten. Die Helden des Epos 
verachten Liköre und Schnäpse so wenig wie Fleisch (Rama 
ist auf diesem Gebiete geradezu Gourmet!), was alles in 
späterer Zeit, in den Gesetzbüchern und sonstigen streng- 
brahmanischen Schriften ja bekanntlich durchaus verpönt ist. 
Gelegenheit zu galanten Abenteuern bieten die öffentlichen 
Gärten und Lusthaine, und dazu gehört der Rauschtrank, den 
sich selbst die edelsten Frauen fleißig einschenken lassen, bis 
sie einen allerliebsten Schwips weghaben. Das war keine 
Schande, bewahre! Die größten indischen Kunstdichter haben 
das Motiv „das trunkene Mädchen“ gern benutzt, um es zu 
den phantasievollsten Strophen zu verarbeiten. Unter dem 
Einfluß des Alkohols erscheint die Frau dem Inder ganz be- 
sonders reizend, weil dadurch die Liebe entflammt wird; die 
von Natur verschämte Geliebte umarmt im Rausche gern den 
Mann, und im Ramayana trinkt sich die Witwe Valin’s sozusagen 
erst Mut, bevor sie sich neuen Liebesfreuden hingibt. Aber 
man betrank sich ganz gern auch noch bei anderen Gelegen- 
heiten, an denen es ja nicht mangelte: weltliche Feste gab es 
genug, und selbst die großen Opferfeiern wurden dazu von 
beiden Geschlechtern benutzt. 

Natürlich kennt das Epos auch noch die poetischen, 
romantischen Entflammer der Liebe: den Frühling vor allem 


mit der erwachenden Pracht der Natur, dem Pilanzengrün, 
10 


138 R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos 


Vogelgesang und Bienengesumme; den Mondschein und den 
Wind vom Malaya (unsere „lauen Lüfte“). Alles dies gehört 
zum eisernen Bestande der indischen Poesie von den epischen 
Zeiten an, und es gibt wohl kaum einen Dichter, der nicht 
wenigstens mit einer Strophe dieser Liebeserreger gedächte, 
die auch in den Werken der Ästhetiker eine bedeutende Rolle 
spielen. Für einen locus classicus über diese Dinge erklärt 
Meyer S. 244 die Stelle Ram. IV, 1 ff, die er dort in Über- 
setzung wiedergibt. 

Wer aber der Herrlichkeit der Natur und allen sonstigen 
Lockungen gegenüber immer noch kühl blieb, für den hielt 
Indien, das Land der Magie, eigens gebraute Liebestränke und 
kräftige Zauber bereit. Namentlich hantierten die Frauen mit 
derartigen Sachen, sei es, um sich die Liebe des Gatten zu 
erwerben oder zu erhalten, sei es, um einen Nebenbuhler zu 
vernichten. Vergl. darüber weiter oben, S. ?. Daß die Inder 
alles daran setzten, eine geliebte Person zu gewinnen, ist ja 
ganz natürlich. Nicht die Erotiker allein erklären die Liebe 
für das höchste aller Erdengüter: auch die fünf Heldenbrüder 
des Mahabharatam unterhalten sich über die schwere Frage, 
welches der drei Lebensziele — dharma (Pflicht, Religion, 
Tugend), artha (weltlicher Vorteil, Reichtum, hohe Stellung 
usw.) und kama (Vergnügen, Genuß, Liebe) — das vor- 
nehmste sei, und Bhima entscheidet sich für das letztere. 
„Denn besser ist das Öl als der ausgepreßte Ölkuchen, und 
besser die geschmolzene Butter als die Buttermilch. Besser 
ist die Blüte und die Frucht als das Holz, vorzüglicher kama 
als artha und dharma. Wie der Honig der süße Saft ist aus 
der Blume, so kama aus diesen beiden nach der Lehre der 
Überlieferung. Kama ist der Mutterschoß des dharma und des 
artha, und kama macht ihr Wesen aus. Ohne kama wäre das 
verschiedenartige Treiben der Welt nicht denkbar.“ 

Endlich sei noch der Tatsache gedacht, daß im Epos 
häufig genug auch Liebes- und Eheregeln vom makrobiotischen 
Standpunkte gegeben werden. Sie stehen im Einklang mit 
dem, was die Ars amandi und die Gesetzbücher darüber zu 
sagen wissen, d. h. verboten ist der Coitus am Tage, mit der 
Gattin des Königs, von Ärzten, Dienern, Verwandten, Schutz- 
befohlenen usw. (Das Kamasutram nennt Aussätzige, Verrückte, 
Ausgestoßene, Geheimnisse Verratende, öffentlich Einladende;, 


R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos 139 


solche, deren Jugend größtenteils vorüber ist; allzu Helle, allzu 
Dunkle, übel Riechende, Verwandte, Freundinnen, Nonnen und 
die Frauen von Verwandten, Freunden, Lehrern und Königen.) 
Auch die zum Liebesbesuche in das Haus des begehrten 
Mannes gehende Schöne treffen wir im Epos; aber sie spielt 
doch bei weitem nicht die Rolle wie in der späteren Lyrik. 
Ganz fehlt die pedantische Einteilung der Männer und Frauen 
nach zum Teil sehr delikaten Merkmalen, mit der uns die 
Erotiker und Poetiker aufwarten und die z. B. für die Frauen 
bei letzteren die hübsche Summe von 384 Arten umgibt, wie 
man sich in meinen Beiträgen zur indischen Erotik S. 255—315 
überzeugen kann. 

Dafür gibt uns das Epos aber eine Definition der Liebe, 
allgemeiner gesagt: des kama, die ich den Lesern nicht vor- 
enthalten darf: „kama, diese begehrende Vorstellung des 
Geistes, ist die Freude, die bei der berührenden Verbindung 
mit körperhaften Dingen entsteht, wenn die fünf Sinne, der 
Geist und das Herz sich mit einem Sinnengegenstande be- 
schäftigen.“ Noch schöner freilich definiert das Kamasutram 
(S. 19/20 meiner Übersetzung): „Das in der gehörigen Ordnung 
und je ‘auf ihrem Gebiete stattfindende Wirken der in dem 
zur Seele gehörenden Empfinden zusammengefaßten Sinne: 
Gehör, Gefühl, Gesicht, Geschmack und Geruch ist kama 
(Lust). Das erfolgreiche, infolge der besonderen Berührungen 
von der Wonne des Selbstbewußtseins begleitete richtige 
Empfinden derselben (Sinne) aber ist hauptsächlich kama 
(Geschlechtsliebe“). Wer es nun noch nicht erfaßt hat, was 
Liebe ist!! 

* 

Das Weib als Gattin: das ist ein Thema, welches in der 
ganzen indischen Literatur, folglich auch im Epos, immer 
wiederkehrt und unendlich schöne Variationen gezeitigt hat. 
Das strengere Sittengesetz erkannte der Frau eigentlich nur 
dann eine Daseinsberechtigung zu, wenn sie Gattin und Mutter 
wurde, weshalb auch das Mädchen nur als ein dem Vater vom 
Schöpfer übergebenes Pfand angesehen wird, welches jener 
sorgsam für den künftigen Gatten aufheben muß. So ist denn 
das Epos voll des Lobes der gattentreuen Frau; in immer 
neuen Wendungen preist der Dichter den Segen und das 


Glück, das sie ins Haus bringt. „Die Hälfte des Menschen 
10* 


140 R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos 


ist die Gattin, die Gattin ist der allerbeste Freund, die Gattin 
ist die Wurzel der drei Lebensziele, die Gattin ist die Wurzel 
dessen, was da retten wird. Wer eine Gattin hat, führt Taten 
aus, wer eine Gattin hat, ist Hausvater; wer eine Gattin hat, 
genießt Freude, wer eine Gattin hat, ist vom Glück begleitet. 
Sie sind die Liebes redenden Freunde in der Einsamkeit, 
Väter bei den Obliegenheiten der Pflicht, Mütter für den 
Leidenden, Ruhe sogar in Waldwildnissen für den wegemüden 
Wandrer.“ Solche und ähnliche Lobsprüche auf die treue 
Gattin könnte man einen stattlichen Band voll sammeln; aber 
wir werden sehen, daß das Lied manchmal auch ganz 
anders klingt! 

Die Aufgabe, die ein treffliches Weib zu erfüllen hat, ist 
jedenfalls ebenso erhaben als schwer, aber dafür ist auch der 
Lohn schon auf Erden ein köstlicher. Ja, die Phantasie des 
Inders weiß sie ins Märchenhafte zu steigern und hat Gestalten 
geschaffen wie die Brahmanin, die wegen ihrer Gattentreue 
allwissend ist, oder wie die, deren Keuschheit ihr die Gabe 
eingebracht hat, sich für jeden, der nicht völlig rein ist, un- 
sichtbar machen zu können (Meyer S. 259 ff). Da nun aber 
der Gatte nach indischer Anschauung für die Frau von edler 
Eigenart die höchste Gottheit ist, ob er auch einen schlechten 
Charakter hat, oder nach seinen Lüsten lebt, oder der irdischen 
Güter beraubt ist, und diese Gottheit, wie man sich wohl 
denken kann, in ihren Ansprüchen nicht immer gar zu be- 
scheiden war, so ist es für die Frau gewiß oft genug recht 
sauer geworden, den Ruf einer treuen Gattin zu erlangen und 
zu behalten. Am niederträchtigsten pflegten sich die „Heiligen“ 
zu benehmen, und man darf es der schikanierten Ehefrau eines 
solchen eingebildeten, leicht reizbaren Rüpels wahrlich nicht 
verdenken, wenn ihr schließlich auch einmal die Galle über- 
läuft und sie ihrem Herrn und Gebieter einfach durchbrennt. 
Was aber eine indische Hausfrau an körperlicher Arbeit zu 
leisten hatte, darüber später. 

Meyer bringt jetzt erst im XIl. Abschnitt (S. 269 ff.) eine 
Zusammenstellung dessen, was uns das Epos über Zeugung, 
Schwangerschaft und Geburt zu sagen hat. Was zunächst die 
Bildung des Sperma anlangt, so sind im Körper des Menschen 
tausende von Äderchen vorhanden, die, wie Flüsse das Meer, 
so den Leib speisen, indem sie die Säfte in Haut, Fleisch, 


R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos 141 


Sehnen, Knochen, Mark usw. überleiten. In der Mitte des 
Herzens ist nun die Ader manovaha (die Trägerin des 
manas, der Begehrlichkeit und Phantasie), die aus allen 
Gliedern das Sperma auslöst. Wie durch den Butterstößel 
die in der Milch befindliche Butter ausgeschieden wird, so“ 
das Sperma durch die verlangende Phantasie. Seine Gottheit 
ist Indra; daher heißt es auch indriya, Indra-Kraft. Aus 
seiner Vermischung mit dem Menstrualsafte bildet sich die 
Leibesfrucht, mit der sich dann die Seele verbindet, so daß die 
Frucht Bewußtsein bekommt und ihre Glieder bewegt. Zuerst 
heißt der Embryo kalala (Pünktchen), daraus entwickelt sich 
ein Bläschen (budbuda), und daraus ein Fleischklumpen 
(pesi), aus dem dann die Gliedmaßen hervortreten. Nach dem 
neunten Monat bildet sich die Individualität, Männlein oder 
Weiblein, je nach den Geschlechtsmerkmalen (oder besser, 
nach Meyers Vorschlag S. 275, Anm. 2: man erkennt die 
Individualität). 

Über die willkürliche Bestimmung des Geschlechtes sagt 
das Mahabharatam, wenn man in der Monatshälfte, in der der 
Mond abnimmt, am zweiten Tage die Ahnen verehre, so gebe 
es Mädchen; verehre man sie am fünften, so erlange man 
viele Söhne. XIII, 104, 151 heißt es dagegen: „Der Kluge 
gehe in der Nacht zu seiner Gattin, wenn sie sich am vierten 
Tage (nach dem Eintritt der Periode) gebadet hat; am fünften 
Tage wird’s ein Weiblein, am sechsten ein Männlein.“ Einig- 
keit herrscht hier so wenig wie in den Angaben, was die 
beiden Eltern zu der Bildung des Leibes beisteuern. Bald 
heißt es, vom Vater kämen Knochen, Sehnen und Mark, von 
der Mutter Haut, Fleisch und Blut; bald sollen die Söhne nach 
dem Vater, die Töchter nach der Mutter geraten, bald wird 
als landläufige Meinung vorgetragen, die Menschen würden in 
ihrem Charakter überhaupt nur von der Mutter bestimmt. 

Das Epos weiß endlich auch noch von fabelhaft lange 
dauernden Schwangerschaften zu berichten, die der Kuriosität 
halber hier erwähnt werden sollen. Sakuntala geht drei Jahre 
mit ihrer Leibesfrucht, Gandhari zwei: diese pufft schließlich 
ihren Bauch unter großen Qualen, worauf sie einen Fleisch- 
klumpen hart wie Eisen gebiert, den sie mit kaltem Wasser 
und dann mit zerlassener Butter behandelt, worauf sich hundert 
Söhne und eine Tochter entwickeln. Zwölfjährige Schwanger- 


142 R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos 


schaften kommen ein paar mal vor; eine Frau bringt es sogar 
zu hundert Jahren, trägt allerdings die Frucht dabei im 
Schenkel, geradeso wie der König Yuvanasva, der durch den 
Genuß von Weihwasser schwanger wurde, das eigentlich für 
seine Gemahlin bestimmt war! 

* 

Als Wöchnerin gilt die Frau für unrein und ist deshalb 
mitsamt dem Neugeborenen den Angriffen der bösen Geister 
ausgesetzt, die das Kind rauben und fressen; ja manchmal 
wird der Foetus noch im Mutterleibe durch Dämonen ver- 
nichtet. Daher werden denn eine Menge glückverheißender, 
geisterscheuchender Dinge im Zimmer der Kindbetterin auf- 
gestellt, Krüge mit Wasser, Kränze, Schmelzbutter, Senfkörner, 
blanke Waffen und Feuerbrände. Noch heute spielt das Feuer 
in der Wochenstube die wichtigste Rolle; es muß immer in 
Brand gehalten werden und ist dann allerdings das beste 
Abwehrmittel gegen die dunklen Gewalten. Sonst ist aus dem 
Epos über die Entbindung selbst nichts zu entnehmen; da 
muß man schon die Mediziner von Fach befragen, und wer 
es nicht kann, dem ist ja Jolly ein vortrefflicher Führer 
(Grundriß der indo-arischen Philologie III, 10). 

In ihrer Stellung als sorgende Hausfrau hat die indische 
Gattin auch im Epos oft ihre liebe Not. Meyer nennt da an 
erster Stelle das Abenteuer der Dranpadi mit dem wegen 
seines Jähzorn berüchtigten Heiligen Durvasas, der „eine 
kannibalische Freude darin findet, andere bis aufs Blut zu 
scharnickeln.“ Er kommt eines Tages, als die Essenszeit 
bereits vorüber ist, mit einer ungeheuren Schar von Schülern 
herbei und setzt die Hausfrau in die größte Verlegenheit, aus 
der ihr dann aber der Gott Krsna gnädiglich heraushilft. 
Andere Kochabenteuer bei Meyer 299 f. und im Dasakumara- 
caritam $. 302 ff. seiner Übersetzung. 

Im Hause soll die Frau auch sonst auf Ordnung halten 
und nichts herumliegen lassen. „Wo Geschirr umhergestreut 
ist oder zerbrochenes Gerät oder Sitzgerät sich befindet, in 
solch einem sündenschmutzverdorbenen Hause kommen die 
Frauen um. Die Gottheiten und die Ahnen kehren an den 
Festen und Feiertagen von dem sündenschmutzverdorbenen 
Hause hoffnungslos wieder um (weil sie dort nichts entgegen- 
nehmen können). Zerbrochenes Gerät und Bettgestell, Hahn 


R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos 143 


und Hund und ein am Hause wachsender Baum — das sind 
alles unheilbringende Dinge. Im zerbrochenen Gerät wohnt die 
Zwietracht, sagt man, im Bettgestell Schwund des Vermögens, 
in der Gegenwart des Hahnes und des Hundes essen die 
Gottheiten die Opferspeise nicht, in der Wurzel des Baumes 
wohnt sicherlich ein Kobold; darum soll man den Baum nicht 
pflanzen.“ Viel näher als das Epos macht uns freilich das 
Kamasutram mit den Pflichten einer Idealhausfrau bekannt: sie 
sind so zahlreich, daß man sich beinahe zu der Frage ver- 
anlaßt fühlt, was denn nun eigentlich noch für den Mann zu 
tun übrig bleibe! Die Forderung, daß die Frau auf Ordnung 
zu sehen habe, steht auch hier (S. 293ff. meiner Übersetzung) 
an erster Stelle: „Das Haus halte sie rein und wohlgesäubert; 
an den geeigneten Stellen sollen mannigfache Blumen hingestellt 
werden; der Fußboden sei glatt; der Anblick herzerfreuend; 
dreimal am Tage sollen die Opferspenden dargebracht werden; 
der Hausaltar werde in Ehren gehalten. Nichts anderes als 
dies (eine saubere Wohnung) wirkt auf den Hausherrn so 
herzgewinnend.“ Sie hat aber auch den Garten anzulegen, mit 
allerlei Küchenkräutern, Nutz- und Ziersträuchern zu bepflanzen, 
darin einen Brunnen und Teich zu graben, Geräte rechtzeitig 
und wohlfeil einzukaufen, auch Salz und Öl, kostbare Arz- 
neien usw. sorglich zu verwahren und in jeder Weise sparsam 
zu wirtschaften. „Sie verstehe das Bereiten von Schmelzbutter 
aus der bei der Mahlzeit übriggebliebenen Milch; ebenso von 
Öl und Melasse; das Spinnen von Garn aus Baumwolle und 
das Weben des Garnes; das Zusammendrehen von Hängen, 
Seilen, Stricken und Bast; die Arbeit des Stampfens und Ent- 
hülsens (von Getreide und Reis); den Gebrauch von Schaum 
und Schleim (zu Getränken für die Dienerschaft), Spelzen, 
Körnern, Parfüms und Kohlen; die Abschätzung des Lohnes 
urid Lebensunterhaltes der Diener; die Sorge für Landwirtschaft 
und Viehzucht und die Regeln für den Wagenbau; die Prüfung 
der Widder, Hähne, Wachteln, Papageien, Predigerkrähen, 
Nachtigallen, Pfauen, Affen und des Wildes; endlich das Ver- 
einbaren der täglichen Einnahmen und Ausgaben.“ Alle diese 
Pflichten und noch viele andere gegenüber dem Gatten und den 
Verwandten hat die Hausfrau in so ersterbender Demut zu 
erfüllen, daß sie sicherlich, wie auch das Epos deutlich genug 
sagt, im häuslichen Kreise nicht regier. Es heißt zwar im 


144 R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos 


Vermählungshymnus, der der uralten vedischen Zeit entstammt: 
„Sei Oberherrin über den Schwiegervater, sei Oberherrin über 
die Schwiegermutter“; aber sie darf ja in deren Gegenwart 
nicht einmal der Dienerschaft einen Befehl geben, und auch 
das Kamasutram schreibt ihr vor, sie solle den Schwiegereltern 
dienen, ihnen untertan sein, keine Gegenantwort geben, gemessene, 
nicht heftige Worte im Munde führen und nicht laut lachen. 
Aber doch ist eins gewiß: im Epos erklingt nie „ein Ton von 
dem uns so wohlbekannten Schwiegermutterliede. Ob die 
damalige indische Schwiegertochter wirklich so viel glänzender 
gestellt war, als häufig ihre spätere Schwester, läßt sich natürlich 
nicht ganz bestimmt entscheiden“. 

Um so besser werden wir im Epos über die Witwe unter- 
richtet, deren Los hier als durchaus traurig erscheint, wenn es 
auch zu den Pflichten des Landesvaters gehörte, die Gattinnen 
der Männer zu erhalten, die in seinem Dienste ums Leben 
gekommen waren. Das konnte aber naturgemäß nur ein kleiner 
Teil aller Witwen sein, und für die anderen war durch die 
gesetzliche Bestimmung, daß man ihnen von dem Nachlaß des 
Gatten in keiner Weise etwas wegnehmen dürfe, doch nur 
bedingungsweise gesorgt. An die Schließung eines neuen 
Ehebundes war nach der die beiden Epen beherrschenden 
Ansicht nicht zu denken, wenn auch schwache Spuren erkennen 
lassen, daß wenigstens in der Kriegerkaste eine neue Heirat 
der Witwe (oder der Verstoßenen) nicht ausgeschlossen -war. 
Auch die alten Juristen kennen eine ganze Anzahl Fälle, in denen 
die Wiederverheiratung erlaubt, ja sogar vorgeschrieben ist: 
wenn nämlich der Gatte auf einer Reise verschollen, Asket 
geworden, impotent oder seiner Kaste verlustig gegangen ist; 
oder der Mann einem makellosen Mädchen bei der Verheiratung 
wissentlich verschwiegen hat, daß er mit einer chronischen, 
häßlichen Krankheit behaftet oder mißgestaltet ist, oder daß er 
heimatlos, von seinen Verwandten verstoßen, widerwärtig oder 
wahnsinnig ist. Es gehört denn auch nach einigen Rechts- 
gelehrten mit zu den Vorbereitungen der Hochzeit, daß der 
Mann auf seine Potenz hin sorgfältig geprüft wird. Am aus- 
führlichsten ist da Narada XII, 8—13: „Der Mann ist in Bezug 
auf seine Potenz gemäß den Merkmalen an seinem Körper zu 
prüfen; wenn er zweifelsohne ein Mann ist, darf er das Mädchen 
bekommen. Wenn sein Schlüsselbein, sein Knie und die (übrigen) 


R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos 145 


Knochen kräftig gebaut sind; wenn seine Schultern und sein 
Haupthaar kräftig entwickelt ist; wenn sein Nacken stämmig, 
die Haut an den Schenkeln zart und Gang und Sprache nicht 
schleppend ist; wenn sein Sperma im Wasser nicht auf der 
Oberfläche schwimmt, und wenn sein Harn erfrischend ist und 
schäumt, so ist er auf Grund dieser Merkmale als Mann, um- 
gekehrt als impotent anzusehen. Als vierzehnfach wird der 
Impotente von den Verständigen im Lehrbuche angesehen, als 
heilbar und unheilbar; die Regeln für sie werden der Reihe 
nach angegeben. Von Natur impotent, entmannt, Halbmonats- 
eunuch?) infolge einer Verfluchung seitens des Lehrers, infolge 
einer Krankheit, ferner infolge des Zornes der Götter; impotent 
aus Eifersucht;!°) sevya (?); einer mit windigem Samen; einer, 
der ore pro vulva utitur; einer, dessen Sperma rückwärts fließt; 
einer, dessen Sperma nicht zeugungsfähig ist; einer, dessen Penis 
coitu facto collabitur; und einer, der bei anderen Frauen, aber 
nicht bei seiner eigenen Gattin Erektion hat.“ 

Daß aber trotz aller Klagen der Witwen über ihr trauriges 
Geschick von einer Verbrennung mit der Leiche des Gatten in 
beiden Epen auffallend wenig die Rede ist, betont Meyer so 
gut wie Jolly (Recht und Sitte 68). Im Ramayana läßt sich 
keine der dort auftretenden Witwen verbrennen, und im Maha- 
bharatam, dessen ungeheurer Umfang doch Gelegenheit genug 
dazu gäbe, spielt das anugamanam, das (dem Gatten im Tode) 
Nachfolgen weiter keine belangreiche Rolle. Ganz anders liegen 
ja bekanntlich die Dinge in der späteren Zeit, und die Engländer 
haben noch im 19. Jahrhundert ihre liebe Not gehabt, ehe sie 
mit der Bekämpfung der Witwenverbrennung dauernden Erfolg 
hatten. (Schluß folgt.) 


NA 


9) u... is one capable of approaching a woman once in every 
half-month“ (Jolly, Sacred Books of the East XXXIII, p. 167, Anm.). 

10) „Qui nisi alius cujusdam ineuntis feminam conspectu non potest“ 
(ebenda). 


146 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 


ZUM VERSTÄNDNIS DER INNEREN SEKRETION 


UND DER VERJÜNGUNG. 
Von FERD. FRHR. v. REITZENSTEIN, Dresden. 


IV. 
Innere und äußere Sekretion; Fermente und Enzyme. 


Me zwar unscheinbare, aber überaus wichtige Organe 
unseres Körpers sind die Drüsen (Glandulae). Ihrem 
Bau nach unterscheidet man solche, deren Gewebe aus 
kleinen Epithel- 
zellensträngen') 
z- besteht, die ein Netz- 
f» werk bilden, dann 
solche, deren Ge- 
webe kleine Bläs- 
chen bilden, die mit 
der freien Ober- 
fläche nicht in Ver- 
bindung treten, (ge- 
schlossene Drü- 
sen) und schließ- 
lich solche, deren 
Abb. 1. Abb. 2. Hohlräume durch 
Tubulöse Drüsenform. Alveolare Drüsenform. Ausführungs-Gänge 
mit der freien Oberfläche verbunden sind 
(offene Drüsen). Diese zerfallen ihrem Auf- 
bau nach wieder in solche, deren Grundform 
röhrenartige Gebilde (Tubuli) und solche, 
deren Grundform bäuchige Säcke (Alveoli) 
darstellen. Demnach unterscheidet man tubu- 
löse und alveolare (auch acinöse) Drüsen und 
eine Zwischenform, die alveolotubulösen Drüsen. 
Unsere Abbildungen zeigen diese 3 Typen. 
Abbild. 1 stellt die Formen einer tubu- 
lösen Drüse dar. In Fig. 1 sehen wir den 
röhrenförmigen Grundtypus, in Fig. 2 das 
Röhrensystem, wobei a der Ausführungsgang 
- ist, in Fig. 3 aber das Schema einer zusammen- 


Abb. 3. alveolotubulöse vesetzten tubulösen Drüse. In ganz ähnlicher 











1) Von nån, thele-Warze. 


v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 147 


Weise führt Abb. 2 die alveolare Drüsen- 
form vor. Fig. 1 zeigt den Grundtypus, 
der hier ein Säckchen bildet, im Gegen- 
satz zur vorigen Form, die ein Röhr- 
chen erkennen ließ. Abb. 3 zeigt eine 
Mischform aus den beiden besprochenen 
Typen und zwar wieder in einfacher und 
in zusammengesetzter Form. Es gibt nun 
auch Drüsen, die feine Verästelungen 
haben, mit Wandungen, denen Epithel- 
zellen eingelagert sind, die ihrerseits 
gewisse Stoffe ausscheiden (Abb. 4b). 
Die Wände bilden dann Zellenlager, 
deren einzelne Zellen das Sekret in 
Abb.4. VerschiedeneAbschnifte mikroskopisch kleinen Tröpfchen ab- 
a) Ausführungsgang, b) Sekret- geben. (s. Abb. 5.) Die Drüsen mit 
a tee” Ausführungsgängen führen ihre Pro- 
dukte an die Oberfläche ab. 

N 





Diese Produkte zerfallen in 
solche, die für den Organis- 
mus nicht mehr brauchbar 
sind, sogenannte Exkreteund 

solche, die für bestimmte Auf- 
Y gaben des Organismus dienen. 

Zuden Exkreten oderAusschei- 

dungen gehören die Kohlen- 
säure, dann eine Reihe chemischer Produkte, in denen der ganze in 
den Körper aufgenommene Stickstoff wieder beseitigt wird (Harn- 
stoff, Hippursäure, Kreatin, Xanthin usw.,) denn Wasser, Kohlen- 
säure wird durch die Atmungsorgane, der Harn durch die 
Nieren, der Schweiß durch die Schweißdrüsen ausgeschieden. 
Auch Samen- und Milchabsonderungen gehören hierher. Die 
andere Gruppe, die man als spezielle äußere Sekretion 
bezeichnet, versieht bestimmte Zwecke, so die Absonderung des 
Hauttalges zum Schutze der Haut, die Absonderung von Schleim 
zum Schutz der Schleimhäute, und die Absonderung bestimmter 
anderer Produkte für die Verdauung. Auf diese Gruppe kommen 
wir noch zurück. Die andere Gruppe von Drüsen gibt ihre 
Sekrete direkt an das Blut ab, nachdem sie z. T. auf osmo- 
tischen Weg (Heft I, S. 34) von Zelle zu Zelle gegeben worden 







Abb. 5. secernierende Zellen. 


148 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 


sind. So werden sie zu oft weit entfernten Organen getragen, 
wo sie ihre Wirkung ausüben. Man nennt dies innere Sekretion 
und ihre Sekrete heißen auch Hormone (von ogudw-hormäo 
erregen, anreizen, ermuntern). Die Drüsen selbst werden auch 
Blut- oder Wachstumsdrüsen, auch endokrine Drüsen 
genannt, weil sie z. T. gerade das Wachstum zu regeln bestimmt 
sind. Von Interesse ist, daß verschiedene Drüsen sowohl eine 
innere als eine äußere Sekretion betätigen. Dazu gehört 
die Bauchspeicheldrüse und besonders die Gonaden oder Ge- 
schlechtsdrüsen, also beim Manne die Hoden, beim Weibe die 
Eierstöcke. Bei den Gonaden unterscheidet man dementsprechend 
ein generatives Gewebe, d. h. jenen Teil, in dem die Keim- 
stoffe,also die Exkretegebildet werden, die durch die Geschlechts- 
wege (die Ei- und Samenleiter) nach außen abgeführt werden 
und ein Zwischengewebe, das Produkte der inneren Sekretion 
liefert. Sehr oft geht die innere Sekretion der äußeren parallel, 
Dies gilt besonders für die Geschlechtsdrüsen. Manche Drüsen 
der inneren Sekretion arbeiten dann wieder: mit anderen der- 
artigen Drüsen in gleicher Art, so daß sie auch gleichartige 
Resultate zeugen. Man nennt sie synergistisch gerichtet; oder 
aber sie halten sich gegenseitig das Gleichgewicht, d. h. sie 
arbeiten sich entgegen und sind so antagonistisch gerichtet. 
Mit anderen Worten, das gesamte Drüsensystem unseres Kör- 
pers steht in einer inneren Verbindung, kein Teil darf das 
Übergewicht erlangen, wenn nicht schwere Störungen entstehen 
sollen. So kann man von einem polyglandulären oder einem 
vieldrüsigen System sprechen. 

Wir haben vorhin erwähnt, daß verschiedene Sekrete der Ver- 
dauung dienen. Obwohl dieser Kreis nicht in direkter Beziehung 
zu unserem Thema steht, wollen wir ihn doch wenigstens in 
den Grundzügen behandeln, weil gerade er in der Lage ist, 
die Wirkung der Sekrete zu erklären. 

In der Chemie sind verschiedene Stoffe bekannt geworden, 
die selbst in äußerst geringen Mengen einem chemischen 
Vorgang beigegeben, eine sonst überaus langsam verlaufende 
Reaktion ganz überraschend schnell gestalten. Man nennt 
solche Stoffe Katalysatoren. Der berühmte Entdecker des 
Gesetzes von der Erhaltung der Energie, Julius Robert v. Mayer 
(* 25. Nov. 1814, } 20. März 1878) erklärt sie wie folgt: „Kata- 
Iytisch heißt eine Kraft, sofern sie mit der gedachten Wirkung 


v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 149 


in keinerlei Größenbeziehung steht. Eine Lawine stürzt in das 
Tal; der Windstoß oder der Flügelschlag eines Vogels ist die 
katalytische Kraft, welche zum Sturze das Signal gibt und die 
ausgebreitete Zerstörung bewirkt.“ Über den inneren Vorgang 
sind wir noch nicht klar. Man nimmt an, daß die Katalysatoren 
mit den reagierenden Stoffen des Vorgangs Zwischenprodukte 
bilden, die dann unter eignem Zerfall die Reaktion vollziehen. 
Durch diesen Zerfall werden die Katalysatoren frei und finden 
sich schließlich wieder unverändert vor. Was für die anor- 
ganische Chemie gilt, gilt auch für die organischen Vorgänge, 
einschließlich derer, die sich in unserem Körper vollziehen. 
Durch die Sekretion bestimmter Drüsen werden nun solche 
Katalysatoren abgegeben, dieman Fermente oder Enzyme nennt. 

Die Lebensmittel, die in den Organismus gelangen, müssen 
entweder die Form von Gasen oder Kristallen haben, um auf- 
nahmefähig zu sein, d. h. um diffundieren zu können (s. Heft I. 
S. 38). Sie müssen also durch die Darmschleimhaut auf- 
genommen und durch Blut und Lymphe zu den Geweben weiter 
befördert werden. Dies nennt man Resorption, während man 
unter Assimilation dann jene chemischen Veränderungen 
versteht, die notwendig sind, um die resorbierten Stoffe in die 
Zellen überzuführen. Bei Pflanzen werden nun die Nahrungs- 
mittel nur in gasförmigen (durch die Blätter) oder kristalloiden 
(durch die Wurzeln) Zustand aufgenommen; bei Tieren und 
damit auch beim Menschen hingegen gelangen neben Wasser 
nur wenige Kristalloide (wie Salze und Zucker) in den Körper. 
Die Hauptnahrung bilden Pflanzen oder andere Tiere, deren 
Grundstoffe Kolloide sind und so erst erschlossen, d. h. in 
kristalloide Form gebracht werden müssen. 

Fermente bilden auch die Krankheitserreger, also die Bazillen 
usw. Sie üben eine zersetzende Wirkung auf unser Blut und 
unsere Eiweißarten aus; man nennt sie Toxine. Diesen stehen 
dann Antitoxine gegenüber, die sie wieder entgiften, denn 
der Körper erzeugt gegen artfremde Materie Abwehrfermente. 
Sie zerlegen jedes artfremde Eiweiß, das, ohne den Verdauungs- 
weg passiert zu haben, in den Körper gelangt ist und machen 
es so unschädlich. Es gibt aber auch Enzyme, die außer 
kolloidalen Bestandteilen auch kristalloide, die sogenannten 
Koenzyme oder Kofermente enthalten. Wie zu erwarten ist, 
besitzt der Körper auch Enzyme, die die Wirkung der anderen 


150 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 





Enzyme aufheben und die man deshalb Antienzyme nennt. 
Die Enzyme wirken aber nur in katalysatorischem Sinne, wenn 
sogenannte Elektrolyte anwesend sind. Ein Elektrolyt ist ein 
Körper, der durch den elektrischen Strom (die elektrolytische 
Dissoziation) zersetzbar ist. Die Elektrolyte zerfallen dabei teil- 
weise in Jonen (s. Heft I. S. 33 u. 39). Darauf beruht es, daß 
gewisse Salze (s. Heft II. S. 71) z. B. die Chloride (etwa Koch- 
salz) die Quellung erhöhen. 
Bei Umwandlung unserer Nahrung sind nun die Enzyme 
beteiligt, die in der Mund- und Bauchspeicheldrüse, von Magen- 
und Darmdrüsen u. a. gebildet werden. So ergießen sich täglich 
bei einem Erwachsenen folgende Sekrete in den Darm: 
700—1000 ccm Mundspeichel 
700—900 ccm Galle 
600—800 ccm Pankreassaft 
1000—2000 ccm Magensaft 
200 ccm Darmsaft 

zusammen etwa 3,1—4,9 It.! 

Etwa 400—500 ccm werden davon täglich mit dem Kot 
entleert, so daß also 2,7—4,5 I im Darm rückgebildet werden. 
Nun verhält sich der Darm genau wie Gelatine (s. Heft I S. 38u. 39) 
denn das Dermepithel (= das Gewebe, das die Oberfäche der Haut 
oder Schleimhaut überzieht und aus enggelagerten Zellen besteht) 
ist mit Quellbarkeit ausgestattet. Deshalb werden im Darm 
verdünnte Salzlösungen schneller aufgesaugt, als Wasser und 
entsprechend der Diffusion erfolgt die Resorbtion (s. Heft II 
S. 69). Versuchen wir uns diesen Vorgang an einem Beispiel 
klar zu machen. Wenn wir Pepsin (ein Ferment des Magen- 
saftes) in Wasser lösen, diesem 0,4 °/, Salzsäure zusetzen (also 
einen künstlichen Magensaft herstellen), eine Fibrinflocke (Mus- 
kelsubstanz), also kolloidales Eiweiß, darein legen und auf Blut- 
temperatur erwärmen, dann quillt die Flocke, wird durchsichtig 
und löst sich. In dieser Lösung ist dann ein im Wasser lös- 
barer Eiweißkörper, das Pepton enthalten, der durch tierische 
Membran diffundieren kann. Es gibt Fermente, die Zucker in 
Stärke und diese wieder in Zucker verwandeln: So passiert die 
kristallinische Form des Zuckers die Darmwand, wird der Leber 
zugeführt, wo sie in Kolloide (Glykogen) zurückverwandelt wird, 
und für nötige Fälle aufbewahrt bleibt. Ähnlich bei anderen 
Nahrungskörpern. Als Kolloide können sie nicht zurückwandern 


v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 151 


und werden festgehalten. So haben wir es mit den Sekreten 
der Mundspeicheldrüse, der Bronchialdrüsen, der Magendrüse, 
der Bauchspeicheldrüse, der Darmdrüsen (Brunner’sche und 
Lieberkühn’sche Drüsen) und der Leber zu tun. 

Die Mundspeicheldrüsen liefern den Speichel (Sali- 
vation) dessen Sekretion von der Wassermenge des Körpers 
abhängig ist. Wird der Kochsalzgehalt des Blutes vermehrt, 
so vermehrt sich auch die Salivation. Der Speichel ist das 
Gemisch dreier Drüsen, der Ohr-, Unterkiefer- und Unterzungen- 
speicheldrüse. Sein wirksames Ferment ist das Ptyalin, das 
auf Kohlehydrate wirkt und Stärkemehl in Zucker verwandelt. 

DieBronchialdrüsensindinihren sekretorischen Wirkungen 
noch ziemlich unklar; jedenfalls sind hier Alkalikarbonate tätig. 

Die Magendrüsen liefern eine wasserklare Flüssigkeit, 
die aus freier Salzsäure (0,3 °/,) Pepsin zur Eiweißverdauung 
und Labferment zur Kas&inbildung der Milch besteht. Die 
Entstehung der Salzsäure ist zunächst unklar, doch zeigt H. Bech- 
hold, daß sich Neutralsalze auch sonst in Säure und Gase 
spalten können. Das Pepsin würde die Magenschleimhaut 
selbst verdauen, wenn in ihr nicht ein Gegenferment, das Anti- 
pepsin enthalten wäre. 

Die Bauchspeicheldrüse (Pankreasdrüse) sondert ein 
nahezu neutrales Sekret ab, das eine zähe klare Flüssigkeit 
darstellt. Es enthält Ptyalin, das Stärke in Malzzucker, dann 
Maltase, die Malzzucker in Traubenzucker spaltet, ferner 
Trypsin, das Eiweiß in Proteosen (klein-molekulare, leichter 
lösliche Polypeptide und Aminosäuren s. Heft III S. 97 Anm.) 
und Steapsin, das Neutralfette in Glyzerin und Fettsäuren 
spaltet. Pankreassaft besitzt, da er mehr Natriumbikarbonat 
enthält, eine große Kraft, Säuren zu binden. Seine Kolloide 
sind elektropositiv, während die des Darmsaftes elektronegativ 
sind, sodaß beide Komplexe bilden, die in neutraler Umgebung 
löslich sind, wie Bechhold zeigt. Die Bauchspeicheldrüse er- 
zeugt in den Zellen eines besonderen Gewebes, den Langer- 
hans’schen Inseln, zugleich ein Hormon, das Antidiabetin, 
das mit der Leber zusammen zur Zuckerbildung beiträgt; fehlt 
es, so findet diese nicht statt, sodaß Diabetes (Zuckerkrankheit) 
auftritt. Die Bauchspeicheldrüse besitzt also äußere und innere 
Sekretion. 

Die Darmdrüsen sondern eine farblose Flüssigkeit, den 


152 v Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 


Darmsaft ab; er enthält Maltase, die den Malzzucker, Laktase 
die den Milchzucker und Invertase, die den Rohrzucker spaltet, 
dann Erepsin, das Proteosen in Aminosäuren zerlegt, weiterhin 
ein fettspaltendes Ferment u. dergl. mehr. 

Die Sekretion der Leber ist die Galle, eine rotgelbe 
bis grüne Flüssigkeit, deren kolloide Bestandteile wahrscheinlich 
elektronegativ geladen sind. Sie schmeckt intensiv bitter. In 
nüchternem Zustand fließt sie nicht direkt in den Darm, sondern 
wird in der Gallenblase gesammelt. Die Leber ist die größte 
Drüse des menschlichen Körpers (ca. 1,5 kg schwer). Tritt 
Galle ins Blut über, entsteht Gelbsucht. Durch die Gallen- 
säure werden in Gegenwart von Soda die freien Fettsäuren 
gelöst. 





Geschlecht und Gesellschaft 
Neue Folge X, 5 











Tafel I. Ausgewachsener männlicher Schimpanse (nach Elliot.) 


(Zum Aufsatz: Sokolowsky, Geschlechts- und Altersunterschiede bei Menschenaffen) 


GESCHLECHTS- UND ALTERSUNTERSCHIEDE 


BEI MENSCHENAFFEN. 
Von Dr. ALEXANDER SOKOLOWSKY, Hamburg. 
(Mit Tat. I—II) 

D! Menschenaffen oder Anthropoiden, deren Er- 

forschung ich mir als Spezialaufgabe gestellt habe, lassen 
innerhalb der einzelnen Gruppen große körperliche und seelische 
Unterschiede erkennen. Das gilt besonders für die erwachsenen 
Tiere, denn es ist begreiflich, daß sich bei diesen, ihrer Lebens- 
aufgabe entsprechend, die für sie charakteristischen Merkmale 
ausgebildet haben. Aber auch schon bei jugendlichen Exemp- 
laren lassen sich bereits die für ihre biologische Eigenart 
charakteristischen Merkmale und Eigenschaften nachweisen. 
Verfolgt man den Entwickelungsweg, den diese bis zum Stadium 
des erwachsenen Lebensalters genommen haben, so ergibt sich 
die Entwicklungsrichtung, die von ihnen im Rahmen ihrer 
Lebensaufgabe eingeschlagen wurde. Für die Wissenschaft ist 
es von hohem Interesse, im Hinblick auf die nahe Verwandtschaft 
dieser Affen mit dem Menschen, die Veränderungen zu erforschen, 
die sich im Laufe der individuellen Entwickelung bei diesen Tieren 
geltend. machen. Von besonderer Bedeutung ist es dabei, wenn 
auch die Geschlechtsunterschiede Berücksichtigung finden. 

Durch einen Vergleich der auf diese Weise von den 
Affen erzielten Resultate mit den Stadien der individuellen 
Entwickelung des Menschen, lassen sich Rückschlüsse erzielen, 
welche Merkmale und Eigenschaften als von den tierischen 
Ahnen ererbte anzusehen sind und nach welcher Richtung das 
spezifisch Menschliche zur Ausbildung gelangt. Auch in ge- 
schlechtlicher Hinsicht ist ein Vergleich von großem Interesse, 
denn die Geschlechtsunterschiede des Menschen erhalten da- 
durch eine stammesgeschichtliche Begründung. 

So außerordentlich weit von einander Menschenaffe und 
Mensch im erwachsenen Zustand von einander differieren, so 
lassen sich bei einem Vergleich von jugendlichen Exemplaren 
dieser Primatenformen Annäherungen im Verhalten des Körper- 
baues nachweisen, die auf verwandtschaftliche Beziehungen 
zurückzuführen sind. Das gilt besonders für die Schädelform. 
Der menschliche Schädel unterscheidet sich nach Rudolf 
Martin besonders durch zwei Momente von demjenigen der 
übrigen Säuger und der ihm stammverwandten Primaten, 

11 


154 Sokolowsky: Geschlechts- u. Altersunterschiede b. Menschenaffen 


erstens durch starke Entfaltung des Neurocraniums im Zu- 
sammenhang mit der außerordentlichen Volumvergrößerung des 
Gehirns, und ‚zweitens durch die geringe Entwicklung des 
Splanchnocraniums, bedingt durch die Reduktion des Gebisses. 
Diese beiden Momente ziehen eine große Reihe von Bildungen 
im einzelnen nach sich, die wir bei allen Menschenrassen an- 
treffen, jedoch in sehr wechselndem Grade. Nur wo die so- 
genannten niederen Merkmale sich häufen, wie bei einigen 
prähistorischen Typen und unter den rezenten Hominiden, 
z. B. beim Australier, wird man nach Martin von wirklich 
niederen Formen sprechen können. Viel geringer, obwohl 
immer noch sehr deutlich, sind die Unterschiede beim Neu- 
geborenen und im Kindesalter. Der Schädel des jugendlichen 
Affen erscheint menschenähnlicher als derjenige des erwachsenen, 
da beim jugendlichen Tier die Gebißentwicklung noch relativ 
gering, die Gehirnentfaltung aber schon relativ sehr groß ist, 
Während nun aber die Letztere bei den meisten Affen später 
nur noch geringe Fortschritte macht, nimmt das Gehirnvolumen 
beim Menschen von der Geburt bis zum Stadium der Reife 
noch beständig zu. Da bei den Tieren bis hinauf zu den 
Affen das definitive Volum des Gehirnschädels viel früher er- 
reicht wird, als beim Menschen, so hat nach Hopf der Gehirn- 
schädel des Menschen viel mehr Zeit, sich zugunsten des 
Wachstums des Gehirns weiter zu entwickeln. Gratiolet hat 
als Ursache davon bei den Menschenaffen nachgewiesen, daß 
das Verstreichen der Nähte bei den Affen vorn in der Frontal- 
region beginnt, bei höheren Menschenrassen dagegen an der 
Sutura parito-occipitalis. Die niederen Menschenrassen ähneln 
in dieser Beziehung den Menschenaffen. Während bei den 
Tieren der Gehirnschädel früher zu wachsen aufhört, schreitet 
die Ausbildung ihres Gesichtsschädels durch die ganze Jugend- 
zeit fort. Daher die stärkere Entwickelung des Gesichtsschädels 
bis hinauf zu den Menschenaffen, und die viel stärkere Aus- 
bildung des Gebisses und der Kaumuskeln, welche ihrerseits 
wieder, namentlich bei den Männchen, zur Entstehung eines 
knöchernen Scheitelkammes führt. Der so sehr divergente 
Schädelbau der erwachsenen Formen bildet sich nach Martin 
erst allmählich im postfetalen Leben heraus und ist als eine 
verschieden gerichtete Anpassungserscheinung an divergente 
Lebensformen aufzufassen. 


Sokolowsky: Geschlechts- u. Altersunterschiede b. Merschenaffen 155 


Ein wesentlicher Unterschied in der Gestaltung des Schädels 
der Menschenaffen und des Menschen beruht darauf, daß die 
Richtung des Hinterhauptsloches bei den ersteren nach hinten, 
bei dem letzteren nach unten geht. Diese Stellung des Hinter- 
hauptsloches wird beim Menschen durch eine Knickung des 
Schädels und des Gehirns während des Foetallebens verursacht. 
Bei anderen Tieren bis hinauf zu den Menschenaffen hat die 
Vorderhälfte des Schädels das Übergewicht, was wiederum zu 
einer stärkeren Entwickelung der Nackenmuskulatur Veran- 
lassung gegeben hat. 

Von besonderem wissenschaftlichen Interesse ist es, daß 
die Schädelkapazität männlicher und weiblicher Menschenaffen, 
sowie männlicher und weiblicher Vertreter des Menschen- 
geschlechts sich insofern übereinstimmend verhalten, daß das 
absolute Maß des Innenraums des weiblichen Schädels kleiner 
ist, als das der männlichen. Bei allen höheren Menschen- 
rassen ist nach Hopf als sekundärer Geschlechtscharakter des 
Weibes dessen geringere Schädelhöhe, die größere Abflachung 
der Scheitelgegend und die mehr senkrechte Stellung der Stirne 
nachgewiesen. Dabei ist es besonders interessant, daß bei 
den höheren Menschenrassen diese Unterschiede auffallender 
als bei den niederen sind, die sich in ihrem Verhalten mehr 
den Menschenaffen anschließen, da sich bei diesen keine be- 
sonders großen Differenzen in der Schädelkapazität nachweisen 
lassen. Bei den Menschenaffen zeigt der Schädel der weib- 
lichen Tiere lange nicht in dem Maße als der der Männchen 
die starke Ausbildung des Kammes und der Augenbrauen- 
wulste, vielmehr nähert er sich im allgemeinen mehr dem 
Typus der jungen Tiere. Daraus geht aber unzweideutig durch 
diesen anthropologischen Nachweis hervor, daß den weiblichen 
Menschenaffen, wie auch dem menschlichen Weibe eine ganz 
andere Lebensaufgabe zufallen muß, als den Männchen. Die 
Differenzierung der beiden Geschlechter erhält dadurch die 
anthropologische Begründung. 

Bisher wurde nur von morphologischen Befunden der in 
Untersuchung stehenden Pirmaten gesprochen. Es ist daher 
zu untersuchen, wie sich die psychischen Regungen bei den 
jungen Menschenaffen zu ihren älteren resp. erwachsenen 
Stammesgenossen verhalten, auch ist zu beobachen, wie sie 
sich vergleichsweise zu den menschlichen Kindern, wie zu den 

11* 


156 Sokolowsky: Geschlechts- u. Altersunterschiede b. Menschenaffen 


erwachsenen Menschen, inbezug auf die Ausbildung ihrer Seelen- 
eigenschaften stellen. 

Während meiner achtzehnjährigen tiergärtnerischen Praxis 
habe ich eine große Anzahl junger Menschenaffen in der 
Gefangenschaft beobachten können. Bei den meisten derselben 
handelte es sich um junge Schimpansen, aber auch eine größere 
Anzahl junge Orangs und etliche Gorillas befanden sich darunter. 
Ausgelassene, muntere Babies waren die Schimpansen. Sie 
erwiesen sich schon im jugendlichen Alter als ausgesprochene 
Sanguiniker, die nicht müde werden, umherzutollen. Die jungen 
Orangs benahmen sich bedeutend ruhiger. Ihr phlegmatisches 
Naturell kam schon bei den jungen Tieren zum Ausdruck. 
Sie saßen häufig still da und schauten den Besucher scheinbar 
fragend an, was er mit ihnen vorhatte. Das unterschiedliche 
Benehmen zwischen Schimpansen- und Orangsbabies war auf- 
fallend. Auch die jungen Gorillas zeigten nicht die Aus- 
gelassenheit des Schimpansen. Sie waren still in sich gekehrt, 
konnten aber, wenn sie sich ganz vertraut fühlten, munter und, 
wie Oberleutnant Heinicke von seinem Exemplar berichtet, 
bis zu einem gewissen Grad übermütig sein. Dennoch läßt 
sich auch bei ihnen, den Schimpansenkindern gegenüber, ein 
ruhigeres und besonneneres Benehmen nachweisen. Es geht 
aus diesen Beobachtungen hervor, daß die Psyche der drei 
verschiedenen Menchenaffenkinder von einander abweichend 
ist. Diese Unterschiede, ja man kann direkt sagen: Gegen- 
sätze, kommen bei fortschreitender Entwickelung immer deut- 
licher bei diesen Affen in Erscheinung. Der Schimpanse be- 
hält sein unruhiges, sanguinisches Temperament. Er erweist 
sich als ein beweglicher, unsteter Geselle, der sich immer etwas 
zu schaffen macht, wenn er nicht gerade ruht. Das phleg- 
matische Naturell der jungen Orangs findet mit zunehmendem 
Alter bei diesen Affen erst recht ihren Ausdruck. Die Tiere 
erweisen sich als sehr bequem und ruhig, ziehen sich gern auf 
ihren Lagerplatz zurück und lassen sich ungern stören. Zwar 
habe ich große Orangs kennen gelernt, die sehr lebhaft waren, 
mit dem Besucher umhertollten und nicht müde wurden, immer 
wieder von neuem anzufangen. Aber auch deren Bewegungen 
waren gemessen und sie erciferten sich niemals so, 
wie die Schimpansen, deren ideenflüchtiges Benehmen ein- 
ganz anderes war, Ausgewachsene Gorilla’s habe ich niemals 


Sokolowsky: Geschlechts- u. Altersunterschiede b. Menschenaffen 157 


lebend zu Gesicht bekommen, da nur jüngere Exemplare in die 
Gefangenschaft gelangten. Diese waren still und in sich ge- 
kehrt, mieden die menschliche Gesellschaft und zeigten eine 
Scheuheit und ein Mißtrauen, so daß sich ihr Benehmen weit 
von dem des Schimpansen, aber auch von dem der Orangs 
entfernte. Sie waren nichts weniger als phlegmatisch, sondern 
sehr sensibel, so daß man ihr Benehmen als cholerisch be- 
zeichnen kann. Diese Beobachtung steht in vollem Einklang 
mit ihrem Verhalten in der Freiheit. Den Berichten der ver- 
schiedenen Reisenden nach, sind die erwachsenen Gorillas 
sehr scheu und vorsichtig, meiden die Annäherung des 
Menschen und ziehen sich, wenn sie nur irgend können, 
ungesehen in den dichten Wald zurück. Einmal gestellt, sind 
sie furchtbare Gegner, die in blinder Wut den Menschen 
sofort annehmen. 

Worauf begründet sich nun die Verschiedenartigkeit in 
Organisation und Seeleneigenschaft der Menschenaffen? Das 
Verständnis hierfür ergibt sich aus der Berücksichtigung ihrer 
Lebensweise resp. Lebensaufgabe. 

Der Gorilla ist hauptsächlich ein Bodenbewohner, der die 
Bodenzone des Urwaldes bewohnt Obwohl er gut klettern 
kann, ist er dennoch meist am Boden zu finden. Für einen 
ausgeprägten Baumbewohner ist sein Körperbau zu massig und 
schwer. Namentlich kennzeichnet sich der männliche Gorilla 
durch enorme Größen- und Massenentfaltung seines Körpers. 
Während das Weibchen mit dem Jungen in einem selbst- 
angefertigten, lagerartigen Nest auf einem Baume schläft, hält 
der männliche Riese unter dem Baum ruhend, Wacht für seine 
Familie. Die Entwickelungsrichtung beim Gorilla geht daher 
nach Größe und Massigkeit des Körpers in ihrer Ausbildung. 
Da der auf dem Boden wandernden Gorillafamilie eher Feinde 
entgegentreten, als im Laubdach, hat sich wahrscheinlich 
Körpergröße und Körperkraft bei ihm in so hohem Maße ent- 
faltet. Auch mag die Größe und Kraft des Körpers günstig 
für das Durchbrechen des Dickichts, das an der Bodenzone 
besonders entwickelt ist, gewesen sein. 

Anders beim Schimpansen. Er ist mehr Baumtier, obwohl 
er auch noch viel sich am Boden zu schaffen macht. Große 
Geselligkeit und Rührigkeit sind die Haupteigenschaften seines 
Charakters. Seine mäßige Körperschwere eignet ihn zum vor- 


158 Sokolowsky: Geschlechts- u. Altersunterschiede b. Menschenaffen 


züglichen und gewandten Kletterer, auch ist er erstaunlich 
schnell in seinen Bewegungen. Die Entwicklungsrichtung geht 
bei ihm mehr nach der Ausbildung als Baumtier, ohne ein 
ausgesprochener einseitiger Bawmbewohner zu sein. 

Völlig abweichend hierzu verhält sich der Orang. Er ist 
ein spezialisierter Baumbewohner. Die Länge seiner Arme, 
die Kürze seiner Beine, namentlich aber die Länge seiner 
Hände und Füße und die Stellung der letzteren kennzeichnen 
ihn unter anderen Eigenschaften als solchen. Beim Gehen auf 
dem Boden watschelt er ungeschickt auf der Außenkante seines 
Fußes, während die beiden anderen Menschenaffenformen mit 
der ganzen Fußsohle auftreten. Hinzu kommt noch, daß die 
Orangs eine erstaunliche Klettergewandheit besitzen, da sie mit 
ihren langen Armen weit ausholen können, um sich von Ast 
zu Ast, von Baum zu Baum zu schwingen. Sie sind als Baum- 
bewohner gesellig. Obwohl sie im Familienverband leben, so 
finden sich doch häufig mehrere Familien in der Nähe bei 
einander. Die Entwickelung eines mächtigen Stimmorgans 
durch die Ausbildung eines Kehlsackes als Resonanzboden 
kennzeichnet ihre gesellige Natur. Die Entwickelung der drei 
Menschenaffenformen geht demnach nach verschiedenen Rich- 
tungen. 

Von hohem Interesse ist nun die Entwickelung und das 
Verhalten der Geschlechter bei diesen Tieren. Während die 
Weibchen in ihrer körperlichen und seelischen Ausbildung im 
allgemeinen mehr den Charakter der jungen Tiere beibehalten 
und in potentieller Ausbildung zur Entwickelung bringen, 
nimmt die Entwickelung der männlichen Tiere eine weit aus- 
geprägtere Eigenform an. Das gilt besonders für den männ- 
lichen Gorilla und Orang. Beide Affen entwickeln sich im 
männlichen Geschlecht zu wahren Scheusalen in Gestalt und 
Ausdruck. Die raubtierartige Entfaltung des Gebisses, die 
Ausbildung eines mächtigen Knochenkammes auf dem Schädel 
zum Ursprung der starken Schläfen- und Beißmuskulatur, die 
gewaltige Entwickelung seiner Körpermuskeln u. a. m. kenn- 
zeichnen den Gorilla als einen grimmigen Feind und 
Gegner. Auch der männliche Orang steht dem Gorilla darin 
nicht nach. Als sexuelle Kennzeichen finden sich bei ihm 
außer einer gewaltigen Zahnentwickelung und Körperkraft noch 
eine absonderliche Bartenfaltung und bei einzelnen Rassen des 


m 


Sokolowsky: Geschlechts- u. Altersunterschiede b. Menschenaffen 159 


Orangs mächtige Backenwülste, deren Zweck bisher nicht er- 
gründet wurde. Während auffallenderweise manche dieser 
unglaublich häßlichen Urwaldriesen ganz gutmütig im Charakter 
waren, entpuppten sich andere dagegen als wahre Scheusale. 
In manchen Gegenden fürchten die Eingeborenen die männ- 
lichen Orangs sehr, da sie als furchtbare Gegner bekannt sind. 

Obwohl auch die männlichen Schimpansen große und sehr 
wehrhafte Tiere sind, die gefährlich beißen können, so werden 
sie dennoch nicht so gefürchtet. Es geht auch aus ihrem 
Schädelbau hervor, dem die enorme Kammbildung des Gorillas 
fehlt, daß der männliche Schimpanse nicht in dem Maße ein 
Unhold ist, wie die Männchen der beiden anderen Formen, 

Wir hätten damit wichtige Einblicke in die individuelle 
Entwicklung, in die Artenentfaltung und in die Geschlechts- 
ausbildung erlangt. Fragt man sich nach den Gründen hierfür, 
so kann es sich für diese Affen dabei nur um verschiedene 
Lebensaufgaben inmitten der Natur ihrer Heimat handeln. 

Die Entwickelungsrichtungen, welche die Menschenaffen 
durch die Höhe ihrer Organisation einschlugen, kommt uns 
besonders zum Bewußtsein, wenn wir die Ausbildung des 
Seelenorgans, des Gehirns, dieser Tiere in’s Auge fassen. Bei 
den höchsten Tieren, besonders den Säugetieren, brauchen sich 
die Jungen nach P. Ch. Mitchel keine Nahrungssorgen zu 
machen; nur selten müssen sie sich verteidigen, und der 
Übergang vom Ei zum Embryo, sowie vom Embryo zum er- 
wachsenen Tier vollzieht sich so einfach und geradlinig wie 
nur möglich. Nichtsdestoweniger wird die Dauer der Jugend 
immer größer, je weiter man die Stufenleiter der Tiere empor- 
steigt. Der Mensch, bei dem die Jugend die längste Zeit in 
Anspruch nimmt, hat auch das größte Gehirn. 

Beim Schimpansen ist das Gehirn bedeutend kleiner als 
beim Menschen, bei einem Makaken ist es noch kleiner usw. 
Während bei den niedriger organisierten Tieren die Jungen 
schon frühe eine Selbständigkeit erworben haben, um sich auf 
eigene Faust durchs Dasein zu bringen, sehen wir bei den im 
System am höchsten stehenden Geschöpfen bis zu den Menschen 
hinauf, die Jungen an Hilflosigkeit zunehmen. Dafür ist aber 
die Intelligenz der Eltern eine besonders große. In diesen 
Fällen ersetzen demnach die Eltern, in erster Linie die Mutter, 
die den jungen Tieren noch fehlende Selbständigkeit durch 


160 Sokolowsky: Geschlechts- u. Altersunterschiede b. Menschenaffen 


ihre Intelligenz. Die Entfaltung des Seelenorgans bis zur Höhe 
der Gehirnentwickelung des Menschen, findet hierdurch dem- 
nach eine Begründung. Während die psychischen Regungen 
der Frauenseele in erster Linie auf die Ernährung, Pflege und 
Fürsorge der Kinder eingestellt ist, erweist sich der Mann als 
Ernährer und Schützer seiner Familie. Diese beim Menschen 
so ausgeprägten beiden Direktiven für die Lebensaufgaben der 
beiden Geschlechter lassen sich in ihren Anfängen bereits aus 
den psychischen Erscheinungen der Tierseelen nachweisen. 

Es wäre eine sehr wichtige Aufgabe für den Anthro- 
pologen und Ethnologen bei den tiefstehenden Menschenrassen 
Anklänge und Übergänge von den Tieren zum Menschen hinauf 
in seelischer Hinsicht nachzuweisen. Auch die Seelenunterschiede 
der beiden Geschlechter würden durch eine vergleichende 
Forschungsmethode in die richtige Beleuchtung gerückt werden. 

Auch für die Abstammung des Menschen hat die Er- 
forschung vorstehender Probleme Bedeutung. Wenn nach- 
gewiesen werden kann, daß die Seelenunterschiede der drei 
Menschenaffenformen so große sind, dann ist nicht einzusehen, 
weshalb der Mensch geradlinig aus einer Wurzel des Affen- 
geschlechts stammen soll. Vielmehr ist anzunehmen, daß die 
Menschwerdung bereits ihren Anfang genommen hatte, als 
die Trennung der Menschenaffenformen bereits vor sich ge- 
gangen war. 

Dann ist es nur verständlich, wenn der Menschenstamm- 
baum von vorn herein aus mehreren, von einander differenten 
Menschenaffenwurzeln, schimpansiden, gorilliden und oran- 
giden Formen, seinen Ursprung genommen hat. Es mehren 
sich immer mehr die Stimmen solcher Forscher, die für eine 
polyphyletische Abstammung des Menschen eintreten. Hatte 
man bisher nur von morphologischen Gesichtspunkten aus 
diese Möglichkeit ins Auge gefaßt, so können auch die 
psychischen Erscheinungen zur Beweisführung mit herangezogen 
werden. . 

Es eröffnen sich dadurch dem vorurteilslosen Forscher 
nach den verschiedensten Richtungen Perspektiven und gelingt 
es dadurch neue Wege der Forschung einzuschlagen, die zu 
einer Lösung des Menschheitsproblems führen können. 


IE 


Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt 161 


GESETZLICHE FREIGABE DER FREIWILLIGEN 
KÜNSTLICHEN FRÜHGEBURT. 
Von Professor Dr. med. KAFEMANN, Königsberg i. Pr. 
(Fortsetzung). 


J" der berüchtigten, streng vertraulichen im Dezember 1917 
an die Reichs- und oberste Heeresleitung gerichteten Denk- 
schrift des Vereins deutscher Eisen- und Stahlindustriellen, 
lesen wir folgendes: „ ... AuBerdem muß man bedenken, 
daß der deutsche Eisenerzbergbau bereits in vier bis 
fünf Jahrzehnten zum Erliegen kommen wird, weil dann 
unsere Erzvorräte erschöpft sein werden. Wir sind also in 
einem halben Jahrhundert am Ende der deutschen Eisenkräfte 
angekommen und wir können uns dann in einem künftigen 
Krieg nicht mehr mit deutschem Eisen zur Wehr setzen“ ... 
„Der volkswirtschaftliche Wert der Erzbecken von Briey und 
Longwy (den reichsten der Welt) zeigt sich ferner darin, 
daß uns diese Einverleibung vom ausländischen Erzbezug 
wieder unabhängig macht, die Leistungsfähigkeit der deutschen 
Eisen- und Stahlindustrie wieder erhöht, die Selbstkosten 
wieder senkt, uns den alten Platz auf dem Weltmarkt wieder 
erringen und auch die Lebensdauer des deutschen Eisenberg- 
baues auf mindestens ein Jahrhundert verlängern läßt. Vor 
allem könnten wir den zwei Millionen deutscher Arbeiter und 
ihren fünf bis sechs Millionen Angehöriger auch in der Zukunft 
Arbeit, Brot und gutes Auskommen sichern. Würden wir 
künftig jedoch an einer Erznot leiden, dann würden Hundert- 
tausende von Arbeitern und Millionen von Menschen allein 
schon durch stillgelegte Betriebe unserer Industrie brotlos 
werden.“ ... Wie-aber nun? Nicht nur sind wir nicht in 
den Besitz dieser kolossalen französischen Erzvorräte gelangt, 
sondern haben unser wichtigstes Erzgebiet Lothringen, ohne 
das wir nach der Denkschrift diesen die größten Eisen- und 
Stahlmengen verschlingenden Krieg nie und nimmer „siegreich (?) 
hätten führen können“, für unabsehbare Zeit, wenn nicht für 
immer — verloren! Die riesigen Waldbestände der Erde 
nähern sich — Kanada, Rußland, Finnland ausgenommen — 
ihrer Erschöpfung. Polen war infolge seiner riesigen Volks- 
vermehrung schon seit 25 Jahren nicht mehr im Stande, sich 


162 Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt 


selbst zu ernähren, und ist der Überschuß der Einfuhr von 
Getreide, Mehl und Hülsenfrüchten über die Ausfuhr von 
14 Millionen im Jahre 1897, auf 22 Millionen in 1910 gestiegen. 
Rohstoffe mußte es schon vor dem Kriege für 174 Millionen 
Rubel einführen. Der Steinkohle Ende braucht uns hier nicht 
zu beschäftigen. Wichtiger ist das völlige Versiegen der Erd- 
öle, das wir schon nach ca. 100 Jahren zu erwarten haben. 
Lange vor dem völligen Verlust dieser Naturschätze werden 
die Völker sich zu ihrem Raube rüsten. Um die Reste wird 
man blutig kämpfen, und nicht wird das Schwert des Über- 
winders den besiegten Feind verschonen, den überflüssigen 
Verbraucher unersetzlicher Naturerzeugnisse. Was soll uns 
heute der zum Ekel gewordene Schrei: mehr Kinder?! Setzt 
Euch doch nur 10 Minuten in ein Café der Berliner Friedrich- 
straße und beobachtet scharf die Tausende dort vorüber- 
ziehender Menschen! Seht sie Euch an, diese Knechte der 
Menschheit, die Jahrtausende lang die Sklavenarbeit für sie 
getrieben, die die verhäßlichenden Spuren ihrer Dienstbarkeit 
in ihren Zügen tragen, die nur existieren, damit etliche Tausende 
dem freien Ausleben ihrer Menschlichkeit sich hinzugeben in 
der Lage sind, seht sie Euch an, diese Arbeiterzüge, wenn ihr 
morgens aus Eurem Schlafwagen schauend, den Bahnhöfen der 
Großstadt Euch nähert! Wie sie gepreßt aneinandersitzen, 
mißvergnügt ihrer Arbeit zueilend, die sie verfluchen. Seht 
ihre Kinder an, die schlecht genährten und gekleideten, von 
denen Tausende nicht ein eigenes Bett zur Verfügung haben. 
Studiert die Kurven ihrer Kränklichkeit, ihrer Sterblichkeit, und 
ihr werdet erschrecken und erkennen, daß Gold auch heute 
noch das beste Heilmittel gegen den Tod ist. Oder wollt Ihr 
Eure Kinder in die Hölle der sizilianischen Schwefelminen, der 
Erzgebirgshausindustrie, der Mais- und Reispflanzungen Ober- 
italiens, der japanischen Fabrikindustrie schicken, welche an 
verbrecherischer Ausbeutung jugendlicher Arbeitskraft über 
alles europäische Maß hinauswächst? Ihr werdet triumphierend 
auf die kolossal gestiegenen Löhne der Neuzeit hinweisen, 
werdet berichten, daß 1908 etwas über Zweidrittel der Gesamt- 
bevölkerung von einem das sogenannte Existenzminimum von 
900 Mk. nicht übersteigenden Einkommen leben mußten, daß 
noch 1914 erst der siebenzehnte Teil der Gesamtbevölkerung 
ein Einkommen zwischen 3000—9500 Mk. hatte, während heute 


Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt 163 


Einkommen von 12—18000 Mk. bei gelernten Arbeitern die 
Regel sind. Ihr irrt Euch, da Ihr nicht mit der Schlauheit 
der Händler gerechnet habt, die Euch in schamlosem Eigennutz 
jede Steigerung des Einkommens durch sofortige Steigerung 
aller Eurer Lebensnotwendigkeiten, Materialien, Kleider, 
Wohnungen, Nahrungs- und Genußmittel usw. rauben. Be- 
trachtet doch endlich die Armut nicht nur als das 
größte Übel, sondern auch für das schwerste Ver- 
brechen und die schlimmste Gefahr der Menschheit. 
Eine Menschheit, welche den Anblick der Armut erträgt, ist 
noch immer eine barbarische und weit entfernt von jener Form, 
welche sein wird, wenn der Staat, wie er jetzt beschaffen ist, 
der des Übels Urheber ist, und mit träger Genügsamkeit auf 
der Oberfläche ruht, gelernt haben wird, eine bessere Mensch- 
heit zu begründen. Allerdings ist dazu erforderlich, daß vorher 
der einzelne Mensch eine große innere Wandlung in sich 
selber durchmacht, daß er seine Natur genug entwickelt, um 
den Staat zu einer völligen Umprägung seiner staatserhaltenden 
Begriffe und daraus abgeleiteten Gesetze langsam zu erziehen. 
Jagt die Vorurteile und die Finsternis aus Euren eigenen 
Köpfen, und das Licht der Vernunft wird in den Staatsgesetzen 
sich entzünden; zerstreut Eure eigenen Wahnbegriffe und der 
Bau wird fallen, den Fanatismus und Betrug eigensüchtiger 
Kreise zu Eurem Nachteil aufgerichtet haben. Es war stets 
die Weisheit regierender Kreise, den Armen so zu beschäftigen, 
daß ihm zum Nachdenken keine Gelegenheit blieb. Es war 
stets ihr Grundsatz, seine Ernährung durch kärglichen Lohn 
derart zu gestalten, daß er die Wirkungen einer kraftvollen Kost 
nicht erfahren konnte. Die Geschichte der Ernährung aber lehrt 
unzweifelhaft, daß, je weiter ein Volk von der Pflanzennahrung 
sich entfernt, die Männer des Volkes desto länger und schwerer 
werden, daß die Krankheitswahrscheinlichkeit, die Sterblichkeit 
um so größer werden, je weniger tierisches Eiweiß genossen 
wird. Erhöhung der Fleischkost bedingt erhöhte Lebensdauer. 
Zweifetlos vermögen es einzelne Völker wie die Japaner und 
Inder, freilich erst nach vielen Generationen, sich an die 
vegetabilische Ernährung derart zu gewöhnen, daß sie sich 
ausgezeichnet dabei stehen. Andere Völker, wie die Türken, 
die ursprünglich ein Fleisch verzehrendes Nomadenvolk waren, 
und heute infolge ihrer großen Armut bis auf geringe Kreise 


164 Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt 


zur Pflanzennahrung haben übergehen müssen, haben sich bis 
heute nicht an diese anzupassen vermocht. Erhebliche 
Schädigungen des Verdauungskanals sowie des Gesamt- 
organismus sind von Professor Rieder Pascha in 20jähriger 
Lazarettbeobachtung unzweifelhaft festgestellt worden. (Für die 
Türkei, S. 508—1204). Die immer wieder angeführte irreführende 
Behauptung, wir hätten vor dem Kriege zu luxuriös gelebt und 
unsere heutige Ernährung wäre erst die zweckmäßige, ist 1918 
in einer Sitzung der Münchner Ärzteschaft von den Professoren 
für innere Medizin, Physiologie und Hygiene als den Tatsachen 
nicht entsprechend abgelehnt worden. Wir haben vor dem 
Kriege gerade richtig gelebt. Diese denkwürdige Sitzung war 
nur Ärzten zugänglich, um zu verhindern, daß durch Reporter 
beunruhigende Mitteilungen dem Publikum gemacht würden. 
Mehr gefühlt und geahnt als klar erkannt sind diese Zusammen- 
hänge die Quelle der neumalthusianischen, auf Beschränkung 
der Kinderzahl hinzielenden Bestrebungen. Wer mit dem Wesen 
des Geschlechtlichen gründlich vertraut ist, weiß, welche 
merkliche Gewalt und große Anstrengung es erfordert, der 
Sinnlichkeit kraftvoll und mit Ausdauer zu widerstehen, wie 
schwer es ist, die Natur nicht in volle Freiheit zu setzen, mit 
einem Teil sich zu begnügen, wo doch das Ganze in verlockender 
Nähe ist, Vernunft und Sinnlichkeit in ständiger wacher Auf- 
merksamkeit zu paaren. Es konnte nicht ausbleiben, daß die 
Anhänger dieser Bewegung von ihren zahlreichen Feinden mit 
den Vorwürfen der Unsittlichkeit, der egoistischen Fürsorge 
für das eigene Wohlergehen, der Staatsfeindlichkeit usw. ohne 
Nachsicht angegriffen wurden. Es kann hier nicht meine 
Aufgabe sein, unwissende Menschen, die an Oberflächen- 
phänomen haften bleiben oder von der Kirche eine geistige 
Kastration erfahren haben, zu belehren. Eine eigene Abhandlung 
würde dazu nötig sein. Hier nur folgendes: Der Malthusianismus 
ist nur religiös zu verstehen. In die Brust des edlen Menschen 
zieht schon früh die Selbstbesinnung ein, und er fühlt die ganze 
Wucht der Verantwortung für die Existenz eines neuen Wesens 
von der Wiege bis zum Grabe. Wird dieses zerbrechliche 
Geschlecht ihm einst fluchen oder ihn segnen? Schon früh 
fühlt er den ganzen Ernst, das Problematische, die Fragwürdigkeit 
des Lebens. Was ihm als unverbrüchlich heilig galt — das 
Leben selber — wird ihm bald verdächtig. Er erkennt jetzt, 


Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt 165 


daß es nicht das Höchste ist, dem Leben an sich zu dienen, 
daß Unreines und Häßliches den Namen der Tugend unter 
falscher Beglaubigung an sich gerissen haben, daß die Fort- 
pflanzung nicht die ehrwürdige Äußerung moralischer Freiheit, 
sondern nur eine unrühmliche Art von Knechtschaft ist. Leiden 
ist — das sieht er jetzt ein — der Welt und des Lebens letzte 
Wahrheit: Leiden im tieferen Sinne gefaßt als die ungeheure 
Trostlosigkeit eines sinnlosen Werdens, eines Entwicklungs- 
geschehens, das törichte Phantasten für Vervollkommnung halten, 
das aber in Wahrheit nichts anderes darstellt, als blinde Ent- 
wicklungsrichtungen in den Organismenreihen. Was da 
aufkeimt, besonders bei dem Anblick einer ersten Geburt, sind 
buddhistische Gedanken, mag auch der Vater niemals auch 
nur den Namen dieses größten aller Menschen vernommen 
haben, dessen Seelenleben von der erschrecken- 
den Gewalt der überragenden Einsicht in die 
Nichtigkeit und Vergänglichkeit, die offen- 
sichtliche und absoluteSinnlosigkeit desLebens 
beherrscht und bewegt wurde, der als erster 
die unerhörteKühnheit und Geisteskraft besaß, 
das Leben selber nach seiner Legitimation zu 
fragen. Die Vielzuvielen damals und auch heute glauben, 
Leben sei ein Wert an sich und müsse sein, und unheimlich 
erscheint ihnen der Kopf, der an diesem Grundpfeiler ihrer 
Existenz zu rütteln wagt und nicht in scheuer Ehrfurcht ihm 
zu nahen wagt. Buddha ist Fleisch von unserem Fleisch und 
Blut von unserem Blut. Seine Lehre ist lebendig, unheimlich 
lebendig bis heute, und wenn nicht alle Zeichen trügen, wird sie 
auch im barbarischen Europa eine mächtige Auferstehung erleben. 
Wie wir im Wechsel der geistigen Strömungen in Bezug auf 
die Frage nach den letzten Zusammenhängen alles Seins immer 
wieder der Antwort des Pessimismus begegnen, so erhebt auch 
bei besonderen Gelegenheiten immer wieder diese Frage drohend 
ihr Gorgonenhaupt. Dies bezeugt die Größe und Tiefe dieses 
Gedankens. Er allein ist die geheime Quelle des Neumal- 
thusianismus. In allen seinen Formen und Beweggründen läßt 
sich leicht ein starkes religiöses Element nachweisen. Der Weg 
ins Leben führt immer in das Leiden hinein. In jedem Menschen 
schlummert es und wird und muß sich einst entfalten, mag 
auch des Einzelnen Brust heute noch von Glück geschwellt 


166 Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt 


sein. Aber das Triumphgeschrei der Mutter über ihre Lieben, 
des Mannes über seine Erfolge im Geldverdienen und in der 
Liebe, des Gelehrten über seine vermeintlichen Entdeckungen 
übertönt das große Schweigen der Wissenden und Einsamen. 
Deine glänzenden Ideen und Experimente werden nach dir 
kommende Menschen mit anders gebautem Gehirn als lächer- 
liche Irrtümer belächeln, wenn sie sich überhaupt die Mühe 
nehmen sollten, von dir heute so berühmtem Manne Notiz zu 
nehmen. Diese zarten Erzeugnisse deines Unterleibs werden 
als Ekel und Mitleid erregende Greise bald der Umgebung 
lästig sein, und man wird ihrer Todesstunde froh werden. Du 
kraftvoller Mann in den Dreißigern, der du im vertrauten Kreise 
deiner Heldentaten im Bett dich rühmst, wirst bald die un- 
erhörten Jahre langen, nur uns Ärzten bekannten Qualen einer 
chronischen Nierenerkrankung, eines Krebsleidens, einer Rücken- 
marksentartung, einer Verkalkung der Herzschlagader kennen 
lernen! Sterben ist ja gewiß nicht das Schwierigste; schwer 
aber ist der Weg zum Sterben, und auch der tödliche Schlag- 
anfall ist gewissermaßen ein chronisches, mit vielen Leiden 
verknüpftes Übel. Die Regierungen und Könige haben ja 
immer das Sterben für eine harmlose Angelegenheit ge- 
halten und ihre „Landeskinder* in den Tod geschickt, 
neuerdings sogar ca. zwölf Millionen, wobei sie sich immer 
heuchlerischer, die Jugend verführender Phrasen bedienten 
und sich weise zynischer Bekenntnisse enthielten wie Na- 
poleons (an den Bürger Carnot, Hauptquartier Verona 
9. 3. 1796) „Die Menschen nicht alt werden zu lassen, 
muß die große Regierungskunst sein.“ Sie fanden ja auch 
immer gefällige Philosophen, die sie unterstützten wie Fichte, 
der in seinem Naturrecht erklärte, „daß der Einzelne für die 
Gemeinschaft da ist und nicht umgekehrt.“ Buddhistische 
Gedankenregungen sind keinem besser gearteten Menschen 
fremd. Sie kommen, gehen, wir haben keine Macht über sie, 
sie verschwinden. Wir finden sie bei Dichtern und Schrift- 
stellern, die das Leben auf das Stärkste zu bejahen pflegen. 
So Schiller in seinen Xenien: „Wozu nützt denn die ganze 
Erscheinung? Ich will es Dir sagen, Leser, sagst Du mir 
erst, wozu die Wirklichkeit nützt.“ Von dem geistesgewaltigen 
Heraklit von Ephesus, dem Zeitgenossen Buddhas, wissen wir, 
daß er das Geborenwerden für ein Unglück gehalten hat. 


Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt 167 


Das geht aus dem Satzfragment hervor: „Wenn sie (die 
Menschen) geboren sind, schicken sie sich an zu leben und 
den Tod zu erleiden... und sie hinterlassen Kinder, daß auch 
sie den Tod erleiden.“ Und wer erinnert sich nicht hierbei 
der berühmten Worte des Sophokles im Oedipus: „Nie ge- 
boren zu sein, wo ist höhrer Wunsch? Und der andre Dir, 
der Du lebest, er ist, zu gehen wieder, von wannen Du 
kommst, in Eile.“ Niemand hat aber weder vor ihm noch 
nach ihm mit so unerbitterlicher Schärfe und Klarheit wie 
Buddha auch in seinen philosophischen Gedankengängen die 
Welt und das Leben erfaßt und mit den Problemen und 
Rätseln dieser Wirklichkeit unter Ausschaltung jeglicher Gottes- 
idee in einem festgeschlossenen System sich auseinander- 
gesetzt. Alles, was wir erleben, ist nur ein Traum, der Furcht 
einflößt und lockt zugleich, ist wie ein Ton, der nächtlich in 

den Wald verhall. Mit dem „Nichtwissen“ beginnt das 
_ Leben und mit ihm das Leiden, mit dem „Nichtgeboren- 
werden“ muß das „Nichtsterbenmüssen“ erkauft werden. 
Daß die Menschheit nach nun Millionen von Jahren währen- 
dem Aufenthalt auf der Erde noch in völligem „Nicht-Wissen“ 
inbezug auf die Schrecken und Ekel erregenden Leiden des 
Alterns dahinlebt, denen die Mehrzahl der Menschen hilflos 
ausgeliefert ist, ist eine des höchstens Erstaunens würdige 
Tatsache. Und doch könnte ein flüchtiger Blick in jede 
Zeitung den an das Leben geketteten Leser belehren! Tausende 
von Todesanzeigen verweisen täglich auf die lange, qualvolle, 
mit äußerster Geduld getragenen Leiden hin. Ich nehme eine 
vor und lese: Am 13. 3, verschied nach qualvollem Leiden 
der Lehrer pp....; darunter: Am morgen verschied nach 
schwerem Todeskampf meine inniggeliebte Frau (30); ferner: 
heute endete nach qualvoller Krankheit das Leben unserer 
Schwester. In der Danziger Zeitung vom 1. 5. 20 finde ich 
sogar das Ableben eines angesehenen Bürgers als „nach qual- 
vollstem Leiden“ erfolgt angezeigt. Und so fort im endlosen 
Zuge des Todes. In dunkler Regung erkennen das viele Eltern 
und verzichten nunmehr auf weitere Fortpflanzung. Es ist 
subalternes Gewäsch eines Provinzialen, für diesen Entschluß 
Regungen der Eigenliebe sowohl inbezug auf die eigene 
Existenz als auf die des Kindes verantwortlich zu machen. 
Wer wie ich Jahrzehnte sich in das Seelenleben der Einkind- 


168 Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt 


und Zweikindereltern hineingearbeitet hat, hat für diese Ober- 
flächenauffassung nur ein mitleidiges Lächeln. Dabei ergibt 
sich, daß Zweikindeltern in der Regel Einkindeltern sind, 
insofern als die beabsichtigte Geburteneinschränkung durch 
Mängel der dazu erforderlichen Technik nicht zum Erfolge 
führte. Solchen Eltern wird allerdings ihr Kind oder das 
Kindespaar zu etwas Heiligem, weil sie die Schuld, die sie 
mit dessen Erzeugung auf sich luden, weil sie die endlose 
‚Kette der Leichen um ein Glied vermehrten, durch vermehrte 
Fürsorge für die kurze leibliche Existenz gutzumachen gewillt 
sind. Auch die Psychologie des Junggesellen ergibt, daß von 
wenigen Wüstlingen abgesehen deren Ehe- und Kinderscheu 
nur metaphysisch und pessimistisch zu verstehen ist, so wenig 
ihnen selbst dieser Urquell ihres der Volksvermehrung feind- 
lichen Verhaltens bewußt geworden sein mag. Sie denken 
mehr oder weniger alle so wie unser großer von Humboldt 
in seinen Memoiren: „...Ich bin nicht geschaffen um Familien- 
vater zu sein. Außerdem halte ich das Heiraten für eine 
Sünde, das Kinderzeugen für ein Verbrechen. Es ist auclhı 
meine Überzeugung, daß derjenige ein Narr, noch mehr ein 
Sünder ist, der das Joch der Ehe auf sich nimmt. Ein Narr, 
weil er seine Freiheit damit von sich wirft ohne eine ent- 
sprechende Entschädigung zu gewinnen, ein Sünder, weil er 
Kinder in das Leben stellt, ohne ihnen die Gewißheit des 
Glücks geben zu können. Ich verachte die Menschheit in 
allen ihren Schichten. Ich sehe es voraus, daß unsere Nach- 
kommen noch weit unglücklicher sein werden als wir — (wie 
wahr trotz aller Kinos, Automobile und Flugschiffe!) — Sollte 
ich nicht ein Sünder sein, weil ich trotz dieser Aussicht für 
Nachkommen, deshalb für Unglückliche sorge?“ Wer so 
denkt, stellt eine höhere Art von Mensch dar. 
5 (Fortsetzung folgt.) 


NA 





Tafel I. Orang-Utan aus dem Hagenbeckschen Tierpark in Stellingen. 


(Zum Aufsatz: Sokolowsky, Geschlechts- und Altersunterschiede bei Menschenaffen.) 





Tafel Il. Kopf eines männlichen Orang-Utan mit Backenwülsten 
und Kinnbart. 


(Zum Aufsatz: Sokolowsky, Geschlechts- und Altersunterschiede bei Menschenaffen.) 


R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos 169 


DAS WEIB IM ALTINDISCHEN EPOS. 
Von Universitäts-Professor Dr. RICHARD SCHMIDT, Münster. 
(Schluß.) . 

W" hören im Epos viel Frauenklage um die im Kampfe 

gefallenen Männer — auch sonst leiht es dem Weibe im 
Schmerze oft schöne Herzensworte, so daß Meyer ein ganzes 
Kapitel, das XVI., diesem Gegenstande widmen konnte — aber die 
sati, oder wie die Engländer sie schreiben: die Suttee ist nicht 
populär. Der Zug, daß die Frau sich mit dem Leichnam. des 
Gatten verbrennen läßt, fehlt in dem Bilde, das der Inder der 
epischen Zeit von dem Frauenideale seines Herzens entwirft. 
„Sita ist ganz das indische Frauenideal: zart und sanft, weich 
und verträumt wie Mondesglanz, selbstvergessen, völlig Liebe, 
Hingebung, Innigkeit, Treue, und doch, wo es Frauentugend, 
Seelenadel und Leibesreinheit zu verteidigen gilt, eine starke 
Heldin, groß vor allem im Dulden, groß aber auch in ihrem 
unnachgiebigen, kühnen Stolze“ (Meyer S. 319). Daneben kommt 
aber die körperliche Schönheit des Weibes im Epos nicht zu 
kurz; im Gegenteil, es finden sich Stellen genug, die die körper- 
lichen Reize der indischen Schönen in das rechte Licht setzen; 
indisch ungeniert, versteht sich. Langgeschnittene Augen, breite 
Hüften, rote Nägel, hochgewölbte, aber ja nicht zusammen- 
gewachsene Brauen, schwellende Brüste, ein Duft wie der des 
blauen Lotus, die Lippen rot wie die Bimba-Frucht, die Schenkel 
wie Elefantenrüssel und nicht behaart, die Zähne ohne Zwischen- 
räume — das alles sind Eigenschaften, die man schließlich an 
jeder Frau gern sieht. Aber man hält wenigstens einen Teil 
davon in Indien zugleich für ein Anzeichen dafür, daß die Be- 
sitzerin keine Witwe werden wird, und dazu gehören auch 
gewisse Linien in der Haut der Hände und Füße, aus denen 
die Phantasie die Gestalt eines Lotus, eines Rades usw. zusammen- 
bringt. Eine bekannte Legende weiß davon zu berichten, wie 
die guten und schlimmen Seiten des Weibes entstanden sind: 
Der Schöpfer hatte bei der Erschaffung des Mannes sein ganzes 
Material verbraucht und war nun in großer Verlegenheit, wie 
er die Frau herstellen sollte. Da nahm er denn schließlich 
die liebliche Rundung des Mondes, die wellenförmigen Linien 
und die Geschmeidigkeit des Schlangenkörpers, die graziösen 
Windungen der Schlingpflanze, das leichte Zittern des Gras- 
halmes, die Schlankheit und Biegsamkeit der Weide, die samt- 

12 


170 R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos 


artige Weichheit der Blume, die Leichtigkeit der Feder, den 
sanften Blick der Taube, das Tändelnde, Scherzhafte des 
spielenden Sonnenstrahles, die Tränen der vorüberziehenden 
Wolke, die Unbeständigkeit des Windes, das Scheue des Hasen, 
die Eitelkeit des Pfaus, die Härte des Diamanten, das Süße des 
Honigs, die Grausamkeit des Tigers, die Glut des Feuers und 
die Kühle des Schnees, das Schwatzhafte des Papageis und 
das Girren der Turteltaube und das Einschmeichelnde, aber 
auch die Falschheit und Tücke der Katze. Alles das mischte 
der Schöpfer zusammen und formte daraus das Weib, das er 
dem Manne zur Gefährtin gab... 

Wenn nun aber auch das Epos und alle Autoren bis auf 
unsere Tage herab die Weichheit und Fülle des Seelenlebens 
der indischen Frau rühmen, so würde man doch sehr irren, 
wenn man glaubte, dort nun lauter Zuckerpüppchen zu finden. 
Gerade das Mahabharatam ist vielmehr reich an recht 
energischen Damen, namentlich auch wenn es sich um Liebes- 
angelegenheiten handelt: „nicht Leander, sondern Hero schwimmt 
zum Stelldichein“ (Meyer 326). Gefühls- und willensgewaltig 
ist vor allem Draupadi, eine echte Tochter des Kriegerstandes, 
die dem späteren Überarbeiter des Epos viel Mühe gemacht 
hat, da sie sich „gar nicht recht in die brahmanische Zwangs- 
jacke stecken lassen“ will. Sie spielt deshalb auch „wiederholt 
den brahmanischen Moraltanten gar böse Streiche“. Daß sie 
als höchst energische Frau an dem Kriegsrate der Männer 
teilnimmt, die Zaudernden mit Flammeneifer zur Entscheidung 
drängt, ist aus ihrer Rachgier begreiflich — ist sie doch in der 
rohesten Weise bei dem verhängnisvollen Würfelspiel fast 
nackt den Blicken der Spieler preisgegeben worden! — es 
beweist das aber auch nebenbei, daß sich damals die indische 
Frau viel freier bewegen durfte. Sie kannte die später so 
beliebte Absperrung und Verschleierung noch nicht, die freilich 
nicht erst der Islam gebracht, aber doch wesentlich ver- 
schärft hat. 

So stehen die Heldinnen des Epos ihren Männern getreulich 
zur Seite, meist zwar antreibend, aber natürlich oft auch aus- 
gleichend, besänftigend. Daß sie selbst mit in die Schlacht 
ziehen, sehen wir oft genug, und daß sie Festlichkeiten nicht 
fern blieben, ist nicht minder sicher. Es war das Schauen 
und Jubeln kein Reservatrecht der Hetären. Trotz aller Freiheit 


R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos 171 


aber ist die Haremswirtschaft an der Tagesordnung, und das 
Epos gibt uns farbenglühende Schilderungen des Lebens im 
Gynaeceum. Da sind allerlei Ziervögel wie Papageien, Pfauen 
und Schwäne, es erklingen Musikinstrumente, Bucklige und 
Zwerge treiben sich umher, Lauben mit Schlingpflanzen, Bade- 
häuser, herrliche Bäume und Sträucher bieten sich dem Auge 
dar, kostbare Sitze aus Gold, Silber und Elfenbein laden zum 
Ausruhen ein, köstliche Speisen und Getränke letzen den 
Gaumen. Als Tugendwächter sind Greise und Eunuchen da, 
denn daß man den Harem und seine Insassinnen streng beauf- 
sichtigen müsse, wird oft eingeschärft. Freilich finden wir 
auch das resignierte Eingeständnis, daß bei der unersättlichen 
Geschlechtsgier der Frau alles Behüten umsonst sei wie ein 
Faustschlag in die Luft! Viel besser ist es schon, wenn die 
Frauen sich selber gegen Anfechtungen schützen; und das 
haben im Epos und auch sonst viele gute Frauen getan. Des 
Mannes Pflicht ist es vor allem, die Frau zu hegen und zu 
pflegen, sie namentlich gut mit Speise und Trank zu versorgen. 
Wer das unterläßt, verfällt hier der Schande und dort der 
Hölle; und wer seine Gattin roh behandelt, fällt vom Stiel wie 
die reife Frucht. Wer sich aber von seiner Frau erhalten läßt 
oder gar unter ihrer Herrschaft steht, der fährt in eine schaurige 
Hölle, denn er befindet sich auf einer Stufe mit dem Brah- 
manenmörder, Kuhtöter und Ehebrecher, geradeso wie der 
Ruchlose, der ein Weib tötet. 

Dem im Epos immer wieder erklingenden „Ehret die 
Frauen“ stehen — wie in allen Literaturen der Welt — eine 
Fülle von Aussprüchen schroff gegenüber, die den Gedanken 
zum Ausdruck bringen, daß das Weib der Inbegriff des 
Schlechten ist. (Mayer, Kap. XX). An erster Stelle finden 
wir da die unstillbare Geschlechtsliebe und infolgedessen die 
Neigung, nach anderen Männern Ausschau zu halten und sich 
selbst gemeinem Volke in die Arme zu werfen. „Das Feuer 
wird nicht satt der Scheiter, der Flüsse nicht das große Meer, 
der Tod nicht aller Wesen, und der Männer nicht die Schön- 
geaugte.“ Die wahre Natur des Weibes, ihren tausendfachen 
Trug vermag kein Mann zu durchschauen; Streitsucht, Neugier, 
Haß sind die gewöhnlichen Untugenden. Darum soll auch ein 
Verständiger die Frau zwar mit Klugheit genießen, aber nicht 
an ihnen hängen; denn das bringt Verderben. 

12° 


172 R. Schmidt: Das Weib im altindischen Epos 


Müssen wir dieses guten Rates gedenken, wenn wir im 
Epos so oft hören, daß das Weib als Sache behandelt wird? 
Sie erscheint oft genug als Kriegsbeute; schöne Weiber als 
Geschenke sind etwas durchaus Gebräuchliches, wobei es uns 
gar verwunderlich vorkommt, daß selbst Büßer und Heilige 
solche Gaben nicht verschmähen; als Opferlohn wird die holde 
Weiblichkeit immer wieder genannt; dann als Hochzeitsgabe, 
als Botenlohn, als Tribut, und endlich kennt man auch bereits 
die Überlassung der eigenen Frau oder Tochter an den Gast, 
um ihm eine ganz besondere Ehre zu erweisen. Diese Sitte 
der gastlichen Prostitution hat im Epos eine bemerkenswerte 
Verherrlichung erfahren in der Geschichte von dem Manne, 
der den Tod überwand (Meyer 383 ff.); sie ist aber sonst wohl 
dem arischen Inder nicht so recht vertraut. Gleichwohl ist 
die Frau rechtlich das Eigentum des Mannes, der damit machen 
kann was er will. „Aber edlere Anschauungen von der Frau, 
eine wenigstens in den oberen Schichten der Bevölkerung 
wirklich vorhandene hohe Achtungs- und Tätigkeitsstellung 
des Weibes und eine feinere, geläutertere Ethik waren am Werke.“ 

* 


Wenn ich damit am Ende von Meyer’s Buch angelangt 
bin, so weiß ich am besten, daß ich den überreichen Inhalt 
eben nur gestreift habe. Etwas Wesentliches, soweit es dem 
Epos entnommen ist, werde ich kaum übersehen haben; aber 
das Wichtigste steht eigentlich in den Anmerkungen, die oft 
sehr umfangreich sind und Abhandlungen für sich bilden. 
Da findet nun der Spezialforscher die Parallelstellen aus aller 
Herren Ländern, kann man beinahe sagen, und der Weg dazu 
ist leicht zu finden, da das Buch selbstverständlich ein reich- 
haltiges Register aufweist. So ist denn nur zu wünschen, daß 
Meyer recht viele Leser finden möge, die es verstehen, die 
Bausteine, die er hier mit unendlichem Fleiß zusammengetragen 
hat, voll zu würdigen und zu verwerten. Der Verfasser hat 
auch eine große Arbeit über die Kulturgeschichte Indiens in 
der nachvedischen Zeit in Aussicht gestellt. Nach allem, was 
er bisher geleistet hat, darf man diesem Buche mit um so 
größerer Spannung entgegen sehen, als die Literatur hierüber 
sehr spärlich ist. 


IKK 


Külz: A.d. Liebes- u. Gesellschaftsleben d. aussterbenden Karoliner 173 


STATISTIK DES BEVÖLKERUNGSAUFBAUES 
UND DER BEVÖLKERUNGSBEWEGUNG DER 


KAROLINENINSEL JAP., 
Von Prof. Dr. med. L. KÜLZ. 


m Anschluß an den Aufsatz vom Geh. Medizinalrat Prof. 
Dr. Külz „Aus dem Liebes- und Geschlechtsleben der aus- 


sterbenden Karoliner“ 
träglich die folgende Statistik. 


in Heft 4, S. 111 bringen wir nach- 


Die Schriftleitung. 


Einwohnerzahi der ganzen Insel 
darunter Männer : Frauen : Knaben : Mädchen 
= 2454: 2492 : 750 : 573. 

Es ‘ergibt sich demnach: 
eine Geschlechtsproportion fürErwachsene von 
eine e ERL OR OPRIOO | für das Kindes- 


alter von : 
632 befragte Frauen hatten im ganzen Kinder 
geboren . . 


also durchschnittlich 
davon lebten 
Im 1. Lebensjahr (Säuglingsalter) gestorben 
Jenseits des Klimakteriums stehende 306 Frauen 
haben eine Geburtenleistung von 
also durchschnittliche Fruchtbarkeit 
Von 498 über 30 Jahre alten Frauen waren 
geburtenlos $ 
Von 133 Frauen unterhalb dieser Altersstufe 
Von 308 jenseits der Gebärgrenze stehenden 
Frauen waren steril nach dem ersten 
Kinde . 
Zahl der Todesfälle auf der ganzen Insel im 
letzten gezählten Jahr . 
der Geburten dagegen 
Also jährliche Bevölkerungsabnahme v von 


es 


6269 

98 : 100 
130 : 100 
901 

1,6 

227 = 23°, 
109 — 11°], 
591 

19 

55 = 11°% 
87 = 61° 
102 = 33°% 
389 

128 

261 = 4h 


174 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 


ZUM VERSTÄNDNIS DER INNEREN SEKRETION 
UND DER VERJÜNGUNG. 
Von FERD. FRHR. VON REITZENSTEIN, Dresden. 


