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ILLINOIS LIBRARY
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BOOXSTÄSKI
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wc
GESCHLECHTUND
GESELLSCHAFT
HERAUSGEGEBEN
IN VERBINDUNG MIT NAMHAFTEN FACHLEUTEN
VON FERDINAND FREIHERRN VON REITZENSTEIN
ABT.-VORSTAND AM INSTITUT FÜR SEXUALWISSENSCHAFT BERLIN
(EH. ABT.-VORSTAND AM HYGIENE-MUSEUM, DRESDEN).
XI.
VERLAG RICHARD A. GIESECKE
MÜNCHEN-DRESDEN-LEIPZIG
1922/23
ALLE RECHTE VORBEHALTEN
INHALTS-VERZEICHNIS
1. ЅАСНКЕСІЅТЕК
Abbas (maur. Dichter) . . . 332 Ausscheidung der Fortpflan-
Abraham a Santa Clara . . . 63 zungszellen . ee N
Abstammung der Haustiere . 204 Autotransplantation 11
Abstammung der Menschen in
der Jetztzeit . . . . . 202 Ва’аіѕеһе . . 337
Abstammung, gemeinsame . . 33 Badeleben . з 87
Abstammung, monophyletische 193 _ _Badengehen der Hochzeitspaare 242
Abstammung, DCS . 193 Ваһгргобе . i bi GAMA
Abstumpfung, geistige e . 147 Bartels 3
Abu Hanyfa . . ...323 Bart, männlicher 69
Achmet Ibn Hanbal . . . .324 Ваз. Н . 357
Adlers Theorien . . . . . 107 Batak 39
Affen. . e, DI Batuwi . . . 39
Affen, heilige . 2.0000. . 133 Batz,Gemeindein Dep Loire-Inf.
Affenkolonie . . tl (Inzucht) . 46
Aggression der Frau . . . . 143 Bauernhochzeiten . 246
Ahnenkult in Japan. . . - . 79 Bauernstand * 22
Aino . . : „2 0.82 Beaufort, Herzogin v. . 117
Akromegalie ee ar Bedeutung, biolog. der "Stea-
Aktaufnahmen . . . . 216 topygie . . к 4
Alkoholismus, chronischer . . 50 Bedürfnisse, sexuelle t „=. 92
Allmacht des Zaubers . . . . 16 beena— Ehe . . 337
Altersbekämpfung . . . . . 330 Behaarung. Entfernung der. . 328
Alterserscheinungen . . . . 380 Вейарег . SL e 219
Althing bei den Isländern . . 43 Beilager, öffentliches : 214
Angstanfall. . . à . . 143 Beischlaf S . 158
Animierstuben . . . . . . 94 Belastung, erbliche. ` 346
Anomalie, sexuelle . . . . . 102 Benediktiner, 1741 . . 191
Арһгойіќе . . . . . . 65 Beschneidung . 327
Araber . . í 42, 322 Betätigung, sexuelle e DS
Arbeitsgemeinschäft, "psycho- Bettelheiraten . 214
analitische . . 99 Віратіе . . . 256
Arrangement, neurotisches 105, 141 Binde- und Schließenbänder . 368
Arrawakenweiber . . . . . 132 Bisexualität SÉ Ze . 259
Aredie . . . 3 Віитейе. . 27
arusi-akd’i (pers. Dauerehe) . . 338 Bilutschande. . 173
arusi-sighai die Krees . 338 Blutsverwandtschaft” 33, 38, 47, 195
Aspasia . . . . . 2905 Blutsverw andtschaftsehen 40
Аат... .. . . . . . 323 Blutuntersuchungen . . 205
Atavismus . . 3 Blutumlauf, Verbesserung des . 382
Aufhebung der Reinrassigkeit ` 203 Boleyn, Anna : ‚ 124
Aufklärungsperiode . . . 281 Bönhäsinnen . . 91
Augenschminke . . . 327 Bonn. . . 304
Ausfallserscheinungen nach Bordelle . 2 . 91
Kastration . . . . „161 Bordell in Athen 290
Auslese, hemmende . 36 Bordellmädchen . лас! 124
Ausschaltung des Gattenzweckes 114 Bordellsteuern der Päpste i 94
Brant, Sebastian . . . . . 58
Brautbett . . ee те ОВТ,
Braut-Meye (Maie) . ok . 287
Brautstrumpfband - 365, 375
Brautsuppe .
Breve, (redditae sunt nobis“
1746) ч . . 191
Brustformen ‚ 229
Brustknospe 06120925
Вгиѕітиѕке! . . . . . . . 227
Brust, reife . . . . . . . 226
Brustwarze . si véi al 225
Brüste, Zerstörung дег... 31
Buschmänner . . . а 2
Сатауоа 5 . 320
Campignien . . . . . . . 306
Carolina . . . . . . . . 168
Chalone . D ao rala
Chateaurox, Herzogin v.. 121
Choshiu-Typus sé éi Ié rä ef E
Christine v. Schweden . . . 124
Cistellaria v. Plautus . . . . 291
Clitorisstift - . » » 2.0.1
coitus analis . 315, 316, 318, 320
coitus oralis. . . . . 316, 319
Consanguinität . . . . . . 42
Corpus luteum ...... 11
Cromagnon . 2 . . . . . 304
Сесе р а ел
Dauerehe . . 04 25 338
Deformation der Brust 2 18 34239
Degeneration . . . . . 35, 376
Dementia praecox . . . . . 100
Depressionszustand . . . . 101
D’Estrees NG > ET
Diagnostik . . . ачаа о 104
Dichter, erotische 8 2 eh
Dieuze "Inzucht) п а ат. АӨ
Dikteriaden . . . . . . . 291
Domestikation . . . . . . 136
Doppelehe . . . . 256
Doppeigeschlechtlichkeit s
. 299, 301, 302
Doria (Kardinal) А. 391
Dschonkina . . . . . .. 75
Dubarry, Gräfin. . . . . . 122
Еаааііейег . . . . . . . . 43
Ehe . dur, wiet éi 16 3946
Ehe, altarabische” er T
Ehebegriff МИ ае ДО ЮЗ
Ehebruch . a 175, 253, 341
Ehe, Grundlagen der . . en
Ehe im Islam . . . . 335
Ehe im jugendlichen Alter . . 214
Ehe im 17. EE 282
Ehe in Japan. . . Sn АЙ
Eheleben . . 321
Ehelosigkeit, Gesetze gegen die 30
Ehepatent Josef N rg 217: 192
Eherecht . . . . . 189
Ehescheidung . . 331, 342
Eheschließung . . . 155, 339
Eheschließung, bürger!l. . 222
Eheschließungen in fürstlichen
und adligen Kreisen . . . 215
Eheschließung, Рилке . . 158
Eichelstulp . . . S goa ИТ
Eierstock . . К;
Eierstocksdrüse, interstitielle e. "RB
Eierstocksüberpflanzung . 7,12
Eierstockpräparate . > ir
Eileiter, Unterbindung der . . 383
Einkriechen von Insekten in
Geschlechtsteile. . . . . 17
Einzelzellen o e e 208
Eiszeit > . . . 305
Elefant . Ар 134, 200
Elefantensäugling . . . . 134
Епӣоратіе. . . . . . . . 37
Entbindung . |
Enthaltsamkeitsmoral . . . . 52
Entwicklung des Gliedes 207
Entwicklungslehre . . 376
Epilepsie . . . 348
Erasmus von Rotterdam 250: 501123
Erbmassennetzwerk . . . . 205
Erbsünde e . 309
Erbveranlagung bei Zwillingen,
verschiedene . . 9 . 140
Erdmenschen, farinische . . . 3
Erfahrung, geschlechtliche . . 52
Erziehung, sexuelle. . . . . 54
Eskimos . . . AR
Etampes, Herzogin УХ Жо ЖТТ
Ethik, sexuelle . . Al
Etoiles, Frau d’. . ... 0.0121
Eugenik . e ве эс зло, ӘӨ
Evolutionsfaktor . 207, 203
Evolutionsgeschichte . 379
Evolutionslehre © a s BIG
Evolutionsperioden . . . . . 377
Eyb, Albrecht von . . . . . 160
Familienähnlichkeit . . . . 46
Familienverwandtschaft . . . 7I
Familienzucht . . 33, 38
Fastnachtsspiele . . . . . . 25
ҒеівепЫаќ. . . . . . . . 68
Festmahl. „2. > 243
Fettansammlung . 1, 2, 3,5
Fettansammlung beim Kamel . 5
Fettsteißentwicklung . 1, 3, 4
Fleckenstein, Johann v. Bischof
v. Worms ..... . 63
Fleury, Kardinal. . . . . . 120
Fontage, Herzogin Ver Amer 23
Fontayne, Frl. v. . . . . . 119
Егапкгеісћ . . . . . 20
Franzosenkrankheit а с 387,
Frauenabsperrung . . . 326, 339
Frauenbewegung, peruanische
318, 319
Frauenbewegung, türkische . . 326
кадыы АН aus Marmor und
on . o
Frauenklöster . . . . . . 95
Frauenraub. . . . . . 16, 267
Frauenschleier . . . . 327
Frauenstrumpfbänder, lithau-
ische . . e ie Aa O
Frauen, Zahl ВЕС о ВУ 338
Freiheit, geschlechtliche . . . 22
Freiwerber . . . . 242
Freudenmädchen (Japan) ` . . 80
Freud’sche Theorie . . 106
Freundschaftsgaben . . . . 62
Friedrich 1. . . . . ,. . . 333
Fristehe . . . . 338
Froschmännchen, kastrierte . . 303
Fruchtabtreibung . . . . . 178
Fruchtbarkeitsriten . . . . . 213
Fruchtbarkeitszauber . . . . 17
Frühehe (Japan) . . STE
Frühjahrs ruchtbarkeitsfest . . 247
Frühlings Erwachen . . . . 241
Fürstenberg, Florian v. . . . 84
Gaishas . . 2.2.80
Garcilaso de la Vega eg
Gattungen, verschiedene . . . 377
Gattungszweck der Liebe 113, 115,
116
Саисһтаіі. . . . . . . . 59
Gebi . . . . 200
Gebrauchstrumpfbänder St 1.5304
Gefängnisse . . 161
Geiler -s .. 58 59,83,84, 85
Geistesschwäche . . .'344
Geldheiraten . . . . . 214, 221
Gelehrte, byzantinische . . . 155
Gemeindehäuser . . . . . . 39
Genitalapparat des рро. . 299
Gens Namen . e 74
Gensverfassung . . . . ` 70, 74
Gerechtigkeit . . 162
Gesetzbuch, bürgerliches (Japan) 79
Geschichte des Strumpfes . 356
Geschlechtsbedürfnisse . . . 52
Osschioehischaraktere; sekun-
däre . . . а Poo a
Geschlechtsdrüsen . . | | | 380
Geschlechtskrankheiten . . . 55
Geschlechisleben, entartetes . 19
Geschlechtsmerkmale . . . 3, 69
Geschlechtstrieb . . 8, 9, 51, 81
Сеѕсћесһізуегкећг . . . . 319
Geschlechtswechsel . . . . 302
Gicht, fliegende . . . . . . 343
Gigantismus . 2 . 313
Gleichgeschlechtlichkeit $ 257
Gleichpaarung ; = 36
Glutealregion . = 3
Glyzera . . 296
. Gorilla . 271
Gottesurteil : . 174
Grabvasen, altperuanische = 315
Gräfenitz, Frau v. . 122
Gravidität . . 12
Greisenalter . . . 381
Grödnertal (Inzucht) 45
Gruppenehe E Fé . 73
Gruppenverhältnis . 11573
Gucklhochzeit . 242
Gynäkomastie . 302
Haare der Menschenrassen . . 199
Haarläuse . 196
Halban . 1
Hamasa . . . 322
Hanbaliten . . 324
Handschilling . 27
Hanefiten . 323
Harem . . . 339
Haremswächter e H
Hauptrassen . 304
Hauterotik . . . 146
Heinrich VI. (Deutschland) . . 333
Heinrich VIII. (England) . 124
Heiratsalter . . . . . .77, 337
Heiratsgesetzee . . . . . . 11
GE . 242
Henna . . g . 327
Hetärenbriefe . e e . 289
Hetären, freigelassene . 293
Hetärengespräche von Lukian . 293
Hetären, griechische . 289
Hieronymus der Heilige . . 335
Hinterbacken, Fülle der . . . 3
Hirschfeld, Magnus . . . 260, 263
Hirschpark . А 121
Hochgebirge als Schutzwälle
gegen Inzucht . Sr се
Hochkultur . 35
Hochzeiten . x . 213
Hochzeitsbitter . 244
Hochzeitsfeierlichkeiten in
Italien . u . 218
Hochzeitsgeschenke ` . 246
Hochzeitsmahl . 285
Hochzeitszeremonien 2. 213
Hoden . . . . . 7, 207, 382
Hodenverpflanzungen z .. 14
Homo Europäus . . 305
Homoiotransplantation. a H
Homosexualität . . . ЗЬ 81, 312
Hordeninzucht SIN 35
Hormone Š . 312
Hosenbandorden . 367
Hottentotten 2
Hottentottenvenus . 1
Humanismus 155
Hund. . 16
Hundehochzeit 16
Hunde, säugende 133
Hurenprozession 91
Hutten, Ulrich v. 186
Hypertrophie . 1
Нурорһуѕе ... . 313
Ee . . 302
Hysterie . < . 149
Ibn Tubi . . 333
Ibn Zeidun . . 333
Impotenz . . . 342
Impotenz des Mannes . 184
Impotenz des Weibes . 8
Impotenz, germinale NF 14
Inaktivität, SES $ 9
Incest . . x 33
Individualpsychologie 141
Individualzweck der Liebe . 112
Infantilismus . 262
Inkaherrschaft 317, 318
Inkret «Леле лг лз e ee
Іпкуо . . Е ааа чй .. 78
Imru al Kais . . S . 325
Instinkt der Affen . 274
Instinkt, tierischer . . 310
Intersexualität e e o 258
Inzuchtt . . . . 33, 45, 204
Inzucht bei den Eskimos 44
Inzucht bei Tier und Pflanzen 37
Inzuchtskaste . . 43
Inzuchtsvölker . 35
Iberer ч; 307
Ilam . ... 182, 322
Isländer . . . 42
Italien 20
Jacob, Bischof” von Trier 63
ahrfeste bei den Peruanern . 315
apan Se 75
Јаѕсһтаск . . 327
Јоһапп Kasimir, Herzog von
ee a 3 28
ungfer . Р 27
ungfernzins . . 27
ungfräulichkeit . 5 25
bi ee
Theorie) . - 153
jus primae noctis 23
Kalahari 5
Karier 307
Karl II. von Spanien : . 32
Kastenwesen bei den Batuwi . 4]
Katharina 11. y . 124
Kausalität, interseelische ` . 265
Kehrab EE S . 288
у
Keimdrüsen . ML
Keimdrüsenbeschaffenheit . 261
Keimdrüsensekretion 24.9
Keimdrüsenüberpflanzung . 300
Keim- und Zwischengewebe . 381
Keimzelle ; er
Kiembe g ug аЛ
Kinderehen 211, 214, 215
Kindersterblichkeit . e „12136
Kinderverlobungen . . 211
Kindesmord . 173
Kirche . e 158
Kirche, kath. и. Ѕакгатепі derEhe 189
Kjökkenmöddinger . . . „ . 306
Klassenliebe RK e E
Kleiderausschnitt . . . . . 63
Kleiderläuse . . . . . . . 198
Kleidung . CR
Kleinhirnataxie . 343
Kleinhirnatrophie . 347
Knochenfunde . 193
Knospenbrust . . . 225
Kohl (Augenfarbe) . . 327
Kommnächte . . 24
Königsmark, Marie Aurora,
Gräfin v. . ; . 120
Konkubinat . 170, 192, 338
Konsanguinität EN 050)
Konversion EE E
Koran . .42, 322, 328
Korinth . . . 290
Кӧгрег, gelber (corpus uteum) 8
Krankheiten, Vererbung von . 343
Kranzabnehmen . . . . . . 287
Kränzlein — Ausbitten 248
Kranzlied . . . . . .. 85
Kranzsingen . 85
Kretinismus x 313
Kreuzbeingegend 2
Kreuzung . . . 37
Kriegshysterien . 152
Kriegsneurose г . 152
Kriminalpsychologie . 311
Krise, sexuelle . 209
Kryptorchismus . . . 10
Küchenabfallhaufen . 306
Kudury, Compendium des 331, 323
Kulturinzuchtsvölker S 36
Kultur, neolitische rn. -307
Kuppeipelz Г аа Л; «һа түк
Kurzschädel ..... . . 305
Lais . 297
Lamia . . 296
Langschädel 304
Lantzkranna, Stephanv. (Probst) 22
Leben, asketisches * 2 65
Leben, mosleminisches . 322
Leistenhoden er Ar NO
Leleger . . . . 307
VU
Libido . 13
Lichtenau, Gräfin wi 123
Liebe 23, 60, 107, 109, 116, 125
Liebesbriefe ` ё 126, 127
Liebesempfindung . 115
Liebeserfüllung . 113
Liebesgöttin . 65
Liebeskunst . . 115
Liebesleben 60, 321, 325, 332, 333
Liebeslust 5 115
Liebeswerben bei den Japanern 78
Liebeszauber . . . . 319
Liebe und Fortpflanzung. 111
Lustknaben 3 . 320
Luther (I) 184
Luxusgesetze . . 246
Machttrieb . . 153
Mahlschatz . 283
Mailly, Frau v. т з ‚ 121
Maintenon, Madame de 2 . 119
Makusi-Indianer . . 132
Malaria . . 349
Malekiten . . . . 323
Malik Ibn Anas . 323
Mamma areolata . 227
Mamma papilata . 227
Mann. . рр
Männerstrumpfbänder . . 364
МаппмеіЬ . . . . . . 30
Mantelüberwerfen . 339
Martin «2
Maitressenwesen 117
Mauren . . 321
Medina, Schule von . 323
Melanchthon Е . 187
Methoden, psychoanalytische . 97
Mignons . 27931
Milchabsonderungsbedürfnis . 132
Milchsekretion is . 12
Міѕсһеһеп . . . 39
Mischungsverhältnis e e 5 302
Mitgift . . . . 219, 246, 339
Mittenweiler, Heinrich у. . 83
Modifikation ` . 136
Mogulzeit . 340
Mohammedaner . . . 182
Mohammed asch Schaibäny- 323
Mohammed asch Schafiy . 324
Montespan Madame de . . 118
Moral а, 5 . 53
Moralprediger . 63
Mord. . . 178
Morgan . . 70
Morgengabe . 287
Mot’a-Ehe . . 337
Mowatta . 323
Munderotik ‚ 146
Mutterschutz . . 318
Nachhochzeit . 2 эё 288, 245
Nacktabbildung, unsittliche 76
Nacktheit . . 5
Nacktheit bei den Japanern ` 75
Nacktphotographien 9
Nahrungsreservoir 5
Nakodo . . 78
Neandertal (Inzucht) . . 304
Neära . . . 289, 291
Nebennieren . . 314
Nervengewitter . 113
Nervenheilkunde . . 154
Neurose . . 152
Neurotiker . . 14
Nikah . . . 337
Nikah el „Ama“ . 338
Nihah-el-daim . . . 338
Nikah-el-monkese-Fristehe . . 338
Ninon de l’Enclos . 125
Notzivilehe . 190
Notzucht 64
Oberhof. e . 164
Oedipuskomplex . 106
Oeffnung von Hirslanden und
Stadelhofen E Zei
Orang . 205
Orient . 321
Огиа . 319
Ovarialfunktion, innersekre-
torische . А нану 7,
Ovarienimplantate . . 12
Ovarium . . 207
Ovis aries steatopyga 4
Päderastenverfolgung der Inkas 317
Päderastie . 320
Paläolitikum . 304
Pampayruna ; . 316
Partner; sexueller 54
Passarge 5
Passionsspiele, mittelalterliche 24
Pe£irka, Dr. med. Professor Ze 32
Pediculusläuse Aa . 197
Pellasger . 307
Penispendulus . 201
Peru, alt . . 315
РізѕеІеи Аппе'йе . 117
Phitiriusläuse . . 197
Phobien . . 147
Phryne . . . 295
Phalluskult } . 8
Platonismus und Christentum . 298
Poggio bracciolini . . . 89
Polterabend . 242
Polyandrie . . 337
Polygamie . . . 338
Polygamie bei den Peruanern . 316
Polygamie in der Renaissance 117
Pompadour, Marquise de 121
уш
Primat . . 201
Pronmiskuität 34
Prosa, isländische ә ә 43
Prostitution . 93, 298
Prostitution, Einschränkung der 55
Prostitution in Italien . А . 94
Protestantismus . ; . 156
Prügeln des Bräutigams 5 . 243
Pseudodemenz . 147
Pseudohomosexualität . 107
Pseudomoralität in Italien 20
Pseudosittlichkeit 19
Psychoanalyse . 97
Psychoanalyse, praktische Be-
deutung der . 100
Psychogenese . 103
Psychogenie der Minderwertig-
keitsvorstellung . 105
Psychoneurose . . 101
Pubertätsdrüse _. . 299
‚Pythionike . . 297
Quelle neurotischer Erkran-
kungen rare y
Rache . š `. 163
Radscha. . . . 41
Капке N
Rasse, armenoide . 305
Rasse, mediterrane . . 307
Rasse, melanoderme . 205
Rassenanlagen З а 58 308
Rassen, europäische . . 304, 307
Rassenmischungen . . . 201, 202
Rassen und Rassenmischungen 304
Rasse, steatopyge sr Бф
Rechte des Staates . 161
Recht, partikulares . 177
Recht, römisches RO
Reformation 19, 188
Reigen . . 3 .. 85
Reizbestrahlung S . 383
Renaissance 18, 155, 184, 213, 281
Renaissance, italienische . 20
Renntier . dw . 306
Responsen A, CR . 168
Rhätoromane . 45
Rhodopis . 292
Riesenwuchs . 313
Romantik e . 156
Romberg’sches Zeichen . 343
Samenleiter, EE des 382
Sammler . br ës vi 29
Satsuma-Typus . 76
Säugen von jungen Анеп г an der
Frauenbrust.. . 119
Schädel . . 304
Schafiiten . 324
Schamgefühl 68
Schefer von der newen stat . &6
Scheidung . . 4 4231
Schenkeistrumpfgürtel аЗ
Scheuertanz . . „өй з. БӨ
Sehttten =» ызы» = ..... 322
Schilddrüse . . . . . 314, 382
Schlieffen . . . 271
Schmuckbänder an den Knien. 367
Schöfferdantz.. . . . . . 86
Schönheit . . . 66
Schönheitsideal, japanisches” . 76
Schöppenstuhl . . . . 167
Schule, psychoanalytische . . 69
Schürzenzins . - . e e. EI
Schwachsinn . . i CAT.
Scoraille, Marie Angetique << = 123
Scotto, Graf . . = A Le
Scotto, Јегопіто РТ.
Sechsfingrigkeit л AR
Ѕеіпѕагќеп . . . . . . . . 108
Seinsminderung . . . . . . 112
Seinssteigerung . . 112
Seinszustand der Liebesempfin-
dung . e . 110
Sekretion, innere . . 7; 299, 312
Selbsterhaltungstrieb . . . 152
Sexualcharaktere, sekundäre . 299
Sexualdrüse . . . . . . 299
Sexualfunktionen . . . . . 52
Sexualtrieb . . e e al
Sexual- Vergehungen e, ë dé DI
Sexualzentrtum . . . . . . 115
Sexusdetermination . . . . 7
Silikat 2. . ua 2.0827
Sitten, antike. . . . . . . 291
Sitz der Brust . . . . . . 231
Sklavenehe . . . . . . . 338
ЅКордеп:. =. =. 3. ку а, E
Ѕойотіа . . . . . . . .317
Sodomie . S "e w 5 168
Soissons, Gräfin v. . . . . 118
Sollsitte - асл „> жж бї
Somageschlecht . . . . . . 301
Spanien. ». : = 20... Al
Sprache . . . ee lt
Sprache, ligurische SE . 307
Sprüche auf Strumpfbändern 368
Stadelweise . . 217071 Zo
Stadtgericht zu Breslau . . . 167
Stammbaum einer Familie . . 343
Stammesinzucht . -. . . . 35, 39
Ständchen, nächtliches . . . 57
Statuette, weibliche . . . . 2
Stauung der Libido . . . „104
Steatopyggie . . . . 1, 2, 6,7
Stechgroschen rl
Steinach. . . . . . 8, 260, 300
Steintreten . we СОДА
Steinzeit . . х. Sé 50304
Stellung der Frau V Tewa ur 29824
Stewkay in Norfolk macht), 48
Stillzeit . М . 315
Strafjustiz . . 161
Strafrecht а= . 161
Strafrechtspflege . 165
Strafstrumpfband . . 368
Straßenangst . . 146
Stratz . . 75
Ѕітитрё . . . . . 353
Eer Eet . . 353
Strumpfband, Anlegen des . . 367
Strumpfbänderin der Empirezeit 371
Strumpfbänder mit Geburtstags-
widmungen . ; 373
Strumpfbandsammlung” S 354, 353
Strumpfbeinkleider . .. 357
Strümpfe, seidene . 357
Strumpfhose . 357
Strumpfluxus . . 357
Stuart, Maria . . 124
Stutzertum . 62
Sublimierung . 151
Substanz, männliche und weib-
liche & . 301
Sünde . 309
Sunna . 322
Sunneweigerinnen . 95
Sunniten . 322
Sydow, Anna v. . ‚ 122
Symptomatologie . . 302
Symptome, neurotische . 101
Syphis У . 147
Tallon 1% 24 + JE A . 163
Tanzverbote . 286
Tanzvergnügungen . 83
Tarantella 5 F 87
Tarantismus . . . . 87
Teakbaum . . . . . 134
Temistios Plethon . 155
Temperatur, sinkende . . . 377
Tenna (Graubünden) Inzucht . 48
Thais. . . . 2907
Thomasius, Sittenlehre des . 29
Tieramme e . 129
Tierkultur . . 130
Tierliebe der Waldindianer . 131
Tierspielerei A ‚ 131
Tonvasen, peruanische 315
Totemismus . S . 130
Tournelle, Frau v. . 121
Träger der Inkretion ИС:
Transplantation . . 10, 300
— autoplastische . . . 10, 11
— homoioplastische 11, 13, 14, 10
— heteroplastische Sé 10
— von Stückchen 13
— erste (Knauer) 11
— bei Affen . 1
Traumdeutung 153
IX
Trauung . .
Trauung, kirchliche .
Tridentiner Konzil .
Tridentinum
Triebbildung, frühinfantile i
Triebzüge, homosexuelle
Trochanter. . . .
Ueberkompensation
Ueberkreuzregel .
Unfruchtbarkeitvon Mischungen
Unterbindung des Samen-
stranges . .
Untereinanderheiraten
Unterhautfett . z
Urgeschlechtszelle ғ
Urkörperzelle . 4
Urtrieb, atavistischer .
Valière de la, Louise Нечен
von .
Vaterlandsliebe
Veitstanz
Verbrecherphysiognomien
Vererbung .
Vergehungen, geschlechtliche e
Vergeltung. . .
Vergrößerung der Brüste,
künstliche $
Verheiratung ungeborener
Verhüllung .
Verhüllungsmoral
Verjüngungfragen . І ;
Verjüngungskuren
Verjüngungsoperation .
Verjüngung, teilweise .
Verkehr, außerehelicher .
Verkehr, енисе,
Verlobung . . $
Vermischung . . .
Vermischungstendenzen |
Verordnung, polizeiliche .
Verpflanzungen bei Affen
. 243
.. 189
. 266
. 258
. 142
1 299
195
10
. 299
. 310
23,
92,
Verschiedenheit der Haare .
Verschleierung
Verschneidung
Vertreterinnen der Halbweit in
Japan .
Verunsittlichung .
Verwandtenehen
Verwandtschaftsheirat `
Verwandtschaftssystem
Vintimille, Frau v.
Virago . .
Volksfamilie
Volksinzucht
Volksvermischung
Volkszucht .
Wachstum, sexuelles .
Wachstumsmodus
327,
Wachstum, vegetatives
Wadenstrumff . . .
Warzenhof .
Warzenhofmuskulatur ` dë
Wedekind . . . 2.2...
Wedekindspiele . >
Weib
Weiber, breithüftige
Weib, freies ;
Weib, nacktes ; т
Weltanschauung ne
Weiberspiegel
Werbung . .
Werbung am Wiener Hof
Wert der Ehe, innerer
Wiedergeburt . ;
Willendorf in Oesterreich
(Venusfigur) +
Willenserklärung
Windbestäubung . “>
Wucherungen, abnorme .
Wüstenpoesie, arabische .
Zauberglaube .
Zauberinstrumente .
1 225,
Zauberkultu ....... 15
Zeit der Galanten . . . . . 281
Zeugung, blutsverwandt-
schaftliche 33
Zeugungsfähigkeit, Versagen der E
Zeugungshelfer б
Zeugungsmonographien : E
Zirbeldrüse . d . 313
Zivilehe, fakultative. . 191
Zivilehe, MDUERIOrIAChE . 191
Zölibat . . . ‚ . 158
Zuchthäuser . 161
Zuchtjungfern . 5 . 283
Züchtung von Intersexuellen . 258
Zuchtwahl, geschlechtliche . 6
Zusammenwirkung d der PR
drüsen 27252
Zweck. Tierzucht . 131
Zwillinge . 135
Zwillinge, eineiige ‚ 137
Zwillingsgeschwister,
identische ё . 139
Zwischengewebe . 8
Zygote . 137
SI
Il. TEXTÜBERSCHRIFTEN.
Classen, K. Rassen und Rassen-
mischungen in der Steinzeit
Europas . . . 2.22...
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Krankheiten und Krankheits-
anlagen . . . 333
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afrikanischer Zauberkultur-
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Japan. . р . 75
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Pflichten der Mohammedaner 182
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tion und Sühne . . .
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des Alterns.. .
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Strumpfband . .
Pelirka+ . . 32
Reitzenstein,F.v. Betrachtungen
über das Liebesleben in der
Zeit der Renaissance und der
Periode der Galanten 18, 57,
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zu altperuanischen Grabvasen 315
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Rohleder: Blutsverwandtschaft
und Inzucht bei den heutigen
Völkern: ; s-a a e ©» 433
Rosenthal: Sexualvergehungen
und ihre Ahndung vor 300
Јаһгей/ e AN Ai wv Kail
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ältesten uns bekannten Ver-
wandtschaftssystems . . 70
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Rutgers, I. Evolutionslehre und
Weltanschauung
Saaler, Bruno. Bedeutung der
psychoanalytischen Methoden
und Theorien . . . . 97, 141
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beim Menschen . . 1
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Tieramme . 129
Zell, T. Die Affen als Frauen-
räuber d . 267
е2)
Geschlecht und Gesellschaft,
Neue Folge mm Х|, 1
Tafe! I
=
Fa N
wem
d Se EE a
Hottentotten-Weiber mit Steatopygie
Die Fettsteißigkeit beim Menschen
Zu Sokolowsky:
DIE FETTSTEISSIGKEIT BEIM MENSCHEN.
Von Dr. ALEXANDER SOKOLOWSKY, Hamburg.
(Mit 3 Tafeln.)
Die als Fettsteißigkeit oder Steatopygie bezeichnete hoch-
gradige Fettanhäufung über den Steißmuskeln ist eine als
Rasseeigentümlichkeit bei manchen Menschenstämmen bekannte
Erscheinung. „Weder das Skelett noch die Steißmuskeln“,
sagt Topinard, „lassen diese Erscheinung vorherrschen; es ist
mehr als eine Hypertrophie des Fettzellengewebes, es ist bei-
nahe ein neues Organ — ..“ Diese Charakteristik der Fett-
steißigkeit durch den bekannten Anthropologen gibt die auf-
fallende Entfaltung einer solchen lokalen Fettanhäufung als den
Besitz eines Teiles der Menschheit wieder, denn er berichtet
ausdrücklich, daß man derselben hie und da in Afrika bei den
Somali-, Kaffern- und Hottentottenfrauen und immer, wenn auch
in verschiedenem Grade, bei den Buschmannfrauen begegnet.
Es fragt sich nun, welchen Standpunkt die moderne anthropolo-
gische Forschung dem Vorkommen und der Entstehung dieser
eigenartigen Bildung gegenüber einnimmt.
Diese erstaunliche Fettansammlung an einem bestimmten
Teile des menschlichen Körpers war bereits im Altertum bekannt.
Als Beweis hierfür sei auf die Abbildung einer arabischen
Fürstin, wahrscheinlich aethiopischer Herkunft, auf einem Wand-
gemälde der Pyramiden zu Sakharah in Aegypten hingewiesen,
das von Dümichen mitgeteilt wird. Auch auf cyrenäischen
Tonschalen des 5. Jahrhunderts vor Christi Geburt, die in Unter-
aegypten angefertigt zu sein scheinen, finden sich Abbildungen
von Personen, die mit Steatopygie behaftet gewesen sind. Eine
eingehende Untersuchung dieser körperlichen Eigentümlichkeit
verdankt die Wissenschaft Cuvier, der die im Jahre 1815 in
Paris gezeigte „Hottentottenvenus“ nach ihrem Tode anatomisch
1
2 Sokolowsky: Die Fettsteißigkeit beim Menschen
zu untersuchen Gelegenheit hatte. Später hat Raphael Blan-
chard sich eingehend mit dem Studium dieser Erscheinung
beschäftigt und eine wertvolle Abhandlung darüber veröffentlicht.
Als Resultat dieser Untersuchungen ergab sich, daß, wenn auch
die Fettablagerung am Rücken selbst nicht entsprechend über-
mäßig erschien, die Wölbung von der Kreuzbeingegend an zuerst
fast senkrecht auf die Körperachse nach hinten ging. Früher
nahm man an, daß das Kreuzbein, der hinteren Hervorwölbung
entsprechend, bei den Weibern der Hottentotten und Busch-
männer besonders stark, schwanzartig, nach außen gebogen
sei. Aber schon Cuvier und Somerville haben diese An-
sicht als irrtümlich zurückgewiesen. Wir wissen heute, daß es
sich dabei lediglich um eine Fettansammlung handelt, die durch
gute Ernährung zur schnellen Entwicklung gebracht, durch
Nahrungsmangel, Hitze und Strapazen rasch zur Verringerung
gebracht werden kann. Zum Teil beruht nach Ranke die fast
senkrechte Hervorwölbung der Gesäßgegend aber auch auf einer
mit einer stärkeren Beweglichkeit der Lendenwirbelsäule Hand
in Hand gehenden stärkeren konvexen Lendenkrümmung, eine
Erscheinung, die als typisch menschliche Bildung bei Natur-
völkern aufzufassen ist. Wie Martin betont, ist die Bildung
der Steatopygie schon seit Jahrtausenden beim Menschen vor-
kommend. Das beweisen Skulpturen an dem Terrassentempel
Deir-el-Bahri bei Theben aus der 18. Dynastie, in Ballas und
Nagada am oberen Nil. In Zimbawe in Südafrika sind Schalen-
reste mit Darstellungen steatopyger Frauen gefunden worden,
und einige geschnitzte Rundfiguren aus dem Aurignacien Frank-
reichs von Brassempouy, Maz d’Azil und Mentone weisen
ebenfalls Steatopygie auf. Ein neuerdings in Laussel in der
Dordogne gefundenes Basrelief bringt die Steatopygie einer
Frau aus dem Aurignacien ganz besonders realistisch zum Aus-
druck. Besonders sei auch auf eine weibliche Statuette aus
Willendorf in Österreich*) und die aus der vormykenischen
Periode auf den griechischen Inseln, besonders auf den Ky-
kladen entdeckten Frauenfiguren aus Marmor und Ton, die den-
selben Typus zeigen, hingewiesen. In der heute lebenden
Menschheit findet sich dieser extreme Fall regionaler Fettab-
*) Siehe das Bild bei Reitzenstein: „Die ältesten sexuellen Dar-
stellungen der Menschheit“, „Geschlecht u. Gesellschaft“ X, S. 343 u. Tafel l.
Sokolowsky: Die Fettsteißigkeit beim Menschen 3
lagerung vorwiegend bei weiblichen Individuen der Busch-
männer und Hottentotten, aber auch, in sehr verschiedenem
Grade, bei Kaffern Nigritiern, Somali und Kameruner Waldland-
negerinnen (Bantu). Auch die Frauen der Rehobother Bastards
zeigen nach Fischer eine deutliche Hinneigung zum hotten-
tottischen Fettsteiß. Diese Fettschicht beschränkt sich auf die
Gesäßregion, die Oberschenkel in der Trochantergegend und
die untere vordere Bauchwand. Die Haut unter dieser Fett-
ansammlung hat meist einen schlaffen Charakter. Ihre Ent-
wickelung beginnt schon bei jungen Mädchen, nimmt aber
mit dem Eintritt der Geschlechtsreife beträchtlich zu und wird
noch durch eintretende Schwangerschaft gesteiger. Nach
Martin handelt es sich dabei in gewissem Sinne um ein
sekundäres Geschlechtsmerkmal, das vielleicht durch sexuelle
Auslese seine starke Ausbildung erfahren hat. Obwohl die
Steatopygie in erster Linie bei den weiblichen Individuen der
gesamten Völker in Erscheinung tritt, hebt Bartels ausdrück-
lich hervor, daß bei den s. Z. in Berlin ausgestellten so-
genannten Farini’schen Erdmenschen, d. h. den Buschmännern
aus der Kalahari-Wüste, auch die Männer eine ungewöhnliche
Fülle der Hinterbacken zeigten. Allerdings stand das sie be-
gleitende ungefähr acht Jahre alte Mädchen in dieser Be-
ziehung den Männern kaum nach. Wir wissen, daß bei den
Hottentotten die Fettsteißentwicklung als eine Schönheit gilt,
wie denn überhaupt runde, fette und fleischige Formen bei
ihnen als besonders schön angesehen werden. Die Hotten-
totten wissen dieser eigenartigen Fettanhäufung noch einen
praktischen Nutzen abzugewinnen, denn auf diesem Fett-
polster, Aredi genannt, läßt die Hottentottin ihr Kind ruhen.
Man hat abnorme Fettablagerungen bei den Europäerinnen in
der Hüftgegend zum Vergleich herangezogen und versuchte
sie als Steatopygie zu deuten und es liegt der Gedanke nahe,
bei diesen das Auftreten einer solchen Erscheinung als Ata-
vismus aufzufassen. Nach Martin kann diese Auffassung
aber nicht richtig sein, da bei diesen Frauen meist das für
die Steatopygie durchaus charakteristische Nachhintenragen
der Glutalregion fehlt und das Unterhautfett besonders in der
Gegend der Trochanterus entwickelt is. Nach Klaatsch ist
der große Fettreichtum der weiblichen Unterleibsregion sicher
in manchen Gegenden durch Auslese herangezüchtet
1*
4 Sokolowsky: Die Fettsteißigkeit beim Menschen
worden, wofür der Fettsteiß der Hottentottenweiber ein
klassisches Beispiel liefer. . Nach diesem Gelehrten ist
die mächtige Verbreiterung der unteren Bauch- und
Gesäßregion, die zum heutigen Schönheitsideal einer
vollentwickelten Europäerfrau gehört, zum Teil jedenfalls
eine Anpassungserscheinung an die Zunahme von Kopf und
Gehirn der Kulturmenschheit. Zugleich aber spielt hierbei
auch der geschlechtliche Geschmack eine Rolle, der breit-
hüftige Weiber bevorzugt, wobei auch Rassenneigungen mit-
sprechen. So bevorzugt der Norden Europas schlanke Figuren,
der Süditaliener hat eine Vorliebe für die „bella grossa“
(„beleibte Schöne“), wodurch sich Anklänge an den Geschmack
afrikanischer Völker kundgeben.
Habe ich im Vorstehenden die Forschungsergebnisse und
Anschauungen hervorragender Anthropologen über die Stea-
topygie aufgeführt, soll es nun meine Aufgabe sein, den Ver-
such zu machen, die Gründe für die Entstehung und Ent-
faltung dieser Erscheinung zu ermitteln:
Zunächst muß es auffallen, daß die Steatopygie sich in
besonderem Maße beim weiblichen Geschlecht entfaltet findet.
Es muß daher von vornherein der Gedanke naheliegen, deren
Entstehung auf rein geschlechtliche Auslese von Seiten des
Mannes: als seinem Schönheitsideal zurückzuführen. Diese
Auffassung kann bei strenger Kritik nicht bestehen, da be-
richtet wird, daß auch bei männlichen Individuen diese Fett-
ablagerung nachgewiesen wurde, welche hier aber nur weit
geringere Entwicklung aufweist. Eine besondere Bedeutung
hat das Vorhandensein dieser Bildung beim Menschen durch
die schon erwähnte Tatsache, daß auch beim Steinzeit-
menschen Steatopygie vorkam. Ob man daraus auf die
Existenz einer einheitlichen, früher weitverbreiteten steatopygen
Rasse schließen darf, erscheint nach Martin noch fraglich.
Ich glaube, man wird der Wahrheit näher kommen, wenn man
in dieser Hinsicht den engbegrenzten Rassebegriff bei Seite
läßt und mehr die biologische Bedeutung der Steatopygie
ins Auge faßt. Um diese in ihrer Wesensart zu verstehen,
bedarf es der vergleichsweisen Herbeiführung analoger Er-
scheinungen, die sich bei mehreren Haustierformen des Men-
schen, dem Fettsteißschaf (Ovis aries steatopyga) im
Bereiche der Schwanz- und Lendengegend, beim Zebu und
Sokolowsky: Die Fettsteißigkeit beim Menschen 5
Kamel als Fettansammlung im Musculus trapezius finden.
Diese Fettansammlungen dienen den genannten Haustieren
als Nahrungsreservoir bei eintretendem Mangel an Nahrung.
Sie sind daher in ihrer Entfaltung von der Güte der Weide
abhängig. Es ist auch kein Zufall, daß sie sich bei solchen
Geschöpfen finden, die, wie die Schafe als Steppenbewohner
und die Kamele als Steppen- und Wüstenbewohner Zeiten
der Dürre und Entbehrung ausgesetzt sind. Der gute Er-
nährungszustand dieser Tiere ist leicht durch die prall mit
Fett angefüllten diesbezüglichen Körperteile ersichtlich. In
besonders auffälliger Weise konnte ich dieses bei Kamelen
beobachten, die nach überstandener Seereise der Fettansamm-
lung im Höcker fast verlustig geworden waren, bald aber, bei
sorgsamer und reichlicher Fütterung, prall stehende Höcker er-
hielten. Es muß nun auffallen, daß auch beim Menschen ein
ähnliches Verhalten nachgewiesen wurde. So berichtet
Passarge über die Steatopygie der Buschmannfrauen, die
zwar nicht so ausgeprägt ist wie bei den Hottentottinnen,
aber bei Frauen in gutem Ernährungszustand doch nie fehlt.
Diese ist nach ihm um so auffallender, als der Körper dieser
Frauen sonst gar nicht zur Fettbildung neigt. Derselbe Ge-
lehrte hebt ausdrücklich hervor, daß bei den Buschmannfrauen
die Steatopygie nicht so ausgeprägt ist wie bei den Hotten-
tottinnen. Es ist nun von höchstem Interesse, die Unter-
schiede in der Lebensweise dieser Völker daraufhin einem
Vergleich zu unterziehen. Die Buschmänner sind Wanderer,
die hauptsächlich von den Erträgnissen der Jagd leben,
äußerst geringen materiellen Besitz haben und ursprünglich
mit Vorliebe in Höhlen oder im Schutze von überhängenden
Felsen gewohnt haben, mithin nicht seßhaft in bestimmten
Wohnsitzen sind und waren, wohl aber ganz bestimmte auf
festem Grundbesitz gegründete soziale Verhältnisse haben.
Wenn bei ihnen jetzt ab und zu runde, bienenkorbartige
Hütten angetroffen werden, so dürfte dieses als Entlehnung
von ihren Nachbarn anzusehen sein. Sie bewohnen die
Kalahari und sind an ein äußerst rauhes, entbehrungsreiches
Leben gewöhnt. Die Ungunst ihrer Lebensverhältnisse treibt
sie auf die Wanderschaft. Es muß diesen Menschen ein Fett-
reservoir in Gestalt der Fettsteißbildung in Zeiten der Not und
des Entbehrens gut zu statten kommen, indem der Körper Fett
6 Sokolowsky: Die Fettsteißigkeit beim Menschen
zuzusetzen imstande ist, ohne das Allgemeinbefinden zu
stören. Auffallen muß es aber, daß die Steatopygie bei den
Hottentotten,- die in weit besseren Lebensverhältnissen leben,
entschieden noch ausgeprägter in Erscheinung tritt. Wie er-
klärt sich dieser Widerspruch? Zunächst ist es nach
von Luschan nicht mit Sicherheit bekannt, ob diese oft
monströse Anhäufung von Fett in der Hüftgegend und an den
Schenkeln schon ursprünglich den Hottentottenfrauen eigen
war oder ob sie sich nicht etwa erst nach ihrer Vermischung
mit Buschmännern eingestellt hat. Ich bin nun der Meinung,
daß die Naturanlage zur Fettsteißbildung bei den Busch-
männern ursprünglich auf dem Wege natürlicher Anpassung
entstanden war und von den Menschen, speziell den Hotten-
totten, erst sekundär auf dem Wege geschlechtlicher. Zucht-
wahl inseiner Ausbildung gefördert und vergrößert wurde. Das
konnte aber weniger bei den in steter Wanderung begriffenen
und daher beweglicheren Buschmännern, als vielmehr in größerem
Maße bei den seßhafteren Hottentotten geschehen. Hier wurde
die Steatopygie als Schönheitsideal der Frau von Seiten des
Mannes großgezogen. Es fragt sich nun, wie es kommt, daß
speziell die Frauen die Steatopygie in höchster Ausbildung
zeigen? Berücksichtigen wir die Stellung der Frau bei diesen
Völkern, so wissen wir, daß die Buschmannfrau als „Lasttier“
des Mannes großen Strapazen bei geringerer Ernährung aus-
gesetzt ist. Der Mann huldigt in ausgesprochenem Maße der
Jagd, eine bedeutende Fettansammlung wäre ihm hinderlich
bei seiner Bewegungsfreiheit, auch hat das unstete Umher-
streifen als Jäger eine große körperliche Anstrengung zur
Folge, die keine besondere Fettansammlung auf die Dauer
zulassen würde. Als erfolgreicher Jäger fällt ihm durch den
Ertrag der Jagd auch dementsprechende Nahrung zu. Der
Buschmann ist Jäger, die Frau desselben ist Sammlerin. Ihre
gute resp. schlechte Ernährung ist bei ihrer sozialen Tief-
stellung von den Launen des jagenden Mannes abhängig.
Auch bei den Frauen einzelner afrikanischer Zwergvölker ist
Steatopygie nachgewiesen worden. Hier handelt es sich
ebenfalls um Jägervölker, die ursprünglich das gleiche
Leben auf offener Steppe wie die Buschmänner noch heute
führten, später aber in den Wald hineingetrieben wurden.
Sie haben sich die Steatopygie als Erbteil aus ihrem
Friedländer: Freie Eierstocksüberpflanzung 7
Steppenleben mit in den Wald hineingenommen. Auch
der Urmensch lebte in ähnlichen entbehrungsvollen Lebens-
verhältnissen.. Es muß bereits eine Zeit der Entbehrung für
ihn vorhergegangen sein, bevor er sich befähigt sah, aus
sexueller Zuchtwahl heraus die Steatopygie in dem Maße
zur Entwicklung zu bringen, wie sie uns bei den ver-
schiedenen Erzeugnissen seiner sculpturellen Tätigkeit vor
Augen tritt.
Unser Wissen über die Steatopygie ist keineswegs ab-
geschlossen. Aufgabe der Forschung wird es sein, in das
Wesen derselben tiefer einzudringen und die Art ihrer Ent-
stehung klarzustellen.
KZ
FREIE EIERSTOCKSÜBERPFLANZUNG.
Von Dr. med. KURT FRIEDLÄNDER.
E: ist heute bereits in weite Laienkreise die Erkenntnis ge-
drungen, daß der Unterschied der Geschlechter bedingt ist
durch die Verschiedenheiten der Keimdrüsen. Ein Mann ist
ein Mann eben durch das Vorhandensein des Hodens, ein
Weib ist das, was es ist, nur durch seinen Eierstock. Und
zwar wird dieser Unterschied rein biologisch nicht durch das
nach außen gelieferte Produkt dieser Keimdrüsen bestimmt;
ein Mann kann auch als Mann bezeichnet werden, wenn er
keine Samenzellen absondert, und ein Weib kann auch ein
Weib bleiben, ohne befruchtungsfähige Eier abzustoßen.
Die Sexusdetermination erfolgt vielmehr gemäß dem nach
innen ins Blut abgegebenen Produkt der Keimdrüsen. Das
Inkret bestimmt das Geschlecht. Die Samenzellen- und Eier-
bildung ist nur ein äußeres Merkmal dieser inneren Keim-
drüsensekretion, ebenso wie etwa bei der Frau die Bildung
der Brüste, das reichliche Fettpolster, das breite Becken, die
typische Schambehaarung und der auf den Mann gerichtete
Sexualtrieb andere deutliche Zeichen der innersekretorischen
Ovarialfunktion sind.
Allgemein herrscht wohl darüber Einigkeit, daß die Pro-
dukte der inneren Sekretion der Keimdrüsen den maßgebenden
Einfluß auf die Ausbildung der sekundären Geschlechts-
charaktere, seien sie somatischer, seien sie psychischer Natur,
8 Friedländer: Freie Eierstocksüberpflanzung
haben. Ich brauche hier nicht näher darauf einzugehen und
darf dies im Wesentlichen als bekannt voraussetzen.
Das Kapitel der inneren Sekretion, das heute der ganzen
biologischen Wissenschaft seinen charakteristischen Stempel
aufdrückt, hat durch die bekannten Arbeiten Steinachs eine
gewaltige Bereicherung erfahren, speziell hinsichtlich der
inneren Sekretion der Keimdrüsen. Die Versuche, dieses
Inkret der Keimdrüsen chemisch zu isolieren, um damit zu
experimentieren, haben zu einem unbestrittenen, therapeutisch
verwendbaren Ergebnisse noch nicht geführt. Wir sind bei
keinem Präparat, mag der Name auch noch so verlockend
klingen, sicher, wirklich den allein wirksamen Stoff vor uns
zu haben. Bei den Eierstockspräparaten liegen die Verhält-
nisse noch komplizierter, als bei denen des Hodens. Während
beim Hoden das Zwischengewebe, das zwischen den Samen-
kanälchen liegt, wohl allgemein als das Gewebe angesprochen
wird, das als der Träger des männlichen Inkretes aufzufassen
ist, herrscht beim Eierstocke darüber durchaus keine Einigkeit.
Die einen Autoren sehen im gelben Körper, die anderen in
der Eizelle und im Follikelepithel den Träger der Inkretion.
Und schließlich wird analog den Verhältnissen beim Hoden
dem Zwischengewebe die Hauptwirksamkeit zugeschrieben.
Ich kann in diesem Zusammenhang auf die komplizierten
Verhältnisse nicht näher eingehen. Ich verweise auf die aus-
führliche Darstellung in meiner kürzlich erschienenen Arbeit
„Die Impotenz des Weibes“.
Ich will hier nur resümieren, daß wir durch experimentelle
makroskopische und mikroskopische Beobachtungen gestützt,
berechtigten Grund zu der Annahme haben, daß das Inkret
des Ovariums vom Eierstockszwischengewebe geliefert wird,
daß also die sogenannte interstitielle Eierstocksdrüse den be-
herrschenden Einfluß auf die sekundären Geschlechtsmerkmale
ausübt. Nach Steinach besteht ein gewisser Parallelismus
zwischen der Masse des interstitiellen Gewebes und dem
Quantum des Inkrets und seiner Wirksamkeit. Je mehr
Zwischengewebe, um so stärker treten die sekundären Sexual-
merkmale hervor, umso stärker z. B. der Geschlechtstrieb.
Die Kenntnis von der Wichtigkeit der Keimdrüsen überhaupt
für die Ausbildung und Erhaltung der sekundären Geschlechts-
charaktere wurde uns zuteil durch die Beobachtung an Per-
Friedländer: Freie Eierstocksüberpflanzung 9
sonen, denen aus irgend einem Grunde die Keimdrüsen ent-
fernt wurden. In früheren Zeiten wurden hauptsächlich männ-
lichen Individuen die für operative Eingriffe leicht zugänglichen
Hoden entfernt, sei es, daß man diese Personen als Harems-
wächter wegen ihrer Zeugungsunfähigkeit, sei es als Sänger
wegen Erhaltenbleibens der knabenhaften Stimme schätzte.
Schließlich geschieht aus religiösen Gründen auch hente noch
die Verschneidung bei den Skopzen in Rußland und Rumänien.
Erst mit der Entwicklung und Ausbildung der operativen
Technik kommt man nunmehr auch häufig dazu, aus thera-
peutischen Gründen weiblichen Individuen die in der
Bauchhöhle liegenden Eierstöcke zu entfernen. Die danach
auftretenden Ausfallsymptome, die ein vorzeitiges Altern ein-
leiten und ein Erlöschen aller Geschlechtsfunktionen des
Weibes bedeuten, sind durchaus unerwünschte Nebenerschei-
nungen. Es bedeutet für jeden Operateur einen sehr schweren
Entschluß, einem jungen Weibe beide Eierstöcke nehmen und
sie damit zur geschlechtlichen Inaktivität verurteilen zu müssen.
Denn es hört damit nicht nur die Menstruation auf und die
Möglichkeit, zu konzipieren, sondern in den weitaus meisten
Fällen erlischt auch das Geschlechtsverlangen und die Ge-
schlechtslust; Libido und Orgasmus schwinden.
Die praktischen Versuche, durch Keimdrüsenextrakte von
Tieren diese Ausfallerscheinungen zu mildern, haben gewisse
nicht zu leugnende Erfolge aufzuweisen, der Fehler dieser
Präparate liegt nur, wie ich schon sagte, darin, daß keins den
allein wirksamen Stoff entbält, sondern daß sie alle mehr oder
weniger ein Gemisch von mehreren Stoffen darstellen,
Viel physiologischer muß es erscheinen, einem Individuum,
dem man eine Keimdrüse — da ich in diesem Aufsatz nur
von Frauen sprechen will, also ein Ovarium — genommen
hat, nicht Extrakte und Tabletten, sondern ihm einen Eierstock
von einem anderen Individuum einzuverleiben, oder wenn es
die besonderen Verhältnisse gestatten, das aus irgend einem
Grunde aus seiner normalen Lage entfernte Ovarium in toto
oder in Scheibchen an eine andere Stelle des Körpers zu
bringen. — Wir haben oben gesagt, daß die Ausbildung und
Erhaltung der sekundären psychischen wie somatischen Sexus-
merkmale ein Produkt der inneren Keimdrüsensekretion ist,
d. h. ein Produkt der interstitiellen Eierstocksdrüse. Wenn
10 Friedländer: Freie Eierstocksüberpflanzung
wir also Frauen vor den Ausfallserscheinungen nach Kastration
schützen wollen, wenn wir ihnen die typischen Geschlechts-
zeichen bewahren wollen, so muß unser Bestreben darauf
gerichtet sein, nicht die äußere Sekretion, die Reifung und
Ausstoßung von Eiern zu erhalten, sondern ihnen das Inkret,
das Produkt des ovariellen Zwischengewebes, zuzuführen.
Man hat sich bemüht, durch entsprechende Versuchsanordnung
diese Eierstocksdrüse zum Wuchern zu bringen, um auf diese
Weise eine stärkere Inkretion zu erreichen.
Man kann dies erzielen durch Ausschaltung der keim-
bildenden Elemente, beim Hoden der Samenkanälchen, beim
. Eierstock der Eibläschen, der Follikel. Beim Hoden stehen
uns vier Wege zur Verfügung:
1. die Unterbindung des Samenstranges,
2. die Zerstörung der samenbildenden Elemente durch
Röntgenstrahlen,
3. die freie Überpflanzung von Hoden, bei der ebenfalls
die Samenkanälchen atrophieren und das Zwischen-
gewebe hypertrophiert.
4. Die vierte Möglichkeit bietet uns die Natur selbst im
Leistenhoden, beim Kryptorchismus, wo die Samen-
kanälchen zerstört sind und wir oft fast eine Reinkultur
von Zwischengewebe vorfinden.
Beim Weibe haben wir nur zwei Wege zur Verfügung:
1. die Röntgenbestrahlung, bei der durch geeignete Do-
sierung die Eier zerstört werden und das interstitielle
Gewebe erhalten bleibt und zum Wuchern gebracht wird.
2. Die Transplantation.
Über die Röntgenbestrahlung der weiblichen Keimdrüsen
habe ich in meiner ausführlichen Arbeit zusammenfassend
berichtet und auch angedeutet, welches weite Arbeitsfeld auf
diesem Gebiet noch vor uns liegt. Bei der Verpflanzung von
Ovarien haben wir zunächst drei Formen zu unterscheiden:
1. die autoplastische Transplantation: die Verpflanzung
eines Ovariums an eine andere Stelle des Individuums.
2. die homoioplastische Transplantation: die Verpflanzung
eines Ovariums eines Individuums auf ein anderes
Individuum derselben Art.
3. die heteroplastische Transplantation: die Verpflanzung
des Ovariums eines Individuums auf ein Individuum
einer anderen Art.
Friedländer: Freie Eierstocksüberpflanzung 11
Die ersten Transplantationen stammen wohl von Knauer.
Er hat als erster den Nachweis erbracht, daß Transplan- .
tationen von Ovarien an Tieren mit gutem Erfolg möglich
seien. Fünfviertel Jahre nach der Transplantation trat bei
einem Kaninchen Schwangerschaft ein. Die Früchte wurden
ausgetragen. Diese Versuche wurden von anderen Autoren
mit Erfolg wiederholt. — Halban machte erfolgreiche Ver-
pflanzungen bei Affen (Cynocephalus) unter die Haut. Die
Menstruation blieb erhalten. Knauer hat bei der Homoio-
transplantation weniger Erfolge gesehen. Von 13 Verpflanzungen
fand er nur bei zwei Tieren noch nach 21 Tagen sicher funk-
tionsfähiges Ovarialgewebe. In einem andern Fall fand er nach
eineinhalb Jahren Ovarialgewebe ohne Keimepithel und Follikel.
Foà hatte Erfolge, wenn er die Ovarien neugeborener
Kaninchen auf frisch kastrierte weibliche erwachsene Tiere
verpflanzte. Diese Keimdrüsen entwickeln sich dann sehr
schnell zu geschlechtsreifen Ovarien. „Vielen Mißerfolgen bei
homoioplastischer Transplantation stehen eine Reihe positiver
Erfolge gegenüber. Es ist histologisch und biologisch der
Nachweis erbracht, daß homoioplastisch transplantierte Ovarien
einheilen, Eier ausstoßen und Corpora lutea bilden können, in
einigen Fällen istSchwangerschaft und Geburt beobachtet. Je höher
die betreffende Tierart ist, desto größere Schwierigkeiten bieten
die erfolgreichen homoioplastischen Transplantationen.“
Nach Unterberger findet man in den homoioplastisch
transplantierten Ovarien des öfteren Eizellen erwähnt, es fehlt
aber häufig jede Bildung eines Corpus luteum. Ein solches
Ovarium sei aber nicht mehr als funktionstüchtig zu bezeichnen.
Es findet sich bereits im Stadium des Niedergangs. Hierin
hat Unterberger nicht Recht. Im Niedergang befindet sich in
diesen Fällen nur der extrasekretorische Anteil des Ovariums,
die Eier reifen nicht und werden nicht abgestoßen; der in-
kretorische Teil dagegen zeigt andere Verhältnisse. Hier muß
man unterscheiden, ob es sich um eine Auto- oder Homoio-
transplantation einerseits oder um eine Transplantation von
Eierstocksgewebe in den kastrierten männlichen Organismus
anderseits handelt. In dem zweiten Fall findet eine verstärkte
Follikelatresie statt und damit eine vermehrte Umwandlung in
interstitielles Gewebe, die Follikel sind weniger befähigt aus-
zureifen und gelbe Körper zu bilden. Die Tätigkeit der
12 Friedländer: Freie Eierstocksüberpflanzung
Ovarienimplantate entwickelt sich mehr in der Richtung der
inneren Sekretion.
Die Verpflanzung von Ovarien in kastrierte oder nicht-
kastrierte weibliche Individuen (auto- oder homoioplastische
Transplantation) dagegen braucht die Corpus luteum Bildung
nicht zu beeinträchtigen. Es sind nicht wenige Fälle bekannt,
wo sogar Gravidität eintrat, sofern nur eine Vereinigung von
Ei und Same ermöglicht war.
Die zahlreich variierten Versuchsanordnungen von Athias,
Sand und speziell Steinach und die Transplantations-
Ergebnisse liefern einen wertvollen Beitrag zur Frage, welche
Elemente die Träger der inneren Sekretion seien. Wurden auf
kastrierte Männchen Ovarien transplantiert, so heilten diese
Keimdrüsen an und waren imstande, dem männlichen Orga-
nismus einen weiblichen Wachstumsimpuls zu geben. Die
männlichen Brustdrüsen hypertrophieren bis zur Milchsekretion,
auch das psychosexuelle Verhalten der Tiere wurde in weib-
licher Richtung beeinflußt, auch von andern männlichen Tieren
wurden sie als Weibchen betrachtet. Diese verstärkte innere
Sekretion hat ihr anatomisches Substrat in einer stärkeren
Wucherung der Zwischenzellen nach einem vermehrten Zu-
grundegehen von Follikeln. Lipschütz wirft in diesem Zu-
sammenhang die Frage auf, ob nicht auch homoio- oder auto-
plastisch transplantierte Ovarien auf kastrierte Weibchen eine
Vermehrung des Interstitiums zeigen, und glaubt diese Frage
auf Grund der Abbildungen von Marshall und Jolly bejahen
zu müssen. Exakt darauf hingerichtete Versuche liegen noch
nicht vor. — Daß aber die Resultate der Eierstocksübertragung
verschieden sein müssen, je nachdem ob es sich um kastrierte
männliche oder weibliche Individuen handelt, erscheint mir
klar zu sein, denn wir müssen uns gewöhnen, den Chemismus
des Ovariums in den Chemismus der gesamten Blutdrüsen
einzuordnen, bezw. ihn unterzuordnen. Und ein von vorn-
herein männlich bestimmtes Blutdrüsensystem wird anders auf
die Implantation reagieren, als ein weiblich determiniertes.
Bei Frauen ist die autoplastische Verpflanzung von Ovarien
in zahlreichen Fällen mit Erfolg durchgeführt, um die
Patientinnen vor vorzeitigem Klimakterium zu bewahren oder
zumindest die Menopause um ein paar Jahre hinauszuschieben
Meistens ist im Anschluß an die beiderseitige Adnex-
Friedländer: Freie Eierstocksüberpflanzung 13
exstirpation ein Stück eines Ovariums in das Lig. latum, in
die Tube, in die Plica vesico-uterina oder in den Uterus
implantiert worden (Morris, Dudley, Pankow, Cramer).
Kayser hat sogar nach Entfernung beider Adnexe zwei keil-
förmige Stücke von -Eierstocksgewebe in den rechten Ober-
schenkel verpflanzt. Nach zehn Tagen trat die erste Regel
auf, die weiteren Menses waren unregelmäßig. Die Libido
war gesteigert. Diese Mitteilung ist für uns wichtig, denn es
ist anzunehmen, daß in den beiden keilförmigen Stücken durch
die Verpflanzung eine Vermehrung des Zwischengewebes auf-
trat, die das gesteigerte Geschlechtsverlangen bewirkte. Tuffier
hat 109 erfolgreiche Autotransplantationen in das subkutane
Gewebe der Bauchhaut ausgeführt. ‚Unmittelbar nach der Trans-
plantation traten Ausfallerscheinungen auf, die nach Einsetzen
der Regel verschwanden. Der Zeitraum zwischen Transplan-
tation und erster Menstruation betrug zwei bis sieben Monatel
Beckwith Withehouse wandte 1913 zum ersten Male
die „Stückchen-Transplantation* an. Er verpflanzte nicht
ganze Ovarien, sondern Stücke ins subperitoneale Gewebe
und zwischen Rektus und vordere Rektusscheide Die Menses
sollen sich ohne dymenorrhoische Schmerzen in größeren
Pausen gehalten haben. Die sexuellen Funktionen waren
normal. Unterberger hat ebenfalls 19 erfolgreiche auto-
plastische Verpflanzungen ausgeführt. Er beobachtete wie
Tuffier zuerst das Auftreten von Ausfallserscheinungen — die
mit dem Einsetzen der Menses verschwanden — Menopause
nach der Transplantation zwei bis sechs Monate. Nach seiner
Ansicht kann autoplastisch verpflanztes Eierstocksgewebe noch
nach fünf Jahren funktionstüchtig sein.
Die Indikationen für eine homoioplastische Transplantation
beim Weibe sind im Prinzip etwas abweichende. Es wird
sich im allgemeinen darum handeln, die eigenen Ovarien des
betreffenden Individuums, die selbst eine Hypofunktion auf-
weisen, in ihrer Tätigkeit durch Implantation eines fremden
Ovariums anregen. Meistens wird es sich um hypoplastische
Personen handeln, deren Genitalien infantil sind, deren sekundäre
Geschlechtscharaktere unentwickelt sind. In solchen Fällen
ist der Geschlechtstrieb oft wenig oder garnicht ausgesprochen,
das Fettpolster ist gering und die Brüste sind klein, wobei
nicht zu vergessen ist, daß die Größe einer Brust oft durch
14 Friedländer: Freie Eierstocksüberpflanzung
reichliche Fettentwicklung vorgetäuscht wird, während das
Drüsenparenchym nur spärlich vorhanden ist.
Die bis jetzt ausgeführten homoioplastischen Transplan-
tationen sind nicht zahlreich.
Morris hat drei gute Resultate aufzuweisen. Bei einem
bemerkenswerten Falle trat vier Jahre nach Verpflanzung in
einen Schlitz des Lig. latum Gravidität und Partus auf. Das
Kind wurde gestillt. Hooper, Le Lorier und Cramer
hatten Erfolge zu verzeichnen. Döderlein und Krönig im-
plantieren bei vorher kastrierten Frauen ohne Dauerresultat.
Vier bis sechs Wochen nach der Operation war eine Besserung
zu bemerken, dann trat der alte Zustand wieder ein. Unter-
berger hält es für wichtig, die Eierstöcke, oder zumindest
einen zurückzulassen; durch das implantierte Ovarium wird
die Inkretion des eigenen Ovariums angeregt und kann dann
später selbständig funktionieren. Er selbst hat eine erfolg-
reiche Verpflanzung ausgeführt.
Nach Unterberger liegt eine Indikation für Homoiplastik
nur dort vor, wo ein infantiler Genitalapparat oder Atrophie
der Ovarien mit heftigen Beschwerden diagnostiziert wird.
Da der Eingriff — Implantation zwischen die geraden Muskeln
der vorderen Bauchwand — ein kleiner ist — eine Eröffnung
der Bauchhöhle ist ja nicht nötig — so würde es sich wohl
lohnen, die Indikation auch auf die germinale Impotenz aus-
zudehnen. Ich verstehe darunter die Form der Impotenz des
Weibes, bei der infolge einer Unterfunktion des inkretorisch
wirksamen Övarialteiles das Gehirn durch die Inkrete, durch
die Eierstockshormone zu wenig oder garnicht erotisiert wird.
Es resultiert daraus dann ein Zustand, bei dem die Frau
weder Lust zum Verkehr, noch Lust im Verkehr empfindet. —
Wenn wir uns vor Augen halten, welchen verderblichen Ein-
fluß diese, sonst gar nicht oder kaum zu bessernde Impotenz-
form auf das Eheleben haben kann und oft genug hat, so wird
dies unsern Entschluß zu einem Eingriff erleichtern.
Die freien Hodenverpflanzungen, die in letzter Zeit häufiger
und mit einwandfreiem Erfolge bei Kastraten und Homo-
sexuellen ausgeführt wurden und die durch eine vermehrte
innere Sekretion des Transplantates einen deutlichen Einfluß
auf das psychosexuelle Verhalten ausübten, speziell die Libido
wesentlich verstärkten, berechtigen uns, auch beim Weibe mit
Fehlinger: Vom Geschlechtsleben afrikanischer Zauberkulturstämme 15
vermindertem oder fehlendem Geschlechtstrieb eine freie
Eierstocksüberpflanzung zu versuchen. Selbstverständlich, um
es noch einmal zu betonen, nur bei innersekretorisch bedingter
Impotenz, wenn alle psychischen und sonstigen Hemmungen
ausgeschaltet sind, wenn wir in der Impotenz ein organisches
und nicht ein seelisches Symptom zu erblicken haben.
REM
VOM GESCHLECHTSLEBEN AFRIKANISCHER
ZAUBERKULTURSTÄMME.
Von H. FEHLINGER, Mitglied des Internationalen Arbeitsamtes Genf.
D: Zauberglaube ist die Weltanschauung der Australier und
Melanesier, aber auch eines großen Teils der afrikanischen
und südamerikanischen Völker. Im Gegensatz zu sämtlichen
anderen Kulturen mangelt der Zauberkultur die Idee eines Gottes,
d. h. einer unsterblichen, übersinnlichen Persönlichkeit, zu der
die Menschen oder ein Teil von ihnen nach dem Tode wieder
hinstreben. Von den Stämmen der Zauberkultur in Kamerun
sagt G. Tessmann in der Zeitschrift für Ethnologie (51. Jahr-
gang, S. 142 u. f.), daß sie an den Anfang der Menschheits-
geschichte einen männlichen und weiblichen Urgedanken stellen,
versinnbildlicht in einem großen Baumwollbaum und einer Liane,
die nicht anders zu deuten sind, als Bilder für die Geschlechts-
werkzeuge, wobei die Liane oder Schlange das männliche Glied,
die Nischen zwischen den Brettwurzeln des Baumwollbaumes
bezw. Höhlungen in anderen Bäumen den weiblichen Geschlechts-
teil bedeuten. Aus der Vereinigung der Liane und des Baum-
wollbaumes entstand der erste Mensch und Stammvater des
Stammes. Er war zwar mit außergewöhnlichen Kräften, nämlich
Zauberkräften, ausgestattet, aber auch nur Mensch, und ist
daher auch gestorben. Es ist anzunehmen, daß die Auffassung
vom Tode in unserem Sinn den Zauberkulturstämmen ursprüng-
lich unbekannt war. Für sie war der Tod zugleich der Beginn
eines neuen Lebens auf der Erde in derselben Form, insofern
der Verstorbene in einem Kinde wieder aufs neue geboren
wurde. Auch die afrikanischen Zauberkulturstimme haben
diesen Gedanken früher einmal gehabt, bei den Australiern hat
er sich bis heute erhalten. Der Glaube an die Wiedergeburt
16 Fehlinger: Vom Geschlechtsieben afrikanischer Zauberkulturstämme
ist bei den Zauberstämmen freilich nicht auf Naturphilosophie
begründet, sondern er beruht auf der Auffassung von der
Allmacht des Zaubers, aus der sich die überragende Stellung
des Zauberers in. der primitivsten Gesellschaft ergibt. Die
kamerunischen Zauberstämme glauben, daß die Mutter die
Zauberkraft auf die Kinder vererbt; sonst wird in der Regel
angenommen, daß sie vom Vater auf den Sohn übergeht.
Als Zauberinstrumente fand Tessmann bei den Bafia in
Mittelkamerun: Bilder des Stammvaters und der Stammutter;
Menschen- und Leopardenknochen; das Schwirrholz, das eigent-
lich den unsichtbaren Körper des Vorfahren darstellt, der dann
wieder bei der Geburt im Kinde auflebt; und endlich die
Holzfigur eines Hundes. Der Hund gilt den Leuten in reli-
giöser Hinsicht als Sinnbild des Geschlechtsverkehrs und
Tessmann zeigt, daß das Geschlechtsleben der Bafia in der
Tat mit den Gebräuchen unserer so beliebten Vierfüßler über-
einstimmt. Für den jungen Mann der ersten Geschlechtsstufe,
den Kiembe, besteht die Vorstufe einer als Landessitte bezeich-
neten Gleichgeschlechtlichkeit, aus der sich dann der mann-
weibliche Geschlechtsverkehr erst entwickelt. Er findet in
Form des nächtlichen Frauenraubes (oder besser „Frauendieb-
stahls“, wie die Neger sagen) statt, wobei die Frau natürlich
mit einverstanden sein muß. Sie gilt nun aber nicht als Eigen-
tum des Einzelnen, sondern als solches aller geschlechts-
verkehrenden Jünglinge und Männer der Sippe. Als öffentliche
Bezeugung dieses Zustandes gilt die Sitte, daß der Frauen-
räuber selbst die Frau erst nach seinen Sippengenossen gebrauchen
darf. Da dies bei der großen Zahl der Bewerber in der ersten
Zeit häufig noch nicht geschehen ist, so kommt es vor, daß
die Frau inzwischen von anderer Seite wieder geraubt wird
und der Räuber dann nicht einmal zu seinem Rechte kommt.
Eine Ehe gibt es nicht, das Entscheidende für das Zusammen-
leben der beiden Geschlechter war und ist heute noch das
Kind. Wie sehr diese Leute sich selbst erkannt haben, wenn
sie den Hund als geheiligtes Sinnbild ihres geschlechtlichen
Lebens wählten, beweisen die Frauenraubnächte. Sie sind
nämlich einer Hundehochzeit völlig an die Seite zu stellen, es
herrscht dabei ein Geschrei, Gerufe und Geheul, das nur der
sich vorstellen kann, der es miterlebt hat. Infolge der Tat-
sache, daß der Bafia nichts darin findet, seinen geschlecht-
Tafel II
Hottentottenweib mit Steatopygie
Zu Sokolowsky: Die Fettsteißigkeit beim Menschen
Tafel UI
Fettschwanzschaaf
Zu Sokolowsky: Die Fettsteißigkeit beim Menschen
me A E E e — —————<=——к—————= er
Tafel IV
a et
Darstellung des erotischen Momentes im Geiste der italienischen Renaissance nach
Giacomo Palma (* ca. 1480, } 1528 zu Venedig), dem besten Schilderer der vene-
tianischen Frauenschönheit. (Zum Aufsatz Reitzenstein.)
Auffassung des Mannes in der deutschen Renaissance nach H. Aldegrever (* 1502 zu
Paderborn, + 1560 zu Soest). (Zum Aufsatz Reitzenstein.)
Fehlinger: Vom Geschlechtsleben afrikanischer Zauberkulturstäimme 17
lichen Trieben freien Lauf zu lassen, gibt es auch kein Scham-
gefühl, noch eine Bekleidung der Geschlechtsteile. Die Ver-
deckung der Eingänge in die Geschlechtsteile, beim Mann
durch einen Eichelstulp, beim Weib durch einen Clitorisstift,
führen die Leute selbst auf das Schutzbedürfnis vor dem Ein-
kriechen kleiner Insekten, zumal Ameisen, zurück. Eichelstulpe
und Clitorisstifte, von denen es solche für die Arbeit, für den
Alltag und für die Festtage gibt, sind ‚im letzteren Falle so
auffallend und niedlich gearbeitet, daß sie geradezu die Auf-
merksamkeit auf die Teile, die sie decken, lenken.
Die Beschneidung haben die Bafia von Nachbarstämmen
übernommen, die zu einem anderen Kulturkreise gehören und
sie als religiöse Handlung üben. Bei den Bafia wurde sie
zum Mittel des Fruchtbarkeitszaubers, sie soll die Zeugung
ermöglichen. Auf ihre erst in verhältnismäßig neuer Zeit erfolgte
Übernahme weist der Umstand hin, daß ihr noch nicht alle
Männer unterworfen werden. Wird ein nicht beschnittener
Mann Vater, oder bleiben bei einem beschnittenen Manne
Kinder aus, so wird angenommen, daß eine von außen kom-
mende böse Zauberei im Spiele sei. Die Beschneidung hat
bei den Bafia eine Bedeutung bekommen, die ihr ursprünglich
fremd war. Das kommt auch sonst bei Übernahme von fremden
Kulturgütern häufig vor. Überdies ist es wahrscheinlich, daß
- die Beschneidung, auch wo sie eigenes Kulturgut ist, nicht
stets auf die gleiche Veranlassung zurückgeführt werden darf.
Verschiedene Motive geben oft zu einem äußerlich überein-
stimmenden Kulturmerkmal Anlaß. Ebenso wäre es falsch, die
geschlechtlichen Sitten der Bafia als Überrest eines einstmals
weit verbreiteten Zustandes anzusehen. Sie sind vielmehr aus
besonderen Veranlassungen heraus entstanden, die wir zwar
nicht kennen, von denen wir aber auch nicht annehmen dürfen,
daß sie allgemein oder doch bei vielen Völkern bestanden hätten.
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Abb. 1. Jungfern-Pflugziehen (zu Seite 25).
BETRACHTUNGEN ÜBER DAS LIEBESLEBEN IN
DER ZEIT -DER RENAISSANCE UND DER PERIODE
DER GALANTEN.
Von FERD. FRHR. VON REITZENSTEIN, Dresden.
1. Das Geschlechtsleben in der Zeit der Renaissance
und der Galanten.
a) Allgemeine Gesichtspunkte.
on Seiten gewisser Kreise, die sich immer als besonders
NR „deutschnational“ brüsten, wird neuerdings in Gemeinschaft
mit den Moralisten jede Bewegung, die für eine freiere Auf-
fassung des Sexuellen eintritt, bekämpft und dabei darauf hin-
gewiesen, daß damit deutscher Geist gefährdet würde. Nun,
wir dürfen annehmen, daß diese Herren sich über den echt
deutschen Geist unserer Vorfahren, den sie immer zitieren, gar
nicht klar sind. Woher sollten sie es auch? Wollen wir uns
daher die letzt vergangenen Jahrhunderte einmal daraufhin ansehen.
Es waren andere Menschen mit einem ganz anderen Fühlen
und Denken wie das heutige. Mit einem für uns kaum glaub-
lichen Freimut drückte man sich aus und besprach öffentlich
Dinge, die unsere mimosenhaft schamhafte Zeit „entsetzlich“
findet. Es liegt das zum Teil daran, daß viele Worte, die
man heute selbst im engsten Freundeskreise nicht mehr an-
wendet, damals noch nicht so abgegriffen waren und als
alte, gute deutsche Bezeichnungen stets gebraucht wurden.
Man nannte eben das Kind sozusagen beim Namen und ver-
schmähte es, sich in Umschreibungen zu ergehen. Wer daraus
Reitzenstein: -Betrachtungen über das Liebesleben 19
jenen Zeiten einen Vorwurf macht, muß es sich gefallen lassen,
daß man ihn als einseitig in unserer heutigen Weltanschauung
befangen betrachtet. Er läuft Gefahr, in kommenden Jahr-
hunderten vielleicht mit ebensolcher Verachtung betrachtet zu
werden, wie er sie den Zeiten unserer ehrlicheren Väter glaubt
entgegenbringen zu müssen, denn sicherlich kommt wieder eine
Periode, in der man die Heuchelei mehr hassen wird als die
Wahrheit. In der Tat sind wir heute schließlich auch
nicht anders als unsere Vorgänger in jenen Zeiten, wie es
überhaupt ein Erfahrungsgrundsatz ist, daß sich die Menschen
in allen gesunden, naturfrischen Perioden gleichbleiben. Es
handelt sich im Grunde immer nur darum, unter
:welchen äußeren Formen sich das Leben abspielt, und
wie man es zu jeder Zeit beurteilt. Was als sittlich
gut und sittlich schlecht anzusehen sei, war stets
reine Modesache, da man eigentlich niemals von rein
natürlichen Gesichtspunkten ausging, die allein eine
allgemeingiltige Grundlage für eine gesunde Ethik
abgeben könnten. Es kann nicht bezweifelt werden, daß
weder Moralpredigten noch Gesetze den Menschen in seinem
Sexualleben wesentlich beeinflussen; denn je mehr Gesetze
geschaffen werden, desto mehr Verbrechen werden begangen,
desto mehr krankhafte Ausschreitungen kommen vor. So ist
es falsch, der Reformation eine Lockerung der ehelichen
Bande und die Tendenz der Verunsittlichung zuzu-
schreiben, denn Reformation wie entartetes Geschlechtsleben
sind beides Abzweigungen der Renaissance. Die Reformation
ist die geistige Befreiung der Welt von dem auf ihr lastenden
Gewissensdruck*) und die „gelockerte Moral“ eine Folge jenes
Vorspiegelns einer Pseudosittlichkeit, wie es die Mora-
listen und Fanatiker jener Zeit besonders in der Übung hatten.
Beide Strömungen gehen von der Individualisierung der
Menschen aus, die die Seele der Renaissance ist.*) Eine
Individualität will weder geistig noch physisch gedrückt sein
und übt einen Gegendruck aus, dem oft die richtige Berechnung
für den geeigneten Haltepunkt fehlt, so daß er das Ziel gar
oft überschreitet. Selbst die verschiedenen Länder erscheinen
*%) Vgl. Reitzenstein „Entwicklungsgeschichte der Liebe“, S. 87ff., wo
bereits eine Charakteristik der Renaissance gegeben ist.
2
20 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben
verschieden. Italien hatte wahrhaft gigantische Naturen ge-
zeugt, die für die von ihnen geschaffene freie Liebe gerade
groß genug waren, so groß, daß sie selbst dort gewaltig er-
scheinen, wo sie die Grenzen dessen, was erlaubt ist, über-
schreiten, nämlich im Verbrechen. Frankreich war galant
und blieb es; aber es fand nie jenen Boden, auf dem es sich
dem Weibe gegenüber zu einer imponierenden Individualität
hätte auswachsen können. Seine „Helden“ wissen ihren Hand-
lungen nicht den Stempel des absolut zielbewußten, selbständigen
Handelns aufzudrücken; sie erscheinen vielmehr stets als die
Sklaven ihrer Leidenschaften. So wurde hier das Weib zum
Spielball der Launen des Mannes und — da ihm noch mehr
jeder individuelle Rückhalt fehlte als dem Manne — zum Opfer
seiner eigenen sinnlichen Erregtheit, die wie eine lange zu-
sammengepreßte Ladung von Elektrizität schlummerte und sich
bei jeder Berührung mit einem Manne entlud. Aber hier ist
die Entladung eine zügellose, keine gewaltige wie bei der Frau
der italienischen Renaissance, die eben nur bestimmten
Männern sich hingab, dann allerdings schrankenlos, immerhin
aber mit einer gewissen individuellen Größe. Dafür sank das
Italien der Renaissance auch sehr rasch dahin; seine Größe
war das letzte gewaltige Aufleuchten antiken Geistes, und man
kann sagen, daß es lange Zeit aufgebraucht war. Frankreich
hatte seine Kräfte langsamer ausgegeben und schuf das Zeit-
alter Ludwigs XIV. und das Napoleons. Deutschland spielt
eine eigenartige Rolle. In einzelnen seiner Erscheinungen werden
wir gewissermaßen an Italien erinnert, aber das germanische
Element mit seiner realen und ruhigen Auffassung verhinderte
ein Verpuffen; es behielt etwas von seiner alten herben Derb-
heit, aber neben ihr eine ungemein zarte poetische Weltauf-
fassung, die dem kulturellen Leben immer wieder neuen Nähr-
boden gab. Dazu kam, daß Italien sehr bald in eine heuch-
lerische Pseudomoralität verfiel, während in Deutschland mehr
Offenheit und Ehrlichkeit an der Tagesordnung blieb, die heute
allerdings auch dahin geht. Noch heute entsetzen sich Italiener,
wenn sie die Ungeniertheit unserer Liebespärchen sehen; sie
finden es schauderhaft, daß Bänke in Anlagen Zeugen intimer
Liebeleien sein können, und loben ihr Land als das moralisch
bessere, weil man derartige Bilder nicht zu sehen bekäme.
Und doch tun sie es mit Unrecht. Man lebt in Italien auch
|4
аа
Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 21
nicht enthaltsamer als in Deutschland, aber man verbirgt es
mehr. Außerdem ließ die Abschließung der Frauen vor allem
homosexuelle Neigungen in den Vordergrund treten, und
diesen huldigt man recht öffentlich. Wenn auch unser & 175
des Strafgesetzbuches ein Unrecht ist, wollen wir doch lieber
unseren Liebespärchen auf einer stillen Bank die größte Frei-
heit lassen, als das Öffentliche Auftreten der homosexuellen
Liebe begünstigen, denn den Geschlechtstrieb schafft
niemand aus der Welt; man kann ihn höchstens in andere
Bahnen lenken, und das wäre für uns noch unnatürlicher,
Was haben Klöster und ähnliche Anstalten vom Zölibat, wenn
sie ihn wirklich durchführen? Die Zeitungen beantworten uns
diese Frage leider zu oft. Fällen wir also kein allgemeines
Urteil über unsere deutsche Vergangenheit und über unsere
deutschen Frauen; sie waren doch die besten, selbst wenn sie
mehr für ihre Befriedigung brauchten, als wir heute für gut
finden, denn sie hatten auch sonst mehr Kraft übrig als unsere
heutige abgearbeitete Zeit. Darin allein liegt auch der richtige-
Maßstab für das Urteil darüber, ob eine Periode als geschlecht-
lich ausschweifend zu erachten sei oder nicht. Bewegt sich
das Geschlechtsleben in natürlichen Bahnen und unter-
gräbt es nicht die Kraft eines Volkes, dann ist es auch
nicht unsittlich, weil es eben nur eine Äußerung jener
Kraft ist. Die größere Gefahr ist dabei nicht der geschlecht-
liche Verkehr, sondern der übertriebene Luxus, der sich bei
verkehrter Regelung damit verbindet.
Hier mag zugleich ein öfters erhobener Einwand besprochen
werden. Es gibt Historiker, die sich als Rechtsanwälte ge-
bärden und jeden Menschen glauben reinwaschen zu müssen.
Sie führen aus, jene zeitgenössischen Schilderungen des da-
maligen Lebens seien übertrieben oder gar völlig erdichtet,
und die Frauen unserer Vorfahren seien vielmehr stets die
guten und anständigen Hausmütter gewesen, wie sie die Ge-
schichte immer gekannt habe. Sicherlich waren sie gute Haus-
frauen, das zeigen die Leistungen jener Zeit, zu deren Aus-
führung sie mitberufen waren. Was dies aber mit unserer
heutigen Mode in geschlechtlichen Fragen zu tun haben soll,
ist nicht einzusehen. Die Quellen sind klar und einwandfrei;
die Menschen waren aber wegen ihrer freieren Auffassung
und ihres ungezwungeneren Lebens nicht nur nicht schlechter
22 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben
sondern sogar besser, die gute alte Zeit hat existiert, aber
nicht insofern, daß sie „moralistischer*, sondern daß sie ehr-
licher, natürlich war. Oder soll ein Weib deswegen keine
brauchbare Hausfrau sein können, weil es als Mädchen
mehrere Liebesverhältnisse hatte? Ist nicht heute unser
Bauernstand in seinem häuslichen Leben gesünder
als die größte Zahl unserer ersten Kreise? Und doch
treten da die Mädchen nahezu alle defloriert in die Ehe
und haben zu mehreren Burschen in Beziehung gestanden.
Unter unseren Bauern finden wir vielfach noch dieselben An-
schauungen in geschlechtlichen Fragen, dieselbe Derbheit der
Sprache, wie sie im 15., 16. und 17. Jahrhundert allgemein
herrschten. Der Unterschied ist eben in der Hauptsache der,
daß diese Zeiten ihre offenen und ehrlichen Schilderer fanden,
die auch offen und ehrlich sprechen durften, während der
heutige Bauernstand sehr wohl fühlt, daß seine Anschauungen
denen der sogenannten Gesellschaft zuwiderlaufen, und deshalb
wenig mitteilsam gegen Beobachter wird. Außerdem sehen
sich diese Beobachter noch nicht veranlaßt, die Verhältnisse
zu schildern, wie sie wirklich sind, um nicht in den Geruch
der „Unsittlichkeit“ zu geraten. Der Vorzug dieses Bauern-
standes ist aber, daß er gerade infolge dieser geschlecht-
lichen Freiheit kerngesund ist, während die bürgerlichen und
ersten Kreise an widernatürlichen Lastern und an der echten
Prostitution kranken. Wir dürfen also — abgesehen von deut-
lich als solche erkennbaren Karikaturen, die wir zumeist den
Moralpredigern jener Zeit verdanken — uns die Menschen
so vorstellen, wie sie uns geschildert sind, und gerade
deshalb auch auf ihre soziale Gesundheit schließen. Freilich
schwelgen Moralprediger aller Zeiten darin, Einzelfälle, die an
sich gesund und natürlich waren, so auszumalen, daß sie zu
einem häßlichen Zerrbilde werden. Schon 1472 schreibt der
Propst Stephan von Lantzkranna in Wien in seiner „Himmels-
straß“* gegen die volksverderbenden „schamlosen Bilder“;
heute kämpften und kämpfen Roeren, Bohn und Brunner Seite
an Seite und predigen den baldigen Untergang unseres Volkes;
in wiederum 500 Jahren werden vielleicht andere denselben
Kampf kämpfen, und das Volk wird — sich gleichbleiben.
Wahrheit und Liebe werden ihren Gegnern nicht erliegen, und
Uhlands Wort: „Solang es nicht eine greise Jugend gibt, wird
e
di.
Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 23
stets das Liebeslied die Blume der Lyrik sein“, wird diesen
eigenartigen Menschen zum Trotz hoffentlich recht lange Gel-
tung behalten. Und die Liebe ist stets dieselbe, sie äußert sich
nur in verschiedener Art der Öffentlichkeit gegenüber, je nach-
dem es die Mode diktiert.e Daß man damals sehr frei
sprechen konnte, darf uns nicht wundern, weil man überall
zu den Kindern über geschlechtliche Verhältnisse
ganz offen sprach. Mit anderen Worten: man erzog
die heranwachsenden Menschen ohne jede Geheimnis-
tuerei und brauchte darum später sich nicht den Kopf
zu zerbrechen, wie man die Jugend „aufklären“ solle.
So gab der berühmte Erasmus von Rotterdam im 16. Jahr-
hundert ein sehr verbreitetes Lesebuch heraus, das viele Tau-
sende, ja Millionen von Kindern benutzten; ursprünglich war
es lateinisch geschrieben, dann wurde es ins Deutsche, Fran-
zösische, Englische, Spanische, Hölländische übersetzt. Es wird
darin rückhaltlos von geschlechtlichen Dingen gesprochen.
Dort lesen wir z. B.: „Gewisse Frauen sind so eigensinnig,
daß sie sogar beim Koitus zanken und streiten.“ Oder der
Verfasser erzählt Episoden, wie die folgende:
„Zwei junge Ehefrauen sprechen über ihre Männer. A: Ein besseres
Verhältnis zum Ehemann entsteht, wenn aus dir ein Kind geboren wird.
B: Das ist ja schon. A: Wann denn? B: Unlängst. A: Wieviel Mo-
nate sind es? B: Beinahe sieben. A: Was hör’ ich? Du bindest uns
den Witz auf, daß du drei Monat schwanger warst. B: Keineswegs.
A: Es muß doch so sein, wenn du die Zeit vom Hochzeitstage rechnest.
B: Schon vor der Ehe hatte ich mit ihm Zusammenkünfte. A: Und durch
die Zusammenkünfte werden Kinder geboren? B: Als wir zufällig allein
waren, fing er an zu spielen, kitzelte mich an den Schultern und an den
Seiten, und ich mußte arg lachen. Da ich das Kitzeln nicht aushalten
konnte, legte ich mich rückwärts aufs Bett; er legte sich auf mich, küßte
mich und — ich weiß nicht, was er sonst noch alles tat: kurz und gut,
nach einiger Zeit begann mein Unterleib zu schwellen. A: Verachte jetzt
deinen Mann, wenn er so tändelnd Kinder zeugt; was wird er tun, wenn
er die Sache mit Ernst anfängt? B: Ich glaube, ich bin jetzt schwanger.“
Dazu kam die Lektüre der Bibel, wenigstens bei protestan-
tischen Kindern, und dergleichen mehr; kurzum, man sieht
deutlich, daß die Jugend ohne Rückhalt erzogen wurde.
Auch die Beichten waren dementsprechend. Der außerehe-
liche Verkehr galt nicht für unsittlich. Hermann von Weins-
berg erzählt in seinen Aufzeichnungen frei und ohne Rückhalt
davon; er spricht (Mitte des 16. Jahrh.) von einer außerehelichen
24 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben
Tochter seines Vaters, von einem Mädchen, das ein Kind von
seinem Bruder Gottschalk hat, der dieses Kind unterstützt.
Weiterhin erzählt er seine eigenen Liebesfreuden mit der Magd
seiner Mutter und sagt aus, daß er für Entbindung und außerdem
16 Gulden Alimente jährlich zahlen muß. Selbst mit Bildern
war man nicht allzu ängstlich. Ein französischer Adliger
schenkte unter König Heinrich Ill. seiner Geliebten ein Büch-
lein, in dem 32 Damen vom Hofe in hocherotischen Situationen
mit ihren Liebhabern dargestellt waren. Bilder intimer Szenen
aus dem Leben der Maria Stuart oder der Katharina von Me-
dici waren nicht selten; man hielt die Darstellungen für selbst-
verständlich. Es ist dies auch wenig wunderbar, wenn man
bedenkt, daß jene Menschen weit leidenschaftlicher und feuriger
veranlagt waren als wir heute. Man predigte auch nicht gegen
das Nackte, und es ist kein Zweifel, daß man gerade in dieser
Periode die wirkliche Schönheit eines nackten Körpers zu
würdigen wußte, ohne direkt Hintergedanken zu haben, wie sie
die heutigen Moralprediger offenbar hinter jedem suchen, der
einen nackten Körper oder ein Bild von diesem betrachtet.
So traten bei den mittelalterlichen Passionsspielen Adam und
Eva nackt auf; 1461 wirkten bei einem Festspiel in Paris, bei
dem Ludwig XI. als Zuschauer zugegen war, drei nackte Mäd-
chen als Sirenen mit; ebenda wurde 1468 das Urteil des Paris
aufgeführt, wobei die Darstellerinnen der Göttinnen völlig un-
bekleidet waren. Zogen Kaiser oder Könige in Städte ein, so
kam ihnen die Bürgerschaft entgegen, an deren Spitze die
öffentlichen Mädchen nackt. All dies sah natürlich auch die
Jugend. Ebenso lag Noah im Passionsspiel nackt auf der
Bühne. Über Kommnächte und ähnliche Gebräuche habe
ich an an anderen Orten bereits gesprochen.*) Weder den
öffentlichen noch den Bordellmädchen haftete später ein
Makel deswegen an; es wurde ihnen sehr erleichtert, daß sie
sich verheiraten konnten. Der Bordellbesitzer mußte ein solches
Mädchen sofort freigeben, wenn ein anständiger junger Mann
es als Eheweib forderte; ja, die Schuld war ihnen erlassen,
mochte sie auch noch so groß sein. „Wer eine arme Sün-
derin aus dem Gemeinen Hause zur Ehe nimmt, soll vor allem
*) Vgl. Reitzenstein: „Liebe und Ehe im Altertum“, S. 57 und „Liebe
und Ehe im Mittelalter‘, S. 80, 91.
Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 25
andern eine Aussteuer von 12 Gulden haben“, berichtet uns
Holthaus. Es ist höchst charakteristisc с ier zwei An-
schauungskreise sich widersprechen. Der Name der Mädchen
(arme Sünderin) ist kirchliche Schöpfung, und ihre gesetzliche
Beurteilung ist trotzdem frei davon, weil sie eben dem Empfinden
des Volkes entsprungen ist. Schon damals wußte man ganz
gut — offenbar aus Erfahrung —, daß recht gute Hausfrauen
aus ihnen hervorgehen konnten. So sagt ein Vater in einem
Nürnberger Gedicht: betitelt: „Wie ain junger gsell weyben soll“:
„Ich siehs und hör eß oft sagen,
Das sy sindt geraten gar wol,
Die jung waren püberei vol,
Verlyssen den pübschen orden
Und sind frumm eefrauen worden.“
Nimmt man diese nüchterne Beurteilung und bedenkt, daß ent-
sprechend den Kommnächten und dem übrigen Liebesleben
wohl nur wenige Mädchen nicht defloriert in den Ehestand
traten, dann wirken Aussprüche, wie im Freidank:
„Noch besser wär eines Igels Haut
Im Bett als eine leide Braut.“
höchst lächerlich. Freilich stand in den Gesetzen, die immer
mehr oder weniger unter kirchlichem Einfluß gegeben waren,
so etwa im schwäbischen Landrecht: jedermann, der seine
Gattin nicht mehr für eine Jungfrau hielte, könne von
deren Eltern fordern, daß sie den Gegenbeweis erbringen, d. i.
„jr junckfraulichen zaichen“ aufweisen sollten. Dementsprechend
hätte man das Bettuch der ersten Nacht vor Gericht bringen
müssen. Dies wird jedoch recht selten geschehen sein, zumal
da der Mann 40 Stockprügel erhielt, wenn er sich getäuscht
hatte. Eine solche Täuschung war selbst dann leicht zu er-
zielen, wenn die junge Frau wirklich schuldig war, denn ein
fahrender Student sagt:
„Welche den magtum hat verloren,
Der mach ich ein salben.“
In Wirklichkeit war im alten Volksbewußtsein die Jungfräu-
lichkeit gar nicht lobenswert; wo sie hervorgehoben wird,
ist es christlicher Einfluß. In den Fastnachtspielen wird 2. В.
eines Gebrauches gedacht, daß alle Jungfrauen, die im Winter
keinen Mann bekommen haben, statt der Pferde an einen Pflug
gespannt und in einen See oder Fluß getrieben werden. (Siehe
Abb. 1.) Mag dies in der Zeit der Fastnachtspiele nur noch als Spaß
26 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben
erzählt worden sein, die germanische Periode hatte sicherlich
diesen Gebrauch bu · blich erfüllt.*) Überhaupt nahm man das
Wort Jungfrau nicht so streng wie heute. Dies zeigt u.a. ein
Gedicht: „Tugendreichen Jungfern Lob“, aus einem Flugblatt
jener Zeit betitelt: „Kurtzweiliger Zeit-Vertreib“. Darin heißt es:
„Alsdann erst die Jungfern müssen
Sich gar freundlich zu uns thun
Wenn sie Lieb an uns vermerken
Müssen sie die helffen stärken
Jungfern machen unsre Sinnen
Wacker zur Beständigkeit
Halten uns auch gerne drinnen
Jungfern kürtzen uns die Zeit
Was sie unterm Herzen tragen
Sie uns endlich nicht versagen.
Jungfern uns gedoppelt zahlen
Wenn wir geben einfach Gut
Thun wir nur zu vielen malen
Seynd sie gerne wohlgemut.
Helffen uns des Tags mitmachen
Und des Nachtes bey uns wachen.
Jungfern uns erfreuen können
Jungfern seynd all unsre Lust
Auch ihr Bestes sie uns gönnen...
Jungfern seynd uns gar gerechte
Durch sie wächset unser Stamm
Unser Namen und Geschlechte
Wann wirs rechnen allzusamm
So kan nichts auff dieser Erden
Jungfern vorgezogen werden.
Jungfern können wir nicht missen
Sie sind uns wie täglich Brot
Wenn wir Fleisch derzu geniessen
Wes dann haben wir vor Noth?
Jungfern-Kost ist süß als Zucker
Kein Schau-Essen ist nicht schmucker
Jungfern sind die Artzeneyen
Wenn uns Adams Krankheit plagt
Jungfern uns ihr Bett-Zeug leihen
Und was uns sonst mehr behagt....“
*) Vgl. Reitzenstein „Entwickl. Gesch. d. Liebe“ S. 26. Die sehr
wichtige, aber derbe Stelle lautet: „Was heur von meiden ist uberblieben
und verlegen, Die sein gespant in den pflug und die egen, Das sie darinnen
ziehen mußen und darinnen offentlich pueßen, Das sie sein kumen zu ir
tagen, Fut ars, tutten vergebens tragen.“
1.
„А
Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 27
Sicherlich ist dieses Gedicht keine absolut ernste Quelle, aber
es zeigt uns doch in seiner ganzen Art, daß, entsprechend den
tatsächlichen Zuständen, ein Mädchen trotz mehrfachen
Verkehrs noch immer mit dem Namen Jungfer bedacht
wurde. Bedenkt man dies alles, so braucht man sich auch
nicht zu sehr über das „Jus primae noctis“ zu entsetzen,
d. h. das Recht der ersten Nacht, das dem Herrn der nicht-
freien Mädchen vor deren Ehevollzug zustand.*) Wenn wir
keinen anderen Beweis dafür hätten, würde schon die folgende
Nachricht allein genügen, die in „Oefnung von Hirslanden und
Stadelhofen“ (im Kanton Zürich von 1538) erhalten ist: „Ouch
hand die burger die rechtung, wer dar ist, der uf den gütern,
die in den Kelnhof gehorend, die erste nacht bi sinem wibe
ligen wil, die er nüwlich zu der ee genommen hat, der sol den
obgenannten burgervogt dieselben ersten nacht bi dem-
selben sinem wibe lassen ligen; wil er aber das nüt thun
so soll er dem vogt geben 4 und 3 Zürcher pfenning, weders
er мії: die wal hat der brugom (Bräutigam).“ Diese Abfin-
dungssumme hatte sehr bezeichnende Namen, wie Jungfern-
zins,Stechgroschen,Handschilling, Blumede,Schürzen-
zins. Recht originell war oft die Form der Darbringung. Da
auch die geistlichen Herren gegen ihre Leibeigenen dieses Recht
hatten, enthält eine Stelle des Lagerbuches des Klosters Adel-
berg (in Schwaben) von 1496 die Notiz, daß der Bräutigam
eine Scheibe Holz, die Braut aber ein Pfund und 7 Schillinge
Heller oder eine Pfanne, „daß sie mit dem Hinteren darein-
sitzen kann oder mag“, als Lösesumme zu bieten hatte, Diese
zwar im alten Rechtsbewußtsein begründete, aber für die Folge
doch immerhin das Weib entwürdigende Stellung fiel damals
nicht sonderlich auf. Kann doch sogar Bohemus („Poet Kabi-
nett“) die Frage stellen, ob die Küsse der Adligen denen der
Bürgerlichen gleichwertig seien, und kommt zu dem Ergebnis
daß der Kuß einer adligen Dame gerade 1000 Küssen einer
bürgerlichen gleichkäme!!!
Entsprechend diesen Grundlagen des Liebeslebens waren
auch die Grundlagen der Ehe andere, Ein Beispiel zeigt
*) Die ultramontane Forschung hat ihre Gründe, das ius primae noctis
zu leugnen, und so hat Karl Schmidt in: „Jus primae noctis“ Frbg. 1881
alle Mühe aufgewendet, es wegzudisputieren, was ihm aber nicht ge-
lungen ist.
28 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben
es wohl am deutlichsten. Es war im Jahre 1586, als sich der
Herzog Johann Kasimir von Sachsen-Koburg mit der leiden-
schaftlichen, jugendlichen Tochter des Kurfürsten August von
Sachsen, die damals 19 Jahre zählte, vermählte. Innige Liebe
verband zunächst das Paar, wenigstens hing die junge Frau
sehr an ihrem Gatten, bei dem aber bald eine Erkaltung ein-
trat; denn er ergab sich, wie dies in der Zeit lag, in erster
Linie der Jagd und liebte gefüllte Humpen überaus. Tagelang
blieb er seinen Gemächern fern, was natürlich der feurigen
Gattin nicht sonderlich angenehm war. Sie versuchte alle
Mittel; zunächst schrieb sie Briefchen voll von Zärtlichkeit,
dann scherzhafte Fehdebriefe, in denen sie direkt die Erfüllung
der ehelichen Verpflichtungen fordert. „Ich bitt, Ihr wollt
wiederum zu mir ziehen oder mich holen lassen, dann mir die
Weil so gar lang ist, daß ich nit weiß, wes vor langer Weil
soll anfangen.“ Doch der Gatte hatte anderswo Ersatz ge-
funden und kam nicht; während es der jungen sinnlichen Frau
ging, wie mehr oder minder allen andern Weibern in gleicher
Lage: sie suchte selbst, was sie wünschte. Bedurfte es in
solchen Fällen noch einer besonderen Aufmunterung, so fand
sich diese leicht, denn elegante Schwindler, die alles zu können
versprachen, durchzogen damals in Menge die Welt. So kam
in das langweilige Koburg ein gewisser Jeronimo Scotto, der
als „Graf“ reiste, weil er wußte, damit ohne weiteres sich
empfehlen zu können. „Graf ‚Scotto“ hatte bereits Erfolge
aufzuweisen. Er hatte den Kurfürsten und Erzbischof von
Köln, Gebhard Truchseß von Waldenburg, glücklich an die
schöne Agnes von Mansfeld verkuppelt und vielleicht dort
den Boden bereits heiß gefunden, als er 1592 in Koburg auf-
tauchte, von Johann Kasimir zur damals so beliebten „Gold-
macherei“ gerufen. Dies verstand er zwar nicht, um so besser
gelang es ihm aber, sich bei der Frau Herzogin beliebt und
unentbehrlich zu machen, denn er hatte ihr versprochen, daß
er sie fruchtbar machen wolle. Danach deckte er sich den
Rücken, indem er sie an einen jungen Adligen, Ulrich von
Lichtenstein, weitergab. Als vorsorglicher Mann gedachte er
auch seiner weiteren Reisekosten, die nach allenfalsiger Rück-
kehr des Herzogs doch nötig sein möchten, und steckte den
gesamten Schmuck der Herzogin zu sich. Gar bald empfahl
sich der vornehme Herr „Graf“ denn auch französisch. Ent-
Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 29
sprechend der Leidenschaft der jungen Frau blieb Johann
Kasimir der neue Zustand nicht verborgen, und er ließ das
Liebespaar verhaften. In der gegen sie angestrengten Ver-
handlung gestand die junge Frau zu, daß sie mit Scotto allerlei
Unterhaltung getrieben, und daß dieser ihr versprochen hätte,
sie fruchtbar zu machen. Sie wäre deshalb auf sein Zimmer
gekommen, wo er ihre Hand ergriffen und diese auf ein
Kreuz aus Pappendeckel, das mit allerlei Zeichen bemalt war,
gelegt hätte. Von seinen Worten hätte sie nur den Namen
der heiligen Dreifaltigkeit verstanden. Dann habe der Draht,
der am Kreuz befestigt war, ihre Finger umsponnen, so daß
sie ihrer nicht mehr mächtig gewesen sei. Sie hätte ihrer
Pflichten in seinen Armen vergessen. Dann habe er ihr den
Ulrich von Lichtenstein gebracht, mit dem sie „ungebührliche
Spiele“ getrieben und seine Umarmungen genossen habe, wo
es sich nur habe tun lassen. Sie bat ihren Gatten, er möge
ihr verzeihen und alles ihrem Unverstand zugute rechnen, da
sie ja noch ein junges Mensch wäre! Es nützte nichts, die
eigentlich unschuldige Frau wurde mit ihrem Geliebten in
Jena zum Tode verurteilt, vom Herzog aber insofern begnadigt,
daß er sie in die Gefangenschaft nach Eisenach überführen
ließ, wo sie 1613 starb. Dies ist ein bezeichnendes Bild da-
maliger Eheverhältnisse oberer Kreise. Man heiratete ohne
Liebe aus rein politischen Motiven; der Mann ging
seine Wege und die Frau die ihrigen; gar oft aber war
dies dem Gatten nicht genehm, und es folgte Bestrafung der
eigentlich unschuldigen Gattin, wenn er die Machtmittel
dazu hatte. Auch in bürgerlichen Kreisen waren solche Ehen
häufig, nur bestand die Strafe höchstens in einer Tracht Prügel
seitens des stärkeren Teiles. Die Ehescheidung aus solchen
Gründen lag den Leuten noch ferne. Erst am Abschluß unserer
Periode stellt der berühmte Thomasius in seiner Sittenlehre
1692 den Grundsatz auf, daß eine Ehe geschieden werden
müsse, wenn unter den Ehegatten „Uneinigkeit herrsche,
die wegen der Hartnäckigkeit des unvernünftigen
Teiles nicht gehoben oder geschlichtet werden
könnte. Denn es könne für einen vernünftigen Menschen
keine größere Qual erfunden werden, als wenn er gezwungen
sei, mit einer unvernünftigen Person in „genauer Verbündnis
zu bleiben und sein Leib mit selber zu vermischen“. Leider
verhallten diese vorzüglichen Worte vollständig.
30 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben
Nicht viel anders lagen die Verhältnisse in Italien, und
es war zum Teil so weit gekommen, daß man im Anfang des
15. Jahrhunderts in Siena oder 1454 in Lucca Gesetze gegen
die Ehelosigkeit schaffen mußte. Auch hier forderter ein-
zelne Stimmen, daß Ehen nur so lange geschlossen sein
sollten, als die Frau dem Manne gefalle; dies war hier
um so erklärlicher, als die Mädchen der besseren Kreise streng
abgeschlossen waren, und das Liebesleben aller Art sich
innerhalb des Kreises der Verheirateten abspielte. Man ge-
wöhnte sich so vollständig daran, daß die Nachkommenschaft
nicht sicher in nahem Zusammenhang zum Gatten der
Frau zu stehen brauche, was übrigens der Rasse selbst —
wie Burckhardt in seinem vorzüglichen Werke: „Kultur der
Renaissance in Italien“ bemerkt — nicht schadete. Wichtig
war dabei, daß die geistige Ausbildung des Weibes, wenigstens
der höheren Stände, der des Mannes völlig gleichkam; literar-
ischer, selbst philologischer Unterricht wurde Söhnen und
Töchtern gleichzeitig erteilt. Die schöne Cosa von Florenz
sagte bereits 1389: „Die florentinischen Frauen bemühen sich,
durch eigene Kraft im Reden und Tun Fortschritte zu machen,
damit sie nicht von den Männern getäuscht werden können.“
Freilich wurden die Frauen dabei bedenklich männlich an-
gehaucht, was das homosexuelle Element begünstigte, und
daran scheiterte die Entwicklung Italiens. Catarina Sforza
inspizierte die Truppen; Dichtungen von Frauen sind von
denen der Männer nicht zu unterscheiden, und eine „virago“,
ein Mannweib zu sein, war ein großer Vorzug. Heute hat
Italien diese ungesunde Frauenbewegung längst überwunden,
aber es hat sie mit seinen kulturellen Werten bezahlen müssen.