V. 
Immunitätsreaktionen. 


A" Seite 149 des Heftes IV haben wir den Begriff der 
Toxine und Antitoxine bereits gestreift und damit ein 
Gebiet angeschnitten, das zwar nicht direkt einen Teil unseres 
Themas darstellt, aber doch im. gewissen Sinne damit eng 
verwoben ist, so daß es hier mit behandelt werden soll. Wir 
haben dort bereits erwähnt, daß durch verschiedene dem Tier- 
körper schädliche Stoffe von unterschiedlichen Zellen an das 
Blut Gegenstoffe oder Antikörper abgegeben werden, die 
ihnen entgegenwirken. Dies tritt besonders ein, wenn art- 
verschiedenes Eiweiß oder die von Bakterien gebildeten Gift- 
stoffe (Toxine) ins Blut gelangen. So sind die Antikörper 
gleichsam Schutzstoffe des Blutes. Manchmal sind sie übrigens 
in geringer Menge bereits im Blute vorhanden. Alle jene Stoffe, 
die nun die Bildung solcher Antikörper veranlassen, nennt man 
Antigene. Es sind z. B. Bakterien Antigene. Die Antikörper 
heben die schädliche Wirkung der schädlichen Stoffe ganz 
oder teilweise auf und heißen so auch Immunkörper, weil 
durch sie nach einer Infektion das Blutplasma auf kürzere oder 
längere Zeit die Fähigkeit besitzt, z. B. Krankheitserreger un- 
schädlich zu machen. (Immunität.) Alle dabei reagierenden 
Stoffe sind entweder gelöste oder suspendierte Kolloide (vgl. 
Heft IT) Kristalloide haben niemals Antikörper erzeugt. 
Krankheitsstoffe können nun bekanntlich auf den ver- 
schiedensten Wegen in den Körper gelangen; Luft und Nahrung, 
dann direkte Berührung sind die häufigsten. Sind sie ein- 
gedrungen, so wird entweder ihre Vermehrung verhindert 
(Immunität) oder der betreffende Körper wird rasch durch- 
seucht (er ist disponiert). Immunität kann sowohl angeboren 
als erworben sein. Erworben wird Immunität entweder durch 
das Überstehen einer Krankheit, wodurch in vielen Fällen der 
Körper für immer oder zeitweise gegen Wiedererwerbung ge- 
sichert wird, oder aber durch Immunisierungsverfahren. 
Dabei unterscheidet man spezifische durch die Immunität 


v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 175 


gegen einen bestimmten Erreger erreicht wird, oder nicht 
spezifische, die den Körper gegen Infektionen überhaupt 
sichern. So sichert die Impfung mit Kuhpockengift den Körper 
gegen die Pocken. Diese Impfstoffe stellen abgeschwächte oder 
abgetötete Erreger der betreffenden Krankheiten dar. Aber 
auch durch Einspritzung von Blutserum eines Tieres, das gegen 
‚eine Erkrankung immun gemacht worden war (also ohne die 
Bakterien oder die von ihnen direkt gebildeten Giftstoffe) kann 
immunisiert werden. Statt Blutserum kann auch die Milch usw. 
des immunisierten Tieres verwendet werden. Ist nun von 
einem Serum z.B. 0,1 ccm ausreichend, um die 100fache töd- 
liche Giftdosis unschädlich zu machen, so bezeichnet man 
nach Behring und Ehrlich dieses Serum als Normalserum 
und 1 ccm davon enthält dann eine Immunisierungseinheit:. 


Die Antikörper lassen nun verschiedene Arten unterscheiden, 
"je nachdem sie ihre Wirkung ausüben; es sind dies: 

1. Die Agglutinine. Sie verkleben Bakterien, rote Blut- 
körperchen oder Leukozyten (weiße Blutkörperchen), 
d. h., sie verändern sie so, daß sie durch Alkalisalze') 
ausgeflockt werden (s. Heft I, S. 39). Der Elektrolyt 
(s. Heft IV, S. 150) selbst wird dabei jedoch nicht 
absorbiert. 


2. Antitoxine. Sie machen den Körper gegen ein Toxin 
immun. So kann man also umgekehrt die Toxine als 
Gifte bezeichnen, die bei ihrer Einspritzung in den 
tierischen Körper Antitoxine erzeugen. Toxine und 
Antitoxine scheinen sich wie eine Suspension (Ss. Heft I, 
S. 37) oder ein Hydrosol (s. Heft I, S. 38) zu verhalten. 

3. Lysine. Sie wirken lösend. Man unterscheidet dem- 
entsprechend Hämolysine, die die Blutkörperchen 
auflösen; um dies zu ermöglichen sind zwei Stoffe 
nötig, der Ambozeptor und das Komplement (s. später), 
doch scheint wie Bechhold zeigt, das Komplement 
kein besonderer Stoff zu sein, sondern ein bestimmter 
psysikalischer Zustand (Dispersitätsgrad) des Globulins 
(s. Heft II, S. 69), dann die Bakteriolysine, die 


1) Salze der Alkalimetalle, d. h. der Leichtmetalle der Natriumgruppe 
(Lithium, Natrium, Kalium, Rubidium, Cäsium). Sie sind mit Ausnahme 
von Rubidium und Cäsium leichter als Wasser. 


176 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 


Bakterien und Cytolysine die Zellen anderer Art 
lösen. 

4. Präcipitine. Sie erregen in dem Stoff, mit dem ein 
Tier vorbehandelt wurde, Niederschläge. Injiziert man 
z. B. einem Kaninchen Menschenblut, so entsteht ein 
Serum, das nur im Menschenblut Niederschläge ergibt; 
injiziert man es dagegen mit Rinderblut, so ergibt sich 
der Niederschlag nur mit Rinderblut. Man ist so in 
der Lage Rinderblut und Menschenblut zu unter- 
scheiden, sogar in kleinsten Qualitäten usw. Die Nieder- 
schläge beruhen auf Ausflockung von Eiweißen (s. Heft II, 
S.69). Dieser Prozeß läßt sich mit dem eines an- 
organischen Hydrosols (I, 38) vergleichen?). 

5. Abwehrfermente (vgl. auch Heft IV, S. 149). Sie 
bilden sich im Blute, wenn blutfremde gelöste Sub- , 
stanzen in dasselbe gelangen. Durch den Verdauungs- 
apparat werden nur plasmaeigene Substanzen ab- 
gegeben, obwohl die durch die Nahrung aufgenommenen 
Substanzen eigentlich artfremd sind; aber sie werden 
durch den Verdauungsprozeß (Heft IV, S. 149) in 
plasmaeigene Substanz verwandelt (normaler Weg). 
Dagegen bilden blutfremde Substanzen, die unter Um- 
gehung des Verdauungskanals (parenteral) in den 
Körper gelangen, im Blutsplasma Fermente (IV, 149), 
die dann wieder diese Substanzen bei weiterem Ein- 
dringen abbauen. So erzeugt z. B. die Injektion von 
Rohrzucker im Blute Inversin, das die Spaltung des 
Rohrzuckers einleitet (s. Heft IV, S. 152). Eine für die 
Praxis äußerst wichtige Beobachtung hat dabei Abder- 
halden gemacht. Er zeigte, daß im Blute männlicher 
oder nicht schwangerer weiblicher Personen niemals 
Fermente zu finden sind, die das Plazentalgewebe 


1) Für die Lösung und die Ausflockung der Blutkörperchen und 
Bakterienarten ist die Konzentration der H oder OH Jonen (Wasserstoff 
und Hydroxyl-Jonen) bei bestimmter Temperatur maßgebend. Die H-Jonen 
(s. Heft 1, S.33 und 40) bewirken eine katalytische Spaltung (s. Heft IV, 
S. 148), die OH-Jonen dagegen eine Verseifung der Fettsubstanz, die 
als halbdurchsichtige Masse die roten Blutkörperchen umgibt, wodurch 
das Blut lackfarbig wird. Auch elektrische Einwirkungen sowie Radium- 
strahlen wirken lösend. 


v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 177 


abzubauen vermögen, daß sie aber vom 8. Tage nach 
der Schwängerung an, im Blute auftreten, so daß damit 
einwandfrei gleich nach der Schwängerung die 
Schwangerschaft festgestellt werden kann. 


6. Leukozyten oder weiße Blutkörperchen (die auch in 
der Lymphe, im Knochenmarke usw. vorkommen) gehören 
im gewissen Sinne auch hierher. Sie fressen wie die 
freilebenden Amöben Bakterien auf (Phagozytose). 
Allerdings müssen nach neueren Forschungen diese 
erst durch Immunstoffe (im Serum Opsonine genannt) 
vorbereitet werden. 


Über die Ursachen der Immunität hat man ver- 
schiedene Hypothesen aufgestellt. Pasteur glaubte, daß durch 
Überstehen der Krankheit die Nährstoffe für das Wachstum 
der Erreger derselben aufgebraucht würden. Diese Hypothese 
ist aber ebenso wie die Retentionshypothese, daß durch 
Überstehen einer Krankheit im Körper Stoffe zurückblieben, 
die das Aufkommen einer neuen Infektion verhindern, veraltet. 


Dagegen hat die Seitenkettentheorie Ehrlichs sich die 
moderne Wissenschaft erobert. Nach Ehrlich besteht das 
lebende Protoplasma (Ill, S. 96) aus einem Leistungskern, 
dem eigentlichen Zentrum, und zahlreichen Atomkomplexen im 
Protoplasmamolekül, die sowohl Nahrungsstoffe als Toxine 
chemisch zu binden (zu verankern) vermögen. Man nennt sie 
Seitenketten oder Rezeptoren. Tritt eine artfremde Sub- 
stanz in den Körper ein, so treten Vergiftungserscheinungen 
auf. Kommt nun die Zelle mit dem Leben davon, so wird 
das an die Seitenketten gebundene Gift ausgeschieden und die 
abgestoßenen Zellteile erneuert. Durch den Reiz, den das 
Gift ausübt, werden aber nicht die gleiche Zahl von Seiten- 
ketten, sondern bedeutend mehr neugebildet, die überschüssigen 
stößt jedoch die Zelle ab und gibt sie ins Blut, wo sie frei 
zirkulieren. Sie vermögen nun hier alle ihnen begegnenden 
Gifte: gleicher Art zu binden: sie sind die Antitoxine. Das 
Toxin wird also nach Ehrlich durch das Antitoxin nicht 
zerstört, sondern geht im chemischen Sinne mit ihm eine 
ungiftige Verbindung ein. 

Unsere Abb. 1 zeigt eine Zelle. Der Leistungskern ist 
von einer Reihe von Rezeptoren a, b, c umgeben, die ver- 


178 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 


schiedene Toxine gebunden haben (d, e, f, g, g,). Es kann 
sich nun nicht jedes Toxin mit jedem Rezeptor verbinden, 
sie müssen in einander passen, wie ein Schlüssel in das Schloß. 
Ein Gift bildet auch nur dann ein Antitoxin, wenn es vorher 
vom Zellplasma chemisch gebunden werden konnte. Diese 
Gifte sind dann Antigene (Erzeuger von Antikörpern). Dazu 













Abb. 1. Zelle mit verschiedenen Rezeptoren ~ Abb. 3. Zelle mit Rezeptoren und Über- 
(a, b, c) u. Toxinen (d, e, f, £, g,) n. Ehrlich. produktion (n. Ehrlich). 
Toxophore 5 Nährstoffmotekül. 
Gruppe --. \ 
Haptophore. í | Toxin s: = Komplemen 
r. p 
Haptophore 
Receptor Gr ~> Komplemento- 
phile Gr 
Amboceptor ” 
Zelle Zeile 
Abb. 2. Rezeptor 1. Ordnung Abb. 4. Rezeptor Il. Ordnung 
(n. Ehrlich). (n. Ehrlich). 


gehören Bakterientoxine, tierische Sekrete (wie Schlangengift) 
usw. Die Rezeptoren verbinden sich nun chemisch mit be- 
stimmten Atomgruppen des Giftes; diese Teilgruppe heißt man 
die haptophore Gruppe. Würde ein eindringendes Gift im 
Körper keine Rezeptoren finden, mit denen es eine haptophore 
Zwischengruppe bilden kann, dann kann es auf die Zelle 
auch nicht wirken; der Körper ist also von Natur aus immun. 
Tritt die Bindung dagegen ein, so bleiben die übrigen Atom- 


v. Reitzenstein; Zum Verständnis der inneren Sekretion 179 


gruppen des Giftes als „toxophore“ Gruppe übrig und üben 
die Giftwirkung aus. Dies zeigt unsere Abb. 2. 

Durch die Bindung ist nun aber der Rezeptor für die 
Bindung von Nahrungsmolekülen nicht mehr brauchbar, der 
Leistungskern stößt ihn nun samt dem Toxin ab (Abb. 3) und 
bildet nun neue Rezeptoren, aber in solcher Menge, daß sie 
nicht mehr Platz finden. In unserer Abbildung 3 steht ein 
Teil der Rezeptoren noch mit dem Leistungskern in Verbindung 
(a’), während der andere Teil (a”) abgestoßen ist und als 
Antitoxin in die Blutbahn gelangt. Alle diese Rezeptoren haben 
dabei nur eine Haftstelle und heißen deshalb Rezeptoren 
I. Ordnung, während zu den abgestoßenen Rezeptoren 
II. Ordnung die Agglutinine, Präzipitine und Koaguline ge- 
hören. Sie bestehen aus einer haptophoren und einer zymo- 
phoren Gruppe.!) Sie entspricht der toxophoren Gruppe der 
Toxine. (Vgl. Abb. 4). Auf diesem Wege bewirken die 
Agglutinine das Zusammenballen oder Ausflocken bestimmter 
zelliger Elemente. Die Präzipitine und Koaguline bedingen 
dagegen Treibungen und Fällungen; z. B. spritzt man Rinder- 
blut einem Kaninchen ein, so werden im Kaninchen Präzipitine 
gebildet. Nimmt man nun von diesem „Rinderkaninchen“ 
Blut und mischt es mit Rinderserum, so entsteht eine. Fällung 
(ein Präzipitat). Diese Fällung entsteht aber nur bei Rinder- 
blut. Spritzt man dem Kaninchen Hundeblut ein, so kann die 
Fällung nur mit dem Blute von Tieren des Hundegeschlechtes 
erzielt werden. (Also von Hund und Wolf usw.) Statt Blut 
können auch andere Körpersäfte, z. B. Milch oder Samen 
benutzt werden. Hamburger nennt diese Vorgänge „Das 
Gesetz der biochemischen Arteinheit und Artver- 
schiedenheit.“ Die verschiedenen Zellen und die Körper- 
flüssigkeiten der gleichen Art besitzen nämlich Atomkomplexe, 
die Träger der Arteinheiten sind und sie gegen andere Arten 
unterscheidbar machen. So kommen also jeder Zelle zwei 
Eigenschaften zu: die durch ihre Tätigkeit, ihre Funktion 
bedingte und die ihr durch die Rasse oder Individualität zu- 
gehörige artcharakteristische Eigenschaft. Abderhalden drückt 


1) Unter Zymogenen versteht man Substanzen der sezernierenden 
Zellen, die an sich unwirksam sind und erst durch andere Substanzen (die 
sogenannten zyınoplastischen) Fermente bilden und dadurch in Wirksam- 
keit treten. 


180 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 


dies in dem Satz aus: „Jede Zelle besitzt einen organ- 
spezifischen und einen artspezifischen Aufbau.“ Diese 
Erscheinungen sind ungemein wichtig, denn durch Einspritzung 
von Menschenblut in ein Kaninchen kann ein Serum gewonnen 
werden, das sogar in den stärksten Verdünnungen von Menschen- 
blut noch eine Trübung verursacht. Damit haben wir ein für 
die Gerichte ungemein wirksames Erkennungsmittel für 
Menschenblut (Uhlenhut). Weiterhin aber zeigten Nuttal und 
H. Friedenthal, daß eine vollständige Übereinstimmung in der 
Reaktion zwischen Mensch und den anthropoiden Affen besteht.) 

Hierher gehören vor allem die vorzüglichen Arbeiten 
Mollisons (Nachfolger von Professor H. Klaatsch an der 
Universität Breslau). Injiziert man einem Versuchstier, etwa 
einem Kaninchen alle 6—8 Tage eine kleine Menge (ca. 1—5 ccm) 
reines steriles Serum jener Tierart, deren verwandtschaftliche 
Stellung geprüft werden soll, so liefert meistens dieses Ver- 
suchstier ein Antiserum, d. h. ein Serum, das mit dem Blute jener 
Tierart, von der die Injektionsflüssigkeit genommen wurde, 
einen Niederschlag bildet. Dies gilt auch für das Blut der 
dem Tiere zunächst verwandten Tierarten. Auf diese Weise 
kann der schlagende Beweis für die Verwandtschaft des 
Menschen mit dem Anthropomorphen geliefert werden, und 
ebenso für die der Anthropomorphen mit dem niedrigen 
Affen der alten Welt anderseits. Nuttal fand nun, daß Orang- 
Utanserum mit Menschenblut stärker reagiert als mit dem 
Makakenblut.?) Also ist die Verwandtschaft des Orang mit 
dem Menschen näher, als die des Orang mit den übrigen 
niederen Affen. Mollison fand weiterhin in gleicher Art, daß 
auch der Schimpanse dem Menschen näher steht als dem 
Makaken. 

Wir haben nun bereits erwähnt, daß jeder Pflanze, jedem 
Tiere, ja auch jeder Rasse eine besondere Eiweißart entspricht 
(s. Heft II S. 69). Da nun die Entwicklung der Tiere und 
damit auch der Menschen einem Stammbaum entspricht, in 
dem die tieferen Arten zu den höheren sich entwickeln, der 


!) Anthropoiden oder Anthropomorphen (eine Unterabteilung der 
Catarrhinen — Schmalnasen, Affen der alten Welt) sind die menschen- 
ähnlichen Affen: Gorilla, Schimpanse, Orang-Utan (vergl. dazu die Tafel- 
beigaben dieses Heftes) und Gibbon. 

®) Eine andere tiefer stehende Gruppe der Catarrhinen. 


v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 181 


Mensch also verschiedene tierische Vorfahren gehabt hat und 
jeder Tierform eine bestimmte Eiweißstruktur entspricht, müssen 
im Blute jedes Tieres jene Eiweißarten vertreten sein, die 
seinen Vorfahren entsprechen; je weiter im Stammbaum hinauf, 
desto schwächer. Mollison bezeichnet nun eine Einheit jeder 
dieser Eiweißstrukturen als ein Proteal. Proteale sind also 
Atomgruppen, die sich an die vorhandenen Molekule an- 
gliedern, also Seitenketten im Sinne Ehrlichs. Auf jedes 
Proteal wirkt also anscheinend eine dazugehörige Präzipitin- 
einheit, die Mollison Antiproteal nennt. Es bildet also jedes 
Tier Antiproteale nur gegen diejenigen Proteale, die es in 
seinem eigenen Eiweiß nicht besitzt (die also Tieren an- 
gehören, die in seinem Stammbaum nicht vorkommen). Mensch 
und Schimpanse z. B. haben nun mehr Proteale gemeinsam, 
als Schimpanse und Makak. Mensch und Schimpanse müssen 
also eine Periode gemeinsamer Entwicklung durchgemacht 
haben, die der Makak nicht mehr mitgemacht hat, d. h. sie 
müssen noch nach der Abzweigung von den niedrigen Affen 
gemeinsame Vorfahren gehabt haben. Dies ist eine glänzende 
Bestätigung der Deszendenztheorie, die Geh. Rat v. Luschan- 
Berlin als eine einwandfreie Untersuchung bezeichnete. 

Die Rezeptoren I. und II. Ordnung nennt man gemeinsam 
auch Unizeptoren, siehaben nur eine haptophore Gruppe. Die 
Rezeptoren Ill. Ordnung haben dagegen mindestens 2 hapto- 
phore Gruppen; man nennt sie 
daher Ambozeptoren (vgl. Abb. 5). 

RaT Wir haben oben bereits gesehen, 

ER X "or daB z. B. die Lysine aus zwei 

Stoffen bestehen, dem Ambozeptor 

und dem Komplement. Jeder 

- Ambozeptor besitzt nun zwei 

So BER ge D haptophore Gruppen (daher der 

m Ehrlich), “Name Ambozeptor). Mit dem 

einen bindet er die haptophoren 

Gruppen des Blutkörperchen oder Nährstoffmolekül; sie wird 

cytophile Gruppe genannt, die andere haptophore Gruppe 

bindet dagegen die entsprechende Gruppe des Komplements, 
weshalb sie die komplementophile Gruppe heißt. 

Anderseits besitzt auch das Komplement eine haptophore 
Gruppe, durch die es sich mit der komplementophilen Gruppe 


Nöhrstotfmoleköl, 






Zymophore 


182 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 


des Ambozeptors bindet und eine zweite Gruppe, die die 
lösende Wirkung ausübt und die zymotoxische Gruppe 
heißt. Sie entspricht wieder der toxophoren Gruppe der 
Toxine (siehe oben und Abb. 5). Dieses Komplement kann 
nun eine ganz verschiedenartige Wirkung ausüben, es kann 
giftig, fermentartig (s. Heft HI S. 149) auflösend, verdauend 
wirken. Es kann also auch die Assimilierung (s. Heft IV 
S. 149) der von der cytophilen Gruppe verankerten Stoffe ver- 
ursachen. Wie schon oben gezeigt, gehören hierher die 
bakteriolytischen Ambozeptoren, die Bakterien zerstören oder 
auflösen. Auf diesen Grundlagen beruht die Wirkung des 
Blutserums, die die Bakterien im Tierkörper erfassen oder 
schwächen und so den Körper gegen tödliche Infektion schützen. 

Im Zusammenhang damit wollen wir auch noch der 
Wassermannschen Reaktion gedenken, die man auch eine 
serologische Diagnose der Syphilis nennen kann. Bei dieser 
Reaktion werden Hammelblutkörper in einem Reaganzglas 
unter Mitwirkung verschiedner Sera gelöst, wenn nicht syphi- 
litisches Serum (d. h. ein mit Spirochäteneiweiß präpariertes 
Serum) beigefügt wird. Tritt die Lösung ein, so hat man einen 
negativen Ausfall, tritt sie nicht ein — was z.B. nach Zu- 
fügung von syphilitischem Serum der Fall ist — so hat man 
positiven Ausfall. Allerdings wird sie auch positiv bei 
Malaria, Scharlach, Pest, Rückfallfieber, Typhus, Tuberkulose 
usw. Aber diese Krankheiten lassen sich dann auf anderen 
Wege wieder von Syphilis unterscheiden. 

Fällt nun aber die Reaktion negativ aus, so durfte man 
bisher nicht ohne weiteres den Schluß ziehen, daß Syphilis nicht 
vorliegt, dies war erst ratsam, wenn mehrere Untersuchungen 
negativ waren. Positiver Ausfall läßt dagegen mit fast voller 
Sicherheit auf eine der oberen Krankheiten schließen. Nun teilt 
Wassermann soeben in einer Sitzung der Berliner Medizinischen 
Gesellschaft mit, es sei ihm gelungen festzustellen, daß die 
Reaktion sich bei Syphilitikern an das Auftreten einer bestimmten 
Substanz knüpft, die mit den Lipoiden zusammentritt. (II. S. 69.) 
Dabei bildet sich ein neuer Körper, das „Wassermannsche 
Aggregat,“ das einen Ambozeptor für Lipoide darstellt, und sich 
von den übrigen Bestandteilen des Serums trennen läßt. Dadurch 
ist nun die Reaktion eine ganz sichere geworden, weil man 
in der isolierten Substanz die Reaktion selbst nachprüfen kann. 


v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 183 


Überhaupt erfolgt positiver Ausfall erst nach der vierten Woche, 
denn in dieser Zeit ist der Erreger der Syphilis, die Spirochaeta 
pallida noch allein in den Blut- und Lymphbahnen (sogenanntes 
Vorwassermann’sches Stadium). Sobald aber die Spirochaeten 
in die Gewebe eindringen, beginnt die Reaktion positiv zu 
werden. Daraus folgt auch die Heilungsmöglichkeit der Syphilis. 
Bekanntlich verwendete Ehrlich, der Urheber der Seitenketten- 
theorie dazu das Salvarsan (Ehrlich-Hata 606). Es ist eine 
Arsenverbindung (Arsenophenylglycin), das sich als das stärkste 
Gift gegen Spirillen erwiesen hat. Salvarsan hat sich glänzend 
bewährt und darf heute als vollkommen ungefährlich bezeichnet 
werden, wenn die dazu nötigen Vorsichtsmaßregeln beobachtet 
werden. ‘(Vor allem dürfen früher geöffnete Gefäße mit Sal- 
vàrsan nicht mehr benutzt werden.) Wird es bereits in dem 
Vorwassermannschen Stadium angewendet, dann ist die Ver- 
nichtung aller Spirochaeten fast sicher. Durch die soeben 
stattgefundenen neuen Beobachtungen Wassermanns ist aber 
auch der syphilitische Krankheitsprozeß selbst geklärt. Der 
syphilitische Organismus bildet Lipoide. Sie werden 
hervorgerufen durch den Infektionsstoff der Spirochaete und 
die erkrankten Zellen des Organismus, denen überhaupt die 
schwerwiegendere Wirkung zukommt. Wir erfahren auch da- 
durch, daß Salvarsan auf die Spirochaeten lösend wirkt, während 
Quecksilber die erkrankten Zellen behandelt. Was über die 
Gefährlichkeit des Salvarsan geredet wird, ist Unsinn oder völlige 
Unkenntnis. Die Hetze dieser Unsachlichen hat eine genaue 
Untersuchung der sogenannten Salvarsanschäden nach dem 
Kriege veranlaßt, die durch eine amtliche Kommission vor- 
genommen wurde. Das Resultat ist in der Märznummer der 
„Deutschen medizinischen Wochenschrift“ veröffentlicht. (Stati- 
stik, die sich tiber Deutschland, Österreich, Holland und Däne- 
mark erstreckt.) 

Es wurde festgestellt, daß in dem statistisch verarbeiteten 
Jahre ca. 225000 Einspritzungen vorgenommen wurden. Auf 
diese Viertelmillion Einspritzungen kommen 15 Todesfälle. Die 
Untersuchung dieser Todesfälle ergab nun, daß 11 vermeidbar 
gewesen wären (meist zu große Dosen oder zu rasche Folge 
der Einspritzungen). Es stellten sich die Todesfälle zu den 
günstigen Fällen also wie 1:162792! Damit ergibt Salvarsan 
eine der günstigsten Statistiken fast aller Heilmittel, ein Beweis, 


184 v Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 


daß die Ehrlich’schen Entdeckungen zu den größten Geistes- 
taten der gesamten Medizin gehören und ein wahrer Segen 
für die Menschheit geworden sind und es noch mehr werden, 
wenn in weitesten Kreisen die Meinung durchdringt, bei einer 
erworbenen Geschlechtskrankheit sich sofort in die Behand- 
lung eines sachkundigen Arztes zu begeben. 





Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt 185 


GESETZLICHE FREIGABE DER FREIWILLIGEN 
KÜNSTLICHEN FRÜHGEBURT. 
Von Professor Dr. med. KAFEMANN, Königsberg i. Pr. 
(Fortsetzung). 


ie beschränkungslos zeugenden Menschen sind eine noch 

tierähnliche Art von Menschheit, auf die der in seinem Werk 
„Principles of economy“ geäußerte Gedanke des berühmten 
Nationalökonomen Stuart Mill zutrifft: Man kann nicht hoffen, 
daß die Moralität Fortschritte mache, so lange man nicht die 
zahlreichen Familien mit derselben Verachtung betrachtet wie 
die Trunkenheit oder sonst einen körperlichen Exzeß. Diese 
Anschauung des alten englischen Nationalökonomen besteht 
auch heute noch zu Recht, ja mehr als jemals, nachdem wir er- 
kennen mußten, daß die Lehre fanatischer Rassehygieniker, nach 
der die ererbte Veranlagung wichtiger ist für die Entwicklung der 
Kinder als das Milieu, diees umgebenden Verhältnisse, unter denen 
es aufwächst, heute als irreführend und verderblich zurück- 
zuweisen ist. Das Gegenteil ist richtig, indem zahlenmäßig 
der Einfluß ungünstiger sozialer Verhältnisse weit denjenigen 
ererbter Veranlagung übertrifft. Selbst bei der Lungenschwind- 
sucht hält die Berufsschädigung der mitgebrachten Disposition 
das Gleichgewicht und so überall auf dem Gebiet der sozialen 
Versicherung. Trotzdem ist speziell bei der Tuberkulose die 
Wirkung erblicher Veranlagung eine gewaltige. Die Nach- 
kommen tuberkulöser Eltern verfallen in 42,5°/, der Fälle dem 
Leiden der Eltern. Die Tuberkulose der Mütter ist gefähr- 
licher. In kinderreichen Familien erkranken relativ mehr, später 
Geborene mehr die früheren Kinder. 

Von besonderem Interesse ist die 1915 von Irene Case 
und Cate Lewis im amerikanischen Journal of Soc. 1915 
Nummer 5 veröffentlichte Geschichte von zehn untereinander 
verwandten, seit 50 Jahren in Chicago lebenden, der öffent- 
lichen Wohltätigkeit unterliegenden Familien. Sie lehrt un- 
weigerlich, daß, wenn es diesen Menschen in einer besseren 
Umgebung zu leben gestattet worden wäre, ihre geschlecht- 
liche Minderwertigkeit durch den sozialen Druck überwunden 
worden wäre. Das lebendige Protoplasma hat die Fähigkeit 
unendlichen Aufnehmens und Gegenwirkens; es ruht und rastet 


nicht und antwortet mit der feinsten Beweglichkeit auf alle 
13 


186 Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt 


Reize der Außenwelt, sie auch körperlich registrierend und 
bewahrend. Der große Wohltäter Carnegie hätte besser getan, 
seine Milliarden in Menschenzucht als in Bibliotheken — 
wahren Bücherfriedhöfen! — anzulegen. Tausende von 
Kindern frühzeitig dem Einflusse ihrer verelendeten Eltern 
entzogen und in ländlichen gut geleiteten Erziehungsheimen 
erzogen, hätten dafür einen gewissermaßen experimentellen 
Nachweis geliefert. Die ganze Magie der Vererbungslehre 
beruht auf ihrem noch heute ungelösten Geheimnis und könnte 
durch die Erfahrungen eines so sonnenklaren Riesenexperimentes 
wenigstens teilweise gelöst werden. Mit dem sozialen Aufstieg 
hat zu allen Zeiten, von denen wir Kunde haben, auch die 
Massenerzeugung nachgelassen, — nicht etwa weil das 
„Können“ erschöpft, sondern das Wissen um den Unwert des 
Lebens größer geworden war. In den gehobenen Schichten 
würde es für unschicklich, ja unerlaubt gehalten werden, sich 
von den Sitten und Gepflogenheiten des Zirkels, in dem man 
lebt, auszuschließen. Dieses möchte ich bevölkerungspolitisch 
nur an den Juden der ungarischen und österreichischen Staaten 
erweisen. In Ungarn findet man nicht nur bei der zahlreichen, 
in die Städte abgewanderten reichen Judenschaft das Ein- und 
Zweikindersystem, sondern auch bei den Dorfjuden. Die 
600,000 Juden des deutschen Reiches sind entschieden un- 
fruchtbar und nehmen kaum noch an Volkszahl zu. Ihre 
natürliche Zunahme in Ungarn erreicht nicht einmal den 
Landesdurchschnitt. Dem gegenüber behielt das zum größten 
‚Teil kulturlose und unbemittelte Judentum der östlichen und 
nordöstlichen Teile des Landes seine riesige Vermehrungslust 
bei, die so groß ist, daß sie in den Komitaten Maramares, 
Bereg und Ugocsa in manchen Jahren 30 auf 1000 übersteigt, 
bei den Kulturjuden nur fünf bis sechs Prozent. Der Nicht- 
wissende Arme unterliegt dauernd der gesetzgebenden Gewalt 
des Erhaltungstriebes im Gebiete des Willens und wird von 
ihm wie das Tier beherrscht. In seinen Taten malt sich der 
Mensch. Das zärtliche Getue einer Proletariermutter kon- 
kurriert mit dem eines Tieres. Wehe aber dem Kinde, wenn 
es imstande ist, Geld zu verdienen, und damit das Los der 
Eltern zu erleichtern! Dann beginnt die Kinderarbeit, und diese 
ist eins der schauerlichsten Kapitel der Menschheitsgeschichte. 
Und dann tritt das Kausalgesetz des Buddha in die Erscheinung: 


Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt 187 


„Ist dieses, wird jenes; ist dieses nicht, wird jenes nicht“. 
Das seiner Bestimmung früh entzogene Kind, gehetzt vom 
Leben, verliert naturgemäß jegliche Empfindsamkeit gegenüber 
seinen Erzeugern, und der Egoismus ihnen gegenüber wird die 
Formel ihrer inneren Gesetzgebung. Wie sich ‚solche Kinder 
ihren alternden und erwerbslosen Eltern gegenüberstellen, kann 
man in jedem Landratsbüro erfahren. Ich habe darüber ein- 
gehende Erkundigungen eingezogen. Die Ärzte, welche im 
Prinzip jeden künstlichen, aus sozialer Anzeige eingeleiteten 
Abort verwerfen, verstoßen gegen die Logik und das juristische 
Denken. Fälle wie der folgende Leipziger sind alltäglich: Eine 
Proletarierfrau gebar 1901 ein normales Kind, 1903 eine lebens- 
fähige Mißbildung, 1905 wieder eine, 1906 ein normales Kind, 
ebenso 1909; 1911 eine Mißbildung, ebenso 1915; 1916 ein 
normales Kind, 1917 eine Mißbildung. Nunmehr entschloß 
man sich nach Überwindung endloser Bedenken bei der nächsten 
Schwangerschaft im dritten Monat zur künstlichen Frühgeburt. 
Das so geborene Kind zeigte ein unbedecktes Gehirn, dem die 
Hirnschale völlig fehlte. Diese Frau war erst 40 Jahre alt. 
Was sollen uns die Millionen in einem derartigen Milieu ge- 
borener Kinder nützen? Das Deutschland von 1920 bedarf 
einer kleineren Volkszahl als das Wilhelminische, das seine 
` Bürger nur insoweit schätzte, als sie als „Bajonette“ zu ge- 
brauchen waren! Das neue Deutschland bedarf zahlreicher 
intellektuell tätiger Leute, gebildeter Ingenieure, Ackerbauer, 
Schulmeister, Ärzte, also eines hochgebildeten zahlreichen 
Mittelstandes. Dieses riesengroße Proletariat, an dem auch 
das kaiserliche Rom zu Grunde gegangen ist, müssen die 
Völker der Zukunft schnell und entschlossen abstoßen, über 
die Meere senden, vergiften, abortieren, zeugungsunfähig machen, 
Welches am schnellsten in dieser Richtung vorangeht, wird 
noch vor dem beginnenden einundzwanzigsten Jahrhundert das 
führende unter den Nationen sein. Im Staat der Zukunft muß eine 
Familie unmöglich sein, wie sie heute noch alltäglich ist: ein 
hustender Vater, eine unterernährte, abgehetzte, unsaubere 
Mutter, umgeben von 12 schwächlichen, häßlichen Kindern, 
welche von vornherein dazu bestimmt sind — falls sie leben 
bleiben, — im Souterrain des Lebens zu verweilen und zu 
sterben, dabei aber so lange sie leben, wüste Ansprüche an 
weniger fruchtbare und daher wohlhabendere Familien zu 
13* 


188 Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt 


stellen sich für berechtigt halten. Man würde allerdings der 
gehobenen Arbeiterschaft Unrecht tun, wenn man sie wie diese 
Familien einschätzen würde. Der Trieb nach sozialer Erhöhung, 
wenn nicht für sich, so doch für die Nachkommen ist bei 
großen Teilen jener lebendig. Dafür spricht die während des 
Krieges beobachtete erstaunliche Zunahme — von 22 v. 100 
auf 47 v. 100 = der aus Arbeiter- und Handwerkerkreisen 
stammenden Besucher der höheren Lehranstalten Westpreußens, 
sprechen zahlreiche Beobachtungen, die der Arzt in diesen 
Kreisen täglich in der Lage ist anzustellen. Die Kriegsnot- 
standskommission Neuköllns bewilligte 1915 für die Kinder der 
städtischen Arbeiter eine Zulage von 10 Pfg. pro Tag. Die 
durch Fragebogen ermittelte Kinderzahl bei 366 dieser Arbeiter 
ergab, daß 214 überhaupt keine Kinder hatten, 77 je 1, 47 je 2, 
22 je 3, 9 je 4, 5 je 5 und je 1 6, bez. 8 Kinder im Alter 
von unter 16 Jahren. Also nur 38 hatten mehr als 2 Kinder 
unter 16 Jahren. Diese Arbeiterkreise, aus der die spätere 
Bourgeoisie emporsproßt, bedürfen ebenso wenig wie letztere, 
nicht so dringlich wie die vorhin geschilderten einer Änderung 
des dem Empfinden der heutigen Menschheit nicht mehr an- 
gemessenen & 218, weil sie sich selbst zu helfen in der Lage 
sind. Den in der tiefsten sozialen Schichtung vegetierenden 
Frauen muß aber die Möglichkeit gegeben werden, ohne 
Schädigung ihrer Gesundheit die viel zu vielen Produkte ihres 
ausgemergelten Leibes frühzeitig durch den Eingriff eines vom 
Staat beglaubigten Arztes gefahrlos zu verlieren. Man kann 
von diesen Geschöpfen nicht verlangen, daß sie gegen die 
Sinnlichkeit Widerstand ausüben und verhindern, daß durch 
ihre selbständige Kraft Naturgesetze nicht zwingend werden. 
Andrerseits hat der Staat die Pflicht, zu verhindern, daß seine 
Intelligenz unter die Botmäßigkeit der unwissenden Masse ge- 
lange. Die Sozialisten sind eine christliche Sekte; in den 
Lehren des Christentums ist bereits enthalten das Majestäts- 
recht der zahlreichen Minderbegabten über die höher organi- 
sierten Volksgenossen, ganze Klassen von Menschen, bei denen 
jene Anlagen, die den höheren Menschen auszeichnen, kaum 
mit matter Spur angedeutet sind, reißen die Herrschaft über 
jene an sich. Welche Folgen diese gemeine und grobe von 
den Sozialisten erstrebte Mechanik des Lebens haben wird, 
das zu erkennen, dürften heute nur wenige befähigt genug sein. 


Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt 189 


Verraten will ich aber heute schon, daß niemand in diesem 
idealen, sozialen Staate glücklich sein wird — außer den 
herrschenden Führern. Will die heutige Menschheit diesem 
schauerlichen Endzustand entgehen, so muß sie entschlossen 
die Wahnbegriffe zerstreuen, welche bis jetzt den Zugang zu 
der Wahrheit verwehrten. Fallen muß zuerst der Wahnbegriff, 
es sei für jedes an Zahl mächtig zunehmende Volk erforderlich, 
die Weltherrschaft anzustreben. Die unter despotische Formen 
gebändigte Masse wird eines Tages der tyrannischen Willkür 
müde, ihrer Freiheit, die man ihr nicht zu zeigen wagte, sich 
bemächtigen, sie gesetzlos mißbrauchen und die Ziele der 
Welteroberer zertrümmern. Viele Könige und Prinzen haben 
jetzt Muße genug, über den zweifelhaften Segen einer riesigen 
Volksmasse nachzudenken. Schon im Jahre 1906 zählte man 
in Preußen 18845470 Seelen, welche, da ihr Einkommen ge- 
ringer als 900 Mk. war, steuerfrei waren. Der zweite Wahn- 
begriff, der zu zerstören ist, ist der, daß das menschliche 
Leben an sich als etwas Heiliges, nicht Anzurührendes, ge- 
wissermaßen Sakrosanktes sei. In der medizinischen Literatur 
begegnet man täglich der sentimentalen abgelegten Phrase, 
auch dem niedrigsten schwangeren Weibe müsse man mit 
tiefster Ehrfurcht begegnen, da man ja nicht wissen könne, ob 
sie nicht ein Genie in sich beherberge. Lächerlicher, von der 
Geschichte der Genies längst erkannter Unsinn, der um nichts 
ehrwürdiger wird, je häufiger er wiederholt wird. Der Mensch 
besitzt vor dem Tier, dem Einzeller, einem Darmparasiten usw. 
gegenüber keine besondere Würdigkeit. Teilerzeugnis des 
lebenden Protoplasmas entwickelt die Natur spät in ihm das 
Neugehirn zu dem Urgehirn, dessen die niedrigsten Tiere schon 
sich erfreuen. Durch dieses befähigt, lernt er Werkzeuge 
bauen, zu dichten und zu philosophieren. Durch seine Philo- 
sophie bildet er sich ein, an dem Fortschritt des Bewußtseins 
zu arbeiten, welches das All von sich selber hat, während er 
in Wirklichkeit so wenig Philosophie besitzt wie sein Hund, 
der im Studierzimmer zu seinen Füßen liegt. Alles durch sie 
erreichte Begreifen war niemals etwas anderes als psychische 
Illusion. Sie bildete Abstraktionen. Der Mensch aber verlor 
infolge seiner Unfähigkeit, hinter den abstrakten Begriffen die 
Fülle des Lebens in ihrer Wucht und Macht zu erblicken, die 
Fähigkeit, leere Begriffe von dem Tatsächlichen zu unter- 


190 Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt 


scheiden und zu erkennen, daß in den Hülsen der Abstraktion 
jede Unklarheit, Falschheit, Lüge und schlaue Phrase sich breit 
macht. Der Mensch lebt in einem wahnsinnigen Dünkel. Und 
was erst sollen wir von den Dichtern sagen, deren Wirken 
Nietzsche, dessen reicher vielstimmiger Natur wir so viele 
feine Erkenntnisse verdanken, also schildert (Zarathustra: von 
den Dichtern) „Die Dichter lügen zu viel, wir wissen auch zu 
wenig. Und wer von uns Dichtern hätte nicht seinen Wein 
verfälscht? Manch giftiger Mischmasch geschah in unseren 
Kellern. Das aber glauben alle Dichter, daß, wer im Grase 
oder an einsamen Gehängen liegend die Ohren spitze, etwas 
von den Dingen erfahre, die zwischen Himmel und Erde 
sind... Ach, wie bin ich der Dichter müde! Oberflächlich 
sind sie mir alle und seichte Meere. Sie trüben alle ihre 
Gewässer, daß es tief scheine.“ Und dann im Lied der 
Schwermut: Nur Narr, nur Dichter. Schnell einige Proben. 
(Adalbert Luntowski: Menschen)... „Alles in der Welt ist 
ohne Sinn, wenn der Mensch nicht wäre. Alles in der Welt 
hat seinen Zweck im Menschen... Alle Dinge warten auf den 
Menschen . . . Es gibt nichts Herrlicheres als das Wort: Mensch. 
Es muß uns heilig sein wie ein Gebet. „Die Menschheit im 
Ganzen ist ein verschwendeter Keim, wie milliardenhaft ver- 
geudeter Samen und zugleich mit größter Wahrscheinlichkeit 
ein seltenes, ja vielleicht nur auf unserer Erde vorkommendes 
Erzeugnis der Welt. Das nächtliche Gefunkel der Sterne ist 
mit größter Wahrscheinlichkeit nur ein unserer eingebildeten 
Gottähnlichkeit dargebrachtes Brillantfeuerwerk. Lhotzky redet 
von einer unendlichen Gottes- und Lebensherrlichkeit, die uns 
umgibt und von dem „großen“ Ziel der Entwicklung, d. h. 
„die herrliche Freiheit der Kinder Gottes“. Die so oft be- 
sungene Schönheit der Natur, die bejahende Natursentimentalität 
ist nichts als eine Erfindung der Dichter, denen die Menschen 
glauben. In Wirklichkeit ist die Natur von einer erschreck- 
lichen Monotonie, die erst von malenden Künstlern in hin- 
gebender Liebe aufgelöst, erträglich wird, und das „große 
Ziel der Entwickelung“ ist nur Illusion. Wahrhaft exstatisch 
gebärdet sich der liebenswürdige Meister der Medizin Schleich 
in seinem „Schaltwerk der Gedanken“: Die Freude verlängert 
das Leben. Heiliger Quell der Freude, der du hernieder- 
rieselst auf unser nach Labung immer durstiges Herz aus den 


Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt 191 


selig gepriesenen Gefilden eines erträumten Himmels, durch 
den ein Meer ewiger Harmonien wogt und brandet, seinem 
Erschaffer und Erhalter ein hohes Lied zu rauschen! Funken 
du vom ewigen Licht in Brudersphären rollender Wetter- 
leuchten, der du herniederglühst in die Menschenbrust, 
mündend und schürend das Flammengefühl der Einheit mit 
dieser, brausenden, jauchzenden Fülle im gigantischen Gleich- 
takt schwebender Kreise usw. Sogar der Tod ist für ihn 
(pg. 168) immer der gleiche heilige und unendliche weihevolle 
Augenblick und immer währt er nur einen Moment, — während 
doch der Tod schon mit dem Leben beginnt und in dem 
langsamen Sterben des Lebens ganze Verruchtheit zu finden 
ist. Der weise Heraklit hat inbezug auf das Sterben tiefer 
gesehen als der moderne Schleich. Für ihn war Leben 
identisch mit dem Sterben, eines umschlagend in das andere 
seinen absoluten Gegensatz, beide nur daseiend durch die 
Vermittlung mit ihrem Gegensatz. In dem das Leben sich 
selbst aufgibt, aus der Zeit heraustritt und aufhört, das All- 
gemeine in sich aufzunehmen, wird es zu einem Gegenstand, 
der nur noch Raumbeziehungen hat, wird es zu einem auf 
sich verharrenden Leichnam und dadurch „verächtlicher als 
Mist.“ Für Bogumil Goltz (Buch der Kindheit pg. 117) ist 
die Schöpfung so „wunderschön, so zum Rasendwerden 
schön.“ Oder Hölderlin: „O Seele, Seele! Schönheit der 
Welt! Du unzerstörbare! Du entzückende! mit deiner ewigen 
Jugend. Du bist... „Ein neuer Dichter, Curt Corrinth, 
phantasiert: „... Wiege mich, wäge mich, wage mich, welt- 
geliebte Allerde. Du bist schön, schöner noch, unaussprechlich 
schöner als der, so im Zucken seiner heilig geschwungenen 
Braue Dich schuf“ ... „Segne mich, weltgeliebte Allerde, 
einzige Mutter, höchste Lust, Geliebte, Geliebte. Segne mich 
... laß mich eingehen ganz, ganz in Dich... Amen.“ Bekannt 
ist Whalt Whitmanns überirdische Verzücktheit über Tod und 
Leben, Liebe und Seele. Über J. M. Beckers Buch „Syrinx“ 
schreibt Schnack im B. Bc. 9. 1. 20: „Es geht um Idee, die 
Idee von neuer Musik, Sphärenmusik, ungeheurer Musik, un- 
endlicher Musik.“ Diese „Sphärenmusik“, ein Modewort aus 
der romantischen Periode, sollte in der Rumpelkammer ver- 
schlissener Dichterrequisiten ruhen bleiben. — Endlich noch 
Detlev v. Lilienkron: „... Doch ehe mein Sarg die Erde noch 


192 Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt 


erreicht, brüll ich empor, daß alles rings erbleicht, Hurra das 
Leben“ ... Genug der Beispiele dichterischer, fast maniakalischer 
Seelenerregung. Glauben denn diese Herren wirklich, ihre 
dichterische Selbstschau werde „intuitiv“ die verborgene 
Wahrheit ihnen offenbaren? Glauben sie, daß ihre „apriorische 
Einsicht“ Tatsacheneinsicht ist? Und daß sie das Wahre 
nicht als Ergebnis des Urteilens sondern als „innere“ An- 
schauung vor sich haben? Eine einzige kurze Betrachtung 
wird diese Äußerungen als Privatmeinungen Einzelner kenn- 
zeichnen und damit ihrer Wertlosigkeit den Stempel aufdrücken, 
Was wir Seele nennen, gibt es nicht; es gibt nur Seelisches, 
keine Energie, sondern zu seelischer Funktion werdende 
Leistungen des Nervensystems, der Zellsysteme des Körpers. 
Was ich erlebe, unterscheidet sich gänzlich von ähnlichen 
Erlebnissen anderer. Die meinem Nervensystem besondere 
Bauart gestaltet dieses Erlebnis zu meinem ureigensten 
Erlebnis. Ich als Arzt weiß niemals, was der vor mir Sitzende 
„fühlen“ nennt. Ich bin auch gar nicht in der Lage, Gefühle 
zu untersuchen. Wollte ich gar untersuchen wollen, wie Reize 
sich in Empfindungen und Vorstellungen umsetzen, würde ich 
ein uferloses Meer von Spekulationen befahren. Niemals 
können wir von den Empfindungen eines Anderen etwas 
wissen. Wie nach Buddha die ganze Welt in Flammen steht, 
so gleicht auch die Seele dem Feuer, das ein Geschehen ist, 
das auch nicht in der Kohle sitzt wie die Seele im Gehirn 
oder sonst wo sitzt, sondern in den Milliarden Elementar- 
organismen, den Zellen (Kronthal, Psychiatrie und Nerven- 
krankheiten. Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, 
Bd. 44, pg. 171 ff) Wie diese bei gewissen Nervenkrankheiten 
z. B. der Hysterie, falsch auf Reize antworten, so muß auch 
bei den Dichtern ein besonderes Geschehen nicht nur in den 
Zellen des Gehirns und Nervensystems, sondern auch in den 
Körperzellen angenommen werden, welches zu so eigentüm- 
lichen Äußerungen sprachlichdichterischen Triebes führt. 
Natürlich kann von einer Allgemeingültigkeit dieser nicht im 
entferntesten die Rede sein. Wie sollte ich solchen grotesken 
Meinungen zu folgen geneigt sein, wenn ich nicht einmal 
weiß, was mein Nachbar unter blau versteht? Keiner versteht 
den andern. Das sogenannte „Verstehen“ ist nur eine leben- 
fördernde Illusion wie in der Politik. Einsam sitzt jeder auf 


Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt 193 


seinem Leuchtturm, brennt herunter, einsam wie eine Kerze, 
„selbstleuchtend, nur sich selbst erleuchtend“ (Dahlke). Wie 
Schneeflocken fallen seine Worte herunter, lautlos, und ver- 
gehen in der Pfütze des Nichtverstehens. Keiner der Könige 
im Gebiet der Geister hat diese unausrottbare Neigung der 
Menschen, zu schwatzen und diskutierend sich zu verständigen, 
d. h. aneinander vorbeizureden, mehr verachtet und mit feinerer 
Ironie getadelt als Buddha. Ich erinnere hier nur kurz an 
Dighanikaya (übersetzt von O. Francke pg. 5): „Leeres Ge- 
schwätz verabscheut und vermeidet der Samana Gotama; er 
redet nur zur rechten Zeit und redet, was wahr ist, was zum 
Heile dient; er spricht über die Lehre, die Regeln der inneren 
Schulung; wo es angebracht ist, spricht er Worte, die im 
Gedächtnis aufbewahrt zu bleiben verdienen. Er würzt mit 
Gleichnissen seine gemessene inhaltsreiche Rede. Und an 
das Brahmajala-Sutta. „Oder sie verwenden ihre Zeit auf 
nichtiges Geschwätz, als da ist: Geschwätz über Könige, 
Spitzbuben, Minister, Kriegsheere, Gefahren, Krieg, Speisen, 
Getränk, Kleidung, Lager, Blumen, Wohlgerüche, Verwandte, 
Beförderungsmittel, Dörfer, Flecken, Städte, Länder, Weiber, 
(Männer), Helden, Straßen, Wasserschöpfplätze, früher Ver- 
storbene, zusammenhanglose Einzelheiten. Ursprung der Welt 
und des Ozeans, über „so“ und „nicht so“... — der Samana 
Gotama findet keinen Geschmack an solchem Geschwätz... 
Oder sie ergehen sich in streitsüchtigen Bemerkungen wie 
„Du kennst diese Lehre und Regel nicht, ich kenne sie, wie 
solltest Du sie auch kennen? Du bist auf dem falschen 
Pfade, ich bin auf dem rechten usw.!“ Für uns hat im 
Gegensatz zu jenen Dichtern physisch, logisch und ethisch 
das Leben jeden Wert verloren. Es schafft unendlich viele 
Gehäuse, die es sofort wieder verläßt, um in neuen 
unterzukommen. — Ruhelos, unablässig strömend bildet es 
immer neue Daseinsformen, mit denen es sich sofort nach ihrer 
Bildung in Widerspruch setzt. Dauernd kämpft es gegen seine 
eigenen Erzeugnisse an. Unruhe ist sein Wesen, Vernichtung 
sein Ziel, sodaß man im Sinne Heraklits berechtigt ist, zu sagen: 
Nur das Nichtsein ist wirklich. Ein ewiger Kreislauf, endlos, 
anfangslos, ohne erkennbaren Sinn und Zweck. Ein ewiger 
Widerstreit des Nichtseins gegen das Sein, pein- und qualvoll 
für die geformte Existenz und erst im Tode in ruhigem Aus- 


194 Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt 


ruhen erlöschend. Ein ewiger Kreislauf der Illusionen über 
Geburt und Tod, an den der Nichtwissende, der Nichterkennende 
gekettet ist. Hier spricht nicht verschwommener Gefühls- 
pessimismus, sondern der Pessimismus des Erleuchteten, des 
strengen Denkers. Von Buddha bis Schopenhauer an haben 
alle großen Pessimisten in ihrer abgeklärten weltüberlegenen 
Weisheit erkannt, daß alles Begreifen nur eine Illusion ist, und 
alles Leben und Handeln auf Illusionen beruht und direkt in 
das Leiden hineinführt. Diese großen Denker wußten besser 
um ‘das Leid der Vielzuvielen als diese selber. Je mehr einer 
„weiß“, desto größer wird das Leid. Es ist urwesentlich allem 
Leben und Erleben. Es ist wirklich da, nicht subjektiv wie 
mancher glückliche Schwachkopf glaubt. Der tief Erleuchtete 
kann sich auch einen Zustand von Leidensfreiheit ersinnen. 
Er erkennt auch den Grund unseres Leidens, unsere Verkettung 
mit den Existenzformen der elementaren und unorganischen 
Welt, deren Entwicklungsstufen alles Werden durchläuft und 
sich selbst aufhebend wiederum zurücklegt. In ihrer Lebens- 
führung waren aber diese pessimistischen Denker die größten 
Optimisten. Von Buddha an, den ich als den größten Hygieniker 
aller Zeiten bezeichnen möchte, haben alle sich bemüht, ihre 
natürlichen Anlagen frei zu entfalten, im Einklang mit sich 
selber zu leben, Einflüssen der Umgebung keinen Raum zu 
geben und schmerzhafte Zusammenstöße mit der Außenwelt zu 
vermeiden. Wer sein Leben in dieser Weise zu gestalten in 
der Lage ist, folgerichtig im Sinne eines stets bewußten 
Motivierens handelnd, hat sicher Anspruch auf einen gewissen 
Glücksertrag im Leben. Außerdem waren es keine Asketen. 
Sie hieiten es mit Zarathustra sowohl inbezug auf die Ernährung 
als den Geschlechtsverkehr: „Gut essen und trinken, oh meine 
Brüder, ist wahrlich keine Kleinkunst.“ „Und rate ich euch, eure 
Sinne zu töten? Ich rate zur Unschuld eurer Sinne. Rate ich euch 
zur Keuschheit? Die Keuschheit ist bei einigen eine Tugend, aber 
bei vielen beinahe ein Laster.“ Auch Buddha wurde im Einklang 
mit seiner Natur erst geschlechtlich enthaltsam nach einem reichen 
Liebesleben und speiste häufig an den Tischen der Reichen, 
denen er eindrucksvolle Rede und lehrreiches Gespräch spendete, 
Über gesellschaftliche Vorurteile erhaben, selber mit königlichen 
Ehren empfangen, nahm er auch ‚keinen Anstand, der Einladung 
der schönen und reichen Buhldirne Amba Folge zu leisten. 


Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt 195 


Nachdem wir uns mit dem Leben auseinandergesetzt haben, 
können wir uns der Praxis des $ 218 zuwenden. Wir sahen 
bereits, daß in allen Ländern das Leben über ihn hinwegflutet, 
als wenn er nicht bestände. Welche Schritte sind von einzelnen 
oder korporativ geschehen, um ihn zu Fall zu bringen? Kor- 
porativ nahm sich der IV. russische Kongreß für Geburtshilfe 
zu Petersburg im Dezember 1911 seiner an. Nach ruhiger 
Debatte, an der auch Juristen teilnahmen, faßte der Kongreß 
einstimmig folgende Resolution: „Der Kongreß erklärt für 
gänzlich unbefriedigend die gegenwärtig geltenden strafrecht- 
lichen Bestimmungen über die Verantwortlichkeit des Arztes 
wie der Mutter für die Fruchtabtreibung und beauftragt den 
Geschäftsausschuß, den Entwurf einer vollkommeneren Lösung 
dieser Frage behufs Überreichung an die gesetzgebenden 
Körperschaften auszuarbeiten“ ... Erregter verliefen die Ver- 
handlungen auf dem XIl. Pirogoff-Ärztekongreß zu Petersburg 
im Juni 1913. Leidenschaftlich beteiligten sich an ihnen die 
Ärztinnen. Sie traten einstimmig für das Recht der Frau ein, 
über ihr Leben nach Gutdünken zu verfügen und für die 
Freiheit der Mutter, so viele Kinder zur Welt zu bringen als 
sie zu erziehen vermag. Das geschriebene Gesetz wahre die 
Interessen des Staates, sei aber mit den Forderungen der Ethik 
und der Gerechtigkeit unvereinbar. Die Frau, die konzipiert 
hat, trete gewissermaßen in ein Vertragsverhältnis zum Staat, 
wobei jedoch sämtliche Pflichten der Mutter zufielen, der Staat 
dagegen allein die Vorteile daraus ziehe. Es sei an der Zeit, 
in der Frau nicht mehr nur ein Muttertier zu erblicken; sie sei 
in erster Linie ein Mensch mit bestimmten Kulturbedürfnissen, 
sie mache auf die gleiche Freiheit Anspruch wie der Mann; 
sie wolle nicht viele Male gebären, um sodann die Kinder der 
Reihe nach fast alle zu beerdigen oder sie in einem gewissen 
Alter als Kanonenfutter benutzen zu lassen. Sie fordere die 
Zulässigkeit und die Legalisierung der F.-A., die auszuführen 
sei, sobald die Frau es verlange. Ganz besonders sei diese 
Forderung für die Frauen der ärmeren Volksklassen zu erheben, 
da die Vertreterinnen der höheren Gesellschaftsschichten schon 
ohnehin mit Leichtigkeit ihr Ziel erreichten.“ Nach zweitägigen 
Verhandlungen, an denen die hervorragendsten russischen 
Kriminalisten Teil nahmen, und denen die russische Gesell- 
schaft mit größter Spannung folgte, wurde mit 39 gegen 


196 Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt 


19 Stimmen folgende Resolution gefaßt: „In Anbetracht 
dessen, daß die Strafbarkeit der F.-A. sowohl den juristischen 
Grundlagen der Strafrechtspflege als auch den Anforde- 
rungen der Kriminalpolitik widerspricht, erachtet es die 
X. Tagung der russischen Sektion des internationalen 
Kriminalistenverbandes für notwendig, die F.-A. aus der Zahl 
der verbrecherischen Handlungen auszuschließen.“ Im Jahre 
1919 sah sich Basel-Stadt infolge Antrages des Dr. Welti vor 
die Aufgabe gestellt, für oder gegen das barbarische Gesetz 
Stellung zu nehmen. Der Wortlaut des Antrags war folgender: 
„Die Abtreibung bleibt straflos, wenn sie bei ehelicher 
Schwangerschaft im gegenseitigen Einverständnis der Ehe- 
gatten, bei außerehelicher Schwangerschaft mit Einwilligung 
der Schwangeren erfolgt, vorausgesetzt, daß die Frucht nicht 
älter als drei Monate ist und ihre Entfernung aus dem Mutter- 
leib durch einen patentierten Arzt vorgenommen wird.“ Der 
Welti’sche Antrag wurde am 22. 5. 1919 von dem großen Rat 
des Kantons Basel-Stadt angenommen, in einer späteren 
Lesung jedoch unter dem Druck ärztlicher Kreise wiederum 
abgelehnt, neuerdings jedoch endgültig angenommen. Damit 
hat die königliche Stadt unvergleichlichen Ruhm und den 
Dank endloser Frauengenerationen sich gesichert. Wie wir 
sofort erkennen, entspricht dieser Antrag der Formulierung, 
welche v. Liszt in seinem berühmten Werk über die kriminelle 
Fruchtabtreibung (1910) gibt. Die Fruchtabtreibung soll zu- 
lässig sein, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind. 1. Vor- 
nahme innerhalb einer gesetzlich festzulegenden, nicht zu 
langen, aber auch nicht zu kurzen Frist am Beginn der 
Schwangerschaft. 2. Wenn bei ehelicher Schwangerschaft die 
Gatten, bei unehelicher die Schwangere selbst damit einver- 
standen sind. 3. Wenn sie von sachverständiger und der 
Behörde verantwortlicher Seite vorgenommen wird. — Ist 
nicht allen diesen Bedingungen entsprochen, so ist die 
Fruchtabtreibung strafbar. Und zwar ist das Strafmaß im 
Einzelfalle vom Richter unter tunlichster Berücksichtigung aller 
Umstände innerhalb eines vom Gesetz möglichst weit zu 
spannenden Strafrahmens zu bestimmen. v. Liszt fragt (pg. 52), 
ob man denn wirklich von einem normalen Menschen ver- 
langen könne, daß er im Staatsbürgertum aufgehe und zum 
alleinigen — obendrein problematischen Nutzen der Gesell- 


Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt 197 
ee En 


schaft durch die Geburt und Aufziehung von Kindern, durch 
Verminderung der Arbeitskraft einesteils, andrerseits durch 
Vermehrung des Bedarfs der Familie sein Dasein unerträglich 
gestalte. Beide, v. Liszt und Dr. Welti, erkennen die soziale 
Indikation an, deren hohe Bedeutung auch heute noch von 
zahlreichen Ärzten nicht im entferntesten geahnt wird. Der 
Chor der unentwegten Leugner der sozialen Indikation wird 
natürlich eine Beweisführung ablehnen, welche damit beginnt, 
den Menschen alles zu nehmen, was Wert für sie besitzt und 
auf die schwere Beschädigung der Interessen des Staates hin- 
weisen, der vor der Willkür der Menschen inbezug auf die 
Volksvermehrung absolute Immunität genießen sollte. Der 
Lehre von der Relativität aller Wertungen müsse Todfeind- 
schaft angesagt werden. Die Idealität d. h. die Fähigkeit an 
absolute Werte zu glauben, müsse eine Richtung auf den 
Staat erhalten. Aus der Idealität müsse Idealismus d. h. 
Anhänglichkeit an ein bestimmtes Ideal in erster Linie, den 
Staat, sich entwickeln. Die daraus entspringende Staats- 
gesinnung erfordere eine Steigerung der Fähigkeit zu handeln, 
nicht jener duldend zu reagieren. In endlosen politischen 
Reden kehrt immer wieder von neuem die aufstoßend wirkende 
Phrase vom deutschen Idealismus und deutscher Opferfreudig- 
keit wieder, von der Majestät des Staates, der sich der 
Einzelne, mag er noch so viel versprechen, hemmungslos zu 
opfern habe. Ein mir befreundeter älterer Herr sollte 1916 
Schilf aus einem Morast für die Fuhrparkpferde holen. Als 
er diesen Dienst höflich unter Hinweis auf seinen Gelenk- 
rheumatismus ablehnte, brüllte ihn der Unteroffizier also an: 
Wenn Du, infamer Hund, nicht sofort in den Sumpf gehst, 
haue ich Dir eins in die Fresse, daß Du hineinfällst und 
ersäufst; denn ob Du Hund lebst oder nicht lebst, ist für den 
Staat doch ganz gleichgiltig. Dieser Mann hatte nicht nötig, 
ein Colleg über organische Staatsauffassung zu hören!*) Wie 
aber — kennen wir den Staat überhaupt schon? Wenn er 
schließlich nichts anderes wäre als eine äußerliche Ganzheit, 
wie irgend eine Vereinsbildung? Ein Mittel für allseitige 
Wohlfahrtszwecke? Wie? Wenn auch heute noch Schillers 
Auffassung zu Recht bestünde (über die ästhetische Erziehung 


*) Der Verlag kann der Aufnahme der Stelle nicht beipflichten. 


198 Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt 


des Menschen usw.), daß der Staat ewig seinen Bürgern 
fremd bleibe, weil sein Gefühl ihn nirgends finde, daß der 
„Regierte“ nicht anders als mit Kaltsinn die Gesetze empfangen 
könne, die an ihn selbst so wenig gerichtet seien, daß die 
öffentliche Macht nur eine Partei mehr sei, gehaßt und hinter- 
gangen von dem, der sie nötig mache. Ist etwa jene Be- 
merkung des großen Franzosen Voltaire: „Dans toutes les 
guerres, il ne s'agit que de voler“ heute weniger wahr als 
vor 200 Jahren? Plünderung in Feindesland, noch schamlosere 
Ausplünderung der Mitbürger in der Heimat unter dem 
Schutz der Regierung. Wissen die Bürger auch heute 
noch nicht, daß Kriege, insbesondere der letzte Krieg 
nur um des besseren Lebens der reichen Leute und 
derer, die es werden wollen, geführt worden sind? 
Woher stammen diese ungeheuren Dividenden zahlloser früher 
krebsender Industrieanlagen? Woher die riesigen Gewinne 
im Holz-, Textil-, Chemikalien-, Eisen-, Papier- und Grund- 
stücks-usw.-Handel? Was schiert es einen schlauen Händler, 
wenn Hunderttausende von an Krebs, Schwindsucht, Herz- 
krankheiten Leidenden sich in Schmerzen winden und sich 
aufhängen müssen, weil sie kein Morphium kaufen können? 
Nicht der Versailler Friedensvertrag peitscht allein die Preise in 
die Höhe, sondern der Großaufkauf und der Großwucher ge- 
wisser überaus potenter Kreise. Woher die Mammutgewinne 
der rheinischen Fabrikherrn und der Großagrarier? 
(Schluß folgt.) 








GIBT ES NOCH EINE RETTUNG? 
Von Staatsanwalt Dr. OTTO GOLDMANN, Leipzig. 


er hat Rettung nötig? Das deutsche Volk? 20 Millionen 

Einwohner hat es zuviel. Der Vertrag von Versailles er- 
drückt und erstickt uns. Wir haben keine Rohmaterialien, keine 
Arbeit. Unseren Auswanderern will oder kann niemand Arbeit 
geben. Der geistige Arbeiter verhungert langsam; wielange 
wird der andere noch verdienen? Eine sächsische Landes- 
anstalt berichtet über 55 % Hungertodesfälle; Kranke suchen 
dort in Schutthaufen nach Nahrungsmitteln, essen Gräser und 
Kräuter. In hunderten von öffentlichen und privaten Anstalten 
füttern wir rund 35000 Vollidioten. Aufwand jährlich durch- 
schnittlich je 2000 Mk., Personal nicht eingerechnet. Der älteste 
Insasse ist 80 Jahre alt... 

Die Schutzmittel für den geschlechtlichen Verkehr sind der 
Anpreisung und dem öffentlichen Handel entzogen... 

Auf Abtreibung und Kindestötung steht Zuchthausstrafe... 

Früher schwebte als Leitsatz über dem Werden und Ge- 
bären: je zahlreicher ein Volk, desto glücklicher und betrieb- 
samer. Außerdem „brauchte der Kaiser Soldaten“. 

Und heute? 

Schwache, sehr schwache Ansätze zu einer Einsicht wagen 
sich ans Tageslicht. 

Ich nenne Namen wie Frau Dr. Stöcker, Freih. von Reitzen- 
stein. Mehrheitssozialisten sollen einen Antrag gestellt haben, 
wonach innerhalb der ersten drei Monate die Abtreibung ge- 
stattet sein soll. 

Zuerst eine andere Frage, eine wichtigere. 

Es handelt sich nicht darum, weniger zu „produzieren“, 
als den Betrieb und seine Kosten einzuschränken. 

Sind in unserem heutigen Deutschland unter obigen Ver- 
hältnissen noch lebenswert: hoffnungslos Kranke? Tödlich 
Verletzte? Vollidioten? 


200 Goldmann: Gibt es noch eine Rettung? 


Ein doppelstimmiges Nein! hallt von höchster, geistiger 
Warte herab. Die Professoren Karl Binding (einst in Leipzig) 
und Alfred Hoche (Freiburg) haben ein Schriftchen heraus- 
gegeben, betitelt: „Die Freigabe der Vernichtung lebensun- 
werten Lebens“. 

„So kann es nicht weiter gehen!“ schreit es aus jeder 
Seite dieser Arbeit, die den Extrakt eines von lebhaftestem 
Verantwortungsgefühl und tiefster Menschenliebe getragenen 
Studiums und Nachdenkens darstellt. 

Alle Bedenken werden zerpflückt. 

Unrein ist die Auffassung der Kirche, daß der Mensch 
erst nach unendlichen körperlichen oder seelischen Qualen 
sterben dürfe. 

Humanität? Das wollen wir sagen, die wir zur Erreichung 
eines höheren Zweckes fünf Jahre lang in einem maßlos blu- 
tigen Krieg Millionen von blühenden Männern geopfert haben? 

Kann die Rechtsordnung weiterhin verlangen, daß Tot- 
kranke durchaus an ihren Qualen langsam zu Grunde gehen 
müssen? Du sollst nicht töten! spricht die Norm des Gesetzes. 
Töte ich aber einen Menschen (und einen solchen kann diese 
Norm doch nur im Auge haben), wenn ich die Lebensfunktionen 
eines Tieres auslösche, das doch nur ein furchtbares Gegenbild 
echter Menschen ist? 

Dabei wissen wir alle, daß nach Gesetz und Recht zur 
Zeit ein Todesurteil gegen den Täter erfolgen muß, der kalten 
Blutes einer höheren, sittlichen Regung (Mitleid) folgend einen 
Vollidioten getötet hat. 

So will es das Gesetz. Gesetze können aber geändert 
werden. Und solche Gesetze müssen geändert werden. Die 
Zeit verlangt es. Wir leben in einer Zeit des Notstandes, 

Notstand. Wir Deutschen müssen uns mit den Teilnehmern 
an einer schwierigen Expedition vergleichen, bei welcher die 
größtmöglichste Leistungsfähigkeit aller die unerläßliche Vor- 
aussetzung für das Gelingen der Expedition bedeutet. Es ist 
kein Platz für Kräfte, die keine Kräfte sind. 

Ich erinnere weiter an Sparta. In diesem Staat wurden 
mißgestaltete und schwächliche Kinder, nachdem sie den Äl- 
testen des Geschlechts vorgezeigt worden waren, in den 
Schluchten des Taygetos ausgesetzt. 


Geschlecht und Gesellschaft 
Neue Folge X, 6 












Pars infundi- 
bularis 


Lobus 
posterior 










~ Gland. thyreoid 
B 
S 


Art. subclav. 


Thymus 


E g Pericardium ; 
2 ; =] 


a 





ae 


nl, 


Fig. 2. 


Tafel I. Fig. 1. Schnitt durch den hinteren Lappen der Hypophyse. Fig. 2. Rumpf 
eines Neugebornen, die Thymusdrüse und die Schilddrüse zeigend. (Nach Merkel 
„Anatomie der Menschen“, IV. Abt. Verlag J. F. Bergmann, Wiesbaden. 

Zum Aufsatz: Reitzenstein, Innere Sekretion. 


Goldmann: Gibt es noch eine Rettung? 201 


Wir waren bisher geneigt, dies für barbarisch: zu halten. 
Höchstens als höhere Schüler haben wir einst Verständnis für 
den Begriff Heroismus aufbringen können. 

Besaßen die Spartaner eine höhere oder niedrigere Sittlich- 
keit als wir modernen? 

Doch sehen wir ab von den Begriffen Sittlichkeit und 
Heroismus! Es ist einfach eine Nervenfrage. 

Professor Binding fragt sehr skeptisch, ob in unserer heu- 
tigen Entnervtheit sich überhaupt noch jemand zum Bekenntnis 
der Notwendigkeit einer solchen spartanischen Handlungs- 
weise aufschwingen kann? In unserer Zeit der Schieberei, des 
Wuchers, des Revolutionsgewinnes, des Tanzes, der Völlerei, 
des Baccaratspieles, des sittlichen und moralischen Verfalles... 

Ich weiß, es gibt noch Männer. Aber diese sind einzeln, 
ohne Einfluß, an und durch Rücksichten gebunden usw. 

Binding und Hoche sind Ausnahmen. Sie setzen den ersten 
Hebel an. 

Dieser erste Hebel heißt: 

Staatlicher Freigabeausschuß; zwei Ärzte und ein Jurist. 
Diese prüfen, ob eine unheilbare Krankheit vorliegt usw. An- 
tragsberechtigt sind Angehörige, Vormünder, Ärzte. Den Be- 
schluß des Ausschusses hat nur ein ärztlicher Sachverständiger 
zu vollziehen. 

Die Zahl der aufkommenden Bedenken dürfte Legion sein. 
Aber es handelt sich doch um den ersten Hebel. Ist er falsch 
angesetzt, so hat er doch den trägen Stein etwas gerückt. 

Rücken wir weiter! Gehen wir ruhig zur Frage Nummero 
zwei über! 

Ist es sittlich, Kinder in die Welt zu setzen, die wir nicht 
ernähren können? Die, von kranken Eltern stammend, in gei- 
stiger oder körperlicher Hinsicht Viertel- oder Achtelkräfte für 
unsere deutsche Expedition werden müssen? Wenn sie nicht 
gar Tiere werden, die wir als solche in einer der hundert oben 
erwähnten Anstalten bis in das Greisenalter füttern müssen... 

Hat der Staat ein Recht auf die Frucht im Mutterleibe? 
Dann muß er auch in der glücklichen Lage sein, die aus diesem 
Recht erwachsenden Pflichten zu erfüllen. Dies kann er aber 
nicht. Er hat es durch seine Vertreter selbst zugeben lassen. 
„Niemanden in Deutschland kann das Existenzminimum zuge- 
sichert oder gewährt werden, auch den Beamten nicht...“ So 

14 


202 Goldmann: Gibt es noch eine Rettung? 


mußten wir es vor wenigen Wochen schaudernd hören. Selbst 
den Beamten, den Dienern des Staates, nicht. Es steht nirgends 
geschrieben, daß die werdende Mutter Dienerin des Staates 
sei. Und wenn dieser Staat sie durch seine Strafgesetze (Verbot 
der Abtreibung) zur gebärenden Dienerin machen will, ohne 
für sie und ihr Kind sorgen zu können, warum soll die Mutter 
dann nicht streiken? Sie liefert einfach die, nicht einmal vom 
Staat bestellte, Arbeit nicht. Kriegt ja auch keine genügende 
Bezahlung für monatelanges Sorgen, Mühen und Quälen! 

Sind beide Eltern gesund, reichen Einkommens oder Ver- 
mögens, so liegt keinerlei Grund vor, die Natur nicht walten 
und auswirken zu lassen. 

Im anderen Falle, wo diese Voraussetzungen fehlen: 

Freigabeausschuß, dem — damit dem bitteren Ernste 
das Salz des Witzes nicht fehle — als viertes Mitglied ja ein 
Steuerbeamter zugefügt werden könnte. 

Wer hilft mit, seine beiden Hände an den Hebel anzu- 
legen?? i 





v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 203 


ZUM VERSTÄNDNIS DER INNEREN SEKRETION 
UND DER VERJÜNGUNG. 
Von FERD. FRHR. VON REITZENSTEIN, Dresden. 


yI. 
Innere Sekretion |. 


r Aufsatz IV Seite 146 u. f. haben wir bereits den allgemeinen 
Teil über „Innere Sekretion und das Wesen der Drüsen“ 
behandelt und daran anschließend jene Drüsen im speziellen 
besprochen, die Abführungsgänge nach außen besitzen und so 
der „äußeren Sekretion“ dienen. Es obliegt uns jetzt in gleicher 
Weise auf die für unsere Zwecke besonders wichtigen Drüsen 
der inneren Sekretion überzugehen und sie einer genaueren 
Betrachtung zu würdigen. Bei einzelnen Drüsen ist noch keine 
Einigkeit erzielt, ob man ihnen innere Sekretion zusprechen soll. 
Auch über die Einteilung besteht z. T. noch Streit. Da einige 
Drüsen außer der eigentlichen anreizenden Tätigkeit auch 
eine hemmende ausführen, schlägt Schäfer vor, die Sekrete 
der für uns in Betracht kommenden Drüsen einzuteilen, 

1. in Hormone (von ögudo [hormao] anreizen), 

2. in Chalone oder hemmende Sekrete (von xaldo = 

chalao nachlassen, erschlaffen) 

und möchte ihnen den gemeinsamen Namen autokoide 
Drüsen (von dvros und äxog — wirksam, also „selbstwirkende“) 
geben. Gley unterscheidet dagegen die Hormone, also die 
Reizstoffe im engeren Sinn, die eine spezifische Funktion be- 
stimmter Organe anregen, von Harmozonen (von dguolo — 
harmozo „regeln“) die einen Einfluß auf die Bildung und Ge- 
staltung der Organe und Gewebe ausüben und rechnet dazu 
die Pubertätsdrüse, die Hypophyse, das Corpus luteum, die 
Schilddrüse und die Thymusdrüse. Sehr gut erscheint dagegen 
die Einteilung Waldeyers. Er nimmt vier Gruppen an: 

1. echte endokrine Drüsen (s. S. 148) und rechnet 
dazu Hypophyse, Zirbeldrüse und Nebennierenmark, Neben- 
nierenrinde und Keimdrüsen, die Paranephroide sowie die 
Schilddrüse, Beischilddrüsen und Thymusdrüse. 

2. solche mit doppelter Funktion, also äußerer und 
innerer Sekretion (S. 148): Prostata, Samenblasen und Nieren, 
dann Leber, Pankreas, Magen- und Darmdrüsen. 

14° 


204 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 


3. Drüsen und Gebilde, deren Sekretion noch un- 
sicher (z. B. Milchdrüsen Milz, Placenta, Fötus usw.)*). 


Für unsere Zwecke ist nun von besonderem Interesse, daß 
eigentlich alle diese Drüsen in Wechselbeziehung zum 
Genitalsystem stehen, also unser Geschlechtsleben irgendwie 
beeinflussen. Anderseits bestehen weitgehende Beziehungen 
zum Nervensystem, insbesondere auch zu dessen zentralem 
Teil, dem Gehirn. Hier ist allerdings noch viel zu klären. 
So zeigt P. F. Richter, daß physiologische Experimente er- 
weisen, daß im Hirn Genitalzentren liegen (besonders im 
Zwischenhirn. Manche mit der Hypophyse und Epyphyse 
(s. später) zusammenhängende Krankheitsbilder erklären sich 
nicht: nur durch Wirkungen der Sekrete der betreffenden 
Drüsen auf die Blutwege, sondern lassen eine direkte hormo- 
nale Reizung der betreffenden Zentren wahrscheinlich erscheinen: 
Mit diesen Zentren hängt aber die Libido sexualis, das 
geschlechtliche Verlangen, zusammen. Man hat weiterhin 
beobachtet, wie wir im nachfolgenden genauer sehen werden, daß 
Nebennieren Hypophyse und Schilddrüse fördernd, Nebennieren 
und Epiphyse aber hindernd auf die Genitalsphäre wirken: 


Betrachten wir nun die einzelnen Drüsen. 
1. Die Hypophyse (der Hirnanhang) Glandula pituitaria. 


Wie unsere Abb. 1 zeigt, liegt sie an einer sehr geschützten 
Stelle inmitten des Kopfes, auf der Unterseite des Gehirnes. 
Sie besteht aus zwei oder, wenn man will, drei Teilen: einem 
hinteren kleinen Lappen (Lobus posterior, Methhypophyse oder 
Neurohypophyse) und einem größeren vorderen Lappen (Lobus 
anterior, Prähypophyse oder Orohypophyse) zwischen denen eine 
Art Mittellappen liegt (s.Abb.2). Die ganze Hypophyse hat etwa 
die Größe einer Bohne, ist länglichrund, von einem Venenkranz 
umgeben und den beiden inneren Karotiden direkt benachbart, 
so daß sie also engsten Anschluß an das Blutkreislaufsystem 
hat. Neuerdings wird noch eine Nebenhypophyse, die sogenannte 
Rachendach-Hypophyse am Keilbeine unterschieden. 
Der vordere Lappen enthält Schläuche (Lumen), die zuweilen mit 
einer kolloiden Masse gefüllt sind. Seine Farbe ist gelbgrau- 
rötlich. Der hintere Lappen besteht hauptsächlich aus Nerven- 


*) Die einzelnen Drüsen werden nachfolgend genau besprochen. 


v. Reitzenstein; Zum Verständnis der inneren Sekretion 





Hinterer > 
Lappen Ä 
[Lotus posteriorf 


Abb. 2. Hypophyse. 





205 


206 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 


gewebe und Bindegewebe und liefert das wichtige Sekret 
Pituitrin (auch Hypophysin genannt), das dem Adrenalin der 
Nebennieren ähnlich wirkt und eine langandauernde Zusammen- 
ziehung der peripheren Blutgefäße veranlaßt. Wird dieFunktion 
derHypophyse herabgesetzt oder durchExstirpation (Her- 
ausnahme) ganz aufgehoben, so treten sehr eigenartige Erschei- 
nungen auf. Bei zu geringer Funktion bleiben die Geschlechts- 
teile in ihrer Ausbildung zurück, das Wachstum des Menschen 
wird gehemmt und geht in Zwergenwuchs über, während 
zugleich Neigung zur Fettsucht besteht. Diese Art der Fett- 
sucht, hypophysäre Fettsucht (oder Dystrophia adiposogenitalis), 
die also mit infantiler (kindlicher) Geschlechtsentwicklung Hand 
in Hand geht, hängt wahrscheinlich von der Verkümmerung 
des Mittellappens (nach anderen Vorderlappens) ab. Tritt 
diese Störung schon in früher Jugend ein, so bleibt das Wachs- 
tum fast ganz stehen. Würde man die. ganze Hypophyse oder 
auch nur den ganzen Vorderlappen entfernen, so würde der 
Tod die Folge sein. Der Hinterlappen könnte ohne Lebens- 
gefahr entfernt werden. Umgekehrt bringt eine schon in früher 
Jugend krankhaft vergrößerte Hypophyse Riesenwuchs 
(Gigantismus) hervor; der betreffende Mensch wächst über das 
normale Maß. Auch die Injektion des Sekretes bewirkt Be- 
schleunigung des Wachstums. Tritt die Störung erst nach 
Vollendung des Wachstums ein, so beobachten wir akro- 
megalitische Erscheinungen, d. h. Hände und Füße nehmen 
eine unförmliche große Gestalt an, Knochenbau wird grob, die 
Überaugenwülste entwickeln sich stark, Unterkiefer wird plump, 
die Nase derb und die Lippen wulstig. Diese Entwicklung 
hängt mit dem Vorderlappen, der einen chemischen Stoff 
Tethelin enthält, zusammen. Eine ganz andere Wirkung hat 
dagegen das Sekret des hinteren Lappens, das Pituitrin, 
in dem Histamin, das wirksame Prinzip des Mutterkornes 
enthalten ist. Seine Injektion steigert den Blutdruck und verstärkt 
die Herztätigkeit (Schäfer). Besonders aber erregt sie die 
Muskulatur der Gebärmutter zu starken Zusammenziehungen, 
d. h. sie ruft Wehen hervor und es ist eigenartig, daß sich 
während der Schwangerschaft die Hypophyse vergrößert. Bei 
Ratten hat man nach der Injektion Frühreife beobachtet (Kron- 
feld). So ergibt sich, daß der mit dem Gigantismus auf- 
tretende psychische Infantilismus mit einer Vergrößerung der 


v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 207 


Hypophyse zusammenhängt, ja daß in diesem Falle sogar die 
Pubertätsdrüse ihre Funktionen ganz einstellen kann (Peritz). 
P. F. Richter nimmt an, daß dabei auch dem Zwischenhirn 
eine bedeutende Rolle zuzuschreiben ist (vgl. auch Tafel I, Fig. 1). 
Der Mittellappen wirkt auf die Nierentätigkeit. 


2. Die Zirbeldrüse, Epiphyse, Conarium oder Glandula 
pinealis (Penis cerebri). 


Sie ist der Hypophyse benachbart (Abb. 1) und stellt 
eine etwa erbsengroße, länglich-runde, hinten zugespitzte Drüse 
dar, die ungefähr die Form der Frucht der Zirbelkiefer hat. 
Sie hat Farbe und Konsistenz der grauen Gehirnrinde. Ganz 
neben der Zirbeldrüse befindet sich das sogenannte Parietal- 
organ, das sich bei Reptilien (z. B. bei Eidechsen) als der 
Überrest eines Auges (Parietal- oder Scheitelauge) erwiesen 
hat. Bereits in der Mitte des Kindesalters tritt eine Rück- 
bildung (Involution) der Drüse ein. Ihre Parenchymzellen*) 
(an die sich die Sekretion knüpft) zerfallen dann, und hinter- 
lassen kleine Körnchen aus phosphor- und kohlensaurem Kalk, 
die man als Hirnsand (Acervulus cerebri oder Corpuscula 
arenacea) bezeichnet. Doch erhalten sich Reste der Parenchym- 
zellen bis ins höchste Alter (Waldeyer). Fehlt die Zirbel- 
drüse, so tritt besonders bei männlichen Individuen eine früh- 
zeitige Entwicklung der primären und sekundären Ge- 
schlechtsmerkmale auf; ihre Tätigkeit scheint also darin zu 
bestehen, daß sie die Entwicklung der Hoden und der sekun- 
dären Geschlechtsmerkmale hemmt. Meistens geht damit ein 
geistiges Zurückbleiben Hand in Hand. Geschwülste der 
Epiphyse zeigen entsprechend häufig ein vorzeitiges Wachs- 
tum der Geschlechtsorgane (Kronfeld). Das organische Prä- 
parat der Zirbeldrüse, das Epiglandol, wird daher mit Erfolg 
zur Herabsetzung der geschlechtlichen Funktion gebraucht. So 
steht sie in gewissem Gegensatz zur Hypophyse und muß sich 
also folgerichtig mit dem Ende der Kinderzeit zurückbilden 
(etwa vom siebenten Jahr ab) damit die normale Geschlechts- 
reife eintreten kann. Geht ihre Tätigkeit schon in frühen 


*) Unter Parenchym (= das Zwischenhineingegossene) versteht man 
Gewebemassen, die zwischen die Blutgefäße verschiedener Organe ein- 
gelagert sind. 


208 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 


Jahren zurück, so haben wir es mit körperlicher und geistiger 
Frühreife zu tun (Landois). In früherer Zeit glaubte man, die 
Zirbeldrüse sei der Sitz der „Seele“! 


3. Die Brieseldrüse oder Thymus. 


Die Brieseldrüse (vgl. Tafel I, Fig. 2) liegt im oberen 
Teil des Brustkorbes. Sie besteht aus 4—11 mm großen 
Lappen, die wieder in kleine Läppchen zerfallen, deren Gewebe 
außen dichter und dunkler ist als im Innern, also eine Rinden- 
substanz und eine Marksubstanz unterscheiden läßt. Besonders 
bei Neugeborenen erscheinen in dieser Marksubstanz Gruppen 
von Epithelzellen, die sogenannten Hassal’schen Körperchen, 
die nach der Geburt zunehmen. In der Zeit des Fötus ist sie 
sehr mächtig entwickelt und wächst noch in den beiden ersten 
Jahren; gegen das zehnte Lebensjahr bleibt sie stehen und 
entartet: dann dadurch, daß in ihr Gewebe Fett einwandert 
zum „thymischen Fettkörper“. Ihre Entfernung bei jungen 
Tieren erzeugte nach Asher eine vorzeitige Hodenwuche- 
rung, nach Paulsen Störungen, die der Rachitis gleichen. 
Ohne Zweifel steht sie im engsten Zusammenhang mit der 
Geschlechtsentwicklung. Einspritzung von frischen Thymus- 
extrakt (oder von Thymoglandol, La Roche) beeinflussen nach 
H. Müller und Asher Muskelermüdungen, die nicht zu stark 
sind, in günstigem Sinne. Klose und Vogt behaupten eine 
enge Zusammenwirkung mit der Schilddrüse und ebenso be- 
stehen Wechselbeziehungen zu den Keimdrüsen. Der so- 
genannte Status thymo-Iymphaticus ähnelt z. B. sehr dem 
eunuchoiden Typus und dem Infantilismus (P. F. Richter). 


4. Die Schilddrüse (Glandula thyreoidea). 


Sie liegt dem Kehlkopf benachbart (vgl. Abb. 1) und be- 
steht aus zwei seitlichen Lappen, die durch ein Mittelstück, 
den Isthmus, verbunden sind. Von ihm aus geht häufig 
nach oben ein schmaler Fortsatz (Processus pyramidalis), 
der oft bis zum Zungenbeinkörper emporragt (vgl. Tafel II, 
Abb. 1 und 2). Sie besitzt eine bindegewebige Grundlage, in 
der zahlreiche Bläschen eingeschlossen sind (Follikeln), die von 
würfligen Zellen umschlossen und im Innern mit einer zähen 
kolloidalen Flüssigkeit gefüllt sind (das Sekret der Schild- 
drüse). Es ist ein jodhaltiger Eiweißstoff, das Thyreo- 


v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 209 


globulin, aus dessen Spaltung Jodothyrin entsteht, das 
dieselbe Wirkung wie Schilddrüsenpräparat hat. Jede gesunde 
Schilddrüse enthält Jod (etwa 2—9 mg pro Drüse) (Baumann). 
Mit angeborenem Fehlen oder starker Unterentwicklung geht 
geistige Verblödung (Kretinismus) und Myxödem (teig- 
artige Schwellung des Unterhautbindegewebes) Hand in Hand. 
Auch gewisse Formen von Fettsucht werden beobachtet. 

Die völlige Wegnahme der Schilddrüse ruft die Er- 
scheinungen einer chronischen Vergiftung hervor und endet 
mit dem Tod. Wird ihre Funktion gestört, d.h. Teile ent- 
fernt, so vergrößert sich die Hypophyse, es tritt Herabsetzung 
des Stoffwechsels ein, die Temperaturregulation wird gestört, 
das Wachstum des Körpers gehemmt, Leber und Nieren ent- 
arten und bedeutende Störungen des sympathischen Nerven- 
systems .treten auf, die Haare fallen aus, die roten Blutkörper- 
chen nehmen ab, Somnolenz und Apathie machen sich bemerk- 
bar. Diese Ausfallserscheinungen treten aber nicht auf, wenn 
man irgendwo im Körper Schilddrüsengewebe zur Einheilung 
bringt (Schiff). Umgekehrt verhält sich der Hyperthyreoidismus, 
d. h. die Überfunktion der Schilddrüse. Sie führt zu ver- 
stärktem Wachstum des Körpers, das mit Abmagerung Hand 
in Hand geht. Die Überentwicklung bedingt auch jene Er- 
scheinung, die man als Kropf bezeichnet, mit der eine ge- 
steigerte Oxydation und Fettverbrennung einher geht. Die 
Erscheinungen treten ähnlich auf, wenn ein gesundes Indi- 
viduum Schilddrüsenpräparate verzehrt. Man beobachtet dann 
erhöhte Wasserausscheidung im Harn und gesteigerte physio- 
logische Verbrennung desFettes, weshalb dasKörperfett schwindet 
und das Körpergewicht abnimmt (Schenk und Gürber). Be- 
sonders auffallend ist aber, daß die Basedow’sche oder 
Glotzaugenkrankheit mit der Schilddrüse in Verbindung 
steht. Sie schwillt an, der Puls beschleunigt sich, die Augen 
treten aus ihren Höhlen hervor (Exophtalamus), Stoffwechsel 
und Herztätigkeit erhöhen sich, die Hände zittern. Die Menschen 
werden dabei sehr reizbar. Die Krankheit befällt Frauen 
häufiger als Männer und tritt oft ganz plötzlich nach heftigen 
Gemütserregungen auf. Heilung der Erkrankung ist möglich, 
doch verlaufen schwere Fälle auch tötlich. 

Das weibliche Geschlecht hat überhaupt mehr Neigung 
zu Schiddrüsenstörungen. Schon während der Schwanger- 


210 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 


schaft tritt häufig eine Vergrößerung ein, die im Wochenbett 
dann allerdings meist wieder zurückgeht (E. v. Graff). Beim 
Mann ist die Wechselbeziehung von Schilddrüse und Geschlechts- 
apparat geringer (P. F. Richter). Zwischen Schilddrüse und 
Milz besteht ein Antagonismus, die Blutbildung betreffend, 
denn die Schilddrüse arbeitet im Sinne einer Erregung, die 
Milz im Sinne einer Hemmung, sie regulieren also gemeinsam 
die normale Funktion des blutbildenden Apparates (Marcel 
Dubois). Das Thyreoidin bewirkt auch eine Steigerung der 
Kalkausscheidung im Kot (Scholz). 


5. Die Nebennieren (Glandulae suprarenales). 


Den Nieren angelagert, ohne jedoch mit deren Funktion 
zusammenzuhängen. Über die Lage der Nieren im Verhältnis 
zu den übrigen Organen der Bauchhöhle vergleiche Tafel II, 
Fig. 4. Das Bild zeigt einen Querschnitt durch den Unterleib. 
Die Lage von Nieren und Nebennieren gibt Tafel II, Figur 3. 





Abb. 3. Nebenniere Schnitt. 


Einen Schnitt durch eine Nebenniere zeigt unsere Textabbildung 3. 
Wie die Nieren, so sind auch die Nebennieren doppelt vor- 
handen und bei Erwachsenen etwa 5—7 gr schwer. Merk- 
würdigerweise sind sie jedoch ungleich. Die rechte Neben- 
niere bildet ein Dreieck mit der Spitze nach oben; die linke 
dagegen ist mehr halbmondförmig geformt. An jeder Neben- 
niere läßt sich zweierlei Gewebe unterscheiden, das auch 
entwicklungsgeschichtlich eine getrennte Herkunft aufweist: die 
Rinde und die Marksubstanz (vgl. Abb. 3). Die Rinde ist 
weißgelb und auffallend reich an fettähnlichen Körnchen (Lipoid- 


v Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 211 


substanzen besonders Cholesterin) und Lehmann wieß darin 
einen Sekretstoff, das Cholin nach. Das Mark ist grauweiß- 
lich bis graurötlich und zeigt manchmal schwärzliche Ein- 
lagerungen, die in hohem Alter als Pigmentstreifen erscheinen, 
Es enthält ein sehr wichtiges Sekret, das Adrenalin oder 
Suprarenin, dessen chemische Zusammensetzung eine be- 
kannte ist. Es ist Brenz-katechin-oxäthylmethylamin (C,H,,NO,) 
es wird von hier an das Blut abgegeben und wahrscheinlich 
in der Leber wieder zerstört. Sowohl Rinde wie Mark ent- 
halten zahlreiche marklose Nervenfasern und Ganglien. Adre- 
nalin wirkt auf alle Organe, die vom Nervus sympathicus inner- 
viert werden im Sinne einer Reizung. Es beschleunigt den 
Herzschlag, erweitert die Pupillen und veranlaßt starke Ab- 
sonderung der Tränen- und Speicheldrüsen (Brücke). Im 
Körper wird es schnell durch Oxydation wieder zerstört, während 
es im Blute länger wirksam bleibt. Seine Wirkung auf den 
Nervus Sympathicus gleicht einer elektrischen Reizung (Elliot), 
die Wegnahme beider Nebennieren führt nach einigen Stunden 
oder Tagen zum Tode, der unter großer Muskelschwäche, Er- 
müdung, Gewichtsverlust und Blutdrucksenkung erfolgt. Es 
dürfte jedoch heute feststehen, daß das Eintreten des Todes 
hauptsächlich auf den Mangel der Rindensubstanz zurückzu- 
führen ist, über die wir allerdings heute noch sehr wenig 
wissen (Landois). Die Entartung der Nebennieren hat die Addi- 
sonsche Krankheit im Gefolge. Es ist eine Tuberkulose 
der Nebenniere, durch die die Kranken eine bronzefarbene Haut 
bekommen (daher auch Bronzekrankheit), der Blutdruck 
rasch sinkt und große Muskelschwäche eintritt. Sie verläuft 
meistens tödlich. Einspritzungen (Injektionen) von Adrenalin 
in die Gefäße erregt die Endigungen faßt aller sympathischen 
Nerven und hebt den Tonus der Gefäßmuskulatur, so daß eine 
Verengung der Blutgefäße eintritt und der Blutdruck erhöht 
wird. Die Darmperistaltik (Darmbewegung) wird gehemmt, die 
Pupillen erweitert, die Haare sträuben sich und im Harn ist 
Zuckerausscheidung bemerkbar. Bei größeren Dosen tritt eine 
lebhaftere Sekretion der Speicheldrüsen ein und es ist von In- 
teresse, daß eine solche Hypersekretion bei normalen Menschen 
besonders auch im Zustande der geschlechtlichen Begierde 
stattfindet (Berg). Große Dosen wirken tödlich. Es genügt 
zu einer entsprechenden Wirkung 0,001 mg pro kg des Körper- 


212 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 


gewichtes, als 1/1000000 gr! Das stillstehende Herz kann durch 
Adrenalin zum Schlagen gebracht werden (sog. Accelerans- 
reizung). Auch die Gebärmutter wird stark kontrahiert. 
Während nun Adrenalin die Blutgefäße verengert und den Blut- 
druck erhöht, wirkt Cholin, also das Rindensekret, umgekehrt. 
Es erweitert die Gefäße und setzt den Blutdruck herab. Adre- 
nalin und Cholin wirken also antagonistisch (einander entgegen). 
Die Lipoidstoffe der Rinde haben außerdem die Fähigkeit, 
die giftigen Stoffwechselprodukte zu absorbieren und zu ent- 
giften. Dies geschieht nach Abelous besonders mit den giftigen 
Produktionen der Muskeltätigkeit, die die Ermüdung bewirken 
(Berg). Daher kommt es, daß nach Entfernung der Nebennieren 
der Tod unter Muskelschwäche und Ermüdungserscheinungen 
auftritt. Pulvermacher hat ferner gezeigt, daß die Nebennieren 
auch für Pigmentveränderungen (Hautfarbstoffe) und Haar- 
wachstum in Frage kommen. Für das Geschlechtsleben sind 
die Nebennieren von besonderem Interesse. Schon 1806 zeigte 
J. F. Meckel, daß eine eigenartige Zusammenwirkung zwischen 
mächtiger Entwicklung der Geschlechtsreife bei Meerschweinchen 
und einer beträchtlichen Vergrößerung der Nebennieren besteht. 
Weiterhin ist klar, daß die Abschwächung der Ermüdung über- 
aus wichtig ist für die Erhaltung der Potenz. Die Aus- 
bildung der seelischen und körperlichen Geschlechtscharaktere, 
besonders beim Weibe, ist nach P. F. Richter ebenfalls von den 
Nebennieren abhängig, und es ist vielleicht kein Zufall, daß 
die Zellen der Nebennieren sehr denen des corpus luteum der 
Eierstöcke (siehe nächster Aufsatz) gleichen. Bei Anomalien 
der Nebennieren treten allerlei geschlechtliche Abnormitäten 
auf. So hängt der Frauenvollbart mit Geschwülsten des 
Nebennierensystems zusammen. In anderen Fällen geht Herm- 
aphroditismus, Frühreife (Pubertas präcox) abnorme 
Fettentwicklung, abnorme Behaarung und der sogenannte 
Hirsutismus, d. h. die prämature Entwicklung des Körpers, 
besonders der Geschlechtsteile mit anormalen Erscheinungen der 
Nebennieren zusammen (P. F. Richter.) Bei Kastraten scheinen 
die Nebennieren einen Teil der Tätigkeit der Geschlechtsdrüsen 
zu ersetzen. 

Von den übrigen Drüsen und drüsenähnlichen Organen 
wissen wir sehr wenig inbezug auf ihre innere Sekretion. 
Wir können sie daher nur kurz behandeln. 


v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 213 


6. Die Nebenschilddrüsen oder Epithelkörperchen 
(Parathyreoidea). 


Sie sitzen wie Fig. 2 auf Tafel II zeigt an der rück- 
wärtigen Seite der Schilddrüse. Ihre Entfernung bringt eine 
Störung des Wachstums, besonders der Knochenbildung 
mit sich und vor allem Muskelkrämpfe (Tetanie). Da sie 
einen Giftstoff, das Guanidin zerstören, dessen Erhaltung 
Tetania parathyreopriva hervorruft. 


7. Das Pankreas (Bauchspeicheldrüse). 


Eine in der Nähe der Leber liegende Drüse (siehe Tafel II, 
Fig. 4 und Tafel III. Fig. 1). Sie hat doppelte Sekretion. Über die 
äußere haben wir auf Seite 151 unseres 4. Aufsatzes berichtet 
und dabei schon erwähnt, daß ihr Hormon, das Antidiabetin, 
den Zellen der Langerhans’schen Inseln entstammen soll und 
daß bei ihrer Wegnahme oder Erkrankung Zuckerkrankheit 
oder Diabetes auftritt. 