Sehr treffend sagte daher Burckhardt im II. Bande, S. 165,
seines obenerwähnten Werkes: „Die höher gebildete, individuell
entwickelte Frau verfügt über sich mit einer ganz anderen
Souveränität als im Norden, und die Untreue macht nicht
jenen furchtbaren Riß durch ihr Leben, sobald sie sich gegen
die äußeren Folgen sichern kann. Das Recht des Gemahls
auf ihre Treue hat nicht denjenigen festen Boden, den es bei
den Nordländern durch die Poesie und Leidenschaft der
Werbung und des Brautstandes gewinnt; nach flüchtigster
Bekanntschaft, unmittelbar aus dem elterlichen und klöster-
lichen Gewahrsam tritt die junge Frau in die Welt, und nun
gr "mmm m,
чр a
d'W:
Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 31
erst bildet sich ihre erste Individualität ungemein schnell aus.
Hauptsächlich deshalb ist jenes Recht des Gatten nur ein
sehr bedingtes, und auch, wer es als ein ius quaesitum an-
sieht, bezieht es doch nur auf die äußere Tat, nicht auf das
Herz“. Von seinen großen Frauengestalten ist Italien nichts
geblieben, sie sind untergegangen, nachdem sie alles Weib-
liche abgestreift hatten. Die Gegenseite aber, die diese
Emanzipation begünstigte, das homosexuelle Element, ist noch
heute eine Geißel, die die Entwicklung der Epigonen der
Renaissanceriesen lähmt. Den gleichen Gründen entsprang es,
wenn Leute, die nicht gerade moralisch rein waren, in ärgste
und lächerlichste Prüderie verfielen, wie der Kardinal Doria,
der seinen nackten antiken Statuen Hosen von Gips machen
ließ, und andere derartige Moralheuchler Blechgewänder
stifteten für die alten Venusbilder, während aus den gleichen
Kreisen die Mignons hinauszogen in die übrige Welt und:
allerdings glücklicherweise bei uns wenig Geschmack erregten.
Da sind wir Deutsche doch bessere Menschen — gewesen,
als wir noch weniger Moralprediger hatten.
Spanien spielt eine ganz eigenartige Rolle als das Land
der spezifisch christlichen Kultur. Wohl nirgends wurde
— wenigstens in den oberen Kreisen — das Weib unwürdiger
behandelt als hier unter dem Druck einer Etikette, die vom
Priestertum einer Reihe von geistig anormalen Regenten auf-
gedrängt wurde. Schon äußerlich charakterisierte sich diese
krankhafte Auffassung. Die Spanierin soll keinen Busen haben;,
deshalb werden zu seiner Unterdrückung Bleiplatten verwendet.
Gar häufig hatten daher die spanischen Frauen an Stelle der
Brust Vertiefungen! Der Grund kann nur in einer Art Askese
liegen, ähnlich der in Rußland gebräuchlichen, wo sich die
Frauen gewisser religiöser Sekten den Busen ausschneiden.
Die christliche Zeit mag diese Unsitte überkommen haben, aber
immerhin kam sie ihr sehr gelegen. Dann darf eine Spanierin
von Rang niemals ihre Füße sehen lassen, ja es gilt als un-
sittlich, überhaupt davon zu sprechen. So sagte der Hof-
marschall König Philipps IV. einmal’ „Die Königinnen von
Spanien haben keine Beine!“ Kaum hat die versumpfteste
Haremswirtschaft Persiens eine solche Knechtung der Frau
gezeitigt, als sie in den vornehmen Kreisen Spaniens während
jener Periode üblich ist, und die Königin steht mit diesem
32 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben
traurigen Lose voran. So mußte z. B. die Gemahlin des Königs
Philipp II, Elisabeth, 1558 drei Tage vor den Toren von Burgos
warten, bis der König sich entschieden hatte, ob sie durch die
Stadt oder um die Stadt herumreisen sollte! Was die Geist-
lichkeit sich erlauben konnte und in frechster Weise fordern
durfte, geht aus folgender, bei Renee (Les niöces de Mazarin“,
vol. I) gedruckten Begebenheit hervor, die seinerzeit (23. Dez.
1688) Ludwig XIV. von Frankreich gemeldet worden war:
König Karl II. von Spanien war impotent, und sein Beichtvater,
ein Dominikanermönch, belehrte ihn, daß er behext sei. Er
(der Beichtvater) habe jedoch eine Vision gehabt, nach der er
in der Lage sei, den Zauber zu brechen. Der König und die
Königin müßten sich nackt ausziehen, dann werde er in ponti-
ficalibus die Besprechung des Geistes vornehmen. Dann müßte
der König in seiner Gegenwart (!) mit der Königin versuchen,
in Verkehr zu treten, um zu sehen, ob der Bann auch wirklich
gebrochen sei. Der König gab sich alle Mühe, die Königin
zu dieser entwürdigenden Handlung zu bewegen, aber sie war
als Französin doch nicht sittenlos genug, um einem Priester
dieses pikante Schauspiel zu geben.
Prof. Dr. med. Pecirka +
Am Mittwoch, den 18. Januar 1922 verstarb zu Prag nach längerem
schweren Leiden unser hochgeschätzter Mitarbeiter Herr Dr. Ferd.
О. Реёїгка o. Prof. an der tschechischen Universität zu Prag und
Chefpolizeiarzt. Die Sexualwissenschaft verliert in ihm einen ihrer her-
vorragendsten Vorkämpfer. Wir werden seiner noch näher gedenken.
Y
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„
im
Tafel VI
Auffassung des Weibes in der deutschen Renaissance nach H. Aldegrever (* 1502 zu
Paderborn, + 1560 zu Soest). (Zum Aufsatz Reitzenstein.)
Tafel VII
Auffassung des Liebeslebens in der holländischen Renaissance nach einem Kupfer von
Matham etwa 1600. (Zum Aufsatz Reitzenstein.)
Geschlecht und Gesellschaft,
Neue Folge XI, 2
Tafel I
Orgie mit Freudenmädchen.
Kupferstich von Goltzius (geb. 1558 zu Müleberg bei Venloo, + 29. Dez. 1616
zu Haarlem). Zu Aufsatz von Reitzenstein.
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PLAH 205 —
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BLUTSVERWANDTSCHAFT UND INZUCHT BEI
DEN HEUTIGEN VÖLKERN.
Von Dr. med. ROHLEDER, Leipzig.
р“ sexuelle Vermischung Verwandter und ihre Folgen ist
eins der stiefmütterlichst behandelten Kapitel der gesamten
Sexualwissenschaft, was umso verwunderlicher, als die Ver-
wandtenehen rund 1°/, aller Ehen ausmachen und demnach
Material genug zum gründlichen Studium vorhanden gewesen
wäre. Die heutigen Kulturstaaten der Gegenwart haben daher
die Bestimmungen über die Verwandtenehen in ihrer Gesetz-
gebung mehr vom historischen als vom medizinischen Stand-
punkt aus getroffen.
Der Ausdruck „Blutsverwandtschaft“ ist eigentlich ein
etwas zu eng gefaßter, da er keinen Sexualverkehr innerhalb
der Abkömmlinge einschließt. Umfassender wäre der Ausdruck
„blutsverwandtschaftliche Zeugung“ (Generatio consanguinea).
Blutsverwandtschaft bezeichnet im allgemeinen
gemeinsame Abstammung. Es ist die Verwandtschaft, die auf
Abstammung von gemeinsamen Eltern, Großeltern u. s. w. beruht,
Geschwister, Eltern und Kinder, Großeltern und Enkel, Kousin
und Kousine, Onkel und Tante resp. Neffe und Nichte sind
blutsverwandt. Schwager und Schwägerin sind nur verwandt,
nicht blutsverwandt. Die Bezeichnung „Blut“ ist also der
Ausdruck aller aus gleicher Abstammung resultierenden charak-
teristischen Eigenschaften.
Diese Blutsvermischung kann nun sein
1. eine solche in engster Blutsverwandtschaft,
(auf- und absteigender Linie) d. h. Incest, also in ge-
setzlich verbotenem Sinne;
2. eine solche in weiterer Blutsverwandtschaft
d. h. Inzucht, im gesetzlich erlaubten Sinne.
Familieninzucht ist Blutsvermischung innerhalb
der Verwandten.
3
34 Rohleder: Blutsverwandtschaft und Inzucht bei den heutigen Völkern
Volksinzucht ist eine solche innerhalb ganzer
Stämme und Völker.
Die Inzucht ist so alt wie die Menschlichkeit überhaupt.
In den prähistorischen Zeiten herrschte noch keine Ehe resp.
noch kein eheliches Zusammenleben, sondern ein wahlloser
sexueller Verkehr der Geschlechter untereinander, sogenannte
Promiscuität, aber mehr innerhalb eines Stammes. Das sexuelle
Variationsbedürfnis war in der Urzeit sicher noch ein sehr
starkes. Der Mensch hatte nur physische Bedürfnisse, und
es war ihm natürlich, daß jeder Mann für jede Frau vor-
handen war.
Die Ehe ist ja eine durch die Kultur erst geschaffene, geistig
sittliche Institution.
Diese sexuelle Promiscuität fand statt innerhalb eines
Stammes, so daß sehr enge Inzucht stattgefunden haben muß.
Der Stamm mußte bei seiner geringen Zahl auf kleinen Erd-
schollen in Inzucht leben. Erst allmählich bei stärkerer Ver-
breitung und Vermehrung traten Mischungen und Kreuzungen ein.
Die prähistorischen Menschen waren also Inzuchtsmenschen,
wozu noch kommt, daß ihre Behausungen, ursprünglich wohl
Baum-, dann Höhlen-, dann Pfahlbauten, zur Inzucht führen
mußten. Es waren kleine, abgeschlossene Anlagen, die von
kleinen Menschenhorden bewohnt wurden.
So ist es verständlich, daß alle Völker, wie sie in die Ge-
schichte eintreten, Inzuchtsvölker sind, wenigstens in vor-
wiegender Inzucht lebten. Ja, daß sie diese Stufe der Kultur
erreichten, verdanken sie ihrer Inzucht, denn Inzucht ist zur
Erreichung einer Kulturstufe eine unbedingte, ja eine
biologische Notwendigkeit, weil die Natur zur Er-
haltung des Stammes, der Gattung, den Satz pares cum
paribus, Gesellung von Gleich zu Gleichem, einschlägt,
ja, die Inzucht ist im gesamten Tierreich in der phylo-
genetischen Entwickelung ein Naturgesetz, eine Natur-
notwendigkeit zur weiteren Entwickelung der Lebe-
wesen, zur Höherzüchtung bis zur Menschwerdung.
Bei jeder neuentstehenden, aus einer anderen hervorgehenden
Art findet zuerst eine Paarung der allernächsten Individuen
statt, die allmählich durch weitere Paarung der Individuen
gleichen Stammes, gleicher Art, zu Höherem sich entwickelt,
Rohleder: Biutsverwandtschaft und Inzucht bei den heutigen Völkern 35
So müssen wir annehmen, daß der Werdegang bei den
Urmenschen wahrscheinlich der ist, daß die ursprüng-
lich engere Blutsverwandtschaft zur Familieninzucht,
diese zur Stammes- und Hordeninzucht wurde, aus
der sich, durch Vermischung mit anderen Stämmen,
in langen Jahrtausenden eine kleine Volksinzucht ent-
wickelte.
So sehen wir gerade jene Länder, die durch hohe Ge-
birge oder Meere abgeschnitten waren und dadurch Volks-
inzucht treiben mußten, auch als relativ hohe Kulturvölker in
die ersten Zeiten der Geschichte eintreten, wie Indien, Italien,
Spanien, die Schweiz, Mexiko, Peru oder wie Ägypten, das
durch seine Lage im Niltale eine Hochburg der Inzucht, damit
der Hochkultur wurde.
Dieser günstigen regenerierenden Seite der Inzucht steht
aber auch eine ungünstige, degenerierende gegenüber. Wird
nämlich das Maximum der Inzuchtsregeneration er-
reicht, so beginnt allmählich eine Übersättigung der
günstigen Faktoren einzutreten, eine allzugroße Ver-
feinerung. Damit setzt Verweichlichung, Schwächung
ein, ein allmählicher Rückgang, eine Degeneration der
ferneren Nachkommen, wie wir in der Kulturwelt ja bei
allen Kultur- d. h. Inzuchtsvölkern beobachten können.
Damit wird aber, um mit Darwin d. h. naturwissenschaft-
lich zu reden, die natürliche Auslese, die zu weiterer Höher-
bildung notwendig ist, gehemmt. Auf dieser Beobachtung dürfte
es auch beruhen, daß allmählich die Meinung von der Schäd-
lichkeit der Inzucht, überhaupt der Blutsverwandtschaft, ins
Volksbewußtsein drang, damit aber die Kenntnis von der Nütz-
lichkeit solcher Verbindungen verloren ging.
Inzucht wirkt nur dann schädlich, wenn sie zu
lange fortgesetzt wird. Nicht der einzelne Fall einer
Blutsverwandtenehe, selbst der Incest nicht, sind so
schädlich, wie man meint, sondern einzig und allein
die durch viele Generationen geübte Inzucht. Dadurch
wird aus der Familieninzucht eine Stammes- resp. kleine Volks-
inzucht, die den Keim zur Degeneration legt.
Wir wissen aus der Tierzucht, daß es einer Inzucht durch
6—8 Generationen hindurch bedarf, um einen Artcharakter zu
fixieren. Es würden also beim Menschengeschlecht (drei
35*
36 Rohleder: Blutsverwandtschaft und Inzucht bei den heutigen Völkern
Generationen gleich ein Jahrhundert gerechnet) zwei Jahr-
hunderte notwendig sein, um die regenerative Kraft der In-
zucht in die Degeneration zu verwandeln.
Die degenerative Wirkung länger fortgesetzter Inzucht
sehen wir bei den alten Kulturvölkern.
Wenn wir bei den alten Ägyptern z. B. ein ca. vier Jahr-
tausende anhaltendes Bestehen von Inzucht annehmen können,
so würde das, drei Generationen — ein Jahrhundert gerechnet,
eine Inzuchtsperiode von ca. 120 Generationen sein. Das eine
solch lange Inzucht bei dem damals noch kleinen, nicht nach
vielen Millionen zählenden Volkskörper zur Degeneration führen
mußte, liegt auf der Hand. Die Inzucht hatte hier das Maxi-
mum der regenerativen Kraft überschritten und der Verfall des
ägyptischen Volkes mußte eintreten.
je größer ein Volk, desto später und schwieriger wird die
Degeneration eintreten. Das zeigt sich besonders bei den
Mongoloiden. In dem 300 Millionen starken chinesischen Volks-
körper hat die Inzucht zu einer Erstarrung des Volkscharakters
geführt, aber noch nicht zu einer Degeneration. Selbst in dem
ca. 50—80 Millionen starken Volke der Japaner ist diese
Degeneration noch nicht eingetreten. Im Gegenteil, beide ver-
danken den hohen Stand ihrer Kultur und Volkskraft ihrer In-
zucht, und wenn bei diesen ostasiatischen Kulturinzuchtsvölkern
erst einmal eine größere Volksvermischung, besonders mit einer
kulturell höher stehenden Rasse, eintreten sollte, dürfte aller-
dings eine ungeheure Kraftentfaltung des durch die Inzucht
aufgespeicherten Kraftreservefonds dieser ca. 400 Millionen ein-
treten und damit die „gelbe Gefahr“ eine totbringende für die
heutigen Kulturvölker werden. Allerdings könnte diese Re-
generation wohl erst nach Jahrhunderten eintreten.
Jedenfalls sind auch der Inzucht, wie allem im Leben,
Grenzen gesetzt. Dank dem großen in der Natur durch-
gehend waltenden Gesetze der Gleichpaarung ent-
wickelte sich jede Species. Die Inzucht brachte die-
selbe auf ein gewisses Höhestadium, erhob Pflanze,
Tier und Mensch zu einer gewissen Kulturstufe Mit
der Erreichung dieses Maximums aber tritt eine Stag-
nation ein, die, wenn nicht eine Vermischung eintritt
(d. h. hemmende Auslese im Sinne Darwins), zur Degenera-
tion führt.
Rohleder: Blutsverwandtschaft und Inzucht bei den heutigen Völkern 37
Die Inzucht hat also entwickelungsgeschichtlich,
wie geschichtlich - kulturhistorisch, eine ungeahnt
günstige Wirkung ausgeübt. Nur vermittelst derselben
war eine allmähliche Entwickelung auf unserem Erd-
ball möglich.
Die Inzucht und, als ursprünglichste Form der-
selben, die Blutsverwandtschaft, sind hierzu absolute
Notwendigkeit, die aber nach einiger Zeit mit Ver-
mischung gepaart sein muß. Hierauf beruht das Ge-
heimnis der physischen und geistigen Entwickelung
aller heute lebenden Kulturvölker.
Dieser Grundsatz ist experimentell erhärtet worden durch
die Tier- und Pflanzeninzucht. Vermischung heißt hier Kreuzung.
Die Züchtungen ergaben, daß die Inzucht
1. Schwächung der Körperkonstitution,
2. Schwächung der Reproduktionskraft,
3. Erstarrung der Rassencharaktere
im Gefolge hat, daß aber die Vermischung
1. die körperliche Konstitution erstarkt,
2. die Reproduktionskraft wieder anregt und
3. die Erstarrung der Rassencharaktere durch
Einführung neuer Charaktere aufhebt. _
In dieser Wechselwirkung von Inzucht und Vermischung
beruht letzten Endes aller Fortschritt der Menschheit, der Kultur.
In meinem Werke: „Die Zeugung unter Blutsverwandten“
(Bd. II meiner „Zeugungsmonographien“), dem ich auch die
bisherigen Angaben entnommen, habe ich dieses Walten der
Kultur bezüglich der Inzucht im Pflanzenreich, Tierreich und
bei den frühesten Kulturvölkern (Ägyptern, Juden, Persern, Indern,
Peruanern und Mexikanern) gezeigt und verweise darauf.
Ich habe daselbst gezeigt, daß die engste Blutsver-
wandtschaft zur Züchtung bestimmter Familiencharak-
tere, weitere Inzucht zur Bildung von Rassencharakteren
und weiteste Inzucht in einem ganzen Volke, die Endogamie,
zur Bildung von Volks-Nationalcharakteren führt. Inzuchts-
völker aber haben scharf ausgeprägten Volkscharakter, der
kulturfördernd wirkt. Je stärker ein Volk die Inzucht ge-
pflegt hat, desto stärker die Fortschritte desselben in
der Kultur, desto größer war seine Rolle in der Ge-
schichte. Aber man darf nie vergessen: Inzucht ist keine
38 Rohleder: Blutsverwandtschaft und Inzucht bei den heutigen Völkern
Blutsverwandtschaft mehr. Eine Familie degeneriert durch
Inzucht, ein Volk regeneriert durch Inzucht, weil eben
Familieninzucht keine Volksinzucht ist. Beide führen zur
Züchtung der der Familie resp. dem Volke eigentümlichen
Eigenschaften. Bei der Familieninzucht erstarrt der Familien-
charakter schon nach wenigen Generationen. In einem ganzen
Volke, wenn es nicht gerade ein ganz abnorm kleines ist, ist
aber eine derartige starre Heranzüchtung des Charakters zu
einem pathologischen nach wenigen Generationen undenkbar.
Es finden hier zu viel Vermischungen statt, d. h. eine eigent-
liche Abstammung von einem einzelnen Stammespaar zu einer
großen blutsverwandten Volksfamilie liegt hier nicht vor. Nicht
„Volksinzucht“, sondern „Volkszucht“ liegt hier vor. Man
könnte fragen, wo hört der Begriff Familien- resp. Stammes-
inzucht auf, wo fängt Volks(in)zucht an. Überall da, wo Bluts-
verwandtschaft, auch allerweiteste, aufhört.
Inzucht ist hier mehr Abgeschlossenheit gegenüber den
Nachbarn, den anderen Stämmen und Nationen. Diese Inzucht
in abseits gelegenen Stämmen und kleinen Völkern führt aber,
je nach der Größe derselben, bei jahrhundertelangem Zustand
ebenfalls nach Regeneration zur Degeneration, falls keine Ver-
mischung erfolgt. Daher erachte ich das Studium der
Inzucht bei den Völkern und einzelnen Stämmen der
Jetztzeit
für höchst wichtig für unsere Frage.
Volksinzucht ist bei den heutigen Kulturvölkern infolge
des gegenseitigen Verkehrs derselben kaum noch zu finden,
wenigstens nicht im Sinne des Altertums, wie bei den alten
Ägyptern, Peruanern usw.
Wir finden aber auch heute noch Stammesinzucht und
selbst noch relative Blutsverwandtschaft
1. bei den unkultivierten Völkerschaften,
2. bei den kultivierten Völkern
a) bei einigen Insel- resp. Küstenvölkern,
b) in abgelegenen Gebirgstälern bei einzelnen, kleinen
Volksstämmen,
с) їп einzelnen sehr isoliert gelegenen Ortschaften.
Rohleder: Blutsverwandtschaft und Inzucht bei den heutigen Völkern 39
1. Stammesinzucht bei den heutigen unkultivierten
Völkerschaften. ;
Dieselbe findet sich hauptsächlich in Westjava, dann auch
auf Borneo, Sumatra und Celebes, weil die holländische Regierung
bestrebt ist, die Eingeborenen des Landes in ihren Sitten und
Gebräuchen möglichst zu schonen.
In Westjava finden wir die Inzucht hauptsächlich bei den
Batuwis in der Residentschaft Bantam. Sie sollen nach
Schiller-Tietz („Folgen, Bedeutung und Wesen der Bluts-
verwandtschaft* 2. Aufl. 1892), der die Angaben Krusemann
„enkele dagen onder de Batuwis“ entlehnt, echte Sudanesen
sein, die in Sprache und Sitte von den Javanern sich unter-
scheiden. Es ist ein Überbleibsel jener Bevölkerung, die bei
Einführung des Islam in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts
in die unzugänglichen Winkel des Kandang sich zurückzogen
und hier ihre Selbständigkeit bewahrten. Sie leben in Innen-
und Außendörfern. Die Bewohner der Innendörfer halten sich
streng gesondert, die in nunmehr vier Jahrhunderten in engster
Blutsverwandtschaft sich fortpflanzen, derart, daß Mischehen
zwischen Batuwis und benachbarten Völkerschaften kaum vor-
kommen. Heiratet aber wirklich ein Batuwimädchen einen
Mohammedaner, so tritt es zum Islam tiber und scheidet aus
dem Volksstamm der Batuwis aus.
Die Folgen der vier Jahrhunderte langen engsten Bluts-
verwandtschaft? Eine kräftige Rasse, männlicher- und weiblicher-
seits. Ein sehr ruhig dahinlebender, von allen sich absondernder
ruhiger Menschenschlag Also zirka 12 Generationen
haben hier keine Degeneration bewirkt.
Auf Sumatra beobachten wir strengste Inzucht bei den
Bataks (Batta), ein zu der malaiischen Rasse gehörender
Menschenschlag, in dem sich die frühesten Bewohner
in fast ungefälschter Reinheit erhalten; sie sind zurück-
gedrängt auf die Hochebene der Insel Toba. Der ganze Stamm
zählt zirka '/, Million Menschen, die in Dörfern auf Pfahl-
häusern wohnen und auf strengste Inzucht halten. Zur Auf-
nahme von Fremden, die aus diesem Grunde nicht in ihren
Häusern wohnen dürfen, sind Gemeindehäuser errichtet.
Dieser Volksstamm ist neben den Batuwis vielleicht
derjenige, bei dem man in der Jetztzeit die Folgen der
40 Rohleder: Blutsverwandtschaft und Inzucht bei den heutigen Völkern
Inzucht bei einem relativ nicht allzu großen Stamme
am besten studieren kann.
Wir besitzen darüber zwei ausgezeichnete Schriften: 1. von
Junghuhn „Die Battaländer auf Sumatra“, Berlin 1847, 2 Bde.,
und Schreiber „Die Batta in ihrem Verhältniszu den Malaien auf
Sumatra“, Barmen 1847. Dieser Volksstamm ist ethnographisch
und wissenschaftlich hochinteressant. Wir sehen an diesem
relativ unkultivierten Volksstamm recht deutlich, wie
hier, abseits von jeder Kultur, die engste Inzucht allein
zu einer gewissen Kulturhöhe, und zwar autochthonen
Kultur hinaufführt. Es herrscht bei diesen Bataks der
Brauch,schon seit uraltenZeiten, eine Base, die Tochter
des Onkels mütterlicherseits, zu heiraten. Schon seit
Jahrhunderten herrscht diese Familieninzucht. Das be-
weist, daß Heiraten im vierten Verwandtschaftsgrade
Jahrhunderte hindurch bei einem Volksstamm von
ı/, Million nicht zur Degeneration führt.
Dieses Volk ist ein schlagendes Experiment im
Großen über die Blutsverwandtschaft und ihre Folgen
und die daraus sich ergebenden gesetzlichen Be-
stimmungen sind m.E. von höchster Wichtigkeit. Wir
sehen hier an diesem Versuche en masse, daß in
diesem Verwandtschaftsgrad schon Blutsverwandt-
schaftsehen für die Nachkommen unschädlich sind,
ein Beweis, wie wir ihn exakter am Menschen-
geschlecht geführt nicht denken können.
Der Brauch dieser Verwandtschaftsheirat ist bei diesem
Volksstamm so allgemein, daß der Mann seine Frau mit dem
Worte boru-ni-datulang, d. h. Tochter des Mutterbruders, die
Frau ihren Mann resp. Bräutigam mit ibebere-ni-damang, d. h.
Sohn der Vaterschwester anredet. Nichtsdestoweniger finden
wir bei den Batta absolut keine Degeneration, Sie sind körper-
lich sogar kräftiger entwickelt als die Malaien der Küsten-
gegenden, ja, sie gehören körperlich und geistig zu den höchst-
entwickelten des ganzen indischen Archipels, haben kräftige
Gliedmaßen im Gegensatz zu den mit schwachem Körperbau
und mageren Gliedmaßen behafteten Malaien der Küsten-
gegend.
Ihre geistige Entwickelung muß für ein Malaienvolk gerade-
zu in Erstaunen setzen. Sie sind ein seßhaftes, Ackerbau und
Rohleder: Biutsverwandtschaft und Inzucht bei den heutigen Völkern 41
Viehzucht treibendes Volk. Aber auch eine Industrie haben
sie entwickelt, Farbstoffe und feine Edelmetallarbeiten, Filigran-
arbeiten in Gold und Silber verfertigen sie, und ein lebhafter
Handel nach den holländischen Küstenplätzen findet statt.
Sogar ein gewisser Rechtsstaat hat sich entwickelt.
Volksversammlungen führen die Regierung, und die Volks-
bildung ist eine erstaunlich hohe. Alle Batta können lesen
und schreiben. Sie haben ein eigenes, von der alt-
indischen Monumentalschrift herrührendes Alphabet
und ihre eigene geschriebene Literatur, die in Büchern
(Pustahas) niedergelegt ist, die aus fächerartig zusammen-
gefalteten, mit Tinte von links nach rechts geschriebenen Baum-
rinden zwischen zwei Deckeln bestehen. Besonders der Holländer
van der Tunk hat uns diese Sprache und Schrift vermittelt.
Selbst ein Kastenwesen hat sich, wie bei allen
Inzuchtsvölkern, herausgebildet. Die Regierung der
Gemeinden beruht in der Hand der Radschas, die mit
einem durch die Inzucht großgewordenen, nicht ge-
ringen Stolz, 'Adelsstolz, einem Kastengeist ausgestattet
sind. Das Radschatum ist erblich. Ihre Religion ist Ahnenkult.
Die Verwandtschaftsinzucht ist also hier gleichzeitig
zur Volksinzucht geworden, da ein Volk von !/, Million
die Blutsverwandtschaftszucht allgemein angenommen
hat und dadurch, daß sie eben nicht aufkleine Familien-
kreise, sondern auf einen größeren Volkskörper sich
erstreckt, sehen wir nicht nur keine körperliche De-
generation, sondern starke Regeneration im Volke als
Folge eintreten, und zwar körperlich und geistig, wie
wir sie bei unzivilisierten Volksstämmen sonst kaum
wiederfinden, denn sogar zu einem Schrifttum und zu einer
gewissen Literatur, selbst zu Gesetzesformen und zu einer
Kastenbildung hat es dieses Inzuchtsvolk gebracht.
Es ist wohl das einzige Volk der Jetztzeit, das wie kein
zweites die Blutsverwandtschaft von frühester Jugend als Norm
hochgehalten hat, und es wäre dringend zu wünschen, daß
dort tätige holländische oder deutsche Kolonialärzte dieses Volk
einem gründlichen wissenschaftlichen Spezialstudium in medi-
zinischer Hinsicht unterwerfen würden.
Die anderen modernen Inzuchtsvölker treten als solche
- hinter den Batuwis resp. gar den Batta weit zurück, weil bei
42 Rohleder: Blutsverwandtschaft und Inzucht bei den heutigen Völkern
ihnen die Inzucht eben nicht so scharf ausgeprägt ist. Es
sind dies
3. die Araber. Sie bilden unter den heutigen Inzuchts-
völkern gleichsam den Übergang von den „Natur“völkern zu
den „Kultur“völkern, obwohl sie, besonders die Beduinen im
Innern Arabiens, an Kultur durchaus nicht höher stehen als
die Batta, eher unter ihnen. Denn Lesen und Schreiben sind
bei ihnen eine seltene Kunst, obgleich sie eine viel längere
Kultur- und Entwicklungsperiode hinter sich haben als jene
Naturvölker. Der Koran verbietet ihnen das Heiraten unter
Verwandten, trotzdem findet man vielfach, durchaus aber nicht
durchweg, wie bei den Batta, Ehen mit Nichten, wie bei
diesem Volksstamm, besonders mit Nichten von Vater-
seite, mit einer bint’amm, d. h. einer Tochter von einem
amm, einem Oheim von Vaterseite. Auch der Araber
nennt daher seine Frau resp. seine Geliebte „Base“
und seinen Schwiegervater Oheim, auch wenn seine Frau
keine Nichte, also sein Schwiegervater kein Oheim ist. Nach
Doughly haben sich die Araber in verschiedenen Volks-
stämmen in Consanguinität fortgepflanzt, aber frei von
Krankheiten gehalten. Man darf aber hier nicht vergessen,
daß dieser Brauch nicht durchgängig ist und gerade die Araber
in außerordentlich viele Stimme gesondert und getrennt sind,
eine Vermischung hier vielfach stattgefunden hat, also Bluts-
verwandtschaft und Vermischung hier vielfach mit-
und nebeneinander bestehen. Nur der geringste Teil der
Araber sind Hadesi, d. h. Ansässige, nicht Nomadenvölker, bei
denen eine strengere Inzucht möglich ist.
Das sind die drei z. Zt. etwas größeren heutigen Natur-
völker resp. Völkerstämme, an denen man das Walten der
Blutsverwandtschaft und Inzucht noch am besten studieren kann.
Bei den heutigen Kulturvölkern ist das Studium unserer
Frage im allgemeinen verwischt. Der internationale Verkehr
unserer Jetztzeit hat ein völliges Abgeschlossensein moderner
Kulturvölker und eine strenge Inzucht derselben fast unmöglich
gemacht. Am ehesten haben eine solche bis zu einem ge-
wissen Grade m. E. noch eingehalten
a) einige Insel- resp. Küstenvölker und zwar
1. die Isländer. Mit dem Jahre 874 begann die Ein-
wanderung in Island seitens der Norweger. Gleichzeitig ließen
e Ze
Rohleder: Blutsverwandtschaft und Inzucht bei den heutigen Völkern 43
sich aber auch Dänen, Schweden und Kelten auf der Insel
nieder. Es trat also von Beginn an eine genügende Ver-
mischung dieser Völker ein. Seit dieser Zeit aber erfolgten
infolge der abgelegenen, isolierten Lage Islands hoch
im Norden keine Vermischungen weiter bis zur Jetztzeit.
Diese Inzucht in der relativ schwachen Bevölkerung
führte zur Kultur. Die erste Folge der Inzucht war die `
Bildung einer Adelskaste, die nach zwei Generationen Island zu
einem Freistaat mit einer Landesverfassung erhob mit einem
Althing (Reichstag) mit gesetzlichen Befugnissen. Hin und
wieder eintretende kleine Vermischungen verhinderten, daß
schädliche Inzuchtsfolgen eintraten.
Die Inzucht ist hier eine zirka tausendjährige, nur
hin und wieder durch kleine Vermischungen unbe-
deutenden Umfanges unterbrochen und was sehr
wichtig war, mit einer sehr hochentwickelten, stamm-
verwandten Rasse, mit Norwegern und Dänen. Diese
Umstände waren von günstigen Folgen für die Kultur
der Isländer.
Eine Vermischung unter Menschen von geringerer Rassen-
differenz ergibt nämlich besseren Ausgleich als eine solche
unter Menschen mit größerer Rassendifferenz, wie wir es be-
sonders in Zentral- und Südamerika beobachten, wo die Ver-
mischung der weißen Rassen mit den Eingeborenen zu einer
Bevölkerung geführt hat, die geistig und kulturell relativ tief
steht, was ja auch einleuchtend ist.
Die altnordische Sprache hat sich in Island, dank seiner
Inzucht, in ihrer Reinheit erhalten, deren bedeutendstes Literatur-
produkt ja die Eddalieder sind, die bis ins 10. Jahrhundert
zurückreichen.
Am deutlichsten zeigt sich der Einfluß der Inzucht in der
isländischen Prosa, besonders der Sagenliteratur, die ein Produkt
der aristokratischen Kaste ist. Es war der durch die Inzucht
gezüchtete Ahnenstolz der vornehmen Kaste, der in diesen
Sagas eine Geschichte dieser Adelskaste schuf. Die ganze
Geschichtsschreibung Islands ist eine außerordentlich stark
durch die Inzuchtskaste beeinflußte, da sie immer an die hervor-
ragendsten Persönlichkeiten dieser Inzuchtskaste anknüpft.
Mit der im 13. und 14. Jahrhundert stattfindenden Volks-
mischung zeigt sich auch ein Rückgang in der Literatur, in der
44 Rohleder: Blutsverwandtschaft und Inzucht bei den heutigen Völkern
Kultur. Sie war unfruchtbar. Erst später, nach diesen kleinen
Volksvermischungen entwickelte sich durch die folgende strenge
Volksinzucht die neuisländische Literatur. Kurz, der Einfluß
der Inzucht auf Kunst, Literatur, der kulturelle Einfluß der In-
zucht läßt sich gerade in Island und an seinen Bewohnern
besonders scharf verfolgen. — Weit weniger ist dies der Fall
bei den den Isländern stammverwandten
2. Eskimos.
Sie zählen in Grönland nur zirka 10—11000 Bewohner.
Aber der außerordentlich erschwerte Verkehr der arktischen
Zone brachte es mit sich, daß dieser Volksstamm mehr oder
weniger in Inzucht leben mußte, daß eine Vermischung wohl
vorhanden, doch relativ sehr gering war.
Die erste Vermischung fand statt von Island aus im An-
fang des 10. Jahrhunderts. Dieser ersten Vermischung
zwischen Grönländern und Normannen folgteeine3 bis
4 Jahrhunderte lange Inzucht mit all ihren Folgen:
Bildung einer aristokratischen Inzuchtskaste religiöser
Art, Gründung mehrerer Kirchen. Aufstellung eines Bischofs
von Gardar. Ausbildung von Viehzucht, Handel, Jagd, Fischerei.
Die Kultur in Grönland hat sich, infolge der geologischen
Beschaffenheit des Landes, auf die Küsten beschränkt. Die
Grönländer leben ohne eine eigentliche Regierung in voll-
kommener Gleichheit, zur Bildung einer regierenden Kaste hat
es die Inzucht hier nicht gebracht, wohl aber haben die Grön-
länder eine Bilderschrift und eine relativ fortgeschrittene Religion,
aber eine eigene Literatur zu schaffen, vermochte die Inzucht
hier ebenfalls nicht, sie ist ein Ergebnis der dänischen Mission
(Hans von Egede).
b) DieBlutsverwandtschaftin entlegenen Gebirgsteilen
als Stammesinzucht.
Hochgebirge sind resp. waren, wie ich schon sagte, Schutz-
wälle gegen Invasion und als solche der Entwicklung von In-
zucht in einem Volk außerordentlich günstig. Dies zeigt uns
das Himalajagebirge (bei den Indern), die Anden (bei den
Peruanern), weil dadurch einer Vermischung mit anderen Völkern
vorgebeugt wird. Ein solches Hochgebirge sind auch die
Alpen. Wenn sie auch mehr natürliche Paßübergänge besitzen
als die ersteren beiden und infolgedessen eine solche Abge-
schlossenheit sich nicht bildete wie bei den ersteren, so erhielt
=
vor
Rohleder: Biutsverwandtschaft und Inzucht bei den heutigen Völkern 45
sich doch bis vor zirka einem Jahrhundert, wo die Verkehrswege
noch recht beschwerlich waren und es noch keine Bahnen
gab, die Inzucht in den verschiedensten Alpentälern, besonders
in der Schweiz und in Tirol.
Ein solches Inzuchtstal ist z. B. das Grödnertal in Tirol
(zwischen Brixen und Bozen), das noch eine relative, aber
durchaus keine absolute Inzucht durch zwei Jahrhunderte hin-
durch bewährte, wie Reibmayr will. Man hat behauptet, daß
die Grödener das reinste Inzuchtsvolk der Erde sein sollen,
nach Tappeiner zu 47,5°/, (die Juden nach Virchow zu 42°|,).
Das ist nicht der Fall. Zum mindestens sind sie nicht so ein
Inzuchtsvolk wie die genannten Batuwis auf Java und die Batta
auf Sumatra. Ja, ich halte von den Kulturvölkern die Isländer
für ein stärkeres Inzuchtsvolk als die Grödener.
Doch sei dem, wie ihm wolle. Jedenfalls ist sicher, daß
die Inzucht bei den Grödenern auch heute noch eine relativ
recht große ist, daß auch heute noch ein Grödener möglichst
eine Grödenerin zu heiraten trachtet und auch aus der Fremde
immer wieder in seine Heimat zurückkehrt. Daß dabei aber
Vermischungen mit unterlaufen und hin und wieder auch diese
regelmäßig durchbrochen werden, ist sicher.
Mehr oder weniger können wir dies auch von anderen
Alpengebirgstälern behaupten, wie vom Avisotal (Zimmerstal,
Fleimsertal), vom Nonsberg- und Sulzbergertal usw. Ebenso
gibt es in der Schweiz Täler, die bis vor 50 Jahren noch un-
beleckt von der Außenwelt waren und in denen Stammesinzucht
bis zu einem gewissen Grade sich vorfand.
Bekannt ist z. B. das Engadintal, das heute noch sein
Rhätoromanisch spricht und an dem die Bevölkerung, obwohl
sie nebenbei italienisch und deutsch spricht, hartnäckig fest-
hält. Der Rhätoromane, besonders der Engadiner, hat infolge
Inzucht viel von seiner Eigenart sich bewahrt. Heute ist die
Inzucht allerdings im Rückgang begriffen, da die Bahnverbindung
durch den ganzen Engadin hindurch und der starke Verkehr
mehr Vermischung zustande bringt.
Kurz, in den Gebirgstälern treffen wir heute mehr oder
weniger noch Inzucht mit allen ihren charakteristischen Er-
scheinungen, kräftiger Bevölkerung mit Inzuchtscharakter und
Inzuchtsstolz. Die Inzucht macht die Stämme und Völker kon-
servativ gegen alles Fremdländische. Sie lieben ihre Heimat.
46 Rohleder: Blutsverwandtschaft und Inzucht bei den heutigen Völkern
Daher die daraus resultierende Vaterlandsliebe. Nur ist jetzt
auch in entferntest gelegenen Alpentälern ein Rückgang der
Inzucht zu verspüren.
c) Die zufällig in einzelnen Ortschaften gefundene
Inzucht. `
Außer dieser bei unkultivierten Völkerschaften und bei
kultivierten in einzelnen Gebirgstälern und Inseln gefundenen
Inzucht finden wir solche zufällige Befunde hin und wieder
auch im Flachland, wo durch ganz besonders günstige oder
ungünstige Umstände es durch Jahrzehnte und Jahrhunderte
hindurch in einzelnen Fällen zu vermehrten Heiraten zwischen
Blutsverwandten kam.
Bisher sind folgende Fälle beobachtet.
1. Dr. Poliyn Büchner hat, wie Alfred Huth mitteilt,
in der Gemeinde Schokland im Zuidersee in Holland, einer
kleinen Gemeinde von 6—700 Einwohnern, starkes Unter-
einanderheiraten gefunden, ohne irgendwelche Folgen,
anscheinend in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts.
Ebenso sollen nach diesem Autor
2. die Bewohner des zwischen Whitby und Salt-
burn gelegenen Dorfes Staithes bis vor kurzem in
völliger Zurückgezogenheit gelebt haben und unter-
einander alle stark verwandt gewesen sein, so daß
alle mehr oder weniger dieselbe Familienähnlichkeit
zeigten. Trotzdem soll sich nirgends irgendein un-
günstiger Einfluß der Blutsverwandtschaft gezeigt
haben.
3. sollen nach Jung und Martini
die Bewohner der Gemeinden Winningen a. d. Mosel,
des Dorfes Meppen bei Osnabrück nur unter sich
heiraten.
Die beiden nächsten aber sind die wichtigsten von allen.
4. Voisin teilt von der Gemeinde Batz mit: Batz liegt
auf einer isolierten Halbinsel im Departement Loire-Inferieuere
und hat nur über 3000 Einwohner. Infolge der geographischen
Isolation, die, wie wir wissen, ein vorzügliches Mittel zur
Inzucht bei den Bewohnern ist, haben sich letztere nicht nur
ihre eigenen Bräuche und Sitten bewahrt, sondern sind auch
stark untereinander verheiratet. Es bestanden dort 46 Ver-
wandtenehen und zwar 5 zwischen Onkel und Nichten,
Rohleder: Blutsverwandtschaft und Inzucht bei den heutigen Völkern 47
31 zwischen Kindern derselben und 10 zwischen Neffen
und Nichten. Wir finden hier also gleichsam den
Beginn eines Überganges von erweiterter Blutsver-
wandtschaftszuchtzurengerenStammesinzucht,. Nichts-
destoweniger zeigte sich absolut keine Folge des In-
einanderheiratens. Durchschnittlich hatte fast jeder
4 Kinder aufzuweisen, eine für Frankreich enorme
Fruchtbarkeit. Von einer Herabsetzung der Fruchtbarkeit,
wie wir sie bei einigen Tieren bei Blutsverwandtschaft, aller-
dings erst nach 6—8 Generationen, treffen, finden wir hier
noch nichts angedeutet.
Diese Tatsachen werden auch heute noch bestätigt. Der
Privatdozent a. d. Universität Neuchatel Dr. Kanngieser hat,
angeregt durch diese meine Mitteilung über Batz in meinem
Werke „Die Zeugung unter Blutsverwandten“, sich um Aus-
kunft direkt an Kollegen Gouraud in Gouerand gewandt, der
ihm folgendes mitteilt („Straßburger medizinische Zeitung“,
6. Heft, 1913): „Voici les renseignements que m’a donnes la
mairie au sujet du nombre des mariages consanguins à Batz;
au total sur trois périodes de dix ans il y a en 574 mariages
sur-lesquels 22 entre cousins germains et 98 entre cousins du
second et troisième degré. Je mhabite pas la commune de Batz,
je ne peux donc pas répondre aussi exactement à vos questions,
quoique j'y aille plusieurs fois chaque semaine. Je n'y connais
pas d’idiots, ensemble de la population est plutôt d'intelligence
ouverte. Il y aurait trois sourds- muets dont deux issus de
parents non сопѕаприіпѕ (ип des conjoints étant même dans
les deux cas étrangers à la commune), le troisième sourd-muet
est né de parents consanguins au second degré. Les familles
étant jusqu’à ces dix dernières années assez nombreuses, elles
le sont de moins en moins, mais C'est volontairement je crois.
D’une manière générale les habitants de Batz sout três forts,
assez intelligents. Plusieurs villages voisins tels que Saillé et
Clis, dont la population est comme celle de Batz adonnée aux
travaux du sel marin, présentent la même particularité de tou-
jours se marier entre eux.“ ;
Dieser Pall Batz (resp. Saillé und Clis) ist für die
Beurteilung der Folgen der Consanguinität beim
Menschengeschlecht von außerordentlicher Wich-
tigkeit. Es ist gleichsam ein physiologischer Versuch
48 Rohleder: Blutsverwandtschaft und Inzucht bei den heutigen Völkern
en gros zur Klärung unserer Frage, wie wir ihn nicht
besser wünschen können.
Ein weiterer 5. Fall ist der von Devay, der angibt, daß
inlseaux, einem Dorfe im Departement Isere, die Einwohner
jahrelang untereinander heirateten und dadurch fast
die ganzen Dorfeinwohner untereinander verwandt
und verschwägert waren (zirka anno 1830). Dieser Fall
ist: ebenfalls ein Übergang von der Blutsverwandtschaft
zur Stammesinzucht. Einige Einwohner litten an Sechs-
fingrigkeit. Dieselbe war aber keine Folge der Inzucht,
sondern ursprünglich eingebracht und durch die In-
zucht eben außerordentlich untereinander verbreitet
worden. Beweis dafür ist, daß sie nach Zufuhr von
neuem Blut verschwand. Die Bewohner von Iseaux
waren sämtlich gesund und zeigten absolut kein
Degenerationszeichen. Also auch dies ist ein Beweis
der absoluten Unschädlichkeit consanguiner Ehen vom
3. resp. 4. Verwandtschaftsgrad an.
Als 6. weiteren Fall möchte ich noch ausführen das Bluter-
dorf Tenna in Graubünden in der Schweiz, das uns durch
Grandidier und Hößli genau beschrieben wurde. Hier
haben mehrfach Ineinanderheiraten stattgefunden, aber durchaus
nicht in solchem Maße wie in den Fällen 4 und 5.
7. berichtet (nach Scherbel) Ancelon, daß in der (jetzt
wieder französischen, seit 1871—1919 deutschen) Stadt Dieuze
‚die Blutsverwandtschaft häufig sein soll und in diesen con-
sanguinen Ehen sollen die Nachkommen gesünder sein,
weniger mit pathologischen Folgen behaftet als in
den nicht consanguinen.
Dann wird hin und wieder als Inzuchtsstätte genannt
Stewkey in Norfolk (England).
Bei einem Aufenthalt in England im Jahre 1908 erfuhr ich
in Cambridge zufällig, daß in der Grafschaft Norfolk, unweit
des Städtchens Wells next the sea ein kleiner Ort sich be-
finden solle, dessen Bewohner infolge der Inzucht völlig
degeneriert seien. Da das in der Nähe von Cambridge war, fuhr
ich hin. Zirka eine Stunde von Wells entfernt, erblickte ich
ein Dörfchen mit kleinen, elenden, zerstreut liegenden Häuschen,
‚Stewkay. Eine Totenstille lag über dem Dörfchen. Drei
an hä
-j
Bauernbursche beim Fensterln.
Stich schwäbischer Herkunft.
Zu Aufsatz von Reitzenstein.
Tafel II
Tafel Ш
Rohleder: Blutsverwandtschaft und Inzucht bei den heutigen Völkern 49
Momente fallen dem Fremden bei Betrachtung der Eingeborenen
sofort in die Augen:
1. Am Tage sieht man fast nur Männer und Kinder. Die
Frauen und Mädchen gehen während der Ebbe zum Meeres-
strand zum Muschelsuchen. Die eingebrachten Muscheln ver-
kaufen sie an die Händler nach Lynn. Die Männer arbeiten
nur sehr wenig, destomehr geben sie sich aber auch am Tage
dem Alkohol, Grog und Bier hin;
2. machen die Bewohner einen stumpfsinnigen und apathi-
schen Eindruck und
3. sind sie fast alle rothaarig, aber nicht von jener gold-
gelbenschönenHaarfarbe, die man auch in England hin und wieder
sieht, sondern sie haben ein häßliches, mehr ziegelrotes Haar. In
diesen beiden letzten Punkten stachen sie ganz außerordentlich
ab von der intelligenten, hellblonden angelsächsischen Be-
völkerung Norfolks, der ich auf der Bahnfahrt in der aller-
nächsten Umgebung in Dowicham, Lynn, Hunstanton be-
gegnete. Р
In Norfolk sagt man im Volke, daß in Stewkey nur Heiraten
der Einheimischen unter sich stattfinden, weil kein Engländer
oder Engländerin sich einen Ehegefährten aus Stewkey holen
würde. Ich habe diese Anschauung in meinem Werke „Die
Zeugung unterBlutsverwandten“ als begründet angenommen. Wie
Dr. Kanngießer an angeführter Stelle mitteilt, ist ihm vom
Kollegen Gordon Calthrop in Wells on sea darüber folgendes
mitgeteilt worden: „The population of Stewkey is about 400. An
old inhabitant of reliable character tells me that he knows of
extremely few, if any intermarriage of first cousins for a great
many years. To verify this I got him to enumerate the various
family names of genuine old residents, and I find that there
are at least 20—70 different original families in the village.
Taking the whole present populations I find there are 55—60 dif-
ferent family names which I myself can remember and I expect
there are a few which I have omitted. This I think is suffi-
cient to prove that there cannot have been much intermarriage
of near blood relations for many years.“
Nun, man wird zugeben müssen, daß das kein absoluter
Beweis dafür ist, daß Blutsverwandtschaft daselbst nicht häufig
sei. Als wissenschaftliche Beweisführung dürfte das nicht an-
erkannt werden. Aber selbst zugegeben, daß dort keine stärkere
4
50 Rohleder: Blutsverwandtschaft und Inzucht bei den heutigen Völkern
Blutsverwandtschaft zu finden ist, kann m. E. nicht geleugnet
werden, daß eine physische Degeneration dort. besteht.
Wer die häßlichen und müden, stier vor sich hinschauen- `
den, abgearbeiteten Frauen und Mädchen mit ihrem blöden
Gesichtsausdruck geschaut hat, denen man nicht bloß die Sorge,
sondern auch, wie den Männern und Kindern, eine gewisse
geistige Verkümmerung vom Gesicht ablesen kann, fragt sich
unwillkürlich nach dem Grunde all dieses physischen und
psychischen Jammers inmitten der sonst geistig so hochintelli-
genten Bevölkerung Norfolks, der berechtigt, von einer gewissen
Degeneration zu sprechen.
Ich habe in meinem Buche schon angedeutet, daß hier weit
eher der chronische Alkoholismus der männlichen Bevölkerung
als Ursache hierfür verantwortlich zu machen sein wird, und
wenn Kollege Calthrop in Wells auch meint „I do not think
there is much actual drunkeness“, so gibt er doch im nächsten
Atemzuge zu „I do think many of the men and women drink
more than in other villages in this district“.
Die Entartung in Stewkey ist zum mindesten kein ein-
wandfreier Beweis für Blutsverwandtschaft in ihren Folgen
wie Batz, Iseaux, die Batta und Batuwis, und scheidet für die
strenge wissenschaftliche Forschung aus.
Dafür geben uns aber in heutigen Tagen die heutigen
Inselvölker der Isländer und Grönländer, die Be-
wohner entlegener Gebirgstäler, wie die Grödener,
Engadiner, isolierter Ortschaften wie Batz, Iseaux,
von Städten wie Dieuze, Winningen, Meppen, besonders
aber die Volksstämme der Batuwis auf Java und der
Batta auf Sumatra ein noch mehr als hinreichendes Material,
um auch heute noch bestehende Blutsverwandtschaft und
Volksinzucht in ihren Folgen wissenschaftlich zu durchforschen,
Möchten bald Forscher erstehen, die sich dieser Aufgabe
unterziehen.
Aber, soweit dies geschehen ist, haben uns die Resultate
gezeigt, daß Veredelung, Verfeinerung der körperlichen, Rein-
züchtung der seelischen Eigenschaften, besonders in den ersten
Generationen, Folgen der Blutsverwandtschaft sind, die aber
bei weiterem Fortbestehen ausarten. Daher sind abwechselnd
Konsanguinität, Inzucht und Vermischung das beste Mittel zur
Höherzüchtung eines Volkes, der Menschheit überhaupt, sie sind
Dehnow: Die Gesundung der sexuellen Ethik 51
es im ganzen belebten Reiche der Natur. Ja, sie sind eine
unumstößliche Notwendigkeit zur Höherzüchtung der
einzelnen Lebewesen wie ganzer Kulturvölker, aller
Fortschritte in der Natur und Kultur.
In meinem genannten Werke, dem ich die hier nieder-
gelegten Daten entnommen, habe ich die Inzucht in der Pflanzen-,
Tier- und Menschenwelt, in letzter beim Urmenschen, Kultur-
menschen des Altertums und der Jetztzeit, in all ihren Folgen
vom medizinischen und juristischen Standpunkt aus ausführlich
abgehandelt und muß Interessenten darauf verweisen.
е2)
DIE GESUNDUNG DER SEXUELLEN ETHIK.*)
Von Dr. FRITZ DEHNOW,
vormaligem Staatsanwaltschaftsrat k. A.
m Mangel an naturwissenschaftlicher Orientierung liegt der
Grundfehler der überkommenen sexuellen Moral. Die Ein-
führung des biologischen Gesichtspunktes wird sich hier, wie
auf so vielen Gebieten, als überaus fruchtbar erweisen; besseres
VerständnisdersexualbiologischenTatsachenwirdIrrvorstellungen
zerstreuen. Entschließt man sich erst nur, die biologische Funktion
sexueller Handlungen ins Auge zu fassen, dann brechen eine
Reihe seitheriger Irrtümer zusammen: die Meinung, daß ge-
schlechtliche Handlungen außerhalb bestimmter Rechtsformen
(Ehe) „schadeten“; daß sie „Ausschweifungen“* und „Ent-
gleisungen“ bedeuteten; daß sie dem „sittlichen Geist“ wider-
sprächen, „tierisch“, eine „menschliche Schwäche“, ein „Übel“
seien; daß es eine „Würde des Menschen“ gebe, die sie ver-
biete. Als eine geistige Verirrung wird dann erkennbar, daß
man den Geschlechtstrieb gern als etwas Lächerliches betrachtet.
Alsmißverständlichundschädlich erweistsich dieVerschweigungs-,
Verheimlichungs- und Verhüllungsmoral, derzufolge sogar in der
Umgangssprache Bezeichnungen für geschlechtliche Organe und
Vorgänge fehlen. Als mißverständlich auch jene, sogar von
Angehörigen der |Wissenschaft gehörte Auffassung, als ob das
*) Aus der demnächst erscheinenden Schrift: Ethik der Zukunft. Bei-
träge von P. Barth, H. v. Beaulieu, F. Dehnow, A. Forel, A. Grotjahn,
J. Petzoldt, W. Rathenau u. A., (Leipzig, O. R. Reisland).
4*
LIBRARY Eis
F ILLIN
UNIVERSITY р злАОЛІСМ
52 Dehnow: Die Gesundung der sexuellen Ethik
Sexualleben ein „heikles“ Gebiet sei. Die Wissenschaft sollte
ohnehin „heikle“* Gegenstände nicht kennen. Als haltlos kenn-
zeichnet sich dann die Auffassung von Künstlern, die „die
Klagen der aussichtslosen Liebe für das wahrhaft Erhabene
halten“ (Dühring) und vor dersich erfüllendenLiebe zurückscheuen.
Unter den biologischen Funktionen des Menschen nehmen
seine Sexualfunktionen eine fast zentrale Stellung ein. Man
braucht nicht, wie eine neuere Richtung in der Sexuologie, alles
Ach und Weh aus dem einen Punkte kurieren zu wollen, um
feststellen zu müssen, daß froh-zufriedene Ausübung der Ge-
schlechtsfunktionen jedenfalls eines der Grundbedürfnisse des
Menschen ist. Die Art der Sexualität eines Menschen ist mit-
bestimmend für sein ganzes Naturell; nur fehlerhafterweise pflegt
man bei der Beurteilung von Menschen ihre Sexualität außer
Acht zu lassen. Durch gesunde sexuelle Betätigung kann der
ganze Mensch gesunden. Mangel an Sexualität ist mangelhafte
biologische Beschaffenheit, d. h. ein Mangel der Persönlichkeit.
Die sexuellen Bedürfnisse sind ein wesentliches Stück der
menschlichen Natur und unabweisbar; eine Abweisung würden
sie auch gar nicht verdienen. Für den Kulturmenschen ändert
sich hieran nichts. Nur fälschlich wird unterstellt, „Natur und
Kultur“ müßten im Widerstreit liegen; die Kultur ist vielmehr
selbst nur ein Stück Natur. Eine Kultur, die versucht, Natur-
gesetzen in den Weg zu treten, sät damit nur Verwirrung und
Unheil. Nicht Unterdrückung, nur Regelung und Läuterung der
Geschlechtsfunktionen kann Aufgabe der Kultur sein.
Diejenigen, die die Geschlechtsbedürfnisse inhibieren wollen,
sind Toren und zugleich Menschenfeinde: sie wollen dem Körper
in seinem physiologisch bedingten, ungeheuren Tumult die wohl-
tätige Entspannung versagen, fordern vom Menschen einen un-
gesunden, aufreibenden Kampf gegen sich selbst. Vielfältiges
Unglück bereiteten die Menschen einander durch die „Enthalt-
samkeits“-Moral: „Es ist dem Menschen gut, daß er kein Weib `
berühre“ (Paulus).
Die Enthaltsamkeitsmoral überschätzt den Wert und unter-
schätzt die Nachteile geschlechtlicher Unberührtheit. Sexuelle
Betätigung erst lehrt das Leben kennen; ohne sie wird keiner
ein Vollmensch. Unberührtheit verschiebt die Lebensauffassung;
durch sexuelle Betätigung berichtigen und beruhigen sich An-
sichten und Gefühle. Geschlechtliche Erfahrung erst lehrt eigene
Dehnow: Die Gesundung der sexuellen Ethik 53
und fremde Sexualität beurteilen; sie äridert die Ansprliche, die
man an das andere Geschlecht stellt und beseitigt trügerische
Geschmacksrichtungen; erst sie lehrt erkennen, welche Neigung
bleibt und wer zum Gatten taugt.
Ob ein Mädchen unberührt geblieben ist, hängt weniger
von ihrer Sinnesart ab, als von Zufall und Gelegenheit. Soweit
die Sinnesart mitbestimmend ist, mag zwar öfters Gemütsreinheit
mitsprechen. Unberührt halten sich aber am ehesten solche
Mädchen, die ihre Herzenbedürfnisse zurück- und Nützlichkeits-
rücksichten in den Vordergrund stellen; Mädchen von praktisch
gestimmter oder kühl berechnender Sinnesart, die mehr als
durch alles andere sich durch die Furcht vor Entbindung und
Skandal bestimmen lassen; auch solche, die dem Anerzogenen
und Überlieferten anhaften. Die „Moral“ der unberührten Mädchen
ist oft nur die Angst davor, daß etwas passiert.
* *
*
Als Reaktion gegen die Mißachtung des Geschlechtstriebes
machen sich Strömungen geltend, die über das Ziel hinaus-
schießen und zur Überschätzung des Geschlechtslebens neigen.
Hierher gehören jene Autoren, die von der „Anbetung“ des
Sinnengenusses sprechen und wahllosem „Sichausleben“ das
Wort reden; „erotische“ Dichter, die eigene sexuelle Erlebnisse
mit dichterischer Verschönerung auszuschmücken lieben.
Erfrischend wirkt es demgegenüber, wenn Sudermann ein-
mal ausruft:
„Und Liebesabenteuer?“
„Wenn Ihr das Abenteuer nennen wollt.“
Ebensowenig wie sexuelle Enthaltung, können sexuelle
Handlungen als solche eine positive ethische Bewertung bean-
spruchen. Wahlloser Geschlechtsverkehr ist, wie alles wahl-
lose Handeln, unethisch. Auf die Beschaffenheit des Ge-
schlechtsverkehrs kommt es an. In der Hebung seiner Be-
schaffenheit besteht sexuelle Kultur.
Nur ein äußerliches Kriterium für die Bewertung seiner
Beschaffenheit wäre seine Vornahme innerhalb der Rechtsform
der Ehe. Aber gesunde Einfachheit und Natürlichkeit im Sexual-
leben, Vermeidung sexueller Verweichlichung, Selbstdisziplin
innerhalb der physiologisch gegebenen Grenzen gehören zu
den wahren sexualethischen Gütern. Zu ihnen führt allerdings
54 Dehnow: Die Gesundung der sexuellen Ethik
nicht fromme Unterweisung, sondern Abhärtung und Athletik —
Dinge, die den Generationen der „Sittlichen“ fremd waren.
Strenge Auswahl der sexuellen Partner vor allem sollte
als sexualethische Norm gelten. Gerade der beste soll als
sexueller Partner gut genug sein. Die überlieferte Moralan-
schauung war geringwertig auch darin, daß sie dem Manne
gerade das am ehesten nachsah, was sie hätte am meisten
verpönen sollen, nämlich den Umgang mit minderwertigem
Weibsvolke. Sogenannte Lebemänner, die sich Prostituierte
kaufen oder Mädchen wirtschaftlich aushalten, genossen sogar
einen törichten Respekt.
Der Sinnlichkeit eines Menschen gebührt das gleiche Maß
von Achtung und Sympathie, wie dem Menschen selbst. Gut
Geratene keidet ihre Sinnlichkeit gut; Üble läßt sie noch übler
erscheinen.
* & *
Wenn eine weitgehende sexuelle Misere während ganzer
Menschheitsperioden bestand, das Geschlechtsleben Quelle
schwerster Bedrängnis und Not war, so trug die überlieferte
Ethik die Hauptschuld. Ohne Not fügten die Menschen selbst
einander dies Unheil zu. Jene „Sittlichkeit“ trug die Haupt-
schuld, von der Robert Hessen sagt: „Der Heiland würde vor
ihr ausspeien“; jener Codex sinnloser Pflichten, der geschöpft
war aus Glaube und Aberglaube, aus Apriorismus und Logi-
zismus und der die wirkliche und unabänderliche Natur des
Menschen tyrannisiertee Noch stehen sexuelle Moral und
Sexualstrafrecht großenteils unter diesem Zeichen. Wenn Jüngling
und Mädchen miteinander verkehren — nichts Selbstverständ-
licheres; aber die geltende Moral macht, wo sie nur kann,
Tragödien daraus.
So ist für die Erneuerung des Sexuallebens die Gesundung
der sexuellen Ethik ein Haupterfordernis. Weitere Erforder-
nisse sind:
1. Sexuelle Erziehung; d. h. Erziehung zu kerngesunder,
reinlicher Auffassung in sexuellen Dingen. Bisher trifft Felix
Salten’s resignierter Ausruf: „Was wissen wir von unseren
Kindern?“ für nichts mehr zu als für ihre Sexualität. Die seit-
herige Erziehung beschränkte sich auf eine Erziehung zur Ent-
haltsamkeit und blieb in der Regel unfruchtbar. Rigorose Be-
urteilung sexueller Handlungen Jugendlicher schuf nur Unheil.
Dehnow: Die Gesundung der sexuellen Ethik 55
2. Ausrottung der Geschlechtskrankheiten. Die Gesundheit
der Geschlechtsorgane ist eine allererste Rücksicht, hinter der
alle anderen „Rücksichten“ zurückzutreten haben.*) Aber noch
scheut man sich hier vor durchgreifenden Maßnahmen. Den,
der stiehlt oder betrügt, sperrt man zwar ohne weiteres ein;
aber man fürchtet sich, in nur geringem Maße die „Freiheit“
gemeingefährlicher Infektionsträger zu beschränken.
3. Progressive Einschränkung der Prostitution. Daß die
Prostitution ein „notwendiges Übel“ sei, ist eine oberflächliche
Phrase. Menschen müssen imstande sein, in menschenwürdiger
Weise ihr Sexualleben einzurichten; sie müssen ein zufriedenes
Sexualleben führen können, ohne daß Mengen von Weibern in
einen Pfuhl versinken, in dem sie keinen Heller mehr wert sind.
4. Sorge für die nichtehelichen Kinder. Die Geburt von
Kindern außerhalb der Ehe darf nicht eine moralische und
wirtschaftliche Kalamität bleiben. Eine einfache, aber gesunde
und ordentliche Erziehung ist jedem nichtehelichen Kinde
zu sichern.
Hierfür sind nicht ausschließlich die unehelichen Väter in
Anspruch zu nehmen. Ihre Belastung ist nur in engeren Grenzen
statthaft. Denn einmal steht die uneheliche Vaterschaft in der
Regel nur unsicher fest; die richterliche Feststellung besagt hier
nicht mehr, als daß die eine oder die andere Partei einer be-
stimmten gesetzlichen Beweislast sich entledigt hat. Auch ist
für den Mann außerehelicher Geschlechtsverkehr zumeist nur
ein episodisches Ereignis; es sollte nicht zum Anlaß genommen
werden, ihm die vollen Erziehungslasten für das Kind einer
fremden Frau aufzubürden. Hier muß und wird früher oder
später der Staat selbst unterstützend eingreifen.
5. Berichtigung der Stellung der Frau im Leben. Jedwede
Gynäkokratie ist zu beseitigen. Aber die Unabhängigkeit der
Frau bedarf der Förderung, ihr sexuelles Los der Besserung.
6. Der gegenwärtige Zustand der Ehen „erfüllt die Gesell-
schaft mit Unreinheit und Unglück“ (Ellen Key). Erziehung
und öffentliche Meinung müssen tatkräftiger auf pflichtmäßige
eheliche Lebensführung hinwirken. Mißglückte Ehen müssen
leichter getrennt werden können. Die Aufziehung der Kinder
aus geschiedenen Ehen muß staatlich gesichert werden.
*) Seht richtig; aber der Moralismus will das nicht, weil sonst das
„Schreckmittel“ fehlt. Die Schriftleitung.)
56 Dehnow: Die Gesundung der sexuellen Ethik
7. Quantitative Eugenik. Nicht „Bevölkerungspolitik“, die
gegen das Wohl des Einzelnen rücksichtslos ist; am wenigsten
eine solche, die „dem Eros die Aufgabe zuteilt, nur ein unbe-
grenztes Massenaufgebot für den nächsten Millionenaufzug der
Morituri zur Verfügung zu stellen“. Sondern fortlaufende
Aufklärung der Bevölkerung über den jeweilgen Stand des
Bedürfnisses nach Bevölkerungsvermehrung oder -verminderung.
8. Qualitative Eugenik: „Von den Besten so viele Kinder
wie möglich, von den Schlechten so wenige wie möglich“
(Müller-Lyer). Dies ist die edelste und oberste sexualethische
Norm. Aber das Zukunftsbild der Eugenik „deutet sich im
Gesichtsfelde der Kultur und der Wissenschaft erst von ferne
an“ (Grotjahn).
Sittlichkeit im rationellen Sinne bedeutet nicht Enthaltsamkeit,
sondern sie bedeutet gesundes, gedeihliches Sexualleben. Von ihm
hängt für das richtig verstandene Gedeihen der Menschheit mehr
ab, als von denjenigen wirtschaftlichen und politischen Fragen,
die heute des Interesses aller kleingestimmten Gemüter sicher
sind. Allerdings nicht durch Diskussionen, Beweise und
Widerlegungen wird der Kampf für die Gesundung des Sexual-
lebens entschieden werden, sondern dadurch, daß die Wahr-
heit immer wieder aufs Neue ausgesprochen wird und sich
durchsetzt vermöge der ihr innewohnenden Kraft.
Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 57
BETRACHTUNGEN ÜBER DAS LIEBESLEBEN IN
DER ZEIT DER RENAISSANCE UND DER PERIODE
DER GALANTEN.
Von FERD. FRHR. VON REITZENSTEIN, Dresden.
І. Das Geschlechtsleben in der Zeit der Renaissance
und der Galanten.
(Fortsetzung.)
b) Das Liebesleben der Renaissance und der galanten Zeit.
Fir Entwicklung der Grundideen des Liebeslebens nach
seinem psychischen Inhalt haben wir in der „Entwicklungs-
geschichte der Liebe“ bereits gegeben. Es erübrigt, hier die
äußere Erscheinung des Liebesverkehrs zu betrachten, die natür-
lich bestimmend auf die damalige Ehe einwirkt. Wie wir im
vorigen Kapitel des weiteren auseinandergesetzt haben, waren
jene Zeiten sehr frei, sowohl in Worten wie in Werken, und
wir haben gesehen, daß es nicht nur unstatthaft, sondern völlig
unberechtigt ist, jene Zeiten mit dem heute gebräuchlichen
moralischen Maßstab zu messen.
Die Jugend liebte damals wie heute, und ein nächtliches
Ständchen gehörte schon in alter Zeit nicht zu den Selten-
heiten. Freilich war es nicht so sanft, wie es heute ausfallen
muß, wenn es überhaupt ausgeführt werden soll. Wenn man
an das ganz andere Straßenbild von damals denkt und nicht
vergißt, daß die Straßenpolizei nahezu fehlte, während die liebe
Jugend weniger zahm war als die heutige, so erscheint es
jedem begreiflich, daß damals sicherlich oft genug äußerst origi-
nelle Bilder entstanden sind. Unsere kleinen Universitätsstädte
haben noch Nachklänge davon bis in die jüngste Zeit erhalten,
wenigstens bis zum Weltkrieg, wo sie noch Studenten im alten
Sinne waren.
Wir lesen in Fastnachtsspielen:
„Nu will ich euch melden die nachtraben, die des nachts auf der
gassen umbtraben Und großer ungefur vil daraufflegen Und den leuten
umbwerffen ir schregen Und unten darin die stollen zercliben (= zer-
spalten) Und ier karren in das Wasser schiben Und die vischer auf dem
Vischmarkt denten, denselben verwechseln sie die prennten, Und welcher
eine große vor ihm hat, dem setzen sie eine cleine an die stat.“
Daß solche übermütigen Kumpane nicht still und mit ge-
senkten Blicken an den Mädchen vorübergingen, ist wohl
selbstverständlich, und daß sie gerne vor jenen Fenstern sich
58 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben
zu Schaffen machten, aus denen öfters ein holdes Mädchen-
antlitz sah, ebenfalls. Die Geistlichkeit und die Moralprediger
jener Zeit waren natürlich nicht gut auf sie zu sprechen, weniger
FR WIR Li e deswegen, weil sie sich
2 S sehr in ihrer Lebens-
|{ weise von ihnen ипїег-
schieden, sondern des-
halb, weil sie von dieser
Jugend nur Spott und
Hohn ernteten. Sie hatten
daher für diese nur sehr
unfreundliche Namen
(so z. B.: „Löffel“) übrig.
So schreibt Sebastian
Brant in seinem Narren-
schiff“:
„Wan nit hie waren auch
die löffel, die gassentretter
und die göffel, die durch die
nacht keyn ruow went han,
Fastnacht in Venedig. Wenn sie nit uff der gassen
gan Und schlagend luten vor der tuer, Ob gucken well ir mätz (Geliebte)
herfuer, Und kumen uß der gassen nit, Biß man eyn kammerlong (Nacht-
gefäß) inn gytt oder sie würffet mit eym steyn. Es ist die freud war-
heyt klein. Inn winters nacht also erfrueren. So sie die gonuchin duont
hofyren (= poussieren) mit seittenspiel, mit pfiffen, syngen. Am holtz-
markte über die bloecher (große Stämme) springen, das duonts studenten,
pfaffen (!) leyen, Die pfiffen zur der narren reyen. Еупег schrygt,
juchzet, bröllt und blört, als ob er yetzend würt ermört. Je eyn narr
do den andern segt, Wo er muoß wartten uff bescheyt, do muoß man
im dann hoffrecht machen, Als heymlich haltet er syn sachen, das yeder-
mann davon muoß sagen, dy vischers uff den Küblen schlagen. Mancher
syn frow loßt an dem bett, die lieber kurtzwil mit im hett...“
Freilich gar oft ging es den damaligen Liebhabern so,
wie es den heutigen geht; das Ziel ihrer Wünsche führt sie
etwas an der Nase oder wird mit ihrer absagenden Antwort
etwas allzudeutlich. So berichtet uns Geiler:*)
„Außerdem ist beliebt „hoffieren (= unser „poussieren“) mit seiten-
spiel, lauten, zincken, violen auff der fiedlen, mit pfeiffen, singen, springen,
tantzen, grossem geblär, das nachts auff der gassen vor den Häusern
ein geheul haben gleich wie die hundt. О wie eine grosse thorheit ist
*) Geiler von Kaisersburg, ein berühmter Straßburger Kanzelredner,
geb. 1445 in Schaffhausen, | 1510 іп Straßburg, ist eine unserer wich-
tigsten kulturgeschichtlichen Quellen. In seiner Sprache ist er allerdings
etwas maniriert und macht der Lachlust seiner Hörer Zugeständnisse.
Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 59
doch diß hoffieren mitten im winter, das nachts auff der gassen, in kält
und schnee erfrieren... dann es meinen manchmal solche narren, sie
löfflen irem Eißle oder Kätterle, das an dem Fenster lieget, so ist es
ein weisse katz gewesen. Darnach geschicht es offt, wenn sie iren
bulen hoffieren, daß sie etwann ein andern in iren armen hat, mit dem
sie kurtzweilet, und wirdt der Hoffiernarr auff der gassen veracht, auch
gibt man ihm offt ein schlafftrunck von kamerlaugen und wohlschmecken-
den gereuchle, dervon es also übel stincket, des einem die gantze gassen
zu eng wirdt.“
Solche Situationen müssen recht häufig gewesen sein,
denn die Täuschung des Liebhabers wird auch. an anderen
Stellen erwähnt. Aus dem „Gauchmatt“ erfahren wir die List
des Mädchens noch etwas deutlicher, und ihre Durchführung
erscheint bei der Dunkelheit und Enge der damaligen Straßen
sowie der Kleinheit der Fenster nicht ganz unmöglich. Wir lesen:
„Sy kan mit falschheit dich ergetzen, Ein schübutzen (Puppe) in
das Fenster setzen. Wenn du wendt, sy lyg selb do, so ist ein butz
gemacht uß stro.“ „Und er meynt, daß sy im fenster lag, da hat sy
schleyer zusammen bunden Und wie ein menschenkopff gewunden. Der
arme gouch stund darumb drunten Und meynt, er nem ir eben war, do
was es eyn schübebutz gestellet dar. Wenn sy ungefor erwacht, den
butzen sy bewegen macht. Domit betrog sy yn die nacht.“
Aber selbst wenn das Mädchen seinen Geliebten empfing,
scheint es nicht immer ganz aufrichtig gewesen zu sein,
wenigstens hielt es ihn selbst für Narren und dachte mehr an
seine finanziellen oder geschlechtlichen Vorteile. In
dem Büchlein, das „De fide meretricum“ (Von der Treue
öffentlicher Mädchen) betitelt ist und 1501 erschien, gibt das
liebe „Кеќегіеп“ (= Käthchen) zwei Nelken, mit blauem
Seidenband umwunden, ihrem Geliebten, der ihr wertvolle
Gaben gewidmet hat, und als er sie gefragt, was das „Blau“
bedeute — wobei er jedenfalls eine Versicherung ihrer Treue
erwartete — antwortet sie ihm: „Es bedeutet narr hie, narr do.“
So ganz unrecht hatten diese Mädchen ja nicht, noch heute
macht Liebe nicht nur blind, sondern sie bestimmt den Menschen
auch zu allerlei Handlungen, die er sonst nicht begehen würde.
„Narrenhände beschmieren Tisch und Wände“, sagt ein altes
Sprichwort, und nicht ganz mit Unrecht darf man es auf Liebes-
paare mit Vorliebe anwenden. Der „Gauchmatt“ weiß auch
bereits davon zu berichten: „Uff den disch und an die wend,
an alle ort, an alle end, schreyb der gauch irn nammen an,
critzt und krampt das alles dran, das nit eyn kirchlein ist im
land, da nit der gauchin nammen stand“. Aber trotz der
60 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben
rauhen Schale sehen wir in der deütschen Liebe doch einen recht
gesunden Kern, der, wie wir in der „Entwicklungeschichte der
Liebe“, S. 79,*) gezeigt haben, hauptsächlich im bürgerlichen
Liebesleben gepflegt wurde und dem alten Naturempfinden,
das in der gotischen Zeit neu aufgelodert war, zu danken ist.
Trotz aller Derbheiten fehlt eine gesunde, manchmal allerdings
unbeholfene Galanterie nicht, und wenn Geiler über sie spottet,
so zeigt er sich damit als einseitigen, scholastisch-asketisch
angekränkelten Menschen, der uns wohl eine gute Quelle, aber
keinen Richter abgeben kann. So sagt er:
„Dann kommt mit speiß und malzeiten oder fürlegen hoffieren. Es
hoffiern etlich irer bulschafft mit fürlegen der guten bißen oder nemmen
ihn an die speiß von den dällern unnd schmecken daran, ob sie auch
wolschmäcket sey, und wenn sie inen nicht gefelt, legen sie inen ändere
und bessere für. Deren hoffierung und gebreng, so die buler inn mal-
zeiten üben, sein gar unzelbarlich viel, nemlich in dem krebsessen, pyren
und öpffelschelen, zerlegung der hüner und andern Dingen mehr. Diese
hoffzucht gieng zwar etliche massen hin und war wol für höfflich zu
halten, wenn man nur nicht darinn etlich sondere bedeutung und anzeigung
braucht, als nemlich, wenn man das hertz, das leberle, den kopf und
das hinderteil so förlegen.“
Noch von jeher hat Liebe Geld gekostet, und wir haben
bereits in der „Entwicklungsgeschichte der Liebe“, $. 76, ge-
sehen, wie der Tannhäuser klagt. Der Gauchmatt weiß noch
deutlicher zu berichten. Er erzählt uns, wie das Schätzchen
jeden Festtag, jede Jahreszeit auszunutzen versteht, um mög-
lichst viel Geld und Vergnügen zu erlangen; denn schließlich
handelte es sich bei jenen Verhältnissen ebensowenig um die
Absicht einer späteren Heirat wie im gleichen Falle heute.
Die jungen Mädchen waren liebebedürftig und wollten etwas
sehen und hören, und dies macht sich eben am besten am
Arme eines Geliebten; die jungen Ehefrauen aber hatten den
Gewinn noch mehr im Auge, zumal wenn sie nicht gerade
reich verheiratet, dafür aber um so putzsüchtiger waren. Da-
mals wie heute drückte daher auch ein Ehemann ein Auge
und, wenn’s gut ging, auch beide zu. Geld und nochmals
Geld war also für jeden, der die Rolle eines Liebhabers
spielen wollte, Hauptsache. Kurz, der Gauchmatt kann mit
Recht sagen:
„Kumpt es uff den wynachttag, So gib ich ir, was ich vermag, Und
schenk ir das zum guten ior... Wenn man dann ein künig macht, do
*) v. Reitzenstein, F. Frhr.: Entwickl. Gesch. der Liebe. Stuttgart 1908.
Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 61
muß ich haben große acht, das ir vor ir löß küniglich kron. Wo aber
künigin wurd die schon, So muß ich ir das rich begon, das ich in armut
gang darvon.... die fastnacht wil sy gon spazieren. So muß ich’s mumlen
umbhar fieren. Das kost denn ouch wol zwelffthalb pfunt... die fasten
kouff ich ir den fisch, Wo ich den allerbesten erwisch... Am ostertag
kouff ich ein schaff Und send ir das heym in den schlaff ... Im meyen
farend wir gen Baden, Lug das der seckel sy geladen. Denn das bad
hat solche art: Wer mit wybren daryn fart Und bringt nit pfenniggelt
domit, So wurckt desselbig bad do nit, denn syn natürlich würckung thut,
das du verdouwest gelt und gut... Darnach von Franckfort kumpt die
meß: zu koomen keiner nit vergeß.“ Sy nemen sich der schenk zu dodt:
„Ach lieber Herr, nun koomen mir. Die Franckfurter meß kumpt auch
harfür. Schenk mir dies, ach gebt mir das!“
Dieses Schenken will den Schreibern unserer Quellen, die
eben mehr oder minder einseitig sind, gar nicht in den Sinn.
Die meisten spotten darüber, daß der Verehrer reiche Geschenke
gibt, während sich das Mädchen mit ein paar Blumen oder
einer Handarbeit revanchiert. Geiler und seine Gesinnungs-
genossen hatten eben kein Empfinden dafür, daß oft eine
Blume oder eine kleine eigene Arbeit mehr erfreut, insbesondere
ein liebendes Herz, als ein wertvolles Geschenk, das der Ver-
mögende ohne weiteres kaufen und ohne Opfer für sich geben
kann. Man sieht deutlich, wie diese Verfeinerung unseres
Liebesgefühls in keiner Weise den offiziellen Vertretern der
damaligen Sollsitte zukommt, denn gerade diese standen auf
einem sehr realistischen Boden. Dies geht deutlich genug aus
den Worten Geilers hervor:
„Es folget darauf mit geschenkungen und gaben hoffieren: denn es
schicket das hertzliebe Annele dem Holderstock*) einen schönen vergulten
Strauß, oder ein krantz mit negelen (Nelken) und nestlen (Schleifen)
gemacht, oder ein bulenbrieff oder ein schön par hosenbändel oder hembt,
oder außgenehet tuchle, daran er den unflath wüschet. Hargegen verehrt
der Holderstock das Elßle widerumb mit einem gulten ring oder einem
weissen oder roten par stiffel, oder mit einem par seiden zupffen, oder
mit einem sammeten gürtel, der mit Silber beschlagen ist, oder mit einem
damastenen leible und andern Dingen viel mehr. Sie wicklens ein für
ein herrlichen Schatz, küssen und rühmen dasselbig als für ein unzergenglich
Ding. Des morgens, wenn sie aufstehn, sehen sie es an und preisen das
für Gott; mit diesem fangen sie ir gebet an, und was sie nur handlen
und wandlen, das ist allein auff diese schenkung gerichtet. Setzen also
ir hoffnung allein auf blosse und heimliche geschenk, dadurch sie dann
oftermalls umb ir jungfrawschafft kommen und solche geschenk für ihr
ehr und jungfrawschafft müssen behalten, wann der buler und Holder-
stock zum thor außführet und sie mit vollem bauch last sitzen.“
*) Dies ist die ständige Bezeichnung, die Geiler für den Liebhaber
gebraucht.
62 _ Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben
Hier spricht sich deutlich genug die verhaltene Wut gegen
das Liebesleben aus; man sucht die Freundschaftsgaben zu
diskreditieren und zu guter Letzt als eine schwindelhafte Ab-
findungssumme für das Kind, mit dem das Mädchen sitzen-
bleibt, hinzustellen. Gewiß hat es damals wie heute genug
Leute gegeben, die sich aus dem Staube machten, wenn das
Liebesverhältnis Pflichten mit sich brachte; überall war dies
nicht der Fall. Keineswegs aber wurden diese Geschenke
gemacht in der Absicht, das Mädchen zu bezahlen, wenn
es auch die Moralprediger so hinzustellen suchten. Am deut-
lichsten tut dies Th. Murner in seiner „Narrenbeschwörung“:
„Für einen Rosenstrauch gebunden mit blauer oder grüner Seide, für
ein Kränzlein, schenkt er einen Rock, für ein Halsschnürlein einen Pelz,
für ein facillet einen grünen Unterrock oder verbürgt sich beim Tuch-
händler für sie.“ Oder noch deutlicher heißt es im Gauchmatt: „Zum
dritten nam er ir das hor (Haar), und macht darauß ein schnirrlin vor,
Ein sylbeerniß hertzlin hing er dran, das er allzeyt um hals volt an. Zum
sechsten was sy geschenket hat: zwey, dry, fier, fünff facillet (Taschen-
tücher). Zwey hat er an die knüw gebunden und eins umb seynen Hals
gewunden, Ouch in den latzen eins gestossen, das sindt die rechten
gauchschen bossen; das fünft trug er in seinen henden, an allen ort, an
allen enden. Sy macht mir ein schönes facillet, das an den ecken drasten
(Franzen) hat, Umbynneyt mit syden rot. Es war ein quintlin und ein
lot. Das neyen sy groß arbeit nam, das sy schier wardt in henden lam.“
Darauf gibt er ihr einen goldenen Ring, am Mittelfinger
zu tragen, für 15 Gulden. Sie wäscht ihm die Hemden und setzt
oben daran schwarze Bänder, dafür bekommt sie ein Tuch von
Arras. Für eine leinene Unterhose schenkt er drei seidene Hauben.
„Da neyt sy mir irn namen fry uff den ermel, den hosen an,
das ich solt zierlich yehar gan.“ Diese Aufmerksamkeit wird
durch einen Kranz von Perlen und Edelsteinen vergolten.
Zugleich sehen wir aus diesen Ausführungen, daß sich im
Gefolge des Liebeslebens ein regelrechtes Stutzertum aus-
gebildet hatte; je größer dies war, desto leichter konnte es
gerupft werden. Darauf gingen besonders verheiratete Frauen aus.
Wenn eine Frau glaubte oder sicher wußte, daß die Frau
Nachbarin schönere Kleider habe als sie, und der Ehegatte ihr
nicht schleunigst noch schönere zu kaufen versprach, dann fiel
sie zwar nicht in Ohnmacht, wie es heute vorkommen soll,
sondern sie erklärte kurz angebunden, daß sie zu den Mönchen,
zum Adel oder zu den Pfaffen gehen werde. Die Geistlichen
gaben in solchen Fällen ganz gewaltige Summen für Geschenke
aus, wie wir durch Murner erfahren.
Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 63
Natürlich gab es auch Ehegatten, die nicht gerade gern
zusahen, wenn ihre Frauen den Ehebegriff allzuweit
faßten; auch manche Väter waren mit dem Verhalten der
Töchter nicht einverstanden, besonders, wenn die Liebhaber
geistliche Herren waren. So lesen wir in Joh. Nolici Chron.
Hassiacum:
„Im Jahr 1511 in der Fasten war Bischoff von Trier Jacob genandt
und gebohrener Marggraf von Baden, ein hochgelährter der Schrift; zu
Confluentz hatte ein Kürschner ein Tochter, zu der gesellet sich der Bischoff
in Venus gier, und kam ein Nachts heimblich zu ihr in ihres Vaters hauß,
dessen ward der Vater inne, vielleicht ohnwissend, daß es der Bischoff
were, und ward sein Hauß Ehr lieb und schlug den Bischoff so lang, daß
seine Diener zuliefen und retteten ihn und mit ihm zu schiff nach Cöln
zueyleten, ob ihm zu helfen möchte seyn, aber er starb im Schiff, eh er
gehn Cöln kam. Im Jahr davor war zu Wormbs (Worms) ein Bischoff,
Johann von Fleckenstein genandt, der hatte Gemeinschafft mit eines
Bürgers Weib, daselbs zu Wormbs, der (Bürger) trug des handels Wisssen,
nahm vielleicht Miet darumb, und ließ die Buberei geschehen, durch Gift
und Gabe (= Geschenke) zu einem mahl hatte er gern etwas erlangt
von dem Bischoff, ward ihm nicht gewilliget, darumb beschied er ihn,
als ob es die Frau gethan hatte, hatte der Bürger im Eintritt des Hauses
einen Keller und darinn gesetzt spitze Pfäl, und den Keller ufgesperrt.
Da der Bischoff kam, unwissend der Maußfallen, trat kecklich ein nach
seiner Gewohnheit, fiel in die Pfäl, ward auch durch seine Diener, die
seiner vor der Thür warteten, herausgezogen, doch starb er.“
Man sieht auch hier, daß der Bürger eigentlich gegen das
Liebesverhältnis seiner Frau nichts hatte, daß aber der Bischof
eben unvorsichtig genug war, ihm eine Bitte abzuschlagen.
Die Moralprediger und Sittenmänner der Zeit suchten die
Gründe dieser Neigung zum Ehebruch überall, nur nicht dort,
wo sie wirklich lagen — bei sich selbst. Sie gaben der
Kleidung, die stark ausgeschnitten war, den Tänzen und anderen
Vergnügungen die Schuld, wollten aber nichts davon wissen,
daß ihre Moralpredigten für den Ehebruch der beste Dung
waren, und daß ihre Gesetze die Prostitution geschaffen oder,
besser gesagt, auf deutschen Boden verpflanzt hatten.
Kann man sich eine bessere Reklame für tiefen Kleider-
ausschnitt denken, als sie z. B. in einer der Predigten des be-
kannten Abraham a Santa Clara*) liegt. Er wetterte einmal
furchtbar von der Kanzel gegen die weitausgeschnittenen Kleider
der damaligen Hofgesellschaft und schloß seine Rede etwas
unsanft: „Weiber, die sich so sehr entblößen, sind nicht wert,
*) Eigentlich Ulrich Megerle aus Kreenheinstetten bei Meßkirch in
Baden, geb. 1644; später Hofprediger in Wien, + 1. Dez. 1709.
64 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben
daß man ihnen ins Gesicht spuckt.“ Die Kaiserin befand sich
auch darunter und war begreiflicherweise von dem nicht ganz
hoffähigen Ton ihres Seelenhirten wenig erbaut. Man legte
ihm nahe, zu widerrufen oder sein Amt niederzulegen. Der
wackere Prediger entschloß sich zum wörtlichen Widerruf,
bestieg die Kanzel und sprach: „Ich sagte neulich, Weiber,
die sich so entblößt tragen, seien nicht wert, daß man ihnen
ins Gesicht spuckt; dies widerrufe ich hierdurch und erkläre,
sie sind es wert.“ —
Freilich liebten jene Menschen nicht etwa platonisch;
sie hatten wenig Empfinden dafür, und der volle Besitz der
Geliebten war das Endziel wohl jedes Verhältnisses. Schließlich
gilt das aber auch heute noch, wo etwa der Geldbeutel nicht
noch höher geschätzt wird. Die Zeit nahm daran wenig An-
stoß, weil sie es selbstverständlich fand, und die Mädchen
wußten wohl darum und zierten sich auch nicht sonderlich.
Dementsprechend waren aber umgekehrt die Strafen, die auf
Notzucht standen, sehr scharf, wohl kaum zu übertreffen, und
gerade dies zeigt, wie gesund jene Zeit dachte. So ordnen
schon die Weistümer von Cröve (ll. 381) an;
„item were eß, daß ein mann ein maget oder weiff noitzucht, das
da were über iren willen, und das man mit clage furprechte, also das
die scheffen sehen, das er wol der sachen überzeuget und schuldig were,
so soll man einen pal (Pfahl) dort zu machen und sulle den man uff
den rucke legen und im den pal uff den bauch setzen, und sulle das
weib, die also von ime geclaget hat, den pal mit einem schlegel drei
stund (= dreimal) darauf schlagen und sollen dan die rechten boden
vorbaß schlagen, biß in die erde und ine darin halten, biß er von dem
leben zu dem tode gebracht wurd.“
Sonst war man aber recht frei, was Geiler manche schwere
Stunde bereitet und ihn sagen läßt: „Es sein etlich, die hof-
fieren irem Elsell (= Elschen) mit greiffen hin und wider,
hinden, jetzt vornen, jetzt oben, dann unden, und treiben ir
narrenspiel also mit einander, daß offtermals auß dem schimpff
(= Spaß) ein ernst wirdt. Darnach sein etlich, die greiffen
ire bulschafft an den kleidern an oder henden oder geben ir
einen heimlichen kuß, daß es jederman höret.“
(Fortsetzung folgt.)
KZ
Geschlecht und Gesellschaft,
Neue Folge XI, 3
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A чол зэм мәә цои Zuch)
Tafel I
APHRODITE.
Dem heutigen „freien“ Deutschland ins Stamm-
buch als Gegenstück zu blamablen Prozessen.
Von FERD. FRHR. VON REITZENSTEIN, Dresden.
E: war irgendwo in einem alten Park. Träumerisch guckten
die grauen Mauern eines Lustschlosses durch Gesträuch
und Ranken. Verlassen, still und einsam, genau wie die Wasser-
werke, die in der Nähe liegen. Und darüber rauschten die alten
Bäume eine Melodie. Liebesgeschichten vielleicht aus einer
vergangenen Zeit, die sie miterleben durften. Aus einer Zeit,
die man die „gute alte“ nannte. Deren Sittlichkeit man der
heutigen Generation immer predigt. Nun, vielleicht war die
Zeit sittlicher, weil sie — ehrlicher war. Aber so meinen
es die, die heute Sittlichkeit predigen, ja gar nicht. Für sie ist
jene gute alte Zeit durchaus nicht die Zeit von ehedem, sondern
eine Zeit, die nur in ihren Träumen existiert. In Träumen,
die nicht umweht werden von dem Zauberhauch einer fast leicht-
sinnigen, schwülen Liebesluft, wie sie damals fächelte, sondern
vom Moderduft der Grüfte, in denen heute die ruhen, die damals
lebten, sich der goldenen Sonne freuten, die noch heute durch
die Gipfel der alten Bäume ihre schaukelnden Lichter wirft,
leicht und tändelnd, und die grauen Mauern vergoldet.
Es ist eine Lüge, wenn man jene Zeit als eine Periode
asketischen Lebens malt. Schlagworte, bei denen der Wunsch
Vater des Gedankens ist. Denn die Zeit, in der die so ge-
priesene Askese von heute regierte, gab es nie! Ein Märchen,
tendenziös und armselig, ein Märchen ohne Vergangenheit, eine
MißgeburtkrankerGehirne. Wir gehen weiter, einen Lauben-
gang hindurch. Am Ende rieselt eine Quelle, heute wie einst,
und daneben leuchtet durch Zweige, Ranken und Blüten ein
altes Marmorbild. „Ein nacktes Mädchen“ sagt der Volks-
mund, „ein schamloses Frauenzimmer“ sagt die Moral
und hält die Hand mit gespreizten Fingern vor die Augen.
Aphrodite, die Liebesgöttin, nennt sie der, der Bildung besitzt.
Es verlohnt sich, hier zu weilen. Nicht auf dem Platze vor
ihr, wo die kleinen Kieselsteine auf dem halb verlornen Wege
liegen, den eine alte Gärtnerhand aus Anhänglichkeit in Stand
hält, sondern dahinter, auf moosbewachsenem Felsblock, verdeckt
durch schweigsames Grün.
5
66 Reitzenstein: Aphrodite
Ein Reisebuch bildet sie ab und macht darauf aufmerksam;
denn sie ist das Werk eines großen Meisters. Da kommen
manche, sie zu beschauen, Berufene und Unberufene, wie das
immer der Fall ist. Wenn sie mindestens zu zweit sind, dann
urteilen sie auch, jeder so gut er kann.
Zunächst zwei ältere Herren: „Also das ist „Schönheit“.
Hm, ganz hübsch, aber doch nichts besonderes! Du, die Tänzerin
gestern Abend im Kabarett hat mir besser getallen, die zierlichen
Füßchen, die feinen Strümpfe, die rauschenden Röckchen ...
Wenn man die einladen könnte zu einem Abendbrot! — —“
Die Kieselsteine knarren und ich höre noch: „In der Weinstube
„Zum Apfel“ soll ein guter Tropfen sein.“ — „Gehen wir doch
.heute vorher nochmals ins Kabarett... Warum man eigentlich
die Figur nicht wegschafft in ein Museum oder so. Wenn sie
Kinder sehen! ... .* Schritte und Stimmen verhallen.
Und wieder klirren Kieselsteine. Eine derbe Gestalt mit
Wadenstrümpfen und eine beinahe noch derbere Begleiterin.
„Schau, a nacketes Weib!“ — „Dös soll schö sei, zerbrecha
tuats, wann ma’s afaßt!* — „Brauchsts net aschaug’n, wann’s
dr nett g’fallt!“ -- „Na, unser Dirn g’fallt ma bessa .. .“
Kleine Eifersuchtsszene.
Und wieder nahen Schritte. Zwei Männergestalten, Der
eine mager, in schwarzem Gehrock, der andere klein, mit miß-
gebildetem Kopf. „Es ist doch stark, in einem öffentlichen
Park wieder so ein nacktes Frauenzimmer und noch dazu in
der versteckten Ecke! Ist denn hier noch kein Sittlichkeits-
verein, der solche skandalöse Figuren wegschafft? Diese
Brust und nicht einmal ein Feigenblatt! Das reizt doch zum
sinnlichen Verkehr! Unsere unschuldige Jugend muß ja ver-
dorben werden! In der guten alten Zeit kam so etwas nicht
vor, aber heute greift die Unsittlichkeit immer mehr um sich.
Wo soll das noch hinführen? Schicken Sie doch jemand auf
die Polizei, ich bin außer mir, das muß abgestellt werden!“
Und ich höre Schilderungen von Verführungsszenen und
wundere mich, woher der alte Herr das alles weiß.
Sie gehen, und es ist mir, als ob es leise durch die Blätter
lispelt: „Was wollten die denn, ich bin doch aus der guten
alten Zeit, aus der schönen alten Zeit, wo der Herr Bischof
noch hier in seinem Lustschloß die Sommer zubrachte und gar
manches Dämchen vom Hofe hier im Mondenschein wartete... .“
Die gute alte Zeit!
Reitzenstein: Aphrodite 67
Von ferne rauschen Blätter, Zweige krachen und Schritte
kommen näher. „Ein prachtvoller Park, die wunderbaren
Szenerien, nichts stört den Hauch der Vergangenheit, diese
Stille! Unsere Vorfahren hatten recht, wenn sie den Geist
ihrer Gottheit nur im Rauschen ihrer Wälder preisen konnten ...“
Sie bleiben stehen... Lautlose Ruhe, dann löst der Ausruf:
„Herrlich!“ das Schweigen. „Das ist sie also, die berühmte
Aphrodite. Ein Meisterwerk! Und welch’ feiner Geist muß
der Bischof gewesen sein, der sie gerade hier in diese
stimmungsvolle Umgebung bringen ließ. Kann man sich etwas
denken, was den Volksgeschmack mehr bilden könnte? Man
sollte Schulen hierher führen und sie lehren, wie rein der
menschliche Körper ist. Dieser herrliche, edle Körper in seiner
vollendeten Schönheit in diesem heiligen Tempel der Natur!
Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen,
Und haben sich, eh’ man es denkt, gefunden; .
Der Widerwille ist auch mir verschwunden.
Und beide scheinen gleich mich anzuziehen.
Ja, Goethe hatte recht, hier sind seine Worte zur Wahr-
heit geworden. Ob man in diesem Städtchen versteht, welches
Juwel man hier besitzt? Hoffentlich sorgt die Regierung dafür,
daß es erhalten bleibt!“
Wieder lispelt es durch die Blätter: „Ob die wohl aus der
guten alten: Zeit herniedergestiegen sind? Sie sprachen von
Goethe! Wie gern stand er hier. Lange, lange habe ich nichts
mehr von ihm gehört. Ich bin froh, die Deutschen kennen ihn
noch...“
Und die Abendsonne übt ihren Zauber: den kalten Marmor
umfließt ein zartes Rot. So sah sie aus, die gefeierte Schön-
heit der kleinen bischöflichen Residenz, die das Vorbild war
der Aphrodite von...
Viel haben wir gehört und alles war anderer Meinung.
Den Spießbürger, den Mann aus dem Volke, den Moralfanatiker
mit seiner krankhaften Phantasie und seinen degenerierten Be-
gleiter und den wahrhaft Gebildeten. Wie kommen nun
diese Urteile zustande? Alle Dinge üben auf uns einen
bestimmten Reiz aus, ungewohnte einen besonders starken.
Jeder Reiz hinterläßt im Gehirn Erinnerungsreste, und es bilden
sich im Laufe des Lebens zahllose, die unserem Bewußtsein
aber wieder verloren gehen. Sie ruhen gleichsam verborgen
5*
68 Reitzenstein: Aphrodite
im Unbewußten. Ein neuer Reiz kann einen Teil von ihnen
wieder wecken. Sie treten über die Bewußtseinsschwelle ins
Bewußtsein zurück: sie fallen uns wieder ein. Die Fähigkeit,
dies zu ermöglichen, nennt man das Gedächtnis, sie selbst
aber Erinnerungsbilder oder Vorstellungen. Nun ist der Zustand
der Nacktheit der von der Natur gegebene und kann also
nicht unsittlich sein, denn an sich ist die Natur das Unver-
gängliche, Unabänderliche, der letzte Maßstab alles Mensch-
lichen, während die Kleidung immer sekundär, d. h. ein von
der Kulturentwicklung geschaffener Begriff ist. Sie entstand,
wie moderne Wissenschaft einwandfrei zeigte, nicht aus dem
Schamgefühl, sondern dieses aus ihr! Ein nackter Körper ist
an sich weder sittlich noch unsittlich; ist indifferent. Daß
jemand im nackten Körper etwas Unsittliches sieht, liegt daran,
daß der Reiz, der von ihm ausgeht, aus seinem Unbewußten
Erinnerungsbilder hervorruft, die ins Bewußtsein treten und
geschlechtlich gefärbt sind. In seinem Gehirne entsteht also
ein Geflecht zwischen unsittlichen Vorstellungen und dem Nackten.
Er setzt seine eigene unlautere Gedankenwelt an Stelle des
gegebenen, indifferenten Begriffes.
Das schöne Nackte wird dagegen aus dem Unbewußten
des künstlerisch empfindenden Menschen ästhetische, d. h. schöne
und edle Vorstellungen wecken. Das unschöne Nackte da-
gegen zwar widerliche, aber ebenfalls keine unsittlichen.
Ob man das Nackte mit dem Maßstab des Sittlichen oder des
Natürlichen und Künstlerischen mißt, hängt davon ab, welche
Erinnerungsbilder damit in den Gehirnzentren verknüpft werden,
mit anderen Worten: von der Erziehung und der Selbsterziehung.
Wer das Nackte für unsittlich erklärt, dokumentiert öffentlich,
daß er über eine schlechte Erziehung verfügt und dabei auch
früher das Nackte mit unsauberen Gedanken in Verbindung
brachte. Er verfügt über keine anständigen Erinnerungs-
bilder, während doch alles Nackte in ewiger unveränderlicher,
reinnatürlicher Art vor ihm steht. Er ist unerzogen, ungebildet.
Unsittlich wirkt dagegen das Feigenblatt, die
Kastration von Kunstwerken, wie überhaupt jede Verstümmelung,
die unbegründet ist oder gar den Naturgesetzen widerspricht.
All diese Momente zwingen dazu, den Blickpunkt auf. diese
widernatürliche Stelle zu verlegen und so gerade geschlecht-
liche Erinnerungsbilder zu wecken, wo sie normaler Weise bei
Reitzenstein: Aphrodite 69
gesunder Erziehung nicht geweckt worden wären. Unsere
Erziehung muß also dafür sorgen, daß die Jugend möglichst
wenige unsittliche Erinnerungsbilder erwirbt, daß sie
an das Nackte, ja sogar an einen leichten.Einschlag von Ero-
tik gewöhnt wird, damit edle, ästhetische Erinnerungsbilder
entstehen und sie Kunstwerke aller Art als das betrachten
lernt, was sie sind, als die Krone menschlichen Schaffens.
Es ist das größte Armutszeugnis, wenn man sagt, man habe
den größten Künstlern — also den größten Interpreten der un-
vergänglichen Natur — seine eigene krankhafte Meinung gesagt.
Das Malen der fleischlichen Lust, auch wenn man den
Teufel daneben pinselt und Moral dazu predigt, schafft ja erst
die unsittlichen Erinnerungsbilder.
Wer die weibliche Brust als unsittlich verhüllt und
von ihr unsittliche Erinnerungsbilder in der Seele entwirft, müßte
folgerichtig auch den männlichen Bart verhüllen, denn auch
er ist „ein Geschlechtsmerkmal mitten im Gesicht“, wieSchopen-
hauer sagt. Tut er das, dann schafft er ein neues, geschlecht-
liches Reizmittel, denn seine Verhüllung oder Enthüllung würde
dann unsittliche Erinnerungsbilder wecken, da ja Brust und
Bart beide sekundäre Geschlechtsmerkmale sind. Es liegt also
an der krankhaften, moralistischen Erziehung, daß unsere Zeit
immer reizbarer wird. Sicher aber ist, daß die Polizei und
der Richter nicht dazu da sind, immer nur der Büttel für die
krankhaft veranlagten oder für die Menschen zu sein, die
über unsaubere Erinnerungsbilder verfügen. Und die Zensur
erst recht nicht. Es darf nicht sein, daß von Amts wegen unsere
Zeit und unsere größten Führer mit brutaler Macht ihrer ge-
schaffenen Werke entkleidet werden und die Nachwelt über
uns lacht, weil wir keine kulturellen Schätze hinterlassen haben.
Aufgabe der Regierung ist es, Kulturführer zu schützen und
Kranken den Eintritt in ein Sanatorium zu ermöglichen. Auch
die Menschen mit reinen Erinnerungsbildern haben ein Recht!
Das ist das Geheimnis der marmornen Aphrodite.
SS
70 Rutgers: Klärungsversuch d. ältest. u. bekannten Verwandtschaftssystems
KLÄRUNGSVERSUCH DES ÄLTESTEN UNS
BEKANNTEN VERWANDTSCHAFTSSYSTEMS.
Von Dr. med. J}. RUTGERS, Lochem, Holland.
enn Morgan in seiner klassischen Arbeit: Ancient
Society (London, 1877, Vol. II, Chap. I) das alt-australische
Verwandtschaftssystem beschreibt, wo die Bevölkerung nicht
nur in Gentes, sondern jede Gens wieder in acht Klassen unter-
verteilt ist, deren Mitglieder nicht unter sich heiraten dürfen,
wobei noch das sonderbarste ist, daß jede nächstfolgende Gene-
ration zwar in der eigenen mütterlichen Gens bleibt, aber jedes-
mal in eine andere Klasse umwandert..... da fängt es uns
an vor den Augen zu flimmern. Morgan selbst nennt es dann
auch „a stupendous scheme“ (Seite 49) und fügt weiter (Seite 51)
hinzu: „Although the class-system when traced out fully, involves
some bewildering complications, it will reward the attention
necessary for its mastery.“
Diese Schwierigkeiten lassen es notwendig erscheinen, das
Material durchzuarbeiten, weil nach Morgan darin das aller-
primitivste Verwandtschaftssystem liegt, das uns bis jetzt bekannt
geworden ist, und zugleich den Schlüssel liefert zum rechten
Verständnis der Punalica-Ehe.
Ich gebe zunächst die wichtigste Übersichtstafel nach
Morgan (Seite 56), mitsamt der Erläuterung, die er hinzugibt.
Er beschreibt das Klassensystem bei den Kamilaroi, die am
Darlingfluss N. von Sydney wohnen.
Nach den vorangegangenen Erläuterungen wird man die
Zusammensetzung der Gentes verstehen können, wenn man sie
in ihrem Verhältnis zu den Klassen darstellt. Diese Klassen
stammen von einander ab in Paaren von Brüdern und Schwestern;
und die Gentes selbst stehen mittelst dieser Klassen auch zwei
an zwei miteinander in Verbindung; also:
6 Gentes: 5 Klassen:
männl. weibl. männl, weibl.
Iguana sind alle entweder Murri und Mata oder Kubbi und Kapota
Emu an = Kumbo „ Buta „ Ірраі „ Ippata
Kangoroo ,„ 5 x Murri „ Mata „ Kubbi „ Kapota
Bandicoot „ e Se Kumbo „ Buta „ Ippai „ Ippata
Opossum Gr: ` wë Gë Murri „ Mata „ Kubbi „ Kapota
Blacksnake „ „ ée Kumbo „ Buta „ Ippai „ Ippata
Rutgers: Klärungsversuch d. ältest. u. bekannten Verwandtschaftssystems 71
Die Beziehung der Kinder zu einer bestimmten Gens, ist
aus den Heiratsgesetzen herzuleiten: ein Iguana-Mata-Mädchen
darf nur einen Kumbo-Mann heiraten; ihre Kinder gehören zur
Kubbi und Kapota-Klasse in der Gens Iguana, weil das Kind
dem Stamm der Mutter folgt. In der nächsten Generation heiratet
dann so ein Iguana-Kapota-Mädchen einen Ippai-Mann; ihre
Kinder werden dann wieder der Murri- und Mata-Klasse ange-
hören, in der Gens Iguana aus gleichem Grunde.
Ebenso geht es in der Gens Emu. Alle Emu-Buta-Mädchen
heiraten Murri-Männer; ihre Kinder gehören zur Ippai- und
Ippata-Klasse in der Gens Emu. In der nächsten Generation
heiratet dann so ein Emu-Ippata-Mädchen einen Kubbi-Mann;
ihre Kinder werden wieder der Kumbo- und Buta-Klasse der
Gens Emu angehören. 2
Bis hierher Morgan. Man sieht, er hat nicht zu viel ge-
sagt, als er dieses System „a stupendous scheme“ nannte, und
den verschiedenen späteren Autoren ist es noch viel weniger
gelungen sich in diesem System zu orientieren. Ich meine aber
den Schlüssel gefunden zu haben, um dieses System zur völligen
Klarheit zu bringen. Es wäre ja auch unwahrscheinlich, daß
das primitivste System der Familienverwandtschaft zur gleichen
Zeit das komplizierteste wäre.
Ich möchte jetzt den Leser bitten, vorläufig ganz Abstand zu
nehmen von Morgan, von den Australiern, von den „Wilden“
und von den „Barbaren“. Wollen wir uns an einem schönen
Sommertag auf die Heide versetzt denken, wo nur einige wenige
ärmliche Hütten zu erblicken sind, die in kleinen Gruppen auf
der unendlich weiten Ebene zerstreut liegen.
Denken wir uns weiter zwei dieser Bauernhütten nahe bei-
sammen und bewohnt von Familien, die einander nicht verwandt
sind. Der Sohn wird dann eheliche Beziehungen anknüpfen
mit einem Mädchen der anderen Familie, nicht mit der älteren
Generation, und gewiß werden auch die Geschwister unter sich
nicht heiraten dürfen. Man findet also auch hier noch immer
die männlichen Beschränkungen im Wahlkreis der Ehe, wie bei
den genannten Alt-Australiern. Wird ein Sohn geboren, dann
wird ihm der Name seines Großvaters gegeben, wie dies ehe-
mals allgemein üblich war.
Denken wir uns nun weiter, doch nicht zwei einzeln stehende
Bauernhütten, sondern zwei kleine Dörfer oder Häusergruppen
72 Rutgers: Klärungsversuch d. ältest. u. bekannten Verwandtschaftssystems
nahe aneinander liegend. Die Einwohner jedes der beiden Dörf-
chen sind unter sich zu nahe verwandt um unter sich heiraten
zu wollen, sie sind aber mit denen des anderen Dörfchens nicht
verwandt. Die Namengebung ist in beiden Dörfern so primitiv,
daß, wenn der älteste Sohn einmal Hans genannt worden ist,
auch alle anderen Brüder Hans genannt werden*), resp. wenn
die älteste Schwester Grete heißt, alle andern Schwestern auch
einfach Grete heißen. In der nächsten Generation werden viel-
leicht alle Männer Karl, und alle Weiber Lise heißen. Die Enkel
natürlich wieder alle Hans resp. Grete usw. Das gleiche gilt
‚auch für die andern Dörfchen. Hier werden in der älteren
Generation alle Männer vielleicht Peter und alle Weiber Petro-
nelle heißen; in der jüngeren Generation alle Burschen Michel,
und alle Mädchen Michaela. Es leuchtet ein, daß in diesem
Fall alle Burschen, die Karl heißen, eheliche Beziehungen an-
knüpfen werden mit den Mädchen, die Michaele heißen, und
alle namens Michel mit Mädchen namens Lise.
Wir wollen jetzt das eine Dörfchen Dahlem, das andere
Urgan nennen. Mit der Zeit wird die Bevölkerung der beiden
Dörfchen im Verhältnis zu den vorhandenen Existenzmitteln zu
zahlreich werden. In einiger Entfernung, wo noch neues Acker-
land urbar zu machen ist, und wo sie deshalb an sich schon
öfter verweilten, werden jetzt neue Ansiedlungen: Neu-Dahlem
und Neu-Urgan gegründet. Die nämlichen ehelichen Verhält-
nisse werden sich auch hier abspielen. Weil die Identität der
Namen die Erinnerung an der Blutverwandtschaft immer wieder
wach ruft, werden auch später die Neu-Dahlemer Einwohner
nicht mit Einwohnern aus Dahlem sich verheiraten und ebenso
nicht die Neu-Urganer Leute die mit denen von Urgan. Höchstens
würden die Neu-Dahlemer mit Urganern, und Neu-Urganer mit
Dahlemer Einwohnern Verbindungen eingehen, es wird dies aber
nicht leicht vorkommen, schon wegen der Entfernung und wegen
der Eifersucht der anderen Berechtigten.
Im Laufe der Jahrhunderte werden immer neue Dörflein
gegründet werden, je nachdem die Bevölkerung zunimmt und
die Urbarmachung des Bodens Fortschritte macht.
*) In einer sehr abgelegenen Ortschaft in primitivster Umgebung habe
ich auch selbst einmal einen Fall erlebt, wo zwei Brüder einfach identische
Taufnamen hatten.
Rutgers: Klärungsversuch d. ältest. u. bekannten Verwandtschaftssystems 73
Ich werde jetzt diesen einfachst denkbaren Fall von ehe-
lichen Verhältnissen übersichtlich in einem Schema darstellen,
sechs Dörflein und acht Namensgruppen umfassend, die mit
jeder Generation wechseln.
Dörfchen Namensklassen Dörfchen Namensklassen
männl. weibl. männl. weibl.
Dahlem Urgan
alle heißen Hans und Grete alle heißen Peter u.Petronella
nächste Generation Karl , Lise nächste Generation Michel „Michaela
Neu-Dahlem Neu-Urgan
alle heißen Hans und Grete alle heißen Peter u.Petronella
nächste Generation Karl „ Lise nächste Generation Michel „ Michaela
Hinterwald-Dahlem Hinterwald-Urgan
alle heißen Hans und Grete alle heißen Peter u.Petronella
nächste Generation Karl ,„ Lise nächste Generation Michel „Michaela
Es ist auch hier wieder einleuchtend, daß die Karlgruppe
aus Hinterwald-Dahlem eheliche Beziehungen anknüpfen wird
mit der Michaelagruppe aus Hinterwald-Urgan, und jeder Michel
daselbst mit einer Lise aus Hinterwald-Dahlem. Etwas ein-
facheres läßt sich nicht denken.
Jetzt kommen wir wieder zu Morgan und seinen Alt-
Australiern. Hier liegt die Sache noch einfacher als wie sie
unsern heutigen individualistischen Begriffen je möglich wäre,
weil bei den Australiern die Ehe nicht ein Band zwischen zwei
bestimmten Personen war, sondern ein Gruppenverhältnis.
Alle Brüder namens Hans sind sämtlich die rechtmäßigen Gatten
aller Petronella-Schwestern in der anderen Gens, und alle Grete’s
die Gattinnen aller Peter’s en bloc.
Die Gruppenehe versetzt uns in die ältesten Perioden der
Mutterfolge. Bei einer solchen Ehe wird nicht umgezogen.
Die Männer bleiben auf ihrem Bauerngehöfte wohnen, wo sie
ihren Kommunalbesitz jedoch nicht im Stich lassen können
und besuchen nur gelegentlich, wenn sie etwas zu verschenken
haben, nachts beim Mondschein die Schwesterschar der nächsten
Gens. Erst später kam man zu individuellen Praeferenzen und
es entwickelten sich Beziehungen, wie sie jetzt noch vielfach
auf dem Lande als Verlobungszeit üblich sind, in den Städten aber
als äußerlicher Verkehr bezeichnet werden. Die Kinder werden
ursprünglich im Hause der Mutter großgezogen.
Schließlich wird der Leser sich wundern, wenn ich Gens und
Dörflein miteinander in Parallele bringe, wiewohl ersteres auf
74 Rutgers: Klärungsversuch d. ältest. u. bekannten Verwandtschaftssystems
Blutverwandtschaft, letzteres auf ein geographisches Zusammen-
wohnen hinweist. Ursprünglich aber waren beide Begriffe nicht
zu trennen, sie waren eben identisch. Erst später wurden die
ökonomischen Verhältnisse mehr kompliziert und so hat die
Gensverfassung der örtlichen Verfassung weichen müssen. Doch
sind noch immer viele Ortsnamen Tiernamen, wie die austra-
lischen und amerikanischen Gensnamen auch öfters Tiernamen
waren.
Zum Schluß will ich jetzt noch einmal das genannte Schema
von Morgan übersichtlich darstellen.
Gentes Namensklassen Gentes Namensklassen
männl. weibl. männl. weibl.
Iguana Emu
alle heißen Murriund Mata alle heißen KumboundButa `
nächsteGenerationKubbi „ Kapota nächste Generation Ippai „ Ippata
Känguruh Bandicot
alle heißen Murriund Mata alle heißen Kumbo und Buta
nächsteGenerationKubbi „ Kapota nächste Generation Ippri „ Ippata
Opossum Blacksnake
alle heißen MurriundMata alle heißen Kumbo und Buta
nächste Generation Kubbi „ Kapota nächste Generation Ippai „ Ippata
Jetzt ist es klar, daß bei der älteren Generation die Iguana-
Mata-Mädchen sich mit der Kumbo-Gruppe verbinden, und daß
die Kinder in der Iguana-Gens alle zur Kubbi- und zur Kapota-
Klasse gehören werden. In der jüngeren Generation verbinden
sich dann die Iguana-Kapota-Mädchen mit der Ippai-Klasse,
ihre Kinder werden alle wiederum nach ihren Großeltern Murri
und Mata genannt werden.
Ebenso werden die Emu-Buta-Mädchen sich mit der Klasse
der Murri-Männer verbinden und die Kinder werden in der
Gens Emu alle zu der Klasse der Ippai und der Ippata gehören,
die Emu-Ippata’s mit den Kubbi-Männern, wobei dann die
Kinder wieder die Namen der Großeltern Kumbo und Buta
erhalten.
Alles was dann Morgan weiter von diesem Klassen-System
sagt, wird jetzt ebenfalls klar. Ich will dem Leser Wieder-
holungen sparen.
Wenn man bedenkt, daß in der primitiven Kultur der Name
das eigentliche Wesen eines Menschen ist und alle seine Rechte
zusammenfaßt, dann verspürt man, wie eine rührende Familien-
solidarität und Pietät diesem System von Namensklassen zu
Fehlinger: Von Liebe und Ehe in Japan 75
Grunde liegt, so war es auch das wirksamst denkbare Mittel
um Inzucht zu verhüten. Nur eine ungeeignete mathematische
Formulierung konnte diese so einfachen Verhältnisse verfinsteren
und zu einem „unklaren System“ umgestalten.
Doppelt genial aber dachte Morgan, daß er nichtsdesto-
weniger dieses System als das primitivste System erkannt hat.
SS
VON LIEBE UND EHE IN JAPAN.
Von H. Fehlinger.
С" manche Besucher Japans, die sich von den europäischen
Begriffen über die Nacktheit des Körpers und ihre Be-
ziehungen zur geschlechtlichen Sittlichkeit nicht frei machen
konnten, sagten den Japanern gering entwickeltes Schamgefühl
und lockere Sitten nach, weil diese lange nicht in dem Maße
wie wir Europäer es gewohnt sind, sich dicht in die Kleider
hüllen. In Wirklichkeit aber wirkt die Nacktheit bei Japanern,
Männern wie Frauen, wenig sexuell anreizend. Eine ganz oder
halb entblößte Frau zudringlich anzusehen, wird dem Japaner
niemals einfallen, und wenn der Europäer seinem Beispiel folgt,
so bewegt sie sich vor seinen Augen ebenso natürlich und
ungezwungen, wie vor ihren eigenen Landsleuten. Stratz*) sah
vor Badehäusern in Yumoto völlig entkleidete Männer, Frauen
und Kinder in traulichem Gespräch beieinander sitzen. Auch
auf dem Weg von und nach den Badehäusern war am Morgen
die weibliche Kleidung eine sehr bescheidene. In den Dörfern
konnte er häufig halb oder ganz entkleidete Mädchen hinter
den offenen Türen oder in den Höfen der Häuser bei der Ar-
beit beobachten. Im gewöhnlichen Leben fällt die Nacktheit
nicht auf, sie gilt da nicht als sittlichkeitsverletzend.. Wo je-
doch der europäische Einfluß zur Geltung kommt, wie in den
Küstenstädten, dort verbirgt die sittsame Frau ihren Körper
vor dem sinnlichen Blick der Europäer ebenso wie vor ihres-
gleichen. Der von entkleideten Mädchen ausgeführte National-
tanz Dschonkina wurde von der Regierung in allen Küsten-
plätzen verboten, nicht weil er an sich unsittlich ist, sondern
weil er durch den europäischen Einfluß unsittlich aufgefaßt
wurde und dadurch entartete.
*) C.H. Stratz, Rassenschönheit des Weibes, 5. Aufl., S. 105—106.
76 Fehlinger: Von Liebe und Ehe in Japan
In Anbetracht der Tatsache, daß die Nacktheit in Japan
nicht sittlich anstößig ist, und daß die Verhüllung des Körpers
nicht soweit getrieben wird wie in Europa, ist es auffallend,
daß das japanische Schönheitsideal neben Gesicht und Händen
nur den bekleideten weiblichen Körper berücksichtigt. Als schön
gelten Frauen mit langem schmalem Gesicht und feinen Zügen,
schmaler gewölbter Nase, schmalem Kinn und schlankem Hals,
magerer Gestalt, kleinen Brüsten, nicht vorspringenden Hüften
und zartem Gliederbau. Die Zartheit dieses feinen Typus
(Choshiu-Typus genannt), schrieb E. Baelz, artet nur allzuoft
ins kränkliche aus. Der durchscheinende, marmorblasse Teint,
die glänzenden schönen Augen, der sanfte rote Hauch auf den
Wangen, verkünden dem erfahrenen Blick Unheil. Schädlich-
keiten und Stürmen vermöge diese schlanken Frauengestalten
nicht zu trotzen, sie werden leicht‘Opfer der Tuberkulose. Des-
halb konnte auch der feine Typus der Frau, obzwar er dem Rasse-
ideal entspricht, nicht zum herrschenden werden. Er kommt
vornehmlich — aber nicht ausschließlich — in den sozial höher
stehenden Volksschichten vor.
Unter den Bauern und den niederen Klassen der Stadt-
bewohner ist der plumpe Frauentypus (oder Satsuma-Typus)
vorherrschend, der durch kräftigen robusten Körperbau, nament-
lich breite Hüften, und durch ein der mongolischen Rassen-
eigenart entsprechendes breites Gesicht mit vorspringenden
Jochbogen, breiter stumpfer Nase und großem Mund mit wulstigen
Lippen ausgezeichnet ist.
Nach europäischen Vorstellungen am besten gebaut ist der
mittlere Typus. Die Gestalt ist gleichweit entfernt von der
Magerkeit und Schlaffheit des feineren wie von der plumpen
Fülle des niederen Typus. Das Gesicht hat fast stets etwas
Liebliches, eigentlich schön ist es selten. Es ist verhältnismäßig
breit, aber wegen der wohlgebildeten Weichteile springen die
Jochbogen nicht häßlich vor. Die Augen sind wenig schief.
Dicke, volle Formen bei Frauen sind nach japanischer An-
sicht Zeichen unschönen Überwiegens des Rohsinnlichen, Ma-
teriellen, während man bei einem schönen Weibe das Verfeinerte,
Ästhetische, das Überwiegen des höheren, dem Rohmateriellen
fernstehenden Elements sucht.
Breite Hüften gelten für das Unfeinste, was am weiblichen
Körper vorkommen kann. Eine schlaffe Brust wird gern ver-
Fehlinger: Von Liebe und Ehe in Japan 77
ziehen (man sieht sie ja meist nicht), ein plumper Fuß und ein
häßlicher Gang sind entschuldbar, aber breite Hüften nie. Der
Japaner will zierliche Hüften sehen, schlank wie eine Weide.
Deshalb betrachtet es eine Frau als Unglück, wenn ihr die
Natur ein breites Becken verliehen hat.
Die körperliche Entwicklung der japanischen Knaben und
Mädchen hält (nach Baelz) bis zum 15. oder 16. Jahr mit der
der Europäer Schritt; dann aber bleibt sie plötzlich weit zurück
und das Wachstum wird bald vollendet. Der Eintritt der Ge-
schlechtsreife findet nicht so früh statt, wie man in Europa
gewöhnlich glaubt. Von 240 Mädchen hatten die erste Men-
Struation:
2 im 11. Jahr 64 im 15. „
Б Тм Hr E
30.421, % St wv TÉL
ЭФ... 142 5 10 „ 19. „
Die Entwicklung des Busens fällt etwas früher als die
Menstruation. Die Behaarung der Genitalien tritt bei beiden
Geschlechtern spät auf.
Die Ehe schließen viele Japaner in verhältnismäßig jugend-
lichem Alter und die starke Verbreitung der Frühehe ist wohl
die wichtigste, wenn schon nicht die einzige Ursache davon,
daß ein Rückgang der Geburtenziffer in Japan nicht stattfand.
Das weibliche Geschlecht heiratet im allgemeinen in jüngerem
Alter als das männliche. Auch im Gesetze ist ein Unterschied
festgelegt, denn das mindeste Heiratsalter ist für männliche
Personen das vollendete 17., für weibliche das vollendete 15.
Jahr. Vergleichen wir, nach dem Geschlechte getrennt, das
Heiratsalter in Japan und in Deutschland, so erhalten wir fol-
gendes Bild*):
Männl. Geschlecht Weibl. Geschlecht
Alter der Ehe- Japan Deutschld. Japan Deutschld.
schließung: (1899—1910) (1901—1910) (1899—1910) (1901—1910)
weniger als 20 Jahre 62 1 295 84
20—25 „ 330. 293 418 486
25—30 „ 328 428 169 274
30—40 , 199 205 90 116
40—50 „ 56 46 21 30
über 50 „ 25 27 7 10
*) Nach Jaeckel: Das Heiratsalter im modernen Japan. Zeitschrift für
Sozialwissenschaft, N. F., 6. Jahr., S. 896—713.
78 Fehlinger: Von Liebe und Ehe in Japan
Es ist bemerkenswert, daß auch in Japan noch eine Zahl
von Männern im Alter von mehr als 50 Jahren heiratet, obzwar
sie dort bereits als „Inkyo“ oder Greise gelten, die sich vom
täglichen Leben zurückziehen und all ihre Habe den Söhnen
übergeben sollen.
Die im Alter von weniger als 20 Jahren heiratenden Männer
haben in den elf angegebenen Jahren an Zahl stark abgenommen
und zwar sowohl absolut wie relativ. Die weiblichen Früh-
heiratenden weisen in der ganzen Periode wohl mannigfache
Schwankungen aber keinen absoluten Rückgang auf; relativ hat
sich ihre Zahl jedoch auch beträchtlich vermindert. In sämt-
lichen anderen Altersklassen hat die Zahl der Eheschließenden
beider Geschlechter zugenommen. Der Einfluß der Kriegs- und
wirtschaftlichen Krisenjahre auf die Heiratshäufigkeit tritt beim
männlichen Geschlechte deutlicher hervor als beim weiblichen.
Es zeigt sich aber, daß das weibliche Geschlecht im Heirats-
alter sich dem Manne anpaßt. Ist der Mann in einem be-
stimmten Alter allgemein verhindert zu heiraten, so weisen auch
die Frauen der gleichen oder entsprechenden Altersklassen ein
Minus auf. Die langsame Erhöhung des Heiratsalters zeigen
beide Geschlechter, das männliche jedoch stärker.
Persönliches Liebeswerben ist nur bei den unteren sozialen
Schichten üblich. Bei den Oberschichten spielt es keine Rolle.
Hier werden die Ehen fast stets von den Eltern oder nächsten
Verwandten abgemacht, oder man bedient sich eines Vermittlers
(„Nakodo“), dessen Pflicht darin besteht, der Beteiligten Charak-
ter, Gewohnheiten, schlechte und gute Eigenschaften und Körper-
mängel gegenseitig zur Kenntnis zu bringen und alles aufzu-
bieten, um die Angelegenheit günstig abzuschließen. Schließlich
bringt der Vermittler eine Begegnung des Paares zustande und
wenn nachher der eine Teil mit dem anderen nicht zufrieden
ist, wird das Verhandeln abgebrochen.
In früheren Zeiten wurden in den unteren Volksschichten
verhältnismäßig wenige Ehen formal geschlossen. Die Ehe war
innerhalb eines Standes ganz Privatsache. Erst 1870 erging
ein Erlaß, wonach zu jedem Ehebündnis die obrigkeitliche
Kenntnis und Genehmigung erforderlich ist. Im folgenden Jahre
schaffte man die Standesschranken gegen die Verehelichung
ab und zwei Jahre später wurde den Frauen das Recht einge-
räumt, Klagen und Ehescheidung bei den Gerichten einbringen
Fehlinger: Von Liebe und Ehe in Japan 79
zu können. Ehedem wurden auch Ehen auf eine gewisse Zeit
abgeschlossen, gegenwärtig ist das nicht mehr der Fall, denn
es gilt für die Regelung der Eheverhältnisse das neue bürger-
liche Gesetzbuch Japans, das sich dem europäischen Recht eng
anschließt (besonders dem Code Napoleon und dem deutschen
Bürgerlichen Gesetzbuch). Aber trotzdem hat die japanische
Ehe noch nicht ihre orientalischen Charakterzüge verloren. Auf
das Verhältnis der Ehegatten zu einander sind noch heute die
überlieferten Sitten von großem Einfluß. Die Frau schuldet
dem Manne unbedingte Unterwerfung, wie sie auch vom Kinde
den Eltern gegenüber gefordert wird. Dr. Ichikawa schrieb
diesbezüglich: „Vom frühesten Kindesalter an gilt als Haupt-
aufgabe der Erziehung, der Jugend das Gehorchen beizubringen.
Namentlich gilt dies für die Mädchen, die nach der späteren
Vermählung nicht nur dem Manne, sondern auch der Schwieger-
mutter aufs Wort parieren müssen. Ohne die würde es gar
nicht gehen, da nach japanischer Sitte alle Kinder, solange sie un-
vermählt sind, im Elternhause verbleiben, die Söhne sogar, nach-
dem sie sich verheiratet haben.“*) Die Stellung der Frauen ist
untergeordnet, wenn auch nicht mehr in dem Maße wie in der Zeit
vor der Berührung Japans mit der europäischen Kultur. Nach An-
gaben von Japanern sind dieEhen gewöhnlich sehr glücklich, trotz-
dem die Gattenwahl Sache der Eltern ist. Schlechte Behandlung
der Ehefrauen soll so gut wie gar nicht vorkommen. Die Frau
geht ganz und gar in ihren ehelichen, mütterlichen und häus-
lichen Pflichten auf. Ehebruch seitens der Frau soll kaum je-
mals begangen werden. Früher ging die Treue der Frau sogar
soweit, daß die Wiederverheiratung von Witwen zu den größten
Seltenheiten gehörte. Ein Schatten fällt nur in die Ehe, sagt
Ichikawa, „wenn diese unfruchtbar ist oder wenn die männliche
Nachkommenschaft ausbleibt. Der Mann ist tatsächlich an
eheliche Treue nicht gebunden, er kann sich ohne besondere
Gründe von seiner Frau trennen, und er darf sich danach so oft
wieder verheiraten als er will, nur nicht mit der leiblichen
Schwester der Frau oder einer Schwester der vorigen Gattin.“
Des in Japan noch bestehenden Ahnenkultus wegen gibt
es dort für eine Familie kein größeres Unglück, als keinen
Sohn zu haben. Deshalb ist die Adoption oder Annahme an
*) Eheleben in Japan. Ostasiatischer Lloyd, 21. Jahrgang, Nr. 17.
80 Fehlinger: Von Liebe und Ehe in Japan
Kindes statt eine alte, weit verbreitete und viel geübte Sitte.
Ihr religiöser Zweck ist die Erhaltung der Familie durch einen
angenommenen Sohn.
Von den japanischen Mädchen der höheren Gesellschafts-
klassen wird verlangt, daß sie bis zu ihrer Verheiratung im
Elternhause bleiben und den Umgang mit Männern außerhalb
desselben meiden und auch beim wohlhabenden Mittelstande
herrschen ziemlich strenge Sitten in bezug auf das Verhalten
der Töchter vor der Ehe. Wesentlich anders ist es bei den
unteren Gesellschaftsklassen, bei denen vorehelicher Sexual-
verkehr der Mädchen kaum als anstößig gilt. So gut wie aus-
schließlich aus den Töchtern der armen Bevölkerung gehen die
Gaishas hervor, die Sängerinnen und Tänzerinnen, wie auch
die Freudenmädchen der Teehäuser. Beide Klassen von Mäd-
chen kommen in der Regel jung an gewinnsüchtige Unternehmer,
welche ihnen nach japanischen Begriffen eine gute Erziehung
geben lassen. Von ihrer Moral läßt sich nur sagen, daß sie
zumeist jederzeit bereit sind, mit Zustimmung ihres Herrn sich
durch Vertrag auf einen Monat oder längere Zeit an einen
Einheimischen oder Fremden zu vermieten. Es ist auch etwas
Alltägliches, daß Gaishas von angesehenen Bürgern aufgefordert
werden, mit ihnen und ihren Familien zusammen einen ver-
gnügten Tag in einem anständigen Teehause zu verbringen,
mit Tanz und Gesang zur Unterhaltung beizutragen; ein anderes-
mal verlangt man die gleiche Leistung in einem Privathause.
Bei großen Tempelfesten müssen diese Mädchen in vollem
Schmuck im Zug mitgehen und zu manchem Gastmahl eines
höheren Beamten werden sie gerufen, um Speisen aufzutragen.
(Rein, „Japan“, Leipzig 1905.)
Nicht zu verwechseln mit den Gaishas sind die Ver-
treterinnen der Halbwelt, deren große Zahl und Stellung in den
altjapanischen Sitten begründet ist. Sie werden ebenfalls in
früher Jugend von den Eltern gegen Entgelt den Unternehmern
von Yoschiwarahäusern überlassen, wo die älteren Insassinnen
sie im Lesen, Schreiben, Tanzen und Singen ebenso wie in
anderen Künsten unterrichten. Die öffentlichen Häuser stehen
unter strenger Polizeikontrolle, doch bedeutet der Aufenthalt
darin für die Freudenmädchen keineswegs soziale Ächtung.
Im Gegenteil, weitaus die meisten heiraten bald und werden
gute Ehefrauen und Mütter. Einen Ehemann zu finden, wird
"WI}SUIZJIONY иол 236ү пд "ZUBJLUOSEN
Tafel II
We", eg у>
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Tafel III
Badestube. Nach einer Miniatur der Breslauer Stadtbibliothek.
Zu Aufsatz von Reitzenstein.
Fehlinger: Von Liebe und Ehe in Japan 81
ihnen leicht, weil sie besser erzogen sind als andere Mädchen
niederen Standes. Arge Übertreibung ist es freilich, wenn
Е. S. Kraus („Das Geschlechtsleben in Glauben, Sitte Brauch
der Japaner,“ S. 68) schreibt, „die Mehrzahl der armen Japaner
wählt ihre Frauen aus diesen Häusern.“ Dagegen ist Kraus
beizupflichten, daß die Teehäuser, in denen Freudenmädchen
leben, im ganzen Lande die Mittelpunkte des geselligen Ver-
kehrs sind und daß sich dort vor der Öffentlichkeit nichts
ereignet, was die Grenzen des Anstandes überschreitet. A. H.
Exner („Japan“, Leipzig 1891) betont, daß nach dem Urteil
aller, welche die Verhältnisse kennen, die japanischen Halb-
weltdamen nie auf einer so niedrigen Stufe stehen wie die
Demimondänen unserer großen Städte. Auch werden die Be-
wohnerinnen der Freudenhäuser (Yoschiwaras) von dem besseren
Teil der Gesellschaft nicht verachtet, sondern nur bemitleidet,
befinden sie sich doch nicht aus eigener Schuld und Neigung
dort, sondern meist auf Befehl ihrer Eltern, d. h. in Ausübung
des schuldigen kindlichen Gehorsams und der Kindesliebe.
Ein nicht genannter japanischer Mitarbeiter an Kraus’ oben
erwähntem Buch (S. 81 u. f.) vertritt anderen Autoren gegen-
über (die das Gegenteil aussagten), die Meinung, daß Homose-
xualität in Japan fast ebenso verbreitet sei, wie in anderen
Ländern; aber sie trete weniger zutage und offenbare sich erst
dem geschärften Blicke. Im alten Japan habe Homosexualität
als nichts schlimmes gegolten. „Erst als der Einfluß westlicher
Kultur in Japan fühlbar wurde,.... änderten sich die Anschau-
ungen über gleichgeschlechtliche Liebe. Und was früher öffent-
lich betrieben wurde und als Ausfluß der Ritterlichkeit galt,
wurde nun in Acht und Bann erklärt als etwas Barbarisches
und Unsittliches, das mit Heimlichkeit zu umgeben sei... .
Wenn sich auch äußerlich die Anschauung über homosexuelle
Liebe geändert hat, die alte Auffassung der Samurai lebt aber
im Stillen in wohl kaum vermindeter Weise weiter und ihr
Hauptträger ist nach wie vor der Soldatenstand geblieben.“
Über diesen Gegenstand vergleiche man das Buch von F. Karsch-
Haack, „Das gleichgeschlechtliche Leben der Östasiaten: Chinesen,
Japaner, Koreaner. (München 1906.)
Im alten Japan weit verbreitet war der Phalluskult und
die Verehrung des weiblichen Geschlechtsteils. Auf dem Lande
hat er sich noch im beträchtlichem Umfange erhalten, dort findet
6
82 Fehlinger: Von Liebe und Ehe in Japan
man noch heute an vielen Orten Phalli aus Stein oder Holz
die mit Fruchtbarkeitszauber in Verbindung stehen. Auch der
Abwehr böser Geister scheinen diese Bilder zu dienen. Neben
großen Phallustempeln mit eigenen Priestern gibt es überall
im Lande kleine Hütten, mit Bildern des Phallus und der Rima.
Über den Phalluskult unterrichtet ausführlich E. Buckley’s Schrift
„Phalizism in Japan“, Chicago 1895, die in deutscher Über-
setzung bei Kraus wiedergegeben ist.
Über das Sexualleben der Aino, des eigenartigen Natur-
volkes im nördlichsten Japan, ist nicht viel bekannt geworden.
B. Scheube („Die Aino“ Mitteilungen für Natur- und Völker-
kunde Ostasiens, Heft 26) berichtet, dab die Menstruation ge-
wöhnlich vom 14.—16. Jahre eintritt und daß die Fortpflanzungs-
fähigkeit bis zum 49. oder 50. Lebensjahre dauert. Die Ainos
heiraten frühzeitig, die Männer durchschnittlich vom 18., die
Frauen vom 16. Lebensjahre an. Vor der Verheiratung ist der
Verkehr beider Geschlechter ein freier. Kinder, die aus solchen
Liebesverhältnissen entspringen, bilden für die spätere Verhei-
ratung der Mutter kein Hindernis. Die Aino haben meist nur
eine Frau, doch ist Mehrweiberei erlaubt. Die Frau nimmt
dem Manne gegenüber eine ziemlich hohe Stellung ein. Die
bei der Eheschließung üblichen Gebräuche erinnern an die
japanischen. Es ist die Ausnahme, daß ein junger Mann die
Gattin selbst wählt; in der Regel besorgen das die Eltern.
Eltern, die eine Tochter haben, nehmen für sie einen Sohn an.
Die Eltern eines jungen Mannes wenden sich gewöhnlich an
Heiratsvermittler, wenn sie die Zeit für seine Verheiratung ge-
kommen glauben. Der Vermittler sieht sich nach einer passenden
Gattin um; hatten die Eltern bereits ein bestimmtes Mädchen
in Aussicht genommen, so wirbt er bei deren Eltern. Sobald
der Vermittler die Sache ins Reine gebracht hat, übersendet
der junge Mann den Brauteltern ein Geschenk; wenn es erwidert
wird, so ist das ein Zeichen, daß die Hochzeit am nächsten Tag
stattfinden soll. Zur Hochzeit kommt die Braut mit ihren Eltern
in Begleitung des Vermittlers. Das Hochzeitsfest währt mehrere
Tage. Die Ehen sind nur mäßig mit Kindern gesegnet; 3 bis
4 ist deren gewöhnliche Zahl. Die Entbindungen erfolgen
leicht ohne irgendwelche Kunsthilfe. Die vertrockneten und
abgefallenen Nabelschnurstücke ihrer Kinder trägt die Mutter
zeitlebens in einem Säckchen auf der Brust und nimmt sie mit
ins Grab. Das Säugen währt bis ins 4. oder 5. Jahr.
Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 83
BETRACHTUNGEN ÜBER DAS LIEBESLEBEN IN
DER ZEIT DER RENAISSANCE UND DER PERIODE
DER GALANTEN.
Von FERD. FRHR. VON REITZENSTEIN, Dresden.
(Fortsetzung.)
TY? wie heute waren die Tanzvergnügungen die be-
liebtesten Wege, um mit Mädchen in engere Berührung zu
kommen. Kein Wunder, daß alle Gegner des Liebeslebens
besondere Wut darüber hatten und nicht nur „Anstoß“ daran
nahmen, sondern sogar manchmal recht herbe Worte dagegen
gebrauchten. Oft mit Recht, noch öfter mit Unrecht. Sicherlich
waren die Tänze sehr derb und sinnlich dazu, aber die Zeit
fand daran an sich wenig zu tadeln, nur die Moralisten haben
sich entsetzt und uns so Beschreibungen erhalten, die wir ohne
sie nicht hätten. Bei den meisten Tänzen kam es auf körper-
liche Entblößung an, was aber für die damalige Zeit lange
nicht das bedeutet, wie für uns, da man damals, wie wir ge-
sehen haben, keine Scheu vor dem nackten Körper hatte und
allezeit Gelegenheit genug hatte, ihn zu sehen oder zu berühren.
Geiler sagt einmal:
„Es sind, die gehen darumb zum tantz, damit sie andere zur geilheit
und muttwillen anreitzen. Da fahnt man an unnd wirt einander hold,
da schwetzet lieb und leid miteínander, wo sie sonst nicht zusammen
mögen kommen, da trucken sie einander die Händ, geben einander bulen-
brieffle, darin Gredten und Hansen anliegen steht und in summa: es
wirdt alles bey dem tantz außgericht. Dann wo das Grettle und der
vetter Wandele sonst nit mögen zusammenkommen, geschieht es gentz-
lich bey dem tantz.“
Dementsprechend hatten denn auch überall die Gemeinden
und Zünfte ihre eigenen Tanzsäle, neben denen es noch
öffentliche gab; aber man tanzte auch in Rathäusern, in Kirchen,
Klöstern, ja sogar auf Kirchhöfen. Die oberbayrischen Tanz-
böden und zum Teil auch die oberbayrischen Tänze (Schuh-
plattler) geben heute noch ein Bild jener Tage. Im „Ring“
des Heinrich von Mittenweiler wird bereits Bezug genommen
auf die Art des Tanzes:
„Die Mäczli (Mädchen): waren also rüg Und sprungen her so gar
gefüg, Daz man in oft, ich wayßB nit wie, Hinauf gesach bis an die knie.
Hilden Hauptloch (Halsausschnitt) was ze weyt, darumb ir an derselben
Zeit das tüttel aus dem puosen sprang; tanczens gyr sey dar zuo twang.
Hüddelein, der ward so hayß, day sey den Kittel vor auf rayß des sach
man ir die iren do und macht viel mängen herczen fro.“
6*
84 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben
Weniger gemütlich behandelt den Tanz ein anderer Augen-
zeuge, Florian von Fürstenberg, Pfarrer von Schnellewalde, der
1567 eine Flugschrift „Tantzteuffel“ schrieb. Darin sagt er,
daß die Tanzenden
„offt durcheinander unordentlich gehen und lauffen wie die bisenden
Küh, sich werffen und verdrehen, welches man jetzt verködern heisset.
So geschiehet nun solch schendtlich, unverschämt schwingen, werfen, ver-
drehen und verködern von den Tantzteuffeln, so geschwinde, auch in aller
Höhe, wie der Bawer den Flegel schwinget, daß bißweilen den Jungfrauen,
Dirnen und Mägden die Kleider biß über den Gürtel, ja bis über den
Kopff fliegen. Oder werffens sonst zu boden, fallen auch wol beide und
andere viele mehr, welche geschwinde und unvorsichtig hernach lauffen
und rennen, daß sie über einen hauffen liegen: die gerne unzüchtig Ding
sehen, denen gefallt solch schwingen, fallen und kleiderfliegen sehr wohl,
lachen und seind fröhlich dabey, denn man machet jnen gar ein fein
welsch Bellvidere. Welche Jungfraw, Magd und Dirne am meisten am
Tantze herumbgefüret, geschwungen, gedrehet und beschawet wirdt, die
ist die fürnembste und beste und rühmen und sagen die Mütterlein
selber: Es ist gar bedrang umb meine Tochter am Tantze, jedermann
wil mit jr tantzen, sie hat heut am Tantz guten Markt gehabt. Auch sticht
der Narr unsere jungen und alten Witwen, die treibens ja so körbisch,
wilde und unflätig, als die jungen Mägdlein, seind bey den Nachttäntzen
sowol die ersten und die letzen.“
Ohne es vielleicht zu wollen, hat sich der Berichterstatter
in Gegensatz zu seiner Zeit gebracht, denn wir sehen
deutlich, daß die Leute, insonderheit auch die Mütter, es übel
empfunden hätten, wenn die Reize ihrer Töchter nicht zur
Geltung gekommen oder gar vernachlässigt worden wären.
Man hielt diese Reize damals noch ganz und gar für etwas
Natürliches. Der Tänze gab es eine ganze Menge; von vielen
wissen wir nicht mehr als den Namen, aber allen, die wir ge-
nauer kennen, liegt ein sexuelles Moment zugrunde. Fast überall
kommt es darauf an, die Tänzerin hochzuheben und in der
Luft zu schwenken. Geiler geriet darüber in gewaltigen Zorn
und bedient sich einer Reihe von Kraftausdrücken, mit denen
damals die Gesellschaft von der Kanzel aus unterhalten wurde,
während er es vielleicht im Innern gar nicht so bös meinte:
„Darnach findt man klötz, die tantzen also sewisch und unflätig, das
sie die weiber und Jungfrawen dermassen herumschwenken und in die
höhe werffen, das man ihn hinden und vornen hinauff siehet, biß in die
weich, also daß man ihr die hübsche weisse beinle siehet und schwartze
oder weiß stiffele, die oft so voller Koth und unrath, sein, daß einer darob
spewrn und undewen solt. Auch findt man etliche, die haben dessen ein
ruhm, wann sie die Jungfrawen und weiber hoch in die höhe können
schwencken, und haben es bißweilen die jungfrawen (so anders solche
jungfrawen zu nennen sein) fast gern und ist jenen mit lieb gelebt, wann
man sie also schwenket, daß man ihnen, ich weiß nicht wohin siehet.“
Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 85
Einer der beliebtesten Tänze war das Kranzsingen, bei
dem es darauf ankam, daß die Kränze der Mädchen an ihre
Liebhaber und deren Kränze an die betreffenden geliebten
Mädchen kamen. Ein Stück eines Kranzliedes aus dem
16. Jahrhundert ist uns erhalten:
„Ich kumm aus frembden landen her,
und bring euch vil der newen mär,
der newen mär bring ich so viel,
mer dann ich euch sie sagen wil.
Die frembden Land die seind so weit,
darin wechst uns gut summerzeit,
darin wachsen blümlein rot und weiß,
die brechend jungfrawen mit ganzem Fleiß
Und machen daraus einen kranz
und tragen ihn an den abendtanz
und lond die gsellen darumb singen,
bis einer daz krenzlein tuot gewinnen.“
Wie es dabei zuging, können wir uns ungefähr vorstellen,
wenn wir das bei den Schweden übliche Kranzsingen betrachten.
Die Beteiligten bilden einen Kreis, in dem ein Mädchen und
ein Bursche stehen; das Mädchen windet einen Kranz. Unter-
dessen schreiten die Umstehenden im Reigenschritt und singen:
„Das Mägdlein (bzw. der Bursche) steht hier mitten im Tanz
Und pflückt sich Rosen wunderfein,
Es windet daraus den schönsten Kranz
Wohl für den Herzgeliebten sein.“
Unterdessen setzt im Ringe das Mädchen den fertigen
Kranz dem Burschen auf, während der Reigen fortdauert, und
die Teilnehmenden singen:
„Komm du, mein Geliebter, her,
Den ich mir hier ausersah,
Willst du dies und wohl noch mehr,
Reich die Hand und sprich ein Ja.“
Jetzt tanzt auch das Paar im Kreise. Wir kommen in späteren
Zeilen darauf zurück. Es ist sehr wahrscheinlich, daß in
diesem Kranzsingen ein Stück der alten Verlobung steckt;
doch bedarf das besonderer Untersuchung. Der Reigen kam
auch in anderer Form vor und mag eine ganz ähnliche Grund-
bedeutung gehabt haben, weshalb man „unzüchtige“ Lieder
dazu sang. Ein Mann stand immer zwischen zwei Frauen, und
die ganze Gesellschaft faßte sich bei den Händen, wozu man
sang. Nach Geiler waren diese Lieder sehr „unzüchtig“; er sagt:
„Noch hat ich schier ein tantz vergessen, nemlich den reientantz; da
werden auch mitunter untzucht und schand begangen, weder um der
86 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben
Tanzende Bauern von de Bry
anderen, von wegen der schandtlichen und schamparen hurenlieder, so
darin gesungen werden, damit man das weiblich Geschlecht zu der geil-
heit und unkeuschheit anreitzet.“
Sicherlich waren dies uralte Lieder, die in Beziehung zu
einem Fruchtbarkeitskultus standen. Am berüchtigtsten
aber war für die Leute asketischen Schlages ein Tanz, der
„schöfferdantz“ oder der „schefer von der newen stat“
hieß. Die Pointe war, daß man die Tänzerin umarmte und
küßte. So steht in den „Epistolae virorum obscurorum“
(ed. Böcking 33 S. 50):
„Neulich tanzte ich im Hause des Schulzen beim Abendtanze, da
pfiff der Pfeifer das Lied vom ‚Schäfer von der newen Stadt‘, und so-
gleich umarmten alle Tänzer ihre Tänzerinnen, wie dies Sitte ist.“
Man hat diesen Tanz besonders verfolgt, und so ist uns
nur der Anfang des Gesanges geblieben. Die ehedem
so sehr beliebte Melodie mag wohl noch in einzelnen Volks-
liedern erhalten sein. Das Ge-
dicht fing an:
„Der Schäfer von der Newenstadt,
Sein Rößlein aufgeboten hat,
Ein unverzagten Mann zu geben,
Dem nit sein Weib darf widerstreben
Findt aber kein, ders so begert,
Deshalb behalt er wol sein Pferdt.“
„Stadelweise“ und „Scheuer-
tanz“ scheinen besonders bei
den Bauern beliebt gewesen zu
sein. Letzterer war ein spezi-
fischer Hochzeitstanz und wurde
besonders in Unterfranken nach
der kirchlichen Trauung in der
Bäuerliche Tänzer von M. Treu Scheune getanzt.
Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 87
Wie sich jene Zeit überhaupt auslebte, so tobte sie teil-
weise im Tanze. Die Tanzwut war pathologisch geworden
und grassierte besonders im Jahre 1418. Es kann kein Zweifel
sein, daß dieser Erscheinung sexuelle Momente zugrunde lagen.
Diese in Apulien und anderen Teilen Italiens auftretende Tanz-
seuche (Tarantismus) beruhte auf einer Art psychischer An-
steckung; sie hat mit dem Tarantelstich nichts zu tun, gegen
den angeblich als bestes Heilmittel ein wilder Tanz (Tarantella)
gegolten haben soll; gerieten die Tanzenden danach in starken
.Schweiß und fielen dann in tiefen Schlaf, so seien sie geheilt
gewesen. Man weiß aber jetzt längst, daß der Biß jener süd-
italienischen Webspinne gewöhnlich keine schweren Er-
scheinungen nach sich zieht, und daß die alten Schilderungen
auf Aberglauben und Übertreibungen zurückzuführen sind. Jene
eigenartige Erkrankung war von einer sonderbaren Sehnsucht
nach dem Meere begleitet und zog viele in die Wellen. Ein
auf sie Bezug nehmendes Lied lautet:
„Zum Meere tragt mich,
Wenn ihr mich heilen wollt.
Zum Meere schnell!
Wenn mich meine Herrin liebt,
Zum Meere, zum Meere,
Solange ich lebe, liebe ich dich.“
In Deutschland grassierte eine ähnliche sexuelle Erkrankung,
die man Veitstanz hieß.
Die Liebe zum Wasser war ja überhaupt ein Charakteristi-
kum des mittelalterlichen Liebeslebens. Wir haben das Bade-
leben bereits mehrfach behandelt,*) es erreichte in der Re-
naissancezeit seinen Höhepunkt, um auch in ihr ganz plötzlich
abzusterben. Der Kampf der Geistlichkeit und der Moral-
prediger hatte in einer damals mit furchtbarer Macht auf-
tretenden Geschlechtskrankheit, einer Abart der Syphilis,
die man in Deutschland „Franzosenkrankheit“ hieß, einen
gewaltigen Bundesgenossen erhalten. Die Bäder, die eine
enge Vereinigung vieler Menschen mit sich brachten, wurden
zu Hauptansteckungsherden, und so gelang es ihren Gegnern
leicht, das Volk dagegen einzunehmen und behördliche Verbote
*) Vgl. Reitzenstein: „Entwicklungsgeschichte der Liebe“ S. 72, 82,
85, 94, „Liebe und Ehe im Altertum“ S. 8, 18, 57, „Liebe und Ehe im
Mittelalter“ S. 40, 60, 88, 89.
88 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben
zu erwirken. Es war dies damals schließlich auch das beste
Aushilfsmitte, da man desinfizierende Mittel nicht kannte.
Freilich wurde hier das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, und
die Welt verfiel ins Gegenteil. Erst unsere Zeit macht sich
wieder frei von der christlichen Verachtung des Bades und
räumt ihm seine Rechte wieder ein. Der Wannenbäder haben
wir bereits in der „Entwicklungsgeschichte der Liebe“ und der
„Liebe und Ehe im Mittelalter“ gedacht; es erübrigt uns daher
in erster Linie, von den großen Badeorten zu sprechen.
Frauen mit einem Narren, der nichts verraten kann.
Man verband verschiedene Zwecke damit. Zunächst wohl war
der Hauptbeweggrund, Unterhaltung zu finden und sich aus-
zuleben. Man reiste mit Frauen oder mit Geliebten hin, fand
auch dort genügend, wenn man allein kam. Der kleinere Teil
gebrauchte die Bäder zu Heilzwecken, unter denen im Vorder-
. grund eine Kur für unfruchtbare Frauen stand. Dafür
war jedenfalls sehr gesorgt, und schon das Mittelalter sprach
von der „merkwürdigen Kraft“ der Bäder in dieser Hinsicht,
und bezeichnend sagt eine Strophe:
Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben | 89
„Für unfruchtbare Frauen ist das Bad das beste,
Was das Bad nicht tut, das tun die Gäste.“
Das gilt ja schließlich auch heute noch. —
Am beliebtesten waren: Baden (heute Baden-Baden), ein
bad bey Mentz genannt Wißbaden, Wiltbad, Pfeffers, Ems,
ein bad bey Eger zuom Elnpogen (bei Karlsbad) und besonders
Baden im Aargau. Davon haben wir eine kulturgeschichtlich
ebenso beachtenswerte Schilderung, wie sie auffallend gerecht
und sachlich gehalten ist. Sie stammt aus der Feder des
italienischen Humanisten Poggio Bracciolini (1380 bis 1459).
Er schreibt:
„Besonders fein sind die Bäder in Privathäusern; Männer und Frauen
baden gemeinsam, sind allerdings durch eine Holzwand geschieden, in
der aber mehrere Fenster angebracht sind, so daß man sich nicht nur
unterhalten, sondern auch zusammen trinken kann; man vermag auch
rüber und hinüber zu sehen und sich zu berühren, was nach ihrer Ge-
wohnheit recht oft geschieht. Über den Wasserbehältern sind Galerien
angebracht, auf denen, die Männer stehen, die lediglich zusehen und sich
unterhalten wollen, da es jedermann gestattet ist, in die Bäder zu kommen,
sich aufzuhalten, zuzusehen, zu plaudern, Scherze zu machen und sich
aufzuheitern. Dabei kann man die Frauen sehen, wie sie ins Wasser
steigen oder wieder herauskommen. Niemand wacht am Eingang, niemand
behütet die Türe, und niemand denkt an etwas Unsittliches. Die Männer
tragen nur eine Schambinde, die Frauen dagegen leinene Hemden, die
vom Hals bis zu den Schenkeln reichen, aber an der ganzen Seite offen
sind, wobei sie außerdem weder Hals noch Brust noch Arme bedecken.
Gar oft beobachtet man, daß sie im Wasser essen, auf gemeinsame Kosten.
Ein geschmückter Tisch schwimmt zu dem Zwecke auf dem Wasser, und
auch die Männer nehmen daran teil... So fehlt nichts zu dem Ge-
mälde, wie Jupiter die Danae als goldener Regen befruchtete... Meine
(d. h. Poggios) beiden Begleiter waren mit leinenen Hemden angetan,
wie das bei Männern Sitte ist, die in die Frauenbäder eingeladen waren;
ich jedoch sah von der Galerie aus zu und beobachtete Sitten, Gewohn-
heiten, Liebenswürdigkeiten, Freiheit und Ungeniertheit dieser Lebensart.
Es ist geradezu auffällig zu sehen, in welcher Unschuld sie leben, und
mit welchem Vertrauen die Männer es mitansehen, daß ihre Frauen von
Fremden berührt werden. Niemand wird erzürnt, ja es achtet nicht ein-
mal jemand darauf, denn man nimmt alles von der besten Seite. Es
gibt nichts, und wäre es noch so schwer, das bei ihrer Weltanschauung
nicht leicht würde. Sie hätten ganz in Platos Staatswesen gepaßt, wo
alles gemeinsam ist, da sie, ohne seine Lehre zu kennen, seine treuesten
Schüler sind. In einigen Bädern sind nämlich die Männer mit den Frauen
zusammen, denn sie sind ihnen entweder verwandt, oder man gestattet
es aus Wohlwollen. Täglich drei- bis viermal geht man ins Bad und
bleibt den größten Teil des Tages darin, ein Teil singt dabei, der andere
trinkt, und wieder andere tanzen einen Reigen. Dann singen sie wieder
im Bade selbst eine Zeitlang, und dabei ist es besonders schön, den er-
wachsenen, heiratsfähigen Mädchen, die in Kostüm und Gestalt Göttinnen
gleichen, zuzuhören, während ihnen ihre Kleider auf dem Wasser gleich-
sam nachschwimmen; da könnte man jede für die Venus selbst halten.
90 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben
Sehr gebräuchlich ist es dann wieder, daß die Frauen von den Männern,
die von oben zusehen, scherzhaft kleine Geschenke erbitten. Und so
geschieht es, daß ihnen, besonders den Schönsten, Geldstücke zugeworfen
werden, die sie dann mit der Hand oder ihren aufgehobenen Hemden
auffangen. Dabei stoßen sie einander fort, und es kommt gerne vor, daß
bei diesem Spiele geheime Reize enthüllt werden. Dann fliegen wieder
Kränze, aus allerhand Blumen gewunden, herab, und die Badenden winden
sie sich ins Haar. Auch ich habe aus reiner Freude zuzusehen und zu
scherzen, alle Zeit, die mir mein zweimaliges Baden an jedem Tage über-
ließ, dazu benützt, die übrigen Bäder zu besuchen, und habe gar häufig
Geldstücke und Kränze hinabgeworfen, wie das die anderen auch getan
haben. Denn im ganzen Orte war weder zum Lesen noch zum Denken
Zeit, klangen doch allenthalben Symphonien, Trompeten oder Zithern, so
daß schon der bloße Willen zu denken eine Torheit gewesen wäre, be-
sonders für einen, der nicht gerade ein Heiliger ist, sondern ein allem
Menschlichen zugängliches Wesen. Freilich fehlte mir*) die mündliche
Unterhaltung, deren Mangel das Vergnügen beeinträchtigte, denn von allen
Dingen hat sie den meisten Wert; und so blieb mir nichts übrig als die
Augenweide und das Verfolgen des Spieles. Auch zum Spaziergehen war
Gelegenheit und sehr viel Freiheit, da es nicht durch Gesetze eingeschränkt
wurde. Neben diesen an sich reichen Vergnügungen gibt es noch andere,
die auch recht amüsant sind. Hinter der Stadt nämlich, am Flusse, ist
eine Wiese, auf der viele Bäume stehen. Dorthin kommt alles nach dem
Nachtessen zusammen von allen Seiten. Da werden dann allerlei Spiele
gespielt; die einen tanzen, die andern singen, die Mehrzahl aber spielt
Ball aber nicht nach unserer (d. h. italienischen) Sitte, sondern die Männer
und Frauen werfen sich als besondere Liebesauszeichnung einen mit
Schellen besetzten Ball zu, und wer ihn erhalten hat, wirft ihn seiner-
seits wieder nach einer ihm besonders lieben Person, während die vielen
andern mit vorgestreckten Händen bitten, und der Werfende sie irreführt,
indem er sich stellt, als ob er den Ball bald dem, bald jenem zuwerfen
wolle. Auch sonst werden allerlei Scherze getrieben, die zu beschreiben
aber zu weit führen würde... Fragt man nach der Wirkung der Bäder,
so muß ich zugestehen, daß sie mannigfaltig und recht verschieden ist;
auf alle Fälle aber ist ihre Kraft wunderbar, fast möchte man sagen gött-
lich. Kaum glaube ich, daß es auf der ganzen Welt ein wirkungsreicheres
Bad für die Fruchtbarkeit der Frauen gibt, und wegen Unfruchtbarkeit
kommen denn auch viele hierher, und die erfahren eine merkwürdige
Kraft... So siehst du ungezählte schöne Frauen ohne Männer oder
Verwandte, begleitet etwa von zwei Dienerinnen und einem Knecht oder
auch einigen alten Angehörigen, die man sicherlich leichter hinters Licht
führen als ernähren kann... So leben hier Äbte, Mönche, Brüder und
Priester in größerer Freiheit als anderswo, sie baden zuweilen gemeinsam
mit den Frauen, schmücken sich die Haare mit Kränzen und lassen
Religion Religion sein... Besonders merkwürdig ist, daß bei einer so
großen Menge von Menschen — es sind ihrer beiläufig 1000 — und
bei so verschiedenartigen Sitten keine durch Trunksucht entfachte Zwie-
tracht entsteht, und kein Aufruhr, kein Streit, kein Schimpfen und Fluchen
ausbricht. Die Männer sehen, wie ihre Frauen berührt werden, sie sind
Zeugen, daß sie mit Fremden, und zwar unter vier Augen, verkehren;
aber sie werden dadurch nicht erregt, sie sind nicht einmal erstaunt und
*) Poggio konnte nicht Deutsch.
Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 91
behandeln die Sache so, als ob alles in gutem, ehrbarem Sinne vor sich
gehe. Hier findet denn Eifersucht, die doch sonst alle Ehemänner drückt,
unter ihnen keinen Boden, ihr Name ist sogar unbekannt und unerhört.
Diese Beschreibung gehört sicherlich zu den interessantesten
Quellen, die wir aus jener Zeit besitzen, denn nur wenige
Schilderungen weiseneine ähnliche Frische der Beobachtung
und des Urteils auf. Übrigens waren diese Badeorte keine
Plätze der Verschwendung; denn wir erfahren, daß im Jahre
1475 der Kaplan Joh. Knebel aus Basel im Juli — also in der
Hochsaison — mit Magd und Diener nach Baden kam, sich
4 Wochen daselbst aufhielt und 10 rheinische Gulden brauchte.
Dies sind in unserem vorkriegszeitlichem Gelde 100 Mark, und
wenn wir annehmen, daß der Geldwert etwa ums 20fache ge-
sunken ist, etwa 2000 Mark (heute wohl 40000 Mark). Daß
in diesen Bädern die Halbwelt eine große Rolle spielte, ist
selbstverständlich, besonders wenn man bedenkt, daß das
Mittelalter ihr nicht mit der heute so sehr beliebten Verachtung
begegnete. Das Wort Hure ist jetzt für „gute“ Gesellschaft
eigentlich unbrauchbar geworden; damals war dies nicht der
Fall. Diese Öffentlichen Mädchen sind aus den „Fahrenden
Leuten“, den Taschenspielern, Mimen, Gauklern hervorgegangen;
sie scheinen sehr zahlreich gewesen und ziemlich öffentlich
aufgetreten zu sein. In Wien erschienen sie beispielsweise bei
großen Volksfesten, in durchsichtige Gewandung gehüllt, und
liefen so um die Wette um einen Schmuckgegenstand oder ein
Stück Tuch. In Leipzig veranstalteten sie die berühmte „Huren-
prozession“, in der sich ein alter Fruchtbarkeitskult erhalten
hat. Zu Anfang der Fastenzeit hielten sie einen Umzug, an
dessen Spitze ein Strohmann ‚getragen wurde, und sangen da-
bei ein Lied gegen den Tod. Dann wurde der Strohmann in
die im Norden der Stadt in die Pleiße mündende Parthe ge-
worfen, und man erhoffte dadurch einen Zauber gegen die
Pest ausgeübt zu haben. In ständiger Feindschaft lebten sie
mit den Bordellmädchen, von denen sie „Bönhasen“
genannt wurden. Die Bordelle entstanden in. Deutschland als
eine Folge der Moralpredigten und des Jungfrauenkultes. Man
glaubte durch die würdelose Bestimmung einer gewissen
Menge von Mädchen, die ihren Leib um Geld verkaufen
mußten, die deutschen Bürgermädchen dem Jungfrauenstand
zuzuführen. Zum Teil gelang das ja auch, wenigstens in den
92 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben
Städten, während auf dem Lande die alten Zustände eines
freien Verkehrs blieben, und der Bauernstand so freigehalten
wurde von der menschenunwürdigen Prostitution. Natürlich
war der Erfolg im Bürgertum größtenteils nur ein Scheinerfolg;
die meisten Mädchen hatten natürlich ihre Liebesverhältnisse,
aber sie wurden mit ihrem Verkehr in die Winkel gedrängt
Landsknecht und Soldatendirne
Nürnberger Holzschnitt von Guldenmund.
und dadurch in ethischer Hinsicht verschlechtert. Die
„konzessionierten“ Mädchen aber mußten natürlich allmählich
dem Verbrechen in die Arme getrieben werden und bilden
einen Pfahl im deutschen Fleische, der nicht anders heraus-
zuziehen ist als dadurch, daß freier Verkehr nicht mehr
verachtet oder gar bestraft wird. Der geschlechtliche
Verkehr — solange er natürliche Bahnen innehält — müßte
auch wieder natürlich betrachtet werden; die Prostitution
Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 93
hätte dann ihr Ende erreicht und mit ihr die Geschlechts-
krankheiten. Die wahre Gefahr der Prostitution liegt darin,
daß sexueller Verkehr sofort gegen Geld zu erlangen ist,
daß die Jugend mit Mädchen zusammenkommt, die die Ver-
einigung nicht mehr als Endziel und Lohn der Liebe und
Werbung betrachten, sondern je nach Bezahlung dafür ein
größeres oder geringeres Raffinement setzen und so zum Luxus
verleiten, den sie selbst als Lockmittel bedürfen. Wo sie sich
gar mit dem Zuhältertum vereint — und dies geschah sehr
frühzeitig —, führt sie direkt zum Verbrechen. Diese Leistung
der Moralisten kann nicht genug gebrandmarkt werden; wer
aber glaubt, die Prostitution abschaffen zu können, ohne daß
er zugleich das Liebesleben, und zwar das geschlechtliche,
wieder in ehrbare Bahnen lenkt, ist auf dem Irrwege.
Jedes Gesetz gegen Prostitution wird dann keine Abschwächung
bringen, es wird sie nicht quantitativ verringern, wohl aber
qualitativ verschlechtern. Die Folgen der Prostitution machten
sich schon im Mittelalter geltend, besonders wenn junge Leute,
die von ihren Schattenseiten noch nicht berührt waren, in
Bordelle kamen. Dies zeigt ein Bericht von 1507 aus Fritz
Schickers Tagebuch vom Reichstag in Konstanz.
„Ich ging eines Tages ins Freie und wandelte am See hin und her.
Da begegnete mir des Herzogs Georg Schreiber. Der nahm mich bei
der Hand und fragte: „Willst du mit mir gehen?“ Fragte ich: „Wohin ?«
Antwortete er: „Wo hübsche Mädchen sind.“ Wußte ich nicht, was ich
antworten sollte, und ging mit. Kamen wir da in ein Wirtshaus, da
saßen vielerlei Dirnen, wohl angetan, und hatten Blumen in den Händen
und sahen uns lächelnd an. Wir aber ließen uns Wein geben, und ich
verfiel in tiefe Gedanken. Da kamen die Musikanten des Bischofs von
Augsburg und spielten ganz lustig auf zum Tanze. Alsbald wurden die
Dirnen ergriffen und fingen an zu tanzen. Die jungen Gesellen riefen
mir zu, auch mittanzen, aber ich entgegnete: „Dessen bin ich nicht
kundig“. Da setzte sich zu mir eine Dirne, reichte mir eine Blume und
sagte: „Wenn du den Tanz nicht liebst, was liebst du denn? Sprach ich:
„Eine Jungfrau.“ Darauf sie: „Eine allein? Das ist nicht recht. Die
andern wollen auch nicht verachtet sein, und hier bist du in der Fremde,
sie weiß es ja nich. Kommst du heim, so ist alles wieder gut.“ Da
merkte ich wohl, was sie wollte, und bestellte noch mehr Wein, als
wollte ich bleiben, ging aber und kam nicht wieder.
In Ulm mußte sogar gesetzlich festgelegt werden, daß
Knaben von 12—14 Jahren nicht in die Bordells gehen durften.
Schon damals bestand in gewisser Hinsicht jene Übung, die
heute Gesetz wurde, daß ein Mädchen, das für Hingabe Ge-
94 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben
schenke annimmt oder in ein Frauenhaus gegangen war,
offiziell zu einer Prostituierten gestempelt wird. Dies
ist ein Schandfleck der abendländischen Kultur, den wir auch
den Moralpredigern verdanken. Im Volke hatte man ursprüng-
lich kein Verständnis dafür, und in seinen gesunden Teilen
hat man es auch heute noch nicht. Die Anschauung früherer
Zeiten darüber bekundet eine Episode, die Heinrich Deichsler
in seiner Nürnberger Chronik vom 22. Sept. 1502 berichtet.
Dort heißt es:
„Desselbigen tags, da war einer, genannt der junge Kornschreiber,
der hat ein schönes Dirnlein, ein pulschaft; der hat er gezielt, sie solt
die nacht bei ihm ligen, und er füeret sie pei nacht ins frawenhaus und
hat ir vielleicht gesagt, er wolt sie zu im haim in sein haus füern und
er lag die nacht pei ir im frawenhaus, und des morgens da kamen die
frawen all zu ir und setzten ir ein strönß kräntzlein auf, und er zwu
namen sie und füerten sie wie ein praut herüber über den Obßmark und
sprachen: „wir mußen dich zum suessen wein füeren und wollen dir die
hurnzunft schenken des suessen weins’ und so sis füerten pei den Predigern,
so lauft ein gesell dar, den erparmt des schön Dirnlein, und schlug der
füererin eine in das angesicht, da luffen die andern zu und wollten ir
helfen, so kompt ein anderer Gesell und sieht die anderen Huren, das
sie über purzelt, und entran die Dirn in allen. man legt den Kornschreiber
ins loch und verpot im zehen jar die stat.“
Heute wäre es nahezu umgekehrt!
Mit den Frauenhäusern entstanden aus den gleichen
Gründen die Animierstuben. Bereits Äneas Silvius be-
richtet von Wien, daß fast alle Bürgertavernen „lusten Fröw-
lein“ halten, in denen es umsonst zu essen gab, damit die
Gäste mehr trinken sollten.
In Italien hatte die Prostitution zunächst einen indivi-
duelleren Charakter, schon deshalb, weil neben ihr eine grobe
Anzahl von Kurtisanen stand, die den Hetären des alten
Athen glichen und nicht zur Prostitution im wahren Sinne des
Wortes gerechnet werden können. Auch hier beschäftigt sich
die Gesetzgebung viel mit den Cortigiane und Donne di libera
уйа. Lange währte es aber nicht, und Italien sank aus den
oben angeführten Gründen auf eine ganz schlimme Stufe herab.
Noch schlimmer sieht sich die Sache an, wenn man bedenkt,
daß die Päpste Steuern aus Bordellen erhoben. Sixtus IV.
z. B. bezog die ungeheure Summe von 20000 Dukaten auf
diesem Wege von einem Bordelle.
Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 95
Im 16. Jahrhundert glaubte man vielfäch die sexuelle Frage
so weit gelöst zu haben, daß die Bordelle aufgehoben
werden könnten soweit sie nicht wie wir an anderer Stelle
zeigten, eingingen*). So geschah es 1537 in Ulm, doch sah
man sich schon 1551 gezwungen, sie wieder in Betrieb zu
setzen. Es war nämlich eine sehr gefährliche Lage geschaffen
worden durch Überhandnehmen der öffentlichen Mädchen, die
nun mit allen Lastern der Bordellprostitution behaftet wurden,
weil die Bordellmädchen unter dem Namen „Büßerinnen
Maria Magdalenas“ zu Landstreicherinnen geworden waren.
Sie gingen schließlich in den Öffentlichen Mädchen auf; man
hatte ihnen den Namen „Sunneweigerinnen“ gegeben. Der
Zusammenhang der Prostitution mit den Klöstern war über-
haupt ein sehr enger. Schon Hans Rosenplüt läßt die Bordell-
mädchen über die Nonnen klagen. Er sagt:
„Auch clagen sie über die closterfrawen
Die konnen so hübschlich über die snur hauen,
Wenn sie zu ader lassen oder paden,
So haben sie junkher Conraden geladen.“
Geiler kann sogar die Frage aufwerfen: „Ich weiß nicht,
welches schier das best wer, eine tochter in ein semlich closter
thuon oder in ein frauwenhaus. Wann warumb? ут closter
ist sie en huor!“ So fand dann Bischof Gaimbus von Kastell
bei der Visitation des Klosters zu Söflingen bei Ulm, daß fast
alle Nonnen in gesegneten Umständen waren. Die Kinder
wurden zumeist getötet, und aus dem „Pfaffenspiegel“ von Corvin
erfahren wir, daß man die Klosterteiche dazu benutzte, denn
der Bischof von Augsburg erzählt, daß unter Papst Gregor 1.
aus einem Klosterteiche 6000 Kinderköpfe herausgefischt wurden.
Besonders der Adel ging in den Frauenklöstern ein und aus.
So beschreibt die Zimmersche Chronik eine Begebenheit, die
im Kloster Oberndorf im Tal (Württemberg) statthatte, wo be-
sonders die Familien Ow, Rosenfeldt, Brandeyk, Stein und
Neuneck verkehrten:
„Es sein einmal auf ein Zeit viele vom Adel und gute Gesellen im
Kloster gewesen, die haben den Abendtanz ziemlich spät gehalten. Hat
sich dabei mit Fleiß von ohngefähr begeben, daß in allem Tanz die
Lichter sein verlöscht worden. Da ist ein wunderbarliches Blatterspiel
*) Frhr. v. Reitzenstein, „Ehe und Prostitution I“ in: „Das Wissen dem
Volke“. 1921.
96 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben
entstanden und hat sich männiglich anfahen zu paren. Unter anderm ist
versehen worden, daß die Thüren versperrt und kein brennend Licht im
Saal kommen noch gelassen. Und gleichwohl allda niemand ist verschont
worden, so hat sich doch niemand ob dem andern beklagt, allein ein
Edelmann unter dem Haufen, dem ist in seinem Sinn ein widerwärtiger
Casus begegnet, den er in einer Ungeduld, da er vermeint, die Zeit sei
ihm zu kurz, und man werde bald ein Licht einhertragen, überlaut ge-
schrien „Lieben Freunde, eilet nicht, lassets noch einmal umhergehen! ich
habe meine Schwester erwischt!“
(Fortsetzung folgt.)
Geschlecht und Gesellschaft,
Neue Folge XI, 4
Tafel I
Diana von Poitiers.
Herzogin von Valentinois. Geliebte König Heinrich II. von Frankreich,
geb. 3. Sept. 1499, 7 22. April 1566. Tochter von Jean de Poitiers,
Herrn von Saint-Valliers, vermählt im Alter von 13 Jahren mit Ludwig von Breze,
Großseneschall der Normandie 7 1531, dann,Maitresse des Königs.
(Zum Aufsatz Reitzenstein).
DIE BEDEUTUNG DER PSYCHOANALYTISCHEN
METHODEN UND THEORIEN
FÜR DIE PRAKTISCHE HEILKUNDE. *)
Von Dr. BRUNO SAALER.
р“ Formulierung, die ich in dem Thema gegeben habe,
deutet schon an, daß ich nicht beabsichtige, eine eingehende
Darstellung der phychoanalytischen Theorien zu geben, die
für diejenigen, die mit dem Gegenstand noch wenig vertraut
sind, sich noch immer als wenig nutzbringend erwiesen hat.
Noch. weniger liegt mir daran, eine Diskussion im Sinne eines
„Für und wider“ herbeizuführen. Solche Erörterungen sind
gerade auf diesem Gebiet so unfruchtbar, weil bekanntlich nicht
einmal die einzelnen psychoanalytischen Schulen in der Lage
sind, sich gegenseitig Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ge-
schweige denn, daß es ihnen möglich wäre, sich mit den aus-
gesprochenen Feinden der Psychoanalyse zu verständigen. Nie-
mals ist man ja einer wissenschaftlichen Lehre mit so offener
Feindschaft begegnet wie der Psychoanalyse. Diese Tatsache
hat ihre tiefere innere Ursache darin, daß die Psychoanalyse
ja nicht nur die Struktur der Neurose aufdeckt, sondern
darüber hinaus an seelischen Einstellungen rüttelt, die das
Produkt oft mühseliger, erst nach langen inneren Kämpfen
entschiedener geistiger Prozesse sind. Die feindselige Haltung
gegenüber der Psychoanalyse ist somit tatsächlich nicht anders
zu werten als ein neurotisches Symptom, das ja auch — wie
die Psychoanalyse lehrt — zur Sicherung gegenüber einer als
solcher erkannten Gefahr errichtet wird. In diesem Sinne ist
die Psychoanalyse für viele tatsächlich eine Gefahr. Indem
sie Erkenntnisse zeitigt, die nicht nur individuelle seelische
Phänomene, sondern ganze Weltanschauungen, Religionen und
Kulturen als Reaktionsbildungen libidinöser**) Strebungen er-
*) Vortrag im Charlottenburger Ärzteverein am 3. 11. 21. Unter
Psychoanalyse versteht man die Erforschung des Seelenzustandes eines
Nervenkranken nach einer zuerst durch Freud-Wien genauer ausgebauten
Methode. Der Patient muß sich dabei über seine ganze Vergangenheit
aussprechen, auch besonders seine Träume erzählen, um unterdrückte
7
98 Saaler: Die Bedeutung d. psychoanalitischen Methoden u. Theorien usw.
scheinen lassen, wirkt sie revolutionierend, öffnet sie der Skepsis
Tür und Tor und setzt ein Fragezeichen hinter Wertungen,
an denen eine Jahrhunderte alte Tradition festzuhalten gewohnt
war, ohne überhaupt an ihrer inneren Berechtigung sich nur
den leisesten Zweifel zu gestatten. Von dieser Gefährlichkeit
soll man sprechen — denn sie meint man in Wirklichkeit —,
wenn man die Psychoanalyse eine Gefahr nennt, und nicht
von einer Gefährlichkeit, die dem Individuum durch die psycho-
analytische Behandlung erwachsen soll, die in Wirklichkeit nur
da besteht, wo die Psychoanalyse stümperhaft und ohne tiefere
Kenntnis seelischer Zusammenhänge und Reaktionen ausgeführt
wird. Auch die Hypnose hat man mit diesem Argument zu
bekämpfen versucht, und lange Zeit hindurch mit Erfolg. Die
Psychoanalyse aber, die ja nicht nur eine Methode zur Be-
handlung von Neurosen, sondern eine geistige Bewegung ist,
die aus der Not der Zeit geboren zu sein scheint, einer Zeit,
die infolge der Mechanisierung unseres Wirtschaftslebens dem
Glücksverlangen der Menschheit immer höhere und schließlich
unübersteigbare Wälle entgegensetzte, eine geistige Bewegung,
die von der plötzlich gewonnenen Erkenntnis der Knechtung
elementarster menschlicher Regungen durch die Zivilisation
gespeist wurde, eine solche Bewegung kann man nicht mit
der Warnung vor ihrer Gefährlichkeit und auch nicht mit der
Entrüstung des in seiner Behaglichkeit gestörten Bürgers tot-
schlagen. Ich stimme, obwohl ich der Psychoanalyse gegen-
über seit jeher eine kritische und zum Teil ablehnende Stellung
Vorstellungen dem Untersuchenden zu offenbaren, die die Ursache der
Erkrankung sind. Sie treten dann wieder ins-Bewußtsein, werden durch
den Behandelnden aufgeklärt und zum Abreagieren gebracht, wodurch
Heilung erzielt wird. Daß solche unterdrückte Vorstellungen besonders
sexueller Natur sind, ist bei der unsinnigen Moral und den wider-
natürlichen Forderungen der Kirche und der sogenannten Gesellschaft,
sowie krankhafter Vereinigungen und absolutem Abstinenzverlangen selbst-
verständlich. Die Psychoanalyse hat sich heute in viele Richtungen ge-
spalten, sie hat hochbedeutende Vertreter, aber sehr viele Gegner, be-
sonders in moralistischen Kreisen. Wir haben uns entschlossen, einige
Aufsätze zu bringen, ohne uns voll an die Auffassungen der Psycho-
analyse, die zweifelsohne in dem Bestreben, alles erklären zu wollen,
zu weit geht, zu binden. Wir wollen aber gleich hier bemerken, daß
die Sexualwissenschaft der Psychoanalyse ungemein viel verdankt
und so bei der hohen Wichtigkeit einerseits und der geringen Kenntnis
weiterer Kreise andererseits unseren Lesern näher gebracht zu werden
verdient. (Die Schriftleitung.)
**) Libido = Geschlechtslust.
Saaler: Die Bedeutung d. psychoanalitischen Methoden u. Theorien usw. 99
einnehme, der Freud’schen Schule darin durchaus bei, daß der-
jenige, der mit Entrüstung auf die Lehren der Psychoanalyse
reagiert, zu einer Diskussion über sie noch nicht reif ist.
Entrüsten darf sich nur der, wer die Voraussetzungs-
losigkeit wissenschaftlicher Forschung bestreitet.
Entrüstung ist kein Argument, sondern die Folge einer
persönlichen affektiven Stellungnahme zu Fragen,
über die wissenschaftlich zu diskutieren nicht nur
möglich ist, sondern über die ganz unabhängig von
der Psychoanalyse tatsächlich schon längst disku-
tiert wird.
"Wenn der Freud’schen Schule somit darin beizustimmen
ist, daß sie eine gefühlsmäßig orientierte Kritik ablehnt, so
muß man sie andererseits tadeln, daß sie sich auch einer
sachlichen Kritik ihrer Lehren konsequent zu entziehen ver-
sucht. Sie bekennt sich zu der Ansicht, daß nur, wer zur
engeren psychoanalytischen Arbeitsgemeinschaft gehört, in der
Lage sei, über Psychoanalyse zu urteilen. Psychoanalyse
— sagen sie — könne man nicht aus Büchern lernen, sondern
nur gezeigt bekommen, und ein wichtiges Erfordernis sei ferner,
daß man sich selbst einer Analyse unterzogen hat. Nun, das
ist eine Behauptung, die aus einer Zeit stammt, in der es nur
eine einzige psychoanalytische Schule gab, die auf die Worte
des Lehrers und Meisters schwören mußte. Seitdem zahlreiche
Schüler Freud’s ihn verlassen haben und eigene Wege gehen,
obwohl sie den Bedingungen der Freud’schen Schule, die den
Diplomanalytiker im Gegensatz zum „wilden“ Analytiker schufen,
entsprochen hatten, seitdem sollte man sich hüten, diese Be-
hauptung zu wiederholen. Daß man noch immer mit solchen
Argumenten hantiert, ist leider ein Beweis für die Erstarrung,
die sich der Freud’schen Lehre bemächtigt hat, und die ihren
Ausdruck darin findet, daß vorhandene Gedanken zu Lehr-
sätzen umgeprägt werden, die in ihrer unbiegsamen Starrheit
sich ihres tatsächlichen Wertes selbst entkleiden. Es bedarf
daher gar keiner Erörterung, ob es für den psychiatrisch ge-
schulten Arzt möglich ist, sich aus der vorhandenen Literatur
ein Bild der Psychoanalyse zu machen und sie so erlernen.
Diese Frage kann nur bejaht werden, wenn auch zugegeben
werden muß, daß die Ausübung der Psychoanalyse nicht jeder-
manns Sache ist, da sie eine besondere Begabung der psycho-
7%
100 Saaler: Die Bedeutung d. psychoanalitischen Methoden u. Theorien usw.
logischen, insbesondere der psychosexuellen Intuition voraus-
setzt. Diese Begabung scheint mir aber gerade manchen Mit-
gliedern der psychoanalytischen Arbeitsgemeinschaften abzu-
gehen, da sie es sonst nicht nötig hätten, einem Schematismus
zu huldigen, der ganz gewiß keine Kunst ist, oft genug aber
blühender Unsinn.
Es liegt mir daher auch nicht daran, daß meine Aus-
führungen den Beifall der engeren Freud’schen Schule finden
— das könnten sie gar nicht. Es liegt mir aber sehr daran,
dazu beizutragen, daß die große Entdeckung, als die sich die
Freud’sche Psychoanalyse in ihren Grundsätzen darstellt, als
wissenschaftliche Arbeits- und Forschungsmethode von Ärzten
anerkannt und gefördert wird. Aus diesem Grunde spreche
ich über die praktische Bedeutung der Psychoanalyse für
den Arzt. Es kommt mir nicht darauf an — und es wäre
ohnedies auch unmöglich —, ein auch nur annähernd voll-
ständiges Bild der psychoanalytischen Methoden und Theorien
zu entwerfen. Viel wichtiger erscheint mir der Nachweis, daß
mit Hülfe der psychoanalytischen Methode Einblicke gewonnen
werden, die uns bisher verschlossen blieben, und die für das
ärztliche Handeln von weittragender Bedeutung sind.
Ich beginne daher mit einer Krankheitsgeschichte: Ein 20 Jahre alter
Student, Sohn gesunder Eltern, sehr intelligent, rational philosophisch
veranlagt, früher stets gesund, heiter, erkrankte an einer Depression
hypochondrischer Färbung. Er zog sich von seinen Kameraden zurück,
war arbeitsunlustig und grübelte unablässig und scheinbar zwangsmäßig,
wobei er auf jede nur denkbare Weise den Nachweis der eigenen Minder-
wertigkeit zu erbringen suchte. Anfangs begründete er seine Minder-
wertigkeit damit, daß er vor Jahren beim Nachhilfeunterricht, den er ge-
geben hatte, einen Knaben geschlagen hätte, um sich Lustgefühle dadurch
zu verschaffen, später glaubte er, er sei homosexuell, dann wollte er be-
weisen, daß ihm jedes natürliche Schamgefühl abgehe, weil er sich immer
Freunden gegenüber rückhaltlos ausspreche, während andere viel reser-
vierter seien. Als man ihm ärztlicherseits sagte, daß er an einer neu-
rasthenischen Depression litte und seine Minderwertigkeitsvorstellungen
nur der Ausfluß dieser Depression seien, konstruierte er aus der Tat-
sache dieser Depression erbliche Belastung, Degeneration und konstitu-
tionelle Minderwertigkeit. Kurz, er benutzte jede nur denkbare Möglichkeit
zum Beweis dafür, daß er minderwertig sei, wie das bei Depressions-
zuständen ja die Regel ist. Äußere Ursachen für das Auftreten der
Depression waren nicht bekannt.
Man wäre somit durchaus berechtigt gewesen, die Diagnose:
Endogener Depressionszustand zu stellen, und darüber hinaus
sogar die Möglichkeit einer beginnenden Dementia praecox
(Jugendirresein) in Erwägung zu ziehen.
Saaler: Die Bedeutung d. psychoanalitischen Methoden u. Theorien usw. 101
Ich will nun zunächst erwähnen, daß der Depressions-
zustand doch eine äußere Ursache hatte, daß sich diese aber
erst im Laufe der analytischen Behandlung ergab. Der junge
Mann hatte eine starke Neigung zu einem jungen Mädchen
gefaßt, das ihm anfangs auch zugetan war. Das Mädchen
siedelte in eine andere Stadt über und beantwortete seine
Briefe immer spärlicher und kälter. Die Veränderung in seinem
Wesen setzte nun ungefähr zu der Zeit ein, in der er sich
darüber klar werden mußte, daß das Mädchen sich innerlich
von ihm zurückzog. Wenn man diese Tatsache kennt, erscheint
die Analyse schon wesentlich einfacher. Dies ist aber gerade
charakteristisch für die Psychoneurose,*) daß das Wesent-
liche nicht erzählt, sondern unterschlagen wird. Es kann
aber gar keine Rede davon sein, daß es sich um eine bewußte
und beabsichtigte Verheimlichung handelt. Wäre dem Patienten
der Zusammenhang seiner Depression mit dem Er-
eignis bewußt gewesen, so hätte er es bestimmt erzählt.
Er legte aber gar keinen Wert darauf und gab auf Befragen
nach irgendwelchen Liebesbeziehungen nur ganz nebensächlich
an, daß er einmal ein Mädchen gerne gehabt habe, daß das
aber längst vorbei und ohne Bedeutung sei. Tatsächlich also
ist der Affekt, der mit der Liebesenttäuschung verbunden war,
„verdrängt“ worden und damit unbewußt geworden. Die
Verdrängung einer affektbetonten Vorstellung ist aber nach
Freud die Quelle neurotischer Symptome. Sie geschieht,
weil der Vorstellungsinhalt dem Bewußtsein unerträglich ist.
Wir haben uns jetzt also die Frage vorzulegen, warum die
Vorstellung, von der Liebesenttäuschung schwer betroffen zu
sein, der Verdrängung anheimfiel, weshalb sie bewußtseins-
unfähig war, wie Freud sich ausdrückt. Sie war es sicherlich
nicht deshalb, weil der Schmerz unerträglich war, sondern
— für diese Annahme bestehen Gründe, über die später noch
zu sprechen sein wird — weil der Mißerfolg in der ersten
Liebesangelegenheit zu einer so schweren Erschütte-
rung seines Persönlichkeitsbewußtseins geführt hatte,
daß er es nur durch die Ableugnung des Liebes-
affektes vor sich selbst behaupten zu können
*) Neurose — funktionelle Erkrankung der Nerven, ohne daß anato-
misch Veränderungen nachweisbar sind.
102 Saaler: Die Bedeutung d. psychoanalitischen Methoden u. Theorien usw.
glaubte. Welches waren nun die Konsequenzen? Der
Patient hatte sich bekanntlich sadistischer bzw. homosexueller
Regungen bezichtigt, und man hatte naturgemäß diese Be-
schuldigungen als den Ausfluß einer krankhaften Depression
angesehen. Diese Annahme erwies sich aber bei näherer Be-
trachtung als irig. Denn der Kranke gab sich im Anschluß
an seine Liebesenttäuschung tatsächlich erotischen Phanta-
sien sadistischen bzw. homoerotischen Inhalts hin, wie er sie,
wie sich jetzt herausstellte, in geringerem Maße schon früher
gehabt hatte, d. h. er stellte sich nackte Knaben vor, schlug
sie in Gedanken und hatte dabei Pollutionen. Daß es sich
hierbei nicht um eine melancholische Vorstellung handelt, geht
schon daraus hervor, daß die Tatsache häufiger Pollutionen
von dem Vater bestätigt werden konnte. Zur gleichen Zeit
machte sich die Befürchtung geltend, auf Grund von Sadismus
und Homosexualität minderwertig zu sein. Es ist bezeichnend,
daß es ihm zunächst gar nicht darauf ankam, von den Ärzten,
die er konsultierte, zu hören, daß er gar nicht sadistisch oder
homosexuell sei, denn er wußte ja — subjektiv —, daß er es
war, während die Ärzte, denen er die Tatsachen unterschlug,
es ja nicht wissen konnten; sondern er legte den Ärzten inımer
wieder die Frage vor, ob es für Minderwertigkeit spreche, wenn
er in dieser Hinsicht sexuell abnorm sei. Hieraus muß man
folgern, daß es dem Patienten damals nur darauf ankam, nicht
als minderwertig zu gelten. Er war ja zu der sexuellen
Anomalie nur gekommen, weil er nicht minderwertig dem weib-
lichen Geschlecht gegenüber sein wollte. Drohte jetzt die
Minderwertigkeit nichts desto weniger aus dem Tatbestand
der sexuellen Anomalie, so durfte er diese nur bewußt akcep-
tieren, wenn er deswegen nicht minderwertig war; mußte sie
dagegen wieder „verdrängen“, wenn die Minderwertigkeit aus
dieser Ursache feststehen sollte. Die dringlichen diesbezüg-
lichen Fragen des Patienten wurden ihm von dem ihn damals
behandelnden Arzt nun — wenn auch mit großer Reserve —
dahin beantwortet, daß eine gewisse Minderwertigkeit in einem
solchen Falle, der bei ihm aber nicht vorliege, doch angenommen
werden müsse. Er reagierte nun darauf sofort mit der Ver-
drängung und versuchte, sich wieder heterosexuellen
Strebungen (also auf das Weib gerichteten) zuzuwenden.
Damit war der Konflikt aber nicht nur nicht gelöst, sondern
Saaler: Die Bedeutung d. psychoanalitischen Methoden u. Theorien usw. 103
erst recht akut geworden, denn die Libido war nunmehr „ein-
geklemmt“, sie konnte nicht in der — sagen wir einmal —
perversen Weise Befriedigung finden, weil dieser Weg „Minder-
wertigkeit“ bedeutete; sie konnte auch nicht den normalen
Weg gehen, weil dieser durch „die Flucht vor dem Weibe“
verbaut war. Diese war ja notwendig geworden, weil die
Aggression schon einmal zu einer Niederlage geführt hatte,
daher die Gefahr der erneuten Niederlage in sich schloß und
somit erst recht den Nachweis der Minderwertigkeit erbringen
mußte. Der Kranke sah also weniger als je einen Ausweg
aus dem Konflikt. Die Vorstellung, minderwertig zu sein,
ergab sich mit Notwendigkeit und dominierte tatsächlich stärker
als zuvor. Sie wurde jetzt mit ganz fadenscheinigen Gründen,
die das Produkt des Zwangsgrübelns waren und jeglicher
Tatsächlichkeit entbehrten, motiviert und trug zweifellos bereits
den Charakter der schweren melancholischen Vorstellung, zu
deren Psychogenese gleichzeitig hiermit ein Beitrag geliefert
wird. In diesem Stadium der Erkrankung kam der Patient in
meine Behandlung, da der Zustand, wie er sich nach außen
dokumentierte, eine sichtliche Verschlechterung erfahren hatte.
Er gab nun spontan an, obgleich er Pollutionen mit Phantasien
bisexuellen Inhalts zugab, ganz sicher heterosexuell zu sein,
er merke das an seinem libidinösen Verhalten gegenüber dem
weiblichen Geschlecht, und sei nun davon überzeugt, daß die
Furcht vor der Homosexualität eine krankhafte Vorstellung
gewesen sei, wie. das ja auch die Ärzte angenommen hätten.
Dazu ist folgendes zu sagen: Ein affektbetonter, ins Unbewußte
verdrängter Komplex, der die Ursache der neurotischen Symp-
tome darstellt, hat, wie Freud gezeigt hat, stets das Bestreben,
ins Bewußtsein durchzubrechen. Er wird daran verhindert,
indem im Bewußten eine Gegenvorstellung errichtet wird, die
eine umso größere Intensität an Überzeugungskraft für das
Individuum gewinnt, je größer die Gefahr des Durchbruches
des verdrängten Komplexes ins Bewußtsein ist. Der Kranke
hatte jetzt — wie ich vorhin zeigte — die Vorstellung, sadistisch
bzw. homosexuell zu sein, verdrängt. Um diesen Komplex
in der Verdrängung zu halten, durfte er sich einen Zweifel an
seiner heterosexuellen, normalen Triebrichtung überhaupt nicht
gestatten. Die Entschiedenheit, mit der der Kranke sich jetzt
als in sexueller Beziehung durchaus normal bezeichnete, und
104 Saaler: Die Bedeutung d. psychoanalitischen Methoden u. Theorien usw.
die Überlegenheit, mit der er die frühere Vorstellung, homo-
sexuell zu sein, abtat, konnte nicht anders als in diesem Sinne
gedeutet werden. Hier berühre ich einen wichtigen Punkt.
Denn man könnte sagen, „es ist doch ein Unfug, einen
Menschen, der sich als sexuell normal gerichtet bezeichnet,
schon bei der ersten Sitzung zu beargwöhnen!* An und für
sich ist es gewiß ein Unfug. Wenn man aber einen Menschen
vor sich hat, der an allem zweifelt, an seinen geistigen Fähig-
keiten, an seiner moralischen, an seiner erbbiologischen Voll-
kommenheit und an vielem mehr, aber erhaben ist über den
Gedanken, daß er vielleicht homosexuell gerichtet sein könnte,
obwohl er früher solche Vorstellungen äußerte, und obwohl er
sich — allerdings sehr nebenbei — Phantasien bisexuellen
Inhalts zugab, so ist man nicht nur berechtigt, sondern ge-
zwungen, zu vermuten — nicht daß der Patient homosexuell
sei, sondern daß er sich für homosexuell halte, diese Vor-
stellung aber und wahrscheinlich damit auch die Triebregungen,
die ihn zu dieser Annahme gebracht hatten, vor sich selbst
ableugnete, also verdrängt hatte. Ein solcher Argwohn, wie
man ihn den Psychoanalytikern so sehr verdenkt, ist nichts
anderes als das, was uns auch sonst in der Diagnostik leitet.
Der bessere Diagnostiker ist immer der, der am ehesten einen
— notabene — berechtigten Argwohn hat. In diesem Falle
war also der Argwohn nicht nur berechtigt, sondern stellte
auch den Wegweiser für die analytische Arbeit dar. Der Tat-
bestand, der ermittelt wurde, war — kurz zusammengefaßt —
folgender: Im Alter von etwa 12 Jahren bemerkt ein Junge,
daß er beim Schlagen eines Knaben Lustgefühle verspürt.
Er gibt sich jahrelangen Phantasien hin, in denen er nackte
Knaben schlägt und läßt sich verleiten, später seine Schüler
häufiger zu schlagen, als sachlich gerechtfertigt war. Die be-
schriebenen erotischen Phantasien begleiten seine ganze Ent-
wicklung, bis er ein Mädchen kennen lernt, in das er sich
verliebt. Dann treten sie zurück. Nun muß er aber die Er-
fahrung machen, daß seine Neigung nicht erwidert wird, das
Mädchen vielmehr das Verhältnis als rein freundschaftlich
angesehen wissen will. Er fürchtet für sein Persönlichkeits-
bewußtsein, verdrängt seine Liebe zu diesem Mädchen und
damit die Triebrichtung zum anderen Geschlecht über-
haupt. Die Libido „staut“ sich —, wie Freud das ausdrückt,
Saaler: Die Bedeutung d. psychoanalitischen Methoden u. Theorien usw. 105
wird zurückgeworfen „wie ein Strom, dem das Flußbett ver-
legt wird“, und der sich nun Kollateralen aufsucht, die früher
schon einmal vorübergehend angefüllt waren, d. h. sie greift
zurück auf den kindlichen Lustgwinn, den er sich vor-
her durch sadistische und homosexuelle Phantasien verschafft
hatte. Er fürchtet nun auf Grund sexualethischer Erwägungen
hierdurch erst recht in seinem Persönlichkeitsbewußtsein
beeinträchtigt zu werden, verdrängt auch die sadistisch-
homoerotische Triebrichtung, sucht wieder auf den
normalen Weg zu gelangen, der aber infolge des ersten
Verdrängungsvorgangs verbaut ist, sieht keinen Ausweg, da-
gegen nach beiden Richtungen das Gespenst der Minder-
wertigkeit auftauchen und verfällt immer stärker in De-
pression. Die Analyse deckt die Psychogenie der Minder-
wertigkeitsvorstellung und der Depression auf, führt den intra-
psychischen Konflikt dem Kranken vor Augen, zeigt ihm, daß
die Ursache seiner Erkrankung eine Liebesenttäuschung
war, die er nicht wahr haben wollte, und demonstriert ihm
seine neurotische Einstellung, die zum „Ausweichen“, „zur
Flucht vor dem Weibe“ führte, um Mißerfolgen aus dem Wege
zu gehen, die die „Aggression“, zu der ihn der normal ge-
richtete Geschlechtstrieb notwendigerweise führte, zur Folge
gehabt hätte. Es wurde dem Kranken klar gemacht, daß die
Politik des Ausweichens und Verdrängens, die zu „Regression“
des Geschlechtstriebs auf infantile Entwicklungsstufen und
Verschleierung des psychologischen Tatbestandes, mit anderen
Worten zum „neurotischen Arrangement“ mit hysterischen
Symptomen und psychologisch undurchsichtigen Zwangsvor-
stellungen führe, die Wurzel seines Leidens sei, daß diese
Politik ein Produkt moralischer Feigheit sei und aufgegeben
werden müsse. Er dürfe nicht fürchten, bei einer erneuten
Aggression des weiblichen Geschlechtes wiederum einen Miß-
erfolg zu erleben, er solle vielmehr sich Mühe geben, das Ver-
trauen zu sich selbst in dieser Beziehung aufzubringen, das das
Einzige sei, was ihm fehle. Der Behandlungserfolg war ein durch-
schlagender, die Depression schwand, desgleichen die Hypo-
chondrie, die Minderwertigkeitsvorstellung und dasZwangsgrübeln.
Nur die Furcht, homosexuell zu sein, hielt sich noch eine Zeitlang,
bis eine erneute erfolgreiche Aggression des weiblichen Ge-
schlechtes auch ihr — wenigstens vorläufig — ein Ende bereitete.
106 Saaler: Die Bedeutung d. psychoanalitischen Methoden u. Theorien usw.
Fragen wir uns, was aus dem Kranken geworden wäre,
wenn der psychische Konflikt nicht aufgedeckt und der
Lösung zugeführt worden wäre, so berühren wir damit das
Problem der Entstehung sexueller Perversionen und
der Homosexualität, und man ersieht daraus, daß die Freud-
sche Theorie der Entwicklung der Sexualität von einem poly-
morphperversen Frühstadium zur heterosexuellen reifen Libido
über zahlreiche Entwicklungsstadien der infantilen Sexualität,
in denen die „erogenen“ Zonen und der Schau- und Grau-
samkeitstrieb eine dominierende Rolle spielen als notwendige
Konsequenz psychoanalytischer Forschung aufgestellt worden
ist und nicht — wie gewöhnlich behauptet wird — ein voll-
kommen willkürliches Phantasieprodukt ist. In diesem Fall
sehen wir beieinem 12jährigen KnabenlibidinöseStrebungen,
die sich auf jüngere Angehörige des gleichen Geschlechts als
Sexualobjekte richten und in sadistischen Handlungen bezw.
Phantasien ihren Ausdruck finden. Nach Freud müßten wir
annehmen, daß hier infolge von Erlebnissen und Bindungen,
die bis in die frühe Kindheit zurückzuverfolgen seien, eine
Fixierung des Geschlechtstriebes auf einer infantilen Ent-
wicklungsstufe erfolgt sei, die eine Weiterentwicklung nicht zu-
lasse. Die weitere Analyse nach Freud würde mit größter
Wahrscheinlichkeit dartun — wie die orthodoxe Freud’sche
Schule dasgmit monotoner Regelmäßigkeit tut —, daß der Patient
libidinds an die Mutter gebunden ist (Oedipuskomplex)*), infolge
der Incestscheu die geschlechtliche Vereinigung mit dem Weibe
als Mutterschändung empfindet und im Augenblick, der ihn zur
heterosexuellen (auf das andere Geschlecht gerichteten) Objekt-
wahl reif macht, gezwungen war, seine Libido autoerotisch oder
homoerotisch (d. h. auf sich oder das gleiche Geschlecht ge-
richtet) zu fixieren. Für die Tatsache der sadistischen Be-
tätigung würde man andere typische Komplexe verantwortlich
machen, die ich ebenso wie den Oedipuskomplex in den meisten
Fällen nicht nur für unerweislich, sondern infolge der schema-
tischen Anwendung auch für trivial und letzten Endes oft genug
für überflüssig halte. In unserm Fall ist eine Fixierung des
Geschlechtstriebes gar nicht erfolgt, wie die später aufgeflammte,
*) Oedipus, sagenhafter König von Theben, Sohn der Jokaste, heiratete
später, ohne es zu wissen, seine Mutter.
Saaler: Die Bedeutung d. psychoanalitischen Methoden u. Theorien usw. 107
zweifellos starke Neigung für das Mädchen erkennen läßt.
Wäre sie es aber, so würde zur Begründung der gleiche Um-
stand völlig ausreichen, der für die Regression der Libido auf
die frühere Entwicklungsstufe nach erfolgter Liebesenttäuschung
verantwortlich gemacht werden muß, nämlich die Furcht vor
dem Weibe infolge seiner Überschätzung und des mangelnden
Vertrauens zu seiner erfolgreichen Aggression. Diese Begrün-
dung fußt nicht auf der Lehre Freuds, sondern auf den Theo-
rien Alfred Adlers*), auf die ich noch zu sprechen komme.
Gleichgültig aber, ob man Mutterkomplex oder Minderwertigkeits-
gefühl gegenüber dem Weibe für die Regression der Libido
verantwortlich macht, in beiden Fällen sieht man in der Per-
version etwas Sekundäres, was erst infolge der Flucht vor dem
Weibe in Erscheinung treten kann. Würde man diesen Tat-
bestand auf analytischem Wege nicht geklärt haben, so hätte
zweifellos die Gefahr einer bleibenden Perversion oder Inversion
des Geschlechtstriebs bestanden. Die Entstehung einer In-
version auf diesem Wege kann also nicht geleugnet werden,
indessen müssen wir solche Fälle als Pseudohomosexualität
von der echten biologisch bedingten Inversion trennen, was die
Freud’sche Schule bekanntlich nicht tut.
*) Alfred Adler, Der nervöse Charakter.
(Schluß folgt.)
SS
ZWECK UND LIEBE.
Eine Studie zu den ethischen Grundfragen der Liebe.
Von stud. phil. HERMANN DONISCH, Jena.
Hein Menschen richten sich die Mittel nach den Zwecken,
» іп der Natur richten sich die Zwecke nach den Mitteln.“ *)
Die klare Erkenntnis dieser schlichten Wahrheit mit allen ihren
Konsequenzen würde die Menschen von vornherein bewahrt haben
vor der naiven teleologischen Weltanschauung mit allen ihren
Konsequenzenundvorder unnötigenEreiferung um den sogenann-
ten teleologischen Gottesbeweis. Doch auch heute noch stehen
nicht wenige Menschen unter dem Einfluß teleologischer Zwangs-
vorstellungen und vermögen sich nicht über diese jahrhunderte-
*) Carneri, Der moderne Mensch, 5. Auflage S. 61.
108 Donisch: Zweck und Liebe
lange Selbsttäuschung des Menschengeistes hinweg zur schlich-
ten Wahrheit durchzuringen. Immer noch halten sie die Zwecke,
die sie erst kraft ihrer zweckformenden Vernunft- und Ver-
standesfunktionen in die Welt hineingeschrieben, für ureigene
Schrift dieser Natur selbst. Doch diese Natur selbst kennt
keine Zwecke, sie ist zwecklos, weil alle ihre Seinszustände
und Seinsformen**) so, wie sie sind, sein müssen und nicht
sollen oder wollen. Nur ein Sollen oder Wollen in der Natur
würde den Zweckbegriff überhaupt erst rechtfertigen.
Alle Seinsarten des Allseins bestehen jedoch nebenein-
ander ohne jede Zweckbeziehung, absichtslos; sie rechtfertigen
ihr Sein lediglich durch sich selbst in ihrem Selbstzweck.
Seinsarten aber, die nur zu sich selbst in Beziehung stehen,
stehen damit auch außerhalb jeder sittlichen Wertung. Der
Begriff des Guten und Bösen ist nur denkbar bei der Zweck-
beziehung zwischen zwei oder mehreren Seinsarten, einer Be-
ziehung, die ein Sollen oder Wollen voraussetzen würde.
Treten nun zwei absichtslos nebeneinander bestehende Seins-
arten, die als solche das augenblickliche Endglied einer natur-
gesetzlichen Kausalreihe darstellen, miteinander in Wechsel-
beziehungen (nicht zu verwechseln mit Zweckbeziehungen), eine
Zufallsmöglichkeit, die bei der Kontinuierlichkeit des Weltganzen
dauernd gegeben ist, so können sie sich in ihrem Sein ein-
seitig oder gegenseitig stärken oder auflösen. Diese Wechsel-
beziehung erfolgt dann ganz außerhalb des Rahmens von Gut
**) Zum besseren Verständnis des nachfolgenden möchte ich hier
gleich kurz die von mir gebrauchten Begriffe „Seinszustand“ und „Seins-
form“ erläutern. Beide Begriffe betrachte ich als Teilbegriffe des über-
geordneten Seinsbegriffes „Allsein“. Seinszustände und Seinsformen sind
Seinsarten des Allseins.. Zu den Seinszuständen gehören alle physika-
lischen Bewegungen, sowie alle Gefühle und Empfindungen; zu den Seins-
formen gehören alle anorganischen und organischen Individuen, wie
Sterne, Erden, Sonnen, Pflanzen, Tiere, Menschen. Denken, Wollungen
und Handlungen führe ich nicht gesondert auf, weil sie als Seinszustände
sich zurückführen lassen auf ihre Ur-Seinszustände „Gefühl“ und „Empfin-
dung“. Ein näheres Eingehen auf diese Probleme würde mich hier zu
weit führen. Nach der dynamischen Weltauffassung würde man ja auch
alle Seinsformen als Seinszustände ansehen müssen. Doch ist die Zwei-
teilung des Allseins in Seinszustände und Seinsformen der Übersichtlich-
keit und des besseren Verständnisses wegen bei unserer Betrachtung
notwendig.
Donisch: Zweck und Liebe 109
und Böse, nur innerhalb des Rahmens einer unerbittlichen
Naturgesetzlichkeit mit all ihrer Grausamkeit und Tragik. Die
Seinsform eines Diphteriebazillus oder der Seinszustand eines
Blitzes, denen die Seinsform eines Menschenkindes zum Opfer
fällt, sind ethisch völlig indifferent, sie stehen vor dem Antlitz
der Natur rein und fleckenlos da, einfach aus dem Grunde,
weil sie nicht wollen oder sollen, sondern müssen. Erst der
.zweckformende und bewertende Mensch deutet alle ungewoll-
ten Wechselbeziehungen in gewollte und gesollte Zweckbe-
ziehungen um, indem er bei der Wechselbeziehung zweier Seins-
arten diejenige, die er höher wertet, als Zweck überordnet und
diejenige, die er niedriger wertet, als Mittel zum Zweck unter-
ordnet. Ein Hauptaxiom seines Wertens über Gut und Böse
ist nun die Annahme, daß alle Seinszustände und Seinsformen
des Allseins dem Individual- und Gattungssein des Menschen
als Mittel zum Zweck unterzuordnen seien, d. h. daß alle Seins-
arten, also auch Wollungen und Handlungen gut seien, wenn
sie die Seinsart „Mensch“ fördern und stärken, dagegen
schlecht, wenn sie die Seinsart „Mensch“ mindern und auf-
lösen. Dieses Axiom, daß die Welt mit allen ihren Seinszu-
ständen und Seinsformen letzten Endes Mittel zum Zweck
„Mensch“ sei, ist wohl die größte Selbstgefälligkeit und Selbst-
täuschung zugleich, die sich der Mensch je geleistet hat. Der
Mensch ist eben als Seinsart, als Glied des Allseins, natur-
gewollt weder übergeordnet noch untergeordnet, sondern bei-
geordnet. In der Natur gibt es keine gewollte Überordnung
einer Seinsart über die andere; es gibt nur eine absichtslose
Koordination der Selbstzwecke, nie eine gewollte Subordination
eines Selbstzweckes zu einem Mittel zum Zweck. —
Diese Einsicht in die „natürliche“ Absichtslosigkeit, diese
Befreiung von allen teleologischen Vorurteilen ist nun aber
auch für eine natürliche und unbefangene Beurteilung mensch-
licher Liebeslust nicht ohne Bedeutung. Die Liebe, die sinn-
liche Liebesempfindung, ist in ihrer Eigenschaft als Empfindung
ein Seinszustand des Allseins, der wie alle Seinszustände und
Seinsformen zunächst völlig absichtslos als Möglichkeit im
Schoße des Weltalls ruhte. Man muß sich (wenn’s auch
schwer fällt) erst einmal vollkommen daran gewöhnen, sich
die Liebesempfindung losgelöst zu denken von jeder Wechsel-
und Zweckbeziehung zu anderen Seinsarten, also auch von
110 Donisch: Zweck und Liebe
jeder menschlich hineingedeuteten Zweckbeziehung zur Seins-
art des vegetativen, organischen Individual- und Gattungslebens
des Menschen. Man muß sie sich zunächst als Seinszustand ganz
ohne Wechselbeziehung denken, ganz ohne Zweckbeziehung,
ganz in sich selbst ruhend, ganz als Selbstzweck. Daß dieser
Seinszustand der Liebesempfindung nun später im Laufe der
Entwicklungsgeschichte gleichsam hochgezüchtet ist in gegen-
seitig fördernder Wechselbeziehung zu der Seinsart des vege-
tativen, organischen Gattungslebens, ist vom Standpunkt der
Natur aus ein reines Zufallsergebnis, ungewollt und absichts-
los, vom anthropozentrischen Standpunkt des Menschen aus
aber, anthropozentrisch ausgedrückt, ein glücklicher Schachzug
der Natur. Die Tatsache, daß uns heute der Seinszustand der
sinnlichen Liebesempfindung nur noch in gebundener Wechsel-
beziehung zu einer tierischen Seinsform und ihrer Fortpflan-
zung als möglich entgegentritt, ist entwicklungsgeschichtlich
zwar verständlich, darf uns aber nie zu dem teleologischen
Trugschluß verleiten, daß hier nun etwa ein naturgewolltes
Subordinationsverhältnis von Mittel „Lustempfindung“ zum
Zweck „Fortpflanzung“ bestehe.*) Die Behauptung, die Liebe
*) Wie sehr jedoch gerade diese scheinbare, naturnotwendige Ver-
knüpfung von Liebesempfindung und Fortpflanzung von eben dieser
Natur selbst schon wieder gelockert ist im Laufe der Entwicklungs-
geschichte, mag folgende Betrachtung dartun: Beim Manne steht der
Gipfelpunkt der sinnlichen Liebesempfindung, der Orgasmus, in enger,
scheinbar unlösbarer Verknüpfung mit der gleichzeitigen Loslösung der
Fortpflanzungszellen (Ejakulation). Genau dieselbe enge Verknüpfung
von Orgasmus und Loslösung der Fortpflanzungszellen bestand nun
aber auf einer früheren Ahnenstufe des Menschen (Fisch - Amphibium-
stadium) wahrscheinlich auch beim Weibe. Und doch ist dieser
enge Kausalzusammenhang von Liebesempfindung und Loslösung der
Fortpflanzungszellen im Laufe der Entwicklung beim Weibe eigentlich
wieder vollkommen verschwunden, so daß heute der Orgasmus des
Weibes in gar keiner Beziehung mehr steht zur Ablösung der Fort-
pflanzungszellen. Diese nachträgliche Trennung der Liebesempfindung
von der Loslösung der Fortpflanzungszellen hat der Mann nicht mit-
gemacht. Über den Nutzen oder Schaden dieser männlichen Rückstän-
digkeit kann man ja nun zweifacher Meinung sein, und will ich dem
Urteil der Leser an dieser Stelle in keiner Weise vorgreifen. Tatsache
ist, daß diese Verknüpfung beim Manne nun einmal besteht und eine
Lösung vorerst nicht abzusehen ist. Das beweist aber an sich nichts
gegen die Möglichkeit. Was ist in der Natur unmöglich" —
Mag dies immerhin als utopistisches Ideal angesehen werden, unsittlich
Donisch: Zweck und Liebe 111
sei für die Fortpflanzung da, ist genau so sinnlos, wie die Be-
hauptung, die Fortpflanzung sei für die Liebe da. Beide sind
zunächst für sich selbst da, ohne Zweck und Wert, weder
guten noch bösen. Naturgewollte Zwecke gibt es nicht.
Ein Beispiel aus dem Pflanzenleben wird den Widersinn
teleologischer Naturauffassung noch deutlicher machen: Be-
kanntlich ist im Laufe der Entwicklung der Seinszustand des
Windes zu der Seinsart der Pflanze in die Wechselbeziehung
der Windbestäubung getreten. Hieraus nun, aus dieser Zufalls-
beziehung, den teleologischen Trugschluß zu ziehen, der Wind
habe für die Pflanze einen naturgewollten Gattungszweck, ist
doch unberechtigt und bedarf keiner Widerlegung. Dasselbe
gilt für die Wechselbeziehung zwischen Pflanze und Insekt
bei der Insektenbetäubung. Wind, Pflanze und Insekt sind in
erster Linie für sich selbst da als Selbstzweck und nicht als
naturgewollte Mittel zum Zweck. Erst in zweiter Linie darf
der Mensch mit seiner Zweckbrille diese gegenseitigen Wech-
selbeziehungen der Seinsarten umdeuten in Zweckbeziehungen,
d. h. den Selbstzweck einer Seinsart (z. B. des Windes und
der Insekten) zu einem Individual- oder Gattungszweck einer
anderen Seinsart (z. B. der Pflanze) erweitern. Das hebt aber
den Selbstzweck nicht auf. SE
Genau so ist es mit der Wechselbeziehung des Seinszu-
standes „Liebesempfindung“ zu der Fortpflanzung der Seins-
form „Mensch“. Diese Beziehung, die sich im Laufe der
organischen Entwicklung herausgebildet hat, darf man nie ohne
weiteres als naturgewollte Absicht teleologisch ausdeuten.