8. Die Leber. 


Über ihre Lage siehe wieder Tafel II, Fig. 4, über ihre 
Gestalt Tafel III, Fig. 2. Auch sie besitzt eine äußere Sekretion, 
über die wir auf Seite 152 berichtet haben und eine innere, 
die bei der Glykogenbildung (siehe Seite 150) eine Rolle spielt. 
Man hat auch festgestellt, daß Degeneration des Lebens mit 
einer Verminderung oder einem Stillstand der Samenbildung 
zusammengeht. 


9. Die Paranephroide. 


Unter diesem Namen wird nach "Waldeyer eine ganze 
Reihe kleiner und kleinster drüsiger oder knötchenförmiger 
Organe zusammengefaßt. 


a) Die Beizwischennieren oder Dianephroide. 


Es sind dies abgesprengte Gewebeteile des Nebennieren- 
systems, die außerhalb der Nebennieren liegen, also oft in 
deren Umgebung (renale Hypernephrome) oder in der Leber 
und im Pankreas, an den großen Bauchgefäßen oder dem 
Bauchsympathikus, am Samenstrang oder den Hoden beim 
Manne oder an den breiten Bändern, den Eileitern oder dem 
Eierstock des Weibes auftreten. 


214 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 


b) Die echten akzessorischen Nebennieren (Glandulae 
suprarenales accessoriae). 

Mit diesem Namen werden selten vorkommende abge- 
sprengte Teile des Nebennierensystems bezeichnet, die wie 
die Nebennieren selbst Rinden- und Marksubstanz enthalten, 
wobei merkwürdigerweise manchmal die Marksubstanz die 
äußere Lage bildet. 


c) Das Nebenpankreas (Pankreaaccessoria) 
unterhalb der Bauchspeicheldrüse liegend. 


d) Die Paraganglien. 


Man versteht darunter nach A. Kohn kleine, an ver- 
schiedenen Stellen des Körpers liegende knötchenförmige Or- 


A. carotıs 
ext. 


A. carotis 
int, 


Glomus 
caroticum A. thyrecid 


sup. 


A. carotis 
commun. 





Glomus caroticum. 


Abb. 4. Carotisdrūse nach Merkel „Anatomie des Menschen“. 


gane, in denen Zellen auftreten, die man als akzessorisches 
Nebennierenmark will ansprechen können. Dazu gehört die 
Carotisdrüse (Glandula carotica, Paraganglion inter- 
caroticum). Sie entspricht dem Mark der Nebenniere, hat 
die Struktur eines Epithelkörpers und sitzt in einer Gabelung 
der Carotis*) (siehe Abb. 4). Ferner die Steißdrüse (Glan- 
dula coccygea oder Glomus coccygeum), die nach Jacob- 


*) Unter Carotiden oder Arteriae carotides versteht man die beiden 
großen Halsschlagadern, die das Blut nach dem Kopfe führen. 


v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 215 


son in Beziehung zum Nervus sympathicus steht. Dann die 
Paraganglia lumbalia, die Zuckerkandl als Nebenorgane 
des Nervus sympathicus bezeichnet. Sie liegen an der Aoarta 
abdominalis und besitzen eine Vorliebe zu Chromsalzen, daher 
auch chromaffines System genannt. 

Wir wissen über alle diese Gebilde so viel wie nichts. 


10. Die Milz (Lien). 

Über ihre Lage vgl. Tafel II, Fig. 4. Sie steht nach 
Landois in Beziehung zur Bildung und Zersetzung der roten 
und bildet die weißen Blutkörperchen. Weiterhin enthält sie 
Fermente und speichert Eisen auf. Es besteht auch eine 
Nebenmilz (Lienae cessorius) von Haselnußgröße. 


11. Das rote Knochenmark. 

Es bildet ebenfalls nach Landois rote Blutkörperchen und 
zwar bei Erwachsenen ausschließlich. Die Milz wirkt gegen 
die Funktion des Knochenmarkes, während die Schilddrüse 
dieses anregt. 

12. Die Nieren. 

Über ihre Lage vgl. Tafel II, Fig. 4, über ihre Form Tafel II, 
Fig. 3. Nach Tigerstedt und Bergmann besitzen sie ein inneres 
Sekret, das Renin, das eine blutdrucksteigernde Wirkung aus- 
üben soll. 


13. Die Lymphdrüsen. 
Enthalten eine dem Adrenalin entgegenwirkende Substanz 
das Lymphoganglin. 


Damit haben wir die Organe, die für eine innere Sekretion 
in Betracht kommen können, besprochen und es erübrigt sich, 
nun noch einige Worte über ihre wechselseitige Wirkung 
zu sagen. Wir dürfen heute etwa folgende Vorgänge an- 
nehmen. Die Geschlechtsdrüsen wirken zur Mehrzahl der 
übrigen Drüsen antagonistisch, besonders aber zur Thymus- 
drüse, Schilddrüse, Epiphyse und Hypophyse. Die Neben- 
nieren dagegen wirken mehr im Sinne der Geschlechtsdrüsen. 
Die frühe Jugend wird durch die Thymusdrüse beherrscht. 
Sie wird späterhin in gewissem Sinne von der Schilddrüse 
abgelöst. Beide veranlassen zusammen mit der Hypophyse 
das Wachstum des Körpers und unterdrücken die dem 
Wachstum feindlichen Geschlechtsdrüsen. Tritt also Ge- 


216 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 


schlechtsreife früher ein, so wird im allgemeinen das Körper- 
wachstum mehr zurückbleiben. Tandler bemerkt, daß beim 
Weibe im Allgemeinen die Pubertät früher eintritt als beim 
Manne, daß es aber deshalb eine geringere Körpergröße er- 
reicht. Peritz hat Zwerge mit Hypophysenextrakt behandelt 
und sie so zum Wachsen gebracht. Dabei blieb aber die 
Pubertätsdrüse in ihrer Entwicklung zurück. Wohl werden es 
die Nebennieren sein, die die Thymusdrüse zurückbilden helfen 
und so die Entwicklung der Geschlechtsdrüsen ermöglichen, 
die wieder die Hormone der Hypophyse in ihrer, die Ver- 
knöcherung hindernden, Tätigkeit hemmen und durch die Ver- 
knöcherung das Wachstum abbrechen. Solange nämlich, wie 
schon Kammerer betont, die Knorpelmassen im Skelett vor- 
handen sind, kann dessen Wachstum weitergehen. Deshalb 
ist z. B. auch die nordische Rasse groß gewachsen, aber ge- 
schlechtlich spät reif und geistig weniger regsam. Deshalb 
werden auch Kastraten, denen ja die Geschlechtsdrüsen fehlen, 
sehr groß und da Hypophyse und Epiphyse den Fettansatz 
begünstigen, auch mit stärkerer Fettbildung versehen. Wir 
dürfen sogar heute behaupten, daß ein Teil unserer Rassen 
sich aus wenigen, vielleicht 3—4 Stammrassen, nur durch 
Verschiedenheiten der inneren Sekretion gebildet hat, worauf 
wir später in besonderer Arbeit zurückkommen wollen. Aber 
auch der Eintritt der Geburt und die Milchsekretion ist 
durch die Drüsentätigkeit geregelt. Sowohl Hypophyse wie die 
Milchdrüsen scheinen von einem Sekrete der Placenta (oder 
des Fötus — dessen Thymus?) angeregt und zu stärkerer 
Sekretion veranlaßt zu werden. Das Sekret der Hypophyse 
erzeugt aber, wie. wir gesehen haben, Wehen und leitet so die 
Geburt ein. Es ergibt sich also, daß die feine Abstimmung 
der inneren Sekretion ganz wesentlich dazu beiträgt, ob sich. 
der Körper normal oder wie er sich entwickelt. Kammerer 
zeigt z. B, daß kurzbeinige Personen mit niedrigen Hüften 
meist geschlechtlich frühreif sind, da gleichzeitig das Sekret 
der Hypophyse gehemmt wurde und der Verknöcherungsprozeß 
früher eintrat; daß weiterhin gewisse fettleibige Kinder 
auf ein Überwuchern der Hypophyse und der Zirbeldrüse 
schließen lassen und geschlechtlich zurückbleiben, ja 
zum Eunuchoidismus (eine angeborene Unterentwicklung 
der Keimdrüsen) neigen. 






Bursa 
omentalıs 





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DL ec 
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Eu 
= © 
23 
Z 
ʻa 


Fig. 3. Fig. 4. 
Tafel Il. Fig. 1. Schilddrüse a mit pyramidenförmigen Fortsatz b, (Schildknorpel des Kehl- 
kopfes c, Zungenbein d). Fig. 2. Schilddrüse h von rückwärts (e Speiseröhre, f Luftröhre) 
g Nebenschilddrüse. Fig. 3. Rechte Niere und Nebenniere a. Fig. 4. Lage von Niere (ren), 
Milz (lien) Pankreas, Leberu.Magen insel Nach Merkel, „Anatomie des Menschen“, 


Stelle der 
Leber 


Zum Aufsatz: Reitzenstein, Innere Sekretion. 











Corpus pancr. 
(Tuber omentale) 












Fig. 2. a 


Tafel III. Fig. 1. Pankreas. Fig. 2. Leber mit Gallenblase (a) und Vena cava (b). 
(Nach Merkel, „Anatomie des Menschen«.) Zum Aufsatz: Reitzenstein, Innere Sekretion. 






218 Müller-Braunschweig: Psychoanalyse und Moral 


mit dem Ich verlieren. Sie werden unbewußt, und sie sind 
der Beherrschung durch das Ich entzogen. Diesen wichtigen 
Vorgang nennt die Psychoanalyse Verdrängung. 

Die Psychoanalyse als Therapie besteht, kurz gesagt, darin, 
diese verdrängten Regungen über den Weg der Bewußt- 
machung wieder dem Ich und damit der Beherrschung zu- 
zuführen. Es werden gleichzeitig damit die seelischen Energien, 
die durch die Verdrängung als Hemmung innerhalb des see- 
lischen Haushalts wirkten, diesem zu aktiver Verwendung wieder 
bereitgestellt. 

Diese wenigen Worte über die Psychoanalyse. Was wollen 
wir nun für unser Thema unter Moral verstehen? Wir wollen 
die seelische Tatsache darunter verstehen, daß der Mensch 
sich Konventionen, Gesetzen, Maximen, Idealen unterwirft und 
durch sie sein Handeln bestimmen läßt. Wir wollen dabei 
unberücksichtigt lassen, inwieweit gesellschaftliche Gruppen, 
Völker, Zeitalter eine geringere oder ‚größere Gleichartigkeit in 
der Aufstellung solcher Ideale aufweisen, oder inwieweit nach 
Gruppen, Völkern und Zeiten, ja nach Individuen, diese Ideale 
auseinander gehen. Wir werden andrerseits aber in dem- 
jenigen, der gegen irgend eine Moralvorschrift, sagen wir, die 
einer Gesellschaftsgruppe, Protest erhebt, nicht etwa einen 
Verneiner der Moral überhaupt sehen, sondern nur einen, der 
anstelle der bekämpften moralischen Anschauung eine andre, 
seine eigene setzen will. 

Es genügt uns für unsre Betrachtung, daß bei aller Ver- 
schiedenheit der Inhalte der Ideale der Gruppen und Zeiten, 
ja der einzelnen Menschen, sie doch formal übereinstimmen, 
in dem Sinne, daß sie sich überhaupt an irgendwelche Vor- 
stellungen von dem, was nach ihrer Meinung sein sollte, 
binden, und daß sie diesen Vorstellungen gemäß zu handeln 
suchen. 

Unter den Fragestellungen, die aus einer Beziehung der 
beiden Gegenstände, der Psychoanalyse und der Moral, hervor- 
gehen, soll uns hier folgende beschäftigen: 

Was kann die Psychoanalyse als Psychologie über die 
Moral als seelische Erscheinung, als psychologischen Unter- 
suchungsgegenstand aussagen ? 

Freud hat die Moral neben zwei andern Erscheinungen, 
dem Ekel und der Scham, als einen der Dämme oder Wälle 


Müller-Braunschweig: Psychoanalyse und Moral 219 


bezeichnet, die vom Kinde unter Nachhilfe der Erziehung gegen 
die primitiven Triebbetätigungen aufgeworfen werden. Er hat 
diese Erscheinungen in Beziehung auf die Triebe Reaktions- 
bildungen genannt. Es scheint, als wenn die Erziehung hier 
nur etwas in der Anlage des Kindes Mitgegebenes zu berück- 
sichtigen und allenfalls zu verstärken braucht, damit diese 
Bildungen in Wirksamkeit treten. So scheinen bestimmte, für 
das ganze spätere Leben maßgebende Charakterzüge, wie 
Ordnungsliebe und Reinlichkeit, in direkter Beziehung zu jenen 
primitiven Triebregungen der Kinder zu stehen, die wir Ex- 
kretionstriebe nennen können. Sie scheinen reaktiv aus diesen 
Trieben hervorgegangen in dem Sinne sowohl, daß die in 
ihnen wirksamen Energien aus den Energien der primitiven 
Triebe abgespalten werden, als auch in dem Sinne, daß die 
Funktion dieser Energien sich nun im Gegensatze zur Richtung 
der primitiven Triebe, im Sinne ihrer Bekämpfung, ihrer Ver- 
meidung betätigt. Aus der ursprünglichen Lust des Kindes an 
den Vorgängen der Exkretion wird nun Sinn für Sauberkeit 
und Ordnung. Ähnlich vermag als Reaktionsbildung gegen 
die primitive Angriffslust des Kindes, die sich bekanntermaßen 
bis zu ansgesprochener Grausamkeit erweitern kann, eine 
Tendenz zur Rücksichtnahme, zum schonenden Mitgefühl 
zustandekommen. Diese Beispiele für viele und für die in 
Wirklichkeit differenzierten und verwickelteren Vorgänge. Das 
Gemeinsame bei ihnen ist die Entstehung moralischer Ten- 
denzen als reaktiv aus denjenigen Triebrichtungen, deren 
Gegensatz sie bilden, und deren Beschränkung oder Über- 
windung sie zu leisten haben. 

Ich möchte hier, ehe ich fortfahre, zwei Einwendungen 
berühren. Man könnte sagen, daß es sich bei den Er- 
scheinungen der Ordnungsliebe und Reinlichkeit eher oder 
ebenso sehr um ästhetische als moralische Ideale handle. Der 
Einwand ist für unsere Zwecke aber wohl unerheblich. Dann 
könnte man einwerfen, daß es sich für unser Thema doch 
nur um Ideale und nicht um Charakterzüge handeln dürfe. 
Wenn man aber zugibt, daß die Ideale lediglich in Forde- 
rungen umgewandelte habituelle Tendenzen sind, so wird 
man, auch wenn man in dem genetischen Zusammenhang 
zwischen diesen habituellen Tendenzen und den gleichsam auf 
einer anderen psychischen Ebene befindlichen idealen Forde- 

15* 


220 Müller-Braunschweig: Psychoanalyse und Moral 


rungen ein besonderes Problem sehen mag, dessen Erörte- 
rung in unserem Zusammenhange unnötig finden. 

Einen anderen Gesichtspunkt neben dem Begriffe der 
Reaktionsbildung bietet der der Sublimierung. Unter Sub- 
limierung versteht die Psychoanalyse die Abwendung der 
Energie eines Triebes von dessen eigentlichem primitiven Ziele 
und deren Hinwendung zu einem sozial höherwertigen Ziele. 
Während die Reaktionsbildung mehr vom Prinzip des Gegen- 
satzes, der Zielumkehrung beherrscht ist, — man denke an 
die Umwandlung der primitiven Lust des kleinen Kindes am 
Schmutz in die Liebe zur Reinlichkeit —, so ist die Subli- 
mierung mehr gekennzeichnet durch die Zielveredlung, wie sie 
etwa in der Verwandlung eben jener Kleinkinderlust in die 
Liebe des Erwachsenen zum Gelde zutagetritt*).. Während 
es sich hier aber um die Erzeugung eines außermoralischen 
Phänomens handelt, ist es für unsere Zwecke geeignet, auf 
ein Sublimierungsprodukt hinzuweisen, das von altersher durch 
den Sprachgebrauch, durch Kunst, Sitte und Religion als ein 
solches beurteilt worden ist. Ich meine die Entstehung aller 
höheren Liebe, „Nächstenliebe“, aller den Egoismus über- 
windenden Rücksichtnahme auf den Andern aus dem primitiven 
Sexualtrieb. Wir werden hier natürlich nicht behaupten, daß 
die Nächstenliebe und die sie vertretende moralische Forderung 
aus dieser einzigen Quelle stamme, sondern es handelt sich 
hier wie überall um komplexe, mehrfach determinierte Phäno- 
mene. Und so können wir gleich daran erinnern, daß wir 
oben die Rücksichtnahme auf den Andern als eine Reaktions- 
bildung der infantilen Angriffs- und Grausamkeitstendenzen 
beschrieben haben, und können darauf hinweisen, wie sich zu 
ein und demselben Ergebnis Strebungen gegensätzlichster Her- 
kunft vereinigen können. 

Ein weiterer Gesichtspunkt, den die Psychoanalyse 
neben den Begriffen der Reaktionsbildung und Sublimierung 


*) Über die Wirksamkeit der Reaktionsbildung und Sublimierung in 
Beziehung zu der Verwertung von Energien der Exkretionstriebe bei der 
Erzeugung moralisch wertvoller Charakterzüge wie Ordnungsliebe, Ent- 
schlossenheit, Tüchtigkeit, Verläßlichkeit, Gründlichkeit, Sorgsamkeit, siehe 
die — freilich in andrer Absicht als unser Aufsatz geschriebene — feine 
und reiche Studie von Ernest Jones: „Über analerotische Charakterzüge“. 
(Internat. Zeitschr. für ärztl. Psychoanalyse 1919, Heft 2.) 


Müller-Braunschweig: Psychoanalyse und Moral 221 


zur Frage der Genese der Moral beizustellen hat, ist gegeben 
in der Beziehung der Moral zum sogenannten Narzissmus.*) 
Ich muß hier ein wenig ausholen. Wenn die Psychoanalyse 
von Narzissmus spricht, so meint sie damit nicht etwa eine 
sexuelle Abnormität, für die dieser Terminus geprägt worden 
ist, sondern, einmal eine normale allgemein menschliche Teil- 
erscheinung der Libidokonstitution wie andererseits eine nor- 
male und durchgängige Phase der Libido-Entwicklung. Wir 
alle haben in unserer Kindheit, ehe wir es lernen, andere zu 
lieben (in der Sprache der Psychoanalyse: unsere Libido auf 
ein Objekt zu richten) eine Phase durchzumachen, wo wir fast 
ausschließlich uns selbst lieben, wo unsere Libido auf uns 
selbst, auf unser eigenes Ich gerichtet ist. Diese Entwicklungs- 
phase nennt die Psychoanalyse die Phase des Narzissmus. 
Aber abgesehen vom Narzissmus als Phase versteht sie unter 
ihm auch einen dauernden Tatbestand. In individuell ver- 
schiedenem Grade besteht diese Richtung der Libido auf unser 
Ich bei allen Menschen das ganze Leben hindurch notwendiger- 
weise fort, und die Phase des Narzissmus ist nur dadurch 
gekennzeichnet, daß diese Libidoeinstellung hier auffällig vor- 
herrscht, weil die Einstellung der Libido auf das Objekt neben 
ihr noch nicht genügend entwickelt und zur Geltung ge- 
kommen ist. 

Wie nun kann das Phänomen der Moral mit dem Nar- 
zissmus in Verbindung gebracht werden? 

Im Menschen besteht eine mehr oder minder große Ten- 
denz, die Phase des Narzissmus festzuhalten. Nun bringt aber 
das fortschreitende Leben eine Fülle von Erlebnissen, welche 
geeignet sind, den Narzissmus, diesen in der Liebe zu sich 
selbst wurzelnden Frieden zu stören. Solche Erlebnisse sind 
zum Beispiel Eindrücke von Leistungen und Fähigkeiten andrer 
Kinder im Zusammenhang mit dem Wunsche, daß man das 
Gleiche zu leisten vermöchte. Aus solchen, das Selbstbewußt- 
sein herabmindernden Vergleichen, aus Fehlschlägen bei irgend- 
welchen Versuchen, sich mit der Außenwelt zu messen, bei 
Fehlschlägen und Enttäuschungen insbesondere auf dem Gebiet 
der Liebe (im Verhältnis zu Eltern, Erziehern, Freunden und 
andern ‚geliebten Personen) entsteht einerseits eine Störung 


*) Liebe zum eigenen Körper. 


222 , Müller-Braunschweig: Psychoanalyse und Moral 


des primitiven Narzissmus und andrerseits ein seelisches Pro- 
dukt, das den Zweck hat, diese Störung wieder auszugleichen, 
nämlich die Bildung einer idealen Vorstellung des Ichs, des 
von Freud sogenannten Ideal-Ichs. In diesem Ideal-Ich liebt 
sich daß Individuum so, wie es sein möchte, und erweitert 
und sichert damit zugleich den primitiven Narzissmus, in wel- 
chem es sich noch ungestört so liebte, wie es wirklich war. 
Mit dieser Idealbildung ist eine für das menschliche 
Seelenleben hochbedeutsame Spaltung gegeben. Das Ich zer- 
fällt nunmehr in zwei Gruppen von Strebungen, in das Ideal- 
Ich und, wie es Freud nennt, das Aktual-Ich, zwei Gruppen, 
die in einer mehr oder minder starken Spannung, zu einander 
stehen. In diesem Zusammenhange findet auch die wichtige 
moralische Produktion, die wir Gewissen nennen, einen Platz. 
Das Gewissen erscheint hier gleichsam als die Zensur, die 
das ldeal-Ich über das Aktual-Ich ausübt. Alles das am Aktual- 
Ich an Eigenschaften und Strebungen, das dem Ideal-Ich nicht 
gemäß ist, wird von der Zensur, dem Gewissen, verworfen. 
Wir haben also ausgeführt, wie aus dem Bestreben, die 
aus dem primitiven Narzissmus stammende Befriedigung zu 
sichern, die Produktion der Idealbildung hervorgegangen ist, 
und haben, da diese Idealbildung in einem wesentlichen Teile 
mit der Bildung moralischer Urteile zusammenfällt, damit zu- 
gleich den Zusammenhang von Moral und Narzissmus aufgezeigt. 
Nun können wir aber neben dem Bestreben, die Befriedi- 
gung des Narzissmus zu sichern, noch auf andere die Ideal- 
bildung verursachenden Momente hinweisen, die freilich immer 
eng mit jenem Bestreben zusammenhängen, aber doch ge- 
sondert von ihm betrachtet werden können. Da ist es ins- 
besondere der Einfluß der Eltern, Erzieher und Freunde, der 
für die Idealbildung wirksam wird, und zwar nicht nur in 
dem Sinne, als er das Wert- und Leistungsbewußtsein und 
damit den Narzissmus stört, und dadurch zu seelischen Aus- 
gleichsproduktionen anregt, sondern einmal durch einen Vor- 
gang, den die Psychoanalyse Identifizierung benennt, ein 
andermal durch eine der Libidokonstitution a priori anhaftende 
Tendenz zur Unterwerfung. 
Im ersten Sinne bildet das Kind sein Ideal von sich selbst 
nach den Vorbildern seiner Eltern, Erzieher oder Freunde da- 
durch, daß es der automatischen Tendenz der Indentifizierung 


Müller-Braunschweig: Psychoanalyse und Moral 223 


mit diesen Vorbildern folgt. In seiner Idealvorstellung von 
sich selbst handelt es nun wie jene Personen, werden die 
geliebten Objekte, ihm selbst zum größten Teile unbewußt, 
zur korrigierenden, zensurierenden Macht gegenüber seinem 
übrigen und eigentlichen Wesen. 

Im zweiten Sinne richtet sich die Idealbildung des Kindes 
nach den Geboten und Anordnungen der Erzieher und anderer 
Personen, die auf es Einfluß haben, aus einer Tendenz, die 
wir als normale Teilerscheinung jeder Libidokonstitution be- 
trachten müssen, aus einer Tendenz zur Unterwerfung unter 
das Objekt. Es besteht bei Jedem eine mehr oder minder 
starke Lust an der Unterwerfung unter einen Andern, und diese 
Lust ist ebensosehr eine Seite, eine Form, eine Teilerscheinung 
der Libido wie ihr Gegenteil, die Lust, den Andern zu unter- 
werfen. Die Psychoanalyse hat diese beiden zueinandergehö- 
renden Strebungen, die der aktiven und passiven Unterwerfungs- 
lust, die sadistische und masochistische Komponente der Libido 
genannt. Im moralischen Akte ist der Mensch Unterwer- 
fender und Unterworfener in einer Person, er spielt 
gleichsam in seiner Person sowohl den Erzieher, dem er sich 
damals unterworfen hat, wie das Kind, das sich jenem unter- 
warf; beide Komponenten, die sadistische wie die masochistische, 
sind im moralischen Akte zugleich in ihm lebendig. 

Bei dieser Betrachtung des Zusammenhanges der Ideal- 
bildung mit der Beziehung des Kindes zu den beeinflussenden 
Personen gewinnt das Phänomen des Gewissens an Klarheit. 
Die Stimme des Gewissens erscheint hier als ein Niederschlag 
der Stimme, jener beeinflussenden Personen, besonders der 
Eltern und Erzieher. Freud ist auf diesen Zusammenhang be- 
sonders aufmerksam geworden durch die Betrachtung einer 
pathologischen Vergrößerung und Verzerrung dieser Stimme des 
Gewissens, wie sie in der Paranoia im Verfolgungswahn auftritt. 
Die Stimmen, die der Paranoiker hört, und die ihn fortwährend 
kritisieren und korrigieren, sind die wiederum nach außen pro- 
jizierten, durch die Verwandlung in die innere Zensur hindurch 
gegangenen ehemaligen Stimmen der Eltern und Erzieher. 

Wenn wir kurz wiederholen wollen, was uns bisher die 
Psychoanalyse über die Genese der Moral zu sagen wußte, so 
hat sie hingewiesen: 1. auf die Moral als Reaktionsbildung- 
und Sublimierungsprodukt aus primitiven Trieben; 2. auf den 


224 Müller-Braunschweig: Psychoanalyse und Moral 


Zusammenhang der Moral mit dem Narzissmus und der nar- 
zisstischen Idealbildung. 

Diese Idealbildung fanden wir einmal hervorgegangen aus 
dem Bestreben, die Befriedigung aus dem primären Narzissmus 
durch dessen Erweiterung zu sichern, weiterhin aus den Iden- 
tifizierungsstreben und zuletzt aus der Unterwerfungslust gegen- 
über den beeinflussenden Personen der Kindheit. 

Wir müssen uns nun freilich zugestehen, daß das, was wir 
über die Psychogenese der Moral zu sagen wußten, nur den 
Kulturmenschen, den Menschen der Geschichte betraf. Es drängt 
sich uns die Frage auf: wie haben wir uns die Urgeschichte 
der Moral vorzustellen, wie ist so etwas wie Moral im Laufe 
der Früh- oder Vorgeschichte des Menschen überhaupt ins 
Leben getreten? Diese Frage geht scheinbar über die Kompetenz 
der Psychoanalyse, die sich mit der Zergliederung des gegen- 
wärtigen Einzelmenschen beschäftigt, weit hinaus. Immerhin 
hat es diese Wissenschaft nicht ohne einen bedeutsamen Erfolg 
versucht, das, was sie aın Einzelindividuum der Gegenwart ge- 
funden hat, auf Erscheinungen anzuwenden, die gleichsam aus 
der Urgeschichte der Menschheit in die Gegenwart hineinragen, 
nämlich auf die Sitten primitiver Völker, von denen man an- 
nehmen darf, daß sie, wenn auch in vielfach entstellter Form, 
noch vieles vom Seelenleben des vorgeschichtlichen Menschen 
in sich enthalten. Freud hat in seinem Buche „Totem und 
Tabu“ mit Hilfe der psychoanalytischen Ergebnisse die sozial- . 
religiösen Systeme des Totemismus und des Tabuismus aufzu- 
hellen versucht. Wir können aus diesen bedeutsamen Unter- 
suchungen, ohne auf die Beweisführung einzugehen, nur das 
für unsern Zweck Wichtige herausheben. 

Diese primitiven Völker unterwerfen sich einem ausge- 
dehnten System von Vorschriften, die sie peinlich zu befolgen 
suchen, und deren Übertretung vom ganzen Stamme mit den 
schärfsten Strafen gesühnt wird. Bestimmte Tiere dürfen nicht 
getötet, bestimmte Dinge nicht berührt werden, bestimmte Per- 
sonen müssen scheu gemieden werden. Erst die analytische 
Deutung hat Licht in diese eigentümlichen Gebote und Verbote 
gebracht. Sie hat gezeigt, daß sie Entwicklungsformen von 
weit zurückliegenden ursprünglichen Vorschriften sind, die sich 
alle um zwei Hauptgebote herumgruppieren: diese beiden Haupt- 
gebote — — für den Mann bestimmt — — sind: das Verbot des 


Müller-Braunschweig: Psychoanalyse und Moral 225 


Vatermordes und das Verbot, die Mutter geschlechtlich zu 
besitzen. 

Diese wichtige Entdeckung zu machen, war die Psycho- 
analyse nur befähigt durch die Funde, die sie bei der analy- 
tischen Erforschung der Seele des Gegenwartsmenschen gemacht 
hatte. Bei dieser hatte sie durchgängig gefunden, daß wir alle- 
samt eine große Reihe antikultureller Tendenzen beherbergen, 
die gemeinhin für die Selbsterkenntnis nicht ohne weiteres er- 
faßbar sind, sondern erst durch die psychoanalytische Technik 
dem Bewußtsein zugänglich gemacht werden können. Unter 
diesen beiden Geschlechtern zugehörenden Tendenzen ragen 
nun besonders zwei, die dem männlichen Geschlechte eigen 
sind, hervor, die Tendenz, den Vater zu beseitigen und die 
Mutter zu besitzen. 

Wenn wir diese Entdeckung auf unser Thema anwenden, 
so mögen wir zu der Überzeugung kommen, daß es in der 
Hauptsache diese beiden Verbote sind, mit welchen die Er- 
scheinung der Moral im Laufe der Urgeschichte der Menschen 
eingesetzt hat. 

Aus dem Kampfe des Vaters und des Sohnes um die 
Mutter mag sich die moralische Spannung letzten Endes her- 
leiten. Der Vater verbietet dem Sohne, daß er die Mutter besitzt. 
Er vertreibt den Sohn. Die vertriebenen Söhne vereinigen sich, 
kehren zurück und erschlagen den Vater. Im Laufe langer 
Entwicklung kommt es zur Versöhnung zwischen Vater und 
Sohn. Die Söhne, schon um sich gegen das gleiche Schicksal 
zu sichern, das sie dem Vater bereitet hatten und wieder be- 
reiten möchten, verzichten auf die Mutter, der Vater verzichtet 
auf die Vertreibung des Sohnes. Anstelle des Kampfes tritt 
die religiös-soziale Bindung, wie sie in den Systemen des Tote- 
mismus und Tabuismus noch heute wirksam ist, und in ihr 
liegt zugleich der Keim eines sich nach und nach differen- 
zierenden moralischen Wesens. 

Wir müssen hier, da die beiden Tendenzen den Vater zu 
beseitigen und die Mutter zu besitzen, allein das männliche 
Geschlecht betreffen, anfügen, daß im Unbewußten der Frau 
die ganz entsprechenden Tendenzen durch die Analyse zutage 
gefördert werden können; der Wunsch, die Mutter zu beseitigen 
und den Vater zu besitzen. In der historischen Folge der 
Stammesentwicklung aber scheint der Kampf der Männer das 


226 Müller-Braunschweig: Psychoanalyse und Moral 


Primäre zu sein, und damit rechtfertigt sich die Hervorhebung 
der männlichen Tendenzen. 

In diesem Zusammenhange ist auch auf das oft überstarke 
Schuldgefühl hinzuweisen, das in den Analysen der Nervösen 
zutage tritt. Es hat sich erwiesen, daß dieses, so sehr es im 
Bewußtsein des Analysierten mit Vorwürfen wegen leichterer 
Verstöße gegen irgendwelche moralischen Gebote verknüpft 
scheint, im Grunde, im Unbewußten, noch mit jenen auf die 
Eltern gerichteten inzestuösen und feindseligen Tendenzen 
verwurzelt ist. 

— Ich möchte hier noch kurz hinzufügen, daß man gegen 
diese Zurückführung der Moral auf primitive sexuelle Verhält- 
nisse nicht recht einwenden kann, daß sie einseitig sei und 
etwa die sozialen Verhältnisse -vernachlässige. Sicher läßt sich 
auch die Entwicklung der Moral an der Linie der sozialen und 
Machtverhältnisse verfolgen, und wir haben in der Psychogenese 
der Moral des Gegenwartsmenschen diese Beziehung selber 
bereits gestreift, indem wir auf die Bedeutung der Konkurrenz 
des Kindes mit seinen Altersgenossen hingewiesen haben. 
Hier kehrt sozusagen in der Einzelgeschichte wieder, was auch 
in der Stammesgeschichte seine Bedeutung hat, aber andrer- 
seits ist es auch wichtig zu bedenken, wie die Entstehung der 
sozialen Bindungen mit der Entwicklung der sexuellen Verhält- 
nisse aufs engste verknüpft ist. So werden wir mit Recht 
annehmen, daß gerade die Vereinigung der vertriebenen Söhne 
an der Gründung des Männerstaates wesentlich beteiligt ist. 
Die Vereinigung der Söhne aber geschah aus sexuellen Mo- 
tiven, aus dem Kampfe um die Mutter. 

Ehe wir schließen, wollen wir noch bemerken, daß es 
nicht unsre Absicht war, in der Aufstellung dessen, was die 
Psychoanalyse für die Frage der Entstehungsbedingungen der 
Moral beizutragen hat, vollständig zu sein*), und daß die auf- 
gezeigten Gesichtspunkte nicht eigentlich ausgeführt, sondern 
nur im Umriß vorgetragen werden sollten. 

Dann möchten wir zum Schluß noch darauf hinweisen, 
daß die Beziehung, die wir zwischen den beiden Gegenständen, 


+) Es ist z. B. über die aus dem Studium der Zwangsneurose ge- 
wonnenen Einsichten nichts gesagt worden, desgleichen nichts über die 
Beziehungen von Moral und Staat zur homosexuellen Komponente der 
Libido. 


Müller-Braunschweig: Psychoanalyse und Moral 227 


Psychoanalyse und Moral hergestellt haben, nur eine unter 
einer Reihe möglicher Beziehungen darstellt: 

Unsere Fragestellung lautete: Was hat die Psychoanalyse 
als Wissenschaft über die Moral als ihren Untersuchungs- 
gegenstand auszusagen? Wir könnten nun zum Beispiel den 
Spieß umkehren und fragen: Was hat die Moral über die 
Psychoanalyse zu sagen? Auch bei dieser Fragestellung 
würden wir die Moral in dem skizzierten formalen Sinne fest- 
halten. 

Oder wir könnten eine andre Frage aufwerfen, eine Frage, 
die bisher gegenüber allen Versuchen, Kulturerscheinungen wie 
Kunst, Religion, Sittlichkeit und Staat in genetischer Hinsicht 
zu untersuchen, aufgetaucht ist: ob und wie weit eine solche 
Untersuchung etwa zersetzend auf die Moral und ihren innern 
Gehalt und Wert einwirke. 

Diese aber und andre Fragen würden umfassende ge- 
sonderte Untersuchungen und andre methodische Einstellungen 
erfordern. 


Literatur: Freud, Vorlesungen zur Einführung in den Ps., I. und 
II. Teil. — Freud, 3 Abhandlungen zur Sexualtheorie. 1915, S. 41 f, 78 f. — 
Freud, Zwangshandlungen und Religionsübung, Charakter und Analerotik, 
beides in „Kleine Schriften zur Neurosenlehre“ Bd. lII. — Freud, Zur Ein- 
führung des Narzissmus „Kleine Schriften zur Neurosenlehre“ Bd. IV. — 
Freud, Totem und Tabu. — Reik, D. Pubertätsriten der Wilden, in „Prob- 
leme der Religionspsychologie“. — Jones, Über analerotische Charakter- 
züge (siehe oben Note). — Ferenczi, Ontogenese des Geldinteresses. 


I. Ztschr. f. &. Ps. 1914, Heft 6. 


228 Die Abtreibung 


DIE ABTREIBUNG. 
Von Justizrat Dr. JOHANNES WERTHAUER, Berlin. 


D* gesamte Strafrecht wird wegen der Mängel seiner mora- 
lischen Begründung, seiner politischen Notwendigkeit und 
seiner praktischen Wirkung von verschiedenen Richtungen be- 
kämpft, welche jedoch nicht als herrschend bezeichnet werden 
können. Es sei in dieser Hinsicht Bezug genommen auf die 
letzte von mir veröffentlichte Schrift „Strafunrecht“. 

Wenn auch unbewußt, liegt den Wünschen auf Beseitigung 
bestimmter einzelner Strafrechtsvorschriften, wie dem Verbot 
der Gotteslästerung, der Majestätsbeleidigung, des Ehebruchs, 
der Abtreibung, in letzter Wurzel all das zu Grunde, was gegen 
das Strafrecht selbst sich einwenden läßt, von welchem Goethe 
bemerkte, daß es sich wie ein ewiges Unrecht fortpflanze. 

Gleichwohl soll auf jene wissenschaftlich-philosophischen 
Erwägungen nicht eingegangen werden, sondern auf die Rück- 
sichten, welche praktisch gegen die Abtreibungsvor- 
schriften sprechen. 

Man geht davon aus, daß im Interesse der Volksver- 
mehrung die Abtreibung verhütet werden müsse, ferner im 
Interesse der Gesundheit der durch Körperverletzung bedrohten 
Mutter. 

Beides ist, wie die Praxis zeigt, unrichtig. 

Die Abtreibung wird vorgenommen zur Vermeidung gesell- 
schaftlicher Ächtung und wirtschaftlicher Not. Diese beiden 
Momente sind derartig überwiegend, daß keine, auch noch so 
drakonische Gesetzesbestimmung irgendetwas als Gegengewicht 
bieten könnte. Wer deshalb die Abtreibung aus obigen Er- 
wägungen heraus verhüten will, müßte die Ursachen beseitigen, 
nämlich die gesellschaftliche Ächtung und die wirtschaft- 
liche Not. Beides ist unmöglich. Der Makel der unehelichen 
Geburt läßt sich durch kein noch so schönes Mittel beseitigen, 
sondern nur durch die Gleichstellung der unehelichen und 
ehelichen Geburt. Da aber die Praxis aus 4 nicht 5 machen 
kann und stets ein Unterschied zwischen unehelicher und ehe- 
licher Geburt bestehen wird, ferner die Natur von der unehe- 
lichen Geburt niemals lassen wird, würde sich dieser Unter- 
schied nur beseitigen lassen durch Abschaffung der ehe- 
lichen Geburt, welche eine positiv-menschliche Einrichtung 


Die Abtreibung 229 


ist, also durch Abschaffung der Ehe. Die Ehe aber ist ein 
reines Ergebnis der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, 
welche, um sich der Gesellschaftspflicht der Verpflegung der 
Kinder zu entziehen, die Ehe braucht, um einen bestimmten 
Vater mit jener auf ihn abgewälzten Pflicht zu belegen. 

Ebensowenig wie die kapitalistische Gesellschafts- 
ordnung bei Gelegenheit dieser Spezialfrage, die sich aus 
ihr ergibt, beseitigt werden kann, ebenso kann auch natürlich 
nicht ein Gesetz zur Abschaffung der wirtschaftlichen Not 
gegeben werden. 

Die beiden gewaltigen Antriebsmomente der Abtreibung 
werden deshalb stets in ihren Erfolgen sich zeigen. Die Volks- 
vermehrung wird viel weniger durch die Abtreibung bedroht, 
als durch die Mittel zur Verhütung der Empfängnis. Diese Mittel 
aber können, da sie der Natur abgelauscht sind, überhaupt 
nicht beseitigt werden. 

Eirie Verminderung der Abtreibung würde deshalb durch 
eine Vermehrung der Verhütung der Empfängnis sofort bei 
Personen hervorgerufen, welche die Folgen ihrer Handlung zu 
überlegen in der Lage sind. 

Bei den anderen aber wird stets aus den obigen Gründen 
die Abtreibung einsetzen. 

Das Volk läßt sich durch Verminderung weder der Ver- 
hütung der Empfängnis noch der Abtreibung vermehren. Die- 
jenigen, welche deshalb sich für berufen glauben, der Natur 
in das Handwerk zu pfuschen und die Vermehrung des Volkes 
durch positive Anordnungen herbeizuführen glauben, sollen 
sich mit der Frage der gesellschaftlichen Ächtung der unehe- 
lichen Geburt und der wirtschaftlichen Not der unehelichen 
Mutter beschäftigen. Sie sollen die Finger von dem Strafrecht 
lassen, weil sie unfähig sind, zu erkennen, daß das Strafrecht 
die Folge gegebener Zustände ist, denen es automatisch 
folgt, ohne durch seine Existenz das Geringste an diesen Zu- 
ständen ändern zu können. 

Statistik und Praxis lehren deshalb, daß die Abtreibungs- 
kurve, mit der gesellschaftlichen Anschauung und wirtschaft- 
lichen Notlage, unbekümmert um jeweilige Strafbestimmungen, 
steigt und fällt. 

Noch schlimmer aber ist es mit dem zweiten Gesichtspunkt 
bestellt, welcher im Interesse der Gesundheit der Mutter, 


230 Die Abtreibung 


also indirekt auch wieder des ganzen Volkes, die Abtreibung 
verbieten will. Gerade das Verbot steigert das Entgelt für die 
Abtreibung, da die strafrechtliche Risikoprämie den Gestehungs- 
kosten hinzugerechnet werden muß. Derartige Geschäfte aber 
machen nur minderwertige Personen, welche auch auf dem von 
ihnen gewerblich ergriffenen Abtreibungsberufe als minder- 
wertig in der Regel sich zeigen. Es wird, und zwar nur in- 
folge des Verbotes, die Abtreibung in die Hände heimlicher, 
untergeordneter, unverantwortlicher Personen gelegt, welche in 
der Tat der Mutter oft dauerndes Siechtum zufügen und da- 
durch auch für die Zukunft die Volksvermehrung verhindern. 
Das sonst vollständig wirkungslose Verbot hat deshalb die 
eine unglückliche Folge, daß die Abtreibung zu einer besonders 
gefährdeten gemacht wird. Gerade das Interesse an der Er- 
haltung der Volksgesundheit zwingt deshalb zur Abschaffung 
des Verbotes der Abtreibung, wenn das Verbot aus anderen 
Gründen überhaupt unbedingt nötig wäre. 

Es ist deshalb in der Tat die einzige Rechtfertigung 
für das Verbot der Abtreibung in der Erwägung zu suchen, daß 
nach allgemeinem Sittengesetz der Angriff gegen jedes Leben 
abgelehnt werden muß, und wenn überhaupt ein Strafgesetz 
einen Sinn haben soll, der Angriff gegen das Leben mit Straf- 
sanktion versehen werden muß. 

Es spitzt sich deshalb die Frage des Abtreibungsverbotes 
in Wirklichkeit auf diesen Gesichtspunkt zu, wenn man die 
heuchlerischen Erwägungen ausgeräumt hat, welche man an- 
geblich religiösen, nationalen, kapitalistischen, sozialistischen, 
patriotischen, ethischen, sanitären, gewerblichen Meinungen 
entnommen hat. 

Es ist auch ohne weiteres zuzugeben, daß der Satz „das 
Leben ist der Güter höchstes nicht“ im Strafgesetz keine Be- 
rücksichtigung finden darf, da, wie angegeben, jedes Straf- 
gesetz seine Bedeutung verliert, wenn es nicht einen Schutz 
des Lebeus und zwar rückhaltlos unter allen Umständen 
bietet. 

Eine andere Einschränkung aber ergibt sich daraus, daß 
wir unter Leben nur das Ichbewußtsein der Gesamtpersönlich- 
keit verstehen dürfen. Es ist zweifellos, daß man unter Leben 
auch die organische Veränderung jeder einzelnen Zelle oder 
jedes einzelnen Zellensystems verstehen könnte, so daß nach 


Die Abtreibung 231 


dem Aufhören des zusammengefaßten Zentrallebens, 
also des Ichbewußtseins, diese einzelnen Zellen und Zellensysteme 
ihr organisches Leben noch weiter führen. Der Arm am Körper 
ebenso wie jeder Teil der Leiche, führt insoweit ein eigenes 
Leben, ohne daß jedoch jemand die Beseitigung des Armes 
oder die gewaltsame Veränderung an einer Leiche vor dem 
definitiven Zerfall der Leiche als Beseitigung eines Lebens 
anspricht. 

Ebenso ist der Embryo ein Körperteil der Mutter, bis er 
ein eigenes zentrales Leben, ein eigenes Ich, bildet, also bis 
zu der Trennung von der Mutter. 

Solange körperliche Ernährung, Blutlauf, ihn als Teil des 
Körpers der Mutter leben lassen, solange bildet er einen 
Körperteil der Mutter, und der Angriff gegen seine Existenz 
ist nicht ein Angriff gegen das Leben, sondern gegen einen 
Körperteil der Mutter. 

Der Schutz des Lebens jeder Person ist deshalb nicht 
auf den Embryo anzuwenden. Der Embryo steht nur unter 
dem Schutz der Körperteile eines jeden Lebenden, wie das 
Strafrecht ihn auch anderen Körperteilen je nach ihrer Wichtig- 
keit zugute kommen läßt. 

Daraus folgt aber, daß die freie Herrschaft des Menschen 
über seinen Körper (Selbstmord) und über Teile seines Körpers 
(Operation) seinem eigenen Verantwortungsgefühl überlassen 
bleiben muß, soweit nicht andere Bestimmungen (strafbare 
Militär-Selbstverstümmelung) dem entgegentreten. 

Es ist deshalb auch von diesem Gesichtspunkt aus keine 
Notwendigkeit gegeben, eine Abtreibungsstrafe im Falle des 
unbeeinflußten freien, reifen und klar vorliegenden 
Willens der über ihren Körper frei disponierenden Frau 
aufrecht zu erhalten. 

Dadurch ergibt sich zugleich, daß Eingriffe ohne den 
Willen der Berechtigten als schwere Körperverletzung geahndet 
werden, und daß ärztliche Behandlung ohne den freien Willen 
der Frau oder der Ergänzung durch den Willen des gesetz- 
lichen Vertreters unzulässig sind. Es ist selbstverständlich, 
daß bezüglich der freien Verfügungsgewalt nicht positiv-recht- 
liche zivile Einschränkung wie Zustimmung des Ehegatten und 
dergleichen in Frage kommen können, weil dies mit dem 
natürlichen, freien Willen nichts zu tun hat und derartige Zu- 


232 Die Abtreibung 


stimmungen nur auf vermögens-rechtlichem Gebiete — leider — 
zulässig sind. 

In der Praxis wird jetzt schon meist von einsichtigen 
Richtern eine ungewöhnlich geringfügige Strafe den armen 
Müttern auferlegt, weil die Richter ein Verständnis für das 
Allzumenschliche meist haben. Sehr töricht dagegen ist, wenn 
man glaubt, die weisen Fräuen müßten besonders scharf 
bestraft werden, um dadurch die Abtreibung einzudämmen, 
weil auch deren Existenz sich lediglich nach dem ewigen 
Gesetz, daß das Angebot der Nachfrage folgt, regelt. Die 
sogenannten scharfen Zuchthausstrafen für gewerbsmäßige Ab- 
treiberinnen nehmen deshalb ebenso ab, wie die geschärfte 
Strafung der peinlichen Halsgerichtsordnung der modernen 
Empfindung nicht standhalten kann. 

Je mehr deshalb durch Wegfall der Abtreibungsvor- 
schrift der medizinische Eingriff den berufenen Medizinern 
überlassen wird, umsomehr fällt die Gefahr desselben weg, da 
gerade dann auch die Haftung für Kunstfehler eintritt. 

Unter den Tausenden von Abtreibungsanklagen, die mir 
durch die Hände gegangen sind, ist nicht eine einzige, deren 
vollständige Überflüssigkeit nicht aus ihrem Inhalt sicher er- 
kennbar gewesen wäre. Die wirklich eintretenden Strafen der 
heutigen Vorschrift beweisen deshalb schon die Unrichtigkeit 
der Vorschrift selbst. 

Ihre Beseitigung kann jedoch nur von einer geläuterten, 
wissenschaftlichen, medizinischen, juristischen, volkswirtschaft- 
lichen Erkenntnis erwartet werden. 

Zu dieser ist angesichts der jetzigen Reaktion auf 
dem Rechtsgebiete, welche weit über die Zustände von 1850 
zurückgehen, nichts zu erhoffen. Solange Bierzimpfel, Professor, 
Student und Philister in Deutschland mehr zu sagen haben 
als Goethe und Boelsche, darf auch von einer Verbesserung 
des Strafrechts nichts erwartet werden. 


= 


Geschlecht und Gesellschaft 
Neue Folge X, 7 


Ampulla recti rn 


Corpus cavernosum 


Vesicula seminalis penis (durehschnitten ı 


M. levator anı — 


f Gland, M. 
Prostata bulbo- bulbo- 
urethrahs cavernosus 
(€ owperi 


Fig. 1. 


om 


Infond 


! 


c é a K - 
diy A. 
( Appendix ' 
_vesiculosa ` 

. (Morgagni). 

Gi Ampulla- 


tubae 


% 


Isthmus 
tubae . 


Fig. 2. 


Tafel I. Fig. 1. Männliche Geschlechtsorgane. Fig. 2. Weibliche Geschlechtsorgane. 
(Nach Corning topogr. Anatomie Bergmann, Wiesbaden ) Zum Aufs.: Reitzenstein Innere Sekretion. 








Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt 233 


GESETZLICHE FREIGABE DER FREIWILLIGEN 
KÜNSTLICHEN FRÜHGEBURT. 
Von Professor Dr. med. KAFEMANN, Königsberg i. Pr. 
(Schluß.) 


FR Landbesitzer haben mir versichert, vor dem Kriege 
150—200000 Mk. besessen und mit diesem Vermögen sich 
reich gefühlt zu haben, heute dagegen Millionen zu besitzen. 
Und um welche Summen — es handelt sich um mindestens 
100 Milliarden — sich die neuen Hausbesitzer bereichern 
werden, wird der in Lumpen gekleidete und kümmerlich er- 
nährte Mittelstand (die sog. Intelligenz) mit Schrecken in den 
nächsten Jahren zu erfahren Gelegenheit haben. „Wir müssen 
hoffen, daß im Himmel den Tapferen die Erkenntnis verborgen 
bleibt, daß sie — (die gefallenen Soldaten) umsonst gestorben 
sind.“ Umsonst? Verehrter englischer Herr Kanzelredner? 
Für den schmählich erworbenen Reichtum zahlloser listiger 
Händler sind sie gestorben. Für Schieber, Spekulanten und 
Gauner! Auf sie -häuft der Staat alle Ehren, behütet, schont, 
befördert sie; den Tod aber verfügt er über die armen ver- 
führten Jungen, die jungen braven Reservisten. In den ersten 
Tagen des August zog ein berühmtes Regiment ins Feld. Ernst, 
mit gesammelter Kraft und gebändigter Erregung. Ein junges 
Weib, halb Kind, begleitete einen jugendlichen Soldaten, dem 
so machtvoll die Tränen aus den Augen stürzten, daß seine 
Frau, zur Seite gehend, ihm nicht schnell genug die Wangen 
mit ihrem Taschentuch abtrocknen konnte. Der Mann ist tot 
und ihr lebt, ihr schamlosen Wucherer und Gauner, die ihr 
über die Papiergesetze lacht, die der Staat erließ, um eure 
unberechtigten Gewinne einzuziehen. Sein Werk besitzt ja 
keine Autorität, vor der der Kapitalist sich zu beugen nötig 
hätte. Die deutsche Regierung hat hierin seit Kriegsbeginn 
völlig versagt. Während die englische Regierung schon vom 
Frühjahr 1915 sich wenigstens bemühte, die Kriegsgewinne zu 
erfassen und den Besitzenden ungeheure Steuern auferlegte, 
hielt man in Deutschland die Geldsackleute bei guter Laune, 
duldete die Verschiebung riesiger Vermögen ins Ausland und ver- 
wies triumphierend auf den einträglichen Enderfolg. Während die 
englische und amerikanische Regierung auch die Preise der 
16 


234 Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt 


Kriegsindustrie kontrollierte und beeinflußte, erfüllte die deutsche 
die wahnwitzigsten Forderungen der Fabrikherren. Und so 
züchtete man bei uns Millionäre ohne Zahl, während in einem 
glücklichen sozial vielleicht am weitesten von allen Staaten der 
Erde vorgeschrittenen Dominion Großbritanniens Neuseeland, 
die Anhäufung von Millionen durch eine weise Gesetzgebung 
erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht ist. Es ist ein- 
leuchtend, daß diese Bemühungen um Gerechtigkeit der tiefste 
Quell für Englands Macht und Größe ist, indem sie eine 
Harmonie zwischen der Idealität der einzelnen und dem Staate 
schaffte, wie wir sie erst im Glanze der altrömischen Republik 
wiederzufinden in der Lage sind. Millionärszüchtung gehörte 
ja schon im Wilhelminischen Zeitalter, in dem die Verachtung 
der Armut begann, zu dem wohlbegründeten System des 
Staates. Alle Statistiken müssen zugeben, daß in Preußen die 
großen Einzeleinkommen und Vermögen im Zeitraum 1892 bis 
1916 sehr erheblich und viel erheblicher zugenommen haben 
als die der mittelgroßen und kleinen. Willst du diese ehren- 
werte Klasse der Kriegsgewinnler näher kennen lernen, so 
schlage Zarathustra auf Buch IV: Der freiwillige Bettler 
»... Was trieb mich doch zu den Ärmsten, o Zarathustra? 
War es nicht der Ekel vor unsern Reichsten? — vor den 
Sträflingen des Reichtums, welche sich ihren Vorteil aus jedem 
Kehricht auflesen, mit kalten Augen, geilen Gedanken, vor 
diesem Gesindel, das gen Himmel stinkt, — vor diesem ver- 
güldeten verfälschten Pöbel, dessen Väter Langfinger oder 
Aasvögel oder Lumpensammler waren, mit Weibern willfährig, 
lüstern, vergesslich; — sie habens nämlich alle nicht weit zur 
Hure — Pöbel oben, Pöbel unten...“ Du kannst ihre Be- 
kanntschaft auch schon im Dante machen. Schlag auf den 
16. Gesang und lies: „Jedoch die Bürgerschaft, buntscheckig 
heute, aus Campi und Certaldo und Figghin, war eine bis auf 
die letzten Handwerksleute. „O wie viel besser wär’s, zum 
Nachbarn ihn zu haben, diesen Troß, als in den Mauern, und 
eure Grenze bei Trespian zu ziehn,“ als nun zu dulden den 
Gestank des Bauern von Signa und des Mannes von Aguglion, 
die scharfen Auges schon auf Schacher lauern. „Wär die 
Entartete auf ihrem Thron Stiefmutter nicht gewesen den 
Cäsaren, nein, milde wie die Mutter für den Sohn,“ gar 
mancher hätte sich, der Geld und Waren tauscht in Florenz, 





Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt: 235 


nach Simifont gewandt, wo seine Väter Knecht’ und 
Pracher waren“... Die ganze heutige Schwindelmoral ist 
freilich ein naturnotwendiges Produkt unserer ganzen gesell- 
schaftlich-staatlichen Zivilisation, die zum Betrug und zur Lüge 
nicht nur reizt, sondern direkt nötigt und verpflichtet. Von 
einem Ausgleich der Interessen aller kann heute weniger ge- 
sprochen werden als jemals, und weniger existiert deshalb 
„Gerechtigkeit“. Weniger als jemals findet man Rücksicht auf 
das Gemeinwohl, mehr als je tut es not, die Egoismen der 
Einzelnen, einzelner Gruppen und Verbände zu zermalmen. 
Ein Staat, der wohl den Mut hat, einen kümmerlichen Höker 
anzufassen, aber schlotternd vor den Palästen der Schlotbarone, 
der Hochagrarier, der Millionenaufkäufer unentbehrlicher 
Materialien und anderer Wucherer zurückweicht, der so wenig 
seinen Bürgern Schutz vor Ausbeutung bietet, daß er sie sogar 
begünstigt, kann wahrlich nicht verlangen, daß seine verarmten 
kapitalschwachen Bürger freudevoll ihm zahlreiche Kinder 
liefern. Welches Los winkt denn heute den „vielzuvielen“ 
Kindern. Das Los der Sklaverei, die dadurch, daß sie 
heute unpersönlich ist, nicht weniger drückend wirkt 
als früher. Das Los, in einer unzufriedenen Gemeinschaft 
Güter zu erzeugen ohne eigentlichen Zweck mit Hilfe 
einer Arbeitsleistung, die freudlos — vielleicht mittels des 
verruchten Taylor-Systems — im Dienste unbekannter Groß- 
kapitalisten geleistet wird. Verrucht ist solche Arbeit immerdar 
und verdammt der Vater, der leichtfertig seine Kinder solcher 
Sklavenarbeit ausliefert. Spezialisierte Sklavenarbeit ist immer 
ekelhaft, auch wenn sie nur vier Stunden dauern sollte. Nicht 
darauf kann es ankommen, daß wir noch Hunderttausende 
von Schustern, Schneidern, Maschinenschlossern, Dichtern und 
Klavierspielern hinzugewinnen. Was uns not tut, ist, daß wir 
entschlossen unsere minderwertigen, riesengroßen Volks- 
bestandteile abstoßen, indem wir es den geplagten Müttern 
ermöglichen, ihrer überflüssigen Produkte sich zu entledigen 
im Interesse ihrer selbst und der schon vorhandenen. Das- 
jenige Volk, das zuerst entschlossen diesen Weg betritt, wird 
unvergleichlichen Ruhm vor allen anderen gewinnen. Kommen 
wird der Tag, an dem diese vom Staate geleitete Geburten- 
rationierung von allen Völkern kühn begonnen werden muß. 


Diese kann natürlich nur so gemeint sein, daß es Müttern 
16° 


236 Kafemann: Gesetzliche Freigade d. freiwilligen künstl. Frühgeburt 


mit überflüssiger Kinderzahl freigestelll sein soll, weiteren 
unerwünschten Zuwachs schmerz- und gefahrlos in öffent- 
lichen Instituten zu verlieren. Der Zeitpunkt dieser Rationierung 
dürfte im Ende des 20. Jahrhunderts liegen, wenn die be- 
ginnende Erschöpfung der Rohstoffe der Erde auch dem 
blödesten Auge erkenntlich geworden sein wird. Vielleicht 
wird die Menschheit dann auch die Kriege ihres romantischen 
Schimmers entkleiden und sie als etwas ordinäres betrachten 
und das Kriegsbeil für immer der Erde übergeben. Dann 
hätte sie allerdings auch für immer ein Ventil gegen sinnlose 
Volksvermehrung verstopft, dessen wohltätige wenn auch 
grausame Wirkungsweise sie bis heute zu erkennen noch 
nicht fähig gewesen ist. Dann aber wäre auch Rationierung 
doppelt geboten. Es könnte sein, daß zu leben dann erst 
wieder sich verlohnte, wenn der Druck der Allzuvielen auf 
den menschlichen Grundstoff, der von Anbeginn an gierig, 
egoistisch, eifersüchtig und blutdürstig ist, nachzulassen an- 
fängt. Wo ist denn heute der Mensch, der in voller Charakter- 
schönheit als reifster Frucht seiner Humanität nur dem 
Gemeinwohl lebt? Wo sind die Menschen, die nicht an der 
allgemeinen gegenseitigen Plünderung Teil haben? Und sind 
nicht Stadtverordnete, Ehrenbürger, Beamte alltägliche Erschei- 
nungen, die mit der imposanten Hülle moralischer Zwecke 
drapier, während der kraftvollen Äußerungen über das 
„Gemeindeinteresse“ angestrengt ihre neuesten Schiebungen in 
Zucker, Heringen oder Getreide erwägen? Wahrlich! Dann erst 
wird die häßliche Grundsubstanz der Menschen sich ändern, wenn 
sie von der Umgebung sich zu ändern gezwungen werden wird. 
Wenn ich meinen Nachbarn dringend brauche, werde ich 
ihn zu erzürnen, übers Ohr zu hauen, mich weislich hüten. 
Unser „Gemeininteresse* wird dann auch ein anständiges, 
ehrenhaftes Einvernehmen gebieten, und wird der Tag nicht 
fern sein, da das herrliche Wort des römischen Philosophen 
Seneca: homo res sacra homini (der Mensch sei dem Menschen 
heilig) zur Wahrheit wird. Jetzt erscheint die Schellenkappe 
des Weltverbesseres, der zwar eine kleine aber besser gezüchtete 
Volkszahl herbeisehnt, der ebensosehr den Prunk der großen 
Gauner als die ärmliche Dürftigkeit der Vielzuvielen ablehnt 
und eine mittlere, aber gut situierte Volkszahl im Sinne des 
großen Laotse für erstrebenswert hält. Treffend schildert der 


Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt 237 


Satiriker Martial das Ideal, das für alle Menschen durch Züchtung 
und weise Geburtenbeschränkung wohl zu erreichen sein sollte. 
Dieser geistvolle Zyniker, der mit erbarmungslosem Spott die 
Schwächen seiner Zeitgenossen im kaiserlichen Rom verfolgte, 
hatte auch zarte Töne in seiner Leier. Vergleiche Nr. 47: 
„Was uns glücklich machen kann das Leben, mein Teuerster, 
Martialis, dieses: nicht erworbenes, sondern Erbvermögen; ein stets 
flammender Herd, ein Acker fruchtbar; nie Streit, selten die Toga (Frack), 
Seelenruhe; gesunder Körper, kräftige Natur, Klugheit 
ehrlicher Art, die Tafel kunstlos, keine trunkenen, doch 
sorgenfreien Nächte, ein lustspendendes, und doch keusches Ehebett, 
Schlaf, der kurz uns die Nächte erscheinen läßt: Gern sei das, 
was du bist und wolle mehr nicht und fürchte nicht den 
letzten Tag, noch wünsche ihn.“ 

Wie die Geschichte lehrt, erreichte Martial durch eine Heirat 
dieses von jedem echten Hygieniker und Philosophen erstrebte 
Ziel unbedingter, mit mäßigem Behagen verbundener Selb- 
ständigkeit — ein Ziel, das weltenweit von dem des modernen 
Unternehmers verschieden ist, der in sinnloser Ausdehnung 
seiner Geschäfte seine einzige Befriedigung findet, dessen 
Seelenbetrieb, wie Sombart in seinem „Der Bourgeois“ (S. 425ff.) 
vortrefflich ausführt, eine Art Rückfall in die einfachen Zustände 
der Kinderseele erleidet. Ehrt nur die Schieber, Wucherer und 
Gauner in Stadt und Land, die für eure Steuergesetze nur ein 
mitleidiges Lächeln haben, raubt den ehrenwerten mittleren 
Ständen alles, was ihnen zur Erreichung des Zieles Martials 
behilflich zu sein vermag, so werdet ihr Folgen erleben, die 
ihr nicht erwartet habt. Alle Streiks der Handarbeiter werden 
nur ein Kinderspiel sein gegenüber dem Kinderstreik der 
Intellektuellen, dessen Anfänge wir schon erleben, über den 
die Ärzte allein vertrauliche Auskünfte geben könnten. Es gibt 
keine physische und moralische Nötigung, die in das Majestäts- 
recht der Person, über seine Fortpflanzung zu bestimmen, 
eingreifen könnte. Wenn schamlose Händlergier die Existenz 
des Kopfarbeiters unerträglich macht, wenn blinde sozial- 
staatliche Willkür den mühsam und ehrlich erworbenen Besitz 
zertrimmert und anmaßend genug mit einem Schein von 
Ehrwürdigkeit ihr Werk umgibt, dann werden die Machthaber 
erkennen müssen, daß dieses keine Autorität besitzt, vor 
welcher die Freiheit sich zu beugen nötig hätte. Eingepfercht 
zwischen zügellosen Massen und einer oberen nichtswürdigen 


238 Kafemann: Gesetzliche Freigabe d. freiwilligen künstl. Frühgeburt 


Gesellschaftsschicht, von der öffentlichen Macht gehaßt und 
ausgebeutet, werden wir entschlossen unserem Untergang zu- 
eilen. Es ist die größte, von keinem tiefer als von Buddha 
erkannte Illusion des menschlichen Geschlechts, daß es ein 
Glück ist, Kinder zu besitzen, sich fortzupflanzen; es ist eine 
seiner größten Irrtümer zu meinen, daß überhaupt ein Fort- 
pflanzungstrieb existiert. Es existiert nur eine gewisse Körper- 
unruhe, die durch gewisse Versuche geschlechtlicher Annäherung 
zur Ruhe gebracht wird, wobei es häufig zur Entstehung eines 
neuen Lebewesens kommt. Und es existiert vielleicht auch 
eine durch suggestive Einflüsse aus der Umgebung dauernd 
lebendig gehaltene Neigung zur Fortpflanzung, die aber bei 
Leibe nicht als Trieb aufzufassen ist. Jede andere Darstellung 
ist Schwindel. Wohlan! So wollen wir die Konsequenzen 
daraus ziehen! Verweigern wir den Vielzuvielen einerseits, 
einer verbrecherischen Hochfinanz, die einzig und allein einer 
sinnlosen Volksvermehrung ihr Dasein verdankt (vgl. Sombart 
loc. cit. 464) andrerseits, unseren intelligenten Nachwuchs, so 
gehen beide an schwerer Blutarmut zu Grunde, — der Reiche 
wie der Arme! — Discite, moniti! Merkt euch das, ihr seid 
gewarnt! 





v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 239 


ZUM VERSTÄNDNIS DER INNEREN SEKRETION 
UND DER VERJÜNGUNG. 
Von FERD. FRHR. VON REITZENSTEIN, Dresden. 


v1. 
Innere Sekretion II.*) 


A" die im vorigen Aufsatz genannten Drüsen schließt sich 
noch eine weitere Gruppe an, die mit dem Geschlechtsleben 
in direkter Beziehung stehen und die infolgedessen nach 
den beiden Geschlechtern verschieden sind. Über ihre 
Sekretion sind wir teilweise noch sehr im Unklaren, obwohl 
feststeht, daß sie in dieser Hinsicht eine ganz bedeutende Rolle 
spielen. Wir werden also in erster Linie zu betrachten haben 
beim Manne die Hoden, Nebenhoden, Samenbläschen, Cowper- 
schen Drüsen und die Prostata; beim Weibe die Eierstöcke, 
die Bartholinischen Drüsen und die Placenta. 

Bevor wir zur Einzelbetrachtung übergehen, wird es nötig 
sein, einige Worte über die Entwicklung der Geschlechtsdrüsen 
vorauszuschicken. 


1. Entwicklung der Geschlechtsdrüsen. 
a) Indifferente Periode. 


Ob ein Individuum als männlich oder weiblich anzusprechen 
ist, entscheidet letzten Endes die Art der Geschlechtsdrüse. 
Ist diese als Eierstock gebildet, ist das Wesen weiblich, ist sie 
als Hoden entwickelt, ist es männlich, ganz gleich, ob das 
Äußere zu widersprechen scheint. Diese Drüsen sind jedoch 
im Embryo nicht von Anfang an unterschieden — wenigstens 
nicht erkenntlich. Geschlechts- und Harnsystem sind eng mit 
einander verknüpft und zwar nistet sich das erstere gleichsam 
in das zweite ein, so daß das Harnsystem gezwungen ist, sich 
neu anzulegen. Dem wichtigsten Organ des Harnsystems, den 
Nieren gehen nämlich zwei Vorstufen voraus, die Vornieren 
(Pronephros) und die Urnieren (Mesonephros). Beiden Stufen 
entspricht ein Ableitungskanal (Harnleiter). Die Vorniere bildet 
sich frühzeitig zurück, während ihr Harnleiter bleibt und neue 
Querkanälchen bildet, aus denen die Urniere entsteht. Der 


*) Hier sei gleich auf das soeben erschienene Werk von Dr. Arthur 
Weil „Die Innere Sekretion“, Berlin, Springer, 1921, verwiesen. 


240 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 


Harnleiter selbst wird so zum Urnierengang, auch Wolff’scher 
Gang genannt. (Vergl. die Abbildungen im nächsten Aufsatz.) 
Als eine Ausstülpung dieses Ganges an seinem hinteren 
Ende tritt dann der Ureter auf, der als neuer Kanal nach 
dem Innern des Körpers in die Länge wächst und am 
anderen Ende die bleibende Niere (Metanephros) anlegt*). 
Die Nieren werden so Träger des Harnsystems. Ein Teil der 
Urniere verfällt nun dem Untergang, während der Rest (Sexual- 
teil) mit dem Urnierengang (Wolff’schen Gang) für den Ge- 
schlechtsapparat beansprucht wird. Nun haben sich seit der 
Zeugung im Körper des Embryo Reste des befruchteten Eies — 
bestimmte Zellen, Keim- oder Geschlechtszellen — er- 
halten, die mit Resten des Dottergewebes in der Gegend des 
Ur-afters sitzen und etwa im 20Otägigen Embryo zu wandern 
anfangen, bis sie schließlich in eine dem Urnierensystem be- 
nachbarte Falte, die Urnierenfalte gelangen, wo sie sich 
festlegen. Ein Teil dieser Falte bildet dann einen Längswulst, 
die Keimleiste, die ebenfalls teilweise wieder untergeht, aber 
die Keimdrüsenanlage, den Keimstock zurückläßt. Die Grund- 
lagen des Geschlechtsapparates bestehen also aus der Keim- 
drüsenanlage (Keimstock) und den von ihm beschlagnahmten 
Teilen des Urnierensystems, also dem Rest der Urniere (Sexual- 
teil) und dem Wolff’schen Gang, neben dem sich ein zweiter 
Gang, ihm parallel laufend ausbildet: der Müller’sche Gang. 
Die Keimzellen sind bereits am 30. Tag im Keimstock durch 
ihre größere rundliche Form und ihre hellere Konsistenz scharf 
von den kleinen, mehr würfelförmigen Zellen des Keimstockes 
zu unterscheiden. So scheint also zunächst der Geschlechts- 
apparat des Embryo weder männlich noch weiblich zu sein, 
also indifferent. (Asexuell.) Dennoch gehören die Keim- 
zellen von Anfang an einem bestimmten Geschlechte an 
(siehe später), die Anlage ist also nach der Einwanderung 
wohl ursprünglich mindestens doppelgeschlechtlich 
(bisexuell). Je vom Überwiegen des männlichen oder weib- 
lichen Elementes der Keimzellen hängt es ab, ob die Keim- 
drüsenanlage (Keimstock) sich männlich oder weiblich ent- 
wickelt. Es liegen also Ureier und Ursamenzellen nebenein- 


*) Natürlich vollzieht sich dieser Entwicklungsgang beiderseitig (also 
doppelt). 


v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 241 


ander, die sich nun getrennt weiterbilden (Oogenese = Ei- 
entwicklung und Spermatogenese —= Samenentwicklung).*) 
b) Der weibliche Typus. 
Gelangen im Keimstock die weiblichen Keimzellen zur 
Vorherrschaft, so entwickelt sich der Embryo weiblich und der 











[äng nis- 
trichter 





blase. 
(r d Seile 


öffnun 


Scheide rl 


Abb. 1. Der weibliche Geschlechtsapparat schematisch dargestellt. 


Keimstock wird zum Eierstock oder Ovarium. Der Rest 
der Urniere geht jetzt fast vollständig unter und bleibt nur 
als Nebeneierstock (Epoophoron) erhalten (vergl. Abb. 1). 
An ihm ist noch ein Rest des Wolff’schen Ganges verblieben, 
der sich zu einer Art Samenblase (Appendix vesicularis) 
umbildet (Tfl. I, Fig. 2) sonst aber untergeht. Ein weiterer noch 
unbedeutenderer Rest des Kanalsystems der Urniere ist der 
Beieierstock (Paroophoron), in unserer Abbildung 1 erkenntlich 
als die beiden kleinen s-förmigen Gebilde links vom Epoo- 
phoron. Die Vorherrschaft tritt dagegen bei der weiblichen 


*) Wenn nicht bereits die Vernichtung des einen Oeschlechtes nor- 
malerweise im befruchteten Ei vor sich geht. 


242 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 


Entwicklung der Müller'sche Gang an. Sein Trichter wird nun 
zum Empfängnistrichter (Ostium tubae), der anschließende 
Rohrteil zum Eileiter (Tuba), sein Endabschnitt verwächst 
mit dem der anderen Seite zur Gebärmutter (Uterus) und 
zur Scheide (Vagina). (Vergl. dazu auch Tfl. I, Fig. 2 und 
die Abb. im nächsten Aufsatz.) 





Abb. 2. Der“männliche Geschlechtsapparat schematisch dargestellt. 


c) Der männliche Typus. 


Im Keimstock gelangen männliche Keimzellen zur Vor- 
herrschaft; er wird zum Hoden (Testis, testiculus, orchis, 
didymis*) umgebildet, während der Rest (Sexualteil) der Ur- 
niere zum Nebenhoden (Epididymis) wird, der dem Haupt- 
hoden direkt angelagert ist. Eines der Querkanälchen der 
Urniere bildet den Anhang des Nebenhodens (Appendix 
epididymidis), ein kleines gestiltes Bläschen (in unserer 
Abb. 2 oben am Nebenhoden zu erkennen). Während nun bei 
der weiblichen Entwicklung sich der Müller'sche Gang weiter- 


*) Testis—=Zeuge, soll daher kommen, weil die Juden bei einem 
feierlichen Eid die Hoden ergriffen haben (Gen. 24, 9 u. 47, 29) Didymos 
doppelt, Zwilling, weil die Hoden doppelt liegen. 


v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion -243 


bildet und der Wolffsche Gang zu Grunde geht, ist es beim 
Manne umgekehrt. Vom Müllerschen Gang erhalten sich nur 
die beiden Endstücke. Das obere bildet den Hodenanhang 
(Appendix testis) (im Bilde oben als kleines Bläschen am 
Hoden sichtbar), das untere dagegen die männliche Scheide, 
ein eigenartiges im Prostatabezirk liegendes Organ (Sinus 
prostaticus, oder Vagina masculina, oder Utriculus 
prostaticus). Dagegen bleibt der Wolff’sche Gang erhalten. 
Er geht vom Nebenhoden — den er schon als gewundenes 
Kanälchen durchzieht — als Samenleiter (ductus deferens) 
aus und bildet späterhin die Samenblasen (Vesiculae semi- 
nales). Einige Urnierenkanälchen lösen sich wie beim Weibe 
los und bilden die Beihoden (Paradidymis) (vgl. auch 
Tfl. I Fig. 1). 

Im 7. Monat der foetalen Entwicklung senkt sich nun der 
größere Teil dieser Organe, die bisher in der Bauchhöhle 
lagen, herab und tritt in den Hodensack ein (also Hoden, 
Neben- und Beihoden); der sogenannte .Descensus testi- 
culorum). Auch beim Weibe findet eine Umlagerung statt, 
hier senkt sich der Eierstock mit Tuben, Neben- und Bei- 
eierstock aus der Lendengegend in das kleine Becken (Des- 
census ovariorum). 


d) Ausreifung des Geschlechtsapparates 
und die sekundären Geschlechtsmerkmale. 


Die Geschlechtsdrüsen, Hoden und Eierstöcke, beginnen 
ihre äußere sekretorische Tätigkeit (vgl. Aufs. IV S. 148) aber 
nicht sofort nach ihrer Entwicklung, sondern erst mit der 
Geschlechtsreife des betreffenden Individuums. Die Zeit 
der Geschlechtsreife nennt man seine Pubertät. Sie tritt je 
nach Rassen in verschiedenem Alter ein. Bei uns für das 
männliche Geschlecht zwischen dem 14. und 16. Jahr, für das 
weibliche zwischen dem 13. und 15. Lebensjahr, um bei diesem 
zwischen dem 45. und 50. Jahr wieder zu erlöschen (Klimak- 
terium, anni climacterici, involutio). Beim Manne kann 
die Samenbildung bis ins höchste Alter fortdauern. Durch 
die Geschlechtsreife werden aber auch andere als die Ge- 
schlechtsorgane von Veränderungen betroffen. Beim Weibe 
gewinnt die Beckengegend ihre charakteristische rundliche 
Form, die menstruelle Blutung beginnt, Brustdrüsen und 


244 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 


Brustwarzen werden voll entwickelt. Beim Manne sprießt 
der Bart hervor, der Kehlkopf beim Knaben wächst und die 
Stimmbänder werden länger und dicker, wobei die Stimme 
mindestens eine Oktave tiefer wird. Bei beiden Geschlechtern 
wachsen die Haare an den Geschlechtsteilen und unter 
den Achseln, die charakteristischen Momente der Körper- 
gestalt treten auf und die geistige Richtung erhält ihre 
unterschiedliche Art. Man nennt diese Merkmale die sekun- 
dären Geschlechtsmerkmale im Gegensatz zu denen, die 
die Geschlechtsteile selbst betreffen und primäre genannt 
werden.*) 


e) Störung des Geschlechtsapparates. 


Wird die Tätigkeit der Geschlechtsdrüsen gewaltsam 
unterbrochen, d. h. werden sie entfernt, so spricht man von 
Kastration. Der Vorgang hat eine Rückbildung der ge- 
schlechtlichen Merkmale zur Folge. Wird sie bereits in der 
Jugend ausgeführt, so entwickeln sich weder die primären noch 
die sekundären Geschlechtsteile entsprechend. Erfahrungen 
haben wir hier nur bei Knaben. Harnröhre, Samenblasen, 
Prostata usw. bleiben zurück, der Kehlkopf wird nicht männ- 
lich und die Stimme bleibt kindlich, Behaarungen fehlen; da 
die Extremitätenknochen länger Knorpelsubstanz enthalten, tritt 
gesteigertes Wachstum ein (vgl. Aufs. IV, S. 215) und der 
Fettansatz wird größer. Im späten Alter sind die Erscheinungen 
geringer. Beim Weibe kennen wir, wie gesagt, nur die Spät- 
kastration (wegen Erkrankung der Ovarien usw.). Gebärmutter 
und Scheide verkümmern, Menstruation hört auf, auch die 
Brustdrüse geht zurück. Der Geschlechtstrieb erlischt jedoch 
in beiden Fällen nicht. Beim Weibe tritt aber manchmal eine 
Annäherung an den männlichen Typus, oder besser gesagt an 
einem indifferenten Typus ein (tiefere Stimme, Bartwuchs usw.). 
Es kann aber eine Störung der Tätigkeit der Geschlechtsdrüsen 
durch natürliche Veränderung in ihrer Entwicklung erfolgen. 
Dieser Fall betrifft vor allem die Hoden und man spricht 
dann von Eunuchoidismus. Auch in diesem Falle tritt ge- 
steigertes Körperwachstum und gesteigerter Fettansatz ein. 


*) Die neue Einteilung von Poll in essentielle oder germinale und 
akzidentelle dürfte für unsere Zwecke zu viele Schwierigkeiten bieten, 
weshalb wir die ältere beibehalten. 


v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 245 


Damit stehen wir nun vor der Frage, woher alle diese 
Erscheinungen kommen. Früher schrieb man sie dem Nerven- 
system zu, wie das heute noch so gerne von denen geschieht, 
die aus moralistischen Gründen alle geschlechtlichen Erschei- 
nungen als dem Willen unterworfen erklären wollen. Heute 
wissen wir, daß alle diese Vorgänge ihre Ursache im Wesen 
der inneren Sekretion haben. 

Während die Physiologen noch vor 30 Jahren glaubten, 
daß Menstruation, Eieinbettung (des Eies in die Gebärmutter- 
schleimhaut) und Placentabildung durch Reize veranlaßt werden, 
die vom Gehirnzentrum dem Eierstock und der Gebärmutter 
zugeführt werden, konnte 1901 Fraenkel beweisen, daß nach 
Entfernung der Eierstöcke keine Eieinbettung mehr erfolgt. 
Damit war, wie Weil zeigt (S. 109 seiner eingangs erwähnten 
Arbeit), der Beweis erbracht, daß die innere Sekretion der 
weiblichen Keimdrüse der eigentliche Regler dieser physio- 
logischen Funktionen ist und daß Gehirn und Sekretion hierbei 
völlig unabhängig von einander sind. Wir wissen heute, daß 
die Keimdrüsen dem nervösen Zentrum bestimmte Reizstoffe 
auf dem Blutwege zuführen, die die Ursachen der tierischen 
Brunsterscheinungen und des menschlichen Geschlechtstriebes 
sind. Jedermann weiß, daß bei Tieren während der Brunst- 
periode ganz auffallende Veränderungen in ihrem motorischen 
Verhalten auftreten, die außerhalb dieser Zeit nicht vorhanden 
sind, die aber kastrierten Tieren fehlen. Es ist der Einfluß 
der inneren Sekretion, der auf das Gesamtnervensystem ein- 
wirkt und es umstimmt (die chemische Erotisation). Da 
wir uns in den folgenden beiden Aufsätzen (VIII u. IX) mit 
der Transplantation und Verjüngung und der anormalen Ent- 
wicklung des Geschlechtssystems näher beschäftigen wollen, 
obliegt es uns heute, die einzelnen Teile des Geschlechts- 
apparates, soweit sie für die Sekretion in Betracht kommen, 
näher zu behandeln. 


2. Die Organe des männlichen Geschlechtsapparates, 
1. Die Hoden. 


Die Hoden liegen als paariges Organ normalerweise im 
Hodensack und stellen Drüsen dar, die aus feinen, schlauch- 
förmigen, verästelten Kanälchen bestehen und von einer binde- 


246 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 


gewebigen Hülle, der Tuniça albuginea, umgeben werden. 
Die Kanälchen sind auf kleine pyramidenförmige Läppchen 
verteilt, die mit ihrer Spitze nach einem Bindegewebkörper, dem 
Mediastinum oder Corpus Highmori, weisen. In jedem 
Läppchen verläuft ein Hodenkanälchen nach Art unserer Abb. 3. 
Jeder Hoden hat etwa 4—4,5 cm Länge und 2—2,8 cm Breite 
und ist etwa 15—25 gr schwer. Der linke ist meistens etwas 






Hopf. 


Grenıe 
d. Kopf Happe 


vord.) Centrosom- 





Hals ( el arne J Krötchen 
pi 
d D> Spiralfa?en. 
N 
R 
sÉ 
3 4 
S 
9 
Abb. 3. ; 
Schematischer Verlauf eines Hoden- Ar 
kanälchens in einem Läppchen. Abb, 4. Samenkörperchen. 


größer und hängt tiefer herab. In den Hodenkanälchen voll- 
zieht sich die Samenbildung und man nennt sie deshalb in 
ihrer Gesamtheit den generativen Teil des Hodens. Man 
kann nun in den Kanälchen zweierlei Arten von Zellen nach- 
weisen, die Ursamenzellen oder Spermatogonien und die 
Follikelzellen oder Sertolische Zellen. Der Ursamen- 
zellen oder der männlichen Keimzellen haben wir oben (S. 240) 
schon gedacht; sie haben Kugelgestalt mit großem, rundem 
Kern, der zwei Kernkörperchen umschließt. Sie vermehren 
sich erst mit der Pubertät; dann entstehen aus ihnen die so- 
genannten Samenmutterzellen (Spermatocyten) und zwar 
auf dem Wege der Teilung (vgl. Aufs. Ill, S. 100). Wir haben 
gesehen (S. 102), daß der Mensch 24 Chromosomen in seinen 


248 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 


annehmen, daß ihre Vermehrung bis zu dieser Zeit zusammen- 
hängt mit der Ausbildung des Geschlechtes des werdenden 
Kindes, das heißt mit der Umwandlung des Keimstockes im 
Hoden. Über die Wechselwirkungen mit andern Drüsen der 
inneren Sekretion haben wir bereits im vorigen Aufsatz ge- 
sprochen. Magnus Hirschfeld hat das unbekannte Hormon des 
Hodens mit dem Namen Andrin bezeichnet. Seine Injektion 
ruft stark anregende Wirkungen hervor, sein Fehlen dagegen 
die oben skizzierten Erscheinungen der Kastration, auf die wir 
noch zurückkommen. Sicher ist, daß unsere geistigen Fähig- 
keiten davon abhängen, was schon Lohmer mit den Worten: 
„Auch das Forschen des Gelehrten, das künstlerische Zeugen 
des Genies beruht ja im Grunde auf einer sublimierten Ge- 
schlechtstätigkeit“ ausdrückt. Über den Einfluß auf die Haar- 
bildung hat Prof. H. Friedenthal anfangs dieser Zeitschrift 
(S. 24ff.) berichtet. 


2. Der Nebenhoden (Epididymis). 

Die Nebenhoden sind wie die Hoden selbst ein paariges 
Organ, das ihnen direkt anliegt. Sie stellen ein längliches 
s-förmig gekrümmtes Gebilde, ca. 3,2 gr schwer, dar (vergl. 
Abb. 2). Der obere oder Kopfteil enthält eine Reihe von Ge- 
fäßen, deren Zylinderepithel zwei Zellenarten: Flimmerzellen 
und sezernierende Zellen enthält. Man nimmt an, daß 
das Sekret zunächst als Nährmaterial für die Samenzellen dient, 
dann aber auch den Zweck einer den Samen verdünnenden 
Flüssigkeit ausübt. Im Kopf und Körper des Nebenhodens 
liegen die Samenmassen als dicke Stränge und sind unbeweg- 
lich; im Schwanzteil liegen sie lockerer, das Sperma ist flüssiger 
und die Fäden bewegen sich lebhaft darin. Stigler und 
Pollitzer glauben daher, daß der Nebenhoden die Beweglich- 
keit und Widerstandsfähigkeit der Samenzellen beeinflußt. Ob 
das Sekret noch weitere Folgen veranlaßt, wissen wir noch nicht. 


3. Die Samenbläschen (Vesiculae seminales). 

Ihre Länge beträgt 4,5—5,5 cm, ihre Breite 2 cm, ihre 
Dicke 1 cm. Sie zweigen, wie schon erwähnt, vom Samen- 
leiter ab (vergl. Abb. 2 und Tft. I, Fig. 1). Das rechte Bläschen 
ist meist größer als das linke; beide sind oben umgebogen. 
Das Sekret ist eine trübe aber nicht deutlich körnige Masse, 





Hoden- 
kanälchen 


substanz 


Hoden- 
kanälchen 





kanälchen 


Interstitielle 
Hodenzellen 





Fig. 4. Fig. 5. 


Tafel II. Fig. 1. Zwischensubstanz zwischen Hodenkanälchen eines 30 jähr. Mannes 

(120 x vergr.). Fig. 2. Gruppe von Hodenzwischenzellen (800 x vergr.). Fig. 3 und 4 

zwei interstitielle Hodenzellen mit Reinke’schen Kristallen eines 30jähr. Mannes 

i 000 x vergr.). Nach Eberth „Die männlichen Geschlechtsorgane“, (G. Fischer, Jena.) 

ig. 5. Schnitt durch einen Teil des Hoden. (Nach Merkel „Anatomie des Menschen“.) 
Zum Aufsatz: Reitzenstein Innere Sekretion. 








M'tosis einer 
— Bindegew ebs 
zelle 
Lutemeien 
Theca externa 






folliculi 


Ovulum 
Cumulus 
oophorus 

Liquor 
folliculi 





Fig. 2. Fig. 3. 


Tafel III. Fig. 1. Eierstock (Ovarium) eines 19jähr. Mädchens mit geplatztem Follikel 
(Corpus luteum) und Graaf’schen Follikeln. Fig. 2. Follikel aus dem Eierstock eines 
7jähr. Mädchens. (Nach Merkel „Anatomie des Menschen“.) Fig 3. Theca und Lutein- 
zellen. (Fig. 1 und 3 nach Collmann). Zum Aufsatz: Reitzenstein Innere Sekretion. 





v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 249 


von gelblicher Farbe und ziemlich klebrig. Im Samen erscheint 
es als eine Proteinsubstanz, die Sagokörnern ähnlich sieht und 
beim Erkalten gallertartig erstarrt. Im Wasser ist es nicht 
löslich. Da Fürbringer bei 80°/, menschlicher Leichen Samen- 
fäden in den Bläschen fand, darf man wohl annehmen, daß 
sie als Samenbehälter dienen, daß ähnlich wie beim Neben- 
hoden die Menge des Samens vermehrt und daß die Beweg- 
lichkeit der Fädchen erhöht wird. Werden sie entfernt, so 
wird dadurch die geschlechtliche Fähigkeit der Versuchstiere 
nicht beeinflußt, aber die Zeugungsfähigkeit stark herabgesetzt. 
Lipschütz zeigt, daß, wenn es überhaupt zu einer Befruchtung 
kommt, die Zahl der Jungen in einem Wurf auf die Hälfte 
fällt. Die Prostata zeigt sich dabei vergrößert. Über allen- 
falsige innere Sekretion wissen wir nichts. 


4. Die Prostata. 

Sie stellt einen abgeplatteten oder kugelförmigen drüsigen 
Körper dar, der etwa die Größe einer Kastanie besitzt und 
den Samenleiter umgibt. Ihr Hauptbestandteil ist eine Drüsen- 
substanz, die auf 30—50 Läppchen verteilt ist und eine gelb- 
rötliche Farbe zeigt. Das Sekret ist eine dünne leicht milchige, 
schwach alkalische, proteinreiche und schleimfreie Flüssigkeit 
von starkem Lecithingehalt. Es ist Träger des charakteristischen 
Spermageruches. Bei Leichen findet man im Sekret zahlreiche 
Kristalle (Sperminkristalle) die im Sekrete Lebender fehlen, 
während bei alten Leuten darin runde bis zu 0,7 mm große 
Sekretkörner auftreten, die man Prostatasteine nennt. Ent- 
fernt man die Prostata, dann tritt Schwund der Hoden ein 
und die Produktion der Samenfädchen hört auf (Serralach und 
Martin). Weiterhin können nervöse und psychische Störungen 
auftreten. Steinach entfernte bei Ratten die Prostata und die 
Samenbläschen. Nach der 5. Woche kehrte zwar das normale 
geschlechtliche Verhalten zurück, aber, obwohl die Männchen 
die Weibchen wie sonst besprangen, warfen diese nicht ein 
einziges Mal, trotzdem sich Samenfäden im Vaginalsekret der 
Weibchen vorfanden. Wird der Saft der Prostata in die Venen 
injiciert, wird bei solchen Tieren, deren Prostata entfernt war, 
vorübergehend wieder Samen gebildet und Fürbringer zeigt, 
daß bei normalen Individuen die Injektion von Prostatasaft 
sofort die Lebhaftigkeit und Bewegungsfähigkeit der Samen- 

17 


250 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 


zellen steigert. Frischer Extrakt der Prostata in die Venen 
gespritzt, rief bei Hunden eine Bewegung der Blase hervor 
(Dubois und Boulet). Ja, es kann dahin kommen, daß Harn- 
drang und Blasenkatarrh auftritt. Bei Injektion von Prostata- 
sekret, das dem Stier entnommen wurde, beobachtete man’ eine 
starke Steigerung des arteriellen Blutdruckes, dem dann wieder 
ein Druckabfall folgte. Weiterhin traten Erstickungskrämpfe 
und Herzstillstand ein. Geringe Mengen brachten eine Be- 
schleunigung der Atmung hervor. Samenfäden erhalten sich 
im Prostatasekret sehr lange beweglich und Fürbringer zeigte, 
daß die Prostata das in den starren Samenfädchen schlummernde 
Leben auszulösen vermöge, weshalb Hirschfeld annimmt, daß 
in ihrem Sekret eine synergetische Substanz (vgl. Aufs. IV, S. 148) 
des Andrin enthalten ist. 

Bei der Ejakulation (der Ausstoßung des Samens) mischen 
sich ihm die Säfte der Prostata und der übrigen Drüsen 
(Samenleiter, Samenbläschen und Cowper’schen Drüsen) bei. 
Wir können also bestimmt annehmen, daß die Prostata eben- 
falls im Sinne einer inneren Sekretion wirkt, wenn uns auch 
noch genauere Kenntnis fehlt. (Vergl. Abb. 2 und Tfl. I, Fig. 1). 


5. Die Cowper’schen Drüsen. 
(Glandulae bulbo-urethrales). 


Es sind zwei rundliche ungefähr erbsengroße Drüsen von 
4—9 mm Durchmesser; sie erscheinen weiß und farblos, dabei 
derb und von höckeriger Oberfläche (vergl. Abb. 2 und Tfl. I, 
Fig. 1). Sie finden sich bei fast allen Säugetieren vor. Ihr 
Sekret scheint eine schleimartige Flüssigkeit zu sein. Man 
nimmt an, daß es dazu dient, die Harnröhre in schlüpferigem 
Zustand zu erhalten, insonderheit die letzten Reste des Harnes 
zu beseitigen. Diese wirken bekanntlich sauer, und saure 
Flüssigkeiten schädigen die Samenfädchen. Über eine weitere 
Sekretion wissen wir nichts. 


6. Die Samenleiter und die Harnröhre. 


Die Harnröhre des Mannes (Sinus urogenitalis masc.) 
enthält verästelte, alveolo-tubulose Drüsen (s, Aufs. IV, S. 146) 
(Glandulae urethrales Litrii nach Littr&, einem französischen 
Anatomen 1658— 1726), die zwischen dünnen Schleimhautbuchten 


v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 251 


liegen, die man als Lakunen bezeichnet. Auch am Fundus, 
der Harnblase finden sich Drüsen, die erst bei Erwachsenen 
hervorsprossen und den Prostatadrüsen gleichen. Über den 
Zweck wissen wir nichts. Bei geschlechtlicher Erregung tritt 
bekanntlich aus der Harnröhre etwas schleimiges Sekret; es 
entstammt sowohl den Littre’schen als den Cowperschen Drüsen. 
Auch der Samenleiter enthält Drüsen. In seinem Endteil 
erweitert er sich beträchtlich und man nennt diesen Teil Am- 
pulle (vergl. Abb. 2). In ihrer Schleimhaut finden sich Falten, 





Abb.5. Menschlicher Samen (nach Moll). 


@ unreife Spermien, 4 u. 5 reife Spermien, 9 u. 13 Spermakristalle, 
14 Amploidkörper aus der Prostata. 


von denen aus sich drüsenartige Verlängerungen entwickeln, 
die ein feinkörniges Sekret enthalten. Die Länge der Ampulle 
beträgt 3—4 cm, ihre Breite 0,7—1 cm. Man nimmt an, daß 
sie mit der Beiwohnungsdauer zusammenhängt. Tiere, denen 
sie fehlt, vollziehen nämlich die Beiwohnung langsam (so der 
Hund, der Kater, der Eber usw.), während die anderen, die sie 
besitzen (Rind, Schaf, Pferd, Esel, Bär, Mensch), kurz bei- 
wohnen. Ihr Sekret ist dem der Samenblasen ähnlich. Die 
Ampulle ist bis zur Pubertät klein und bildet sich in höherem 
Alter zurück. Weiterhin schließen sich an der Ausspritzungs- 
apparat oder die Ausspritzungsgänge (Ductus ejaculatorii). 


Auch sie zeigen Drüsen und ähneln so dem Samenbläschen, 
17° 





252 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 


sodaß sie von manchen als accesorische Samenblasen be- 
zeichnet werden. Durch diese Vorrichtung wird der Samen 
ausgestoßen. Unsere Abb. 5 zeigt ein mikroskopisches Bild 
des menschlichen Samens bei etwa 300facher Vergrößerung. 
Wir sehen darin die verschiedenartigsten Gebilde. Zunächst 
fallen die kleinen schlangenartigen Gebilde, die Samenfädchen, 
auf. Eines davon, rechts unten am Rande, zeigt unter dem 
Köpfchen eine Verdickung; es ist ein unreifes Fädchen, dem 
noch Protoplasma anhängt. Dann fallen noch die Sperma- 
kristalle und rechts unten die beiden dunklen Körper auf, die 
Amyloidkörper aus der Prostata darstellen. 


7. Die männliche Scheide (Utriculus prostaticus oder 
masculinus; Vagina masculina, Sinus prostaticus. 

Wir sahen, daß sie ein Rest des Müller’'schen Ganges ist 
und der weiblichen Scheide entspricht. Es ist ein längliches, 
birnförmiges am Ende erweitertes Säckchen, etwa 10—12 mm 
lang und 1 mm breit (vgl. Abb. 2). Nach Kölliker steigert ihr 
Sekret bei Kaninchen die Lebhaftigkeit und die Bewegungs- 
fähigkeit der Samenzellen. Ab und zu vergrößert sie sich stark, 
so daß hermaphroditische Mißbildungen entstehen. 


8. Die Anhängsel (Appendices) des Hodensystems. 

Ihre Entstehung haben wir oben (S. 242) bereits geschil- 

dert (vgl. Abb. 2). 

a) Der Hodenanhang (Appendix testis) oder die 
Morgagnische Hyadite. Es ist der Rest des oberen 
Endes des Müllerschen Ganges und stellt ein Körperchen 

, dar, das zwischen der Größe eines Hirsekornes und 
eines Kirschkernes wechselt. Es ist blaßrot und besteht 
aus weichem gefäßreichen Bindegewebe. 

b) Der Nebenhodenanhang (Appendix epidi- 
dymitis), ein kugliges birn- bis keulenföriniges 
Bläschen, etwa 3—4 mm lang und 2—3 mm breit. 
Manchmal jedoch nur von der Größe eines Mohn- 
körnchens, ja ab und zu fehlt es ganz. Die großen 
Bläschen enthalten eine feinkörnige Masse. 

c) Die Beihoden (Paradidymis) oder das Giralde'- 
sche Organ stellen Reste der Urnierengänge dar. Es 
sind längliche, glatte, weißliche Körper von 5—6 mm 


v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 253 


Durchmesser, die schon beim Neugeborenen vorhanden 
sind und bis zum 6.—10. Lebensjahr wachsen, dann 
sich aber zurückbilden. Die Kanälchen besitzen einen 
trüben mit gelblichen Pigmentkörperchen gefüllten 
Inhalt. Der untere Teil enthält manchmal Samenfädchen. 

d) Der Blindgang des Nebenhoden (Ductus 

aberrans). 

Wir dürfen annehmen, daß alle diese Anhängsel eine 
Sekretion ausüben, wenigstens teilweise, denn ihr Inhalt 
scheint darauf hinzuweisen. Die Erfahrungen mit Epiphyse 
und Hypophyse, die man früher auch für funktionslos erklärt 
hat, dürften einen Fingerzeig geben. 


3. Die Organe des weiblichen Geschlechtsapparates. 
1. Die Eierstöcke (Ovarien). 
a) Follikelbildung und Reifung. 

Über die Entstehung der Eierstöcke haben wir bereits 
oben gesprochen. Wir sahen, daß sie sich aus den Keim- 
stöcken dadurch bilden, daß in ihnen weibliche Keimzellen die 
Vorherrschaft gewinnen. Auch sie wandern hier von der 
Gegend des späteren Afters etwa beim 25 Tage alten Embryo 
ein. Von den Gewebszellen des Eierstockes sind die Keim- 
zellen durch ihren großen Chromatinbestand (s. Aufs. III, S. 98), 
durch ihre große Protoplasmamasse, durch ihr helleres Aus- 
sehen und ihre größeren Zellkerne leicht zu unterscheiden. So- 
bald nun diese Keimzellen von den Körperzellen des Eier- 
stockes umgeben sind, beginnt die Eierstockbläschenbil- 
dung, die bis zum Ende des 3. Lebensjahres fortdauert und 
etwa 30000 derartige Bläschen erzeugt. Die Keimzelle umgibt 
sich dabei mit einer einfachen Schicht von Epithelzellen und 
wird nun Primärfollikel (Folliculus oophorus primarius) 
genannt. So besteht nun der Eierstock (vergl. Abb. 2, Tfl. I, 
Fig. 2) aus drei Gewebeteilen: 

1. Dem Bindegewebe (Stroma ovarii) als Hülle. Dieses 
setzt sich zusammen aus der Bindegewebslamelle (Tunica 
albuginea) und der Rindensubstanz. 

2. Der Drüsensubstanz (den Eifollikeln). 

3. Der Marksubstanz. 

Die erste Entwicklung des Eies innerhalb des Eierstockes 





254 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 


vollzieht sich in der embryonalen Zeit. Es bilden sich kuglige 
Körper, die oben bereits erwähnten Primärfollikeln (Primordial- 
follikeln) (vergl. Tfl. III, Abb. 2, oben). In diesem Stadium wird 
das Ei von einer einfachen Schicht glatter Epithelzellen um- 
geben, aus denen sich durch Zellteilung eine umhüllende Mem- 
bran, die Theca folliculi entwickelt. Die innere Schicht dieser 
Membran heißt Follikelmembran oder Membrana granulosa. 
An der Stelle, wo im Innern des Follikels das Ei liegt, bildet 
sich eine Anhäufung von Zellen um das Ei herum, die man 
als Cumulus oder discus proligerus bezeichnet. Die 
Theca folliculi selbst aber läßt wieder eine innere Schicht 
(Tunica interna) und eine äußere (Tunica externa) unter- 
scheiden. In dieser Tunica interna beobachtet man nun große 
Zellen, die neben einem rundlichen Kern feine Körner (Granu- 
lationen) zeigen, die den Zellen ein gelbliches Aussehen geben 
und Theca-Luteinzellen (Tfl. III, Fig. 3) heißen. Der Follikel 
selbst bildet nun ein kleines Bläschen, das sich mit einer 
hellen eiweißhaltigen Flüssigkeit füllt und wird so zum Graaf- 
schen Follikel (Folliculus oophorus vesiculosus). 

Ganz ähnlich wie bei den männlichen Samenzellen wird 
auch beim weiblichen Ei durch die Reifung die Chromatin- 
masse halbiert. Dies geschieht dadurch, daß bei verschiedenen 
Teilungen 3 untergehende Polzellen abgetrennt werden, so daß 
schließlich das reife Ei nur noch 12 Kernschleifen enthält, die den 
weiblichen Vorkern bilden. Bei der Befruchtung dringt nun das 
Samenkörperchen in das Ei ein und bringt das Centrosoma 
(vergl. Aufs. III, S. 99 u. 102) mit, das dem Ei fehlt. Je nachdem 
diese Samenkörperchen 12 ganze Schleifen (Weibchen bildendes 
Samenfädchen) oder nur 11 vollständige Schleifen und eine 
unvollständige (Männchen bildendes Samenfädchen) enthalten, 
wird das Ei zu einem weiblich oder männlich befruchteten Ei. 
Der männliche und weibliche Vorkern nähern sich nun und 
verschmelzen. Das befruchtete Ei gleicht jetzt einem Hohltiere, 
das die Tuben durchwandert und wahrscheinlich Reizstoffe ab- 
sondert, durch die es sich in die Schleimhaut der Gebärmutter 
einnistet und dort sich als Schmarotzer weiterentwickelt. 

b) Ovulation und Menstruation. 

Die Befruchtung vollzieht sich aber nicht im Eierstock, 
sondern in den Tuben. Das Ei mußte vorher dorthin gelangen. 
Dies geschieht dadurch, daß ein reifer Follikel an die Ober- 


v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 255 


fläche des Eierstockes gelangt und hier platzt. Das Ei verläßt 
den Follikel und wandert durch den Empfängnistrichter in die 
Tuben (vgl. Abb. 2 und Tfl. III, Fig. 1). Das Platzen des 
Follikels bezeichnet man als Ovulation. Sie geht Hand in 
Hand mit der Menstruation. Über den Zusammenhang der 
beiden Vorgänge ist man sich noch nicht völlig klar. Jedenfalls 
fallen sie aber zeitlich nicht zusammen. Es gibt nun zwei 
Arten von Ovulation. Bei der einen tritt das Platzen des 
Follikes nur beim Koitus ein (Coitusovulation). Sie ist 
allgemein bei Katze, Maus, Meerschweinchen usw. Beim 
Menschen ist sie denkbar, aber nicht gewöhnlich. Die andere 
Form ist die spontane oder periodische Ovulation. Bei 
ihr tritt das Platzen zu gewissen Zeiten ein, ohne Rücksicht, 
ob eine Beiwohnung stattfindet oder nicht (Hund, Pferd, 
Schwein, Rind, höhere Affen und Mensch). Nachdem der 
Follikel geplatzt, das Ei ausgetreten und die Flüssigkeit ent- 
leert ist, bildet sich in dem zurückgebliebenen Follikel der 
sogenannte gelbe Körper (Corpus luteum), dessen gelbe 
Farbe von kleinen Körnchen der ihn ausfüllenden Zellen her- 
rührt, zwischen die außerdem Theca-Luteinzellen einwandern 
(Tfl. IN, Fig. 1). Wird nun das Ei nicht befruchtet, so bildet 
sich der gelbe Körper bald zurück, da er ja im nächsten 
Monat durch einen neuen abgelöst wird; wird es dagegen be- 
fruchtet, hält er sich längere Zeit und wird als Corpus 
luteum gravidatis bezeichnet. Bei Tieren mit Coitus- 
ovulation gibt es nur diese zweite Form, bei denen mit spon- 
taner Ovulation (also beim Menschen) dagegen beide Formen. 
Man glaubt nun annehmen zu können, daß das Platzen des 
Follikeß auf den 14.—16. Tag nach Beginn der Menstruation 
fällt, und so ist Siegel der Meinung, daß die der Menstruation 
direkt folgende Zeit die für die Befruchtung am günstigsten 
(Postmenstruationszeit) ist, während die ihr vorausgehende 
(Prämenstruationszeit) die unglünstigste ist. Sicher ist also, 
daß das Corpus luteum zurzeit der Menstruation bereits in 
Rückbildung begriffen ist und daß niemals eine Menstruation 
ohne Ovulation, wohl aber eine Ovulation ohne Menstruation 
eintreten kann. 
c) Interstitielle Zellen. 

Es entsteht nun die Frage, ob es beim Weibe im Eierstock 

auch Zwischenzellen gibt, die denen des Mannes im Hoden 


256 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 


entsprechen. Die Frage ist noch nicht ganz klar gestellt. 
Aimé ist der Meinung, daß es nicht der Fall ist. Biedi da- 
gegen, daß ihre Existenz sichergestellt ist. Zunächst glaubt 
man, daß sie Tieren, die eine spontane (periodische) Ovulation 
besitzen (also Mensch) fehlen, weil hier ständig ein Corpus 
luteum vorhanden ist, das ihre Funktion versieht, daß sie aber 
bestimmt bei solchen mit Coitusovulation vorhanden sind. 

Dennoch dürfen wir uns wohl mit mehr Recht auf den 
Standpunkt stellen, daß auch der Eierstock interstitielle Zellen 
besitzt, die in ihrer Gesamtheit wie beim Manne eine weib- 
liche Pubertätsdrüse bilden. Limon hat bei Säugetieren 
deutlich große Zellen erkannt, die um die Blutgefäße gruppiert 
und denen der Nebenniere und der Leber ähnlich, jedoch 
kleiner als die des Corpus luteum sind und Seitz und Wallart 
wiesen das gleiche für den Menschen nach. Nach Wallart 
nimmt ihre Zahl bis zur Pubertät ständig zu, dann aber treten 
sie hinter den Follikelapparat zurück. Dies ist eigentlich logisch, 
da ja bis zur Pubertät der Follikelapparat als sekretierendes 
Organ noch nicht ausgebildet ist. Auch während der 
Schwangerschaft nehmen sie wieder zu. Im Klimakterium 
(nach Aufhören der menses) sind nur noch Reste vorhanden. 
Doch treten diese Zwischenzellen beim Menschen niemals zu 
einer kompakten Drüse zusammen. Es zerfallen nach Seitz 
alle größeren Follikel bis zum Schlusse der Schwangerschaft 
und liefern so einen frischen Schub von fett- und luteinhaltigen 
Zellen, die Theca-Luteinzellen, wie sie Seitz im Gegensatz 
zu den Luteinzellen des Corpus luteum nennt (s. oben S. 254 ff.). 

d) Die innere Sekretion des Eierstockes.. 

Alle drei Gewebe, also die Follikeln, das Corpus luteum 
und die Theca-Luteinzellen dürften Sexualhormone (siehe 
Aufs. IV, S. 148) liefern. (Am wenigsten die Follikel, am 
meisten das Corpus luteum.) Es fragt sich nun aus was die 
Luteinzellen des Corpus luteum entstehen. Bilden sie sich aus 
der Membrana granulosa, (S. 253) dann sind sie etwas ganz 
anderes als die Theca-Luteinzellen. 

Beobachten wir nun zunächst, was eintritt, wenn wir die 
Eierstöcke wegnehmen. Geschieht dies vor der Pubertät, 
so wird die Pubertätsentwicklung gehemmt. Geschieht es 
später, so entarten die Geschlechtsteile.e. Geschieht die 
Operation am Beginn der Schwangerschaft, dann wird deren 


v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion. 257 


Weiterentwicklung gehemmt. Die Entartung besteht in einer 
Schrumpfung und Rückbildung der Geschlechtsteile und einem 
Ausbleiben der Periode. v. Franque zeigt, daß dabei Störungen 
im Gefäßnervensystem erscheinen, ganz ähnlich, wie sie später 
im Gefolge des Klimakteriums auftreten. Man nennt sie hier 
Ausfallerscheinungen und beobachtet Herzklopfen, Blut- 
andrang zum Kopf, Angstgefühl, Schwindel, heftige Schweiß- 
ausbrüche, Störungen des Schlafes. Diese Erscheinungen sind 
auf erhöhte Tätigkeit der Nebennieren zurückzuführen, die 
durch die Beseitigung der Eierstöcke die Oberherrschaft er- 
langen. Auch die Periode bleibt aus. Vor der Kastration 
speichern sich die Sekrete des Eierstockes in der Gebärmutter 
auf, erweitern die feinen Blutgefäße so, daß sie schließlich 
platzen und die Blutung hervorrufen. Die Sekretstoffe sind 
sowohl in der Gebärmutter als im Menstruationsblut nach- 
zuweisen. Sie besitzen ausgesprochene Giftwirkung (vermut- 
lich durch ein Cholesterinderivat). Weiterhin hat die Weg- 
nahme eine interessante Folge. Bei vielen schwangeren 
Frauen tritt Knochenerweichung ein, die durch Heraus- 
nahme der Eierstöcke sofort heilt. (87°/, Heilungen nach 
Fehling.) Es ist anzunehmen, daß bei der Knochenerweichung 
eine andere Drüse der inneren Sekretion erkrankt und zu 
schwach geworden ist. (Nebenniere, Thymus oder wahr- 
scheinlich das Knochenmark?) Durch die Wegnahme der 
antagonistisch (s. Aufs. IV, S. 148) wirkenden Eierstöcke kann 
ihr Tätigkeit wieder erstarken. Setzt man dagegen dem 
Weibe, dem die Eierstöcke fehlen, wieder Eierstockgewebe ein, 
dann kehrt die Knochenerweichung zurück, dagegen wird das 
Schwinden des Uterus aufgehalten, die Menstruation setzt 
neuerdings ein und der Stoffwechsel wird wieder günstiger. 

Nun ist festgestellt, daß bei Frauen der Eintritt der 
nächsten Menstruation unterbleibt, wenn man das frische 
Corpus luteum ausbrennt. Die Menstruation ist also vom 
Corpus luteum (besonders von dem gravidatis) abhängig. 
Während der Schwangerschaft ruht sowohl normalerweise 
Ovulation als Menstruation, denn die Follikel wachsen zwar, 
zerfallen aber vor der Reifung. Tritt — was in den ersten 
drei Monaten vorkommen kann — doch Menstruation ein, dann 
ist die Einbettung des befruchteten Eies gefährdet und damit 
die Schwangerschaft überhaupt. Der Corpus luteum bereitet 


258 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion. 


also die Gebärmutter für die Aufnahme des Eies vor. 
Weiterhin, bereitet er die Brust für die Milchsekretion vor, 
indem er auf das Brustdrüsengewebe fördernd einwirkt. Die 
Funktion des Corpus luteum hält jedoch nicht während der 
ganzen Schwangerschaft an. In der 2. Hälfte tritt eine narbige 
Umwandlung ein. In dieser Zeit scheinen nun die interstitiellen 
Zellen (Theca-Luteinzellen) oder wie Steinach sagt, die weib- 
liche Pubertätsdrüse, diese Funktion zu übernehmen. Ist 
die Schwangerschaft zu Ende, kann sich wieder ein Corpus 
luteum bilden. Ähnlich zeigt auch neuerdings O. Fellner, daß 
die Sekretion der interstitiellen Zellen außerhalb der Schwanger- 
schaft sehr gering ist, in der Schwangerschaft aber bedeutend 
zunimmt. 
2. Die Tuben und der Uterus. 


Moreaux hat nachgewiesen, daß auch die Epithelzellen 
der Tuben (s. Abb. 2 und Tfl. I, Fig. 2) nach dem Follikel- 
sprung an der inneren Sekretion teilnehmen, ihre Tätigkeit also 
wohl ebenfalls vom Corpus luteum ausgelöst wird. Auch vom 
Uterus selbst behauptet Guggisberg, daß sich aus ihm im 
schwangeren Zustand Stoffe darstellen lassen, die fördernd 
auf seine Muskulatar einwirken. 


3. Placenta und Fetus. 


Halban zeigte, daß der Mutterkuchen oder die Placenta 
Sekrete absondert, die in ihrer Wirkung noch stärker als die 
des Corpus luteum sein sollen und vor allem auf die Milch- 
drüsen einwirken. Besonders interessant ist dagegen, daß 
Starling-London feststellte, daß die Sekrete, die in erster Linie 
die Milchabsonderung hervorrufen und fördern, vom Embryo 
selbst ausgehen. Auch schon das befruchtete Ei soll ähnlich 
wirken. Sie werden durch die Vermittlung der Placenta in 
den Blutkreislauf übergeführt. Brücke bestätigt das und be- 
hauptet, daß Ovarial- und Gebärmutterextrakt ohne Einfluß 
auf die Brustdrüse sei, daß dagegen Embryonalextrakt eine 
deutliche Vergrößerung und Milchabsonderung auslöst. Injiciert 
man jungfräulichen Kaninchen Fetusextrakt, wachsen die 
Brustdrüsen. Mit der Geburt hört Hormonbildung und Brust- 
wachstum auf und die Milchsekretion beginnt (Oppenheimer.) 
Soeben meldet Guggisberg, daß Injektion von Placentahormon 
bei Kaninchen die Erscheinungen der Kastration aufhebt. 


v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion. 259 


4. Die Bartholinischen Drüsen (Glandulae bulbou- 
rethrales oder vestibulares maiores). 

Der Name kommt von Bartholin, einen dänischen Anatomen 
(1655— 1738). Zwei erbsengroße Drüsen des Scheidenvorhofes, 
deren Ausgang in die inneren Flächen der kleinen Geschlechts- 
lippen mündet. Sie entsprechen den Cowperschen Drüsen 
des Mannes. Sie sondern bei der geringsten geschlechtlichen 
Erregung ein Sekret ab, das vielleicht dazu dient, den Scheiden- 
eingang anzufeuchten, um so die Reibung der Beiwohnung zu 
mildern. Neben ihnen bestehen die Glandulae vestibulares 
minores, Schleimdrüsen am Eingang der Scheide entsprechen 
den Littr@’schen Drüsen des Mannes. Über innere Sekretion 
wissen wir nichts. 


5. Drüsen der Harnröhre (Glandulae urethrales und 
paraurethrales). 

Die Harnröhre des Weibes ist mit Schleimhaut aus- 
gekleidet, in der einzelne tuberöse Drüsen vorhanden sind. 
An der Harnröhrenmündung befinden sich kleine Drüsen- 
gruppen (paraurethrale Drüsen). Weiterhin liegen hier die 
Skene’schen Drüsen (nach Skene, einen amerikanischen Arzt 
[1838— 1900] benannt), kleine Blindgänge, die der Prostata des 
Mannes entsprechen (Glandulae urethrales). Über die 
Sekretion wissen wir nichts. 


6. Die Brustdrüsen (Mammae). 

Es wird behauptet, daß sie ein Hormon bilden, das an- 
regend auf den Geschlechtsapparat wirkt und Uterus-Contrak- 
tionen auslöst, also ähnlich wirkt wie der hintere Lappen der 
Hypophyse (Aufs. VI, S. 206) (Oppenheimer). 


NA 





WIE TRITT SYPHILIS AUF? 
Von Dr. med. ALBR. MEYENBERG. 


p derjenigen Fragen, die aus Laienkreisen immer wieder 
gestellt werden, ist die nach der schnellen und richtigen 
Erkennung von Geschlechtskrankheiten, die sich durch Ge- 
schwüre oder Ausschläge am Körper äußern. So wichtig es 
ist, dem Laien stets von neuem zum Bewußtsein zu bringen, 
daß er sich in Fällen des Zweifels unbedingt sofort an einen 
Facharzt wenden muß, ist es doch nicht zu verkennen, daß 
auch der Laie gewisse Kenntnisse besitzen muß, die ihm die 
Selbstbeurteilung einer Geschlechtskrankheit ermöglichen, ihm 
sagen, wie er sich zu verhalten, und auch, wie er die Maß- 
nahmen des Arztes, den er aufsucht, zu bewerten hat. Zu be- 
rücksichtigen ist dabei von vornherein, daß der Patient weder 
in der Lage ist, die Wassermannsche Reaktion vorzunehmen, 
noch mit dem Mikroskop an die Untersuchung seiner Krank- 
heit heranzugehen. Eine bestimmte Entscheidung kann also 
schließlich immer nur der Arzt treffen. Im Folgenden seien 
nun diejenigen Kennzeichen genannt, die als syphilitische oder 
als syphilisähnliche Erscheinungen am Körper aufzufassen sind. 

Der Schulfall der ersten syphilitischen Erscheinung besteht 
beim männlichen Geschlecht in einem linsengroßen Geschwür, 
das gewöhnlich am Eichelrande auftritt. Es besitzt harte 
Ränder und zeigt nicht in allen Fällen einen eitrigen Belag, 
sondern lediglich einen speckigen Grund. Besteht dies Ge- 
schwür schon einige Wochen, sind die Leistendrüsen ge- 
schwollen, hart und auf Druck unempfindlich, so ist stets mit 
voller Sicherheit auf syphilitische Ansteckung zu schließen. 


Meyenberg: Wie tritt Syphilis auf? 261 


Schwieriger wird die Entscheidung, wenn das Geschwür unter- 
minierte Ränder hat, eitrig ist, einen zweifelhaften Grad von 
Härte aufweist und wenn die Drüsen schmerzempfindlich sind, 
ja sogar in Vereiterung übergehen. Es kann sich dann so- 
wohl um gewöhnlichen weichen Schanker handeln, wie auch 
um die ungefährliche Herpes, um diese letzte Erkrankung 
namentlich dann, wenn ein bläschenförmiger Ausschlag mit 
Branderscheinung vorhanden ist. Es besteht aber auch die 
Möglichkeit, daß gemischter Schanker vorliegt, und die An- 
steckung sowohl von Streptokokken, den Erregern des weichen 
Schankers, als auch von Spirochaeten, den Syphiliserregern, 
herrührt. Tritt das Geschwür ausgesprochen erst drei Wochen 
nach dem Verkehr auf, handelt es sich meist, ganz gleich wie 
die Art des Geschwürs ist, nur um Syphilis. Tritt es aber 
bereits zwei Tage nach dem Verkehr auf, so handelt es sich 
meist um weichen Schanker, der freilich immer noch die 
charakteristischen Befunde des syphilitischen Schankers be- 
kommen kann, wenn der Patient auch mit Spirochaeten ange- 
steckt worden ist. 

In diesem Falle kann einen sicheren Anhaltspunkt über 
Art und Schwere der Erkrankung nur die mikroskopische 
Untersuchung geben. Der Arzt entnimmt dem Geschwür, 
nachdem er es gereinigt hat, etwas Reizserum durch Abschaben 
der Oberfläche des Grundes des Geschwürs, färbt es entweder 
mit Tusche oder nach Giemsa, oder bedient sich der Dunkel- 
feldbelichtung. In den meisten Fällen gelangt er mit diesen 
Methoden zu einem ziemlich sicheren Ergebnis, doch lassen 
sich auch jetzt noch immer keine sicheren Schlüsse auf die 
Schwere der Erkrankung ziehen, wie die ausgezeichnete 
Arbeit von Oelze in der Dermatologischen Wochenschrift 
beweist. Da die Sachlage infolgedessen so ist, daß der 
Arzt Syphilis nie mit völliger Sicherheit ausschließen kann, 
wenn ein :Geschwür auftritt, so dürfen wir mit Neißer in allen 
Fällen keine Bedenken tragen, sofort neben der üblichen ört- 
lichen Behandlung Salvarsaneinspritzungen zu machen. Handelt 
es sich offensichtlich nur um einen eitrigen Ausfluß, so ist 
ohne weiteres durch das Mikroskop festzustellen, ob es sich 
um einen Tripper oder um einen Katarrh handelt. Ist aber 
der Katarrh hartnäckig und treten in der Folge auch Drüsen- 
erscheinungen auf, dann darf nicht vergessen werden, daß auch 


262 Meyenberg: Wie tritt Syphilis auf? 


eine syphilitische Ansteckung der Harnröhre stattgefunden 
haben kann. In diesem Falle ist der eitrige Ausfluß der Harn- 
röhre durch Färbe und sonstige Methoden auf Syphiliserreger 
zu untersuchen. Ein besonderer Hinweis auf Syphilisverdacht 
sind harte Schwellungen der Lymphgefäße des Gliedes. Oft- 
mals gibt eine örtliche Untersuchung der ganzen Harnröhre, 
insbesondere durch Ableuchtung, hinreichenden Aufschluß. 
Sollte sich auch dadurch ein zweifelsfreies Ergebnis nicht 
herausstellen, so ist auch dann mit Salvarsan nicht zurück- 
zuhalten. 

Die bisher geschilderten Erkrankungsformen sind ver- 
hältnismäßig einfach festzustellen. Schwieriger gestaltet sich 
die Erkennung, wenn die Ansteckung durch Kuß erfolgt ist 
und eine Mandelentzündung den Leidenden lange Zeit im 
Zweifel läßt, ob er eine gewöhnliche Erkältung hat oder ernst 
erkrankt ist. Der Arzt wird den syphilitischen Charakter einer 
hartnäckigen Mandelentzündung häufig dadurch erkennen, daß 
die Mandeln, mit dem Finger angefaßt, Verhärtungen aufweisen. 
Auch wenn die Drüsen am Hals geschwollen und auf Druck 
schmerzlos sind, liegt Syphilisverdacht vor. Der Arzt sollte 
dann keinen Augenblick zögern, mit der Salvarsanbehandlung 
einzusetzen. 

Tückischer ist der Charakter dieser Ansteckung, wenn 
nach dem syphilitischen Kuß keine Erscheinungen an den 
Mandeln auftreten und das Gift gleich durch die Buchten des 
Mandelgewebes in den Körper eindring. Dann wird der 
Patient erst auf seine Krankheit aufmerksam, wenn sich weitere 
Stadien seiner Erkrankung zeigen. Als Kennzeichen für diese 
Stadien sind hauptsächlich Hautausschläge, Kopfschmerzen, 
Haarausfall und weiterhin gerade bei Gesichtssyphilis häufig 
auch Sehstörungen anzusehen. In allen diesen Fällen wird 
bei irgendwelchem Zweifel die Blutuntersuchung völlige Auf- 
klärung darüber geben, ob es sich um Syphilis handelt. Die 
Blutuntersuchung wird immer positiv, sobald die Syphilis aus 
dem Stadium der örtlichen Erkrankung in das Stadium der 
Gewebeerkrankung übergegangen ist und zwar in der Regel 
etwa neun Wochen nach der Ansteckung. 

Leider gibt es auch viele Fälle, in denen das zweite 
Stadium nur schwach oder überhaupt in keiner Form auftritt, 
so daß der Patient erst dann aufmerksam wird, wenn sich die 


Meyenberg: Wie tritt Syphilis auf? 263 


Erscheinungen des dritten oder vierten Stadiums zeigen. Diese 
Fälle rechnen zu den traurigsten, die dem Arzte begegnen. 
Ihre Geschichte kann vom Patienten schwer gegeben werden. 
Es handelt sich da meist entweder um die halbmondförmigen 
Geschwüre, die im dritten Stadium an den Gliedern auftreten 
und bei denen die Erkennung ihres syphilitischen Charakters 
leicht ist, oder bereits um reine Nervenleiden, deren syphi- 
litischer Ursprung, wenn keine Vorstadien vorhanden sind, 
schwer nachzuweisen ist. Deswegen sollte bei keinem Nerven- 
leiden mit unklaren Angaben über die Herkunft mit der Blut- 
untersuchung zurückgehalten werden. Das Mittel der Blut- 
untersuchung ist im allgemeinen bei allen zweifelhaften Er- 
krankungsfällen heranzuziehen, insbesondere bei Nierenleiden, 
welche oft scheinbar unbegründet in den schwersten Formen 
schnell auftreten. Auch bei Gelbsucht, die übrigens nicht selten 
schon im ersten Stadium auftritt, ist Blutuntersuchung stets zu 
empfehlen. 

Da oftmals von den Patienten auch die harmlosen Feig- 
warzen mit Syphilis verwechselt werden, so sei zur Beruhigung 
ängstlicher Gemüter hier bemerkt, daß Wucherungen nicht- 
geschwürigen Charakters keinerlei Anlaß geben, auf syphilitische 
Ansteckung zu schließen. Sind die Feigwarzen allerdings 
geschwürig verändert, dann trifft auch auf sie das bereits 
Gesagte zu. 

Wie beim Manne, so treten die beschriebenen Erkrankungs- 
formen in allen Stadien auch beim Weibe auf. Leider ist es 
als feststehend anzusehen, daß das Weib, das ja im allge- 
meinen stets irgendwie über Kopf-, Unterleibs- oder Men- 
struationsschmerzen zu klagen hat, bei dem schmerzlosen 
Charakter der Syphilis auf den Verdacht einer syphilitischen 
Erkrankung erst dann kommt, wenn ihm vorgehalten wird, daß 
sie einen anderen mit dem Gifte angesteckt hat. Der ana- 
tomische Bau der weiblichen Geschlechtsteile ist für jede Art 
von Selbstbeobachtung derart ungünstig, daß Frauen nur selten 
von selbst auf eine syphilitische Ansteckung aufmerksam werden. 

Zur Frage der Übertragung der Syphilis, die ebenfalls 
immer wieder gestellt wird, möchte ich nur kurz anmerken, 
daß sie in erster Linie durch syphilitische Geschwüre erfolgt. 
Es ist aber eine der häufigsten Beobachtungen des Arztes, daß 
Ehepaare an Syphilis erkranken, wenn einer von beiden nach 


264 Meyenberg: Wie tritt Syphilis auf? 


durchgemachter Syphilis in die Ehe ging, obwohl der betreffende 
während des Verlaufs der Ehe keine Erscheinungen mehr ge- 
habt hat. Es muß in solchen Fällen darauf geschlossen werden, 
daß das syphilitische Gift auch durch Speichel, durch kleine 
Hautritzten oder Wunden des syphilitisch erkrankten Indi- 
viduums in geöffnete Hautspalten oder wunde Stellen des 
Körpers des anderen übertreten kann. 





Zum Aufsatz „Gesetzliche Freigabe der freiwilligen künstlichen 
Frühgeburt“ von Prof. Dr. Kafemann. 

Der Verlag hat trotz räumlicher Ausdehnung den Aufsatz 
des Herrn Prof. Kafemann ungekürzt zum Abdruck gebracht, 
obwohl dieser stellenweise politisch gefärbt ist und die Zeit- 
schrift natürlich jede Politik meidet. Er glaubte aber, dies tun 
zu müssen, um die volle Stoßkraft und überzeugende Natur- 
wüchsigkeit in dieser wichtigen Frage nicht zu beschränken. 

Der Verlag. 


Tafel I 





Frühreifer Zwitter (Hedwig X. geb. 27. Dez. 1902 i. d. Prov. Posen, Polin). 


Nach Hirschfeld, Sexualpathologie (Bonn, Marcus u. Weber) zu Reitzenstein, zum 
: Verständnis der inneren Sekretion. 
Männlich sind gebildet: Penis (4,5 cm lang) mit Hypospadie; Körperbehaarung 
(dazu kräftiger, schwarzer Vollbart) Brust; Kehlkopf u. Stimme; Skelett; Muskulatur. Die 
männl. Organe zeigen Frühreife. — Weiblich sind gebildet: große und kleine Ge- 
schlechtslippen; Scheide (7 cm lang) mit ringförmigen Hymen. Harnröhre, Gebärmutter 
7,5 cm lang); geistige Eigenschaften (liebt weibl. Beschäftigung). Menstruation zur Zeit 
der Beobachtung noch fraglich. Keimdrüsen damals noch nicht aufgefunden; sind 
doppelgeschlechtlich vorauszusetzen. 


Tafel II 





Abb. 1. Hodenschnitt von einem hochgradig femininen 19jähr. Mann. 
(Die dunklen Teile sind die Samenkanälchen) s. S. 274. 











Abb. 2. Hodenschnitt von einem 45jähr. Mann (s. S. 274). 
Zu Prange: „Die konstitutionelle Basis“ 


Prange: Die konstitutionelle Basis der Homosexualität 265 


Geh. Justizrat Dr. Horch-Mainz +} 


Am 26. Juni verstarb in Mainz unser hochverehrter Mit- 
arbeiter, Herr Geheimer Justizrat Dr. Horch. In ihm verliert 


m die Sexualwissenschaft und besonders auch die Sexual- 
reform einen ihrer bedeutendsten juristischen Vorkämpfer. 
Die Schriftleitung. 





DIE KONSTITUTIONELLE BASIS 


DER HOMOSEXUALITÄT. 

(UNTER ZUGRUNDLEGUNG DER EXPERIMENTELLEN GE- 
SCHLECHTSUMWANDLUNGEN STEINACHS SOWIE EIGENER 
BEFUNDE AN HODEN HOMOSEXUELLER MÄNNER.) 

Von FRANZ PRANGE, Rostock. . 


D: experimentellen Studien Steinachs über die Wirkungen 
der von ihm als „Pubertätsdrüse“ bezeichneten innersekre- 
torischen Apparate der Keimdrüse haben den verschiedensten 
biologischen Forschungsgebieten ungeahnte Perspektiven er- 
öffnet. Die Tatsache einer Doppelfunktion der Geschlechts- 
drüse, die sich in einer Exkretion der zur Fortpflanzung 
dienenden Elemente wie Ei- und Samenzelle, als auch in einer 
Innersekretion geschlechtsspezifischer Sexualhormone doku- 
mentiert, hat vor allem die Physiologie in der Erkenntnis des 
Wesens der inneren Sekretion sehr gefördert. Neben der 
Physiologie hat auch eine junge Wissenschaft, die Sexual- 
wissenschaft, aus der konsequenten Anwendung der 
Steinachschen Theorie eine Anzahl der in ihrer Entstehung 
bisher völlig verkannten sexuellen Erscheinungen einer ein- 
wandfreien Erklärung zuzuführen vermocht, wie z. B. sexuelle 
Frühreife, Hypererotismus, angeborener und erworbener Ge- 
schlechtsdrüsenverlust, Bi- und Homosexualität und ver- 
schiedene Fälle von echtem und scheinbarem Hermaphroditismus. 
Hier wird es vor allem interessieren, wie weit die Steinachschen 
Entdeckungen und die im Anschluß daran am Menschen ge- 
wonnenen operativen Eingriffe zwecks Behebung der Homo- 
sexualität die von Magnus Hirschfeld seit Jahren in seiner 
Zwischenstufentheorie vertretene Anschauung der endogen- 
konstitutionellen Bedingtheit der gleichgeschlechtlichen Empfin- 
dungen im Sinne einer biologischen, durch unvollkommene 
Differenzierung der bisexuellen Keimanlage bedingten Variante 


bestätigen. 
18 


266 Prange: Die konstitutionelle Basis der Homosexualität 


Die Frage nach dem Angeborensein der Homosexualität 
hat neben einem rein wissenschaftlichen Interesse eine un- 
geheure praktische, soziale Bedeutung, da Staat und Gesell- 
schaft auf Grund haltloser und unbewiesener Behauptungen 
seit Jahrhunderten bis in die Gegenwart hinein einen nicht 
unerheblichen Teil vollwertiger Mitglieder ‘der menschlichen 
Gesellschaft — ihre Zahl wird auf zwei Prozent gewöhnlich 
geschätzt — der strafrechtlichen und moralischen Ächtung 
ausliefern. Es sei hier nur in Deutschland an den Moltke- 
Harden- und an den Eulenburg-Prozeß, in England an den 
wegen gleichgeschlechtlicher Betätigung zu mehrjähriger 
Zuchthausstrafe verurteilten, hochbegabten Dichter Oscar 
Wilde erinnert. Durch die Annahme, daß die Ursache der 
Homosexualität in der moralischen Verdorbenheit eines Men- 
schen, in zügelloser Ausschweifung und der sogenannten 
Übersättigung am Weibe zu suchen sei, unbeschadet der Tat- 
sache, daß der überwiegende Teil der Homosexuellen ethisch 
durchaus vollwertige Menschen aufweist, suchte man die 
Notwendigkeit einer strafrechtlichen Verfolgung zu erklären, 
die sich in Deutschland durch den § 175 RStG. inkonsequenter- 
weise nur gegen das männliche Geschlecht wendet, während 
der weibliche Teil, der nach den Erfahrungen von Hirschfeld, 
Rohleder und anderen einen gleichen Prozentsatz homosexuell 
Empfindender aufweist, straffrei bleibt. Es ist daher ohne 
weiteres klar, daß die Beantwortung der Frage der erworbenen 
oder angeborenen Homosexualität von eminenter praktischer 
Bedeutung ist, auf deren weitere Konsequenzen hier jedoch 
nicht näher eingegangen werden soll. 

Gerade die Zwischenstufentheorie und ihre Ätiologie*) sind 
ein interessantes Beispiel, wie sich in der Wissenschaft 
Theorie und Praxis, von zwei ganz verschiedenen Seiten aus- 
gehend, in einem Punkte treffen und zu einer abgerundeten 
biologischen Tatsache werden. Die Steinach-Hirschfeld- 
sche Lehre, von der ein Spezialfall im folgenden eingehend 
erörtert werden soll, sei zunächst in ihren wesentlichsten 
Punkten kurz skizziert. Man ging von der Tatsache aus, daß 
einem Säugetier (Meerschweinchen, Ratte) nach Kastration der 
homologen (d. h. der eigenen) Geschlechtsdrüse eine heterologe 
(d. h. des anderen Geschlechts) implantiert werden kann, die 
angewachsen die psychischen und somatischen Geschlechts- 
charaktere in ihrem Sinne beeinflußt; mit anderen Worten: 


*) Lehre von den Krankheitsursachen. (Anm. der Schriftl.) 


Prange: Die konstitutionelle Basis der Homosexualität 267 


entfernte man z. B. einem Meerschweinchen die Hoden und 
setzt ihm dafür einen Eierstock unter die Bauchhaut, so ver- 
mochte dieser die männlichen Geschlechtsattribute in weibliche 
umzuwandeln; die urentwickelten Milchdrüsen wurden zu 
funktionierenden, die imstande waren, beigegebene Junge zu 
ernähren, die Behaarung und das Skelettwachstum nahm den 
spezifisch weiblichen Charakter an, und endlich wurde der 
Geschlechtstrieb ein völlig weiblich passiver. Die Voraus- 
setzung einer gelungenen Verwachsung des überpflanzten 
Organs mit dem betreffenden Tiere war zunächst die totale 
Kastration desselben. Erfolgte diese nicht, so wurde das 
Transplantat in kurzer Zeit völlig zurückgebilde. Aus 
dieser Tatsache schlo man, daß Hoden und Eierstock 
geschlechtsspezifische Hormone sezernieren, die in Gegen- 
Wirkung zu einander stehen; ein männlich erotisierter Orga- 
nismus ließ daher einen implantierten Eierstock, der durch 
die infolge der Operation zunächst unterbrochene Blutver- 
sorgung geschwächt ist, gar nicht zum Anwachsen resp. zur 
Entfaltung einer innersekretorischen Tätigkeit kommen. Erst 
wenn der Organismus durch doppelseitige Kastration sozu- 
sagen „neutralisiert“ war, gelang die Operation. Der nächste 
Schritt bestand nun in der gleichzeitigen Implantation eines 
Hoden- und Eierstockstückes in ein vorher neutralisiertes Tier. 
Es war klar, daß in diesem Falle beide Teile die gleichen 
Chancen für ein sich Behaupten besaßen, und beiden Ge- 
legenheit gegeben war, ihre geschlechtsspezifische Wirkung 
zu entfalten. Diese beobachtete man nun tatsächlich, und 
zwar erstreckte sie sich auf eine positive Beeinflussung beider 
Sexualcharaktere, d. h. die beiden Transplantate förderten die 
ihnen homologen Sexuszeichen ohne die heterologen zu 
hemmen. Es resultierten Tiere mit starkem männlichen 
Knochengerüst, männlichem Behaarungstypus und vollweiblich 
entwickelten Milchdrüsen. Interessant war in diesen Fällen 
das Verhalten des Geschlechistriebes: die Tiere zeigten ein 
bisexuelles Benehmen, das sich teils in einem Nebeneinander-, 
teils in einem Hintereinanderbestehen männlicher und weib- 
licher Erotisierung äußerte. 

Die den erwähnten operativen Eingriffen unterzogenen 
Tiere zeigten nun zwar im Prinzip stets das gleiche Verhalten 
in der Aus- resp. Rückbildung der somatischen und psychischen 
Sexualcharaktere, jedoch war die Stärke der Ausbildung 
individuell außerordentlich schwankend, analog den Erschei- 
nungen, wie sie auch in den Reihen der sexuellen Varianten 

18* 


268 Prange: Die konstitutionelle Basis der Homosexualität 


des Menschen beobachtet werden. Bei den experimentellen 
Geschlechtsumwandlungen konnte Steinach nun zeigen, daß 
der Ausbildungsgrad der Sexualorgane proportional der 
Funktionskraft jenes Zellkomplexes war, den er als „Puber- 
tätsdrüse“ bezeichnete. In diesem Organ, das in den Jahren 
der Geschlechtsreife außerordentlich stark entwickelt ist, er- 
blickte Steinach die Ursache gesteigerter sexueller Reife, die 
durch das Erwachen des Geschlechtstriebes, beim Knaben 
durch die Mutation, beim Mädchen durch die Menstruation und 
das Anschwellen der Brüste das Pubertätsalter charakterisiert. 

Jene Pubertätsdrüse war also, wie das Experiment zeigte, 
von so eminenter Bedeutung für die Entfaltung der sexuellen 
Persönlichkeit durch die Sekretion eines geschlechtsspezifischen 
Hormons. Was stellt sie nun anatomisch dar? Beim Hoden 
sind es jene großen Zellen, die einzeln oder in kleinen Gruppen 
als Leydigsche Zellen in dem Bindegewebe liegen, das die 
Lücken zwischen den samenbildenden Kanälen ausfüllt. In 
der Pubertät sind jene Leydigzellen außerordentlich vermehrt, 
so daß sie einen drüsigen Eindruck machen. Zahl und Auf- 
treten der Leydigzellen, der „männlichen Pubertätsdrüse“, sind 
außerordentlichen Schwankungen unterworfen, die durch die 
verschiedensten äußeren und inneren Faktoren bedingt sein 
können. Zunächst sah man bei dem transplantierten Hoden, 
daß, auch wenn er in dem operierten Tier die Folgen der 
Kastration zu verhindern und die ihm homologen Geschlechts- 
charaktere zur Entwickelung zu bringen vermochte, bei späterer 
mikroskopischer Untersuchung, daß die samenbildenden Kanäl- 
chen bis auf einen dünnen Epithelbelag völlig degeneriert 
waren, somit die exkretorische Fähigkeit erloschen war, hin- 
gegen die inkretorischen Elemente, die Leydigzellen, nicht nur 
erhalten, sondern sogar vermehrt waren, wodurch verständlich 
wurde, daß das Versuchstier den Vergleichstieren nicht nur 
sexuell gleichwertig, sondern sogar überlegen war, was sich 
durch überstarken Geschlechtstrieb bei beiden Geschlechtern 
und beim Weibchen noch besonders durch Milchsekretion und 
hochentwickelten Uterus kundtat, was um so auffälliger sein 
mußte, da es sich um junge und keineswegs ausgewachsene 
Tiere handelte. 

Dieselben Gesetze, wie sie die männliche Pubertätsdrüse 
zeigte, gelten auch für die weibliche, nur daß hier die anato- 
mischen Verhältnisse andere sind, wie ja schon der ganze 
Bau und die Funktion des Ovariums von denen des Hodens 
stark verschieden sind. Im Ovarium kann man, genau ge- 


Prange: Die konstitutionelle Basis der Homosexualität 269 


nommen, zwei Elemente für die innere Sekretion verant- 
wortlich machen, die beim Menschen zeitlich von einander 
getrennt sind. Es sind das einmal die sogenannten atretischen*) 
Follikel, zweitens das Corpus luteum. Erstere sind unreife 
Eier, die nach einer gewissen Zeit zugrunde gehen und Ver- 
anlassung zu einer Umwandlung des sie umhüllenden Binde- 
gewebes in innersekretorische Zellen geben. Normalerweise 
wird zur Zeit der Pubertät diese Pubertätsdrüse von dem 
Corpus luteum abgelöst, das aus dem Follikelapparat eines 
reifen, ausgestoßenen Eies hervorgeht, und dessen vermehrte 
innere Sekretion die Uterusschleimhaut für die zu erwartende 
Empfängnis vorbereitet. Bei den transplantierten Ovarien 
kommt es nun zwar nie zu einer Reifung und Ausstoßung des 
Eies, somit auch nicht zu einer Corpus luteum-Bildung, jedoch 
gehen hier zahlreiche halbreife Eier zugrunde, die dadurch 
eine bedeutende Vermehrung der innersekretorischen Zellen 
bedingen, wodurch die sexuelle Persönlichkeit des betreffenden 
Individuums erhalten bleibt. An dieser Stelle sei kurz darauf 
hingewiesen, daß die Fähigkeit einer künstlich zu verstärkenden 
innersekretorischen Wirkung die Grundlage der Verjüngung 
geschaffen hat, die primär in einer Neubelebung der alternden 
Pubertätsdrüse, die durch die Transplantation einer jungen 
Drüse, Abbindung des Samenleiters oder Röntgenbestrahlung 
relativ leicht zu erreichen ist. 

Die oben geschilderten Fähigkeiten der Pubertätsdrüse 
wurden bald von chirurgischer Seite zu therapeutischen Maß- 
nahmen verwendet, um bei erworbenem und angeborenem 
Geschlechtsdrüsenverlust Ausfallserscheinungen des Sexual- 
charakters zu beheben, was durch Einpflanzung gesunder 
Hodenstücke unter die Bauchhaut vollauf gelang. Nachdem 
die Steinachschen Tierexperimente in ihrer therapeutischen 
Anwendung auf den Menschen bei den erwähnten inner- 
sekretorischen Störungen so erfolgreich ausgefallen waren, 
wandte man sich den Erscheinungen der menschlichen Homo- 
sexualität zu, die nach der Steinach-Hirschfeldschen Lehre als 
die Auswirkung einer zwitterigen Pubertätsdrüse analog den 
experimentell erzeugten Zwitterbildungen anzusprechen war. 
Wenn also die Ursache der inversen Triebrichtung in der 
Keimdrüse lokalisiert war, so mußte man durch Kastration und 
Wiedereinsetzung eines gesunden Hodens nicht nur die Homo- 


*) atretischer Follikel = ein nicht gereifter Follikel der Rückbildung 
anheim fällt. (Anm. der Schriftl.) 


270 Prange: Die konstitutionelle Basis der Homosexualität 


sexualität zum Verschwinden, sondern auch die normalsexuelle 
Triebrichtung zur Entfaltung bringen können. 

Die von dem Chirurgen Lichtenstein in diesem Sinne 
ausgeführten Operationen an sechs homosexuellen Männern 
führten nun tatsächlich zu dem gewünschten Ergebnis einer 
Umstimmung des Trieblebens, Man kann also damit den 
Beweis für erbracht ansehen, daß die homosexuelle Neigung 
mit verschwindenden Ausnahmen die Ursache einer ange- 
borenen Anomalie des innersekretorischen Keimdrüsenanteils 
ist. Da die Erfolge der .Gonadentransplantation ganz gemäß 
den Erfahrungen des Tierexperiments verliefen, und damit die 
Annahme einer mangelhaften geschlechtsspezifischen Differen- 
zierung der Pubertätsdrüse — das Postulat für die Ätiologie der 
Zwischenstufentheorie Hirschfelds — zu bestätigen schienen, 
wandte Steinach seine Aufmerksamkeit der histologischen 
Untersuchung der menschlichen homosexuellen Hoden zu. 

Nach seiner Ansicht handelt es sich tatsächlich um eine 
zwittrige Pubertätsdrüse, die er in allen sechs Fällen nach- 
gewiesen zu haben glaubt; die Keimdrüsen homosexueller 
Männer zeigen nach ihm folgende Abweichungen: eine mehr oder 
weniger weitgehende Degeneration des samenbildenden Ge- 
webes, die mit fortschreitendem Alter zum völligen Verschwinden 
desselben führt; die Leydigzellen, das innersekretorische Organ 
für die männliche Erotisierung, ist nicht vermehrt, eher ver- 
mindert, teilweise degenerativ verändert. Im Gegensatz hierzu 
beobachtete er auffallend große Zellen, die einzeln oder in 
Gruppen überall in homosexuellen Hoden anzutreffen waren 
und ihn morphologisch an die Luteinzellen, die innersekre- 
torischen Zellen des Eierstocks, erinnerten. Diesen Zellen, die 
er als F-Zellen bezeichnet, glaubt er nun die feminierende 
Wirkung zuschreiben zu müssen. 

Die Annahme Steinachs hat viel Bestechendes, und der 
objektive histologische Nachweis der sexuellen Inversion würde 
weitreichende medizinische und forensische Konsequenzen zu- 
lassen. Man könnte dann durch die Probeexstirbation eines 
Hodenstückes bei einem Patienten den Nachweis einer endo- 
krinen Homosexualität führen, sodaß im positiven Falle die 
operative Beeinflussung gegeben erscheint. Auch auf juristischer 
Seite wird auf die einwandfreie Beantwortung der Frage, ob an- 
geborene oder erworbene Homosexualität vorliegt, Wert gelegt; 
fordert doch der bekannte Strafrechtslehrer Wachenfeld für die 
erstere Straffreiheit, während er für die erworbene, die er für 
die überwiegend häufigere und für eine Erscheinung verderbter 


Prange: Die konstitutionelle Basis der Homosexualität 271 


Sexualethik hält, den 8 175 beibehalten wissen will. Zur Kritik 
dieser Forderung sei nur gesagt, daß, wenn der Steinachsche 
Nachweis einwandfrei zu erbringen wäre, es in praxi kaum 
irgendwelchen Zweck hätte, alle aus & 175 inkriminierten Fälle 
einem operativen Eingriffe zwecks Nachweis kongenitaler Homo- 
sexualität zu unterziehen, denn einerseits würde in den positiven 
Fällen, die nicht zur Bestrafung kämen, die Tatsache einer gericht- 
lichen Untersuchung allein die Angeklagten gesellschaftlich ruinie- 
ren, andererseits würde die Ausübung homosexueller Handlungen, 
die zu-inhibieren ja die primäre Aufgabe des betreffenden 
Paragraphen sein soll, kaum irgendwelche Einschränkung er- 
fahren, da nur ein ganz geringer Prozentsatz homosexueller 
Triebäußerungen auf eine erworbene Homosexualität zurück- 
zuführen ist. So hat bereits Krafft-Ebing den ätiologischen 
Begriff der erworbenen Homosexualität durch den zeitlichen 
der spät auftretenden Homosexualität in seiner letzten, 1900 
veröffentlichten Arbeit ersetzt, in der Erkenntnis, daß die bei 
Bisexuellen oder im späteren Alter beobachteten homosexuellen 
Handlungen, die bei oberflächlichem Betrachten als Äußerungen 
acquirierter Homosexualität im Sinne von Übersättigung am 
Weibe oder anderer moralischer Lasterhaftigkeit bewertet 
wurden, sich bei eingehender Untersuchung als konstitutionell 
bedingte, zunächst verborgene Triebvariationen erwiesen, die in 
sehr vielen Fällen alsBisexualität aller Schattierungen fortzudauern 
vermögen. So wichtig für die klinische und biologische Beur- 
teilung der morphologische*) Nachweis der Homosexualität ist, 
so gleichgültig ist er für die juristische. Falls diese für die ange- 
borene gleichgeschlechtliche Betätigung Straffreiheit verlangt, die 
infolge ihrer ganzen Struktur nicht als ein Produkt der Immo- 
ralität anzusprechen ist, so wäre der $ 175 zu eliminieren, da 
die Homosexualität, auf dem Wege der Keimdrüsentransplantation 
umstimmbar als angeborene Anomalie für bewiesen gelten muß. 

Der histologische**) Nachweis einer zwittrigen Pubertätsdrüse, 
wie sie Steinach für das mikroskopische Bild des homosexuellen 
Hodens postuliert, kann jedoch auf Grund weiteren Unter- 
suchungsmaterials, das von Patienten des Berliner „Instituts 
für Sexualwissenschaft“ von Dr. Magnus Hirschfeld her- 
rührt, die der Kastration und der Hodenüberpflanzung zwecks 
Beseitigung resp. Umstimmung ihres homosexuellen Geschlechts- 


*) Morphologie = Lehre von den Formen der Organismen. (Anm. 
der Schriftl.) 


*) Histologie = Gewerbelehre. (Anm. der Schriftl.) 


272 Prange: Die konstitutionelle Basis der Homosexualität 


triebes unterzogen wurden, nicht in der von Steinach als 
typisch geschilderten Weise bestätigt werden. Im folgenden 
sei der Befund von vier Fällen mitgeteilt, von denen zwei am 
Anfange des zweiten, zwei in der Mitte des vierten Lebens- 
jahrzehnts standen. Bei den der Tranplantation unterzogenen 
Fällen konnte nun zwar deutlich die Wirkung einer veränder- 
ten Erotisierung wahrgenommen werden, ein für die Homo- 
sexualität typischer Befund war aber nicht nachweisbar, wenn- 
gleich in allen Fällen beträchtliche Abweichungen vom normalen 
histologischen Bilde auffällig waren. Wenn nun auch im Ge- 
dankengang der Steinachschen Experimente per analogiam das 
ätiologische Postulat einer zwittrigen Pubertätsdrüse in homo- 
sexuellen Hoden psychologisch verständlich erscheint, so scheint 
die Steinachsche Auslegung doch etwas einseitig zu sein. 
Zunächst sind die die Kriterien, die Steinach an seine Befunden 
erhebt, ziemlich dürftig und unbestimmt. Er spricht von 
degenerierten Samenkanälchen und von verschieden färbbaren 
interstitiellen Zellen von teils auffallender Größe, ohne jedoch 
numerische Werte anzugeben. Wenn man bedenkt, wie variabel 
das Bild des normalen Hodens je nach dem Alter des betr. 
Individuums ist, wie verändernd die verschiedensten endogenen 
und exogenen *) Schäden — Tuberkulose, Gonorrhoe, Mißbrauch 
der mannigfaltigen Narkotika, Röntgenbestrahlung, endlich die 
klimatischen Einflüsse — auf die in- und exkretorischen Anteile 
dieses Organs einzuwirken vermögen, so erscheinen die von 
Steinach verlangten Merkmale zur einwandfreien morphologischen 
Beurteilung der homosexuellen Konstitution nicht ausreichend. 
Überhaupt muß schon eine objektive theoretische Überlegung von 
Anfang an das sporadische Auftreten von den innersekretorischen 
Ovarialzellen morphologisch gleichwertigen Zellen im Hoden 
bezweifeln, wenn man sich die Funktion des eingangs ge- 
schilderten innersekretorischen Apparats des Ovariums ver- 
gegenwärtigt. Als Pubertätsdrüse war dort immer jener Zell- 
komplex anzusprechen, der aus dem Prozeß der atretischen 
oder normal ausgereiften Eifollikel — im letzten Falle als 
Corpus luteum — resultierte. Es war also stets eine Eizelle 
als primäres Bildungssubstrat erforderlich. Die von Steinach 
veröffentlichten Abbildungen und ebensowenig die späteren 
Untersuchungen lassen den Schluß zu, daß im Hodenzwischen- 
gewebe Follikelbildungen den F-Zellen den Ursprung gegeben 


*) endogen innerlich entstehend; exogen von außen stammend. 
(Anm. der Schriftl.) 


Prange: Die konstitutionelle Basis der Homosexualität 273 


haben; auch hätte man ja bei dem verschiedenen Altersstufen 
angehörigen Material in verschiedenen Schichten auch einmal 
Primärfollikel antreffen müssen, was jedoch nie der Fall 
war. Die von Steinach als analoge natürliche Parallele heran- 
gezogenen Befunde an den Hoden einer homosexuellen Ziege 
lassen die Abkunft der weiblichen Pubertätsdrüsenzellen von 
atretischen Follikeln anatomisch deutlich erkennen und sind 
nicht geeignet, seine Auffassung der F-Zellen beim 
Menschen zu stützen. Wenn schon die topographische An- 
ordnung der F-Zellen die Ableitung von typischen Ovarial- 
bestandteilen nicht zuläßt, so ist das bloße Kriterium der 
Größe ohne numerische Wertangaben noch hinfälliger, da 
die Größe der Leydigzellen und Luteinzellen keine wesent- 
lichen Unterschiede aufweist; gerade diese Tatsache sprang 
bei einem menschlichen Ovotestis*) von Benda besonders 
deutlich in die Augen, wo männlicher und weiblicher Anteil 
anatomisch scharf voneinander gesondert waren, die Lutein- 
zellen des Corpus luteum und die stark vermehrten Leydig- 
zellen einzeln miteinander verglichen, in Größe und Färbbarkeit 
keine prinzipiellen Abweichungen zeigten. Erscheint daher das 
Suchen nach spezifischen Zellelementen, die den ovariellen 
Sekretzellen als morphologisch gleichwertig zu erachten wären, 
nach dieser Überlegung zwecklos, so muß man doch immerhin 
annehmen, daß ein Hoden, dessen sexualphysiologische 
Wirkung bisexueller Erotisierung auf Grund der Beeinflussungs- 
möglichkeiten in der Keimdrüse lokalisiert sein muß, doch 
irgendwelche anatomische Abweichungen vom normalen Befunde 
bieten muß. 

Wie schon erwähnt, ist, ganz abgesehen von allen exogenen 
Schädigungen, die das mikroskopische Bild des Hodens weit- 
gehend zu verändern vermögen, die große Variationsbreite 
des Hodens eines gesunden Individuums auffallend. Und 
in die extremen Richtungen sind nun die Befunde bei 
Homosexuellen zu gruppieren, die, ohne unter sich be- 
sondere Übereinstimmungen zu zeigen, sich von der Norm 
und dem ihren Jahren entsprechenden Status weit entfernen. 
Auf Tafel II in Abbildungen 1 und 2 sind zwei Hodenschnitte 
(Vergr. 46) dargestellt, von denen 1 einem hochgradig femi- 
ninen 19jährigen, 2 einem 45jährigen Manne angehört. Die 
Divergenz ist schon bei oberflächlicher Betrachtung sofort 


*) Geschlechtsdrüse, die Eierstock- und Hodengewebe enthält. 
(Anm. der Schriftl.) 


274 Prange: Die konstitutionelle Basis der Homosexualität 


auffällig: bei dem Jüngling eine starke Vermehrung des Inter- 
stitiums, das die Samenkanälchen völlig voneinander isoliert, 
bei dem Manne sind die Lageverhältnisse der Kanälchen der 
Norm entsprechend, auffallend ist hier die in diesen Jahren 
ungewöhnliche Vermehrung der Leydigzellen, die in der Ab- 
bildung 2 in der Mitte und rechts unten deutlich als dunkle, 
kompakte, wuchernde Massen sich zwischen die Kanälchen 
drängen. Ihr succulentes*) Aussehen und ihre teilweise be- 
trächtliche Größe erinnern zwar an die Corpus luteum-Zellen, 
lassen jedoch in ihrer topographischen Anordnung die Ab- 
leitung von Eifollikeln höchst unwahrscheinlich erscheinen. Diese 
Wucherung der Leydigzellen, die ebenfalls bei einem weiteren 
älteren Patienten beobachtet wurde, wird jedoch bei den 
jugendlichen Hoden völlig vermißt. Dort liegen sie nur 
spärlich zu zwei bis drei in dem hypertrophischen Bindegewebe, 
auch die Größe der einzelnen Zellen bietet nichts Ungewöhn- 
liches. Auffällig ist für ein Individuum an der Schwelle 
sexueller Reife das ziemlich zahlreiche Vorhandensein degene- 
rierender Samenkanälchen, eine Erscheinung, die dieser und 
ein weiterer jugendlicher Hoden mit den älteren gemeinsam 
hat. Tafel III zeigt in Abbildung 1 einen normalen Hoden 
(Vergr. 150), in Abb. 2 das Bild von Tafel II, Abb. 2 stark ver- 
größert. Der Unterschied zwischen beiden Bildern ist auch 
hier evident. In 1 einige Leydigzellen sporadisch zwischen 
den Samenkanälchen, deren Samenbildung in vollem Gang 
ist, bei 2 die große Wucherung der Leydigzellen, rechts oben 
ein degenerierendes Kanälchen, deutlich charakterisiert durch die 
großen Vakuolen im Keimepithel. Außerdem waren in diesem 
Hoden noch chromatinreiche Riesenkernzellen in einigen Kanäl- 
chen anzutreffen, über deren Natur jedoch z. Z. noch nichts 
Bestimmtes ausgesagt werden kann. Die numerischen Werte 
der Leydigzellen stehen bei den jüngeren und älteren homo- 
sexuellen Hoden gerade im umgekehrten Verhältnis zu denjenigen, 
wie sie beim normalen Hoden angetroffen werden, der in den 
Pubertätsjahren eine relativ zu den Samenkanälchen vermehrte 
Zahl von Leydigzellen aufweist, die mit zunehmender Mann- 
barkeit nur noch verstreut in den Winkeln zwischen den 
Kanälchen erscheinen (Abbildung Il, Tafel 2), während man bei 
den homosexuellen Hoden mit zunehmenden Jahren eine 
ungewöhnlich starke Vermehrung beobachtet. 

Ob nun die divergenten Befunde bei älteren und jüngeren 


*) von lat succus Saft. 


Prange: Die konstitutionelle Basis der Homosexualität 275 


homosexuellen Hoden für das betreffende Alter typisch sind, — 
es sind dieser Betrachtung ja nur vier Fälle zugrunde gelegt, 
von denen die Befunde bei den jugendlichen und den älteren 
unter sich übereinstimmen — kann erst nach Durchsicht 
größeren Materials entschieden werden, jedenfalls sind im 
Gegensatz zu der Steinachschen Auffassung für die homo- 
sexuelle Struktur typische, in allen vier Fällen nachweisbare 
Merkmale nicht vorhanden. Anatomisch muß man sich zur 
Zeit mit der Tatsache zufrieden geben, daß die Befunde an 
Hoden, die eine von der Norm abweichende innersekretorische 
Tätigkeit zeigten, innerhalb der sehr beträchtlichen Variations- 
breite des Hodenbildes höchst extrem gruppiert sind. Da 
man einerseits den Leydigzellen an sich es nicht ansehen kann, 
ob sie männliches oder weibliches Hormon sezernieren, das 
Experiment andererseits diese Fähigkeit einer doppelgeschlecht- 
lichen Sekretion wahrscheinlich erscheinen läßt, kann man 
heute nur von einer „sexuellen Bipotenz“ der innersekre- 
torischen Elemente im Sinne der Funktion der zwittrigen 
Pubertätsdrüse sprechen, die vielleicht auf dem physiologisch- 
chemischem Wege, etwa der Abderhaldenschen Abbaureaktionen, 
objektiv eindeutig nachweisbar gemacht werden könnte. 


* 


AnmerkungderSchriftleitung: Wir bringen die vorstehenden Aus- 
führungen, die in sehr interessanter Weise die histologische Seite der Homo- 
sexalitätzubehandeln suchen, möchten aber unsere Leser aufmerksam machen, 
daß hier noch sehr wenig Klarheit herrscht. Vielleicht gibt die Arbeit die 
Ursache einer weiteren Behandlung dieser Frage von verschiedenen Seiten. 





NNV. 
Yy 


HOROHORO KOI 





DIE BESTRITTENE MONOGAME VERANLAGUNG 


DES MANNES. 
Von Dr. jur. HANS SCHNEICKERT, Berlin. 


fr der „Zeitschrift für Sexualwissenschaft“, Band 3, Heft 9 
(Dezember 1916), Seite 359 ff. habe ich die Frage „Die 
Monogamie des Mannes ein Naturgesetz?“ näher behandelt, 
ausgehend von der Behauptung Vaertings (in der gleichen 
Zeitschrift, Heft 6/7, Seite 244 ff. 1916): „Der Mann neigt von 
Natur aus mehr zur Monogamie als das Weib“. Ich habe dort 
die von Vaerting angeführten Gründe im einzelnen näher ins 
Auge gefaßt und zu widerlegen versucht. Daraufhin hat 
Vaerting in Heft 11/12, Seite 141 ff. derselben Zeitschrift seine 
Gründe wieder verteidigt. Da mir bisher keine Gelegenheit 
geboten war, auf diese Erwiderung einzugehen, so soll dies 
hier geschehen. 

Wenn die Frage, ob Mann oder Frau mehr monogam 
veranlagt sei, nur eine akademische Frage wäre, könnte der 
Streit und die Lösung der Frage für das praktische Leben 
sehr gleichgültig sein. In der heutigen Sexualpolitik aber spielt 
diese Frage doch eine gewisse Rolle, ihre Bedeutung für die 
öffentliche Moral, die Ethik, die Ehereform und die Prostitution 
kann nicht geleugnet werden. Nur aus diesem Grunde sehe 
ich mich veranlaßt, mich weiter mit dieser Streitfrage zu 
beschäftigen. 

Vaerting vertritt, wie einige andere Schriftsteller vor ihm, 
den Standpunkt, daß die monogame Veranlagung des 
Mannes ein Naturgesetz sei und hat dafür eine Reihe 
Beweisgründe angeführt, deren Beweiskraft ich aber bestritten 
habe. Es ist ein Irrtum des Verfassers, zu glauben, ich wollte 
exakte Beweise für die Behauptung, daß die monogame Ver- 
anlagung des Mannes kein Naturgesetz ist, in. meiner kurzen 
Entgegnung erbringen. Das hatte ich gar nicht nötig, da dies 
bereits lange vor mir andere getan haben. Es wäre also Sache 
des Verfassers gewesen, sich eingehend mit den in der Liter- 
atur bereits vielfach vertretenen Gegenbeweisen zu beschäftigen. 
Ich überlasse es dem unbefangenen Leser, zu beurteilen, was 


Schneickert: Die bestrittene monogame Veranlagung des Mannes 277 


von des Verfassers zahlreichen Behauptungen als von ihm auch 
„bewiesen“ anzusehen sei. Wenn sich Verfasser aber wirklich 
die Mühe eines ernsthaften Beweises geben will, so darf er 
am wenigsten versäumen, die Formen der Geschlechts- 
verbindungen der Völker in ihrem Urzustande genauer zu 
studieren, mit anderen Worten die Urgeschichte der Ehe. 

Dr. Bloch hat in seinem Buche „Das Sexualleben unserer 
Zeit“ im 10. Kapitel über die sozialen Formen der sexuellen 
Beziehungen und über die Ehe ein reichhaltiges geschichtliches 
Material zusammengetragen und kommt auf Grund seiner 
Studien zu einem, meinen hier vertretenen Standpunkt recht- 
fertigenden Ergebnis; ich zitiere aus seiner voll überzeugenden 
Darstellung folgende drei Stellen: „Wer die Natur des Ge- 
schlechtstriebes kennt, wer sich über den Gang der Entwicklung 
des Menschengeschlechts klar geworden ist, und wer endlich 
die noch heute herrschenden Zustände auf geschlechtlichem 
Gebiete bei primitiven Völkern und modernen Kulturvölkern 
studiert, dem kann gar kein Zweifel darüber aufkommen, daß 
in den Anfängen der Menschheitsentwicklung tatsächlich ein 
Zustand der geschlechtlichen Promiskuität*) geherrscht 
hat.“ ... „Es ist auch sonnenklar, daß das geschlechtliche 
Variationsbedürfnis des Menschen, welches eine anthro- 
pologische Erscheinung darstellt, in der Urzeit sich um so 
stärker und ungezügelter äußern mußte, als noch das ganze 
Leben sich nicht über das Niveau rein physischer Bedürfnisse 
erhob. Wenn nun heute, im Zustande der fortgeschrittensten 
Zivilisation, nach Ausbildung einer das ganze gesellschaftliche 
Leben durchdringenden und beeinflussenden geschlechtlichen 
Moral, dieses natürliche Variationsbedürfnis sich beinahe noch 
in unverminderter Stärke äußert, so bedarf es eigentlich keines 
Beweises mehr, daß in primitiven Zuständen geschlecht- 
liche Promiskuität das Ursprüngliche, ja eigentlich das 
Natürlichere ist als die Ehe.“ ... „Es liegt in dieser Vor- 
stellung durchaus nichts das Menschengeschlecht Herab- 
würdigendes, im Gegenteil bekundet sich in der Entwicklung 
individueller Dauerbeziehungen zwischen Mann und Weib aus 
dem Zustande einer ursprünglichen Promiskuität heraus ein 
ständiges Fortschreiten von niederen zu höheren sozialen 
Formen der Geschlechtsbeziehungen, eine sukzessive Vervoll- 
kommnung und Veredelung derselben bis zur monogamen 
Ehe, die auch heute noch ein bloßes Ideal ist, da die 


*) geschlechtliche Verbindung ohne gesetzliche Form. 


278 Schneickert: Die bestrittene monogame Veranlagung des Mannes 


Wirklichkeit ihr nicht entspricht oder die ursprüngliche reine 
Idee verfälscht und verdunkelt hat.“ 

Dr. Bloch hat sich dort auch schon mit Westermarck 
näher beschäftigt und erklärt, daß die neueren ethnologischen 
Forschungen die Unhaltbarkeit der Westermarck’schen Kritik 
der Promiskuitätslehre dargetan habe. 

Wer andererseits z. B. die Schrift von Dr. Josef Müller, 
Das sexuelle Leben der alten Kulturvölker (Leipzig, 1902) 
studiert, der den Standpunkt vertritt, daß schon bei den primi- 
tiven Menschen die Monogamie gepflegt wurde,*) und daß 
rohe Auswüchse des geschlechtlichen Lebens auf dieser Stufe 
schon eher als Entartungserscheinungen einer vorgeschritteneren 
Zeit, denn als Vorstufen einer höheren Kultur anzusprechen 
seien, wird aber finden, daß die geschlechtliche Promis- 
kuität stets das Primäre war, und daß die Statuierung 
der Monogamie stets ein dieses schützendes Verbot und die 
Bestrafung der Bigamie und zuweilen auch des Konkubinats 
begleitet hat. Diese Begleiterscheinungen walten bei den heu- 
tigen Kulturvölkern genau noch so und beweisen, daß es 
irgendwelche Naturtriebe im Geschlechtsleben geben muß, die, 
wie z. B. die diebischen Neigungen des Menschen, bekämpft 
und unterdrückt werden müssen, sie beweisen ferner, daß 
zwischen einem Geschlechtstriebe, sei er monogam oder polygam, 
scharf zu unterscheiden ist die gebotene Einrichtung der 
Monogamie oder die geduldete Polygamie als Eheform. 

Verfasser will die Ansicht eines Philosophen wie 
Schopenhauer nicht anerkennen, weil er keine Autorität in 
Fragen der Monogamie sei, verweist sogar auf den „alternden“ 
Philosophen, der die polygame Veranlagung des Mannes 
betont habe. Richtig ist zwar, daß in Fragen der Moral und 
sexuellen Angelegenheiten die Ansicht der Menschen leicht 
wechseln und im Alter im Gegensatz stehen zu den in der 
Jugend bekannten und gepflegten Ansichten. Schopenhauer 
ist aber nicht der Mann, dem eine Änderung seiner Ansicht, 
wenigstens nicht bei der Frage der Polygamie des Mannes, 
vorgeworfen werden könnte. Und was seine Menschenkennt- 
nisse und insbesondere seine geschichtlichen, religiösen und 
ethischen Kenntnisse anlangt, so wird er noch jeder unserer 
Autoritäten in der Frage der Monogamie als gleichwertig gegen- 


*) Die Studie von Dr. Müller scheint mir einen mehr den Sittlich- 
keits- oder religiösen Standpunkt der alten Kulturvölker beleuchtenden 
Zweck zu haben, weniger aber einen sexualwissenschaftlichen, 


Schneickert: Die bestrittene monogame Veranlagung des Mannes 279 


übergestellt werden dürfen. Mit solchen oberflächlichen Be- 
merkungen fertigt man Gegner nicht ab. 

Wenn aber Verfasser sich nur mit Forschern der Sexual- 
wissenschaft abgeben will, so kann ich ihm auch solche nam- 
haft machen, die über die polygame Veranlagung des Mannes 
auf Grund ihrer Studien am Menschengeschlechte selbst keinen 
Zweifel haben. v. Krafft-Ebing sagt z. B. in seiner 
„Psychopathia sexualis“ im einleitenden Kapitel: „Von hohem 
psychologischem Interesse erscheint es, die Entwicklungsphasen 
zu verfolgen, durch welche im Laufe der Kulturentwicklung 
der Menschheit das Geschlechtsieben bis zu heutiger Sitte 
und Gesittung hindurchgegangen ist. Auf primitiver Stufe 
erscheint die Befriedigung sexueller Bedürfnisse der Menschen 
wie die der Tiere. Der geschlechtliche Akt entzieht sich nicht 
der Öffentlichkeit, und Mann und Weib scheuen sich nicht, 
nackt zu gehen. Auf dieser Stufe sehen wir (vergl. Ploß, 
Das Weib in der Natur- und Völkerkunde) heute noch wilde 
Völker, wie z. B. die Australier, Polynesier, Malayen der 
Philippinen. Das Weib ist Gemeingut der Männer, temporäre 
Beute des Mächtigsten, Stärksten. Dieser strebt nach den 
schönsten Individuen des anderen Geschlechts und erfüllt 
damit instinktiv eine Art geschlechtlicher Zuchtwahl.* 

v. Krafft-Ebing kommt zu dem Schlusse, daß die seelische 
Neigung des Weibes eine monogame ist, während der Mann 
zur Polygamie neigt. 

Ich bin nun, wie bereits in meinem zitierten Artikel her- 
vorgehoben, der Ansicht, daß die Frage der monogamen oder 
polygamen Veranlagung nicht unter Betonung eines bestimmten 
Geschlechts beantwortet werden kann, und daß man die Frage nur 
"so stellen kann: Sind die Menschen monogam veranlagt? Dieser 
Standpunkt findet eine Stütze in dem von Dr. Bloch (a. a. O. 
Seite 228) aufgestellten Prinzip des sexuellen Variations- 
bedürfnisses: „Die menschliche Liebe als Ganzes und in ihren 
einzelnen Äußerungen wird in diesem Bedürfnis nach Ab- 
wechslung, nach Veränderung beherrscht und beeinflußt. Auf 
dieses Ur- und Grundphänomen der menschlichen Liebe hat 
schon Schopenhauer hingewiesen, es aber mit Unrecht nur 
auf den Mann beschränkt.“ Genau betrachtet ist aber 
das sexuelle Variationsbedürfnis und die polygame Veranlagung 
des Menschen dasselbe. 

Auf einen Punkt, dem Dr. Vaerting eine besondere Be- 
deutung beimißt, als Beweis der monogamen Veranlagung des 
Mannes muß ich noch einmal zurückkommen. Es ist die 


280 Schneickert: Die bestrittene monogame Veranlagung des Mannes 


Statistik, die ein Überwiegen der Knabengeburten be- 
stätige und es schon aus diesem Grunde dem Manne un- 
möglich mache, mehr als ein Weib begatten zu können. 
Verfasser ist auf meine Einwendungen gegen diesen Beweis 
der Statistik nicht näher eingegangen und kann jedenfalls 
auch nicht in Abrede stellen, daß eine Geburtenstatistik zum 
Nachweis des Bevölkerungszuwachses oder der Bevölkerungs- 
abnahme geführt wird, und daß eine Statistik, die zum Nach- 
weis einer monogamen oder polygamen Veranlagung der 
Menschen aufgestellt würde, von ganz anderen Voraussetzungen 
ausgehen müßte, sofern sie überhaupt möglich wäre. Aber 
angenommen, auf 110 Knaben kämen nur 100 Mädchen, zu- 
folge eines statistischen Nachweises des Knabenüberschusses. 
Steht aber fest, in welchem Verhältnis die hier möglichen 
Geschlechtspaare zeugungs- oder begattungsfähig sind? Es 
ist bis jetzt durch nichts bewiesen, daß die Natur -immer nur 
zugunsten des männlichen Geschlechts Korrekturen dieses 
ungleichen Geschlechtsverhältnisses eintreten läßt, sodaß ich 
zunächst (allerdings, ohne es beweisen zu können, weil solche 
Beweise die Grenzen des Menschenmöglichen streifen oder 
gar übersteigen), den Einwand machen kann, daß sich sehr 
wohl das Verhältnis 110 M — 100 W bis zur Geschlechts- 
reife in das Verhältnis 55 M — 60 W, oder 110 W — 100 M 
verwandeln kann. Dann stünde einem (wenn auch nicht allen) 
Manne mehr als ein Weib zur Verfügung. Die zweite Ein- 
wendung betrifft die willkürliche Begünstigung des 
Knabenüberschusses und die infolge krimineller Betätigung 
eintretende, mehr zufällige Korrektur des natürlichen Ge- 
schlechtsverhältnisses, bei dem die Knabengeburten überwiegen 
sollen. In diesem Falle würde das Verhältnis 110 M — 100W ° 
wohl auf den gesamten statistischen Komplex zutreffen, nicht 
aber auf die einzelnen Völker oder einzelnen Bevölkerungs- 
zentren, wo eben wieder das Verhältnis zugunsten des Weibes 
anwachsen könnte, sodaß einem Mann mehr als ein Weib 
zur Verfügung stünde. Oder mit anderen Worten, nur durch 
eine ungewöhnlich hohe Zahl willkürlicher und zufälliger 
Einschränkungen der Mädchengeburten in einzelnen Bevölke- 
rungszentren wird die Gesamtstatistik zum Nachteil der 
Mädchengeburten in den anderen Zentren verschlechtert. 

Da alle diese Verschiebungen und Schwankungen der 
Geschlechtsverhältniszahlen nicht berechnet werden können, 
bestreite ich, daß die Zahlen der Geburtsstatistik, so wie sie 
uns jetzt dargeboten werden, zu einem einwandfreien Beweis 


y 


Tafel IH 











Abb. 2. Derselbe Schnitt wie Tfl. I, Abb. 2, stärker vergrößert. 
Zu Prange: „Die konstitutionelle Basis“, S. 274. 


Tafel IV 


Abb. 1. Daumenschwiele 
eines normalen Frosch- 
männchens während der 
Brunstzeit und eines, 
Kastraten in der Brunst- 

zeit (n. Meisenheimer). 

Abb. 2. Männl. Pseudo- 
hermaphrodit G. Maus 
St. Denis, als Mädchen 


Abb. 3. Männlicher 
Scheinzwitter; 24 jähriger 
Jude; behandelt von Bill- 

roth 1878. 
Abb. 4. Weibl. Schein- 
zwitter mit Hodensack 
u. penisartiger Klitoris 
(n. Fiebiger). 
Abb. 5. Echter Zwitter 
der Königsberger Klinik 


x (n. Hirschfeld). 
Mastrıere 





erzogen. 







Hände von 


Froschmannchen 


normal in der 





Brönstze, 5 


Atb. 1. 








DE Geschl. Gte). 


Lippe N! Al.Lippen | 


rechte JH 


Hoe r s y KAN 


Fistel. Öffnung. 
Abb. 2. 


Eileiter 
Nebeneierstock 
> Eierstock 


Schwellkorper 


Abb. 4. 





Zu Reitzenstein: „Zum Verständnis der inneren Sekretion“, 


ze I mcŇÃĂ— 


Schneickert: Die bestrittene monogame Veranlagung des Mannes 281 


eines monogamen Naturgesetzes herangezogen werden können. 
Dazu kommt, daß es eine, alle Völker umfassende und ein- 
heitliche Bevölkerungs- und Geburtenstatistik noch nicht gibt 
und wahrscheinlich auch nie geben wird. 

Da der Geschlechtstrieb ein Naturtrieb ist, bei dessen 
Befriedigung es auf den Willen oder die Möglichkeit einer 
Fortpflanzung gar nicht ankommt, steht der polygamen Be- 
tätigung des Mannes trotz — angenommener — Weiber- 
minderzahl doch nichts im Wege, sie wird durch die bestehende 
Polyandrie des Weibes, die sich zu allen Zeiten in der weiblichen 
Prostitution dargeboten hat, in genügendem Maße ausgeglichen. 

Wenn Verfasser schließlich einen Widerspruch daran findet, 
daß ich sagte, die monogame Neigung des Mannes sei „ererbt 
oder anerzogen“, so beruht dies auf einem Mißverständnis, da 
der Vordersatz übersehen worden ist; ich sagte: „Ich habe 
keinen Zweifel, daß die ursprüngliche Veranlagung des Mannes 
eine polygame ist, daß aber seine monogame „Neigung“ ererbt 
oder anerzogen ist.“ Statt „Neigung“ hätte ich allerdings besser 
sagen müssen „Betätigung“, Bekenntnis oder Lebensweise. So 
kommt der Gegensatz, den ich zwischen Veranlagung und Art der 
Betätigung eines Naturtriebes mache, klar zum Ausdruck. Wenn 
Westermarck der Wahrheit näher kommt, indem er die monogame 
Veranlagung für eine angeborene Eigenschaft hält, die aber durch 
die Erziehung zerstört wird, so kann ich von meinem Stand- 
punkt aus ebensogut das Gegenteil sagen: Die polygame Ver- 
anlagung ist eine angeborene Eigenschaft, die aber durch die 
Erziehung zerstört wird; sie wird aber nicht einmal zerstört, 
sondern nur eingeschränkt oder temporär unterdrückt, sei es 
durch Erziehung oder durch Gesetze. Insofern könnte man 
von einer „anerzogenen“ Polygamie oder Monogamie sprechen. 
Von einer ererbten oder anerzogenen Polygamie kann man 
ebensogut sprechen, wie von einer ererbten und anerzogenen 
Homosexualität, sobald man die Ansicht vertreten wollte: die 
Polygamie eines Menschen ist zwar kein Naturgesetz, sie kommt 
aber bei sehr vielen Menschen in echter (ererbter) oder un- 
echter (anerzogener) Form vor, ebenso wie andere Formen 
geschlechtlicher Neigungen und Betätigungen. Es ist nicht 
richtig, hier von einem Naturgesetz überhaupt zu sprechen, da 
ein Naturgesetz, wenigstens so, wie wir sie in der Physik oder 
Astronomie kennen gelernt haben, eine Regelmäßigkeit und 
Ausnahmelosigkeit voraussetzt. Es kommt bei unserer Frage 
nur darauf an: Entspringt die Monogamie oder Polygamie des 
Menschen einer natürlichen Veranlagung oder sind sie als bloße 

19 


282 Schneickert: Die bestrittene monogame Veranlagung des Mannes 
ee U 


Formen der Geschlechtsbeziehungen unnatürlich, weil an- 
erzogen? Davon ist wieder zu unterscheiden die Einsetzung 
der „Einehe“ und anderer Eheformen, wie Polygamie und 
Polyandrie. 

Die Gefahren der Unklarheit durch Vermischung der 
Gedanken über Veranlagung und geschlechtliche Betätigungen 
in bestimmten Formen scheint der Verfasser doch nicht ganz 
überwunden zu haben. 


* s 
+ 


Zusatz der Schriftleitung: Die Frage des ein- oder 
mehrgeschlechtlichen Verkehrs ist an sich keine naturwissen- 
schaftliche. Von Haus aus besitzt der Mensch lediglich den 
Geschlechtstrieb, der sich als Detumescenztrieb oder als 
Kontrektationstrieb äußert, Keiner dieser beiden Kompo- 
nenten richtet sich auf ein Einzelwesen, sondern versucht 
ihre Befriedigung, wo die Möglichkeit gegeben ist. Die Zahl 
der vorhandenen Einzelvertreter beider Geschlechter spielt 
dabei keine Rolle. Die Entwicklung zu monogynen Verhält- 
nissen liegt in der „Brutpflege“. Tiere, die in Herden leben 
— und dazu gehört von jeher der Mensch — blieben polygyn, 
d. h. zum Verkehr mit mehreren Weibchen geneigt, weil die 
Brutpflege durch die Gesamtheit der Herde geschützt wird; 
ihnen fehlt der monogyne „Trieb“. Tiere die dagegen isoliert 
hausen, gelangen wenigstens auf die Dauer der jeweiligen 
Brutpflege zu monogynen Verhältnissen. Der Mensch gehörte 
dazu nicht. Bei ihm haben sich die monogynen Beziehungen 
überhaupt nur in der Ehe geäußert. Diese ist aber nicht der 
ursprüngliche Zustand menschlicher Geschlechtsgenossen- 
schaft, sondern ein erworbenes Kulturideal, ein soziales 
Institut, das, wie ich schon in meiner „Urgeschichte der Ehe“ 
(Stuttgart 1908) betonte, mit dem Geschlechtsverkehr nicht 
mehr zu tun hat, als daß dieser in ihr eben auch vorhanden 
ist. Aus der Ehe, die aus wirtschaftlichen und statistischen 
Gründen von selbst zur Einehe führen mußte, entwickelte sich 
allmählich als kulturelles Ideal die Forderung, daß der ge- 
schlechtliche Verkehr nur zwischen Ehegatten stattfinden soll, 
Den Hauptanteil daran trägt das Weib, das in seiner Angst, 
seine Versorgung zu verlieren, unter Verzicht auf seine Natur- 
anlage (polyandrisch) auch den Mann zu monogynen Be- 
ziehungen, d.h. zur Beziehung zu ihm allein zu zwingen suchte. 
Die Religion und gewisse staatliche Interessen stützten dies 
Ideal. Vaertings Ansicht ist gänzlich haltlos, genau wie die 


Schneickert: Die bestrittene monogame Veranlagung des Mannes 283 
m en 


seiner Vorgänger. Ihnen fehlt hier die ethnologische Schulung, 
und Vaerting folgt hier, wie auch in anderen seiner Arbeiten 
weniger empirisch-wissenschaftlichen Grundlagen, sondern 
nimmt als Richtschnur die Forderungen der heute giltigen Moral 
und sucht damit retrospektiv den Aufbau unseres Sexuallebens 
zu begründen. Diese Tätigkeit ist heute sehr beliebt geworden. 
Die Kirche und ihre Moral sah ein, daß im modernen Ideen- 
kreis die Berufung auf ein „Dogma* keine beweisende Kraft 
mehr hat. So versucht sie nun mit wissenschaftlichen 
Momenten zu arbeiten, aber die dogmatische oder politische 
Voraussetzung überwiegt dabei so sehr, daß sie unwillkürlich 
durch gesuchte Gruppierung der Belege die wissenschaftliche 
Grundlage beugt. Monotheismus, Monogenese, Monogamie usw. 
müssen der Märchen eingangs der Bibel und der neuplato- 
nistisch-christlichen Ethik zu Liebe unter allen Umständen 
gerettet werden. Den gleichen Weg geht eine Gruppe von 
Forschern, deren Ideenkreis durch bestimmte politische 
Richtungen festgelegt ist — wobei sie zum Teil das Beste 
wollen mögen. Sie verbinden sich mit der Kirche, weil sie 
in ihr ein staatserhaltendes Moment erblicken — was aber 
die Revolution sicherlich nicht bestätigt hat — und machen 
darum ihr Ideal zu dem ihrigen. Auch sie gruppieren an sich 
wissenschaftliches Material nach ihren festliegenden Prämissen. 
Diese Forscher bilden eine besondere Gruppe, deren „For- 
schung“ nicht dem Zweck freier Erkenntnis, sondern den des 
erzwungenen Nachweises der Gründigkeit heute giltiger 
politischer und moralischer Ideale verfolgt. Ernst zu nehmen 
sind vom Standpunkt voraussetzungsloser Wissenschaft also 
solche Arbeiten nicht. Sie stellen allerdings — da diese 
Richtungen mit bedeutenden äußeren Mitteln arbeiten — eine 
gewisse Gefahr für den Bildungsgang weiterer Kreise dar. 
Dazu gehört vor allem auch die Schule Gobineaus und ähn- 
licher Rassenfanatiker. Sie arbeiten mit Dogmen, genau wie 
die Religion. In einer demnächst erscheinenden Arbeit „Ehe 
und Prostitution“ in der Sammlung „Das Wissen dem Volke“ 
werde ich näher darauf eingehen Frhr. v. Reitzenstein. 


NA 


19* 





284 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 


ZUM VERSTÄNDNIS DER INNEREN SEKRETION 
UND DER VERJÜNGUNG. 
Von FERDINAND FRHR. VON REITZENSTEIN, Dresden. 
VIII. 
Sexuelle Zwischenstufen. 


me denn zwei Jahrzehnte sind es her, daß Magnus Hirsch- 
feld diesen Begriff geprägt hat. Wie immer derartige 
bahnbrechende Ideen, so wurde auch diese zunächst von den 
Meisten abgelehnt und bekämpft, so klar sie an sich war und 
so leicht sie zugleich eine ganze Reihe von Erscheinungen 
erklärte, für die sonst eine brauchbare entwicklungsgeschicht- 
liche Ableitung fehlte. Der scharf denkende Geist Hirschfelds 
war vorausgeeilt und der eigentliche Nachweis folgte nur 
schrittweise. Wohl hatte man erkannt, daß die Entstehung der. 
beiden Geschlechter aus einer ihnen beiden gemeinsamen 
Grundlage erfolgte, wie wir im vorigen Aufsatz zeigten. Auch 
die schon über ein Jahrzehnt zurückliegenden Beobachtungen 
Nußbaums haben merkwürdigerweise den klaren Gedanken- 
gängen nicht zum Siege verholfen. Nußbaum nahm Frosch- 
männchen die Hoden heraus. Die Folge war, daß diese Tierchen 
keine Daumenschwielen mehr entwickelten*). Brachte er 
nun solchen kastrierten Froschmännchen Hodenbrei anderer 
Froschmännchen unter die Haut, so bildeten die kastrierten 
Froschmännchen wieder Daumenschwielen. Damit war gezeigt, 
daß von den Hoden etwas ausgeht, was die sog. sekundären 
Geschlechtsmerkmale beeinflußt; mit anderen Worten es war 
gezeigt, daß die Hoden im Sinne einer inneren Sekretion (siehe 
vorigen Aufsatz) tätig sind. Steinach knüpfte an diese Ver- 
suche an und er sollte es sein, der die Ideen Hirschfelds am 
Experiment nachweisen konnte. Er spritzte nämlich kastrierten 
Froschmännchen, die weder Schwielen besaßen noch Um- 
klammerungstrieb zeigten, Hodenbrei von brünstigen Fröschen 
ein; sofort traten schon in wenigen Stunden die Erscheinungen 
auf. Nun hatte man früher die Meinung vertreten, daß die 
geschlechtlichen Vorgänge lediglich Funktionserscheinungen des 
Nervensystems wären; Steinach mußte daher jetzt die Frage 
beantworten, wie diese frühere Ansicht sich zu den neuen Be- 
obachtungen verhalte. Schon längst hatte man bemerkt, daß 
bei Froschmännchen der Umklammerungsreflex auch ausgelöst 





v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 285 


wird, wenn man ihre Brusthaut durch mechanische Mittel reizt. 
Es lag also für Steinach nahe, anzunehmen, daß durch die 
Sekrete ein Reiz auf das Zentralnervensystem ausgeübt wurde, 
Er injizierte jetzt kastrierten Froschmännchen anstatt des 
Hodenbreies einen Brei aus Gehirn und Rückenmark von 
brünstigen Fröschen. Das Resultat war, daß an diesen 
Froschmännchen nun der gleiche Umklammerungsreflex aus- 
gelöst wurde, wie bei denen, die Hodenbrei eingespritzt be- 
kamen, während Hirnbrei von nicht brünstigen Froschmännchen 
wirkungslos blieb. Damit war klar erwiesen, daß das Sekret 
der Hoden eine „chemische Erotisierung“ des Nerven- 
systems der männlichen Wesen hervorruft. 

Nun ging Steinach einen Schritt weiter. Er kastrierte 
sehr junge Rattenmännchen (etwa im Alter von 3—6 Wochen). 
Es zeigte sich, daß folgerichtig alle Merkmale, die mit dem 
Wesen eines männlichen Tieres zusammenhängen, unentwickelt 
blieben; sie blieben auf „kindlicher“ Stufe stehen. Nähte 
er jetzt aber solchen kastrierten Tierchen an irgend einer Körper- 
stelle Hoden ein, so entwickelten sich diese Merkmale voll- 
ständig, aber nur dann, wenn diese eingenähten Hoden anheilten, 
d. h. dadurch ihre Funktion verrichten konnten. Es zeigte sich 
also, daß von dieser inneren Sekretion nicht nur der Geschlechts- 
trieb, sondern auch die Ausbildung der männlichen Ge- 
schlechtsmerkmale abhängig war. Besonders wichtig für die 
Erkenntnis des ganzen Vorganges wurde aber, daß in den ein- 
genähten Hoden die Samenkanälchen verkümmert, dagegen 
aber die Zwischenzellen oder interstitiellen Zellen kräftig 
entwickelt waren. Ganz ähnlich ergaben sich die Resultate 
beim Kastrieren von Weibchen, mit nachfolgendem Ein- 
heilen von Eierstöcken. Die Kastration hemmte die Entwick- 
lung der weiblichen Geschlechtsorgane und den weiblichen 
Geschlechtstrieb, während die nachfolgende Einheilung beides 
wieder in Entwicklung brachte; nur sind die Vorgänge im Eier- 
stock nicht so einfach. Wenn — was wahrscheinlich ist — 
im Hoden außer den Zwischenzellen vielleicht auch noch 
andere Elemente an der inneren Sekretion beteiligt sind (vgl. 


*) Wenn ein Froschmännchen brünstig wird, bilden sich an den 
Daumen seiner Vorderfüße eigenartige Schwielen (siehe Tfl. IV, Abb. 1), 
die es benötigt um bei der geschlechtlichen Umklammerung (Umklam- 
merungsreflex) das Weibchen festzuhalten. 


286 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 


den vorigen Aufsatz), dann ist deren Wirkung doch eine parallele 
zu den Zwischenzellen selbst. Im Eierstock ist, wie wir eben- 
falls im vorigen Aufsatz gezeigt haben, die Sekretion sehr 
kompliziert. Jedenfalls aber faßt Steinach die Gesamtheit der 
sekretierenden Elemente in den beiden Drüsen unter dem 
Namen „Pubertätsdrüse“ zusammen. Dieses Wort ist zweifel- 
los nicht glücklich gewählt und hat anfangs begreiflicherweise 
vielfach ein falsches Bild entstehen lassen. Neuerdings traten 
auch viele Forscher gegen die innersekretorische Bedeutung 
dieser Zwischenzellen überhaupt auf. Im Anschluß an ältere 
Arbeiten von Kyrle, der zu erweisen suchte, daß ihnen ledig- 
lich eine trophische (ernährende) Wirkung zukomme, möchten 
sie die innersekretorische Tätigkeit der Geschlechtsdrüsen 
entweder ganz leugnen oder doch wenigstens mit anderen 
Gewebeteilen in Verbindung bringen. Aber aus dem Nicht- 
gelingen entsprechender Versuche durch andere folgt noch 
lange nicht, daß sie überhaupt Täuschungen waren. Besonders 
die Arbeiten von Benda und Stieve können in den Haupt- 
punkten wenig überzeugen, wiewohl selbstverständlich die Bei- 
bringung eines möglichst großen Tatsachenmaterials für die 
ganze Frage von großer Wichtigkeit ist. Solange aber nicht 
positive Resultate der Gegner Steinachs vorliegen, liegt kein 
Grund vor, von seinen Resultaten allzusehr abzugehen*). 

Für Steinach erwuchs dann die weitere Aufgabe, zu zeigen, 
daß die Sekrete von Hoden und Eierstöcken grund- 
sätzlich verschieden sind, d. h. daß das vom Manne 
produzierte Sekret anderer Natur sei, als das vom Weibe 
produzierte. Wäre die Wirkung der beiden Sekrete die gleiche, 
dann müßte es natürlich auch gleichgiltig sein, ob man bei 
Übertragung von Geschlechtsdrüsen männliche oder weibliche 
nimmt und es müßte sich so ein männliches Tier auch dann 
zur vollen Männlichkeit weiterentwickeln, wenn man ihm Eier- 
stöcke einnäht. Würde aber dieses männliche Tier dadurch 
in seiner Weiterentwicklung nach der weiblichen Seite ab- 
gelenkt, dann muß selbstverständlich auch das Wesen des 
Eierstockssekrets ein anderes sein, als das der Hoden. Dann 
wäre eine weitere Folge, "daß man durch Übertragung von 
Eierstöcken ein Männchen gleichsam verweiblichen und 


2 Wir bringen zugleich auf Seite 265 ff. einen Aufsatz von Prange, 
der diesen Auffassungen näher steht. 


v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 287 


Weibchen vermännlichen könnte. Die Versuche, die nicht 
nur Steinach sondern auch Brandes in Dresden und mehreren 
anderen geglückt sind, haben das letztere bewiesen. Man 
kastrierte also junge Ratten, junge Meerschweinchen usw. und 
nähte nun den weiblichen Tieren Hoden, den männlichen Eier- 
stöcke unter die Haut. Nach zirka 14 Tagen war etwa bei 
der Hälfte der Tiere die Anheilung gelungen und es zeigte 
sich bald, daß beide Geschlechter sich nicht normal, sondern 
im Sinne des anderen Geschlechtes weiter entwickelten. Bei 
den Eierstockmännchen wurde die weitere Ausbildung des 
Geschlechtsapparates unterbrochen und blieb etwa auf kind- 
licher Stufe stehen, ja man konnte sogar konstatieren, daß 
der Geschlechtsapparat noch weniger entwickelt wurde, als 
bei einer Kastration. Weiterhin aber zeigte sich, daß sich der 
Bullenkopf der Männchen nicht durchbildete, sondern eine 
weibliche Kopfbildung eintrat; der Brustumfang schloß sich 
an; er war weit geringer als er bei Männchen oder selbst bei 
Kastraten zu sein pflegt, das Skelett ergab bei Röntgenunter- 
suchung ebenfalls weibliche Formen. Das für die Böcke 
charakteristische struppig-derbe Fell verwandelte sich in das 
feine und weiche Haarkleid des Weibchens. Was aber besonders 
wichtig war, war die Ausbildung der Brustdrüsen in rein 
weiblichem Sinne, selbst in ihrem mikroskopischen Bilde. Sie 
sonderten eine völlig normale und fettreiche Milch ab. Lassen 
wir Steinach selbst sprechen: „Wenn man zu so feminierten 
Meerschweinmännchen Junge setzt, so werden sie von diesen 
sofort als Milchtiere erkannt und verfolgt. Sie nehmen die 
Jungen an, säugen sie und zeigen bei diesem komplizierten 
Akt ein Wohlgefallen, eine Geduld, Haltung und Aufmerksam- 
keit, wie solche sonst nur bei normalen säugenden Weibchen 
zu beobachten ist. Die umstimmende Kraft der weiblichen 
Pubertätsdrüse hat aus dem ursprünglichen Männchen im 
Äußeren und im Wesen ein Weibchen, eine säugende liebreiche, 
sorgende Mutter gemacht.“ Dementsprechend ist auch der 
Geschlechtstrieb dieser Eierstockmännchen nicht mehr 
als männlich anzusprechen, denn sie haben kein Interesse 
mehr für brünstige Weibchen, werden aber folgerichtig von den 
wirklichen Männchen für Weibchen gehalten und besprungen. 
Man kann aus diesem Merkmalbestand also schließen, daß der 
Eierstock jenen Stoff, der männliche Geschlechtsmerkmale aus- 


288 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 


bildet, nicht enthielt, ja daß sein Sekret sogar die männliche 
Entwicklung hemmt und soweit als es noch möglich ist, zu 
verweiblichen sucht. In ganz ähnlicher Weise ergab sich 
die Entwicklung der Hodenweibchen. Die weibliche Ge- 
schlechtsmerkmalentwicklung wird nach der männlichen Seite 
abgebogen. Brustdrüsen, Gebärmutter und Geschlechtsteile 
bleiben in ihrer Ausbildung stehen, ja in manchen Fällen bilden 
sie sich sogar zurück. Entsprechend den ähnlichen Erschei- 
nungen bei den Eierstockmännchen verloren die Hodenweibchen 
ihr zartes Haarkleid und bekommen das derb-struppige, das 
sonst normalen Männchen eigentümlich ist. Der Kopf näherte 
sich dem männlichen Bullenkopf, übertraf ihn teilweise sogar 
an Größe. Folgerichtig war auch der Geschlechtstrieb der 
Hodenweibchen männlich orientiert; sie suchten normale 
Weibchen auf und vermochten ohne weiteres ein brünstiges 
und ein nichtbrünstiges Weibchen zu unterscheiden. „Sobald 
sie ein solches aufspürten, verfolgten sie es unaufhörlich, um- 
warben es leidenschaftlich und sprangen auf. Normalen Männ- 
chen gegenüber benehmen sie sich mit männlicher Eigenart.“ 
Daß diese Resultate keine Täuschungen sind, bestätigt der 
Dresdner Zoologe Prof. Brandes, der sagt: 


„Ich habe selbst solche feminierte Männchen bei Steinach gesehen 
und mich durch genaue Untersuchung der äußeren Geschlechtsorgane — 
obwohl auch diese beeinflußt waren — davon überzeugt, daß diese aus- 
geprägtesten aller weiblichen Eigenschaften wirklich einem männlichen 
Körper anhafteten.“ 


Ja Brandes ging noch weiter, er dehnte die Versuche auch 
auf höher stehende Tiere aus, so auf Damhirsche und zog als 
Direktor des Zoologischen Gartens in Dresden bereits Löwen 
in Betracht, wurde darin aber durch den moralistisch be- 
einflußten Aufsichtsrat gestört, da ja leider die Wissenschaft 
im Gegensatz zur Religion nur allzuhäufig von ihren Gegnern ° 
abhängig gemacht wird. Über die Erfolge an den Damhirschen 
sagt Brandes: 


„Wir haben den Hoden eines Damhirsches in die Weiche eines 
weiblichen Damtieres eingepflanzt und dessen Eierstöcke herausgenommen 
und diese dann dem Hirsch eingepflanzt. Beide Tiere waren selbst- 
verständlich noch ganz jung. jetzt zeigt sich bereits bei beiden die Um- 
wandlung. Das frühere Weibchen zeigt deutliche Ansätze zu einem 
Geweih, es zeigt den sonst nur den männlichen Tieren eigenen Adams- 
apfel und vor allem fängt es auch an zu springen, wie sonst nur die 
Hirsche tun. Umgekehrt läßt der frühere Hirsch jeden Geweihansatz 
vermissen, ebenso ist von dem Adamsapfel keine Spur zu sehen. 


v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 289 


Dafür sind aber sonderbarerweise schon die Milchdrüsen vorhanden, 
die bei den Weibchen erst entstehen, wenn Junge da sind*).“ 

Es kann also keinem Zweifel unterliegen, daß die 
begleitenden Geschlechtsmerkmale und der Ge- 
schlechtstrieb abhängig sind von Stoffen, die ihren 
Ausgang von den Gechlechtsdrüsen nehmen und, daß 
diese Drüsen in ihren abgesonderten Stoffen von ein- 
ander verschieden sind, so daß die männliche Ge- 
schlechtsdrüse die begleitenden Geschlechtsmerkmale 
im männlichen Sinne entwickeln läßt und den Ge- 
schlechtstrieb auf das Weib einstellt und sich die 
weibliche Geschlechtsdrüse umgekehrt verhält. Ob 
nun die Zwischenzellen oder andere Gewebeteile dieser Ge- 
schlechtsdrüsen die Erzeuger der Sekrete sind, tut an sich 
nichts zur Sache. Brandes sagt dazu: „Da sich bei genauer 
Untersuchung der unter der Haut eingewachsenen transplan- 
tierten Keimdrüsen ergibt, daß sowohl die Samenfäden und ihre 
Bildungszellen, als auch die Eizellen gänzlich zurückgebildet 
werden, daß dagegen das Zwischengewebe und in ihm eine 
besondere Art von Zellen (Leydigsche beim Männchen und 
Luteinzellen beim Weibchen*)) stark wuchern, so kann man 
füglich nicht die Geschlechtszellen selber für die Herkunft der 
Säfte verantwortlich machen, sondern muß auf die vermehrten 
Zwischenzellen zurückgreifen.“ Bekanntlich behaupten die 
Gegner Steinachs, zum Teil, daß die Zwischenzellen dafür nicht 
in Betracht kämen. Wie oben gesagt, ist das für die Grund- 
frage gleichgiltig, übrigens nahm Kammerer von Anfang an, 
daß außer den Zwischenzellen noch andere Gewebeteile be- 
teiligt seien. Jedenfalls aber müssen sie in den Geschlechts- 
drüsen enthalten sein, da andere Teile nicht vertauscht wurden. 