Damit würde man der Natur wieder einmal Absichten unter-
schieben, die ihr garnicht zukommen. Auch hier kann man
zunächst nur von einem Selbstzweck der beiden Seinsarten
reden, dem man dann als zweckformender Mensch noch einen
Individual- und Gattungszweck erweiternd hinzufügen mag,
wertend nach dem Grundsatz unseres bekannten Menschen-
Axioms.
ist es darum nicht. Was kann wohl der sittlichen Freiheit reifer
Menschen würdiger sein als ein Zustand, bei dem Mann wie Weib
nicht mehr Sklaven, sondern Herren sind nicht nur der Fortpflanzung,
sondern auch der Liebe, ein Zustand, bei dem die Trennung von Liebes-
lust und Fortpflanzung nicht nur in der Idee, sondern auch in der
Tat besteht. j
112 Donisch: Zweck und Liebe
Die klare und scharfe Trennung dieser drei Zwecke ist
nun für die Gewinnung klarer und scharfer Werturteile über
die Liebe und Liebeshandlungen unbedingt erforderlich. Die man-
gelnde Erkenntnis, die dauernde Verwechslung und unklare
Scheidung dieser drei Zwecke sind die Ursachen jener ver-
worrenen und törichten sexualethischen Werturteile und Vorurteile
der Vergangenheit und Gegenwart, unter deren Druck die
Menschen so oft gelitten und sich um ihr eigenes Glück be-
trogen haben. Diese törichten Werturteile stammen zumeist aus
den oft recht törichten Lebensanschauungen des christlichen
Mittelalters, Anschauungen, die den damaligen Menschen mit einer
Ernergie und Suggestionskraft aufgezwängt wurden, die bis in
unsere heutige Zeit nachwirkt. Zunächst verfielen die christ-
lichen Kirchenvertreter bei ihrer vollkommenen Weltabgewandt-
heit auf den absurden Gedanken, daß die sinnliche Liebes-
empfindung als solche, noch ganz abgesehen von ihrem Individual-
oder Gattungszweck, bereits an sich schon moralisch minder-
wertig, schlecht und böse sei. Den logischen Unsinn dieses
Werturteils brauche ich wohl nach den vorhergegangenen
Betrachtungen nicht weiter zu erläutern. Er besteht eben darin,
daß man über die sinnliche Liebe als solche, losgelöst von
ihrem Individual- und Gattungszweck, außerhalb des Rahmens
von Gut und Böse, überhaupt ein sittliches Werturteil fällte,
daß man in eine Sache einen Wertbegriff hineinbrachte, der
zunächst noch gar nicht hineingehört. —
Den Individualzweck der Liebe hat man wohl im Mittel-
alter überhaupt nicht beurteilt, wahrscheinlich aus dem ein-
fachen Grunde, weil man ihn als solchen überhaupt noch gar
nicht richtig erkannte, geschweige denn scharf vom Gattungs-
zweck zu trennen wußte. Auch heute noch wird wohl vielen
Menschen diese scharfe Trennung (auch in der Wertung) von
Individualzweck und Gattungszweck der Liebe neu und nicht
sonderlich geläufig sein. Und doch ist gerade die scharfe
Sonderwertung der Liebe im Hinblick auf diese beiden Zwecke
zur Lösung unseres Problems von der größten Bedeutung.
Die psycho-physiologischen Wechselwirkungen zwischen
dem Seinszustand der Liebe und dem Individualsein des
Menschen sind äußerst mannigfaltige, wechselnd zwischen
höchster Seinssteigerung bei harmonischer Liebeserfüllung und
tiefster Seinsminderung bei Nichterfüllung. Höchste Schaffens-
Tafel II
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Tafel Ill
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"цэтәЈуиРІ.] UOA 'AX SMpnT Zuoy assaew “ydıow.o
Donisch: Zweck und Liebe 113
steigerung und Harmonie einerseits, tiefste Resignation und
Disharmonie andererseits. Goethe und Goethes Werther geben
für beide Fälle treffende Beispiele. Auch rein körperlich ist
der Einfluß der Liebe unverkennbar. Beschleunigung und
Förderung des Blutkreislaufes, der Atmung und des Stoff-
wechsels auf der einen, Störung und Hemmung bis zur Krank-
heit auf der anderen Seite. Die Schwierigkeit nun, diese
Wechselbeziehung zwischen Liebesempfindung und Individual-
sein zu einer möglichst „guten“ zu gestalten, d. h. die Liebe zur
größtmöglichen Steigerung des Individualseins auszunutzen,
beruht darauf, daß die Erfüllung des guten Individualzweckes
der Liebe, die eben meistens gleichbedeutend ist mit Liebes-
erfüllung, scheinbar naturgewollt nur möglich ist bei gleich-
zeitiger Erfüllung des Gattungszweckes. Wesentlich vergrößert
wird diese Schwierigkeit innerhalb unseres modernen Gesell-
schaftslebens noch dadurch, daß sich vielfach die Ansicht erhalten
hat, es sei eine Liebeserfüllung nur bei gleichzeitiger Erfüllung des
Gattungzweckes zu rechtfertigen und jede Ausschaltung des
Gattungszweckes zugunsten des Individualzweckes sei sittlich
verwerflich. Die Torheit und Widersinnigkeit dieses Wert-
urteils wird folgender Vergleich bestens dartun: Denken wir
uns in Analogie zu einem unter dem Drucke ungelöster Liebes-
spannungen stehenden Menschen einen Menschen, der unter
den unerlösten Elektrizitätsspannungen eines gewitterschwülen
Sommertages zu leiden hätte. Wie töricht und unverständlich
würde es uns nun erscheinen, wenn dieser Mensch auf das
reinigende und befreiende Gewitter lieber deshalb verzichten
wollte, weil die Gefahr des Blitzeinschlages sein Haus
bedrohen könnte und er die Ausschaltung dieser Gefahr durch
Anwendung eines Blitzableiters, den ihm die physikalische
Einsicht an die Hand gibt, als frevelhafte Durchkreuzung der
Naturzwecke ansieht und deshalb ablehnt. Genau so töricht
müßte es uns aber auch erscheinen, wenn ein Mensch auf
das reinigende Nervengewitter*) und den befreienden Liebes-
sturm deshalb verzichten wollte, weil er die Gefahr einer
unwillkommenen Erfüllung des Gattungszweckes der Liebe
*) Das Wort „Nervengewitter“ stammt aus Wilhelm Bölsches
„Liebesleben in der Natur“. Es erschien für diesen Zusammenhang
besonders geeignet, da man auch in der Nervenphysiologie elektrische Aus-
lösungsvorgänge als Begleiterscheinungen psychischer Vorgänge annimmt.
8
114 Donisch: Zweck und Liebe
befürchten muß und die Ausschaltung dieser Gefahr durch
Anwendung von Hilfsmitteln, die ihm die biologische Einsicht
an die Hand gibt, für eine frevelhafte Durchkreuzung der
Naturzwecke hält und - deshalb ablehnt. Diese Anschauung
von der frevelhaften Naturwidrigkeit menschlichen Eingreifens
in die Naturvorgänge ist weiter nichts als eine mangelnde
Einsicht in die Tatsache, daß die sogenannten Naturzwecke
den menschlichen Zwecken oft diametral entgegenlaufen und
daß es nicht Sache des denkenden Menschen sein kann, jede
Marotte der Natur mitzumachen; daß es vielmehr Aufgabe und
Ziel des Menschen sein muß, wissend und korrigierend zu
seinem Besten in die Naturvorgänge einzugreifen, kurz daß der
Mensch ein kulturgemäßes Leben zu führen hat und nicht ein
naturgemäßes Leben ad absurdum führen soll. —
Ich brauche wohl nicht noch besonders zu erwähnen, daß
der Gattungszweck der Liebe oft nicht nur zugunsten des
Individualzweckes, sondern eben gerade um des „guten“
Gattungszweckes willen selber ausgeschaltet werden muß.
Nämlich immer dann, wenn die Gefahr der Ansteckung oder
die Gefahr der Vererbung erblicher Krankheiten vorliegt. Dieses
ist aber so selbstverständlich, daß die Berechtigung zur Aus-
schaltung des Gattungszweckes in diesen Fällen allgemein
anerkannt wird. Es ist aber nicht nur ein Recht, sondern
eine heilige Pflicht. —
Ich könnte nun nach der Loslösung und Trennung des
Individualzweckes der Liebe vom Gattungszweck noch einen
Schritt weiter gehen und mir die Liebesempfindung als Selbst-
zweck losgelöst denken nicht nur vom Gattungszweck, sondern
auch vom Individualzweck, als einen Seinszustand, der gleich
der Tonempfindung in der Musik hinübergerettet wird in die
beziehungslose und damit sittlich völlig neutrale Sphäre der
Kunst. Auch die Klangempfindung hatte ja ursprünglich, vom
anthropozentrischen Zweckstandpunkt aus gesehen, für den
Menschen nur einen biologischen Individualzweck als Warn- und
Locksignal für biologisch wichtige Reize. Und doch wurde
später dieser Individualzweck der Klangempfindung völlig
zurückgedrängt durch die Erhebung derselben in die neutrale
Zone der Kunst, die als solche außerhalb aller Zwecke und Begriffe
liegt. — Wann endlich wird der Mensch reif werden, die
Symphonien der Liebesempfindungen ebenso arglos und schuld-
Donisch: Zweck und Liebe 115
los hinzunehmen, wie die Symphonien der Tonempfindungen,
wann wird er reif werden, sich der Liebeskunst ebenso
unbefangen hinzugeben wie der Tonkunst?! Doch dazu
gehören Künstlerseelen. —
Ich kann nach den obigen Ausführungen zunächst keinen
ethischen Wertunterschied zwischen lustbetonter Ton- und
Liebesempfindung anerkennen, höchstens einen Lokal- und
Intensitätsunterschied. Einen Lokalunterschied insofern, als die
Tonempfindung in der Musik an das Musikzentrum und die
Liebesempfindung in der Liebe an das Sexualzentrum unseres
Gehirns gebunden ist.*) Einen Intensitätsunterschied insofern,
als die sexuelle Lust der Liebesempfindungen die ästhetische
Lust der Tonempfindungen an Intensität um ein Vielfaches
übertrifft. Wenn ich mich nun auf den Standpunkt stelle, daß
die Lust eine höhere Seinsart darstellt als alle anderen Seins-
zustände und Seinsformen, so muß ich folgerichtig anerkennen,
daß die Liebeslust in ihrer höchsten Intensität den voll-
kommensten Seinszustand darstellt, den wir kennen. Von jeher
spielt im Geistesleben des Menschen der Erlösungsgedanke
eine bedeutende Rolle. In welcher Form er auch im Laufe der
menschlichen Geschichte aufgetreten sein mag, immer denkt
man sich die Erlösung in Verbindung und durch Vermittelung
einer höchsten Seinsart. Siehe, hier hast du eine höchste
Seinsart vor dir, beinahe handgreiflich, durch die die Erlösung
des Menschen in der Zeit Wahrheit wird in Wirklichkeit, und
nicht in Hoffnung bleibt in Unwirklichkeit! —
Über die Bedeutung des Gattungszweckes brauche ich
wohl nun nicht mehr allzuviel zu sagen. Derselbe ist so klar
und einleuchtend, daß er selbst von den mittelalterlichen
Kirchenvertretern letzthin als notwendiges Übel anerkannt
wurde, wahrscheinlich, weil sie sonst wohl so langsam auf
dem Aussterbeetat angelangt wären. Wenngleich, überall
scheint man sich auch über diesen Gattungszweck noch nicht
so ganz im klaren zu sein. Deshalb möchte ich denselben an
dieser Stelle noch einmal kurz formulieren: „Gattungszweck
*) Die genaue Lokalisation des Sexualzentrums ist der Wissenschaft
bisher noch nicht gelungen. Ich vermute, daß es sich in Analogie zum
Musikzentrum, welches sich in der Nähe der Hörsphäre befindet, in der
Nähe der Fühlsphäre, also in der Gegend der hinteren Zentralwindung
oder Scheitellappenpartie zu suchen ist.
116 Donisch: Zweck und Liebe
der Liebe ist die bewußte und gewollte Erzeugung eines
möglichst hochwertigen Nachwuchses bei Übernahme jeglicher
Gewähr für dessen gesicherte Aufzucht“. Wie oft jedoch gerade
dieser Gattungszweck heute noch verfehlt wird,beweisenalleKinder
mit den Kainszeichen des Zufalls- oder Nebenproduktes.
Zum Schluß bleibt mir nur noch übrig, das folgerichtige
Ergebnis unserer Betrachtungen in nachstehendem Werturteil
zusammenfassen:
„Liebe ist als intensivste Lustempfindung an sich, in ihrem
Selbstzweck, weder gut noch böse. Sittliche Bedeutung gewinnt
sie erst in ihrer Wirkung und in ihren Folgen für das Indivi-
duum und die Gesellschaft. Dieser ethische Wert der Liebe
bestimmt sich hinsichtlich ihres Individualzweckes nach dem
Grade gegenseitiger individueller Lebens- und Schaffenssteige-
rung des Einzelnen, hinsichtlich ihres Gattungszweckes nach dem
Grade sozialer Wertsteigerung der Gesamtheit durch die Erzeugung
neuen Lebens. Ihr sittliches Hochziel wird die Liebe in dem Ver-
hältnis zweier Menschen dann erreichen, wenn ihr Individualzweck
und Gattungszweck ohne gegenseitige Störung und Hemmung
die höchste Erfüllung finden.“ (Das Ideal aller Ehereformer.)
Ich habe es eigentlich als selbstverständlich vorausgesetzt,
daß man bei dem Individualzweck der Liebe der Natur und der
Sache nach, beide Kontrahenten eines Liebesverhältnisses im
Auge haben muß. Um jedoch auch hier einer individualistisch-
egoistischen Falschdeutung obigen Werturteils vorzubeugen,
will ich noch folgendes ergänzend und erweiternd hinzufügen:
„Sittlich einwandfreie und harmonische Liebes- und Ehe-
verhältnisse sind nur da möglich, wo die Liebe zu gleichen
Teilen im Nehmen ein Geben und im Geben ein Nehmen ist.
Andernfalls wird der eine Partner bald in die Lage des Gläubigers
oderSchuldners kommen, ein Zustand, der feinfühlenden Menschen
zum mindesten peinlich, wenn nicht gar unerträglich ist. Umso-
mehr, als es sich um eine Schuld handelt, die nicht wie andere
Schulden durch sonstige Güter ausgeglichen werden kann und sich
am allerwenigsten durch eine Summe Geldes, des beliebtesten und
bequemsten Tauschmittels, bestimmen oder gar tilgen läßt. Dies
besagt alles gegen die Liebe in der heutigen Form der Prostitution
und in der Form jener Eheverhältnisse, die, unter falschem Kom-
promiß abgeschlossen, trotz staatlicher Sanktion, der Prostitution
sehr nahe kommen. Liebe läßt sich nur mit Liebe lohnen.“
Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 117
BETRACHTUNGEN ÜBER DAS LIEBESLEBEN IN
DER ZEIT DER RENAISSANCE UND DER PERIODE
DER GALANTEN.
Von FERD. FRHR. VON REITZENSTEIN, Dresden.
(Fortsetzung.)
u dem Einflusse dieser Lebensweise blühte die alte Poly-
gamie wieder auf, wenn auch in einer eigenartigen Form.
Polygamie mit einer Hauptfrau und Nebenfrauen war nie ganz
unterdrückt worden, wie wir bei den Karolingern bereits ge-
sehen haben. Die Zeit der Renaissance mit ihrer Geltend-
machung der Individualität führte sie neuerdings durch. Sie
tauchte unter dem Namen Mätressenwesen zwar in anderer
Form, aber mit gleichem Inhalte wieder auf und wurde sogar
zu einer anerkannten Form der Geschlechtsverbindung. Be-
sonders charakteristisch für das Mätressentum ist es, daß die
eigentliche Gattin dadurch völlig in den Hintergrund gedrängt
wird und eigentlich nur als Mutter des Erben Bedeutung hat.
In seinen Anfängen können wir es bereits in der Mitte des
15. Jahrhunderts am Hofe Ludwigs XI. von Frankreich beobachten.
Er besaß in verschiedenen Städten Geliebte, meist dortige
Bürgersfrauen; trat aber insofern zu ihnen in ein mehr öffent-
liches Verhältnis, als er sie auf Reisen mitnahm und sich
auch sonst öffentlich mit ihnen sehen ließ. Zum völligen Durch-
bruch kam es aber mit Franz l., also im Anfang des 16. Jahr-
hunderts; denn jetzt ahmte nicht nur der Adel, sondern auch
das Bürgertum diese neuen Liaisons nach, und die einfachen
Geliebten fangen an, Individualitäten, wenn auch zum Teil
sehr schwächlicher, launenhafter Art, zu werden. Den Reigen
eröffnet die Herzogin von Etampes, ursprünglich Anne de
Pisseleu, also bereits eine Persönlichkeit, die durch den höchsten
Adelstitel sozusagen in der Familie legitimiert war, was für die
Folge maßgebend blieb, wenn auch häufig eine Scheinehe dem
Verhältnisse einen anderen Stempel aufdrücken sollte. Bereits
hier geschah die Einführung durch die Gattin des Königs selbst.
Heinrich IV. ahmte dieses System nach, indem er seine Ge-
liebte Gabrielle d’Estrees zuerst zur Marquise von Monce-
aux, dann zur Herzogin von Beaufort erhob und seinen Sohn
von ihr als Herzog von Vendöme öffentlich anerkannte. So
war es kein Wunder, daß man in weitesten Kreisen der Mätresse
118 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben
mit einer fast königlichen Verehrung begegnete, denn schließ-
lich stand sie dem Herzen des Königs näher als seine Ge-
mahlin, die fast stets nur aus politischen Rücksichten gewählt
worden war. Je nachdem nun der Herrscher eine kraftvolle
Person war, bekam auch dieses Verhältnis einen mehr oder
minder individuellen Charakter, und so darf man sagen, daß
es unter Ludwig XIV. seinen Höhepunkt erreichte, während es
unter Ludwig XV. bereits völlig nach der skandalösen Seite
auszuarten anfing. Mehr wie sonst begannen aber schon unter
Ludwig XIV. die Mätressen sich abzulösen, wenn die Laune
des Königs auf eine andere Persönlichkeit fiel, denn bei der
offiziellen Stellung waren zwei Hauptmätressen — so darf man
jetzt bereits sagen — nebeneinander nicht denkbar. Die Großen
des Reiches übernahmen dann oft die scheidende bisherige
Sonne und bemühten sich, dafür dem Könige zu einer neuen
Geliebten zu verhelfen, um sich so mit dieser eine einflußreiche
Stellung zu sichern. Selbst Damen sehen wir solche Mittler-
dienste ausführen. Ja so hoch war dieses weibliche Amt in
Macht und Ansehen gestiegen, daß sich die Prinzessin Hen-
riette nur zu deutlich bei Ludwig XIV. darum bewarb, wenn
auch erfolglos. An Stelle der Gräfin von Soissons trat je-
doch nicht sie selbst, sondern ihre Hofdame Louise de la
Vallière, die zur Herzogin ernannt wurde. Sie war eine wirk-
lich edle und vornehme Persönlichkeit, und es wäre sicherlich
ein Segen gewesen, hätte sie dem König bis zu seinem Ende
zur Seite stehen können. Die Erhebung in den Herzogstand
vollzog sich denn auch ganz offiziell mittels eines Handschreibens,
in dem es heißt:
„Wir haben geglaubt, die Achtung, die wir unserer vielgeliebten und
getreuen Louise de la Valliere zuteil werden lassen, vor der Oeffentlich-
keit nicht besser ausdrücken zu können, als daß Wir ihr den höchsten
Ehrentitel als ein Zeichen ganz besonderer Hochschätzung verleihen, die
eine Menge seltener und guter Eigenschaften in Unserem Herzen erregt
hat und Uns seit einigen Jahren die höchste Gunst für sie einflößt.“
Trotzdem erblaßte bald ihr Bild im Herzen des Königs,
und Frau von Montespan, damals 22 Jahre alt, verdrängte
sie vollends! Die Herzogin von La Valliere aber beschloß ihr
Leben im Kloster. Die neue Nebenfrau wurde zur Marquise
erhoben, während die bisherige die strengsten Bußübungen
ausführte! Fast 20 Jahre dauerten die Beziehungen Ludwigs
zur Montespan, und doch wurde sie erst nach zehnjährigem
Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 119
Verhältnis mit dem Könige von ihrem Gatten geschieden. Hier
wie bei der La Vallière erkannte der König die Kinder an,
und zwar schenkte ihm die Herzogin deren vier, die Marquise
sechs. Für diese fand sie in der Person der Frau Scarron
eine tatsächlich gute, aber auch sehr zielbewußte Erzieherin,
die schließlich selbst das Interesse des Königs erregte, der ihr
die Herrschaft Maintenon schenkte, wonach sie sich ohne
weiteres für die Folge Madame de Maintenon nannte. Sie
war eine große Frömmlerin und der König frömmelte mit, so
daß die Geistlichkeit vollständig auf ihre Rechnung kam; sie
unterstützte ihrerseits denn auch dieses neue Verhältnis mehr
als alle früheren. Da auch noch die Montespan zu frömmeln
begann, hatte die Erzieherin leichtes Spiel; sie nährte in ihr
die Reuegefühle, und schon wollte sie ins Kloster gehen. Aber
dies ward ihr wieder leid, und so kam es zu Streitigkeiten
zwischen den beiden Nebenfrauen. Beide schlugen nun eine
getrennte Taktik ein, die zum Verfall des Mätressentums führen
mußte. Der Grundzug der Montespan war grenzenlose Eifer-
sucht, und so suchte sie den König von allen übrigen Wegen,
die er zur Befriedigung seiner Sinnenlust einschlug, abzuhalten,
während sie sich derart erniedrigte, daß sie auf alles einging,
was er forderte, oder sogar noch sich bemühte, ihm selbst
alles Bordellraffinement beizubringen. Daß dies einen
alternden Mann nicht befriedigen konnte, ist klar. Anders ver-
fuhr Frau von Maintenon, deren Grundcharakterzug ruhige,
kalte Überlegung war. Sie wußte nur zu gut, daß sie den
König von anderen Liebschaften nicht abhalten konnte, und
so begünstigte sie diese. Man hatte z. B. ein Fräulein
von Fontayn eigens für die Wünsche des Königs erzogen,
und mit diesem vereinte sich die Maintenon. So fiel ihr der
Sieg zu, und als die Königin gestorben war, und die Monte-
span den Hof endgiltig verlassen hatte, heiratete schließlich
der König die Maintenon. Wir sehen aus diesem Entwicklungs-
gang, daß die Mätressen so zu einer Art Kupplerinnen ge-
worden waren, die die Regelung des königlichen Harems zu
leiten hatten, Trotzdem blieben sie politisch kräftige Per-
sönlichkeiten, zumal sie sich, wie das meist der Fall war, auf
die Geistlichkeit stützten. Politischer Kuhhandel war auch da-
mals schon an der Tagesordnung, und da eine Hand die andere
zu waschen pflegt, brachte Frau von Maintenon ihren Freunden
120 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben
eine glänzende Gegenleistung: die Aufhebung des Ediktes
von Nantes, das den Reformierten den Boden ihres Vater-
landes raubte. Über 500000 der tüchtigsten Bürger wanderten
aus Frankreich aus, während das hübsche Bündnis von
Maria Aurora Gräfin v. Königsmark und August d. Starke, Kurfürst v. Sachsen,
König v. Polen (geb. 8. Mai 1662 in Stade, + 16. Febr. 1728, Mutter des berühmten
Marschall Moriz Graf v. Sachsen, später nach 1701 Pröpstin v. Quedlinburg).
Mätressentum und Geistlichkeit die Grundlage der
französischen Revolution schuf. Mätressen und Geist-
liche versahen Ludwig XV. mit ganz verkommenen Geschöpfen,
lediglich um sich die Herrschaft zu sichern. Zunächst war es
der Kardinal Fleury, der diesen Posten zweifelhaften Rufes
übernahm, und nur seine Absicht, eine möglichst rückgratlose
Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 121
Bewerberin zu finden, hielt die schlimmsten Auswüchse noch
zurück. Frau de Mailly war wenigstens dem Luxus ab-
geneigt. Aber der Kardinal war unvorsichtig. Ludwig XV.
hatte große Vorliebe für sehr junge Mädchen, und so kam
eines Tages ihr Schwesterchen aus dem Kloster zu ihr auf
Besuch nach Versailles mit der Absicht, den König für sich
zu gewinnen. Dies gelang, und trotz ihrer Jugend war ihr
Einfluß so groß, daß der Kardinal damit wenig zufrieden war.
Sie starb plötzlich, und es gab Leute, die den Kirchenfürsten
nicht von der Schuld freisprachen am Tode der Frau von
Vintimille, denn das junge Mädchen war zu einer Scheinehe
veranlaßt worden. Nun tauchte eine zweite Schwester der Frau
von Mailly auf, Frau von La Tournelle. Sie war fast noch
zielbewußter als ihre Schwester und knüpfte ihre Hingabe an
gewichtige Bedingungen. Sie forderte Herzogsrang und dem-
entsprechende finanzielle Sicherstellung, sowie die — Unter-
bringung ihrer Schwester in einem Kloster. Es geschah; die
Reihen des französischen Hochadels waren durch die „Her-
zogin von Chateaurox“ vermehrt. Das gleiche Schauspiel:
die energische Dame starb plötzlich, und auch hier wird wieder
von Gift gesprochen. Frau d’Etoiles erschien auf dem Plane;
entsprossen einer geringen und dazu sehr zweifelhaften Familie,
hatte man sie absichtlich für den König „vorbereitet“; wenig-
stens pflegte ihre Mutter sie einen „Königsbissen“ zu nennen.
So zog sie denn durch Vermittlung eines Kammerdieners am Hofe
ein, nachdem der König die beiden bisherigen Mätressen des
Cardinal Richelieu, die ihm dieser ehrerbietigst überlassen wollte,
abgelehnt hatte. Der Gatte der Frau d’Etoiles wurde einfach
nach Avignon verbannt, während sie selbst zur Marquise
von Pompadour erhoben wird. Zunächst tat sie alles, was
der König von ihr wünschte, dann umgab sie ihn — wenig
eifersüchtig — mit weiblichen Kreaturen, die keinen sonder-
lichen Ehrgeiz hatten, aber gegen Geld zu allem bereit waren.
Auch die Ausgestaltung des bekannten Hirschparkes war ihr
Werk. Hier wurden junge Mädchen aller Kreise in Einzelhaft
erzogen, ohne zu wissen, für wen und für welchen Zweck.
Bald erschien der König, und man spiegelte dieser mensch-
lichen Ware vor, es sei ein fremder Edelmann, und ließ sie
bei diesem Glauben — denn Ludwig XV. wünschte die „Moral“
zu wahren. Der politische Einfluß der Pompadour war ge-
122 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben
waltig, und Maria Theresia, die sonst so viel auf ihren guten
Ruf gab, richtete Briefe an sie, in denen sie die königliche
Mätresse mit „gute Cousine“ und „liebe Freundin“ ansprach.
Als sie am 15. April 1764 starb, erhielt sie eine Nachfolgerin
in der Gräfin Dubarry, die die Tatkraft der Pompadour
nicht besaß, sie in Verkommenheit aber bei weitem übertraf.
Wenn ein Kopf mit Recht auf der Guillotine der französischen
Revolution fiel, so war es dieser. Von Haus aus ein Bordell-
mädchen mit dem Namen „Ange“ (Engel), wurde sie an einen
Grafen Dubarry verheiratet. Der König war so entzückt von
ihr, daß der Herzog von Noailles einmal äußern konnte: „Sire,
man sieht, daß Sie noch nie an einem gemeinen Orte waren.“
Unter Ludwig XVI. trat eine Art Ernüchterung ein; er scheint
kein allzu großer Frauenfreund gewesen zu sein, während dafür
umgekehrt Maria Antoinette allerlei Beziehungen unterhielt.
In den übrigen Ländern war es nicht viel anders, zumal
im Zeitalter Ludwigs XIV. Freilich verhinderten die doch ge-
sünderen Verhältnisse Deutschlands die ärgsten Auswüchse
des ungesunden Mätressentums. Ansätze davon sind allerdings
in Deutschland gleichzeitig mit Frankreich aufgetreten, so schon
im 16. Jahrh. am Hofe des Kurfürsten Joachim I. von Branden-
burg, der mit seiner zweiten Gemahlin Hedwig zerfiel, weil er
in Beziehung zur „schönen Gießerin“ Anna von Sydow, der
Witwe eines Stückgießers, trat, die auf die Politik starken Ein-
fluß ausübte. Überhaupt ist in Deutschland oft sehr schwer
zwischen einer Geliebten und einer Mätresse zu unterscheiden,
und gar häufig haben wir es mit ersterer zu tun, wenn auch
gewisse Kreise das „französische“ Wort vorzogen. Das Haus
Habsburg war an solchen Liebschaften und daraus entsprossenen
Kindern sehr reich; aber überall haben wir es doch eigentlich
in ihren Müttern mehr mit Mädchen oder Frauen zu tun, die
in keinerlei Weise ihr Liebesverhältnis mit einer öffent-
lichen Stellung am Hofe verbanden. Auch manche ge-
krönten Frauen waren außerehelichen Liebesverhältnissen sehr
geneigt, wie das ja eben im Geiste der Zeit lag, und man er-
zählt sich besonders von der Gattin Kaiser Sigismunds, daß
sie auf dem Konzil zu Konstanz mehr als frei aufgetreten sei.
Erst im Laufe des 18. Jahrhunderts kommt das Mätressenwesen
mehr zur Geltung, so in Frau von Grävenitz am Hofe Herzog
Eberhard Ludwigs von Württemberg. Sie war eine hübsche,
Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 123
romantisch veranlagte Mecklenburgerin, die mit ihrem Musik-
lehrer durchgebrannt war und in Stuttgart in der Komödie
auftrat. Der Herzog liebte sie glühend und ehelichte sie später
Marie Angelique de Scoraille, Herzogin von Fontange, Maitresse König Ludwigs XIV.
als Venus, geb. 1661, | 1681. Nachfolgerin der Montespan.
morganatisch. Ähnlich ist es mit der Gräfin Lichtenau;
oder wie sie von Hause aus hieß: Wilhelmine Enke (geb. 1754
zu Berlin). Sie stand in einem ehrlichen und soliden Liebes-
verhältnis zum damaligen Kronprinzen, dem nachmaligen König
124 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben
Friedrich Wilhelm II. von Preußen, und wurde später mehr
seine Freundin als seine Mätresse. Freilich hat sie den sonst
nicht sehr fähigen König noch mehr abgelenkt und war, wenn
auch wider ihren Willen, die Ursache großen Geldaufwandes,
der dem damaligen preußischen Hof immerhin empfindlich
sein mußte.
Die nordischen Staaten blieben mehr ihrer nationalen Über-
lieferung treu. Eine eigenartige Ausnahme macht vor allem
Königin Christine von Schweden, die Tochter Gustav
Adolfs, die sich durch ihre Sinnlichkeit zu brutalen Handlungen
hinreißen ließ und nach ihrer Thronentsagung (1654) ihren
Wohnsitz größtenteils in Paris nahm. Sie war verwachsen,
soll aber eine besonders schöne Haut besessen haben, weshalb
sie sich ihren Verehrern nackt auf einem schwarzsamtenen Bette
zu zeigen beliebte. Den Italiener Monaldeschi ließ sie er-
morden, weil er zuviel von ihr wußte. In Rußland herrschten
ganz barbarische Verhältnisse, die durch einen Zug von Sadis-
mus oft ans Pathologische streifen. Besonders erwähnt muß
die Lebensweise der Kaiserinnen werden, die das französische
Mätressenwesen im umgekehrten Sinne genau nachahmten und
so eine auf sexueller Basis beruhende Günstlingswirtschaft
schufen, die unter Katharina Il. ihren Höhepunkt erreichte.
England hat zeitweise Naturen hervorgebracht, die völlig in
die italienische Renaissance passen. Dazu gehört besonders
König Heinrich VIll. Verbrechen und Geistesgröße schmelzen
in ihm ineinander. Ganz dem Geiste der Zeit entsprechen
seine Briefe. So schreibt er einmal an Anna Boleyn, seine
spätere Frau, die er dann enthaupten ließ: „Ich übersende Euch
Hirschfleisch, es stellt meinen Namen dar (hart = Harry), und
ich hoffe, daß Ihr auch noch, so Gott will, von meinem Fleische
genießen sollt, wonach Ihr, wie ich glaube, so sehr verlangt
wie ich nach Eurem.“ Noch mehr an das verbrecherische
Element grenzt das Liebesleben Maria Stuarts, der aber
andererseits die imponierende Individualität vollständig fehlte.
Über Italien haben wir uns in der „Entwicklungsgeschichte
der Liebe“*) bereits eingehender verbreitet. Solche Individuali-
täten, wie sie sich hier Bahn brachen, haben wir in Deutsch-
*) Frhr. v. Reitzenstein: Entwicklungsgeschichte der Liebe. Stutt-
gart 1908.
Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 125
land und in Frankreich nur wenige, und wo sie vorkommen,
haben sie doch etwas an sich, was sie vom Kreise der Galanten
nicht frei werden läßt. Das zeigt z. B. die berühmte Ninon
de /’Enclos, die 1616 geboren wurde. Das geistreiche und
hochgebildete, überaus schöne Mädchen fand keinen Gefallen
am offiziellen Eheleben; sie war bestrebt, ihr irdisches Dasein
nach eigenen Prinzipien zu gestalten, und huldigte daher der
freien Liebe, die ihr nur Vergnügen, keine Verpflichtung bringen
durfte. Ihre Liebhaber wurden entlassen, sobald sie auf-
hörte, sie lieben zu können, und sehr schlagfertig ant-
wortete sie dem groen Condé, der ihr ihre Unbeständigkeit
vorwarf: „Warum haben Sie aufgehört, mir liebenswürdig zu
erscheinen?“ In Ninons Salon verkehrten nicht nur die vor-
nehmsten, sondern auch die geistvollsten Kreise, und Ninon
bewahrte ihre bezaubernde Schönheit bis in ihr höchstes Alter
Am 17. Oktober 1706 starb sie, 90 Jahre alt, und vermachte
noch dem jungen Voltaire 2000 Livres zum Ankauf von Büchern.
Diesem Liebesleben, das wirin der „Entwicklungsgeschichte
der Liebe“ als „Klassenliebe“ bezeichnet haben, tritt, wie
wir am gleichen Orte zeigen, zu allen Zeiten gleicherweise ein
volkstümliches Element, die bürgerliche Liebe, zur Seite. Diese
ist von einem romantischen Element getragen, von einer
Liebe zur Natur, die dem Verkehr beider Geschlechter nicht
nur ein feineres Empfinden, sondern auch eine gesunde Sinn-
lichkeit erhalten hat. Diese Liebe allein war entwick-
lungsfähig und war für unsere Zeit die Grundlage; sie allein
ging tiefer, und nur bei ihr flatterte der Mann nicht von Blume
zu Blume, nachdem er von jeder den Honig geraubt hatte.
Auch der Mensch der bürgerlichen Liebe fordert
volle Gewährung, aber nicht zur momentanen Be-
friedigung, sondern als Ausdruck des Aufgehens in-
einander. So ist es dankbar, und wenn das Schicksal mit
eiserner Hand das zarte Band der Liebe zerrissen hat, dann
klingt in ihm der ganze Zauber einer glücklichen Zeit wieder
und wird zu einer Symphonie, deren Nachklänge in wunder-
baren Gedichten noch die Nachwelt heben und verfeinern. Das
hat die Klassenliebe nicht vermocht; was sie von bleibenden
Werten beisteuerte, war die Individualisierung und das Be-
streben, sich in bewußten Gegensatz zur Askese zu setzen.
Gibt es feineres Empfinden, als es in folgenden Gedichtchen
126 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben
ausgedrückt ist? Das erste war 1534 in Nürnberg vorhanden,
das zweite 1556 bereits aufgezeichnet.
„Ach Elslein, liebes Elselein
wie gern wär ich bei dir!
so sein zwei tiefe waßer
wol zwischen dir und mir.
Das bringt mir großen schmerzen,
herzallerliebster gsell!
red ich von ganzem Herzen,
hab’s für groß ungefell!‘
Hoff, zeit werd es wol enden,
hoff, Glück werd kummen drein,
sich in als guts verwenden,
herzliebstes Elselein !“
„Ich hört ein sichellin rauschen,
wol rauschen durch das Korn,
ich hört ein fein magt klagen:
sie hat ir lieb verlorn.
La rauschen, lieb, la rauschen!
ich acht nit wie es ge;
ich hab’ mir ein bulen erworben
in feinl und grünen kle.
Hast du ein bulen erworben
in feinl und grünen kle,
so ste ich hie alleine,
tut meinem Herzen we.“
Oder welch goldige, herzige Liebe klingt aus den folgenden
trauten Strophen (1569):
„Es fleugt ein kleines Wandervögelein
der lieben fürs Fensterlein,
es klopfet also leise
mit seinem goldschnebelein:
‚stand auf, herzlieb, und laß mich ein
ich bin so lang geflogen
wol durch den willen dein.‘
Bist du so lang geflogen
wol durch den willen mein,
kommt heint um halber mitternacht!
so will ich dich lassen ein;
ich will dich decken also warm
ich wil dich freundlich schließen
in meine schneeweiße arm.“
Wie die Gedichte zart, so sind die Liebesbriefe jener
Zeit originell, zum Teil von einer überraschenden Offen-
heit. Einzelne sind uns erhalten, so ist der folgende an eine
„Jungfer zu Amsterdam“ gerichtet und stammt aus einem alten
Flugblatt:
Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 127
„Meinen freundlichen Gruß | mit Wünschung alles Gutes zuvor. Ins-
besonders günstige hertzliebste Jungfer Gretchen | ich wünsche euch
sambt eurem Vater und Mutter viel Guts | denn ich hätte bey dieser
kalten Winters-Zeit | freundliches liebes Hertzchen | mein Schätzlein
mein hunderttausend Dinglein | euch vorlängst gerne geschrieben | aber
ich habe keine Gelegenheit gehabt | dann jetzund / und bitte euch mein
Hertzlein | mein Schätzlein / mein hunderttausend Dinglein und hertz
verguldetes Gretchen | wenn ihr den Brief gelesen habt | wolt ihn also-
bald zerreißen | das er nicht unter die Leute komme | und mich vexiren -
aber ich frage nichts darnach | und kan sie wohl über die Schnautz
holen. Der Henker hole sie | wie ihr am nechsten wohl gesehen | da
wir beyde zur Hochzeit giengen | und ich meinen Jungen das Gewehr
ließ holen / denn ich habe euch aus Grund meines Hertzens lieb und
wenn ich euch nicht sehe / weiß ich nicht was ich anfangen soll | denn
ich ohn Unterlaß an euch gedenke. Potz Slapperment Gretchen | ich habe
euch lieb / wenn ich euch aber sehe | oder von euch höre reden | glaubts
mir mein Hertzlein / mein Schätzlein | mein hunderttausend Dingelein | und
hertzvergüldetes Gretchen / oder ich will mein Lebenlang ein loser Schelm
sein | das Hertz springt mir vor Freude immer auff. Ich hab euch im
Kretschen einst nicht recht ins Gesicht können sehen | Potz Slapperment |
das verdreust mich noch | auch habe keine lieber in der gantzen Welt |
dann euch j; und daß ihr mich auch ein wenig lieb habt | das weiß ich
auch gar wohl. Gräntzel der Narr | gönnt es mir nicht [ich wil bey
euch zu Bier kommen | und wil Hanns Gürgen mit der Lauten mitbringen,
und mit euch tantzen / ich wil mit keiner lieber tantzen als mit euch / und
wenn es schon ein Haase wäre | frage ich doch nichtes darnach. Mein
allerliebstes Hertzlein / ihr wollet mir wiederum. schreiben | wie es eurem
Vater und Mutter gefallen hat / da ich euch am nächsten den Krantz
schickete | denn es hat mir überaus wohl gefallen, daß ihr den meinet-
wegen getragen habt. Mein liebes Hertzlein | ihr dürfft euch nicht ärgern
oder verwundern ; daß ich noch keinen Barth habe / denn wenn mir der
Barth anfängt zu wachsen | werde ich noch einen viel schöneren Barth
bekommen / als mein Vater Elias. Ich habe diesen Sommer nur drey
Tage über diesem Brief geschrieben | in meiner Kammer /und es war zu
der Zeit sehr kalt | da ich diesen Brief schrieb; Potz Slapperment | Gretchen I
wie fror mich damahls / Vale.
P. S. Ich hoffe | mein Hertzlein, mein Schätzlein, mein hundert-
tausend Dinglein / mein vergüldetes Gretchen | und vielgeliebtestes Venus-
Lieb /du wirst mich wol nicht verlassen | nach eurem Versprechen | zu
tausend guter Nacht | diß hab ich in Eyl gemacht. Potz Slapperment
Gretchen / ich habe euch dann noch sehr lieb! Adieu
Verbleibe indessen
Hanns Sommeroth.“
Wie sorgfältig mag dieser liebe „Hanns“ den Brief aus-
gearbeitet haben; schrieb er doch drei Tage daran! Wie stolz
mag er gewesen sein, als ihm dieses Meisterstück gelungen
war! Und trotz aller Formen, die hier durchblicken, ist er
doch so recht vom Herzen geschrieben. Liebesbriefsteller
gab es damals bereits. So stammen die beiden folgenden, höchst
128 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben
originellen Briefe aus der Nürnberger „Brief-Verfassungs-Kunst“
von 1682; sie geben zugleich an, wie man damals in feinen
Kreisen zu schreiben pflegte:
„Hochgeehrte Jungfer!
Der aller Menschen allgewaltige Hertzens-Bezwinger und blinde
Schütz hat an mir geringe Macht seiner gewöhnlichen Tyranney (wenn
anders die Libe also zu nennen) verüben oder anwenden dürffen, massen
ihr (holdselige Dam) weit überirdisches Angesicht ein an der Liebe gantz
entäußerten Menschen leichtlich zu überwinden mächtig, als wird sie,
mein Jungfer, die Straf solcher Vermessenheit. (wofern ein solche Liebe
also genanndt werden kan) mehr ihrer eigenen Schönheit als deren mir
verursachten Künheit beymessen können, und weile solche meine in Wahr-
heit nicht geringe Liebe zu keinem anderen Zwecke als wohlmeynend
zielet, als wird sie, wie wol ich es gantz nicht meritire, solche meine
ehrliche und treu-meinende Neigung nicht anders als rechtmäßig erkennen,
die Bestättigung soll der Bzeugung gleich seyn. Indessen ich ihr mich
selbst zum Pfand lasse und verbleibe
Dero allergetreuester Knecht
N. N.“
Antwort:
„Mein Herr!
Ich werde seinen Worten, welche Er Belieben getragen mir durch
das unmündige Papier anzuvertrauen, nicht anderst als wahrhaften Glauben
beimessen können und leichtlich glauben, daß Ihn der kleine blinde Schütz
wie er ihn zu benahmen pfleget) wenig und absonderlich meiner geringen
erson wegen wird tyrannisiert haben, massen seine Liebe, welche Er
sich gegen mir zu erklären oder Meldung zu thun mehr mit höflichen
Schertz als einer absonderlichen Liebesbezeugung angefangen. Deme sey
aber wie ihm wolle, so ist jedweder Mensch, doch mit gebührender Be-
scheidenheit und nach gestalt der Sachen, ehrlich zu lieben befugt, also
ich zu geringe, ihme solches zu verwidern, gegen mir aber eines solchen
aus Mangel der Schönheit nicht zu versehen, doch zu verweisen schuldig,
daß ich sey Seine gehorsame Dienerin
: N. N.“
Welch ein Unterschied gegen den ersten Brief! Dort Leben
und Innigkeit, hier leere Worte und kalte Form. Besser könnte
der Unterschied zwischen unserer echt deutschen bürgerlichen
Liebe und der französelnden Klassenliebe wohl nicht in die
Augen springen.
(Fortsetzung folgt.)
KZ
OH ИЧ
DIE FRAU ALS TIERAMME.
Von Dr. ALEXANDER SOKOLOWSKY, Hamburg.
(Mit Tafel I).
E: ist eine historisch-ethnologische Tatsache, daß bei manchen
Völkern Tiere kleinen Kindern als Säugammen gegeben
werden. Angaben hierüber sind der Wissenschaft schon aus
den Tagen: des klassischen Altertums bekannt. Derlei Fälle
spielen schon, wie Ploß-Bartels hervorheben, im alten Mythus
eine hervorragende Rolle. Es sei nur an Romulus und Remus,
die Säuglinge der Wölfin, erinnert. Wenn diese Sitte auch aus
der Zeit des Mittelalters bekannt wurde, so dürfte in der
Gegenwart noch selten ein solcher Fall nachzuweisen sein.
Ganz anders verhält es sich dagegen mit der umgekehrten
Sachlage, der Sitte, junge Tiere an der Frauenbrust zu säugen.
Dieser eigenartige Gebrauch erfreut sich noch heute bei einer
Reihe von Völkern ungestörter Ausübung. Um zu einem er-
klärenden Grund hierfür zu gelangen, bedarf es meines Er-
achtens zunächst einer Klarstellung des Verhältnisses des
Menschen zu den Tieren.
Der primitive Mensch kommt zunächst als Sammler und
Jäger mit der Tierwelt in Berührung. Unzweifelhaft war der
Mensch ursprünglich, wie Passarge sagt, wie noch heutzutage
der Affe, Sammler; und aus dem Sammler entwickelte sich der
Jäger, indem er Waffen erfand, die Tiere zu töten und Methoden
ersann, die Tiere zu fangen. Diese Berührung mit der Tier-
welt suchte der Mensch zunächst aus Existenzgründen, wobei
es ihm darauf ankam, sich durch Sammeln in den Besitz von
allerlei kleinem Getier zu setzen, sowie durch Jagen und Über-
listen größeres Wild zu erlangen. Sammel- und Jagdbeute
dienten und dienen noch vielfach dem Naturmenschen zur Be-
friedigung seines Hungers. Dabei war er angewiesen, um auf
der Jagd guten Erfolg zu haben, auf dem Wege der Erfahrung
Kenntnisse über die Eigenart und die Lebensgewohnheiten
seiner Jagdtiere zu gewinnen, so daß möglichst wenig МїВ-
erfolg auf der Jagd eintrat und dadurch Zeit gewonnen wurde.
Durch diese Beschäftigung mit der Jagd geriet der Mensch in
ein intimes Verhältnis zur Tierwelt. Da die Jagd häufig mit
Lebensgefahr verbunden ist, so ist es begreiflich, daß der Jäger
9
130 Sokolowsky: Die Frau als Tieramme
nicht nur seine Jagdtiere genau kennen lernt, sondern auch in-
folge ihrer Schlauheit und ihres mutigen Verhaltens zu würdigen
versteht. Mit anderen Worten gesagt: ihm werden seine Jagd-
tiere lieb, da er sie schätzte und aus der Liebe zur Tierwelt
hat sich dann später ihre Verehrung als Gottheit von Seiten
der Menschen entwickelt Auch der Totemismus ist, soweit
er sich auf die Tierwelt erstreckt, in seiner Entstehung auf die
Tätigkeit des Jägers und die dadurch bedingte Berührung mit
den Tieren zurückzuführen. Wie innig Totemismus und Tier-
kultur zusammenhängen, geht nach Schurtz aus der Neigung
primitiver Völker hervor, Tiere bildlich, ornamental oder in
der Tatauierung des Körpers darzustellen. Hier mag auch zu-
nächst der Wunsch des primitiven Künstlers vorgewaltet haben,
die Vorgänge auf der Jagd, den Kampf mit wehrhaften Tieren,
registrierend und für die Nachwelt mitteilend, darzustellen. Die
für uns Kulturmenschen oft geradezu Staunen erregend und
verblüffend wirkende naturgetreue Wiedergabe der wilden
Tiere durch den prähistorischen Menschen zeugt von seiner
großen Tierkenntnis und Schulung durch die Jagd. Es geht
aus diesen Angaben hervor, daß der primitive Jäger, obwohl
er zuerst aus rein praktischen Beweggründen sich als solcher
mit der Tierwelt beschäftigen muß, um zur Nahrung zu ge-
langen. Aber bald schon ergeben sich bei ihm Seelenregungen,
die abstrakteren Ursprungs sind, obwohl sie mit den Nützlich-
keitsgründen in Zusammenhang stehen.
Das einmal durch die Jagd bedingte Interesse für die Tiere
erstreckt sich schließlich nicht nur auf die Jagdtiere, sondern
dehnt sich aus auf andere Tiere, die vom Standpunkt der
Nützlichkeit dem Menschen gleichgültig sind. Dabei darf aber
nicht vergessen werden, daß viele kleinere Geschöpfe, ohne Jagd-
wild zu sein, dennoch in gewissem Zusammenhang mit der
Jagd stehen. Ihr Vorkommen verrät dem jagenden Wilden die
Nähe der begehrten Jagdtiere, wie z. B. das der Madenhacker,
oder aber auch sie vergrämen dem Jäger das Wild durch ihre
Warnungsrufe. Der Naturmensch, der gleich dem tierischen
Bewohner seiner Heimat beim Herumstreifen in ständiger Aktion
ist, beobachtet intensiv die Vorgänge in der Umwelt, ihm bietet
sich daher häufig Gelegenheit, ihm als Jagdbeute gleichgültige
Tiere zu erhaschen oder junge Exemplare seiner Beutegeschöpfe
einzufangen. Diese bringt er seinen Frauen und Kindern als
Sokolowsky: Die Frau als Tieramme 131
Spielzeug mit. Sehr interessantes Verhalten zeigen in dieser
Hinsicht die südamerikanischen Waldindianer. Wir wissen
durch Karl von den Steinen, welche Tierliebe diesen eigen
ist: „In der Hütte bekunden Aras und Tucans, mehrere Arten
Papageien und Perikiten, auf Stangen sitzend oder frei umher-
hüpfend und kletternd, die Neigung des Indianers, mit Tieren
zu verkehren. Jedes Familienmitglied hat unter gezähmten Affen
und schön befiederten Vögeln, deren Gesellschaft manchmal
durch ein lebend heimgebrachtes Faultier oder einen kleinen
Ameisenfresser vermehrt wird, seinen Liebling, mit dem es sich
vielfach unterhält.“ Daß es sich bei dieser Tierhaltung tat-
sächlich nur um Freude am Tier handelt, geht aus der Mit-
teilung desselben Gelehrten hervor, wenn er sagt: „So ist es
nicht wunderbar, daß auch Nutztiere europäischen Ursprungs,
die sich bei den Indianern verbreitet haben, nur als Spielzeug
dienen oder ebenfalls als Wertsachen, denen kein wirklicher
Nutzen entspricht.“ Solche „Tierspielerei“ findet sich nicht
etwa nur bei den Indianern, sondern ist auch für altweltliche
Völker nachgewiesen. Die Wissenschaft nimmt mit Recht an,
daß hier die Entstehungsursachen zur Haustierwerdung gesucht
werden müssen. Die „zwecklose Tierzucht“ wird erst später
zur „Zweck-Tierzucht“, wenn der Mensch sich zu höherer
Kulturstufe emporarbeitet und Interesse daran nimmt, Tiere für
die Zwecke seiner Wirtschaft zu halten und heranzuzüchten.
Es soll meine Aufgabe hier nicht sein, den Ideengang dieser
Entwicklung hier weiter zu verfolgen. Ich möchte nur im Hin-
blick auf mein Thema die Zusammenhänge zwischen Tierhaltung
zum Spiel und Haustierhaltung zum Nutzen hingewiesen haben.
Es entsteht für uns die Frage, welchen Zweck verfolgte das
menschliche Weib, jungen Tieren sich zu deren Aufzucht als
Amme herzugeben?
Es ist meiner Ansicht nach auch hierbei anzunehmen, daß
die „Freude am Tiere“ dem eigentlichen Nützlichkeitsgedanken
vorausging, denn es ist begreiflich, wenn die stillende Mutter
aus Mitleid jungen tierischen Lieblingen neben ihrem eigenen
Kinde ebenfalls die Brust bietet. Die Aufzucht des jungen
tierischen Säuglings erfolgt aber nicht nur von Seiten des
menschlichen Weibes zur Erhaltung des Tieres selbst, sondern
wie aus zahlreichen Fällen bekannt geworden ist, um die Milch-
absonderung des Weibes für ihre eigenen Kinder vor dem
132 Sokolowsky: Die Frau als Tieramme
Versiegen zu schützen. Wenn, wie Ploß-Bartels mitteilen,
die Arrawaken-Weiber in Südamerika nicht allein Schweine,
sondern auch jung eingefangene Affen an die Brust legen, so
tuen sie dieses, um die Milch möglichst lange zu erhalten.
Bei den Makusis-Indianern in Britisch- Guyana erhalten sich
die Mütter ihre Milch bis an das hohe Alter; das Kind bleibt
an ihren Brüsten, so lange es demselben gefällt. Wenn sich
inzwischen die Familie vermehrt, so übernimmt die Großmutter
die Pflicht der Mutter gegen die Enkel. Dieser fällt auch
meistenteils die Pflicht zu, die aufgefundenen jungen Säuge-
tiere, Beutelratten, Affen usw. an ihrer Brust aufzuziehen.
Man sieht oft, daß die Weiber diesen jungen Tieren mit
gleicher Zärtlichkeit die andere Brust reichen, wenn aus der
einen das Kind schon die Nahrung sog. Nach Schomburgk
besteht der Stolz der Frauen nämlich hauptsächlich im Besitz
einer großen Anzahl zahmer Säugetiere.
Es mutet uns Europäer eigentümlich an, von Frauen junge
Tiere aufsäugen zu sehen. Dabei darf aber nicht vergessen
werden, daß der Naturmensch in ganz anderen Verhältnissen
zur Natur und ihren Geschöpfen steht. „Primitive Rassen,“
sagt Schurtz, „empfinden den Unterschied zwischen Tier und
Mensch ohnehin nicht so lebhaft, ja sie betrachten oft die
Tiere völlig als ihresgleichen, glauben nach dem Tode selbst
in Tiergestalt fortzuleben oder meinen, daß ihr Geschlecht von
einem tierischen Ahnherrn abstamme.“
Handelt es sich in diesen Fällen um Befriedigung des
Milchabsonderungsbedürfnisses des primitiven menschlichen
Weibes, so ist es Tatsache, daß auch der Mann als Jäger ein
Interesse an der Aufzucht junger Tiere durch die Frau hat.
Nach zweierlei Richtungen offenbart sich dieses. Hat er als
wichtigen Kulturbesitz sich bereits den Haushund erworben,
den er als Gefährten bei der Jagd verwendet, so muß ihm die
Aufzucht junger Exemplare besonders erwünscht sein. Teils
aus Tierliebe zum treuen vierbeinigen Gefährten, teils aber auch,
um die jungen Hunde gewissenhaft zur Aufzucht zu bringen,
säugen die Weiber einer Anzahl Völker häufig diese an ihrer
Brust. Oft müssen die jungen Hunde die Milch mit einem
menschlichen Kinde teilen,
Erland Nordenskiöld sah einmal eine Chorotifrau (süd-
amerikanische Indianerin), die an der einen Brust ihr Kind, an
Sokolowsky: Die Frau als Tieramme 133
der anderen einen Hund säugte. Bei diesen Indianern spielen
die Hunde als Jagdgefährten eine wichtige Rolle. Man hat
eigens für die Wildschweinjagd abgerichtete Jagdhunde. Die
Aufzucht der jungen Hunde liegt hier also im Interesse des
Jägers.
Auch der Australier legt großen Wert auf die Aufzucht
seiner Hunde, der gezähmten Dingos. Auch hier werden häufig
Weiber mit saugenden Hunden an ihrer Brust angetroffen.
Daß Jägervölker junge Jagdtiere, die sie einfingen, zur
Aufzucht ihren Weibern überlassen, ist ebenfalls bekannt ge-
worden. Die Kamtschadalen legen junge Bären ihren Frauen
an die Brust und von den Ainos wird solches auch erzählt.
Hier handelt es sich um den Wunsch des Menschen, junge Jagd-
tiere als Fleischlieferanten auf diese Weise aufzuziehen, um sie
sich später nutzbar zu machen.
Obwohl der Hund bei den Australiern ab und zu im ge-
zähmten Zustande, als Wildhund aber sehr gern gegessen wird,
kann man ihn aber nicht als eigentliches Fleischtier für diese Wilden
bezeichnen, dagegen ist das Schwein als Haus- und Fleischtier
über die Südsee weit verbreitet. Es läßt sich nachweisen,
daß die Aufzucht von jungen Schweinen an der Weiberbrust
eine weite Verbreitung bei Südseevölkern hat.
Handelt es sich bei den zuletzt angeführten Beispielen
um Gebräuche der Menschen, wilde Tiere, sowie Haustiere für
die Beschaffung von Fleisch zu Nahrungszwecken aufzuziehen,
so bieten Fälle, in denen junge Säugetiere durch das mensch-
liche Weib aus religiösen Motiven aufgezogen werden, er-
höhtes Interesse. Wir wissen durch Schomburgk, daß in
Siam häufig junge Affen von Frauen an der Brust gesäugt
werden. Leider hat der Forscher den Zweck dieses Gebrauchs
nicht angegeben. Ich vermute aber, daß es sich hier um heilige
Affen handelt,;deren,Gedeihen auf diese sorgfältige Weise sicher-
gestellt ist. Dagegen bin ich in der Lage, einen Fall mitzu-
teilen und durch eine photographierte Aufnahme zu illustrieren,
bei dem es sich um die Aufzucht eines junges Elefanten handelt,
die von einer Birmesin ausgeführt wird.
In Birma spielt der Elefant als Gebrauchstier eine wichtige
Rolle. Es werden dort zirka 3000 Arbeitselefanten, teils in der
Umgebung von Rangoon, teils im Innern des Landes, vor allem
aber in dem an der Küste gelegenen Mulmein verwandt. Die
134 Sokolowsky: Die Frau als Tieramme
letztere Stadt ist der Hauptausfuhrort des Teakholzes, einer der
wichtigsten Ausfuhrartikel Birmas. Der Teakbaum (Tectona
grandis) wird wegen seines sehr haltbaren, braunen, schweren
Holzes zum Schiffsbau benutzt. Das Alter dieser Bäume be-
trägt oft mehrere hundert Jahre. Sämtliche Holzsäulen, die man
in Birma, Siam, China und Japan antrifft, sind aus diesem wert-
vollen Holze hergestellt. In den vor der Stadt gelegenen zahl-
reichen Sägewerken sieht man die mächtigen Stämme aufge-
stapelt, zu deren Transport nach dem Schiff Arbeitselefanten
benutzt werden. Elefanten werden auch als Reittiere auf der
Strecke zwischen Rangoon und der Hauptstadt von Siam,
Bangkok, verwandt. Endlich gelten dort nach Bockenheimer
einige dieser Tiere als heilig und werden sogar von frommen
birmesischen Frauen an der Brust genährt. Das vorstehende
Bild, das ich der Güte des Herrn Tierimporteurs Krohn ver-
danke, der es von einer seiner für die Firma Carl Hagenbeck
in Stellingen ausgeführten Reisen mitbrachte, zeigt einen Ele-
fantensäugling im Akt des Saugens bei seiner birmesischen
Amme. Man sieht deutlich, wie der kleine Dickhäuter die
rechte Brust derselben mit seinem Maule umfaßt; auch an der
Haltung und dem Ausdruck des ganzen Kopfes erkennt man,
daß er saugt. Den Rüssel hält er nach oben und hat ihn der
Birmesin auf die Schulter gelegt. Die Abbildung stammt aus
dem Orte Moda in Birma.
Die Tragzeit des Indischen Elefanten beträgt nach
Brehm 20 Monate und 18 Tage. Die neugeborenen Kälber
messen zirka 90 cm Höhe und sind zirka 90 kg schwer. Ihre
Saugzeit dauert 6 Monate; sie beginnen dann allmählich etwas
zartes Gras zu sich zu nehmen, ernähren sich aber immerhin
noch einige weitere Monate hauptsächlich von Milch.
Es ist selbstredend unmöglich, daß besagte Birmesin den
jungen Elefanten durch ihre Milchspendung allein aufziehen
könnte. Es handelt sich dabei nur um die interessante Tat-
sache, daß ein Weib aus religiösen Motiven durch Hergabe
von Milch zu seiner Ernährung beiträgt.
SI
Fehlinger: Zwillinge 135
ZWILLINGE.
Von H. FEHLINGER-Genf.
(Mit Tafel II und III).
р“ körperliche und seelische Artung einzelner Menschen
sowie ganzer Völker wird durch die erbliche Veranlagung
und durch die vielfachen Einwirkungen der geographischen und
sozialen Umwelt bestimmt. Welcher Anteil an der Ausprägung
der leiblichen und psychischen Eigenschaften jeder dieser beiden
Gruppen gestaltender Einflüsse zukommt, ist jedoch nicht leicht
zu bestimmen. Von Seiten der biologischen Forschung wird
die Macht der Vererbung obenan gestellt, während die Sozio-
logen wieder die Auffassung vertreten, daß Erziehung und
Bildung, wirtschaftliche und soziale Verhältnisse, die aus-
schlaggebenden Faktoren darstellen, welche jeden zu dem
machen, was er ist. Diese Auffassung hat in der öffentlichen
Meinung noch den größeren Anhang, was nicht wundernehmen
darf, denn Umweltwirkungen auf den Menschen — wie auf
andere Lebewesen — konnten schon seit langer Zeit beobachtet
und festgestellt werden, sie liegen häufig ganz klar zutage,
während die Aufdeckung von Vererbungseinflüssen viel
schwieriger ist und erst seit wenigen Jahrzehnten von einer
kleinen Zahl von Biologen versucht wird. Der Vererbungs-
forschung sind beim Menschen die wichtigen Mittel und Wege
verschlossen, die ihr sonst seit dem Beginne des neuen
Jahrhunderts große Fortschritte ermöglichten; es bleibt vor
allem der zweckdienlich eingeleitete und planmäßig durch-
geführte Paarungsversuch naturgemäß völlig ausgeschlossen
und es ist dem einzelnen Forscher auch nicht möglich, die
Ergebnisse der natürlichen Paarung durch eine längere Reihe
von Geschlechterfolgen unmittelbar zu beobachten; ja selbst
diesbezügliche Aufzeichnungen stehen nur in seltenen Fällen
zu Gebote, und zwar sind das fast ausschließlich Fälle des
Auftretens auffallender Anomalien des Körpers. Erschwert
wird die Aufdeckung der Vererbungsverhältnisse durch die
große Zahl und die starke Durcheinandermischung der Erb-
einheiten. Die Bevölkerungen der modernen Kulturstaaten sind
vielfach bastardiert und jede Fortpflanzung stellt sich als neue
Bastardierung dar. Trotz allen Schwierigkeiten, welche die
Vererbungsforschung beim Menschen begegnet, ist einwandfrei
sichergestellt, daß unsere Art denselben Grundgesetzen der Ver-
136 Fehlinger: Zwillinge
erbung unterworfen ist wie die Tiere und Pflanzen. Ebenso
wie bei diesen, sind auch beim Menschen nicht alle körper-
lichen und psychischen Eigenschaften ererbt und wieder ver-
erbbar. Viele der von Person zu Person bestehenden Besonder-
heiten, ebenso wie Besonderheiten ganzer Gemeinschaften, sind
durchaus unweltbedingt, Ergebnisse der direkten Wirkung von
Klima, Nahrung, chemischen und physischen Einflüssen. Man
nennt sie „Modifikation“ oder „Paravariationen“, im Gegensatz
zu den in der Erbveranlagung bedingten Abweichungen oder
„Idiovariationen“. Die natürliche Modifikationsbreite, die Fähig-
keit des Lebewesens, nicht erbliche Abweichungen hervor-
zubringen, ist von Art zu Art sehr verschieden groß. Der
Botaniker kann sie leicht durch Stecklingsvermehrung prüfen.
Ebenso gelingt es bei vielen wirbellosen Tieren durch unge-
schlechtliche Fortpflanzung irgendwelcher Art eine Anzahl von
Lebewesen von erblich gleicher Zusammensetzung heranzuzüchten
und ihre Modifikationsbreite zu bestimmen. Bei Wirbeltieren
ist im allgemeinen eine Beobachtung von Individuen mit gleicher
Erbveranlagung nur schwer auszuführen, und ganz besonders
gilt dies in bezug auf den Menschen. Allem Anschein nach
ist der menschliche Organismus unter dem Einfluß der Dome-
stikation*) außerordentlich modifizierbar und gleiche oder ähn-
liche äußere Verhältnisse in der Lebenszeit aufeinanderfolgender
Geschlechter bewirken das Auftreten gleicher oder ähnlicher
Modifikationen, so daß Vererbung vorgetäuscht und zu falschen
Schlüssen Anlaß geboten wird. So ist z. B. groBe Kinder-
sterblichkeit nicht immer ein Ausdruck schlechter Rasse, sondern
vielfach ungünstiger Lebensbedingungen und viel Schwäche,
die leicht tödlich wird, ist in Wirklichkeit modifikationell, etwa
die Folge von Nahrungsmangel.
Bei der Art Mensch haben wir nur eine Möglichkeit, um
mehrere erblich völlig gleich veranlagte Personen in bezug
auf ihr körperliches und geistiges Verhalten zur Umwelt zu
beobachten und um zu prüfen, wie weit persönliche Verschieden-
heiten allein auf ungleiche Beeinflussung durch die Lebens-
bedingungen zurückzuführen sind. Die einzige solche Gelegen-
heit bietet die Beobachtung von Zwillingen (vielleicht auch
*) Domestikation ist die willkürliche Gestaltung der Ernährungs- und
Fortpflanzungsbedingungen.
Fehlinger: Zwillinge 137
Drillingen), die aus einem befruchtetenEi, aus einer Zygote,
wie die Biologen sagen, hervorgegangen sind. Diese sind in
der Tat die einzigen Menschen mit identischem Erbgute, die
einzigen isozygoten Individuen: denn der gleiche Samenfaden
und das gleiche Ei sollen ihnen, nach der theoretischen Vor-
stellung, ihre Erbmitgift liefern. Das Studium von eineiigen
oder identischen Zwillingen sollte die Grundlage aller Unter-
suchungen der Erbveranlagung des Menschen bilden. Doch,
in welchen Fällen haben wir aus einem befruchteten Ei ent-
standene Zwillinge vor uns? Der Arzt ist zwar bei der Geburt
durch die Untersuchung der Eihäute in der Lage, zweifelsfrei zu
entscheiden, ob ein Zwillingspärchen einem oder zwei Eiern ent-
stammt. Doch nur in seltenen Fällen wissen im späteren Leben die
Zwillinge Genaues über Ein- oder Zweieiigkeit anzugeben.
Die Beobachtung von Zwillingen ergibt, daß allzumeist
die beiderseitige Ähnlichkeit nicht größer ist, als bei anderen
Geschwisterpaaren, nur fällt diese Ähnlichkeit wegen der
Gleichaltrigkeit mehr auf als bei sonstigen Geschwistern.
Wenn zwei einander sehr ähnliche Kinder in mehrjährigem
Abstand geboren werden, wird freilich ihre Ähnlichkeit nur
allzuleicht nicht richtig eingeschätzt, weil sie nicht in gleichem
Alter verglichen werden können, und es ist doch zweifellos,
daß mit dem Alter starke Veränderungen in körperlicher wie
in geistiger Beziehung stattfinden können. Die große Mehr-
zahl der Zwillingsgeschwister vermag man sofort voneinander
zu unterscheiden.
Manchmal jedoch begegnet man Menschen, die auf den
ersten Blick nicht sicher auseinanderzuhalten sind, da sie sich
nicht nur in den Gesichtszügen und in der Gestalt gleichen,
sondern ebensosehr in ihren Gehaben, in den Bewegungen,
Gewohnheiten und in den Äußerungen ihres persönlichen
Geschmacks, so daß sie sich gar nicht selten auch gleich
kleiden, was namentlich bei dem in dieser Beziehung sehr fein
empfindenden weiblichen Geschlecht auffällt. Bei solchen
Personen, deren Anblick überrascht, haben wir es jedenfalls
mit Zwillingen zu tun, die aus der gleichen Vereinigung einer
männlichen mit einer weiblichen Fortpflanzungszelle, aus der
gleichen Zygote, entstanden.
In der Regel entwickelt sich aus jedem befruchteten
menschlichen Ei nur ein Kind. Bald nach der Vereinigung
138 Fehlinger: Zwillinge
der männlichen Samenzelle mit der weiblichen Eizelle, die
Befruchtung genannt wird, beginnt der Vorgang der Teilung
des Vereinigungsprodukts, es bilden sich nach und nach die
verschiedenen Körperorgane aus, deren Anlagen in den beiden
Ausgangszellen vorhanden waren. Alle Anlagen, die ein Mensch
von seiner Mutter erbt, sind in der mütterlichen Keimzelle
oder Eizelle enthalten, die sich bei der Befruchtung mit der
väterlichen Samenzelle vereinigt, die wieder alles birgt, was
an natürlichen Anlagen vom Vater auf das Kind übergeht.
Es ist wundervoll und kaum vorstellbar, daß eine einzige, mit
freiem Auge nicht sichtbare Zelle soviel von unserem Schicksal
in sich schließt, daß die alles zur Bestimmung unserer Körper-
formen, unserer Sinneskräfte, unserer Neigungen usw. Not-
wendige enthält. Von all den Fortpflanzungszellen eines
Menschen sind sich auch nicht zwei gleich, alle sind ver-
schieden, in jeder sind die Anlagen zu den erblichen Eigen-
schaften in anderer Zusammensetzung gegeben. Daher
kommt es, daß die Söhne und Töchter eines und desselben
Paares untereinander ungleich sind. Sie sind sich aber in der
Regel doch ähnlicher als sonstige Personen, weil sie aus dem
gleichen Bestand von Erbgut hervorgingen, während dieses bei
anderen Eltern wieder abweichend zusammengesetzt ist.
Ganz ausnahmsweise kommt es vor, daß aus einem Ver-
einigungsprodukt von Ei- und Samenzelle, aus einer Zygote,
mehrere Lebewesen entstehen, beim Menschen Zwillinge und
wohl auch Drillinge. Der Nachweis hiefür wurde erbracht
durch die Beobachtung der Vereinigung von zwei Kindern in
einer Eihaut. Es ist nicht anders denkbar, als daß solche
Kinder aus den gleichen elterlichen Vererbungsstoffen auch
eine fast völlige Übereinstimmung ihrer körperlichen und
geistigen Eigenschaftsanzeigen besitzen. In allen Fällen, in denen
bisher mit einiger Sicherheit die Entwicklung eines Zwillings-
paares aus einem befruchteten Ei festgestellt werden konnte,
war zwar nicht völlige Übereinstimmung gegeben, aber die
Unterschiede erwiesen sich auch nicht größer als die, welche
sonst zwischen der rechten und linken Hälfte des Körpers
eines und desselben Menschen bestehen. Diese Asymmetrie
des Körpers ist von Person zu Person verschiedengradig, und
ebenso verschiedengradig ist die körperliche und geistige Ab-
weichung zwischen identischen Zwillingen. Vielleicht sind die
Fehlinger: Zwillinge 139
Unterschiede so zu erklären, daß Größe und Inhalt der beiden
sich sondernden Eihälften doch nicht ganz genau gleich sein
mögen, Bemerkenswert ist die weitgehende Übereinstimmung
des Hautliniensystems der Innenflächen der Hände und der
Fußsohlen bei identischen Zwillingen, wie man sie sonst bei
Geschwistern niemals antrifft. Sie ist einer der sichersten
Beweise der Entstehung aus demselben Keimplasma. Die
Figuren, welche die Hautlinien bilden, sind bei identischen
Zwillingsgeschwistern in der Regel gleich, ungleich aber ist
die Zahl der daran beteiligten Linien. Überdies war zu
beobachten, daß die Figuren an der rechten und linken Hand
wie auch am rechten und linken Fuß bei diesen Zwillingen
mehr als sonst sich gleichen, so daß alle vier in Betracht
kommenden Hände oder Füße im Grunde dasselbe Bild zeigen.
Im Kindesalter geht die Ähnlichkeit identischer Zwillinge
so weit, daß es oft den eigenen Müttern Mühe kostet, Ver-
wechslungen zu vermeiden. Im späteren Leben zeigen diese
Zwillinge eine starke Anhänglichkeit aneinander, sie trennen
sich nicht gerne auf die Dauer. Eine von der amerikanischen
genetischen Gesellschaft ausgeführte Erhebung ergab, daß die
aus einem befruchteten Ei entstandenen Zwillinge gerade so
wie in ..der äußeren Erscheinung, auch in ihren Fähigkeiten,
Neigungen und Abneigungen in hohem Maße übereinstimmen,
ja selbst in Eigenarten beim Essen und Trinken, in der Art
sich zu kleiden, in dem Verhalten gegenüber gesellschaftlichen
Anreizen, und das ist sicher der Grund dafür, daß sie seelisch
weit besser harmonieren und miteinander verkettet bleiben als
gewöhnliche Geschwister. Die seelische Übereinstimmung
geht nach Aussagen identischer Zwillingsgeschwister manch-
mal so weit, daß sie bei räumlicher Trennung voneinander
denselben Gedanken nachgehen. Dank der gleichen Ver-
anlagung sind sie, unter ungefähr denselben äußeren Lebens-
bedingungen, auch durch übereinstimmende Gesundheitsverhält-
nisse und ungefähr gleiche Lebensdauer ausgezeichnet. Alle
diese Tatsachen zeigen mit großer Deutlichkeit, wie wichtig
das von den Vorfahren überkommene Erbteil für die Menschen
ist, daß es zu einem guten Teil unser Lebensschicksal ent-
scheidet, wenn auch daneben die Verhältnisse der Umwelt,
die äußeren Daseinsbedingungen, ebenfalls eine Rolle spielen.
Die Macht der Vererbung kommt bei identischen Zwillingen
140 Fehlinger: Zwillinge
klar und unbestreitbar zum Ausdruck, während man sie sonst
allzugerne unterschätzt und z. B. die Schuld an der Glatze
den Hüten zuschreibt, die Schuld an dem übermäßigen Leibes-
gewicht dem guten Essen, das lange Leben der Enthaltsamkeit
von Alkohol, Tabak und dergleichen, aber übersieht, daß
andere Leute ebensolche Hüte trugen und ebensolche Nahrung
hatten, ohne kahlköpfig und fettleibig zu werden, und daß
andere trotz strengster Enthaltsamkeit von allen Reizmitteln
doch frühzeitig starben.
Bei Zwillingen, die aus verschiedenen befruchteten Eiern
entstanden, schwankt der Grad der körperlichen und geistigen
Ähnlichkeit — wie die Geschwisterähnlichkeit überhaupt —
innerhalb sehr weiter Grenzen. Solche Zwillinge gleichen sich
namentlich im Kinderalter sehr stark, bevor noch Umwelt-
einflüsse in bedeutendem Maße auf sie wirken konnten, Jedoch
mit fortschreitendem Alter entfernen sie sich mehr und mehr
voneinander. Das trifft beispielsweise zu bei den Zwillingen
der Tafel II, Fig. 1 (den nun neunjährigen Schwestern A. und E.G.).
Bei der Geburt befand sich jedes der Mädchen in einer be-
sonderen Eihülle, aber sie waren dennoch in frühester Kind-
heit einander überraschend ähnlich. Seit ihrem sechsten Lebens-
jahr ist ihre körperliche und geistige Entwicklung verschieden
geworden. A. ist kleiner aber widerstandsfähiger, hat heiteres,
sonniges Temperament. E. ist größer und stärker, dabei stiller
und nachdenklicher veranlagt; sie hatte bisher mehrere Krank-
heiten zu überstehen, ihre Schwester dagegen nicht, worin die
verschiedene Erbveranlagung deutlich zum Ausdruck kommt.
Die Gesichtszüge und der Gesichtsausdruck der Schwestern
änderten sich allmählich so, daß sie einander unähnlicher
werden. Fremde verwechseln sie auch jetzt noch.
Tafel II, Fig. 2 zeigt die wahrscheinlich identischen
Zwillinge H. und F. N. in H. bei Z. in Sachsen, geb. 9. V. 1909.
In dieser Familie wurden seit 15 Jahren 3 mal Zwillingspaare
geboren. Tafel III zeigt das Zwillingspaar Z. in D. (Sachsen).
SI
Saaler: Die Bedeutung d. psychoanalytischen Methoden u. Theorien usw. 141
DIE BEDEUTUNG DER PSYCHOANALYTISCHEN
METHODEN UND THEORIEN
FÜR DIE. PRAKTISCHE HEILKUNDE.
Von Dr. BRUNO SAALER.
(Schluß).
I erwähnte bereits, daß ich bei dieser Analyse nicht strikt
den Freud’schen Lehren folgte, sondern mir dabei einen
der Hauptgedanken der Individual-Psychologie Alfred Adlers
zu eigen machte. Adler ist einer der ältesten Schüler Freuds,
hat ihn bald verlassen und ist eigene Wege gegangen. Während
Freud bekanntlich die Sexualität in den Mittelpunkt seiner
Lehre gestellt hat, räumt Adler ihr für die Neurose keine sou-
veräne Stellung ein, sondern betrachtet sie nur als eine unter
vielen anderen Strebungen, deren sich die Psyche bedienen
kann, um ein Ziel zu verfolgen, welches der Neurotiker unter
allen Umständen und mit allen Mitteln, zu erreichen sucht.
Dieses Ziel ist die Erlangung von Macht, die aber
nur zur Kompensation eines tiefsitzenden Minderwertig-
keitsgefühls erstrebt wird. Adler geht davon aus, daß
jeder Neurotiker von Hause aus eine Organminder-
wertigkeit besitzt, infolge deren er sich in seinem Persön-
lickeitsbewußtsein beeinträchtigt fühlt und die er unter allen
Umständen zu kompensieren, andererseits aber auch vor sich
selbst zu verschleiern bestrebt ist. Das tiefsitzende aber vor
sich selbst abgeleugnete Minderwertigkeitsgefühl hindert ihn
in allen seinen Handlungen und Entschließungen, da er
stets den Mißerfolg präsumiert. Um sich nun vor diesem
Mißerfolg zu schützen, bedarf er weitgehender „Sicherungen“,
die als „neurotisches Arrangement“ unter Einhaltung einer
„fiktiven Leitlinie“ ausgebaut werden zu dem einzigen Zweck,
den Mißerfolg, der das Persönlichkeitsbewußtsein erschüttern
könnte, zu verhindern. Der Neurotiker geht also nach Adler,
um populär zu sprechen, um alles wie um einen heißen Brei
herum. Ein solcher heißer Brei ist für ihn auch die Sexua-
lität. Er fingiert eine Perversion, sagt Adler, um sich vor
einem Mißerfolg zu sichern, den die Aggression der Frau, wie
er zwar glaubt, aber vor sich abstreitet, unbedingt zur Folge
haben müßte. Er sagt sich also bewußt: Es würde mir na-
türlich nicht schwer fallen, eine Frau zu gewinnen. Ich
kann aber leider nicht heiraten oder ein Verhältnis anfangen,
142 Saaler: Die Bedeutung d. psychoanalytischen Methoden u. Theorien usw.
weil ich diese unglückliche Perversion habe oder weil
ich Onanist bin oder impotent oder dergl. Immer ist die
sexuelle Anomalie nur eine Fiktion zur Sicherung des
neurotischen Arrangements. Diese Sicherung geschieht
in der Regel vermittels des „männlichen Protestes“, d. h. der
Neurotiker, der sich nicht zutraut, im Geschlechterkampf ob-
zusiegen, ihm daher ausweicht, sieht sich veranlaßt, seine
Männlichkeit in anderer Form einwandfrei darzutun, er über-
kompensiert. In unserm Falle würde diese Überkompen-
sation in dem Schlagen der Knaben zum Ausdruck kommen.
Das Schlagen ist der Beweis der Überlegenheit, das Resultat
des männlichen Protests, das Ressentiment gegenüber
der praesumierten Erniedrigung durch die Frau. Hier-
gegen spricht auch nicht der Umstand, daß der Patient schon
im 12. Lebensjahre beim Schlagen von Knaben sexuelle Lust-
gefühle verspürte, also zu einer Zeit, in der die. Aggression
der Frau im sexuellen Sinne bestimmt noch keine Rolle spielte,
denn damals kann das Schlagen eine Sicherung gegenüber
der Überzeugung der Inferiorität in anderer Beziehung dar-
gestellt haben. Im übrigen dürfte die Rivalität der Geschlechter
ohne ausgesprochen sexuelle Färbung ihren Beginn schon in
den frühen Stadien der Kindheit haben. Dem sexuellen Lust-
gewinn beim Schlagen von Knaben wäre dann nur sekundäre
Bedeutung beizumessen. Mit Bezug auf diese Handlungen
muß aber an die Freud’sche Theorie der infantilen Sexualität
erinnert werden, deren Komponenten Schau- und Grausam-
keitstriebe von Seiten der Psyche und von Seiten der Körper-
sphäre Antriebe sind, die mit motorischen Leistungen (Laufen,
Schlagen) und Betätigung der erogenen Zonen in Verbindung
stehen. Unter Zugrundelegung der Freud’schen Sexual-
theorie wie der Freud’schen Lehre überhaupt dokumentiert
sich demnach die Neurose unseres Patienten als Folge des
Mißlingens der Umwandlung der infantilen autoerotischen in
ausgereifte, auf Objekte des anderen Geschlechts gerichtete
Sexualität. Nach Adler ist die sadistische, homoerotische
Betätigung bzw. Phantasie nur eine Fiktion, die vom Unbewußten
errichtet wurde, um die Flucht vor der Frau zu rationalisieren,
um sich darüber hinwegzutäuschen, daß die Flucht notwendig
wurde, um einem als sicher geglaubten Mißerfolg aus dem
Wege zu gehen. Ich halte die Anschauung Adlers von der
Saaler: Die Bedeutung d. psychoanalytischen Methoden u. Theorien usw. 143
fiktiven Bedeutung sexueller Perversionen für sehr gezwungen
und in unserm Fall höchstens von untergeordneter Bedeutung,
insofern als die sadistisch-homoerotischen Strebungen, an deren
tatsächlichem Bestehen gar nicht zu zweifeln ist, benutzt werden,
um die Flucht vor dem Weibe zu rationalisieren. Dagegen ist
die Adler’sche Motivierung des Ausweichens vor der
Aggression der Frau sehr häufig und auch hier zutreffend, .
während die Freud’sche Annahme der Bindung an die
Mutter m. E. nur selten erweisbar sein dürfte. In gewissem
Sinne allerdings muß man auch in unserem Falle dem Mutter-
komplex Bedeutung beimessen. Der Patient hat stets eine
große Achtung vor seiner Mutter gehabt, und die Mutterimago
ist zweifellos bestimmend gewesen für das Bild, das er sich
von der Frau im allgemeinen machte. Daraus resultierte dann
deren Überschätzung und das Gefühl der eigenen Unterlegen-
heit. Aber auch für die Adler’schen Gedanken der Organ-
minderwertigkeit als Ursache des Minderwertigkeitsgefühls er-
gaben sich Anhaltspunkte, auf die ich aber nicht näher ein-
gehen will.
Ich habe diesen Fall etwas ausführlich besprochen, weil
er — ohne sonderlich kompliziert zu sein — einen guten Ein-
blick in die psychische Struktur der Neurose und ihren Zu-
sammenhang mit der Entwicklung der Sexualität im Sinne der
Freud’schen Sexualtheorie gewährt. Ich will noch kurz auf
einen anderen Fall eingehen, der gleichfalls die Beziehung zur
Sexualentwicklung und gleichzeitig den Mechanismus der
Konversion,*) von dem noch nicht die Rede war, und die
Symbolik der Neurose vor Augen führen soll:
Eine 20jährige Frau erkrankt im Anschluß an die Hoch-
zeitsnacht an Angstanfällen, Unfähigkeit zu gehen und zu
stehen, an Blasenlähmung, Gefühlsabstumpfung der Körper-
oberfläche und nervösem Husten. Die Analyse nahm in diesem
Falle ihren Ausgangspunkt von einem Symptom, nämlich dem
Angstanfall. Angst bedeutet nach Freud verdrängte Lust.
Sie entsteht dadurch, daß die ins Unbewußte verdrängte Lust
im Bewußten durch ihren Widerpart ersetzt wird. Das Vor-
zeichen wird gewechselt; aus Lust wird Unlust. Diese
*) Konversion ist nach Freud die unbewußte „Umwandlung“ von
affektbetonten Vorstellungen, hauptsächlich sexueller Natur in andere
Vorstellungen.
144 Saaler: Die Bedeutung d. psychoanalytischen Methoden u. Theorien usw.
wird zur Angst, wenn die Gefahr besteht, daß der verdrängte
Komplex aus dem Unbewußten ins Bewußtsein durchbricht,
wenn also das Minusvorzeichen des Affektes droht, wieder in
das Plusvorzeichen umzuschlagen. Bei jedem hysterischen
Angstanfall wissen wir also, daß der Kranke eine lust-
betonte Vorstellung verdrängt hat und ihren Durchbruch
ins Bewußtsein fürchtet. Unsere Patientin hatte nun in einem
von mir selbst beobachteten Angstanfall die Halluzination
einer Pistole, mit der sie ihr früherer Bräutigam bedrohte.
An sich wäre diese Angstvorstellung verständlich gewesen,
denn ihr erster Verlobter hatte gedroht, sie zu erschießen,
wenn sie einen anderen Mann heirate. War die Angst aber
wirklich die Folge verdrängter Lust, so konnte sie mit dieser
Drohung nichts zu tun haben. Dann war die Angst vor der
Pistole nur die Konversion der verdrängten Vorstellung, die
lustbetont gewesen sein muß, in einen anderen Vorstellungs-
komplex, der für die Angst eine plausible Erklärung bot. Be-
rücksichtigt man nun den Umstand, daß die Patientin im An-
schluß an die Hochzeitsnacht erkrankte, so lag der Gedanke
nahe, daß die Kranke, um normal geschlechtlich verkehren zu
können, eine früher beliebte erotische Betätigung zu
verdrängen gezwungen war, was ihr indessen nur un-
vollkommen gelungen sein konnte, denn die Neurose ist
immer das Kennzeichen der mißlungenen Verdrängung.
In dem Angstanfall sah ich nun die Patientin mit einer Gier,
die ihren sexuellen Charakter nicht verleugnen konnte, an den
Lippen lutschen. Das ließ darauf schließen, daß der ver-
drängte Komplex munderotischer Natur war. Die Pistole
kennt die Psychoanalyse als Symbol für den männlichen Ge-
schlechtsteil. Somit wurde gefolgert, daß der Angstanfall das
verdrängte Verlangen der Patientin, das männliche Glied in
den Mund zu nehmen, symbolisierte. Die Konversion dieses
Vorstellungskomplexes auf den der Drohung des ersten Bräuti-
gams, sie zu erschießen, ließ darauf schließen, daß sie gewöhnt
war, mit diesem in der genannten Weise geschlechtlich zu ver-
kehren, und der nervöse Husten, der ja auch auf die Mund-
zone hinwies, deutete an, daß sie sich energisch, aber vergeb-
lich bemühte, diesen Vorgang als jetzt unlustbetont ab-
zulehnen. Die Angstvorstellung war demnach die Folge der
Konversion der verdrängten Vorstellung in eine andere Vor-
Tafel Il
Fig. 2. Zwillingstypen.
Fig. 1, Schwestern G., 9 Jahre alt (zweieiig). Fig. 2, Zwillinge H. u. F. N. (wahrsch. eineiig).
Tafel II
Bild
oben jugendl.
in D,
unten beide erwachsen.
ве 1.
Zwillin
\
Saaler: Die Bedeutung d. psychoanalitischen Methoden u. Theorien usw. 145
stellung, der nervöse Husten die Folge ihrer Konversion in ein
körperlich hysterisches Symptom. Die Kranke gab den so
erschlossenen Tatbestand unumwunden zu und er-
klärte, daß sie die Vorgänge vor ihrer Heirat bedaure,
vergessen wolle und sich danach sehne, mit ihrem
jetzigen Mann normal zu verkehren, leider aber dabei
keinerlei Lust verspürt habe. Im Verlauf der klinischen
Beobachtung war die Kranke stets symptomfrei, wenn sie sich
in der Phantasie in der beschriebenen perversen Weise be-
stätigte; hysterische Symptome traten dagegen immer auf, so-
bald sie versuchte, sich auf den normalen sexuellen Verkehr
umzustellen. Die perverse Sexualbetätigung ließ sich in ihren
Komponenten als Erscheinung der infantilen Sexualität im
Sinne Freud’s dartun, die Neurose somit als der Ausdruck des
Mißlingens des Übergangs von der infantilen zur reifen Sexuali-
tät sowohl in psychischer wie in somatischer Hinsicht.
Hier war also eine Fixierung der Libido auf einer
früheren Entwicklungsstufe der Sexualität eingetreten,
als deren letzte Ursache aber nicht seelische Vorgänge an-
gesprochen werden konnten, sondern ein biologisch be-
dingter Stillstand in der Entwicklung, der der Gesamtpersön-
lichkeit den Stempel des Infantilismus aufdrückte.
Die orthodoxe Freud’sche Schule erkennt eine solche biolo-
gische Ursache als Fixierung nicht an,*) sondern sucht auch
hier nach psychischen Ursachen, was dem Arzt, der nicht nur
Psychoanalytiker ist, keineswegs als Notwendigkeit erscheinen
muß. Einer Erklärung bedürfen in diesem Falle noch die
körperlichen hysterischen Symptome. Daß der nervöse
Husten das Negativ der Munderotik darstellt, die im Angst-
anfall sich als Positiv in Form des Lutschens an den
Lippen zeigte, wurde bereits gesagt. Der Angstanfall zeigt ja
die verschärfte Bedrohung des Bewußtseins mit dem Durch-
bruch aus der Verdrängung an, das Minusvorzeichen des Affekts
droht in das Plusvorzeichen umzuschlagen, das Negativ in das
Positiv. Dieses Symptom ist somit der Ausdruck der Kon-
version einer verdrängten Vorstellung in ein Symptom.
Das Gleiche gilt für die übrigen Symptome. Die Gefühls-
abstumpfung ist das Negativ der Hauterotik und die Unfähig-
*) Besonders diese Auffassung der Psychoanalyse möchte ich ab-
lehnen. (Die Schriftleitung.)
10
146 Saaler: Die Bedeutung d. psychoanalytischen Methoden u. Theorien usw.
keit zum Gehen und Stehen ist die Folge der Verdrängung
der Lust, die mit dem Gebrauch der Muskulatur der Beine
verbunden ist. Munderotik, Hauterotik, ausgiebiger Gebrauch
der Muskulatur sind nach Freud Komponenten der infantilen
Sexualität. Durch ihre Verdrängung entstand durch Konversion
ihr Negativ, das sich in den Symptomen kundgab. Auch die
Blasenlähmung als Negativ der „Urethralerotik* paßt in diesen
Zusammenhang. Die Bedeutung der Blasentätigkeit für die
sexuelle Entspannung ist übrigens nicht erst von Freud ent-
deckt worden, sondern wird schon von Havelock Ellis hervor-
gehoben. Bemerkenswert ist, daß die Analyse dieses Falles
eine spastische Darmlähmung, die seit der Kindheit bestanden
hatte, offenbar zu dem Zwecke, damit durch tägliche
Klystiere Reizungen der Analzone im Sinne der Anal-
erotik erfolgen sollten, mit einem Schlage restlos beseitigt
hat. Dieser Fall bestätigt somit die Bedeutung der erogenen
Zonen für die infantile Sexualität und die Neurose.
Anschließend hieran will ich kurz eines Falles von Straßen-
angst gedenken*), aus dem ebenfalls ersehen werden kann,
daß — ob es sich um Straßenangst, Platzangst, Brückenangst,
Eisenbahnangst oder um andere Phobien handelt, ist ganz
gleich — die Angstvorstellung immer nur die Rationalisierung
einer Angst darstellt, die in Wirklichkeit andere Gründe hat,
d. h. infolge von Konversion in einen anderen Vorstellungs-
komplex entstand mit dem Zweck, den unbewußt gewordenen
Komplex, von dem der Affekt losgelöst wurde, in der Ver-
drängung zu halten.
Eine Dame erkrankt, während ihr Gatte im Felde steht, an der Phobie,
es würde ihr, wenn sie sich auf die Straße begäbe, etwas zustoßen.
Nachdem sie lange Zeit nicht zu bewegen war, auszugehen, wurde ihr
vom Arzt eine Krankenschwester beigegeben, in deren Begleitung sie sich
frei bewegen konnte. Verließ die Schwester sie aber nur einen Augen-
blick, so stellte sich regelmäßig schwere Angst ein. Heilsuggestionen,
die ihr in regelmäßigen Abständen gegeben worden waren, hatten zwar
günstig eingewirkt, den Zustand aber nicht wesentlich beeinflussen können.
Die Analyse ergab, daß die Kranke in einen schweren Gewissenskonflikt
geraten war, indem sie im Begriff stand, obgleich sie ihren im Felde
befindlichen Gatten liebte, den stürmischen Werbungen eines
anderen Mannes nachzugeben. Die Angst vor der Straße war nichts
*) Ich habe über diesen Fall schon in anderem Zusammenhang ge-
sprochen: Die psychische Behandlung der funktionellen Nervenkrankheiten
unter Berücksichtigung der Kriegserfahrungen, Berl. Klin. Wochenschr.
1920. Nr. 50.
Saaler: Die Bedeutung d. psychoanalytischen Methoden u. Theorien usw. 147
anderes als die Furcht, dem Manne, der ihr aufzulauern pflegte, zu be-
gegnen und zu erliegen, also letzten Endes die Furcht vor ihren Trieben
und Willensschwäche. Angesichts dieses Tatbestandes war es natürlich
sinnlos, die Phobie auf suggestivem Wege zu bekämpfen. Die Angst
konnte nicht schwinden, so lange die eigentliche Ursache der Angst be-
stehen blieb. Die Analyse zwang die Patientin, den Weg der Flucht in
die Krankheit zu verlassen und sich mit dem seelischen Konflikt bewußt
auseinanderzusetzen. Die weitere Therapie hatte im wesentlichen sexual-
pädagogische Aufgaben zu erfüllen. Wollte man Suggestion anwenden,
so mußte die Suggestion lauten: „Sie werden die Kraft besitzen, Ihrem
Manne die verdiente Treue zu halten!“ und nicht, wie es geschehen
war: „Ihre Angst vor der Straße wird sich legen!“
Dieser Fall lehrt, daß Phobieen — wie das ja Freud ins-
besondere von den Zwangsvorstellungen behauptet — aus der
Verdrängung wiederkehrende Selbstvorwürfe darstellen, sich
aber durchaus nicht immer, wie Freud meint, auf eine mit Lust
ausgeführte Aktion der Kinderzeit zu beziehen brauchen, son-
dern mit ganz aktuellen Vorgängen in Beziehung stehen können.
Sehr lehrreich ist der folgende Fall:
Im Jahre 1915 erkrankte eine bis dahin völlig gesunde
Frau von 33 Jahren an einer Veränderung, die sich in erster
Linie als geistige Abstumpfung geäußert haben muß. Denn
der Arzt, der sie damals behandelte, gibt an, daß sie, obwohl
sie jetzt völlig attent und intelligent ist, damals ganz „verblödet“
war. In dieser Auffassung ist er allerdings durch ein autori-
tatives Urteil bestärkt worden, welches bei der Kranken, nach-
dem sich eine Augenmuskellähmung hinzugesellt hatte, eine
tertiär-syphilitische Erkrankung des Gehirns annahm, obwohl
die Wassermann’sche Untersuchung des Blutes negativ aus-
gefallen war und außer den genannten Erscheinungen für
Syphilis nur die Tatsache sprach, daß die Kranke im Alter von
20 Jahren im Krankenhaus einmal wegen Halsschmerzen mit
Injektionen behandelt worden sein wollte, die nur ihrer Meinung
nach Quecksilber-Injektionen waren. Die.Patientin erhielt nun
Salvarsan und wurde sofort gesund. Es kann als ausgeschlossen
betrachtet werden, daß damals ein Gehirnsyphilis bestand. Die
„Verblödung“ verschwand nach Einleitung der antisyphilitischen
Kur ebenso schnell und plötzlich, wie sie gekommen war, was
bei einer organisch bedingten Demenz ausgeschlossen, bei
der hysterischen Pseudodemenz aber die Regel ist. Augen-
muskellähmungen als Begleiterscheinung hysterischer Psychosen
sind viel häufiger als man glaubt. Die Analyse ergab folgendes:
Die Patientin hatte vor ihrer Ehe ein Verhältnis mit einem
10*
148 Saaler: Die Bedeutung d. psychoanalytischen Methoden u. Theorien usw.
Mann, das sie aufgab, nachdem sie von ihm ein Kind be-
kommen und obendrein die Überzeugung gewonnen hatte,
daß sie von ihm syphilitisch infiziert worden war. Diese
Annahme steht aber auf schwachen Füßen. Es ist nicht einmal
wahrscheinlich, daß sie Quecksilber-Injektionen erhalten hatte. Sie
weiß nur, daß man ihr Spritzen ins Gesäß verabfolgte. Von
Syphilis oder auch nur von Quecksilber ist gar nicht gesprochen
worden; den Zusammenhang hatte sie nur kombiniert. Die
Patientin reagierte aber auf die Überzeugung, syphilitisch zu
sein, wie die Analyse ergab, derart, daß sie die Sexualität
überhaupt ablehnte, sich mit keinem Manne mehr abgab,
obwohl sie zweifellos stark sinnlich veranlagt war, und
schließlich einen unscheinbaren, hinkenden Menschen heiratete,
der sie sexuell absolut nicht befriedigte, den sie aber zu
lieben versuchte, weil sie sich infolge der Syphilis für so ent-
wertet hielt, daß sie ihn als den für sie passenden Ehepartner
empfand. Zur selben Zeit nun, in der sie an der Pseudo-
demenz erkrankte, war sie in einen schweren seelischen Konflikt
geraten, indem sie von einem gut gewachsenen jungen Mann
bedrängt wurde, ihn zu heiraten. Eine Möglichkeit, ihren sexu-
ellen Trieben, die sie mit Macht zu diesem Manne trieben, zu
folgen, gab es für sie nicht, da sie sich durch ihre Syphilis
für entwertet hielt, inzwischen übrigens noch andere Hin-
derungsgründe äußerer Natur sich hinzugesellt hatten und end-
lich die Wiederaufnahme des außerehelichen Verkehrs sie von
neuem mit Schwangerschaft und Geschlechtskrankheit bedrohte.
Sie suchte daher den Ausweg aus dem Konflikt wie vor Jahren
durch die Entwertung. Sie mußte ihre „heimliche Krank-
heit“ manifest werden lassen, um die Unmöglichkeit,
einen gesunden jungen Mann zu heiraten, zu demon-
strieren, andererseits aber auch, um sich die Gefahren des
außerehelichen Verkehrs deutlich zu machen. Alles zu dem
Zweck, um zu zeigen, daß sie einzig und allein zu ihrem
hinkenden Mann gehöre, mit ihm zusammengeschmiedet durch
das gemeinsame Schicksal der Verkrüppelung. Die Er-
krankung an syphilitischen Erscheinungen war das einzige Mittel,
um den Aufruhr im Innern zu beschwichtigen und den Be-
werber abzustoßen. So entstand die Neurose, die übrigens
zunächst eine Schwangerschaftsphantasie als Reminiscenz an
den vorehelichen Sexualverkehr produzierte und die Vermutung
Saaler: Die Bedeutung d. psychoanalytischen Methoden u. Theorien usw. 149
einer Bauchhöhlenschwangerschaft nahelegte. Im Krankenhaus
erkannte man die funktionelle Natur der Erkrankung und ent-
ließ sie, ohne sie antisyphilitisch behandelt zu haben, aller-
dings auch ohne daß sich der Zustand geändert hätte. Da-
gegen verschwanden, nachdem die ersehnte Diagnose
„Syphilis“ gestellt war, die Augenmuskellähmung nach der
ersten Salvarsanspritze und die übrigen Krankheitserscheinungen
bald darauf, — nicht infolge der spezifischen Wirkung der
Behandlung, sondern weil die Anerkenung der Syphilis
die Krankheitserscheinungen überflüssig gemacht
hatte. Sie wußte jetzt, daß sie bei ihrem Manne zu bleiben
hatte, und so gelang es ihr den Bewerber abzuweisen. Selbst-
verständlich sind alle diese seelischen Vorgänge unbewußt ge-
wesen und erst durch die Psychoanalyse aufgedeckt worden.
‘ Hierzu paßt die Angabe der Kranken, daß sie erst, nachdem
der Bewerber aus ihrem Gesichtskreis entschwunden war, ge-
merkt habe, daß sie ihn liebe. Die Gefahr war aber nun einmal
heraufbeschworen, und im Jahre 1919 kamen die abgeleugneten
Regungen, das Verlangen nach sexueller Befriedigung
durch einen gesunden jungen Mann, zumal sie zahlreiche Be-
werber hatte, wieder zum Durchbruch. Als äußere Erscheinung
dieses Durchbruchs zeigte sich ein hysterisches Hinken,
das sich als „überdeterminiert“ erwies, d.h. gleichzeitig mehreren
unbewußten Gedankengängen entsprach, auf die ich des Näheren
aber nicht eingehen kann. Der Hauptantrieb war jedenfalls
der der Entwertung der eigenen Persönlichkeit durch die Fiktion
eines „heimlichen“ Leidens. Die Kranke wurde jetzt lange
Zeit auf Ischias, Muskelrheumatismus u, dergl. mit Elektrizität,
Diathermie, Massage u. s. w. behandelt. Solche harmlose Er-
klärungen für die Krankheitserscheinung konnten der Patientin
aber nicht genügen. Allerdings reichte jetzt auch die Diagnose
Syphilis nicht mehr aus; sie bedurfte der Gewißheit, nicht
nur syphilitisch zu sein, sondern infolge von Syphilis ein
schweres Leiden des Rückenmarks oder des Gehirns zu haben,
um dem unerträglich drängenden Sexualtrieb, der sie von ihrem
Manne wegtrieb, widerstehen zu können. Da diese Diagnose
nicht gestellt wurde, blieb das Hinken und behauptete sich
sogar auch gegenüber stark wirkenden Suggestionen, die и. а.
von dem bekannten Laienhypnotiseur Otto Otto angewandt
wurden. Es verschwand aber nach der zweiten psycho -ana-
150 Saaler: Die Bedeutung d. psychoanalytischen Methoden u. Theorien usw.
lytischen Sitzung, die ich mit der Patientin vorgenommen hatte,
und in der ihr vor Augen geführt wurde, daß sie niemals
„scheel und lahm“ war, daß sie aber „scheel und lahm“
sein wollte, um sich mit ihrem Schicksal, an einen Krüppel
gekettet zu sein, abfinden zu können — allerdings nur vorüber-
gehend. Die Tatsache, daß die Kranke zeitweilig gebessert
war, dann aber immer wieder von neuem die gleiche Geh-
störung produzierte, illustriert die Unentschlossenheit, die die
Behandlung in ihr auslöste.
In diesem Falle wie in vielen anderen habe ich feststellen
können, daß das Symptom durchaus nicht schwinden muß,
wenn eine Psychogenie aufgeklärt ist, wie die Freud’sche Schule
annimmt, sondern daß es nur dann definitiv schwindet, wenn
der ihm zugrunde liegende Konflikt gelöst wurde. Wo das
nicht geschieht, bleibt das Symptom oder es wird durch ein
anderes ersetzt, was allerdings noch häufiger der Fall ist, aber
immerhin eine gewisse Produktivität voraussetzt. In diesem
Fall war der Konflikt natürlich nicht gelöst, sondern nur bewußt
gemacht worden. Gelöst ist der Konflikt erst, wenn die Patientin
entweder imstande ist, mit Erfolg gegen den drängenden Sexual-
trieb anzukämpfen oder den Mut und die Kraft findet, sich
von ihrem Manne frei zu machen, um sich anderweitig ihr
Glück zu suchen. Ich bemerke, daß wir ärztlicherseits zu der
letzteren Eventualität nicht raten dürfen. Ganz abgesehen von
den ethischen Bedenken und der schweren Verantwortung, mit
der wir uns belasten würden, wird mit einer solchen Empfehlung
auch gar nichts erreicht. Denn die Tatsache, daß die Patienten
bisher die Krankheit einer solchen Lösung vorgezogen haben,
beweist, daß unüberwindliche Schwierigkeiten dieser Lösung
entgegenstehen. Diese Schwierigkeiten objektiv zu werten, ist
gar nicht möglich. Und eine freiheitliche Auffassung des Ge-
schlechtlichen gerade Menschen beizubringen, die — wie ihre
Neurose beweist — alles andere eher besitzen als moralischen
Mut und Entschlußkraft, ist ein Beginnen, das man mit dem
besten Willen nicht als ärztlich bezeichnen kann. Wenn wir
bei unserer psychoanalytischen Tätigkeit also feststellen, daß
die herrschende Sexualmoral einen Hauptfaktor bei der
Entstehung von Neurosen darstellt, so ist die Konse-
quenz, die daraus gezogen werden muß, nicht, daß das
Individuum, sondern die Gesellschaft zu einer anderen
Saaler: Die Bedeutung d. psychoanalytischen Methoden u. Theorien usw. 151
Moral erzogen werden soll. Die Konsequenz ist also keine
praktisch-ärztliche, sondern eine soziologische bzw. eine sozial-
hygienische.
Was geschieht aber mit dem Individuum? Es soll sich
ablenken und den Sexualtrieb nicht unterdrücken aber beherrschen
lernen. Vollwertigen Persönlichkeiten gelingt das meistens, wenn
auch erst nach langen Kämpfen. Freud hat bekanntlich von
der Verdrängung die Sublimierung unterschieden, d. h. die Hin-
lenkung sexueller Energien auf höhere, insbesondere kulturelle
Ziele. Man hat vielfach die Unterscheidung der Sublimierung
von der Verdrängung als willkürlich und unklar bezeichnet,
und es ist zuzugeben, daß der Unterschied von Freud nicht
sehr klar herausgearbeitet wurde. Ich sehe in dem Mechanis-
mus der Verdrängung — abweichend von der Annahme der
engeren Freud’schen Schule — etwas Forciertes, Gewaltsames
und nicht Definitives, während die Sublimierung eine harmonische
Umwandlung der Persönlichkeit, etwa wie wir sie bei Goethes
Faust erleben, bedeutet. Dagegen ist die vielgerühmte zweite
Unbefangenheit des Dichters Thomas Mann eine Folge der
Verdrängung und daher auch kein dauernder Schutz, wie der
Dichter selbst in seiner Novelle „Der Tod in Venedig“ dartut.
Sie entspricht etwa der appollinischen Ruhe des zweiten Satzes
der fünften Symphonie Beethovens, dem vorläufigen Sieg über
das, was man gewöhnlich „Schicksal“ nennt, aber sicher nichts
anderes ist als die finsteren Mächte in der eigenen Brust.
Diese melden sich denn auch zu Beginn des dritten Satzes von
Neuem. .Vergeblich sucht hier ein mit Trompetenklängen ein-
setzendes forciertes Scherzo ihrer mächtig zu werden. Erst
die Sublimierung, tiefste Verinnerlichung und Wachsen der
Persönlichkeit zu menschlicher Größe bringt den endlichen
Triumph. Ich empfehle den Psychotherapeuten, die gegen Psycho-
neurosen den Geschlechtsverkehr empfehlen, die Beschäftigung
mit großen Kunstwerken, aus denen für die Psychotherapie viel
zu lernen ist. Gewiß, für die Sublimierung wird ein großer
Teil der Patienten nicht zu haben sein. Bei diesen müssen
wir wenigstens zu erreichen suchen, daß sie es aufgeben, die
Flucht in die Krankheit als Mittel zu benutzen, um seelische
Konflikte auszutragen.
Der letzte Fall bestätigt ebenso wie der erste die Adler’sche
Hypothese von der Bedeutung des Minderwertigkeitsgefühls
152 Saaler: Die Bedeutung d. psychoanalytischen Methoden u. Theorien usw.
als Neurosenbildners und der fiktiven Beschaffenheit von Leiden
zum Zwecke des neurotischen Arrangements, das das Ziel ver-
folgt, wichtigen Entscheidungen aus dem Wege zu gehen. Aber
auch er zeigt wie der erste und die beiden anderen die Be-
ziehungen zur Sexualität.