Da nun durch diese Übertragungen auch der Geschlechts- 
trieb anders orientiert, also gleichsam verdreht wird, lag es 
von vornherein nahe, die ganze Frage mit der eingangs er- 
wähnten Lehre von M. Hirschfeld in Verbindung zu bringen, 
d. h. die Frage aufzustellen, ob die sexuellen Zwischen- 
stufen (Zwitterbildungen, Homosexuelle usw.) nicht darin 
begründet seien. Die Versuche haben, wie es eigentlich 
nicht anders zu erwarten war, dem recht gegeben. 

*) Vgl. dazu meine beiden kleinen Schriften: „Zeugung und Werden 
des Menschen“ und „Liebe und Sitte“ in der nächster Tage erscheinenden 


Bibliothek „Das Wissen dem Volke“. 
**) vgl. Aufsatz VII S. 247 und S. 254ff. 


290 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 


Wir müssen daher diese sexuellen Zwischenstufen etwas 
näher betrachten. In Aufsatz VII S. 239 sahen wir bereits, daß 
die ursprüngliche Anlage für beide Geschlechter die gleiche 
ist*), und daß die Trennung erst in den ersten Embryonal- 
monaten stattfindet. Gelingt der Natur nun die Trennung nicht 
scharf und klar, dann muß ein Wesen entstehen, das weder 
ganz rein männlich noch ganz rein weiblich durchgebildet ist, 
also eine „Zwischenstufe“ zwischen den beiden Geschlechtern 
einnimmt. Diese Unklarheit kann nun sowohl inbezug auf die 
Geschlechtsteile als inbezug auf die begleitenden Geschlechts- 
merkmale**) oder aber inbezug auf den Geschlechtstrieb ge- 
bildet sein. Daß so zahllose Varianten entstehen können ist 
klar. Wir wollen nur die hauptsächlichsten Typen heraus- 
greifen***) und sehen, ob sie in Einklang mit den Forschungen 
Steinachs, Brandes und Hirschfelds zu bringen sind, die wir 
eben skizziert haben. 

Da wir also gesehen haben, daß sowohl die sekundären 
(begleitenden) Geschlechtsmerkmale als der Geschlechts- 
trieb beeinflußt wurden, dürfen wir erwarten, daß wir beim 
Menschen ebensolche Störungen vorfinden. Nun sind die 
vorhin gekennzeichneten Versuche aber alle mit bereits voll 
entwickelten Tieren gemacht worden, deren primäre Ge- 
schlechtsmerkmale (Geschlechtsteile) zur Zeit des Versuches 
bereits angelegt waren. Wären wir in der Lage, die Versuche 
schon an einem Tiere im frühen Embryonalstadium vor- 
zunehmen, also zu einer Zeit, wo die Geschlechtsteile noch 
nicht nach männlich und weiblich verschieden sind, dann stünde 
zu erwarten, daß auch die Durchbildung der Geschlechtsteile 
selbst beeinflußt würde. Und tatsächlich treten bekanntermaßen 
bei allen Tieren und so auch beim Menschen Zwischenstufen 
auf, die man Zwitter bezeichnet. Die Erscheinung selbst 
nennt man Hermaphroditismus (von dem griechischen 
Götterpaar Hermes und Aphrodite, deren Kind eine derartige 


*) vgl. auch das oben erwähnte Werkchen „Zeugung und Werden 

des Menschen“, wo sich entsprechende Abbildungen finden. 

**) Siehe das Nähere in „Liebe und Sitte“ (wie oben zitiert). 

+++) Eine genaue Behandlung findet der Leser in Reitzenstein „ - 
haftes Liebesleben“ (in „Das Wissen dem Volke“) und in dem großen 
Werke von Mag. Hirschfeld „Sexualpathologie“. 3 Bde. 1918—1921. Bonn. 
Ferner in Steckel „Störungen des Trieb- und Affektlebens“ (bis jetzt 
4 Bände erschienen). 


v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 291 


Zwitterbildung gezeigt haben soll). Nun liegt natürlich zunächst 
die Frage nahe, gibt es Menschen, bei denen nebeneinander 
sowohl die männlichen als die weiblichen Geschlechts- 
teile so ausgebildet sind, daß das betreffende Wesen 
in einer Person sowohl zeugen als gebären kann. 
Wissenschaftlich nachgewiesen ist ein derartiger Fall ebenso- 
wenig wie der, daß in einem Individuum räumlich getrennt 
sowohl Hoden als Eierstöcke vorkommen. Dagegen finden 
sich Personen, bei denen die Keimdrüse sowohl Hoden- als 
Eierstockgewebe enthält. Auch die Leitungsorgane können 
gemischt sein, vor allem aber die Kopulationsteile. In 
diesem Falle kann es oft selbst für den Arzt unmöglich sein, 
ohne weiteres zu entscheiden, ob ein Kind männlichen oder 
weiblichen Geschlechtes ist. Wer den Aufsatz VII gründlich 
gelesen hat, wird den Entwicklungsgang leicht verstehen können. 
Die hauptsächlichsten Vorstufen dieser Erscheinung liegen in 
drei Momenten. Zunächst entwickelt sich der Geschlechts- 
höcker unklar; er ist größer als eine Klitoris und kleiner als 
ein männliches Glied. Dann aber vor allem bleibt die Aus- 
bildung der Geschlechtsrinne in der Entwicklung zurück. 
Würde das Kind männlich sein sollen, müßte sie, wie wir ge- 
sehen haben, bis auf die kleine Öffnung der Harnröhre an 
ihrer Spitze verwachsen. Geschieht dies nicht, bleibt sie viel- 
mehr einer weiblichen Spalte entsprechend mehr oder minder 
offen, dann trägt dies Moment sehr dazu bei, eine Unklarheit 
zu schaffen. Man nennt solche Fälle Hypospadie (vom 
griechischen hypospao ziehe nach unten, d. h. die Harnröhren- 
mündung). Das dritte Moment ist die Ausbildung des Hoden- 
sackes. Wir sehen, daß er sich aus den Geschlechtswülsten 
entwickelt. Beim weiblichen Geschlechte bleiben sie getrennt, 
polstern sich mit Fett aus und bilden die Geschlechtslippen. 
Beim Manne dagegen werden sie zu hautigen Taschen, die 
unter sich verwachsen und später die Hoden aufnehmen. Es 
kann nun vorkommen, daß das betreffende Individuum zwar 
Hoden besitzt, daß aber weder ein Verwachsen der Geschlechts- 
wülste noch ein Herabsteigen der Hoden stattfindet. Die Hoden 
bleiben im Leistenkanal stecken (Kryptorchismus vom griech. 
krypto verberge und orchis Hoden, also Verborgenhodigkeit). 
Diese drei Entwicklungsstörungen können nun teilweise oder 
sämtlich zu gleicher Zeit vorhanden sein; je mehr sie vorhanden 


292 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 





sind, desto schwerer wird die Entscheidung über das tatsäch- 
liche Geschlecht. Selbstverständlich liegt — abgesehen von 
jenen Wesen, bei denen die Keimdrüsen beiderseits sowohl 
Eierstock als Hodengewebe enthalten, immer ein bestimmtes 
Geschlecht vor, auch wenn es äußerlich nicht erkennbar ist, 
denn männlich ist, was Samenfädchen, weiblich was Eichen 
erzeugt. Es ist klar, daß auch die inneren Organe (Scheide, 
Gebärmutter usw.) unklar entwickelt sein können, so daß oft 
ein Kind als Mädchen oder Knabe erzogen wird, später aber 
eine „Umgruppierung“ stattfinden muß, weil sich das wahre 
Geschlecht bei der Reife zeig. Um diese Verhältnisse klarer 


zu machen, wollen wir einige Beispiele auf Tafel IV anführen. 

Abb. 2 stellt einen m chen Pseudohermaphroditen G.M., 
geboren zu St. Denis bei Paris dar. Die allgemeine Körperbildung 
erscheint weiblich; es ist kein Bart vorhanden, das prächtig entwickelte 
Haupthaar mädchenhaft. Die Brüste sind ebenfalls gut weiblich aus- 
gebildet, ebenso ist Stimme und Becken weiblich. Dagegen erscheint 
ein hypospadischer Penis, der aber nur 2—3 cm (erragiert 4—5 cm) 
lang ist. Hodensack ist getrennt in zwei Taschen, von denen jede 
einen Hoden enthält. Harnröhrenöffnung ist dagegen wieder weib- 
lich. Uterus ist nicht vorhanden. Der Onkel und die „Tante“ waren 
ebenfalls Hermaphroditen. Die „Tante“ lebte als Prostituierte in London, 
verkehrte sowohl mit Männern als mit Weibern und lebte mit einem 
Weib in wilder Ehe. In Wirklichkeit ist „sie“ ein männlicher Zwitter. 
G. M., als Mädchen erzogen, entwickelte vom 15. Jahre ab männlichen 
Geschlechtstrieb, onanierte vom 18. ab und hatte Liebesverhältnisse 
mit jungen Mädchen, mit denen sie aber „aus Angst sich lächerlich zu 
machen“ nicht verkehrte, tat dies aber mit Männern. Die Behandlung 
erfolgte 1906. 

Abb. 3 zeigt einen männlichen Scheinzwitter mit Hypospadie, 
scheinbar äußeren weiblichen Geschlechtsteilen (großen und kleinen 
Lippen). In der linken „Lefze“ fand sich ein normaler Hoden mit 
Nebenhoden und Samenstrang. In der rechten dagegen eine Geschwulst 
mit einer Fistelöffnung. Mit dem 16. Lebensjahr traten aus dieser 
Fistel und der Harnröhre Blutungen auf, die sich alle vier Wochen 
wiederholten und von Kreuzschmerzen begleitet waren. Die Brüste 
waren groß und weiblich. Eine Gebärmutter war vorhanden ünd 
steckte im rechten Leistenkanal. Die Scheide mit einem Hymen 
öffnete sich in die Harnröhre. Prostata und Samenbläschen fehlten. Es 
wurde angenommen, daß die Geschwulst des rechten Hodensackes aus 
einem Eierstock hervorgegangen wäre. Leider wurde dies nicht näher 
untersucht. Wir hatten dann den Fall eines wirklichen Zwitters. Der 
Patient starb nach der Operation durch Billroth. 

Abb. 4 weiblicher Scheinzwitter nach Fibiger. War zur Zeit 
der Behandlung 47 Jahre und lebte als verheirateter Gartenaufseher. 
Er war Vater von drei Kindern, die allerdings nicht von ihm stammten. 
Der Penis war klein und zeigte Hypospadie, während der Hoden- 
sack leer war. Die Prostata war gut entwickelt und die Scheide 
mündete in den prostatischen Teil der Harnröhre. Die Gebärmutter 





v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 293 


war 51, cm lang. Jeder Eileiter hatte eine Länge von 10 cm und be- 
saß eine Hydatide, einen Nebeneierstock und einen Eierstock. 
Die Kehlkopfbildung war im allgemeinen weiblich, dagegen das 
Becken männlich. Er selbst hielt sich zeitlebens für einen Mann und 
besaß, obwohl er Weib war, starken männlichen Geschlechtstrieb. 

Abb. 5. Echter Zwitter, behandelt von Prof. Garr& 1903 in der 
Königsberger Klinik. Es war ein 20jähriger „Mann“, der von Anfang 
an als Knabe erzogen war und sich entschieden als Mann fühlte. Trotz- 
dem bildeten sich schon frühzeitig Brüste aus. Allmonatlich trat bei 
geringen Kreuzschmerzen eine mehrtägige Blutung aus den Genitalien 
auf. Der Penis war 4 cm lang, und war ebenso wie der Hodensack 
gespalten. Die Harnröhrenöffnung lag dazwischen. Sonst zeigten 
sich deutlich männliche und weibliche Charaktere gemischt; so 
waren Bauch und Becken weiblich, ebenso die Beine, die Arme waren 
männlich gebildet, die Geschlechtsbehaarung dagegen wieder weiblich. 
Lippen waren angedeutet. Garré vollzog nun auf der rechten Seite einen 
Bauchschnitt. Es zeigte sich ein 7 cm langer Eileiter mit Fimbrien, 
daneben lag ein umgebogener Wulst, der sich als Nebeneierstock 
entpuppte. Dann folgte die große Zwitterdrüse (Ovotestis), die aus 
einem großen rundlichen Teil, der Hodengewebe und einen ihm auf- 
sitzenden kleinen Teil, der Eierstockgewebe enthielt, bestand. Rechts 
davon am Rand des Schnittes ist der Nebenhoden gerade noch sicht- 
bar (Mitte der dunklen Stelle). Das Eierstockgewebe ist typisch und 
enthielt gut entwickelte Follikeln. Der untersuchte Teil des Hoden- 
gewebes war nicht funktionsfähig und enthielt keine Samenfädchen. 
Der Uterus war einfach. Garré vermutet, daß links ein Eierstock und 
ein Hoden gelegen sei. Ein sehr interessantes Gesamtbild gibt Tafel 1. 


Neben diesen Zwitterformen erscheinen aber auch Formen 
von Zwischenstufen, bei denen die eigentlichen Geschlechts- 
teile mehr oder minder normal gebildet sind, die sekundären 
Merkmale aber nach dem anderen Geschlecht neigen. Man 
nennt solche Fälle Androgynie (von griech. aner genitiv 


andros = Mann und gyne = Weib) oder Mannweibigkeit. 
„Was wir an dem Weibe weibliches bewundern, sagt schon Virchow, 
ist nur eine Dependenz des Eierstockes. Man nehme ihn weg, und das 
Mannweib in seiner häßlichen Halbheit, den großen Formen, den starken 
Knochen, dem Schnurrbart, der rauhen Stimme, der flachen Brust, dem 
mißgestalteten, selbstsüchtigen Gemüt und dem schroffen Urteil steht vor uns.“ 


Es ist eine Störung der inneren Sekretion der Geschlechts- 
drüsen. Die Mehrzahl unserer Frauenrechtlerinnen gehört 
in diese Gruppe. Ihr steht der verweiblichte Mann mit 
seinen weiblichen Formen, seiner Urteilsschwäche und seiner 
Unterordnung gegenüber. Die Erscheinung tritt ein, wenn die 
Hoden verkümmert sind, der Penis klein und das Becken breit 
ist. Gewöhnlich ist hohe Stimme und Bartlosigkeit damit ver- 
bunden. In beiden Fällen kann die Grundlage in krank- 
haften Veränderungen der Geschlechtsdrüsen (besonders 
Hoden- und Eierstockgeschwülsten) beruhen. Beim Weibe 


294 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 


bringt das Klimakterium, d. h. das Aufhören der Menstruation 
ähnliche Erscheinungen mit sich, beim Manne die Kastration, 
d. h. die Wegnahme der Hoden. Eine besondere Form ist der 
Transvestitismus (von lat. trans hinüber und vistis das Kleid), 
d. h. der Trieb die Kleidung des anderen Geschlechtes 
zu bevorzugen. Sie erregen oft die Aufmerksamkeit der Polizei, 
weil man gewöhnlich zunächst an eine (zum Zweck eines Ver- 
brechens oder zur Unkenntlichmachung) beabsichtigte Verklei- 
dung, nicht aber an die unschuldige Triebäußerung eines 
anormal veranlagten Menschen denkt. Vor allem aber gehört 
hierher die Homosexualität, d. h. das gleichgeschlechtliche 
Empfindungsleben oder wie man auch sagt die „konträre 
Sexualempfindung“. Welch große Bedeutung die Frage der 
Homosexualität in unserem Staatsleben hat, wissen wir alle. 
Die Betätigung dieser Geschlechtsempfindung ist bekanntlich 
nach verschiedenen europäischen Gesetzen schwer strafbar. 
Während einige Staaten sie nämlich straflos lassen und dabei 
sehr gut fahren, bestraft Österreich beide Geschlechter, Deutsch- 
land merkwürdigerweise nur das männliche. Es herrscht in 
unseren Gesetzen noch immer die veraltete auf religiösen Grund- 
sätzen ruhende Ansicht, daß homosexuelle Betätigung eine 
Verkommenheit, eine Folge von Degeneration sei, während die 
Wissenschaft nachgewiesen hat, daß sie auf einer Natur- 
veranlagung, d.h. eben auf einer Störung der inneren Sekretion 
beruht. Es wirken hier nämlich sowohl die männlich als die 
weiblich einstellenden Sekrete und es liegt in der Natur der 
Sache, daß der Prozentsatz dieser Sekrete ein verschiedener 
sein kann. Ein gewisser, wenn auch ganz leichter Einschlag 
der Empfindung des andern Geschlechts ist wohl bei den 
meisten Menschen vorhanden, er wird aber durch die mächtig 
überragende eingeschlechtliche Veranlagung unterdrückt. Ist 
jedoch der Einschlag des andern Geschlechts etwas stärker, 
dann ist maßgebend, welche Jugendeindrücke mitwirken. Die 
erste geschlechtliche Erregung (Ekphorie) in der Rich- 
tung der schwächeren Veranlagung kann diese stärken, so daß 
sie weiterhin bestimmend wird. Es kann so auch ein zeit- 
weiliges Überwiegen der einen oder anderen Empfindungs- 
richtung auftreten. Ist dagegen in einem Menschen die Trieb- 
richtung im Sinne des anderen Geschlechtes stärker, dann 
besitzt er eben das Empfindungsleben seines eigenen Ge- 


v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 295 


schlechtes gar nicht, er ist chemisch im Sinne des andern 
Geschlechtes orientiert. Immer liegt aber eine bestimmte 
angeborene Störung zugrunde, die nicht vom Willen des Einzelnen 
„abhängig ist, sowenig wie etwa die Farbenblindheit. Für diese 
Veranlagung kann also der Mensch nichts*). Die Betätigung 
seines Geschlechtslebens ist aber denselben Gesetzen unter- 
worfen, wie das der normal veranlagten Menschen, sie ist ab- 
hängig von der Stärke der Erotisierung einerseits und der 
Hemmungen andererseits. 

Kehren wir jetzt zu Steinach zurück. Er setzte nun einem 
noch ganz jungen Meerschweinchen, das er vorher durch 
Kastration „ungeschlechtlich“ gemacht hatte, sowohl einen 
Hoden als einen Eierstock ein und es entstanden Zwitter- 
bildungen, in denen männliche und weibliche Eigenschaften 
vereint waren. Samenbildungszellen und Eifollikel waren stark 


rückgebildet. Steinach sagt dazu: 

„Aber nicht allein die somatischen (körperlichen) Merkmale, sondern 
auch die psychischen (geistigen) Geschlechtsmerkmale stehen unter dem 
Einfluß der Zwittrigkeit.“ 

Die Hormone verstärkten bald die männlichen, bald die 
weiblichen Empfindungen. Man ging nun an die Unter- 
suchung der Keimdrüsen von Zwittern und Homosexuellen. 
An der Keimdrüse eines Ziegenzwitters, der äußerlich weiblichen 
Geschlechtes war, aber männliches Empfindungsleben bekundete, 
zeigte Steinach, daß das Sexualgewebe in rückgebildetem Zu- 
stand, die Zwischenzellen aber sehr stark gewuchert und von 
beiden Geschlechtern vorhanden waren. Steinach nennt die 
weiblich orientierenden Zellen „F-Zellen“. Auch in den Hoden 
Homosexueller behauptet Steinach, beide Arten von Zellen ge- 
funden zu haben — was allerdings von anderen bestritten 
wird**) — es ist wieder die Frage, ob die Zwischenzellen die 
Erzeuger der geschlechtlich orientierenden Sekrete sind. Nun ist 
aber besonders wichtig, daß auch der umgekehrte Weg ge- 
lungen ist. Lichtenstern, der chirurgische Mitarbeiter Steinachs 
und Mühsam, der bekannte Berliner Chirurg, konnten nämlich 
in Kastraten durch Übertragung von Hoden anderer, die 
~») Selbstverständlich existieren auch Fälle, in denen absolute Degene- 
ration — die sich dann aber auch anderwärts zeigt — eine pseudo- 
homosexuelle Betätigung entstehen läßt. Auch der Mangel an Frauen 
(in Gefängnissen, Schiffen) kann solche Formen hervorrufen. Dies hat 


mit wahrer Homosexualität nichts zu tun. 
**) Siehe oben den Aufsatz von Prange S. 270 ff. 


296 v. Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 





geschlechtlichen Funktionen wieder wecken. Man muß dabei 
jedoch beachten, daß man Hoden anderer nicht leicht bekommt. 
Gewöhnlich sind es Hoden von Menschen, die mit Krypt- 
orchismus behaftet sind, bei denen die Hoden also im Leisten-. 
kanal stecken geblieben sind und schließlich entfernt werden 
müssen. Solche Hoden sind aber meist, wie wir gesehen 
haben, nicht ganz normal gebildet. Dies erklärt, daß die 
Versuche nicht immer voll und ganz gelingen. Weiterhin haben 
nun aber Lichtenstern, Mühsam und der bekannte Berliner 
Chirurg Dr. Stabel diese Operation auch an Homosexuellen 
ausgeführt. Vorzüglich gelang die Operation Lichtenstern an 
einem homosexuellen Manne, dem er seine Geschlechtsdrüsen 
entfernte und ihm dafür den Hoden eines gesunden und 
normal empfindenden Mannes einsetzte. Er wurde in den 
Bauchmuskel eingenäht und heilte da ein. Die weiblichen 
Formen seines Körpers bildeten sich bald zurück, ver- 
wandelten sich in rein männliche und das unnormale Geschlechts- 
empfinden wurde normal. Daß auch hier nicht alle Fälle gleich- 
gut ausfielen, liegt eben wieder an der Verwendung des Materials, 
das in gleicher Weise gewonnen wird, wie oben geschildert. 
Es wird berichtet, daß sich in den herausgenommenen Ge- 
schlechtsdrüsen des homosexuellen Mannes zwischen den 
Samenkanälchen, deren Samenbildungszellen teilweise degeneriert 
waren, sowohl Leydig’sche Zellen als F-Zellen fanden; 
diese Zellen wären dann — was eigentlich ganz folgerichtig ist — 
die Ursache der unnormalen Geschlechtsermpfindung gewesen. 
Steinach selbst erklärt den Vorgang mit folgenden Worten: 

„Auch die dauernde oder im individuellen Leben auftretende Homo- 
sexualität läßt sich auf das Vorhandensein einer zwittrigen Pubertäts- 
drüse zurückführen, also wie es Hirschfeld richtig vermutet hat, wenn er 
von der angeborenen Disposition der Homosexualität spricht. Innerhalb 
einer solchen zwittrigen Pubertätsdrüse — nehmen wir den Fall eines 
männlichen Individuums mit scheinbar normalen Hoden — hemmen die 
in Masse überwiegenden männlichen Pubertätszellen, und es entwickelt 
sich zunächst der durchaus männliche Geschlechtscharakter mit all seinen 
körperlichen Merkmalen. Wenn nun früher oder später aus irgend einer 
Ursache die männlichen Zellen in ihrer Lebensfähigkeit zurückgehen und 
ihre innersekretorische Funktion einstellen, so werden die vorhandenen 
weiblichen Zellen durch das Nachlassen der Hemmung aktiviert. Ebenso 
wie dadurch der eine oder andere körperliche weibliche Geschlechts- 
charakter hervorgerufen werden kann und etwa eine Brustdrüse entsteht, 
kann sich der Einfluß auch auf das zentrale Nervensystem allein er- 


strecken, und nun tritt die urnische Neigung (Homosexualität) in die 
Erscheinung.“ 


Geschlecht und Gesellschaft, 
Neue Folge X, 9. 


Tafel I 

















Abb. 2. 


Ein Rattenmännchen gealtert (Abb. 1) und wieder verjüngt (Abb. 2). Nach Steinach: „Verjüngung“, 
Berlin, Jul. Springer 1920. Zu Reitzenstein: „Zum Verständnis der inneren Sekretion“. 


ei N 





“ Friedlaender: Der Geschlechtstrieb des Weibes 297 


DER GESCHLECHTSTRIEB DES WEIBES,. 
Von Dr. med. KURT FRIEDLAENDER. 


W" haben scharf zu trennen zwischen dem Geschlechtstrieb, 
der Libido einerseits und der Geschlechtslust, der Ge- 
schlechtsempfindung, dem Orgasmus andererseits. Die Libido 
entspricht dem von Moll eingeführten Begriff des Kontrektations- 
triebes, das Verlangen nach Herbeiführung des Orgasmus, dem 
Detumeszenztriebe. Magnus Hirschfeld spricht kurz und 
klar von Lust zum Verkehr und Lust im Verkehr. 

Als Geschlechtstrieb wird der dem Weibe (wie dem Manne) 
innewohnende Trieb zum körperlichen Berührungs- und zum 
sexuellen Verkehr mit Personen des entgegengesetzten Geschlechts 
bezeichnet. Das eigentliche Endziel dieses Triebes ist nach 
Kisch nicht „der Trieb zur Mutterschaft“, sondern volle Aus- 
lösung des Wollustgefühls durch Kohabitation mit dem Manne. 

Rohleder definiert den Geschlechtstrieb als das Begehren 
zu geschlechtlichen Handlungen ohne besondere logische Über- 
legung dieser Handlungen und ihrer Folgen. 

Er setzt sich zusammen erstens aus dem Begattungstrieb 
(dem Geschlechtstrieb sensu stricto), der sich in sinnlichem 
Streben nach fleischlicher Vereinigung mit einer Person des 
anderen Geschlechts äußert. Zweitens aus dem Fortpflanzungs- 
trieb, einem nur dem menschlichen Geschlecht anhaftenden 
Verlangen, dem Wunsche, Nachkommen zu erzeugen. Doch 
tritt dieser Trieb auch beim Menschen meist stark in den 
Hintergrund. Der Sexualtrieb setzt sich zusammen aus einer 
zentripetalen Tätigkeit, dem Sexualgefühl, einer Vorstellung im 
Hirn, der zentralen Tätigkeit, und einer zentrifugalen Tätigkeit, 
dem Drange nach sexueller Betätigung. Die Entwicklung des 
Sexuallebens nimmt ihren Anfang aus Organempfindungen der 
sich entwickelnden Sexualdrüsen. Es entwickelt sich nun eine 
gegenseitige Abhängigkeit zwischen Hirnrinde als Entstehungsort 
der Empfindungen und Vorstellungen und den Generations- 
organen. Der psychophysiologische Hergang, welchen der 
Begriff Geschlechtstrieb umfaßt, setzt sich demgemäß nach von 
Krafft-Ebing zusammen: 1. aus zentral oder peripher ge- 
weckten Vorstellungen; 2. aus damit sich assoziierenden Lust- 
gefühlen. Daraus entsteht der Drang zu geschlechtlicher Be- 

20 





298 Friedlaender: Der Geschlechtstrieb des Weibes 


friedigung. Hegar teilt ebenfalls den Geschlechtstrieb in einen 

Begattungstrieb, dem Verlangen nach fleischlicher Vereinigung 

mit einer Person des anderen Geschlechts und in einen Fort- 

pflanzungstrieb, dem Verlangen nach Kindern. Von einem 

Fortpflanzungstrieb kann man bei einem Kulturmenschen kaum 

noch reden. Höchstens ist er bei der Frau noch angedeutet. 

Das Zentralnervensystem ist bei der Entstehung und dem 

Ablauf unserer Geschlechtstätigkeit in hohem Grade beteiligt 

in förderndem und in hemmendem Sinne. Schopenhauer 

nennt den Geschlechtstrieb die vollkommenste Äußerung des 

Wollens zum Leben, mithin die Konzentration alles Wollens. 

Moll hat für die Determinierung des Geschlechtstriebes 
neue Begriffe eingeführt. Er versteht unter dem Kontrektations- 
trieb den Drang, sich einer Person des anderen Geschlechts 
zu nähern, sie zu berühren, zu küssen; unter dem Tumeszenz- 
trieb das Verlangen nach körperlicher Vereinigung und unter 
dem Detumeszenztrieb den Drang, an den Genitalien eine Ver- 
änderung herbeigeführt zu sehen. 

Johanna Elberskirchen spricht etwas laienhaft von 
Liebeskraft, Begattungskraft und Wollustkraft. 

Der heterosexuelle Geschlechtstrieb ist als ein sekundärer 
Geschlechtscharakter zu betrachten, der in ähnlicher Weise 
durch die natürliche Zuchtwahl begründet ist, wie Darwin ' 
es für zahlreiche körperliche Eigenschaften nachwies. 

Trotzdem halte ich für die Definition des Geschlechts- 
triebes die Betonung der Richtung auf das andere Geschlecht, 
wie es fast alle Autoren tun, nicht für wesentlich und erschöpfend. 
Eine tiefergehende weniger äußerliche Einteilung, die auch diesen 
erwähnten Fehler vermeidet, gibt Magnus Hirschfeld. Er 
unterscheidet: 

a) die zentripetale, von den sensorischen Nerven zum Gehirn 
verlaufende sexuelle Eindrucksbahn (Wahrnehmungs- und 
Vorstellungsbahn); 

b) den von der äußeren Sexualreizung, vor allem aber von der 
intrasekretorischen Ladung abhängigen Zentraldrang; 

c) die zentrifugale, vom Gehirn zu den motorischen Nerven 
verlaufende Ausdrucksbahn (sexuelle Trieb- und Handlungs- 
bahnen); 

d) die regulatorischen Hemmungsbahnen (siehe Figur). 


Friedlaender: Der Geschlechtstrieb des Weibes 299 


Hemmungsbahnen 





Ladungsbahnen 
Nach einem Schema von Magnus Hirschfeld. 


Dem zentripetalen Anteil des Reflexbogens entspricht die 
Triebrichtung, dem zentralen die Triebstärke, dem zentrifugalen 
die Triebentspannung, während von der regulatorischen Bahn 
die Triebhemmung abhängt. Diese Einteilung des Geschlechts- 
triebes, dessen Verständnis durch das beigegebene, von Hirschfeld 
entworfene Schema noch erleichtert wird, dringt in das eigent- 
liche Wesen der Libido ein. Besonders durch die Erwähnung 
der Ladungsbahnen ist der Einfluß der inneren Sekretionen 
gekennzeichnet, ohne damit die Bedeutung irgend einer be- 
stimmten innersekretorischen Drüse vorwegzunehmen oder 
einer einzelnen Drüse die alleinige Herrschaft zuzusprechen. 
An der Hand dieses Schemas werden wir auch Störungen des 
Geschlechtstriebes, Abweichen der Triebrichtung, ja auch ein 
scheinbares Fehlen besser verstehen können. 

Eine ebenfalls die innere Sekretion speziell der Keimdrüsen 
in den Vordergrund stellende Definition des Geschlechtstriebes 
gibt Iwan Bloch: „Der Geschlechtstrieb ist eine chemische 
Wirkung des inneren Keimdrüsensekretes und beruht auf einer 
„Erotisierung“ des Zentralnervensystems. Diese Erotisierung 

20* 


300 Friediaender: Der Geschlechtstrieb des Weibes 


ist ausschließlich durch die innere Sekretion der Zwischenzellen, 
der Keimdrüsen bewirkt. Die „Pubertätsdrüse“ bewirkt die 
Erotisierung des Gehirns und des Zentralnervensystems, die 
Änderung und Entwicklung des Geschlechtstriebes in körper- 
licher und geistiger Beziehung“. 

Überblicken wir die Literatur über die Libido, so stoßen 
wir auf grundlegende Verschiedenheiten in der Beurteilung der 
Stärke des männlichen und weiblichen Geschlechtstriebes. Die 
einen Autoren glauben, die Libido des Weibes sei schwächer 
als die des Mannes, die anderen kommen zu einem umgekehrten 
Ergebnis, die dritte Gruppe meint: Männlicher und weiblicher 
Geschlechtstrieb halten sich in ihrer Stärke die Wage. 

Wenden wir uns zuerst zu Kisch, wohl dem besten 
Kenner des weiblichen Geschlechtslebens überhaupt. Nach ihm 
ist der Geschlechtstrieb beim geschlechtsreifen weiblichen 
Individuum stets vorhanden, wenn auch die Stärke desselben 
von individueller Veranlagung, körperlichen und psychischen 
Zuständen, sowie von äußeren Verhältnissen abhängig und seine 
Kundgebung durch die Willenskraft eingedämmt ist. Der Ge- 
schlechtstrieb der jungen Mädchen in der Menarche ist anfänglich 
undifferenziert, nicht auf einen bestimmten sexuellen Akt oder 
einen bestimmten Mann gerichtet. Erst später, zuweilen mit 
dem Eintritt der ersten Menstruation, differenziert sich der 
Geschlechtstrieb auf sexueller Grundlage und das Beispiel von 
Genossinnen ist es zumeist, welches aus dem allgemeinen 
Verliebtsein den leidenschaftlichen Trieb schaff. Wenn auch 
zur Zeit der Menstruation sich ein stärkeres erotisches Empfinden 
bemerkbar macht, so fehlt doch beim menschlichen Weibe die 
Beschränkung des Geschlechtstriebes auf bestimmte Zeiträume 
und die Gebundenheit desselben an die Fortpflanzung. Kisch 
glaubt nicht an einen geringeren Grad des weiblichen Geschlechts- 
triebes im allgemeinen, sondern möchte nur die schwächere 
Ausprägung dieses Triebs beim adoleszenten sexuell unerfahrenen 
Mädchen gegenüber dem geschlechtlich wissenderen Jüngling 
annehmen. Von dem Augenblick an, wo das Weib, sexuell 
vollständig aufgeklärt und schon berührt, sinnliche Anregungen 
empfangen hat, ist dessen Berührungs- und Kohabitationstrieb 
ebenso machtvoll und impulsiv, wie der des Mannes. Zu be- 
rücksichtigen sind freilich die Willensimpulse, denen der 
weibliche Geschlechtstrieb zugänglicher ist. 


Friedlaender: Der Geschlechtstrieb des Weibes 301 


An dieser Stelle möchte ich mir eine kurze Einwendung 
gestatten. Schon das unbewußte Sehnen und Drängen des 
jungen unerfahrenen Mädchens ist bereits eine Äußerung des 
vorhandenen Geschlechtstriebes, nicht erst eine Vorstufe. 
Wenn er noch undifferenziert ist, so ist dieses eine Schuld der 
mangelhaften oder zu spät einsetzenden sexuellen Aufklärung. 
Diese Aufklärung, sei sie theoretisch oder praktisch, kann die 
Triebrichtung auf ein bestimmtes Individuum fixieren, niemals 
aber wird sie den Geschlechtstrieb „wecken“. In diesem Punkte 
befinde ich mich hinsichtlich der normalen Frau in voller Über- 
einstimmung mit Johanna Elberskirchen, wenn sie sagt: „der 
auf den Mann gerichtete Geschlechtstrieb kann unabhängig 
von jeder Erfahrung, unabhängig von der Begattung, also ehe 
überhaupt die erste Begattung statthatte, bestehen“. Sie fährt 
fort: „Treffen wir beim Weibe auf einen mangelhaften oder 
krankhaften Geschlechtstrieb, so müssen wir daraus schließen, 
daß diese Erscheinungsform nicht die dem Weibe grundsätzlich 
eigentümliche Form des Geschlechtstriebes ist, nicht die normale, 
sondern eine kulturell gegebene abnorme Form, bedingt durch 
mangelhafte, krankhafte Einflüsse der Kultur- und Entwicklungs- 
bedingungen. Der Geschlechtstrieb der Frau äußert sich unter 
annähernd natürlichen Verhältnissen möglichst befreit von 
kulturellem Ballast in befriedigender Form und läßt keine 
Mangelhaftigkeit und Krankhaftigkeit erkennen.“ 

A. Eulenburg tritt ebenfalls der Sexual-Anästhesie des 
Weibes als einer normalen Erscheinung entgegen. Bei den 
„femmes de glace“*) ist anzunehmen, daß es sich um neuro- 
pathische Naturen handelt oder um eine Art von psychosexueller 
Entwicklungshemmung, um sexuellen Infantilismus. 

Sehr ausführlich äußert sich Rohleder über die Stärke 
des weiblichen Geschlechtstriebes im Vergleich mit der des 
Mannes. Nachdem er früher selbst den Sexualtrieb des Weibes 
für einen durchschnittlich schwächeren gehalten hat, ist er nach 
weiteren Erfahrungen zu der Ansicht gekommen, daß der Ge- 
schlechtstrieb bei beiden Geschlechtern ungefähr der gleiche ist, 
daß die Annahme, derselbe sei beim weiblichen Geschlecht 
schwächer, herrührt von der größeren diesbezüglichen Reser- 
viertheit des weiblichen Geschlechts in der Sexualanamnese.**) 


*) Kalten Naturen. 
*) Anamnese — Vorgeschichte der Krankheit. 


302 Friediaender: Der Geschlechtstrieb des Weibes 


„Schon vom physiologischen Endzwecke des Sexualtriebes aus 
betrachtet, ist es nicht einzusehen, warum die Natur bezüglich 
der Stärke des Triebes das eine Geschlecht vor dem anderen 
weit vorgezogen haben sollte. Nicht in der Stärke, sondern 
in der Art, dem Wesen variiert der Geschlechtstrieb bei beiden 
Geschlechtern. Das ist m. E. der Fundamentalsatz. Der Ge- 
schlechtstrieb ist bei beiden Geschlechtern außerordentlich 
variabel innerhalb der verschiedensten Grenzen, sich richtend 
in erster Linie nach der Veranlagung, dann aber besonders 
nach der Ernährung, dem Klima und verschiedenen anderen 
mehr oder weniger großen kulturellen Einflüssen, ganz besonders, 
wie bekannt, dem Alter“. „Es ist im allgemeinen schwer, die 
Stärke des Geschlechtstriebes eines Menschen zu bestimmen, 
ganz unmöglich das Aufstellen gleichsam einer feststehenden 
Skala, eines Schemas der Stärke des Sexualtriebes, denn der 
Geschlechtstrieb ist das differenzierteste und variabelste Ding, 
das überhaupt in der Welt existiert“. 

In diesem Zusammenhang sind die Ansichten des Philo- 
sophen Weininger erwähnenswert, der neben manchem 
Richtigen viel stark Anfechtbares bringt. Sicher falsch ist seine 
Behauptung, daß beim Weibe ein eigentlicher Detumeszenztrieb 
überhaupt nicht vorhanden ist; daß der Kontrektationstrieb die 
größte, weil alleinige Rolle spiele. Ohne Hervorhebung dieser 
zwei analytischen Momente, des Kontrektationstriebes und des 
Detumeszenztriebes findet er in der Stärke des Begattungs- 
triebes (d. h. der Libido) keinen Unterschied zwischen den 
beiden Geschlechtern. 

Nachdem wir nunmehr gelernt haben, den Geschlechtstrieb 
nach anderen Gesichtspunkten zu zergliedern, werden wir mit 
dieser allgemein gehaltenen Feststellung nicht mehr viel be- 
ginnen können. Dagegen muß ich es als richtig anerkennen, 
wenn er jenen Unterschied in der verschiedenen Intensität des 
Sexualtriebes zu finden sucht. „Man hüte sich also vor einer 
Verwechslung der Häufigkeit des sexuellen Begehrens und der 
Stärke der sexuellen Affekte mit der Breite, in welcher geschlecht- 
liche Wünsche und Besorgnisse den männlichen oder weiblichen 
Menschen ausfüllen. Bloß die größere Ausdehnung der Sexual- 
sphäre über den ganzen Menschen bei W(eibe) bildet einen 
spezifischen Unterschied von der schwersten Bedeutung zwischen 
den geschlechtlichen Extremen“. „W ist nichts als Sexualität, M 


Friedlaender: Der Geschlechtstrieb des Weibes 303 


ist sexuell und noch etwas darüber. Die Frau ist nur sexuell, 
der Mann ist auch sexuell“. „Der Geschlechtstrieb ist beim 
Weibe immer vorhanden, beim Manne ruht er immer längere 
oder kürzere Zeit. Daraus erklärt sich auch der eruptive 
Charakter des männlichen Geschlechtstriebes, der diesen soviel 
auffallender erscheinen läßt als den weiblichen und zur Ver- 
breitung des Irrtums beigetragen hat, daß der Geschlechtstrieb 
des Mannes intensiver sei als der des Weibes. Der wahre 
Unterschied liegt darin, daß für M der Begattungstrieb so- 
zusagen ein pausierendes Jucken, für W ein unaufhörlicher 
Kitzel ist“. 

Gerhard Hahn findet ebenfalls keinen Unterschied in 
der Stärke des Sexualtriebes zwischen Mann und Weib. 

Hamm behauptet, daß ein der Selbstbefriedigung nicht 
ergebenes Mädchen bei Beginn der Geschlechtsreife ohne jede 
Reizung durch einen Mann von innen heraus sinnliche An- 
wandlungen örtlicher und seelischer Art hat, die, wenn keine 
Selbstbefriedigung eintritt, in regelmäßigen Zwischenräumen von 
drei (?) Tagen eine Traumentleerung übermäßig gespannter 
Schleimdrüsen auslösen. Ich zitiere den Autor hier nur, weil auch 
nach seiner Ansicht die Sinnlichkeit gesunder Jungfrauen, d.h. 
die Libido, spontan ohne jede Reizung und Verführung auftritt. 

Havelock Ellis schreibt zur Psychologie des normalen 
Geschlechtstriebes: „Die Passivität der Frau in der Liebe ist 
die Passivität des Magneten, der in seiner anscheinenden Un- 
beweglichkeit das Eisen an sich heranzieht. Eine starke Energie 
liegt hinter einer solchen Passivität; das zu erreichende Ziel 
ist vorher bestimmt. Wenn der Geschlechtstrieb richtig geweckt 
wird, kann über seine Stärke bei normalen und gesunden 
Frauen kein Zweifel herrschen. Er ist komplizierter, tritt weniger 
leicht spontan hervor, ist häufiger der äußeren Anregung bedürftig 
als beim Manne. Er entwickelt sich erst nach Beginn des 
regelmäßigen Geschlechtsgenusses zu seiner vollen Stärke.“ 
Um noch eine Frau zu zitieren, da eigentlich die Frauen für 
die Beurteilung des weiblichen Sexualtriebes am kompetentesten 
sein sollten, nenne ich Helene Stöcker, die eine geringere 
Ausbildung der weiblichen Libido entschieden leugnet. „Bei 
den Wilden würde man den als einen in Sachen der Liebe 
ungebildeten und rohen Menschen einfach auslachen, der an 
einen Prozentsatz von 25 bis 30°/, frigider Frauen glaubt“. 


304 Friedlaender: Der Geschlechtstrieb des Weibes 


Damit deutet gleichzeitig Helene Stöcker einen Vorwurf an, 
der sehr berechtigt einem großen Teil aller Untersuchungen 
und daraus sich ergebenden Schlüssen zu machen ist, nämlich 
daß die meisten Ergebnisse an Frauen gewonnen sind, die 
starken kulturellen Einwirkungen ausgesetzt sind, speziell den 
Einwirkungen der Großstadt. Wir bekommen schon ein ganz 
anderes Bild, wenn wir unsere Beobachtungen auf dem Lande 
anstellen. Ich zitiere hier Placzek: „Auf dem Lande, wo wir 
viel natürlichere Verhältnisse vorfinden, wo die kulturellen 
Hemmungen wegfallen und künstliche, sinnliche Anreize nicht 
mitwirken, ist die Sinnlichkeit des weiblichen Geschlechtes, 
nach Schilderungen C. Wagners, mindestens ebenso groß wie 
die des männlichen Geschlechtes, „ja vielfach sind es die 
Mädchen, die die Burschen zum Geschlechtsgenuß an sich 
locken und die Knechte in deren Schlafräumen und oft schon 
in deren Betten erwarten.“ 


Die reinsten Resultate würden wir erhalten, wenn es ge- 
länge, bei der Verwertung unserer Untersuchungen und Er- 
fahrungen diese kulturellen Einflüsse in Abzug zu bringen oder 
die Frauen unter möglichst natürlichen und physiologischen 
Bedingungen zu beobachten. Vorläufig wird dies aus leicht 
erklärlichen Gründen eine ideale, d. h. eine kaum erreichbare 
Forderung bleiben müssen. Wir werden aber aus dieser Be- 
trachtung einen gewissen Nutzen ziehen, wenn wir unter diesen 
Gesichtspunkten die Urteile derjenigen Autoren betrachten, die 
sich über die größere oder geringere Stärke des weiblichen 
Trieblebens äußern. 


In einen direkten Gegensatz zu Johanna Elberskirchen und 
Helene Stöcker setzt sich Margarete Kossack. Nach ihrem 
Urteil ist das Weib von Hause aus nicht nur viel weniger 
sinnlich als der Mann, sondern noch viel weniger als er glaubt- 
Aber das Sexuelle im engsten und weitesten Sinne nimmt in 
ihrem Dasein einen ungleich größeren Raum ein als in dem 
seinen, und das zwar im umgekehrten Verhältnis seiner Sinne. 
„Auch damit irrt man sich, das man immer annimmt, der Ge- 
schlechtstrieb äußere sich bei Eintreten der Geschlechtsreife 
wie beim Jüngling ganz von selbst. Er erwacht erst beim 
Zärtlichkeitsaustausch mit dem Manne.“ 


Sehr wertvolle Beiträge zur Sexualpsychologie des Weibes 


Friedlaender: Der Geschiechtstrieb des Weibes 305 


hat in allerjüngster Zeit Max Marcuse veröffentlicht: „Der 
allgemeinen Beobachtung des Lebens offenbaren sich Mann 
und Weib als Gegensätze, die gerade das sexuelle Wollen, 
Empfinden und Urteilen in geschlechtsspezifischer Weise be- 
stimmen. Die bestimmenden Unterschiede stellen sich dem 
Psychologen und Sexuologen etwa folgendermaßen dar: Be- 
herrschung der männlichen Geschlechtlichkeit durch den Detu- 
meszenztrieb, der weiblichen durch den Kontrektationstrieb, 
Getrenntheit oder doch Trennbarkeit des Geschlechts- vom 
Liebeskomplex beim Manne gegenüber ihrer Einheit bei der 
Frau, Episodenhaftigkeit und Untiefe des männlichen, Dauer- 
und Tiefenwirkung des weiblichen Sexualerlebnisses. Meist 
Frauenrechtlerinnen oder Künstlerinnen behaupten, daß der 
Drang nach geschlechtlicher Entladung beim Weibe ebenso 
groß sei wie beim Manne und betonen auch ein sexuelles 
Variationsbedürfnis der Frau.* 

Die Zusammenstellung von Frauenrechtlerinnen und Künst- 
lerinnen, also von Frauen, die nach der Hirschfeldschen 
Zwischenstufentheorie einen männlichen Einschlag zeigen, soll 
die Behauptung Markuses stützen, daß, da beim Manne der 
Detumeszenztrieb vorherrsche, bei diesen Frauen der Drang 
nach geschlechtlicher Entladung die männlichen Komponente 
verrate, also unweiblich sei. Ich kann den Ausführungen 
Markuses nur bedingt zustimmen. 1. Ich glaube, daß den 
Frauen sicher ein starker Detumeszenztrieb zuzugestehen ist 
und zwar ein Detumeszenztrieb, der in coitu seine Entspannung 
sucht und nicht seine Lösung im Geburtsakt finden soll, wie 
es in hypothetischer Künstelei zu deuten versucht wird. 2. Die 
Annahme einer Episodenhaftigkeit und Untiefe des männlichen 
Sexualerlebnisses im Gegensatz zum weiblichen muß ich be- 
streiten. 3. Eine Trennbarkeit des Geschlechts- vom Liebes- 
komplex ist beim Manne durchaus nicht ausgesprochener wie 
bei der Frau. Diese Differenzen, die natürlich durch Beobachtung 
zahlreicher Einzelfälle aufgestellt sind, sind kulturbewirkt, nicht 
naturgegeben. Die Einflüsse der Kultur auf das weibliche 
Sexualleben müssen andere sein wie beim Manne, müssen bei 
der Frau stärkere Hemmungen auslösen, eben wegen der Ge- 
fahren und Folgen, die ein Sexualerlebnis für sie hat. Natur- 
gegeben ist de Monogamie für Mann und Frau. Schon 
rein vom teleologischen Gesichtspunkte aus: Die Monogamie 


306 Friedlaender: Der Geschlechtstrieb des Weibes 


bietet die beste Gewähr, ja vielleicht die einzige für die sach- 
gemäße Aufziehung der Kinder.*) 

Max Dessoir glaubt, daß der Geschlechtstrieb in der 
Jugend undifferenziert sei, nicht auf ein bestimmtes Geschlecht 
gerichtet. Er behauptet, daß das sexuelle Verlangen bei der 
Frau weniger mächtig sei als beim Manne. Freilich gibt er 
eine stärkere Bedürftigkeit zur Zeit der Menses zu. 

Lombroso hält die Frauen für kälter und den Geschlechts- 
trieb für weniger stark. „Die Liebe des Weibes ist im Grunde 
nichts als ein sekundärer Charakter der Mutterschaft und alle 
Gefühle der Zuneigung, die eine Frau an den Mann fesseln, 
entstehen nicht aus sexuellen Impulsen, sondern aus den durch 
Anpassung erworbenen Instinkten der Unterwerfung und Hin- 
gabe (?)“. Lombroso hält die Liebe für die wichtigste An- 
gelegenheit im Leben der Frau. Der Grund hierfür liegt aber 
nicht in der Erotik, sondern in dem Wunsche nach Befriedigung 
des Mutterinstinktes. „Das Weib hat weniger Erotik und mehr 
Sexualität. Das ist im Grunde dasselbe, was Rohleder von der 
Stärke und Breite des Geschlechtstriebes sagt. Ich möchte zur 
Erläuterung einen Vergleich aus der Elektrizitätslehre anführen: 
Der Geschlechtstrieb des Mannes mißt mehr Volt, der des 
Weibes mehr Amp£res“. 

Hegar hält den Geschlechtstrieb des Mannes für stärker. 
„Die natürliche Neigung des Weibes zur physischen Liebe ist 
im allgemeinen, von Ausnahmen natürlich abgesehen, nicht sehr 
groß.“ Die gleiche Ansicht vertritt Litzmann. „Der Ge- 
schlechtstrieb ist bei der Frau im allgemeinen weniger rege 
als bei Männern“. 

Löwenfeld meint, die Libido fehle gänzlich bei jungen 
Mädchen vor der Pubertät und bei alten Frauen. (Auch Kisch 
hat diese Stelle mit einem Fragezeichen versehen müssen). Bei 
einem nicht unerheblichen Teile der Mädchen bleibt dieser 
Zustand auch nach der Pubertät bestehen, so lange sexuelle 
Reizungen irgendwelcher Art von ihnen fernbleiben; bei vielen 
Frauen ändert sich dieser Zustand auch nicht nach der Ein- 
leitung des Geschlechtsverkehrs. 


*) Wenn Friediaender mit „naturgegeben“ eine von Natur aus im 
Menschen liegende Veranlagung zur geschlechtlichen Verbindung mit 
einem Weibe meint, können wir ihm nicht beistimmen. Daß sie natür- 
lich die beste Gewähr für die Erziehung ist, ist klar. Sie sollte die reifste 
kulturelle Frucht der Verbindungen sein, (Die Schriftleitung.) 


Friedlaender: Der Geschlechtstrieb des Weibes 307 


Erb spricht jugendlichen und jungfräulichen Individuen 
ebenfalls einen geringen Sexualtrieb zu; erst nach Beginn des 
Geschlechtsverkehrs wachsen die sexuellen Bedürfnisse. 

Nach Hammonds ist ebenfalls beim weiblichen Ge- 
schlecht der Geschlechtstrieb geringer als beim männlichen. 
Mangel der Libido kann bedingt sein durch völliges Fehlen oder 
unvollkommene Entwicklung der Clitoris (!). Fehlt der Sexual- 
trieb, ohne daß eine Ursache nachgewiesen ist, so spricht Ham- 
monds von einem angeborenen Fehlen des Geschlechtstriebes. 

Roubaud bestreitet diesen Zustand von Frigiditas organica 
idiopathica; er hat solche Fälle weder selbst beobachtet, noch 
bei anderen Autoren verzeichnet gefunden. Die beiden von 
Hammonds angeführten Fälle zumindest zwingen uns, der 
Ansicht Roubauds beizutreten. Die eine Patientin hatte angeblich 
keine Libido, aber allmählich entwickelte sich doch sexuelles 
Verlangen. Bei der zweiten Patientin fehlte Libido und Orgasmus, 
zuweilen war sie aber durch den Akt „angenehm erregt“. Diese 
nunmehr zwanzig Jahre zurückliegenden Beobachtungen sind 
wohl nicht mit der nötigen Schärfe und Exaktheit angestellt, 
um daraus wirkliche Schlüsse auf die Stärke des weiblichen 
Trieblebens ziehen zu können. Ich erwähne diese Beobachtungen 
wesentlich deshalb, um zu zeigen, wie so oft auf Grund un- 
bestimmter, unexakter und unzuverlässiger Angaben feste Urteile 
gebildet werden. Vielleicht ist auch unter diesem Gesichtspunkt 
die Ansicht von Reinhold Günter zu verstehen, der die 
sexuelle Unempfindlichkeit und Gileichgiltigkeit der Frau als 
den natürlichen (!) Zustand ansieht. Hätte Günter recht, wäre 
die geschlechtliche Gefühlslosigkeit der Frau „natürlich“, dann 
wäre die Welt zu bedauern, dann wäre, so glaube ich, ein 
großer Teil der Kulturgüter, wohl der beste, ungeschaffen ge- 
blieben. Das müßte eine sonderbare Natur sein, die die Rollen 
so jämmerlich verteilt hätte. 

Noch weiter geht H. Fehling, der sogar das Hervortreten 
des sexuellen Elements in der Liebe eines jungen Mädchens 
für etwas Pathologisches hält. 

Mehr der Kuriosität halber zitiere ich Windscheidt: 
„Beim normalen Weibe, besonders dem der höheren Klassen, 
ist der sexuelle Instinkt (gemeint ist wohl die Libido) erworben, 
nicht angeboren. Wo er angeboren ist oder von selbst erwacht, 
haben wir es mit einer Anomalie zu tun“. Ich will hier nicht 


308 Friediaender: Der Geschlechtstrieb des Weibes 


näher auf diese merkwürdige Anschauung eingehen; es ist leicht, 
die Haltlosigkeit einer derartigen Annahme darzutun. 

Über den weiblichen Geschlechtstrieb und seine Ver- 
minderung, über die mangelhafte Geschlechtsempfindung des 
Weibes verdanken wir O. Adler eine schöne ausführliche 
Monographie. Wenn ich auch in vielen Punkten mit ihm nicht 
übereinstimme, und das ganze Thema unter einem wesentlich 
anderen Gesichtswinkel, speziell dem der inneren Sekretion, 
betrachte, so verdanke ich doch der Lektüre seines Buches 
vielerlei Belehrung und Anregung. O. Adler nimmt an, daß 
der Geschlechtstrieb (Verlangen, Drang, Libido) des Weibes 
sowohl in seinem ersten spontanen Entstehen wie in seinen 
späteren Äußerungen wesentlich geringer ist als derjenige des 
Mannes, daß die Libido oftmals erst in geeigneter Weise geweckt 
werden muß und oft überhaupt nicht entsteht. Diese geringere 
oder verspätete Ausbildung betrachtet er rein teleologisch als 
natürliche Abwehr gegen die Gefahren des weiblichen Ge- 
schlechtslebens.. Diese Abwehr kann auf zweierlei Wegen 
erreicht werden. 1. Der Geschlechtstrieb ist de facto von Hause 
aus absolut wesentlich geringer, bedarf also für sein Erwachen 
und Erwecken weit bedeutenderer und längerer Reize als der- 
jenige des Mannes. 2. Der Geschlechtstrieb ist zwar (latent) 
in gleicher oder ähnlicher Stärke vorhanden, allein er ist ge- 
fesselt, eingeschlossen, gehemmt. Und erst wenn diese 
Hemmung vom geeigneten Partner entweder mühsam in lang- 
samer Arbeit aufgehoben, eventuell auch in besonderen Fällen 
durch einen einzigen treffenden Schlag gesprengt ist, erwacht 
das bis dato kalte und empfindungslose Weib zum Bewußtsein 
des geschlechtlichen Verlangens und Begehrens. Adler glaubt, 
daß beide Momente zugleich — angeborene Schwäche des 
Triebes einerseits, Hemmungen andererseits — je nach der 
Individualität in verschiedenartigster Mischung den Mangel des 
weiblichen Geschlechtstriebes bedingen. Auch nach meiner 
Auffassung sind dies ja die beiden hauptsächlichsten Kompo- 
nenten der weiblichen Impotenz, wie ich an anderer Stelle 
ausführen werde. 

Es muß doch sehr auffallend erscheinen, daß so viele gute 
Beobachter des weiblichen Geschlechtslebens zu so stark von- 
einander abweichenden Ergebnissen kommen. Während, um 
nur einige wenige Autoren noch einmal zu nennen, Kisch, 


Friedlaender: Der Geschlechtstrieb des Weibes 309 


Rohleder und Elberskirchen dem weiblichen Geschlechtstrieb 
eine gleiche Stärke zuschreiben, wie dem männlichen, sind auf 
der anderen Seite Hegar, Löwenfeld, Lombroso und Adler von 
dem geringeren sexuellen Drange der Frau überzeugt. Wie ist 
das zu erklären? Das Material ist wohl bei den Vertretern 
beider Richtungen das gleiche. Die examinierten Frauen 
stammen aus allen Volksschichten und gehören allen Alters- 
klassen an. Bei so erfahrenen Frauenärzten und Sexuologen 
sind beabsichtigte Irreführungen seitens der Frau in der Sexual- 
anamnese auszuschließen. Eine Erklärung für dieses Abweichen 
der Anschauungen scheint mir Bucura zu geben. Er vereinigt 
die einander widersprechenden Urteile auf einer mittleren Linie. 
Er hält den Geschlechtstrieb des Mannes für sekundär, für von 
der Frau induziert, also der Sexualtrieb der Frau wäre das 
primäre, von innen heraus physiologisch bedingt. Die ge- 
schlechtliche Spannung tritt beim gesunden Weibe mit der 
monatlichen Regel ein und ist am stärksten am dritten oder 
vierten Tage, unmittelbar bei oder nach Abschluß derselben; 
in dieser Zeit ist auch die Befriedigung der Geschlechtslust 
am stärksten und wohltuendsten. Aus den Äußerungen schrift- 
stellernder Frauen entnimmt er: 1. Der Geschlechtstrieb tritt 
beim Mädchen ebenso wie die Pubertät und die erste Men- 
struation von selbst auf und braucht nicht erst „geweckt“ zu 
werden. 2. Der Geschlechtstrieb äußert sich in der Pubertät 
unabhängig, später regelmäßig nach der Menstrualblutung. 
3. Im Intermenstruum tritt er kaum je spontan auf. Der Ge- 
schlechtstrieb kann von verschiedenen Seiten her geweckt 
werden, wenn nur das Nervensystem unter der Einwirkung 
der spezifischen Keimdrüsensekretion steht, hauptsächlich durch 
Reize, die von höheren Funktionen des Gehirns ausgehen, 
wie die verschiedenen Vorstellungen, Erinnerungsbilder usw. 
Das Prävalieren der zerebralen Auslösung des Geschlechts- 
triebes und die dadurch entstandenen besseren und stets 
funktionierenden Bahnen der Nervenleitungen erkläre nicht nur 
die stete Bereitschaft und Ausführbarkeit des Geschlechtstriebes 
beim menschlichen Weibe, sondern auch das Weiterbestehen 
des Sexualtriebes beim Menschen nach der Kastration. Ober- 
flächlich betrachtet ist ein Unterschied des Geschlechtstriebes 
zwischen Mann und Weib nicht nachweisbar, bei näherer Be- 
trachtung scheint ein Überwiegen der spezifischen Funktionen 


310 Friedlaender: Der Geschlechtstrieb des Weibes 


der weiblichen Keimdrüse vorhanden zu sein, wodurch eine 
deutliche Periodizität des Geschlechtstriebes in Erscheinung 
tritt. Er fährt dann fort — und ich möchte die Wichtigkeit 
folgender Zeilen betonen. Es ist nicht richtig, eine große Zahl 
frigider Frauen anzunehmen. Es stimmt nur die hohe Zahl 
der Geschlechtsakte, nach denen die Frau kein wirkliches Ver- 
langen und in denen sie keine volle Befriedigung findet, nicht 
weil sie eine geringere Libido hat, nicht weil sie frigider ist, 
sondern weil die Frau zum Geschlechtsakte nur zu bestimmten 
Zeiten disponiert ist, die der Mann nicht berücksichtigt. In 
der Zwischenzeit, abgesehen von äußeren und künstlichen 
Reizen verlangt sie den Geschlechtsverkehr wenig oder garnicht, 
was ihr oft als Frigidität ausgelegt wird. Die Frau ist im 
Annäherungstriebe aktiv, in der Werbung aktiv, in der Zeit des 
Tumeszenztriebes aktiv, aber viel mehr gehemmt als der Mann. 

Auch ich möchte mich in dieser Hinsicht völlig Bucura 
anschließen, nicht von Hause aus einen geringeren Geschlechts- 
trieb des Weibes, sondern eine Disposition und Indisposition 
zum Coitus zu bestimmten Zeiten anzunehmen. Würde es ge- 
lingen, die Männerwelt über diese Zustände aufzuklären und 
auch die Frauen damit vertraut zu machen, so würden wir 
bald zum Resultat kommen, daß die Libido bei beiden Ge- 
schlechtern gleich groß ist; und wir müßten auch hier fragen, 
warum sollte ein so wesentlicher Unterschied in der Triebstärke 
vorhanden sein? Die Frau würde einen Congressus wohl 
stets verweigern, zumal noch er für sie mit gewissen Gefahren 
verbunden ist, wenn nicht auch ihrerseits ein Drang zum 
Manne, ein starkes Verlangen nach der Umarmung vorhanden 
wäre. „Das geringere oder stärkere Hervortreten des geschlecht- 
lichen Elements in der Liebe eines jungen Mädchens ist ein- 
fach naturnotwendig gegeben als Äußerung und Betätigung 
einer normalen Organleistung“ (Elberskirchen). Der Grad, die 
Stärke der Libido ist individuell verschieden. Und ferner ver- 
schieden bei demselben Individuum zu verschiedenen Zeiten. 
Während beim Manne eine wesentliche Steigerung der Libido 
zu irgend einer Zeit nicht beobachtet wird, (vielleicht nimmt 
der Geschlechtstrieb im Frühjahr zu bei den australischen Ur- 
völkern) finden wir beim Weibe eine deutliche Periodizität des 
Geschlechtslebens, die auch von den meisten Autoren anerkannt 
wird, die im engen Zusammenhang mit den Vorgängen im 


Kronfeld: Kurze Übersicht über die Pubertätsdrüsen-Frage 311 


Ovarium steht. Es darf als bekannt vorausgesetzt werden, 
daß unmittelbar post menstruationem, wie auch Bucura hervor- 
hebt, eine Steigerung der Libido und eine leichtere Auslösbar- 
keit des Orgasmus eintritt. Ferner ist bekannt, daß häufig in 
den Wechseljahren zur Zeit der Involution der Keimdrüsen ein 
vermehrter Geschlechtstrieb sich bemerkbar macht. Es darf 
nicht verschwiegen werden, daß Fürbringer neuerdings eine 
Sexualperiodizität des Weibes leugnet „von einer ausnahmslos 
intramenstruellen Steigerung der Libido als endogener Eigen- 
schaft kann keine Rede sein“. 

An anderer Stelle werde ich auf diese Vorgänge und ihren 
Zusammenhang mit der interstitiellen Eierstocksdrüse noch aus- 
führlicher eingehen. 

IK 


KURZE ÜBERSICHT 
ÜBER DIE PUBERTÄTSDRÜSEN-FRAGE. 
Von Dr. med, et phil. ARTHUR KRONFELD, Berlin.*) 


A“ experimentellem Wege hatten zunächst Nußbaum 

und dann insbesondere Steinach, beim Studium der Be- 
dingungen, unter welchen der Umklammerungsreflex brünstiger 
Froschmännchen zustande kommt, einen ursächlichen Zusammen- 
hang zwischen den hormonalen Funktionen der Keimdrüse 
einerseits, spezifischen Erregungszuständen des Zentralnerven- 
systems, insbesondere des Mittelhirns andererseits festgestellt — 
Erregungen, die für das sexuelle Verhalten der brünstigen 
Tiere entscheidend sind. War so der innersekretorische Ein- 
fluß der Keimdrüsen auf das funktionelle Verhalten des 
Organismus in seiner geschlechtlichen Spezifität erwiesen, so 
zeigten die Kastrationsexperimente an Vögeln, welche Foges, 
Pezard, Goodale u. a. m. gleichzeitig ausführten, den forma- 
tiven Einfluß der inneren Sekretion der Keimdrüsen, der sich 
auf die Ausbildung und Differenzierung der sekundären Ge- 
schlechtsmerkmale erstreckte. Die klinischen Erfahrungen, 
welche man über den angeborenen und früher oder später 
erworbenen, ganzen oder teilweisen Geschlechtsdrüsen- 
ausfall gesammelt hatte, wiesen ja bereits seit langem in 
diege Richtung. Jedoch erst die experimentelle Untersuchung 
am Säugetier konnte die näheren Umstände und die Wirkungs- 
breite der innersekretorischen Keimdrüsenfunktion mit voller 


*) Vortrag, gehalten im Ärzte-Verein West-Berlin, am 23. September 1920. 


312 Kronfeld: Kurze Übersicht über die Pubertätsdrüsen-Frage 


Exaktheit analysieren. Sie in geradezu wundervoll syste- 
matischer Weise durchgeführt zu haben, wird das unsterbliche 
Verdienst Steinachs bleiben. Bei der Hochflut von Literatur 
über die Steinachschen Forschungen erübrigt sich ein näheres 
Eingehen darauf; sie sind heute in jedermanns Munde. Es sei 
nur ganz kurz erinnert an seine Rattenversuche aus dem Jahre 
1910, vermittelst deren er die Folgen der Kastration bei jungen 
Tieren durch Autotransplantation*) von Hoden aufhob; es 
sei erinnert vor allem an seine Maskulierungs- und Femi- 
nierungsversuche bei Ratten und Meerschweinchen aus den 
folgenden Jahren. Der Umfang der innersekretorischen Keim- 
drüsenwirkung auf die geschlechtsspezifische Differenzierung 
ist nach diesen Versuchen ein weit größerer, als das vorher 
abgegrenzte Gebiet der sekundären Geschlechtszeichen an- 
nehmen ließ; er umfaßt auch den äußeren Geschlechtsapparat 
selber, er umfaßt nach der anderen Richtung das Gesamt- 
gebiet aller überhaupt vorhandenen geschlechtlichen Differenzen 
im körperlichen Aufbau wie in den Funktionen des Organismus, 
die psychischen einbegriffen. Steinachs Forschungen wurden 
im großen Ganzen von gleichzeitigen oder späteren Experimen- 
tatoren bestätigt, vor allem von Sand, wenngleich andere, wie 
Bucura, so gewaltige formative Kräfte der Keimdrüse bei 
ihren Tranplantations-Versuchen nicht beschrieben. Die In- 
tensität der Wirkung schien in großem Maße abhängig von 
der Entwicklung der Transplantate. So sah Steinach bei 
einigen kastrierien Ratten, denen er ihren eigenen Hoden 
wieder angepflanzt hatte, keine so weitgehende männliche 
Differenzierung, wie bei den eigentlichen Männchen; sie bildeten 
gewissermaßen Zwischenstufen zwischen den Kastraten und 
den Männchen. Wichtiger noch, und für seinen Verjüngungs- 
gedanken grundlegend, wurde die zweite hierhergehörige Be- 
obachtung: daß nämlich die feminierten Männchen und die 
maskulierten Weibchen in ihrer körperlichen und funktionellen 
Geschlechtsumwandlung einen Grad erreichten, der weit über 
denjenigen normaler Männchen oder Weibchen hinausging. 
Es trat ein Plus in der innersekretorischen Trans- 
plantatwirkung ein, gegenüber der gewöhnlichen Keim- 
drüsenwirkung. So lauten einige Zahlen zum Vergleich der 
Gewichte und der Kopflängen: 
Meerschweinchen: 


Normal & Gewicht 980 g Kopflänge 80 mm**) 
Feminierung | Normal 9 „ 808, 72, ; 
Feminiertes & = 516 „ 5 67 


*) Transplantation — Überpflanzung. 
**) 3 — männlich, ? = weiblich. 


Tafel II 





Abb. 2. 


Abb. 1. Sekundäre Geschlechtsmerkmale eines alten Rattenmännchens. 
Abb. 2. Sekundäre Geschlechtsmerkmale eines verjüngten Rattenmännchens 
(Wurfbruder.) Aus Steinach: „Verjüngung“, Berlin, Jul. Springer 1920. 
Zu Reitzenstein: „Zum Verständnis der inneren Sekretion“. 


Tafel II 





-„UON2149S UaJauuI Jap SIupurjssa‘ WNZ“ 


:uiajsuazyoy nZ 0761 Jedunds nf 


upag „Bundunfsaa“ :ydeuls)s YSeN 


-(1075 37 ML OSJIn MM) suaygramuapey Layunfıaa sous uazyz 'Z 'qQAV ‘ssuaypqamuapey Uajlayead sau UZIZ "I 'QQV 


‘Z 'qqy 





Kronfeld: Kurze Übersicht über die Pubertätsdrüsen-Frrage 313 





Normal ? Gewicht 845 g Kopflänge 74 mm 
Maskulierung Normal 3 „ 1002 „ » 8l „ 
Maskuliertes ? „ 1200 „ 5 87 „ 

Worauf beruht diese Steigerung der innersekretorischen 
Transplantatwirkung? Steinach konnte an vortrefflichen 
Bildern zur Histologie der Transplantate dartun, daß ihr gene- 
rativer Anteil, seien es Samenkanälchen oder Eifollikel, sehr 
bald einem Rückbildungsprozeß und völligem Zerfall 
anheimfiel, während eine kompensatorische Wucherung des 
Zwischengewebes eintrat, deren Grad und Umfang die 
Transplantate aufs stärkste von den gewöhnlichen Keimdrüsen 
unterschied. Er sprach also mit logischer Konsequenz diesem 
Zwischengewebe die innersekretorische Funktion zu, 
sah in ihm ein besonderes endokrines Organ und gab ihm den 
Namen Pubertätsdrüse. Ob die Lokalisation der inner- 
sekretorischen Keimdrüsenfunktion in diesem Gewebe be- 
rechtigt ist, ob es sich wirklich um ein Hormone bildendes 
oder nur aktivierendes oder nur speicherndes Organ 
handelt, darüber sind — ebenso wie über seine innere Ein- 
heitlichkeit und seinen histologischen Aufbau — endgültige 
Entscheidungen noch in der Schwebe. Es gilt noch gewisse 
Schwierigkeiten und Unklarheiten zu klären; diese aber sind 
ihrerseits in keiner Weise unüberwindliche Einwände 
gegen die Steinachsche Annahme. So ist in der männlichen Keim- 
drüse des gesunden reifen Mannes das Stützgewebe ein äußerst 
geringes, wenn man es etwa mit dem des neugeborenen männ- 
lichen Kindes oder mit dem im kryptorchen Hoden vergleicht. 
Niemand aber wird glauben, daß die innersekretorische Funktion 
im Sinne der Virilisierung im ersteren Falle nicht mindestens 
ebenso stark ist wie im letzteren. Beim weiblichen Geschlechte 
sind die Forscher sich noch nicht darüber einig, welcher 
Anteil des Gewebes im Eierstock Träger der innersekre- 
torischen Sexualfunktionen ist. Ein Teil schreibt den ganzen 
Follikeln diese Funktion zu, ein Teil der Granulosa interna 
genannten Zellschicht, Steinach macht die Thekaluteinzellen 
dafür verantwortlich. Die Existenz der letzteren hängt aber 
mit der Follikelreifung eng zusammen; und diese hinwiederum 
kann doch erst eine Folge innersekretorischer Eierstock- 
vorgänge sein; hieraus entsteht ein schwieriges genetisches 
Problem. Indessen kommen dem Eierstock sicher mehrere 
hormonale Funktionen zu, ein Teil derselben erstreckt sich 
auf Eintritt und Hemmung der Menstruation, ein anderer auf die 
Entwicklung der Milchbildung (vermutlich im Zusammenhange 
mit hormonalen Funktionen der Placenta); diese beiden Funk- 

21 


314 _Kronfeld: Kurze Übersicht über die Pubertätsdrüsen-Frage 


tionen sind sicher in hohem Maße von der eigentlichen inner- 
sekretorischen Funktion im Sinne der Verweiblichung im weiten 
Maße abtrennbar. Vielleicht haben alle Auffassungen in ge- 
wissen Grenzen recht und sind miteinander vereinbar. 

Eine der wichtigsten Feststellungen Steinachs betrifft die 
Tatsache, daß ohne vorangegangene Kastration die gegen- 
geschlechtliche Keimdrüse sich nicht einpflanzen läßt. Er 
schließt hieraus auf eine antagonistische Wirkung der 
Keimdrüsen-Hormone, die also nicht nur die ihnen ent- 
sprechenden Geschlechtsmerkmale in ihrer Entwicklung för- 
dern, sondern die gegengeschlechtlichen hemmen. Hin- 
gegen gelang ihm die künstliche Hermaphrodisierung 
dann, wenn er männliche und weibliche Keimdrüse zugleich 
bei einem frühkastrierten Tier, gewissermaßen unter gleichen 
Existenzbedingungen, einpflanzte.e Er sah dann echte inter- 
sexuelle Varianten, bei welchen ein periodischer Wechsel im 
Vorwiegen der männlichen oder weiblichen Symptome be- 
obachtet wurde. Sand prüfte diesen Teil der Steinachschen 
Experimente nach, vermochte ihn aber in dieser Fassung nicht 
zu bestätigen. Ihm gelang es ohne Kastration, Eierstocksgewebe 
innerhalb des Hodens von Tieren zur Anheilung und Entwick- 
lung zu bringen; es resultierten ebenfalls Hermaphrodisierungs- 
formen, bei welchen aber ein permanentes Nebeneinander- 
bestehen der beidgeschlechtlichen Eigenschaften festgestellt 
wurde. Sand spricht deshalb nicht von einem Antagonismus 
der beiden Hormone, sondern davon, daß eine Unempfänglichkeit 
für Einpflanzung des Keimgewebes des anderen Geschlechts 
bestehe, in ähnlichem Sinne, wie zuerst Apolant beim Mäuse- 
karzinom sie beschrieben hat. Beide Forscher, Steinach und 
Sand, sind aber über die Geschlechtsspezifität der inner- 
sekretorischen Funktion beider Keimdrüsen einig, und wider- 
legen damit die älteren Annahmen Halbans. 

Was diesen Forschungen ihr ungeheures Relief in der 
Öffentlichkeit gegeben hat, das ist die ärztliche Anwendung 
derselben auf den Menschen. Die von Stocker und von 
Lichtenstern bewirkte operative Aufhebung aller Ausfalls- 
erscheinungen bei Kastraten, durch Einpflanzung gesunder Reste 
des eigenen Hodens (Stocker), oder eines fremden Hodens 
(Lichtenstern, Mühsam), die sensationellen Heilungserfolge 
bei Homosexuellen, dies alles hat der ärztlichen Wissenschaft 
neue Bahnen gewiesen. Zur Zeit liegen die Dinge hier folgender- 
maßen: Wir besitzen eine Reihe von Techniken, die gleich- 
sam zur Anreicherung und Funktionssteigerung der 


Kronfeld: Kurze Übersicht über die Pubertätsdrüsen-Frrage 315 


Pubertätsdrüse dienen. Und wir haben ein in Klärung 
begriffenes Anwendungsgebiet für diese Technik. 

Die technischen Maßnahmen zur Funktionserhöhung 
der Pubertätsdrüse bestehen erstens in der Überpflanzung 
deselben von einem Individuum auf ein anderes. Die Art der 
Überpflanzung, die Einheilungs- und Entwicklungschancen des 
Transplantates werden zur Zeit praktisch von verschiedenen 
Forschern studiert. Das Anwendungsgebiet dieser Methode 
ist insofern eingeengt, als die Schwere des Eingriffs, um 
Transplantat zu erhalten, beim Hoden eine viel geringere ist 
als beim Eierstock. Aber auch gesunder Hoden wird nicht 
leichthin zur Verfügung stehen können, der Eingriff mag so 
leicht sein wie er wolle. Man ist auf den Leistenhoden bei 
Kryptorchismus beschränkt. Bei Hodentuberkulose, welche die 
Kastration notwendig macht, kann man daran denken, gesunde 
Stücke des Hodens autoplastisch zu verwenden. — Ein wich- 
tigeres und vielleicht ebenso erfolgverheiBendes Verfahren wird 
in Zukunft die Roentgenisierung der Keimdrüsen sein. 
Französische Forscher, die fast gleichzeitig mit Steinach die 
gleichen Probleme bearbeiteten, Bergonié und Tribondeau, 
Ancel und Bouin, Villemin, ferner die Deutschen Simonds 
und Steinach und Holzknecht beobachteten bei Roentgen- 
bestrahlung eine lebhafte Wucherung des Zwischengewebes in 
Keimdrüsen von Tieren, vor allem in der weiblichen Keim- 
drüse, aber auch in der männlichen. 

Eine dritte Technik wurde experimentell von Ancel und 
Bouin sowie von Tandler und Groß geprüft und von 
Steinach insbesondere für seine Verjüngungsversuche syste- 
matisch durchgebildet: es ist die Unterbindung des Samen- 
ausführungsganges bei der männlichen Keimdrüse. Nach 
ihr tritt eine Rückbildung des generativen Anteils infolge von 
Funktionslosigkeit ein, und diese ist von einer kompensatorischen 
Wucherung des Zwischengewebes begleitet. Besonders die 
Steinachschen histologischen Präparate zeigen die Wucherung 
aufs Deutlichste. 

Eine vierte Technik der Funktionserhöhung geschlechts- 
spezifischer Art sei noch erwähnt, weil sie zur Zeit, trotz ihrer 
Ungeklärtheit, ärztlich das größte Anwendungsgebiet besitzt: 
nämlich die Injektionen von Organextrakt, der aus den 
Keimdrüsen gewonnen wird. Es läßt sich gegen die Kon- 
stanz in der Zusammensetzung sowie gegen die Spezifität der- 
artiger Extrakte allerlei stichhaltiges sagen. Zu eindeutigen 
objektiven Resultaten hat ihre Anwendung jedenfalls noch nicht 


21° 


316 Kronfeld: Kurze Übersicht über die Pubertätsdrüsen-Frage 


geführt. Hingegen sind Experimente unternommen worden, 
um spezifischen Pubertätsdrüsenextrakt hinsichtlich seiner 
hormonalen Wirksamkeit zu prüfen. So haben Ancel und 
Bouin den Extrakt aus kryptorchen Hoden, den sie mit Glyzerin 
und Wasser auszogen, während neun Monaten bei frühkastrierten 
Meerschweinchen eingespritzt. Sie fanden, daß diese ihre 
männlichen Geschlechtszeichen wesentlich besser entwickelten 
als die Kontrollkastraten, wenn auch nicht so stark als die 
gewöhnlichen Männchen. Einen ähnlichen a} hatte Her- 
mann bei sehr exakten Injektionsversuchen von ÄAtherauszügen 
aus dem Corpus luteum in bezug auf die Entwicklung weib- 
licher Geschlechtszeichen. Hier ist noch ein weites und frucht- 
bares Arbeitsfeld für die künftige therapeutische Forschung. 
Was nun das ärztliche Anwendungsgebiet und die 
Indikationen für eines dieser Verfahren der Anregung der 
Pubertätsdrüsenfunktion anbelangt, so sind sie zusammen- 
zufassen als alle diejenigen Zustände, die auf eine Störung 
der natürlichen Pubertätsdrüsenfunktion zurückzuführen 
sind. Hierzu gehört also der völlige Ausfall der Pubertäts- 
drüse, wie wir ihn bei der angeborenen oder früh erworbenen 
Kastration, Eunuchoidismus und den Hodenverlusten durch 
Krankheit beobachten. Auch die verschiedenen Formen zer- 
störender Eierstockserkrankung bei der Frau gehören hierher. 
Zweitens gehört hierher die Unterfunktion der Geschlechts- 
drüse. Neben der Impotenz und Sterilität hat Steinach 
hierfür in den Alterserscheinungen den wichtigsten Aus- 
druck der Unterfunktion der .Pubertätsdrüse zu erblicken ge- 
glaubt. Sein so berühmt gewordenes Verjüngungsbuch weist 
innige experimentell beweisbare Zusammenhänge zwischen dem 
Zustand der Pubertätsdrüse und dem allgemeinen Reifezustand 
des Organismus nach. Ausgehend von den gesteigerten Effekten, 
die bei seinen Maskulierungs- und Feminierungsexperimenten 
durch die Wucherung des Transplantates erzielt wurden und 
die die normale Pubertätsdrüsenwirkung weit übertrafen, ver- 
suchte Steinach, durch Anregung der Pubertätsdrüse 
zum Wuchern bei greisenhaften Ratten beiderlei Ge- 
schlechts die regressiven Altersveränderungen auf- 
zuheben und einen erneuten Zustand funktioneller Vollreife 
herbeizuführen. Wie man weiß, hatte er bei seinen Ratten 
verblüffenden Erfolg damit. Beim Menschen liegen diese Dinge 
noch nicht so, daß irgend eine Entscheidung über ihre Brauch- 
barkeit möglich wäre. Insbesondere sind die Zusammenhänge 
zwischen der Pubertätsdrüsenfunktion und dem Gewebs- 


Kronfeld: Kurze Übersicht über die Pubertätsdrüsen-Frage 317 


aufbrauch der einzelnen menschlichen Organe im Alter (Herz, 
Kreislauf, Niere, Gehirn) keineswegs so durchsichtig, wie der 
Laie auf Grund der Steinachschen Rattenexperimente voraus- 
setzen möchte. Ich teile den Optimismus, der zur Zeit durch 
die Presse geht, garnicht; gerade im gegenwärtigen Momente 
aber scheint mir eine allzulaut geäußerte Skepsis gegenüber 
der Möglichkeit, Steinachs Experimente auf den senilen Menschen 
zu übertragen, unfruchtbar zu sein; vielmehr ist aufs dring- 
lichste eine Nachuntersuchung und Prüfung der sich hier er- 
gebenden Möglichkeiten im weitesten Umfang geboten. 

Als letztes Indikationsgebiet für Steinachsche Pubertäts- 
drüsenüberpflanzung kommen diejenigen Störungen in Frage, 
welche auf einer Doppelfunktion der Pubertätsdrüse be- 
ruhen. Dies sind neben den echten Hermaphroditen vor 
allem die intersexuellen Varianten, insbesondere die 
Homosexualität. Hier würde es notwendig sein, die zu 
behandelnden Fälle ihrer eigenen Pubertätsdrüse zu berauben 
und ihnen dann eine gesunde einzupflanzen. In dieser Richtung 
ist seit Lichtensterns Vorgang schon ein kleines Material 
gesammelt worden. Der therapeutische Erfolg entsprach keines- 
wegs immer den Erwartungen. Bei der Wichtigkeit dieses 
Gegenstandes sei noch ein kurzes Wort darüber gestattet. 

Eines der eindruckvollsten Präparate, die Steinach über 
seine künstlichen Hermaphrodisierungsversuche an Tieren im 
Archiv für Entwicklungsmechanik abgebildet hat, betrifft ein 
Meerschweinchen, bei welchem beiderlei Geschlechtsdrüsen an 
dieselbe Körperstelle eingepflanzt worden sind. Die Pubertäts- 
drüsen wucherten; und die beiden Gewebe mischten sich mit- 
einander. Im histologischen Bilde entstand so eine zwittrige 
Pubertätsdrüse, bei der weibliche Pubertätsdrüsenzellen in das 
männliche Pubertätsdrüsengewebe in Strängen eingesprengt 
waren. Männlich und weiblich ließen sich durch Färbemethoden 
und Größe klar auseinanderhalten. 

Absolut ähnliche Bilder erhielt Steinach nun, als er 
an einer Reihe von Fällen den Hoden von homosexuellen 
Männern histologisch untersuchte. Es fanden sich, eingesprengt 
in die geringen Bestände der Pubertätsdrüse, Haufen und 
Stränge von Zellen, welche sich nach Größe und färberischem 
Verhalten deutlich gegen die männlichen Pubertätsgewebe ab- 
hoben. Sie glichen in jeder Hinsicht den Thekaluteinzellen 
des Eierstocks. Mit dieser Feststellung war der Schluß ge- 
geben, daß es sich bei der Homosexualität um einen echten 
Hermaphroditismus der Pubertätsdrüsen handele. Die 


318 Kronfeld: Kurze Übersicht über die Pubertätsdrüsen-Frage 


bisherige Trennung des Hermaphroditismus nach dem Gesichts- 
punkte, wie sich die Geschlechtsorgane grob-anatomisch ver- 
hielten, in einen echten und unechten Hermaphroditismus mußte 
-aufgegeben werden: lediglich der mikroskopische Befund der 
Pubertätsdrüsen erlaubte die Geschlechtsbestimmung; und da 
standen zwischen der rein männlichen und der rein weiblichen 
Pubertätsdrüse gradweise abgestuft alle möglichen Mischungs- 
formen. Hirschfeld hatte in seiner Theorie der intersexuellen 
Varianten als nahezu Einziger, trotz aller Anfeindungen und 
Vorurteile der herkömmlichen Klinik, seit mehr als zwanzig 
Jahren diese Auffassung auf Grund seines reichen klinischen 
Wissens bereits vertreten. Steinachs Befunde brachten der 
Hirschfeldschen Theorie die exakte experimentelle und histo- : 
logische Stütze. 

Nun sind aber die Steinachschen Hodenbefunde an Homo- 
sexuellen nicht unbestritten. Erfahrene Mikroskopiker wie 
Hansemann und Benda haben derartige Funde bei Homo- 
sexuellen nicht gemacht. Indes würde ich dies nur dafür 
sprechen, daß diese Befunde nicht in jedem homosexuellen 
Hoden vorzuliegen brauchen, sodaß also die Homosexualität 
verschiedene Ursprünge haben könnte. Die Steinach-Hirsch- 
feldsche Lehre von den intersexuellen Varianten und ihrer 
biologischen Grundlage in der zwittrigen Pubertätsdrüse ist 
davon nicht berührt. Und wenn Poll derartige Einsprengungen 
auch bei den Hoden angeblich gesunder Männer gefunden hat, 
so ist über deren psychosexuelle Konstitution doch nichts ge- 
nügendes bekannt. Schwierig scheint mir nur der folgende 
Einwand widerlegbar: Die weiblichen Pubertätszellen stammen 
genetisch aus zerfallenden Follikeln. Es ist nicht denkbar, daß 
sie sich ohne solche bilden. Derartige Follikelbildungen sind 
aber bisher in homosexuellen Hoden nicht nachgewiesen worden. 
In diesem Sinne ist der Hoden Homosexueller kein herma- 
phroditischer Ovotestis. Hier klafft eine Lücke. 

Sicher ist soviel: der Hoden Homosexueller ist in einer 
Vielzahl von Fällen in seinem Pubertätsdrüsenanteil sicher, um 
ein berühmt gewordenes Wort zu gebrauchen, „anders als die 
anderen“. Läßt sich aber für diesen Teil der Fälle die Homo- 
sexualität als eine Folge abnormer Pubertätsdrüsenfunktion 
auffassen, so ist dies von grundlegender Bedeutung. Die bis- 
herige psychiatrische Forschung sah in der Homosexualität nur 
eine psychisch bedingte, durch Kindheitserlebnisse und Ein- 
drücke ausgelöste Abwegigkeit einer allgemeinen psycho- 
pathischen Konstitution. Die biologischen Befunde Steinachs 


Kronfeld: Kurze Übersicht über die Pubertätsdrüsen-Frage 319 


engen diese Auffassung ein. Es gibt hiernach spezifische, 
biologisch bedingte Sexualkonstitutionen, deren Aus- 
druck nicht nur die Objektwahl, sondern das gesamte psycho- 
sexuelle und allgemeinpsychische Verhalten ist. Derartige 
Inversionen der Sexualkonstitution können sich oft mit psycho- * 
pathischen allgemeinen Konstitutionsanomalien verbinden. Diese 
Verbindung ist keine zufällige, sie ist vermutlich erbbiologisch 
bedingt, und außerdem besteht eine enge Wechselwirkung 
zwischen der allgemeinen psychopathischen Seelenreaktion auf 
das sexuelle Anderssein, und umgekehrt zwischen dem Haften 
infantiler Sexualeindrücke und psychopathischen Dispositionen. 
Auch hier ist Zukunftsland für exakte biologische und psychi- 
atrische Zusammenarbeit. 

Nach den dargelegten Forschungen haben wir mancherlei 
wesentliche Bereicherung gewonnen hinsichlich unseres Wissens 
von den biologischen Ursachen der Geschlechtlichkeit. 
Wir wissen jetzt, daß der embryonale Gesamtorganismus, das 
Soma, in geschlechtlicher Hinsicht asexuell ist. Er erhält seine 
geschlechtliche Differenzierung nach der einen oder anderen 
Seite lediglich durch die geschlechtsspezifische Differenzierung 
der Pubertätsdrüse. Er hat also die Möglichkeit zur Ent- 
wicklung nach beiden Richtungen, damit ist die alte Darwinsche 
Lehre von der potentiellen Bisexualität des Soma aufs Neue 
gerechtfertigt. 

Wodurch die primäre geschlechtliche Differenzierung der 
Geschlechtsdrüsen selber determiniert wird, darüber ist sich die 
Forschung noch nicht einig. Die Gleichheit oder Differenz 
der Chromosomen-Zahl in Ei und Samenfaden, erbbiologische 
Gesichtspunkte, Regeln des Mendelismus, Verschiedenheit der 
Erbvalenzen in den Keimzellen und ähnliche Momente werden 
zu dieser Erklärung herangezogen. Soviel aber ist sicher, daß, 
sobald diese Differenzierung einmal gegeben ist, die gesamte 
Geschlechtlichkeit des Organismus nur durch das 
Zentrum der Pubertätsdrüse bestimmt wird. 

Freilich übt auch die Pubertätsdrüse im Organismus keine 
unangefochtene Alleinherrschaft aus. Sie ist vielmehr ein- 
geordnet in eine einheitliche Ordnung antagonistischer und 
synergetischer Drüsen mit innerer Sekretion, die wir als Poly- 
glanduläres System kennen, und die insgesamt auch von 
Einfluß auf die Geschlechtlichkeit sind. Freilich ist dieser 
Einfluß von Drüse zu Drüse wechselnd nach Stärke und Art; 
und er wird in weitem Umfange beherrscht vom Vorwiegen 
der Pubertätsdrüsenfunktion.. Um nur einiges Wichtigste kurz 


320 Kronfeld: Kurze Übersicht über die Pubertätsdrüsen-Frage 


herauszugreifen: Wir wissen von der Zirbeldrüse, daß sie 
auf die Geschlechtsfunktion hemmende innersekretorische 
Einflüsse ausübt. Zerstörung durch Geschwülste derselben 
bedingt vorzeitiges Größenwachstum der Geschlechtsorgane. 
Zirbeldrüsenextrakte können die Erscheinungen vorzeitiger kind- 
licher Sexualreife zur Rückbildung bringen. Einen umgekehrten 
fördernden Einfluß auf die geschlechtliche Entwicklung hat 
die Hirnanhangsdrüse, die Hypophyse. Und zwar zeigt 
ihn ausschließlich der Vorderlappen dieser innersekretorischen 
Drüse. Damit decken sich auch klinische Erfahrungen; 
insbesondere kennen wir bei Erkrankungen der Hypophyse 
bestimmte Formen allgemeiner Wachstumsstörung (Riesenwuchs), 
verbunden mit völliger Unterentwicklung der Genitalien und 
Keimdrüsen und sekundärem Eunuchoidismus. — Ebenso 
wirken die innersekretorischen Funktionen der Schilddrüse 
und der Thymus hemmend auf die Funktionen der Keim- 
drüse ein. Bei der sogenannten Basedowschen Krankheit ist 
ein Verharren der Geschlechtsorgane auf infantiler Stufe häufig, 
ebenso bei der Persistenz der Thymus (Status thymicus). 
Aschner gelang es, durch operative Entfernung der Thymus 
eine Hyperplasie*) der Hoden zu erzielen. Endlich scheint im 
Gegensatz hierzu dem sogenannten Nebennierensystem, 
ähnlich wie der Hypophyse, eine fördernde Wirkung auf die 
Geschlechtsfunktionen zugestanden werden zu müssen. Man 
sieht zuweilen bei den bekannten Frauen mit Männerbart ein- 
gesprengte Verlagerungen von Nebennierengeschwülsten in der 
Leibeshöhle (Struma aberrans renis), auch bei anderen Fällen 
von sexueller Frühreife. Umgekehrt scheint nach Kastration das 
Nebennierensystem eine Art Ersatzfunktion für die ausgefallene 
Keimdrüse in gewissen Grenzen übernehmen zu können. 

Diese Teile der innersekretorischen Forschung, welche auf 
die verborgendsten Zusammenhänge chemischer und formativer 
Faktoren im Organismus gehen, dürften in nächster Zukunft 
noch wesentliche Vertiefung unseres Wissens von der Ge- 
schlechtlichkeit mit sich bringen. 


*) Hyperplasie = Wucherung durch Anwachsen der Zellenzahl, 
Hypertrophie = Wucherung durch Vergrößerung der Zellen. 





ZUM VERSTÄNDNIS DER INNEREN SEKRETION 
UND DER VERJÜNGUNG. 


Von FERDINAND FRHR. VON REITZENSTEIN, Dresden. 


IX. 
Verjüngung. 


Verlüngung! Ein alter Traum der Menschheit, ein Stück eines 

Paradiesmärchens. Seit Jahrtausenden ist sie ein Wunsch 
der Menschheit. Und gerade in jener trostlosen Zeit, in der 
Europa den tiefsten kulturellen Fall durchmachte, der seit dem 
Untergang der Antike und der Zerstörung der mittelamerika- 
nischen Kulturen in der Weltgeschichte verzeichnet ist, sollte 
diese Entdeckung gemacht sein. Steinach, dem die Er- 
forschung des innersten Wesens des Sexuallebens so unendlich 
viel zu danken hat, sollte sie gemacht haben. Wir wollen 
gleich vorausschicken, daß wir ihm hier mit Vorsicht folgen 
wollen. Wir glauben, daß seine Beobachtungen auf diesem 
Gebiete viel zu früh in ein abschließendes Gewand 
gekleidet wurden und daß der Name dafür falsch ge- 
wählt wurde. Es handelt sich dabei wohl nicht um eine 
tatsächliche Verjüngung, sondern wohl nur um ein neues 
Reizmittel. Der Prozeß des Alterns hängt natürlich nicht 
allein von den Keimdrüsen ab, mehr oder weniger sind daran 
auch die anderen Drüsen der inneren Sekretion beteiligt, er 
kann daher durch Reize, die die Keimdrüsen (Hoden und 
Eierstöcke) zu verstärkter Sekretion antreiben, wohl deren 
allerdings sehr große Wirkungssphäre beeinflußt, nicht aber 
der Prozeß des Alterns rückgängig gemacht werden. 
Der Name „Verjüngung“ ist also viel zu umfassend gewählt 
und erweckt falsche Vorstellungen. Stellen wir also von 
vornherein unsere Erwartungen auf diese Stufe ein, dann werden 


322 von Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 


wir uns keinen falschen Hoffnungen hingeben. Interessantes 
und Wertvolles bleibt deshalb an der ganzen Frage noch 
übergenug. Die Schuld an der Aufbauschung liegt überdies 
nicht an Steinach selbst, der vor Überschätzung‘warnte, sondern 
an der Presse, die ziemlich kritiklos Aufsätze aus der Feder 
gänzlich unberufener Schriftsteller entgegennahm, von denen 
leicht nachzuweisen ist, daß einer mehr oder weniger vom 
andern abschrieb und dabei seine schriftstellerische Fantasie 
walten ließ, ohne entsprechend geschult zu sein, oder Steinachs 
Originalwerk gelesen zu haben. 

Machen wir uns zunächst das Wesen des Alters klar. 

Die Grundbegriffe des Alterns haben wir im zweiten 
Aufsatz Seite 70 behandelt und dabei gesehen, daß es ein 
kolloidaler Vorgang ist. Wir sahen, daß mit geringerem 
Quellungsvermögen ein Verlust an Elastizität der Zellen 
verbunden ist und daß jede Arbeitsleistung des Körpers mit 
Entquellung verbunden ist. Dies zeigen Tiere sehr deutlich. 
Während die freilebenden Tiere selten Erkrankungen der 
Blutgefäße aufweisen, sind solche, insbesondere die Arterio- 
sklerose (Arterienverkalkung mit ihrem typischen Elastizitäts- 
verlust) bei Jagdhunden, Zugochsen usw. häufig. Wir sehen 
weiter, daß z. B. Jodide (Jodverbindungen) das Quellungsver- 
mögen erhöhen. Im sechsten Aufsatz (S. 209) aber erfuhren 
wir, daß die Schilddrüse ein Speicher für Jod ist und daß 
ihre Unterfunktion Verblödung, ja im gewissen Sinne Alters- 
erscheinungen hervorruft. Das alles gibt uns bereits einen 
Fingerzeig, worin die Alterserscheinungen begründet sind. Die 
Altersvorgänge vollziehen sich also letzten Endes im Zellenstaate. 