Ich muß aus meiner Erfahrung sagen, daß es, abgesehen
von den Kriegsneurosen, tatsächlich kaum eine neurotische
Erkrankung gibt, bei der sexuelle Strebungen gar keine Rolle
spielen. Indessen teile ich trotzdem nicht die Anschauung der
Freud’schen Schule, die in der Sexualität die ausschließliche
Quelle neurotischer Erkrankungen sieht. Die Kriegshysterien,
bei denen es mir gelungen ist, die gleichen seelischen Mechanis-
men nachzuweisen, wie wir sie bei den Neurosen aus anderer
Ursache kennen gelernt haben, haben diese Annahme völlig
gerechtfertigt. Der Versuch der Freud’schen Schule, sie in
sexuellem Sinne umzudeuten, muß als durchaus verfehlt be-
zeichnet werden. Vielmehr geschieht die Komplexbildung und
ihre Verarbeitung zu neurotischen Phaenomenen unter dem Ein-
fluß von affektbetonten Strebungen jeglicher Art. Unter unseren
heutigen kulturellen und wirtschaftlichen Verhältnissen
ist der am meisten leidende und am schwersten zu
seinem Recht kommende Affekt trotz seiner elemen-
taren Eigenschaft und trotz seiner keinem Individuum
abzustreitenden Daseinsberechtigung der sexuelle;
seine Durchsetzung findet mehr Konfliktstoff als irgend ein
anderer, und deshalb finden wir ihn in der überwiegen-
den Mehrzahl der Neurosen als treibendes Agens. Im
Krieg dagegen, als es sich um den noch elementareren Trieb
handelte, nämlich um den Selbsterhaltungstrieb, spielten
sexuelle Strebungen naturgemäß kaum eine Rolle. Es geht
aber auch nicht an, zu folgern, nur elementare Triebe wie der
Selbsterhaltungstrieb und der Sexualtrieb besäßen neurosen-
bildende Kraft. Denn hinter den Kriegsneurosen stand keines-
wegs immer der Selbsterhaltungstrieb, oft genügte schon das
Verlangen nach Rückkehr in die häuslichen Verhält-
nisse, nach Ruhe und Bequemlichkeit, um Neurosen ent-
stehen zu lassen, wie ich das in einer früheren Arbeit aus-
geführt habe. Ferner muß darauf hingewiesen werden, daß es
auch zahlreiche Fälle gibt, die sich restlos in das Adler’sche
Schema einfügen lassen, in denen die Sexualität also eine
Saaler: Die Bedeutung d. psychoanalytischen Methoden u. Theorien usw. 153
untergeordnete oder auch gar keine Rolle spielt, in denen viel-
mehr der Machttrieb, der Wille zur Macht dominiert. Daß
die Verschiedenheit der treibenden Motoren weder von Freud
noch von Adler anerkannt wird, ist der einzige Grund für die
Einseitigkeit beider und für die Unmöglichkeit, eine Brücke
zwischen beiden zu schlagen. Wir können nicht einen Fall
nach Freud oder nach Adler analysieren, je nachdem, wie
unsere Stellung zur Psychoanalyse ist. Wir müssen vielmehr
erkennen, daß im einen Fall der Sexualtrieb, im anderen der
Machttrieb herrscht, die Augen aber auch nicht vor der Tat-
sache verschließen, daß Macht- und Sexualtrieb, wie es im
ersten Falle, den ich besprach, klar wird, innig miteinander
verkettet sein können. In diesen Fällen und in anderen brauchen
wir Freud’sche und Adler’sche Lehren, vielleicht sogar noch
einiges mehr, und erkennen, daß jede Einseitigkeit zu Fehl-
schlüssen führt, weshalb es auch immer fehlerhaft ist, wenn
man sich streng. an das Freud’sche oder Adler’sche Schema
hält. Jung, auf dessen Theorien ich mir versagen muß, näher
einzugehen, hat richtig erkannt, daß den Systemen von
Freud und Adler verschiedene Menschentypen zu-
grunde gelegt wurden, und versuchte, durch eine neue
Theorie eine Brücke zu schlagen, die auf beide Menschen-
typen passen soll. Diese Jung’sche psychoanalytische
Theorie kann aber keineswegs den Lehren Freuds und Adlers
als gleichwertig zur Seite gestellt werden, denn sie bringt nach
keiner Richtung hin grundsätzlich Neues. Unüberbrückbare
Gegensätze zwischen Freud und Adler sind überhaupt gar nicht
da. Es ist nur nötig, daß der eine die Lehre von der Sexualität
und der andere die vom Willen zur Macht als der alleinigen
Quelle der Neurose aufgibt. Dann wird sich zeigen, daß die
Lehre Alfred Adlers keinen Gegensatz, sondern eine notwendige
Ergänzung zu der Freud’schen darstellt.
Was ich hier habe vortragen können, bedeutet natürlich
nur einen Querschnitt aus der psychoanalytischen Arbeit. Vieles
mußte unerwähnt bleiben. Gar nicht berührt habe ich — um
nur eines hervorzuheben — die Traumdeutung,*) die eines
der wichtigsten Mittel der psychoanalytischen Technik ist und
ohne deren Kenntnis ein tieferes Verständnis der Neurose im
*) Wir werden darüber eine besondere Arbeit bringen. (Die Schriftleitung.)
154 Saaler: Die Bedeutung d. psychoanalytischen Methoden u. Theorien usw.
Sinne der psychoanalytischen Lehren und insbesondere der
Symbolik, auf die ich mir habe versagen müssen, näher ein-
zugehen, überhaupt nicht möglich ist. Es kam mir aber, wie
ich schon anfangs erwähnte, nicht so sehr darauf an, über
Psychoanalyse zu referieren, als ihre außerordentliche Bedeutung
für die praktische Heilkunde darzutun, Die Psychoanalyse
hat bekanntlich ja ihr Arbeitsfeld schon längst erweitert. Sie
ist nicht mehr nur eine medizinisch-psychologische Methode,
sondern hat sich auf dem Gebiet der Völkerkunde, der Mytho-
logie und Märchenforschung, der Religionswissenschaft, der
Kulturgeschichte und in zahlreichen Zweigen der Soziologie,
insbesondere der Pädagogik in wachsendem Maße Geltung
verschafft, und die Forschung auf diesen Wissensgebieten in
weit höherem Maße beeinflußt als die Medizin. Diese Tat-
sache findet ihre Begründung hauptsächlich in der unzureichen-
den psychologischen und soziologischen Schulung der Ärzte.
Noch immer hat es ein großer Teil der Neurologen nicht be-
griffen, daß Nervenheilkunde nicht nur biologisch orientiert sein
kann; und nur deswegen konnte ich mißverstanden werden,
als ich vor kurzem zum Ausdruck brachte, zu einer gerechten
Würdigung der Psychoanalyse bedürfe es einer geistigen Um-
schaltung in „modernem“ Sinne. Damals machte ein Kollege,
der die Psychoanalyse in Grund und Boden verdonnerte, ge-
kränkt geltend, nichtsdestoweniger ein „moderner Nervenarzt“
zu sein. Allerdings konnte er das mit Recht, denn es waren
ausgezeichnete Anregungen im Sinne der neuesten Forschungen
auf dem Gebiet der Gehirnphysiologie und Pathologie von
ihm ausgegangen. So hatte ich es aber nicht gemeint. Ich
nannte denjenigen „modern“, der über die Grenzen der engeren
Neurologie hinausschaut, der Stimme des Zeitgeists zu lauschen
versteht und es wohl merkt, daß schon eine neue psychologisch
orientierte Nervenheilkunde im Entstehen begriffen ist, die
grundsätzlich andere Wege wandeln wird als die, die noch
heute auf den Universitäten gelehrt wird, und der es zu verdanken
ist, daß weite Kreise von Ärzten und Laien Neurologie und
Psychiatrie als therapeutisch sterilen Boden und ihre tatsäch-
lichen Leistungen als nur schlecht verhüllten Nihilismus werten.
SS
Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 155
BETRACHTUNGEN ÜBER DAS LIEBESLEBEN IN
DER ZEIT DER RENAISSANCE UND DER PERIODE
DER GALANTEN.
Von FERD. FRHR. VON REITZENSTEIN, Dresden.
(Fortsetzung.
II. Eheschließung.
ie schon gesagt, stehen wir in einer großen Zeit voller Tat-
kraft und geistiger Anspannung. Baute die christliche Welt-
auffassung des Mittelalters sich auf einem ausgeprägten
Autoritätsglauben auf, so wurde die neue Zeit ein Tummel-
platz persönlicher Individualität. Die Renaissance ist keine
plötzliche Wiedergeburt, wie man stets glaubte und deshalb
ihren Namen wählte, sie ist ein langsames Wiedererstehen
antiken Denkens, das wie aus einem Zauberschlafe er-
wachte zu einem letzten, gewaltigen Sichausleben. Man schrieb
den byzantinischen Gelehrten dieses Erwecken zu, die bei Be-
drohung von Byzanz durch die Türken nach Italien kamen.
Auch das ist unrichtig; diese Gelehrten des verknöchertsten
Landes, das die damalige Welt kannte, wären gar nicht in der
Lage gewesen, eine solch gewaltige, jugendfrische Bewegung
zu wecken. Als sie kamen, erhob sich schon allenthalben aus
den Trümmern der immer noch gewaltige Geist der Antike,
der sich rasch in die neue Zeit fand, ihr aber ebensoschnell
seinen Stempel aufdrückte. Er war erwacht, da die Betäubung,
die die christliche Hypnose über die Menschheit gelegt hatte,
wie ein Alpdruck verschwand. 1438 traf der Platoniker Temistios
Plethon als erster Byzantiner ein; er konnte weiterbauen auf
den mächtigen Fundamenten, die er bereits fand, und ohne die
er nichts erreicht haben würde. Die Wiedergeburt des mensch-
lichen Individualismus schuf den Humanismus, der die Person
züchtete und mit jugendfrischer Kraft die düsteren Fesseln der
hierarchischen Asketik zersplitterte. Die christliche demütfige
Selbsterniedrigung, die Sklavennaturen gezeitigt hatte, machte
einem Gefühle persönlichen Wertes Platz. Nun brach
Stein um Stein vom Turme der Scholastik, und mit der Los-
trennung der exakten Wissenschaften von der Theologie stürzte
die scholastische Weltanschauung nach und nach zusammen
und neues Leben blühte aus den Ruinen. Daß der Renaissance
nur eine kurze Dauer beschert sein konnte, war klar, denn
156 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben
immerhin war sie eben das Sichausleben der antiken Welt,
das sie in einen gewissen Gegensatz zur Natur brachte. Dieses
Naturgefühl, diese Romantik im weitesten Sinne des
Wortes, erwuchs unter ihrem Schutze zu einer freien Geistes-
richtung, und wenn sie auch nie zu wirklicher Kraft gelangte,
so war sie doch stark genug, um die gänzlich verflachten Aus-
läufer der Renaissance zu beseitigen. Ihre größte Macht-
entfaltung war eigentlich die deutsche Gotik, die die Renaissance
gewaltsam unterbrochen hatte, aber, wie eben gesagt, ihren
Grundgedanken bewahrte sie auf. Aus der Sphäre dieses ur-
deutschen Empfindens, das die Renaissance eben großgezogen
hatte, entwickelte sich Luther I. Er stellt den Höhepunkt jener
für Deutschland charakteristischen Mischung germanischen Natur-
lebens und antiken Eigenlebens dar, eine echt deutsche Gestalt.
War er es nicht, so wäre es ein anderer gewesen, der den
Bruch zwischen Germanentum und Romanentum vollzogen hätte,
denn auch das kam nicht plötzlich; auch das war längst vor-
bereitet. Leider aber hatte dieser Luther eine Doppelgestalt,
der wertvoll jugendliche Luther machte bald dem alten Luther
Platz, der mehr und mehr den gesunden Standpunkt verließ
und so den Protestantismus nicht zu einer „deutschen“
Renaissance auf deutscher Grundlage werden ließ. Im kirch-
lichen Rechte streiten beide Auffassungen von allem Anfang
an miteinander, und gerade die Renaissance mit ihrer Indivi-
dualisierung war es, die das Germanentum zur Verteidigung
zwang. 1517 war es, als Luther die Thesen an die Schloß-
kirche zu Wittenberg schlug und damit die Trennung zweier
Weltauffassungen auch äußerlich kennzeichnete. Diese
Trennung betraf auch die Ehe. Luther sah tief. Er wollte sie
ihrem ursprünglichen Zwecke zurückgeben, wollte sie befreien
von den Schlinggewächsen, die aus dem sakramentalen
Boden um sie gewuchert waren und sie zu ersticken drohten.
Er hatte hier wie auch sonst die beste Absicht; auch die
Religion sollte ihm lebend werden — eine Parallele zur wissen-
schaftlichen Erkenntnis der Zeit, kein totes Dogma. Frei-
lich erreichte er das nicht. Wohl hatte er das religiöse Leben
nach dem damaligen Wissensstande gereinigt; aber Luther Il
und seine Nachfolger hätten in diesem Sinne fortfahren sollen
— sie taten es nicht. Man blieb auf jener Zeitauffassung
stehen, anstatt fortzuschreiten, und so unterscheidet sich der
Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 157
heutige orthodoxe Protestantismus eigentlich nur darin vom
Katholizismus, daß seine Dogmen um einige Jahrhundert jünger
sind! Das gilt besonders auch von der Ehe; bei der noch alles
Abb. 1. Der Besuch des Liebhabers
zeigt den Geist des Liebeslebens in der Renaissance.
mehr oder weniger beim alten geblieben ist. Wir haben in
„Liebe und Ehe im Mittelalter“ *) gesehen, wie die Kirche all-
mählich die Ehe in ihre Hand bekam; nachdem sie sie
*) F. Frhr. v. Reitzenstein, Liebe und Ehe im Mittelalter.
Stuttgart 1912.
158 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben
frühzeitig hatte für ein Sakrament erklären lassen, als sie
dabei Siegerin in einem langen Streite geblieben war. Wir
sehen aber, daß sie, unter germanischem Einflusse stehend, als
eheschließendes Moment den Beischlaf ansprach, wenn
sie auch an Stelle der elterlichen Genehmigung als. zweitwich-
tigsten Punkt die Willenserklärung der beiden Nup-
turienten setzte. Ihre Mitwirkung beim Eheabschluß hatte
sie nur als einen freiwilligen Segen anerkannt. So hatte das
Nichtbeachteri der kirchlichen Vorschriften auch keinen Ein-
fluß gehabt auf die Giltigkeit der Ehe, die immer zu Recht
bestand, wenn eben Beischlaf und Willenserklärung stattgefunden
hatten. Freilich wünschte die Kirche den Segen schon sehr
früh, setzte auch kirchliche Strafen darauf, wenn jemand sich
nicht fügen wollte, aber, und das ist wichtig: der Priester
segnete nur die bereits geschlossene Ehe ein. Die Ehen
waren also heimlich gewesen oder konnten es sein; es war
also auch keine durchgreifende Kontrolle möglich, ob nicht da
oder dort eine Doppelehe vorlag oder Blutsverwandtschaft
zwischen den Ehegatten bestand. Deshalb forderte die Kirche
zunächst öffentliche Eheschließung; freilich war dies mehr
der äußere Grund, denn die wirkliche Grundlage dieser For-
derung entsprang der Erkenntnis, daß man mit der Eheschließung
einen gewaltigen Einfluß auf das Familienleben erlangen
könnte. Die durch den Willen der Brautleute und den Bei-
schlaf geschlossene Ehe sollte durch den Priester öffentlich
eingesegnet werden, und das vierte lateranische Konzil (1215)
war bereits einen Schritt weitergegangen, als es die Einsegnung
durch den zuständigen Pfarrer forderte. Wurde das einmal
durchführbar, so war damit ein gewaltiger Schritt getan, da
die Kirche so eine äußerst genaue Kontrolle in den Händen
hatte. Vorläufig war es natürlich lediglich kirchliches Gebot,
dem die weltliche Macht ihren Arm nicht lieh. Die Ehe war
trotzdem giltig (validum), wenn sie auch unerlaubt (illicitum)
war. Die Trauung war also immerhin in den Kreis der Kirche
gezogen, wenn sie auch noch formlos blieb, als Luther auf-
tra. Vom Zölibat der Priester ausgehend, für den er, da
er ja gerade den Hierarchismus bekämpfte, keine Verwendung
hatte, trat er vor allem dem sakramentalen Charakter der Ehe
entgegen, den man unterdessen vollständig zur Geltung gebracht
hatte. Luther war nicht der erste, der den Zölibat bekämpfte;
Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 159
ja, wie wir gesehen haben, bestand dieser in der alten Kirche
nicht zu Recht. Der krankhafte Zug gegen die Ehe geht, wie
wir sahen, vom Paulinismus aus, der ihn wohl aus der
griechischen Philosophie übernommen hat, und kommt im
2. Jahrhundert mehr und mehr zum Durchbruch. Die Synode
von Elvira (306) fordert dann bereits Ehelosigkeit von den
höheren Priestern, uud zwar eigentlich deshalb, damit diese
von weltlichen Einflüssen frei wären und um so bessere Werk-
zeuge des päpstlichen Hierarchismus abgeben könnten, der
Abb. 2. Zeigt die sexuelle Entspannung in den großen Badeorten.
damals schon schüchtern hervortritt. Das Konzil zu Nizäa hatte
sich zwar gegen das Verbot entschieden, aber die Synode von
Gangra (343) führt es strenger durch. Dieses Bestreben der
Kirche wurde im Kampfe zwischen Kaiser und Papst eine der
Hauptwaffen, denn Gregor VII, erblickte mit Recht darin den
besten Weg, sich in der Geistlichkeit willenlose Werkzeuge zu
schaffen, die seinem Machtgelüste den Weg ebrien helfen konnten.
Kalixtus II. (1119 und 1123), dann Jnnozenz Il. (1139) er-
klärten sodann alle Priesterehen für ungiltig, und das Konzil
zu Trient bestätigte dies. Diese Durchführungen waren natür-
160 Reitzenstein; Betrachtungen über das Liebesleben
lich nicht ohne Kampf gelungen, und stets und zu jeder Zeit haben
sich vernünftig und rechtlich denkende Naturen dagegen aufgelehnt.
Um nur die Zeit kurz vor Luther zu streifen, sei eine Stelle
aus dem für seine Zeit epochemachenden Werke Albrechts von
Eyb (* 1420, + 1475): „Ob einem Mann sey zu nemen ein
eeliches weyb oder nit“, das 1472 zuerst in Nürnberg erschien,
angeführt. Er betrachtete die Ehe bereits wieder mehr vom
natürlichen Standpunkte, freilich haftet er dabei noch immer
an dem patristisch-scholastischen Standpunkt, daß sie auch zur
Vermeidung von „Unkeuschheit“ zu schließen sei. Er schreibt:
„Vn mugen nit werde auffenthalde vnd gemeret dann durch ver-
mischug des mannes mit der frawe dieselben vermischug hat got gesatzt
in de paradeiß in gestalt der heiligen ee. Darumb ist eim manne zu
nemen ein weyb auch durch vrsachen das die welt mit menschen er-
füllet die menscheit geewigt ein geschlecht vn name gemert vn die sünde
der vnkeuscheit vermide werde.“ ?
Dies ist im wesentlichen auch der Standpunkt Luthers 1,
obwohl dieser bereits zu fühlen beginnt, daß die Liebe die
eigentliche Grundlage zu bilden hätte. Noch trennt er
aber nicht den individuellen Geschlechtstrieb vom un-
bewußten Kinderzeugungstrieb, aber es war ein ganz
gewaltiger Fortschritt, daß er wenigstens diesen ein Hauptmotiv
für die Eheschließung sein ließ, und ihn mit Essen und Trinken
gleichstellte. Er sagt:
„Ein Weib, wo nicht die hohe seltsame Gnade da ist, kann eines
Mannes ebensowenig entrathen, als essen, schlafen, trinken und andere
natürliche Notdurft. Wiederum also auch ein Mann kann eines Weibes
nicht entrathen. Ursach ist die: es ist ebenso tief eingepflanzt der Natur,
Kinder zeugen als essen und trinken. Darum hat Gott dem Leib die
Glieder, Adern, Flüsse und alles, was dazu dienet, geben und eingesetzt.
Wer nun diesem wehren will und nicht lassen gehen, wie Natur will
und muß, was tut er anders denn er will wehren, daß Natur nicht Natur
sei, daß Feuer nicht brenne, Wasser nicht netze, der Mensch nicht esse
noch trinke noch schlafe.“
Hätte Luther schon unsere moderne sexualpsychologische
Kenntnisse vor sich gehabt, er würde sicher geschrieben haben:
er ist ebenso tief eingepflanzt, der Natur geschlechtliche Ver-
einigung zu suchen — — denn nur dieser Begriff steht auf der
gleichen Stufe mit dem Trieb zu essen und zu trinken. Es gibt
nicht selten jemand, der nur deshalb ißt und trinkt, weil er seinen
Körper erhalten will, sondern weil er das Hunger- und Durstgefühl
befriedigen und damit sein Wohlbefinden sichern will. Ebenso
ist es mit dem Vereinigungstrieb. (Fortsetzung folgt.)
Geschlecht und Gesellschaft,
Neue Folge XI, 6
Tafel I
Wenerew ffraff nie bringer frische /
Der Pompe dict iñ def meyfters sucht.
Def werck und zeug wirt bie ange3cYgt/
Wol dem der fich 3ú cugene neygt-
man mifschac peinlich ftraffen foll.
Үгет fo jemandr den gemeinen gefcbziben A echten nach, durch eyn ve
срез handlung das lebe verwircht hatımag ma nach gütter gewonbeye/ oder nach
ordnung eyns güecen rechruerftcndigen Richters fo gelegenbeye on ergernuf
derübelchar ermeflen Fan die form vn weife derfelben rödrung halten vn virer
len/aber in fällen darumb(oder derfelben gleiche )die gemein Reyferliche recht
nic fegen /oder zitlaflen sjemande zum code züftraffen , haben wir in difer vnfer
ordnung auch Feynierley codrftraff gelenr/aber ın erlichen mißrhaten laifen di:
rccbe peinlich itraffe am leib oder glıdern 34 /damir danneft die geftraffcen by
dern Ichen bleiben mögen Diefelben ftraff mag man auch erfenien vnd gebrau
chen nach gürser gewonbeye deb landes /oder aber nach ermeflung eyns gieen
Eine Seite aus der Bambergischen Gerichtsordnung von 1538.
RR RAR RR 3
TE NC NAV
HOHOROHOHONONOHOHONOHOHOROHOT
5
SEXUAL-VERGEHUNGEN UND IHRE AHNDUNG —
VOR DREIHUNDERT JAHREN.
Von Justizrat Dr. ROSENTHAL, Breslau.
р“ Geschichte des sogenannten „Strafrechts“ ist nichts als
eine Kette von grauenhaften Verirrungen in der Entwicklung
des menschlichen Geistes. Worauf, d.i. auf welchen Rechts-
grund, das vermeintliche Recht des Staates, zu strafen, sich
in Wahrheit gründe, ist unter den Gelehrten allezeit streitig
gewesen und niemals überzeugend dargetan worden. Vielleicht,
ja sicher wird eine nicht zu ferne Zeit ein solches Strafrecht,
d. i. in dem Sinne, daß der Staat oder sonst Jemand das
„Recht“ habe, Übel um ihrer selbst willen — gleichviel
zu welchen Zwecken — über einen vermeintlichen Missetäter
zu verhängen, überhaupt nicht kennen. Künftige Jahrhunderte
werden unsere „Zuchthäuser* und „Gefängnisse“ nicht mit
anderen Augen ansehen, wie wir die Folterkammern ver-
gangener Jahrhunderte. Die Rechte des Staates werden sich
durchaus darin erschöpfen, denjenigen, der die festgesetzte
Ordnung bricht, zu „erziehen“ und, soweit erforderlich, die
Gesellschaft vor weiteren Rechtsbrüchen zu „schützen“.
Bisher ist das sogenannte „Strafrecht“ stets ein Kind seiner
Zeit gewesen, die all deren Mängel und Schwächen, die ganze
Unvollkommenheit der menschlichen Geistesverfassung poten-
ziert zur Erscheinung gebracht hat. Das Gegenwärtige nehmen
wir, wie fast überall, so auch auf diesem Gebiete als not-
wendig und selbstverständlich ohne viel Nachdenken hin.
Rückblickend selbst auf eine gar nicht ferne Vergangenheit
müssen wir erschauern vor den Sinnlosigkeiten und Grausam-
keiten, welche der Staat, die Gesellschaft, in Form der „Straf-
justiz“, im Namen einer vermeintlichen „heiligen“ Gerechtigkeit
verübt hat. Nicht umsonst hat Themis die Binde vor den
Augen. Blind und zweckwidrig hat die menschliche Gesell-
schaft gegen ihr eigen Fleisch und Blut, gegen Vernunft und
Menschenwürde gewütet. Wir möchten hier nur als Beispiel
11
162 Rosenthal: Sexual-Vergehungen u. ihre Ahndung — vor 300 Jahren
an die Inquisition und Glaubensverfolgungen, an die Tortur,
an die Fülle von allergrausamsten Todesarten, an Teufels-
glauben und Hexenverbrennungen usw. erinnern, die sich bis
tief in das achtzehnte Jahrhundert hineingezogen haben. Wer
ein Beispiel aus neuerer Zeit für die Auswirkung des „Straf-
rechts“ sich vor Augen führen will, lese etwa — ein Doku-
ment für Tausende — Dostojewski’s: Aus dem Totenhause,
um schaudernd zu erfahren, welche Qualen und Leiden sinn-
und gedankenlos oder mit sadistischem Behagen über wehr-
lose Menschen verhängt, welche Unsummen an Lebenswillen
und Lebenskräften im Namen der staatlichen Gerechtigkeitspflege
nutzlos aufgerieben und zugrunde gerichtet wurden und werden.
Gewiß, das Streben „gerecht“ zu sein, „gerecht“ zu
strafen, findet sich zu allen Zeiten, bei allen. sogenannten
Kulturvölkern. Aber was ist „Gerechtigkeit“? Alle Zeiten
hatten wohl die Idee einer höchsten, sei es göttlichen,
sei es sonst absoluten „Gerechtigkeit“ Sieht man aber
näher zu, so zerfließt dieser Begriff. Eine absolute Gerechtig-
keit gibt es in menschlichen Verhältnissen eben nicht; es bleibt
nur etwas Relatives — eine Gerechtigkeit, die sich wandelt,
die den Umständen und der jeweiligen Erkenntnisstufe sich
anpaßt. Jedes Volk hat seine eigene Gerechtigkeit; ja, in der
Regel zugleich zwei Arten hiervon. Die eine, sozusagen
volkstümliche, die praktisch zur Geltung gelangt und — den
Interessen und Wünschen der herrschenden Klassen weit ent-
gegenkommt; sie hat im geltenden Gesetzeswerk, in Sitte und
Rechtsprechung ihren Niederschlag gefunden. Die andere:
Die ideelle Gerechtigkeit, wie sie in den Köpfen und Herzen
nur Weniger, der Besten und Weisesten der Zeit, vorgestellt
wird. Das aber ist vielleicht die „praktische“ Gerechtigkeit
einer kommenden Zeit, dazu bestimmt, wiederum von einer
höheren, zunächst nur ideellen Gerechtigkeit überwunden und
abgelöst zu werden.
Langsam und zögernd, Schritt um Schritt, weicht die ver-
altete und überlebte Gerechtigkeitspflege der neu sich bildenden
Gerechtigkeitsidee. Sie erscheint denen, die diese Idee in sich
aufnehmen, als „ewige Krankheit“, die sich von Geschlecht
zu Geschlecht vererbt. In ihrer praktischen Anwendung wird
sie immer stärker als schreiendes Unrecht gegen die Lebenden
und ihre berechtigten Ansprüche empfunden und — gebrand-
Rosenthal: Sexual-Vergehungen u. ihre Ahndung — vor 300 Jahren 163
markt: fiat justitia, pereat mundus! Schließlich aber siegt das
Leben und die stetig fortschreitende Entwickelung.
Galt es einst für billig und recht, „Rache“ zu nehmen für
erlittene Unbill — nicht nur am Übeltäter, sondern am Stamme,
dem er zugehört, an der ganzen Familie, an Kindern und Kindes-
kindern (Blutrache); übernahm später der Stamm, der „Staat“
die Ausübung dieser „Rache“, die Bestimmung ihres Maßes,
so galten zu anderen Malen die „Vergeltung“, — die ihren
praktisch rohesten Ausdruck in einer buchstäblich genommenen,
aber grausamst verzerrten „Talion* fand (Aug’ um Auge, Zahn
um Zahn etc.) — oder ferner die „Abschreckung“ oder die
„Besserung“ des Übeltäters oder die Herstellung der verletzten
Ordnung oder die Unschädlichmachung des Ordnungsbrechers,
der Schutz der Gesellschaft u.a.m. als die „wahrhaften“ Prin-
zipien der strafenden „Gerechtigkeit“. Und ebenso wechseln
mit den Zeiten die Anschauungen über die Strafbarkeit ge-
wisser Handlungen überhaupt und mehr noch über den Grad
ihrer Strafbarkeit. Hochverrat und Landesverrat hängen in ihrer
Strafwürdigkeit durchaus von der Auffassung des „Staates“ ab.
Spionage gilt dem eigenen Volke als verdienstlich, dem feind-
lichen dagegen als todeswertes Delikt, ganz zu schweigen von
dem straflosen Massenmorden und den anderen Verbrechen,
die der Krieg heraufbeschwört und zu verdienstlichen Hand-
lungen stempelt. Auf dem Gebiete des Geschlechtslebens bleibt
die Vergewaltigung der eigenen Ehefrau straffrei, während
homosexuelles Verhalten (unter Männern) und „Bestialität“
(Sodomie), früher todeswürdige Verbrechen, auch jetzt noch
mit entehrenden Strafen belegt werden. Auch sei an den
Wandel der Anschauungen hinsichtlich der Strafbarkeit des
außerehelichen Verkehrs, hinsichtlich der Abtreibung etc. hier
kurz erinnert.
Wir müssen uns bescheiden, jede Zeit nach Maßgabe ihrer
beschränkten Erkenntnis, ebenso aber auch die unsere nach
Maßgabe unserer Einsicht die beste Gerechtigkeit suchen zu
lassen. In diesem Sinne müssen wir auch die harten, grau-
samen Strafen vergangener Jahrhunderte, ihre Vorurteile und
Irrtümer, ihre verfehlten Methoden der Wahrheitsfindung immer-
hin als Ausfluß ihres Suchens und Strebens nach der „gerechten“
Strafe hinnehmen.
Die Strafrechtspflege der Gegenwart durchdringt sich mehr
11*
164
Rosenthal: Sexual-Vergehungen u. ihre Ahndung — vor 300 Jahren
Abb. 2. Zuchthaus für männliche Sträflinge (Amsterdam).
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Rosenthal: Sexual-Vergehungen u. ihre Ahndung — vor 300 Jahren 165
Abb. 3. Holzraspeln als Beschäftigung für männliche Sträflinge 1663.
und mehr mit humanen und sozialen Rücksichten zugunsten
des „Delinquenten“. Sie zeigt in ihrer Entwicklung deutlich
die Tendenz, sich selbst — in dem oben gedachten Sinne:
durch allmähliche Umwandlung der „Strafe“ in Maßnahmen
der Erziehung und Sicherung — überflüssig zu machen. Doch
geht diese Entwickelung naturgemäß und im Zusammenhang
mit dem ihr zum Teil noch stark widerstrebenden Volks-
empfinden nur sehr langsam von statten. Ein Blick in die
Vergangenheit, deren Strafrechtspflege humane Gesichtspunkte
allgemein betrachtet noch nicht aufkommen ließ, läßt deutlich
genug die brutale Auffassung der Zeit, die Wahnvorstellungen,
die sie beherrschen (z. B. Teufels- und Hexenglaube, Liebes-
zauber, Brunnenvergiftung, Gottesurteil und Folter als Beweis-
methoden etc.) und insbesondere — am Erfolge gemessen —
die Sinn- und Zwecklosigkeit der grausamen Strafverhängung
erkennen, Er sollte freilich auch zur Einkehr in uns selbst
und zur Einsicht führen, daß auch wir, so „herrlich weit“ wir
es gebracht haben mögen, doch in Irrtümern befangen danach
streben müssen, diese zu erkennen und zu überwinden. Immerhin
bietet auch die Geschichte der Strafrechtspflege den Trost,
166 Rosenthal: Sexual-Vergehungen u. ihre Ahndung — vor 300 Jahren
daß in der praktischen Übung vielfach menschliches Verstehen
und mitfühlendes, redliches Wollen die oft unmenschliche Grau-
samkeit, die strengen, vorurteilsvollen Strafvorschriften zu mildern
und abzuschwächen versucht hat.
Besonders eindringlich treten auf dem Gebiete der so-
genannten geschlechtlichen Vergehungen diese Er-
scheinungen zutage: Die Abhängigkeit des Strafsystems von
dem Geist und der Auffassung — von den Irrtümern — der
Zeit, andererseits die Zähigkeit, mit der an veraltenden und
überlebten Vorurteilen, ja Wahnvorstellungen festgehalten wird.
Ob die Heraushebung dieser Vergehungen, die unser geltendes
deutsches Strafgesetzbuch zusammenfassend als „Verbrechen
und Vergehen wider die Sittlichkeit“ in einem besonderen Ab-
schnitt rubriziert, berechtigt und angebracht ist, ist hier nicht
zu erörtern. Nur ein kleiner Ausschnitt dieses Gebiets aus
der Rechtsübung vergangener Zeiten soll aus rechts- und kultur-
7
SE
Abb. 4. Szene vor dem Richter 15. Jahrh. (Aus dem mittelalterlichen Hausbuch).
Links Kläger, rechts Verbrecher vom Häscher gehalten.
Rosenthal: Sexual-Vergehungen u. ihre Ahndung — vor 300 Jahren 167
geschichtlichem Interesse im folgenden an einigen Beispielen
beleuchtet werden.
Das ehemalige „Stadtgericht“ zu Breslau, bereits im
13. Jahrhundert begründet, ist im Mittelalter und darüber hinaus
zu hohem Ansehen gelangt. Zahlreiche Fürsten, Städte, Kor-
porationen, auch Private, insbesondere adlige Gerichtsherren,
denen damals die Jurisdiktion in einem gewissen Bezirke zu-
stand, haben von diesem Gerichte sich Rechtsbelehrungen in
bürgerlichen und kriminellen Streit- und Zweifelsfragen — gegen
die festgesetzten „Sporteln*“ — geholt. Vielfach ist hierbei das
Breslauer Stadigericht bzw. der dort eingesetzte „Schöppen-
stuhl“, indem die Ratsuchenden sich seinem Spruche unter-
Abb. 5. Schöppenstuhl nach Diebold Schilling Schweizerchronik (1507—13) Luzern.
warfen, „Oberhof“ gewesen und hat als solcher die Urteile in
den ihm vorgelegten Rechtssachen gefällt. Über diese, meist
sehr eingehend verhandelten Rechtssachen wurden Verzeich-
nisse und Bücher geführt, von denen das Stadtarchiv zu Breslau
noch eine Anzahl bewahrt; u. a. eine Handschrift in Quart mit
der Überschrift: „In nomine Sacrosanctae et individuae Trini-
tatis, Verzeichnis etzlicher Fälle, so in der Schöffenstuben zu
Breslau vorgelaufen und wie sie decidiret worden“. Sie ent-
hält 262 „Responsen“ teils zivil-, teils strafrechtlichen Inhalts
168 Rosenthal: Sexual-Vergehungen u. ihre Ahndung — vor 300 Jahren
aus dem Anfange des 17. Jahrhunderts. Einige, Delikte ge-
schlechtlicher Art betreffende Fälle sollen im folgenden mit-
geteilt*) und besprochen werden.
In den „Responsen“ ist u. a. mehrfach die sogenannte
„Sodomie“ abgeurteilt. Diese wird nach unserem geltenden
Strafrecht — § 175 R. St. G. B. — als „widernatürliche Un-
zucht“ in gleicher Reihe mit der „Päderastie“, mit Gefängnis-
strafe — evtl. unter Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte —
bedroht. Wie sehr und mit wie starken Gründen die Be-
strafung der letzteren von der neueren Wissenschaft und Ein-
sicht beanstandet wird, ist bekannt. Aber auch für die Straf-
barkeit der Sodomie als solcher, des Verkehrs von Menschen
mit Tieren, als eines geschlechtlichen Deliktes, d. h. als
einer Verletzung der geschlechtlichen Ehre oder Unversehrtheit
eines Anderen, fehlt es an jedem vernünftigem Grunde. Sie
wird zumeist mit einem größeren Tiere, einer Kuh, einem Kalbe,
einem Pferde etc. vorgenommen und von einem jugendlichen,
meist ganz oder halb blöden Menschen verübt, der in dem
unwiderstehlichen, dunklen Drange seines Triebes auf diesen,
durch die Gelegenheit sich bietenden Ausweg geführt wird.
Das ist gewiß weder geschmackvoll noch empfehlenswert.
Aber ein „Verbrechen“? Die Handlung kann unter Umständen
zur Tierquälerei ausarten oder bei nicht genügender Vorsicht
den öffentlichen Anstand verletzen, dann auch insoweit — im
Rahmen unseres heutigen Rechts — als strafbar erscheinen.
Hiervon abgesehen verletzt sie kein wesentliches Rechtsgut,
ist sie strafrechtlich durchaus irrelevant. Das benutzte Tier
wird in der Regel weder geschädigt noch irgendwie beein-
trächtigt werden, der zu dieser Form der Triebbefriedigung
schreitende Mensch ist rechtlich kaum anders anzusehen, als
wenn er — die doch nirgends strafbare — Onanie betriebe.
Im Gegensatz zu der heute wesentlich milderen Anschauung
bedrohte die „Peinliche Gerichtsordnung“ des Kaisers Karl V.,
die sogenannte „Karolina“, 1532 zum Reichsgesetz erhoben,
die „Unzucht von Mensch und Vieh“ — zweifellos unter dem
Einfluß der strengen biblischen Verpönung (Sodom und
*) Nach Dr. Frauenstädt: „Strafrechtliche Breslauer Schöffensprüche
aus den Jahren 1600 bis 1603“ in der Zeitschrift f. d. ges. Strafrechts-
wissenschaft, Bd. 26, S. 50 ff.
Rosenthal: Sexual-Vergehungen u. ihre Ahndung — vor 300 Jahren 169
Gomorrha) — mit dem Feuertode! Die gleiche „Strafe“ trifft
auch das beteiligte Tier!
In einem Falle (no. 35) unserer Handschrift hat ein Stall-
junge, 18 Jahre alt, „mit einer Kuhe zu tun gehabt, welches
er auch gestanden“. Die am 23. Juli 1601 gefällte Entscheidung
geht dahin, daß „der Sodomit mit dem Schwert gerichtet und
Abb. 6. Gerichtssitzung (Holzschnitt von Hans Burgkmair (1472—1531). Lauter Ver-
brecher in Halseisen vorgeführt. Im Hintergrund die Strafen: Rädern, Hängen. Pfählen,
Ertränken, Enthaupten, Verbrennen.
hernach sambt der Kuhe andern zur Abscheu zu asche ver-
brannt werde“. Dabei hat ihm nur sein jugendliches Alter
zur Milderung der Todesart verholfen, — „alias hatte er sollen
lebendige verbrannt werden“.
Nicht so klar liegt ein weiterer Fall (no. 201). Da ist ein
Mann Namens George Walther beschuldigt „mit seines lebendi-
gen Eheweibes Schwester in Unehren zu thun gehabt zu haben“.
170 Rosenthal: Sexual-Vergehungen u. ihre Ahndung — vor 300 Jahren
Er wird auf die Folter gespannt und bekennt nun nicht allein
dieses Vergehen, sondern — „bekennt auch, daß er mit einer
Stuten zu thun gehabt; ob er aber woll im Werk gewesen, so
hab ers doch nicht vollbracht, weil sich die Stutte gewendet“.
Quaeritur, quid juris? (vgl. Tafel II).
Der Arme wird nochmals gefoltert und bekennt nun, „daß
er die viehische Unzucht mit der Stutten ganz vollbracht habe,
ita ut semen demiserit, quod tamen in terram concidit“....
Das Urteil — vom 26. Juli 1602 — übergeht dann ganz das
Vergehen, dessen der Delinquent ursprünglich beschuldigt war
(Verkehr mit der Schwägerin). Es lautet dahin, daß der An-
klagte, wenn er auf „seinem Bekenntnuß verharre... nach
Scherffe der rechte von wegen seines zugestandenen viehischen
Schandlasters.... mitsamt der (Stute), mit welcher er die that
vollbracht, andern zum abscheulichen Exempel mit dem feuer
vom Leben zum Tode bracht uud also gerichtet werden solle“,
Es macht den Eindruck, als ob der bedauernswerte De-
linquent, von Natur nicht sehr standhaft, in der Tortur auch
sonst alles, was man ihm untergeschoben oder von ihm ge-
wünscht hätte, „zugestanden“ haben würde.
Anders als die neuere Zeit stellten sich frühere Jahrhunderte
zur außerehelichen Geschlechtsgemeinschaft lediger
Personen. Im römischen Recht ist die Strafbarkeit auf das
stuprum — die Schwächung einer Jungfrau oder Wittwe von
ehrbarem Wandel — beschränkt, während die fornicatio, der
Geschlechtsverkehr als solcher, straffrei blieb, und das Kon-
kubinat, bei uns als „wilde“ oder „freie“ Ehe bezeichnet, als
durchaus sittlich betrachtet und sogar begünstigt wurde. Die
germanische Auffassung ging ursprünglich dahin, die Schwächung
einer ledigen Frauensperson als eine Wertminderung, die
dem Gewalthaber zu vergüten war, anzusehen. Noch nach
dem Schwäbischen Landrechte muß der stuprator einer Jung-
frau — „ihrem Vater 100 Mark Silbers geben und soll die
Jungfrau zu rechter Ehe haben, dieweile sie lebt“. Späterhin
machte sich der Einfluß der Kirche und des Kirchenrechts
geltend. Im Mittelalter rügten die Geistlichen allgemein den
außerehelichen Beischlaf — und zwar schon als solchen, nicht
bloß das stuprum — durch Kirchenbußen, mitunter in gar un-
passender Form. Die Carolina überging diese Sache mit Still-
schweigen, daher herrschte hiernach hinsichtlich der Frage der
Rosenthal: Sexual-Vergehungen u. ihre Ahndung — vor 300 Jahren 171
Strafbarkeit große Verwirrung. Die gemeinrechtliche Praxis
hielt sich für befugt, jeden außerehelichen Verkehr, außer dem-
jenigen mit konzessionierten Personen, nach Gutdünken —
bald mit Geldbußen, bald mit Gefängnis etc. — zu bestrafen.*)
Der Breslauer „Schöppenstuhl“ stellt sich in no. 129 der
Entscheidungen auf den grundsätzlichen Standpunkt, daß der
Geschlechtsverkehr eines ledigen oder verwitweten Mannes mit
einer ledigen Weibsperson an beiden nur mit „Verweisung“ zu
strafen sei, auch wenn das Delikt wiederholt vorgekommen
sei. Es kommen im Einzelnen aber doch in der so viel-
gestaltigen Praxis auf diesem Gebiete mancherlei Modifikationen
zur Geltung. So haben im Falle no. 78 Vater und Sohn mit
der gleichen „ledigen Vettel“ zu tun gehabt. Der Alte wird
zu Staupenschlägen und „ewiglicher“ Verweisung, der Junge
nur zu einfacher Verweisung verdonnert. Auch die „Vettel“
muß daran glauben, man nimmt aber Rücksicht auf ihren
schwangeren Zustand. Sie erhält die gleiche strenge Strafe
wie der Alte, soll aber erst „nach abgelegter weiblichen Bürden
und Ausgang ihrer Sechswochen Zeit zur staupen geschlagen“
werden. In einem anderen Falle hat ein „Ehemann mit nahmen
Pioch“ (no. 40) eine ledige, aber blinde Weibsperson ge-
schwängert. Erschwerend fällt gegen ihn ins Gewicht, daß er
„des nachts nicht bei seinem Weibe, sondern im Beinhause,
auf den Beinen stets gelegen, et sic deseruit conjugem“. Urteil
vom 4. August 1601 ergeht dahin, „daß der Ploch solle zur
staupen geschlagen, die Dirne aber verwiesen werden solle“,
Klatsch und üble Nachrede scheinen schon zu da-
maligen Zeiten, nach der Häufigkeit der Fälle zu urteilen, sehr
im Schwange gewesen zu sein. Die angebliche Verleumdung
einer verlobten „Jungfrau“, Christiana Jacobi, wegen deren ihr
Vater die kriminelle Beleidigungsklage erhebt, wird an dem
Beleidiger, — dem Barbiergesellen Adrian Albinus Guttmann
von Dresden, — der „vielmahl* mit ihr Unzucht getrieben zu
haben behauptete, damit geahndet, daß er „nach erlittenem
gefängniß (Untersuchungshaft) deß Orts ewiglich verwiesen
werden solle“ Das Gericht hat die Zeugen nicht-eidlich ver-
nommen; diese haben u. a. bekundet, „sie hetten Albinus und
Christianam offt mit einander gesehen sich küssen, herzen,
*) Vgl. Berner, Deutsches Strafrecht, Leipzig 1882, $. 4221.
172 Rosenthal: Sexual-Vergehungen u. ihre Ahndung — vor 300 Jahren
löffeln, in ein gemach allein gehen, auff die ruines zusammen
steigen“. Man hat daraufhin „nur Löffelung, die begangene
Unzucht aber nicht“ als erwiesen angenommen und ist einen
„linderen weg“ gegangen. Das Gericht fällt hierbei die be-
merkenswert verständige Sentenz: Aus dem Zeugnis hat man
befunden, daß die Dirne nicht gar unschuldig sey,... diffamaus
wird gleichwoll gestraft“. Die Christian selbst zu vernehmen,
wie vorgeschlagen war, hat das Gericht, weil man ihr doch
nicht glauben könne, abgelehnt. Schließlich heißt es: „Unus
et alter ex dominis (Schöppen) putabat, man möchte sie be-
sichtigen. Sed non placuit“,
In einem ähnlichen Falle (similis casus) rühmt sich ein
lediger Geselle Balzer Scholze, er habe einer Jungfer, die einem
andern zugesagt (verlobt) war, „gar vielmahl dran grieffen“.
Ein Zeuge bekundet den recht verdächtigen Umstand, „daß er
gesehen, daß Balzer Scholz die handt untter der Jungfer Schürz-
tuch gehabt“. Scholz habe gesagt, „er suche sein Ringlein,
das er verloren; die Jungfer hätte es ihm genommen und ge-
sagt: weil (sie) es auf dem ihrigen funden, hatte sie es macht
zu behalten“. Hier wird von der Jungfern Mutter „Abtrag
(Widerruf) und verdiente Straffe“ beantragt. Das Gericht lehnt
den Widerruf ab, der „weitläuffigkeit verursachen“ und der zu
schließenden Ehe wohl gar hinderlich werden könnte, und er-
kennt, daß der Beleidiger „nach erlittenem gefängnuß des Orts
abgeschafft werden solle“. Auch in diesem Falle sind sich
die Richter in ihrer Mehrzahl darüber klar: „Die Dirne möge
auch woll nicht gar unschuldig sein“.
Ein weiterer ähnlicher Fall — ein gewisser Hielisch rühmt
sich, mit Merten Kreisel’s hinterlassener Wittib Unzucht ge-
trieben zu haben, — ist dadurch bemerkenswert, daß der An-
geschuldigte in einer „supplication“ rund erklärt: „er könne
keine Zeugen führen, sindtemahl man in solchen privat sachen
und scortatione keine Zuschauer brauche. Was er aber geredet,
das gestehe er noch und wolle es mit Gott und seinem gewissen
bezeugen“. Diese Art der Verteidigung hilft ihm aber wenig;
er soll nach dem darauf ergehenden Urteil „zur staupe ge-
schlagen und des Ortes ewiglich verwiesen“ werden.
In einem andern Fall wird ein Ehemann, „der sonst gutten
Wandels“, Scholze zu Schwarzbach, von einer Dienstmagd be-
schuldigt, er habe mit ihr Unzucht getrieben und sie ge-
Rosenthal: Sexual-Vergehungen u. ihre Ahndung — vor 300 Jahren 173
schwängeıt. „Der Ehemann leugnet solches, ist auch kein
Beweis vorhanden, obwohl die Dirne alle Umstände anzeigt.
Quid juris?“ Der anfragende Gerichtsherr, Friedrich von
Nimbtsch auff Falkenhain und Schwarzbach, wird dahin be-
schieden, daß wider den Scholzen zur Zeit nichts tätliches
vorgenommen, die „Vettel aber nach erlittenem gefängnuß des
Orts abgeschafft und verwiesen werden“ möge.
Das Vergehen der sogenannten „Blutschande“
(Incest) hat seinen Umkreis hinsichtlich des Grades
der Verwandtschaft, der die Strafbarkeit begründet, ver-
schiedentlich gewechselt. Das Kanonische Recht dehnte
den Begriff ungebührlich aus, z. B. sogar auf „Gevattern“
wegen ihrer „geistlichen“ Verwandtschaft; nach der Karolina
hingegen war es schon zweifelhaft, ob der Incest selbst unter
Geschwistern von diesem Gesetze erfaßt wurde.*) In unserer
Handschrift wird dieser in einem Falle (unter no. 918) behandelt.
Ein Bruder hat seine Schwester geschwängert. Nur die letztere
wird abgeurteilt und zwar dahin, „daß sie zur staupen ge-
schlagen und des Orts ewiglich verwiesen werden solle“.
Die Blutschande, zu deren Begriff die natürliche Beischlafs-
vollziehung zwischen solchen Personen, die wegen ihrer Ver-
wandtschaft die Ehe mit einander nicht schließen dürfen, ge-
hört, ist auch nach den neueren Gesetzesbüchern durchweg,
meist in verschiedenen Graden, strafbar. Das deutsche Reichs-
strafgesetzbuch bedroht in 8 173 den Beischlaf von Ascendenten
und Descendenten mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren, jedoch
nur an den ersteren. Die letzteren und ebenso Geschwister
sowie Verschwägerte auf- und absteigender Linie werden mit
Gefängnis bis zu zwei Jahren bedroht. Personen der ab-
steigenden Linie bleiben gänzlich straflos, wenn sie das acht-
zehnte Lebensjahr noch nicht vollendet haben; sie gelten in
diesem Falle als schuldios Verführte,
Die strenge Verfolgung und Ächtung des außerehelichen
Verkehrs überhaupt, das harte Los der ledigen Mutter und
ihres Kindes, machen es erklärlich, daß trotz der unerbittlich
grausamen Strenge der Strafe, auch der Kindesmord zu den
häufigeren Vergehungen gehört. Die mildere Auffassung, welche
die neuere Zeit, unter Würdigung der verschiedenen, die Zu-
*) Berner, a. a. O. S. 418f.
174 Rosenthal: Sexual-Vergehungen u. ihre Ahndung — vor 300 Jahren
rechnungsfähigkeit so stark herabsetzenden Beweggründe zur
Tat, gerade der Kindesmörderin zuteil werden, den „Kindes-
mord“ als ein besonderes, minder strafbares Delikt behandeln
läßt, war dem älteren Rechte fremd. Auch das römische Recht
gab dem Kindesmord — der Tötung eines neugeborenen un-
ehelichen Kindes durch die Mutter — keine gesonderte Stellung.
Ältere Germanische Rechte sahen darin sogar eine besonders
schwere und schwer zu ahndende Missetat. Nach altem
deutschen Gewohnheitsrecht verfiel die Kindesmörderin einer
grauenhaften Bestrafung: sie „soll lebendig begraben und ein
Pfahl durch sie geschlagen“ werden. Nur bei mildernden Um-
ständen, „auf vielfältige Fürbitt“ soll sie begnadigt werden
können — zur Strafe des Ertränkens! Diese Strafe läßt auch
die Karolina wahlweise zu. Damit verglichen ist freilich die
Strafandrohung des $ 217 unseres Strafgesetzbuchs — Zucht-
haus nicht unter drei Jahren und bei mildernden Umständen
Gefängnis nicht unter zwei Jahren — wenn auch streng und
in gewissem Sinne ungerecht, — die moralische und soziale
Verschuldung liegt oft mehr auf Seiten des Erzeugers, der
straflos ausgeht, — als äußerst human anzusehen.
Einer unserer Fälle (no. 46) wird dadurch von besonderem
Interesse, daß das Gottesurteil der uralten sogenannten
„Bahrprobe“ zur Anwendung gelangt. Es ist „eine ledige magt
den 20. Augusti (1600) eines Kindes genoßen, cum sola esset“.
Das Kind wurde unter dem Bette aufgefunden, in ein Schürz-
tuch eingewickelt und mit des Schürztuchs Schnuren um den
Hals gebunden. Die Beschuldigte bekannte sich zum Kinde,
behauptete aber, es tot geboren zu haben. Nun wurde zum
„Gottesurteil“ gegriffen und die „Bahrprobe“ gemacht: „Man
hat das Kindtlein rein abgewischet, der Mutter förgetragen und
befohlen, daß sie ihm ihre Handt auf die Stirne legen sollte.
Als das geschehen, ist dem Kindtlein das blutt mildiglich auß
beiden Nasenlöchern geflossen, dadurch vormahls kein blutt
gespüret worden“. Freilich, eine absolut bindende Beweiskraft
legt das Gericht diesem „Gottesurteil“ nicht bei. Unter Be-
rücksichtigung seines Ausganges sowie auch der übrigen, die
Angeklagte schwer belastenden Indizien wird angeordnet, daß
„zu erkundigung der wahrheit, ob sie nicht selber das Kindt vom
leben zum tote bracht, mit der Tortur und Peinlicher Frage ver-
fahren werden möge“. Das endgiltige Ergebnis ist nicht mitgeteilt.
Rosenthal: Sexual-Vergehungen u. ihre Ahndung — vor 300 Jahren 175
In einem anderen Fall (no. 61) ist nicht ersichtlich, ob es
sich um Mord oder um Kindestötung (an Drillingen ?) handelt.
Es ist nur mitgeteilt, daß die Magd Ursula aus Brieg drei
Kinder, die sie mit David Jagtmann gezeugt, umgebracht habe;
nur von zweien erfährt man, wie: „das eine erstickt sie in
einem Sack, darin sie es neben sich geleget, dem andern hält
sie das mäulichen zu“. Ihre Strafe ist, daß sie „erstlich mit
glüenden Zangen nehmlich mit drei griffen gerißen und nach-
mahls in ein fließend wasser geworffen und darinnen er-
tränket werde“.*)
Recht zahlreich sind schließlich auch die abgeurteilten
Fälle von „Ehebruch“ vertreten. Die Auffassung des „Römi-
schen Rechts“ wirkt auch bei diesem Delikt im deutschen ge-
meinen Recht noch stark nach. Der Ehebruch der Frau war
in Rom strafbar als Auflehnung gegen das Hausrecht des
Mannes und, weil er die Vaterschaft unsicher machte. Der
Ehemann konnte an seiner eigenen Ehe einen Ehebruch über-
haupt nicht begehen; es galt nicht als Ehebruch, wenn er mit
einer ledigen Frauensperson verkehrte. Nur wenn er mit der
Ehefrau eines Anderen zu tun hatte, war er gewissermaßen als
deren Mittäter schuldig. Neben den Strafen (Verweisung, Geld-
strafen) hatte der beleidigte Ehemann von alters her bei Ertappung
in flagranti die Befugnis zur Tötung oder Gefangensetzung
der ertappten Schuldigen. Im Germanischen Recht war die
Auffassung ähnlich; doch trat vielfach noch die Todesstrafe
— durch das Schwert oder Lebendigbegraben — hinzu. Erst
das Kanonische Recht begann damit, die eheliche Treue auch
vom Manne zu verlangen und den Begriff des Ehebruchs auch
auf die Untreue des Mannes gegen seine Ehefrau auszudehnen.
Dem schloß die Karrolina sich an und verhängte strenge Be-
strafung: für den Ehebrecher das Schwert, für die Ehebrecherin
das Kloster. Die Praxis des gemeinen Rechts gestaltete sich
jedoch — vermutlich wegen der Häufigkeit des Vorkommens —
milder; es wurden zumeist nur arbiträre Freiheitsstrafen ver-
hängt, auch wurde im allgemeinen, — sofern nicht bösliche
*) Die an sich grausame Strafart des „Ertränkens“ wurde in der prak-
tischen Ausübung oft in der Weise verschärft, daß der Delinquent oder
die Delinquentin zusammen mit verschiedenem Getier — einem Hund,
einer Katze, einem Hahn, einer Natter etc. in einen Sack eingenäht, mehr-
mals untergetaucht und erst alsdann definitiv versenkt wurde.
176 Rosenthal: Sexual-Vergehungen u. ihre Ahndung — vor 300 Jahren |
Veranlassung hinzukam, — nur auf Antrag des verletzten Ehe-
gatten eingeschritten.
Damit wird allmählich der mehr private und privatrecht-
liche Charakter des Ehebruchs anerkannt. In einem der Fälle
unserer Handschrift freilich (no. 225: „casus notabilis“) wird
einem Ehemann — „einem уот Айе!“ — die Versöhnung mit
seinem Eheweib, so einen Ehebruch begangen, recht schwer
gemacht. Er soll, da er sie wieder zurücknehmen will, „der-
wegen von seinem Landesherrn gestrafft und von seinen Vettern
des wappens endtsetzet werden“. Er scheint allerdings sehr
gutmütig und versöhnlicher Natur zu sein, denn die Frau hat
es ziemlich arg getrieben. Sie hat mit einem Reitknecht zu
tun gehabt: „nobilis ille, als er solches erfahret, lässt den Knecht i
(ins Gefängnis) setzen; das Weib Kombt zu ihm in den Stock `
Abb. 7. Folterwerkzeuge (Stock (für Arme und Beine) Pech- und Bleipfannen, Stein*zum
Anhängen und Hochziehen. Eisen.
“yayef '97) Zundeupg ayayurad "Зпапү mm зәшшеҳгәџоҷ
Tafel II
#991 шерзәјѕвшү ѕпең-јәдѕеу seq
Rosenthal: Sexual-Vergehungen u. ihre Ahndung — vor 300 Jahren 177
und treibt auch daselbst Unzucht mit ihm. Der vom Adel will
den Knecht torquiren lassen; als sein Weib solches vermerket,
bekennet sie die that, fallet an den Junkern ihren Ehemann
und bittet umb gnade, welcher sich erbeut sie wieder anzu-
nehmen, dofern ihre freunde bei dem Landeßherrn erlangen
möchten, daß es ihme ohne nachteil sein sollte“. Das gibt
aber große Schwierigkeiten. Der Landesherr widerspricht und
droht mit Strafe; die Verwandtschaft will ihn des wappens
(des Adels) verlustig gehen lassen. Der Breslauer Schöppen-
stuhl weist beides als unberechtigt zurück und erklärt „den
vom Adel“ für wohlbefugt, „mit seinem Eheweibe sich zu ver-
söhnen und derselben Ehelichen wiederumb beizuwohnen“.
Nur freilich stünde es dem Landesherrn zu, ungeachtet der
„Rekonciliation“ die Frau nach Ermessen zu strafen.
In partikularen Rechten erhielt sich sehr lange Zeit — bis
zum Erlaß des deutschen Strafgesetzbuchs — die unterschied-
liche Behandlung von Mann und Frau beim Ehebruch, indem
der erstere weniger streng oder gar nicht zu bestrafen war.
Die jetzige Rechtslage ist bekanntlich die, dad — in Fort-
entwickelung der privatrechtlichen Auffassung des Ehebruchs,
im Interesse auch der Aufrechterhaltung der Ehe und des
Familienlebens — der Ehebruch für sich allein überhaupt nicht
straffällig ist. Er wird es erst, wenn er die Ehe seibst zer-
stört und zu deren Auflösung, also zur rechtskräftigen Scheidung
der Ehe wegen dieses Ehebruchs geführt hat; auch alsdann
tritt die Verfolgung nur auf Antrag des verletzten Ehegatten
ein. Daß sich diese Art der Regelung, deren Unzweckmäßig-
keit noch durch das widersinnige Verbot der Heirat zwischen
den Ehebrechern überboten wird, irgendwie bewährt habe, wird
Niemand, der das Leben kennt, behaupten wollen. Kriminell
ist insbesondere die Folge, daß die Bestrafung des Ehebruchs,
die hiernach praktisch nur selten eintritt, entweder sich als Akt
einer hartnäckigen Rachsucht oder als Auswirkung einer miß-
lungenen Erpressung darstellt.
Die Strafen, die der Breslauer Schöppenstuhl verhängt,
sind bei einfachem Ehebruch schon verhältnismäßig milde. Im
Fall no. 69 frägt der „Haubtmann Wenzel Forchtenau zu
Bernstadt“ an, wie gegen eine Ehebrecherin, so mit einem
ledigen Gesellen zu tun gehabt, mit Strafe zu verfahren sei.
Der Bescheid geht dahin, daß beide Ehebrecher „mit staupen-
12
178 Rosenthal: Sexual-Vergehungen u. ihre Ahndung — vor 300 Jahren
schlägen belegt und des Orts ewiglich verwiesen werden
sollen“, (vergl. Tafel 1), allerdings mit der billigen
Rücksichtnahme: „die Vettel nach abgelegter weiblichen
Bürden“. Nicht besser ergeht es (no. 127) einem Ehe-
mann, der mit einer ledigen Frauensperson sich ver-
gangen hat; ja, da er nach erfolgter Verweisung zurückgekehrt
ist und wiederholt mit ihr sich eingelassen hat, wird er „mit
etwa sterkerem und mehrerem staupenschlag“ belegt und nun-
mehr „mit ernster Bedrauung“ ewiglich verwiesen.
In einem andern Falle ist der Ehebruch mit hinzukommender
„Fruchtabtreibung“, auf welche letztere jedoch das Gericht sich
garnicht näher einläßt, verknüpft. Der Beschuldigte, selbst
Ehemann, hat mit zwei Frauen Verkehr gehabt. Die eine —
Elisabeth Mertz — beschuldigt ihn bei ihrem Geständnis, er
habe ihr „etliche tränke eingegeben, dannenhehr sie ein un-
zeitig Kindt geboren, welches derselbe maritus heimlich be-
graben“. Der Ehebrecher, Balthaser Mönch mit Namen, wird
im peinlichen Verhör und unter der Folter übel mitgenommen.
Er macht aber dem Gericht großes Kopfzerbrechen; denn auch
„in die scharffe Frage genommen und eine ganze stunde ge-
peinigt per intervalla“ bekennt er doch absolut nichts. Dies
kommt ihm bei der Strafe zustatten; er wird „der gefanglichen
hafft entledigt und auff geschworenen Urfriedt abgeschafft“.
Die Elisabeth Mertz erhält die übliche. Strafe (Staupenschläge
und ewigliche Verweisung). Hinsichtlich der zweiten Ehe-
brecherin, „des Tautologie (?) Eheweib“, werden noch Er-
mittlungen tatsächlicher Art angestellt, deren Ergebnis noch
festzustellen ist; aber es „ergeht auch ihrer Person ferner was
recht ist“.
Im letzten hier zu besprechenden Falle steht der Ehebruch
in idealer Konkurrenz mit Mord bzw. Beihilfe hierzu. Der
Dienstknecht Hanss Sterk hat mit seines eigenen Herrn Ehe-
weib ein Verhältnis gehabt und den Herrn schließlich in seinem
eigenen „Schlaffgemach“ in seinem Bette mit einer Waldaxt
erschlagen. Nach den Beweggründen befragt, erklärt er: „er
wüßte keine andere Ursache, als daß er mit der Frauen zu
tun hatte gehabt; er wäre am nechstvergangenen Freytage etwa
umb Mitternacht, als er außem Kretscham gekommen, auf einer
lietter (Leiter), die er ihm selber angelegt, zum Fenster in des
Herrn Schlafkammer gestiegen; da wehre die Fraue zu ihm
Rosenthal: Sexual-Vergehungen u. ihre Ahndung — vor 300 Jahren 179
Abb. 8. Folterwerkzeuge, gesp. Hase, Richtschwert, Halskragen, Maske.
aufgestanden. Indem hatte der Herr sie gefraget, Wer ist der,
und gesaget, hastu Dich verirret, hierauff er der Knecht ihn
alsbalt überfallen undt ihm mit einer Axt liegende erschlagen;
der herr hatte sich wol mit den handen etwas gewehret, aber
er wahre seiner balt mächtig worden, und die fraw wehre
davon gelaufen“. Der Knecht war ritterlich genug, die mit-
schuldige Frau nach Möglichkeit zu entlasten. Er blieb selbst
unter der Folter dabei: „sie hätte ihn nicht heißen todtschlagen“.
Allerdings haben sich die beiden auch nach der Tat nicht sehr
schön benommen: „nachdem er ihne erschlagen, sey sie wieder
zu bett gegangen, so hatte er sich zu ihr gelegt und mit ihr
Unzucht getrieben; darnach hatte er den toten Körper im
Keller begraben. Nach des Herrn Tode hatte er alle nacht
mit der frauen weiter Unzucht getrieben“.
12*
180 Rosenthal: Sexual-Vergehungen u. ihre Ahndung — vor 300 Jahren
Auch die „adultera“ aber entging, nachdem man fest-
gestellt hatte, daß sie nicht schwanger sei, der Folter nicht.
Sie suchte sich damit zu entlasten: „Sie hatte in 13 Jahren
viel Unruhe mit ihrem Manne gehaht, sonderlich hatte er sie
mit dem ersten Kinde gravidam geschlagen, daß sie vermeinet,
es würde ihr übel gehen“. Sie bekannte schließlich unter der
Folter, auch selbst aktiv an der Tat teilgenommen zu haben;
sie habe ihren Ehemann, als er erschlagen wurde, „gehalten
und in ihn etzlichmahl mit einem Messer gestochen, wie dem
die Stiche in dem Cörper befunden worden“. Der Spruch, der
über sie verhängt wurde, sah ganz von ihrem Ehebruch ab und
Abb. 9. Richtstätte mit Rad und Galgen von Hans Burgkmaier (1472—1531).
Rosenthal: Sexual-Vergehungen u. ihre Ahndung — vor 300 Jahren 181
lautete dahin: sie hätte mit ihrem mordt verschuldet, daß ihr
anfenglich die rechte faust, mit welcher sie ihren Ehemann ge-
stochen, abgeschlagen, nachmahls sie mit glüenden Zangen
gerießen, folgends mit dem schwert vom leben zum tode bracht
und ihr Körper auf ein radt gebunden und geleget, endtlich
ihrKopff sambt der abgeschlagenen Faust auff eine stangen
anderen bluttgierigen und boßhafften Eheleuten zur Abscheu
gestecket werden solle“,
Über die Bestrafung des Knechtes findet sich a. a. O.
keine Auskunft. —
Der vorliegende Ausschnitt aus der Strafjustiz vergangener
Tage zeigt, trotz allen guten Willens und Strebens der Richter
nach „Gerechtigkeit“, ihre Abhängigkeit von der Härte und
dem Aberwitz ihrer Zeit. Er mag auch genügen, uns hin-
sichtlich der Gegenwart bescheiden zu stimmen und zugäng-
lich für die Notwendigkeiten einer weiteren Entwicklung, die
auf dem Fortschritt der Wissenschaft in Verbindung mit
tieferem menschlichen Verstehen und Mitempfinden aufgefbaut
werden muß.
EHELICHE RECHTE UND PFLICHTEN
DER MOHAMEDANER.
Von HANS FEHLINGER (Mitglied des internationalen Arbeitsamtes Genf).
twa der siebente Teil aller Menschen sind Bekenner des
Islam, dessen Bereich sich von der Balkanhalbinsel und Süd-
ostrußland bis nach China, den ostindischen Inseln und Zentral-
afrika erstreckt. Die Malayen Ostindiens ebenso wie die Neger
südlich der großen afrikanischen Wüstenzone befolgen aber die
religiösen und rechtlichen Satzungen des Islam nur in sehr be-
schränktem Maße und bei ihnen ist auch das Eheverhältnis
viel freier als bei den Mohamedanern Westasiens und Nord-
afrikas. Im engeren islamischen Kulturbereiche ist die Frau
von jedem gesellschaftlichen Verkehr mit Männern ausgeschlossen
und es besteht auch keine eheliche Genossenschaft, keine Lebens-
gemeinschaft zwischen den Ehegatten selbst. Die Frau hat das
Recht auf besondere Wohnräume und sie ist nicht verpflichtet,
ihrem Manne nach einem Ort zu folgen, der mehr als drei
Tagreisen vom Orte der Eheschließung entfernt ist. Ein Zu-
sammentreffen der Ehegatten findet gewöhnlich nur dann statt,
wenn es sich um die Erfüllung der ehelichen Pflichten handelt.
Der Mann hat zu diesem Zwecke die Frau in ihren Wohn-
räumen zu besuchen und nur ausnahmsweise darf er sie zu
sich kommen lassen. Besonders genau muß das eingehalten
werden, wenn der Mann mehrere Frauen hat. Die Stellung
der Frau in der Ehe ist eine sehr untergeordnete und durch
die Leichtigkeit der Scheidung wird geradezu ihre Minder-
wertigkeit ausgedrückt, insbesondere dadurch, weil der Mann
sozusagen die Auflösung der Ehe herbeiführen kann, während
es der Frau fast unmöglich ist, eine Trennung zu erwirken.
In vermögensrechtlicher Beziehung bleibt jeder der Gatten Allein-
eigentümer seines Vermögens und es steht dem Gatten ins-
besondere keinerlei Verwaltungsrecht über das Vermögen der
Frau zu. Die Frau kann vielmehr über ihr Vermögen ganz
selbständig und allein ohne Einwilligung oder irgendwelche
Ingerenz des Gatten verfügen, falls sie volljährig ist; bei Minder-
Fehlinger: Eheliche Rechte und Pflichten der Mohamedaner 183
jährigen steht die Obsorge über ihr Vermögen ihrem Vater oder
Vormund zu. Als Gegenleistung für die eheliche Gemeinschaft
hat die Frau Anspruch auf eine materielle Leistung, den „Meh’r“,
der ihr ausschließliches Eigentum bleibt, auch wenn die Ehe
geschieden wird. Die Höhe des Meh’r wird gewöhnlich durch
Vertrag festgesetzt. Der Unterhalt der Frau wird nach den Ver-
mögensverhältnissen des Gatten bestimmt und es kann die
Nahrung und Kleidung in natura oder im Geldeswerte verab-
reicht werden. Der Unterhalt gebührt der Gattin regelmäßig
auch nach ihrer Verstoßung oder nach Trennung der Ehe. Die
vermögensrechtliche Unabhängigkeit der Frau vom Manne be-
ruht auf der Auffassung der Ehe als rein sexuelles Verhältnis.
Wird nach Auflösung einer giltigen Ehe ein Kind geboren,
sei die Auflösung durch Verstoßung, Trennung oder durch den
Tod erfolgt, so gilt als Grundregel, daß das Kind rechtmäßig
is, wenn es innerhalb von zwei Jahren, vom Tage der Auf-
lösung der Ehe an gerechnet, geboren wird. Es gelten jedoch
wichtigere Ausnahmen. Die Person und das Vermögen der
Kinder unterstehen der väterlichen Gewalt, solange diese minder-
jährig sind. Doch ist die Mutter berechtigt, die Kinder zu be-
aufsichtigen, zu warten und bei sich zu behalten. Dieses Recht
hört bei den Knaben mit dem vollendeten 7. Jahre, bei den
Mädchen aber erst mit dem vollendeten 9. Jahre auf und nach
Vollendung dieses Alters muß das Kind dem Vater oder dem
Vormunde übergeben werden, welcher den weiteren Aufent-
haltsort zu bestimmen hat. Vor Erreichung dieses Alters darf
das Kind nicht vom Orte entfernt werden, wo die Mutter sich
befindet, aber auch diese darf regelmäßig das Kind ohne Zu-
stimmung des Vaters aus dessen Wohnorte nicht entfernen, es
sei denn in ihrem Geburtsort, wenn dies zugleich auch der
Ort ist, wo die Ehe geschlossen wurde. Für die Kosten des
Unterhalts der Kinder hat der Vater aufzukommen. Е,
(ыў
184 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben
BETRACHTUNGEN ÜBER DAS LIEBESLEBEN IN
DER ZEIT DER RENAISSANCE UND DER PERIODE
DER GALANTEN.
Von FERD. FRHR. VON REITZENSTEIN, Dresden.
(Fortsetzung.)
үү“ naturgemäß der junge Luther I dachte, geht aus fol-
genden Worten hervor: „Die Ehe und die Hurerei sind
einander so gleich, was das Werk belangt, daß man sie kaum
unterscheiden kann, denn Beischlafen ist einerlei, Kinderzeugen
einerlei.“ Es mutet uns heute komisch an, daß man das erst
besonders sagen mußte. Er unterscheidet dann die Ehe nur
dadurch, daß sie durch Gottes Wort eingesetzt sei. Auf den
inneren Wert der Ehe aber verweist er bereits: „Es ist
kein lieblicher, freundlicher, holdseliger Verwandtnis, Gemein-
schaft und Gesellschaft denn eine gute Ehe, wenn Eheleute
in Frieden und Einigkeit miteinander leben“, oder wenn er
sagt: „Die Ehe ist eine schöne herrliche Gabe und Ordnung.“
Vom außerehelichen Verkehr dachte Luther nicht anders
als seine Zeit, deren natürlichem Empfinden er ja überhaupt
nahestand; aber er unterscheidet sich insofern von ihr, daß
er nicht wie andere „Moral“ heuchelt, sondern offen aus-
spricht und die Konsequenzen zieht. In einer Predigt vom
Jahre 1519 (also 6 Jahre vor seiner Ehe) sagt er: „Ich habe
von mir nicht so viel, daß ich mich enthalten kann.“ Später
fiel Luther um und widerrief dann derartige Aussprüche aus
seiner gesunden Sturm- und Drangperiode; dies war wohl be-
gründet im Anschluß an die „moralisierenden“ Reformierten,
die päpstlicher sein wollten als der Papst, und denen der
Protestantismus hauptsächlich die krankhafte Seite seiner Ent-
wicklung zu danken hat. Zu dieser freien Auffassung gehört
auch eine Stelle aus dem Traktat über das eheliche Leben, in
der Luther bei Impotenz des Mannes bemerkt:
„Wenn ein tüchtig Weib zur Ehe einen untüchtigen Mann überkäme
und könnte doch keinen anderen offentlich nehmen und wollte auch nicht
gern wider Ehre (un, soll sie zu ihrem Mann also sagen: Siehe, lieber
Mann, du kannst mein nicht schuldig werden, und hast mich und meinen
jungen Leib betrogen, dazu in Gefahr der Ehre und Seligkeit bracht und
ist für Gott keine Ehe zwischen uns beiden, vergönne mir, daß ich mit
deinem Bruder oder nächsten Freund eine heimliche Ehe habe und du den
Namen habst, auf daß dein Gut nicht an fremde Erben komme und laß
Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 185
Der impotente Ehemann. Spottbild auf den geschlechtlich kalten Gatten.
dich wiederum williglich betrügen durch mich, wie du mich ohne deinen
Willen betrogen hast.“
An sich ist dies ja nichts anderes als das urdeutsche
Institut des Zeugungshelfers; außerdem wird hier zu-
gleich das Recht auf Befriedigung des Geschlechtstriebes be-
tont. Nach Luther (Jena 1522 II 146) hat der Mann diese Bitte
zu erfüllen; wenn er nicht will, dann darf er auch nicht böse
sein, wenn die Frau von ihm läuft. Die ganze Zeit hatte diese
normale Auffassung. So sagt umgekehrt Viviennus in seinem
1565 erschienenen Weiberspiegel:
„с. 5. Derhalben muß ich desto heftiger straffe | die weiber in
Belgico vn Niderlanden 1 die da jhren Mennern | wann sie sich etwan
ergetzen wollen | vnd einen guten muth haben / gar faulentzig vnd vnwillig |
darzu dienen oder nottdurst darzu vorschaffen oder zubereiten | упа jagen
sie also aus dem Haus / gleich als aus einer Wüsten | Da wischen sie
dann dahin in einen Weinkeller | da sie zu allen Dingen gesellschaft
пир bekommen | vnd in alle laster gerathen | vnd nicht ehe dann wann
sie stickende voll sein wieder anheim kommen.“
So kommt Luther dazu zu sagen: „Ich bin im Sinn, ehe
ich aus diesem Leben scheide, mich in dem Ehestande finden
zu lassen, welchen ich von Gott gefordert erachte.“ Das Er-
freuliche ist nun, daß Luther nicht nur derartige Aussprüche
tat, wie das ähnlich schon vor ihm geschah, sondern sie in
die Tat umsetzte, denn nur dadurch war jener Zeit, die
so viel hören mußte, der Beweis erbracht. Man nimmt an,
186 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben
daß die Freifrau Argula von Grumbach ihn dabei bestärkt
habe, was nicht ausgeschlossen ist, denn der Adel jener Zeit
war vom Humanismus durchdrungen und liebte ein markantes,
deutliches Vorgehen. Auch Ulrich von Hutten schreibt
unter dem 21. Mai 1519 an den Domherrn Friedrich Fischer
in Würzburg:
„Mich beherrscht jetzt eine Sehnsucht nach Ruhe. Darum brauche
ich eine Frau, die mich pflege. Du kennst meine Art. Ich kann nicht
wohl allein sein, nicht einmal bei Nacht. Vergebens preist man mir das
Glück der Ehelosigkeit, die Vorteile der Einsamkeit an, ich glaube mich
nicht dafür geschaffen. Ich muß ein Wesen haben, bei dem ich mich
von den Sorgen, ja auch von den ernsten Studien erholen, mit dem ich
spielen, Scherze treiben, angenehme und leichte Unterhaltung pflegen kann;
ein Wesen, bei dem ich die Schärfe des Grams abstumpfen, die Hitze
des Kummers mildern kann. Gib mir eine Frau, mein Friedrich, und damit
Du wissest, was für eine, so laß sie schön sein, jung, wohlerzogen,
heiter, züchtig, geduldig! Besitz gib ihr genug, nicht viel! Denn Reich-
tum suche ich nicht, und was Stand und Geschlecht betrifft, so glaube
ich, wird diejenige adelig genug sein, welcher Hutten seine Hand reicht.“
(Huttens Werke III, 158.)
Darin sehen wir am deutlichsten jenes germanische Emp-
finden, das arı der Renaissance groß wuchs, jene Romantik im
weitesten Sinne des Wortes. Sie war der Träger des Liebes-
lebens und feineren Empfindens, und dies können wir allent-
halben zwischen den Zeilen dieses Briefes herauslesen. Die
ganze Scholastik wäre unfähig gewesen, auch nur eine der-
artige Zeile zu schreiben: Hutten und Luther brechen hier mit
dem frauenfeindlichen Paulinismus, der sich als roter
Faden durch die Scholastik hinzieht. Das Weib wird ihnen
mehr als ein Abwehrmittelder Unzucht und eine bloße
Maschine zur Kinderzeugung, um — Gläubige zu
schaffen, wie es die armseligen Epigonen unserer großen Vor-
fahren von heute tun, seien sie Moralprediger seien sie von
der „deutsch“-völkischen Psychose angekränkelt, oder von der
Neurose einer bestimmten Art von Frauenbewegung betroffen.
Es kostete heiße Kämpfe, bis diese neue Auffassung durch-
drang, die in der Entwicklung des geschlechtlichen und Ehe-
lebens einen der bedeutendsten Marksteine ausmacht. Es er-
schienen eine Reihe. höchst interessanter Flugblätter zur Ver-
teidigung einerseits und zur Bekämpfung andererseits. So
schreibt „ain Einsiedel, nun aber eelich worden an etlich trost-
loß Ordenslewt (Ordensleute) und Pfaffen“ 1576 ein Flugblatt:
Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 187
„ob ain Priester ain Eeweyb oder Concubin | das ist / аіп
beyschlaff haben möge“, und entscheidet sich für die Ehefrau.*)
Gewaltige Streitschriften gingen voraus, so ein Flugblatt, das
1522 erschien und betitelt ist: „Wie gar gfarlich sey, so ain
Priester kain eeweyb hat von Johann Eberlin (Güntzburg)“,**)
das vom Grundsatz ausgeht: „Got hat Eelichen stand geboten
und von disem gebot die Pfaffen nit außgenommen.“ Diese
Schrift zeichnet sich durch ein originelles Titelbild aus (Abb. 00).
Wir sehen im Vordergrund einen Bischof, der mit einem jungen
Mädchen durch einen gewöhnlichen Priester getraut wird, im
Hintergrund links einen Mönch und eine Nonne, die ein anderer
Mönch traut, und rechts einen Mönch und eine Bürgersfrau,
die ein Bischof traut. Solche Bilder wirkten natürlich mehr
als alle Worte. Im Jahre 1524 gab Stephan Stör von Diessen-
hoffen vonhafft zu Liechkal eine Disputation heraus, in der er
folgende Thesen aufstellt:
1. Die heylig Eeistkeinem stand in der heiligen geschrifft verbotten.
2. Unküscheyt vsserthalb der Ee vnnd hury | ist nach allem gsatz |
allen standen gebotten (soll natürlich heißen: verbotten).
3. Unküscheyt vsserthalb der Ee vnd hury zu vermyden | ist die Ee
allen standen gebotten.
4. Sollich vnküscheit уп һигу | ist in keinem stand (der ergernüß
halb) schädlicher | dann in dem priesterlichen.
5. Ein offentlicher Hurer | ist nach götliche gesatz in dem rechten
уппа waren bann | vnnd deshalb untüglich zu priesterlichem ampt.
Er fordert jedermann auf, mit ihm darüber zu disputieren.***)
Im Jahre 1541 gab dann auch Phil. Melanchthon ein Flug-
blatt heraus „wider den vnreinen Bapstes Celibat, verdeutschet
durch Justum Jonam“.f) Melanchthon erfaßt die Gründe des
Zölibats ziemlich richtig:
„Der Adel ist der Priesterehe | nicht wol geneiget / ja gantz ent-
gegen. Denn von den Thümen (Domen) vnd Stifften | haben sie grossen
fürzug vnd vorteil | genies vnd herrlichkeit / Vnd viel Geschlecht vom Adel
werden durch Bistumb und Thümereien | wie itzund die gelegenheit ist |
аш den Stifften zu reichtumb vnd herrlichem wesen erhaben. Wenn
aber der Ehestand würde den Geistlichen vnd Pfaffen frey gelassen | so
würden viel geschlecht vom Adel | solchen nutz vnd herligkeit | solchen
genies von den Stifften nicht haben | wie denn wol abzunemen / vnd wenn
*) Staats-Bibl. Berlin Cu 8154
Sr Cu 1932.
*+#) Staats-Bibl. Berlin. Cu 6203.
+) Cu 4318.
188 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben
sich die Pfaffen in Ehestand begeben | wurden sie allen Iren stand und
pracht müssen geringer füren.“ Er erwähnt ferner, daß es nicht eine
solche Menge von Pfaffen gäbe, wenn sie verheiratet wären, und ihnen
nicht soviel „Fürstengüter“ zukämen. Er erwähnt ferner sodann: „Das
kein vnterschied ist | vnter der Priesterehe und der Leyenehe / vnd das
der stand Gott gfallet“ und kommt zu der Luther nahestehenden Erkenntnis:
„Denn des Menschen natur ist also geschaffen | das sie Kinder zeuge vnd
sich mehren soll Wie Gen. 1 geschriebe stehet. Er hat sie ein Menlin
упа Frawlin geschaffen. So ist nu dem Manne angeborn | natürliche lüste
vnd neigung zu dem Weibe / Widderumb dem Weibe zu dem Manne /
dis ist Gottes geschöpff | Vnd wenn Adam nicht gefallen were / so were
die neigung vnd brunst rein | vnd on sünde gewesen.“
In diesem letzten Satze liegt das Moment, das auch die
Reformatoren nicht klarsehen ließ: die Idee der Erbsünde
hielt auch sie im Banne, wenigstens Melanchthon, und in diesen
kritiklos übernommenen Phrasen ist der Ausgang des ortho-
doxen Protestantismus begründet, der die Vorzüge der Refor-
mation auf dem Gebiete der sexuellen Frage nicht begriff und
heute nicht begreift; er hat darin zum Teil Schlimmeres ge-
leistet als die früheren Jahrhunderte. Es gibt natürlich keinen
unreinen Geschlechtsverkehr. Luther stand dieser Auffassung
weit näher als Melanchthon, der überhaupt für ihn kein Glück
war, da ihm das echtdeutsche Denken fehlte.
Noch müssen wir hier zweier Aussprüche gedenken, die
Luther zugeschrieben werden, aber in seinen Schriften nicht
nachweisbar sind: „Wer nicht liebt Wein, Weib und
Gesang, der bleibt ein Narr sein Leben lang,“ und
in betreff der Regelung des Geschlechtsgenusses: „In der
Woche zwier Schadet weder mir noch dir“. Wir
können nur wünschen, daß es gelingen möchte, diese Worte
definitiv bei ihm nachzuweisen, denn beide könnten ihm nur
Ehre machen und bedürfen nicht der Verteidigung. Fragen
wir uns nun, was nach diesen Kämpfen in bezug auf die Ehe
in protestantischen Kreisen galt: Im wesentlichen läßt es sich
in folgende 4 Punkte zusammenfassen:
1. die Ehe ist kein Sakrament,
2. die Ehe kommt durch die Willenseinigung der Braut-
leute zusammen,
3. die kirchliche Einsegnung kann vollzogen werden,
4. die Ehe gehört als ein „weltliches Ding“
grundsätzlich in den Wirkungskreis des
Staates.
Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 189
In betreff der Trauung sagt Luther selbst in der Vorrede
zum Traubüchlein:
„So manches Land, so manche Sitten, sagt das gemeine Sprüchwort-
Dennoch, weil die Hochzeit und Ehestand ein weltlich Geschäft ist,
gebürt uns Geistlichen oder Kirchendienern nichts näher darin zu
ordnen oder regieren, sondern lassen einer jeglichen Stadt und
Land hierin ihren Brauch und Gewohnheit, wie sie gehen . . . aber so
man von uns begeret, vor der Kirche oder in den Kirchen sie zu
segnen, über sie zu beten oder auch sie zu trauen, sind wir schuldig,
dasselbige zu tun.“
Das ist deutlich genug, und der heutige Protestantismus
würde in seinem Interesse handeln, sich recht genau daran zu
halten.
So war die Ehe vollständig freigegeben und zu einem
rein bürgerlichen Vertrag geworden; das Eherechtwar
in dieHände der Landesherren gelegt. Und sonder-
bar! Die Landesherren hatten kein Eherecht und waren zu
bequem, eines zu schaffen; so kam zunächst eine große
Unordnung in das protestantische Eheschließungswesen, und
das Ende vom Liede war, dank der Gleichgültigkeit, die die
deutschen Regierungen in kulturellen Fragen stets an den Tag
legen, daß das kirchlich-konfessionelle Eherecht
auf den Staat überging. Das Höchste, wozu diese Gleich-
gültigkeit sich aufschwang, waren zunächst Erklärungen, wie:
Kraft staatlicher Hoheit soll das kirchliche Recht gelten. Die
Landesherren waren mit Jagd und Maitressen in ihren Arbeits-
möglichkeiten zu sehr überlastet und die schlauen Beichtväter
nahmen ihnen äußerlich seufzend innerlich lachend die wert-
volle Arbeitslast ab.
Gegen Luther machte nun die katholische Kirche Front.
Sie stützte sich zunächst auf die Bulle „Unam sanctam“ (er-
lassen von Bonifazius VIll. 1302), derzufolge der Staat der
Kirche untergeordnet sei. Da nun die Ehe Sakrament sei,
könne der Staat überhaupt kein Gesetz über die Ehe erlassen.
Die damaligen Regierungen haben dies allerdings — aus Be-
quemlichkeit — ja auch gar nicht getan. Trotzdem aber fürch-
tete die katholische Kirche, daß ihr durch die immerhin noch
große Möglichkeit der heimlichen Ehen Gefahr drohe,
und so wurde das Eherecht einer der Diskussionspunkte des
Tridentiner Konzils (1545—1563), dessen 24. Sitzung am
11. Nov. 1563 sich damit befaßtee Man wollte dabei solche
190 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben
heimliche Ehen überhaupt zu ungültigen stempeln, nach-
dem sie bisher nur unerlaubt, aber doch gültig gewesen
waren. Sie wurden „trennendes Ehehindernis“. Das
„decretum de reformatione matrimonii“ oder, wie es auch ge-
nannt wird, das „Tam etsi dubitandum“ fordert für eine giltige
Ehe folgende Punkte; sie muß geschlossen werden:
l. im Angesicht der Kirche (in facie ecclesiae),
2. in Gegenwart des zuständigen Pfarrers,
3. in Gegenwart zweier Zeugen,
4. nach dreimaligem Aufgebot durch den Priester an drei
aufeinanderfolgenden Festtagen (Sonntagen).
Wer diese Punkte nicht befolgte, den erklärte die Kirche
für unfähig, eine Ehe zu schließen. Die Heimlichkeit war
also trennendes Hindernis geworden (impedimentum dirimens
clandestinitatis).
Damit stand die Kirche vor einer schwierigen Frage. Da
sie stets noch mit der Möglichkeit rechnete, daß die Pro-
testanten wieder zu gewinnen wären, so durfte sie diesen
Beschluß nicht unbedingt aussprechen, da sonst alle protestan-
tischen Ehen, die nach der alten formlosen Art geschlossen
waren, nach einer solchen Vereinigung ungültig gewesen wären.
Sie setzte daher fest, daß die Beschlüsse nur dort gelten sollten,
wo das Tridentinum verkündigt wäre; wo dies nicht
geschah, war die alte Art zwar unerlaubt, aber doch gültig.
So kam es, daß auch in vielen katholischen Gegenden das
Tridentinum nicht verkündigt wurde; infolgedessen besteht
sehr häufig heute darüber Unklarheit, ob es verkündigt worden
ist oder nicht. Erst in allerneuster Zeit hat, wie wir sehen
werden, die katholische Kirche diese Hoffnung aufgegeben
und die Eheschließung endgültig geregelt.
Der erste Konflikt mußte natürlich entstehen, wenn die
Frage einer gemischten Ehe auftrat; und dieses Moment
rüttelte die Regierungen auf. Der Staat mußte für solche Leute,
die die Kirche nicht wollte, eine Möglichkeit der Eheschließung
schaffen. Dafür hatte er drei Wege, da er die allgemeinen
christlichen Grundideen nicht aufgeben wollte:
1. Die Notzivilehe, derzufolge alle diejenigen, die zu
einer kirchlichen Eheschließung nicht gelangen konnten
(aber nur diese), durch eine bürgerliche Eheschließung
dem Staate gegenüber vollgültig getraut wurden.
Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 191
2. Die fakultative Zivilehe. Der Staat stellt es frei,
ob jemand sich kirchlich oder zivilrechtlich trauen
lassen will.
3. Die obligatorische Zivilehe: der Staat erkennt
überhaupt nur die zivile Eheschließung an, wendet
aber nichts dagegen ein, wenn sich jemand außerdem
noch will kirchlich trauen lassen. Damit war auf diesem
Gebiete eine Trennung von Kirche und Staat durch-
geführt.
Diese staatliche Zivilehe schuf aber keine neuen Ge-
setze, sondern nahm, wie erwähnt, die alten kirchlichen Ver-
ordnungen herüber, nach denen erforderlich war:
l. Die Willenserklärung der beiden Brautleute, nach dem
Satze consensus facit nuptias;
2. daß diese Erklärung vor einem Standesbeamten ab-
gegeben werden muß;
3. daß sie in Gegenwart von zwei Zeugen abgegeben wird.
Es wurde also die Heimlichkeit auch für den
Staat ein trennendes Hindernis.
Trotzdem wurde von den Formen der Zivilehe recht wenig
Gebrauch gemacht. Zunächst sahen sich Holland und West-
friesland 1580 (und 1656 die ganzen Niederlande) gezwungen,
die fakultative Zivilehe einzuführen. Nach dem Grundsatz der
Kirche, den Protestanten den Rückweg nicht zu erschweren,
erließ deshalb am 4. Nov. 1741 Papst Benedikt XIV. einen
Erlaß, die Benediktina, demzufolge „diese Ketzerehen und
ketzerischen Zivilehen“ gültig seien, auch wenn die Formen
des Tridentinums nicht beachtet wurden. (Für rein katholische
Ehen galt dies natürlich nicht). Dann diente einem ähnlichen
Zwecke das am 17, Sept. 1746 erlassene Breve desselben
Papstes („Redditae sunt nobis“). Die dem Tridentinum
unterworfenen Katholiken dürfen sich, um der Trauung durch
einen nicht katholischen Religionsdiener zu entgehen,
bürgerlich vor Standesbeamten trauen lassen.
Dann führte England unter der Regierung Cromwells im
17. Jahrh. die obligatorische Zivilehe ein; sie verschwand
aber wieder.
Trotz dieser Freiheiten ging in Deutschland besonders
die Zivilehe wenig durch; im Gegenteil, im 18. Jahrhundert,
dessen zweite Hälfte die traurigste Periode, die wir kulturge-
192 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben
schichtlich nächst unserer Gegenwart kennen, war, wurde die
Trauung durch den Pfarrer der eigentliche Akt der
Eheschließung, auch bei Protestanten, was vollständig
Luthers Prinzipien widersprach. Aber darin lag auch
der Grund für die neue Entwicklung. Am 16. Januar 1783
erließ Kaiser Joseph Il. ein Ehepatent, in dem die durch die
Reformation geschaffenen Ideen in die landesfürstlichen Gesetze
in Matrimonialsachen eingeführt und für alle Untertanen bin-
dend wurden. (Freilich gingen diese Anordnungen, obwohl
sie am 1. Juli 1811 ins bürgerliche Gesetzbuch aufgenommen
waren, am 8. Okt. 1856 durch kaiserliches Patent wieder ver-
loren, und die Eheschließung wurde der Kirche zurückgegeben).
Anders wurde die Sache erst mit der französischen Re-
volution.
Hier mag noch bemerkt werden, daß der Konkubinat
durch die Reichspolizeiordnung von 1577 als „unsittlich und
gemeingefährlich“ (!!) verboten wurde. Damit beschäftigten
sich also die Regierungen, obwohl keine Gefahr vorlag, ja die
meisten Konkubinate hoch über den Ehen standen an wirk-
lichem, innerem Werte.
(Fortsetzung folgt.)
Geschlecht und Gesellschaft,
Neue Folge XI, 7
DA ES ECH tA
Hochzeitszug eines Nürnbergers Patriziers 1621 (Laurentius Strauch pict.) Zum Aufsatz Reitzenstein.
ÜBER DIE WAHRSCHEINLICHKEIT DER POLY-
PHYLETISCHEN ABSTAMMUNG DES MENSCHEN-
GESCHLECHTES.
Von Univ.-Professor Dr. Hans FRIEDENTHAL.
(Aus der Arbeitsstätte für Menschheitskunde, Berlin).
We gewohnt ist seine Worte in wissenschaftlichen Ab-
handlungen, wie es nötig ist, recht genau abzuwägen,
der wird lächeln, wenn er in so vielen Schriften von Beweisen
liest, die entweder die monophyletische Abstammung*) des
Menschen oder die polyphyletische Abstammung sicherstellen
sollen. Wir haben weder, noch werden wir in absehbarer
Zeit Beweise haben für die Abstammung des Menschen,
sondern wir müssen uns mit Hinweisen begnügen, die uns
zu einer begründeten Überzeugung führen können, auch bei
Abwesenheit zwingender Beweise. Es wird wenig Menschen
geben, welche ihre eigene Abstammung von einem Menschen-
paar nicht als unerschütterliche Überzeugung festhalten, ob-
wohl sie im naturwissenschaftlich-mathematischen Sinne nicht
bewiesen werden kann. Nur Analogieschlüsse, nicht Beweise
vermitteln uns unsere Überzeugungen von unserer eigenen
Abstammung, denn für den Naturforscher ist null und nichtig,
was der Jurist als Beweis für Abstammung gelten läßt, wie
Eide und Urkunden. Die Knochenfunde, welche wir von der
Zukunft noch erhoffen können, liefern niemals Beweise für
irgend eine Form der Abstammung, wohl aber ist es Aufgabe
jeder wissenschaftlichen Abhandlung über Abstammung des
Menschen, alle Tatsachen der Naturgeschichte, welche über-
haupt bekannt geworden sind, mit zu verwenden bei Fest-
legung auf eine begründete Überzeugung.
2 In der Menschheitskunde tun wir gut daran, uns zu
erinnern, daß das Leben des einzelnen Menschen das Leben
der ganzen Menschheit in der gleichen Weise abgekürzt
widerspiegelt, wie das Leben einer einzelnen Körperzelle
abgekürzt widerspiegelt das Leben des ganzen Zellenstaates,
welcher wnsern Körper darstellt. In der ersten Hälfte unseres
Lebens weist unser eigenes Dasein zurück auf die Vorgeschichte
des Menschengeschlechtes und auf die Vergangenheit der
ne
= i Monp hyletisch von einem Menschenpaar abstammend, polyphyletisch
n Ursprung von mehreren Stellen nehmend.
13
194 Friedenthal: Über die Wahrscheinlichkeit der polyphylet. Abstammung
Menschheitsgeschichte, in der zweiten Lebenshälfte aber weist
der Ablauf unseres eigenen Lebens vorauf in die Zukunft
der Menschheit und des Menschengeschlechtes. Wie dem
einzelnen Menschen, so ist auch der gesamten Menschheit
der Tod als Ende gewiß.
Halten wir die Analogie unseres eigenen Lebens mit dem
Leben der Menschheit für brauchbar bei Erörterung der Ab-
stammungsfrage, so werden wir uns bewußt werden müssen,
daß jede Zelle unseres Körpers abstammt von zwei ver-
schiedenen Zellen zweier verschiedener Individuen. Wohl
könnten Anhänger einer monophyletischen Abstammung sagen
— alle Körperzellen stammen von einer einzigen Zelle ab,
nämlich von der befruchteten Eizelle, aber diese an sich
richtige Ausdrucksweise würde die Tatsache verschleiern,
daß wir der Kreuzung zweier Individuen unser Dasein ver-
danken, welche sich so verschieden verhalten können, somatisch
und geistig, wie etwa zwei verschiedene Menschenrassen.
Daß Geschlechtsverschiedenheiten nicht dasselbe bedeuten wie
Rassenverschiedenheiten, mag noch besonders betont werden,
um Mißverständnisse bei der Vergleichung von Individual-
schicksal und Menschheitsschicksal möglichst auszuschalten.
Wir können also sagen, unsere Lebensgeschichte würde hin-
weisen auf eine Abstammung des Menschengeschlechtes aus
zwei verschiedenen Quellen, welche sich zu einer vereinigt
haben. Von der Vereinigung zweier Ströme zu einem Strome
sind dann später alle Varianten entsprossen, welche wir heute
als verschiedene Menschenrassen, die jemals auf der Erde ge-
lebt haben, kennen gelernt haben. Es ist alsdann Geschmacks-
sache, ob man eine solche Hypothese monophyletisch oder
diphyletisch nennen will. Daß der Ablauf unseres Individual-
lebens uns nur einen Hinweis geben kann, nicht aber Be-
weise für diese Art der Ausbreitung des Menschengeschlechtes
auf der Erde, soll dem Leser noch einmal in Erinnerung ge-
bracht werden. In der Bibel wird ebenfalls erzählt, daß außer
den Kindern von Adam noch Kinder des Lichtes bei der
Menschenzeugung beteiligt waren, während irrtümlicherweise
die Anhänger einer monophyletischen Abstammung des
Menschen sich auf das Zeugnis der Bibel beriefen, welche sie
so ungenau studiert hatten, daß ihnen die Schilderung der
mehrfachen Abstammung entgangen war.
Friedenthal: Über die Wahrscheinlichkeit der polyphylet. Abstammung 195
Wir können als sicher annehmen, daß heute die Mehrzahl
der Anthropologen der Ansicht einer monophyletischen Ab-
stammung des Menschen zuneigt und nur ein sehr kleiner
Kreis von Fachgenossen eine polyphyletische Abstammung für
denkbar hält. Der maßgebende Grund für die Anthropologen,
die Menschen monophyletisch abstammend zu denken, liegt wohl
in der unbestreitbaren Arteneinheit aller heute lebenden Menschen.
Es gibt, soweit unsere Erfahrungen reichen, keine Menschen-
rassen, welche nicht unbeschränkt fruchtbar miteinander ge-
kreuzt werden könnten, und alle entgegenstehenden Angaben
über Unfruchtbarkeit von Mischungen haben sich als irrtümlich
erwiesen. Bei den Australiern war behauptet worden, daß sie
mit Europäern nicht fruchtbar sich kreuzen könnten, während
nur die Frauen die Empfängnisse künstlich verhüteten. Es
gibt heute kaum noch Anthropologen, welche nicht an die
unbeschränkte Fruchtbarkeit aller Menschenrassen untereinander
glaubten. Nach dem Ergebnis seiner Blutsverwandtschafts-
versuche kam Verfasser vor mehr als 20 Jahren zu dem Schluß,
daß eine Befruchtung eines Menschenaffeneies durch Menschen-
samen ihm wahrscheinlich erschiene nach Analogie der Tier-
mischungserfahrung, daß gleiche Blutreaktion bei zwei Tierarten
auf Möglichkeit der Bastardierung hinwiese. Daß die Bastarde
auch unfruchtbar sein können trotz gleichartiger Blutreaktion,
zeigte das Beispiel von Pferd und Esel. Verfasser hatte bei
seinen Versuchen gefunden, daß, wenn man Kaninchen
Menschenblut injiziert, das Blut von Menschenaffen, namentlich
des Orang nicht später und nicht schwächer reagierte als das
zur Vorbehandlung benutzte Blut von Angehörigen der weißen
Rasse. Es hatte sich nicht in den Versuchen eindeutig gezeigt,
daß einer der Stämme der lebenden Anthropomorphen dem
Menschen näher stünde als die übrigen, doch wäre eine
Weiterverfolgung der damaligen Versuche über Blutsverwandt-
schaft, die dem Verfasser mangels eines Laboratoriums nicht
möglich sind, anthropologisch von dem größten Interesse.
Die Mischungsmöglichkeit aller heute lebenden Menschen
bildet zwar keinen Beweis für die monophyletische Abstammung
der Menschheit, lenkte aber doch die Blicke der meisten
Anthropologen auf den großen morphologischen Abstand, der
im Gegensatz zur Nähe der Blutreaktion, alle Menschen trennt
von allen Anthropomorphen wie von allen übrigen Primaten-
13*
196 Friedenthal: Über die Wahrscheinlichkeit der polyphylet. Abstammung
arten und Tierarten. Es soll nachdrücklich darauf hingewiesen
werden, daß durch keinen der bis 1913 fachwissenschaftlich
beschriebenen Funde von Knochenresten die Kluft zwischen
den Menschenformen und sonstigen Tierformen geschlossen
wurde, mit Ausnahme vielleicht des Pithecanthropusfundes.
Die Beurteilung der Pithecantropusreste schwankt aber der-
artig bei den verschiedenen Anthropologen, und es fehlen so-
viele zur näheren Beurteilung notwendigen Formbestandteile,
daß ein vorsichtiger Forscher gut tun wird, weitere Funde
sowohl, wie eine genauere Pithecantropuswürdigung abzuwarten,
ehe er versucht, sich ein Urteil über die Abstammung des
Menschen bilden zu wollen auf Grund der Funde von Dubois
in Trinil, Selbst wenn wir Knochenformen finden würden,
welche bis in alle Einzelheiten und in vollständigen Skeletten
dem Bilde gleichen, welches wir uns von einem morphologischen
Zwischenglied zwischen Mensch und heutigem Anthropo-
morphen machen können, so würde ein solcher Fund uns in
keiner Hinsicht Beweise liefern für die Abstammung der heutigen
Menschen von derartigen Wesen. Wir brauchen nicht die
Möglichkeit zu leugnen, daß in der Urzeit auch Menschenrassen
gelebt haben können, welche in einzelnen Merkmalen anthro-
poidenähnlicher gewesen sind als alle heute lebenden Menschen-
rassen, und doch weisen heute eine Reihe von eingehenden
Betrachtungen namentlich der foetalen Entwicklung jedes
Menschen darauf hin, daß vor der heutigen Menschen-
form nicht die Anthropoidenform, sondern die eines halbaffen-
oder früher sogar faultierähnlichen Wesens gestanden hat.
Für die Beurteilung der Nähe der Blutsverwandtschaft von
Anthropoiden und Mensch mag hier erneut auf die Arbeit des
Verfassers über die Verwertung der Haarparasiten hingewiesen
werden, welche zuerst im Jahre 1908 in der physiologischen
Gesellschaft zu Berlin vorgetragen wurden, ehe die Arbeiten
des verdienten Entomologen Fahrenholz bekannt geworden
waren. Darwin hatte zwar darauf hingewiesen, daß Verwandt-
schaft von Parasiten auf Blutsverwandtschaft von Säugetieren
deute, doch waren Darwin keine Parasiten auf Menschenaffen
bekannt gewesen, so daß er auch für die Verwandtschaft von
Affe und Mensch nicht auf die Verwandtschaft der Haarläuse
hinweisen konnte. Verfasser fand nicht nur auf dem Schim-
pansen eine Läuseart, welche im Gegensatz zu den Läusen
Friedenthal: Über die Wahrscheinlichkeit der polyphylet. Abstammung 197
niederer Affenarten zur Familie Pediculus gehörte wie die
Menschenläuse, sondern entdeckte noch auf dem Hylobates
Müller eine Läuseart, von Fahrenholz Pediculus Friedenthali
genannt, welche den Menschenläusen noch viel ähnlicher war
als die Schimpansenlaus, welche durch besonders lange Glied-
maßen ausgezeichnet waren. Übertragungsversuch des Ver-
fassers vom Schimpansenhaarpelz auf den Menschen mißlangen,
so daß die Schimpansenlaus das Menschenblut verschmäht,
obwohl sie eine Pediculusart ist. Auf niederen Altweltsaffen
wurden bisher nur Pediculusläuse und Mallophagenläuse oder
Pelzfresserläuse gefunden, welche letzteren sich nicht von Blut
nähren, sondern von den Haaren selber. Verfasser möchte
darauf aufmerksam machen, daß weder auf dem Gorilla noch
auf den Orang-Utan jemals eine Läuseart bisher gefunden
wurde, während die Gattung Mensch nicht weniger als 3 Läuse-
arten beherbergt, welche bei den verschiedenen Menschenrassen
kleine Abweichungen zeigen, die bereits von Darwin be-
merkt worden waren. Verfasser hat zuerst darauf hingewiesen,
daß nur der Mensch Phtiriusläuse beherbergt, allein von allen
Säugetieren, die Menschenaffen nicht ausgenommen. Da die
Phtiriusläuse (auch Filzläuse genannt) am meisten von allen
blutsaugenden Läusearten sich an die parasitiale Lebensweise
angepaßt haben und zu fast bewegungslosen Nestlingen sich
umgewandelt haben, liegt der Gedanke nahe, daß wir in den
Phtiriusläusen eine sehr alte Schmarotzerfamilie vor uns sehen,
welche bereits bei den Ahnenstufen der Menschen an die
parasitiale Lebensweise sich anpaßten. Fahrenholz hatte da-
rauf aufmerksam gemacht, daß unter den amerikanischen Affen
Ateles ebenfalls Pediculusläuse beherbergt, wie Mensch und
Menschenaffe. Eine Änderung in der Beurteilung der syste-
matischen Stellung von Ateles kann aus dem Befund von
Pediculusläusen nach Ansicht des Verfassers nicht erfolgen,
da in allen übrigen anatomischen Merkmalen Ateles sich als
echter Breitnasenaffe erwiesen hat.
Die Unterschiede in den Läuseformen der heute lebenden
Menschenrassen sind so gering und so schwierig genau zu
präzisieren, daß Verfasser glaubt, auch in dem Verhalten der
Läusearten einen Hinweis auf die zoologische Gleichartigkeit
der heute lebenden Menschheit zu erblicken. Es ist dem Ver-
fasser bisher noch nichts davon bekannt geworden, daß man
| 198 Friedenthal: Über die Wahrscheinlichkeit der polyphylet. Abstammung
bei allen lebenden Menschenrassen Phtiriusläuse gefunden hätte,
und doch wäre auch für die Beurteilung der polyphyletischen
Abstammung des Menschen es nicht gleichgiltig, wenn sich
` herausstellen sollte, was Verfasser für möglich hält, daß niemals
Phtiriusläuse bei Melanodermen gefunden werden, während
Australier, Arier und alle Poikilodermen als Träger von Phtirius-
läusen bekannt geworden sind. Verfasser möchte auch an
dieser Stelle auf die Wichtigkeit der Untersuchung der Parasiten
der verschiedenen Menschenrassen hinweisen, welche bisher
von fast allen Forschungsreisenden arg vernachlässigt worden
sind. Es ist notwendig, sich die Eigenheiten der menschlichen
Läusearten recht genau einzuprägen, wenn man beim Sammeln
zu neuen Ergebnissen beitragen will. Die Kleiderläuse, die
häufigste Läuseform, scheint auf der ganzen Erde am gleich-
artigsten gefunden zu werden, während die Kopfläuse ent-
sprechend der Haarverschiedenheit der Menschenrassen mehr
differieren.. Über die Haarverschiedenheiten bringen Aus-
führliches die Beiträge des Verfassers zur Naturgeschichte des
Menschen. Jena, Verlag von Gustav Fischer, 1908. Die Be-
trachtung der Verschiedenheit der Haare bei den heute lebenden
Menschenrassen könnte noch am ehesten den Gedanken an eine
polyphyletische Abstammung des Menschengeschlechtes nahe
legen, wenn wir nicht wüßten von unsern Haustieren her, wie
stark das Haarkleid variieren kann bei ganz nahe verwandten
Säugetierarten. Immerhin glaubt Verfasser, auch bei unsern
Haustierrassen sehr häufig den Charakter des Haarkleides zur
Wahrscheinlichmachung von Kreuzungen heranziehen zu müssen.
Ја, тап kann sogar annehmen, daß gewisse Haarformen wie
das Pudelhaar beim Hunde, ebenso wie das Haar der Melano-
dermen beim Menschen letzten Endes der Kreuzung ver-
schiedener Abarten mit darauf folgender Beschleunigung des
Hautwachstumes ihr Dasein verdanken. Nicht die Betrachtung
der Form, also die Kräuselung, sondern die Beachtung der
Beschleunigung des Wachstums der Epidemis, auf welche Ver-
fasser als Physiologe hinwies, eröffnet uns ein Verständnis für
die Bedeutung des Auftretens des Kraushaares beim Menschen
und den Haustieren. Erst die Beachtung der Funktion lehrt
uns die Bedeutung einer Form im Tierreich erkennen, weshalb
der Physiologie des Menschen in der Anthropologie ein ganz
anders breiter Raum zu widmen wäre als der bloßen ana-
Friedenthal: Über die Wahrscheinlichkeit der polyphylet. Abstammung 199
tomischen Formbeschreibung, welche bisher fast ausschließlich
von den Anthropologen bevorzugt wurde. Wie die Form zu
verstehen ist aus der Funktion, konnte am Haarkleid des
Menschen besonders deutlich gemacht werden, doch verlangen
alle übrigen Organsysteme, besonders aber das Zentralnerven-
system nicht minder eine kritische und eingehendere funktionelle
Formanalyse, als sie bisher bekannt geworden ist.