Als wir die Zelle im Aufsatz 3 näher betrachteten, gingen 
wir von Lebewesen, die aus einer Zelle bestehen (Einzeller) 
aus. Weißmann zeigte, daß diese einfachsten Gebilde eigent- 
lich unsterblich sind, d. h. daß sie normale Weise nicht in 
den Zustand einer Leiche übergehen. Sie teilen sich vielmehr 
und hinterlassen so zwei Tochterzellen, die sich wieder teilen 
und so fort. Man hat diese Meinung bekämpft (besonders 
Hertwig) und behauptet, es würden doch nach einiger Zeit 
(etwa nach 500 Generationen) Alterserscheinungen auftreten, 
denn man sah, daß die Tierchen immer kleiner wurden, der 
Zellinhalt sich zu trüben anfing und die Zelle schließlich zu 
Grunde ging. Neuerdings hat aber Wooddruff gezeigt, daß 
Weißmann im Rechten ist. Die Gegner haben nicht beachtet, 
daß die Nährflüssigkeit, in denen sie die Tierchen hielten, 
mit der Zeit so mit Stoffwechselprodukten angefüllt wurde, 


von Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 323 


daß damit die weitere Lebensfähigkeit unmöglich wurde. Er 
brachte nach der Teilung jedes Tierchen immer wieder in 
neue Nährflüssigkeit und setzte im gleichen Stamme die 
Beobachtungen über sieben Jahre fort (also durch mehr als 
5000 Generationen), ohne daß ein Zugrundegehen oder auch 
nur Alterserscheinungen auftraten. Die Schädigung wurde also 
durch die eigenen Stoffwechselprodukte vollzogen, die 
allmählich die Quellungsvorgänge verhinderten. Elastizitäts- 
verlust und Teilungsunmöglichkeit waren die Folgen 
und so die Ursache von Alterserscheinungen und Tod. Daß 
die Teilung der Zelle aber selbst nur eine Folge des Stoff- 
wechsels ist, sehen wir Seite 100. Auch der Kern vollzieht 
einen Stoffwechsel, denn Woodruff konnte beobachten, daß 
die Teilungen plötzlich langsamer wurden und daß in dieser 
Zeit der Kern Teile seiner Substanz ausschied. Wir 
sehen also, daß die Zelle von Natur aus nicht altert, wenn 
ihr der Stoffwechsel entsprechend ermöglicht wird; ein 
physiologischer Tod findet also in diesem Falle nicht statt. 

Nun sind die höher stehenden Tiere und damit der 
Mensch aus einem Zellenstaate aufgebaut. Die einzelnen 
Zellen sind nicht von der Nährflüssigkeit umgeben, die gleich- 
zeitig die Stoffwechselprodukte wegspült, sondern sie liegen 
dicht nebeneinander und erhalten die Nährflüssigkeit in 
Gestalt des Blutes und der Lymphe durch bestimmte 
Organe (so Blutgefäße), die aber ihrerseits wieder aus 
Zellen aufgebaut sind. Auch die Stoffwechselprodukte 
werden auf ähnlichem Wege entfernt. Mit der Bildung des 
Zellenstaates haben diese Tiere ihre höhere Entwicklung 
erreicht, aber sie bezahlten sie mit einem Defekt im Stoff- 
wechsel, sie geben die Unsterblichkeit für den Fortschritt und 
müssen sich deshalb das Altern gefallen lassen. Dieser 
komplizierte Apparat, den wir Körper nennen, bedarf nun zu 
seinen Verrichtungen vieler Organe, so die schon erwähnten 
Blutgefäße, das Herz, die Lunge, um den zur Energie- 
erzeugung nötigen Sauerstoff zuzuführen, den Verdauungs- 
apparat, um die Kolloide in Krystalloide zu wandeln und 
die unbrauchbaren Nahrungsreste abzuführen, den Harn- 
apparat, um die Stoffwechselprodukte auszuscheiden, die 
Drüsen, um die Chemie des Körpers zu verrichten, das 
Nervensystem, um die höheren Funktionen des Körpers zu 
ermöglichen, die Geschlechtsorgane, um die Keimzellen 
zu vermengen usw. Aber alle diese Organe sind Zellenstaaten. 
Nun beobachteten wir soeben, daß die Zellenstaaten unvoll- 


324 von Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 


kommen sind, daß sie den Stoffwechsel nicht genügend 
durchführen können; ja er schädigt nicht nur die Gewebe im 
allgemeinen, sondern auch seine eigenen Apparate. Wird der 
Zellenstaat an sich schon durch ungenügenden Stoffwechsel 
geschädigt, so wird er es umsomehr, als die Organe, die den 
Stoffwechsel vollziehen sollen, selbst immer schlechter 
werden. So ist das Altern eine Folge der höhern 
Organisation und Virchow hatte Recht, als er das Leben 
ein langsames Sterben nannte. 

Wir können also beobachten, daß die Stoffwechselprodukte 
nicht genügend entfernt werden. So konnte Hertwig fest- 
stellen, daß bei jugendlichen Individuen die Zellkerne kleiner 
und reichlicher von Protoplasma umgeben sind, daß aber mit 
fortschreitendem Alter das Protoplasma weniger wird und die 
Kerne größer. Sie enthalten Stoffwechselprodukte, die sie in 
ihrer Funktion schädigen. Die Zellen selbst scheiden zwar 
ihre Stoffwechselprodukte aus, sie werden aber nicht genügend 
weggespült und bleiben als Zwischensubstanz zwischen 
den Zellen liegen. Dort bilden sie sogenanntes Bindegewebe. 
Mit fortschreitendem Alter vermehrt sich dieses mehr und 
mehr, während die Zellen selbst schwinden. Ähnlich verhält 
es sich mit bestimmten chemischen Ausscheidungsprodukten, 
Kalksalzen und dergl. Schon Friedenthal machte darauf auf- 
merksam, daß dadurch das Gewebe an funktionell toter Masse 
zunimmt, an lebenswichtiger aber verliert. Dies betrifft be- 
sonders schwer die Blutgefäße, das Herz usw. (Arterien- 
verkalkung). Die Gewebe verlieren dabei an Elastizität. 
Solche Schlacken bleiben aber auch in der Zelle selbst liegen; 
sie erscheinen als fetthaltige Farbkörnchen (lipoide Pig- 
mente). Mit fortschreitendem Alter nimmt diese Erscheinung 
mehr und mehr zu und beeinträchtigt die Quellungs- 
` fähigkeit der Zelle und damit auch ihre Teilung, also die 
Neubildung des Gewebes. Die Folgen sind natürlich ganz 
gewaltige. Greifen wir nur einige heraus. Wird der Atmungs- 
apparat geschädigt, so wird die Aufnahme von Sauerstoff 
verringert, die Folge ist ein Rückgang an Energie, die wieder 
Arbeitsleistung und Wärmeerzeugung bedingt. Vermehrt sich 
in den Drüsen das Bindegewebe, so leidet ihre Funktion; für 
die Drüsen der inneren Sekretion zeigte Falta, daß dabei die 
Bildung der Hormone zurückgeht, also der Chemismus des 
Körpers leidet. Diese Störung beeinflußt natürlich wieder alle 
übrigen Organe, insbesondere auch die Beseitigung einer Reihe 
von Giftstoffen, die im Körper fortwährend entstehen, vor- 


von Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 325 


allem als Nebenprodukte der Verdauung. Metschnikoff 
schrieb ja diesen Vergiftungserscheinungen' allein das Altern 
zu und wies besonders auf jene Gifte hin, die als Aus- 
scheidungsprodukte der Darmbakterien gebildet werden. Sie 
schädigen am schwersten die Nervenzellen, zerstören sie 
und lassen Bindegewebe dafür entstehen. Damit berühren 
wir eine besonders wichtige Frage. Wir sahen, daß für das 
Wesen der „Unsterblichkeit“ der Einzeller die fortwährende 
Teilung ausschlaggebend war und wissen, daß für die höheren 
Organismen dies Nervensystem das wichtigste Organist. 
Bei den Vielzellern teilen sich nun auch alle Zellen während 
des Lebens mit wenigen Ausnahmen und diese Ausnahmen 
bilden gerade die wichtigsten Zellen, nämlich die der Nerven, 
des Herzmuskel und gewisse Drüsenzellen! Von ihnen be- 
sitzt jeder Mensch so viel, als er bei der Geburt 
mitbekommt. Ihre Vernichtung ist unersetzlich und bedroht 
die aus ihnen gebildeten Organe und damit die hochwichtigen 
Vorgänge, die diese Organe ausführen. Dazu gehört in erster 
Linie die Atmung und die Herztätigkeit. Beide werden 
von bestimmten Partien des Zentralnervensystems (Zellen des 
verlängerten Markes) aus geregelt. Die Schädigung der 
Drüsenzellen schädigt aber wieder die Sekretionsvorgänge. 
In diesen Momenten liegen die Hauptursachen des Alterns. 
Von besonderem Interesse ist noch die Beobachtung Frieden- 
thals; er zeigte, daß für die Lebensdauer der Hirnquotient, 
d. h. das Verhältnis des Gehirngewichtes zur Protoplasma- 
menge des Körpers eine besondere Rolle spielt. Als Nerven- 
zellen sind aber die Gehirnzellen einer Vermehrung nicht 
fähig. Ihre Schädigung ist also eine dauernde Schädigung 
des ganzen Körpers. Alle diese Erscheinungen ziehen als 
Schlußresultat den Tod nach sich und bedingen die körper- 
liche Entwicklung, die zu ihm führt und die sich als Altern 
äußert. 

An reiner Altersschwäche (physiologischer Tod) 
sterben nur sehr wenige Menschen; Nothnagel behauptete 
einmal, daß unter rund 100000 Menschen nur einer diesem 
Zwang unterliegt; für die Mehrzahl der Menschen kommen 
krankhafte (pathologische) Prozesse in Betracht. 

Wir sehen aus all dem, daß an sich genommen die 
Steinach’schen Versuche wenig Aussicht haben, eine tat- 
sächliche Verjüngung beim Menschen zustande zu bringen. 
Sie können wohl den Chemismus der Geschlechtsdrüsen er- 
höhen, aber dieser reicht nicht aus, alle die erwähnten Vor- 


326 von Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 


gänge zu beseitigen, die eben das Altern bedingen. Und 
diese Vorgänge sind bereits bei Haustieren (domestizierten 
Tieren) weit bedeutender als bei frei lebenden, am be- 
deutendsten aber beim Menschen. Deshalb braucht nicht 
ohne weiteres für diesen zu gelten, was wir bei den 
Versuchstieren Steinachs sahen. Dazu kommt noch, 
daß die Entwicklung des Menschen gerade mit dem Zentral- 
nervensystem enger verknüpft ist, als dies beim Tiere der 
Fall ist, daß bei ihm das Aufhören der Geschlechtsfunktionen 
nicht in dem Grade ein Vorbote des Todes ist, wie es bei 
den meisten Tieren der Fall ist, daß also offenbar bei ihm 
die Geschlechtsdrüse für den Vorgang des Alterns nicht die- 
selbe Rolle spielt. 

Trotzdem aber sind Steinachs Versuche auch in dieser 
Hinsicht sehr wertvoll und seine Gegner mögen immerhin be- 
denken, daß man aus dem Mißlingen eines Versuches bei 
anderen nicht schließen darf, daß Steinachs Resultate unrichtig 
sind. Ein positives Resultat sagt mehr, als verschiedene 
negative, bei denen eben allerlei Fehlerquellen mitsprechen 
können. Steinach machte seine Versuche zunächst an Ratten- 
männchen und wählte solche, die dem Alterstod (physio- 
logischen Tod) nahe waren. Ihre Behaarung pflegt struppig 
und lückenhaft zu werden, ihr Rücken krümmt, der Kopf senkt 
sich. Die Freßlust wird geringer, das seelische Verhalten 
teilnahmsloser. Nicht einmal die Weibchen können noch ihr 
Interesse wecken und vor andern Männchen ziehen sie sich 
ängstlich zurück. Solche Tiere „verjüngte“ nun Steinach. Drei 
Wege standen ihm offen. Entweder entfernte er ihre ge- 
alterten Keimdrüsen (Hoden) und ersetzte sie durch solche 
von jugendlichen Tieren oder er unterband den Samen- 
strang (schnitt ihn durch) oder er bestrahlte den Hoden 
mit bestimmten Strahlen, über die wir im nächsten Aufsatz 
sprechen werden. Der erste Fall liegt klar. Die erneuerte 
Keimdrüse vollzieht eine stärkere Sekretion mit all ihren Folgen 
(s. Aufsatz VII, S. 245—248). In den beiden andern Fällen 
wird der generative Anteil der Keimdrüsen (Hodenkanälchen) 
zerstört und die Zwischenzellen erweisen sich auf deren 
Kosten als vermehrt. Die Folge der Operation zeigte sich 
bereits nach drei Wochen. Die Behaarung der Tierchen wurde 
wieder glatt, die Lücken verschwinden. Der Rücken wurde 
gerade, der Kopf hochgetragen, die matten Augen glänzten 
wieder; sie griffen andere Männchen an und besprangen die 
Weibchen, wie in der Jugendzeit. War die Abbindung des 


von Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 327 


Samenstranges nur einseitig erfolgt, so zeugten sie auch Nach- 
kommen, die sich völlig normal entwickelten. Das Wieder- 
erwachen jener Funktionen des Körpers, die mit der 
inneren Sekretion der Geschlechtsdrüsen zusammen- 
hängen, ist also hier evident. Da die Hodenkanälchen (also 
der generative Teil der Keimdrüsen) zerstört wurden und die 
Zwischenzellen wucherten, bleibt wohl kein anderer Ausweg, 
als diesen die Veränderung zuzuschreiben. Die Versuche sind 
von vielen anderen bestätigt worden. Steinach glaubt aber 
damit zugleich den Alterstod der Rattenmännchen um etwa 
1/, ihrer Lebenszeit hinausgeschoben zu haben. Unter diesen 
Voraussetzungen hatten wir es also bei den Rattenmännchen 
` tatsächlich mit einer Verjüngung zu tun. Unsere Tafel V wie 
die beiden andern Tafeln, entnommen der interessanten Schrift 
Steinachs „Verjüngung“* durch experimentelle Neu- 
belebung der alternden Pubertätsdrüse, Berlin, Julius 
Springer 1920, zeigt uns den Verjüngungsvorgang an einem 
Rattenmännchen deutlich. Abb. 1 bringt das senile Ratten- 
männchen vor der Operation mit den oben geschilderten 
Alterserscheinungen. Abb. 2 führt dasselbe Tier zwei Monate 
nach der Operation vor. Die neue dichte Behaarung ist 
vollendet; die Haltung ist frisch und mutig, die Augen lebhaft, 
die Ohren aufmerksam. Tafel I, Abb. 1 zeigt ein Formal- 
präparat der sekundären Geschlechtsmerkmale eines senilen 
Rattenmännchens. Samenblasen und Prostata sind geschrumpft 
und leer, der Hodensack ist haarlos. Das Tier ging im Alter- 
tod mit 28°/, Monaten ein. Abb. 2 zeigt das Formalpräparat 
der sekundären Geschlechtsmerkmale seines Wurfbruders im 
Zustande der Wiederherstellung durch Unterbindung der Hoden 
(fünf Wochen nach der Operation), die Samenblasen sind groß 
und voll, die Prostata ist mächtig entwickelt, der Hodensack 
neu behaart. Vor der Operation glich das Tier völlig seinem 
Bruder. Weitere Belege findet man in der oben erwähnten 
sehr lesenswerten Schrift Steinachs. 

Schwieriger ist das Verfahren bei weiblichen Tieren. 
Hier fällt die Unterbindung weg und es besteht zunächst die Mög- 
lichkeit, die Eierstöcke durch andere von jugendlichen Tieren 
zu ersetzen. Steinach tat dies mit gutem Erfolg. Tafel Ill 
zeigt in Abb. 1 das Formalpräparat eines senilen Ratten- 
weibchens mit völlig eingeschrumpften Zitzen. Abb. 2 dagegen 
das Formalpräparat der verjüngten Wurfschwester. Es 
wurden ihr zwei Eierstöcke junger Tiere eingepflanzt und vor 
allem die Zitzen bestätigten das Resultat. Die beiden Weib- 


328 von Reitzenstein: Zum Verständnis der inneren Sekretion 


chen hatten bereits viele Monate nicht mehr gezüchtet, das 
operierte wurde aber wieder brünstig, und auch geschwängert, 
warf normale Junge, säugte sie und zog sie auf. 

Anders wird nun die Frage beim Menschen. Wohl 
haben Steinach und seine Mitarbeiter auch hier Erfolge gehabt. 
Die Fälle sind ja beinahe in jeder Tageszeitung berichtet 
worden; tiber neuere Resultate haben wir in Sexualreform der 
Hefte 7 und 8 unserer Zeitschrift berichtet. Dort ging Littaur 
auch sehr genau auf die Bedeutung ein. Allein die Fälle sind 
zweifellos zu wenig und in ihren Nebenumständen und Folgen 
noch zu unsicher, um darauf zu große Hoffnungen zu bauen. 
Freilich sind die Beobachtungen der Gegner Steinachs an 


ihrem Material eigentlich noch unsicherer. Die Mehrzahl 


der Behandelten war krank und man kann natürlich die von 
Steinach der „Verjüngung“ zugeschriebenen Merkmale der 
Heilung zuschreiben. Bei frühzeitig Impotenten kann selbst- 
verständlich auch auf das Konto der Suggestion sehr viel 
geschrieben werden. Sicherlich mit Recht macht Payr darauf 
aufmerksam, daß viele gealterte Männer an einer Vergrößerung 
der Prostata leiden, die bedeutende Störungen nach sich 
zieht und deren Entfernung dann eine „Verjüngung“ mit sich 
bringt. Eines dürfte aber aus Steinachs Forschungen über die 
Verjüngung gesichert sein, daß nämlich die innere Sekretion 
der Geschlechtsdrüsen erneut wird, und daß deren 
Hormone (Reizstoffe), einen erneuten oder verstärkten Reiz 
auf ihr Wirkungsgebiet ausüben. Da aber gerade die 
Grenze zwischen innerer Sekretion und Nerventätigkeit vor- 
läufig noch eine sehr unklare ist, muß man den Einfluß auf 
das Rückgängigmachen der Alterserscheinungen mit 
großer Vorsicht aufnehmen, erst dann könnte man von 
Verjüngung sprechen. Diese Frage energisch angeschnitten 
und dauernd ins Rollen gebracht zu haben, bleibt aber das 
unvergängliche Verdienst Steinachs. 


SS 


Geschlecht und Gesellschaft, 
Neue Folge X, 10 


Tafel I 








Venus von Willendorf (oberes Aurignacien) 


Zu Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen 


Hirschfeld: Erste internationale Tagung für Sexualreform 329 


DIE ERSTE INTERNATIONALE TAGUNG 
FÜR SEXUALREFORM AUF 
SEXUAL-WISSENSCHAFTLICHER GRUNDLAGE. 
Von Sanitätsrat Dr. MAGNUS HIRSCHFELD (Berlin). 

m 15. September 1921 tritt in Berlin der erste internationale 

Kongreß für Sexualreform auf sexualwissenschaftlicher 
Grundlage zusammen. Dem einberufenden Ausschuß gehören 
Gelehrte fast aller Kulturländer an; von Finnland bis Argentinien, 
vom fernsten Osten (Tokio) bis zum weitesten Westen (San 
Francisco) finden sich hier Persönlichkeiten zusammen, die alle 
das gleiche Ziel verfolgen: der Wahrheit zu dienen und dem 
Rechte, das in der Erkenntnis der Wahrheit wurzelt. 

Es ist sicherlich kein Zufall, daß einer der ersten inter- 
nationalen Kongresse nach dem furchtbaren Gemetzel des 
Weltkriegs der Sexualwissenschaft gilt. Handelt es sich doch 
hier um ein Gebiet, an dem alles, was Menschenantlitz trägt, 
in gleicher Weise beteiligt ist, unabhängig von jeder 
sonstigen Zugehörigkeit. Daher kann ein echter Sexual- 
forscher auch niemals Chauvinist im gewöhnlichen Sinne sein; 
es gibt keine stärkeren Gegensätze als Krieg und Liebe; der 
eine Lebensverneinung, die andere Lebensbejahung, dort negative 
Zerstörung und pessimistisches Mißgönnen, hier optimistische 
Freudigkeit und positive Fruchtbarkeit. Solange man freilich 
bewußt und unbewußt mit dem Geschlechtlichen an und für 
sich die Vorstellung der Erbsünde verband und damit den 
Boden schuf für Sexualverdrängung*), sexuelle Angst und 
Heuchelei, wird man größte Mühe haben, den Weg frei zu 
machen für natürliche Reinheit und reine Natürlichkeit. Man 
hat sich während des Weltkriegs oft gewundert, daß die Ver- 
treter der Kirche sich nicht in höherem Grade, als sie es 
taten, der Idee des Krieges als solcher widersetzten. Solange 
eine Religion in der Geschlechtssünde wurzelt und von ihr 
lebt, wird sie stets letzten Endes nicht nur liebesfeindlich, 
sondern auch lebensfeindlich sein müssen. 

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, daß gerade der- 
jenige Kirchenvater, welcher die Suggestion von der „Schlechtig- 


*) Wird für einen Menschen die adäquate (d. h. die seiner Ver- 
anlagung entsprechende) Geschlechtsbefriedigung unmöglich gemacht, so 
spricht man von Sexualverdrängung. (Die Schriftl.) 

22 


330 Hirschfeld: Erste internationale Tagung für Sexualreform 


keit der Geschlechtlichkeit“ besonders tief und nachhaltig der 
Mit- und Nachwelt einprägte, der heilige Augustinus, zweifel- 
los aus einem Verdränger zum Verfolger wurde. Seit ihm 
haben in der Jahrhunderte Lauf viele seiner Schüler den Meister 
übertroffen. Im Grunde ringen zwei Welt- und Lebens- 
anschalungen in der Beurteilung des menschlichen Geschlechts- 
und Liebeslebens miteinander: die theologische Rich- 
tung der Verdränger-Verfolger auf der einen Seite, die 
biologische Richtung unvoreingenommener Wahrheitssucher 
und Rechtsfinder auf der andern. Erbsünde nennen die 
Theologen, was bei den Biologen höchstens Erbfehler heißt. 

Daß die augustinische Richtung so lange die Oberhand 
hatte und auch jetzt noch bis weit in die Kreise sogenannter 
„Freidenker“ ihre traditionelle Vorherrschaft ausübt, liegt frei- 
lich nicht allein in der Autorität ihrer Verkünder, sondern auch 
darin, daß ihre Verfechter leichtes Spiel hatten, als Führer auf 
einem naturwissenschaftlichen Gebiet aufzutreten, von dem 
man wohl sagen kann, daß es noch bis vor wenigen Jahr- 
zehnten im wesentlichen ein dunkles Gebiet, in vieler Hinsicht 
direkt eine terra incognita war. 

Wie lange ist es denn her, seit Karl Ernst v. Bär in 
Würzburg das menschliche Ei entdeckte? Es war im Jahre 
1827, also vor noch nicht 100 Jahren, und kaum ein halbes 
Jahrhundert ist verflossen, seit im Jahre 1875 Oskar Hertwig 
in Ajaccio auf Corsika als erster den Befruchtungsvorgang — 
die Vereinigung einer männlichen und weiblichen Keimzelle — 
beobachtet und beschrieben hat. Wie winzig kurz ist, am 
Weltgeschehen gemessen, die Spanne Zeit, seit Darwin mit 
seiner Lehre von der Entwicklung alles Lebendigen der 
biblischen Schöpfungsgeschichte den stärksten Stoß versetzte 
und der Abt Gregor Mendel mit seinen Kreuzungsversuchen 
im Brünner Klostergarten auch aus dem Reiche der Varianten 
den Zufall verbanntee Solche wissenschaftliche Großtaten 
vollziehen sich meist still und unmerklich; selbst diejenigen, 
denen wir sie verdanken, ahnen oft nichts von dem Unermeß- 
lichen, was sich in ihrem Geist vollzogen — so wie eine 
Mutter nichts von der Stunde spürt, in der in ihrem Schoße 
ein neues Leben zu keimen beginnt. Kaum ein Menschenalter 
ist es her, seit in Deutschland der umfangreiche Kreis der 
intersexuellen Abstufungen in nahezu lückenloser Linie auf- 


Hirschfeld: Erste internationale Tagung für Sexualreform 331 


gedeckt wurde und in Frankreich der alte Brown Sequard (im 
Juni 1889) seinen Vortrag über Organsafteinspritzungen am 
eigenen Körper hielt, mit dem recht eigentlich die so ungemein 
wichtige Lehre von der form- und richtunggebenden Bedeutung 
der Inkrete ihren Anfang nahm; nur wenige Jahrzehnte liegen 
zurück, seit v. Krafft-Ebing durch die Psychopathia sexualis 
das Wissen und Gewissen der Ärzteschaft schärfte und Freud 
mit seinen Veröffentlichungen über Sexualverdrängung und 
Psychoanalyse ein Werk von noch unabsehbarer Seh- und 
Tragweite inaugurierte. 

So ist die Sexualforschung in der Tat als Zweig der 
Naturwissenschaft eine verhältnismäßig noch recht junge 
Wissenschaft und deshalb sollte man sich auch nicht gar so 
sehr darüber aufhalten, daß bis vor kurzem durch viele Jahr- 
hunderte die drei andern Fakultäten: Theologie, Jurisprudenz 
und Philosophie in allen Fragen des menschlichen Geschlechts- 
und Liebeslebens sich als maßgebend fühlten und für maß- 
gebend galten. Hier setzt nun der Kongreß für Sexualreform 
auf sexualwissenschaftlicher Grundlage ein. Nicht daß auf 
ihm die genannten Fakultäten nicht auch zu Worte kommen 
sollen: was wir wünschen, ist nur, daß sie den schwankenden 
Boden subjektiver Empfindungen, auf den sie bisher ihre An- 
schauungen gründeten, mit dem festen Fundament objek- 
tiven Wissens vertauschen, daß aus den sich überheblich 
als magistri naturae*) Fühlenden ehrfürchtig-bescheidene ministri 
naturae**) werden. Denn je mehr wir uns in das allgewaltige 
Naturphänomen der Liebe versenken, ein schier unbegrenztes 
Feld des Forschens und Denkens, um so mehr wächst unsere 
Bewunderung vor den hier waltenden Naturgesetzen. Leider 
gilt aber auch heute noch der Satz, den einer der Vorläufersexual- 
wissenschaftlicher Erkenntnis, der treffliche Mantegazza 
einst ausgesprochen hat: „Gegenüber der Liebe sind wir alle 
noch mehr oder weniger Wilde, — eine schreckliche Stupidität 
herrscht angesichts der größten aller menschlichen Leiden- 
schaften.“ 

Dieser Stupidität gilt unser Wahrheitskampf, er muß vor- 
urteilslos und voraussetzungslos geführt werden, so voraus- 
setzungslos, daß, wenn eine unvoreingenommene Sexualforschung 


*) Lehrmeister der Natur. 
**) Diener der Natur. 


332 Hirschfeld: Erste internationale Tagung für Sexualreform 


ergeben sollte, daß die Lehre von den sexuellen Konstitutionen 
falsch ist, daß es keine sexuelle Zwischenstufen gibt, daß die 
asketische Auffassung zutrifft, daß der ausschließliche Zweck 
der Sexualität die Erhaltung der Art ist und alles, was diesem 
Zwecke nicht unmittelbar dient, Fleischessünde und vom Übel 
ist, wir uns dann nicht scheuen dürfen, daraus die Schluß- 
folgerungen zu ziehen, selbst wenn alles damit zusammenfällt, 
was wir bis dahin für recht und gut ansahen. Wenn irgend- 
wo, muß es auf dem Gebiet der Sexualwissenschaft und muß 
es deshalb auf diesem Kongresse heißen: Die Wahrheit über 
alles! Nur in diesem Zeichen können Sittengesetze wahrhaft 
sittlich und nicht wie bisher so oft nur überlieferte und 
gedankenlos übernommene Sitten oder richtiger Unsitten sein. 

Im Bewußtsein dieses Wahrheitsstrebens können uns auch 
die Angriffe kalt lassen, die nun einmal untrennbar mit jeder 
sexologischen Arbeit, mit jeder das Licht der Öffentlich- 
keit nicht scheuenden Erörterung sexueller Probleme 
verbunden zu sein scheinen. Diese Widerstände sind dazu 
da, daß sie durch unablässige Klärung überwunden werden. 
Je affektbetonter und darum gröber sie in der Form sind, um 
so deutlicher verraten sie ihren psychologischen Tiefenursprung. 
Es gibt auch Seelenmikroskope. 

Auf der bevorstehenden Tagung werden die vier Haupt- 
gebiete der Sexualwissenschaft die sexuelle Biologie, Pathologie, 
Soziologie und Ethnologie behandelt werden; sie auch nur im 
entferntesten zu erschöpfen, ist natürlich nicht möglich und 
auch nicht nötig, da wir hoffen, daß dieser ersten Tagung in 
den kommenden Jahren noch viele andere folgen werden. Im 
Mittelpunkt stehen diesesmal drei hochbedeutsame Probleme: 
am ersten Verhandlungstage „die Bedeutung der inneren 
Sekretion für die menschliche Sexualität“, die von führenden 
Autoren dieses Forschungsgebiets, wie Professor A. Biedl- 
Prag, dem weltberühmten Verfasser der großen Enzyklopädie 
über innere Sekretion und Prof. A. Lipschütz-Dorpat, dem 
wir das klassische Werk über die Pubertätsdrüse verdanken, 
erörtert werden wird. Das Hauptthema des zweiten Ver- 
handlungstages lautet: Geschlecht im Recht. Auch hier 
werden wir hervorragende Fachleute hören, wie Justizrat 
Werthauer-Berlin und Staatsanwaltschaftsrat K. A. Dehnow- 
Hamburg, der die Güte hatte, für Geh. Justizrat Horch-Mainz 





Weil: Geschlecht und Gestalt 333 


einzutreten, den leider kurz nach Übernahme des Referats ein 
unerwarteter Tod dahinraffte. Das Hauptthema des letzten 
Tages soll die Sexualität des Kindes und Sexualpädagogik 
sein, zu der neben tüchtigen Fachärzten und guten Sach- 
kennern wie Kronfeld und Saaler sowie dem Leiter des 
psycho-pädagogischen Instituts in Leipzig Max Döring, in der 
praktischen Fürsorge stehende Frauen wie Frau Dr. Uhlmann- 
Berlin und Frau Senator Kirchhoff-Bremen ihre Erfahrungen 
und die sich aus ihnen ergebenden Schlußfolgerungen mit- 
teilen werden. Außerdem werden zahlreiche andere Fragen 
des sexuellen Lebens, unter denen die Geburtenregelung eine 
umfangreiche Gruppe bildet, in kleineren Vorträgen und Refe- 
raten zur Sprache kommen. 

Allen Erörterungen aber wird ein Gedanke gemeinsam sein: 
Fort mit der sexuellen Phrase und Heuchelei! Fördern wir 
den Fortschritt der Menschheit, indem wir dazu beitragen, daß 
ihr höchstes Gut sich zu dem entfalte, was es sein sollte und 
sein kann: Zur schönsten Blüte am Baume des Lebens, 
Willkommen, Sexualforscher, in Berlin; auf zum Dienste einer 
neuen und besseren Zeit der Menschenverständigung und 
Menschenveredelung. 

DIE 
GESCHLECHT UND GESTALT 
Von Dr. med. ARTHUR WEIL, Berlin. 
LI ist das Bestreben der Menschen, aus den äußeren 

Formen des Körpers die seelischen Veranlagungen zu er- 
raten. In den Papyros der Ägypter, in den alten griechischen 
Schriften des Aristoteles finden wir schon Hinweise darauf, 
wie in den verschiedenen Gestaltungen die verschiedenen 
Temperamente zum Ausdruck kommen: das ruhige, phlegmatische 
des Wohlbeleibten, das aufbrausende sanguinische des Langen, 
Hageren. Spätere Zeiten sammelten diese Erfahrungen von 
Menschenaltern in der Lehre von „der Symbolik der mensch- 
lichen Gestalt“, die aus den Formen des Schädels, aus den 
Verhältnissen der Körperteile zueinander, aus den Linien der 
Hand usw. auf seelische Eigenschaften Rückschlüsse ziehen 
wollte. Je nach den philosophischen Anschauungen der ver- 
schiedenen Kulturepochen wechselte die Bedeutung dieser 
Lehre; je nachdem, ob man Körper und Seele als etwas Ge- 
trenntes, voneinander Unabhängiges betrachtete, oder in dem 


334 Weil: Geschlecht und Gestalt 


einen den Ausdruck des anderen sah, leugnete man auch jeden 
Zusammenhang zwischen Körperform und Charakter, oder sah in 
dieser Lehre von der Symbolik eine Offenbarung, die dem kundigen 
Auge das Innere verriet. Am bekanntesten sind wohl die Lehren 
Galls geworden, der am Ausgange des 18. Jahrhunderts versuchte, 
aus den Formen des menschlichen Schädels Rückschlüsse auf die 
Ausbildung des Gehirns und damit bestimmter geistiger Fähig- 
keiten zu ziehen. Die übertriebene Einseitigkeit dieser Lehre 
brachte sie aber bald in Verruf, so daß man bis in die Neuzeit 
hinein diese Lehre von dem Zusammenhang des Inneren mit 
äußeren Körperformen sehr stiefmütterlich behandelte. 

Wir wissen heute, daß die Formen des menschlichen 
Körpers nichts von Geburt ab unabänderlich Bestehendes sind, 
daß wohl die gesamte Körperlänge abhängig ist von der von 
den Eltern mitgegebenen Erbmaße, daß aber die Verhältnisse 
der einzelnen Teile zueinander, die Wohlgestalt der Proportionen, 
abhängig ist von der Tätigkeit bestimmter Drüsen, vor allem 
der Schilddrüse, des Hirnanhanges, der Thymusdrüse und der 
Geschlechtsdrüsen. Während die drei ersteren Stoffe absondern, 
welche die Knochen zu stärkerem Wachstume anregen, hemmen 
die letzteren das Wachstum, so daß auf dem Höhepunkte der 
Entwicklung, mit dem Abschluß des Längenwachstums um das 
25.Lebensjahr herum, ein ganz bestimmter Gleichgewichtszustand 
dieser Drüsen erreicht wird, der äußerlich in einem bestimmten 
Verhältnis der einzelnen Körpermaße zueinander zum Ausdruck 
kommt. Vor allem sind es zwei Verhältnisse, die abhängig 
sind von der Tätigkeit der Keimdrüsen: das Verhältnis zwischen 
dem Ober- und Unterkörper (gemessen vom Scheitel bis zum 
Ende der Wirbelsäule und von dieser bis zum Boden) und 
das Verhältnis der Schulterbreite zur Hüftbreite. Bei einem 
ausgewachsenen normalen Manne verhalten sich die beiden 
ersten Längen im Durchschnitt etwa wie 100:93, bei der Frau 
etwa wie 100:91. Die letzteren Verhältnisse sind beim Manne 
durchschnittlich 100:81, bei der Frau 100:97. — Wenn die 
Tätigkeit der Keimdrüsen gehemmt wird oder ausfällt, sei es 
nun durch angeborene Entwicklungshemmungen oder spätere 
Störungen, so verschiebt sich das Verhältnis Oberkörper zu 
Unterkörper beim Manne und beim Weibe nach 100:125 hin. 
Von der geregelten Tätigkeit der Keimdrüsen sind aber nicht 
nur die Proportionen des menschlichen Körpers abhängig, 


Weil: Geschlecht und Gestalt 335 


sondern auch die Stärke seines Geschlechtstriebes, denn wir 
wissen, daß bei geborenen Eunuchen oder Frühkastraten kein 
Trieb vorhanden ist. Zwischen dem Vollmanne und dem Voll- 
weibe gibt es nun nicht nur in bezug auf die äußeren Körper- 
formen die mannigfaltigsten Mischungen und Übergänge, sondern 
auch in bezug auf das sexuelle Verhalten besteht die größte 
Mannigfaltigkeit. Um diesen Parallelismus zwischen Ge- 
schlechtlichkeit und Gestalt noch weiter zu beweisen, nahm 
ich Körpermessungen an mehreren Hunderten von Menschen 
vor (z. Z. etwa 400), deren sexuelle Psyche ich durch ein- 
gehende psychische Analyse kennen gelernt hatte. Ich richtete 
mein Hauptaugenmerk auf die extremen Abweichungen der 
Triebrichtung auf das andere Geschlecht, die Homosexualität, 
in deren Erklärung sich heute hauptsächlich zwei Theorien 
entgegenstehen: einmal die von Magnus Hirschfeld vertretene 
Anschauung, daß es sich hierbei um eine angeborene, inner- 
sekretorisch bedingte Anlage handele, dann die von Kraepelin 
verfochtene Ansicht, daß sie als eine erworbene Anomalie zu 
deuten sei, als Beeinflussung einer psychopathischen Persönlich- 
keit durch irgendein äußeres Erlebnis, das unverlöschliche 
Spuren in die jugendliche Psyche eingegraben hat. 

Bei den von mir gemessenen homosexuellen Männern fand 
ich nun, daß bei ihnen diese beiden Verhältniszahlen von dem 
allgemeinen männlichen Durchschnitte abweichen: Ober- : Unter- 
länge verhielten sich bei ihnen wie 100:108, Schulter- : Hüft- 
breite wie 100:85. Bei homosexuellen Frauen fand sich das erstere 
Verhältnis wie 100: 106, das zweite wie 100:94. Mit anderen 
Worten: Bei 95 von 100 aller untersuchten Homosexuellen 
brachten die Körperformen zum Ausdruck, daß die formende 
Kraft der Keimdrüsen nicht stark genug gewesen war, um die 
wachstumsfördernden Eigenschaften der anderen Drüsen so zu 
beeinflussen, daß die Proportionen des erwachsenen Durch- 
schnittskörpers gebildet wurden. Daß bei den homosexuellen 
Männern sich den weiblichen Zahlen nähernde Verhältnisse 
der Schulter- zur Hüftbreite und bei den homosexuellen 
Frauen sich den männlichen Zahlen nähernde entsprechende 
Verhältnisse finden, deutet darauf hin, daß bei den Männern 
die weibliche Komponente, bei den Frauen die männliche 
Komponente ihrer zweigeschlechtlichen Anlage stärker zum 
Durchbruch gekommen war. — In dem ersten Aufsatze der 


336 Weil: Geschlecht und Gestalt 


„Jahrbücher für sexuelle Zwischenstufen hat bereits Magnus 
Hirschfeld darauf hingewiesen, daß die objektive Diagnose 
der Homosexualität aus den äußeren Körperformen gestellt 
werden müsse, um das „Märchen von der Widernatürlichkeit“ 
durch naturwissenschaftliche Forschungsergebnisse zu wider- 
legen, und später (1903) führt er an derselben Stelle in einem 
Aufsatze „Ursachen und Wesen des Uranismus“ die ver- 
schiedensten homosexuellen Typen an, die sich in ihren 
Körperformen dem weiblichen Durchschnitte ‚nähern. — Man 
hat seine Theorien damit zu widerlegen versucht, daß man 
homosexuelle Männer anführte, die in ihrem Äußeren nicht die 
geringste Andeutung an weibliche Körperformen zeigten, deren 
Schulter-Hüftverhältnisse durchaus männlich waren und die in 
ihrer aktiven Psyche nicht den geringsten femininen Einschlag 
erkennen ließen. Auch ich habe viele von diesen Typen ge- 
messen; aber immer wieder fand ich auch bei ihnen die ab- 
weichende Proportion Ober-:Unterlänge, die sie von dem 
heterosexuellen Manne unterschied. 

Aber nicht alle Menschen, die eine von dem normalen 
Durchschnitt abweichende Längenproportion haben, sind homo- 
sexuell. Ich fand diese Maße auch bei manchen Männern, die 
in ihrer Triebrichtung eindeutig auf das andere Geschlecht 
gerichtet waren; aber sie waren nie das, was man als Durch- 
schnittsmann inbezug auf die Sexualität bezeichnet: der das 
Weib begehrende, aktive Teil. Sie hatten in ihrer Psyche stets 
ausgesprochen feminine Eigenschaften; entweder waren sie 
selbst sehr passiv, ließen sich von den Frauen begehren, hatten 
weibliche Kleidung, liebten weibliche Beschäftigungen; oft auch 
waren sie bei höheren Proportionen (über 100: 108 hinaus) ab- 
gesehen von sehr wenigen sexuellen Erlebnissen in den zwanziger 
Jahren ganz asexuell, hatten jeden Geschlechtstrieb verloren. 

Je mehr Untersuchungen ich vornahm, desto mehr wurde 
ich so in meiner Auffassung bestärkt, daß in den äußeren 
Körperproportionen die Stärke der Keimdrüsentätigkeit zum 
Ausdruck kommt, und da wir ja heute durch die Forschungs- 
ergebnisse der Lehre von der inneren Sekretion wissen, daß 
nicht nur die Körperformen, sondern auch der Geschlechtstrieb 
abhängig ist von den Keimdrüsen, bei deren Fehlen, sei es 
nun als Geburtsfehler oder nach der Entfernung vor der Reife, 
auch der Geschlechtstrieb fehlt, ist damit wohl der Beweis 


Weil: Geschlecht und Gestalt 337 





erbracht, daß die äußeren Körperformen auch gleichzeitig die 
Ausdrucksformen für die Geschlechtlichkeit sind.*) 

Zur näheren Erläuterung der gefundenen Verhältnisse lasse 
ich eine Kurve folgen, welche die Variationsbreite der Proportion 
Ober- : Unterlänge bei homosexuellen und heterosexuellen 
Männern veranschaulichen soll. Die Abszisse gibt die Unter- 
länge in Prozenten der Oberlänge an, die Ordinate die Anzahl 
der Fälle von je hundert gemessenen, die auf eine bestimmte 
Proportion entfallen. 





























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Verhältnis der Oberlänge zur Unterlänge (- --- heterosexuelle, — homosexuelle Männer) 200 Fälle, 


*) Ausführlichere Zahlenangaben vgl. Zeitschrift für Sexualwissenschaft, 
Band 8, Heft 5, 1921 und Archiv für Entwicklungsmechanik 1921. 


Anmerkung: Diese Beobachtungen Weils dürften von großem 
Werte für die Anthropologie werden, die, wie wir demnächst näher 
ausführen wollen, unbedingt Rücksicht auf die Resultate der inneren 
Sekretion nehmen muß. Aus Weils Beobachtungen werden sich zwei 
Indices ergeben: der Oberunterkörperindex x und der Schulterhüftindex y. 
Bezeichnen wir die Oberkörperlänge mit o, die Unterkörperlänge mit u, 
die Schulterbreite mit s und die Hüftbreite mit h, so erhalten wir 

ux 100 h x 100 
a ee er 

Ist beim Manne x < 93 und y >> 81, so hätten wir einen femi- 
ninen Typus, ist dagegen beim Weib x >91 und y <{ 97, so hätten 
wir einen virilen Typus. Bekanntlich treten uns diese Typen bereits 
deutlich an den Frauenfigürchen des Paläolithikum entgegen. 

In vieler Beziehung ist eine derartige Einteilung ja schon durch die 
Franzosen Chaillou und Mac Auliffe in „Morphologie médicale“, Paris 
1912, vorbereitet. Frhr. v. R. 


338 Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen der Menschheit 


DIE ALTESTEN SEXUELLEN DARSTELLUNGEN 
DER MENSCHHEIT. 
Von FERD. FRHRN. VON REITZENSTEIN, Dresden. 


N liegt die Zeit nicht sehr weit zurück, da glaubte man 
kulturgeschichtliche Fragen der menschlichen Frühzeit 
höchstens auf altägyptischem oder altbabylonischem Boden 
lösen zu können. Daß Europa, insonderheit Frankreich und 
Spanien, uns weit ältere Denkmäler bieten würde, schien 
damals undenkbar. Wohl kannte man längst roh behauene 
Steinwerkzeuge, aber ihr Mund blieb stumm über die Lebens- 
art und die äußere Erscheinung ihrer Träger. Die letzten drei 
Jahrzehnte haben hier Wandel geschaffen. Der Vorhang, der 
über die Anfänge menschlicher Kultur ausgebreitet lag und 
der sie so fest zu umhüllen schien, daß kein menschliches 
Auge einen Blick in die Geheimnisse jener Zeiten werfen 
konnte, ist mehrfach zerrissen und läßt uns auf eine Bühne 
menschlicher Darstellung schauen, die uns das größte Er- 
staunen abringt. Nicht nur die Reste der Menschen selbst 
konnten wir hervorholen, sondern Geräte, Malerei, Plastik 
und Zeichnung verraten uns gar manches über das Leben 
jener Zeiten. Längst ausgestorbene Tiere traten da in Wechsel- 
beziehung zum Menschen und beweisen seine Gleichzeitigkeit 
mit ihnen. Die hintersten Szenen verdämmern im grauen 
Lichte der Urzeit und nur der Geologe vermag uns ungefähr 
die Jahrtausende abzuschätzen, die der Weg zu ihnen beträgt. 
Man rechnet heute mit mehr denn 100000 Jahren erkennbarer 
menschlicher Geschichte. In dieser Frühzeit ist allerdings 
unser kulturgeschichtliches Wissen sehr gering, aber gehen 
wir nur etwa 20—30000 Jahre zurück, dann fließen die 
Quellen bereits ziemlich reichlich. Was ist dagegen die 
biblische Zeitrechnung, die die Weltschöpfung etwa ins 5. Jahr- 
tausend vor unser Zeitrechnung setzen will!! Ein gewaltiger 
Rechenfehler, der auf Märchen Geschichte bauen wollte! Man 
faßt diese alten Kulturen unter dem Namen altsteinzeitliche 
oder paläolithische zusammen. Unter ihnen unterscheidet 
man wieder alt- und jungpaläolithische Kulturgruppen. 
Für uns kommt, wie schon gesagt, nur die zweite Reihe in 
Betracht. Sie zerfällt nach den Namen der Fundplätze in drei 


Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen der Menschheit 339 


große Gruppen, die Stufe von Aurignac (das Aurignacien), 
in der der Faustkeil nicht mehr Verwendung fand, wohl aber 
verschiedenartigste steinerne Schaber, Steinmesser, Bohrer und 
Stichel. Neben diesen Steingeräten traten dann auch Knochen- 
werkzeuge auf. Wichtig für unsere Zwecke ist, daß hier die 
ersten künstlerischen Formen erscheinen, kleine Rund- 
figürchen, zum Teil aus Stein, zum Teil aus Elfenbein geschnitzt. 
Ihr folgt die Stufe von Solutr& (das Solutreen), aus- 
gezeichnet durch besonders schön gearbeitete feine Stein- 
werkzeuge von blattförmiger Gestalt. An künstlerischen Dar- 
bietungen erfreuen uns besonders Relieffiguren und Ritz- 
zeichnungen auf Rennknochen. Daran schloß sich die 
Stufe von La Madeleine (das Magdalénien). Ungefähr in 
seiner Mitte traten zu den Steinwerkzeugen Harpunen. Das 
Magdalénien hinterließ uns besonders zahlreiche Ritzzeichnungen 
und figürliche Schnitzereien. Die drei Perioden zusammen 
nennt man auch die Renntierzeit und zwar die ältere, mittlere 
und jüngere. Die beiden ersteren waren warme Erdperioden, 
das Magdalénien dagegen eine Kältezeit. Sie sind, wie schon 
erwähnt, noch belebt durch Tiere, die heute in unsern Ländern 
ausgestorben oder, wie das Renntier, ausgewandert sind. Schon 
in den uns benachbarten letzten Schichten des Magdalénien 
gibt es keine Tiere mehr, die nicht. heute unter uns leben, 

Auf diese jungpaläolithischen Perioden folgt dann eine 
Übergangszeit, die kulturell noch völlig dem Paläolithikum 
gleicht, in der Tierwelt aber unserer Gegenwart angehört, das 
sogenannte Asylien (nach der Grotte von Mas d’Azil). 
Die bildende Kunst geht in dieser Periode unter. 

Über das Alter der Zeiten, die uns hier beschäftigen sollen, 
haben wir bereits Andeutungen gemacht. Penck nahm seit 
dem Ende des Magdalénien einen Zeitraum von 20000 Jahren 
auf Grund geologischer Forschungen an, Menzel zeigte, daß 
das Abschmelzen des letzten Inlandeises in der Berliner 
Gegend etwa vor 23000 Jahren begonnen hat und daß somit 
die Magdalenienzeit vor etwa 15500 Jahren ihr Ende erreichte. 
Besonders wichtig aber ist, daß Nils Ekholm auf astro- 
nomischem Weg das Klimaminimum als vor 28000 Jahren 
eingetreten festlegen konnte. Dieses fällt natürlich dann mit 
dem Höhepunkt der letzten Vereisung zusammen und dieser 
liegt nach Wiegers im Aurignacien. Nach dieser wohl ein- 


340 Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen der Menschheit 


wandfreien Berechnung würden also unsere ältesten jetzt zu 
betrachtenden Denkmäler rund 28000 Jahre alt sein.') 


Für die Sexualwissenschaft aber hat nun die Erforschung 
der paläolithischen Perioden ein sehr wichtiges Resultat ge- 
zeitigt: nämlich, daß es das sexuelle Empfinden war, das 
den Menschen überhaupt zur bildenden Kunst, wenigstens zur 
Darstellung des Menschen selbst, trieb. Schon in meiner Ur- 
geschichte der Ehe (Stuttgart 1908) konnte ich darauf hinweisen. 
Ich lasse die Stelle hier folgen: „Wir sehen Frauengestalten 
(es sind die Rundfigürchen aus Elfenbein usw. gemeint, die in 
südfranzösischen Höhlen und anderwärts gefunden wurden) 
die mit höchster Liebe und Hingabe gefertigt sind, Frauen- 


!) Von verschiedenen Seiten klassischer Archäologen wurde gegen 
diese Datierungen Einspruch erhoben. Diese Archäologen glaubten nämlich 
Beziehungen zwischen der paläolithischen Kunst und der kretisch-minoischen 
feststellen zu können und sagen, diese Verbindung stütze sich „auf aller- 
hand feine Mittel“. Solche Mittel werden auch angegeben. Einige Rund- 
figuren scheinen schon so zu beten und zu opfern, wie später die Leute 
im kretisch-mykenischen, im ägyptischen, im semitischen Kreis. Das ist 
tatsächlich ein merkwürdiger Beweis! Wer sich nur einigermaßen mit 
Völkerkunde abgab, der wird wissen, daß derartige Dinge ganz unabhängig 
voneinander an verschiedenen Stellen auftreten, umsomehr, als das Beten 
und Opfern nicht nur nicht bewiesen, sondern gänzlich unwahrscheinlich 
bei den genannten Figuren ist. Die fortwährende Übertragung des „Gott- 
begriffes“ auf primitive Völker, die meist einen Dämonen- oder Zauberglauben 
hatten, widerspricht gänzlich ethnologischem Denken, wenn es auch bei 
Philologen und Archäologen sehr beliebt ist. Es ist ein Anachronismus 
wie etwa der, im Goldfunde von Eberswalde den „Hausschatz eines 
Semnonischen Großen“ zu sehen, der „uns die der gleichzeitigen homerischen 
Welt merkwürdig gleichartige Kultur (!) der hiesigen Gegenden enthüllt“. 
Anzunehmen, daß zur mittleren Hallstattzeit (oder der Zeit Homers) im 
mittleren Norddeutschland Semnonen saßen, ja daß diese Stammesbildungen 
schon vollzogen waren, ist eine derartig ungeheuerliche Behauptung, 
daß dagegen die auf recht guten Boden stehenden geologischen Berech- 
nungen wirklich von erdrückender Beweiskraft wären. Mit Recht sagt dazu 
Wiegers, die Entwicklung der diluvialen Kunst in Ztsch. f. Ethnol. 46, 1914, 
S. 859, daß eben die Vertrautheit mit der Geologie für den klassischen 
Archäologen (in diesem Falle Schuchhardt-Berlin) nicht notwendig sein 
müsse. Da diese Einwände also weder geologisch noch ethnologisch 
zu halten sind, noch vor allem naturgeschichtlich (die paläolithischen Funde 
werden von Tierresten begleitet, die z. T. ausgestorbenen, z. T. längst 
ausgewanderten angehören und deren Lebensmöglichkeiten bei uns in histo- 
rischer Zeit nicht mehr gegeben waren), können sie als unhaltbar und 
wissenschaftlich unbegründet ruhig als erledigt bezeichnet werden. 
Verbindungen sind nicht über Kulturvölker, sondern höchstens über 
Naturvölker denkbar, die eben Jahrtausende, durch das Milieu gezwungen, 
auf dem gleichen Kulturzustande stehen blieben. 


Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen der Menschheit 341 


gestalten, die wir getrost als den vollendetsten Ausdruck der 
damaligen Kunst ansprechen dürfen. Und sein ganzes Können 
stellte der Urmensch lediglich und allein in den Dienst des 
Weibes, der gesamte ihm innewohnende Gestaltungstrieb 
konzentrierte sich in diesem einen Gedanken. Noch inter- 
essanter aber sprechen die uralten Statuetten, wenn wir sie 
genauer betrachten. Für alle ist eine starke Betonung der 
Geschlechtsorgane sofort in die Augen fallend, die sogar 
deutlich zeigt, daß sie das Weib als Geschlechtswesen 
darstellen. Bedenkt man, wie lange der damalige Mensch mit 
seinen primitiven Werkzeugen an einem derartigen Figürchen 
arbeiten mußte, dann geht man nicht fehl, zu behaupten, daß 
es in erster Linie geschlechtliche Gedanken waren, die ihn 
beschäftigten und deren Stärke ihm die Ausdauer verlieh, das 
Ziel seiner Wünsche bildlich darzustellen. Als wichtigstes 
Figürchen tritt uns die sogenannte Venus von Brassempouy 
entgegen. Das Fragment ist 8 cm lang und zeigt scharf aus- 
geprägte Steatopygie!) (d. h. Fettsteißbildung); die Sexual- 
organe sind deutlich wiedergegeben. Ähnlich ist das Figürchen, 


1) Es wird neuerdings von Verschiedenen behauptet, daß eine klare 
Darstellung der Steatopygie nicht nachweisbar sei. Dies ist eine ziemlich 
inhaltslose Behauptung, denn man kann natürlich nicht erwarten, daß der 
primitive Mensch eineanthropologisch einwandfreie Darstellung gibt. Daß er 
es aber wollte, ist kein Zweifel. Übrigens steht auch Martin, Lehrbuch 
der Anthropologie, Jena 1914, S. 29, auf dem Standpunkte, daß wir es 
mit Steatopygie zu tun haben und nennt speziell die Figuren von Maz 
d’Azil, Mentone, Laussel und Willendorf. Werner, Ztsch. f. Ethnologie 
1916, Heft 3, glaubt behaupten zu können, daß die Steatopygie ursprünglich 
den Hottentotten angehört und die reinen Zwergvölker zunächst davon frei 
waren, eine Meinung, der sich Kuhn über die Pygmäen am Sanga, Ztsch. 
f. Ethn. 46 1914, S. 134, anschließt. Pöch hingegen, einer der besten Kenner 
der Buschleute, sagt — Korresp.-Bl. f. Anthrop., Ethnol. und Urgeschichte, 
42. Jahrg., Nr. 8—12, Aug.—Dez. 1911, Seite 76 (anthropol. Kongreß von 
Heilbronn): „Das Unterhautfettgewebe fehlt fast am ganzen Körper, die 
Haut neigt sehr zur Faltenbildung. Die Runzelung ist im späteren Alter 
oft eine ganz exzessive. Dagegen vermißt man fast nie ein Fett- 
polster in der Glutäalgegend, das bei guter Ernährung und 
beim weiblichen Geschlecht auffallend groß wird, „Stea- 
topygie“. BeidenFrauengibtesfaststetsauchinder Trochanter- 
gegend Fettpolster. Es ist naheliegend, in dieser lokalen Fettan- 
sammlung ein Reservoir zu sehen, welches sich der Organismus angelegt 
hat, um den Ausfall in Hunger- und Durstperioden zu decken. Das 
Abenteuerliche der Körperform wird meist noch vergrößert durch jenen 
stark hervortretenden Unterleib, der aber nur eine Folge unge- 
regelter Ernährung und unverdaulicher Kost ist und bei geregelter Er- 
nährung normalen Verhältnissen Platz macht.“ 


342 Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen der Menschheit 


dem Piette den Namen „Dolchgriff von Brassempouy“ 
gab; ihm fehlten von Anfang an Kopf und Arme, während 
Brüste und Unterleib äußerst ausgeprägt sind. Zur gleichen 
Gruppe gehört die 1896 entdeckte Statuette von Brassem- 
pouy, wenn sie sich auch durch geringeren Fettansatz unter- 
scheidet. Zur zweiten Gruppe gehören eine Reihe schlanker 
Skulpturen, von denen besonders die sogenannte „Figur mit 
dem Gürtel“ Beachtung verdient. Die Beine sind eng 
geschlossen, der Bauch flach mit äußerst stark gewölbtem 
mons veneris. Ganz ähnlich mag eine andere Statuette ge- 
wesen sein, von der nur die Beine erhalten sind. Ein anderes 
Figürchen, gefunden in Laugerie Basse (Coll. Marq. de 
Vibraye), besitzt sehr flache Brüste und Unterleib; trotzdem 
sind die Geschlechtsorgane geradezu übertrieben dargestellt.“ 
Wir geben von all diesen Figürchen nur eines wieder, wohl 
das schönste, die sogenannte Venus von Willendorf (siehe 
Tafel I) und werden nachher noch genauer darauf zurück- 
kommen. Jedenfalls erkennt man sofort die überaus starke 
Betonung des sexuellen Momentes. Diese von mir also schon 
vor 1'/, Jahrzehnten ausgesprochene Meinung hat sich auch durch 
die weiteren Funde bestätigt, ja heute können wir sagen, daß 
der Ursprung der bildenden Kunst überhaupt in sexu- 
ellen Vorstellungen begründet ist. So sagt Wiegers in 
einem vorzüglichen Aufsatz über die Entwicklung der dilu- 
vialen Kunst?), diese Objekte lehren uns, „daß die erste Dar- 
stellung der Menschen lediglich aus erotischen Ursachen 
erfolgt ist“. 

Und tatsächlich steht — wörtlich genommen — an der 
Spitze aller menschlichen Kunsttätigkeit das Sexuelle. An- 
scheinend sind die ältesten menschlichen Kunsterzeugnisse 
drei Steinplatten, die im Musée du Périgord in Perig- 
neux aufbewahrt werden. Sie fanden sich im Abri Blanchard 
(Commune Sergeac) in einer Schicht, die nach Wiegers dem 
mittleren Aurignacien angehört. Dargestellt ist auf jedem Relief 
ein weiblicher Geschlechtsteil (vulva) in stilisierter Form?) 
(Abb. 1). In der gleichen Schicht fanden sich auch Nach- 
bildungen des männlichen Geschlechtsteiles aus Renntier- 


1) Ztsch. f. Ethnolog. 46, 1914, Heft VI, S. 845. 
2) Vgl. Didon, L’abri Blanchard gisement aurignacien moyen. Bull. 
soc. hist. et archéol. du Périgord 1911. 


Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen der Menschheit 343 


horn geschnitzt‘). Das Sexuelle war es also, das den 
Menschen der Urzeit zuerst soweit zu fesseln vermochte, 
daß er sich an seine Darstellung wagte. Es soll damit nicht 
etwa behauptet werden, daß er die Darstellungen ohne jeden 
Zweck, lediglich zur sexuellen Unterhaltung (oder als Ent- 
spannungsmittel), gefertigt hat; wir können beim Aurignacien- 
menschen sicherlich einen entwickelten Geister- oder 
Dämonenglauben und Zauberhandlungen voraussetzen, 
so daß die Darstellungen möglicherweise damit in Zusammen- 
hang zu bringen sind. 


Abb. 1. Darstellung der Vulva (älteste künstlerische Darstellung der Geschichte) nach Didon. 

Nicht viel jünger ist die Mehrzahl der oben erwähnten 
Figürchen, auch sie gehören dem mittleren Aurignacien an. 
Als Beispiel geben wir auf Tafel I die Venus von Willen- 
dorf, wohl etwas später als die anderen. Willendorf liegt in 
Niederösterreich an der Donau, gegenüber der Ruine Aggsstein. 
Die ausgegrabenen Schichten zeigten alle Stufen des Aurig- 
nacien; unter anderen Funden kam 1908 auch das prächtige, 
unendlich wertvolle Figürchen zu Tage, das der Arbeiter Joh. 
Veran fand. Szombathy, der die Ausgrabungen leitete, sagt 
darüber: „Es ist ein Il cm hohes Figürchen aus oolithischem, 
feinporösen Kalkstein, vollkommen erhalten, mit unregelmäßig 
verteilten Resten einer roten Bemalung. Es stellt eine überreife, 
dicke Frau dar, mit großen Brüsten, ansehnlichem Spitzbauch, 
vollen Hüften und Oberschenkeln, aber ohne eigentliche Steato- 
pygie (Fettsteißbildung)®); die Genitalien sind stark aus- 
geformt, die Rückenseite ist anatomisch richtig, mit mehreren 
naturwahren Details ausgestaltet. Das Kopfhaar ist durch 


1) Vgl. Montaudon à propos du phallus en bois de renne de l'abri 
Blanchard in „L'homme préhistorique“ 1913. S. 337—341. 

2) Wir haben darüber schon oben gesprochen; sie ist sicher ge- 
meint, wenn es auch dem Künstler nicht gelang, sie deutlicher heraus- 
zuarbeiten. 


344 Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen der Menschheit 


eine Anzahl in konzentrischen Kreisen um den größten Teil 
des Kopfes gelegte Wulste ausgedrückt‘), das Gesicht absolut 
vernachlässigt. Von keinem Teile desselben (Auge, Nase, Mund, 
Ohren, Kinn) findet sich auch nur eine Andeutung. Die Arme 
sind reduziert, die Unterarme und die Hände nur in flachen, 
über die Brust gelegten Reliefstreifen ausgedrückt. Die Kniee 
sind sehr wohl ausgebildet, die Unterschenkel zwar mit Waden 
versehen, aber stark verkürzt, die Vorderfüße ganz weggelassen. 
Von Bekleidung oder Schmuck ist an der Figur nichts an- 
gedeutet, als an jeden Unterarme ein grobzackiger Handgelenk- 
ring“?). Man sieht also deutlich, worauf es dem Künstler 
ankam und Obermaier sagt in seinem „Mensch der Vorzeit“, 
Berlin 1911, Seite 292 mit vollem Recht: „Das ganze Figürchen 
zeigt, daß sein Verfertiger die Gestalt des menschlichen Körpers 
künstlerisch vorzüglich beherrschte, daß es ihm aber nur darauf 
ankam, die primären und sekundären weiblichen Ge- 
schlechtscharaktere in die Erscheinung zu rücken. 
Der Rest ist genial auf das nötigste Minimum der Darstellung 
reduziert.“ Leider gelangt er dann auf die unglückliche Idee, 
darin ein „Idol der Fruchtbarkeit“ zu erblicken. 

Es ist eine große Gefahr, derartige Personifikationen ab- 
strakter Begriffe für jene Zeit vorauszusetzen, und eine noch 
größere, ein Idol oder gar Götterbild derartiger Personifikationen 
anzunehmen. Höchstens läßt sich darin die Personifikation 
einer Stamm-Mutter erblicken, aber auch hier war sichtlich 
das Motiv für die Ausarbeitung ein sexuelles. Was uns nun 
aber an dieser Figur besonders interessiert, ist die Darstellung 
der Brüste und die der Geschlechtslippen. Betrachten wir 
diese zuerst. Es ist nicht zu leugnen, daß sie besonders 
hervorgehoben sind. Daß dies nicht Zufall ist, lehren die 
andern Figürchen, die zumeist ähnliche Darstellungsweise 
zeigen. Es gibt nun zwei Lösungen: Entweder nimmt man 
an, daß bei den Frauen jener Zeit die Geschlechtsteile sehr 
weit nach vorne geschoben lagen, was gerade bei primitiven 
Völkern öfter zu beobachten ist. Ich verweise z.B. auf das 
Bild eines jungen australischen Weibes vom Stamme der 

!) Dies dürfte wohl eine Haube aus kleinen Muscheln sein, wie sich 
davon Reste in den Höhlen fanden oder sollte es „pfeiferkornartiges Kraus- 
haar“ sein, wie es die Buschmannfrauen haben? 


?) Szombathy, Die Aurignacienschichten im Löß von Willendorf, 
Korresp.-Blatt f. Anthropologie 19,9, S. 85. 








Fig. 2. Frau unter dem Renntier nach Piette 
Zu Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen 


Tafel II 





Tafel Ill 








Flachrelief von Laussel nach Lalanne 


Zu Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen 


Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen der Menschheit 345 


Warramunga!) oder auf die zahlreichen Beispiele in Stratz’ 
Rassenschönheit des Weibes usw., oder aber man nimmt eine 
Verlängerung der Lippen (d. h. allerdings der kleinen Ge- 
schlechtslippen) an und kommt so zu einem rassenhaften 
Momente. Bekanntlich zeigen Buschmann- und Hottentotten- 
mädchen derartig verlängerte Lippen, die man in extremen 
Fällen als Hottentottenschürze bezeichnet?). Wir werden sehen, 
daß wir berechtigt sind, diese zweite Auffassung als die näher- 
liegende nehmen zu dürfen. Das andere uns interessierende 
Moment sind die riesigen Hängebrüste. Auch sie erscheinen 
zumeist an diesen Figürchen, sind also ebenfalls kein Zufall. 
Ganz ausgeschlossen wird aber das zufällige Moment durch 
die Felsenmalereien. Ich verweise auf Abb. 10, die eine Gruppe 
aus dem bekannten Bilde der Felsmalereien von Cogul in 
der Provinz Lerida in Katalonien (Spanien) darstellt. Die Malerei 
befindet sich in einem halboffenen Schutzfelsen und wurde von 
Ceferi Rocafort und Breuil entdeckt.®) Sie gehört zweifels- 
ohne der spätesten Zeit an und liegt vielleicht sogar schon 
außer der eigentlichen paläolithischen Periode. Sie ist in rot 
und schwarz gehalten. (In unserer Zeichnung sind die roten 
Teile nicht ausgefüllt.) Auf das Bild selbst kommen wir später 
zurück. Jetzt interessieren uns nur die Brüste der Frauengestalten. 
Wir beobachten, daß sie alle sehr deutlich dargestellt sind,’ daß sie 
auffallend groß und hängend sind. Sehen wir uns wieder in 
der Welt um, so finden wir Parallelen dazu in den Malereien 
der Buschleute. Es ist nun auffallend, daß sich diese Ähn- 
lichkeiten nicht nur auf die von uns speziell besprochene 
Erscheinung erstrecken, sondern auf die ganze Darstellungsart 
der Malereien selbst, die so groß ist, daß ein Zusammenhang 


1) Abgebildet in Spencer and Gillen the native tribes of Central 
Australia, London 1899, S. 51 und in Reitzenstein, Geschlechtsieben und 
Ehe in Australien, „Geschlecht und Gesellschaft“ 5. Bd., Berlin 1910, Tfl. 
z. Seite 240, 241. Übrigens gilt gerade diese Erscheinung auch für die 
Buschmannweiber. v. Luschan sagt in seinem Aufsatz Pygmäen und 
Buschmänner, Ztsch. f. Ethn. 46 1914, S. 156, daß die Geschlechtsspalte 
auch bei erwachsenen Frauen oft nach vorne gerichtet zu sein scheint, 
wie sonst nur bei kleinen Mädchen. Siehe später auch eine Bemerkung 
von Pöch. 

1?) Vgl. Dazu Ploß-Barthels, Das Weib I, Berlin 1913, S. 259 ff. 

3) Vgl. Breuil, Les peintures rupestres du bassin inférieur de l'Ebre. 
L’Anthropologie 1909. Comte Begouen Notes d'’archéol. prehist, 
Toulouse 1913. 

23 


346 Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen der Menschheit 


wohl kaum von der Hand zu weisen ist, umsomehr, als wir in 
der Steatopygie, den langen Geschlechtslippen und den Hänge- 
brüsten diese Übereinstimmung finden. Gerade bei den Busch- 
leuten wäre auch möglicherweise an einen Zusammenhang 
zu denken, denn bei einem Naturvolke wie diesem, das in die 
unwirtlichen Gegenden Südafrikas zurückgedrängt ist und in 
seinem Kulturbesitz nicht vorgeschritten ist, kann man sehr wohl 
an ein jahrtausende langes Verharren in 
gleicher Kulturstufe denken. Die Buschmann- 
malereien sind uns durch v. Luschan in einer 
sehr interessanten Arbeit nähergebracht?). Wir 
geben zunächst in Abb. 2 zwei Frauen- 
gestalten aus einer Buschmannmalerei vom 
Buschmannsklipp?) und erkennen hier die- 
selbe Darstellung der Hängebrüste, wie in 
Abb. 7, wo zwei Buschmannfrauen, die offen- 
bar Kinder tragen, dargestellt sind®). Die 
eine zeigt genau wie der eine Mann einen 
Tierkopf; v. Luschan verweist dabei auf 





Abb. 2. 
mie schmannfrauen die zahlreichen Tierfabeln der Buschleute. 


Steatopygie n. y. Luschan. S [che Personen mit Tierköpfen sehen wiraber 


auch inden Darstellungen des paläolithischen Zeitaltersundkönnen 
hier ziemlich sicher behaupten, daß es sich um Masken handelt. 
Bei den meisten primitiven Völkern spielen Masken und Masken- 
tänze in ihrem Dämonen- und Zauberglauben und bei der Jagd 
eine große Rolle. Wir werden sehen, daß auch in männlichen 
Bildern ein sexuelles Moment zu diesen Beziehungspunkten 
ritt, sodıd der Zusam nenhanz gröte Wahrscheinlichkeit be- 
kommt. Erwähnt mag werden, daß im Gegensatz zu den 
Malereien die heutigen Buschweiber durchaus nicht immer 
diese Hängebrust zeigten, so beschreibt Fritsch‘) diese Form 
nicht; während sie die alten Reisenden, so Lichtenstein,?°) 
erwähnen. Von den den Buschleuten benachbarten und mit 
ihnen stark vermischten Hottentotten, die vielleicht sogar aus 


1) v. Luschan, Über Buschmannmalereien in den Drakensbergen, Ztsch. 
f. Ethnol. 4), 1908, Heft X. 

®) Ebenda. Tafel XI. 

3) Ebenda S. 081. Dieses Bild stammt aus einer Höhle bei Harrismith. 

4) Fritsch, G , Die Eingeborenen Südafrikas. Breslau 1873, S. 111, 28). 

®) Lichtenstein, H., Reisen im südlichen Afrika in den Jahren 
1803—18)6. Berlin 1811. 


Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen der Menschheit 347 


den Buschleuten hervorgegangen sind,:) berichtet uns der alte 
Kolb im Anfang des vorigen Jahrhunderts, daß man sehen kann, 
daß die Mutter das Kind in einem Sacke auf dem Rücken trägt 
und „wenn es schreyet oder durstig ist, die lange, abhängende 
Brust nehmen, über die Schulter hin werffen und dem Kinde in 
den Mund stecken könne“ und gibt dazu eine Abbildung, die 
bei Ploß-Bartels wiederholt ist.) Es ist nun von größtem In- 
teresse, daß sich in unserem Sagenmaterial eine Überlieferung 
an solche Brüste erhalten hat. Da lesen wir z. B. im Iwein: 
ir brüste nider hiengen, di siten sie beviengen gelich zwei 
grözen taschen dä®). Eine ganze Reihe von Fällen berichtet 
Grundtvig.) So hat hier der wilde Jäger Un die Meerfrauen 
mit den Brüsten zusammengebunden®). König Valle- 
mand jagt eine Frau mit langen Brüsten, die ihr über den 
Leib niederhängen®) oder das gejagte Weib hat ein Paar 
Brüste, die auf die Erde schlagen; der Jäger fragt dann 
einen vorbeigehenden Mann, ob er die Frau mit den langen 
schlaffen Brüsten (Slatte Langpatte) nicht gesehen hat”). Von 
der Skogsnufva, einem bösgesinnten, leichtfertigen Wesen, be- 
richtet Mannhardt,®) daß ihre wahre Gestalt die eines in 
in Tierfelle gekleideten alten Weibes mit fliegenden Haaren 
und langen Brüsten ist, die über die Achseln geschlängt 
sind. Im Rücken trägt sie einen langen Kuhschwanz. Es 
ist von größtem Interesse, daß einige unserer paläolithischen 
Ritzzeichnungen solche geschwänzte Gestalten darstellen 
(vgl. Abb. 5), offenbar sind auch sie in Tierfelle gekleidet ge- 
wesen, wobei vom Felle hinten der Schwanz herabhing. Diese 
Beobachtung brachte schon Mannhardt, dem damals ja noch 
gar kein paläolithisches Material vorlag, auf einen interessanten 


1) Vgl. Reitzenstein, Die Völker der Erde, Oldenburg, 131), S.52 ff. 
Man kann übrigens auch der Ansicht sein, daß die Buschleute — wie das 
bei Zwergvölkern häufig ist — in ältester Zeit die Hottentottensprache 
entlehnten, bevor diese hamitische Einschläge bekam und so einen alten 
Dialekt bewahrt haben, wobei sie sich körperlich vermischten. 

®) Ploß-Bartels, Das Weib II, Leipzig 1913, S. 495 und 501 
(Abb. 600). 

%) Hartmann, Iwein, v., 425 ff. 

4) Grundtvig, Gamle Danske Minder i Folkemunde. 

s) Ebenda Ill, 58. 

*) Ebenda 60, 6. 

1) Ebenda 61, 9. 

®s) Mannhardt, Wald- und Feldkulte I, Berlin 1875, S. 128. 

23° 


348 Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen der Menschheit 


Gedanken. Er schreibt‘): Aus einer Notiz des Prof. Schaaf- 
hausen, Arch. f. Anthropologie I, 1866, S. 188, ersehe ich, daß 
bei den eingeborenen Weibern Neuhollands, mithin unter 
einem auf niedrigster Stufe stehendem wilden Volke, birn- 
förmige Brüste, welche nachBelieben überdie Schultern 
geworfen werden können, in Wirklichkeit vorkommen. 
Ich halte das für sehr beachtenswert, wage jedoch nicht, aus 
diesem einen Umstand die Einwirkung einer realen Erinnerung 
an wilde Ureinwohner auf die von uns besprochenen Sagen 
zu folgern.“ Hätte Mannhardt das heute vorliegende Material 
gehabt, er hätte dies nicht zu schreiben gebraucht. Unsere aus 
sexuellen Merkmalen gegebene Erklärung dieser Sagen erhält 
nämlich eine ganz wesentliche Stütze durch anthropologische 
Momente. Die Buschleute zählt man wenigstens teilweise zu 
den sogenannten Zwergrassen oder Pygmäen. Zwerge 
gibt es bekanntlich zweierlei. Solche Menschen, die infolge 
von Störungen der inneren Sekretion klein geblieben sind, 
obwohl ihre Eltern und Geschwister normal sind, pflegt man 
als pathologische Zwerge zu bezeichnen?); sie kommen 
hier nicht in Betracht, wohl aber eine Gruppe von Völker- 
schaften, die rassenhaft klein gestaltet sind. Man nennt sie 
Pygmäenvölker und zählt dazu jene Völkerschaften, die eine 
Körpergröße nur von 1,20—1,50 (höchstens 1,60) aufweisen. 
Sie zeigen auch sonst ganz bestimmte Merkmale, durch die sie 
sich als bestimmte Rassenbildung ausweisen. Solche Völker- 
schaften hat man nun allenthalben als in die Wildnis zurück- 
gedrängte Stämme gefunden und wie gesagt, gehören dazu die 
Buschleute®). Nun haben sich tatsächlich Reste von Pyg- 
mäenskeletten in Europa und zwar in den Gebieten der 
paläolithischen Kultur gefunden. Bereits 1893 war der 
italienische Anthropologe Sergi in der Lage, die Existenz von 
Pygmäen in Europa zu erweisen, ihm folgte 1894 die vorzüg- 


1) Ebenda 4, S. 147. Anm. 4. 

”) Vgl. Reitzenstein, Zum Verständnis der inneren Sekretion, „Ge- 
schlecht und Gesellschaft“, X. Jahrgang 1921, S. 206. Reitzenstein, 
Liebe und Sitte („Das Wissen dem Volke“) 1921, S.9. Weil, Die innere 
Sekretion, Berlin 1921, S. 75. 

23) Vgl. dazu Pater W. Schmidt, Die Stellung der Pygmäenvölker in 
der Entwicklung der Menschheit, Stuttgart 1910, ein Werk, das sehr reiches 
Material bringt, in seiner Tendenz (es dient dem Interesse der soge- 
nannten „katholischen“ Wissenschaft) aber abzulehnen ist. Dann Horst, 
Die natürlichen Grundstämme der Menschheit, 2. Aufl., 1918/1919. 





Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen der Menschheit 349 


liche Arbeit von Kollmann') beide vom anthropologischen 
Standpunkt. So fanden sich beispielsweise ostwärts von Mentone 
an der Riviera bei Balzi Rossi (oder Grimaldi) Höhlen, 
unter denen uns die „Grotte des Enfants“ interessiert. In 
der Aurignacienschicht findet sich eine Begräbnisstätte, in der 
auf der erkalteten Oberfläche einer Feuerstätte die Bewohner 
der Höhle bestattet wurden. Es ist ein junger Mann von 
etwa 17 Jahren, der ein altes Weib umschlungen hält. Der 
junge Mann war etwa 1,54 m, die Greisin 1,58 m groß, also 
immerhin Pygmäen. Hirn- und Gesichtsschädel zeigen negroide 
Merkmale?). Weiterhin erwähnen die Sagen oft die Behaarung 
dieser Waldfrauen. So berichtet ein Junge, daß er eine 
Waldfrau habe weglaufen gesehen; ihr ganzer Leib habe ge- 
wackelt und war voll lauter Haare:). Diese Behaarung ist 
an unsern paläolithischen Zeichnungen ebenfalls deutlich an- 
gegeben, und um auch hier die Kette zu schließen, beschreibt 
Stuhlmann‘“) das lange zarte Körperhaar der mittel- 
afrikanischen Pygmäen. So kam, ähnlich wie Mannhardt, ohne 
die neusten Funde noch zu kennen, Virchow°) zu dem Re- 
sultat, daß die Steatopygie und Hyperplasie der Geschlechts- 
lippen auf eine buschmannähnliche Rasse in Altfrank- 
reich schließen lassen. Ich gedenke demnächst eine Arbeit 
über diese Frage vom Standpunkte der Volkssage zu bringen. 
Weiterhin zeigt aber gerade diese Betrachtung, wie wichtig für 
die Lösung mancher Erscheinungen sexuelle Momente sind, 
daß es also ein wissenschaftliches Verbrechen ist, bei 
Publikation mancher Denkmäler Geschlechtsteile und ähnliches 
wegzulassen, bei Forschungsreisen sexuelle Dinge nicht zu 
sammeln und daß es geradezu unerhört ist, gerichtlicherseits 


1) Kollmann, Das Schweizerbild bei Schaffhausen und Pygmäen 
in Europa. Ztsch. f. Ethnol. 26, 1894, S. 189ff. Thilenius in der 
Münchener Allg. Ztg. 1902, Beilage 110, zeigt Pygmäen in Schlesien. 

1) Vgl. das groBe Werk: Les grottes de Grimaldi (Baoussé — Rousé) 
Monaco 1906 I. Historique et description v. L. de Villeneuve und Il. 1. An- 
thropologie von Renè Verneau. 

°) Schönwerth aus der Oberpfalz ll, S. 378. 

4) Stuhlmann, Mit Emin Pascha ins Herz von Afrika. S. 445. 
Kuhn, Über die Pygmäen am Sanga, Ztsch. f. Ethn. 46, 1914, S. 122: Die 
Behaarung ist bei Männern häufig vorhanden. Ferner vgl. Le Roy les 
Pygmees 82ff. 1. David im Globus 84, 1906, S. 19. 

5) Virchow in Mitt. d. Anthrop. Gesellschaft in Wien 1894, Bd. XXIV, 
Sitzungsberichte des Innsbrucker Anthropologen-Kongresses, 5. 135. 


350 Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen der Menschheit 


in einer unglaublichen Verständnislosigkeit Sammelwerke wie die 
„Anthropophyteia* zu beschlagnahmen, bloß weil einige unge- 
bildete oder moralistisch-krankhaft empfindende Menschen daran 
„Anstoß“ nehmen. Diese Leute brauchen ja die Anthropo- 
phyteia nicht in die Hand zu nehmen, sie sind ja nicht für sie 
bestimmt, denn sie könnten doch nichts damit anfangen. Die 
Forschung braucht sie aber. 

Zu ganz ähnlichen Resultaten kommen wir aber auch 
durch die Betrachtung der Darstellung des männlichen 
Geschlechtsteiles. Außer den schon oben erwähnten Dar- 
stellungen des mittleren Aurignacien besitzen wir einen so- 
genannten „Kommandostab“, der als Doppelphallus geschnitzt 
ist (Abb. 3). Er gehört den älteren Magdalénien an und 





Abb. 3. „Kommandostab“ mit doppeltem Phallus (nach Girod et Massénat). 


wurde in Laugerie-Basse gefunden.!) An ein Selbstbefrie- 
digungsinstrument zu denken, wäre für die damalige Zeit absurd. 
Da man sich über den Zweck und die Bedeutung der soge- 
nannten Kommandostäbe heute noch in keiner Weise klar ist 
— sie traten in ihren Anfängen zuerst im Solutr&en auf und 
sind in Magdalénien sehr häufig — ist es auch schwer, über 
die Beziehung, die die Phallen zum Zweck des ganzen In- 
struments haben, etwas zu sagen. Wären sie, wie man ge- 
meint hat, Bogenspanner oder Pfeilstrecker usw., dann hätten wir 
natürlich lediglich eine sexuelle Spielerei vor uns. Waren sie 
aber, wie Reinach neuerdings vermutet, Zauberstäbe, dann 


4) Vgl. Girod et Massénat les stations de l’âge du renne dans les 
vallés de la Vézère et de la Corrèze, Paris 1900, Tafel I. 





Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen der Menschheit 351 


würden wir hier wohl an einen Liebeszauber denken dürfen. 
Befruchtungszauber war es sicher nicht, denn in jener Zeit 
fehlte den Menschen, wie ich bereits gezeigt habe'), die Kenntnis 
des Zusammenhangs zwischen Beiwohnung und Befruchtung, 
sodaß die Beiwohnung lediglich als ein angenehmes Spiel be- 
trachtet wurde. Während man z. B. bei „Kommandostäben“, 
auf denen Wildpferde dargestellt sind, an einen Zauber zur 
Vermehrung der Wildpferde oder ihrer leichten Jagbarkeit denken 
könnte, läge es hier nahe, an einen Zauber zu denken, der die 
Weiber zu geschlechtlichem Verkehr bereit mache. Ein anderer 
zeigt menschliche Gestalten mit Gemsköpfen, also Masken- 
träger, mithin wohl sicher ein Jagdzauber. Von ganz besonderem 
Interesse ist aber die Möglichkeit, daß mir an unserm Stab eine 
Beschneidung des Gliedes dargestellt zu sein scheint, denn 
die Vorhaut ist, wie die linke Seite zeigt, zweifelsohne zurück- 
gezogen.?) Die Operation an sich kann uns für jene Zeit 
nicht wundern, da wir auch bei den Australiern solche — ja 
noch kompliziertere Operationen an den Geschlechtsteilen finden. 
Dies wird wahrscheinlich, da wir auch andere Operationen 
mit ähnlicher Grundidee nachweisen können. So finden wir 
besonders in den Höhlen von Gargas (Haute Pyrénées) in 
Südfrankreich an den Felsen Händeabdrücke, die wohl da- 
durch hergestellt wurden, daß man eine glatte Stelle des Felsens 
einfettete, die Hand gespreizt darauf legte und trockene, ge- 
pulverte Farbe darüber blies. Nahm man die Hand weg, so 
erschien ihr Bild hell auf farbigem Untergrund. Unter diesen 
Händen sehen wir nun solche, bei denen an einzelnen Fingern 
einige Glieder fehlen, eine Sitte, die bei Naturvölkern häufig 
vorkommt und die besonders bei Totenzeremonien auftritt. 
Vor allem die Frauen lassen sich bei Todesfällen jedesmal 
ein Fingerglied abhauen, eine Sitte, die wieder besonders bei 
Buschleuten vorkommt, die sich dadurch, wie Stow berichtet, 
eine lange Reihe von Festen nach dem Tode sichern wollen’). 
Ähnliches liegt auch der Beschneidung ursprünglich 


1) Reitzenstein, Der Kausalzusammenhang zwischen Cohabitatio 
und Conceptio in Glaube und Brauch der Natur- und Kulturvölker. 
Ztsch. f. Ethnol. 1909, Heft V, S. 644—683. 

2) Auch unsere Abb. 4 zeigt diese Erscheinung. 

5) Dieses Abhauen der Fingerglieder berichtet z. B. auch als Trauer- 
zeichen Williamson von den Mafulu, einem Zwergenvolk im Hinter- 
land des Mekeogebietes von Neu-Guinea. In ähnlicher Weise werden auch 


352 Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen der Menschheit 


zu Grunde. Bekanntlich wird sie zur Zeit der Geschlechtsreife 
geübt (auch die Völkerschaften, die sie heute in frühester Kind- 
heit üben, vollzogen sie früher zur Reife); man könnte also an- 
nehmen, daß ihr ursprünglicher Zweck der war, sich reichlichen 
Geschlechtsverkehr zu sichern. 


Beim Weibe dagegen mag von Anfang an die Beschnei- 
dung mit dem Wohlergehen der Kinder in Beziehung gestanden 
sein; so berichtet uns Krauß), daß einer Suahilifrau, der alle 
Kinder starben, mit einen Messer die übermäßig große Klitoris 
entfernt wurde, die am Tode schuld sein soll. Also eine 
andere Grundidee als beim Manne, was an sich zu erwarten 
ist, da ja beim Manne ursprünglich eine sexuelle Beziehung 
zum Kinde nicht erkannt wurde. Für ihn kämen wir wieder 
auf den oben angedeuteten Zweck des „Kommandostabes“ selbst 
zurück). Ein weiteres wichtiges Moment ist aber die Form des 
männlichen Geschlechtsteiles selbst; er steht fast wagrecht 
vom Körper ab und zwar auf allen Darstellungen, auf denen 
er erkennbar ist. Unsere Abb. 4 zeigt ein männliches Wesen 
(die Behauptung es sei ein halbmenschliches Wesen, wohl 
Pithecanthropus atavus ist natürlich ganz sinnlos) mit Angabe 
der Behaarung und dieser Penisform. Es ist eine dem älteren 
Magdalenien angehörige Gravierung aus der Höhle von Mas 
d’Azil®). Die Darstellung der Nase und der Mundpartie auf den 
meisten Wiedergaben dieses Stückes ist ebenso auffallend als 
unklar. Bei Luquet, sur les caractères des figures humaines 


die Fußzehen behandelt. So berichtet Schönwerth aus der Oberpfalz ll, 
Augsburg 1858, S. 35, von Zwergen, denen eine Zehe fehlt, sodaß sie 
dadurch im Gehen behindert werden. S. 294 erzählt er, daß Leute über 
diese Zwergenfüße mehr wissen wollten, und deshalb vor ihrer Wohnung 
am Giebenberg bei Rötz Mehl streuten. Es drückten sich Kinderfüße ab, 
denen je eine Zehe fehlte. Merkwürdig ist dazu folgende Notiz von Pöch 
(Korresp.-Blatt d. d. Gesch. f. Anthr., Ethn. und Urgesch., 42. Jahrgang 1911, 
S. 77): Sehr auffallend ist das Anliegen der großen Zehe, der Zwischen- 
raum zwischen erster und zweiter Zehe ist niemals groß, ein 
Abstehen der großen Zehe, wie es bei den Australiern und Melanesiern 
häufig vorkommt, sah ich niemals bei den Buschmännern. 

2) Krauß, H., Der Suahiliarzt. Münchner Mediz. Wochenschrift 
1908, Nr. 10. 

®) Die Kommandostäbe wären dann dasselbe, wie die Zauberknochen 
der Australier; vgl. Buschan, Sitten der Völker. Stuttgart c. 1912. 
J]. Abb. 228 u. 229. 


®) Vgl. Piette, Gravure du Mas d’Azil et Statuettes de Mentone 
Bull. soc. d’Anthrop. 1907, S. 772—779. 


Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen der Menschheit 353 





Abb. 5. 
Männliche Figur der Laugeri Basse (nach Oirod et Mass£nat). 





Abb. 4. Männliche Figur aus der Abb. 6. 
Höhle von Mas d’Azil (nach Piette). Jäger vom Felsgemälde von Cogul (nach Begouen). 





Abb. 7. Buschleute, Malerei aus Harrismith (nach v. Luschan). 


354 Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen der Menschheit 


dans lart paléolithique, Paris 1909, Bd. 21, ist sie deutlicher; 
freilich kann man ohne das Original nichts nachprüfen. Hier 
sieht man eine fliehende Stirne, eine große, rundliche Nase 
und eine konvexe Oberlippe. All das sind Merkmale der 
Pygmäen; so sagt Kuhn „Über die Pygmäen am Sanga“, Ztsch. 
f. Eth. 46, 1914, S. 121, daß besonders die starken Nasen, deren 
Breite manchmal die Höhe übertrifft, auffallen, die Stirne sei 
in einigen Fällen stark fliehend, und die konvexe Oberlippe 
gilt bekanntlich als Hauptmerkmal der Pygmäen. Eine weitere 
Darstellung gleicher Art bietet Abb. 5, ebenfalls dem älteren 
Magdalénien angehörig.‘) Es stellt einen Jäger dar, der 
einen Auerochsen anschleicht. Abb. 6 bringt einen Ausschnitt 
aus dem schon erwähnten Felsgemälde von Cogul (s. oben); 
auch hier sehen wir den wagrecht stehenden Penis; also 
sicherlich kein Zufall. Ist es nun, nachdem wir bereits eine 
ganze Reihe von Beziehungen zu den Buschleuten feststellten, 
nicht direkt auffällig, daß gerade diese sonst nirgends wieder 
auftretende Penisstellung und Art ebenfalls bei den Busch- 
mannmalereien vorkommt??) Unsere Abb. 7 zeigt dies sehr 
deutlich; sie entstammt einer Malerei aus einer Höhle bei 
Harrismith.®) Von Interesse ist übrigens, daß auf den bekannten 
süidwestschwedischen Felsskulpturen von Bohuslän eben- 
falls eine derartige Penisstellung erscheint. Ich habe drei 
Figuren davon herausgegriffen (aus der Gegend von Tanum) 
und zwar solche, bei denen es einwandfrei ist, daß der Penis 
dargestellt sein soll. Bei zahlreichen andern ließe sich etwa 
an den Schwertgriff denken. Abb. 8. Dies ist hier aus- 
geschlossen. Daß die Skulpturen von Bohuslän etwa das 
Glied in Erektion darstellen sollen, kann man füglich doch 
nicht annehmen; man könnte höchstens denken, daß es hier 
in diese Form gebracht wurde, um deutlich sichtbar zu sein 
und die Figuren besonders charakteristisch als Männer vor- 


1) Vgl. Girod et Masse&nat: Stations de l’äge du renne Laugerie 
Basse. Paris 1900. Tafel XI. 

») Die Behauptung W. Zudes in der Zeitschrift für Sexualwissen- 
schaft III, 1916, S. 318, er hätte als erster darauf aufmerksam gemacht, 
ist unrichtig. In Fachkreisen war diese Beziehung längst bekannt, ich 
erinnere mich, sie schon früher gelesen zu haben und erwähnte sie schon 
in meinen Vorträgen lange vor Kriegsbeginn. 

2) Nach v. Luschan, Über Buschmannmalereien in den Drakensbergen. 
Ztschr. f. Ethn. 40, 1908, Heft X, S. 681. 


Reitzenstein : Die ältesten sexuellen Darstellungen der Menschheit 355 


zustellen. Das ist aber wenig wahrscheinlich, da Frauen 
selten sind und durch das Haar deutlich genug herausgehoben 
sind. Übrigens sind die Frauengestalten fast immer nur mit 
Männern gemeinsam in Coitusszenen dargestellt‘) Die 
Männer sämtlich aber als Angehörige einer Zwergrasse 
anzunehmen, dürfte — gerade bei der Bewaffnung — nicht 
angängig sein. So bleiben für Bohuslän wohl nur zwei 
Möglichkeiten. Man könnte annehmen, daß sie Penis- 
futterale tragen, eine Sitte, die bei Naturvölkern sehr häufig, 
sowohl in der alten, wie in der neuen Welt vorkommt; wir 
geben in Abb. 9 eine Skizze, die eine wagerechte Penisstellung 
infolge eines Penisfutterals zeigt, wieder. Es ist ein Bogenschütze 





Abb. 8. Figuren der Felsskulptur von Bohuslän Abb. 9. Bogenschütze mit Penis- 
(nach Tanum). futteral (nach Roesicke). 
aus der Gegend des Nordflusses in Neu-Guinea.?) Leider 
versagt das Sagenmaterial bei Europa auf diesem 
Gebiete ganz, da die unselige Prüderie Berichte über den 
Penis entweder nicht überliefern oder seitens der Aufzeichner 
unterdrücken ließ. Es bestünde aber noch eine andere Mög- 
lichkeit. Unsere Sagen schildern die Zwerge stets als die 
Kunstfertigen. Sollten vielleicht Zwerge, die, wie das bei 
Pygmäen häufig ist, auch im Norden unter der großgewachsenen 


ı) Vgl. Reitzenstein, Liebe u. Ehe im europ. Altertum, Stuttg. 1910. 
Abb. 24, S. 53. 

®) Nach Roesicke, Kaiserin-Augustafluß-Expedition Neu-Guinea, 
Ztschr. f. Ethn. 46, 1914, S. 521. 


356 Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen der Menschheit 


Rasse lebten — was die Sage ja vermittelt — die Hersteller 
der Kunstwerke von Bohuslän gewesen sein, etwa im Auf- 
trage bestimmter Machthaber und bei dieser Darstellung von 
sich ausgegangen sein? Sei es nun bei den Skulpturen von 
Bohuslän wie ihm wolle, bei den Buschmannbildern haben 
wir wenigstens den Beweis, daß diese Penisstellung der 
Wirklichkeit entspricht. Seiner, dem wir eine ganze Reihe 
von vorzüglichen Buschmannphotographien verdanken, zeigt 
uns, daß diese eigenartige Stellung noch heute bei Busch- 
leuten nicht selten ist.) Wir geben Tafel II Fig. 1 eines seiner 
Bilder wieder.) Auch v. Luschan, der bereits 1906 ent- 
sprechende Mitteilungen machte, sagt,®) der Penis stehe bei 
den Buschleuten oft fast wagrecht ab; ebenso Pöch. Er gibt‘) 
folgende klare Schilderung: „Bei reinrassigen Buschmännern 
fand ich den Penis auch in nicht erigiertem Zustande 
in nahezu horizontaler Stellung und kann so die Beobach- 
tung F. v. Luschans bestätigen. Die Labia minora (kleine 
Geschlechtslippen) stehen auch bei jugendlichen Individuen aus 
der Schamspalte heraus, sie sind oft um mehrere Zentimeter 
verlängert; bei Hottentottenfrauen fand ich diese Verhältnisse 
noch exzessiver; nach meinen Informationen bin ich überzeugt, 
daß diese Verlängerung natürlich vorgebildet ist. Steatopygie, 
horizontal stehender Penis und verlängerte Labia 
minora sind übrigens körperliche Merkmale, mit 
welchen sich die Buschmänner auf ihren Malereien 
selbst charakterisieren.“ 

Weiterhin ist nun für uns die eigenartige Felsenmalerei 
von Cogul, die wir oben schon in die Betrachtung zogen, von 
größtem Interesse; vgl. Abb. 10. Der Mangel an völkerkundlichen 
Kenntnissen einerseits und die daraus entspringende Unmög- 
lichkeit, das geistige Leben bestimmter Kulturgruppen zu beur- 
teilen, ließ wieder die sonderbarsten Deutungen hervorgehen. 
Voran steht wieder die Idee des Idols. Dieses Wort für alles 
muß selbstverständlich für solche Beurteiler gern herhalten, 


1) Seiner, Beobachtungen und Messungen an Buschleuten. Ztschr. 
f. Ethn. 44, 1912. . . 

2) Ebenda, S. 279. 

3) v. Luschan, Pygmäen und Buschmänner, in Ztschr. f. Ethn. 46, 
1914, S. 156. 

4) Pöch, Stellung der Buschmannrasse unter den übrigen Rassen. 
Korresp.-BI. d. d. Ges. f. Anthr., Ethn. und Urgesch., 42. Jhg. 1911, S. 77. 


Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen der Menschheit 357 


deren Altertumsstudien auf der „klassischen Philosophie“ auf- 
bauen, wo ihnen natürlich schon an der Schwelle der Gottesbegriff 
entgegen tritt, weil man sich leider noch viel zu wenig Mühe 
gab, den wirklichen volkskundlichen Grundlagen des griechisch- 
religiösen Denkens nachzugehen. Dasselbe gilt für Deutsch- 
land. Wer den deutschen religiösen Glauben auf den Erzeug- 
nissen der Literatur aufbauen will und dabei gar zur nor- 
dischen greift, wird ihn nicht einmal feststellen, geschweige 
denn erklären können. Er gewinnt eine Flut von „Götter- 





Abb. 10. Felsenmalerei von Cogul (nach Comte Begouen). 


namen“ und eine Menge Mythen dazu, die schon die damaligen 
Dichter längst nicht mehr verstanden und zum Teil poetisch 
umgedeutet haben, niemals aber den Glauben des Volkes oder 
gar dessen wirkliche Wurzeln. Nichts hält zäher als der Volks- 
glauben und dieser Satz hatte bis vor etwa 80 Jahren sogar 
absolute Geltung, wo weitere Volkskreise weder durch die Auf- 
klärung der Zeitungen, noch des Heeresdienstes, noch des 
Fremdenverkehrs beeinflußt waren. Nur eine gründliche Durch- 
arbeitung des volkskundlichen Materials, der Sagen, Sitten 
und Gebräuche, unter ständiger Vergleichung mit den Ge- 
bräuchen der Naturvölker, kann uns die religiösen Ideen unserer 
Vorfahren oder der Slaven usw. wieder erstehen lassen. Vor 
allem muß man aber auf das fortwährende Suchen nach 
„Göttergestalten“ dort verzichten, wo keine oder nahezu keine 
vorhanden waren. Man kann vielleicht mit Recht sagen, daß 


Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen der Menschheit 359 


philologische Sagenforschung, die auf Dichtern aufbaut. Jener 
kommt nicht zum Kinde selbst, dieser nicht zum Volke, beide 
sehen durch meist gefärbte Brillen anderer. Doch kehren wir 
zu unserem Bilde zurück. Wollen wir diesen Vorgang zu klären 
suchen, so geht es nicht an, einfach die Begriffe, die aus 
griechischen Schriftstellern oder ähnlichen Quellen geläufig 
sind, auf Grund einzelner äußerlicher Ähnlichkeiten einfach 
auf jene fernen Zeiten zu übertragen, und dabei die kleine männ- 
liche Figur zu einem Idol zu machen, um das Frauen einen Tanz 
ausführen, d. h. es sozusagen göttlich verehren; es geht auch 
nicht an, weil an diesem Figürchen ein männlicher Geschlechts- 
teil sichtbar ist, sofort von Phallusdienst zu sprechen; be- 
sonders originell ist aber, wenn der Archäologe Lange die 
Hypothese aufstellt, daß diese Gestalt nicht sowohl einen 
lebenden Mann, als einen phallischen Götzen (!!) dar- 
stellen soll, und H. Schoen, der diesen Satz zitiert,*) diese 
Erklärung als die bis jetzt befriedigendste bezeichnet und 
dann weiterfährt, „das Bild wäre also wohl das älteste heute 
bekannte Zeugnis eines Dienstes, der zwar bei den alten 
Griechen (Heraklit Fragment 127 über den Phallusdienst), nicht 
aber bei den Ägyptern, noch bei den Israeliten vorkam und 
von dem fast ganz Amerika frei war“! Zunächst ist diese 
Erklärung deshalb so unbefriedigend wie nur möglich, 
weil sie ganz oberflächlich ist und den Gesamtmerkmalbestand 
des Bildes gar nicht berücksichtigt, weiterhin dürfte sie sicher 
ein Anachronismus sein. Dann zeigt der Nachsatz eine merk- 
würdige Kenntnis völkerkundlicher Tatsachen. Die Herein- 
ziehung der lsraeliten wirkt sonderbar, weil wir über ihren 
tatsächlichen Volksglauben fast nichts ungetrübtes wissen. 
Phalluskult den Ägyptern abzusprechen, ist unrichtig, weil 
die Ägypter sogar ityophallische Gottheiten und zwar seit 
ältester Zeit verehrten; zu sagen, „daß fast ganz Amerika vom 
Phallusdienst frei war“ aber zeigt, daß der Autor davon gar 
keine Kenntnisse besitzt, denn Amerika ist in fast allen seinen 
Teilen geradezu das klassische Land des Phallusdienstes! 


Betrachten wir nun unser Bild genauer. Zunächst fällt 
auf, daß einige Teile des Bildes (bei uns nicht ausgefüllt) mit 


1) Vgl. H. Schoen. Die Kunst der Höhlenbewohner im südwestlichen 
Europa in „Deutscher Rundschau“ XXXIX, 12 S. 384. 


360 Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen der Menschheit 


roter Farbe gemalt sind; da nun über dem Bilde (in unserer 
Darstellung nicht wiedergegeben) eine rotgemalte Herde und 
darüber ebenfalls in Rot die Figur, die wir in Abb. 6 brachten, 
dargestellt ist, könnte man sagen, die roten Figuren und die 
schwarzen sind nicht gleichzeitig, mit anderen Worten, die 
Gruppe, die in unserem Bilde dargestellt ist, gehört nicht zu- 
sammen. Aber gerade in diesem Bilde ist dieser Schluß äußerst 
unwahrscheinlich, Betrachten wir von links die dritte Figur, 
so sehen wir, daß der Künstler gleichzeitig über rote und 
schwarze Farbe verfügte, ebenso bei der dritten Figur von 
rechts, bei der nur die Beine rot sind. Es mag sein, wie Breuil 
und Obermaier vermuten, daß die Tiergruppen selbst einer 
älteren Zeit angehören, die stilisierten Figuren aber scheinen 
zusammenzugehören, eine Meinung, die auch Obermaier zu 
vertreten scheint, wenn er sagt'): „Die dortigen Hirsche, Capriden 
und Rinder reihen sich nach Stil und Ausführung entschieden 
an das nordspanische Quartär an, dazwischen befinden sich 
aber stilisierte Figuren, die einen jüngeren Eindruck machen, 
einige direkte Jagdgruppen und eine Art Tanzszene“, und dann 
sagt: „die diluviale Felsmalerei von Cogul (Spanien) gibt einen 
Reigen wieder, den neun Frauen mit bloßem Oberkörper und 
langen Röcken um einen unbekleideten Mann aufführen“ *). Sind 
aber die Figuren des von uns in der Abb. 10 dargestellten Aus- 
schnittes gleichzeitig, dann haben wir ohne jenen Zweifel eine 
Szene vor uns, die einen bestimmten Vorgang, eine Zeremonie 
darstellt. Nun erkennen wir zunächst weiter, daß von den 
neun „weiblichen“ Figuren eine kleiner dargestellt ist als die 
anderen, ohne daß äußere Gründe dazu zwingen; ebenso ist 
die männliche Figur kleiner dargestellt; es handelt sich also 
anscheinend auch nicht um einen „erotischen“ Tanz, der um 
einen nackten Mann aufgeführt wird, sondern die beiden kleinen 
Figuren dürften Kinder sein. Bei der männlichen Figur erkennen 
wir, daß sie um die Beine einen Schmuck trägt. Weiter fällt 
aber die vierte Figur (von links) auf, die ganz rot gemalt ist. 
Sie ist deutlich und scharf verschieden gezeichnet von den 
anderen Frauenfiguren, ja sie erweckt überhaupt nicht den 
Eindruck einer menschlichen Figur, sondern einer Puppe, ja 


1) Obgrmaier, Der Mensch der Vorzeit. Berlin 1911/12, S. 249. 
®) Ebenda S. 427. 


Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen der Menschheit 361 


es sieht sogar aus, als ob diese „Puppe“ von der anderen 
Figur getragen wird. Damit würden wir auf die Darstellung 
einer jener oft übermenschengroßen Masken kommen, wie sie 
bei vielen Naturvölkern vorkommen und sich in ihren Aus- 
läufern (z. B. in den Perchtentänzen) bis in die moderne Zeit 
erhalten haben. Bei den Australiern spielen sie eine größere 
Rolle. So bildet Buschan!) eine Zaubergestalt von Nord- 
queensland ab, die zur Vertreibung der Moskitos verbrannt wird. 


Ebenso werden derartige hohe, einem Aufsatz ähnliche 
Puppen, bei den verschiedenartigsten anderen Zeremonien ver- 
wendet, so bei der Zeremonie des Wassertotem?) oder des 
Opossumtotem®). Wir können also annehmen, daß irgend eine 
Zauberzeremonie vorliegt. Betrachten wir nun Zauberzeremonien 
bei Naturvölkern, bei denen ein junger Mann und Frauen im 
Vordergrunde stehen, dann kommen wir zur Geschlechts- 
reifezeremonie. Bekanntlich befinden sich die Knaben viel- 
fach bis zur Geschlechtsreife in der Erziehung der Weiber. Mit 
der Geschlechtsreife scheiden sie aus diesem Kreise aus und 
treten in die Männergesellschaft ein. Solche Übertritte von 
einem Kreis in den anderen pflegen Naturvölker durch be- 
stimmte Zeremonien zu betätigen, und so setzen sich auch die 
Reifezeremonien teilweise zusammen aus Austritts- und Eintritts- 
zeremonien. Es liegt nahe, daß wir hier die Austrittszeremonie 
aus dem Kreise der Frauen vor uns haben, ein Vorgang, der 
vollständig in die damalige Kulturwelt passen würde. Vielleicht 
steht damit auch das darüber befindliche, in unserer Abbildung 6 
wiedergegebene Bild in Zusammenhang. In vielen Fällen muß 
nämlich der junge Mann vor seinem Eintritt in die Männer- 
gesellschaft Proben seiner Geschicklichkeit als Jäger ablegen. 
Es ist nicht unmöglich, daß der Maler an diese Vorgänge dachte, 
als er das Bild fertigte und es über die bereits vorhandene 
Herdendarstellung malte. 


1) Buschan, Die Sitten der Völker. I. Stuttgart. o.J. S. 171. 

®) Vgl. Spencer and Gillen, the native tribes of Central Australia. 
London 1899, S. 307. 

s) ebenda S °39. Bei den Perchtentänzen haben die Aufsätze aller- 
dings den figürlichen Charakter, den sie sicherlich ursprünglich besessen 
haben, verloren (vgl. Andree-Eysen, Die Perchten im Salzburgisch. 
Braunschweig 1905, S. 10). Dagegen hat sich die riesige Figur noch heute 
bei den Stabausfesten (so in Heidelberg, Mannheim usw.) erhalten. 

24 


362 Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen der Menschheit 


Ein altbekanntes Stück stellt weiterhin unsere Tfl. II in 
Fig. 2 dar: Die Frau unter dem Renntiere''). Es ist eine Ritz- 
zeichnung aus Laugerie Basse und gehört ebenfalls dem älteren 
Magdalénien an und ist vom selben Fundort wie der Bison- 
jäger. Wir sehen ein nacktes Weib, dem der Kopf fehlt, in 
hochschwangerem Zustande auf dem Rücken liegen. Die Brüste 
sind nicht dargestellt, dagegen die Geschlechtsteile deutlich 
hervorgehoben, obwohl sie eigentlich in dieser Lage gar nicht 
sichtbar wären. Die Behaarung ist wieder deutlich angegeben. 
Weiterhin sehen wir die Beine eines Renntieres und im Hinter- 
grunde verschiedene bogenförmige Linien. Leider ist die Dar- 
stellung nur ein Fragment. Wie alle menschlichen Darstellungen 
des Magdalénien ist sie im Gegensatze zu den Tierdarstellungen 
nicht gerade gut wiedergegeben. Nun liegt natürlich zunächst 
die Frage nahe, sind die drei Darstellungen Teile eines Bildes. 
Obermaier?) ist der Meinung, daß beim Auerochsjäger (vgl. 
Abb. 5) und bei unserer Zeichnung „tatsächlich nichts berechtige, 
die dargestellten Figuren in inneren Zusammenhang zu bringen“; 
dort also den Auerochsen und den Jäger, hier die Frau und 
das Renntier. Ich meine, dies geht entschieden zu weit. Wenn 
nicht nachweisbar ist, daß die Figuren zeitlich getrennt eingeritzt 
wurden, so müßte es doch höchst sonderbar zugehen, wenn 
auf solche räumlich beschränkte Stücke ein Künstler gleich- 
zeitig mehrere Figuren in derartig spezialisierten Stellungen 
zwecklos nebeneinander einritzen würde, die bei ungezwungener 
Betrachtung auf den ersten Blick einen Zusammenhang ver- 
muten lassen. Bei Wänden in Höhlen ist das eher denkbar, 
. weil dort verschiedene Vorübergehende je nach Laune oder 
Anregung ihren jeweiligen Gedanken zur Darstellung bringen 
können. Bei kleinen Knochenstücken dagegen, die in jener 
Zeit doch an sich einem Zwecke gedient haben, ist es 
sicherlich die fernerliegende Erklärung. Der Auerochsjäger 
führt ohne Zweifel Speer oder Lasso in der Hand, mit denen 
er nach dem Tiere zielt, die Frau liegt sicherlich unter dem 
Renntiere, ja Ranke?) deutet sogar an, daß unsere Zeichnung 
Renntier und Weib in einer Hürde darstellen (er glaubt also 


1) Vgl. Piette in I’Anthropologie 1895, Tfl. V, Fig. 4. 
2) Obermaier, Der Mensch der Vorzeit. Berlin 1911/12. S. 231. 
®) Ranke, Der Mensch. Leipzig 1912. Il, S. 442. 


Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen der Menschheit 363 


in den Bogenlinien eine Hürde zu sehen). Freilich ist das 
Weib verhältnismäßig etwas klein geraten und ihre Beine 
sollten streng genommen den linken Hinterfuß des Renntieres 
überschneiden. Aber gerade diese Fehler kehren stets wieder. 
Ohne Zweifel ist also der Zusammenhang näherliegend als das 
Gegenteil, und es besteht kein Grund, das Näherliegende zu- 
gunsten des Fernliegenden abzulehnen, da bis jetzt noch nie- 
mand auf die Idee kam, die Gleichzeitigkeit der einzelnen Teile 
der Darstellung zu bestreiten. Wir sind also berechtigt, den 
Versuch zu machen, die als Einheit gedachte Darstellung zu 
deuten zu versuchen. Auch hier dürfte ein Zauber dargestellt 
sein. Das hochschwangere Weib steht vor der Niederkunft 
und alle Naturvölker, ja selbst die Mehrzahl der Angehörigen 
der Kulturvölker, versucht durch Zauber oder Sympathiemittel 
den Geburtsvorgang zu erleichtern. Diesem Zwecke dient 
eine abergläubische Handlung, die über die ganze Welt ver- 
breitet ist. Besonders charakteristisch berichtet sie uns Baker") 
von den arabischen Weibern. Frauen, die der Niederkunft 
entgegensehen, kriechen einem recht starken Kamel zwischen 
Vorder- und Hinterbeinen hindurch, in dem Glauben, daß diese 
Handlung die Stärke des Tieres auf das Kind übertragen 
würde. Nimmt man an, daß unser Knochenstück einem der- 
artigen Zauber diente, dann wäre schon dadurch die mächtige 
Darstellung des Renntiers — es soll ein recht starkes sein — 
erklärt. Die Sitte des Durchkriechens und Durchziehens zwischen 
Tieren oder durch Höhlungen in Steinen und Pflanzen ist, wie 
gesagt, ebenso alt als verbreitet. Sie wird schon von den 
Römern berichtet?). Reiches Material stellen Hovorka und 
Kronfeld®) zusammen. Im wesentlichen liegt der Sitte die Idee 
zu Grunde, daß das Leben des Menschen innig verknüpft ist 
mit einem Baume, einem Steine usw., worüber Mannhardt‘*) 
manches ausführt. 

Aber die damalige Zeit gibt uns auch Aufschluß über die 
Beziehungen der beiden Geschlechter zu einander; haben wir 
bisher nur mit Kleinskulpturen, Ritzzeichnungen auf kleinen 


ı) Baker, Nilzuflüsse in Abyssinien I, S. 251. 
3) Marcellus empir de medic. p. 229. 
3) Hovorka und Kronfeld, Vergleichende Volksmedizin, Stuttgart 
1909, I. 57, 253, II. 49, 59, 483, 668, 694—696, 714, 879. 
“ Mannhardt, Wald- und Feldkultur, Bd. I, Berlin 1875, S. 32. 
24° 


364 Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen der Menschheit 


Knochenstücken usw. und Wandgemälden zu tun gehabt, so 
kommen wir jetzt zu Ritzzeichnungen auf Felswänden. 
Man kann wohl behaupten, daß die ältesten derartigen Dar- 
stellungen dem Aurignacien angehören; leider sind menschliche 
Darstellungen ebenso selten als schlecht; sie kommen nur in 
drei Höhlen vor, in Combarelles, Marsoulas und Altamira. 
In Combarelles sind, wie Wiegers') mitteilt, zwei als sicher 
menschlich anzusehen, „die anscheinend einen Mann und eine 
Frau, vielleicht vor einer intimen Szene, vorstellen“. Wir 
geben diese hochwichtige Darstellung in unserer Abb. 11 wieder.) 





Abb. 11. Coitusstellung (?) Höhle von Combarelles (nach Cartallhac et Breuil). 


Die Höhle von Combarelles liegt im Tale der Beune bei 
Les Eyzies in der Dordogne in Frankreich und wurde 1902 
von Capitan, Breuil und Peyronie entdeckt. Sie ist eigentlich 
ein viel gewundenes, unterirdisches Bachbett, 225 m lang, etwa 
1,5 bis 2 m breit und durchschnittlich 0,5 bis 3m hoch. Die 
Zeichnungen beginnen etwa 119 m vom Eingang entfernt. Solche 
Höhlen dienten, da sie im Innern ziemlich warm waren, den 
prähistorischen Menschen als Winteraufenthalt, mußten aber na- 
türlich künstlich beleuchtet werden. Die Umrißzeichnungen 


1) Wiegers, Die Entwicklung der diluvialen Kunst, Ztsch. f. Ethnol. 
46, 1914, Heft VI, S. 857. 


3) Cartailhac et Breuil: La caverne d’Altamira. Monaco 1906. 


366 Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen der Menschheit 


gekommen wäre, wenn sie nicht eben auf die Felsen selbst ge- 
malt worden wären. Nun glaubt Wiegers wohl mit Recht, 
daß das von uns behandelte Relief nicht dem unteren Solutreen, 
sondern ebenfalls dem oberen Aurignacien angehört. Er 
sagt:') „wenn dieses Relief auch im unteren Solutr&en gefunden 
wurde, so glaube ich doch, daß ihm ein höheres Alter zu- 
kommt. Die Übereinstimmung in der Herstellung ist bei den 
fünf Reliefs von Laussel so groß, daß wir unbedingt ein gleiches 
Alter annehmen müssen. Es ist wohl möglich, daß die in den 
Kulturschichten gefundenen Reliefs ursprünglich in der Fels- 
wand gesessen haben, eigentlich also zur Wandkunst zu 
stellen sind, und im Laufe der Zeit durch die Verwitterung des 
Felsens abgestürzt und dabei z. T. zerbrochen sind. Es ist als 
ein Zufall anzusehen, daß das letzte Relief später als die 
anderen, nämlich zur Solutreenzeit, erst heruntergefallen ist. 
Andererseits ist es ebensogut möglich, daß die fünf Reliefs auf 
vorgefundenen losen Steinplatten hergestellt wurden, von denen 
eine wieder durch irgend einen Zufall den Solutr&enleuten zu- 
gänglich blieb und somit später erst in die Solutr&enschicht 
eingebettet wurde.“ 

Unser Relief ist nun auf einem Kalksteinblock von 46 cm 
Länge und 31 cm Breite dargestellt und zeigt zwei Personen, 
die in eigenartiger Weise zu einander gestellt sind. Über die 
Deutung der Darstellung ist man geteilter Meinung. Ploß- 
Bartels?) schreibt dazu: In der abgebildeten Szene haben 
wir wahrscheinlich die überhaupt älteste Darstellung einer 
Niederkunft zu erblicken, die existiert, falls nicht die andere 
vom Entdecker Dr. S. Lalanne ebenfalls für annehmbar gehaltene 
Deutung, daß es sich um die Darstellung eines Coitus handelt, 
richtiger ist. Zwei Personen, von denen die eine, obere, durch 
die kräftigen hängenden Brüste sicher als weiblich erkennbar 
wird, sind in Gegenüberstellung dargestellt. Die starken 
Hängebrüste der Frau reichen nicht über die Gürtelgegend 
herab; der Bauch ist durch einen starken medianen Vorsprung 
angedeutet, welcher zwei weniger starke seitliche Vorsprünge 
zeigt. Die Schenkel sind gebeugt, die Arme hängen am Leibe 


1) Wiegers, Die Entwicklung der diluvialen Kunst. Ztsch. f. Ethn. 46, 
1914, Heft VI, S. 844. 

%) Ploß-Bartels, Das Weib in der Natur- und Völkerkunde. Map 
zig 1913. (10. Aufl.) T. S. 179. 


Reitzen stein: Die ältesten sexuellen Darstellungen der Menschheit 367 


herab und die Hände unterstützen anscheinend die unteren 
Gliedmaßen. Die andere Gestalt ist weniger deutlich erkennbar. 
Dr. Lalanne ist geneigt, da diese letztere Figur für ein Kind 
zu groß erscheint, anzunehmen, daß es sich nicht um eine 
Geburtsszene, sondern um die Darstellung eines Coitus 
(der dann also wohl in hockender Stellung gedacht wäre) 
handelt. Dasselbe glauben Boule und Cartailhac. Abbé Bréuil 
hält aber auch die andere Deutung für annehmbar, daß eine 
Geburtsszene geschildert werden sollte.“ Nun, diese letztere 
Auffassung dürfte sicherlich unrichtig sein, denn bei der da- 
maligen immerhin hohen Leistungsfähigkeit wäre zweifelsohne 
das Kind charakteristischer dargestellt worden. Freilich ist das 
Relief nicht vollendet worden. Nun hat neuerdings Prof. 
Schiefferdecker-Bonn die Frage, ob es sich um eine Ge- 
burts- oder eine Coitusdarstellung handelt, genauer untersucht. *) 
Er sagt: „Daß es sich nicht um eine Geburt handeln kann, 
geht meiner Meinung nach zweifellos daraus hervor, daß die 
auf dem Rücken liegende Person viel zu groß für ein neu- 
geborenes Kind ist. Außerdem besitzt diese Person einen 
Kinnbart, der in der Mitte geteilt is. Auch die Ausbildung 
von Augen, Ohren, Nase und Mund deuten auf einen Er- 
wachsenen.“ Das mag sicherlich stimmen, wenn auch die 
Spitzbartfrage etwas verdächtig anmutet. Mötefindt, der die 
Ausführungen Schiefferdeckers bespricht,?) sagt: „Mir persönlich 
erscheint es zwar noch fraglich, ob der Spitzbart, vor allem 
auch in der eigenartigen Form, wirklich als einwandfrei fest- 
gestellt gelten darf, aber an und für sich sind Bartdarstellungen 
aus dem Paläolithikum Spaniens bereits bekannt, so daß der 
Nachweis einer Bartdarstellung aus dem südfranzösischen 
Paläolithikum weiter nichts Auffälliges wäre. Die fragliche 
Bartform eines zweigeteilten Kinnbartes kenne ich freilich auch 
aus Spanien nicht; über diese Einzelheit wird man also erst 
eine£Nachprüfung abwarten müssen. Aber diese dürfte 
schwerlich an der Deutung des Gesamtbildes etwas 
ändern.“ Diesen Ausführungen kann man sich nur völlig 


1) Schiefferdecker in der Zitsch. f. Ethnol. 51. 1919. Heft 2—3 
S. 179—184, und „Eine merkwürdige Darstellung aus der Vorzeit“ in 
„Umschau“ Nr. 8 vom 19. Febr. 1921, S. 91. 


®) Mötefindt, Die älteste menschliche Coitusdarstellung in Natur- 
wissenschaftl. Wochenschr. Nr. 44. Jena, Oktober 1920. S. 701. 





368 Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen der Menschheit 


anschließen. Es würde also zweifelsohne die Definition als 
Coitus der als Geburt vorzuziehen sein. Nun stellt sich 
Schiefferdecker den Vorgang selbst folgendermaßen vor: „Die 
Frau hockt in der Geschlechtsgegend des Mannes auf seinem 
Körper, die kräftigen Schenkel sind infolgedessen in den Knien 
stark gebogen. Mit den Armen und Händen stützt sie sich, 
die Schenkel vielleicht umgreifend, auf den Boden, neben dem 
Körper des Mannes, Die richtige Darstellung dieser recht 
schwierigen Szene ist nun über das Vermögen des Künstlers 
hinausgegangen, denn er stellt Mann wie Frau in voller Ansicht 
von vorn her dar, was unmöglich ist. Ferner scheinen die 
Füße der Frau auf dem Körper des Mannes zu stehen. Die 
Füße, die selbst nicht dargestellt worden sind, haben aber zu 
beiden Seiten des männlichen Körpers auf dem Boden ge- 
standen und sind wohl von dem Körper verdeckt worden, 
ebenso wie die Hände. Es handelt sich hier also um die Form 
des Coitus, bei dem die Frau in einer Art von Hockerstellung 
auf dem Manne sitzt. Sie ist auch jetzt noch als Nebenform 
gebräuchlich und soll nach Lalanne im Altertume auch auf 
'Vasenbildern künstlerisch dargestellt worden sein.“ Mötefindt 
führt diese Hinweise auf antike Vasenbilder besonders durch 
Heranziehung der Phineusvase näher aus. Ich gebe nun in 
Abbildung 12b die Auffassung Schiefferdeckers nach der in der 
„Umschau“ veröffentlichten Skizze wieder. Die Hinweise auf 
das klassische Altertum, insbesondere die Phineusschale, 
halte ich jedoch für wenig wertvoll. Die mir vorliegenden 
Bilder zeigen deutlich, daß wir hier einfach Szenen vor uns 
haben, denen eine beabsichtigte Reizsteigerung zu Grunde 
liegt und jeder Nachweis des Volkstümlichen fehlt. 
Wohl aber läßt sich die Stellung durch chinesische Elfenbein- 
täfelchen belegen und vor allem durch einen altbabylonischen 
Zylinder. Hier fehlt sicherlich jede Pikanterie, die Dar- 
stellung zeigt zweifelsohne eine übliche Form; vgl. Abb. 13.1) 
Ich habe bereits früher?) auf diese eigenartige Darstellung 
hingewiesen und damals die Frage zwischen Geburt und 
Coitus offengelassen. Heute möchte ich mich doch für die 


!) Nach Sarzec, Decouverts Pi. 30. 


2) Reitzenstein, Liebe und Ehe im alten Orient. Stuttgart 1909, 
S. 56 u. Abb. 25. 


Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen der Menschheit 369 





h 
13. Altbabylonischer Siegeizylinder (nach Sarzec) 


370 Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen der Menschheit 


letztere Auffassung entscheiden und diese Figur zu unserer in 
Vergleich setzen, wenn man die Schieferdecker’sche Erklärung 
beibehalten will. Ich glaube aber, daß diese nicht zwingend 
ist, die Coitusstellung des Reliefs läßt sich noch 
anders erklären. Ich möchte vermuten, das Weib liegt 
auf dem Rücken, der Mann kniet vor ihm und zieht die 
Beine des Weibes an sich. Durch diese Erklärung, die wir in 
Abb. 12a wiedergeben, würden vielmehr Details des Reliefs 
benutzt und wir erhalten eine Coitusform, die auf der Welt 


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Abb. 14. Australische Coitusstellung (nach Roth) 
besonders weit verbreitet ist und zwar vor allem bei primi- 
tiven Völkern. Es liegen mir aber auch Bilder von Kultur- 
völkern vor, so eine derartige Darstellung von einem Fries an 
einem Tempel zu Benares; dann eine persische Miniatur usw., 
denen ebenfalls der gesuchte Charakter fehlt. Was aber das 
wichtigste ist, ist, daß diese Vornahme des Coitus die in 
Australien übliche ist. Vgl. Abb. 14, eine Darstellung, die 
nach einer sehr kleinen Aufnahme von Roth gezeichnet ist.*) 


1) W. E. Roth, Ethnological studies among the North-West-Central 
Queensland Aborigines, London 1897, Tafel 26, Fig. 433 u. S. 179, Abs. 320d. 


372 Reitzenstein: Die ältesten sexuellen Darstellungen der Menschheit 


auf die Hälfte der vielen Tierfiguren kleine Pfeilspitzen auf- 
malt, muß einen bestimmten Zweck haben und das kann nur 
der eines Zaubers sein. Der Jäger malte auf das Tierbild 
— z. T. sind die Pfeilspitzen im Vergleich zur Tierzeichnung 
sehr unbeholfen, also sicher nicht von gleicher Hand — eine 
Pfeilspitze und verband damit den Zweck, auf der nun 
kommenden Jagd Glück zu haben. Diese stark bemalten 
Höhlen könnten also „Zauberhöhlen“ gewesen sein und etwa 
jenen Höhlen der Australier entsprechen, in denen sie ihre 
Schwirrhölzer usw. aufbewahren. Man brachte dort nach 
Bedarf Zeichnungen an, um die darin wohnenden Dämonen 
zu Diensten zu zwingen. Solchen und ähnlichen Zwecken 
mögen auch unsere sexuellen Darstellungen gedient haben, 
so daß der Ausspruch von Wiegers (S. 485 der mehrfach 
zitierten Arbeit) voll und ganz berechtigt erscheint: Die 
ersten Darstellungen des Menschen sind lediglich aus 
erotischen Ursachen erfolgt. Von der Vulva und dem 
Phallus im mittleren bis zum Coitus im oberen Aurignacien 
zeigen fast alle menschlichen Figuren eine ausgesprochene 
Betonung des „Sexuellen“. Das „Feigenblatt“ steht also eben- 
sowenig an der Spitze der menschlichen Kultur wie die Einehe 
oder der Monotheismus. 








KREUZUNG UND BASTARDIERUNG. 
Von Universitäts-Professor Dr. A. WIRTH, 


MN" muß um wirksam und widerstandsfähig zu sein, mit 
einem anderen Metall verbunden, muß legiert werden. Ein 
guter richtiger Müller nimmt australisches und argentinisches 
oder rumänisches Korn mit deutschem Korn zusammen, um ein 
schönes Mehl zu erzielen. Tuchweber verfahren gleichermaßen. 
Sie nehmen englische oder australische, dazu rumänische oder 
russische Wolle, damit das Tuch stark und dauerhaft werde. 
So ist es auch mit den Rassen, sie müssen gekreuzt werden, 
um Kraft und Dauer zu erhalten, besonders aber, um schöpferisch 
zu werden. Tatsächlich gibt es denn auch kein Volk auf der 
ganzen Erde, sicherlich kein Kulturvolk, ich glaube jedoch auch 
kein Naturvolk, das nicht Mischungen aufwies. Freilich „Zu 
wenig und zu viel, ist jedem Narren sein Ziel“, oder mit einem 
anderen Sprichwort: „Zwischen erstickt und erfroren ist viel in 
der Mitte“. 

Höchste Kultur ist weder bei den Eskimos, noch bei den 
Negern unter dem Gleicher denkbar. Inzucht bringt Erstarrung, 
während zuviel gemischte Rassen entarten. Wir haben Beispiele 
von lange fortgesetzter Inzucht bei den Feuerländern, bei den 
Koreanern und bei einzelnen Herrschersippen, wie den Mikados 
und, obgleich nicht so streng durchgeführt, bei den Habs- 
burgern. In Feuerland hat die Vereinzelung dazu geführt, daß 
die Rasse ausstirbt. Weit entfernt, enger zusammenzuwachsen 
und sich innig zu lieben, hassen sich vielmehr die von aller 
Welt abgeschlossenen Feuerländer aufs heftigste, ähnlich wie 
Leute, die zu lange auf demselben Schiff oder bei einer Fest- 
landskarawane zusammenlebten, sich gegenseitig verabscheuen 


374 Wirth: Kreuzung und Bastardierung 


und einander nicht mehr riechen können. Die Feuerländer 
liefern sich unaufhörlich Zweikämpfe und veringern sich dadurch 
die Zahl der ohnehin kopfarmen Rasse. Viele enden auch aus 
Überdruß über die unausgesetzten Quälereien ihr Leben durch 
Selbstmord. Bedeutend munterer und geradezu von heiterer 
Sinnlichkeit sind die Koreaner. Was aber bedeuten die Koreaner 
in der Weltgeschichte? Sie hätten etwas bedeuten können, so 
wie Italien, dem nach Lage und Klima und teilweise in der 
Lebensführung und künstlerischen Begabung das Land des 
Morgenstrahls gleicht. Auch wurde das Land von anderen 
Rassen -aufgesucht. Chinesen und Türken kamen dorthin; 
Araber ließen sich im zehnten Jahrhundert dort nieder, weil sie 
die Luft und die Annehmlichkeiten des Lebens dort schätzten. 
Alles aber wurde durch die strenge Abschließung gegen die 
Außenwelt verdorben, die seit dem vierzehnten Jahrhundert 
geübt, und die in der Hauptsache nur einmal, durch den Feld- 
zug-Einfall der Japaner, 1592—1598, durchbrochen wurde. 
Freilich, die Abschließung war auch in China und Japan be- 
liebt. Allein sie wurde nicht solange durchgeführt, im Insel- 
reiche etwas über zwei Jahrhunderte und im „Blumenkönigtume“ 
nicht sonderlich streng. Das ausschlaggebende ist indessen 
folgendes: Was sich ein großes kopfreiches Volk erlauben 
kann, schlägt einem kleinen zum Unheil aus. Daher offenbarten 
sich auch in der Schweiz, die sich keineswegs hermetisch 
gegen außen abschloß, 200 Jahre nach dem dreißigjährigen 
Kriege deutliche Spuren von Verknöcherung und Verkalkung, 
zum mindesten bei den regierenden Sippen und in den Regierungs- 
methoden, sodaß Bonaparte mit leichter Mühe die Berner 
Bureaukratie umwarf. Heute ist umgekehrt die Schweiz durch 
den Zufluß von Italienern, Juden, Russen, Balkaniern und 
Orientalen, Polen und Flüchtlingen aus aller Herren Ländern, 
der Gefahr einer bedrohlichen Überfremdung ausgesetzt. Jeden- 
falls ist durch planlose Überschwemmung mit Fremden und 
durch wahllose Mischung einst das Griechentum und das- 
Römertum zugrunde gerichtet worden. 

Wir können auch hier bestimmte Perioden nachweisen. 
Der fruchtbaren Kreuzung während und infolge der Völker- 
wanderung entspricht ein tüchtiges, in Neigungen und Ab- 
neigungen ziemlich einheitliches Geschlecht, das die Reinheit 
seines Blutes ein gutes Jahrtausend hindurch leidlich behauptet. 


Wirth: Kreuzung und Bastardierung 375 


Dann setzt der Verfall ein. Mit der sinkenden Kraft schwindet 
die Widerstandsfähigkeit wider den Zustrom des Fremd- 
tumes. Bundesgenossen, alle möglichen Postgänger und Nutz- 
nießer der überreifen Kultur, gedungene Wanderarbeiter und 
Sklaven, endlich anmaßende Eroberer. Sie alle drängen und 
tummeln sich in einem alten Staate. So wird das Alter jeder 
Kultur durch übermäßige Mischung der Rassen gekennzeichnet. 
Die völlige Auflösung ist dann der Schluß des Schauspieles. 

Nicht alle Farben sind gut zur Mischung. Deckfarben ver- 
tragen sich nicht mit Lasurfarben und beide nicht mit Asphalt; 
noch weniger kann man die eine Pferderasse bei der anderen zu- 
lassen. Ein Brabanter ist durchaus ungeeignet, eine Panjestute 
zu decken und selbst ein kleiner Panjehengst taugt nicht für 
einen Shettlandponny. So passen auch nicht alle Menschen- 
rassen zusammen. In Amerika wird die Verbindung von Weißen 
und Schwarzen insgemein als widrig, unstatthaft, ja verbrecherisch 
empfunden. Trotzdem ist die Verschmelzung von weißen und 
schwarzen. Blut recht häufig auf der Erde, während Kreuzung 
zwischen Schwarzen und Gelben noch zu den Seltenheiten ge- 
hört, und lediglich am Amur in größerem Maßstabe Platz 
greift. Eine viel umstrittene Frage ist nun, inwieweit Mulatten- 
kinder fruchtbar seien. Es ist jedoch nicht ersichtlich, daß es 
da Grenzen gebe. Wohl aber ist erwiesen, daß die Bastarde 
von Schwarzen und Malaien, die durch die Verbindungen der 
Holländisch-ostindischen Gesellschaft mit Jafa ternate seit Ende 
des siebzehnten Jahrhunderts aufkamen und im vierten Ge- 
schlecht erloschen sind. Maultiere sterben schon im zweiten 
Geschlechte aus. Ganz unfruchtbar sind nämlich, wie lange 
geglaubt wurde, Maultiere nicht. Es scheint indessen, daß jene 
malaische Erfahrung vereinzelt dastehe. Die anderen Erfahrungen 
beweisen das Gegenteil. Gerade in Südafrika leben noch heute 
die Griqua, aus Heiraten hervorgegangen, die vor länger als 
einem Jahrhundert von Buren und Hottentottinnen abgeschlossen 
wurden. Die Mulatten auf Mauritius, in Westindien, in Mittel- 
amerika und in dem tropischen Südamerika vermehren sich 
mit ungeminderter Kraft. Dabei herrscht in Südamerika das 
tollste Rassendurcheinander, vier völlig getrennte Rassen mengen 
sich dort: Indianer, Schwarze, Ostasiaten und Weiße, dazu 
Juden und in jüngster Zeit noch christliche Syrier. Die Mestizen, 
Quadronen und Oktoronen werden demnächst noch um weitere 


376 Wirth: Kreuzung und Bastardierung 


Mischungsgrade vermehrt werden. Es gibt heute Freistaaten 
im tropischen Amerika, bei denen nur ein Prozent der Bevölkerung 
weißen Blutes ist, und selbst dieser geringe Bruchteil ist nicht 
über jede Zweifel erhaben. Ähnlich wird man sich nur zu oft 
den Hergang in vorgeschichtlicher, frühgeschichtlicher und selbst 
in klassischer Zeit vorzustellen haben. In gar manchen Gegenden 
Persiens und Indiens, werden die Arier nicht mehr als ein 
Prozent der Bevölkerung ausgemacht haben und ich möchte 
keinen Eid dafür leisten, daß in Tirol und Graubünden, in der 
Auvergne und der Mandscha, in der irischen Grafschaft Clare, 
auf Sardinien und Korsika mehr als fünf Prozent vorhanden seien. 





Geschlecht und Gesellschaft, 
Neue Folg X, 11 


Tafel I 





Fig. 2; 


Fig. 1 links Vergleich des Halbmenschenkiefers von Piltdown (Mitte), mit einem 
Kaffernkiefer (oben) und einem Schimpansenkiefer (unten), rechts: Rekonstruktion 
des Piltdown-Schädels (oben) und Hirnschädelausguß desselben (unten). 
Fig. 2. Der Mahlzahn von Schansi verglichen mit dem des Palaeopithekus (auf 
den ihn Schlosser bezieht) und dem des Orangutan. 











III 


L 
OROHOHOHOHOHOHOROHOROL 








; 








IOROWOWHOROROROHOHO 













DIE MEHRSTÄMMIGE ABLEITUNG DES 

MENSCHENGESCHLECHTS UND IHRE 

BEDEUTUNG FÜR DIE VÖLKERKUNDE. 
Von Dr. med. K. CLASSEN, Grube in Holstein. 


Is der berühmte Infektionskrankheiten-Erforscher Robert 

Koch wegen des Studiums der „Schlafkrankheit“ das öst- 
liche Innerafrika bereiste und dabei vielfach Gelegenheit hatte, 
die einheimischen Negervölker zu beobachten, kam er zu der 
Anschauung, daß der dortige Neger physiologisch nicht zu 
derselben Gattung der Menschen gehören könne, wie der 
Europäer, sondern vielmehr im zoologischen Sinne eine Gattung 
für sich bilde. Der große Hygieniker hat hiermit von seinem 
Standpunkte aus einer Überzeugung Ausdruck gegeben, welche 
schon früher von einzelnen hervorragenden Anatomen und 
Anthropologen geahnt und vorsichtig angedeutet wurde, neuer- 
dings jedoch in der wissenschaftlichen Welt mehr und mehr 
an Boden gewinnt: nämlich, daß- die Menschheit nicht ein- 
heitlich aus dem gemeinsamen Grundstamm der. Anthro- 
poiden oder menschenähnlichen Affen herzuleiten ist, sondern 
daß sie entsprechend der Mehrheit der Anthropoiden auch 
einen mehrheitlichen Ursprung habe. 

Ohne auf die Entwicklung dieser Lehre vom „Polygenis- 
mus“ des Menschengeschlechts im Einzelnen einzugehen, 
will ich hier nur hervorheben, daß dieselbe in neuester Zeit 
an Boden gewinnt. Hiernach lassen sich beim Menschen drei 
„Grundstämme“ unterscheiden, welche den drei großen 
Anthropoiden, auch „Anthropomorphen“ oder Menschen- 
gestaltige benannt, nämlich dem Schimpansen, dem Gorilla 
und dem Orangutan entsprechen. 

Versuchen wir es nun, diese Lehre vom paläontologischen, 
ethnologischen und sprachwissenschaftlichen Standpunkt. aus 
übersichtlich zu erörtern. 

Die paläontologische Grundlage für den „Polygenis- 
mus“ bilden eine Anzahl fossiler Funde, welche die ehemalige 
Existenz von Zwischengliedern zwischen den Anthropoiden 
und den Menschen, also von „halbmenschlichen“ Wesen, 

25 


378 Classen: Die mehrstämmige Ableitung des Menschengeschlechts usw. 


beweisen. Es sind dies hauptsächlich: Einige Schädelteile und ein 
Unterkieferstück aus der Umgegend von Piltdown in England 
(s. Tafel I, Fig. 1); einige Zähne und Kieferteile aus den Sivalik- 
bergen im nördlichen Vorderindien; ein Schädeldach, Schenkel- 
bein und einige Zähne von Trinil auf der Insel Java; ein 
oberer Backenzahn aus der Provinz Schansi, östlich von 
Peking in China; endlich ein oberster Halswirbel von Monte 
Hermoso in Argentinien. Sehen wir von dem letzten Funde 
ab, der für die Bestimmung der „Urheimat“ des Menschen 
zunächst nicht in Betracht kommt, — denn in Amerika haben 
niemals anthropoide Affen existiert, — so erhalten wir drei, 
örtlich weit voneinander entfernte Gebiete als Ursprungsorte: 
Europa-Afrika, Südasien und Ostasien. Und jene ver- 
schiedenen dortigen Funde gehören nicht etwa einer und der- 
selben Gattung an, vielmehr beweisen sie, daß am Ausgang 
des heißen Tertiär-Zeitalters, wesentlich innerhalb der ge- 
mäßigten Zone, also im damaligen Verbreitungsgebiet der 
Anthropoiden, drei Arten von Affen- oder Halbmenschen 
(Pithekantropen) existiert haben. Wie die Fossilreste dieses 
begründen zeigt sich im folgenden: Die Unterkieferstücke von 
Piltdown nebst zwei Mahlzähnen (gefunden von Dawson 
1911/12) sind sicherlich den entsprechenden „Schimpansen*- 
Skeletteilen auffallend ähnlich, so daß man sie mehrfach 
sogar einem Schimpansen zuschreiben wollte. Das Schädel- 
dach von Trinil, (gefunden von Dubois schon 1891), ähnelt 
mit seinem geradlinig vorspringenden Augenbrauenwulst 
und Hinterhauptbein dem „Gorilla“,*) (nach Vergleichsbildern 
der Professoren Schwalbe und Rudolf Martin), und Gorilla- 
Ähnlichkeit besitzen auch die wichtigsten nordwestindischen 
Anthropoiden-Gebißfunde, insbesondere die von Pilgrim (1910 
bis 1915) dort entdeckten des Sivapithecus. Indessen gleicht 
der Zahn von Schansi (der vom Reiseforscher Dr. Haberer 
aufgefunden und 1906 von Prof. Schlosser beschrieben wurde) 
in der Gestaltung der Kauflächen dem Backenzahn des Orang- 
utan und des ihm vorausgehenden fossilen Palaeosinna. (Vgl. 
Tafel I, Fig. 2.) So bilden alle diese fossilen Funde zweifellos 
„Übergangsformen“ zwischen jenen Anthropoiden und den 
heutigen Menschen! 


*) Würde wohl besser der gibbonoiden Gruppe zugeteilt. 


Classen: Die mehrstämmige Ableitung des Menschengeschlechts usw. 379 


Gehen wir noch einen Schritt weiter, so kommen wir 
unabweisbar zu der Schlußfolgerung, daß die Menschheit nicht 
aus einem Stamm erwachsen ist, sondern sich aus den ver- 
schiedenen Stämmen der Primaten entwickelt hat, und zwar 
offenbar aus drei Wurzeln, entsprechend den drei Ge- 
schlechtern der Anthropoiden: Dem Schimpansen (nebst 
seiner fossilen Frühform, dem Dryopithecos), dem Gorilla 
(nebst seiner Frühform, dem Pavian) und dem Orang-Utan (nebst 
dem ihm naheverwandten, älteren und kleineren Gibbon).*) 
(Vgl. Tafel IL) Wir sind also berechtigt, von einem 
„schimpansoiden“, einem „gorilloiden“ und einem „orangoiden“ 
Grundstamm der Menschheit zu reden, und wir dürfen 
deren Entstehung mit höchster Wahrscheinlichkeit in Afrika- 
Europa, Südasien und Ostasien suchen. Sie ist nach neuerer 
Auffassung wesentlich der geisteshebenden Einwirkung der 
„Eiszeiten“ zuzuschreiben. 

Von diesen drei Grundstämmen hat sich jeder seit den 
frühesten Zeiten, anfangs durch die Eiszeiten, später durch 
spontane Wanderungen, weit über seine engere Heimat hinaus 
ausgebreitet, und ist dabei mit einem oder den beiden anderen 
Grundstämmen in nähere Berührung gekommen. So finden 
wir unter den menschlichen Schädeln und Skelettfunden aus 
dem Paläolithikum (der älteren Steinwerkzeuge-Zeit) Europas 
Vertreter aller drei Grundstämme. Die Ausbreitung durch 
den ganzen Kontinent Amerika, von Norden nach Süden, konnte 
vielleicht schon vor dem frühesten Quantär (Eiszeitalter) vor 
sich gehen, — daher der für spättertiär gehaltene Zwerg- 
menschenfund von Monte Hermoso in Argentinien —, weil 
hier keine in äquatorialer Richtung verlaufende Hochgebirge 
hindernd im Wege waren. 

Die mannigfachen Vermischungen, welchen auf diese Weise 
die Grundstämme unterworfen wurden, müssen alsdann neben 
den tiefgreifenden Klimaschwankungen der Eiszeiten mit 
den warmen Zwischeneiszeiten, zur Bildung neuer Rassen- und 
Zwischenstufen geführt und zugleich die Hochzüchtung 
einzelner Stammteile zu „Kulturvölkern“ und die schärfere Aus- 
wirkung ihres „Geschlechtscharakters* bewirkt haben. 

+*+) Vgl. hierzu „Geschlecht und Gesellschaft“, Jahrgang X, S. 153 
Sokolowsky Geschlechts- und Altersunterschiede bei Menschenaffen und 


die.dazu gehörigen Tafeln. 
25* 


380 Classen: Die mehrstämmige Ableitung des Menschengeschlechts usw. 


Wenden wir uns nun der Frage zu, welche Folgerungen 
sich aus den paläontologischen Tatsachen für die Ethnologie 
oder Völkerkunde ergeben, so steht im Vordergrund die Frage, 
ob es unter den heute lebenden Menschenrassen noch „ein- 
stämmige“ gibt, d. h. solche, die lediglich das Blut eines der 
drei Grundstämme ohne Vermischung mit einem der andern 
enthalten. 

Je höher eine neuzeitliche Rasse in geistiger und kultureller 
Beziehung steht, um so mehr entfernt sie sich in ihrem Körper- 
bau von den Anthropoiden. Bei den europäischen Rassen 
finden sich „pithekoide“ Merkmale oder Zeichen von Affen- 
ähnlichkeit, wie mangelhafte Kinnbildung, enger Unterkiefer- 
winkel, geringe Schädelkapazität, Abnormitäten im Gebiß, über- 
mäßig lange Arme, zwerghafter Wuchs usw., höchstens noch 
atavistisch, d. h. ahnenhaft vererbt als vereinzelte Vorkommnisse, 
nicht als konstante Merkmale. Je, niedriger eine Rasse heut- 
zutage steht, d. h. je mehr bei ihr die pithekoiden Merkmale 
noch hervortreten, um so mehr darf man vermuten, daß sie 
einem einzelnen der drei Grundstämmen nahesteht und nicht 
durch Vermischung der drei Grundstämme aufeinander in 
höherem Grade und geistige Einwirkung „vermenschlicht“ 
worden ist. 

Von diesen Gesichtspunkten aus betrachtet stehen die am 
frühesten entstandenen Pygmäen- oder Zwergmenschen-Völker 
noch auf der niedrigsten Stufe; sie erscheinen wie lebend 
gebliebene Reste aus fernster Vergangenheit des Menschen- 
geschlechts. Solche echte Pygmäen sind die heutigen Akka in 
Zentralafrika, die kurzköpfigen Bewohner der Andamanen-Inseln, 
die ursprünglichen Wedda auf Ceylon, und einzelne solche 
Atta-Stämme auf den Philippinen. Trotz mancher gemeinsamer 
Züge, namentlich was den zierlich-rundlichen und kindskopf- 
artigen oder insgesamt den sogenannten „infantilen“ Schädel 
betrifft, unterscheiden sie sich doch so sehr von einander, daß 
M. Horst einem jeden der drei Grundstämme eine bestimmte 
dieser Pygmäenarten zuteilt. (Vgl. Tafel III, Fig. 1.) 

Neben den echten Pygmäen, bei denen die Körperlänge 
der Erwachsenen 1,50 m nicht überschreitet, stehen die durch 
Vermischung mit benachbarten großwüchsigen Rassen ent- 
standenen, körpergrößeren Mischzwergstämme, wie die Busch- 
männer Südafrikas (? Die Schriftl.), die Wedda vom Dekhan 





Classen: Die mehrstämmige Ableitung des Menschengeschlechts usw. 381 


Südindiens, die Senoi und Semang auf Malakka nebst ähn- 
lichen Stämmen im Innern von einigen der Sundainseln, und 
schließlich die Negritos oder langköpfigen zwerghaften Ur- 
bewohner der Philippinen (? Die Schrift.) und benachbarter 
Inselgruppen. 

Eine weitere Unterstufe, die sich ebenso wie die Pygmäen 
in jedem der drei Grundstämme nachweisen läßt, bilden die 
Neger, die auch wohl wegen der vielen sich bei ihnen vor- 
findenden pithekoiden Merkmale als fast unvermischt aus je 
einem Grundstamm hervorgegangen anzusehen sein dürften. 

Die eben erwähnten Völker aus sozusagen „ewiger Urzeit“, 
die Neger sowohl wie die Pygmäen, haben ihre Heimat heut- 
zutage ausschließlich in tropischen und subtropischen Ländern. 
Daß sie ehemals auch in der gemäßigten Zone gelebt haben, 
"beweisen die Funde prähistorischer Skelette von großen 
Negroiden in verschiedenen Gegenden Europas und von zwerg- 
haften Negern bei Mentone und in der Schweiz. Diese Funde 
gehören jedoch durchweg der paläolitischen oder höchstens der 
ältesten postglazialen Periode, dem sogenannten Magdal£nien, an. 
Bis in die neolithische Zeit der geschliffenen Steingeräte haben 
sich echte Pygmäen in Europa öfters wie besonders gut am 
Dachsenbühl bei Schaffhausen (vgl. Tafel Ill, Abb. 2), Urzeit- 
Negerreste aber überhaupt nicht erhalten. Diese Rassen 
scheinen also, jede zu ihrer Zeit, hier zugewandert zu sein; 
denn sie haben den umbildenden und fördernden Einfluß der 
Eiszeiten Europas nicht an sich erfahren, bzw. sind ihm erlegen. 

Anders diejenigen Rassen, welche die Grundlagen der 
Kulturvölker bilden. Bei diesen haben die beiden Faktoren, 
welche wir als entwicklungsfördernd erkannt haben, nämlich 
Schwankungen des Klimas bis zur Vergletscherung und 
Mischung verschiedener Rassen aus mehreren Grund- 
stämmen, am intensivsten ihren Einfluß geltend gemacht. 

Wenn wir die Bevölkerung an den ältesten Kulturzentren 
auf ihre Abstammung untersuchen, so stoßen wir überall auf 
eine ursprüngliche Hauptrasse, welche später von verschiedenen 
Seiten her mehr oder weniger „fremde“ Rassenelemente in sich 
aufgenommen hat. Sehr deutlich nachweisbar ist diese Rassen- 
mischung im unteren Mesopotamien und im Nillande, und 
zwar sind es sehr wahrscheinlich Rassen aus verschiedenen 
Grundstämmen, welche dort aufeinandergestoßen sind; im 


382 Classen: Die mehrstämmige Ableitung des Menschengeschlechts usw. 


Zweistromland die Sumerier und die Elmaiten (beide 
wahrscheinlich nördlicher, kaukasischer oder zirkassischer Her- 
kunft) mit den einheimischen „semitischen“, voraussichtlich aus 
Arabien stammenden Elementen; in Ägypten einheimische afri- 
kanische „Hamiten“ mit der zugewanderten semitischen und 
später der zirkassisch-gemischten, sogenannten armenoiden 
Urbevölkerung Vorderasiens. Auch für Kreta darf eine ähnliche 
Volksmischung vorausgesetzt werden, bei welcher jeweils der 
europäische Grundstamm stark mitspielt. 

Weniger bekannt sind uns bisher die Rassenverhältnisse 
in der Urheimat der ostasiatischen, insbesondere der alt- 
chinesischen Kultur, dem Tale des mittleren Yangtsekiang. 
Nach den Zahnfunden von Schansi liegt hier mongoloide 
Urbevölkerung vor; jedoch ist sowohl bei den Ainos, wie bei 
einzelnen sibirischen Polarvölkern Rassenverwandtschaft mit” 
ureuropäischen Stämmen erkennbar. 

Schließlich wollen wir untersuchen, wie weit sich die 
polygenetische Theorie auch auf die gesamten Sprachen der 
Menschheit anwenden läßt, denn mit der mehrfachen Mensch- 
werdung muß auch die Sprache mehrmals entstanden sein. 

In der Tat lassen sich nach Hommel die sämtlichen 
Sprachen der Erde nach dem Prinzip, nach welchem sie Be- 
griffe aneinanderreihen und die Glieder des Satzes zusammen- 
zufügen, in zwei Gruppen einteilen, eine nördliche und eine 
südliche; jene die europäischen und die meisten asiatischen 
Sprachen, nebst den Sprachen der Australier; diese die meisten 
afrikanischen Sprachen, das Semitische und die indonesisch- 
polynesischen Sprachen umfassend. Hierbei fällt auf, daß das 
Australische zum nördlichen Sprachstamm gehört, was uns daran 
erinnert, daß die Australier im Skelett Ähnlichkeiten mit den 
langköpfigen prähistorischen Rassen Europas aufweisen. 

Die nördliche Sprachengruppe läßt sich wieder in zwei 
Gruppen trennen, die indogermanischen Sprachen nebst 
dem Baskischen und den Kaukasussprachen (auch dem alten 
Sumerischen) auf der einen, die große Familie der mongo- 
lischen Sprachen von Finnland bis Japan nebst den nord- 
sibirischen Sprachen auf der anderen Seite. Der Unterschied 
besteht darin, daß bei den asiatischen Sprachen die Stellung 
der Wörter im Satz durch die grammatische Wortklasse be- 
stimmt wird (z. B. muß das Verbum stets den Schluß des 


Classen: Die mehrstämmige Ableitung des Menschengeschlechts usw. 383 


Satzes bilden), daß bei den europäischen Sprachen dagegen 
mehr oder weniger freie Wortstellung herrscht. 

Wenn auch einige Sprachen übrig sind, die sich nicht 
unmittelbar in einen dieser drei Hauptgruppen einreihen lassen, 
wie die indischen Drawidasprachen und einige der kaukasischen 
Sprachen, so darf man doch im Großen und Ganzen an der 
Dreiteilung festhalten. Also gewinnen wir auch von dieser 
Seite eine Bestätigung der dreiteiligen Abstammung des Menschen- 
geschlechts, denn die drei Grundstämme der Sprachen lassen 
sich unter Berücksichtigung der Möglichkeit sprachlicher Ver- 
schiebungen von einem Volk zum anderen unschwer mit den 
drei bekannten Grundstämmen der Rassen in Beziehung bringen. 

Dies sind nur eine Reihe vereinzelter Tatsachen, auf denen 
die polygenetische Theorie fußt; aber man sieht diese sich jedes 
Jahr durch neue Funde vermehren. Eine weitere wichtige, 
vielleicht entscheidende Aufhellung des Problems von der Ab- 
stammung des Menschen ist offenbar von der um 1900 durch 
Physiologie-Professor Friedenthal in Berlin entdeckten bio- 
logischen Blutserum-Reaktion zu erwarten. Nach seinen 
Versuchen und besonders nach des englischen Biologen Nuttall 
noch umfassenderen Untersuchungen (vom Jahre 1914) steht 
es fest, daß die Menschen den anthropoiden Affen aufs nächste 
„blutsverwandt“ sind, und daß diese Verwandtschaft sogar 
noch enger ist, als diejenige der verschiedenen Menschen- 
Grundstämme unter sich, und gleichfalls viel enger, als die- 
jenige mit den verschiedenen Affengeschlechtern. Von weiteren 
Untersuchungen dieser Art werden demnach noch höchst inter- 
essante und wertvolle Resultate zu erwarten sein. — 








_ GEH. RAT FRITSCH ZUR REFORM DER EHE. 


E: war am Begrüßungstag der ersten Internationalen Tagung 
für Sexualreform auf sexualwissenschaftlicher Grundlage, *) 
da bemerkte ich unter den Teilnehmern den Nestor der deut- 
schen Anthropologen, Geheimrat Fritsch, noch immer, wie 
seit jeher, allen durch sein patriarchalisches vornehmes Aus- 
sehen auffallend. Es war sicherlich kein Leichtes für ihn, von 
Großlichterfelde zu später Abendstunde hereinzukommen, um 
mit gespannter Aufmerksamkeit den zahlreichen Rednern zu 
lauschen, umsomehr, als er vor kurzem im Dienste der Wissen- 
schaft durch eine Explosion schwer verletzt worden ist. Nach 
kurzer Unterhaltung erzählte er mir, wie gerne er als Referent 
beim Kongreß aufgetreten wäre, um eine Reform der Ehe zu 
vertreten, die ihn seit langen Jahren beschäftigt habe, aber 
seines vorgeschrittenen Alters halber doch darauf verzichten 
wolle. Er stellte sie mir nun für unsere Zeitschrift zur Ver- 
fügung. Mit großer Freude sagte ich die Aufnahme zu und 
pünktlich brachte er das Manuskript am andern Morgen. 
Wie so manche Wissenschaften, so hat gerade auch die 
unsrige Geheimrat Fritsch besonders viel zu danken. Er war 
es, der gleichsam die Brücke schlug zwischen der streng 
wissenschaftlichen anthropologischen Erforschung des mensch- 
lichen Körpers und seiner Darstellung in der Kunst (Unsere 
Körperformen“ Berlin 1893 und „Die Gestalt der Menschen 
für Künstler und Anthropologen“ Stuttgart 1899) und so die 
Bahn freimachen half für die weltbekannten Werke von Stratz. 
Er war es aber auch, der durch sein Werk „Rassenunter- 
schiede der menschlichen Kopfhaut“ 1906—12 hauptsächlich 


*) Über die in jeder Hinsicht hochwichtige Tagung, bei der sich 
auf deutschem Boden zum ersten Male seit dem kulturvernichtenden 
Weltkriege fast alle Kulturvölker der Erde — es fehlten von großen 
Nationen eigentlich nur Spanien und — das offizielle Deutschland (!!) 
die Hände reichten, über die in der deutschen Presse geradezu minder- 
wertig berichtet wurde, werden wir unseren Lesern in den nächsten 
Heften ausführlich Bericht erstatten. Da diese Hefte späterhin sehr ge- 
sucht sein werden, bitten wir Interessenten, schon jetzt auf den Jahr- 
gang XI zu abonnieren. 


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v. Reitzenstein: Geh. Rat Fritsch zur Reform der Ehe 385 


eine Rasseneinteilung begründete, die in Zukunft mehr und 
mehr Anhänger finden dürfte. 

So mag es unsere Leser sicherlich interessieren, zunächst 
einiges Nähere über ihn zu erfahren, um seine Vorschläge 
zur Ehereform um so besser zu bewerten. Die Sexualwissen- 
schaft stattet ihm zugleich damit einen kleinen Teil des 
Dankes ab, den sie ihm, als einen ihrer ersten Vorkämpfer 
schuldet. 

Gustav Fritsch wurde 5. März 1838 als Sohn eines 
Baurates und Enkel (mütterlicherseits) von Geheimrat Kramsta, 
dem Begründer der schlesischen Leinenindustrie, zu Cottbus 
geboren. In den Jahren 1857—1862 studierte er an den 
Universitäten Berlin, Breslau und Heidelberg zuerst Natur- 
wissenschaften und dann Medizin. Sehr bald machte sich bei 
ihm ein Scharfblick geltend, der für sein Leben entscheidend 
werden sollte und der ebenso wertvoll für die gesamten 
Naturwissenschaften wurde, nämlich die Erkenntnis der 
Bedeutung von Mikroskop und photographischer 
Kamera für die exakten Wissenschaften. Er wurde 
so zu einer Autorität dieser Gebiete. Gleich nach Abschluß 
seiner Studien ging er nach Südafrika, wo er in bahn- 
brechender Weise von Kapstadt aus das englische Gebiet, 
den Oranje-Freistaat, Natal und die Betschuanenländer durch- 
forschte und bis zum 22. südlichen Breitegrad nach Norden 
vordrang. (1863—66.) Vor allem Kaffern, Betschuanen, Busch- 
männer und Hottentotten wurden einer für alle Zeiten wert- 
vollen Erforschung unterzogen. Nach seiner Rückkehr wurde 
er 1867 zum Assistenten am anatomischen Institut der Uni- 
versität ernannt und schon 1868 eben wegen seiner oben an- 
gedeuteten durch seine Expedition bewiesenen photographischen 
Fähigkeiten als Leiter der Expedition zur Beobachtung der 
Sonnenfinsternis nach Aden in Arabien geschickt. Nach 
Erledigung dieser Aufgabe blieb er in Oberägypten bei der 
preußischen Expedition, die unter dem Ägyptologen Dümichen 
die altägyptischen Denkmäler aufnahm. Bald darauf erschien 
sein erstes Werk über Südafrika (Drei Jahre in Südafrika, 
Breslau 1868). 1869 nach Berlin zurückgekehrt, habilitierte 
er sich an der dortigen Universität und begann mit Hitzig 
seine überaus wertvollen Arbeiten über Lokalisationen der 
Großhirnrinde, die er in dem 1870 erschienenen Werke 


386 v. Reitzenstein: Geh. Rat Fritsch zur Reform der Ehe 


„Die elektrische Erregbarkeit der Großhirnrinde“ niederlegte. 
1873 erfolgte die Publikation einer weiteren hochwichtigen 
Arbeit über das stereoskopische Sehen im Mikroskop 
und das Jahr 1874 brachte ihm die Ernennung zum außer- 
ordentlichen Professor. Im gleichen Jahre wurde er zur Be- 
obachtung des Venusdurchganges nach Ispahan in 
Persien geschickt. Auf der Rückreise verweilte er in Klein- 
asien zu zoologischen Zwecken, Seine Erfolge in der 
mikroskopischen Technik brachten dann seine Ernennung zum 
Vorstand der histologischen Abteilung des physiologischen 
Instituts. Die nächsten Jahre widmete er dem Studium des 
Fischgehirnes und legte die Resultate in dem 1878 er- 
schienenen Werk „Untersuchungen über den femininen Bau 
des Fischgehirns nieder. Dies veranlaßte die Akademie der 
Wissenschaften, ihn 1881—82 zum Studium der elektrischen 
Fische nach Ägypten und dem östlichen Mittelmeer zu 
schicken, eine Forschungsreise, die ein zweibändiges, 1886— 1890 
erschienenes Werk krönte. 1893 wurde Fritsch zum Geheimen 
Medizinalrat ernannt, ging 1894 und 1899 wieder nach 
Ägypten zu Studienzwecken und wurde im gleichen Jahr 
ordentlicher Honorarprofessor der Berliner Universität. In den 
Jahren 1904 und 1905 sehen wir den nun bereits 67 jährigen 
Gelehrten im Auftrage der Regierung eine Weltreise unter- 
nehmen, deren Zweck Untersuchungen über das mensch- 
liche Auge waren; wobei er besonderes Augenmerk auf die 
Eingeborenen Australiens, der Sundainseln und der Insel 
Ceylon richtete. Wieder schloß eine 1906 erschienene Publi- 
kation „Vergleichende Untersuchungen menschlicher Augen“ 
die Resultate zusammen. Die nun folgenden Jahre füllten 
einen Teil der eingangs erwähnten Arbeiten aus, durch die 
Fritsch unserem Arbeitsgebiete näher getreten ist und das 
ganz zu betreten ihn der Kongreß veranlaßte, der den Viel- 
seitigen, wie so viele Dinge in früheren Jahrzehnten, sofort 
zum selbständigen Mitarbeiten anregte. 


Ferd. Frhr. v. Reitzenstein. 


k + 
$ 


Hören wir, was der nun 83jährige Gelehrte, der so 
viel von der Welt gesehen, so viele Völker beobachtet hat, zu 
dieser so wichtigen Frage äußert. 


v. Reitzenstein: Geh. Rat Fritsch zur Reform der Ehe 387 


Vorschläge zu einer Erweiterung der Ehegesetze. 
Von Geh. Med.-Rat Prof. Dr. GUSTAV FRITSCH, Berlin. 
Zur Reform der Ehe. 

Zahlreiche literarische Veröffentlichungen in den letzten 
Jahren haben eine Reform der Ehe wünschenswert erscheinen 
lassen, ohne daß die Lösung des Problems wesentlich dadurch 
gefördert worden wäre. Auch der augenblicklich tagende 
Kongreß für Sexualreform wird sich in mehreren Vorträgen 
mit der Ehe und Ehegesetzen beschäftigen, aber auch diese 
fassen eine Ehereform nicht direkt ins Auge. 

Es erscheint . ersichtlich, daß diese Reform nicht ohne 
gewisse Abänderungen der Gesetzgebung durchführbar ist. 

Der Gedanke einer solchen soll im Nachstehenden dar- 
gelegt werden. Wenn man auch nicht auf Annahme der Vor- 
schläge in absehbarer Zeit rechnen kann, so schien es doch 
wünschenswert, den dabei leitenden Gedanken der Öffentlich- 
keit zu objektiver Erwägung zu unterbreiten. 

$ 1. Ist die Ehefrau durch irgend welche Umstände 
verhindert, ihren ehelichen Pflichten und den Anforde- 
rungen des Haushaltes zu genügen, so ist zur Beseitigung 
der dadurch entstehenden Übelstände die Einführung einer 
Nebenfrau zulässig. 

$ 2. Die Erklärung dieser Zulässigkeit erfolgt auf den 
sachlich zu begründenden Antrag des Ehemannes durch das 
Standesamt, 

§ 3. Die Zustimmung zu diesem Vorgehen von Seiten 
der Ehefrau wird, da es in ihrem eigenen Interesse geschieht, 
im allgemeinen vorausgesetzt. Verweigert die Ehefrau 
ihre Zustimmung, so kann dieselbe zwangsweise durch das 
Standesamt gegeben werden, wenn es die für das Vorgehen 
beigebrachten Gründe als genügend erachtet. 

8 4. Die Nebenfrau ist als ein Mitglied der Familie 
zu erachten und zu behandeln, sie ist aber der großen Frau 
untergeordnet und hat deren Befehlen zu gehorchen. 

8 5. Der Ehemann hat der Nebenfrau die einer Frau 
zukommenden Subsistenzmittel zu gewähren. 

8 6. Werden von der Nebenfrau dem Manne Kinder 
geboren, so sind dieselben berechtigt, den Namen ihres 


388 v. Reitzenstein: Geh. Rat Fritsch zur Reform der Ehe 


Vaters zu führen und werden wie die Kinder der großen 
Frau erzogen. 

8 7. Die Erbansprüche, welche die Kinder der Neben- 
frau haben sollen, sind in dem beim Eingehen des Verhält- 
nisses aufzusetzenden notariellen Vertrag festzusetzen. 

8 8. In diesem Vertrage ist auch eine Abfindung für 
die Nebenfrau zu bestimmen, falls sich eine Scheidung wegen 
dauernder Unverträglichkeit oder aus anderen Gründen not- 
wendig erweisen sollte und keine nachweisbare Schuld der 
Nebenfrau vorliegt. 

8 9. Im Falle einer Scheidung findet über den Verbleib 
der Kinder eine Verständigung statt wie bei jeder anderen 
Scheidung nach Bedarf unter Anrufung der richterlichen Ent- 
scheidung. 

§ 10. Die Frau der anderen Partei wird im häuslichen 
Verkehr als „Tante“, ihre Kinder als „Stiefkinder“ bezw. 
„Stiefgeschwister“ geführt. 


Ersichtliche ethische Vorteile der Neuerung: 

1. Entlastung der Frau vom Übermaße der ehelichen 
und häuslichen Pflichten, wodurch ihre körperliche und geistige 
Frische erhöht und vorzeitiges Altern vermieden wird. Da 
die Gründe, welche die Zulässigkeit einer Nebenfrau ergeben, 
gleichzeitig Gründe einer gesetzlichen Ehescheidung sind, so 
wird die Mehrzahl der Frauen sicherlich lieber dem Eintreten 
einer Nebenfrau zustimmen, als durch ihren Widerspruch den 
Ehemann zur Scheidung drängen. 

2. Der zeugungsfähige Mann, welcher dadurch seine ge- 
schlechtlichen Bedürfnisse zu Hause befriedigen kann, wird 
nicht Zeit, Geld und Zeugungskräfte vergeuden und als 
Schürzenjäger sich unnütz machen, in den Hurenhäusern sich 
vielleicht ansteckende Krankheiten holen. Die vielgeschmähte 
„öffentliche Moral“ hätte den Gewinn davon. 

3. Tausende von jungen Mädchen, welche die Not un- 
vermeidlich in die Arme der Prostitution treibt, würden 
mit Freuden als Nebenfrau den Anschluß an eine Familie und 
die gesicherte Existenz annehmen und der Prostitution den 
Rücken kehren, und brauchen nicht zu fürchten, als alte 
Jungfern ein freudloses Dasein zu führen. 

4. Die Verminderung der freien Liebe wird auch natur- 


v. Reitzenstein: Geh. Rat Fritsch zur Reform der Ehe 389 


gemäß eine Verminderung der unehelichen Kinder be- 
wirken; anderseits steht durch die Erweiterung der Kon- 
zeptionsmöglichkeit durch die Nebenfrau eine erhebliche Volks- 

vermehrung zu erwarten. y 
Da die Zulässigkeit einer Nebenfrau nur zutage tretende 
Übelstände beseitigen soll, so wird dadurch die allgemein 
gültige, das Fundament unseres Staatslebens, die monogame 
Ehe in keiner Weise beeinträchtigt. 
* * 

+ 

Vergleicht man die Vorschläge über Reform der Ehe, so 
muß man sagen, daß dieser Vorschlag einer der beachtens- 
wertesten ist, die gemacht wurden. Gewiß wird er viel 
Widerspruch erfahren; zunächst von denen, die nicht 
sehen, welche Gefahren in der heutigen Ehe liegen und nicht 
wissen mit welchen z. T. gemeinen Mitteln die heutige Ehe- 
ordnung Abhilfe schaff. Dann von denen, die nicht sehen 
wollen, die der Moralheuchelei zuliebe es vorziehen, nach 
innen die größte Unmoral zu dulden, wenn nur nach außen 
die heute übliche Form gewahrt bleibt; dann aber sicherlich 
auch bei jener Gruppe von Frauenrechtlerinnen, die immer 
mit einem oft komischen Eigensinn das in seinem Wesen 
ebenso richtige, als in seiner Verwendung ebenso unsinnige 
Schlagwort von der „doppelten Moral“ benutzen. Die 
doppelte Moral ist dem Weibe nicht vom Manne auf- 
gezwungen, sondern von der „Ehe“. Sie ist auch im Tier- 
reiche überall vorhanden, wo „eheähnliche“ Zustände bestehen. 
Wenn der Mann — aus irgendwelchen Gründen — seiner natür- 
lichen aktiven Veranlagung außerhalb der Ehe folgt, so schädigt 
er die Ehe erst, wenn er sie finanziell bedroht oder wenn 
er die Gattin in den Pflichten zu ihr, wenn er Gattin und 
Kinder in Ehre und Stellung zurücksetzt. Wenn die Gattin 
dagegen dem aktiven Triebe anderer Männer nachgibt, schädigt 
sie die Ehe immer, weil sie jedesmal mit der Möglichkeit 
rechnen muß, ihre Fundamente, den Familienbegriff, die 
stammesechten Kinder und das finanzielle Gleichgewicht zu 
stören. Das Kind des Fremden kann unmöglich dem Manne 
überantwortet werden. Mit Eingehen der Ehe verzichtet das 
Weib auf das Recht, Kinder von andern zu empfangen, weil 
sie sich in die Fürsorgepflicht des Gatten begibt und 
den Schutz der Familie für ihre Kinder erkauft, während der 


390 v. Reitzenstein: Geh. Rat Fritsch zur Reform der Ehe 


Gatte beim Eingehen der Ehe, wohl nie die Fürsorgepflicht 
für die Kinder anderer in der Ehe übernimmt. Will das Weib 
das „freie Weib“ bleiben, darf sie die Ehe, das Institut des 
allerdings „unfreien“ Weibes nicht eingehen. Die sogenannte 
„freie Ehe“ ist keine Lösung, sie ist, da sie bei einer 
Trennung dem Manne „Alimentation“ auferlegt, nichts anderes 
als eine mildere Prostitution. Will man aber die Ehe nicht, 
dann gibt es nur als einzigen Ausweg die freie Liebe und 
zwar jene Form derselben, bei der auch das Weib frei ist. 
Da aber dann die Vaterschaft keine Rechte hat, kann 
sie auch keine Pflichten haben. Entweder muß dann das 
Weib für seine Kinder selbst sorgen, oder der Staat muß es 
tun. Damit haben wir aber eine Lösung der Fundamental- 
grundsätze unseres heutigen Staatswesens und diese Lösung 
könnte nur der Kommunismus bringen. Es ist nun aber die 
Frage, ob man den Kommunismus für geeignet hält, der Träger 
unserer Kultur sein zu können. Die Frage wächst damit über 
die heutige Welt hinaus, denn so wenig ein einzelnes Land 
die Frage des Weltfriedens lösen kann, so wenig kann es die 
Frage der Weltwirtschaft lösen. Derjenige aber, der es ohne 
die andern tut, wird immer deren Sklave werden, denn der 
Trieb zum Herrschen wird im Kampfe ums Dasein immer 
stärker sein, als der Trieb zum Teilen. So bleibt also die 
Frage des Kommunismus vorerst Zukunftsmusik und damit 
auch die Frage des ungebundenen Verkehrs ohne Familien- 
begriff, der allein die doppelte Moral beseitigen könnte. 
Sicherlich kann sie das Einzelweib für sich lösen, wenn es 
keine Ehe eingeht und die Fürsorge für ihre Kinder selbst trägt. 

Sehen wir also von dem Boden extrem frauenrechtlicher 
Utopien ab, bleiben wir auf dem Boden der Einehe be- 
stehen, die nach wie vor die edelste Form der Ehe ist, 
dann verdient ohne jeden Zweifel der Fritsch’sche Vorschlag 
ganz besondere Beachtung, denn in vielen Fällen wird er nicht 
dem Manne allein nützen, sondern ganz besonders auch der 
Frau, wenn ihr, bei sonst glücklicher Ehe, die geschlecht- 
liche Annäherung des Mannes ein Martyrium ist, das 
sie als wahrhaft liebende Gattin heute ertragen muß, nicht aus 
äußerem Zwang, sondern aus innerem Pflichtgefühl, aus dem 
der Liebe, jener Liebe, die sich selbst opfert, die aber zur 
edelsten Freundschaft emporblühen könnte, wenn das, was zur 
Schlacke geworden ist, abgelöst wird. Frhr.v. Reitzenstein. 


Eckstein: Bevölkerungspolitik und Eherechtsreform 391 


BEVÖLKERUNGSPOLITIK UND EHERECHTS- 


REFORM. 
Von Rechtsanwalt Dr. ERNST ECKSTEIN, Berlin. 
wei bis drei Millionen mehr ledige Frauen als Männer in 

Deutschland; auf 1000 heiratsfähige Männer 1155 Frauen 
(vgl. Vorwärts 10. 4. 19.), welche Aufgabe stellt diese Tatsache 
der Gesellschaft? 

Die Aufgabe selbst ist nicht neu. Auch vor dem Kriege 
war der Frauenüberschuß schon ein beträchtlicher, auf 100 hei- 
ratsfähige Männer kamen wohl 105 Frauen. Von den verhei- 
rateten Männern starben durch die Gefahren ihres Berufslebens 
mehr Männer als Frauen, so daß der Frauenüberschuß durch die 
Zahl der heiratsfähigen Witwen noch vergrößert wurde. Dazu 
kamen die zahlreichen Männer, die wegen der Schwere des 
Kampfes ums Dasein nicht heiraten konnten oder wollten, ferner 
die, die zur Ehe nicht veranlagt sind, denen nur wenige geborene 
Jungfern gegenüberstanden. Es war also die Zahl der Frauen, 
die gegen ihren Willen ihrer Bestimmung nicht zugeführt werden 
konnten, schon beträchtlich. Trotzdem war die Gesellschaft und 
die Gesetzgebung an dieser Erscheinung vorbeigegangen, und 
die Forderungen, die von einigen Dichtern und einigen Sozial- 
und Sexualethikern aufgestellt wurden, wurden von der Gesell- 
schaft nicht als wichtig hingenommen. Die Millionen Frauen, 
denen ihre Männer, ihre Bräutigame und späteren Bräutigame 
weggeschossen oder durch den Krieg sonst heiratsunfähig ge- 
macht sind, dazu die bevorstehende Verelendung, die vielleicht 
weitere Millionen Männer von einer Heirat, wenigstens von 
einer frühzeitigen Heirat abhalten wird: das sind Zahlen die 
wohl jedem die Augen Öffnen müssen. 

Ich betrachte es als einen schweren Fehler, daß man sich 
schon bisher diesen Fragen so gleichgiltig gegenüber verhalten 
hat. Betrachten wir es doch einmal ganz menschlich, unab- 
hängig von aller Moral. Das Weib hat die Bestimmung, Kinder 
zu haben und der Geschlechtstrieb ist etwas Natürliches und 
verlangt nach Befriedigung. Mag es sein, daß die Enthaltsam- 
keit ohne gesundheitliche Nachteile ist,*) es ist und bleibt etwas 
Furchtbares für eine Frau, den Trieb zur Nachkommenschaft 


*) Vgl. darüber Reitzenstein „Liebe und Sitte“ 1921 (Verlag „Das 
Wissen dem Volke“), wo gezeigt wird, daß diese Annahme nicht stimmt. 


392 Eckstein: Bevölkerungspolitik und Eherechtsreform 


zu haben und unbefriedigt bleiben zu müssen, weil es an Männern 
fehlt, die heiraten wollen. Gewiß gäbe es genug Naturen, die 
gezügelt genug wären, sich der Anschauung unserer Gesellschaft 
zu fügen und ihr Martyrium auf sich zu nehmen und es ist 
begreiflich, daß man bisher sich damit abgefunden hat, um 
unsere gesellschaftlichen Anschauungen unberührt zu lassen, 
weil es sich doch immer nur um einen geringen Bruchteil ge- 
handelt hat. Auf diesem Wege darf es nicht weiter gehen, weil 
es sich jetzt um Millionen handelt. Die Frau hat ein Recht, 
ihrer Bestimmung zu dienen und die Gesellschaft eine Pflicht 
zu helfen, und wenn es nicht anders ist, dann müssen eben 
unsere bisherigen Anschauungen aufgehoben werden. Wie war 
es denn bisher? Haben wirklich die vielen Unverheirateten und 
früh Verwitweten sich mit ihrem Los abgefunden? Man wird 
keine zahlenmäßige Schätzung abgeben können, aber gering an 
Zahl sind diejenigen nicht gewesen, die ihrem Geschlechtstrieb 
nachgegeben haben. Die Natur ist eben stärker als die Sitte. 
Dieser Einsicht dürfen wir uns nicht verschließen. 

Auch bei den durch Krieg zur Ehelosigkeit verurteilten 
Millionen Frauen wird es nicht anders sein. Der Geschlechts- 
verkehr läßt sich nicht unterdrücken, die gesellschaftliche Miß- 
billigung hat nur zur Folge, daß er sich heimlich abspielt, zur 
Anwendung von empfängnisverhütenden Mitteln, wenn nicht zur 
Abtreibung führt, und daß die unehelich geborenen Kinder, mag 
die Gesetzgebung sich ihrer auch noch so sehr annehmen, doch 
unerwünscht sind, nicht weil sie da sind — in dieser Beziehung 
ist das Muttergefühl viel zu stark — sondern weil sie nicht da 
sein dürfen, und die Folge ist Vernachlässigung und Degeneration 
und eine erschreckende Sterblichkeit. 

Bisher hat man sich in dieser Beziehung so gut wie un- 
tätig verhalten, man hatte ja eher zu viel als zu wenig Menschen. 
Jetzt ist es anders. Mit allen Mitteln muß aber aus bevölkerungs- 
politischen Gründen die Zahl der Geburten erhöht*) und die 
Sterblichkeit der Geborenen vermindert werden, umsomehr als 
mit der bevorstehenden Verelendung in zahllosen Familien die 
Kinderzahl beschränkt werden wird. Von diesem Gesichtspunkt 
aus tritt die Bedeutung der Tatsache erst so recht augenfällig 
in die Erscheinung, daß wir in Millionen Frauen fruchtbares 
Ackerland haben und das Land nicht bestellen, weil unsere ge- 
=) Wir teilen diesen Standpunkt nicht. Die Schriftl. 





in 


Tafel II 


ER 


p 


+ 
~ 





Negerknabe (gorilloid) mit jungem Schimpansen (am rechten Arm) 
und jungem Orangutan (am linken Arm). 


Tafel II 





Fig. 1. Zwergneger aus Mwera (Ostafrika). Fig. 2. Skelette 
Zwergmenschen vom Dachsenbühl (Körperhöhe 1,37 m). 





der 


Eckstein: Bevölkerungspolitik und Eherechtsreform 393 


sellschaftliche Moral uns hindert. Für den Bevölkerungspoli- 
tiker — und das zu sein gebietet die Pflicht jetzt jedermann — 
bedeutet das eine furchtbare Anklage genau so wie für den 
Wirtschaftspolitiker die Tatsache, daß etwa tausende von 
Ziegeleien oder Fabriken stillstehen oder Millionen von Hektar 
Getreideboden unbeackert bleiben. 

Die gesellschaftliche und die rechtliche Mißbilligung der 
unehelichen Mütter muß fallen! Die Forderung mag für 
manchen ungeheuerlich klingen, sie ist es entfernt nicht so, wie 
es einem im ersten Augenblick scheinen mag. Bisher wurde 
nicht nur die uneheliche Geburt mißbilligt, sondern auch der 
uneheliche Geschlechtsverkehr. Und mit welchem Erfolge! Das 
Leben ging seinen eigenen Gang und wir lebten in einem un- 
würdigen Zustand von Heuchelei. In den Kreisen der Männer 
galt allgemein die „Herrenmoral“ und in den Kreisen der Frauen 
— wenigstens in großem Umfange — wurde der Geschlechts- 
verkehr für nicht weniger als selbstverständlich gehalten. Ich 
will diesen Zustand durchaus nicht gut heißen, stehe aber auf 
dem Standpunkt, daß die Frage der sexuellen Moral nicht eine 
Frage der Gesellschaft ist, sondern des Individuums. Jeder hat 
es mit sich auszumachen, ob er Geschlechtsverkehr pflegen will 
oder nicht, verwerflich ist nur das Handeln gegen seine eigenen 
Grundsätze. Ob insbesondere sich der Ehemann, der außer- 
ehelich verkehrt, des Treubruchs schuldig macht (hier im ethischen 
Sinne genommen), das ist eine Sache, die nur Ehegatten an- 
geht; für den einen Ehegatten ist es gemein, für den anderen 
nicht, durchaus gemein ist nur die Hintergehung des Gatten. 
Ich trete durchaus für unsere bisherige Ehemoral ein, daß die 
Ehegatten einen Anspruch auf eheliche Treue haben, wo sie 
aber auf diesen Anspruch verzichten und wo sonstige Umstände 
die Pflicht zur Treue aufheben oder hemmen, da soll nicht der 
Gesetzgeber mit einer Scheinmoral kommen, die dem Leben 
nicht mehr entspricht. Darum habe ich auch in einer Arbeit 
über Eherechtsreform, den Vorschlag gemacht, die Ehescheidung 
nicht schlechthin wegen Ehebruchs vorzusehen sondern nur 
einen Scheidungsgrund gesetzlich zu normieren: die schuldhafte 
Zerrüttung der Ehe insbesondere durch Ehebruch, böslichen 
Verlasses, ehewidrigen Verhalten und die nicht schuldhafte Zer- 
rüttung durch Geisteskrankheit. Damit soll dem Richter Spiel- 
raum gegeben werden, die besonderen Verhältnisse jeder Ehe 

26 


394 Eckstein: Bevölkerungspolitik und Eherechtsreform 


zu prüfen und zu berücksichtigen. Nicht der Geschlechtsverkehr 
ist Gegenstand der sittlichen Beurteilung, sondern die Hinter- 
gehung eines Dritten, der Frau, der Braut oder der zukünftigen 
Braut oder das Handeln gegen eigne Grundsätze auf dem Ge- 
biet der sexuellen Moral. 

Den zahllosen Frauen, die ihrer Bestimmung zugeführt 
werden sollen und dem Lande so den Geburtenausfall wieder 
aufbringen wollen, muß geholfen werden. Das kann geschehen, 
durch eine Legalisierung des Geschlechtsverkehrs und das 
bedeutet nichts weiteres als offene Anerkennung dessen, was 
auch bisher schon unoffen anerkannt war. Es soll im wahrsten 
Sinne wieder das Recht der Frau werden, Kinder zu haben. 

Ich bin durchaus nicht dafür zu haben, etwa der all- 
gemeinen Zügellosigkeit das Wort zu reden. Die Ehefrau, die 
während der Abwesenheit ihres Mannes sich einen Liebhaber 
hält oder das junge Mädchen, das sich vom ersten besten Mann 
verführen läßt, steht keinesfalls auf der Höhe der Kultur. Darum 
ist ein Ausbau der Gesetzgebung über den Schutz und die 
Fürsorge der unehelichen Mütter und Kinder hinaus nicht der Weg, 
der in dieser Beziehung weiter führt. Mag es manche Naturen 
geben, die polygam veranlagt sind und die auch in dieser Be- 
ziehung vielleicht anders und mit einem anderen als dem sitt- 
lichen Maßstab zu messen sind, den monogamen Gedanken 
möchte ich nicht preisgeben. Und wenn nach einem Bericht 
in der Deutschen Strafrechtszeitung in einem russischen Gou- 
vernement es eingeführt ist, daß jedes geschlechtsreife Mädchen 
— man verzeihe den Ausdruck, aber er allein trifft hier das 
richtige — unter staatlicher Unterstützung gedeckt werden soll 
und daß jeder Rotgardist das Recht des Geschlechtsverkehrs 
unbeschränkt und unentgeltlich, jeder Arbeiter es in verhältnis- 
mäßig weiten Grenzen zu geringem Entgelt, jeder Bourgeois 
aber nur alle zwei Wochen einmal und gegen Bezahlung von 
100 Rubeln haben soll, so bedeutet das nur eine völlige Korrup- 
tion unserer Gesellschaftsmoral; und auch die von manchen 
Rassenbiologen vertretenen „Gestütsgedanken“ sind nicht gerade 
mein Ideal. Der monogame Gedanke ist in unserer Kultur- 
anschauung fest eingewurzelt und seine grundsätzliche Preisgabe 
kann zu recht unerwünschten Folgen führen. Es ist auch nicht 
nötig, daß jedes Mädchen im geschlechtsreifen Alter mit dem 
Kindergebären beginnen soll, wohl aber soll ein Mädchen 


Eckstein: Bevölkerungspolitik und Eherechtsreform 395 


oder eine Witwe, die auf keine neue Verheiratung mehr 
rechnet, also keinem zukünftigen Manne die Treue bricht, 
das Recht haben, Frau zu werden, wenn es nicht Ehefrau 
werden kann. 

Es macht sich hier und da wieder der Gedanke geltend, 
ähnlich wie es vorübergehend nach dem dreißigjährigen Kriege 
geschehen ist, die Doppelehe einzuführen. Ich halte den Ge- 
danken nicht für gut. Abgesehen davon, daß nur wenige Männer 
in der Lage sind, zwei Frauen mit ihren Kindern auszuhalten 
und zwei Haushalte führen zu lassen — denn ein gemeinsamer 
Haushalt wird wohl von keinem als allgemein möglich angesehen 
werden — so bedeutet es doch für die Ehefrau im allgemeinen 
eine Zumutung sondergleichen, ihren Ehemann grundsätzlich mit 
einer anderen Frau teilen zu müssen. Eifersucht und Intrigue 
werden unvermeidlich sein und das Verlangen der Ehefrau nach 
Freiheit auch ihrerseits und eine allgemeine Zerrüttung unserer 
ehelichen Moral, Vernachlässigung der Erziehung der Kinder, 
schlechter Einfluß auf sie usw. sind die weitere Folge. 

Gerade der entgegengesetzte Weg scheint mir der gang- 
barste zu sein. Statt der Ehe mit mehreren Personen die Ehe 
ohne Mann. Man sollte jeder Frau entweder von einem gewissen. 
Alter an oder auf Grund einer von ihr abgegebenen Öffentlichen 
Erklärung die Stellung einer Ehefrau geben. Ihre Kinder sind 
ehelich, sie ist Träger der elterlichen Gewalt, die für solche 
Verhältnisse jedenfalls unwürdige Nachforschung nach dem 
Erzeuger ist verboten. Im übrigen denke ich mir die Stellung 
dieser Frau genau so wie heute etwa die der Witwe, die auch 
mit ihren Kindern die Familie allein fortsetzt. Es ließe sich 
erwägen, ob man auch die Legitimation früherer unehelicher 
Kinder zulassen will, was durchaus dem Gebot der Fürsorge 
für sie entspräche. Die Umgestaltung der gesellschaftlichen 
Moral kommt von selbst, wenn erst einmal dieser gesetzlich 
gebilligte und gewünschte Weg von einer Reihe von Frauen 
auch der besseren Stände beschritten sein wird. 

Man wird einwenden: wer soll für diese Kinder sorgen, 
wenn kein Vater vorhanden ist? So gestellt ist die Frage 
ungerechtfertigt. Wer sorgt für die Kinder der Witwe, wenn 
der Vater kein Vermögen hinterlassen hat? Grundsatz ist, daß 
die Frau nicht nur die elterlichen Rechte sondern auch die 


elterlichen Pflichten hat. Es ist ihre Sache, für die Kinder zu 
26* 


396 Eckstein: Bevölkerungspolitik und Eherechtsreform 


sorgen; daß das nicht immer und ganz möglich ist, liegt auf 
der Hand: hier muß der Staat eingreifen und muß Kinder- 
unterstützungen gewähren. Das alles ist nicht im geringsten 
etwas neues und ungewöhnliches. Hat der Staat ein Interesse 
an möglichst viel Geburten, dann muß er auch, wenn er die 
Geburten unterstützt, in höherem Maße als bisher für die Kinder 
einstehen, und er muß es in würdiger Weise und nicht in der 
Form von Armenunterstützung. Es ist genau so wie bei den 
bisherigen und zukünftigen unehelichen Kindern. Läßt sich der 
Vater nicht ermitteln, oder zahlt er keine Alimente, dann liegt 
die Last auch dem Staate ob, und für die Zukunft wird es in den 
gewöhnlichen Fällen auch nicht wesentlich anders sein. Will der 
Staat Bevölkerungspolitik treiben, und muß er damit rechnen, 
daß es dem vermögenslosen Arbeiter nicht möglich ist, eine 
größere Familie zu ernähren, dann muß eben der Staat helfend 
eingreifen. Man komme nicht mit dem Einwand, daß die Lasten 
zu groß wären. Wenn sie es wären und der Staat nicht helfen 
kann, dann kann er eben auch nicht Bevölkerungspolitik treiben 
und dann ist der zahlenmäßige Rückgang der Bevölkerung un- 
ausbleiblich. Im übrigen ist schon jetzt von Sozialpolitikern 
mancher beachtenswerte Vorschlag gemacht und teilweise ver- 
wirklicht; Mutterschaftsversicherung usw. 

Der unendliche Vorteil meiner Vorschläge aber ist: den 
vielen unverheirateten Frauen ist nicht nur in ihren menschlichen 
Rechten geholfen, der Staat hat kein fruchtbares Land brachzu- 
liegen und vor allem: Das Heer der degenerierten unehelichen 
Kinder von heute wird im wesentlichen ersetzt werden durch 
uneheliche Kinder, die ohne gesellschaftliche und gesetzliche 
Verwerfung aufwachsen; die Mütter haben selbst ein Interesse 
nicht an ihrem Eingehen sondern an ihrem Gedeihen. 





Kammerer: Die Geschlechter 397 


DIE GESCHLECHTER. 
Von Univ.-Prof. Dr. PAUL KAMMERER, Wien. 


„Mann ohne Weib, Haupt ohne Leib, 
Weib ohne Mann, Leib ohne Haupt daran.“ 
(Deutsches Sprichwort.) 


ie viele Geschlechter gibt es? Da wird jeder antworten: 

Natürlich zwei, Männlein und Weiblein! Aber der Dichter 
— in seinem Ahnungsdämmern dem klaren Licht des Denkers 
allemal voraus — wußte schon, daß jene Zweiheit die tatsäch- 
liche Mannigfaltigkeit nicht erschöpft: Wolzogens Roman „Das 
dritte Geschlecht“ meint die Mannweiber, die Frauen mit männ- 
lichen Berufen, männlichem Auftreten, männlichen Neigungen. 
Und wer hätte nicht auch Weibmänner gesehen? Weininger, 
der feine Psycholog, fand bald heraus, daß eigentlich jedes 
Individuum eine Mischung ist aus Mann- und Weibcharakter, 
nur in verschiedenem Mischungsverhältnis: die männlichsten 
Männer, das sind nur solche mit verschwindend wenig Weib- 
stoff; die weiblichsten Weiber — solche mit einem Minimum 
Mannesstoff. So gibt es genau genommen wiederum nur ein 
Geschlecht: den Zwitter; aber in diesem Rahmen eine unend- 
liche Vielheit von Stufen. Am häufigsten sind ja zwei Typen: 
vorwiegend weibliche Weiber, vorwiegend männliche Männer; 
von da aus werden sie seltener nach entgegengesetzten Rich- 
tungen, erstens bis zur (verhältnismäßig) ungemischten Männ- 
lichkeit und Weiblichkeit, zweitens zum echten, mittenstehenden 
Zwitter, zum richtigen geschlechtigen Halbblut, das aus Mann 
und Weib zu gleichen Teilen gemengt ist und sich durch ein 
Neben-, ja Ineinander männlicher und weiblicher Organe (ein- 
schließlich sogar der Keimstöcke) auszeichnet. 

Was der Dichter vorausahnte, der Denker ersann: das 
bewies nachmals der Forscher. Worauf beruht es, wenn wir 
ein Wesen im Aussehen und Gehaben als „Mann“, als „Weib“ 
empfinden, das Wesen selbst sich so empfindet und danach 
handelt? Wird ihm vor der Reife durch Operation sein Keim- 
stock genommen, so bleibt das Geschöpf gewissermaßen Kind, 
nur in eigentümlich verzerrten Dimensionen, weil es ja weiter- 
wächst und altert; es bleibt aber so bis zu dem Grade, daß 
Entmannte und Entweibte in ihrer Sächlichkeit einander gleichen. 
Wird solch geschlechtsios gemachtem Wesen ein Keimstock 
zurückgegeben, durch dasselbe Verfahren der Pfropfung, das 





398 Kammerer: Die Geschlechter 


unsere Blumen und Obstbäume veredelt: so nimmt es alle 
leibliche und geistige Eigenart des Geschlechtes an, die es 
verloren oder nie erreicht hatte. Die Einpflanzung eines männ- 
lichen Keimstockes (Hodens) macht es zum Mann; die eines 
weiblichen Keimstockes (Eierstockes) zum Weib. Nicht einmal 
davon wird diese Entwicklung berührt, ob der bei seiner ersten 
Operation ungeschlechtlich gemachte Organismus gelegentlich 
seiner zweiten Operation zurückempfängt, was ihm gebührt; 
der weibliche Organismus den Eierstock, der männliche den 
Hoden. Gesetzt, sie würden vertauscht: der „Entmannte“ wird 
dann eben verweiblicht, die „Entweibte“ vermännlicht. Und 
gesetzt den Fall, wir fügten demselben Organismus beides ein: 
so wird er ein „echter“ Hermaphrodit, — Mann und Weib im 
gleichen Körper, in der gleichen Seele vereinigt. 

Unsere Frage von vorhin erscheint also folgendermaßen 
beantwortet: vom Keimstock hängt es ab, welches Geschlecht 
der Körper entfaltet. Aber so einfach liegen die Dinge noch 
nicht. Mindestens schließt die Frage an: wie bewirkt der 
Keimstock, daß der übrige Körper sich nach ihm richtet? Es 
gibt ja zwei Wege, auf denen die Teile einander beeinflussen: 
Blutkreislauf und Nerventelegraph; der Keimstock nun bedient 
sich des ersteren. Das ist durch die Verpfropfungen bewiesen; 
man befestigt den herausgenommenen Keimstock nicht am zu- 
ständigen Ort; bequemer heilt er unter der Haut ein, oder an 
Muskeln, und dort fehlt es an den richtigen Nerven. Ja man 
braucht gar nichts einzuheilen, wenn vorübergehende Wirkung 
genügt oder Dauerwirkung durch häufige Wiederholung des 
Verfahrens erzielt werden soll: Verfütterung oder Einspritzung 
von Keimstocksubstanzen erzeugt ebenfalls das Geschlechts- 
gepräge, das ihrer Herkunft (aus einem Männchen, aus einem 
Weibchen) entspricht; damit ist jede Nervenwirkung ausge- 
schaltet. 

In noch einer Beziehung muß unsere Antwort vertieft 
werden. Jeder Keimstock besteht aus zweierlei Geweben: den 
Keimzellen (Eiern, Samenzellen), die sich im reifen Zustande 
ablösen und nach außen entleert werden, und einem Zwischen- 
gewebe. Welches ist verantwortlich, wenn die Blutbeschaffen- 
heit sich derart ändert, daß das Kind (oder der Kastrat) mit 
männlichem Keimstock zum Manne, mit weiblichem zum Weibe 
wird? Solcher Macht schien das Zwischengewebe verdächtig, 


Kammerer: Die Geschlechter 399 


seit man erfuhr, daß Röntgenstrahlen die Keimelemente zer- 
stören, noch ehe sie das Zwischengewebe angreifen: Tiere 
mit bestrahlten Keimstöcken behalten aber zunächst ihren Ge- 
schlechtscharakter. Genauesten Aufschluß gibt wiederum die 
Pfropfmethode: im verpflanzten Keimstock geht das eigent- 
liche Keimgewebe endgiltig zugrunde, das Zwischengewebe 
überlebt. Eben dieses ist allein befähigt, dem Kastraten vollen, 
ja im Grade seiner wuchernden Zunahme übermäßigen Ge- 
schlechtscharakter zurückzugeben und dauernd zu bewahren. 
So schien das „Mysterium“ des Geschlechtes weitgehend 
enträtselt, indessen manche Wahrnehmungen verschleierten es 
wieder. Es gibt wohlgebildete Männer, die wie eine Frau 
empfinden, namentlich sich zu Männern, scheinbar also zu 
ihresgleichen hingezogen fühlen; ferner gibt es nach Anblick 
und Anatomie zweifelsfreie Frauen, aber von männlichem Hang, 
das berühmte „dritte Geschlecht“. Neben solchen Typen, wo 
das Gegengeschlechtige nur im Triebleben nach Ausdruck 
ringt, gibt es andere, wo es auch körperlich zum Vorschein 
kommt: Männer mit Frauenbrust, Frauen mit Männerbart, ja 
wohlgestaltete Weiber mit männlichen Keimorganen; so viele 
und so abenteuerliche Zusammenstellungen man sich ausdenken 
mag, die Natur hat sie schon etliche Male verwirklicht. 
Halten wir jetzt zwei Versuchserfahrungen zusammen: 
erstens der verpflanzte Keimstock wird zur Reinkultur von 
Zwischenzellen; zweitens je eine solche Reinkultur männlichen 
und weiblichen Ursprunges, im selben Körper kombiniert, 
wandelt ihn zum Zwitter. Könnte nicht, was das Experiment 
hervorrief, ab und zu im natürlichen Geschehen eintreffen? So 
recht verstehen wir ja die Natur immer erst, wenn der Forscher 
ihr nicht bloß nachspürt, sondern zum Künstler oder doch 
Techniker wird und ihr planbewußt nachschafft. Absichtlich 
betonte ich die Vergleichbarkeit von Kind und Kastrat: ob ein 
indifferentes Geschöpf geschlechtlich heranreift, weil sein zu- 
gehöriges Keimorgan mit ihm wächst und im gleichen Schritt 
zunehmend spezifische Stoffe ins Blut entsendet; oder ob ge- 
schlechtliche . Vollwertigkeit eintrit, weil Forscherhand das 
Organ eingliedert, das in Verlust geriet (in anderen Fällen 
auch wohl angeboren fehlte), grundsätzlich bedeutet dies offen- 
bar ein und dasselbe. Könnte es daher nicht einmal geschehen, 
daß das eingeborene Keimorgan sich von vornherein zwitterig 


400 Kammerer: Die Geschlechter 


entwickelt? Längst bekanntes Vorkommen von Naturzwittern 
gibt bejahende Auskunft; und nur ein Teil ist neu daran: bis- 
weilen versteckt sich die organische Grundlage des Zwittertums 
ausschließlich in dem so wenig beachteten Zwischengewebe, 
Führt es etwa neben männlichen eine Anzahl weiblicher 
Zwischenzellen, so reichen diese nicht immer hin, um der von 
jenen beherrschten Mannesgestalt weibliche Formen beizu- 
mengen; sie erotisieren aber dennoch in weiblicher Richtung 
das Bildsamste, was der Mensch besitzt, seine Psyche. 