Für die Haare der Menschenrassen gilt heute die Erfahrung,
daß — abgesehen von ganz groben Anomalien, wie Auftreten
von Fellhaar bei den sogenannten Haarmenschen oder Pudel-
menschen, welches stets mit Zahnanomalien verbunden auftritt,
niemals längere Zeit reinrassig gezüchtete Individuen extreme
Haarformen außerhalb ihrer Rassekreise aufweisen. Ein bestimmt
reinrassiger Chinese mit Buschmannhaar ist niemals beschrieben,
ebensowenig ein Südafrikaner mit straffen Haaren, nicht einmal
bei den mittelhaarigen Poikilodermen, der sogenannten weißen
Rasse, treten jemals Individuen auf, welche Haare wie die
Melanodermen haben. Locken sind bereits verdächtige Hinweise
auf südländische Beimischung, krause Haare aber bestimmter
Hinweis auf Melanodermenblut in der Ahnenreihe. In der
gleichen Weise sind bei Negern langes mittelweiches Haupthaar
sicheres Zeichen von Bastardierung. Wir können also mit
einiger Sicherheit beim heutigen Menschen die Beschaffenheit
der Haupthaare für Rassendiagnose verwenden, ohne befürchten
zu müssen, durch Spontanvariationen (ohne Kreuzung) getäuscht
zu werden. Für die Abstammung des Menschengeschlechtes
aus zwei verschiedenen Stämmen spricht also das Auftreten
einer Variante mit Haaren, wie sie der Buschmann als extrem
aufwies, der heute als reine Rasse gänzlich ausgestorben ist,
so daß sein Blut nur noch in Mischungen den extrem krausen
Haartypus vererbt. Beim Hunde wissen wir, daß der extrem
krause Haartypus des Pudels mit Sicherheit durch die Kreuzung
zweier Hunderassen jederzeit von uns neu erzeugt werden kann,
wenn wir wollen. Beim Menschen ist die Mischlingskunde
noch so wenig ausgebildet, daß wir keine Nachricht von dem
Auftreten krauseren Haares aus zwei weniger krausen Rassen
haben, ohne daß wir daraus schließen dürfen, daß beim
Mischen der Menschenrassen so etwas unmöglich wäre, Beim
Pudel ist wie beim kraushaarigen Menschen die Kraushaar-
bildung auf Beschleunigung des Hautwachstumes und auf
200 Friedenthal: Über die Wahrscheinlichkeit der polyphylet. Abstammung
überschüssiges Hautwachstum zurückzuführen. Beim Pudel
wie beim Neger ist faltige lose Haut mit der Kraushaar-
bildung verbunden, während straffes Haar beim Menschen
wie bei den Hunderassen mit enganliegender straffer Haut
verbunden auftritt. Das Haarwachstum ist nur ein Spezialfall
des Wachstums der Oberhaut, aus deren überschüssigem
Wachstum durch Einfaltung nach innen die Haare hervorgehen.
So ungewohnt den Anthropologen die Auffassung der Busch-
männer als einer Kreuzung aus zwei noch älteren Menschheits-
zwergen auch sein mag, lehrt uns doch das Beispiel unserer
Haustiere auch diese Möglichkeit ernsthaft ins Auge zu fassen.
Verfasser möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, wie wichtig
die systematische, wissenschaftliche Verfolgung des Haar-
schicksales bei Pudelbastarden wäre und wie dringend not-
wendig die Menschenkunde eine systematische Durchforschung
der Rassenkreuzungen nötig hat. Reinrassige Menschen wird
es in kurzer Zeit auf der Erde nicht mehr geben, — sie sind
jetzt bereits sehr selten, — wenn die Menschheit nicht die
Reinzüchtung von Rassen aus den vorhandenen Mischungen
nach wissenschaftlichen Prinzipien in die Hand nimmt. Der
Mensch als Tierart ist einheitlich und durch eine Kluft von
allen lebenden, und wir dürfen hinzusetzen, vorläufig noch von
allen bekannten ausgestorbenen Tierarten getrennt. Damit geht
es dem Menschen zoologisch nicht anders wie zum Beispiel
dem Elefanten, der sogar weiter zoologisch absteht von allen
anderen lebenden Tierarten als der Mensch von den andern
Primatenarten. Die Entstehung des Elefanten aus Nichtrüssel-
tieren ist ebensowenig physiologisch klar gelegt wie die des
Menschen und doch wissen wir, daß eine ganze Zahl von
elefantenähnlichen Säugetieren ausgestorben sind und daß sich
auf diese Weise die Kluft zwischen den Elefanten und den
übrigen Säugetieren vergrößert hat. Über die eigentlichen
Ursachen der Bildung irgend einer Tierart sind wir ebensowenig
unterrichtet wie über die Art der Herausbildung der Menschen-
form. Noch heute gibt es eine kleine Zahl von Merkmalen,
die der Mensch mit allen anderen Primatenarten teil. Wir
können vor allem das Gebiß nennen. Während kein lebendes
Säugetier die Zahnformel mit den Elefanten teilt, entspricht die
Zahnformel des Menschen der der Ostaffen, indem je zwei
Schneidezähne und Eckzahn, zwei Vormahlzähne und drei
Friedenthal: Über die Wahrscheinlichkeit der polyphylet. Abstammung 201
Backenzähne in jeder Hälfte des Ober- und Unterkiefers vor-
kommen. Hier sei jedoch darauf hingewiesen, daß bei einer
großen Zahl von Individuen der Poikilodermen-Rasse nicht
mehr als zwei Backenzähne gleichzeitig in jeder Kieferhälfte
gefunden werden, so daß also die Zahnformel des modernen
Menschen sich durch Mangel von vier Zähnen von der Zahn-
formel der Menschenaffen und Ostaffen zu unterscheiden beginnt,
und wo bei den Elefantenarten ein völliges Isoliertstehen auch
in der Zahnformel beim Menschen sich anbahnt. Die Westaffen
oder amerikanischen Affen haben drei Normalzähne und zwei
Mahlzähne. Allen Affen und dem Menschen gemeinsam im
Gebiß ist der Besitz von vier Schneidezähnen und vier Eck-
zähnen. Alle Affenarten und der Mensch haben unbewegliche
Ohrmuscheln und eine Forea centralis, eine Stelle des deutlichsten
Sehens in der Netzhaut sowie eine Parallelstellung der Augen
allein unter allen Säugetieren. Alle Affenarten haben neben
dem Daumen, der einigen Affen fehlt, wie der Mensch acht
dreigliedrige Finger an Händen und Füßen, sowie zweigliedrige
Großzehen an den Füßen neben acht dreigliedrigen Zehen.
Die verkümmerte Ausbreitung der Brustwarzen auf einen kleinen
Bezirk ist allen Primaten gemeinsam, ebenso im Gröberen die
Form der Samenfäden. Alle Primaten besitzen mit dem Men-
schen zwei brustständige Zitzen und eine ähnliche Bildung
der Eihäute, trotz Verschiedenheit in der Implantation des Eies
in der Gebärmutterschleimhaut. Die Männchen besitzen äußere
Hoden und einen Penispendulus. Іт Zentralnervensystem
überdeckt bei allen Primaten wie beim Menschen das Groß-
hirn das Kleinhirn vollständig. Die Knochen an Becken und
Schultergürtel sind allen Primaten, unter ihnen dem Menschen,
gemeinsam.
Dagegen gibt es eine Reihe von Merkmalen, die zwar
allen Primatenarten, aber nicht dem Menschen zukommen und
daher für unser Gefühl eine Sonderstellung des Menschen auch
in zoologischer Hinsicht bedingen. Keine andere Primatenart
besitzt wie der Mensch eine Krümmung der Lendenwirbelsäule,
keinem Primaten außer dem Menschen fehlt deutlich Sohlen-
hornbildung unter den Nägeln, kein Primat besitzt ein Sprach-
zentrum im Gehirn. Das Diastema der Eckzähne fehlt keinem
anderen Primaten, ebenso größere vorspringende Eckzähne.
Jeder Primat außer dem Menschen besitzt Blutsackhaare
202 Friedenthal: Über die Wahrscheinlichkeit der polyphylet. Abstammung
(Sinneshaare) wie alle übrigen Säugetiere, kein Primat besitzt
Phtiriusläuse wie der Mensch. Die Kinnmuskelstärke, die
Wadenmuskelstärke des Menschen fehlt allen übrigen Primaten.
Alle Primaten außer dem Menschen besitzen verkümmerte
Daumen, alle eine verküümmerte knöcherne äußere Nase. Achsel
und Schambehaarung sowie Sichtbarkeit des weiblichen Sexual-
teiles bei der völligen Aufrichtung von vorn fehlt allen
Primaten außer dem Menschen, die Haararmut des Menschen
auf dem größten Teil der Leibesoberfläche wird bei keinem
andern Primaten gefunden. Alle diese Unterschiede neben der
geringen Gehirngröße bedingen für uns das Gefühl der Ab-
sonderung aller Menschenrassen von allen übrigen Primaten-
arten oft in so hohem Grade, daß das Gewicht der gemein-
samen körperlichen Merkmale inklusive der Blutsverwandt-
schaftsreaktion zu wenig beachtet wird. Wenn wir versuchen
wollen uns ein Bild davon zu machen, ob eine polyphyletische
oder eine monophyletische Abstammung des Menschen mehr
Wahrscheinlichkeit für uns haben soll, können wir versuchen, die
Abstammung der in historischer Zeit entstammenden Völker-
schaften ins Auge zu fassen, und erst wenn wir hierin klar
sehen, weiter in die Vergangenheit hinabzusteigen. Wir werden
gut tun bei der Betrachtung vergangener Zeiten, nie mehr uns
geändert zu denken gegenüber der Jetztzeit, als unbedingt nötig
ist und jede überflüssige Abweichung als fehlerhafte Betrachtung
aufzufassen.
Gehen wir die Abstammung der Menschen in der Jetztzeit
durch, so finden wir zum Beispiel in England Nachkommen
von Kelten, Römern, Angeln, Sachsen, Normannen und Juden,
nicht zu rechnen alle die übrigen Völker, von denen einzelne
Individuen auf englischem Boden sich fortgepflanzt haben oder
in den englischen Kolonien ihr Blut mit dem englischen ge-
mischt haben unter Rückwanderung der Mischlinge nach Eng-
land. In Spanien haben wir die Nachkommen der Römer,
Basken, Iberer, Karthager, Araber, Juden, Germanen in vorläufig
untrennbarer Mischung, in Italien und Griechenland die gleichen
Mischungen, in Frankreich die Nachkommen der Kelten, Römer,
Germanen, Araber und Juden, in Deutschland und Österreich-
Ungarn die Nachkommen der Germanen, Slaven, Ungarn,
Mongolen, Türken, Juden, Römer und Kelten, in Rußland haben
sogar 128 verschiedene Völkerschaften der verschiedensten
Friedenthal: Über die Wahrscheinlichkeit der polyphylet. Abstammung 203
Rassen zur Bildung der heutigen Mischung beigetragen. Auf
der Balkanhalbinsel war das Völkergemisch noch weit reich-
haltiger als in Spanien und Italien, da diese Gegend gürtel-
förmig von den verschiedensten Menschenrassen umlagert ist.
In Asien haben wir ein Volksgemisch, welches im Norden die
Polarrassen, im Osten die mehr xanthodermen Mischungen, im
Süden die malayischen Rassen, im Westen die Poikilodermen,
überall vereinzelt australische Urrassenabkömmlinge und Ab-
kömmlinge von Melanodermen an der Peripherie. Reinrassige
Individuen im Sinne der Tierzüchter werden eher in Asien zu
finden sein. In Australien finden wir die Reste der Urbevölkerung
gemischt mit papuanischen also melanodermen eingeführten
Arbeitern und die Menge der eingewanderten Weißen neben
wenigen chinesischen Einwanderern auf den ozeanischen Inseln,
eine aus vielen Rassen gemischte Bevölkerung mit kaum
merklichen Resten der Ureinwohner. Bei der Entdeckung waren
bereits drei verschiedene Rassen in Ozeanien angesiedelt, die
melanodermen Papuas die indianerähnlichen maoriartigen
Rassen der Ostinseln und die Uraustralier. Amerika zeigt heute
ein Gemisch von Polarmenschen, Indianerresten, Negern, Asiaten
und alle europäischen Völker und Rassen bunt durcheinander.
Die Negerbevölkerung dringt vom Süden immer weiter nach
dem Norden vor, während die alteingewanderten weißen
Familien häufig aussterben. In Afrika sind im Süden die
Reste der ausgestorbenen Buschmänner, ferner Hottentotten,
Hamiten, Neger, Weiße, Inder und Araber im Mittelteil, Akka’s
Neger, Weiße aller Rassen und Mischungen sowie Inder und
Araber im Norden, die Araber, Juden, Fellachen und Weiße
gemischt mit Negern und Hamiten. Es wird dem Anthropologen
schwer fallen in wenigen Generationen reinrassige Individuen
in Afrika noch anzutreffen, da keinerlei systematische Inzuchts-
bestrebungen, die in Europa die Allmischung der Menschen-
rassen wenigstens verzögern, in Afrika sich geltend machen
und das reine Element wohl nur in Mischlingen in Afrika
bodenständig werden kann. Obige Übersicht zeigt, daß in der
Jetztzeit die Freizügigkeit der Menschheit über den ganzen
Erdball und die Vermischungstendenzen einen solchen Grad
erreicht haben, daß die Wirkungen der durch Isolierung hervor-
gerufenen Inzucht und Rassenbildung aufgehoben zu werden
scheinen und eine allmähliche Aufhebung aller Reinrassigkeit
204 Friedenthal: Über die Wahrscheinlichkeit der polyphylet. Abstammung
sich anbahnen will. Betrachten wir die Menschheit zur Zeit
der ältesten geschichtlichen Urkunden, also etwa 4000 vor
Christus, so finden wir schon dort in jedem Erdteil mindestens
zwei verschiedene Menschenrassen wohnen, deren Mischung
bereits vor der Einwanderung der ersten Weißen begonnen
hatte. Freilich war in dieser Menschheitsepoche Isolierung
ganzer Stämme für lange Zeiten und damit Bildung neuer
Menschenrassen die Regel, Vermischung die Ausnahme, während
heute Aufhebung jeder Isolierung in der Menschheit das
Charakteristikum unserer Zeitepoche bildet. Dieser stete Wechsel
von Perioden der Inzucht und Isolierung, also der Rassen-
bildung und der Vermischung, welche zur Bildung neuer
Elemente, nämlich der Mischrassen führte, aus denen durch
spätere Isolierung und Inzucht wieder neue Rassen sich bilden
konnten, erklärt uns die Schwierigkeit des Problems der Ab-
stammung der Menschheit aus den Tierformen der Vorzeit.
Wir müssen brechen mit der Vorstellung, daß das gesamte
Reich der Lebewesen einem Baume gleicht, dessen Zweig-
spitzen die heutigen Lebewesenformen darstellen, diesem Baume
gleicht nur unsere Systematik. Die Lebewesenwelt selber
dagegen gleicht einem Netzwerk mit Knotenpunkten,
welche die Zeit der Kreuzung darstellen und Faden-
teilen, welche den Zeiten der Isolierung und Rassen-
bildung entsprechen. Wie in unserem erwachsenen Körper
nicht ein einziges Organ aus einer Zellart sich bildet, sondern
alle Organe polyphyletisch durch Zusammenschluß mehrerer
Zellarten sich bilden, so können wir uns auch jede Lebensart
durch Zusammenschluß verschiedenartiger Elemente entstanden
denken. Ist durch Zusammenschluß zweier Verschiedenheiten
etwas Neues entstanden, dann tritt Inzucht als artbildender
Faktor auf um das entstandene neue herauszuheben aus der
sonst unübersehbaren Masse der Mischungen. Die Unter-
suchung der Abstammung unserer Haustiere bietet weniger
Schwierigkeiten als die des Menschen und wird sehr wahr-
scheinlich ergeben, daß unsere variabelsten Haustiere, wie
Hund, Rind und Schwein nicht monophyletisch sondern poly-
phyletisch entstanden gedacht werden können. Nicht genug
kann darauf aufmerksam gemacht werden, wie notwendig die
Betrachtung der Haustierähnlichkeit des Menschen für die
Menschenkunde ist.
4
riedenthal: Über die Wahrscheinlichkeit der polyphylet. Abstammung 205
Wir ziehen also aus der großen Variationsbreite der
heutigen Menschen einen Schluß auf die polyphyletische Ab-
stammung der Menschheit, welche bei Annahme eines Erb-
massennetzwerkes, wie es oben schon geschildert wurde,
an sich die größere Wahrscheinlichkeit für sich hat. Wenn
auch heute wohl kein Forscher mehr die Abstammung
von einem Anthropoiden vertrit, so wäre doch noch zu
untersuchen, ob der Betrachtung der sogenannten Urrassen
eine Scheidung in orangähnliche oder besser ostanthropoiden-
ähnliche und gorilla- oder schimpansenähnliche oder west-
anthropoidenähnliche Menschenrassen möglich ist. Die Blut-
untersuchungen haben bisher nicht zu einer Bestätigung dieser
Ansicht geführt. Für eine Ähnlichkeit der melanodermen Rassen
mit dem Schimpansen, der übrigen Menschen mit dem Orang
(so würde Verfasser gliedern), spricht nur eine gewisse Ähn-
lichkeit der Temperamentveranlagung, welche allerdings sehr
suggestiv zu wirken imstande ist. Der überlegende, im Alter
melancholische Charakter der Orangs, die hohe Stirnentwick-
lung der ganzen Orangs erinnert an gewisse Ostasiaten-
charaktere, ebenso wie die gelblichen Hautpigmente mit blauen
Flecken, die an die Mongolenflecke der Menschen erinnern.
Die schwarze Haut vieler Schimpansen und der Gorillaarten,
das heutige Temperament der ganzen Schimpansen im Gegen-
satz zu den jungen Orang-Utans erinnert an ähnliche Eigen-
schaften der Melanodermen, ebenso wie die fliehenden
Stirnen der jugendlichen Westmenschenaffen. Die kurzen
Beine der Orangfoeten, die längeren Beine der Schimpansen-
foeten erinnern, wie Verfasser fand, an die Kurzbeinigkeit der
Ostasiaten und die extreme Langbeinigkeit vieler Negerstämme,
die bereits in der Foetalperiode ausgesprochen ist. Mit diesen
wenigen Ähnlichkeiten ist, soweit Verfasser suchte, alles er-
schöpft, was als Ähnlichkeit der Menschenaffenzweige mit
solchen von Menschenrassen angeführt zu werden verdient.
In allen übrigen Punkten, die einen Menschenaffen von
einer Menschenrasse unterscheiden, ist damit zugleich ein
Unterschied gegen alle Menschenrassen überhaupt gegeben,
obwohl erst nach eingehenderer Untersuchung aller Organ-
systeme ein sichereres Urteil sich wird fällen lassen als heute
möglich ist. So ist die Großzehe aller Orangs nagellos, aber
nicht die Großzehe irgend einer Menschenrasse, so fehlen, wie
206 Friedenthal: Über die Wahrscheinlichkeit der polyphylet. Abstammung
Studienrat Weinert fand, allen Orangarten und Hylobatesarten
die Stirnhöhlen, die allen übrigen Ostaffen und auch allen
Menschenrassen zukommen. Der Pithecanihropus soll starke
Stirnhöhten aufweisen wie alle Menschenarten. Als Regel
können wir heute bereits aussprechen, daß Unterschiede einer
Menschenaffenart gegenüber einer Menschenrasse zugleich
Unterschiede gegenüber allen Menschenrassen bedeuten, Nach
unseren heutigen anatomischen Kenntnissen haben wir kein
Recht die hypothetischen Ahnenstufen des Menschen mit den
heutigen Menschenaffen in nähere Beziehung zu bringen, wenn
auch eine eingehende nochmalige Prüfung der wichtigen Frage
der verschiedenen Menschenaffenähnlichkeit verschiedener
Menschenrassen durchaus vom Verfasser empfohlen werden
soll, da doch einige wenige Hinweise vorliegen. Namentlich
die Untersuchung von Menschenrassefoeten und Menschen-
affenfoeten, von denen Verfasser einige wenige Exemplare er-
halten konnte, versprechen hier neues Licht und vielleicht eine
Entscheidung zu bringen. Die Frage nach der polyphyletischen
Abstammung des Menschengeschlechtes ist nach Ansicht des
Verfassers unabhängig von dem Bau der heutigen Menschen-
affen ebenso umstritten, wie die Frage nach der Abstammung
irgend einer anderen Lebewesenart, namentlich der verschiedenen
Affenarten, von denen wir bei keiner Art etwa mehr wissen,
als von der Abstammung des Menschen. Vielleicht verhilft
die Anschauung vom Erbmassennetzwerk der Lebewesen
zu einer klareren Einsicht von der Blutsverwandtschaft aller
Lebewesen im Erbnetz der Vergangenheit an Stelle der häufig
allzustreng monophyletisch gefaßten Hypothesen.
208 Rutgers: Das Sexualleben als Evolutionsfaktor
Da fragt man sich erstaunt, wie kann das Sexualleben,
das doch unsere höchste Entwicklungsstufe darstellt, so weit-
gehende Analogien mit Krankheitserscheinungen darbieten?
Wer findet hier den Leitfaden, um uns aus diesem Labyrinth
herauszuhelfen?
Die Natur ist immer und überall voll von den schroffsten
Widersprüchen und Gegensätzlichkeiten, die sich dann später
wieder harmonisch, wenn auch nicht immer nach unserm
Geschmack, lösen. Werden und Vergehen, Aufbau und Ab-
bau, Evolution und Regression gehen immer Hand an Hand,
bedingen sich sogar gegenseitig.
So finden wir auch, namentlich bei den vielzelligen
Organismen, einen biologisch sehr tiefliegenden Gegensatz
zwischen dem vegetativen Wachstum (der Bildung von Zellen,
die aneinander verkettet bleiben) und dem sexuellen Wachs-
tum (der Bildung von Einzelzellen).. Das vegetative Wachs-
tum ist weitaus das mächtigere, und ermöglicht bei den
Pflanzen wie bei vielen niedrigen Tiergattungen eine fast
unbedingte Vermehrung der Internodienzahl, resp. der
Gliederzahl. Und doch gibt es Fälle, wo es schließlich
stockt. Sobald die Bäume zu hoch, die Zweiglein zu lang
werden, sobald Wasserpflanzen und Schimmelfaden die Grenze
ihres feuchten Mediums erreichen, sobald bei den höheren
Tiergattungen mit ihrer in sich selbst abgeschlossenen Körper-
form die Grenze der Wachstumsmöglichkeit etwa erreicht ist,
ist das normale vegetative Weiterwachsen eine Unmöglich-
keit geworden, und wenn dann doch noch genug Energie-
vorrat aufgespeichert ist, kann diese nur in einem modifizierten
Wachstumsmodus zum Ausdruck kommen.
Unter abnormaler Kernteilung bilden sich jetzt Einzelzellen,
die dann bald massenhaft abgestoßen und ausgestreut werden,
und die wir deshalb Fortpflanzungszellen nennen. Immer
handelt es sich dabei erst um eine abnormale Wucherung
als Ausdruck der noch vorhandenen Wachstumsenergie: eine
Pinselbildung beim Penicillium glaucum, eine Tumorbildung
bei den meisten Pilzen, eine Blüteknospenbildung bei den
Pflanzen, eine Testes- und Ovarienbildung bei den höheren
Tiergattungen. Alles abnormale Wucherungen, die schließlich
in ihre Einzelzellen (Sporen oder Befruchtungszellen) aus-
einanderfallen. Geht hierbei auch in vielen Fällen das
Tafel Il
н Weinende Bauernbraut.
P Zum Aufsatz Reitzenstein.
p.
Tafel Il
Keuschheitsgürtel v. P.Flötner (geb. zirka 1493, 7 Nürnberg 23. Okt. 1546.
Zum Aufsatz Reitzenstein.
Rutgers: Das Sexualleben als Evolutionsfaktor 209
Individuum zugrunde die Fortexistenz der Gattung ist dann
doch verbürgt.
Dieser abnorme Wachstumsvorgang ist als ein Rück-
schlag, ein Atavismus zu betrachten, wie in der Urperiode
des organischen Lebens alle Organismen einzellig waren.
Damals ist erst durch üppiges Wachstum die Bildung von
vielzelligen Organismen ermöglicht; kein Wunder also, daß,
sobald dieses Wachstum zu sehr gehemmt wird, das einzellige
Stadium wieder auftritt. Wenn dann aber nachträglich diese
Einzelzellen wieder in üppige Lebensbedingungen versetzt
werden, z. B. indem die Sporen nach einem besseren Stand-
ort auswandern, oder die Befruchtungszellen nach einer Energie
verdoppelnden Zusammenschmelzung im mütterlichen Organis-
mus günstige Bedingungen finden, fängt wieder ein neues
vielzelliges Stadium an sich auszubilden, aber jetzt mit
günstigeren Bedingungen und besserer Aussicht auf Erfolg.
So geht es immer periodisch weiter. Beide Phasen, die
vegetative vielzellige und die sexuelle einzellige Phase, mit
ihren gegensätzlichen Lebensbedingungen und ihren gegen-
sätzlichen Vorzügen, ergänzen sich wechselseitig. Es ist dieser
periodische Wechsel die schönste Stufenleiter der Evolution.
Anfangs mag das erste Auftreten dieser sexuellen Wachs-
tumsmodifikation eine seltene Ausnahme gewesen sein, etwa
wie eine Krankheitserscheinung infolge der genannten Wachs-
tumshemmung. Weil aber die höheren anspruchsvolleren
Gattungen früh oder spät immer an einen Punkt kommen,
wo dem vegetativen Wachstum ein Ziel gesetzt wird, so ist
auch mit der Zeit die sexuelle Reaktion gegen diese Hemmung
immer mehr etwas wesentlich normales geworden.
Jeder Evolutionsfaktor ist ja der daran vorangehenden
Norm gegenüber anfangs als etwas abnormales zu betrachten;
von Krankheit aber reden wir nur dann, wenn wir die Nach-
teile hervorheben wollen. Hier darf man also jetzt nicht mehr
von einer Krankheitserscheinung reden. In der alten Medizin
nannte man einen so schroffen Übergang: eine Krise. So hat
man auch hier an den Wendepunkten jedesmal abwechselnd:
die sexuelle Krise als Übergang vom vielzelligen zum ein-
zelligen Stadium, und dann wieder die Geburtskrise, sobald
der vielzellige Organismus wiederum an die Öffentlichkeit tritt.
Nur so läßt sich das sexuelle Phänomen mit seinen
14
210 Rutgers: Das Sexualleben als Evolutionsfaktor
schroffen Gegensätzen zum vegetativen Wachstum recht ver-
stehen. Anstatt bei jeder Hemmung rettungslos unterzugehen,
wird die Gattung jedesmal wie von Anfang an neu geschaffen,
jedesmal wieder besser angepaßt, jedesmal höher hinaufgezüchtet.
Und weil es sich bei jeder Gattung erst im erwachsenen
Lebensalter verwirklichen kann, ergänzt uns das Sexualleben
in der Natur durch seine unendliche Formverschiedenheit und
seinen Farbenreichtum.
Auch für das Individuum selbst, das von der sexuellen
Katastrophe befallen wird, hat dieses Ereignis eine alles über-
wältigende Bedeutung, gerade deshalb, weil das Sexualleben
in einem so schroffen Widerspruch zum vegetativen Leben
steht. Hierüber noch ein paar Worte. Unser Körperwachs-
tum ist dann im Großen und Ganzen vollendet, aber wie
können jetzt diese Einzelzellen hinausbefördert werden? Hier
stößt man auf Widerstände, die kaum zu bewältigen sind.
Dieser zarte Prozeß verlangt die gegenseitige Unterstützung
und Anregung eines Partners. Das erheischt dann wieder
einen ganzen Aufwand von geistiger Anstrengung, von Sehn-
sucht, von Liebe. Von jetzt an heißt es, sich dafür eine Zu-
kunft, eine Existenz zu schaffen.
So führt uns die sexuelle Krise zum Gipfelpunkt unserer
Lebensenergie; so wird sie die Urquelle aller ritterlichen,
aller altruistischen Tugenden, was aber nicht ohne schweren
Kampf einhergeht. Je höher wir uns unsere Ideale stellen,
umsomehr Entsagung und Selbstbeherrschung muß vorangehen,
bevor wir es so weit bringen können, und erinnert uns dann
auch wieder jedesmal so recht an den schroffen Gegensatz
des Sexuellen und des Vegetativen. Gelingt es uns aber da-
durch, unserm Ideale näher zu kommen, dann führt uns das
Sexualleben zur höchsten Wonne.
ISS
Fehlinger: Die Kinderehe in Vorderindien 211
DIE KINDEREHE IN VORDERINDIEN.
Von H. FEHLINGER, Mitglied des Intern. Arbeitsamtes in Genf.
Кит sind bei den Naturvölkern sehr häufig,
aber es ist bei ihnen doch selten, daß Kinder als rechtliche
Ehegatten gelten. Dagegen ist die förmliche Kinderehe in
Vorderindien weit verbreitet. Nach den Ergebnissen der letzten
Volkszählung waren von je 100 bis fünfjährigen Hindumädchen
zwei verheiratet, von den Hindumädchen der Altersklasse
5 bis 10 Jahre 14 von 100 und von jenen der Alterklasse
10 bis 15 Jahre schon 47 von 100. Die entsprechenden
Zahlen für die gleichalterigen Hinduknaben sind 1, 5 und 17
von 100. Auch bei den Mohamedanern Indiens ist die Kinder-
ehe in bedeutendem Umfange Brauch und sie kommt selbst
bei den Christen vor. Von den indischen Christenmädchen
waren ehelichen Standes in der Alterklasse bis 5 Jahre 0,4,
in der Klasse 5 bis 10 Jahre 1,6 und in der Klasse 10 bis 15
Jahre 11,6 von 100. In Betracht kommt dabei auch, daß die
Mehrheit der indischen Christen im Süden der vorderindischen
Halbinsel ansässig sind, wo die Kinderehen bei der Bevölkerung
überhaupt verhältnismäßig weniger Brauch sind.
Die regionalen Unterschiede in der Häufigkeit der Kinder-
ehe sind auffallend. So gut wie unbekannt ist sie im äußersten
Westen, nämlich in der Nordwestgrenzprovinz, in Belutschistan
und in den zur Provinz Bombay gehörigen Landschaft Sind-
Gebieten, wo der Islam die herrschende Religion ist und wo
die sozialen Einrichtungen des eigentlichen Indien bisher nicht
Fuß zu fassen vermochten. Die Kinderehe ist ferner unbekannt
in Birma, in Assam, in den südindischen Eingeborenenstaaten
in Kotschin, Travancur und Maisur und in dem kleinen
Gebiet Kurg.
Es kommt bei den Hindu sogar vor, daß noch ungeborene
Kinder förmlich verheiratet werden. J. A. Sauter („Mein Indien“,
Leipzig 1921), schreibt diesbezüglich: Wenn eine Frau
schwanger geworden ist, sucht der Mann unter den Kasten-
genossen nach einer Frau, die sich im gleichen Zustand be-
findet. Nach der Erledigung des geschäftlichen Teils wird die
Hochzeit mit allen Zeremonien vollzogen, und das noch nicht
auf der Welt erschienene Brautpaar wird durch zwei im Hoch-
zeitsstaat geschmückte Puppen vergegenwärtigt. Da sich das
14*
212 Fehlinger: Die Kinderehe in Vorderindien
Geschlecht des Kindes vor der Geburt nicht feststellen läßt,
ist die Hochzeit eine „bedingte“, d. h. wenn das Kind der zweiten
Frau vom selben Geschlecht ist, so sind die Zeremonien un-
gültig und der Vater des Knaben wiederholt die gleiche Spe-
kulation bei einer anderen Frau.
Bei den noch nicht dem Einfluß des Hinduismus unter-
worfenen Drawidenvölkern Indiens ist die Kinderehe unbekannt.
Wird aber ein Drawidenstamm hinduisiert, so muß die vordem
bestandene voreheliche Freiheit restlos aufgegeben werden und
man sucht die Tugend der Mädchen damit zu schützen, daß
dieselben vor Eintritt des Geschlechtstriebes verheiratet werden, *)
also bevor sie die Möglichkeit zu vorehelicher Hingabe haben.
Damit stimmt die Tatsache überein, daß die Kinderehe im
Kontaktgebiet der Rassen am häufigsten ist, und daß ihr die
unteren Kasten mehr zugetan sind als die höheren. Die Aus-
breitung der Kinderehe mag durch andere Faktoren noch be-
günstigt worden sein, wie z. B. durch das Verbot der Verhei-
ratung von Witwen, durch welches das ohnehin schon be-
stehende Mißverhältnis in der Zahl der geschlechtsreifen, heirats-
fähigen Personen beider Geschlechter noch vergrößert wird.
Es sind viele heiratslustige Männer in Gefahr, keine Frauen zu
finden; um nicht zeitlebens ledig bleiben zu müssen, sichern
sie sich Gattinnen, die noch nicht geschlechtsreif sind.
*) Dies ist sicherlich nicht Grund der Frühehe; sondern der Glaube,
es sei Sünde, wenn beim Mädchen die erste Ovulation ohne Gelegenhtit
Mutter zu werden verläuft. Es ist dies eine religiöse Vergewaltigurg
des Volkes, wie solche ja auch bei uns nicht selten sind.
Die Schriftleitung.
Reitzenstein: Betrachtungen über das L’ebesleben 213
BETRACHTUNGEN ÜBER DAS LIEBESLEBEN IN
DER ZEIT DER RENAISSANCE UND DER PERIODE
DER GALANTEN.
Von FERD. FRHR. VON REITZENSTEIN, Dresden.
(Fortsetzung.
III. Hochzeiten.
a) In der Zeit der Renaissance.
р“ Heiratszeremonien sind zumeist noch dieselben wie im
Mittelalter oder auch zum Teil wie in noch älterer Zeit;
das Volk hängt ja zähe an seinen alten Sitten und Gebräuchen.
Freilich sind sie längst zu unwesentlichen Momenten der
Eheschließung geworden, ihr Sinn ist den Beteiligten bereits
dunkel, oder man hat gar versucht, ihm eine andere Bedeu-
tung aus den neuen Zeitverhältnissen heraus zuzuschreiben.
In den Kreisen der Vornehmen ist in der Renaissanceperiode
auch ein guter Teil alter Sitten bereits als „gewöhnlich“ ab-
gestreift oder durch fremdländische Züge, die dem Deutschen
ja immer „vornehmer“ dünkten, ersetzt worden. Erhalten
haben sich überhaupt in allen Bevölkerungsschichten nur jene
Gebräuche, die entweder an die staatliche oder die kirchliche
Eheschließung anknüpfen. Die größte Menge alten Gutes ist
daher am deutlichsten in den konservativen Kreisen, dem Adel
und dem Bauernstand geblieben, während der Mittelstand sich
gewöhnlich nur auf das Wesentlichste beschränkt, teils, weil
er sich erhaben dünkte über die alten Sitten, teils, und das ist
der Hauptgrund, weil ihm häufig Zeit und Geld fehlte, um die
teilweise kostspieligen Gepflogenheiten mitmachen zu können.
Am beliebtesten sind natürlich alle jene Sitten geblieben, die
mit der Mahlzeit zusammenhängen, während die alten Frucht-
barkeitsriten der Prüderie zum großen Teil erlegen sind,
da man anfing, sie für „unsittlich“ zu halten. Am gefährlichsten
war ihnen die Zeit der sogenannten Aufklärung und
des Protestantismus gewesen; besonders die reformierte
Kirche streifte alles ab, was ihrer „Vernunftehe“ widersprach.
So sind es denn zumeist Listen der reichen Ausstattung der
Braut oder Schilderungen von Gelagen, die wir überkommen
haben.
Die Ehen jener Zeit dienen sehr bestimmten Zwecken.
Zunächst waren meistens Kinder ganz erwünscht, und wir
214 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben
sind überrascht, wie ungemein kinderreich sie im allgemeinen
waren. 12 Kinder ist, wenn auch nicht gerade Durchschnitts-
zahl, so doch sehr häufig, und Ehen mit 20 oder 24 Kindern
werden da und dort erwähnt. Guarinonius schreibt 1610 ein-
mal etwas derb: „Unter hundert kinderträchtigen Weiber nit
zwey onzeitlich verrecken, deren Todt nit auß oberfressen in
der Kindelbette verursacht und sein Ursprung genommen
haben. Dann obschon der mehrer Haufen ober 20 bis auf
28 mal im Tag und Nacht frist, so seyn doch unter den
schwächeren und ärmeren oder auch edlen und verständigen,
die vmb 8 mal weniger essen.“ Man glaubte nämlich durch
dieses immense Essen — das die derbe Schilderung recht-
fertigt — die gefährlichen Folgen dieser vielen Geburten aus-
gleichen zu können. Dieser Familienreichtum und das an sich
kostspielige Leben jener Zeit begünstigte die Geldheiraten
besonders sehr auf Kosten der anderen, für eine ähnliche Wahl
maßgebenden Faktoren. Es gilt dies nicht nur für die fürst-
lichen und adligen Ehen, sondern in ähnlich hohem Grade
auch für das Bürgertum und noch mehr für den Bauernstand.
Allgemein wird vor Bettelheiraten gewarnt, denn aus solchen
Ehen könnten nur wieder Bettler hervorgehen, die den Schelmen,
Dieben, Räubern und Mördern Zuwachs geben würden. Becher
fordert bereits 1703, daß die Mädchen eine genügende Mitgift
haben müßten, wenn die Einnahmequellen des Bräutigams zur
Ernährung einer Familie nicht ausreichten.
Ehen wurden oft sehr früh eingegangen, aber wir dürfen
doch ohne weiteres annehmen, daß dies nicht die allgemein-
giltige Sitte war. Weniger wird uns das jugendliche Alter
der Nupturienten in Italien wundern, wo man auch heute
12—13 jährige Mütter genug findet. Vernünftige Eltern ließen
jedoch wenigstens den Vollzug der Ehe nicht allzufrüh zu;
so verweigerte dies die Mutter der 11 jährigen Constanza von
Mantua 1743. Dagegen erfahren wir, daß Girolamo Riario
seine Verbindung mit der 10 jährigen Catarina Sforza tatsächlich
vollzog, daß ferner Santi Bentivoglio die 12 jährige Ginevra,
die Tochter des Alessandro Sforza, 1454 heiratete, und daß
Ludovico Gonzaga sich 1433 mit der 10 jährigen Barbara von
Brandenburg vermählte, die ihm 11 Kinder schenkte; freilich
wurde das erste, ein Knabe, erst 1440 geboren. Daneben
stehen reine Kinderheiraten aus politischen und ähnlichen
Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 215
Gründen, bei denen von einem wirklichen Vollzug natürlich
nicht die Rede sein kann, wenngleich anzunehmen ist, das
sexuelle Beziehungen oft nicht fehlten. So wurden die etwa
8—9jährigen Kinder Giangaleazzo Visconti und Isabella von
Valois vermählt, während die Heirat des Giovanni Franz
Maria della Rovera mit der 10 jährigen Leonora Gonzaga 1505
durch Prokura geschlossen ward. Die Heirat der Tochter des
Cesare Borgia mit Frederigo von Mantua wurde verabredet,
als dieser 2 Jahre alt war, während das Mädchen erst einige
Monate zählte, also ein Fall von Kinderverlobung. Große
Altersunterschiede in meist aus finanziellen Gründen ge-
schlossenen Ehen sind uns ebenfalls bezeugt. Der etwa
80 jährige Augsburger Kürschner Emler fand z. B. 1521 ein
19jähriges Mädchen, das ihm die Hand reichte, während
Hermann von Weinsberg als 30jähriger Mann eine 36 jährige
Witwe heiratete. Er begründete diesen Schritt mit folgender
Notiz: „Dieweil ich auch 30 jar alt war, wolte ich gein jong-
frau nemen von 20 jarn, dan mich duchte, das sulte sich besser
schicken, das der man jonger wern dan die Frau, vir ursache
mich darzu bewegende.“ Diese wissen wir nicht alle, es ist
uns nur bekannt, daß er mit einem Bruchleiden zu tun hatte.
Betrachten wir zunächst nun einige Eheschließungen,
wie sie in fürstlichen und adligen Kreisen gebräuchlich
waren. Es war im Juni 1585, als zu Düsseldorf die Ver-
mählung des Herzogs Wilhelm III. von Jülich-Kleve und
Berg mit Jakobäa, der Tochter des Markgrafen Philibert
von Baden, stattfand. Düsseldorf hatte sich alle Mühe gegeben
und wollte es besonders den fremden Gästen gegenüber an
nichts fehlen lassen, „nicht allein zur notdurfft, sondern zum
Oberfluß und vollust“. Die Braut selbst fuhr mit ihrem Ge-
folge zu Schiffe den Rhein herab und zog am 15. Juni in einem
Gutzwagen (sechsspännige Kutsche) in Düsseldorf ein, emp-
fangen vom Donner der Kanonen. Der Herzog selbst er-
wartete sie vor dem Tore und führte sie in festlichem Umzuge
durch die reichgeschmückten Straßen seiner Hauptstadt nach
dem Schlosse, wo sie von den Schwiegereltern begrüßt wurde.
Man führte sie sogleich in die für sie bestimmten Gemächer.
An den Wänden hingen Teppiche, auf denen Bilder dargestellt
waren, „so zur ehelichen Lieb’ am meisten und vornehmlich
gehörig“, d. h. mythologische Szenen, die in bekannt freier
216 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben
Weise geschlechtliche Dinge behandelten. So verging der
erste Tag. Gegen Abend des nächsten ging die ganze Gesell-
schaft mit dem Brautpaare nach der Schloßkapelle, wo die
Trauung vollzogen wurde. Den Zug eröffnete eine Reihe
Musikanten, denen etwa ein Dutzend Edelleute mit Wachs-
fackeln in den Händen folgten; hinter diesen kam die reich-
geschmückte Braut, die ein goldenes Krönchen im ge-
scheitelten Haare trug. Die kirchliche Handlung wurde durch
eine lange Predigt eingeleitet, dann nahm der Geistliche aus
der Hand des Bräutigams einen goldenen Ring, den er der
Braut an den Finger steckte, während er von dieser einen
Kranz bekam, den er dem Bräutigam aufsetzte. An diese
Zeremonie schloß sich die Einsegnung, die durch Trompeten
und Pauken nach außen verkündet wurde, und ein Tedeum.
Wie stets, beeilte man sich zum Festmahl zu kommen, bei
dem Edelleute in spanischen Mänteln unter Führung des Hof-
marschalls die Speisen auftrugen. Nach beschlossener Tafel
schritt man zum Tanz, den das Brautpaar eröffnete, „denen
man mit Flambos vor- und nachtanzte“. Dann ging man
in ein weiteres Gemach, in dem ein Schauessen aus Zucker-
gebäck aufgestellt war, das einen Garten mit Bäumen, Felsen,
Wasserfällen, Flüssen, Burgen und den verschiedensten Tieren
darstellte. Man brach sich davon Stücke ab und aß sie,
Unterdessen war es Zeit zum Vollzug der Ehe geworden;
das junge Paar wurde in die Hochzeitskammer geführt. Wie
stets erfolgte am nächsten Morgen die Regelung der Morgen-
gabe und der Hochzeitsgeschenke, während für die Gäste
eine Reihe von festlichen Tagen, mit Gastmählern, Ringelrennen,
Tänzen, Maskeraden und Feuerwerk sich anschloß. Diese
Beschreibung enthält das Wesentlichste der damaligen Ehe-
schließung, in der wir noch viele alte Züge, so den Brautzug,
den Fackelzug, den Feuertanz und das Brautessen usw. be-
obachten können, alles freilich gänzlich verflacht und durch
die kirchlichen Zeremonien in den Hintergrund gedrängt.
Durch andere Hochzeitsfeste läßt sich das Bild ergänzen.
Die Werbungen sind meist sehr umständlich gewesen, so er-
zählt uns J. Chr. Wagenseil (1653 bis 1705) Näheres darüber
vom Wiener Hof. Der heiratslustige Herr ist verpflichtet,
zunächst bei der Anstandsdame seiner Auserwählten um das
Recht zu bitten, dieser aufwarten zu dürfen. In der Ge-
Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 217
währung dieser Bitte liegt eigentlich auch schon die bejahende
Antwort selbst. Damit hat er bereits große Verpflichtungen
übernommen. Er beschenkt die Dame mit einem reichen
Kostüm, ebenso wie er jedem ihrer Diener eine Livree be-
schaffen muß. Daß er Blumen schickt und dabei sich täglich
nach ihrem Wohlbefinden und ihrem Vorhaben erkundigt, ist
selbstverständlich; daß er ihr gegenüber sich besonders galant
zeigen muß, ebenfalls. Freilich mutet uns das oft sonderbar
an, so z.B. daß er mit bloßem Haupte neben ihrem Wagen
reiten soll, während sie zur Kirche fährt, oder daß er sich dort
selbst zu Gaste bittet, wo sie eingeladen wurde, und ihr vor-
legt, was übrigens österreichische Sitte war. Er hält ihr auch
stets einen Teller unter das Glas, wenn sie trinkt; nur er allein
darf auf ihre Gesundheit trinken usw. Diese Werbungszeit
dauert wenigstens 3 Monate und wird recht kostspielig, denn
er „muß seiner Liebsten schicken Galanterien auff einer großen
silbern Tatzen (Tablett) als etl. paar seidene Strümpfe, Seiden
Zeug, Band, Handschuh, 12 Fecker, Spitzen, Kammertuch und
was er meinet, das ihr angenehm sey. Nun Kommets auff,
daß die Hern alle tage ein present schicken, da doch Keins
wird unter 100 Thlr. kommen, Silbern und Golden geschmeide,
als Armbänder, Ohrengehenke von Edelsteinen“. Recht originell
ist wieder, daß er ihr Zimmer tapezieren lassen muß, einen
Pagen, zwei Lakeien, Kutscher und Vorreiter annimmt und ihr
einen Wagen schickt, zu dem 7—8 Pferde gehören. Rückt
dann der Tag der Hochzeit heran, dann versammelt der
Bräutigam seine Freunde; sie fahren abends 9 Uhr zur Kirche,
wo sie die Braut erwarten; diese sowohl wie der Bräutigam
sind in Weiß gekleidet. Bei anderen Hochzeiten werden
bei diesem Kirchenzug wieder Fackelträger erwähnt. Bei
den Wiener Hochzeitsgebräuchen des Hofes erscheint dagegen
der Ehrentanz mit 12 Fackeln nach dem Mahle; es sind
Hofkavaliere oder Generale, die sie tragen, während Wagen-
seils Bericht sagt, daß der Brautführer mit 2 Fackeln den
Ehrentanz eröffnet, dem das Brautpaar folgt. Die Mahl-
zeiten waren nach unserer Auffassung unmenschlich üppig;
sie paßten vollständig zu dem stark entwickelten Geschlechts-
leben. Guarinonius erzählt uns von einer adligen Hochzeit,
bei der im Hause des Bräutigams 7 Tafeln aufgestellt waren,
auf jede kamen 4 Trachten zu je 13 Gerichten. Zweimal des
218 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben
Tages aß man so reichlich, und die Hochzeit währte 2 Tage.
Von einer freiherrlichen Hochzeit erzählt er, daß es 3 Gänge
gab, jeder zu 100 Gerichten „außer der Nachwehen und Nach-
richten des Confekts und Geschleck’s, so auch hundert waren“.
Da dabei auf einem Tisch kaum 50 Gerichte untergebracht
werden konnten, mußten die übrigen von Dienern in der Hand
gehalten werden! In Italien waren die Feierlichkeiten eigent-
lich noch glänzende. So sind wir näher unterrichtet über
die Vermählung der Lukrezia Borgia (die 1478 oder 1480
geborene Tochter des Papstes Alexander VI.) mit Alfonso
von Este, die am 20. Dez. 1502 stattfand. Schon als die
Verlobung bekannt geworden war, ritt Lukrezia in reichem
Gefolge nach der Kirche, während von der Engelsburg die
Kanonen donnerten, und alle Glocken der ewigen Stadt läuteten.
Am Abend wurde ein großes Feuerwerk abgebrannt. Während
des ganzen Tages ritt ein Schauspieler durch die Straßen und
rief: „Viva illustrissima Duchessa di Ferrara, viva Papa Alessandro,
vivi!“ Die eigentliche Hochzeit wurde durch Prokuration
vollzogen, die der Bruder des Bräutigams, Don Fernando,
vollzog. Lukrezia selbst war im großen Gefolge zum Vatikan
gekommen, wo ihr Vater, Papst Alexander, die Trauung voll-
zog. Dann setzte sich dieser aneinen Tisch in der MittedesZimmers,
zu seiner Rechten stand die Braut, zur Linken Don Fernando,
der dem Papste den Ring reichte, während ihn dieser seiner
Tochter ansteckte. Danach trat Kardinal Ippolito d’Este vor
und gab ihr noch vier andere kostbare Ringe sowie ver-
schiedene wertvolle Schmucksachen, deren Wert auf
10000 Dukaten angegeben wird. 15 Brautjungfern hatten sie
bekleidet, und der Luxus der Kostüme soll enorm gewesen
sein. Ihr eigenes Brautkostüm bestand aus einem Überkleid
von Goldfadengewebe, mit offenen französischen Ärmeln; da-
runter eine Weste aus purpurner Seide, mit Hermelin besetzt.
Auf dem Hinterhaupte hatte sie auf das zurückgestrichene, bis
auf die Schultern herabfallende Haar, das eine dünne schwarze
Schnur zusammenhielt, eine dunkelrotseidene Kappe gestülpt,
die mit Goldfäden durchwirkt war. Ein Halsband aus riesigen
Perlen mit einem kostbaren Anhänger schmückte ihren Hals,
Am Abend fand in Lukrezias Palast ein glänzender Ball statt,
der bis gegen Tagesanbruch währte.e Truppenparaden und
Manöver fanden statt, bei denen 5 Mann getötet wurden; dann
Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 219
ein Turnier mit Schwertern und Schilden. Einige Tage später
fand die Reise nach Ferrara statt, während Lukrezias Gatte
sich verkleidete und sie mit einigen Freunden überraschen
wollte. Maskeraden spielten auch anderwärts eine große Rolle.
Da das Beilager, ursprünglich vor der Öffentlichkeit voll-
zogen, später nur markiert wurde, so lag es nahe, etwas von
der Prachtliebe jener Zeit auf die Betten zu verwenden. Im
allgemeinen brachte der Brautvater den in „Nachthabit“ um-
gekleideten Bräutigam vor das Bett der Braut, wo noch eine
Rede gehalten wurde. In einer Druckschrift von 1599 wird
das damals übliche Beilager folgendermaßen geschildert:
„Rheingraff Ottho führt die Braut hinauff mit fleyß
In jr gezimmer hüpsch und weyß.
Da wartet sie, bis zu jr kam
Der junge Herr und Bräutigam
Mitt allen Fürsten, Graffen, Herren,
So folgen theten willig gern.
Vor jnen her Trommeter bliesen,
Die stark in jre Pfeifen stiessen.
Als nun der Hochborn Bräutigam
Hinauff in sein Schlafzimmer kam,
Sein Manttel und Kranz legt von sich,
Sein Wöhr und Ketten und gabs gleich
Sein Hofmaister, solchs zu bewarn:
Derseibig thet den fleyß nicht sparen.
Als nun die Fürsten, Herren, Frawen
Stunden in diesem Gemach zu schawen,
Die zween Brautführer traten her
Die Gsponß sie brachten höflich sehr
Und legten sie hinein inns Bett,
Jr weyssen Kleyder noch an hett.
Dann legten sie den Bräutigam
Zu seinem Gsponß also zusam,
Die Döcker überschlagen thaten,
Biß sie ein Weyl gelagen hatten.
Gar bald sie wieder auffgestanden,
Die Fürsten, Herren seind vorhanden,
Wünscht jeder da für seinen theyl
Dem Bräutigam und Braut vil heyl,
Vil glücks und gutten segen reich
Darnach lugt jeder, das er weich
Und selber in sein Kammer kumb,
An seinem schlaff auch nichts versumb.“
Die Hauptsache war selbstverständlich die Mitgift, und
so sind denn auch alle Berichte, die wir über damalige Hoch-
220 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben
zeiten haben, in erster Linie diesen hochwichtigen Ausfüh-
rungen gewidmet. So wird uns über die Aussteuer der Lukrezia
Borgia berichtet, daß sie mindestens einen Wert von 300 000
Dukaten hatte und an Gold, Juwelen, Silber, Gewändern, Bett-
wäsche allein einen Wert von 100000 Dukaten; jedes der
200 Hemden der Lukrezia kostete 100 Dukaten (also in unserem
Geldwert rund 5000 Mark!). Etwa 1000 Pferde und 200 Wagen
dienten für den Hochzeitszug. In Deutschland war man zu-
meist etwas sparsamer. Immerhin aber hatte die Prinzessin
Anna bei ihrer Ehe mit Kurfürst Johann Sigismund von
Brandenburg 1594 Schmucksachen im Werte von 14138 Mark
mitbekommen. Interessant ist eine Notiz aus dem 16. Jahr-
hundert, die einem Buche von Gräffer, „Historische Raritäten
oder Magazin elterner Memoiren“, entnommen ist. Dort heißt es:
„Meiner tochter Jutto habe ich, Hanns von Schibelin, zum schmucke
an ihrem ehrentag gegeben: Einen rock von Damasden / einen rock von
sammat, schwarz mit perlein gezieret ; ein bätbuch von blawen sammat
mit gülden schloß / zwei gülden ringe mit köstlichen steinen, so ihrer
seelig mutter zuhändig gewest / ein gülden Herzlein / ein paar gülden arm-
spangen | eine schnur großer reiner Perlen umb den Hals und schön rot
korallen umb die vom ebenfalls ihrer seeligen mutter geeignet | samptlich
klare und starke leinewand von meiner secligen Frau wie auch ihre schön
fein theuere Kanten Der bräutigam hat ihr verehrt: eine schnur gekrümter
goldgülden / ein silbern Heft und knäuffel | zwei silbern schelenbänder an
den arm / ein gürtel mit verplatten von silber und steinen | ein schlicht
gülden ring mit edelgestein | ein schön gülden Kränzlein / ein parett von
sammat | ein bunt gestreift seidenkleid unten mit filz ausstaffiert / eines
von Damasden / ein durchsigtig Kleid von nesselgarn | ein paar schön
schmal spitzige schuh zum tanzen | ein paar pantöflein von silberstuck |
ein paar schön ausgenehet schnupftüchlein / ein schleier mit silberpreßli
fein durchwürkt | ein gülden ring mit kruzifix. Ferner hat Jutto von ihrer
schwieger als ein hochzeitsgeschenk bekommen: ein groß silbern trink-
gefäß | eine sehr schöne spindel so gar kinstlich gearbeitet | ein wiegen
so auf fünfzig und mehr gulden gekost und zwar anmutig zu schauen |
ein groß fein tafeldecken. Nicht zu gedenken der vielen anderen und
schönen und köstlichen geschenk, so ihr von den befreundeten und fremden
hochzeitsgästen gemacht worden. Waren deren über hundert an der
Zahl und haben auf die sechs tag lang banketiert narriert getanzt künst-
lich Feuer geworfen und lustschierten gethan. Hab ich bei dissem ehren-
mal nichts aufgespahrt und den ersten Tag wohl hundertley essen an-
geschafft ohn die schauessen so gar schön und zierlich zugericht gewest,
auch mein gantz vorrath von köstlichen rheinischen weine hergeben unter
beständigem pauken und trometenschall. Auch sänger und reimer und
stocknarren gehalten und ist mir alles theuer zu stehen kommen. Geschah
alles meiner einichen tochter zu ehren und hab deß keine rew noch klag.
Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 221
um tag sibillä ist sie mit ihrem ehelich gemahl heimgezogen. Gott geb
zur glücklichen stund!“
Dies ist, abgesehen vom unmenschlich reichlichem Essen,
nicht übermäßig und wird durch die bürgerlichen Kreise, wie
wir sehen werden, übertroffen. In Italien zeigten sich dann
Orgie von Edelleuten und Edelfrauen.
Abb. 1.
auch bald die Folgen dieser oft recht schmutzigen Geldheiraten,
da Mädchen ohne Mittel sitzen blieben.
Das Bürgertum suchte eben hier wie auch sonst in jener
Zeit den Adel nachzuahmen und verzichtete beklagenswerter-
weise nur zu oft auf die einfacheren, aber besseren alten
222 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben
Sitten. Besonders die Bürger der Reichsstädte, die als Patrizier
vielfach mit dem Adel verschwägert waren oder von ihm ab-
stammten, sorgten dafür, daß die Grenze verwischt wurde.
So kam ein hohler Luxus einerseits und ein leerer heuchle-
rischer Gesellschaftston andererseits in die gesündesten Kreise
des Volkes, die die guten alten Sitten — gut trotz oder viel-
leicht eben wegen ihrer offenen Derbheit — verdrängten und
durch jene Heuchelei ersetzten, die noch heute den Grund-
zug der sogenannten „guten Gesellschaft“ ausmacht. — Orgien
nach innen, Moralpredigt nach außen, geht ja immer Hand in
Hand. Jeder, der ihr anzügehören meint, glaubt unbedingt den-
selben Luxus nachahmen zu müssen, wie ihn die mit Mitteln geseg-
neten „tonangebenden“ Glieder der Gesellschaft vormachen, und
richtet so sich und seine Umgebung zugrunde. Die Möglich-
keit, den Wohlstand zu erhalten, entschwindet so dem Mittel-
stande mehr und mehr und führt zu unbedingtem Untergang.
Staatswesen, in denen einem absoluten Reichtum nur eine
absolute Armut gegenübersteht, ohne daß der eigentlich kultur-
tragende Mittelstand lebensfähig wäre, sind tot, unproduktiv
und sterben ab. Dies war der Grund des Untergangs der
alten Welt, dies ist der Grund der traurigen Lage Spaniens
und soundso vieler anderer Länder und das scheint mehr und
mehr das Ziel zu werden, dem wir zusteuern. Nicht zum min-
desten bilden die Hochzeitssitten die Grundursache dieser höchst
gefährlichen Erkrankung. Dies abzustellen, müßte die Haupt-
aufgabe aller Sozialpolitik sein — das Mittelalter mit seinen
Luxusgesetzen hatte dies eingesehen — und nicht die ein-
seitige Hebung des Proletariats, die wertlos ist, wenn nicht
vorher ein gesunder Mittelstand geschaffen wird, da sie vor-
läufig auf dessen Kosten geschieht.
Betrachten wir nun einige bürgerliche Eheschließungen.
Die Schwester des Frankfurter Bürgers Job Rohrbach verlobte
sich mit Karl Heuspurg. Es ergingen reichlich Einladungen
zur Eheschließung (wenkauf oder hantschlag), und zwar wurden
die Männer zwischen 12 und 1 Uhr nach der Barfüßerkirche
bestellt, während sich die Frauen im Hause der Brautmutter
versammelten. Als alles beisammen war, begaben sich auch
die Männer ins Haus, und Johann Bruon gab das Paar zur
„heiligen Ehe“ zusammen. Die Trauung fand am 1. Juli —
die Verlobung war am 18. Mai — „in facie ecclesiae“ (also
Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 223
vor der Kirchentüre)*) um 8 Uhr morgens statt. Wir sehen
hier also einen eigenartigen Streit zwischen der alten deutschen
Eheschließung im Familienkreise und der kirchlichen
Trauung. Man war gründlich und vollzog beide. Die alte
Eheschließung verschmolz dann mehr und mehr mit den Ver-
lobungsgebräuchen. Den Bräutigam geleiteten die beiden
Brüder der Braut, diese die Mutter, die Schwiegermutter und
zwei Freundinnen. Am 6. Juli wurde im Trierschen Münzhofe
Abb. 2. Nürnberger Patrizierbraut mit Jungfer (nach Jost Amman).
die Hochzeit mit Essen und Trinken gefeiert, und das Bei-
lager vollzogen; aber erst am 9. Juli geht die junge Frau nach
ihrer zukünftigen Wohnung, dem Fodenhof. Wir haben aber
auch Hochzeitsbeschreibungen, die uns einen kaum glaublichen
Luxus schildern. So heiratete, wie die Konstanzer Chronik
erzählt, 1465 in Konstanz ein Diener des Bischofs eine Webers-
tochter aus St. Gallen. Diese kam am 4. Febr. des Jahres
zwischen 4 und 5 Uhr nachmittags mit 120 Pferden in Konstanz
*) Vgl. Reitzenstein: „Liebe und Ehe im Mittelalter“.
224 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben
an. Das Nachtmahl wurde im bischöflichen Palaste einge-
nommen, während der Abend im Hause des Vaters des
Bräutigams zugebracht wurde. Am nächsten Morgen zieht
die Hochzeitsgesellschaft mit 2 Pfeifern, einem Trompeter,
einem „Ruspfiff“, einem Lautenschläger und einem Geiger nach
der Stephanskirche und hielt ihre Hochzeitsfeier im Palaste.
Am folgenden Morgen essen sie zuerst beim Vater des Bräuti-
gams, dann nochmals im Palaste.e. Noch luxuriöser war die
Hochzeit des Augsburger Zinkenbläsers Baruch mit der Tochter
des Bäckers Veit Gundlinger, die 1493 stattfand. Man speiste
an 60 Tischen, an denen je 12 Gäste saßen, so daß 720 Personen
geladen waren. Dieses Festessen dauerte 8 Tage, und man
verzehrte: 20 Ochsen, 49 Zicklein, 500 Stück Federvieh, 30 Hirsche,
15 Auerhähne, 46 gemästete Kälber, 900 Würste, 95 gemästete
Schweine, 25 Pfauen, 1006 Gänse, 15000 Hechte, Barben,
Aalraupen, Forellen und Krebse!! Entsprechend der Hochzeits-
feier war auch die Ausstattung der Braut. Sie hatte 3000 Gold-
stücke (= 150000 Mark Goldwährung in Vorkriegszeit, heute
etwa 300 Mill. Papiermark!) in bar mitbekommen und trug ein
Kleid, das aus lauter einzelnen Stücken farbigen Stoffes zu-
sammengesetzt und mit blauer Seide geziert war; die einzelnen
Nähte waren mit goldenen Spangen besetzt; den Saum des
Oberrockes faßte eine breite Goldspange, während der Unter-
rock mit köstlicher Arbeit gar fein genäht war. Um die Taille
lag ein goldener Gürtel, und die Armbänder waren reich mit
Edelsteinen besetzt. Die Strümpfe waren mit goldenen Fädchen
gebunden, und die Schuhe mit Silberblech belegt. Der Bräutigam
trug ein grünes Röcklein, große Schnabelschuhe und eine
breite Goldspange um den Hut. Der Augsburger Kaufmann
Lucas Rem, der am 30. Mai 1518 die Anna Echainin heiratete,
hat folgende Rechnung seiner Hochzeitskosten aufgestellt, die
wir heute für den Bürgerstand kaum mehr begreifen:
eigene Kleidung 65 fl. 10 sch,
Geschenk a. d. Frau 381 fl.
yj b. d. Hochzeit 254 fl.
Hochzeit selbst 222 fl.
Ausgaben d. Braut 69 Я.
991 fl. 10 sch.
oder nach dem Geldwert vor dem Kriege etwa 50000 Mark.
(Fortsetzung folgt.)
Geschlecht und Gesellschaft
Neue Folge XI, 8
Tafel I
Schalenförmige Brust
(Nach einer Naturaufnahme a. d. Verlag der „Schönheit“, R.A. Giesecke, Dresden)
Zum Aufsatz Fehlinger
RASSENUNTERSCHIEDE
DER WEIBLICHEN BRÜSTE.
Von H. FEHLINGER (Mitglied des Intern. Arbeitsamtes Genf, mit 3 Tafeln.)
р" Brüste sind das auffälligste der sekundären Geschlechts-
merkmale des Weibes, die nicht nur ein von der Natur
gegebenes Erkennungszeichen des Geschlechts bilden, sondern
überdies den Nachweis für seine funktionelle Eignung zur
Mutterschaft erbringen. Die Ausbildung der Brüste macht
während des Lebens verschiedene Entwicklungszustände durch.
Die erste Form ist die kindliche, wobei die Brustwarze sich
in der Mitte des scheibenförmigen Warzenhofes mehr oder
weniger deutlich erhebt. Dann wölbt sich infolge des Wachs-
tums der Milchdrüse zuerst der Warzenhof empor, es entsteht
die Brustknospe. Hierauf werden auch die umgebenden Teile
halbkugelig emporgewölbt, die Brust rundet sich mehr und
mehr und der Warzenhof sitzt ihr als kegelförmiges Hütchen
auf. Das ist die Knospenbrust oder Mamma areolata. (Abb. 1.)
Abgesehen von der Größenzunahme bleibt die Entwicklung oft
auf dieser Stufe stehen, die Knospenbrust wird dauernd bei-
behalten, was bei Europäerinnen und den Frauen der west-
asiatischen Kulturvölker seltener der Fall ist als bei Frauen
N /,
Abb. 1. Kaespenbrust (Mamma areolata)
226 Fehlinger: Rassenunterschiede der weiblichen Brüste
farbiger Naturvölker, namentlich den Afrikanerinnen und
Ozeanierinnen. Von den Japanerinnen und Chinesinnen ist
das Bestehenbleiben der Knospenbrust bisher nicht bekannt
geworden. Meist erreicht die Brust noch eine weitere Aus-
bildungsform: Der Warzenhof senkt sich wieder, so daß er
nicht mehr über den Fetthügel der Brust hervorragt, sondern
in der Gesamtwölbung !derselben aufgeht. Das ist die reife
Brust oder Mamma papillata. (Abb. 2.)
W YJ
Abb. 2. Reife Brust (Mamma papillata).
Friedenthal (Beiträge zur Naturgeschichte des Menschen
v. S. 259) fand, daß bei einzelnen Frauen die Brust je nach den
äußeren Umständen die Form einer Knospenbrust oder einer
reifen Brust annehmen konnte. Bei Erregung und Kälte sprang
der Warzenhof in Form einer Knospe vor, bei Hitze und Er-
schlaffung lag er im Niveau der übrigen Haut. Da der
Warzenhof glatte Muskulatur besitzt, nimmt Friedenthal an,
„daß die Form der Mamma areolata auf einem Dauertonus der
glatten Muskulatur beruht, der bei den protomorphen Rassen
(Naturvölker) jahrelang anhalten kann. Bei dem Tode der
Fehlinger: Rassenunterschiede der weiblichen Brüste 227
Trägerin einer Mamma areolata braucht der Tonus der glatten
Muskulatur durchaus nicht zu verschwinden ... Wir werden
annehmen können, daß die Warzenhofmuskulatur der xantho-
dermen Rasse (Chinesen, Japaner) am wenigsten stark aus-
gebildet ist und daß das rassenmäßige Tragen warmer Kleidung
den Fortfall des Tonus der Warzenhofmuskulatur begünstigt.“
Friedenthal hält es für sehr wahrscheinlich, daß die wulstigen
Negerlippen, als Anpassung an die ungefüge Form der Warzen-
höfe der Mamma areolata der Negerinnen aufzufassen sind.
Vom mechanischen Standpunkt sagt er, „geschieht das Saugen
eines kleinen Europäermundes an der Mamma papillata sehr
viel vollkommener, ebenso wie das Sprechen mit kleinem
Munde mit geringerem Arbeitsaufwand erfolgt als mit großen
wulstigen Lippen. Der Fortfall der Mamma areolata bedeutet
bei Berücksichtigung der davon abhängigen Lippenbildung
eine Begünstigung der Sprachbewegungen beim Gesäugten
neben der Erleichterung des Saugens. Bei Europäerinnen
finden sich wulstige Lippen und Anlage zu Mamma areolata
häufig kombiniert, in manchen Fällen (Süditaliener) als Hinweis
auf ehemalige Beimischung von Negerblut.“
Die Wölbung und Festigkeit, welche die Brust mit vollen-
deter Reife erlangt, ist allzumeist nicht von langer Dauer.
Schon nach der ersten Schwangerschaft tritt gewöhnlich eine
Senkung und Festigkeitsabnahme ein und nach folgenden
Schwangerschaften verliert die Brust mehr und mehr von
ihrer Schönheit. Auch der Ernährungszustand ist von Belang.
Bei Unterernährung setzt sich wenig Fettgewebe an, so daß
die Brüste klein bleiben und wenig konsistent sind. Anderer-
seits verlieren auch bei sehr starkem Fettansatz die Brüste bald
und bleibend ihre schöne Form, namentlich wenn der Fett-
ansatz schon in der Jugend auftritt, wie es bei Turkvölkern
und Semiten (Westasien, Nordafrika) und bei den Chinesen
häufig der Fall ist. Eine elastisch gespannte Haut ist der
Bewahrung der guten Form der Brüste günstig. Wo Neigung
zu frühem Faltigwerden der Haut besteht, wie bei den Busch-
leuten, Hottentotten, dann Australiern und Indianern, dort
werden die weiblichen Brüste am frühesten schlaff und faltig.
Mitbestimmend für die Gestaltung der weiblichen Brust
ist die Beschaffenheit des großen Brustmuskels (Abb. 3). Je
kräftiger dieser Muskel ist, desto besser kommt auch die
15*
228 Fehlinger: Rassenunterschiede der weiblichen Brüste
/
7
5 N E
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ZUM) T E:
У \
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Abb.3. Reife Brust (Mamma papillata).
Abb. 4. Brustformen (schalenförmig, halbkugelig, konisch, euterförmig).
Rundung der darauf ruhenden Brustdrüse zum Ausdruck.
Besonders aus diesem Grunde sind bei Völkern, deren Frauen
Muskelarbeit leisten, die Brüste in der Jugend gut ausgebildet.
In bedeutendem Maße ausschlaggebend für die Form der
Brust ist das Verhältnis des Durchmessers ihrer Grundfläche
oder Basis zum Höhen- oder Längendurchmesser. (Abb. 4.)
Ist der Durchmesser der Grundfläche groß und der Höhen-
durchmesser vom Brustansatz zur Warze gering, so ist die
Brust schalenförmig. (Tafel I.) Diese Form kommt haupt-
sächlich bei Europäerinnen vor; auch bei den Völkern der
außereuropäischen Mittelmeerländer (Semiten, Hamiten usw.)
Fehlinger: Rassenunterschiede der weiblichen Brüste 229
ist sie noch verhältnismäßig häufig, ausnahmsweise trifft man
sie sogar noch im ostafrikanischen Kenyagebiet, nämlich bei
den Stämmen mit hamitischer Blutbeimischung.
Halbkugelige Form erhält die Brust, wenn der Höhen-
durchmesser dem Basisdurchmesser nahe kommt. Solche
Brüste sind bei Europäerinnen häufig, bei den Frauen der
Kulturvölker West- und Ostasiens die Regel und auch bei den
Malayen, den indonesischen Inlandsstämmen und den Poly-
nesiern trifft man sie. (Tafel II u. III.)
Konisch oder birnförmig ist die Brust bei geringem
Zurückbleiben des Basisdurchmessers gegenüber der Länge
von der Basis zur Warze. (Abb. 5.) Übersteigt das letztere
Maß das erstgenannte stark, so erhält die Brust Euterform
(Abb. 6), die bei den Negerinnen und Indianerinnen vorwiegt,
er ER
BA RE N ae)
Abb.5. Frau von den Admiralitätsinsein, zirka 20 Jahre alt mit konischer Brust.
230 Fehlinger: Rassenunterschiede der weiblichen Brüste
von denen viele auch birnförmige Brüste haben, während halb-
kugelige Brüste ganz selten vorkommen. Hartmann schrieb
mit Bezug auf die ziegeneuterförmige Brust von Negerinnen,
daß diese nur dann den europäischen Schönheitssinn beleidigt,
wenn sie zu voll und gar zu hängend ist. In gemildertem
Grade, klein und zierlich, passen derartige Brüste ganz gut zu
den grazilen Formen der Mädchen. (Zeitschrift für Ethnologie,
Bd. 9, S. 201.)
Kegelförmige und Euterbrüste sind charakteristisch für die
Zwergrassen (Negrito der Philippineninseln, Andamanesen,
Buschleute, afrikanische Urwald-
zwerge), die Papua und Melanesier,
Australier, die Drawiden Süd-
indiens, manche Neger und die
amerikanischen Indianer. G. Fritsch
(Die Eingeborenen Südafrikas) weist
daraufhin, daß er bei den Hotten-
tottinnen das massige, euterartige
Ansehen der Brüste nicht beobach-
tete, das für die Negerinnen (Bantu)
bezeichnend ist. Der Busen der
Hottentottenfrauen ist verhältnis-
mäßig klein und zugespitzt, mit
vortretender Brustwarze und der
Warzenhof überragt den Fetthügel
nur wenig. Wegen der starken Hin-
neigung zur Faltenbildung werden
freilich auch die Brüste bald recht
häßlich.
Keine Rasse weist eine Sonder-
form der Brüste auf, nämlich eine,
die nur ihr zukommt. Die Rassen-
unterschiede bestehen vielmehr in
dem Vorwiegen der einen Form und
dem Zurücktreten der andern For-
men. Alle gekennzeichneten For-
men der Brüste werden durch
Schwangerschaften und das Still-
Shdsmerikänische Indianern mit. BESCH? mehr oder minder ver-
euterförnigen Brüsten. ändert; sie werden schlaff und
Abb. 6.
Fehlinger: Rassenunterschiede der weiblichen Brüste 231
senken sich. Am frühesten tritt diese funktionelle Verände-
rung bei den Naturvölkern mit stark entwickelten birn-
oder ziegeneuterförmigen Brüsten ein. Man findet bei ihnen
nur wenig Frauen von mehr als 30 Jahren, deren Brüste nicht
welk und herabhängend sind. Die im Verhältnis zur Länge
geringe Basis begünstigt selbstverständlich das Herabsinken.
Die Brust der Europäerinnen und der Frauen der asiatischen
Kulturvölker zeichnet sich weniger durch Größe als dadurch
aus, daß sie nicht so bald und so leicht wie die Brust der
Naturvölker ihre Festigkeit verliert.
Der Warzenhof ist meist kreisförmig und teils scharf, teils
aber unscharf begrenzt. Sein Durchmesser schwankt bei er-
wachsenen Frauen zwischen drei und elf Zentimetern. Bei
starker Senkung der Brust bekommt er eine längsovale Form,
die bei den langstillenden Naturvölkern die Regel ist. Die
Färbung des Warzenhofes ist um so dunkler, je dunkler die
Hautfarbe einer Rasse ist. Alle dunkelfarbigen Rassen haben
braune Warzenhöfe, auch jene, deren Haut grauschwarz ist,
wie z. B. die Dinka und Tuaregg in Afrika und die Negritto
der Philippinen-Inseln. Bei Europäerinnen schwankt die Fär-
bung der Warzenhöfe von hellrosa bei manchen Blonden bis
dunkelbraun bei brünetten Spanierinnen und Italienerinnen.
Sehr ausgebreitete Warzenhöfe sind vornehmlich bei Euro-
päerinnen und Afrikanerinnen (Hottentottinnen, Negerinnen)
beobachtet worden; bei der Mehrzahl der farbigen Naturvölker
scheinen die Warzenhöfe gewöhnlich klein zu sein. Die indi-
viduellen Unterschiede sind bei allen Rassen aber recht bedeutend.
Auffallend große Brustwarzen haben viele Negerinnen.
Der Sitz der Brust auf dem Brustkorbe ist zum Teil durch
dessen Form bedingt. Die weite achselständige Lage (Abb. 7) der
menschlichen Brustdrüse steht in Zusammenhang mit der Breite
und Flachheit des menschlichen Brustkorbes, doch bestehen in
dieser Beziehung wie auch in Bezug auf die höhere oder
tiefere Stellung der Brustdrüse bedeutende persönliche wie
rassenmäßige Abweichungen. Rassenunterschiede in der
Höhenlage der Brust sind erst in wenigen Fällen festgestellt
worden, nicht weil sie unbedeutend sind, sondern weil sie zu
wenig beachtet wurden. Innerhalb der ganzen Primatengruppe
ist der Sitz der Brust beim Menschen am tiefsten; ähnlich tief
ist er nur bei einigen Lemuren, am höchsten bei den Neuwelt-
232 Fehlinger: Rassenunterschiede der weiblichen Brüste |
Abt 7. Zwei Buschweiber, links mit schlaffer, rechts mit stark achselständiger Brust.
Die jüngere ist 14jährig und besitzt Säugling. Aufnahme v. Fr. Seiner nach Ploß-Bartels,
„Das Weib I (X1. Aufl. уоп Рета. Frhr. v. Reitzenstein).
e e
Fehlinger: Rassenunterschiede der weiblichen Brüste 233
affen. Unter den sogenannten Menschenaffen zeichnet sich
besonders der Orang-Utan durch eine sehr hoch sitzende
Brust aus. Der Abstand vom oberen Brustbeinrande zur Brust-
warze beträgt bei diesem Anthropomorphen im Durchschnitt
11 °% дег Rumpflänge (mindesten 9, höchstens 12 °/,), beim
Schimpansen 13 (11—17), bei der Europäerin (Badnerin) aber
33 (24—50). Als Regel für die ausgebildete Brust der Europäerin
wird eine Ausdehnung von der 3. bis zur 6. Rippe angenommen,
wobei die Brustwarze zwischen die 4. und 5. Rippe zu liegen
kommt. (Martin, Lehrbuch der Anthropologie, S. 265—266).
Sehr hoch steht dagegen die Brust häufig bei Indonesierinnen
und namentlich bei den Zwergvölkern. Tiefer Brustansatz
ist bei Negerinnen häufig. Durch Einschnüren des oberen
Teils der Brüste wird bei gewissen zentralafrikanischen Stämmen
das Schönheitsideal zu fördern gesucht.
Von Naturvölkern ist manchmal die Ausbildung der körper-
lichen Reifezeichen und namentlich der weiblichen Brüste in
sehr frühem Altar behauptet worden. So schreibt Buschan
(„Völkerkunde“ S. 220): „Die Entwicklung der weiblichen Brust
fängt bei den afrikanischen Völkern frühzeitig an, oft bereits
„ mit sieben bis neun Jahren; gegen die Pubertät hat dieselbe
schon meistens ihre größte Fülle erreicht. Gelegentlich beginnt
dann aber auch schon eine leichte Neigung zum Herabsinken
sich bemerkbar zu machen.“ Solche Meinungen von der
Frühreife der Naturvölker entstehen infolge unrichtiger Ein-
schätzung der Wachstumsverhältnisse und des Alters der Jugend
bei diesen Völkern, namentlich den Bewohnern heißer Erd-
striche. Richtig sagt Külz: „Da der Eingeborene weder sein
eigenes Alter noch das seiner Kinder kennt, und der Eindruck
des Alters, den man namentlich von Negerkindern bekommt,
unwillkürlich vollständig unter dem Einfluß der von Europa
her haftenden Eindrücke steht, wird man gut tun, sich an
einen rein objektiven Anhaltspunkt bei der Alterschätzung
jugendlicher Individuen zu halten. Als solchen habe ich durch-
weg die Dentition verwertet, von der wir berechtigt anzunehmen
sind, daß sie zeitlich ungefähr denselben Verlauf hat wie bei
jugendlichen Europäern. Ich war anfangs oft erstaunt, wie
hoch das Alter der Negerkinder nach ihr angesetzt werden
muß, das ich nach dem äußern Eindruck der Entwicklung um
mehrere Jahre jünger eingeschätzt hätte“. Diese Beobachtung
234 Fehlinger: Rassenunterschiede der weiblichen Brüste
fand O. Reche (Korr.-BI. d. d. G. f. Anthr., 41, S. 49 u. f.) an melane-
sischen Kindern bestätigt.
Bei Negern, Melanisiern und anderen farbigen Rassen
werden die sekundären Geschlechtsmerkmale verhält-
nismäßig spät ausgebildet, später als bei den Europäerinnen,
und viele farbige junge Frauen werden deshalb weit jünger ein-
geschätzt, als sie in Wirklichkeit sind. Oft wird von 10—12-
jährigen Müttern gesprochen, wo es sich tatsächlich um 15—18-
jährige Personen handelt. Der späte Eintritt der körperlichen
Reife, den Baelz auch von den Japanern berichtete (Zeitschrift
f. Ethnologie, Bd. 33), ist der Hauptgrund dafür, daß man
jugendliche Farbige stets jünger eingeschätzt als sie
sind. Reche schreibt: „Erst bei den 16jährigen Matupimädchen
zeigte sich der erste Ansatz des Überganges von der Areolen-
mamma*) zur Knospenbrust (Mamma areolata); die Entwicklung
der Brust scheint also mit der ersten Menstruation ungefähr
zusammenzufallen“.
Über die Japanerin sagt Baelz: „Die Entwicklung des
Busens bei der Frau fällt etwas früher als die Menstruation.
Die Behaarung der Genitalien tritt bei beiden Geschlechtern
spät auf“. Die Menstruation aber tritt bei Japanerinnen später
als bei europäischen Mädchen auf. “
Auffallend frühzeitig kommt es zur Ausbildung der Knospen-
brust wie auch der reifen Brust bei den Frauen der Länder
am Mittelländischen Meer, und zwar bei Europäerinnen ebenso
wie bei Semitinnen und Hamitinnen. Der Verfall tritt bei den
Frauen dieser Völker ebenfalls rasch ein, was wieder leicht zu
Altersüberschätzung Anlaß geben kann.
Die Menschenbrust und namentlich die Brust der Natur-
völker ist gegenüber der Brust der Säugetiere durch eine be-
deutende funktionelle Mehrleistung ausgezeichnet, denn bei
zahlreichen Völkerschaften ist eine Säugezeit von 2, 3 oder 4
Jahren Brauch. Selbst auf der Balkanhalbinsel und in Rußland
ereignet es sich noch, daß Großmütter die Fähigkeiten besitzen,
ihre Enkelkinder zu stillen; bei Negerinnen, Ozeanierinnen und
Indianerinnen ist eine solche Fähigkeit keine Seltenheit. Die
bei den meisten Naturvölkern übliche lange Ernährung der
Kinder mit Muttermilch, die Ausdehnung des Säuglingsalters
*) Areolomamına — asexuelle kindliche Form.
Fehlinger: Rassenunterschiede der weiblichen Brüste 235
bis ins 3., 4. oder 5. Lebensjahr, ist eine der besten Sicherungen
der Fortpflanzung dieser Völker. Wo sie durch Berührung
mit Europäern einen Kulturwandel erfahren, wird diese Siche-
rung meistens aufgehoben und es setzt eine Kindersterblichkeit
in großem Umfang ein, so daß es zum Rückgang der Volks-
zahl kommt. Doch ist das nicht die einzige Gefährdung der
Existenz der Naturvölker. (Vgl. Fehlinger, Fortpflanzung der
Natur- und Kulturvölker, Bonn 1921.)
Absichtliche oder unbeabsichtigte Deformation der
weiblichen Brüste kommt bei verschiedenen Völkern vor.
Die Entwicklung der Brust kann durch Tragen starker Schnür-
mieder, besonders solcher mit festen Einlagen, in weitgehendem
Maße beeinträchtigt, ja fast vollständig gehemmt werden. Die
Mädchen und Frauen einiger Inlandstämme von Borneo (Indo-
nesien) tragen aus Rohr und Messing gefertigte Mieder, die
zum Teil zwar die Brüste freilassen, manchmal aber doch so
weit hinaufreichen, daß sie deren Entwicklung beeinträchtigten
(Abb. 8). Auf einigen der. alfurischen Inseln werden die
Brüste in der Jugend eingeschnürt, weshalb sie schlecht ent-
wickelt sind; bei anderen Stämmen dieser Inselgruppe bedienen
sich die Frauen eng anliegender Leibchen, durch welche die
Brüste gedrückt und mehr oder weniger mißgestaltet werden.
Durch Schnürleibchen verflacht werden die Brüste der Kalmü-
kinnen, ferner der Ossetinnen, Tscherkessinnen und der Frauen
anderer Kaukasusvölker. Die Schnürleibchen, die von den
Tscherkessenmädchen etwa vom 10. Lebensjahr an getragen
werden, sind aus Leder gefertigt. Durch Brustschnüre herab-
gedrückt und beutelförmig gestaltet werden die Brüste bei
manchen zentralafrikanischen Negerstämmen und brasilianischen
Indianern. Die stark gezogenen und hängenden Brüste vieler
Negerinnen und südamerikanischer Indianerinnen sind nicht
allein eine Folge zahlreicher Schwangerschaften und des lang-
andauernden Stillens der Kinder, sondern sie werden auch
durch den Umstand begünstigt, daß die auf der Hüfte getragenen
Kinder sich an der Brust festzuhalten pflegen und sie dabei
immer mehr dehnen. (Martin a. a. O. S. 284.)
Die meisten Naturvölker lieben besonders große Brüste
und es werden auch Mittel zu künstlicher Vergrößerung an-
gewendet. So sagt Iden-Zeller von den Tschuktschen im
äußersten Osten Sibiriens in der Zeitschrift für Ethnologie,
"1404 J3po Auıssaw sne uiaparw ur oausog sne uaneijuapyeleg '8 qQqV
236
Fehlinger: Rassenunterschiede der weiblichen Brüste
Se
| d
Fehlinger: Rassenunterschiede der weiblichen Brüste 237
Bd. 43, S. 850: „Wenn wir zusammen im Freundeskreise saßen,
kam es oft vor, daß die Mütter ihrem zehn- bis zwölfjährigen
Töchterchen vor den Augen aller Männer die Brüste knetete
und herunterzog, um sie recht groß werden zu lassen. Die
Männer lachten dann behaglich und fanden alles in schönster
Ordnung“. Ähnlich verfahren die Basuto in Südafrika.
Bei manchen Australierstämmen ist Narbenschneiden und
Narbenbrennen gebräuchlich. Zentralaustralische Frauen haben
tiefe Schnittnarben am Busen, am oberen Ansatz der Brüste.
Die Bathurstinsulanerinnen bringen sich mit spitzen Steinen
oder Muscheln, oder auch mit glühenden Stäbchen, Narben
bei, die in krummen Linien von den Schultern auf die Brüste
verlaufen. (Spencer und Gillen, „Across Australie“; Spencer,
„Native Tribes of the Northern Territory“).
Unrichtig sind wahrscheinlich die Berichte älterer Reisender
über Amazonen, weibliche Krieger, denen die rechte Brust ab-
geschnitten war, damit sie so ungehinderte Bewegungsfreiheit
des Armes erlangten. Dagegen werden bei der russischen
Skopzensekte aus religiösem Fanatismus beide Brüste ganz
oder teilweise abgetragen.
238 Dehnow: Wedekind
WEDEKIND. `
Von Dr. FRITZ DEHNOW, ehem. Staatsanwaltschaftsrat Hamburg .
N Freude und nicht wohltuende Erquickung kann man
aus Frank Wedekinds, des am 9. März 1918 Verstorbenen,
Dichtung schöpfen. Ihr fehlt das Wohlgemute, und ihr fehlt
edle Art.
Nicht ein Eugenet sprach hier. Nicht einer der gesunde
Lebensfreude atmete. Nicht ein Mensch aus einem Guß. Er
entbehrte des seelischen Gleichgewichtes, neigte zu Extremen.
Einer, der in schwerem Werdegang ward und kein Glück-
licher ward.
Der ohne Bodenständigkeit und ein Heimatloser war. Kein
Heimatton zieht durch sein Werk.
Ein Friedloser, der in so schwerem Zwiespalt wie nur je
ein Genie mit sich und mit der Mitwelt lag.
In Auftreten und Erscheinung ein Kümmerlicher.
Und dennoch einer von den Großen unter den Erkennern.
Hier sprach einer, dessen Stimme schwerer wog als die
Stimmen all der gefeierten Halbgrößen. Ernsteste, tiefe Wahr-
heit sprach er aus. Das eigene Schicksal, ein typisches
Denkerschicksal, schilderte er erschütternd.
Sein Vater war von niedersächsischem Blut. Seine Mutter
scheint Jüdin gewesen zu sein. Jede noch so tiefgehende
Rassenfeindschaft sollte Haltmachen vor einem Manne, dessen
Werk so überragend ist. Ein so Überlegener, Großer, Tiefer
war er, wie in Börries von Münchhausens Gedicht der Rabbi
Manasse Cohen:
In der Hohen Schule zu Prag sitzt einer,
Wer stillt ihm die Sehnsucht nach Weisheit? Keiner!
Er sucht seinen Gott in der Schrift irgendwo.
Findet er seinen Gott in der Schrift? — Nirgendwo!
Man hat Wedekind mit Lenz und Grabbe verglichen. Er
ragt weit über sie hinaus. Eher könnte seine Bedeutung an
derjenigen Ibsens und Tolstois gemessen werden. Andere
Vergleiche, die man gezogen hat — mit den Romantikern, mit
Heine und Nietzsche —, treffen noch weniger zu. Man hat
ihn auch in die eine oder andere der herkömmlichen Literatur-
kategorien einreihen wollen. Indessen alle literarhistorischen
Klassifikationen, Vergleiche und Abhängigkeitsermittlungen sind
ohne Wert, solange man über ihn selbst irrt.
Dehnow: Wedekind 239
Daß seine Zeit ihn mißverstand, war unvermeidbar; so
weit war er ihr voraus, und so von Grund aus frei und un-
befangen trat er ihren Anschauungen entgegen. Gleichwohl
nahm das Mißverstehen einen fast tragischen Zug an. In das
gerade Gegenteil deuteten die Zeitgenossen um, was er aus-
sprach. Was er tiefernst als Wahrheit vortrug, verstand man
als spöttische Parodie; es war ein „Fluch der Lächerlichkeit“,
von dem er sich verfolgt sah. Wer Wedekind als einen
„Zyniker“, einen „Ironiker“, „Karikaturisten“, als „grotesken“,
„barocken“, „bizarren“, „skurrilen“, „närrischen“, „infernalischen“,
„mephistophelischen“ „Spötter“ ansieht — so lautet das Wörter-
buch der stereotyp gewordenen Attribute, mit denen sogar
seine Monographen ihn immer wieder belegen —, der ver-
steht diesen ernsten Wahrheitssucher und Wahrheitskünder
nicht und sollte das Dankgebet des Herakles an Zeus lesen
und sich fragen, ob so ein Zyniker und Spötter schreibt.
Man hielt sich an gelegentliche, auffallende Bonmots aus
seinen Dramen: „das Leben ist eine Rutschbahn“ oder „die
Moral ist das reelle Produkt zweier imaginärer Größen“ (näm-
lich „Sollen Jund Wollen“), oder an die Bemerkung von der
„Kreuzung von Philosoph und Pferdedieb“. Solche drastischen
Gelegenheitsäußerungen, die der oberflächlichen Betrachtung
auffielen, die aber in Wedekinds Dramen eine ganz unter-
geordnete oder gar keine Bedeutung haben, nahmen ihren Weg
durch die Zeitungen, und man glaubte, nach ihnen den Mann
und sein Werk beurteilen zu können.
Man hielt sich an angebliche „Tendenzen“ seiner Dramen.
Das Thema von „Frühlings Erwachen“ wollte man im Ein-
treten für sexuelle Aufklärung der Jugend, das Thema von
„Musik“ in einer Polemik gegen den Abtreibungsparagraphen
finden. Beide Dramen sagten weit mehr, Anderes und
Größeres, das man übersah.
Die Äußerungen seiner Bühnenfiguren verstand man als
Selbstbekenntnisse oder aber als Spott, auch dort, wo sie nur
die charakteristischen Äußerungen dieser Figuren waren.
Wedekind selbst war ein schlechter Interpret seiner Grund-
gedanken. Er verkleidete sie in einem schwer durchsichtbaren
Gewande, und seiner Diktion fehlte Eindeutigkeit. Dem Ver-
ständnisse des Lesers entgegenzukommen, war ihm nicht ge-
geben; er besaß nicht das Gefühl dafür, wie er auf das Pu-
240 Dehnow: Wedekind
blikum wirken mußte: Den Gehalt seiner Dichtungen klar zu
formulieren, gelang ihm selten; auch Vorworte und Prologe,
die er beigab, fielen in der Regel unglücklich aus und erzeugten
nur neue Mißverständnisse.
Nicht wenig diskreditierten ihn Interpreten in Zeitungen
und Zeitschriften durch widerwärtige Erörterungen über den
„Erotiker“ Wedekind und über das Verhältnis von „Fleisch
und Geist“,
Den Weg zu seinem Verständnisse versperrten vollends
Bühnenaufführungen seiner Stücke - „Hinrichtungen“ nennt
Wedekind sie einmal. Die Bühne hat ihn lange gröblich miß-
deutet; durch das, was sie dem Publikum vorführte, wurde
oft aufs vollkommenste dasjenige verdeckt, was Wedekind
hatte sagen wollen.
Den Rest gab böser Wille von manchen Seiten. Das
eine fühlten viele richtig, daß sie es hier mit einem gefähr-
lichen und Erzfeind der Philisterwelt (der „Kartoffelseelen“, wie
er einmal sagt) zu tun hatten; mit einem, der Todfeindschaft
angesagt hatte und gegen den es nur Todfeindschaft gab. Die
kindischsten und unglaubhaftesten Anekdoten verbreitete man,
um ihn zu verdächtigen, und sie fanden Glauben. Am rüdesten
wurde er aus denjenigen Kreisen angegriffen, die stets der
Feind des Neuen und des Besseren in Wissenschaft und
Kunst und darum stets der Feind der Wissenschaft und der
Kunst waren. Radau, Stinkbomben und Gummiknüppel be-
nutzten sie als ihre Propagandamittel auch bei Wedekind-
aufführungen.
Man wird später für diese Haltung seiner Zeitgenossen
nur noch das Achselzucken der Mißachtung übrig haben.
Unverstanden vom Publikum und auch unverstanden von
vielen seiner Anhänger ist Wedekind in seinem wesentlichen
Kerne noch heute, wo er als „sensationell“ auf allen Theatern
aufgeführt wird und zu den meistgespielten Autoren. gehört.
| Die Zeit freilich ist vorbei, in der es erlaubt war, ihn
„nicht ernst“ zu nehmen und als „verrückt“ abzutun. Erst
kurz vordem hatte durch gleiche Urteile über Ibsen ein geistiger
Pöbel nur sich selbst beschmutzt.
Bald wird man auch davon ablassen, ihn — dem Kraft,
Gesundheit, Rasse alles galten — als einen „Dekadenten“
hinzustellen und ihn wegen seiner unbefangenen Betrachtung
Dehnow: Wedekind 241
des Sexuallebens in dem Rufe zu erhalten, er komme für die
gute Gesellschaft nicht völlig in Betracht.
Die Wedekindspiele 1912 und sein fünfzigster Geburtstag
1914 zeigten, wie in immer weiteren Kreisen Verständnis und
Verehrung für sein Schaffen wuchsen.
Bereits ist die Zeit ihm in vielem gefolgt, großenteils ohne
ihn zu kennen oder ohne ihn zu verstehen, und sie folgt
ihm weiter.
Der kaum jemals richtig verstandene Kern seines Werkes:
Die Orientierung der Lebensauffassung und der Ethik
aus der biologisch-vitalen Natur des Menschen, dringt
in der Wissenschaft, in der Volksanschauung, in der Dichtung
durch.
Die Körperkultur- und Nacktkulturbestrebungen, deren
Leitsätze er vorwegnahm, haben sich überall entfaltet.
Seine Sexualmoral, in den neunziger Jahren noch unerhört,
ist zum Teil Gemeingut geworden.
Seinen rassehygienischen Anschauungen steht die neue
wissenschaftliche Rassenhygiene und Eugenik nahe.
„Frühlings Erwachen“ (1891) enthält die Grundgedanken
der heutigen Jugendbewegung in seither unübertroffener Klar-
heit und Tiefe.
Als Pazifist bekannte Wedekind sich bereits vor 1900.
Die bedeutendsten Strömungen unserer Zeit hat er ante-
zipiert. In manchem ist über ihn die Zeit bereits hinweg-
geschritten. Zur Minderbewertung von Geld und Gut, zur
Mißachtung des Luxus, zur Ablehnung des Alkohols war er
noch nicht gelangt.
242 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben
BETRACHTUNGEN ÜBER DAS LIEBESLEBEN IN
DER ZEIT DER RENAISSANCE UND DER PERIODE
DER GALANTEN
Von FERD. FRHR. VON REITZENSTEIN, Dresden.
(Fortsetzung.)
A bei bürgerlichen Ehen traten die Vermittler auf.
So verlobte sich am 21. Januar 1466 zu Frankfurt Bernh.
Rohrbach mit Eilgin v. Holzhausen, wobei Gerlach v. Londorf
als Freiwerber tätig war. Das Laden der Gäste besorgte
nach alter Sitte der Verlobte selbst, während es bei der Ehe
des Bernhard Wiß mit Margarete v. Artenberg, die sich am
18. August 1495 verlobten, durch Diener geschah. Rohrbach,
der diese Hochzeit in seinem Tagebuch erwähnt, hebt dies
eigens hervor. Die Gäste wurden, so gut es ging, versorgt,
auch sah man darauf, daß sie in sexueller Beziehung be-
friedigt wurden. So erzählt der Bieler Bürger Höpfner, der in
Bern wohnte, in einem Briefe an J. G. Forster vom 20, Juni
1788, es sei im Berner Oberland verbürgter Brauch, daß ein .
Vater seine Tochter, ein Bruder seine Schwester, ein Mann
seine Frau dem fremden Gast in alter Höflichkeit zur Nacht
anbiete und sich eine große Ehre daraus mache, wenn dieser
es annimmt, also ein alter deutscher Gebrauch. In Irland ist
es bis heute in einzelnen Gegenden üblich, daß die Tochter
des Hauses den Gast entkleidet, ihm hilft zu Bett zu gehen
und sich dann mit einem Kuß verabschiedet; auch am Morgen
kommt sie wieder, um ihn zu wecken. Der. Polterabend,
auch Guckel- oder Nachthochzeit genannt, war früher ver-
breiteter als heute. Sehr gebräuchlich war es in deutschen
Bürgerfamilien, ein Brautpaar einzuladen. So erfahren wir
dies 1506 von Anton Tucher in Nürnberg, dem diese Gepflogen-
heit überhaupt Freude gemacht haben muß, denn am 16. Juli
1512 hat er wieder ein Brautpaar und am 11, Januar 1516
sogar zwei geladen. Drei Tische waren mit Gästen besetzt.
Das Badengehen der Hochzeitspaare, das im Mittelalter so
sehr Sitte war, wird jetzt dank christlicher Einflüsse mehr
und mehr verboten. Der Tanz war selbstverständlich, und
auch bei bürgerlichen Hochzeiten wurde der Fackeltanz nicht
vergessen, so bei der Hochzeit des Bernhard Wiß mit Marga-
rete v. Artenberg, von der wir oben sprachen. Hier wird auch
ee
me
Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 243
noch erwähnt, daß am folgenden Tage der Küchenmeister, der
Silbermeister, der Schenktischdiener, der Küchenknecht, die
Schmutzbuben und der Stubenknecht mit Mägden und Weibern
den Küchentanz aufführten, voran der Hofmeister mit einer
Fackel, dann jeder mit seinen „Amtswaffen“ (also der Koch
mit Löffeln u. dergl). In betreff der Trauung hielt das
Bürgertum viel länger an den von den Vätern ererbten Ge-
danken fest als Fürsten und Adel. Trotzdem war in der
hier geschilderten Zeit die kirchliche Trauung schon
sehr verbreitet. Die Stunde ist sehr verschieden; die Kirche
suchte, wie wir schon erwähnten*), die frühe Morgenstunde
allgemein durchzuführen. So erfahren wir, daß man in Köln
schon früh 4 Uhr traute, in Breslau wurde laut Verordnung
vom 2. April 1603 nur zwischen 12 und 1 Uhr und 3 und
4 Uhr getraut. In den norddeutschen Städten scheint der
Nachmittag bevorzugt worden zu sein. Nach der Trauung
war es in vielen Gegenden noch üblich, daß der Bräutigam
weidlich durchgeprügelt**) wurde. 1607 erließ der Erz-
bischof von Köln eine besondere Verordnung dagegen; aber
sie fruchtete nichts. Wichtiger erscheint aber auch in bürger-
lichen Kreisen das Festmahl. Viele Verordnungen suchten
gerade in ihnen den furchtbaren Luxus einzuschränken, aber
ohne Erfolg; man liebte die Einladungen schon deshalb, weil
man ja gute Hochzeitsgeschenke erwarten durfte. Guarinonius
überliefert uns, daß man zu seiner Zeit (also Anfang des
17. Jahrhunderts) in bürgerlichen Häusern durchschnittlich
6 Gänge zu je 9 Speisen gab. Auffälligerweise hat sich in
Lübeck noch im Anfang des 16. Jahrhunderts die Sitte erhalten,
daß das Brautpaar von den übrigen Gästen getrennt in
der Brautkammer speiste und erst zu den übrigen Ge-
ladenen kam, wenn der Braten aufgetragen wurde. Die Männer
setzten sich zu dem Bräutigam, die Braut zu den Frauen. Die
Speiseverbote sind massenhaft; wir werden später darauf
zurückkommen; hier sei nur das der Nürnberger Ordnung von
1485 erwähnt. Zunächst wird darin festgesetzt, daß die „Tanntz-
lader“ nur drei Pferde gebrauchen durften, während der Hege-
lein (d. h. der Spruchsprecher) auf dem vierten reiten darf.
*) Vgl. Reitzenstein: „Liebe und Ehe im Mittelalter“, S. 54 ff.
**) Vgl. Reitzenstein: „Liebe und Ehe im Mittelalter“, S. 84.
16*
244 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben
Diese Tanzlader (Hochzeitsbitter) erhalten des Morgens eine
Frühsuppe nebst einer oder zwei gesottenen Hennen und
Frankenwein. Da es früher üblich war, daß der Bräutigam
seine Freunde auf seine Kosten in seine Farben kleidete, so
wird das jetzt dahin eingeschränkt, daß er nur noch einen
Knecht oder einen Knaben in dieser Weise kleiden dürfe. Dann
folgt das Speisegebot:
„Weder rephun, haselhun, vaßhun (Fasan), norhannen (Auerhähne)
byrckhannen, pfaben (Pfauen), noch koppauonen, weder gesotten noch
gebraten, auch weder һугѕсһіп- посһ геһіп-ргаќеп . . . noch ainicherley
hochzeytkraut darf aufgetragen werden, und auf jedem Tisch ein ge-
bratener Kapaun. Ißt einer an dem Tage kein Fleisch, so darf er
1—2 Fischgerichte erhalten“.
Verschiedene uralte Gebräuche finden wir noch stellen-
weise erwähnt. So das Steintreten. Bei der Hochzeit des
Berth. Sastrow in Greifswald wurde am Hochzeitstage nach-
mittags 3 Uhr der Bräutigam von den beiden Bürgermeistern
in Begleitung seiner Freunde auf den Marktplatz geführt, wo
er auf einem vierkantigen Eckstein ein paar „Pater noster“ lang
stehenblieb, während die Musik dazu spielte. Man legte dieser
Sitte den Sinn unter*), daß der Bräutigam die Einsprüche er-
wartete, die gegen seine Ehe gemacht werden konnten. Sehr
alt sind auch jene Gebräuche, bei denen das Verspeisen von
Eierkuchen vorkommt.*) So erfahren wir, daß bei der
Hochzeit des Bernh. Wiß mit Margarete v. Artenberg 1449 ein
großer Eierkuchen aufgetragen wurde, der mit Blumen und
Wachsfiguren verziert war und zerschnitten den Kindern mit-
gebracht wurde.
Das öffentliche Beilager ist noch in seinen Spuren
nachweisbar. So auf einer Hochzeit, die der Silberknecht der
Herzogin von Pommern mit ihrer Köchin vollzieht. Das feier-
liche Beilager findet hier auf einem im Saale aufgestellten
Bette statt; danach ziehen sich die fürstlichen Herrschaften
zurück, während das Bett weggeräumt wird, und das Fest
essen beginnt.***) Besonders von Interesse ist auch der Voll
zug der Ehe von Rohrbachs Schwester mit Karl Heuspurg,
*) Vgl. A. Schultz in „Das häusl. Leben der europ. Kulturvölker*
München 1903 (in Hdb. d. mittl. u. neuen Geschichte von Below) S. 168
**) Vgl. Reitzenstein: „Liebe und Ehe im Altertum“, S. 74.
***) Diese äußerst wichtige Notiz findet sich in Ph. Hainhofers
Reisetageb. 1617 in Balt. Studien II. 2. S. 77.
Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 245
von dem Rohrbach in seinem Tagebuch berichtet. Die Braut
wird im Wixhuserhoff in einem gemalten Gemach dem
Bräutigam beigelegt. Dabei ist der 26jährige Job unter dem
Bett versteckt und zieht seiner Schwester den rechten Schuh
aus, während Jakob Neuhausen den linken erhascht.*) Ein
Rest uralter Fruchtbarkeitszeremonie ‚hat sich in der Nach-
hochzeit erhalten, die einem Moralisten wie Guarinonius (in
„Grewel der Verwüstung“) nicht nur viel Tinte sondern auch
|
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Abb, 1, Öffentliches Beilager vom Bischof eingesegnet,
viel Ärger kostete; aber wir sind ihm dankbar, denn in seineri
sonst wertlosen Auslassungen findet sich eine Beschreibung
dieses Gebrauches.
„Ich bin mit bey gewesen auff deiner Hochzeit am andern Tag,
wellichen man allhie zu Lande den gülden Tag oder „Eyer in Schmaltz“
nennet; allda man den Spielleuten die allerschändlichsten Lieder an- und
auffgeben, nicht allein auff ihren Instrumenten zu spielen, sonder auch
mit der stimme darein zu singen; daß aber nicht genug war, sonder ein
ungehobleter Ehrloser Schalcksnarr allda zugegen war, wellicher ein darzu
*) Vgl. dazu Reitzenstein: „Liebe und Ehe im Altertum“, S. 78 und
„Liebe und Ehe im Mittelalter“, S. 78.
— mr —
246 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben
gerüste Bank hatte, dieselb, mitten in die Stuben niderstellet, damit er
von allen wol mochte gesehen werden, der Taffeln aber vier wol besetzt,
Manns- und Weibsbilder und Jungfrawen vorhanden waren. Auff dieser
Banck übet er dergleichen gebärden, ob wellichen ich noch in dieser
stundt mich vo Hertzen schäme zu gedenken“.
Mitgift und Geschenke waren aber auch unserem
Bürgertum die Hauptsache. Über die Brautgeschenke haben
wir schon teilweise gesprochen. Betreffs Mitgift und Wieder-
lage werden größere Verhandlungen geführt. So berichtet
Guarinonius über die Verhandlungen des Geizkofler mit seiner
ihm am 27. Juni 1588 verlobten Braut Kath. Hörmann. In
einem Heiratskontrakt sagt sie Geizkofler als „mütterliches und
vätterliches Erbe als Heiratsgut und Heimsteuer 2000 GI. zu... .,
und L. Geizkofler gibt ihr zur rechten Widerlegung auch
2000 Gl. und als freie Morgengabe 500 Gl. Im Jahre 1516
heirate Ulrich Fugger des Laux Gassners Tochter, der ihr als
Heiratsgutt 12 M. fl. (12000) gab, während der Fugger 13 M. fl.
(13000) als Wiederlage und dazu 3 M. fl. (3000) an Klaidern
und Klainaten schanckt.“ Die Luxusgesetze gingen natürlich
auch hier vor. So wurde in Rom 1471 festgesetzt, daß die
Mitgift 800 Goldgulden nicht überschreiten, und die Aussteuer
höchstens 600 Gulden kosten dürfe. 1511 setzte Florenz fest,
daß die Mitgift höchstens 1600 fl. betragen solle, um die
minderbemittelten Mädchen auch noch als begehrenswert er-
scheinen zu lassen. In Lübeck wurde 1566 bestimmt, daß
der Bräutigam am Verlobungstage der Braut einen Rosenkranz,
in späterer Zeit 3—4 goldene Ringe, 2 goldene Ketten, 3 Samt-
kragen und 3 Paar Ärmel schenken dürfe, wozu, wenn er
Patrizier war, noch der weiße Patrizierkragen kam. Die Braut
durfte geben: eine Badekappe und ein Hemd, später noch
2 Schnupftücher, ein Barett und den Trauring. In Schlesien
gibt der Bräutigam Brautkleid, Schmuck und Gebetbuch und
die Braut das Bräutigamhemd, ein Schnupftuch, manchmal eine
Weste. Es steht ihr jedoch frei, ihm ein halbes Dutzend
Hemden und ein Dutzend Taschentücher mitzubringen.
Die Bauernhochzeiten unterscheiden sich in unserer
Periode eigentlich in gar nichts von denen des Mittelalters,
höchstens beginnt auch bei ihnen die kirchliche Trauung
von jetzt an Fuß zu fassen. Bereits in der uns bekannten
Hochzeitsschilderung des Heinrich von Wittenweiler im „Ring“ *)
*) Vgl. auch Reitzenstein: „Liebe und Ehe im Mittelalter“, S. 84.
Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 247
ist die kirchliche Trauung erwähnt. Daß natürlich auch hier
das Essen und Trinken eine große Rolle spielt, ist selbst-
verständlich, und wie gegessen wurde, haben wir ja bereits
im „Mittelalter“ gesehen. Jedenfalls ist es bezeichnend genug,
daß Guarinonius folgenden „vereinfachten“ Speisezettel vor-
schlägt: „Suppe mit einem guten Stück Fleisch und Knödeln;
Kraut mit Speck, die Schüssel am Rande mit Bratwürsten
garniert; einen guten Rinder- oder Kalbsbraten; Gerste oder
Reis in Milch“ (dies ist das alte Brautessen). Es waren zu
seiner Zeit nämlich in Tirol bei geringen Hochzeiten 12—16
Tafeln, bei reicheren 24 Tafeln Gäste geladen. Nicht unerwähnt
lassen möchte ich eine Stelle, die in den Weistümern von
Liestal (Basel) 1411 angegeben wird; es heißt da:
„Der schultheis sol ouch heirathin jerlichs uf die zite vor vasnacht
als man gewohnlichen zu der heiligen ehe griffet, besehen, welche knaben
und töchteren zu dem elter sind, daß si billichen wibe und mann nemmen
sollen, daß es dan wibe und man gebe, zu gleichen sinem genossen“.
Diese Sitte reicht in eine uralte Zeit zurück, in der das
Frühjahrsfruchtbarkeitsfest die Zeit für den Abschluß der
Ehen war, und man dann einfach alle diejenigen zusammengab,
die geschlechtsreif waren und die Befruchtungszeremonie
durchgemacht hatten. Wir besitzen aus dieser Zeit ein
Flugblatt, das betitelt ist: „Kurtze Anleitung, wie man auf eine
Landhochzeit bei der Löblichen Bauernschaft bitten soll.“
Dies erscheint als so wichtige Quelle, daß es im Auszug mit-
geteilt werden soll. Zunächst wird die Frage beantwortet, wie
man zur Hochzeit bitten soll. Der Hochzeitslader stellt
sich vor als von dem N.N. Junggesellen geschickt und bittet,
man möge zum Bräutigam auf den nächsten Dienstag oder
Mittwoch kommen, man möge mit ihm zu seiner Liebhabenden
und in die Kirche ziehen, dann zu ihm nach Hause gehen
zum Mahle, und „dabey seine Armuth nicht verachten, und
ferner läßt er euch bitten / daß ihr wollet mitbringen | wer
euch lieb seyn möchte, dieselben sollen ihnen auf ihren Hoch-
zeitlichen Ehren und Freuden auch lieb und angenehm seyn“.
Man bedankt sich und sagt zu. Dann wird berichtet, wie
man den Priester um die Trauung ansprechen kann, ferner
wie man sich bedanket des Einzuges wegen. Es handelt sich
hier sowohl um den Einzug in „Haus und Hof, in seinen
vier Pfählen“, als um den „Eintritt in die Stuben“. Sodann
248 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben
wenden sich die Bitter an den Schultheiß „umb Erlaubnüß in
dem Kretscham zu tantzen“.
„Daß ihr ihm wollet vergönnen, allhier auf unsers Aller-
gnädigsten Herrn Grund und Boden so wol in eurem Haus ;
in eurem vier Pfählen / gar ein ordentliches Täntzlein zu tantzen /
mit seiner vielgeliebten Braut und mit seinen hierzu erbetenen
Hochzeit Gästen, wir wollen uns halten nach dem / was billich
und bräulich ist / so sind wir auch in guter Hoffnung ihr
werdet euch gegen uns verhalten, was eim Wirthe gebühret
und zuständig, und bitte derowegen gantz freundlich um einen
kurtzen Bescheid und Antwort.“
Diese fällt natürlich bejahend aus.
Daran schließt sich nun in unserem Flugblatt eine genaue
Beschreibung: „Wie man das Kräntzlein ausbitten soll.“
Da mir nicht bekannt ist, daß ein ähnlich genauer Bericht
vorliegt, soll er im folgenden trotz seiner Länge wörtlich wieder-
gegeben werden, zumal er ungemein reich an uralten Stellen
und Wendungen ist.
„Also [Erbarn, vielgeliebte Frauen und Jungfrauen / ich
grüß euch ganz freundlich insgemein, ihr Grossen und ihr
Kleinen / wenn ich eine thäte grüssen und die ander nicht, so
hielt ihr mich vor einen ehrlichen Gesellen nicht. Von grüner
Heyd komm ich daher geschritten, hätt ich ein Rößlein / so
käm ich geritten, weil ich aber das nicht hab / so muß ich zu
Fusse gehn / ich armer Knab.
Gott grüß euch / ihr Alten und Jungen / sind euch eure
rothe Rosen entsprungen / bis in den roten und gelben Klee |
so will ich sie holen / wie ich hier steh.
So hab ich nun auch hin und her gewandelt / mit Jung-
frauen gehandelt | und manches schönes Kräntzlein hab ich
empfangen | so hat mir anitzo eines thun belieben und ge-
fallen / bey euch Tugendsamen Jungfrauen allen | so wil ich
euch um euer Kleider eine ansprechen / wenn ihr euch nicht
wollet wieder rächen, ich meyne nicht das Kleid / was ihr an-
gehabt / ich meyne auch nicht das Kleid / was ihr um euren
jungen Leib geschlossen habt. Ich meyne das Kleid / das ihr
auf eurem Geel-weissen Haare tragt.
Ist es euch nicht feil / so wil ichs euch feil machen / mit
Worten und mit Sachen daß euer rother Mund soll lachen.
Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 249
So bitte ich euch, ihr wollet nehmen dassellbige Kräntzlein
in eure Schnee-weisse Hand, ihr wollets schwenken dem
Reuter auf sein Schwerdt / derselbe wird es halten hoch und
werth / hat er derselben Waare nicht verdient | so wil ichs
und andere erbare Jungesellen noch weiter verdienen.
So bitte ich euch, ihr wollet euch gegen meine Bitte be-
zwingen / und meine Bitte lassen gelingen, ihr wollet mir euer
Kräntzlein nicht versagen / ihr wollet michs lassen williglich
von hinnen tragen. Ich bin gar von kurtzen Sitten / lange
kann ich nicht drum bitten / ich bitte / ihr wollet mirs verehren
und nicht versagen, daß ich es möge zu Ehren tragen.
Das Versprechen der Jungfern um das Kräntzlein:
Jungfer: Mein Vielgeliebter Erbarer Junggesell. Es sind
in unsern Landen nicht Sitten, daß die Junggesellen um das
Kräntzlein bitten. e
Junggesell: Meine Vielgeliebte Tugendsame Jungfer. Da-
rum sind die Jungfern also frech / daß sie thun den Jung-
gesellen das Kräntzlein versprechen.
Jungfer: Ich saß wohl auf dem Reine [ ich machte mir ein
Kräntzlein alleine / es halff mir weder Ritter noch Knecht /
mein Kräntzlein ist euch nicht gerecht.
Junggesell: Ich setzte mich wohl gar nahe dabey / ich
machte der Gesetze schöner drey / ich hoff das Kräntzlein wird
mein eigen sein.
Jungfer: In meines Vaters Garten, da stehen zwo Wiethen,
davon habe ich die Schiene gebogen / die Nachtigal da durch-
geflogen, werdet ihr mir sie wieder zurück durchjagen, so solt
ihr mein Kräntzlein von hinnen tragen.
Junggesell: Ich wil mich machen zu einem kleinen Wald-
Vögelein / ich wil mich schwingen in die Luft hinein, ich wil
sie wieder zurück schlagen hinein, ich hoff, das Kräntzlein
wird mein eigen sein.
Jungfer: In meines Vaters Garten / da stehet eine Pappe! |
daran hengen drey goldene Tropffen / werdet ihr mir den
untersten und obersten rühren an / den mittelsten lassen stille
stahn / so solt ihr mein Kräntzlein von hinnen tragen.
Junggesell: In meines Vaters Stalle, da stehet ein Rappen,
denselben will ich mir satteln, ich wil reiten unter die Pappel,
ich wil den oberen ritteln / den untersten schütteln / ich hoffe
das Kräntzlein wird stehn auf meinem Hüttel (Hut).
250 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben
Jungfer: Werdet ihr mir erschwingen, fünff Zungen hören
aus einem Haupt klingen / so sollt ihr mein Kräntzlein von
hinnen bringen.
Junggesell: In meines Vaters Garten, da liegt ein alter
Roßkopf / darein hat eine Goldammer fünff Junge geheckt,
solches kann ich mir erschwingen, fünff Zungen hören aus
einem Haupte klingen, ich werde die Kräntzlein doch von
hinnen bringen.
Jungfer: Was ist weisser als der Schnee? Was ist grüner
als der Klee? Was ist schwärzer als der Raben? Was ist
tiefer als der Graben? Was ist stoltzer als der Knabe?
Junggesell: Der Tag isl weisser als der Schnee, die Rauthe
grüner als der Klee, die Feder ist schwärtzer als der Raben,
der Brunn ist tiefer als der Graben, das Roß ist stöltzer als
der Knabe / itzt wil ich das Kräntzlein haben.
Jungfer: Schwartze Saat auf weissem Acker, steht bis-
weilen dick und wacker / rathet mir das / und noch so viel /
so steht mein Kräntzlein nach eurem Will.
Junggesell: Wenn ich wärr ein gelehrter Mann ; und solte
über denselben Acker gahn / so wollte ich wissen was darauf
stahn / ich wil gleichwohl das Kräntzlein von euch han.
Jungfer: Die Schiene ist mit Gold belegt, und geht darunter
ein stoltzer Leib / die Seide ist so klein gesponnen / und ist
umb dieselbe Schiene gewunden / werdet ihr mir sie herunter
winden / so sollt ihr mein Kräntzlein von hinnen bringen.
Junggesell: Ist die Schiene mit Gold belegt / und gehet
darunter ein stoltzer Leib, ist die Seide so klein gesponnen |
und ist um dieselbe Schiene gewunden / so bin ich doch so
hoch gesprungen / und habe sie herunter gewunden / ich ver-
hoffe das Kräntzlein zu bekommen.
Jungfer: Ich gieng spaziren über grüne Au [ich wand
mir mein Kräntzlein grün und blau [ich wand mir es umb |
ich wand mir es ein / drumb muß das Kräntzlein ja meine seyn.
Junggesell: Ich gieng spaziren nicht weit vorbey / das
Kräntzlein gefiel mir von Hertzen fein, ich hoffe es wird bald
meine seyn.
Jungfer: Ich saß auf eim hohen Berg-Spitze / ich macht
mir ein Kräntzlein in grosser Hitze | noch sind mir die rothen
Rosen hinunter gefallen / werdet ihr mir sie wieder hinauf
winden, so solt ihr mein Kräntzlein bey mir finden.
Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 251
Junggesell: Sind euch eure rothe Rosen hinunter gefallen /
so bin ich hinunter gesprungen, und habe sie wieder herauf
gewunden /ich hoffe, das Kräntzlein sey gewonnen.
Jungfer: Ich gieng spaziren in mein Vater Rosen-Gärtlein /
da hab ich mir abgebrochen drey Röselein, daraus habe ich
mir gemacht ein Kräntzlein / von Gold und grüner Seiden um-
wunden /ich hoffe, die Kräntzlein sind gewonnen.
Junggesell: Giengt ihr spazieren in eures Vaters Rosen-
Gärtlein und ihr habt euch abgebrochen drey Röselein, von
Gold und grüner Seiden umwunden / ich hoffe, das Kräntzlein
ist gewonnen.
Jungfer: Werdet ihr mir erschwingen [und die kleinen
Wald-Vöglein singen, so solt ihr mein Kräntzlein von hinnen
bringen.
Junggesell: Einer singt grob, der andere singt klein / ich
hoffe die Kräntzlein sind mein.
Jungfer: Was ist härter als ein Stein? was ist geschwinder
als ein Pfeil?
Junggesell: Des Menschen Hertz ist härter als ein Stein,
und die Gedanken sind schneller als ein Pfeil, gebt mir das
Kräntzlein in aller Eil.
Jungfer: Rathet mir das: Was ist heisser als der Brand?
Was ist größer als die Schand? Was ist schwerer als der Sand?
Junggesell: Das Bley ist schwerer als der Sand, die Wahrheit
ist heisser als der Brand, die Gnade Gottes ist größer als die
Schand, schenkt das Kräntzlein den Junggesellen zu Ehren dem
gantzen Vaterland.
Jungfer: In meines Vaters Garten da steht ein weisser
Rosen-Strauch / und auf dem Rosen-Strauche eine Schneeweisse
Taube / werdet ihr mir dreymal um den Strauch herum draben /
und die Schnee-weisse Taube nicht aufjagen, so solt ihr mein
Kräntzlein von hinnen tragen.
Junggesell: Ich will mich machen zu einem geschwinden
Knaben, und dreymal geschwind um den Rosen-Strauch draben,
und die Schneeweisse Taube nicht aufjagen, ich hoff nun
Kräntzlein von hinnen zu tragen.
Jungfer: Es ritt ein Reuter über den Rhein / er bracht seiner
Liebsten Meth und kühlen Wein, ohne Glaß und ohne Faß;
Junggesell rath, was ist das?
252 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben
Junggesell: Ist das nicht Meth und kühler Wein, so muß
es aus einem frischen Brunnen seyn.
Jungfer: Rath mir das: Rote Lilien auf weisser See / rath mir
das und anders meh / so wollen wir einander zum Tantze gehn.
Junggesell: Auf jerrem Teiche wachsen zwey Lilien mit
einander zu gleiche | wenn ihr eines wedet gerathen haben,
so will ich mit eures Antwort sagen.
Jungfer: In meines Vaters Garten, da steht ein Bethlein
Weize / und mitten inne steht eine schöne Jungfer, wo ihr
dieselbe habt hören singen, so solt ihr mein Kräntzlein von
hinnen bringen.
Junggesell: Womit dieselbe Jungfrau kan so schöne singen,
es gefällt mir auch wohl, wenn ich höre solche Stimmen klingen /
eur Kräntzlein muß ich doch von hinnen bringen,
Jungfer: Wenn ihr spatziret aus der Stuben in das Haus,
und aus dem Haus, wol um das Haus / und darnach wieder
herein /so wil ich euch das Kränztlein nicht weiter versagen.
Junggesell: Ich bin aus der Stube ins Haus geschritten /
und aus dem Hause um das Haus / und wieder herein, ich
hoffe das Kräntzlein wird meine seyn.
Jungfer: Meine Frau hat mirs verboten, ich soll das
Kräntzlein nicht weg geben.
Junggesell: Ich wil mir mein Roß satteln, ich will sie darum
bitten /sie wird die Bitte nicht abschlagen, ihr werdets mir
geben mögen, ich wils euch zu Ehren tragen.
Jungfer: Es saß eine schöne Jungfrau in einem Gezelt, mit
Ehr und Redlichkeit war sie gezieret nach derselben trachten
die Fürsten, Grafen und Herren | so haben sie auch dieselbe
nicht können bekommen [ich hoffe, daß ichs errathen habe /
gibt mir der Kräntzen zur Morgen-Gabe.
Jungfer: Rathet mir das: was ist krümmer als der Kraut-
strunk? Werdet ihr mir das errathen, so sollt ihr mein
Kräntzlein haben.
Junggesell: Ich gieng durch einen grünen Wald /ich fand
der Wurzeln jung und alt /ich fand ihr vil darunter | sie waren
krümmer als der Krautstrunk; gebt mir das Kräntzlein, es
ist genung.
Jungfer: In meines Vaters Garten /da steht ein Böthe mit
Petersilye / dieselbe ist nicht gejethen, werdet ihr mir dieselbe
jethen 'un kein Blatt zertreten so habt ihr mein Kränztlein erbeten, -
Reitzenstein: Betrachtungen übes das Liebesleben 253
Junggesell: Ich wil die Petersilye jethen /und kein Blatt
zertreten, gebt mir das Kräntzlein ungebeten.
Jungfer: Mein Kräntzlein ist euch viel zu schlecht / und
noch darzu euch nicht gerecht.
Junggesell: Mein Haupt ist mir gar zu glatt und schlecht /
das Kräntzlein ist mir schon gerecht.
Jungfer: Mein Kräntzlein stehet mir so veste, als an dem
Baum die grünen Äste.
Junggesell: Es stehen so viele Bäume in dem Walde, daß
die Ästlein wohl selber herunter fallen.
Jungfer: Der Junggesell kan der Red nicht mehr, drum
gebt die Kräntzlein alle her.
Jungfer: Ein Vogel in der Lufft schwebet / auf Erden seines
gleichen nicht lebet, wenn ihn hungert / frißt er sieben Ochsen.
Junggesell: Es ist kein Adler oder Schwan /ich mein es
sey ein Wetterhahn /ich muß das Kräntzlein von euch han.
Junggesell: Wenn so viel stünden der Jungfern fein, als
Tropfen in dem Rheine seyn / und euch würd aufgesetzt hin-
durch zu gehen, mit trocknem Fuß ohne Schiffsteig, Karn und
Wagen / ich lob euch frey, könnt ihr mir das sagen.
Jungfer: Da habt ihr denn die Kräntzlein beyde / und
traget sie mit grosser Freude, ihr habt sie wohl von mir er-
beten / und kommt so seuber hergetreten / Gott gebe darzu
seinen Seegen, daran das meiste ist gelegen.
Junggesell: Also, meine vielgeliebte Jungfern, ich thue mich
freundlich bedanken / mit den Schwaben und Franken, wenn
ihr werdet kommen in mein Vaterland / so wil ich machen mit
euch bekandt, wil lassen decken Tisch und Bänke, den Meth
und kühlen Wein wil ich euch schenken / daß ihr sollt mein
gedencken / wird es gleich aus einem kleinen Brünnlein mit
meiner Hand geschöpffet seyn“.
Dieses uralte Wortspiel findet sich bei unseren Vätern
allenthalben in ähnlicher Weise wieder und lebt heute zum
Teil noch in Kinderreimen weiter. In vorstehendem Beispiel,
das ja verhältnismäßig spät aufgezeichnet ist, sind verschiedene
Antworten bereits verloren gegangen und durch wenig
passende ersetzt. Im großen und ganzen aber gibt es doch
ein treffendes Beispiel für diesen alten Hochzeitsbrauch.
Wie wir bereits aus dem ganzen Texte ersehen, war Ehe-
bruch absolut keine Seltenheit. An Belegen dafür fehlt es
254 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben
nicht. So berichtet vor allem Äneas Silvius Piccolomini (der
spätere Papst Ріиѕ 11., 1458—64), аав іт mittelalterlichen Wien
alle Frauen Ehebrecherinnen, alle Wiener Hahnreie oder Zu-
hälter seien. Auch Geiler von Kaisersberg erzählt uns ähn-
liches: „Wenn sie kein gelt mehr haben, sagen sie den weibern:
‚gehe und lug, das wir gelt haben; gehe zu diesem oder jenem
Pfaffen, studenten oder edelmann unnd heiß dir ein gülden
leihen und danck, komb mir nicht zu hauß, wo du kein gelt
bringest, lug wo du gelt auftreibest oder verdienest, wenn du
schon es mit der handt verdienest, da du auff sitzest‘. Als-
dann gehet sie ein ehrliche unnd fromme fraw auß dem Hauß
und kompt ein hur wider heim“. Daß die Männer gerade sehr
häufig ihre Frauen verkuppelten, wollen wir nicht annehmen;
daß es vorkam, ist selbstverständlich. Der häufigste Ehebruch
seitens des Weibes wurde eben durch die oft lange Abwesenheit
des Mannes, durch seine zeitweilige Impotenz infolge Trunken-
heit und durch Krankheit verursacht sowie besonders durch
die Unmöglichkeit einer leichten Scheidung. So erzählt
Georg Viviennus im 17. Kapitel seines 1565 erschienenen
„Weiberspiegels“:
„Vorzeiten als ich zu Tholosa war /sagte mir ein Student ein lecher-
lichen bossen / von rechtschaffener Weiberlist._. Derselbe rühmte sich,
Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 255
das er mit eines nicht sehr klugen Mannes Weib bulete | welcher oftmals
schuldenhalber sich nicht durfte lassen daheim finden | sondern mußte die
Nacht draussen auff de felde schlafen | Als sie aber auff ein zeit den
Buler bey sich gehabt |ist man vnversehens zu nacht in der temmerung
zu Hause kommen | da solches geschehen ; hat sie eilendt den Ehebrecher
vnter des Bette verstackt |und angefangen йеп Мап һе ір zu schelten !
das er anheim keme mit meldung |ob er wolle im gefangnus auffstehen |
dann jetzund erst |sagte sie /sind des Richters diener hie gewesen | vnd
haben das gantze haus ausgesucht | vnd begeren dich gefangen zu nemen /
Als ich aber zu ihnen gesagt du pflegest nicht daheim zu schlaffen,
giengen sie wider hinweg vnd draweten (drohten) | sie wollten nicht lang
aussen sein | sondern wollten wieder kommen /der gute Mann erschrak
vn bekümmerte sich | wie er wieder davon Коте / aber die Stadtthor waren
schon geschlossen | Da sagte das Weib | Wie thustu jm doch du armer
man | wirstu begriffen /so ist es mit dir aus. Als er aber vor forcht
zitterte | vnd fragte das Weib vmb rhat | da war sie behende uff list / vnd
hies ihn hinauff inn den Taubenschlag steigen |vnd die nacht darinnen
bleiben /so wollte sie aussen die Thür daran zumachen |vnd die leiter
dauon nemen | das niemandt denken möchte | das er oder jemand darinnen
wehre ; der Mann folget des Weibes rhat / die dann | nachdem sie die Tür
vormachet / das er nicht aus dem Taubenschlag gekönt | vnd die leutern
hinweg genommen /ihren Bulen aus der nottstel darein er sich verkrochen
hat | wieder herfür bracht | vnd erlöset hat / Welcher dann auch ein gros
gerausch angerichtet / vnd sich gestelt als wern des Richters Diener
wiederumb da /vnd dieweil das Weib dagegen des Mannes wort geredet |
haben sie ihm grosse furcht gemacht | Nach deme es aber alles wieder
still | sind sie beyde mit einander zu bette gangen | vnd haben sich die
nacht fröhlich gemacht | der Mann aber ist droben vnter den Tauben und
Taubenkot gesteckt |“
Gefährlich wurde es aber, wenn die Frau es zwar mit ihrer
Treue nicht genau nahm, sich aber vom Drucke eines bösen
Gewissens nicht anders befreien konnte als eben auf dem
Wege der Beichte. In welch sonderbarer Weise sich eine
solche Beichte dann oft vollzogen haben mag, geht aus nach-
folgender Episode, die Viviennus an gleicher Stelle erzählt, hervor:
„Anderswo ist auch fast ein berechtiget Weib gewesen | welche mit
einem Ehebrecher ein Kind gezeuget | Als sie aber solches gebeichtet ist,
sie vnterwiesen worden / Gott vergebe jhr solche sünde nicht |sie be-
kennete sie denn jhrem Man /da erdenkt sie ein werckliche list | wie dann
die Weiber zu listigkeit geartet sein / Erstlich hat sie den Man gebeten /
упа so viel bey jhm erhalten / das er sich verlauffen solte / vnd mit andern
so auff diese zeit Mummen (maskiert) giengen |in die Mummerey gehen |
solte auch entlich also vermummet anheim kommen | Da aber solches ge-
schehen /und er also heimkommen /da hat sie das uneheliche Kind umb-
fangen /und zu ihm gesaget | Sihe | wer ist der Man: es ist ein vermummter
Teuffel oder Narr ; backe dich du jecke /das ist nicht dein Son (er hat
einen andern Vater“.
256 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben
Stellenweise, so in Lübeck, kam es allerdings auch vor,
daß Ehefrauen, mit dichten Schleiern angetan, in die Wein-
keller gingen, um sich hier preiszugeben. Doch mag auch
das selten gewesen sein.
Bigamie wurde streng bestraft nach der Hals- oder Pein-
lichen Gerichtsordnung Karls V.:
„Дет, so eyn ehemann eyn ander weib oder ein eheweib ein andern
mann inn gestalt der heyligen ehe bei leben des ersten ehegesellen nimbt,
welche übelthat dann auch eyn ehebruch und großer dann das selbig
laster ist, und wiewol die Kayserlichen recht auff solche übelthat kayn
straf am leben setzen, so wollen wir doch, welcher solchs lasters be-
trüglichen muß, mit wissen und willen ursach gibt und vollbringt, daß die
nit weniger dann die ehebrüchigen peinlich (d. h. mit dem Todel!) ge-
straft werden sollen“. (ed. Koch 1800 S. 63.)
Sie war aber trotzdem nicht allzu selten, denn es werden
uns mehrere Beispiele berichtet, so: „1447 des jars 12 tag im
nofember da ertrenckt man einen, des Löffelholtz knecht auf
der Hallerwisen (zu Nürnberg), hat 4 eefrawen.“ Über die
Doppelehe des Landgrafen von Hessen haben wir be-
reits gesprochen. Gesetzlich wurde in Italien der einfache
Ehebruch mit 50 Lire Geldstrafe und 6 Monaten Gefängnis
bestraft, während den Juden Bigamie gesetzlich gestattet war.*)
(Schluß folgt.)
*) Vgl. Reitzenstein: „Liebe und Ehe im alten Orient“, S. 39.
Geschlecht und Gesellschaft
Neue Folge XI, 9
Kupfer von Dambrun
Zum Aufsatz Reitzenst
gen der Braut
Zubettebrin
as
D
ein
ERKLÄRUNGSWEGE
DER GLEICHGESCHLECHTLICHKEIT").
Von Dr. med. et phil. Arthur KRONFELD.
E: wird bekannt sein, daß die Gleichgeschlechtlichkeit oder
Homosexualität, wie der unglücklich gebildete Fachausdruck
lautet, von Seiten der naturwissenschaftlichen Betrachtung in
zwiefacher Richtung einem erklärenden Gesichtspunkt unter-
worfen worden ist. In dem Lager der im engeren Sinne
psychiatrischen Erklärung stehen seit Westphal die großen
klinischen Lehrer der Seelenkunde: Kraepelin, Zieher,
Heilbronner, Räcke, Klieneberger, Stier. Ihre Meinung
ist auf eine kurze Formel zu bringen: die gleichgeschlechtliche
Einstellung des Triebes und Gefühlslebens sei zufällig im
Einzelnen erwachsen. Gewissen Erlebnissen und Entwicklungs-
stadien der Kindheit und der Pubertätszeit, die auf erotischem
oder sexuellem Gebiet sich abspielten, hafte eine derartige
dauernde Nachwirkung an, daß das seelische Leben des Be-
treffenden sich niemals wieder von ihr zu befreien vermag.
Trieb und Strebungen stellten sich ja nach Wirkungen dieser
Erlebnisse um und erstarrten allmählich in dieser Umstellung.
Gewiß machen einzelne dieser Forscher noch besondere An-
nahmen und Voraussetzungen geltend, um die Nachwirkungen
solcher zufallsmäßigen Erlebnisse sexueller Art verständlich zu
machen. Diese Annahmen bestehen darin, daß den betreffenden
Menschen besondere allgemein-seelische Dispositionen
zugeschrieben werden, die sich auf ihre überstarke Beeindruck-
barkeit und Gefühlsnachwirkung beziehen, die sich in einer
gewissen Labilität und Unsicherheit der aktiven seelischen
Tendenzen äußern, und die man, ohne sie genauer zu zer-
gliedern, gerne mit dem Worte der psychopathischen Dis-
*) Aus einer soeben erschienenen Schrift: Über Geschlechtlich-
keit, Erklärungswege und Wesensschau. Verlag von Julius Pütt-
mann, Stuttgart.
17
258 Kronfeld: Erklärungswege der Gleichgeschlechtlichkeit
positionen zusammenfaßt, weil wir derartige abwegige Ver-
haltensweisen, besonders derartige Fixierungen und Nach-
wirkungen gefühlsstarker Eindrücke auch auf nichtsexuellem
Gebiete besonders bei solchen Menschen finden, welche zu
seelischen Leidenszuständen disponiert sind.
Das zweite Lager, welches mit dem Anspruch auftritt,
die Gleichgeschlechtlichkeit erklären zu wollen, ist das der
Konstitutionsforschung. Hier geht man von der Tatsache
aus, daß sich homosexuelle Triebzüge nicht nur bei reifen
Kulturrassen mit differenziertem Seelenleben finden, sondern
auch bei primitiven Völkern und bei Tieren, bei letzteren bis-
weilen in wesentlich häufigerem Maßverhältnis als beim
Menschen (so bei Ziegen etwa in 8—10°/,), und daß dieses
Verhalten beim Tier regelmäßig geknüpft ist an eine besondere
Beschaffenheit seiner Konstitution, insbesondere derjenigen
seiner Keimdrüsen. Man geht von zahlreichen klinischen und
experimentellen Tatbeständen aus, welche die Abhängigkeit
des Sexualverhaltens, auch im Sinne der gegenständlichen
Bindung sexueller Triebe, von dem sogenannten Blutdrüsen-
apparat dartun, zu welchem auch die Keimdrüsen gehören.
Bekannt sind in dieser Richtung im weiteren Publikum ins-
besondere die aufsehenerregenden, wenn auch vielseitig deut-
baren und zuweilen mit vorschneller Einseitigkeit gedeuteten
Forschungen Steinachs geworden. In der gesamten „Blut-
drüsenformel“ schien sich mehr und mehr eine ursprüngliche
physiologisch-dynamische Ausprägungsweise der individuellen
Konstitution, nicht bloß im Hinblick auf die geschlechtliche
Eigenart, sondern auch auf den Körperbau und dessen Bean-
spruchbarkeit, auf viele Krankheitsdispositionen und auf gewisse
allgemeine psychische Temperamentsgrundlagen (Kretschmer)
darzubieten. Vererbungsbiologische Tatbestände kamen hinzu.
Es ließ sich bei manchen Tierarten feststellen, daß die бе
schlechtsbestimmung der Nachkommen sich nach bestimmten
Gesetzen an die Zahl der Chromosomen, der Träger des Erb-
guts, in der männlichen Keimzelle band. Es gelang sogar
(Goldschmidt, Correns) durch Abstufung der Erbwertig-
keiten bei Insekten „Intersexe“, also Zwischenglieder zwischen
männlichem und weiblichem Geschlecht in den körperlichen
Ausprägungen, zu züchten. Und selbst den Eintritt der Inter-
sexualität konnte man zeitlich experimentell bestimmen. Er
Kronfeld: Erklärungswege der Gleichgeschlechtlichkeit 259
erwiessich als abhängig von der Produktionskurve gewisser Stoffe
im Zellinnern, deren Wirksamkeit man nicht gut anders be-
greifen konnte als nach Analogie mit der Wirksamkeit der
Blutdrüsenformel höherer Tiere, also als Hormone. Die Kon-
stitutionsforschung ergab also in bezug auf die Grundlagen der
Geschlechtlichkeit, von weicher unter biologischen Erklärungs-
gesichtspunkten die psychische Geschlechtlichkeit nicht gut
abgetrennt werden konnte, drei einwandfreie Daten: Erstens
die Abhängigkeit in dem Werden und der Ausprägung dieser
Geschlechtlichkeit von gewissen physiologisch wirksamen, im
Organismus produzierten Substanzen. Zweitens die direkte
unmittelbare Zurückführung in der Produktion dieser Substanzen
auf das konstitutionelle Fundament dieses Organismus. Drittens
die vererbungsbiologisch feststehende Beziehung dieser kon-
stitutionellen Fundamente auf die Erbwerte der beidgeschlecht-
lichen elterlichen Erzeuger.
Gewisse biologische Theorien haben aus diesen Befunden,
und überhaupt aus der allgemeinen im Bereich des Lebendigen
gültigen Tatsache, daß das Erbgut der Erzeuger beiderlei Ge-
schlechts sich auf die Nachkommen überträgt, ein Naturgesetz
vo: allgemeinem Gültigkeitsanspruch gefolgert: dieBisexualität
alles Lebendigen. In der umfassendsten Formulierung dieses
Gesetzes, welche etwa zwei verschiedene Arten lebendiger
Substanz, solche mit männlichen und solche mit weiblichen
Qualitäten und Entwickelungsphasen zugrunde legt (Fliess,
Weininger), handelt es sich wohl nur um eine philosophierende
Spekulation, der schon die Tatsache entgegenzuhalten wäre,
daß der Gonochorismus, die Differenzierung in zwiegeschlecht-
licher Hinsicht, erst eine entwicklungsgeschichtlich spätere
Erscheinung darstellt, die nur für einen Teil der Lebewesen
zutrifft. In seiner engeren Fassung kann man die potentielle
Bisexualität, die in ihr ruhenden Entwickelungstendenzen, die
„prospektiven Potenzen“ im Sinne Drieschs, für getrennt ge-
schlechtliche Lebewesen zugestehen, da sie den erbbiologischen
Tatsachen entspricht. Aber diese potentielle Bisexualität ist
eben in ihrer Realisierung den Erbgesetzen unterworfen, und
da zeigen ja die Tatsachen, daß immer nur die eine Seite der
biologischen Geschlechtlichkeit zur Dominanz gelangt. Sie
prägt die Blutdrüsenformel, und diese differenziert das Soma
nach Gestalt, Funktion und Form in ihrem Sinne. Mit der
17*
260 Kronfeld: Erklärungswege der Gleichgeschlechtlichkeit
allgemeinen Formel von der potentiellen Bisexualität ist also
zur Erklärung seelischer Eigenarten des Menschen in
sexueller und erotischer Hinsicht nicht viel anzufangen.
Es ließe sich aber etwa deduzieren, daß die Dispositionen
zu den einzelnen Komponenten der Geschlechtlichkeit viel-
fache seien, und daß jede von ihnen isoliert in der Erbmasse
übertragen werde. Dann wäre es vorstellbar, daß die einzelnen
Merkmale der Geschlechtlichkeit unabhängig voneinander
nach den Gesetzen des Erbganges variationsfähig seien. So
ließe sich z. B. vorstellen, daß die körperlichen Geschlechts-
merkmale in ihrer Ausbildung einzeln angelegt und vor-
bestimmt seien, und daß die Tätigkeit der Blutdrüsen diese
Anlage bloß aktualisiert. Das Gleiche ließe sich auch im Be-
reich des seelischen Verhaltens in geschlechtlicher Hinsicht
vorstellen. So würde die biologische Grundlage dafür gegeben
sein, daß zwischen der gleichsinnigen Ausprägung aller
körperlichen und seelischen Merkmale als männlich oder als
weiblich sich eine fließende Übergangsreihe von Zwischen-
stadien denken ließe, innerhalb deren einzelne Merkmals-
komplexe im gegengeschlechtlichen Sinne entwickelt wurden.
Dieser Gedanke ist der Kern dessen, was an der berühmt
gewordenen Zwischenstufentheorie Magnus Hirschfelds,
welche dieser hochverdiente Forscher zur Erklärung der Homo-
sexualität und verwandter Erscheinungen als erster aufgestellt
hatte, noch heute berechtigt ist. Es ist deutlich, daB diese
Annahme rein deduktiv zustandekommt, und daß wir noch
nicht fähig sind, sie empirisch und experimentell zu bestätigen.
Sie ist in dieser Formulierung eine physiologisch-erbbiologische
Hypothese, welche wir einem Einteilungsprinzip als Er-
klärung zugrunde legen. Auch wer diese Hypothese ablehnt,
wird von dem Klassifikationsprinzip in der Beschreibung der
hierher gehörigen Fälle Gebrauch machen müssen. Und in
der Durchführung dieses Klassifikationsprinzips durch alle
„intersexuelle“* Bildungen hindurch liegt die eigentliche Be-
deutung der Magnus Hirschfeld’schen Arbeiten. Man hat
geglaubt, daß die experimentelle Blutdrüsenforschung, und ins-
besondere die Arbeiten Steinachs, geeignet sind, dieser
Theorie eine neue Stütze zu geben. Das ist nicht in vollem
Maße der Fall. Aber den Arbeiten Steinachs geschieht in
der Gegenwart vielfach ein durch nichts begründetes Unrecht.
Kronfeld: Erklärungswege der Gleichgeschlechtlichkeit 261
Weil die überpflanzten Keimdrüsen beim Menschen nicht ein-
heilungsfähig sind, und weil darum die Erfolge der Keim-
drüsenüberpflanzung beim Menschen nicht den Erwartungen
entsprachen (was nicht das Geringste gegen die Tierversuche
besagen will), und ebenso weil Steinach in Einzelheiten der
morphologischen Deutung der Keimdrüsenbefunde sich in
offensichtlichen Irrtümern bewegte, — darum besteht noch
nicht der mindeste Grund, den positiven Gewinn seiner ex-
perimentellen Studien so gewaltsam zu übersehen, wie dies
heute vielfach geschieht. Es bleibt eine Tatsache, daß es
möglich ist, durch experimentelle Überpflanzung von Keim-
drüsen auf entgegengesetzt geschlechtliche Tiere, die man zuvor
der eigenen Keimdrüsen beraubt hat, heterologische Geschlechts-
merkmale zu erzeugen, nicht nur im Körperbau, sondern auch
in ihrem seelischen und geschlechtlichen Verhalten. Hierin
liegt eine mächtige Stütze der konstitutions-biologischen An-
nahme, daß das geschlechtliche Verhalten ebenso eindeutig von
der Beschaffenheit der Blutdrüsen und ihrem Zusammenspiel
abhängt und durch Veränderungen desselben modifizierbar ist,
wie etwa die Körperbeschaffenheit. Gesamtbiologisch gedacht,
müßte dies auch für den Menschen gelten, und somit wäre
auch das seelische Verhalten des Menschen in erotischer
und sexueller Hinsicht der direkte Ausdruck seiner Kon-
stitution, es wäre die Ausprägung seiner besonderen indivi-
duellen Organisiertheit. Und auch die Gleichgeschlechtlichkeit
entspräche dann einem tiefen wesensmäßigen Bedürfnis seiner
spezifischen Organisation.
Welcher Art beim gleichgeschlechtlichen Menschen diese
Spezifität der Organisation ist, darüber wissen wir noch außer-
ordentlich wenig. Die naturwissenschaftliche Erklärung gibt
dazu nur Fingerzeige und Analogien, aber keinerlei faßbares
Ergebnis. Nur in sehr seltenen Fällen gelingt es uns, beim
gleichgeschlechtlichen Menschen Abweichungen in der Keim-
drüsenbeschaffenheit etwa im Sinne einer Mischung der beid-
geschlechtlichen Keimdrüsen festzustellen. Etwas häufiger sind
die Fälle, wo nicht sowohl die Keimdrüsen, als vielmehr
andere Blutdrüsen bei gleichgeschlechtlichen Menschen ein
anomales Zusammenspiel zeigen, und dadurch die Konstitution
in verschiedener Weise modifizieren. In der Mehrzahl der
Fälle bieten die gleichgeschlechtlichen Menschen Individuali-
262 Kronfeld: Erklärungswege der Gleichgeschlechtlichkeit
täten dar, die wir konstitutionsbiologisch nicht auf Gesetze
einer Zwischengeschlechtlichkeit zurückführen können, auch
wenn wir es wollen. Die Gleichgeschlechtlichkeit steht in einer
engen Wechselwirkung zur übrigen seelischen und sozialen
Persönlichkeit; alle diese Wechselwirkungen gehorchen ihren
eigenen Notwendigkeiten. Vergeblich aber suchen wir oftmals
nach irgend welchen physisch spezifischen Korrelaten.
Ein solches Korrelat scheint sich uns einstweilen zu bieten,
wenn wir gerade bei gleichgeschlechtlichen Menschen die
mehr oder weniger ausgeprägten Anzeichen eines Konstitutions-
typus finden, welche wir dem Sammelbegriff der „dysklan-
dulären Infantilismen“ im weitesten Sinne unterordnen
können. Es handelt sich um konstitutionelle Zusammenwirkung
der Blutdrüsen, welche eine Persistenz, ein Bestehenbleiben
kindlicher oder jugendlicher Entwicklungszüge über ihre sonstige
Dauer hinaus bewirken. Durch die besondere Art des Zu-
sammenwirkens der Blutdrüsen entsteht in solchen Fällen eine
vorbedingte Hemmung in der Reifeentwicklung be-
stimmter Körperbaustigmen und wahrscheinlich auch bestimmter
seelischer Haltungen. Die Gründe dieser abnormen Zusammen-
wirkung der Blutdrüsen sind sehr vielseitige und können hier
nicht weiter verfolgt werden*), ebensowenig wie die einzelnen
Typen der infantilistischen Konstitution (die hypophysären
Typen, die dysgenitalen Typen, der thymisch-Iymphatische Typ,
der dysthyreotische Typ usw.). Wir finden die Merkmale der-
artiger Infantilismen beim gleichgeschlechtlichen Menschen,
zum mindesten partiell, relativ häufig: und insbesondere Weil
hat auf bestimmte Eigenarten in den Wachstumsverhältnissen
homosexueller Männer und Frauen hingewiesen, die sich exakt
messen lassen, und im Sinne des Infantilismus von denen der
normal-sexuell veranlagten Menschen abweichen. Kretschmer
hat die Eigenarten der Körperbaustigmen bei gleichgeschlecht-
lichen Menschen sehr häufig vereinigt gefunden mit Dis-
*) Die genauere fachwissenschaftliche Begründung der oben dar-
gelegten Stellungnahme, und ebenso die weitere Ausführung meiner
eigenen Arbeit auf diesem Gebiete findet der Interessierte in meinen
Abhandlungen: „Der konstitutionelle Faktor bei sexuellen Triebanomalien«,
Zeitschrift für Sexualwissenschaft, Band 8, 1.—3. Heft 1921. Und ferner:
„Über psychosexuellen Infantilismus“, 1921, Verlag Ernst Bircher, Leipzig
ınd Bern, 1921.
Kronfeld: Erklärungswege der Gleichgesc hlechtlichkeit 263
positionen zu bestimmten allgemeinen Temperamentseigen-
schaften, mit einem Springen der Temperamentskurve zwischen
Hyperästhesie und bewußter Kühle, und mit .der Disposition
zu bestimmten vererbbaren Charakterstrukturen und seelischen
Erkrankungsweisen im Sinne mancher Jugendirreseinsformen.
Magnus Hirschfeld und auch ich haben nicht allzuselten
erlebt, wie ohne Wissen von einander Vater und Sohn, oder
Bruder und Bruder einzeln in die Sprechstunde kamen und ein
Bekenntnis ihrer Gleichgeschlechtlichkeit ablegten. Auch
hierin liegt ein Hinweis auf die gleichsinnige Vererblichkeit der
biologischen Merkmalsgruppen, aus welchen auch die Gleich-
geschlechtlichkeit irgendwie derivieren muß.
Fassen wir die etwas verstreuten konstitutionsbiologischen
Befunde in einen Satz zusammen, so lehren sie uns: Die
Gleichgeschlechtlichkeit ist ihren Trägern etwas Wesens-
mäßiges, mit ihrer Konstitution schicksalshaft verwachsen; sie
ist nicht eine zufällige Pervertierung der Seele und der Triebe,
wie dies von bestimmten anderen sexuellen Verhaltensweisen
angenommen wird, sondern sie entspricht einem notwendigen
und tiefen Wesensbedürfnis in den Grundlagen des gesamten
Menschen, der sie trägt.
Ich glaube auch nicht, daß ein wirklicher Gegensatz
zwischen den beiden Lagern besteht, die wir als das psycho-
pathologische und das konstitutionsbiologische in dieser Frage
ursprünglich geschieden sahen. Schon mit dem Ausspruch,
die gleichgeschlechtliche Einstellung gründe sich auf Erlebnis-
wirkung, war für das psychologische Lager ja die Notwendig-
keit gegeben, darzutun, inwiefern bestimmte Erlebnisse von
so grundlegender und gestaltender Nachwirksamkeit auf einzelne
Menschen zu sein vermöchten, die bei anderen Menschen ein-
druckslos und rasch vorüberhuschen. Die einseitige Heraus-
hebung des äußeren Zufallsfaktors ist nur eine falsche psycho-
logische Abwandlung der Leibnizschen Formel:
Nihil est in intellectu, quid non fuerit in sensu.
So richtig dieser Satz aus der Erkenntnislehre ist, so
wenig ist es seine Meinung, daß es nicht besonderer
Grundlagen und Anlagen bedürfe, damit etwas, was in sensu
war, auch in den Intellekt übergehen könne. Diese Anlagen
in ihrer spezifischen Bedeutung dürfen für kein Erlebnisgebiet
übersehen werden; sie sind, auch wo sexuelles Erleben zur
264 Kronfeld: Erklärungswege der Gleichgeschlechtlichkeit
Nachwirkung gelangt, sicherlich zum Teil allgemein-
seelischer Art. Aber damit sexuelles Erleben sich dauernd
und Richtung gebend fixiere, und die Triebform nach kurzem
in seinem Gleise erstarren lasse, bedarf es doch
spezifischer Anlagen und Voraussetzungen, die zu be-
stimmten Ausprägungsweisen des Triebes die Vorbedingungen
abgeben. Und man sieht schon, wie diese Annahme den-
jenigen der konstitutionsbiologischen Erklärung entgegenkommt.
Kraepelin selber faßt neuerdings diese spezifischen Dis-
positionen für die Fixierung gleichgeschlechtlichen Erlebens
und Reagierens als Infantilismen auf — eine Formel, die
sicherlich nur teilweise richtig ist, in welcher aber ein Teil
der konstitutionsbiologischen Daten bereits zu voller An-
erkennung durchbricht.
Ebenso wäre eine konstitutionsbiologische Erklärung ein-
seitig, wenn sie nicht auch den zeugenden und bestimmenden
Wert des Erlebens für die Bildung der Seele gelten ließe,
wenn sie vielmehr ein starres und vollendetes Präformations-
system annähme, an welchem Entwicklung und Leben nichts
mehr zu formen und mit Inhalt zu erfüllen hätten. Man muß
sich doch fragen: was kann angelegt, was kann als Disposition
gegeben sein? Und sofort wird die Antwort sein: bestimmte
Fähigkeiten und Möglichkeiten, bestimmte Reaktionsbereit-
schaften, kurz ein nach Qualität und Stärke bestimmter Inbegriff
von „Irritabilität“ im Sinne des großen Haller.
So muß es auf allen seelischen und körperlichen Gebieten
sein; aber erst die gelebte Wirklichkeit schafft aus diesen
potentiellen Formen tatsächliche Gebilde und individuelle
Gestalt. Wir haben Sprachzentren, und die Fähigkeit sprechen
zu können ist uns angeboren, sie ist in uns angelegt. Welche
Sprache aber der Einzelne erlernt, das bestimmt sich durch
Umstände, die außerhalb seiner selbst liegen; und damit
wird sein ganzer Gesichts- und Kulturkreis, sein Denkstil und
seine geistigen Möglichkeiten, kurz ein entscheidender Anteil
seiner Individualität, durch seine Entwicklung und durch sein
äußeres Erleben selber erst geformt.
Wir sehen somit: Der genannte Gegensatz: „exogen“ und
„endogen“ — ist falsch. In ihm hebt sich ein einseitiger
Abstraktionsgesichtspunkt heraus, welcher sinnwidrig ver-
absolutiert wird. Jedes seelische Sichereignen ist notwendig;
: Kronfeld: Erklärungswege der Gleichgeschlechtlichkeit 265
keines ist zufallsmäßig. Jedes ist Folge mehrerer Deter-
minanten; in den Symbolen „Erlebnis“ und „Reaktivität“ er-
fassen wir wenigstens einige von ihnen; und gerade diese
beiden sind in ständiger Wechselwirkung. Wir können
dies ausdrücken durch die umfassendsten Formeln, die wir
für alle Bildungen des Lebendigen überhaupt besitzen: durch
Verworns Formel vom Wesen des Organismus, welche sich
in den Beziehungen von Reiz und Reaktion abdrückt; oder
durch die philosophische Formel des deutschen Idealismus vom
Wesen des spezifisch Seelischen als einer „erregbaren Selbst-
tätigkeit“.
So sehen wir, wie das Wesen der Gleichgeschlechtlichkeit
den Erklärungsgesichtspunkten der Naturwissenschaften — so
wertvolles sie auch an Hinweisen aufzuführen vermögen —
eigentlich entgleitet. Wir haben hier noch eines letzten Er-
klärungsversuchs zu gedenken, welcher vor den oben genannten
den einen gewaltigen Vorzug hat, daß er sich nämlich ganz
innerhalb der innerseelischen Kausalität hält. Es ist
die Erklärung der Gleichgeschlechtlichkeit durch die allgemeinen
Annahmen Freuds und seiner Schüler. Es ist hier nicht der
Ort, zu dem Gesamtgebäude der Lehren des genialen Psycho-
logen Stellung zu nehmen. Wir wollen auch nicht seine be-
sonderen genetisch-dynamischen Behauptungen über die Ent-
stehung der Gleichgeschlechtlichkeit im Einzelnen kritisieren;
wir wollen lediglich an ihnen, als an einem Beispiel, uns klar
machen, wie es auch der sorgsamsten Analyse individueller
Seelengestaltung nicht zu gelingen vermag, die Gleichgeschlecht-
lichkeit wesensmäßig und ohne Rest aus bloßen Erlebnis-
wirkungen herauswachsen zu lassen. Bekanntlich verlegt
Freud die Entstehung der Gleichgeschlechtlichkeit ebenso wie
die aller Triebgestaltungen in die erste Kindheitsepoche, in
jene Zeit, in welcher sich aus dem undifferenzierten Strome
des Trieblebens, der „Libido“, die einzelnen Stufen und
Stadien der Triebentwicklung organisieren und herausschälen.
Und er sieht für die Entstehung der Gleichgeschlechtlichkeit
beim Manne die wesentlichen seelischen Bedingungen in einer
frühkindlichen übermäßigen Fixierung des Trieblebens an die
Mutter, sowie an das eigene Ich. Aber derartige Fixierungen
treten nach seiner eigenen Lehre in jedem Falle und gesetz-
mäßig immer wieder auf; und es erhebt sich die Frage: wir
266 Kronfeld: Erklärungswege der Gleichgeschlechtlichkeit
kommt es zu einer besonderen Nachwirkung gerade dieser
Fixierungen frühkindlicher Triebe beim gleichgeschlechtlichen
Menschen? Schon Freud selber mußte hier zu der biologischen
Hilfsvorstellung greifen, daß in diesen Fällen eine besondere
Disposition zum Haften und zur Nachwirkung gerade derartiger
frühinfantiler Bindungen vorausgesetzt werden muß; und ledig-
lich einige seiner Schüler, die er selber mit Recht als „ver-
wahrlost“ bezeichnet hat, übersehen diese seine Annahme, um
„psychologisch“ darauf loszuorakeln. Freud war auch der erste,
der erkannt hat, was die wirklich wertvollen Nachfolger seiner
Lehre immer mehr herausgearbeitet haben: daß die Typik der
frühinfantilen Triebbildungen ganz allgemein einer Dynamik
entspricht, die aus entwicklungspsychologisch frühen Stufen des
seelischen Werdens stammt, und für deren archaische Dispo-
sitionen und Mechanismus jene frühinfantilen Erlebnisse nur
die ersten wirklichen Prüfsteine sind. Wir fassen heute
jene frühkindliche Entwicklung der Libido nur noch als die
Bestätigung und das Signal für die Ansprechbarkeit und das
Vorhandenseinjenerarchaischen, primitiven Erlebensdispositionen
auf, gemäß denen sich dann die inviduellen Triebschicksale
gestalten. Wir sehen also in dieser neueren Formulierung der
Lehre, wie sie vor allem Schilder vertritt, daß die lediglich auf
das äußere Erleben gestellte Betrachtung der Triebentwicklung
mehr und mehr durch eine synthetische Erfassung der seelisch
disponierenden dynamischen Einstellungsformen und des
frühkindlichen Erlebens ersetzt worden ist. Auch hier also ist
man zur Betrachtung der seelischen Anlage in ihrer indivi-
duellen psychischen Ausprägung immer mehr fortgeschritten.
In dieser letzten Formulierung hält die — von früheren Dog-
matismen gereinigte — Freudsche Lehre unaufhaltsam ihren
Einzug in die Psychiatrie wie in die Sexualwissenschaft und in
dieser Form vermag sie unsere oben gewonnenen Ergebnisse
zur Erklärung der Gleichgeschlechtlichkeit, so spärlich sie waren,
um manche Einzelzüge zu bereichern.
Es zeigt sich bei dieser Gelegenheit, daß es um die wesens-
mäßigen Grundlagen der Gleichgeschlechlichkeit als ursprünglich
gegebene anzuerkennen, relativ belanglos ist, ob man sich diese
inneren Determinanten als allgemeinbiologisch oder als sexual-
spezifisch, ob man sie sich als körperlicher oder als rein see-
!ischer Artung vorstellt. Freilich sind spezifische sexualbiologische
Zell: Die Affen als Frauenrauber 267
Bestimmungsstücke als Dispositionen zu gleichgeschlechtlicher
Triebrichtung in keinem einzigen empirischen Falle mit Sicher-
heit auszuschließen. Wir kennen sie andererseits allerdings
fast niemals. Sodann aber sind charakterogene Notwendig-
keiten und Wesensgemäßheiten gerade so real, gerade so sehr
Notwendigkeiten, wie dies körperlich verankerte Dispositionen
sind. Es ist bedauerlich, daß in der naturwissenschaftlichen
Erklärung der Gleichgeschlechtlichkeit diese selbstverständliche
Einstellung niemals so recht zum Durchbruch gelangt. Das
liegt an der Befangenheit dieser ganzen Erklärungsweise in dem
vermeintlichen Primat des Körperlichen.
Sal
DIE AFFEN ALS FRAUENRÄUBER*).
Von Dr. TH. ZELL, Berlin.
р“ Glaube, daß die männlichen Affen auf unsere Frauen
lüstern seien, besteht wohl bei allen Völkern, in deren Gebiet
große Affen hausen. Ja, dieser Glaube muß schon seit Urzeiten
bestanden haben, denn die Sage von den nach Weibern lüsternen
Satyrn kann, wie wir sehen werden, nur auf diesem Wege ge-
deutet werden.
Ist an diesem Glauben etwas Wahres? Müßte diese Frage
bejaht werden, so wäre damit für das Bestehen der Überkreuz-
regel ein sehr wichtiger Beweis geliefert.
Über die Frage, ob Frauenraub durch Affen vorkommt,
habe ich bereits im Jahre 1914 in den Zeitungen das Wort
ergriffen. Im Deutschen Kurier (Nr. 164) erwähne ich den
Bericht des Feldmessers Nahr in „Kolonie und Heimat“, der
folgendermaßen lautet:
„Es war am 1. März 1911, als ich von meiner mehrtägigen
Dienstreise von Jaunde auf dem Lager des Landmessers Wilhelm
bei dem Orte Esumba-Mbeke, hart an der Grenze der beiden
*) Мі gütiger Genehmigung aus Dr. Th. Zell: Die Diktatur der Liebe,
Hamburg-Berlin, Verlag von Hoffmann & Campe. Dieses von uns bereits
besprochene kleine hübsche Geschenkwerk kann unseren Lesern nur
dringend empfohlen werden. Es zeichnet sich durch seinen angenehmen
und leicht verständlichen Stil aus und schneidet eine Reihe der inter-
essantesten Fragen an. Zu beziehen durch unsere Buchhandlung Richard
A. Giesecke, Dresden, Hettnerstr. 4. Die Schriftleitung.
268 Zell: Die Affen als Frauenräuber
großen Stämme Jaunde und Bakoko eintraf, um mich von den
ausgestandenen Anstrengungen zu erholen. Ich hatte es mir
kaum etwas bequem gemacht, als ich ganz in der Nähe des
Buschhauses ein fürchterliches Schreien und Jammern hörte.
Der schwarze Koch des Herrn Wilhelm kam ins Haus gestürzt
und rief mir mit allen Zeichen des Entsetzens zu: „Herr, der
große Buschmann ist da!“ Schnell packte ich meine gute Pürsch-
büchse und rannte in meinen nicht mehr ganz wasserdichten
Hausschuhen dem Unhold entgegen. Als ich aber nach wenigen
Minuten an dem Platze ankam, von dem das Geschrei ertönte,
bot sich mir ein furchtbarer Anblick. Ein mächtiger Gorilla
lag auf einem Schwarzen und richtete sein Opfer schrecklich
zu, während die Kameraden mit Buschmessern bewaffnet, in
kurzer Entfernung den Schauplatz umstanden, aber nicht wagten,
den Unglücklichen aus der Gewalt des Gorillas zu befreien.
Als ich mit meiner Büchse in einer Entfernung von etwa
40 Meter erschien, was der Bestie nicht entgangen war, erhob
sich diese kampfbereit. Doch das Tier hatte keine Zeit mehr zu
einem Angriff. Durch einen Herzschuß getroffen, wankte es
noch drei Schritte abseits, um dann zusammenzubrechen. Der
Kampf zwischen dem Schwarzen und dem Affen hatte sich
nach der: Erzählung der Eingeborenen etwa folgendermaßen
abgespielt: Das Tier spazierte gemütlich aus dem Busch heraus,
um eine der auf der Farm arbeitenden Frauen zu entführen.
Die begann natürlich fürchterlich zu schreien. Die Männer
wurden dadurch aus ihrem gewohnheitsmäßigen Schlaf auf-
gescheucht und eilten der Frau zu Hilfe. Der Affe ließ nun
von dem Weibe ab, rächte sich aber dafür an demjenigen, der
ihm zu nahe gekommen sein mußte. Dieser Mann, den ich
nachher nach dem Hospital der Kameruner Mittellandbahn an
der Kribi-Jaundestraße (wo ihn Herr Dr. Fußzek behandelte)
bringen ließ, hatte furchtbare Verletzungen. Beide Hände waren
total zu Brei gedrückt. Die Waden waren bis auf den Knochen
glatt durchgerissen, ebenso die Armmuskeln. Ein Beweis, welch
unheimliche Kraft ein solches Tier besitzt.“
Diesem Bericht kann man wohl, da er alle Einzelheiten
genau angibt, Glauben schenken. Man kann es umso eher, da
er ganz im Einklange mit ähnlichen Beobachtungen steht.
Sehr lehrreich ist folgender Fall, bei dem ein Mandrill der
Held der Ereignisse ist. Er gehört sicherlich zu den scheuß-
Zell: Die Affen als Frauenräuber 269
lichsten Affenarten, die wir kennen, da er eine zinnoberrote
Nase und blaugefurchte Wangen besitzt. Seine Kehrseite kann
man gar nicht schildern. Augenblicklich besitzen wir im „Zoo“
ein ausgewachsenes .Prachtexemplar und ebenso einen Vetter
von ihm, den schwarzköpfigen Drill, dessen Gesicht ein weißer
Bart umrahmt. Beide geben an Größe einem Orang-Utan nicht
viel nach. Im Pflanzengarten zu Paris hatte sich, wie Brehm
erzählt, ein solcher Mandrill in die Tochter eines Wärters ver-
liebt, und seine Eifersucht wurde einmal sehr geschickt benutzt,
um ihn, der aus seinem Käfige ausgebrochen war und viel
Unheil anrichtete, wieder in das Gefängnis zu bringen. Er
hatte alle gütlichen Versuche scheitern gemacht und bereits
einige von seinen Wärtern verwundet, als der schlaueste der-
selben auf den Gedanken kam, den Affen durch seine Leiden-
schaft in den Kerker zurückzulocken. An der Rückseite des
Käfigs befand sich eine kleine Tür; hinter diese mußte sich die
Tochter eines der Wärter stellen, und zwar so, daß sie der
Affe sehen konnte. Nun trat einer der Wärter zu dem Mädchen,
umarmte es und stellte sich dann an, als ob er es küssen
wollte. Das war zu viel für den verliebten Mandrill. Er stürzte
wie rasend auf den Mann los, gewiß in der besten Absicht, ihn
zu zerreißen, mußte aber, um zu seinem Zwecke zu gelangen,
notwendig in den Käfig hineingehen. Alle Klugheit war ver-
gessen, der eifersüchtige Affe ging ohne Besinnen durch die
offene Tür und sah sich eine Minute später hinter den eisernen
Gittern.
Selbst von den kleinen Affen, wie dem Wanderu (macacus
silenus) und dem grünen Affen wird ähnliches erzählt. Hartmann
berichtet von dem Babuin, einer Pavianart, folgendes: Die Ein-
geborenen bekümmern sich im ganzen wenig um ihn, obschon
sie gelegentlich ein Junges fangen und aufziehen. In einer
Hinsicht aber scheinen diese Paviane den Fungis doch lästig
zu werden, wenn diese nämlich Wasser holen wollen. Die
Paviane steigen von den Bergen, aus denen einige dünne
Wasserfäden abwärts rieseln, zur Ebene hinab und trinken hier
aus den kleinen Quellteichen und Regenwasserpfützen. Nun
versichern die Fungis allen Ernstes, daß ihre jungen Mädchen
beim Wasserholen nicht selten von alten Babuinen angegriffen
und mißhandelt werden. Deshalb gehen, sobald man noch
halbe Kinder auf die Wasserplätze sendet, stets einige mit
270 Zell: Die Affen als Frauenräuber
Lanzen und Schleudereisen bewaffnete junge Männer zu deren
Schutze mit.
Daß die großen Affen Frauen rauben, ist von den Ein-
geborenen stets erzählt, aber eigentlich nicht recht geglaubt
worden. In der zweiten Auflage von Brehm steht beispielsweise
folgender Bericht von Wimwood Reade: In einem Dorfe am
rechten Ufer des Fernandovaz wurde mir erzählt, daß die
Frauen, während sie zum Brunnen gingen, sehr häufig von
Gorillas gejagt werden, in der folgenden Auflage hat man diese
Stelle, jedenfalls weil man sie für unglaubwürdig hielt — ge-
strichen.
Hiergegen hat Dr. Reichenow in der „Täglichen Rund-
schau“ Nr. 137 das Wort ergriffen, unter der Überschrift: Der
Gorilla als Entführer.
Meine Erwiderung lautete „Tägliche Rundschau“ Nr. 163:
Es ist mit Dank zu begrüßen, daß ein Fachmann den riesigsten
Affen in seiner Heimat eingehend beobachtet hat. Trotzdem
kann ich seinen Ausführungen nicht beistimmen.
Mein Gewährsmann ist der leider so früh verstorbene
Major Dominik. Was bisher selbst im Altertum noch nicht
gelungen war, nämlich ausgewachsene männliche Gorillas ein-
zufangen, war ihm mit Hilfe von 1000 Eingeborenen geglückt.
Ich habe den Bericht über den gelungenen Fang seinerzeit in
der „Gartenlaube“ (1907 Nr. 41) auf Grund seiner mündlichen
Angaben veröffentlicht.
Major Dominik hatte die Freundlichkeit, meine Arbeiten
über den Gorilla durchzusehen und mit mir alle Einzelheiten
zu besprechen.
Aus seinen Gesprächen ging hervor, daß Major Dominik
jedenfalls nicht daran gedacht hat, den Frauenraub von Gorillas
als törichtes Märchen zu bezeichnen.
Es fehlt mir leider der Raum, meine Ansicht eingehend
zu begründen. Ich will zum besseren Verständnis für den
Leser folgendes Beispiel wählen. Wir wissen, daß in Deutsch-
land alljährlich ein Mensch einem wütenden Hirsch zum Opfer
fällt. Ein Gelehrter bezweifelt das, bereist Deutschland und
erklärt: „Diese Angabe ist ein Märchen, denn Hirsche leben in
der Nähe mancher Ortschaften. Die Leute besuchen ohne
Furcht den Wald, wo Hirsche leben.“
Das ist genau die Beweisführung von Dr. Reichenow. —
|
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Zell: Die Affen als Frauenräuber 271
Warum ist sie ganz verfehlt? Weil kein Tisrxenner auf den
Gedanken kommen kann, daß der Gorilla stets auf solchen
Raub ausgehe. In Betracht kommen doch nur oder fast nur
abgekämpfte Männchen, die also keine Äffin erhalten haben,
genau wie der Hirsch, namentlich der eingegatterte, nur zur
Brunstzeit, also im September und Oktober gefährlich wird.
Hat der Gorilla nur die Absicht, wie Herr Dr. R. meint,
sich Ruhe zu verschaffen, so braucht er dem Negerweib doch
nur mit seinen Riesenfäusten auf den Schädel zu hauen. Dann
könnte auch kein Neger auf den Gedanken kommen, er habe
sie rauben wollen.
Was Dr. Reichenow anführt, beweist demnach nicht das
geringste. Leider läßt sich eine Menge von dem, was zur Be-
stätigung meiner Ansicht dient, in einer Zeitung nicht gut ver-
öffentlichen.
Wen noch irgendwelche‘ Zweifel plagen, ob die männlichen
Affen eine Vorliebe für Menschenfrauen haben, den dürften die
Erlebnisse mit der Affenkolonie Windhausen bei Kassel eines
besseren belehren.
Franz Treller hat darüber in einem Artikel im „Daheim“
berichtet. Der Gründer dieser Kolonie, die wohl einzig in
Deutschland dagestanden hat, ist der hessische Staatsminister
Martin Ernst von Schlieffen.
Daß es sich hier um eine historisch beglaubigte Tatsache
handelt, geht daraus hervor, daß auch der neueste Brehm sie
anführt.
Im siebenjährigen Kriege hatte Schlieffen eine Äffin aus
dem Geschlechte der Makaken, die Buffon Aigrettes nannte,
ein Mittelding zwischen Pavian und Meerkatze, die in Mittel-
afrika zu Hause sind, erworben. Da das Tier ihm große An-
hänglichkeit zeigte, führte er es auf all seinen Feldzügen mit
und bereitete ihm später eine Heimstätte in Windhausen. Ја,
er wußte ihm einen männlichen Gefährten zu verschaffen, und
hatte bald die Freude, eine Affenfamilie um sich zu sehen, die
sich von Jahr zu Jahr vermehrte und bald Enkel und Urenkel
aufwies. Schlieffen ließ seine Affen vollständig im Freien, nur
daß verschiedene für sie angelegte Grotten und Höhlen ihnen
Schutz vor den Unbilden der Witterung gewährten.
Die ganze Affenkolonie bezeigte ihrem Herrn die größte
Anhänglichkeit. Fuhr oder ritt er nach Cassel, so begleiteten
272 Zell: Die Affen als Frauenräuber
sie ihn bis zum Rande des Parks und hockten solange ängstlich
ausspähend auf dessen Bäumen, bis er zurückkehrte. Erblickten
sie ihn endlich in der Ferne, war die leidenschaftliche Freude
der Tiere ganz unbeschreiblich und gab sich in geradezu
rührender Weise kund.
Als die Kolonie, sehr zum Verdrusse des Gärtners, der
Haushälterin, der Dienerschaft, immer zahlreicher wurde, stellten
sich nach und nach Unliebsamkeiten heraus, die auch den um-
wohnenden Bauern wenig angenehm waren.
Das erste gewaltige Aufsehen machte die Entführung eines
Säuglings. Eine Bauersfrau, die auf Windhausen arbeitete, hatte
ihr erst wenige Monate altes Kind mit sich geführt und in
einem Korbe neben sich liegen. Das kleine Menschenkind
erregte die lebhafte Teilnahme einer zärtlichen Äffin, sie nahm
es aus dem Korb und begab sich mit ihm auf das Dach der
nahen Scheune, es dort nach ihrer Weise liebkosend. Die
Angst und Verzweiflung der Mutter, die Aufregung der Knechte
und Mägde war groß. Jeden Augenblick konnte das launische
Tier sein Spielzeug der Gefahr aussetzen, hinabzustürzen; es zu
jagen, um ihm die Beute abzunehmen, würde das Verderben
des Kindes erst recht besiegelt haben. Der General war nicht
anwesend. Dem Verwalter, der noch am besten mit dem Affen
umzugehen verstand, gelang es endlich, nachdem er vorsichtig
das Dach der Scheune erstiegen, durch Schmeicheleien und
Darbietungen von Leckerbissen das Tier zu bewegen, seinen
Raub gutwillig fahren zu lassen, so daß der geängstigten Mutter
das Kind unverletzt zurückgegeben werden konnte.
Bald darauf erregte ein anderer Vorgang noch größeren
Unwillen. Die älteren männlichen Makakos zeigen mitunter eine
lebhafte Vorliebe für die jungen Bauernmädchen, gewöhnlich
aber gelang es diesen, den zudringlichen Galan mit einer Ohr-
feige abzufertigen. Eines Tages benahm sich ein alter Bursche
aber so frech, und endlich bissig gegen ein durch den Park
gehendes Mädchen, daß dieses um Hilfe schrie. Einige Burschen
eilten herzu, den Affen zu verjagen, dem aber kamen sofort
seine Stammesgenossen zu Hilfe, und es entspann sich eine
Schlacht, in der unter den Knütteln der wütenden Bauern Affen-
arme und -beine brachen und zwei der Vierhänder ihr Ende
fanden. Die Bauern, von denen einige gehörige Bißwunden
davongetragen hatten, waren so wütend, daß nur der tiefe
Respekt vor dem General sie abhielt, alle Affen niederzumachen.
Tafel II
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Aufstehen nach der Brautnacht — Kupfer v. Dambrun
Zum Aufsatz Reitzenstein
Tafel III
Gefährliches Vergnügen
Zum Aufsatz Reitzenstein
Zell: Die Affen als Frauenräuber 273
Einige Tage später ließen sich die Vierhänder in einen
Kampf mit einem Metzgerhunde ein, der einigen von ihnen arge
Bißwunden einbrachte. Gleich darauf verbreitete sich das
Gerücht, der Hund wäre toll gewesen, was bei der nahliegenden
Gefahr der Ansteckung und den agressiven Neigungen der Tiere
die größte Besorgnis erregte. Von Kassel aus erging darauf
der bestimmte Befehl an Schlieffen, die Affen, um Gefahr für
Menschen zu verhüten, sofort zu beseitigen.
Mit schwerem Herzen gehorchte der General und ließ seine
Lieblinge erschießen. Die erste Affenkolonie im deutschen Wald
fand so ein rasches und blutiges Ende.
Dies ging dem alten Herrn so nahe, daß er tagelang sein
Zimmer nicht verließ. Er ließ die Überreste seiner langjährigen
Freunde gemeinsam bestatten und errichtete über ihrem Grabe
ein Denkmal in Form einer 3'/, Meter hohen Sandsteinsäule
von mehr als einem Meter Durchmesser, die noch heute, nach
mehr als hundert Jahren die lesbare Inschrift trägt:
Hier wiederkehrten zum großen Urstoffhaufen irdischer
Wesen die letzten Bestandteile eines Geschlechtes. Afrikaner,
lange einheimisch auf diesen Fluren nach vielen Geburten.
Nicht Sklaverei, das Schicksal seiner Landsleute, der Schwarzen,
völlige Freiheit war dessen Los und ihre Folge Liebe für den
Wohltäter, der leider endlich, da Wutbisse es vergifteten, als
alles für einen stritt, eigne Wonne gemeinsamer Wohlfahrt
nachsetzen mußte. Verhängter Tod traf Väter und Söhne, Groß-
väter und Enkel, Mütter und Säuglinge. — Ganz zählte man’s
nicht zur Gattung der Nächsten. Ihm hatte Prometheus zwo
Hände mehr, uns bessere Sprachfertigkeit gegönnt. Aber an
Verschmitztheit, an Mischung von Güte und Tücken, an Lust
gegen Verbot, schien es in Affenhaus Menschenart, und der
Angeborenheit so auffallende Macht riet dem zehnfingrigen
Beobachter Nachsicht für seinesgleichen.“
Das war der mehr als wunderliche Nachruf des Generals
an seine Gesellschafter und Lieblinge, die mit seltener Zuneigung
an ihm hingen und ihm manche Stunde seines Lebens ver-
kürzten, wenn er, müde des Treibens draußen, die Einsamkeit
Windhausens aufsuchte.
Die Tatsache aber, daß im deutschen Walde afrikanische
Affen einst gediehen, die heute nur noch wenig bekannt ist,
mag dem Naturforscher zu denken geben.
18
274 Zell: Die Affen als Frauenräuber
Vorstehender Bericht stand, wie erwähnt wurde, im „Daheim“.
Ein christlich konservatives Familienblatt hebt also aus-
drücklich hervor, daß die männlichen Affen die deutschen
Bauernmädchen belästigen. An der Wahrheit dieser Angabe
dürfte demnach nicht der geringste Zweifel gehegt werden.
Hierbei handelt es sich noch um eine kleine Affenart und gar
nicht um menschenähnliche Affen.
Nachdem also bei freilebenden Affenmännchen in Deutsch-
land dieses Benehmen gegen Menschenfrauen unzweifelhaft
festgestellt ist, scheint es ganz natürlich zu sein, daß überall, wo
Affen hausen, die Eingeborenen diese Vorliebe ihnen nachsagen.
Es handelt sich eben nicht um eine Phantasie, sondern um eine
-Tatsache. Daher ist der Mythus von den Satyrn, den behaarten,
nach Weibern und Wein lüsternen Waldmenschen mit Bocks-
beinen, uralt, weil er sich auf Tatsachen gründet. Ich brauche
wohl nicht erst zu betonen, daß, wenn ich eine Überkreuzregel
bei Affen und demnach eine Vorliebe der Affenmännchen für
Menschenfrauen unbedingt zugebe, noch lange nicht behaupte,
daß die Affen Frauen rauben, entführen und sie begatten. Bei
günstiger Gelegenheit mögen sie einen Begattungsversuch
machen und ihr Opfer deshalb nach einer passenden Stelle
bringen. Dagegen ist es als widerliche Reklame zu bezeichnen,
wenn haarlose Schimpansen, die infolge der bekannten Neger-
krankheit ihr Haar verloren haben, als Früchte dieser Vereinigung
zwischen Affen und Mensch ausgestellt werden, wie es zu
Friedenszeiten in Berlin geschehen ist.
Um auf die Denkmalinschrift des Generals zurückzukommen,
so fällt die Stelle auf: „der Angeborenheit so auffallende Macht“.
Falls kein Druckfehler vorliegt, möchte ich den Ausdruck des
Generals bei seiner Vorliebe für die deutsche Sprache als eine
Übersetzung des Wortes „Instinkt“ auffassen. Er meint also
des Instinktes so auffallende Macht riet dem menschlichen
Beobachter zur Vorsicht. Das würde ganz mit dem überein-
stimmen, was allen Tierbeobachtern auffällt, namentlich wenn
es sich um freilebende Tiere handelt. Der General war sicher-
lich höchst erstaunt, daß die afrikanischen Affen sich in der
ganz fremden Welt so schnell zurechtfanden. Indem sie in
Deutschland die ihnen zusagende Nahrung wählten und un-
zweckmäßige, z.B. giftige liegen ließen, erwiesen sie sich den
Menschen überlegen. In jedem Jahre sterben Menschen an
Zell: Die Affen als Frauenräuber 275
giftigen Pilzen und Kinder an giftigen Beeren. Mit Recht schob
Schlieffen diese Überlegenheit auf ihren Instinkt, den er An-
geborenheit nennt.
Von einer Seite wird die Sache mit dem Erschießen der
Affen so hingestellt, daß die Geschichte von dem tollen Hunde,
der einige Affen gebissen haben sollte, absichtlich erfunden
gewesen wäre, um endlich einen durchschlagenden Anlaß zu
haben, die Plagegeister zu beseitigen. Jedenfalls hat Brehm
ganz recht, wenn er die Affen als die größten Feinde der
Landwirte schildert. Sie würden auch wohl mit Händen und
Füßen dagegen protestieren, daß nochmals ein solcher Versuch
mit der Aussetzung von Affen stattfände.
Für unsere Zwecke war dieser Versuch im höchsten Grade
lehrreich, und wir können dem merkwürdigen Manne nur dank-
bar sein, daß er Gründer einer deutschen Affenkolonie wurde.
—
216 Goldmann: Unzüchtige Aktaufnahmen
UNZÜCHTIGE AKTAUFNAHMEN.
Von Staatsanwalt Dr. GOLDMANN, Leipzig.
ktbilder sind Nacktbilder. Gegenstand dieses Aufsatzes
sollen nur Photographien und deren Wiedergabe sein.
Wann sind diese unzüchtig?
Zunächst fällt auf, daß die Gerichte sich beinahe nie mit
Abbildungen nackter männlicher Körper zu befassen haben.
‚Schönheitshefte‘, Sammlungen, einzelne Bilder usw. geben zu
99 ?/,°/, weibliche Gestalten wieder. Ist die Folgerung
richtig: das nackte Weib ist unzüchtiger als der Mann? Oh
nein! höre ich sagen, beim Weibe genügt eine Wendung,
eine gewagte Stellung, Beleuchtung, ja oft allein der Gesichts-
ausdruck, um dem Körper etwas Verlockendes, An- und Auf-
reizendes zu geben und damit etwas Unsittliches. So sagt
der Laie und er trifft damit schon beinah den Kernpunkt der
ganzen Frage.
Nicht der Körper ist es, der unsittlich ist. Naturalia non
sunt turpia. „Das unsittliche Moment wird vom Beschauer
in den Gegenstand hineingetragen“ hat einmal das Reichs-
gericht gesagt. Es kommt auf die Augen, das Urteil, das
Empfinden des Durchschnittsmenschen an. Natürlich gibt es
immer Leute, welche der Anblick der Venus von Milo sexuell
erregt, die bei jeder Nacktheit — in Kunst oder im Leben —
in Unruhe geraten, empört sind oder sich empört stellen.
Diese müssen aber bei unserer Betrachtung ausscheiden. Es
kommt nach der Rechtsprechung auch nicht auf die Gefühls-
empfindung oder -Verletzung Nichterwachsener an, sondern
auf ‚das Publikum‘, auf den Beschauer im allgemeinen. Der
Standpunkt eines in der Pubertät befindlichen 14 jährigen ist
nicht maßgebend, noch etwa der eines Sittlichkeitsvereins
in Köln.
Uns Bewohnern von Mitteleuropa fehlt de Gewöhnung
an den Anblick des nackten Menschen. Dieser galt weder
im klassischen Altertum, noch gilt er jetzt z.B. in Japan als
unsittlich. Die bei uns allgemeine Sinnesrichtung ist durch
den Zwang zur Kleidung aus klimatischen Gründen bestimmt.
Die Frage, ob das Schamgefühl mit der Kleidung oder die
Kleidung infolge des Schamgefühls gekommen ist, kann bei
Seite bleiben. Hier interessiert nur: wann ist eine Nacktab-
bildung unsittlich?
Goldmann: Unzüchtige Aktaufnahmen 277
Und mit obigem Laien weiter zu sprechen: dann, wenn
die Aufmerksamkeit des Beschauers in auffallender Weise ab-
sichtlich oder unabsichtlich auf Teile des Körpers abgelenkt
wird, die den Geschlechtsfunktionen dienen.
Es dürfte bekannt sein, daß männliche sizilianische Modelle
sich zur öffentlichen Vorführung als ungeeignet erwiesen
haben, weil bei ihnen der Geschlechtsteil zuweilen übermäßig
entwickelt war. Dabei lag gar nicht die Absicht vor, diese
Zone besonders deutlich vorzuführen. Es geht eben nicht,
bei einem Manne in erster Linie den Penis auf dem Bilde zu
verewigen.
Wie ist es nun bei der Frau? Sagte da neulich jemand:
„Beim nackten Weibe wirkt alles aufreizend; Busen, Hüften,
Beine“ Diesen guten Mann dürfen wir nicht weiter zu Worte
kommen lassen. Er gehört in die Kategorie des oben er-
wähnten Pubertätsknaben, der auch recht reifen Alters sein kann.
Das Kapitel ‚Verhüllungen‘ vorweggenommen. Manche
Darsteller verteidigen sich damit, daß sie sagen: Der Körper
ist doch gar nicht nackt! Und sie verweisen auf Trikots, auf
Schleier, auf andere Verhüllungen. Glaubt diesen falschen
Propheten nicht! Sie erinnern zu sehr an den Wolf im Schafs-
kleide. Jeder sieht, daß gerade diese raffinierten Verhüllungen
die Aufmerksamkeit auf gewisse Teile lenken sollen und lenken.
Dadurch wird die halbe Nacktheit erst durchsichtig und brutal.
Ein ‚mondainer‘ Leipziger Maler tobt sich mit Vorliebe in
diesem Genre aus. Er zeichnet z.B. ein junges Mädchen, das
— lediglich — mit einem Pelz bekleidet daliegt. Pech nur,
daß dieser Pelz so knapp ist, daß er Brust und Schoß frei-
läßt. Ohne Pelz wäre das Bild weder auffallend, noch irgend-
wie Anstoß erregend. Die Bekleidung hat es dazu gemacht.
Ende der 90er Jahre konnte man in Berlin in Zeitschriften
und bei StraBenhändlern Abbildungen der Fürstin Ch., der
Rita D. und der Susanne D. im Trikot mit Drapierungen in
verschiedenen Stellungen bewundern. Die Bilder wurden be-
schlagnahmt und blieben es. Das Reichsgericht hat in seinem
Urteile vom 10. Dezember 1897 hierzu u. a. ausgeführt:
‚Der Vergleich mit der Vorführung von klassischen Skulpturen
durch lebende Bilder (auf Bühnen und Varietes unbeanstandet ge-
blieben) schlägt nicht durch. Dort geschieht die Darstellung in
künstlerischer Weise. Der Zuschauer hat die Reproduktion des
betr. Kunstwerkes vor Augen. Die gemeine Sinnlichkeit tritt zu-
278 Goldmann: Unzüchtige Aktaufnahmen
rück gegenüber dem reinen und edien Gefühl. Daher ist dort
Verhüllung nur in beschränktem Maße erforderlich, Dieselbe
Verhüllung kann aber im Licht und Leben der öffentlichen Straße
unzüchtig sein und so wirken. Entscheidend ist aber auch, daß
im vorliegenden Falle Körper von Frauen, die durch ihre Liebes-
abenteuer in schlechten Ruf geraten sind, von allen Seiten her
sichtbar gemacht worden sind.‘
Dieses Urteil ist jetzt 25 Jahre alt. Aber noch heute kann
man es unterschreiben. Wenn es schon aus einem Grunde
sein muß, dann lieber ganz nackt, als teilweise verhüllt! Es
ist tatsächlich die Darstellung ganz nackter Körper in beliebigen
Stellungen in der Regel weniger auffällig, als eine solche, wo
mit gewisser — hinterher schwer abzuleugnender — Absicht-
lichkeit Hilfsmittel zur Verdeckung bestimmter Teile herbei-
gezogen sind.
Manche meinen, Staatsanwaltschaft und Gericht für sich
gewinnen zu müssen, indem sie mit Retouche arbeiten. Da
werden auf den Platten oder den Abzügen die Schamhaare
mit dem Retouchierstift exstirpiert oder ähnliche Operationen
vorgenommen. Ist ja gar nicht nötig, liebe Leute! Ein Bild
wird dadurch nicht sittlicher, wenn es einmal unzüchtig ist.
Und ist es mit dem natürlichen Haarkleide nicht zu beanstanden,
so war die Operation gar nicht nötig. Man könnte höchstens
den guten Willen anerkennen, nicht unzüchtig wirken zu
wollen. Auf deutsch: ‚subjektiver Tatbestand‘. Nur daß bei
einem Aktbilde weniger der Wille als die Wirkung ent-
scheidend ist. Auch ist zu bedenken: lenkt nicht ein heller
Fleck gerade die Augen auf sich, wo der’ normale Mensch
bei sich und anderen einen dunklen zu wissen gewohnt ist?
Die Sache hat also ihren Haken. Entscheidungen hierüber
lagen mir nicht vor.
Ich sagte oben: „wenn — schon“. Ist es denn überhaupt
nützlich, wünschenswert, nötig, den nackten Menschen ab-
zubilden?
Alte Tanten, der größte Teil der Geistlichkeit, Sittlichkeits-
vereine und so sagen, nein schreien: nein, es ist nicht nötig!
Hören wir mal ein paar andere Leute.
Geh. Medizinalrat Prof. Dr. Fritsch sagt:
„Für den Maler ist ein eingehendes Stadium der Natur
unerläßlich. Gewiß wird die Photographie durch ihr eigen-
sinniges Festhalten an der idealen Wahrheit viel zum Fort-
Goldmann: Unzüchtige Aktaufnahmen 279
schritt beitragen können. Es ist ja nicht nötig, die Unsumme
von Häßlichkeit, die von der Kleidung verborgen wird, gerade
zur Darstellung zu bringen. Es ist aber auch ganz gut, wenn
falsche Anschauungen über den Körper des Weibes beseitigt
werden, der Glaube zerstört wird, das Weib sei so gebaut,
wie es z. B. im ‚Floh‘ oder im ‚Pschütt‘ zur Abbildung zu
kommen pflegt.“
Das wäre also ein negativer, ästhetischer Anschauungsunter-
richt, den Fritsch vorschlägt. Auch eine Lesart. Manchen
heilt schon das Familienbad in dieser Richtung.
Lassen wir den Regierungsrat L. Schranck sprechen:
„Die vollkommenen Modelle sind selten. In der Gotik
war der nackte Leib ‚des Teufels Anteil‘, Eine Bresche wurde
erst geschlagen durch die Renaissance. Es gab wieder nackte
Bilder, aber die Nacktheiten waren horrend häßlich. Die
Nacktphotographie, da sie die Unschönheiten der Natur über-
nimmt, dient dem Maler selten mehr, als um Studien herzustellen,
und es ist nur die höchste künstlerische Kraft imstande, uns
über jene animalischen Instinkte hinwegzutragen, die der An-
blick eines reizenden, nackten Weibes bewirkt. Erst durch
Vermittelung der Heliogravüre und die Retouchemöglichkeit
ist die Darstellung des Nackten in der Photographie auf die
höhere Stufe gehoben.“
Professor Dr. Bruno Meyer sagt:
„Nacktphotographien haben Bedeutung für die Studien
bildender Künstler. Für diese sind sie nützlich und sie sind
unanfechtbar, wenn sie nicht handgreiflich gegen den $ 184
StGB. verstoßen. Das einzige Bedenken ist: hier erscheint
ein Individuum, eine bekannte Person, nicht bloß die Gestalt
eines schönen Weibes an sich. Die photographische Dar-
stellung des Nackten hat daher in den Augen des Publikums
weit eher etwas anstößiges, als in der Malerei oder gar Bild-
hauerei. Wer aber einen zu billigenden Zweck bei photo-
graphischen Aufnahmen des Nackten verfolgt und dabei nichts
tut, was wider die guten Sitten läuft, kann dies ohne Schaden
für sein oder anderer Seelenheil tun.“
Zuletzt lassen wir zu Worte kommen Eduard Daelen,
den Kunstmaler:
„Jetzt endlich gilt: Photographie ist eine Kunst! Die
Nacktheit ist das heiligste Mysterium, dunkel und lichtvoll zu-
280 Goldmann: Unzüchtige Aktaufnahmen
gleich. Die bildende Kunst ist bestimmt, Bringerin einer neuen
Offenbarung zu sein. Auf diesem Wege kann auch besonders
die Photographie viel leisten. Wegen ihrer leichten Verbreitung
hat sie großen erzieherischen Einfluß. Wenn sie deshalb
leider auch mit Vorliebe von gemeiner Zuchtlosigkeit miß-
bräuchlich verwendet wird, so hat ihre künstlerische Form
dem entgegenzuarbeiten. Immerhin muß sie vorsichtig sein,
da sie direkt nach der Natur arbeitet. Schon seit 1000 Jahren
haben Poeten die göttliche Schönheit des menschlichen Körpers
besungen. Es könnte sie ja also eigentlich die Photographie
am glaubhaftesten vor Augen führen. Aber nur dann, wenn
sie sich wie die Malerei oder Plastik zu den höchsten Kunst-
leistungen emporgeschwungen hat. Nicht jeder kann aus
Lehm eine Venus von Milo bilden!“
Und ich möchte diese Betrachtung schließen: nicht jeder
Amateur soll sich vermessen, mit seiner 10-Mark-Kamera
Aktbilder eines x-beliebigen Mädels aufzunehmen und als
‚Kunst‘ vorzuführen. ‚Unzüchtige‘ Bilder kann ich diesem
Aufsatz nicht beigeben, obwohl ich Staatsanwalt bin und
Muster in jeder Gangart vorlegen könnte. Jeder kann, wenn
er gesunde, klare Augen im Kopfe hat, selbst urteilen und
ausscheiden. Aber wer unanfechtbare Aufnahmen sehen und
sich an ihnen erfreuen will, der betrachte die Arbeiten eines
Magnus Weidemann, eines v. Jan, der Lotte Herrlich, der
Hanni Schwarz, von Smith, Otto Schmidt, Lemoine u. a.
Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 281
BETRACHTUNGEN ÜBER DAS LIEBESLEBEN IN
DER ZEIT DES RENAISSANCE UND DER PERIODE
DER GALANTEN.
Von FERD. FRHR. VON REITZENSTEIN, Dresden.
(Schluß,)
b) In der Zeit der Galanten.
Das 17. Jahrhundert bietet uns sehr wenig Neues. Die
alten Gebräuche schwinden noch mehr dahin, und der manch-
mal selbst im Verbrechen gewaltige Geist der Renaissance
verflacht so sehr, daß er wenig Erfreuliches zeitigt. Es fehlt
den Menschen jede Kraft, alles ist „galant“. Dabei hatte die
ganze Zeit weder Bedürfnis noch Lust, etwas Ernsthaftes zu
arbeiten, man trachtete nur nach dem Vergnügen, und
das war eigentlich nur dann ein solches, wenn es irgendwie
mt Liebe, dh hier geschlechtlichem Verkehr, in Verbindung
stand. So konnte diese Zeit unmöglich etwas leisten, so konnte
unmöglich eine brauchbare Ordnung im Geschlechtsleben ent-
stehen, denn der geschlechtliche Verkehr stand nicht am
Ende eines Liebesverhältnisses als dessen höchste Gnade und
vollste Belohnung nach langer Überlegung, sondern am
Anfang, und das Liebesverhältnis führt dann nicht auf-
wärts, sondern abwärts zur raschen Ernüchterung. Leichtsinn
und Gedankenlosigkeit, wenn auch gepaart mit einem gewissen
Grade Witz, höchstens aber leerem „Esprit“, waren das Kenn-
zeichen dieser Zeit der Eleganz und Oberflächlichkeit. „Apres
nous le déluge“ (Nach uns die Sintflut, d. h.: nach uns ge-
schehe, was will) ist am besten geeignet, dieser Periode als
Überschrift zu dienen, wenn ihr auch diese Worte vielleicht
nicht entstammen. Die Aufklärungsperiode, die mit dieser
Zeit zusammenfällt, hat dem Fortschritt der Menschheit mehr
geschadet als genützt, da sie ihren Gegnern zu große Angriffs-
flächen bot und es ihnen erleichterte, ihre Siege über die
„Aufklärer“ zu Siegen über die exakte Forschung aufzubauschen.
Wir leiden noch heute darunter.
Wie man sich mit allen Liebesfragen abgab und in
welcher Weise, das zeigt z. B. folgende Definition :
„Kuß oder Mäulgen, auch Schmätzgen und Heitzgen genannt, ist eine
aus Liebe herrührende und entbrannte Zusammenstossung und Vereinigung
derer Lippen, wo der Mund von zwey Personen so fest aneinander ge-
drückt wird, daß die Lippen bey dem Abzug einen rechten und deutlichen
Nachklang zum Zeichen des Wohlgeschmacks von sich geben“.
282 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben
So wenig wählerisch man in Liebesdingen war, so wähle-
risch war man in der Ehefrage, aber nicht etwa von einem
naturgemäßen vernünftigen Standpunkte, sondern lediglich von
dem der Standes- und Geldinteressen aus. Darin liegt
auch der Grund der Diskreditierung der damaligen Ehe. Recht
originell drückt Abraham a S. Clara diese Mißwirtschaft aus:
„Bey dieser galanten und eigennützigen Welt’, müssen die Weiber
Geld haben, denn man schaut nicht auf das Gesicht, sondern auf das
Gewicht. Will die Jungfrau Sabina haben einen wackeren Kerl, muß sie
haben Geld, Kleinod, und Perl. Will die Jungfrau Sandel haben einen
tapferen Offizier, muß sie haben Ducaten und Silbergeschirr. Will die
Jungfrau Leonorl, daß sie Ihro Gnaden sey, so thun die Batzen das beste
dabey: das Geld richt alles aus in der Welt, sonst gilt die Jungfrau Clärl
nicht ein Härl, die Catharinl nicht ein Quädrinl, die Baberl nicht ein
Hallerl, wenn sie nicht ein Thaler im Kasten hat. Adel und Tugend gilt
nichts, und kommt die nächste Beste zur Heyrath, wenn sie nur Geld
hat. Goldgelbe Haar und bleyerne Beutl kommen nicht an, aber bleyerne
Haar und ein goldener Beutel erhalten das Lob und sieget allen Orten ob“.
So war die Ehe zu einer Stätte echter Prostitution
geworden und dies um so viel mehr, als man sie nicht
oder doch nur schwer scheiden konnte. Der außer-
eheliche Geschlechtsverkehr war daher der gesunde
Rückschlag dieses Irrweges, auf dem wir noch heute wandeln.
„Schau, mein Liserl,“ fährt Abraham fort, „sagt die Mutter zu
ihrer Tochter, du mußt diesen nehmen; der Kerl hat gute Mittl,
hat wacker Batzen — unterdessen ist er wie ein Buch mit
einem goldenen Schnitt, aber inwendig voller Esels-Ohren“;
oder aber spricht die Mutter zu dem Sohn:
„Mein Hänßl, du mußt diese nehmen: das Mädl ist zwar ein wenig
bucklet, doch hat sie ein guten Rantzen mit Geld in Kasten; unsern
Nachbahrn sein Bärbel hinkt ein wenig, gleichwolen gehört das Hauß
ihr zu. Die Mariändi hat nur ein Aug, hingegen bedecken das andern
die Duggaten“.
Und umgekehrt sprach man von einem riesigen Glück,
wenn — wie es normal sein sollte — ein schönes und ge-
eignetes Mädchen trotz seiner Armut eine „gute Partie“ macht.
1710 erschien in Würzburg Abraham a. 5. Claras „Wohl an-
gefüllter Wein-Keller“. Dort heißt es:
„Du kennst ja des Meisters Jacobs, des Schusters oder Schuhmachers
sein Cätherl? Gedenck, sie wird heurathen; die Krot hat ein Glück:
sie ist wohl recht Catharina mit dem Rad: der gnädige Herr von Leders-
Berg thut sie nehmen, das ist ein Glück! Diese Schusters Tochter thut
dasmal wohl nicht einschustern, der Herr muß ein gut Sporn haben, daß
Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 283
er ein so gemeinen Stieffel-Balg nimmt; wie muß er sich doch vergafft
haben in dem so gar nichts corduanisch an ihr; sie mag wohl preißisch
(d.i, sämisch) Leder kennen, aber viel preißwürdiges ist nichts an ihr,
sie ist wohl über keinen guten Laist geschlagen, du kennest sie nur zu
gut: die Bestie wird hoffärtig werden und fast oben schwimmen wie das
Pantoffel Holtz (= Kork); sie mag aber ein Dutzent Balsam-Büchslein
bei ihr tragen, so wird sie gleich wohl nach Pech schmecken; das Glück
ist schier zu groß für sie, sonst hätt sie wahrhaftig einen hinkenden
Kneipen-Trucker haben müssen. jetzt wird mans müssen ihr Gnaden
schalten, die vorhero fast allen hat müssen zu Gnaden seyn“.
Unsere .Zeit ist noch nicht so gebildet, um nicht ebenso
zu urteilen.
Selbstverständlich spielt auch jetzt der Werber noch eine
große Rolle; man hielt gewöhnlich nicht selbst an, obwohl
dies vorkam! Dabei wird der Mahlschatz gegeben, der in
einem Ring oder Schmucksachen bestand. Es werden bereits
Ringe gewechselt, und zwar soll es in „Beyseyn einiger darzu
erbethener Gezeugen“ geschehen. Bei dieser „Verlobung“
wird auch gleich die Mit-Gifft oder Ehesteuer, auch
Heyraths-Gut genannt, festgelegt; während der Werber für
seine Bemühungen den „Koppel-Pelz“ erhält. Bald darauf
wird dann auch der „Hochzeits-Zeddel“ mit den Namen
derer, die man laden muß oder laden will, weil sie gute Ge-
schenke geben, festgesetzt und dem „Hochzeits-Bitter“
übergeben. Dieser ist bereits schwarz gekleidet und trägt
manchmal eine große Rosette auf dem Hut oder ein weißes
Schnupftuch mit einem Kranz und bunten Bändern in der Hand.
Der Braut müssen die „Züchterinnen“ oder „Zucht-
jungfern“ beistehen, die „bey der Tafel sehr erbar zu thun
pflegen“ — mit anderen Worten: offizielle Vertreterinnen der
gesellschaftlichen Heuchelei. Am französischen Hof und viel-
leicht auch anderweitig — denn er diente ja in allem als hohles
Vorbild — wurde die Braut von den nächsten weiblichen An-
verwandten des Bräutigams einer genauen körperlichen
Visitation unterworfen, während sie selbst durch das „Braut-
Bad“ vorbereitet ward. Sehr beliebt war der Polterabend,
auch Rammelabend genannt, der erst in unserer Zeit leider
abkommt.
Ist alles soweit vorbereitet, so erfolgt die Trauung. In
der Brautkutsche fuhr man zur Kirche, um zunächst die Braut-
messe zu hören. Die Kirche verkaufte diese je nach Bezahlung
kürzer oder lang, denn man unterschied ganze oder halbe
284 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben
Messen in verschiedenen Preislagen. War die Braut defloriert,
so konnte es sein, daß sie bei dieser Fahrt mit fein-
geschnittenem Stroh sehr „nächstenliebend“ beworfen
wurde; ein Gebrauch, der christliche Einführung ist. Außerdem
wurden, wie Abraham a S. Clara erwähnt, messingene
Flitter gestreut, aus denen „eine fruchtbare Ehe prognosticiret“
wird, wenn sie die vorbeilaufenden Kinder aufklauben.*) An
Galante Hochzeitsanzeige (deutscher Herkunft).
die Messe selbst schloß sich die Trauung, „die zwischen
Braut und Bräutigam von dem Priester der Kirchen vor dem
Altar durch Verwechselung der Trau-Ringe öffentlich verrichtete
Einsegnung und Copulation in Beyseyn derer hierzu ab-
sonderlich erbetener Weiber und Männer.“ Diese hat also
einen wesentlichen Fortschritt gemacht; nicht nur, daß sie jetzt
das eigentlich eheschließende Element darstellt, wird sie bereits
vor dem Altar vollzogen (nicht mehr in der Vorhalle) und
*) Vgl. Reitzenstein: „Liebe und Ehe im Altertum“, S. 21, 24, 31 ff.
Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 285
nach außen durch Ringwechsel gekennzeichnet. Wie in
früheren Jahrhunderten, eilte man nach der Trauung zum
Hochzeitsmahl. Dieses wurde entweder in eigens dazu
bestimmten Häusern oder in einem Privathause gehalten, in
dem dann häufig eine eigene „Hochzeit-Küche“ aufge-
schlagen war. Bei dieser Gelegenheit werden auch gewöhnlich
die Hochzeitsgeschenke überreicht, die die Gäste mit-
zubringen haben. Sehr wichtig ist es aber geworden, daß man
recht abgeschmackte Worte findet, um allen Beteiligten. Glück
zu wünschen; ganze Werke sind darüber geschrieben worden.
Nach der Tafel tanzt die Braut den „Brautreyhen“ mit dem
„Brautdiener“, d. h. einem Junggesellen, den sie selbst ge-
wählt hat, damit er sie bei der Tafel bedient. Der Luxus
war noch immer gewaltig groß, und eine ganze Menge von
Verboten regnete nieder, die leider zumeist aber die alten
Sitten mittrafen, die dieser vornehmen, prüden und heuchlerischen
Zeit wegen ihrer Offenheit unfein oder gar gemein vorkamen.
So bestimmte die Sachsen-Altenburgische Policey-Ordnung, die
ihrer Zeit als „höchstlöblich“ erschien, weil sie fein säuberlich
zu klassifizieren verstand, folgendes:
„Fürstlichen Räthen und denen vom Adel (auch hochgraduierten Per-
sonen sollen zum meisten acht | vornehmen andern Dienern, Bürgermeistern
Raths-Personen | wie auch Pfarrern sechs | vermögenden Handelsleuten und
gemeinen Bürgern | oder Bauern | vier Essen zu speisen in allem erlaubet
seyn, oder es soll ein ieder von einem jeglichen übrigen Essen ein
Reichsthaler Strafe geben, iedoch daß ein bloßer Salat, wie auch Capern,
und dergleichen nicht vor absonderliche Essen gehalten werden... Nach-
dem man auch bis hero wahrgenommen, daß die Schüssel mit mehrern,
als die Nothurft erfordert, angefüllet /und wohl öfters drey, vier, fünf
Hasen / аисһ 12—15 Кебһіһпег, und dergleichen auf einmal als lauterer
Verschwendung, bey Bauern aber und anderen gemeinen Leuten vier oder
fünferley unterschiedenen Speisen / zusammengelegt werden, so soll eine /
so wohl als das andere, bey Vermeidung obgemeldeter Strafe hieführo
gänzlich abgestellet seyn ... . gantz keine fremde, süsse, als Spanische
und dergleichen Weine sollen bey diesen Ausrichtungen gespeiset werden,
sonst mag ein ieder, seinem Vermögen nach, deren Franken- und Land-
Weine sich gebrauchen, gemeine Bürger und Bauern aber sollen am Bier
Genügen haben, ausser da einem andern der Wein erwachset“.
Den Hochzeitsbittern wird in Sachsen-Weimar verboten,
mit Gewehren zu schießen, in Berlin, daß sie jemand
anders laden, als auf dem Zettel steht, und daß sie besondere
Mahlzeiten verlangen usf. Solcher Verordnungen ließen sich
in dieser Blütezeit polizeilicher Verordnungen viele Tausende
286 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebeslenen
anführen; jede Übertretung machte den Menschen zu einem
Vorbestraften. Woher nur die Polizei die Zeit nahm, fragt
man sich immer wieder, wenn man z. B. jenichens „Besondere °
Anmerkungen von denen .... Verlöbniß-Mahlzeiten etc. etc.
Jena 1745“ liest, wo alle diese Vorschriften gesammelt sind.
Wie sehr die Geistlichkeit dahintersteckte, geht aus den Tanz-
verboten am deutlichsten hervor. Jenichen nennt das Tanzen
ein „sündliches Vergnügen, das in christlichen Staaten billig
ein fremder, unerhörter und ungewöhnlicher Name seyn sollte“.
Betrieben aber wird es von
„fleischlich gesinnten Welt-Menschen, welche noch zu keiner leben-
digen Erkenntnis Gottes und seines Wortes gelanget sind, welche eine
harte Stirne haben, und welche weder durch Krieg, Pest, Hunger noch
andere verderbliche Land- und Stadt-Plagen, zur Erkenntnis ihrer Sünden
gelangt sind“.
Andere Verordnungen sind recht originell und tragen un-
verkennbar die grüne Tischplatte abgedrückt. So sollten die
Bauern in Chur-Sachsen bei Hochzeiten nicht auf Waldhörnern,
sondern auf Parforce- und Jagdhörnern blasen. Die Strafe
betrug nicht weniger als — 100 rheinische Goldgulden! Also
ein großes Kapital für jene Zeit. Dann aber werden verboten:
alle übrigen Mahlzeiten, Gastereien, Zusammenkünfte vor und
nach der Hochzeit, so Biddelkost oder Vullbecksabend, der
Brautleuchter, der Brautwocken, das Bittessen, der Schlachttag,
der Bad- und Braut- wie auch Walcherabend, die Brautwachten
und Nachtage, Nach- und Gesellentage, Mahlzeiten vor dem
Kirchgange, geile Brote, geile Biere, Brautsuppen, Brauthahnen,
alles Verschicken an Essen und Trinken, das an einigen Orten
von den Hochzeitsgästen eingeführte Holen des Schlaftrunks,
alle Gastereien, die unter dem Schein des Hochzeitsbittens,
des Reisverlesens, Kränzebindens, Wein- oder Bierschmeckens,
Schiff- und Ausfahrten angestellt werden, die Ausschenkung
des süßen Getränkes, die unnötige kostbare Reichung allerhand
Konfekts und Marzipane, wenn die Braut und der Bräutigam
in das Brautbett gesetzt werden usf. Man sieht aus diesem
Verzeichnis, wieviel prachtvolles volkskundliches
Material hier dem Unverstand, der Prüderie und der
Heuchelei dieses Zeitalters zum Opfer fiel. Wir leben
heute in der Fortsetzung. Die letzten Reste unseres deutschen
Volkstums wurde von der Polizei auf Rat derer, die sich die
„Deutschen“ nennen, verboten, so die alten Fastnachtsgebräuche.
Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 287
Bald wird nichts mehr da sein, auf der Verflachung thront der
Moralismus und unter seinem Thronsessel entwickelt sich die
Verpestung.
War nun der Tanz vorbei, so folgte das Kranzabnehmen,
und eine Dienerin, die mit der Liverey der Braut geschmückt
ist, muß den Kranz verteidigen. Man setzt der Braut dafür
die Vexierhaube auf, ein Netzchen von Zwirn oder Seide
mit bunten Tupfen, das mit Rauchwerk, kleinen Wickelkindern
und Kindergerät benäht ist. Auf den Geschlechtsakt be-
zügliche Redensarten waren dabei sehr gebräuchlich. Der
Kranz war damals aus Lorbeerblättern oder künstlich aus über-
sponnenem Draht. An seiner Stelle trugen z.B. die Augs-
burgerinnen das Hochgestrick, das aus Wülsten, die mit
rotem Atlas umwunden waren, bestand; die Ulmerinnen nannten
es „hohes Umgeschläge“.
Besonders von Interesse, weil sehr alt, ist die Braut-Meye,
ein grüner, mit allerhand kleinem Kinderzeug geschmückter
Baum, den die Bauernmädchen der Braut ins Haus bringen.*)
Sehr häufig geschieht dies erst am Tag nach der Hochzeit.
Vor dem Beilager war es besonders in fürstlichen Kreisen
und beim Adel Sitte, daß der Braut das Strumpfband gelöst
wurde. Bei Fürsten geschah das durch den Minister. Wie
weit diese an alte Gebräuche anknüpfende Sitte in dieser Form
ins Volk gedrungen war, müßte untersucht werden.*) Das
Brautbett wird uns in zeitgenössischen Quellen („Albertäten
300“) beschrieben „als ein grosses auf vielerley facon kostbahr
verfertigtes und mit falbala oder andern Zierrathen ausgeputztes
Bette, auf zwey Personen gerichtet, worinnen die Braut zum
allererstenmahl neben dem Bräutigam schläft“. Am Morgen
nach der Brautnacht wird die Morgengabe gegeben, die an
gleicher Stelle als „ein ansehnliches Praesent, welches ein neuer
Ehemann von Adel seiner Braut den andern Hochzeits-Tag
früh Morgens nach dem ersten Beyschlaff und beschlagener
dscke statt eines Lohnes und einiger Ergötzlichkeit vor die
verlohrne Jungferschaft zu verehren pflegt“, bezeichnet wird.
*) Vgl. Reitzenstein: „Liebe und Ehe im Altertum“, 5. 81, 94.
**) Vgl. Reitzenstein: „Liebe und Ehe im Altertum“, S. 83 und
Reitzenstein, Ethnoanalyse in „Jahreskurse für ärztliche Fortbildung“ 1922.
Septemberheft S. 51.
288 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben
Allgemein werden anch sogenannte Nachhochzeiten
erwähnt, zu denen meist jene Personen geladen wurden, die
„wegen ihrer aufgetragenen Verrichtungen dem rechten Hoch-
zeit-Mahl nicht beywohnen können“, Dies ist natürlich nicht
der ursprüngliche Zweck, der vielmehr in einem Befruch-
tungsfeste bestand.*) Das wichtigste Gericht war nämlich
die Brautsuppe, die „aus Wein, Eyern und Semmel abge-
würtzte gelbe Brühe“. „Man pfleget auch an etlichen Orten
diejenigen lustigen und schertzhafften Carmina Braut-Suppen
zu benennen, so man den andern Hochzeits-Tag bey der Tafel
austheilet“. Diese Carmina (Gedichte) bezogen sich auf ge-
schlechtliche Fragen und die Befruchtung. An diesem Tage
pflegte sich auch die Amme der jungen Frau einzufinden,
die deren erste Schuhe dem jungen Gatten auf einem Teller
präsentiert und dafür ein stattliches Trinkgeld erhält.
Der wirkliche Abschluß der Hochzeit ist der Kehrab, so
„heisset derjenige lange Tantz, mit welchem die sämtlichen
Hochzeit-Gäste, die sich mit den Händen in einer langen Reyhe
fest an einander geschlungen und allerhand Figuren in solchem
Tanz sehen lassen, die Hochzeit-Lust beschliessen und den
Musicanten Feyerabend geben“.
Damit stehen auch wir am Schlusse unserer Betrachtung,
die nur das Wesentlichste aus der erdrückenden Fülle von
Material bieten konnte. Es ist aber zugleich der schwüle
Abend angebrochen, und über der hohlen Zeit ziehen bereits
die Wetterwolken eines mächtigen Gewitters herauf, das mit
furchtbaren Blitzschlägen die Luft reinigt und eine neue Ära
beginnen läßt, leider aber auch viel Gutes zerstört hat: -
Die französische Revolution.
Heute atmet Europa eine ähnliche Luft, möchten wir
lernen, bevor es zu spät ist und eine Evolution einleiten
auf dem Grundsatz: „Ehre Freiheit und Recht“.
22]
*) Vgl. Reitzenstein: „Liebe und Ehe im Altertum“, 5. 108 unter
„Fruchtbarkeitszauber“,
Geschlecht und Gesellschaft
Neue Folge XI, 10
Griechische Hetären eine Dionysosherme verehrend (Vasenbild). (Zu Kiefer: Über die griechischen Hetären.)