So beschaffen ist in der Tat die Zusammensetzung, der 
gewebliche Aufbau einer Menschengattung — der Homosexuellen 
— die bisher den Verbrechern, bestenfalls den Kranken zuge- 
rechnet wurden. Um die Probe aufs Exempel zu machen, war 
es nötig, aus aufgezählten Errungenschaften die Methode ab- 
zuleiten, Homosexuelle zu „heilen“: gelänge es, ihr Blut mit 
denjenigen Zwischensubstanzen zu überschwemmen, die ihrem 
vorwaltenden Körpergepräge entsprechen, so müßte hiervon 
auch ihre Seele genesen. Mehr als eine derartige Kur ist 
schon vollkommen geglückt, nachdem zuvor gelungen war, 
an ihren männlichen Teilen verstümmelte Soldaten durch Ein- 
pflanzung männlichen Zwischengewebes dauernd wieder her- 
zustellen. Zu den Einpflanzungen dienen die keineswegs seltenen 
„Leistenhoden“: im Leistenkanal steckengebliebene, durch und 
durch nur aus Zwischengewebe bestehende, also keimzellenfreie 
Mannesorgane, die dem Patienten operativ entfernt werden 
müssen und dann als Material zustatten kommen, sei es kast- 
rierten, sei es homosexuellen Männern ihr normales Empfinden, 
wenn schon nicht mehr Zeugungsfähigkeit zu verleihen. 

Der sehr aufmerksame Leser wird noch eine Frage bereit 
halten: verständlich ist, daß experimentelle Willkür das Keim- 
zwischengewebe zwitterig einzusetzen vermag; welcher Mutwille 
aber mischt es im unberührten Geschehen? Jetzt ist zu be- 
herzigen, was in den ersten Zeilen steht: nicht säuberliche 
Scheidung, sondern eben Mischung ist die Regel; es gibt nichts 
anderes als Zwitter. Nur bei getrenntgeschlechtlichen Lebe- 
wesen gewöhnlicherweise in so unmerklichem Grade, daß 
bestenfalls ein Mikroskop darüber Aufschluß gewährt. Sind 
nämlich die gegengeschlechtigen Zwischenzellen (also etwa die 
weiblichen im Manne) ganz in der Minderzahl, so richten sie 
nichts aus gegen die Übermacht der zuständigen Zellen; sind 


Kammerer: Die Geschlechter 401 


es der „falschen“ etwas mehr, so stimmen sie wenigstens die 
Seele um; sind ihrer noch mehr, so geraten schon einige 
Körperteile gegengeschlechtig; behaupten sie endlich die halbe 
Zahl, so machen sie aus dem ganzen Körper (einschließlich 
der Seele) ein Mann-Weib-Mosaik, äußerstenfälls mit Einschluß 
der Keimzellen. 

Das ist es ja gerade, was der Leser fragen wollte: wer 
bestimmt das individuell so wechselnde Mengungsverhältnis 
der Zwischenzellen im Gewebe des Keimstockes? Dafür, ob 
Mann oder Weib oder Weibmann ersteht, ist eben dieses 
Mengenverhältnis verantwortlich; welche Macht aber verant- 
wortet ihrerseits das Mengenverhältnis der Geschlechtszwischen- 
zellen selber? Daß Mann- und Weibstoff in jedem Individuum 
sich gatten, erscheint so natürlich, wenn wir uns erinnern, wie 
jedes Individuum erzeugt ward: indem doch je ein männliches 
und weibliches Keimelement verschmolzen! So kam Mann- 
und Weibstoff im befruchteten Ei zusammen; so bleiben sie 
beisammen, wenn ihm der Nachkomme entkeimt! Aber anders 
lautet jetzt die Frage: wovon hängt es ab, welcher Partner 
künftig den Vorrang gewinnt, ob Mann- den Weibstoff über- 
trifft, ob Weibes- den Mannesstoff unterdrückt? Wer wird 
Sieger in diesem Kampf der Geschlechter, dem Daseinskampf 
der beidgeschlechtlichen Elemente schon im Mikrokosmos des 
einzelnen Keimlings? 

In neuer wissenschaftlicher Formulierung steigt das uralte 
Problem „Knabe oder Mädchen?“ vor uns empor; das Problem 
der Geschlechtsbestimmung. Nachdem Hunderte von Schein- 
lösungen fehlgeschlagen waren, hatte man sich gewöhnt, es als 
ein unlösbares zu betrachten. Verführt durch irrig gedeutete 
mikroskopische Beobachtungen am Zellkern, gewiß auch in 
der Stimmung jenes Verzichtens, hatte man dann angenommen, 
das Geschlecht könne überhaupt nicht „bestimmt“ werden; 
vielmehr sei es von der Keimzelle begonnen schon unwider- 
ruflich bestimmt. Daß diese präformistische Ansicht falsch ist, 
zeigen die beschriebenen Ergebnisse über Verweiblichung von 
Männchen, Vermännlichung von Weibchen. Zwar ist richtig: 
die Struktur des Zellkernes und sein Größenverhältnis zum 
Zellenleib enthüllen dem scharf bewaffneten Auge, daß schon 
die Keimzelle, schon das Ei nicht mehr in des Wortes strengster 
Bedeutung geschlechtslos ist. Da aber die Keimesanlage des 


402 Kammerer: Die Geschlechter 


Geschlechts noch im späteren Entwicklungsleben umschaltbar 
ist, so konnte sie keine eindeutige, reine, sondern nur eine 
zwiefache sein, in der bald das männliche, bald das weibliche 
Element zur Vorherrschaft (niemals zur Alleinherrschaft) gelangt. 

Und freilich bleibt angesichts der zwitterigen Geschlechts- 
anlage im Keim nur mehr wenig zu „bestimmen“: genau be- 
sehen, kann nimmermehr von Geschlechts-„Bestimmung“, son- 
dern höchstens von „Umstimmung“ die Rede sein. Wird an 
der aus dem Gleichgewichte gebrachten Entwicklungswage 
männliche oder weibliche Materie das Übergewicht erlangen? 
Und vor allen Dingen interessiert uns: wer bedient, wie bedient 
man die Wagschalen? Gibt man sich nur mit einer Antwort 
zufrieden, die uns instand setzt, aus jedem Keim (und selbst- 
redend ohne grausam-gefährliche Eingriffe) nach Belieben Mann 
oder Weib zu erziehen, so liegt in der Tat hier auch heute 
noch das tiefste Geheimnis des Geschlechtes verschlossen: zu 
unserem Heile, denn sonst würden wir lauter Buben produ- 
zieren und der Krieg nähme kein Ende, bis mit dem Mangel 
an Produktionskräften (an Erzeugerinnen) auch der Menschheit 
letztes Stündlein schlüge. 


Um Nützlichkeitserwägungen kümmert sich die Wissen- 
schaft aber wenig: sie rückt dem Ziele immer näher, mag auch 
der Schatz, den sie der Natur abtrotzt, von der kostbar be- 
schenkten menschlichen Gesellschaft als „Stein der Unweisen“ 
gehandhabt werden. Zwei Einflüsse sind es namentlich, die 
immer wieder hervortreten, wenn man die an niederen Tieren 
und Pflanzen bereits gelungenen Versuche über Gechlechts- 
bestimmung durchprüft: Ernährung und Keimreife. Güte der 
ersteren beeinflußt dort den Keim nach der weiblichen Richtung, 
ebenso Vollreife der bei der Zeugung verwendeten Keimzellen; 
Hunger und Unreife oder Überreife begünstigen die männliche 
Richtung... 

Bisher sprach ich nicht von den Urhebern so weittragender 
Errungenschaften; schon deshalb nicht, weil ihrer zu viele sind, 
um in diesem Aufsatze genannt zu werden. Veranlassung zu 
dem Aufsatze war mein kleines, jüngst erschienenes Buch 
„Geschlechtsbestimmung und Geschlechtsverwandlung“ *), worin 


*) 934 Seiten, 18 Abbildungen. Wien, Verlag von Moritz Perles, 
2. vermehrte Auflage 1921. 





wm 


404 Kammerer: Die Geschlechter 


Ruge aus der Bummschen Klinik zu Berlin. Mögen meine 
verehrten Gegner auch weiterhin so prompt Recht behalten! 

Wieder einmal zeigt sich eben, daß im alten Volksglauben 
— und ein solcher erfordert das Ansteigen der Knabengeburten 
im Gefolge von Kriegen — ein Korn Wahrheit steckt. Und 
wenn es richtig ist, daß die Wissenschaft ununterbrochen vom 
Alltag lernen kann, so bleibt nicht minder zutreffend, daß 
Wissenschaft unablässig die Grenzen dessen erweitert, was 
kühnste Laienträume sich ausmalen durfte. Laienverstand und 
Forschergeist: verachte keiner den andern! Am besten schreiten 
sie vorwärts, wenn sie sich wechselseitig stützen. 





Heyn: Studien zur Physiologie des Geschlechtsiebens der Frau 405 


STUDIEN ZUR PHYSIOLOGIE 
:DES GESCHLECHTSLEBENS DER FRAU. 
Von Dr. A. HEYN, Frauenarzt, Reichenbach (Schlesien). 
Wann tritt bei der Frau der erste Orgasmus auf? 


U: die Zeit des Auftretens des ersten Orgasmus sind die 
Meinungen seit langer Zeit recht verschieden gewesen. 
Es überwiegt die Ansicht derer, die annehmen, daß nur in der 
geringeren Zahl der Fälle bald beim ersten Coitus, bei der 
Defloration, ein Orgasmus zu erwarten sei. Als Grund wird 
angegeben, daß das bei der blutigen Defloration auftretende 
Schmerzgefühl in der Regel das Wollustgefühl übertönen 
müsse. Adler sagt: „Man kann wohl mit Sicherheit be- 
haupten, daß der erste Coitus, der eine blutige Defloration 
bewirkte, wohl niemals ein Lustgefühl beim weiblichen Teil 
bewirkt hat. Schmerzen, Blutungen, Zerreißungen und Deh- 
nungen sind nicht geeignet, die Empfindungen der Wonne 
wachzurufen, zumal die seelische Befangenheit hinzutritt.“ 
Ähnlich spricht sich Ellis aus. Stekel ist der Meinung, daß 
die erste Kohabitation der Frau nur sehr selten einen Orgasmus 
bringt. Er schätzt die Zahl der Frauen, die trotz der 
Schmerzen der Defloration einen vollen Genuß haben, etwa 
auf vier Prozent ein. „In einer größeren Zahl der Fälle kam 
es schon in der ersten Woche zum Orgasmus. Ueber fünfzig 
Prozent gelangen erst nach einigen Wochen zum Genuß. 
Auch nach Monaten kann es nach einer Zeit der sexuellen 
Anästhesie zu plötzlichem — oft durch eine besondere Variation 
der Position ausgelösten — Orgasmus kommen.“ In einem 
Falle kam es erst nach sieben Monaten zum ersten Orgasmus. 
Ältere Autoren sagen ähnliches. Gutzeit berichtet, daß von 
zehn Frauen infolge der Schmerzen bei der Defloration nur 
zwei alsbald vollen Genuß haben, von den übrigen acht haben 
vier nur ein angenehmes Gefühl bei der Friktion, aber es 
kommt erst nach langer Zeit zu einem ähnlichen Gefühl, wie 
es der Mann bei der Ejakulation hat. Bei einigen dauere es 
ein Jahr, bei einigen ein Jahr und länger, bis sie zum Genuß 
kommen, bei den letzten vier komme es überhaupt niemals 
dazu. Janke sagt: „Die Anaphrodisie, d. h. die Unmöglichkeit 
beim Weibe, es zum Ejakulationsgefühl zu bringen, pflegt 


406 Heyn: Studien zur Physiologie des Geschlechtslebens der Frau 


ziemlich regelmäßig allemal nach der zweiten bis dritten 
Geburt wieder zu verschwinden.“ 

Seligson sagt, er habe unter den Frauen, mit denen er 
über diesen delikaten Punkt überhaupt habe sprechen können, 
selten eine gefunden, die gleich nach der Hochzeit Genuß am 
ehelichen Zusammenleben gefunden habe. Der größte Teil 
erklärte, daß sie erst nach der ersten Niederkunft ein Wollust- 
gefühl kennen gelernt hätten. Nur eine (von wie vielen? 
d. Verf.) hätte, trotzdem sie sich aus Liebe zu ihrem Manne 
verheiratet hatte, nie ein Wollustgefühl während einer zehn- 
jährigen Ehe gehabt, Er berichtet auch aus einer französischen 
Quelle: Lutaud erklärt, von 43 Frauen hatten elf während der. 
Begattung überhaupt kein Wollustgefühl, bei sieben trat es 
nur zeitweise und dann sehr mäßig hervor, und bei sechs 
bildete es sich erst während der Ehe, meist nach mehreren 
Jahren heraus. Kisch behauptet, daß das Wollustgefühl sich 
oft erst nach ein- bis zweijähriger Ehe zeige. 

Meine Untersuchungen haben ergeben, daß von 512 über 
ihre geschlechtlichen Gefühle beim Coitus befragten Frauen 
263 — 51,3 Prozent stets Orgasmus hatten, 161 = 31,2 Prozent 
meist und 88 — 17 Prozent nie ein Wollustgefühl verspürt 
hatten. Es bleiben also 424 Frauen, die den Orgasmus 
kennen. Von diesen Frauen sind 68 über das erste Auftreten 
ihres Orgasmus befragt worden. Es ergab sich nun, daß 31 
schon beim ersten Coitus, bei der Defloration, Orgasmus 
gehabt hatten, bei sechzehn trat er schon nach den ersten 
Malen ein, bei acht von ihnen nach einigen Wochen, und bei 
derselben Anzahl nach einigen Monaten. Bei fünf zeigte sich 
das erste Wollustgefühl erst nach einigen Jahren, nachdem sie 
ein- oder mehrmals entbunden hatten. Es ist also bei 
45,6 Prozent der befragten Frauen bereits bei der Defloration 
der erste Orgasmus aufgetreten, bei 23,5 Prozent bei den 
ersten Cohabitationen in den ersten Tagen, so daß also fast 
70 Prozent der. Frauen in den ersten Tagen den Orgasmus 
kennengelernt haben. Diese Zahlen weichen von der Meinung 
der Schriftsteller soweit ab, besonders bei den Zahlen der 
Frauen, die bereits beim ersten Coitus das Wollustgefühl 
hatten, (Steckel schätzt die Zahl der mit Erfolg Erstcohabi- 
tierenden auf vier Prozent und Adler nimmt offenbar noch 
weniger an), daß ich die Vermutung aussprechen möchte, 





Heyn: Studien zur Physiologie des Geschlechtsiebens der Frau 407 


daß sogar Gutzeit mit seinen 20 Prozent noch zu wenig hoch 
geschätzt hat. Man muß allerdings bei den Angaben mancher 
Frauen berücksichtigen, daß der Volksglaube, wie er in der 
erotischen Literatur zutage tritt, annimmt, daß der Orgasmus 
unbedingt zum ersten Coitus gehört, und daß die eine oder 
andere Frau, in der Furcht als minderwertig zu erscheinen, 
wenn sie das Ausbleiben des Orgasmus beim ersten Coitus 
zugibt, geneigt sein mag, dem befragenden Arzte eine falsche 
Angabe zu machen. Ich möchte aber trotzdem aus den an- 
gegebenen Zahlen den Schluß ziehen, daß die Zahl der 
Frauen, bei denen bereits bei der Defloration ein Wollust- 
gefühl auftritt, unterschätzt wird, und daß diese Frage noch 
einer weiteren Klärung durch Beibringung neueren, einwands- 
freien Materials bedarf. Durch bloße Vermutungen ist sie 
nicht zu lösen. 

Der Einfluß der Stärke des Geschlechtstriebes auf das 
erste Auftreten des Befriedigungsgefühles ergibt sich aus der 
Tabelle. Unter den Frauen, die sofort oder nach den ersten 
Cohabitationen das Wollustgefühl kennen gelernt haben, be- 
finden sich alle mit starkem oder sehr starkem Geschlechts- 
trieb, unter den anderen befindet sich nicht eine mit starker 
Libido. Offenbar ist eine gewisse Höhe der Libido erforder- 
lich, um trotz der Deflorationsschmerzen zum Orgasmus zu 
kommen. Es soll hierbei nicht verkannt werden, daß das 
Zustandekommen des Orgasmus noch von einer ganzen Reihe 
anderer Momente abhängig sein kann. Über eines derselben, 
nämlich die Stärke und Festigkeit des Hymens, liegen bis 
jetzt kaum mehr als Meinungsäußerungen vor. 

Von Gründen, die schließlich zum Durchbruch des Orgas- 
mus führten, konnte ich feststellen: Der Orgasmus trat in 
voller Stärke ein, als die betreffende Frau zum ersten Male 
eigene Bewegungen beim Coitus machte, nach Alkoholgenuß, 
nach vorheriger Reizung durch den Ehemann, als eine „andere* 
Lage versucht wurde, Coitus a posteriore, Coitus inversus usw. 

Die Tabelle zeigt ferner noch, daß bei den Frauen, die 
überhaupt zum Orgasmus kommen, eine schwache oder 
fehlende Libido sehr selten ist. Die Anzahl der Frauen, die 
nie zum Orgasmus kamen, betrug 88 = 17 Prozent von 512 
Frauen, es sind das die Fälle von Dyspareunie im gewöhn- 
lichen Sinne. Auch bei diesen 17 Prozent kann man nicht 


408 Heyn: Studien zur Physiologie des Geschlechtsiebens der Frau 


sagen, daß diese 38 Frauen dauernd oder definitiv als 
anästhetisch zu bezeichnen wären, man kann nur feststellen, 
daß sie bisher niemanden gefunden haben, der ihr Geschlechts- 
gefühl zu wecken imstande gewesen wäre. 

Ich pflichte durchaus Steckel bei, daß die anästhetische 
Frau nur die Frau ist, welche die ihr adäquate Form der 
Befriedigung nicht gefunden hat. Die Tatsache, daß ein 
Weib bei einem oder mehreren Männern kühl geblieben ist, 
beweist keinesfalls, daß sie nicht imstande wäre, sexuell zu 
fühlen, es beweist nur, daß diese Männer nicht in der Lage 
waren, dieses Geschlechtsgefühl zu wecken, „eine raffinierte 
ars amandi kann mitunter über diese Frigidität obsiegen.“ 
Es ist deshalb sehr schwer, eine fakultative Anästhesie von 
einer absoluten zu unterscheiden, man kann stets nur fest- 
stellen, daß die Frau unter den vorliegenden Umständen 
anästhetisch war. Der Beweis einer absoluten Anästhesie 
ist vielleicht überhaupt nicht zu führen. 
Libido 









1. Orgasmus 






w| sehr stark 
» | unbekannt 


bei der Defloration 


nach den ersten Malen 
nach den ersten Wochen 


nach den ersten Monaten 


nach einigen Jahren 


Geschlecht und Gesellschaft, 
Neue Folge X, 12 


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Tafel I. Herzog Heinrich v. Breslau empfängt ein Minnekleinod. 
(Miniatur der Manesseschen Liederhandschrift Heidelberg.) 
(Zu Reitzenstein: Einflüsse.) 





EINFLÜSSE DES MINNEDIENSTES AUF DIE 
DEUTSCHE HERALDIK. 


Von Ferd. Frhr. v. REITZENSTEIN, Dresden. 


We man die verschiedenen Reste des Liebesaberglaubens 
im Volke sammelt, stößt man immer wieder — besonders 
bei Gegenständen des häuslichen Gewerbes — auf Dar- 
stellungen, die ihren Weg von der Heraldik, der speziellen 
Blüte des Mittelalters aus genommen haben. Dorthin aber 
gelangten sie durch den Minnedienst, jener eigenartigen 
Erscheinung des Liebeslebens, die das ganze. Mittelalter in 
den Dienst von Weib und Liebe stellte und veredelte. Es 
war daher sehr reizvoll, diesen Einflüssen näher nachzugehen 
und so entstand schon vor zwanzig Jahren im Anschluß an 
die Sammlung abergläubischer Liebesgebräuche auch die 
nachfolgende Untersuchung. 

Das Liebesleben des Minnedienstes selbst soll hier natür- 
lich nicht behandelt werden. Es war ein in gewisse Formen 
gepreßter Schematismus, der dem Manne sicherlich große 
Zartheit gegen die Frauen auferlegte, aber nicht etwa — wie 
das unsere heutigeSchulkulturhistorie so gerne fälschen möchte — 
das Endziel der Liebe ausschloß. Im Gegenteil, man steuerte 
sehr direkt darauf los und erreichte oft in wenigen Augen- 
blicken sein Ziel, umsomehr als besonders die Mädchen gar 
nicht prüde waren. Wir hoffen später näher darauf einzu- 
gehen. Vor allem aber beobachten wir, daß sowohl vor der 
Zeit des Minnedienstes als auch außerhalb desselben eine 
Liebe bestand, die unserer heutigen Auffassung näher kam, 
natürlich nicht deren moralistische Abbiegung zeigte. Dort 
aber, wo der Minnedienst herrschte und gewissermaßen 
Ehrensache war, war auch jeder Ritter bestrebt, sich der 
Öffentlichkeit gegenüber als Frauenritter zu zeigen und dazu 
bot ihm eben die Heraldik die beste Gelegenheit. Hier, an 
seinem Helme und Schilde durfte er ohne weiteres seine 
innersten Triebe durch einSymbol zum Ausdruck bringen. 

2 


410  v.Reitzenstein: Einflüsse des Minnedienstes auf die deutsche Heraldik 


—— 
Abb. 1L. 





Bereits in der Zeit, in der die 
Wappenbilder gewählt wurden, 
bildeten sich eine Reihe von Dar- 
stellungen durch, die eine Beziehung 
zum Liebesleben ausdrückten. Es 
sind das vor allem die Herzen 
(Abb. 1 und Tafel III, 1) und die 
Rosen (Tafel III, 2); sodann aber 
auch die Äpfel, die bereits im Alter- 
tum, der Aphrodite heilig, in einem 
gewissen Verhältnis zur Liebe stan- 
den (Tafel III, 3). Ferner Ringe, das 
alte Symbol der Ehe (Tafel III, 4), 
Fackeln (Tafel III, 5) usw. Auch 


die Katze, die schon der vorgriechische Orient mit besonderer 
Vorliebe den Gottheiten der Liebe weihte, in der der alte 


Deutsche das heilige Tier 


nicht ohne Zusammen- 
hang mit 


worden zu sein. 
die deutsche Heraldik 
aber war es besonders 
die Linde, die in der 


älteren Zeit eine große | 


Rolle spielte (vgl. 
Abb. 2). Sie war der 
bevorzugte Baum auf 
der Burg, wie vor der 
Stadtmauer, oder im 
Dorfe. Unter ihre 


Zweige eilte man im | 


Frühjahr, wenn es die 
Witterung gestattete, 
die finsteren und kalten 
Wohnräume zu ver- 
lassen, wie sie unsere 
Voreltern zu bewohnen 
gezwungen waren. So 
manches Herz fand 





unserem | 
Gesichtskreise gewählt | 
Für 


der Liebesgöttin erblickte, scheint 











v. Reitzenstein: Einflüsse des Minnedienstes auf die deutsche Heraldik 411 


sich hier zum Herzen, so mancher Bund der Liebe ward 
darunter für immer geschlossen, kein Wunder, daß im 
Lindenzweige und im Lindenblatte für unsere Vorfahren 
eine tiefe Poesie lag und daß man beides so häufig ver- 
wendete. Dazu kam noch die große Ähnlichkeit des Linden- 
blattes mit dem Herzen, wie es denn in vielen Fällen in der 
Heraldik nicht möglich ist, mit Sicherheit zu sagen, ob 
man es mit Lindenblättern oder Herzen zu tun hat. Doch 
genügten diese alten Symbole der höfischen Zeit nicht 
mehr, ja zum Teil mag man bereits ihren alten Sinn vergessen 
haben. Die Frauenritter schufen vielmehr in dieser Periode 
eine ganz eigentümliche Art von Heraldik, die, wenn sie auch 
im allgemeinen mit dem Minnedienst wieder verschwand, 
doch nicht unbedeutende Spuren hinterließ, die Symbolik und 
Aberglauben des Liebeslebens noch heute beherrschen. 

Beachtung fand unser Gebiet seitens der heraldischen 
Schriftsteller nur sehr wenig, da sich nur der geringste Bruch- 
teil mit wissenschaftlicher Heraldik befaßte. Außer den kurzen 
Bemerkungen bei Ganz, Geschichte der Heraldik in der 
Schweiz 1899, ist es nur Seyler, der in seiner Geschichte der 
Heraldik darauf zu sprechen kommt. Aber auch er gibt in dem 
Kapitel, das Minnekleinod betitelt ist, eigentlich nur Fingerzeige. 

Die Keime der Schildbilder sind in der Zeit der 
fränkischen Könige also im 11. Jahrhundert zu suchen, sie 
hatten damals noch etwas entschieden persönliches an sich 
und selbst die Quellen des 12. Jahrhunderts geben noch keinen 
Anhaltspunkt für die Erblichkeit der Wappen. Diese beginnt 
erst während der Herrschaft der Staufen. Aber auch jetzt ist 
noch von einer durchgehenden Benutzung desselben Wappens 
bei einer Person meist keine Rede, besonders was die 
Wappendarstellungen auf Siegeln anlangt. 

Ganz willkürlich werden oft beliebige Bilder ange- 
nommen und wie die wirklichen Wappen gebraucht. 
Fürst Hohenlohe sagt darüber in seinen sphragistischen Apho- 
rismen: Nicht selten kommen im Mittelalter Bild-Siegel vor, 
welche man, ohne genaue Kenntnis des betreffenden Wappens, 
leicht für Wappen-Siegel halten könnte. Diese Bilder haben 
meist Bezug auf eine Liebhaberei des Sieglers, wie die 
Jagd, auf Ereignisse in dessen Leben, wie Pilgerfahrten und 
Reisen, oder sie beziehen sich auf den Namen desselben.“ 

27° 


412 v.Reitzenstein: Einflüsse des Minnedienstes auf die deutsche Heraldik 


So führt z. B. Otto von Lobdeburg 1186 auf seinem Siegel 
einen Hirsch, während das Wappen einen Schrägbalken zeigt. 
Gahmuret ändert, als er zu neuen Taten auszieht, auch das 
Wappenbild, er setzt an Stelle des väterlichen Panthers weiße 
Anker auf grünen Grund, ein deutliches Symbol seiner Hoff- 
nungen.: Diese letztere Tatsache ist, wie sich zeigen wird, 
für unsere Betrachtung von größter Wichtigkeit. 

Im Folgenden müssen wir zwischen Minnepfändern 
und Wappen selbst unterscheiden. Die ersteren waren 
sozusagen eine Art Andenken, die die Dame ihrem Geliebten 
mitgab. So lesen wir Lancelot Ill, 8821), daß sie die zwei 
Ringe am Schwerte des Ritters mit ihren Haaren umflicht. 
Chastelain de Couci erhält von seiner Dame eine Locke ihres 
Haares (Chastelain de Couci 7344). Nach seinem Tode läßt er 
sie der Geliebten zurückschicken. Weitaus am häufigsten sind 
Kleider oder Schmuckteile, wobei wieder zu unterscheiden ist, 
zwischen Kleidungsstücken, die für den Ritter selbst ge- 
macht wurden, und solchen, die die Dame von ihrer eigenen 
Kleidung nahm. Besonders war das Wechseln der Hemden 
sehr beliebt*). Gahmuret trägt z. B. die Hemden der Herzeleide 
über seiner Rüstung und schickt die im Kampf zerhauenen 
dann zurück. Wichtiger aber sind j'ne Stellen, wo eine be- 
stimmte Beziehung zur Heraldik gegeben wird. So schildert 
uns Conrad von Würzburg in seinem „Engelhart“ die Aus- 
rüstung desselben durch Engeltraut, die ihm einen prächtigen 
Wappenrock und eine stattliche Couverture schenkt. Das 
eigentliche Minnekleinod aber bilden zwei Borten, die an 
Stelle des wirklichen Helmschmuckes, also am Helm selbst 
und am Haupte des Pferdes, wo sich das Kleinod ja häufig 
wiederholte, angebracht wurden. Die vom Kopf desselben 
herabhängende wird als grüne Leiste geschildert, auf der in 
Gold die Worte geschrieben standen: „Freund, Gott lasse dich 
behalten Heil und ganzen Glückes Kraft zur Minne und zur 
Ritterschaft**). Grün war die Borte, weil Engeltraut die Hoff- 
nung ausdrücken wollte, daß er sich in diesem Tournier gut 
halten möchte, da sie dann mit ihm in nähere Beziehung 
treten könne. Häufig scheinen diese Borten in Gestalt kleiner 
roter Bändchen getragen worden zu sein. So zeigt uns die 

”) Es geht außerdem auf alte Zauberideen zurück. 


**) Friunt, got läze dich behaben Heil und ganzer saelden Kraft üf 
minne und üf ritterschaft. (Engelh. 2528 ff.). 


v. Reitzenstein: Einflüsse des Minnedienstes auf die deutsche Heraldik 413 
NET U NEL rn un ee ST 


Manessische Handschrift ein Bild, das 
den siegreichen Herzog von Breslau 
(vgl. Tafel I und Abb. 3) darstellt, wie 
er soeben von einer Dame das „Krän- 
zelin“ erhält. Das vielumstrittene 
Schleifchen am Wappenschild des 
Herzogs ist weiter nichts als ein 
Minnepfand, denn, daß der Herzog 
Heinrich als Frauenritter auf diesem 
Tournier erschien, zeigt Wappenrock 5, 
und Couverture (Pferdedecke), auf denen die Buchstaben 
A. M. O. R. zu lesen sind, die sich zum Wort Amor (Liebe) 
ergänzen. Wir geben den Schild mit der Schleife vergrößert 
wieder, wobei zugleich zu ersehen ist, daß sie nicht etwa 
aufgemalt ist, da ein Teil über den Schildrand hinaustflattert. 
Für den Ritter wäre es unverzeihlich gewesen, wenn er ohne 
Pfand vom Kampf zurückkehrte, Diese Borten waren wohl 
häufig vom Kleide der Damen genommen und wurden nach 
dem Kampfe dann wieder dort befestigt, ähnlich wie wir es 
bei dem Ärmel sehen werden. Auch Haarbänder mögen es 
teilweise gewesen sein. Den Kampf geht Engelhart denn auch 
wirklich mit einer auf seine Dame bezüglichen Devise ein: 
„Schoener roeselehter munt“. Aber auch andere Teile ihrer 
Toilette verehrte die Dame ihrem Ritter. So in erster Linie 
Ringe. Der Ring mhd. bouc, rinc frz. orle rond, annelet 
wurde oben schon erwähnt, aber er hatte dort lediglich 
symbolische Bedeutung, jetzt wird er wirklich zum Minne- 
kleinod (Tafel III, 6). In Athis und Prophilias, einem Gedichte, 
das seinen Stoff einem gleichnamigen französischen, um 1184 
von Alex. de Bernay verfaßt, entnimmt, bitten Pyrithous und: 
Carsidorus die beiden Frauen Cardiones und Gayete um ein 
Liebeszeichen, das sie an ihren Speeren befestigen wollen. 
Cardiones gibt dem Pyrithous, Gayete dem Carsidorus einen 
goldenen Ring. Beide Jünglinge werden in der Nacht von 
dem Gedanken an die Tat erfüllt, durch welche sie sich in 
den Augen der Frauen, deren Ritter sie sind, auszeichnen 
wollen. Beim darauffolgenden Kampf besteigen die Frauen 
die Türme, um zu sehen, wie ihre Ritter sich hervortun. Als 
nun später Pyrithous verwundet zusammenbricht, hält ihn 
Cardiones für tot und stirbt vor Schmerz. Und das Ganze 





414 v.Reitzenstein: Einflüsse des Minnedienstes auf die deutsche Heraldik 


geht vor sich, obwohl Cardiones, die Gemahlin des selbst am 
Kampf beteiligten Prophilias und dessen Schwester Gayete 
die Gemahlin des Athis ist. 


Ebenso bildet ein Ring das Minnepfand in dem Gedichte 
Wilhelm v. Orlens, des Rudolf v. Ems, das dieser in 16000 
Versen nach einem gleichnamigen französischen bearbeitete. 
Wilhelm, der Sohn des Wilhelm von Hennegau, hat sich in 
Amelie, die Tochter des englischen Königs Reynher, verliebt. 
Um nun ihrer Minne teilhaftig werden zu können, muß er 
sich zum Ritter schlagen lassen und große Taten vollbringen, 
Er geht an den Hof nach Brabant und Amelie gibt ihm einen 
Ring mit einem Rubin mit. Im Besitze des Fürsten K. Anton 
v. Hohenzollern zu Sigmaringen befand sich ein prachtvoller 
Teppich mit Darstellungen dieses Gedichtes, den Hefner- 
Alteneck in seinem großen Werke „Trachten und Gerät- 
schaften“ abbildet. Im Iwein gibt Laudine diesem einen Ring, 
der Heil und frohen Mut gibt, und wer ihn trägt, ist im 
Besitze voller Glückseligkeit. Sie fordert ihn aber später 
zurück, als Iwein treulos erscheint. 


Der Ring als Liebespfand, abgesehen von Verlobungs- 
ringen und Eheringen, erhielt sich im ganzen Mittelalter. Im 
Niederl. Liederbuch unter Nummer 105 lautet ein Gedicht: 


Se vern in jennem Frankrike 
dar licht ein möle stolt 
de malet alle morgen 
dat sülver dat rode golt. 
Hedd ich des goldes ein stücke 
to einem schmalen vingerlin (Ringchen) 
ick woldet minem finen bolen (Geliebte) schenken 
dat se miner nicht vorget. 
Wat gifft se wedderümme? 
van perlin ein Krenzelin: 
„sü dar, du hüpsche schlömer, 
drag en umm den willen min“. 


Diese Mühle scheint überhaupt nur Gold für den Liebesdienst 
gemahlen zu haben, wie aus einem andern Lied hervorgeht, 
das nebenbei bemerkt, die Veranlassung zu Eichendorffs: In 
einem kühlen Grunde . . . wurde. Es lautet (ebenf. Niederl. 
Liederbuch): 


v. Reitzenstein: Einflüsse des Minnedienstes auf die deutsche Heraldik 415 


Dört hoch auf jenem berge 

da get ein mülenrad 

Das malet nichts denn liebe 

die nacht bis an den tag; 

die müle ist zerbrochen, 

die liebe hat ein end 

so g’segen dich got mein feines lieb! 
iez fahr ich in’s elend. 


Dann tritt der Gürtel (Tafel III, 7) besonders häufig auf, der 
oft sehr kostbar war. In Meleranz (689) wird ein solcher 
beschrieben, auf dessen Borte mit 
Edelsteinen die Inschrift eingelegt 
war: „Mannes langer mangel daz ist 
der herzen angel, die buochstab an 
dem striche vorn die sprächen „dul- 
cis läbor“*). Das sprichet, sô mir 
ist geseit, Minne ist süeziu arbeit“. 
Sodann kommen Spangen (Abb. 
4A und Tafel II, 8 und 9) und 
Handschuhe vor. Den Mantel 
hielt man durch eine Schnur, an 
yn der vorne zwei Plättchen befestigt 
waren, welche Tassel hießen. (Tafel 
IlI, 10.) Meleranz 655 heißt es: auf der einen Tassel war Frau 
Venus mit Fackeln, auf der andern Amor mit Pfeil und Salben- 
büchse dargestellt. 

Weit häufiger, vielleicht überhaupt das häufigste Minne- 
pfand war der Ärmel. (Vgl. Abb. 5—11) und zwar die großen, 








— 


+) — süße Arbeit. 


416 v.Reitzenstein: Einflüsse des Minnedienstes auf die deutsche Heraldik 


weit herabhängenden Prachtärmel. Sie waren jedoch nicht aus 
einem Stück geschnitten, oder angenäht, sondern wurden jedes- 
mal angeschnürt. Dies geschah am Oberkleid, da gewöhnlich 
noch ein Unterärmel sichtbar ist. Häufig ist er nicht aus dem- 
selben Stoff, wie das Gewand. Diese Mode kam im XI. Jahr- 
hundert auf und wird gegen Ende des XII. Jahrhundert seltener, 
verschwindet aber erst im XIII. Man nannte sie stüchen, 
mouwen alfr mance. Die Dame nahm den Ärmel von ihrem 
Kleide ab und gab ihn dem Ritter, der ihn nach dem Kampf 
zurückbrachte. Dabei zog er ihn z. T. selbst an, so Blancandin 
1213, oder er befestigte ihn am Helm, Lancelot IV 868. Am 
liebsten aber ward er an den Schild genagelt, so Flamenca 
7708, wo Guillems de Nevers als Belohnung für den Sieg den 
Ärmel erhält. Manchmal findet man ihn auch an der Lanze 
angehängt (Herb. Troj. 9516). Betrachten wir einzelne Beispiele: 
Herbert von Fritzlar (1210) singt: 
9509: Ir sult mir eine stuchen geben 

Zu eine Kleinote 

Des darf ich zu note (nötig) 

Daz man erkenne da bi 


Daz ich ein frouwen-ritter si 
Ich meine uch frowe damite niet (allein). 


9520: Die frowe sprach daz sol sin 
Sie reiz im einen ciclatyn 
Von irre zeswen (= rechten) hant 
uf sinem schaft (= Lanze) er daz bant. 


Das schönste Beispiel liefert aber wohl Wolfram v. Eschenbach 
im Parzival (1212): 

Die kleine Obilot hat Gawan gebeten ihr Ritter zu sein: 
er sagt zu und verspricht zugleich, er wolle durch si wâpen 
(Wappen) tragen. Bevor sie aber in der Lage ist, ein 
würdiges Kleinod zu geben, muß sie selbst, die sie doch noch 
mehr Kind als Jungfrau war, zuerst als Dame gekleidet 
werden. Da bittet sie ihren Vater, er möge die Mutter er- 
suchen ihren Wunsch zu erfüllen. Er sagt auch wirklich: 

374,15 Obylöt wil bezzer kleit 
si dunket sin mit wirde wert 


sit so werden man ir minne gert 
und er ir biutet dienstes wil. 


Es wird ein kostbares Kleid zugeschnitten und dann heißt es: 


v. Reitzenstein: Einflüsse des Minnedienstes auf die deutsche Heraldik 417 


375,10 ir muose ein arm gebloezet sin: (freigemacht werden) 
dä was ein ermel von genomn 
der solte gåwân komn 
daz was ir prisente 
pfell von Neuriênte 


15 verre uz heidenschaft gefuort 
der het ir zeswen (rechten) arm geruort (berührt) 
doch an de roc niht genaet 
dane wart nie vadem zuo gedraet. 


Klaudite bringt ihn Gawan, der ihn auf den Schild nagelt und 
nach siegreichen Kampf zurückbringt. Es heißt dann: 
390,20 Gâwân den ermel lôst 
âne zerren vonme schilte 
den gap er Clauditten: 
an dem orte (Spitze) und ouch då mitten 


25 was er durchstochen und durchschlagen 
er hiez in Obilôte tragen, 
dê ward der magede freude grôz 
ir arm was blanc unde blôz 
dar über hefte sin dô sån. 


Außer dem Ärmel sind von Kleidungsstücken noch die Kopf- 
bedeckungen, insbesondere das Gebende und das Schapel 
wichtig. (Tafel II, 11 und Tafel II.) Das Gebende ist in 
seiner Form vom Schapel verschieden. Es war ein Tuch, das 
die Haare zusammenhielt und unter dem Kinn herumging, aber 
nur den verheirateten Frauen zukam, altfr. hieß es guimple 
(mhd. auch wimpel) und war in späterer Zeit besonders safran- 
farbig beliebt (so Erec 8945). 

Weit bevorzugter und zugleich am zierlichsten war das 
Schapel. Es ist ursprünglich ein Blumenkranz aus lebenden 
Blumen. Später erschien es auch als ein gewundenes Stoff- 
band oder ein aus Metall gefertigter Kranz, oft reich mit Edel- 
steinen verziert. 

Wurde das Schapel vom Ritter getragen, so war dies 
wohl nur am Helme möglich. Ein reiches Schapel wird 
Titurel 1211 beschrieben. Sigune gibt Schionatulander ein 
Schapel, der es am Helme befestigt. Es wurde im Unterschied 
zum Gebende und Rise nur von Mädchen und Jungfrauen ge- 
tragen und wird meist als blauer Ring mit einzelnen Rosen 
seltener Lilien dargestellt. Franz. hieß es couronne oder cha- 
pelet. Im Wigamur heißt es: 


418 v.Reitzenstein: Einflüsse des Minnedienstes auf die deutsche Heraldik 


Phyoplerin von Aratun 

Auff einem ross praun 

Der furt ein sper in seiner hand 

dem hette sein amey (Geliebte) gesandt 
Bey tausend marken ain clainot 
Das was ain schappel von golde rot « 
Das furt er auf dem helme sin. 


Die Damen schenkten aber auch Geräte ihrer Umgebung, 

so wird Tristan Il, 99 eine Schere erwähnt. 
t4 Häufig kommen natürlich Blumen (vgl. Abb. 12 u. 13) 
vor. Insbesondere Rosen und Vergißmeinnichte, was sich 





übrigens ja bis heute als Geschenk der Liebenden erhalten hat. 
Das Antwerpner Liederbuch sagt unter Nr. 96: 


Had ic nu .drie wenschen 

drie wenschen also eel, 

so soude ic nu gaen wenschen 
die rosen op eenem steel 

Die een sonde ic plucken 

die ander laten staen. 

die derde soude ic schenken 
der lieffter die ic haen. 


Eine Hdsch. von 1603 (vgl. Hoffmanns Mon.-Schrift von 
Schlesien 1829, III, 550) gibt folgendes Liedchen: 


Drauf gab sie mir zu pfande 
vergißmeinnicht ein Kranz 
den gab sie mir zu pfande 
mit ihrer schneeweißen Hand 
drauf gab ich ir herwider 
von gold ein ringlein klein 
dem tragt von meinetwegen 
Herzallerliebste mein. 


v. Reitzenstein: Einflüsse des Minnedienstes auf die deutsche Heraldik 419 


Wir haben somit gesehen, wie die Dame ihrem Ritter eine 
Reihe Liebespfänder gab, die diese an Helm oder Schild, 
also an dem Platze, wo sich auch das Wappenbild entwickelte, 
befestigte. Da war es denn auch nur noch ein Schritt, 
Bilder dieser Gegenstände zu verwenden, sei es in plasti- 
scher Form als Kleinod auf dem Helm, oder gemalt als Schild- 
bild. Und damit erreichen wir eine zweite Stufe: Der 
Ritter, der ins Tournier zieht, nimmt für dieses 
Tournier, seiner Dame zu lieb, ein eigenes Wappen 
an, das mit seinem wirklichen Wappen nichts zu tun 
hat, oder, er bedient sich an Steile seines Kleinods 
eines Minnekleinods, oder anstatt seines Wappen- 
bildes eines solchen mit Beziehung auf die Minne. 
Hatte er bisher auf seinem Schilde oder Helme nur ein Pfand 
seiner Geliebten befestigt, wobei das wirkliche Wappen vor- 
handen war, so ward dieses jetzt durch ein Minnebild ersetzt, 
wenn es auch nicht für immer getragen wurde. Dabei kommt 
es auch vor, daß das wirkliche Wappen oft nur ein Bei- 
zeichen erhält, das den Frauenritter bezeichnete. 
Diese Gruppe ist besonders wichtig, weil sie oft erblich 
wurde. So singt Hiltbolt von Swanegou: 
Ain schappel brun und underwilent ieblang 
hat mir gehöhet das herze und den mut. 

Ein Angehöriger seiner Familie legt wirklich um sein 
Wappenbild ein Schapel und tut es nicht nur für ein spezielles 
Tournier, sondern er läßt sich ein Siegel schneiden, auf dem 
es angebracht ist (Tafel Ill, 12). Wenn man bedenkt, wie 
wertvoll damals ein Siegelstock war, wie er oft vom Vater 
auf den Sohn vererbt ward, so sieht man, daß es Berthold 
v. Swanegow damit wirklich. ernst war. Vielleicht hat bereits 
sein Vorfahre Hiltbold das Schapel als erblich angenommen. 

Bei der weiteren Betrachtung haben wir zu unterscheiden: 

1. Solche Bilder, die Darstellungen von Gegenständen 
waren, wie sie die Dame gab. 

2. Solche, die auf die Liebe und das Liebesverhältnis 
selbst anspielen. 

3. Darstellung von Personen. 

Besonders gerne wählten die Ritter den Ärmel, sehr häufig 
jetzt als wirklichen Arm, der einen Ring hält; ein derartiges 
Minnekleinod diente z. B. dem Grafen von Saarbrücken als 


420 v. Reitzenstein: Einflüsse des Minnedienstes auf die deutsche Heraldik 


Helmschmuck, während er auf dem Schild sein wirkliches 
Wappenbild führt (Tafel Ill, 6). So beschreibt Hartmann 
v. d. Aue im Erec 2295 drei Ärmel, wovon einer golden, 


der ander von zinober röt 
dur üf er slahen geböt 
ein mowen von silber wiz. 


Der dritte war aus Zobel auf Gold und darüber ein Buckel. 
Hier ist es also eine Darstellung auf dem Schild. 

Eine noch originellere Komposition gibt um 1360 der 
Pleier. Der Helmschmuck des Meleranz (3297) stellte nämlich 
eines Ritters und einer Frauen Arm dar, „Asö die liebe im 
geböt“. Er hatte sie selbst gewählt, wie uns die Zeilen: 


Die Minne in alsö wiset 
Daz er die Kleinode truve 
und . 
durch daz der junge Meleranz 
disiu Kleinät het erdäht, 
af sinem helm und wol volbräht. 
Die beiden Arme sollten die Treue bezeichnen; es heißt: 


nach in triuwe zwuo hende schin 
stuonden üf dem helme sin 

ein arm was rôt der ander blâ 

Die hende wiz, auch sach man dâ 

an ieclîchen vingr ein vingerlîn (Ringchen) 
von golt, die gäben liehten schîn. 


Auch das Schapel ward dafür gewählt. So sagt Ulrich 


von Lichtenstein von seinem Gegner: 
und fuort ouch ûf dem helm sîn 
ein schapel: daz gap liehten schîn 
von golde und ouch von perlîn lieht. 


Aber häufiger als diese Gegenstände, die den Rittern nicht 
deutlich genug zu sein schienen, wählten sie andere Auswege. 
So ist es zunächst der Pfeil mhd. stral. Wir finden ihn im 
Schilde des Minnesänger Heinrich von Strettlingen (s. Abb. 
19 und 20), wobei als Kleinod zwei Äste mit Rosen besetzt 
dienen. Das Wappen ist der Manessischen Handschrift in 
Heidelberg entnommen, die für diesen Abschnitt unserer Be- 
trachtung überhaupt eine Reihe der originellsten Beispiele 
liefert. So zeigt der Schild Alrams von Gresten in Gold 
einen blauen Querbalken, auf dem in weißen Lettern Amor 
steht (Tafel III, 13). Der Bucheimer führt einen roten Schild 


mit aufgeschlagenem Buche, in dem zu lesen ist 
Minne sinne. tninget 
Strale Quale bringet. (Tafel VI, 14.) 


v. Reitzenstein: Einflüsse des Minnedienstes auf die deutsche Heraldik 421 


Beides sind, von den Aufschriften ganz abgesehen, wohl 
kaum die wirklichen Wappenschilde. Der berühmte Frauen- 
ritter Ulrich von Lichtenstein behält seinen Schild bei, nimmt 
aber als Helmkleinod ein Bild der Frau Minne selbst. (Abb. 13a.) 
Damit sind wir bei der dritten Art der Darstellung 
von Personen und dergleichen angelangt. 

Frau Minne erscheint als Königin in rotem Gewand und 
hält einen roten Strahl in der Rechten und einen Feuerbrand 
in der Linken. Ähnlich ist das Wappen, das Meister Heinrich 





Frauenlob wählte. Wie dieser Minnesänger seinen Namen 
wechselte (er soll der Markgraf Heinrich von Meißen, + 29. Nov. 
1318, gewesen sein), so änderte er auch sein Wappen und 
nahm ein reines Liebeswappen ein: Die Frau Minne als Helm- 
kleinod und als Schildbild auf grünem Grund. Wahrscheinlich 
ließ seine Geliebte ihn auch öfters lange hoffen. (Abb. 13b.) 
Konrad v. Würzburg läßt in Partonopier und Meliur dem 
Herzog Galathisgar des Liebesgottes Bild im Schilde führen. 
20,724 Amûr, der süezen minne got 

an sinêm schilde swebte 

nach wunsche, als ob er lebte 

was er mit lichter varwe dran 

gemalet als ein nacked man 

der vetech (fittige) angebunden hat, 

noch roeter danne ein rosenblatt 

was daz veld dar unter 

und schein daruz ein wunder 

der lichten margariten. 

Am sonderbarsten aber ist der Schild des Feirefiß (Parci- 

val 741,15). Er führt das Fabeltier Ecidämon: 

durch der minne condwier (Führung) 

ecidemön daz reine tier 


422 v.Reitzenstein: Einflüsse des Minnedienstes auf die deutsche Heraldik 


het im ze wäpen gegeben 
diu Küngin Secundille 
diz wäpen was ir wille. 


Conrad von Würzburg, ł 1287, läßt dem Jason Jupiters 
Bild als Helmkleinod tragen, auf das er der Medea Treue ge- 
schworen hat. 

Ganz besonders häufig aber scheint man eine Frauen- 
büste gewählt zu haben, die die Geliebte selbst darstellte 
(Tafel III, 15, 16, 17, 18). 

Damit haben wir auch den zweiten Teil erledigt und 
erübrigt uns nun nur noch zu untersuchen, ob es sich auch 
nachweisen läßt, daß solche Minnewappen ganz oder ein- 
fach erblich wurden, d. h. ob der Minnedienst einen fest- 
stehenden Beitrag zur Heraldik lieferte. Wir werden sehen, 
daß alle die obengenannten Minnepfänder sowie alle Symbole 
in Wappen vorkommen. Der zuerst erwähnte Haarzopf 
tritt allerdings selten auf, wie er dargestellt wurde, zeigt bei- 
folgende Abbildung (Tafel III, 19). Dagegen findet sich der 
Ärmel sehr häufig. Er macht eine vollständige Entwicklung 
durch, so daß er manchmal kaum wieder zu erkennen ist. 
Ein Kopftuch zeigt uns das Wappen der Fröwler aus Basel. 
Wir sehen einen Frauenkörper als Kleinod, dessen Haupt von 
dem oben erwähnten eigentümlichen Kopftuch bedeckt wird, 
während dasselbe ausgebreitet als Schild- 
bild erscheint (Abb. 14. Wenn unser 
Wappen auch bis zu einem gewissen 
Grade ein redendes ist, so war es doch 
eine Folge des Minnedienstes und seiner 
Pfänder, daß ein derartiges Wappenbild 
entstehen konnte. 

Das Gebende zeigt uns ein Wappen 
der Ringenberg. Auch hier haben wir es 
mit einem redenden Wappen zu tun, aber 
gewiß war es die Folge des Minne- 
dienstes, daß der Ring durch diese 
Kopfbinde dargestellt wird, und nicht etwa durch einen 
Fingerring (Abb. 15). Inwieweit uns im Wappen der 
Schäppeler ein Minnewappen entgegentritt, mag dahin gestellt 
bleiben, immerhin ist es jedoch interessant als Beispiel eines 
deutlich und schön dargestellten Schapels (Abb. 16). Mit 





v. Reitzenstein: Einflüsse des Minnedienstes auf die deutsche Heraldik 423 


großer Sicherheit kann das Kleinod von Nr. 244 der Züricher 
Wappenrolle als ein dem Minnedienste seine Entstehung ver- 
dankendes Schapel bezeichnet werden. Ganz deutlich ist 
diese Beziehung sicherlich im Wappen der Sina (Abb. 17). 
Unser Beispiel ist der Wappenrolle der Gesellschaft zur „Katze“ 
Konstanz 1547 entnommen, so daß es also als wirkliches 





Wappen hinzunehmen ist, da man im 16. Jahrhundert gewiß 
keine Minnewappen für vorübergehenden Gebrauch mehr aus- 
wählte. Auch Schnallen und Spangen kommen ab und zu 
vor, ebenso der Armring. Für den Frauengürtel haben 
wir ein sehr schönes Beispiel im Wappen der Herrn v. Stein, 
einem kyburgischen Ministerialengeschlecht, das auf Siegeln 
öfters zu finden ist. Sehr gern brachte der Frauenritter eine 
Damenbüste auf seinem Helm an, die vielleicht oft sogar die 
Geliebte persönlich darstellen sollte. ’ 

Es dürfte jedoch sehr schwer sein, 
die in Rücksicht auf den Minne- 
dienst gewählten Frauenbüsten von 
denen der wilden Weiber usw. zu 
unterscheiden. Die von uns hier 
aus der Züricher Wappenrolle 
zusammengestellten dürften aber 
immerhin zu unserem Gesichtskreis 
gehören, denn die Dämchen er- 
scheinen zu modehaft, zu zierlich 
um sie anderweitig zu erklären. Noch 
deutlicher wird die Beziehung, wenn 
der Damenbüste Rosenstengel in 





424 v.Reitzenstein: Einflüsse des Minnedienstes auf die deutsche Heraldik 


die Hand gegeben werden, oder wenn gar an Stelle der Arme 
Rosenzweige, oder ein Geweih mit Rosen besteckt, dem Körper 
entwachsen. (Tafel III, 15, 16 und Abb. 12.) So auf den 
Wappen der Grafen von Tierstein oder von Rapperswil, wo 
außerdem noch das Schildbild drei Rosen aufweist. (Abb. 18.) 
Auch ganze Arme treten auf Siegelbildern und in Wappen 
auf, die dann meistens zu ihrer Charakterisierung noch einen 
auf die Minne bezüglichen Gegenstand halten. So hält der 
Arm, den Egidius v. Cons 1199 in seinem Siegel führt, ein Ver- 
gißmeinnicht oder eine Rose (Abb. 11), während ein Wappen 
des Codex Balduineus einen Arm zeigt, der zwischen seinen 
Fingern einen Ring hält. Sehr deutlich zeigt den Übergang 





eines ursprünglich wohl nur zeitweise verwendeten Minne- 
wappens in ein lebenslänglich verwendetes, ja in ein in ähn- 
licher Form auch auf andereSprossen der Familie übergehendes, 
das Minnewappen H. v. Strätlingens, dessen wir bereits Er- 
wähnung getan haben. Wir finden es in der Manessischen 
Handschrift, im Naglerschen Bruchstück in Berlin und auf dem 
Grabstein Heinrich II. v. Strätlingen, f 1266 in Wettingen. Er 
zeigt stets Stral (Pfeil) und Rosenäste, und wenn vielleicht auch 
das Naglersche Bruchstück von der Manessischen Handschrift 
abhängig ist, so ist doch der Grabstein für sich eigens zu 
betrachten. Aber interessant wird das Verhältnis vor allem 
dadurch, daß auf einem Siegel Rudolfs v. Strätlingen, Herrn zu 
Wimmis von 1259 ebenfalls auf diese Wappenbilder Bezug 
genommen wird. Doch enthält hier der Schild außer dem 


P Fa tå 


: À t ; d 
Me IE rn oe 
U Tr 





Tafel II. Herr Jakob v. d. Warte im Bad. 
(Miniatur der Manesseschen Liederhandschrift Heidelberg.) 
(Zu Reitzenstein: Einflüsse.) 





“ 2 
vos 


v. Reitzenstein: Einflüsse des Minnedienstes auf die deutsche Heraldik 425 


Stral noch drei Rosen, so daß deutlich bewiesen ist, wie all- 
mählich ein Minnewappen in ein wirkliches, erbliches überging. 
(Abb. 19 und 20.) Ebenso deutlich ist ein Wappen, das wir 
Gelre’s Wappenbuch entnehmen. Es ist den Herrn von 
Graestoc (und zwar Fritz William Lord of Greystock, } 1358), 
eigen. Deutlicher als hier könnte die Herkunft nicht aus- 
gedrückt werden. Der gestreifte Schild ist vielleicht das ur- 
sprüngliche Bild, das dann während der Minnezeit mit Schapeln 
belegt wurde. Daß diese aber nicht von ungefähr hierher ge- 
setzt wurden, zeigt die mächtige rote Flamme, die an Stelle 
des Kleinodes aus einer goldenen Krone emporlodert. Sie ist 
von jeher ein Bild der verzehrenden Leidenschaft der Liebe 
gewesen. (Abb. 21) Ein echtes Minnewappen ist auch Nr. 245 
der Züricher Wappenrolle. Wir sehen ein Rad, von jeher ein 
Bild des Glückes, halb rot, halb grün, mit roten Rosen belegt, 
worin deutlich die Hoffnung auf eine glückliche Liebe aus- 
gesprochen liegt. (Abb. 22.) Rosen und ähnliche Gegenstände 
werden als Minneabzeichen oft einem bestehenden Wappen 
beigefügt und vererben sich dann. Gewiß sind die Rosen, mit 
denen das Wappen der Kämrer belegt ist, ursprünglich nicht 
dagewesen, da auch ohne sie das Wappen ein vollständiges 
ist. Dasselbe wird wohl auch von Nr. 142, dem Wappen des 





Gütingen, wo ein mit Rosen belegter Bischofshut das Helm- 
kleinod bildet, was gewiß nicht ursprünglich ist, der Fall ge- 
wesen sein. (Tafel Ill, 20.) Zu diesen Minneabzeichen, die zum 


wirklichen Wappen hinzutreten, gehören in erster Linie die 
28 


426 Weil: Der Einfluß des Klimas auf die Geschlechtsdifferenzierung 


Frauenbüsten, als zweites Kleinod neben dem ursprünglichen 
am Helm angebracht. Der Ritter will das Bild seiner Dame an 
bevorzugtem Platz mit sich tragen. So 295. Das eigentliche 
Kleinod ist der Flügel, wie aus dem Schildbild hervorgeht. 
Der Frauenkopf ist nur dazwischen geschoben, ebenso ist es 
bei 275 und bei 64 der Zürcher Wappenrolle.e Ob auch in 
Nr. 265 derartige Beziehungen zu finden sind, ist fraglich, ja 
sogar wenig wahrscheinlich (Abb. 23 und 24). 

Auch in den fliegenden Binden, die in späterer Zeit, be- 
sonders bei Tyroler Wappen um die Kleinodien geschlungen, 
auftreten, scheinen Nachklänge von Minneabzeichen zu 
stecken (Abb. 25). Sie wurden in vielen Fällen auch erblich 
verliehen, so beim Wappen der Annenberg. 

Damit sind wir am Ende unserer Betrachtung angelangt, 
es war ein weites Gebiet, das wir durchwandert haben; jene 
Menschen sind alle dahin gegangen, aber die Liebe, die das 
Motiv ihrer Handlungsweise war, sie dauert fort. Noch treibt 
sie in gleicher Weise im Lebenslenze jedes Menschen ihre 
schönsten Blüten, noch zieht sie mächtig durch der Dichtung 
edelste Werke, noch haucht sie der Kunst ein frisches Leben 
ein, und wie wir heute zurückblickten auf die frohesten 
Stunden im Leben unserer Vorfahren, so blickt gar mancher 
mit ergrautem Scheitel mit Freude zurück auf die frohen 
Stunden seiner ersten Liebe, und wie wir heute über so 
manche Handlungsweise unserer Väter lächeln, die ihnen die 
Liebe eingegeben hat, so mag vielleicht auch manchmal einer 
lächeln, wenn er der eigenen Jugendzeit gedenkt. 

IK 


DER EINFLUSS DES KLIMAS AUF DIE 
GESCHLECHTSDIFFERENZIERUNG,. 

Von Dr. ARTHUR WEIL, Berlin. 
Abteilungs-Vorstand am Institut für Sexualwissenschaft, Berlin. 
Ey immer weiter fortschreitende Erforschung des Einflusses 

der Drüsen mit innerer Sekretion auf den Körperbau, 
das Triebleben, ja auf die gesamte seelische Tätigkeit hat 
uns heute zu der Erkenntnis geführt, daß der Unterschied 
zwischen den beiden Geschlechtern hauptsächlich von den 
männlichen und weiblichen Keimdrüsen abhängig ist. Die 
Verschiedenheiten im Skelett, in der Behaarung, der Stimme, 
in der Triebrichtung treten erst in der Pubertät, der beginnenden 


Weil: Der Einfluß des Klimas auf die Geschlechtsdifferenzierung 427 


Reifung der Hoden und Eierstöcke, auf; ihre operative Ent- 
fernung vor dieser Zeit bewirkt, daß die Geschlechtsunterschiede 
überhaupt nicht zur weiteren Ausbildung gelangen, daß ein 
ungeschlechtlicher Typus, der Kastrat, entsteht. Umgekehrt 
wird bei frühzeitiger Entwicklung der Keimdrüsen auch die 
geschlechtliche Reife beschleunigt; Beispiele hierfür finden wir 
in großer Anzahl in der medizinischen Literatur vor, Fälle von 
6—9jährigen Knaben und Mädchen, die in der Behaarung, der 
Entwicklung ihres Genitale und ihres Geschlechtstriebes auf 
der Stufe von 18—20jährigen standen, und deren Keimdrüsen, 
übermäßig schnell entwickelt waren. — In unseren mittel- 
europäischen Breiten fällt die Zeit der Mannbarkeit für Knaben 
etwa in das 14.—16,., für Mädchen in das 13.—15. Lebensjahr, 
so daß die letzteren schneller die geschlechtliche Differenzierung 
der Körperformen erkennen lassen. — Wir wissen aber schon 
aus den Schilderungen älterer Forscher, daß in heißeren Klimaten 
diese Reife bedeutend früher einsetzt und in den Äquator- 
gegenden der Menstruationsbeginn für Mädchen in das 9. bis 
11. Lebensjahr fällt. 

Nach unseren theoretischen Voraussetzungen müssen wir 
annehmen, daß diese früher einsetzende Pubertät durch eine 
schnellere Reife der Keimdrüsen bedingt sein muß. Die Ab- 
hängigkeit der Drüsen mit innerer Sekretion von der Temperatur 
der Umgebung konnte L. Adler an winterschlafenden Tieren, 
Fledermäusen und Igeln, nachweisen, deren Schilddrüse während 
der kalten Jahreszeit ihre Tätigkeit stark einschränkt, um bei 
Erhöhung der Außentemperatur ihre Sekretion wieder auf- 
zunehmen, was im mikroskopischen Bilde an der Veränderung 
der Drüsenzellen und ihres Sekretes nachgewiesen werden kann. 
Ferner konnte er zeigen, daß bei jungen Froschlarven, die bei 
abnorm hohen Temperaturen aufgezogen waren (28 Grad), 
eine Verkümmerung der Schilddrüse eintrat als Ausdruck der 
verminderten Wärmeerzeugung, während bei Kältetieren 
(10 Grad) große Drüsen gefunden wurden, deren Zellen stark 
gewuchert waren, ein Beweis für die erhöhte Zelltätigkeit und 
damit für eine Steigerung des Stoffumsatzes in dem tierischen 
Organismus, welche die vermehrte Wärmeabgabe wieder aus- 
gleichen sollte. — Mit der Schilddrüse stehen die Keimdrüsen 
und eine andere innersekretorische Drüse, der Hirnanhang, die 
Hypophyse, in engstem Zusammenhange; ihre Vergrößerung 

28* 


428 Weil: Der Einfluß des Klimas auf die Geschlechtsdifferenzierung 


bedingt nach Livinton und Degener eine Verkleinerung der 
letzteren und nach anderen auch eine Hemmung der Keim- 
drüsentätigkeit. — Den direkten Beweis für die Abhängigkeit 
der geschlechtlichen Entwicklung von der Außentemperatur 
konnten Steinach und Kammerer in Versuchen an Ratten er- 
bringen, die bei einer Temperatur von 35 Grad mehrere Monate 
lang aufgezogen wurden. Die Keimdrüsen dieser Versuchstiere 
zeigten im Vergleich zu den Organen von Ratten, die in un- 
geheizten Ställen gehalten waren, eine starke Vermehrung des 
spezifischen Gewebes (Zwischenzellen, Pubertätsdrüse); ihr 
Genitale, Samenblase, Vorsteherdrüse, Penis des Männchen, 
Eileiter und Uterus der Weibchen zeigten eine vorzeitige Ent- 
wicklung gegenüber den normalen gleichaltrigen Kontrollen, 
und der Geschlechtstrieb erwachte bei solchen „Hitzeratten“ 
einen vollen Monat früher als bei ihren Geschwistern. — Der 
Unterschied in der Körpergröße und im Gewicht, der bei 
normalen Ratten mit der fortschreitenden Entwicklung immer 
deutlicher wird, ist bei diesen Hitzetieren verwischt; bei fünf 
Monate alten Versuchstieren betrugen die Gewichtsunterschiede 
zwischen Männchen und Weibchen nur 5—7 g gegen 29 g 
normaler Ratten. Eine Erklärung hierfür gibt uns auch wieder 
die schnelle Reife der Keimdrüsen; sie beeinflussen schon 
normaler Weise das Knochenwachstum so, daß durch Ver- 
knöcherung der Wachstumszone der Knochen das Längenwachhs- 
tum mit fortschreitender Geschlechtsreife zum Stillstand kommt; 
entsprechend der schnelleren Entwicklung der weiblichen Drüse 
ist auch das Wachstum des weiblichen Geschlechts schon zu 
einer Zeit abgeschlossen, wo das männliche Skelett noch weiter 
wächst, so daß später die Männer die Frauen an Körperlänge 
überragen. Parallel hiermit geht auch eine schnellere Ent- 
wicklung der übrigen Geschlechtsmerkmale, so daß die Dif- 
ferenzierung des kindlichen Körpers in den männlichen und 
weiblichen nicht so ausgesprochen ist wie es bei langsamerer 
Reife der Fall gewesen wäre. 

Diese im Tierversuch gefundenen Ergebnisse erklären uns 
auch den schon lange bekannten Einfluß der Außentemperatur 
auf die Geschlechtsdifferenzierung des Menschen. Durch eine 
umfassende Literaturzusammenstellung haben die beiden Forscher 
den Beweis geführt, daß auch die Ausbildung der menschlichen 
Geschlechtscharaktere vom Klima abhängig ist. Bei den Völkern 


Weil: Der Einfluß des Klimas auf die Geschlechtsdifferenzierung 429 


tropischer Gegenden sind die Geschlechtsunterschiede in der 
Körperlänge fast ausgeglichen, und die Mädchen sind in den 
Wachstumsjahren den Knaben stets voraus, im Gegensatz zu 
nördlichen Breiten, wo die letzteren nach dem 15. Lebensjahre 
diesen Vorsprung wieder einholen: in der Gesamtlänge über- 
ragen die Europäer stets die Völker der Äquatorialgegenden. — 
Ein weiteres Geschlechtsmerkmal, der Unterschied in der 
Körperbehaarung, ist ebenfalls in heißen Gegenden verwischt; 
Bartbildung gehört bei den farbigen Negerrassen zu den Aus- 
nahmen, und auch die übrigen Körperhaare sind nur spärlich 
entwickelt, während bei Männern und Weibern kälterer Klimate 
die Anordnung der Schamhaare, der Unterschied in der Körper- 
und Kopfbehaarung Mann und Weib streng von einander 
scheidet. — Ähnlich wie bei den Hitzetieren sind dagegen die 
äußeren Geschlechtsteile stark entwickelt: der Penis der Männer 
und die Schamlippen der Frauen in Aquatorialgegenden sind 
bedeutend größer als die von Europäern (Hottentottenschürzen); 
dagegen ist die Entwicklung der Brüste bei Negervölkern kein 
so spezifisches Geschlechtsmerkmal; bei Männern findet man 
oft stark entwickelte Milchdrüsen, die bei den Negerweibern 
wieder schnell verfallen, so daß auch hier keine ausgesprochenen 
Differenzierungen bestehen. 

Ich erwähnte schon, daß die gesamte Geschlechtsreife in 
heißen Klimaten bedeutend früher einsetzt als in nordischen 
Ländern. Bei Mädchen ist das äußerlich sichtbare Zeichen 
hierfür die beginnende Menstruation, die schon nach den alten 
Berichten Albrecht von Hallers mit zunehmender Breite immer 
später einsetzt, so daß sie bei Lappländern und Samojeden 
erst im 20. Lebensjahre beginnt, bei Javanerinnen dagegen 
bereits im 9. Jahre. Außer der geographischen Breite spielen 
hierbei die Höhe über dem Meeresspiegel, die durchschnittliche 
Luftfeuchtigkeit und andere Faktoren eine große Rolle. Dagegen 
scheint der Menstruationsbeginn unabhängig von der Rasse und 
Vererbung zu sein, da Kinder von Europäerinnen, die in wärmere 
Gegenden ausgewandert waren, ebenso früh menstruierten wie 
die Mädchen der Eingeborenen. — Bei Knaben tritt der Ge- 
schlechtstrieb in wärmeren Klimaten ebenfalls früher auf als 
in nördlichen Breiten; bekannt ist auch die Zunahme der Potenz 
von Europäern, die in heiße Kolonien versetzt werden. — 
Entsprechend der früh einsetzenden körperlichen Reife tritt in 


430 Fehlinger: Gesellschaftliche Fortpflanzungspflege 


warmen Klimaten aber auch wieder ein früheres Altern ein; so 
ist die Indierin meist schon mit 30 Jahren zeugungsunfähig, 
die Abessinierin angeblich in einzelnen Fällen schon mit 20 Jahren. 
Die Fruchtbarkeit selbst scheint von einer günstigen mittleren 
Temperatur abhängig zu sein, da in abnorm heißen Äquatorial- 
gegenden und im hohen Norden weniger Kinder im Durchschnitt 
von einer Frau geboren werden als in mittleren Breiten. 

Alle diese Beispiele zeigen uns die Abhängigkeit der 
Geschlechtscharaktere von der Temperatur der Umgebung. — 
Früher suchte man diese Beschleunigung der Reife entsprechend 
den damaligen theoretischen Anschauungen über die Regelung 
der Lebenstätigkeit durch gesteigerte nervöse Erregbarkeit und 
erhöhten Stoffwechsel zu erklären; heute wissen wir, gestützt 
auf experimentale Befunde an Tieren, daß die schnelle Ent- 
wicklung der Keimdrüsen in heißen Klimaten die Ursache dafür 
ist, daß die überstürzte Reifung die körperlichen Geschlechts- 
unterschiede bei den Völkern tropischer Gegenden nicht so zur 
vollkommenen Ausbildung gelangen läßt, wie es bei den lang- 
samer reifenden Völkern des Nordens der Fall ist. 


DIR 


GESELLSCHAFTLICHE FORTPFLANZUNGSPFLEGE. 
Von H. FEHLINGER. 
D! erbliche Veranlagung der Menschen, die eine Lebens- 
gemeinschaft bilden, işt für deren Schicksale von aller- 
‚ größter Bedeutung. Wo viele körperliche und geistige Kraft 
vorhanden ist, werden bessere Zustände herrschen als dort, 
wo Schwäche überwiegt, wo eine große Zahl von Menschen 
der Hilfe anderer bedarf. Die Erhaltung und Fortentwicklung 
der Kultur hängt ebenso wie das körperliche Wohlbefinden 
von der Erbveranlagung ab. Wohl werden die Kulturgüter im 
wesentlichen von Geschlecht zu Geschlecht überliefert, aber es 
wirkt doch jedes Geschlecht in gewissem Maße gestaltend an 
diesem Überlieferungsgut, das nur dann in seinem Reichtum 
erhalten werden kann, wenn die geistige Befähigung der Nach- 
kommen nicht geringer ist als die der Vorfahren. 

Die Aufnahme und Verwertung der sich häufenden 
Traditionsgüter hat eine Grenze an den geistigen Anlagen der 
Menschen. Wo die steigenden Anforderungen des Kulturlebens 
an die Völker nicht von einer Höherentwicklung der stärker 


Fehlinger: Gesellschaftliche Fortpflanzungspflege 431 


beanspruchten geistigen Erbanlagen begleitet sind, oder wo 
statt dessen gar ein Rückgang der durchschnittlichen Tüchtig- 
keit dieser Anlagen stattfindet, da müssen die gegebenen 
Kräfte in zunehmendem Maße angespannt werden, an die 
Stelle der mäßigen Anstrengung der geistigen Fähigkeiten tritt 
eine stärkere. Diese Anspannung hat aber ebenfalls eine Grenze, 
die nur auf Kosten der Lebensfreudigkeit überschritten werden 
kann. Durch zweckmäßige Nutzung der vorhandenen Fähig- 
keiten, durch Einziehung, kann viel erreicht werden; eine 
Steigerung der Fähigkeiten selbst aber hat Verbesserung der 
Erbanlagen zur Voraussetzung. Es entzieht sich unserer Be- 
urteilung, ob eine solche in geschichtlicher Zeit stattfand. 
Wilh. Schallmeyer hielt es nicht einmal für ausgeschlossen, 
daß der Durchschnitt der ererbten geistigen Veranlagung der 
europäischen Kulturvölker unter dem ihrer wilden Vorfahren 
steht und daß auch die besonders guten geistigen An- 
lagenverbindungen, aus denen sich heute bei geeigneter Er- 
ziehung die erfindungsreichsten Köpfe entwickeln, bei unseren 
unzivilisierten Vorfahren im Verhältnis nicht seltener waren 
als heute; es fehlten nur damals die Bedingungen zur Wertung 
der Anlagen. Der Wechsel von Hunger und Überfluß, Mangel 
an Schutz gegen Unbilden der Witterung, gesundheits- 
schädigende Lebensweise usw. haben diese Wertung gehemmt, 
aber sie ist in vollem Maße auch nur dort möglich, wo durch 
schrittweise Kulturarbeit, Häufung von Erkenntnissen usw. die 
erforderliche Vorarbeit geleistet wurde.*) 

Die Frage ist, ob über die zweckmäßige Wertung der 
innerhalb einer Lebensgemeinschaft vorhandenen Erbanlagen 
hinaus eine Verbesserung derselben erreichbar ist, ob wir 
zu höheren Lebensmöglichkeiten kommen können, Jedenfalls 
dürfen wir auf willkürliche Maßregeln, die hierauf zu richten 
wären, keine allzugroßen Hoffnungen setzen, denn eine auf 
Steigerung gewisser Eigenschaften gerichtete künstliche 
Zuchtwahl ist doch beim Menschen nicht gut durchzuführen, 
ohne zugleich wesentlichen Bestandteilen unseres Menschen- 
tums ein Ende zu bereiten. Man muß Kurt Goldstein zu- 
stimmen**): „Viel mehr dürfte zu erreichen sein, wenn wir die 
Anlage als konstant annehmen und das Verhältnis zum Milieu 


*) Schallmeyer W., Vererbung und Auslese, 3. Aufl.. S. 225. 
+*+) Goldstein K., Über Rassenhygiene, S. 83, Berlin 1913. 


432 Fehlinger: Gesellschaftliche Fortpflanzungspflege 


umzugestalten suchen und für die günstigsten Anpassungs- 
verhältnisse Sorge tragen. Diese werden aber dann gegeben 
sein, wenn wir nicht nur äußerlich existenzfähig sind, sondern 
wenn wir auch gleichzeitig die Entfaltungsmöglichkeit für alle 
in uns wohnenden körperlichen wie seelischen Kräfte haben.“ 

Von praktischer Bedeutung sind jene Bestrebungen, die 
auf Beseitigung gewisser erblicher Eigenarten abzielen, die als 
schädlich gelten. Das Mittel dazu soll zielbewußte Fort- 
pflanzungshygiene sein, welche die mit den Anlagen zu den 
nicht geschätzten Eigenarten behafteten Personen von der 
Zeugung von Nachkommenschaft ausschließt. 

Eine ziemlich weitgehende hierauf bezügliche Gesetzgebung 
besteht in den Vereinigten Staaten von Amerika. 
Dort wurde zuerst die Beeinflussung der Bevölkerung durch 
Gesetze zur Beschränkung der Eheschließung erstrebt. Geistes- 
kranke und Schwachsinnige sind in mehr als 30 amerikanischen 
Bundesstaaten von der Verehelichung ausgeschlossen, Ehe- 
verbote anderer Art haben überdies die Staaten Alabama, 
Connecticut, Kansas, Indiana, Michigan, Minnesota, New Jersey, 
New York, Ohio, Utah, Vermont, Washington, Wisconsin, 
Pennsylvanien, Nord-Dakota, Oregon. Sie erstrecken sich 
hauptsächlich auf Epileptiker, Geschlechtskranke, der öffent- 
lichen Wohltätigkeit zur Last fallende Personen und auf 
Alkoholiker, in einigen Fällen auch auf Personen, die an 
übertragbaren Krankheiten leiden (einschließlich Tuberkulose) 
und auf Gewohnheitsverbrecher. Zur Durchführung dieser 
Gesetze ist bisher wenig unternommen worden, man läßt 
zumeist jeden heiraten, der will. Nur in den Staaten Alabama, 
Nord-Dakota, Oregon und Wisconsin, muß sich jeder Bräutigam 
vor der Eheschließung daraufhin untersuchen lassen, ob er 
geschlechtskrank ist.*) In letzter Zeit wurde aber das Haupt- 
gewicht auf mehr wirksame Mittel gelegt, nämlich die Ab- 
sonderung gewisser Personenkreise in Anstalten und 
deren Unfruchtbarmachung beim Verlassen der Anstalten. 
Gesetze liber Unfruchtbarmachung von Verbrechern, Geistes- 
kranken usw. wurden bisher in 15 von den 48 Unionstaaten 
erlassen. In jenen Staaten, wo man die Unfruchtbarmachung 
aus Gründen der Rassezucht und nicht als Strafmaßnahme 


*) Roloff, B. C.: The Eugenic Marriage Laws. „Social Hygiene“, 
1920, S. 227 u. f. 


Fehlinger: Gesellschaftliche Fortpflanzungspflege 433 


verfügte, wurden die betreffenden Gesetze in Berufungsfällen 
von den Staatsgerichten stets als verfassungswidrig erklärt. 
Die Entmannung von Gewohnheitsverbrechern und Notzüchtern 
wurde nur deshalb gestattet, weil die Einzelstaatsverfassungen 
„grausame und außergewöhnliche Strafarten“ nicht verbieten. 
Ein derartiges Verbot enthält aber die amerikanische Bundes- 
verfassung und es unterliegt keinem Zweifel, daß die Un- 
giltigkeitserklärung aller Sterilisationsgesetze erfolgt, wenn 
einmal an das oberste Bundesgericht berufen wird. 

Die Wirksamkeit der Sterilisationsgesetze erstreckt sich 
teils auf alle Personen, teils auf gewisse Kategorien von Per- 
sonen, die in Gefängnissen und anderen Staatsanstalten für 
antisoziale Elemente untergebracht sind. Unfruchtbar gemacht 
werden können: 1. In Indiana alle von drei Ärzten als körper- 
lich und geistig unverbesserlich und zur Fortpflanzung un- 
geeignet befundenen Anstaltsinsassen. 2, In Washington 
Gewohnheitsverbrecher sowie wegen geschlechtlichen Miß- 
brauchs weniger als zehnjähriger Mädchen oder wegen Not- 
zucht verurteilte Personen. 3. In Californien alle mit erblichen 
Geisteskrankheiten behafteten Personen, Schwachsinnige, sexuell 
Perverse, von normaler Mentalitäterheblich abweichende Personen 
und Syphiliker. 4. In Connecticut alle Insassen der Staatsgefäng- 
nisse und Staatshospitäler. 5. In Nevada dieselben Personen wie 
in Washington. 6. In Iowa Schwachsinnige, Kretinen, Geistes- 
kranke, Syphilitiker. 7. In New Jersey Notzüchter und un- 
verbesserliche Verbrecher. 8. In New York die Insassen von 
Staatsirrenanstalten, Staatsgefängnissen, Besserungs- und 
Wohltätigkeitsanstalten und Notzüchter. 9. In Nord-Dakota 
die Insassen von Staatsgefängnissen, Besserungsanstalten, 
Anstalten für Schwachsinnige und Geisteskranke. 10. In 
Michigan die Insassen aller Anstalten, die ganz oder teilweise 
aus Öffentlichen Mitteln unterhalten werden. 11. In Kansas 
die Insassen aller Anstalten für Geisteskranke, Epileptiker und 
Schwachsinnige und der Besserungsanstalten für Mädchen. 
12. Wisconsin die Insassen von Staats- und Bezirksanstalten 
für verbrecherische Geisteskranke, Schwachsinnige und Epi- 
leptiker. 13. In Nebraska die schwachsinnigen oder geistes- 
kranken Insassen öffentlicher Anstalten. 14. In Oregon 
Schwachsinnige, Geisteskranke, Epileptiker, Gewohnheits- 
verbrecher, sittlich Entartete, sexuell Perverse. 15. In Süd- 
dakota Insassen der Staatsanstalt für Schwachsinnige. 


434 Fehlinger: Gesellschaftliche Fortpflanzungspflege 


Die Tatsache der Unterbringung in einer der genannten 
Anstalten berechtigt noch nicht zur Vornahme der Unfruchtbar- 
machung; es ist dazu erforderlich die Zustimmung der leitenden 
Ausschüsse der Anstalten, medizinischer Sachverständigen- 
kollegien usw. In Californien und Norddakota kann jedoch 
die Sterilisation auf Anordnung einzelner ärztlicher Anstalts- 
beamter durchgeführt werden. In diesen Fällen werden selbst- 
verständlich Willkürakte am meisten zu befürchten sein. 

In fünf Staaten (Connecticut, Iowa, Michigan, Kansas und 
Süddakota) ist in den Sterilisationsgesetzen die Art der 
Operation, die auszuführen ist, vorgeschrieben, und zwar beim 
Manne Zerschneidung der Samenleiter (Vasectomie), bei der 
Frau Zerschneidung der Eileiter oder Ausschneiden der Eier- 
stöcke (Salpingectomie); die letzterwähnte Operation ist in 
Connecticut und Kansas vorgeschrieben. In den anderen 
Staaten bestimmen die Gesetze, daß irgendeine Operation zur 
Unfruchtbarmachung auszuführen sei, oder daß die Behörde, 
welcher die Ausführung des Gesetzes obliegt, auch über die 
Art der Operation zu entscheiden hat. 

Eine Wirkung auf die allgemeine Erbveranlagung der 
Bevölkerung hatten die bisher in Amerika vorgenommenen 
Sterilisation ebensowenig wie eine Wirkung auf die sozialen 
Zustände. Tiefgreifend müßten die Folgen sein, wenn das in 
den Schriften der amerikanischen Eugeniker dargelegte Pro- 
gramm verwirklicht würde; es brauchte nicht einmal in vollem 
Umfange verwirklicht werden. Von dieser Seite wird ein 
Mustergesetz vorgeschlagen, wonach alle Personen mit ent- 
arteten oder mangelhaften erblichen Anlagen, die Eltern sozial 
unzulänglicher Nachkommen abgeben können, durch chirurgische 
Eingriffe zeugungsunfähig gemacht werden sollen, auch solche, 
die nicht mit den Gesetzen in Konflikt kamen oder der Öffent- 
lichkeit zur Last fielen.*) Dieser Gesetzentwurf ist ein 
Musterbeispiel dafür, wohin menschheitsbeglückerische Wahn- 
ideen führen können. Das Ziel, das er erstrebt, schwebt nicht 
etwa bloß einem kleinen Häuflein vereinsamter weltfremder 
Leute vor, sondern die Anhängerschaft der eugenischen Be- 
wegung ist in Amerika ziemlich groß. Auch in Europa wird 
vielfach empfohlen, denselben Weg zu gehen, den man in 


*) Wir folgen dem Wortlaut des betr. Gesetzentwurfs in „Social 
Hygiene“, Bd, 6, S. 519 u. f. 


Fehlinger: Gesellschaftliche Fortpflanzungspflege 435 


Amerika bereits einschlägt, und die Befürchtung ist wohl be- 
gründet, daß das amerikanische Beispiel tatsächlich Nach- 
ahmung finden könnte, umsomehr als die unsichere psychische 
Verfassung nach dem Kriege für die Ausführung von allerhand 
Versuchen günstig ist. Die Durchführung eines Programmes, 
wie desjenigen der amerikanischen Eugeniker, bedeutet aber 
nichts weniger als künstliche Zuchtwahl durch Beamte der 
Staatsverwaltung, die weit schlimmere Gefahren in sich birgt 
als die sind, welche zu bannen gesucht werden. Die staatliche 
Zuchtwahl würde zweifellos eine Einschränkung des Variations- 
bereiches der ihr ausgesetzten Lebensgemeinschaft zur Folge 
haben, es würde alles Ungewöhnliche verschwinden gemacht, 
bis der obrigkeitlich beliebte Normaltypus des Menschen er- 
reicht ist. Man vergesse nicht, daß jeglicher Fortschritt auf 
dem Auftreten abnormer geistiger Varianten beruht. Gewiß 
würden die staatlichen Zuchtwahlbehörden nicht jene Ab- 
weichungen beseitigen wollen, die sie als zweckdienlich an- 
erkennen; aber es ist sehr zu befürchten, daß Kraut und 
Unkraut gleichermaßen ausgerottet würden, daß nur allzuleicht 
das Anderssein auch dem Genie zum Verhängnis werden könnte. 

Fragen wir einmal, worin denn eigentlich die Gefahr der 
Entartung besteht, der man in Amerika durch Massenunfruchtbar- 
machung begegnen will. Als Entartungsmerkmale gelten solche 
erbliche Eigenschaften, welche den Bestand der Art unter 
den gegebenen Lebensbedingungen gefährden; Per- 
sonen mit derartigen Eigenschaften sind der Umwelt nicht 
gut angepaßt. Das Leben zu gefährden geeignet sind gewisse 
Mangelhaftigkeiten der Körperbildung. So ist es sicher, daß 
z. B. Anomalien der Form des Brustkorbes erblich sind und 
daß namentlich Engbrüstigkeit und Rundrücken das Auftreten 
der Tuberkulose begünstigen. (J. Paulsen, Archiv für Rassen- 
und Gesellschaftsbiologie, XII, 10—31). Der Infektion mit 
Tuberkuloseerregern sind fast alle Menschen ausgesetzt, aber 
die Erkrankung befällt nicht alle, sondern hauptsächlich die 
engbrüstigen. Thorax asthenicus und Rundrücken werden in 
Mendel’scher Art dominant vererbt, -d. h. nur jene Personen, 
bei denen die Anomalien sichtbar sind, können sie auf die 
Nachkommenschaft vererben (wogegen bei rezessiver Erblich- 
keit auch Anlagen, die eine Person von den Vorfahren erbte, 
ohne daß dieselben bei ihr ausgebildet wurden, auf die Nach- 


436 Fehlinger: Gesellschaftliche Fortpflanzungspflege 


kommen übertragen werden können). Der Überhandnahme 
von Brustkorbanomalien wird jedoch dadurch entgegengewirkt, 
daß die Behafteten gegen krankmachende Einflüsse, namentlich 
gegen Tuberkuloseerreger, weit weniger widerstandsfähig sind 
als normale Menschen, sodaß sie zu einem großen Teil vor 
der Fortpflanzung sterben. 

Dem normalen Ablauf des Lebens nicht sehr gefährlich 
sind Verbiegungen der Nasenscheidewand und andere un- 
gewöhnliche Bildungen der Nase, die Erkältungskrankheiten 
begünstigen. 

Mangelhafte Funktion der Drüsen mit innerer Abscheidung 
ist eine viel häufigere Krankheitsursache als man bisher annahm 
und es ist wahrscheinlich, daß solche funktionelle Mängel 
durchweg erblich übertragen werden. Doch ist die Forschung 
auf diesem Gebiet über Anfänge noch nicht hinausgekommen. 
Wir wissen beispielsweise, daß Diabetes, die so manchem 
Leben ein vorzeitiges Ende bereitet, infolge einer Hypersekretion 
von Zucker aus der Leber entsteht, ebenso infolge einer Aus- 
schaltung der Funktion der Pankreasdrüse. Die Bluterkrankheit 
ist auf einen Überschuß von Anthithrombin zurückzuführen, 
eines Abscheidungsproduktes der Leber. Ungenügende innere 
Abscheidung der Nebennieren hat vermutlich die Addison’sche 
Krankheit und andere Störungen zur Folge. Anomalien der 
Schilddrüse geben Anlaß zu Kretinismus und Myxöden, Ent- 
artungserscheinungen gefährlichster Ar. Die Folge von 
Anomalien der inneren Abscheidung der Geschlechtsdrüsen 
sind Infantilismus, Androgynie, Perversion und andere Ab- 
weichungen von normaler Körper- und Geistesbildung. 

Kurzsichtigkeit, Blindheit. und Taubheit sind Folgen von 
Bildungsmängeln der Sinnesorgane. In unserem Kulturkreis 
werden sie den Betroffenen selten verderblich und selbst bei 
Naturvölkern ermöglicht gegenseitige Hilfe vielen dieser Ent- 
arteten das Weiterleben und die Fortpflanzung. 

Ob Krankheiten der Blutkreislauforgane, der Verdauungs- 
organe usw. häufig auf angeborner Mißbildung beruhen, 
die vererbt wird, ist bisher nicht festgestellt worden; doch 
ist es wahrscheinlich. Mißbildungen des Knochen- und 
Muskelsystems werden verhältnismäßig selten beobachtet. 
Schwere Knochenmißbildungen bedingen fast stets Lebens- 
unfähigkeit. Leichte Knochenmißbildungen dagegen beein- 


Fehlinger: Gesellschaftliche Fortpflanzungspflege 437 


trächtigen gewöhnlich weder das persönliche Leben noch die 
Fortpflanzung. Einen Hinweis darauf, wie schwere Knochen- 
entartung entsteht, gaben jüngst die amerikanischen Biologen 
Mohr und Wiedt (Veröffentlichungen des Carnegie-Instituts zu 
Washington, Nr. 295). Sie verfolgten Kurzfingrigkeit durch 
sechs Generationen einer Familie. Mit Ausnahme eines Falles 
heirateten die anormalen immer normale Personen. In dem 
einen Fall, wo die Anlage zu der gleichen Mißbildung von 
beiden elterlichen Seiten her zusammentraf, ergab sich bei dem 
einzigen Kind dieser Ehe nicht die übliche Verkürzung eines 
Fingergliedes, sondern weitgehende Krüppelhaftigkeit, welche 
die Lebensfähigkeit aufhob.*) 

Von Tuberkulose abgesehen, sind die meisten wichtigen 
Todesursachen nicht Folgen von entarteter Leibesbildung, 
sondern Folgen der alltäglichen zufälligen Lebensgefährdungen, 
die nichts mit schlechter erblicher Veranlagung zu tun haben. 

Die Fortpflanzungsfähigkeit zu beeinträchtigen vermögen 
die verhältnismäßig seltenen anomalen Bildungen der Sexual- 
organe, sowie Tripper und Syphilis. Über die großen Gefahren, 
die letztere mit sich bringen, wurde in Heft 3 des laufenden 
Jahrganges geschrieben. Nicht entsprechende innere Abscheidung 
der Ovarien und Testikel führt gewiß in einer ansehnlichen 
Zahl von Fällen zu Fortpflanzungsunfähigkeit. Ferner kann 
Beckenenge der Frau sowohl das Leben wie die Fortpflanzung in 
Frage stellen. Schwere körperliche und geistige Abnormitäten 
bewirken in der Regel — leider nicht immer — daß die be- 
haftete Person keinen ehelichen Partner findet und von der 
Fortpflanzung ausgeschlossen bleibt. 


Das sind die Tatsachen der Entartung. Aus den Schriften 
der amerikanischen Eugeniker und ihrer europäischen Ge- 
sinnungsfreunde geht aber ganz deutlich hervor, daß sie gar 
nicht die Absicht haben, sich hauptsächlich gegen die hier 
gekennzeichneten Entartungserscheinungen zu wenden, sondern 
ihr Kampf gilt ganz zweifellos in erster Linie den sittlich 
Minderwertigen — wie sie sagen, wobei sie vor allem an 
Menschen denken, deren sexuelle Wünsche oder Äußerungen 
nicht dem entsprechen, was sie selbst als das Gute betrachten. 
Dazu kommen noch mancherlei solche Menschen, die anderen 


*) Tierexperimente weisen in gleicher Richtung. 


AL mn an m u nn 


438 Fehlinger: Gesellschaftliche Fortpflanzungspflege 


sozialen Normen nicht entsprechen. Man will in Amerika 
allen Ernstes jeden außerehelichen sexuellen Verkehr zum 
Verbrechen stempeln und die „Missetäter“ mit den schwersten 
Strafen treffen. Eine davon soll die Unfruchtbarmachung sein. 
Diese Sinnesart ist ein Ausfluß des alten Puritanismus, der in 
jüngster Zeit wieder viel stärker zur Geltung kam, als im 
19. Jahrhundert, der die „Trockenlegung“ der Vereinigten 
Staaten bereits als Erfolg verzeichnen kann und die absolute 
Sonntagsheiligung bald erreicht haben wird. Die nächste 
Forderung ist dann die radikale Unterdrückung aller außer- 
ehelichen sexuellen Beziehungen. 

Aber sehen wir von diesen durch religiöse Verblendung 
verursachten lebensfeindlichen Tendenzen in Amerika ab und 
fragen wir, ob die Sterilisation überhaupt das Mittel ist, um 
einen erfolgreichen Kampf gegen die Entartung zu führen. Wie 
schon vorhin gesagt, ist es ein gefährliches Ding, Beamten des 
Staates oder seiner Unterorgane so weitgehende, das Wohl 
aller Bürger in Frage stellende Befugnisse zu erteilen. Würde 
nicht die Psyche einer großen Zahl fortpflanzungsunfähig ge- 
machter Männer und Frauen alle Massenstimmungen ver- 
hängnisvoll beeinflussen? Werden nicht schwere seelische 
Leiden die gewaltsam entmannten zu furchtbaren Verbrechen 
gegen die Gesellschaft treiben? Werden wir nicht eine 
körperlich und geistig nivellierte Menschheit erzeugen, die in 
ihrer Uniformität keine Möglichkeit zum Glücke hat? Und 
noch viele andere Einwände gibt es. 

Nein, auf diese Weise sollen wir nicht für gesunde 
Nachkommenschaft sorgen! 

Anstatt der Hochzucht wertvoller und der Ausmerzung 
schädlicher Erbanlagen durch staatliche Auslese wird man 
besser geeignete andere Vorschläge fordern müssen. Solche 
sind allerdings nicht leicht zu machen. Aber jenen, die un- 
gestüm staatliches Eingreifen auch auf dem Gebiete verlangen, 
muß entgegengehalten werden, daß die Gefahren, die der 
Kulturmenschheit durch Entartung drohen, lange nicht so groß 
sind, als sie gewöhnlich dargestellt werden. De meisten Übel, 
die man unter dem Begriff „Entartung“ zusammenfaßt, beruhen 
nicht auf der Art der erblichen Veranlagung, sondern sie sind 
sozial bedingt. Wären die Menschen des europäischen 
Kulturkreises wirklich in bedeutendem Grade entartet, so hätten 





Fehlinger: Gesellschaftliche Fortpflanzungspflege 439 


sie während des mehr als vierjährigen Weltkrieges nicht die 
körperlichen und geistigen Anspannungen bestehen können, die 
sie bestanden haben. Angehörige von Naturvölkern, die den 
vermeintlich. entarteten Wirkungen der Kultur nicht ausgesetzt 
waren, hätte man in diesem furchtbaren Ringen nicht an unsere 
Stelle setzen können, ohne daß sie recht bald versagt hätten. 
Die Naturvölker sind eben durchaus nicht durch natürliche 
Auslese von allen schädlichen Erbanlagen befreit; im Gegenteil, 
sie sind zumeist mehr mit solchen belastet als die Völker, die 
im Kampf mit einer feindlichen Umwelt erfolgreicher waren 
und damit zu Kulturvölkern wurden. 

Den Naturvölkern sehr zum Nachteil gereichen vielfach die 
bei ihnen bestehenden Heiratsordnungen, welche die persönliche 
geschlechtliche Zuchtwahl bedeutend einschränken oder ganz 
aufheben. Wohl hat sich auch bei uns noch die Standes- und 
Geldehe erhalten, aber trotzdem spielen körperliche und seelische 
Vorzüge eine weit größere Rolle in der Gattenwahl als bei den 
zurückgebliebenen Zweigen der Menschheit. Suchen wir die 
Ehe von Einflüssen frei zu machen, die eigentlich nichts mit 
ihr zu tun haben, so wird es auch zu einer noch besseren 
Zuchtwahl kommen, es werden dann fast stets die an einander 
Angepaßten und damit die Leistungsfähigsten zusammenfinden. 
Wenn die Ehen nicht so häufig wie jetzt körperliche und 
seelische Gegensätze vereinigen, sondern zusammenstimmende 
Menschen, so werden aus ihnen auch viel weniger schwankende 
Charaktere, zwischen Gegensätzen hin und her pendelnde 
Menschen, hervorgehen und die mit Gebrechen Behafteten 
werden von selbst sitzen bleiben, nicht zur Fortpflanzung 
kommen. 

In Bezug auf die Gattenwahl gibt es in unserem Kultur- 
bereiche noch viel zu verbessern, wenn sie dem körperlichen 
und geistigen Fortschritt in hervorragender Weise dienen soll. 
Wie die Dinge liegen, heiraten viele Männer, um ein behag- 
liches Wohlleben zu führen, ja selbst um einer kleinen Mitgift 
willen; andere achten auf die natürlichen Vorzüge des Ehe- 
partners nicht, obwohl sie sich nicht von materiellen Vorteilen 
lenken lassen. Sie folgen in der Befriedigung des Triebes 
noch zu sehr — wie die kulturarmen „Wilden“ — Eingebungen 
des Augenblickes. 

Neben der Verschärfung und Verfeinerung der geschlecht- 


440 Fehlinger: Gesellschaftliche Fortpflanzungspflege 


lichen Auslese wird die Aufklärung möglichst breiter Volks- 
massen über die Gefahren der Vererbung von Mißbildungen, 
die das Fortkommen der damit behafteten Personen ohne 
fremde Hilfe erschweren, von großem Nutzen sein. Schließlich 
muß auch die immer wiederholte Warnung vor offensichtlichen 
Gefahren selbst auf verliebte junge Menschen einen gewissen 
Eindruck machen, obwohl gerade diese Vernunftgründen nicht 
leicht zugänglich sind, sich schwer von einer Ehe abhalten 
lassen, welche untaugliche Nachkommen zu ergeben droht. 
Leichter wird es sein, sie zu freiwilligem Verzicht auf die 
Fortpflanzung zu bewegen. 

Heute weiß die große Masse der Menschen noch nicht, 
daß zum Beispiel Taubheit erblich übertragen wird, daß das- 
selbe gilt von der Bluterkrankheit, der Beckenenge, der Eng- 
brüstigkeit, dem Schwachsinn usw. Würde solche Kennt- 
nis Volksgut sein, so würden mindestens sehr 
viele jener Menschen, welche die Ehe nicht be- 
sonders frühzeitig schließen, den zukünftigen 
Lebensgenossen mit anderen Augen ansehen, als 
sie esnun gewohnt sind. Aber man hüte sich auch, dem. 
Volke im allgemeinen vor der Fortpflanzung Angst zu machen 
und damit der Geburtenbeschränkung noch weiter Vorschub 
zu leisten. Eine wichtige Aufgabe ist es jedoch, bei den 
Eltern ein erhöhtes Verantwortungsgefühl hervorzurufen, denn 
nur dieses kann ohne behördliche Zuchtwahl verhüten, daß 
Kinder in die Welt gesetzt werden, von denen man vorhersagen 
kann, daß sie sich selbst und ihren Nächsten zur Last fallen 
werden. Vielleicht wäre es weiser, den Eltern solcher Kinder, 
die ihrer Körper- oder Geistesmängel wegen der öffentlichen 
Fürsorge bedürfen, die Kosten dieser Fürsorge vollständig 
selbst tragen zu lassen, statt — wie bis nun — die Allgemein- 
heit damit zu belasten. 

Zur Bekämpfung jener Schäden der Volkskraft, die sozial 
bedingt sind, werden soziale Reformen die tauglichsten Mittel 
abgeben. Reformen, welche die Ursachen der Übel beseitigen, 
wirken gewiß weniger hart als behördliche Maßnahmen gegen 
die Person der Opfer dieser Übel. Es gilt namentlich, noch 
manche soziale Einrichtung zu korrigieren, die Konträrselektion 
zur Folge haben, Einrichtungen, welche die Untüchtigen auf 
Kosten der Tüchtigen schützen und fördern.