ÜBER DIE GRIECHISCHEN HETÄREN.
Studie von Dr. ©. KIEFER.
(Mit 2 Tafeln und 5 Abbildungen).
ber die griechischen Hetären ist schon viel geschrieben
worden. Aber kaum ein Forscher konnte es unterlassen,
dabei seinen moralisierend-christlichen Standpunkt hervor-
zukehren, womit man eben nun einmal fremden, fernliegenden
Kulturerscheinungen nicht gerecht werden kann. Von diesem
і unmöglichen Standpunkt abgesehen, enthält Beckers „Cha-
rikles“, bearbeitet von Göll, wohl die gründlichste Sammlung
des diesbezüglichen Materials, während des guten, feinen
Jakobs „Beiträge zur Geschichte des weiblichen Ge-
schlechts“ sich anerkenrtenswerte Mühe hinsichtlich objek-
` tiver Darstellung geben.
Die vorzüglichsterr antiken Quellen über die Hetären sind
эу мог allem des Athenäus „Deipnosophistae“ Buch XIII,
dann aber auch die Komödien eines Aristophanes, Terenz,
A Plautus end die erhaltenen Fragmente antiker Komödien. Eine
7а. eigenartige, kulturgeschichtlich wertvolle, aber als historische
ух Quelle wertlose Schrift sind die sog. Hetärenbriefe der
(y hellenistischen Sophisten Alkiphron und Aristänetos. I
ı die krasse Wirklichkeit des Lebens der gewöhnlicheren He-
ı tären führt die angeblich von Demosthenes stammende
"Rede gegen Neära ein. Da wir eine wirklich gute und er-
schöpfende griechische Kulturgeschichte (trotz Jakob Burck-
hardts Werk) auch heute noch nicht besitzen, möge folgende
Darstetlumg als ein vieleicht micht ganz unerwünschter Bau-
stein für ein solches Werk betrachtet werden.
19
290 Kiefer: Über die griechischen Hetären
Man hat, meine ich, bisher bei der Darstellung der Zu-
stände des griechischen Hetärenwesens einen wichtigen
Punkt ganz außer acht gelassen: den Zusammenhang der
wirtschaftlichen Faktoren mit dem Emporkommen der Hetäre.
Ein Volk, das wie die homerischen Griechen noch fast aus-
schließlich von Ackerbau, Viehzucht und Tauschhandel lebt,
kennt (wie übrigens auch die älteren Römer!) keine Hetären, ja,
ich möchte sagen, überhaupt keine käufliche Liebe. Erst die
Geldwirtschaft, vollends aber der Kapitalismus, hat für diese
Menschenklasse die wirtschaftlichen Möglichkeiten geschaffen.
So ist es denn keineswegs zufällig, daß man in erster Linie
aus großen Seehandelsstädten wie Korinth und Athen Nach-
richten über bekannte Hetären überliefert hat, während von
spartanischen Hetären kaum die Rede ist. Man wird vielleicht
einwenden, freie Sexualverhältnisse habe es doch schon in der
sog. heroischen Zeit gegeben, und man wird an eine Kalypso,
eine Circe, an eine Briseis usw. erinnern. Aber alles das sind
ja doch keine Hetären im üblichen Sinn, keine Weiber, die
aus der sexuellen Hingabe ein Gewerbe machen. Diese Mög-
lichkeit kennt das homerische Epos noch nicht. Begreiflicher-
weise, da solch ein Gewerbe eben das Aufkommen der Geld-
wirtschaft zur Voraussetzung hat. Für das Weib in der hero-
ischen Zeit gab es wirtschaftlich gar keine Möglichkeit, vom
Verkauf ihres Körpers zu leben, mit dem Aufkommen der
Geldwirtschaft war dagegen diese Möglichkeit vorhanden und
wurde denn auch alsbald ausgenützt. Auch da begegnet uns
zuerst die gebundenere Form: die Bordelle, erst viel später
mit fortschreitender Entwickelung zum Großhandel und
Kapitalismus die freiere der einzeln lebenden, der „berühmten“
Hetäre. Angeblich hat Solon das erste öffentliche Bordell in
Athen errichtet, um „der Liebeswut der jungen Leute“ zu be-
gegnen. Die Insassen waren natürlich Sklavinnen. Auch von
Tempeln der Aphrodite Pandemos wird berichtet, deren
Dienerinnen, besonders in Korinth, wohl nichts anderes waren
als öffentlich sanktionierte Dienerinnen der Lust. Korinth, die
glänzende, reiche Seehandelsstadt, erlangte im Lauf der Zeit
so sehr den Ruf einer Dirnenhochschule, könnte man sagen,
daß man das Sprichwort prägte: „nicht einem jeden ist die
Fahrt nach Korinth von Vorteil,“ ja daß der Ausdruck „ein
korinthisches Mädchen“ gleichbedeutend wurde mit dem Wort
Kiefer: Über die griechischen Hetären 291
„Hetäre“. Diese staatlich sanktionierten Hetären, auch „Dik-
teriaden“ genannt (vom Wort Dikterion-Bordell) stellten die
niedrigste Sorte der käuflichen Weiber dar. (Abb. 1) Etwas an-
gesehener waren die Bewohnerinnen der Privatbordelle, Mädchen,
die von einzelnen Unternehmern, sozusagen auf deren Rechnung
gekauft und der öffentlichen Benützung zur Verfügung gestellt
waren. Solche Verhältnisse hat der Verfasser der oben ge-
nannten Rede gegen Neära im Auge: eine Freigelassene,
Nikarete, hat sich sieben junge Mädchen gekauft und treibt
mit deren Körper ihr Gewerbe. Auch Plautus in der Cistellaria
weist auf solche Zustände hin. Es kommt auch nicht selten
Abb. 1. Griechische Hetären die Pyrriche tanzend (v. Tischbein),
vor, daß solche Mädchen von ihrem Eigentümer für längere
Zeit vermietet, ja sogar ganz verkauft werden und in andern
Besitz übergehen. Sogar der uns unglaublich scheinende Fall,
daß zwei Besitzer sich an einem solchen Mädchen gemeinsam
in aller Eintracht erfreuen, scheint gelegentlich stattgefunden zu
haben. Allerdings war dann wohl ein bitterer Streit zwischen
den eifersüchtigen Genießern der häufigere Fall. Die genannte
Rede läßt uns in dieser Hinsicht merkwürdige Bilder antiker
Sitten erblicken.
Handelt es sich bei all diesen Mädchen um Unfreie, um
Sklavinnen, die man wie einen Gebrauchsgegenstand benutzte,
19*
292 Kiefer: Über die
verlieh, verkaufte, so treten mit fortschreitendem Individualismus,
der seine wirtschaftliche Grundlage in der fortschreitenden
Geldwirtschaft hat, mehr und mehr die sogenannten „berühmten“
Hetären in das Licht der Geschichte, Persönlichkeiten an
Stelle der früheren Klasse. Diese sind es, die dem Namen
Неге seine eigentliche Bedeutung, fast möchte man sagen,
seinen poetischen Schimmer verliehen haben. Das waren
einzeln lebende Frauen, oft erst aus dem Stande der Sklavin
1
li
Abb.2. Griechisches Gelage (Vasenbild).
zur Freigelassenen heraufgekommen, aber auch Töchter eines
freien Hauses, die — genau wie heute — unbemittelt und
alleinstehend in die Großstadt kommen, um sich durchs Leben
zu bringen, dann an einen Liebhaber und so ins He
dasein geraten. Die — bekanntlich ganz von griechischen
Vorbildern abhängigen — Lustspiele eines Terenz und Plautus
bringen viele derartige Gestalten auf die Bühne, Das älteste,
historisch beglaubigte Beispiel solch einer frei gewordenen
Hetäre erzählt uns Herodot (II, 134 ff). Es ist die Thrakerin
Rhodopis, die, etwa um 580 v. Chr., als Sklavin nach Ägypten
kam, dann durch den Bruder der Sappho freigekauft wurde
und schließlich in der Freiheit solche Reichtümer zusammen-
brachte, daß sie u.a. den zehnten Teil ihres Vermögens dazu
verwendete, um für den Tempel in Delphi große eiserne Bral-
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Kiefer: Über die griechischen Hetären 293
spieße zu den Festopfern zu stiften. Zu dieser Kiasse der
freigelassenen Hetären gehören auch die zahllosen Flöten-
bläserinnen (Tafel I u. II, Fig. 1) und Zitherspielerinnen, Mädchen,
die bei festlichen Opfern und Gelagen sozusagen das Orchester
ersetzten, (Abb. 2 u. 3) um morgen als Hetären ihr Brot zu ver-
dienen. (Abb. 4 u.5). Nicht alle Hetären waren so freigiebig;
vielmehr ist eine Haupteigenschaft aller dieser Hetären ihre
Habgier. Überhaupt darf man Züge von rührender Weib-
lichkeit bei den meisten dieser Venuspriesterinnen nicht
suchen. Die Komödien, die Briefe des Alkiphron, die
Hetärengespräche des Lukian, also die hauptsächlichsten
Abb. 3. Hetärin (Vasenbild).
Quellen über das alltägliche Leben und Treiben der griechischen
Hetären, zeigen ein in den wesentlichen Charaktereigenschaften
der Hetären gleiches Bild: Geldgier, Verschlagenheit, alle
Künste der Verstellung, um Liebe vorzutäuschen, die doch fast
nie vorhanden ist, Genuß und Putzsucht, dabei ein stetes
neidisches Schielen nach den glücklicheren Schwestern, be-
sonders nach den Verheirateten. Dabei fehlen gewisse mensch-
lich sympathische Züge nicht unbedingt: die griechische Hetäre
ist nie roh, schon aus kluger Berechnung schätzt und übt sie
gesellschaftliche Formen, sie ist spröde aus Berechnung der
Wirkung, sie hat aber bisweilen auch Stunden der Einsicht
in das Unerfreuliche ihres ganzen Lebens und kann dann
sentimental werden und eine junge Schutzbefohlene vor dem
trügerischen Gewerbe warnen. Wenn es ihr vollends gelingt,
in die 'sozial höhere Schicht der Ehefrau aufzusteigen, dann
will sie von ihrem früheren Dasein nichts mehr hören und
wird eine brave, ja philiströse Matrone. Doch wir kommen
mit dieser Schilderung allgemein vorhandener Züge des
Hetärenlebens schon in die Zeiten des späteren Hellenismus,
Kiefer: Uber die griechischen Hetären
294
Abb. 4. Nächtliches Schwärmen (Vasenbild)
Kiefer: Über die griechischen Hetären 295
da es keine „großen“ Hetären mehr gab, sondern nur einander
mehr oder minder gleichende Damen, die sich wohl eher durch
die mehr oder minder graziöse Rundung ihrer Hüften als durch
ihren Geist von einander unterschieden, wie das ja der be-
kannte, pikante Brief Alkiphrons so reizend darstellt (Megara
an Bacchis).
Weitaus die berühmteste Hetäre des ganzen Altertums ist
wohl Aspasia, (Tafel II, Fig. 4) die Freundin des Perikles, der ihr
zuliebe seine rechtmäßige Gattin verstoßen haben soll. Aus der
reichen asiatischen Handelsstadt Milet stammend, soll sie die
Abb. 5. Hetären beim Gastmahl (Vasenbild).
erotischen Geheimnisse jonischer Hetären nach Athen verpflanzt
haben, andererseits traute man ihr aber auch bedeutsamen Ein-
fluß auf die politischen Entschlüsse ihres Freundes Perikles zu
(so anekdotenhaft auch das meiste klingt, was in dieser Hinsicht
überliefert ist). Nach der pseudoplatonischen Schrift „Mene-
xenos“ hat sogar Sokrates sich von ihr in der Kunst der Rede
unterweisen lassen. Auch die Komödie hat sich ihre Gestalt
nicht entgehen lassen: Eupolis gibt ihr den Beinamen Helena,
wohl um anzudeuten, daß sie im Volksmund als Anstifterin
des peloponnesischen Krieges galt, wie Helena als die des
trojanischen. Bei andern Komödiendichtern erscheint sie als
Beraterin des Sokrates in Sachen der Knabenliebe, ja selbst
als die Geliebte des Sokrates, was nun gewiß eine wenig
geschmackvolle Verdrehung der Wahrheit gewesen ist. Jeden-
falls war sie ein kluges, ungewöhnlich vielseitig begabtes Weib,
dessen Stern weithin in die Jahrhunderte leuchtete. Nicht viel
weniger berühmt ist Phryne, die Geliebte des Praxiteles, eine
296 Kiefer: Über die griechischen Hetären
Königin körperlicher Schönheit! Sie war des Meisters Modell
für seine berühmte knidische Aphrodite, sie soll selbst am
Feste des Poseidon in Eleusis im Angesicht der staunenden
Menge nackt mit aufgelöstem Haar als Abbild der schaum-
geborenen Göttin ins Meer gestiegen sein. Man war von
ihrer Schönheit so entzückt, daß die Erzählung entstehen
konnte, ihr Verteidiger und späterer Liebhaber Hyperides habe
in einem Prozeß, der zu ihren Ungunsten auszugehen drohte,
die Richter für sie gewonnen, indem er ihr Gewand zerriß
und die göttliche Schönheit ihres Busens enthüllte. Man hält
wohl heute diese Geschichte nicht mehr für historisch, immer-
hin ist sie hübsch erfunden, indem sie zeigt, welche Macht
körperliche Schönheit über das griechische Empfindungsleben
ausübte. Man muß sich klar machen, was es heißt, wenn ein
Volk, das Jahrhunderte lang nur für den Staat gelebt und
dessen Erotik fast ganz in der Knabenliebe pulsiert hatte,
wenn dies Volk einer weiblichen Schönheit fast göttliche Ver-
ehrung entgegenbrachte! Vom vierten Jahrhundert an setzte
sich die Hetäre, zugleich mit der Emanzipation der Frau über-
haupt, in einem Maße durch, wie man es früher für ganz
unmöglich gehalten hätte. Sie, nicht die still und unbeachtet
dahinlebende Hausfrau, die man bekanntlich nach Demosthenes
Wort nur zur Erzeugung rechtmäßiger Kinder erheiratet hatte,
zog alle Strahlen erotischer Empfindungen auf sich, sie wurde
mehr und mehr zur Verkörperung der Göttin Aphrodite selbst.
Sind auch die direkten Quellen über das Hetärenleben jener
Tage uns nimmer zugänglich, bezeichnend genug ist schon,
daß wir von einer ganzen Anzahl Schriften über das Hetären-
leben hören. Bruchstücke daraus hat Athenäus in dem schon
erwähnten Buch XIII seines Sophistengastmahls verwendet.
Vollends zeigt ein Blick in die Reste der neueren Komödie,
etwa des Menander und seiner römischen Nachahmer Plautus
und Terenz, wie die Frau, vor allem in der Gestalt der Hetäre,
jetzt der Mittelpunkt der männlichen Interessen geworden ist,
die zu Aristophanes Zeiten ganz dem Staat und vielfach der
Knabenliebe gehörten. Wurde uns in der klassischen Zeit
genau überliefert, welche schöne Knaben ein Themistokles,
Sophokles, Pindar usw. liebten, so tritt jetzt neben einen
Menander seine Glycera, neben einen Demetrius Poliorketes
seine Lamia. Und Aristipp, so recht der Philosoph einer zu
Kiefer: Über die griechischen Hetären 297
raffiniertem Genußleben neigenden Zivilisation (nicht mehr
„Kultur“!), teilt sich mit Diogenes in den Besitz der korin-
thischen (älteren) Lais, jener geldgierigen Schönen, der die
Korinther ein Denkmal, darstellend eine Löwin, die "einen
Widder zerriß, errichteten. Die Gestalt des großen Alexander
steht am Wendepunkt der Zeiten: man kennt seinen innig
geliebten Freund Hephästion, man liest aber auch, daß er u.a
die athenische Hetäre Thais mit sich |nach Asien führte, der
zuliebe er die Königsburg von Persepolis einäschern ließ.
Harpalus vollends, erst Freund und Günstling Alexanders,
später Defraudant im größten Stil, ein typischer Vertreter der
üppigen, gewissenlosen Diadochenzeit, trat ganz als König
auf und hatte berühmte Hetären in seiner Umgebung:
erst die Athenerin Pythionike, die er nach ihrem Tod
gleich einer Göttin! mit Denkmälern und einem Tempel
verehrte, später die Glycera, bevor diese Menanders Geliebte
war. Vom Leben und Treiben dieser sogenannten „be-
rühmten Hetären“ berichten die graziösen Briefe des Alkiphron
wohl mehr novellistisch unterhaltend denn historisch getreu.
Besonders die zwischen Menander und Glycera gewechselten
Briefe zeigen ein keineswegs nur auf sexuelle Beziehungen
aufgebautes, mehr inniges Verhältnis. So unterhält sich
wirklich nur ein gebildetes Weib mit dem Erwählten seines
Herzens, so läßt ein Dichter die Geliebte an allem teil-
nehmen, was ihn bewegt. Aber im allgemeinen dürfte es
doch mit der sog. Bildung dieser Hetären etwas bescheidener
bestellt gewesen sein, als man, wohl im Hinblick auf eine
Aspasia, bisweilen anzunehmen geneigt ist. Jedenfalls kann
man aus den von Athenäus überlieferten Witzworten der
Hetären höchstens auf eine gewisse Schlagfertigkeit, besonders
in zweideutigen Antworten, aber nicht auf echte Bildung
schließen. Die namenlosen, ungezählten niedrigeren Weiber
dieser Art vollends werden vor den heutigen Erscheinungen
ähnlicher Art höchstens eine größere Naivität in der Frechheit,
sonst aber nichts voraus gehabt haben. Immerhin hätte sich
aus der Gestalt der großen Hetäre in der Tat etwas für die
ganze Folgezeit Erfreuliches entwickeln können, eine Art groß-
denkende, gebildete, wirkliche Freundin des Mannes, was ja
die griechische Ehefrau niemals gewesen ist. Zweierlei stand
hindernd im Wege: die wirtschaftliche Unmöglichkeit (eine
298 Kiefer: Über die griechischen Hetären
solide Ehe ist billiger, freilich auch um vieles nüchterner und
keine ganze Lösung des erotischen Problems), dann aber auch
die mit dem Sieg des asketischen Platonismus und seiner
Popularisierung, genannt Christentum, eintretende Verachtung
und Unterdrückung der sexuell-sinnlichen antiken Schönheits-
freude. Es ist wirklich so, wie Nietzsche sagt: das Christen-
tum gab dem Eros Gift zu trinken, er starb zwar nicht daran,
aber er entartete und wurde zum Laster. Eine Prostitution
im heutigen, verachteten Sinn hat es in der Tat erst mit dem
Christentum gegeben. Wir können nur mit wehmütigem Blick
auf die Zeiten zurückschauen, da ein sinnenfrohes Kulturvolk
den Naturtrieb so hoch geadelt hat, daß es seine leuchtendsten
Vertreterinnen gleich einer Göttin anbetete!
Fiieß: Pubertätsdrüse und Doppelgeschlechtigkeit 299
PUBERTÄTSDRÜSE
UND DOPPELGESCHLECHTIGKEIT.
Von Dr. med. WILHELM FLIESS.
Hos Ansehen hat heutigen Tages die Pubertätsdrüse. Jeder-
mann weiß, daß Hoden oder Eierstöcke eine Drüse mit
innerer Sekretion darstellen, welche das Wachstum und die Ent-
wicklung aller derjenigen körperlichen Attribute bewirkt, die den
Mann als Mann, das Weib als Weib erscheinen lassen.
Frühzeitig sondert sich im befruchteten Ei Urgeschlechts-
und Urkörperzelle. Aus der einen gehen die Genitalorgane,
aus der anderen der ganze übrige Körper hervor. Aber Ge-
schlechtsorgane und Körper entwickeln sich nicht ohne Ab-
hängigkeit von einander. Ihre räumlichen Beziehungen, ihre Ab-
hängigkeit von gemeinsamer Ernährung, gemeinsamer Inner-
vation waren von jeher selbstverständlich; die Erkenntnis ihrer
funktionellen Unterordnung untereinander wurde erst durch das
allgemeine Wissen von der innern Sekretion ermöglicht. Der
Genitalapparat eines jeden Embryo ist doppelgeschlechtlich an-
gelegt, und man meint heute, daß es eine Hormonwirkung sei,
welche den Entscheid darüber fällt, ob die männliche oder die
weibliche Anlage des Fötus der Verklimmerung anheimfällt.
In der Tat läßt das männliche Kind seine weiblichen, das weib-
liche seine männlichen Sexualorgane atrophieren, während die
eigengeschlechtlichen Genitalien einer Entwicklung zustreben,
wie sie das Neugeborene zeigt.
Deutlicher sehen wir ein andres Mal unsern Organismus
unter der Herrschaft der Sexualdrüse. Zur Pubertätszeit ent-
wickeln sich sprunghaft einige Teile unseres Körpers, welche
Darwin als sekundäre Sexualcharaktere bezeichnete, und deren
plötzliches Wachstum uns in seiner Gesamtheit geradezu den
Symptomenkomplex jener Drüsenwirkung vor Augen führt.
Körperform, Stimme und Behaarung geben dem kindlichen
Organismus somatische, die beginnende Sinnlichkeit verleiht
psychische Reife. Der Mann scheint Mann, das Weib scheint
Weib. Gleichzeitig beginnen die primären Sexualcharaktere,
die Keimzellen ihre Reifung. Eier und Samen werden vom
Organismus abgesondert, können befruchten und werden be-
fruchte. Nun ist der Mann ein Mann, das Weib ist Weib:
All dieses weiß der Leser. Und er weiß noch mehr. Er
300 Fließ: Pubertätsdrüse und Doppelgeschlechtigkeit
kennt Steinachs Transplantationsversuche. Der Wiener Ex-
perimentator hat Ratten kastriert, denen er die Geschlechtsdrüse
des anderen Genus überpflanzte.. So gelang es, den Habitus
völlig zu ändern. Der Rattenbock, dessen Hoden man mit einem
Ovarium vertauscht, erhält weibliche Behaarung, Zitzen und die
Gunst der Männchen. Umgekehrt ändert sich das kastrierte
Weibchen, welchem man einen Hoden einverleibt hat. Seine
Brustdrüse atrophiert, die Behaarung wird männlich, und es
beginnt seine ehemaligen Geschlechtsgenossinnen zu bespringen.
Diese Versuche, meint Steinach, bestätigen, daß die Pubertäts-
drüse es ist, welche über die Geschlechtszugehörigkeit des
Individuums entscheidet. Der übrige Körper sei von der Natur
neutral angelegt, erst die Geschlechtsdrüse bilde ihn zum Ge-
schlecht. Man könne mit dieser Drüse Männer zu Weibern
machen und Weiber zu Männern.
Das klingt zunächst annehmbar. Und das Virchowsche
Wort „propter ovarium solum mulier est quod est“ scheint eine
Bestätigung durch die Humoralphysiologie zu erfahren.
Aber hier ist der Punkt, um mit einer Frage an den Ex-
perimentator und seine Gefolgschaft zu treten. Diese Frage ist
seinerzeit in der Freude über die lehrreichen Versuche vergessen
und — nachdem ich sie bereits vor Jahren gestellt und beant-
wortet*) — bis zum heutigen Tage noch nicht diskutiert worden.
Das erste begreife, das zweite bedaure ich.
Das gesunde Ovarium im geschlechtsreifen weiblichen
Organismus gibt befruchtungsfähige Eier. Würde das Männchen
wirklich ein Weibchen durch die Eierstockstransplantation, müßte
füglich das überpflanzte Ovarium die gleichen befruchtungs-
fähigen Eier hervorbringen. Tut es das? lautet die Frage. Nein!
ist die Antwort des Experimentes. Und der Hoden im kastrierten
weiblichen Körper? Produziert keinerlei zeugungsfähigen
Samen!
Die Keimdrüsenüberpflanzung ist also nicht in der Lage,
Weiber in Männer und Männer in Weiber zu verwandeln. Sie
ist es wirklich nicht, und das ist der wichtigste Teil Steinachscher
Experimentalergebnisse. Denn der Versuch am Lebenden liefert
die besondere Bestätigung eines allgemeinen Naturprinzips,
in welches der Beginn meiner Forschungen mir die erste Ein-
*) Vgl. Wilhelm Fließ „Vom Leben und vom Tod“, 6.—8. Tausend,
Jena 1919, S. 134.
Fließ: Pubertätsdrüse und Doppelgeschlechtigkeit 301
sichtnahme eröffnet. Dieses Prinzip ist die dauernde Doppel-
geschlechtigkeit alles Lebendigen. Nicht Bisexualität oder Doppel-
geschlechtlichkeit ist hiermit gemeint, in dem Sinne der Tat-
sache etwa, daß jedes Tier die Genitalorgane des anderen Ge-
schlechts rudimentär in sich trüge, sondern die Doppel-
geschlechtigkeit des gesamten tierischen und pflanzlichen
Organismus, das Bestehen jeder einzelnen Zelle, jedes einzelnen
Zellteiles aus männlicher und weiblicher Substanz. Von den
Voraussetzungen für diese Erkenntnis zu handeln, ist hier nicht
der Raum. Aber das Gesetz selbst muß man sich klarmachen,
denn es handelt sich um einen Teil seiner Folgerungen.
Die Substanz, aus der unser Körper erbaut wurde, hat —
wie alle lebendige Substanz — gleichsam zwei Sorten: Männ-
lichen und weiblichen Stoff. Und wir selbst sind eine Misch-
sorte, wir bestehen aus männlicher und weiblicher Substanz.
Der Mann aus mehr männlicher, das Weib aus mehr weiblicher
Stoffmischung. Deswegen — und deswegen allein — ist der
Mann ein Mann, deswegen — und deswegen allein — das
Weib ein Weib. Nicht propter ovarium. Ich kann ihren Eier-
stock wegnehmen, und sie wird eine Kastratin, aber sie bleibt
ein Weib. Und ich kann ihr einen Hoden dafür geben, dann
wird sie männisch, aber nicht männlich; sie bleibt ein Weib.
Denn die Natur hat in dem Mischungsverhältnis ihres doppel-
geschlechtigen Körpers für das Somageschlecht weiblich ent-
schieden. Und der weibliche Körper gestattet dem Eierstock,
was er dem Hoden verbietet: die Erzeugung befruchtungsfähiger
weiblicher Keimzellen. Vice versa gilt all das vom Manne.
Nicht seines Hodens wegen ist er ein Mann, sondern er hat
einen Hoden, weil er ein Mann ist. Sein männliches Körper-
geschlecht ist die Voraussetzung für den funktionstüchtigen
Hoden. Das überpflanzte Ovarium kann — bei allem Einfluß
auf die sekundären Geschlechtscharaktere des Kastraten — Eier
nicht produzieren. Bei der Frau aber pflegt ein transplantierter
Eierstock durchaus funktionstüchtig zu bleiben. Ihr weibliches
Somageschlecht gibt keine Hemmung ab für die weibliche Keim-
drüse eines anderen Individuums.
Das Somageschlecht muß primär sein, nicht die Geschlechts-
drüse. Denn wir können die Drüse vertauschen, das Soma-
geschlecht bleibt. Man hat leichtfertig gefolgert, die überpflanzte
Keimdrüsenzwischensubstanz schaffe neue Geschlechtscharaktere
302 Fließ: Pubertätsdrüse und Doppelgeschlechtigkeit
in einem neutralisierten Körper, und dabei gar nicht bedacht,
wie sehr ein solches Ergebnis sich in Widerspruch setzen würde
zu der wichtigsten Vorstellung aus dem Gebiete der Drüsen-
physiologie. Eine Drüse ist niemals befähigt, etwas neues zu
schaffen, wie es allein die Keimzelle kann. Ihr Einfluß ist immer
nur regulativ im weitesten Sinne. Was geschieht denn z. B. im
Krankheitsbilde der Akromegalie? Das zu reichliche Hypophysen-
sekret läßt die acra megala, die Glieder groß werden. Hände,
Füße, Nase, Kiefer, Lippen, Geschlechtsteile beginnen unter
Störungen im Allgemeinbefinden ein plötzliches Wachstum.
Also Vorhandenes wächst, etwas Neues entsteht keineswegs.
Und das gleiche zeigt eine jede Symptomatologie, deren Ursachen
im geänderten Funktionieren einer Drüse mit innerer Sekretion
gelegen ist. Anatomische und physiologische Veränderungen,
Wachstum oder Schwund, gesteigerte oder verringerte Stoff-
wechselvorgänge, Über- oder Untererregbarkeit stellen sich ein,
niemals aber tritt eine Bildung auf, die nicht vorher bereits
vorhanden gewesen. Nach den gleichen Gesetzen arbeitet die
Pubertätsdrüse. Haare wachsen oder schwinden, Brüste ver-
größern sich oder atrophieren, und diejenigen Geschlechtsteile,
welche, der gegengeschlechtigen Anlage entstammend, im Laufe
der Entwicklung zurücktreten mußten, erwachen aufs neue.
Nichts wird erschaffen. Und daß trotzdem eine Umstimmung
erzielt wird, deren Ausmaß selbst die Forscher täuschen, und
zu dem voreiligen Schluß eines Geschlechtswechsels verleiten
konnte, hat seinen Grund in der Doppelgeschlechtigkeit des
lebendigen Körpers. Die Brust des Mannes enthält — wie eine
jede Zelle seines übrigen Organismus — weiblichen Stoff neben
dem männlichen. Dieser weibliche Stoff wird gedüngt von der
weiblichen Substanz eines transplantierten Ovariums. Der Mann
bekommt Weiberbrüste, er wird ein Gynäkomast. Es gehört
jedoch zu den landläufigen Beobachtungen, daß die Gynä-
komastie ohne jedes geschlechtliche Zwittertum in Erscheinung
tritt. Und das kann sie nur, wenn auch der Hoden Elemente
aus der weiblichen Keimdrüse birgt, deren Hormon die weib-
liche Substanz in der Männerbrust zur Vermehrung bringt. Die
Voraussetzung hierfür muß in dem Mischungsverhältnis des
betreffenden Mannes gelegen sein. Das Überwiegen der weib-
lichen Substanz in einem solchen Manne hat dann eine doppelte
Wirkung. Einmal können normalerweise zugrunde gehende
Fließ: Pubertätsdrüse und Doppelgeschlechtigkeit 303
weibliche Elemente in seiner Keimdrüse erhalten bleiben, und
dann finden diese Elemente eine genügende Menge weiblicher
Substanz in seiner Brustdrüse vor, um durch deren innersekre-
torische Düngung eine Weiberbrust wachsen zu lassen.
Dieses große Prinzip kannten wir lange vor dem anatomischen
Nachweise von Elementen des anderen Geschlechtes im Hoden.
Und längst vor den Meisenheimerschen Versuchen. In ihnen
werden wir auf eine ganz eigentümliche Weise bestätigt. Nie-
mals entwickelt das kastrierte Froschmännchen die Daumen-
schwielen, mit denen der normale Frosch in der Brunst das
Weibchen umklammert. Wohl aber wachsen die Schwielen,
wenn man ihm Hoden oder Eierstöcke unter die Haut bringt.
Die Eierstöcke wirken nicht ganz so stark wie die Hoden, aber
sie wirken. Und das könnten sie nicht, wenn nicht männliche
Anlagen in ihnen wären. Unser Schluß aber müßte bestehen,
auch wenn niemals — wie es von Pick: geschehen ist — Eier-
stockzellen im Hoden und Hodenzellen im Eierstock nach-
gewiesen worden wären. Die Doppelgeschlechtigkeit der einzelnen
Zelle zeigt ja heute noch kein Mikroskop. Und doch ist sie
notwendig, denn die Zelle lebt nur, so lange männliche und
weibliche Substanz in ihrem Inneren aufeinander wirken. Die
Doppelgeschlechtigkeit ist weit mehr als ein anatomischer Zu-
stand, sie hat die wichtigste biologische Funktion.
Diese Erkenntnis fließt aus den Ergebnissen eines großen
Experimentators, aus den Naturergebnissen. Die Natur selbst
schafft ja jeden erdenklichen Übergang zwischen männlichen
und weiblichen Charakteren. Und ihr großes „Zwischenreich“
bildete seinerzeit mein Material, als ich die Beziehungen zwischen
Doppeligeschtigkeit und bilateraler Symmetrie, zwischen Künstler-
tum und dem gegengeschlechtigen Einschlag finden durfte.
Leider hat niemand bisher dieses neue biologische Bild in der
Gesamtheit gesehen, und die Befruchtung einiger Spezialgebiete
durch die neue Erkenntnis geschah auf dem illegitimen Wege
bewußten und unbewußten Plagiates. Das ist tief zu bedauern.
Nicht einer Priorität zuliebe, sondern weil die Verbindung von
Einzelerkenntnissen mit dem umfassenden Naturprinzip dadurch
unmöglich gemacht wird. Sexuelle Zwischenstufen und psychische
Homosexualität werden so wenig verstanden ohne ein über-
geordnetes Gesetz wie das vielbedachte Problem von Geschlecht
und Charakter. Und heute noch kann ein frappierendes Experiment
über das größte Naturgesetz hinwegtäuschen.
ÜBER RASSEN UND RASSENMISCHUNGEN IN
DER STEINZEIT EUROPAS.
Von Dr. med. K. CLASSEN, Grube (Holstein).
som in der paläolithischen Periode, d. h. während der
Eiszeit einschließlich der letzten Zwischeneiszeit, haben in
Europa mehrere Menschenrassen gelebt. Das geht aus den an
verschiedenen Stellen, Frankreich, Belgien, Südengland, Mittel-
und Süddeutschland, Mähren und Österreich gefundenen Schädeln
und Skelettresten hervor. Eine dieser Rassen, die vom Neander-
tal, ist mit dem Ende der Eiszeit ausgestorben oder hat sich
bis in die spätere Zeit wenigstens nicht mehr reinblütig erhalten.
Die andern lassen sich mehr oder weniger deutlich m der
während der jüngeren Steinzeit Europa bewohnenden Rassen
wiedererkennen.
jene verschiedenen Rassen haben im Paläolithikan nicht
nur nebeneinander gewohnt, sondern sie sind auch schon
Mischungen miteinander eingegangen. So hat man in der Nähe
von Bonn zwei Schädel, einen männlichen und einen weiblichen,
nebst andern Knochen nahe beieinander gefunden, die offenbar
von einer gemeinsamen Bestattung herrührten. Der männliche
Schädel hatte die Gestalt der aus andern Funden wohlbekannten
Cromagnon-Rasse, der weibliche zeigte bei aller Ähnlichkeit
doch einen Einschlag anderer Rasse.
Von der jüngeren Steinzeit her bis auf die Gegenwart
haben sich die europäischen Rassen nicht wesentlich geändert.
Einwanderungen von Osten und Südosten in geschichtlicher
und vorgeschichtlicher Zeit haben das Gesamtbild nicht zu
ändern vermocht. Da in der Steinzeit allgemein die Leichen
bestattet, nicht verbrannt wurden (Leichenbrand läßt sich mit
einzelnen Ausnahmen erst in der Bronzezeit nachweisen), so
ist ein sehr reichhaltiges Schädelmaterial vorhanden.
Wir können nun in Europa, wenn wir von Mischrassen,
Übergängen von einer zur anderen Rasse, versprengten Resten
alter Rassen absehen, im großen und ganzen vier Hauptrassen
unterscheiden: Langschädel mit hoher Stirn und länglichem
(ayaısun E1104) "UO шпәвпшиәш1әц].
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Tafel III
Altperuanische Vas
en mit päderastischen Darstellungen.
(Zu Aufsatz: v. Reitzenstein.)
Classen: Über Rassen u. Rassenmischungen in der Steinzeit Europas 305
Gesicht, vorwiegend in Nordeuropa verbreitet, bis nach Mittel-
und Süddeutschland reichend (Homo Europaeus); Kurzschädel
mit scharfgeschnittenem Profil und Adlernase, von der Balkan-
halbinsel bis in die Donauländer, auch nach Südrußland aus-
gebreitet (Armenoide-Rasse): Kurzschädel mit breitem Gesicht
und stumpfer Nase, von Norditalien über die Alpenländer ins
Rheintal, nach Belgien und Nordfrankreich sich ausdehnend
(H. Alpinus), Langschädel mit mehr breiter als hoher Stirn und
abgeplatteten Schläfen, auf den südlichen Halbinseln und in
einem großen Teil Frankreichs (H. mediterraneus).
Allerdings sind die Gebiete dieser vier Hauptrassen keines-
wegs gegeneinander genau abzugrenzen, sie greifen vielmehr
überall ineinander über. Im Norden finden sich Kurzschädel
verschiedener Gestalt überall zwischen den Langschädeln, und
die nordischen Langschädel sind wiederum bis in alle drei
südlichen Halbinseln Europas verbreitet. Was die Farbe der
Haut, der Haare und Augen betrifft, so findet sich zwar die
helle Komplexion vorwiegend im Norden, die dunkle mehr im
Süden Europas; jedoch ist jene keineswegs der nordischen
(europäischen) Rasse allein eigentümlich, wie auch wieder inner-
halb dieser Rasse blaue Augen und blonde Haare durchaus
nicht ausschließlich herrschend sind.
Daß gerade vier Hauptrassen die Bestandteile der heutigen
Bevölkerung Europas bilden, ist kein Zufall, sondern erklärt
sich aus der Gestaltung unseres Erdteils und der Verteilung
der Gletscher während der letzten Vereisung. Wir müssen da-
bei berücksichtigen, daß das Leben des Menschen während der
Eiszeit an die Existenz des Renntiers gebunden war. Dieses
harmlose und mit primitiven Waffen zu erlegende Tier bot
dem Menschen Material zur Befriedigung seiner wichtigsten
Lebensbedürfnisse: Fleisch und Fett zur Nahrung, Knochen und
Geweih zu Werkzeugen, Waffen und Schmuck, Sehnen zu
Stricken und Schnüren, Fell zur Kleidung. Hätten nicht damals
große Renntierherden am Rande der Gletscher gelebt, wo sie
in der Renntierflechte ihre Lieblingsnahrung fanden, so hätten
sich die Menschen der Vor- und Zwischeneiszeit wohl vor den
sich ausbreitenden Gletschern nach milderen Ländern verzogen
und die feine Kultur der letzten Eiszeit, deren Kunstfertigkeit
in Schnitzerei, Plastik und Malerei wir bewundern, wäre nicht
in Erscheinung getreten.
20
306 Classen: Über Rassen u. Rassenmischungen in der Steinzeit Europas
Das Renntier ist mit den großen Gletschern in Europa
verschwunden und damit hat die Kultur des Menschen eine
große Einbuße erlitten. In Norddeutschland, Dänemark und
Südschweden hat man nur vereinzelte Stücke vom Renngeweih
mit Spuren von Bearbeitung durch den Menschen gefunden,
aber nichts mehr von der alten Kunstfertigkeit; die Menschen
waren auch wohl an Zahl zurückgegangen. Wenn sich auf den
ehemals vom Eise bedeckt gewesenem Boden Europas, der an
Fruchtbarkeit seinesgleichen suchte, eine neue Menschheit er-
heben sollte, so mußte Zuwanderung stattfinden aus Gegenden,
in denen das Renntier eingelebt hatte, wo also die Menschen
gelernt hatten, ohne den Nutzen, den dieses Tier bot, die An-
fänge der Kultur zu begründen.
Solcher Gegenden gab es nun in Europa vier, nämlich die
drei südlichen Halbinseln und das südliche Rußland. Südlich
der Pyrenäen, der Alpen und des Balkan hat es zwar auch
noch Gletscher gegeben, aber keine Renntiere, und in Rußland
hat der Südrand des großen nordischen Gletschers höchstens
bis in die Gegend von Kiew gereicht, weiter im Osten sogar
noch weniger weit nach Süden. So war das ganze südöstliche
Rußland, der größte Teil des Wolgastromgebiets, vom Eise
freigeblieben. Diese vier Gebiete, Pyrenäen, Appenin-, Balkan-
Halbinsel und unteres Wolgagebiet, waren in paläolithischer
Zeit schon vom Menschen bewohnt, wenngleich wir über deren
Kultur nicht so gut unterrichtet sind, wie über die verschiedenen
Eiszeitperioden.
Das vom Eise befreite Land bot nun in den Flußtälern und
Ebenen sowie an den Meeresküsten, soweit es nicht von dichtem
Wald bedeckt war, einen fruchtbaren, für primitiven Ackerbau
wohl geeigneten Boden. Die neue Kulturperiode beginnt unter
ganz anderen Bedingungen. Das gibt sich darin zu erkennen,
daß unter den Werkzeugen, welche sich die Menschen aus ver-
schiedenen Steinarten herstellten, jetzt das Beil das wichtigste
ist. In der Eiszeit kannte man das Beil nicht, denn damals
gab es noch keine Bäume zu fällen, kein Holz zu bearbeiten.
Die älteste Periode der Nacheiszeit, nämlich die Kultur der
nordischen Küchenabfallhaufen (Kjökkenmöddinger) — die in
Frankreich als Kultur von Campigny an der Seine (Campignien)
bezeichnet wird, — könnte man noch als bodenständig, d. h-
von den Resten der Eiszeitmenschen selbst hervorgebracht, auf-
Classen: Über Rassen u. Rassenmischungen in der Steinzeit Europas 307
fressen. Jedoch die dann folgende hohe neolithische Kültur mit
polierten Feuersteinbeilen und mannigfachen Geräten, mit Vieh-
zucht und Ackerbau, kann nur durch Zuwanderung neuer Volks-
massen entstanden sein. Da es nun vier Gebiete in Europa
gab, aus denen solche Zuwanderung stattfinden konnte, so er-
klärt sich leicht die Zusammensetzung aus vier Hauptrassen,
die sich aus jenen vier Gebieten herleiten lassen, nämlich die
kurzweg als „europäisch“ bezeichnete Rasse aus Südrußland,
die armenoide Rasse von der Balkanhalbinsel und: weiter aus
Vorderasien, die alpine Rasse von Italien, die mittelländische
Rasse von der Pyrenäenhalbinsel. Allerdings läßt sich nicht
behaupten, daß diese Rassen in diesen Gebieten ursprünglich rein
einheimisch gewesen seien. Von der mediterranen Rasse läßt
sich vermuten, daß sie rings um das Mittelmeer verbreitet
gewesen ist, und die europäische Rasse mag sehr früh schon
kurzköpfige Beimischung von Asien her erhalten haben. Die
sich nun in Mittel- und Nordeuropa ansiedelnde reine Be-
völkerung wird an vielen Stellen Reste der alten Paläolithiker vor-
gefunden haben, deren Verwandtschaft aus einer oder der andern
der neuen Rassen mehr oder weniger deutlich zu erkennen ist.
So sind im neuen Europa durch Berührung und Ver-
mischung verschiedener Rassen, wobei es wohl nicht immer
friedlich zugegangen ist, unter Austausch von Kulturgütern,
neue Völker entstanden. Was heutzutage die Völker trennt
sowohl wie einigt ist weniger die Rasse als die Sprache. Wenn
wir nun nachforschen, welche Sprachen in Europa ursprünglich
einheimisch gewesen sind, so kommen wir wiederum auf vier
nachweisbar ganz verschiedene Sprachen hinaus.
In der Gegenwart sind die der indogermanischen Gruppe
zugehörigen Sprachen in ganz Europa herrschend. . Aber es
läßt sich nachweisen, daß überall ehemals andere Sprachen
geredet wurden, abgesehen etwa von Norddeutschland, Skandi-
navien, Litauen und Rußland. In Spanien, in Frankreich, auf
den britischen Inseln, in Süditalien und auf Sizilien wurde im
Altertum iberisch gesprochen. In einigen Teilen Norditaliens
und Südfrankreichs saßen die Ligurer mit eigener Sprache, die
sich in zahlreichen Namen von Bergen und Flüssen bis ins
Rheinland nachweisen läßt. Die Balkanhalbinsel nebst den
griechischen Inseln hatte in vorhellenischer Zeit eine Ur-
bevölkerung, die Pelasger, Karier, Leleger, deren Sprache in
20*
308 Classen: Über Rassen u. Rassenmischungen in der Steinzeit Europas
vielen Ortsnamen erhalten ist und ihre Verwandten in Vorder-
asien hat. Dieselben Namen von Bergen und Flüssen kehren
in Griechenland, auf Kreta, in Kleinasien und in den rätischen
Alpen wieder.
Während von der ligurischen Sprache keine Reste mehr
lebend erhalten sind, — die für ligurisch geltenden Inschriften
sind noch nicht gedeutet, — lebt die Sprache der alten Iberer
in den baskischen Dialekten zu beiden Seiten der Pyrenäen
fort, und die Sprachen der Pelasger und Karer haben wahr-
scheinlich in Georgischen oder einer anderen kaukasischen
Sprache eine lebende Verwandte.
Wenn wir nun die heutigen Völker Europas anthropologisch
untersuchen, so werden wir in jeden derselben neben einer
vorwiegenden Hauptrasse mehr oder weniger deutliche Spuren
der andern drei Rassen finden. Allerdings nicht in dem Sinn,
daß nun in jedem Individuum die Züge verschiedener Rassen
ausgeprägt waren, — es gibt auch jetzt noch viel reinrassige
Menschen; — sondern das Charakterbild einer Nation setzt
sich zusammen aus den verschiedenen Charakterzügen ihrer
Rassenbestandteile.
Die Rassen unterscheiden sich nicht nur durch Schädel-
gestalt und andere körperliche Merkmale, sondern auch durch
geistige Eigenschaften; jede Rasse hat ihre besonderen Anlagen,
Begabungen und Neigungen. Das Schicksal eines Volkes, die
Stellung, die es in der Kultur einnimmt, und die Rolle, die er
in der Geschichte spielt, erklären sich aus seiner Rassen-
zusammensetzung, und es ist eine reizvolle Aufgabe für den
Historiker, solches aus den Schicksalen eines Volkes im einzelnen
nachzuweisen, ebenso wie der Biograph versucht, den Charakter
eines Helden aus seiner Abstammung verständlich zu machen.
Denn große Männer sind selten reinrassiger Herkunft, sondern
aus einer glücklichen Mischung verschiedener Rassenanlagen
hervorgegangen.
Sg
ХАЛАС АК АС
„SÜNDE“, SEKRETION UND SÜHNE.
Von Landgerichtsrat Dr. OTTO GOLDMANN.
р" modernen Kriminalisten interessiert angesichts der jetzigen
Hochflut von Verbrechen mehr denn je die Frage: woher
kommt die Sünde, die strafbare Untat?
1. Ist sie lediglich eine Folge der Umgebung, der Er-
ziehung des Täters?
2. Ist der verbrecherische Wille, ist die Neigung, Straf-
taten zu begehen, vererbt, angeboren? Unterfrage: bei
allen Menschen ohne Ausnahme („Erbsünde“)? So daß der
Grad und die Stärke von „Hemmungsvorstellungen“ ausschlag-
gebend sind. Oder gibt es „sündlos geborene“, die aus
anderen Gründen später straffällig werden?
Diese Fragen lassen sich weder mit Ja noch mit Nein
unbedingt beantworten. Sie entscheiden zu können, würde
bedeuten, „Welträtsel“ gelöst zu haben. Wir können nur aus
langer Beobachtung, Erfahrung und Statistik Schlüsse ziehen,
gewisse Regeln aufstellen um — beim nächsten Fall schon
einzugestehen, daß wieder eine Ausnahme vorliegt.
Oft hörte ich Psychiater sich äußern: „Der Angeklagte ist
erblich belastet. Sein Vater war Trinker. Eine Tante ist in
der Irrenanstalt gestorben. Wir wissen nicht, ob der An-
geklagte die Tat auch begangen hätte, wenn diese Umstände
nicht gegeben wären. Es dürfte daher mindestens eine ver-
minderte Zurechnungsfähigkeit anzunehmen sein.
Hierzu möchte ich bemerken: Wenn es schon richtig ist,
daß kranke Zellen oder Keime der Voreltern sich vererben
und die Psyche ungünstig beeinflussen, wie nun wenn irgend
ein Vorfahr des Angeklagten vor 100 oder gar 200 Jahren ein
noch viel schlimmerer Trinker war, als der Vater des An-
geklagten? Denn auch von jenem Vorfahr trägt er Keime
oder Zellen mit sich herum!
Wie weit geht überhaupt diese Vererbung? In welchem
Jahrtausend seit Entstehung des Menschen ist von diesem
Ur-Menschen an durch Vererbung übertragenen Keimen in der
späteren Menschheit nichts mehr vorhanden? Es wird immer
noch etwas vorhanden sein, ‚sage ich, denn jeder Mensch
310 Goldmann: Sünde, Sekretion und Sühne
entstand aus dem Stoffe von Menschen. Es verhält sich da-
mit wie in der Chemie. In einem Gemengsel ist ein be-
stimmter Ur-Stoff trotz späterer Zutaten und Beimischungen
theoretisch immer noch nachweisbar, wenn auch zuletzt nur
nach milliardstel von Bruchteilen.
So tragen wir alle noch Reste der Ur-Menschen in uns
und ich behaupte, daß die Mehrzahl dieser Keime einst nicht
sittliche und edle, sondern egoistische, gewalttätige, tierische,
animalische waren. So äußert sich denn der heutige Kampf
ums Dasein, der Kampf um mein und dein, der Kampf des
Männchens um das Weibchen noch als Folgeerscheinungen
der Bedingungen und Zustände, unter denen die Ur-Menschen
ihr Leben fristen mußten — — umheult von noch echten
Tieren, befehdet von Mensch-Übergangstieren und in streit-
süchtigem, materiellem Ausgleichsverfahren stehend mit eben-
falls schon Mensch gewordenen. Dies nur ein Stimmungs-
bil. Ob es wissenschaftlich richtig ist, ob diese drei
Gattungen gleichzeitig existierten, bleibe künftiger Forschung
vorbehalten. Bisweilen findet man ja wieder in tiefen Erd-
schichten einen alten Schädel, ein paar Knochen, und der
Gelehrtenstreit: schon Mensch oder noch Tier? erhebt sich
aufs neue. Ich darf daher getrost noch mein Stimmungsbild,
das allerdings nicht biblisch ist, vorführen.
Jedenfalls war der Ur-Mensch kein Engel. Mord war für
ihn meist „Notwehr-Akt“. Diebstahl und Raub wurden durch
einen „Notstand“ entschuldigt. Und Mädchenraub, Verführung,
Notzucht oder Einbruch in ein eheähnliches Verhältnis wurden
durch einen Trieb ausgelöst, der elementar dem Geschlechts-
leben entsprang, der unwiderstehlich war und der sicher stets
zur Anwendung des 8 51 des Strafgesetzbuchs geführt hätte.
Solche Keime leben noch in uns. Das sehen wir jeden
Tag, obwohl seitdem Erden verschwunden sind, Meere sich
neu gebildet haben und die Maxime der reinen oder kritischen
Vernunft eigentlich alles beherrschen müßten. Im Grunde ge-
nommen ist alles beim alten geblieben. Nur etwas kultivierter
und verfeinerter geworden. Aber das Tier, der tierische
Instinkt, der atavistische Urtrieb bricht bei dem einen oder
anderen von Zeit zu Zeit wieder durch, auch bei bester Er-
ziehung usw.
Könnten wir es sonst verstehen, daß zum Beispiel ein
Sohn bester Familie, von gesunden Eltern, in völlig aus-
reichenden Vermögensverhältnissen eine Straftat, ich will ein-
mal annehmen eine Unterschlagung begeht? Die Tat ist
Goldmann: Sünde, Sekretion und Sühne 311
„allen unverständlich“. Der Psychiater wird — nicht zuletzt
— bemüht und nimmt den Missetäter unter die verschiedensten
Lupen seines wissenschaftlichen Rüstzeugs, um — nichts zu
finden. Man pflegt dann zu sagen: die Hemmungsvorstellungen
waren nicht stark genug, um den verbrecherischen Anreiz zu
unterdrücken. Hieraus macht man dem Betreffenden einen
Vorwurf, denn man bestraft ihn ja, man muß ihn bestrafen.
Aber — und nun kommt mein aber: wenn dieser Mensch
den verbrecherischen Anreiz nicht unterdrücken konnte in-
folge ungenügender Hemmungsvorstellungen, weil nämlich in
seinem System sich noch mehr unsittliche als sittliche ata-
vistische, vererbte Urtriebe befanden, was konnte er dann
hierfür?
Ich weiß, daß bei Verfolgung dieser Theorie eigentlich
alle Verbrecher straflos bleiben müßten. Dies zu propagieren,
ist keineswegs meine Absicht. Ich wollte nur einerseits die
allzueifrigen Anhänger der kriminellen Vererbungs- und Ent-
schuldigungspraktik ad absurdum führen, andererseits aber
den Weg ebnen zur Stellung einer weiteren Frage, da wir
doch bemüht sind, Gründe für den Ursprung der strafbaren
Untat zu finden.
3. Kann die Kriminalpsychologie die Lösung finden auf
dem Wege der Prüfung der Körperbeschaffenheit des
Täters?
Ein Lombrosoanhänger? Nein, das bin ich nicht. Die
Lehre vom „geborenen Verbrecher“, dem man jeden einzelnen
Tatbestand des Strafgesetzbuchs gewissermaßen schon an der
Nasenspitze ansehen kann, ist bekanntlich (von Ausnahmen
abgesehen) längst als untrügliches System verworfen worden.
Eine englische Kommission hat zum Beispiel festgestellt, daß
die Nachkommen von elenden Arbeiterfamilien, welch letztere
man in günstigste Verhältnisse verpflanzt hatte, den Kindern
Wohlhabender in jeder Beziehung glichen, also nicht mehr
„Verbrecherphysiognomien“ aufwiesen, die den Eltern so oft
den Stempel „reif fürs Zuchthaus“ aufdrückten. Also: der
schlechte körperliche Charakter ist während des Einzellebens
im allgemeinen erworben, nicht angeboren, also auch nicht
vererbbar. Unterfrage: Ist etwa ein in niederster sozialer
Schicht erworbener körperlich minderwertiger Charakter die
Ursache einer Mißbildung der Psyche im verbrecherischen
Sinne, so daß er diese gewissermaßen „spiegelt?“
Auch dies nicht. Es gibt Tausende körperlich minder-
wertiger Menschen, deren Haltung und Angesicht keineswegs
312 Goldmann: Sünde, Sekretion und Sühne
dem idealen Schönheitsbegriffe entspricht, und die sich doch
nie strafbar gemacht haben. Umgekehrten Falles müßte man
doch sonst bei einem abstoßend häßlichen Menschen, der in
den besten Verhältnissen lebt, jeden Augenblick auf die „längst
fällige Untat“ warten können!
Weshalb also dann „Prüfung der Körperbeschaffenheit?“
Ist es etwa nicht die äußere Form, sondern das Innere des
Menschen in anatomischer, physiologischer Hinsicht, das ge-
prüft und gegebenenfalls als Verursacher der „Sünde“ ver-
antwortlich gemacht werden könnte?
Es ist so. In vielen Fällen wenigstens. Denn „Welt-
rätsel“ zu lösen wird auch auf diesem Wege nicht gelingen.
Nur etwas mehr Klarheit für die Kriminalpsychologie wird
erbracht, wenn man die neuesten Forschungen verfolgt und
ihre Tragweite überlegt.
Es handelt sich um die Lehre von der sogenannten
inneren Sekretion der menschlichen Organe. Deren in das
Blut oder das Nervensystem abgegebenen Sekrete sind von
ungeheurem Einfluß auf die Psyche, auf das Tun und Lassen.
Mithin auch auf das kriminelle Wohl- oder Übelverhalten.
Man spricht von Hormonen, das sind Drüsensekrete,
die eine anreizende Tätigkeit ausführen, und von Chalonen,
solchen, die eine hemmende, erschlaffende Wirkung auf das
System des Menschen ausüben.
Viele Erfahrungen, zum Teil auch schon praktisch ver-
wertet (Steinach!) hat dieser Teil der Wissenschaft schon
gesammelt. Wir wollen im nachfolgenden jedoch nur die-
jenigen aufführen, welche für den Kriminalisten Neuland, aber
verwertbares Neuland sein können.
Die Erscheinungen der Homosexualität sind hinlänglich
bekannt, Da aber das Strafgesetzbuch mit seinem mehr be-
rüchtigten als berühmten § 175 die männlichen Homosexuellen
unter Strafe stellt, scheint der damalige Gesetzgeber doch
wohl angenommen zu haben, daß es sich um eine durch
Hemmungsvorstellungen unterdrückbare Neigung handelt. Der
moderne Arzt und Forscher sagt uns aber heute: die Ursache
liegt tiefer. Die Drüsensubstanz dieser Menschen ist nicht
normal. So beeinflussen ihre Sekrete die Psyche und sind
die Ursache des Verstoßes gegen das Strafgesetz. Мап ist
sogar auf dem Wege, nicht etwa durch Richterspruch, sondern
mittels Operation, Einpflanzung normaler Hodensubstanz, einen
Homosexuellen auf die sexuelle Norm „zurückzukorrigieren“.
Man rufe also lieber den Chirurgen, als den Staatsanwalt!
Goldmann: Sünde, Sekretion und Sühne 313
Zwang zur Operation aus staatspolitischen Gründen? Schnell
über diese Frage hinweg!
Bei den Eunuchen — wir leben zwar in Deutschland,
aber die Fälle sind leider nicht selten, wo der Krieg Männern
schwere Verletzungen der Zeugungsorgane gebracht hat —
nimmt der Körper nicht etwa die Eigentümlichkeiten des
anderen Geschlechts an (man glaubte früher wegen der hohen
Stimme an diese Möglichkeit), sondern der Körper wird asexuell.
Ein Mann ohne diese Organe, mithin ohne Sexualsinn ist kein
vollwertiger Mensch, weder seelisch, noch demzufolge kriminal-
psychologisch. Der Kastrat wird verschlossen, mißtrauisch.
Er neigt zu asozialem Verhalten. Damit ist eine Quelle für
manche strafbare Untat geöffnet. Inwieweit strafbar, muß
der Arzt entscheiden.
Ein überaus wichtiges Organ ist die Hypophyse, der so-
genannte Hirnanhang. Das Sekret seines hinteren Lappens,
das Pituitrin, verstärkt und erhöht den Blutdruck, verstärkt die
Herztätigkeit. Erhöhte Sekretion könnte also die Ursache
mancher Affekt-Untat gewesen sein.
Vergrößert sich die Hypophyse krankhaft, abnorm, so
entsteht der Riesenwuchs, der sogenannte Gigantismus. Ich
weiß nicht, ob in Schaubuden ausgestellte „Riesen“ nach
ihrem Tode seziert worden sind, aber sicher hätte der Ge-
hirnbefund die Ursache des anormalen Wachstums ergeben.
Und die Ursache für noch manches andere bei Lebzeiten.
Mit dem Gigantismus ist nämlich meist auch psychischer In-
fantilismus verbunden, kindliches Zurückbleiben der Psyche,
die bei Straftaten solcher Riesen mehr den Arzt, als den
Strafrichter interessieren müßte. Über den Kretinismus siehe
weiter unten.
Fehlt die Zirbeldrüse (Epiphyse), die nicht etwa, wie man
in alten Zeiten annahm, „Sitz der Seele“ ist, sondern lediglich
als Organ neben der Hypophyse sitzt, so wird bei Männern
eine frühzeitige Entwicklung der Geschlechtsmerkmale be-
obachtet. Damit ist oft ein geistiges Zurückbleiben verbunden.
Geschwülste der Epiphyse rufen oft ein vorzeitiges Wachstum
der Geschlechtsorgane hervor. Diese Feststellungen konnten
gemacht werden bei zwei jugendlichen Söhnen bester Familien
in Leipzig, von denen der eine im Jahre 1902 ein achtjähriges
Judenmädchen nach oder bei einem Sittlichkeitsverbrechen er-
mordet und in eine Kiste gepackt, der andere, selbst minder-
jährig, eine Minderjährige verführt hatte. Beide Missetäter
gingen straffrei aus. Nicht weil sie Söhne achtbarer Eltern
314 Goldmann: Sünde, Sekretion und Sühne
waren, sondern — weil die ärztliche Wissenschaft schon
damals ahnte, was wir jetzt wissen. Es lag Unzurechnungs-
fähigkeit vor, weil sicher die Epiphyse erkrankt war. (Der
Freisprechung des ersten Falles konnten wir uns nicht an-
schließen. Die Schriftl.)
Beim Fehlen oder bei Unterentwicklung der Schilddrüse
tritt geistige Verblödung (Kretinismus) ein. Somnolenz und
Apathie werden hervorgerufen durch Störung der Funktion
der Schilddrüse. Bei Überproduktion dieser Drüse tritt er-
höhte Reizbarkeit ein, besonders bei Frauen ganz plötzlich
nach heftigen Gemütserregungen. Begeht daher eine Frau
nach solchen eine Affekt-Untat, so wird der Grund hierzu
sehr oft in dieser Drüsentätigkeit, nicht in „einem verbreche-
rischen Willen“ zu finden sein.
Außerordentliche Bedeutung kommt den, den Nieren an-
gelagerten Nebennieren zu. Ihr Sekret ist das Adrenalin oder
Suprarenin, das an das Blut abgegeben wird. Es beschleunigt
den Pulsschlag, verengt die Blutgefäße. Eine Hyper(Über)
Sekretion steigert die geschlechtliche Begierde. Das Cholin
andererseits, das Rindensekret der Nebennieren, wirkt dem
entgegen, indem es den Blutdruck herabsetzt. So sind die
Nebennieren und ihre Tätigkeit für das Geschlechtsleben und
alle mit ihm zusammenhängenden Handlungen von besonderer
Bedeutung. Ihre beträchtliche Vergrößerung hat eine mächtige
Entwicklung der Frühreife zur Folge. Diese ist zu beachten
bei Sittlichkeitsdelikten Jugendlicher. Bei Anomalien der Neben-
nieren treten allerlei geschlechtliche Abnormitäten auf. Immer
wieder rückfällige Exhibitionisten müssen daher dem Straf-
richter entzogen und dem Arzt zugeführt werden. Ob Ein-
spritzungen mit Cholin „heilen“ können, wage ich allerdings
als medizinischer Laie nicht zu entscheiden, da sehr oft nicht
nur eine Erkrankung der Nebennieren, sondern eine tiefer
liegende Störung der Gehirnfunktionen vorliegen dürfte.
Jedenfalls ersehen wir aus den neuesten Forschungen, daß
keineswegs bei jeder Untat Vererbung, Not, Verführung oder
ungünstiges Milieu die Ursache zu sein brauchen, sondern
daß neue und gewichtige Erkenntnisquellen dem Laien, dem
Richter und dem Arzte auf dem Gebiet der Kriminalpsycho-
logie zu fließen beginnen. Seien wir begierig, diesen frischen
Born auszuschöpfen!
е2)
EINE ERKLÄRUNG
ZU ALTPERUANISCHEN GRABVASEN.
(Mit 1 Tafel.)
Von FERDINAND FRHRN. V. REITZENSTEIN, Dresden.
(Abteilungs-Vorstand am Institut für Sexualwissenschaft, Berlin.)
pe hat uns seine Kulturwelt hauptsächlich in einem uner-
meßlichen Schatze von Tonvasen hinterlassen, die zum Teil
sowohl in Form wie Farbe geradezu mustergültig durchgeführt
sind. Es gibt fast nichts, was hier nicht dargestellt wäre und
so ist denn auch das Sexualleben nicht nur häufig, sondern
auch sehr deutlich und ohne jeden Vorbehalt behandelt. Die
bezüglichen Vasendarstellungen haben schon mehrfach das
Interesse der Forscher erregt. Was uns veranlaßt, auf dieses
Thema zurückzukommen, ist eine Beobachtung, die sich an einigen
Gefäßen aus Chimbote machen läßt, von denen zwei der
charakteristischsten in unserer Tafel 3 wiedergegeben sind.
Beide zeigen uns die Verrichtung des coitus in anum (Hinter-
teil) in zwei Stellungen und bei beiden liegt vor dem Weibe in
höchst auffälliger Weise ein Wickelkind. Das Weib ist
also als Mutter, die noch nicht lange geboren, dar-
gestellt. Nun wissen wir, daß Naturvölker ihre Kinder nicht
nur selbst stillen, sondern dieses Geschäft sehr lange fortsetzen.
Wir erfahren beispielsweise von den nordamerikanischen
Indianerinnen, daß sie ihre Kinder bis zum 12., von den Eskimos
von King-Williams-Land gar bis zum 15. Lebensjahr trinken
lassen. Wichtig ist nun, daß sich während dieser Zeit der
Mann fast überall des geschlechtlichen Verkehrs mit
dem Weibe zu enthalten pflegt, da eine Schwängerung
während dieser Zeit nicht gewünscht wird. Im alten Peru wird
uns nun allerdings die Säugezeit nur auf 2 Jahre angegeben,
gegen die obigen Zeiträume sehr kurz, aber immerhin lang für
die Enthaltung vom geschlechtlichen Verkehr. Bei den meisten
Naturvölkern hat nun der Mann die Möglichkeit, seine Bedürf-
nisse anderweitig zu befriedigen. Auch bei den Peruanern war
das nicht ausgeschlossen. Es gab zunächst allerlei Jahrfeste,
316 Reitzenstein: Eine Erklärung zu altperuanischen Grabvasen
bei denen völlig freier geschlechtlicher Verkehr herrschte. So
erzählt Pedro de Villagomez, Erzbischof von Lima, daß man
ein altes Fest beging zur Zeit der Reife der Kal’tayfrüchte, was
im Dezember der Fall war, dabei fand ein etwa fünftägiges
Fasten statt, während dessen sich Männer und Weiber ganz
nackt an einer bestimmten Stelle der Obstgärten trafen. Man
veranstaltete einen Wettlauf nach einem bestimmten Hügel.
Welcher Mann nun dabei ein Weib einholte, hatte die Ver-
pflichtung, mit ihm ohne weiteres auf der gleichen Stelle zu
kohabitieren. Das Fest währte 6 Tage und 6 Nächte‘). Auch
Prostituierte, die man Pampayruna nannte, gab es im Lande.
Das wichtige daran war aber, daß sie sehr verachtet waren und
die Frauen keinen Verkehr mit ihnen haben mochten. Polygamie
war für den Inka selbstverständlich, für den Vornehmen gestattet,
während aber der Mann aus dem Volke schon bei Bigamie die
Todstrafe erlitt). Auch Ehebruch war schwer verpönt, wir
erfahren sogar, daß die Ehebrecherin gesteinigt wurde. Be-
denken wir nun, daß es kaum wieder ein Land gab, in dem die
Arbeit so exakt verteilt war wie im Inkareiche und daß man
infolgedessen sehr arbeitsam war, so blieb dem Manne aus dem
Volke außerhalb der Feste während der Säugezeit eigentlich
nichts anderes übrig, als der unnatürliche Weg des Geschlechts-
verkehrs, der coitus analis oder oralis. Beide Fälle finden wir
denn auch deutlich dargestellt und auch für den coitus oralis
in den erhaltenen Vasen genügend Beispiele. Den Hinweis auf
die Säugezeit zeigten aber nur unsere hier abgebildeten beiden
Vasen deutlich, denn nur die ganz bestimmte Absicht, den Grund
des unnatürlichen Verkehrs anzugeben, kann den Künstler ver-
mocht haben, das Wickelkind neben die Frau zu legen. Man
scheint also durch die Darstellung des Kindes den Zweck des
coitus analis, nämlich die stillende Frau schonen und eine Neu-
schwängerung vermeiden zu wollen, betont zu haben. Nun
hat uns Brüning eine Reihe von Stellen aus der altperuanischen
1) Villagomez Carta pastoral de exortacions è instruccion Fol. 47 bei
Tschudi, Beiträge z. Kenntnis des alten Peru; Wien 1891. S. 26. Vergi.
Dulaure, Die Zeugung usw., hrsg. von Krauss, Reiskel u. Ihm, S. 273 ff.
*) Bericht des Fra Cristobal de Castro u. Ortego Morjan an den
Vizekönig Mendoza in Relacion y declaracion del modo que este valle de
Chincha ... y se hizo en el año 1558 manusc. bei Brehm, Das Inkareich,
Jena 1885. S. 96.
318 Reitzenstein: Eine Erklärung zu altperuanischen Grabvasen
und von seinem 20. Lebensjahr ab in Spanien erzogen, wo er
unter Don Juan d’Austria gegen die Reste der Mauren in Spanien
kämpfte. Wir kennen ihn auch sonst als ausgesprochenen
Christen, von dem man voraussetzen muß, daß er viel christ-
liche Denkweise in seine Darstellung einfließen ließ, besonders
dort, wo sich ihm halbwegs ein Anhaltepunkt bot. Und dies
war hier sicherlich der Fall. Die Inkaherrschaft war eine der
größten Militärherrschaften, die die Welt je gesehen hat und so
natürlich Gegnerin jeder Beschränkung der Kinderzahl. Wir
dürfen also annehmen, daß tatsächlich seitens der Inka gegen
die volkszahlbeschränkenden Maßnahmen ein starker Kampf
geführt wurde, den aber Garcilaso im christlich-moralistischen
Sinn aus deutete. Jedenfalls darf man nicht vergessen, daß die
höhere peruanische Kultur an sich der Vorinkazeit angehörte.
Da unsere Betrachtung sich nicht mit der Päderastie als solcher
beschäftigt, sondern nur mit dem coitus in anum bei jungen Müttern,
scheidet die Frage über die Päderasten als solche aus und wir
wollen nur die Gründe des Vorgehens bei stillenden Frauen unter-
suchen. In diesem Falle wäre als „Mutterschutz“ die Handlungs-
weise der Eingeborenen doch etwas anders zu beurteilen als es
Garcilaso vom rein moralistischen Standpunkt aus tut. Jeden-
falls war aber den Frauen die Sitte an sich nicht angenehm,
wie wir aus dem Memoiren des Montesino ersehen‘). Dort
heißt es, daß 4000 Jahr nach der Sintflut die „Unzucht“ in Peru
aufs höchste gestiegen gewesen und die Päderastie zur Staats-
sünde geworden wäre. Die Frauen beklagten sich bitter
über das ihnen zugefügte Unrecht, bis zuletzt eine tapfere
Frau den Anlaß gab, die Inkadynastie zu gründen (!!). „Die
das Unglück am herbsten fühlten, das waren die Frauen, weil
sie sahen, dad man der Natur den Zuwachs und ihnen
das Vergnügen entzog. In ihren Versammlungen verhandelte
man von keiner anderen Sache, als von dem unglücklichen Zu-
stande der geringen Achtung, in den sie gelangt waren; sie
brannten vor Eifersucht, sehend, daß sie sich unter Männern
die Gunstbezeichnungen und Liebkosungen teilhaftig werden
ließen, die nur ihnen zukamen; sie gaben und nahmen Mittel
zur Abhilfe, gebrauchten Kräuter und Listen, aber es half nichts,
1) Montesino Memorias Antiguas Historiales y Politicas del Peru ed.
Marcos Jiménez de la Espada in „Collección de Libros Españoles rares ó
curiosos Madrid 1882.
Reitzenstein: Eine Erklärung zu altperuanischen Grabvasen 319
die freie Willkür umzuändern.“ Montesino berichtet dann, die
Frauen seien unter Führung eines Weibes aus königlichem Ge-
schlechte, Manca Ciuaca, gestanden, deren zwanzigjähriger Sohn
Roca Führer der Bewegung wurde und von seiner Mutter durch
Intriguen zum Herrscher von Cuzko (also zum Inka) gemacht
worden sei. Aber noch unter dem 5. Inka (Sinchi Roca) wird
berichtet, daß damals die Könige die Päderastie wenig gehindert
hätten, um nicht das Mißfallen ihrer Untertanen zu erregen.
Die Frauen aber hätten mit Liebeszauber gearbeitet und viele
Männer vergiftet. Man wird aus dieser Darstellung heraus-
schälen können, daß die Inkadynastie (die natürlich nicht in
dieser Weise auf den Thron kam) ursprünglich gar nicht daran
dachte, gegen diese Sitte vorzugehen, daß sie dann aber durch
den großen Menschenverlust, den ihre Raubkriege mit sich
brachten, gegen jede Beschränkung der Kinderzahl einschritten
und dabei bei den Frauen, die nach Art jeder Frauenbewegung
nur geschlechtsegoistische Interessen hatten, Anerkennung fanden.
Aus einer Reihe von Berichten, die etwa um 1570 der Vizekönig .
Francisco de Toledo über das Vorkommen der Päderastie (also
unter christlicher Herrschaft) anfertigen ließ'), ersehen wir, daß
die Sitte hauptsächlich unter den Collas im Hochland und unter
den Küstenbewohnern grassierte. Brüning vermutet mit Recht,
daß unter dem Namen Chinichaychumgo, wie eine solche Küsten-
gegend genannt wird, wohl der Name Chinchaysuyu, wie das
ganze Nordgebiet des Inkareiches genannt wurde, steckt. Es
ist überaus charakteristisch, daß man jene Männer, die sich
zur Päderastie hergaben und die man Orua nannte (= Mann,
welcher als Weib dient) nicht bestraft, sondern verlacht wurden,
während der andere Teil eine sehr schwere Strafe zugeteilt bekam.
Der Päderast wurde mit großer Menge von Salz neben einen
Wasserfall gebracht, an einen Hund angebunden und so in den
Fluß geworfen, wo er ertrank.
Ähnliches gilt für den coitus oralis, soweit er mit Frauen
ausgeübt wird.
Wir dürfen also annehmen, daß auf Grund der Darstellungen
im alten Peru eine und zwar mit Recht eigenartig anmutende
Form von Geschlechtsverkehr bestand, die aus Gründen der
Beschränkung der Kinderzahl geübt wurde, den Frauen aber nicht
1) Coloccion de Documentos inéditos del Archivio de Indias. Bd. XXI.
320 Reitzenstein: Eine Erklärung zu altperuanischen Grabvasen
angenehm war, weil sie „ihnen das Vergnügen entzog“, das sie
demnach höher einschätzten, wie die immerhin beachtenswerte
Form des Mutterschutzes. Denn es ist nicht anzunehmen, daß
für den Mann ein besonderer sexueller Reiz darin gelegen wäre,
in weitergehendem Grade den coitus analis oder oralis beim
Weibe zu suchen, als eben aus dem Grunde, daß er tatsächlich
die Kinderzahl beschränken wollte. Ganz anders zu beurteilen
ist natürlich die Sitte des coitus analis bei Männern oder Knaben,
von dem wir aus den gleichen Quellen hören, daß er ebenfalls
sehr verbreitet war. Oviedo!) erzählt z. B., daß in der Provinz
Cuevas von verschiedenen Vornehmen zum großen Ärger der
Frauen Knaben (Camayoa) gehalten wurden, die wie Weiber
gekleidet waren und drum häusliche Arbeit verrichteten. Das
gleiche berichtet Francisco de Toledo?) von den Bewohnern von
Collao. Dort hätte es Indianer gegeben, die wie Weiber ge-
kleidet und geschminkt einher gingen und die Päderastie aus-
übten. Von Interesse ist weiterhin, daß Indianer dem Cristöbal
Vaca de Castro, der darüber am 24. Nov. 1542 an Karl V. aus
Cuzco schrieb, erzählten, diese Päderasten seien für reisende
Indianer da, damit sie die Frauen der Orte, durch die sie kämen,
nicht belästigen®?). Ganz besonders auffällig aber ist die Notiz
bei Pater Calancho (Mitte des 17. Jahrh. Prior des Augustiner-
klosters in Guadelupe, Prov. Tacasmayo)*): Die Indier der Küsten-
täler waren der Päderastie sehr ergeben, und heute (Mitte des
17. Jahrh.) seien sie nicht frei davon, nur mit dem Unterschiede,
daß jetzt die passive Person die Frau ist, während es früher
in ihrem Heidentum der Mann war, in dem sie so mit dem Ehe-
stande diesen Verrat an der Natur verdeckten. Demnach würde
also die uns interessierende Form erst später aufgekommen sein,
was unsere Meinung über ihren Zweck nur unterstützen könnte.
1) Oviedo, Historia General y Natural de Indias. Tom. Ill, Lib. XXIX,
cap. XXVII.
*) Colleccion de Libros Españoles raros y curiosos, tom. XVI, pag. 199.
3) Pedro Sarmiento de Camboa, Geschichte des Inkareiches ed. R.
Pietschmann. Seite LXXXVIII.
*) Corönica moralizada del Orden de S. Augustin en el Peru, cap. Il.
SS
Geschlecht und Gesellschaft
Neue Folge XI, 11
Tafel I
Mädchenbildnis. Persische Malerei um 1500. (Sammlung L. Cartier, Paris.)
(Zu v. Reitzenstein: Liebes- und Eheleben im Islam.)
AUS DEM LIEBES- UND EHELEBEN
DER MOSLEMINEN.
Von FERD. FRHR. v. REITZENSTEIN, Dresden.
(Mit 3 Tafeln und 4 Abbildungen.)
„Der Abend wie lau und die Wiesen wie grün,
Ulmengezweig wieget die Luft,
asmin und gelbe Narzissen blühn,
nd die Halden entlang die Rosen glühn. —
Die Näh’ und Weite schwimmen in Duft.
Da wird den Mauren das Herz bewegt,
Seliger Zeiten gedenken sie,
Wo sie Haurans schlanke Gazellen erlegt,
Wo sie Märchen gelauscht und der Liebe gepflegt:
Und die Palmen geschaut von Engadi“.
So singt unser nun auch heimgegangener Paul Heyse. Nicht
nur die Mauren Spaniens, nicht nur Paul Heyse empfanden
diesen feinen, unendlich zarten Reiz des Orients; jeder von
uns trägt davon Akkorde in seiner Brust. Dem bestrickenden
Zauber der Märchen von 1001 Nacht hat sich niemand ent-
ziehen können, der sie gelesen hat. Wer paradiesisches Leben
malen will, gebraucht die Farben des Orients und er tut es
nicht mit Unrecht. Die Farbenpracht der Bauten, die der
starke Duft orientalischen Parfüms durchzieht, die umwebt sind
vom Märchenhauche langer Jahrhunderte, umwuchert von einer
niegeschauten Blütenpracht, durch die Menschen wandeln, deren
Leben erfüllt wird von einer seltsamen Ruhe dieses bestrickenden
dolce far niente mit seinen einfachen und doch unendlich feinen und
vielfältigen Genüssen, zieht uns in seinen Bann, dem wir nicht
entfliehen können. Gerade wir Nordländer, mit unserem harten
Klima und unserer hastigen, nie befriedigten Lebensweise sind
am begierigsten, in dieses bunte Kaleidoskop des Orients zu
blicken, der Deutsche allen voran; wie unsern Vorfahren der
Zauberglanz des goldenen Rom blendete, so richten wir, ihre
Epigonen, unsere Blicke mit Vorliebe nach der Levante. Jetzt
mehr denn je. Wir Deutsche, denen die Erforschung des
Orients so viel zu danken hat, sind heute aus diesen Gefilden
ausgeschlossen und der Orient sieht in unseren Feinden
auch die seinigen, in Kämpfen für ähnliche Ideale, die der
21
322 Reitzenstein: Aus dem Liebes- und Eheleben der Mosleminen
gemeinsame Feind, der Engländer, mit geringen Ausnahmen
unfähig, sich zu ihnen zu erheben, mehr und mehr seinen arm-
seligen Krämergeiste opfern möchte, aus denen er bereits eine der
schönsten Perlen, die Insel Phylä*) brach. Und doch, wie
falsch sind zumeist die Vorstellungen, die wir vom Oriente
in unserer Heimat finden, besonders im Liebesleben. Was
stellt man sich nicht alles unter den Schlagworten Harem und
Vielweiberei vor! Da ist es sicherlich recht angebracht, einiges
darüber zu schreiben.
Das heutige mosleminische Leben baut auf auf der Welt
der alten Araber; kaum der Wiege entsprungen, nahm es gierig
die Reste der altägyptischen, persischen und byzantinischen
Kulturwelt auf und verschmolz sie zu einer Einheit, die zweifels-
ohne eine der schönsten Blüten am Kulturstamm der Mensch-
heit ist. Nordarabien, das etwa um 500 vor unserer Zeit-
rechnung der Erbe der südarabischen uralten Kultur wurde,
brachte zugleich mit einem Blütenregen prächtiger Poesie
(Hamäsa) den Koran hervor. Mohammed, einer der Haupt-
verkünder der neuen Lehre, gilt heute als ihr Stifter. Der Islam
ist keine einseitige weltfremde Spekulation, sondern trägt dem
Volksbewußtsein und der alten nationalheimischen Entwick-
lung völlig Rechnung. Die gesunde menschliche Natur kommt
überall zu ihrem Anteil. Keine übertriebene Askese bekämpft
die menschlichen Rechte, wohl aber ist ein edler Kampf gegen
verderblichen Luxus, eine Erziehung zur Mäßigung und Edel-
mut das Grundprinzip dieser Weltreligion. Heute gliedert sich
der Islam in zwei große Gruppen, die Schiiten und die
Sunniten; die Schiiten entsprangen dem nationalen Haß der
Perser gegen ihre Eroberer, die Araber; sie erkennen die drei
ersten Kalifen nicht an und verwerfen daher auch deren Tradi-
tion, die Sunna, die der übrige Islam nächst dem Koran als
Hauptglaubensschrift betrachtet und sich darnach nennt. Diese
Tradition baute nur auf mündlichen Überlieferungen auf. Dabei
unterschied man zwischen dem Überlieferungsstoff der von
„Gefährten des Propheten“ und solchem, der von den Täbiy,
d. h. den „Nachkommen“ stammte. Die „Gefährten“ waren
also Menschen, die noch persönlich mit Mohammed verkehrt
*) Durch das Nilstauwerk englischer Krämer ist dieses Schatzkästchen
der Welt größtenteils unter Wasser gesetzt und geht seinem Untergang
entgegen.
Reitzenstein: Aus dem Liebes- und Eheleben der Mosleminen 323
hatten, die Nachkommen hingegen lebten z. Z. der auf ihn
folgenden Generation. Für unsere Zwecke aber wird noch
eine weitere Quelle wichtig, nämlich die Entscheidungen, die
den drei ersten Kalifen (Abu Bekr, Omar und Othman) zuge-
schrieben werden und die man als Atär bezeichnet. Die Auf-
zeichnungen sollen, besonders auf den Aussagen der Witwen
Mohammeds aufbauend, hauptsächlich von 7 Rechtsgelehrten,
die man die „Sieben von Medina“ nannte, gemacht worden
sein. So entstand die Schule von Medina, deren Rechtswelt
auf Koran, Sunna und Atär aufbaute, aber schon frühzeitig in
etwa 80 Sekten zerfiel, von denen sich im Laufe der Zeit vier
weitergehende Anerkennung errungen haben und noch heute
bestehen. Ihre Stifter waren: Abu Hanyfa, Malik Ibn Anas,
Mohammed esch Schafiy und Achmed Ibn Hanbal. Im Wesent-
lichen unterscheiden sich diese Sekten durch ihre Auffassung
in wie weit die Vernunft gegenüber der Tradition als giltig
zuzulassen sei, also in wie weit die Vernunft gegenüber dem
blinden Glauben zu Recht bestehe. Abu Hanyfa wurde als
Enkel eines persischen Sklaven 699 in Kufa geboren; als
Gegner abbassidischer Kalifen starb er 762 im Kerker, so daß
sein System erst durch seinen Enkelschüler Mohammed asch
Schaibäny abgeschlossen werden konnte. Es ist in bezug auf
die Vernunftfrage zweifelsohne das freieste aller islamitischen
Systeme, denn es wird unbedingt anerkannt, daß der freien,
vernunftmäßigen Logik innerhalb der religiösen Literatur und
des Rechtes ein starker Einfluß zuzubilligen sei. Man bezeichnet
seine Anhänger als Hanefiten, besonders die heutigen Türken
und die türkischen Völker in Zentralasien gehören dazu; das
wichtigste Werk des hanefitischen Rechtes ist das Kompendium
des Kudury (f 1036).
Sind die Anhänger Hanyfas die freiesten Vertreter des
Islams, so sind die des Malik Ibn Anas (geb. 705, t 795)
zweifelsohne die rückständigsten, sie halten in der sklavischsten
Weise an der Tradition fest. Es erklärt sich wohl am besten
daraus, daß Malik Ibn Anas in Medina geboren und so direkt
unter den Einfluß der Schule von Medina geraten war. Seine
Anhänger verwarfen die Spekulation zwar nicht direkt, glauben
aber, in ihrem Hauptwerke „Mowatta“ genannt (= das Geebnete)
alles notwendige ein für allemal festgelegt zu haben. Die
Anhängerschaft (Malekiten) bildet die Bevölkerung von Nord-
21*
324 Reitzenstein: Aus dem Liebes- und Eheleben der Mosleminen
afrika (also Algier, Tunis, Marokko und der Sudan). Das geist-
liche Oberhaupt ist der Sultan von Marokko. Die fanatischste
Richtung allerdings wurde von Achmed Ibn Hanbal begründet
(Hanbaliten). Auch er verlegte sich ganz auf die Tradition
und nur dort, wo diese schweigt habe freie Forschung ein
Recht tätig zu sein. In fanatisch-orthodoxer Weise bekämpfte
er die freiere Weltauffassung der Kalifen, wütete gegen „Wein,
Weib und Gesang“, konnte aber nur in beschränkten Gebieten
Anerkennung finden; zunächst im Irak, dann aber im Inneren
von Arabien, wo die Lehre heute allein noch eine schwache
Anhängerschaft hat und vor etwa 100 Jahren in der Sekte der
Wahabiten nochmals zu einer fanatischen Genossenschaft auf-
lebte. Die erste Gruppe, die Anhänger des Mohammedesch
Schafiy, der übrigens der Lehrer Hanbals war, lassen die
Spekulation nur als strengen Vernunftschluß zu. Ihr Gründer
starb 820 und war ein Schüler Maliks. Seine Lehre stellt so
einen Übergang von der traditionellsten Schule seines Lehrers
Malik zu der des Aba Hanyfa dar und erfreut sich heute der
weitesten Verbreitung, denn Ägypten, Ostafrika, Syrien, Indien,
Ceylon, Afghanistan usw. und die islamitischen Malaien hängen
ihr an. Neben diesen sunnitischen Kreisen stehen wie gesagt
als große getrennte Gruppe die Schiiten; die Feindschaft der
Perser gegen die Araber war, wie oben erwähnt, unüberbrückbar
und als nun zwischen den Anhängern Ali’s und denen Moäwijas I.
um das Kalifat der Kampf ausbrach, traten die Perser natürlich
auf die Seite Alis. Der Kampf wurde bekanntlich zugunsten
Moäwijas entschieden, der nun der Begründer der Omaijaden-
dynastie wurde. Ali galt bei seinen Anhängern deshalb als
direkter Nachfolger und Erbe Mohammeds, weil er sein
Neffe, Adoptiv- und Schwiegersohn war, während die Witwe
Mohammeds, Aischa, in engster Verbindung zur Schule von
Medina stand, denn sie war die Tante des Orwa Ibn Zobair,
der einer der sieben Rechtsgelehrten dieser Schule war. Gerade
unsere Frage, Liebe und Ehe betreffend, wird natürlich von
den Auffassungen dieser Sekten besonders stark getroffen,
Bevor wir nun aber zur Schilderung des Liebes- und Ehe-
lebens des Islam übergehen, ist die Klarstellung verschiedener
Begriffe unserer Gebiete von besonderer Wichtigkeit. Zunächst
die Entwicklung der Stellung der Frau. Die falschesten
Ansichten herrschen ja gerade hier. Im alten Arabien war sie
Reitzenstein: Aus dem Liebes- und Eheleben der Mosleminen 325
die denkbar freieste; doch fehlte dem Liebesleben die rein
psychische Seite; es ist ein glühend-sinnlicher Kult. Das
Mädchen galt bei seiner Geburt zwar sehr wenig und wurde oft
getötet; sonderbar sind dabei aber die Motive; man hatte
Angst vor unebenbürtigen Freiern, da man darin eine besondere
Schmach erblickte. Das Schwergewicht lag auf dem Geschlechte
der Mutter. Kein Araber gab seine Tochter dem, der sie
offensichtlich angeliebelt hatte. Liebe zu jungen Mädchen war
daher unschicklich. Freilich war das an sich schwierig, da das
Mädchen bereits mit 12 Jahren verheiratet wurde. Alles Liebes-
leben und die gesamten prächtigen Lieder galten daher der
verheirateten Frau, aber nicht der eigenen Frau, sondern der
eines anderen, wobei für den Ehemann stets der Spott übrigblieb.
So hat die Poesie der vorislamischen Araber sehr häufig
die Schilderung solcher heimlichen Liebesszenen zum Gegen-
stand. Einer der berühmtesten Dichter dieser Zeit Imru al Kais*)
besingt eine derartige Liebesnacht:
Ich sandt’ ihr einen Boten in tiefer Winternacht,
Damit sie niemand höre, wenn sie sich aufgemacht.
Sie kam langsamen Schrittes, vorm Nachtweg bang, heran,
Und mit zwei Seiten streifte sie an vier Mägdlein an.
Die sie gelind antrieben, daß wie berauscht sie ging
Im Mark die Neige Schlummers, der sie noch erst umfing.
Sie sprach, als ich die Kleider ihr nahm, als ob ein Reh,
Schlanknackig, dunkeläugig du schrecktest auf vom Klee.
Beim Sterne deines Glückes, ja wär’ ein Bote mir
Gekommen außer deinen — doch was versagt ich dir?
Das Wild wich uns zur Seite, da lagen wir gestreckt,
Zwei Toten gleich, von denen die Spur ist unentdeckt.
Sie scheute zu berühren das Schwert am untern Rand,
Und breitet auf mich leise ihr streifiges Gewand.
Sie lehnte, wenn ein Schauer der Nacht sie überschlich,
An einer Unerschrock’nen und Goldnen Schulter sich.
Das Leben der Weiber hatte aber dabei einen recht freien
Zug angenommen, ja noch lange hielt sich im alten Arabien
die Meinung, daß es dem freien Weibe erlaubt sei, nach Be-
lieben Verkehr zu haben; ihre Kinder waren keine Bastards
und die Mutter wurde nicht bestraft. So konnte Hind, das
*) Ег war kurz vor Mohammed als Sohn des Stammeskönigs der
Benu Asad, Hodschr geboren. Als seine Familie die Herrschaft verlor,
ging er an den Hof des byzantinischen Kaisers Justinian, auf dessen Befehl
er übrigens meuchlings soll ermordet worden sein.
326 Reitzenstein: Aus dem Liebes- und Eheleben der Mosleminen
Weib des Abü Sofyän mit Recht zu Mohammed der
ihr Gesetze gegen die „Hurerei“ vorhielt, sagen: „Ein freies
Weib begeht keine Hurerei“. Anders werden die Verhältnisse
später, als der Islam die persische Frauenabsperrung und das
byzantinisch-christliche Eunuchentum übernahm. Lediglich im
Westen, bei Sarazenen und Mauren erhielten sich Reste der
alten Freiheit der Frau. Durch diese beiden Momente ging
das Frauenleben des Ostens in seinen Freiheiten unter und
zeitigte Auswüchse, zu deren Beseitigung erst in allerletzter
Zeit Ansätze gemacht wurden. Abgesehen von diesen be-
dauerlichen Errungenschaften, ist aber das Recht der Frau
manchmal ein größeres als das der Europäerin. Zwar muß
auch die mosleminische Frau dem Gatten überall hin folgen,
doch nicht unbedingt, wenn der neue Wohnsitz mehr als drei
Tagereisen entfernt ist. Bei Strafe muß der Mann seine Frau
wohlwollend behandeln, darf ihr im Falle eines Fehlers eine
Disziplinarstrafe geben, niemals aber Gewalt anwenden, während
bekanntlich verschiedene europäische Rechte die recht derbe
Züchtigung zuließen, oder es doch wenigstens bis vor kurzen
taten. Hat der Mohammedaner mehr Frauen, so muß er sie
gleichmäßig behandeln und wird strafbar, wenn er eine vor-
zieht. Ist er vermögend, muß er seinen Frauen auf Wunsch
sogar eigene Häuser gewähren; ihnen überhaupt alles bieten,
was sie gewohnt sind; er muß z. B. seiner Frau alle Dienerinnen
weiterhalten, die sie bisher zu haben gewohnt war; er muß ihr
Gesellschaft bieten und wenn sie sich zu einsam fühlt, sogar
eine andere Wohnung beziehen. Sind die Unterhaltungskosten,
die der Mann der Frau gewährt zu gering, so ist diese be-
rechtigt auf seine Verantwortung hin eine entsprechende Summe
zu leihen. Ganz selbständig verwaltet die Frau ihr Vermögen
und kann ebenso darüber verfügen. Der Mann darf nicht
einmal die Zimmer seiner Frau betreten, wenn diese Besuch
hat. Kann ein Mann mit seiner Frau keine Nachkommenschaft
erzielen, so kann er jemand bitten seiner Frau so lange bei-
zuwohnen, bis diese schwanger wird (nikah-el ästäbda). Die
Türkei hat heute übrigens ihre starke Frauenbewegung, die
dort eigentlich leichter ist, weil die Frau in ihren religiösen
Pflichten nicht so kontrolliert wird wie der Mann, außerdem
auch die Mädchen zumeist von europäischen Erzieherinnen
herangebildet werden. Die jungtürkische Bewegung hat dieses
Reitzenstein: Aus dem Liebes- und Eheleben der Mosleminen 327
Moment sehr gefördert. Da die Türkei nicht vom europäischen
Kuhhandel, der Mitgift, abhängig ist, kann gerade hier die
Frauenbewegung einmal sehr wertvoll werden, wenn sie nicht,
was ja auch nicht zu hoffen ist, in die Modetorheit der
krankhaften unerzogenen dafür aber nach Begriffen einer ge-
wissen Sorte „moralischen“ Engländerinnen verfällt oder gar
die krankhafte Richtung der „Mannweiber“ mit ihrer Lehre
von der doppelten Moral und ihrer Sucht nach männlicher
Tätigkeit und Berufen einschlägt. Für das Geschlechtsleben
des Orients sind einige Gebräuche besonders wichtig, die uns
mehr oder minder fremdartig erscheinen. Schon in vorislamischer
Zeit ging die Frau verschleiert Doch hat erst ein Miß-
verständnis einer Koranstelle unter persischem Einfluß, den
Frauenschleier (arab. qinä, türk. jaschmak) zur Pflicht gemacht.
Ursprünglich war er nur ein Schutzmittel gegen Zauber und
bösen Blick und konnte dort abgenommen werden, wo man
keine Sorge zu haben glaubte. Die heutige freidenkende Türkei
fängt ja auch bereits an, diese Schranke wieder zu durch-
brechen. Ähnlich wie die alte Ägypterin schminkt die
Mosleminin vielfach ihre Augenlider mit einem Präparat dunkel-
blau und färbt die Lippen gar mit Indigo. Die Augenschminke
ist eine Salbe, deren Hauptbestandteil Ruß eines aromatischen
Holzes, oder verbrannte Mandelschalen sind. Sie wird mit
einem Stäbchen aufgetragen und „das Kohl“ genannt Medi-
zinische Augensalben enthalten auch Blei oder Antimon.
Viele Bekennerinnen des Islam (besonders im schafiitischem
Gebiet) färben auch ihre Handflächen und die Füße gelbrot,
ebenso die Nägel. Dieser Farbstoff heißt Henna und wird
aus den Blättern der Lawsonia inermis hergestellt. Sehr wichtig
ist die Beschneidung; ihr muß sich jeder Moslem unter-
ziehen und zumeist auch das mohammedanische Mädchen.
Der Koran erwähnt sie zwar nicht, aber sie gilt als Verdienst.
Bei den Arabern geschieht sie durch Barbiere. Bei den Türken
wird der Knabe gewöhnlich im 12,—13, Jahre beschnitten, nicht
so sehr wie der Jude, da nur die Vorderpartien der Vorhaut
abgenommen werden. Man spricht dabei ein Glaubens-
bekenntnis. Die Perser vollziehen die Beschneidung oft schon
im 3.—4, Jahr. Bei den Mädchen werden die glans und das
präputium clitoridis abgetragen und die alten Araber hielten es
für sehr schimpflich, wenn es bei einem Mädchen nicht ge-
328 Reitzenstein: Aus dem Liebes- und Eheleben der Mosleminen
schehen wäre. Unter allen Umständen aber muß die Orien-
talin die Behaarung des mons veneris entfernen. Man
nennt dies hadschebi keschidew (sich dem Gesetzlichen unter-
ziehen), bei uns Epilation. Zu diesem Zwecke dient eine Salbe
(türk. rusma, pers. nureh genannt), die aus Auripigment, ge-
branntem Kalk und Rosenwasser zu gleichen Teilen besteht.
Sie bleibt einige Minuten auf der betreffenden Stelle und wird
dann sorgfältig abgewischt. Mit besonderen Ringen werden
die Haare sodann abgeschabt. Erst nach dieser Zeremonie ist
das Mädchen heiratsfähig.
Bevor wir nun zu einer Schilderung des Liebeslebens
selbst gehen, wollen wir uns einige Stellen des Koran an-
sehen, der nach Abschluß der altarabischen Periode nun gleich-
sam das offizielle Gesicht des Orients wiederspiegelt. Im Koran
ist die 4. Sure, geoffenbart zu Medina, den „Weibern“ gewidmet’).
1. © ihr Menschen, fürchtet euern Herrn, der euch er-
schaffen aus einem Wesen und aus ihm erschuf seine Gattin
und aus ihnen viele Männer und Weiber entstehen ließ. Und
fürchtet Allah, in dessen Namen ihr einander bittet, und eurer
Mutter Schoß. Siehe, Allah wacht über euch.
3. Und so ihrfürchtet nicht Gerechtigkeit gegen die Waisen
zu üben, so nehmet euch zu Weibern, die euch gut dünken,
(nur) zwei oder drei oder vier; und so ihr (бшсен dann)
fürchtet nicht billig zu sein, heiratet nur eine oder wer eure
Rechte (an Sklavinnen) besitzt. Solches schützt euch eher vor
Ungerechtigkeit. Und gebet den Weibern ihre Morgengabe
freiwillig. Und so sie auch gern etwas davon erlassen, so
genießet es bekömmlich und zum Wohlsein.
8. Die Männer sollen einen Teil von der Hinterlassen-
schaft ihrer Eltern und Verwandten empfangen und ebenfalls
sollen die Weiber einen Teil der Hinterlassenschaft ihrer Eltern
und Verwandten empfangen. Sei es wenig oder viel, sie sollen
einen bestimmten Teil haben.
12. Allah schreibt auch vor hinsichtlich eurer Kinder, dem
Knaben zweier Mädchen Anteil zu geben. Sind es aber (nur)
Mädchen, mehr als zwei, sollen sie zwei Dritteile der Hinter-
SES erhalten. Ist’s nur ein Mädchen, soll sie die Hälfte
aben.
13. Und euch sei die Hälfte dessen, was eure Gattinnen
hinterlassen, so sie kein Kind haben; haben sie jedoch ein
Kind, so sollt ihr den vierten Teil haben von ihrer Hinter-
1) Wir zitieren nach der unsern Lesern leicht erreichbaren Ausgabe
des Koran von Max Henning. (Leipzig, Reclam).
Reitzenstein: Aus dem Liebes- und Eheleben der Mosleminen 329
lassenschaft, nach Abzug eines etwa gemachten Legats oder
einer Schuld.
23. O ihr, die ihr glaubt, nicht ist euch erlaubt, Weiber
wider ihren Willen zu beerben.
24. Und so ihr eine Gattin gegen eine andere eintauschen
wollt und ihr habt der einen ein Talent gegeben, so nehmt
nichts von ihm fort.
26. Und heiratet nicht Frauen, die euere Väter ge-
heiratet hatten, es sei denn bereits zuvor geschehen. Siehe,
es ist eine Schande und ein Abscheu und ein übler Weg.
27. Verwehret sind euch eure Mütter, eure Töchter, eure
Schwestern, eure Vatersschwestern und Mutterschwestern, eure
Bruderstöchter und Schwestertöchter, eure Nährmütter und
Milchschwestern und die Mutter eures Weibes und eurer
Stieftöchter, die in eurem Schutze sind, von euren Weibern,
die ihr heimsuchtet. Habt ihr sie jedoch noch nicht heim-
gesucht, so ists keine Sünde. Ferner die Ehefrauen eurer
Söhne aus euern Landen; und nicht sollt ihr zwei Schwestern
zusammen haben, es sei denn bereits geschehen.
28. Und (verwehrt sind euch) verheiratete Frauen, außer
denen, die eure Rechte besitzt (= Sklaven und Sklavinnen).
Dies ist Allahs Vorschrift für euch. Und erlaubt ist euch
außer . diesem, daß ihr mit eurem Geld Frauen begehrt, zur
Ehe und nicht in Hurerei. Und gebet denen, die ihr genossen
habt, ihre Morgengabe.
29. Und wer von euch nicht vermögend genug ist,
gläubige Frauen zu heiraten, der heirate von den gläubigen
Sklavinnen, die seine Rechte besitzt; und Allah kennt sehr
wohl euern Glauben. Ihr seid eins vom andern. Drum
heiratet sie mit Erlaubnis ihres Herrn und gebet ihnen ihre
Morgengabe nach Billigkeit. Sie seien jedoch keusch und sollen
nicht Hurerei treiben und sich keinen Geliebten halten.
30. Sind sie aber verheiratet und begehen Ehebruch, so
treffe sie die Hälfte der Strafe der verheirateten (freien) Frauen.
38. Die rechtschaffenen Frauen sind gehorsam und sorgsam
in der Abwesenheit (ihres Gatten) wie Allah für sie sorgte.
39, Und so ihr einen Bruch zwischen beiden (d. h. Mann
und Frau) befürchtet, dann sendet einen Schiedsrichter von
ihrer Familie und einen Schiedsrichter von seiner Familie.
Wollen sie sich aussöhnen, so wird Allah Frieden zwischen
ihnen stiften.
Weitere Angaben macht besonders die 2. Sure („Die Kuh“),
geoffenbart zu Medina.
220. Und heiratet nicht eher Heidinnen als sie gläubig
geworden sind; wahrlich, eine gläubige Sklavin ist besser als
eine Heidin, auch wenn sie euch gefällt. Und verheiratet
(eure Tochter) nicht eher an Heiden als sie gläubig wurden;
330 Reitzenstein: Aus dem Liebes- und Eheleben der Mosleminen
und wahrlich, ein gläubiger Sklave ist besser als ein Heide,
auch wenn er euch gefällt.
222. Und sie werden dich über die Reinigung befragen.
Sprich: „Sie ist ein Schaden. Enthaltet euch daher eurer
Weiber während der Reinigung und nahet ihnen nicht eher
als bis sie rein sind. Sind sie jedoch rein, so suchet sie heim,
wie Allah es euch geboten hat.
223. Eure Weiber sind euch ein Acker. Gehet zu
eurem Acker, von wannen ihr wollt; aber schicket (etwas) zuvor
für euere Seelen und fürchtet Allah und wisset, daß ihr ihm
begegnen werdet.
226. Für die, welche schwören, sich von ihren Weibern
zu trennen, seien vier Monate Wartezeit festgesetzt. Geben
sie dann ihr Vorhaben auf, siehe, so ist Allah verzeihend und
barmherzig.
227. Und so sie zur Scheidung entschlossen sind, siehe,
so ist Allah hörend und wissend.
228. Und die geschiedenen Frauen sollen warten, bis
sie dreimal die Reinigung gehabt haben, und es ist ihnen
nicht erlaubt, zu verheimlichen, was Allah in ihren Schößen
erschaffen hat, so sie an Allah glauben und an den jüngsten
Tag. Und geziemender ist es für ihre Eheherrn, sie in diesem
Zustande zurückzunehmen, so sie sich aussöhnen wollen. Und
sie sollen (gegen ihre Gatten) verfahren, wie (jene) gegen sie
in Güte; doch haben die Männer den Vorrang vor ihnen; und
Allah ist mächtig und weise.
229. Die Scheidung ist zweimal (erlaubt); dann aber
müßt ihr sie in Güte behalten oder mit Gut entlassen. Und
es ist euch nicht erlaubt, etwas von dem, was ihr ihnen gebt,
zu nehmen, außer es fürchteten beide, nicht Allahs Ge-
bote halten zu können. Und so ihr fürchtet, daß beide Allahs
Gebote nicht halten können, so begehen beide keine Sünde, wenn
sie sich mit etwas loskauft (d. h. das Weib gibt an den Mann
etwas von ihrer Hochzeitsgabe, die er für sie gezahlt hat, zurück).
230. Und so er sie (ein drittes Mal) entläßt, so ist sie
ihm nicht mehr erlaubt, ehe sie nicht einen andern Gatten
geheiratet hat. Wenn dieser sie entläßt, so begehen beide
keine Sünde, wenn sie wieder zu einander zurückkehren, im
Glauben, Allahs Gebote erfüllen zu können. Und dies sind
die Gebote Allahs, die er verständigen Leuten klar macht.
231. Und so ihr euch von euren Weibern scheidet und
sie ihre Frist erreicht haben, so haltet sie fest in Güte oder
entlasset sie in Güte; und haltet sie nicht fest mit Gewalt, so
daß ihr euch vergeht. Wer dieses tut, der sündigt wider sich.
232. Wenn ihr euch von euren Weibern scheidet und sie
ihre Frist erreicht haben, so hindert sie nicht, ihre Gatten zu
heiraten, so sie sich in Billigkeit geeinigt haben. Das ist
Reitzenstein: Aus dem Liebes- und Eheleben der Mosleminen 331
eine Mahnung für denjenigen unter euch, der an Allah glaubt
und an den jüngsten Tag.
233. Und die (geschiedenen) Mütter sollen ihre Kinder
zwei volle Jahre säugen, so jemand will, daß die Säugung
vollständig sei; und dem Vater soll ihre Versorgung und
Kleidung nach Billigkeit obliegen. Niemand soll über Ver-
mögen bemüht werden. Eine Mutter soll nicht wegen ihres
Kindes bedrängt werden, und ebenso auch der Vater nicht
wegen seines Kindes; und dasselbe gilt für den Erben. Wenn
sie jedoch beide nach gegenseitigem Einvernehmen und Be-
ratung das Kind entwöhnen wollen, so begehen sie keine
Sünde. Und so ihr euer Kind säugen lassen wollt, so begeht
ihr keine Sünde, wofern ihr den ausbedungenen Lohn nach
Billigkeit gebt.
234. Und diejenigen von euch, welche verscheiden und
Gattinnen hinterlassen, — so müssen diese vier Monate und
zehn Tage warten.
235. Und ihr begeht keine Sünde, wenn ihr den Frauen
den Vorschlag zur Verlobung macht (d. h. den Witwen
innerhalb der vier Monate und zehn Tage).
237. Ihr begeht keine Sünde, wenn ihr euch von euren
Weibern scheidet, bevor ihr sie berührt oder ihnen eine
Mitgift festgesetzt habt. Und sorget für sie, — der Bemittelte
nach Vermögen und der Unbemittelte nach Vermögen — in
Billigkeit; dies ist Pflicht für die Rechtschaffenen.
238. Scheidet ihr euch jedoch von ihnen, bevor ihr sie
berührt habt und habt ihnen bereits eine Mitgift festgesetzt, so
sei es die Hälfte von dem, was ihr festsetztet, es sei denn, sie
ließen ab oder er, in dessen Hand das Eheband ist, ließe ab.
Das sind die wichtigsten Abschnitte, die der Koran selbst
über das weibliche Leben bringt; wir sehen es nicht viel,
umsomehr bringen dagegen die übrigen Schriften. Dazu ge-
hören z. B. die Vorschriften über Ehescheidung im Kodex
Kudury. Hat der Gatte ein körperliches Gebrechen und der
Richter hat sein Vorhandensein anerkannt, dann kann das Weib
sich vom Gatten trennen und es muß ihr das volle Heiratsgut
ausbezahlt werden. Die Frau kann sich auch von einer Ehe,
die durch häusliche Zwistigkeiten unerträglich geworden ist,
loskaufen — also ein Fortschritt gegen unser Recht. Dieser
Loskauf kann eventuell im Verzicht der Frau auf ihr Heirats-
gut beruhen. Das Heiratsgut ist aber stets der Frau zu be-
lassen, wenn der Gatte die Lösung der Ehe fordert, ohne daß
das Weib schuldig ist.
Das Liebesleben der Länder des Islam ist ein sehr bunt-
332 Reitzenstein: Aus dem Liebes- und Eheleben der Mosleminen
farbiges. Wir haben bereits erwähnt, daß es im alten Arabien
Sitte war, mit der verheirateten Frau in Liebesbeziehungen zu
treten. Ihr galt die ganze schöne Wüstenpoesie mit ihren
Tageliedern beim Krächzen des guräbu’l-baiss, des „Trennungs-
raben“. Und wenn dann das Schiff der Wüste, das Kamel,
mit der Angebeteten im Takte des Gesanges in der Ferne ver-
schwindet, dann sang der rauhe Sohn des Sandmeeres:
Kein Schlauch, gehörend faulem Weib, zerrissen an der Naht,
Womit ein Knecht das Vieh getränkt, eh’ er eingeweicht ihn hat;
Ist rinnender als du, mein Aug’ in, Tränen früh und spat
Denk ich, wo sie nun wohnt, und seh’, wo sie gewohnt einst hat.
(Hamäsa übersetzt von Rückert.)
Eine geradezu bestrickende Feinheit aber erlebte das
Liebesleben im fernen Westen, in den Reichen der spanischen
Mauren. Schon zu einer Zeit, wo man in dem von der christ-
lichen Askese niedergedrückten Teile des Abendlandes nicht
entfernt imstande war, Erhabenes zu dichten, hatte das arabische
Liebesleben sich einen unvergänglichen Platz in der Kultur-
geschichte durch seine Feinheit gesichert. Wie später im
Minnesang, dessen Wurzeln gerade im arabischen Spanien
liegen, nehmen hier hoch und nieder, Könige, Fürsten, Bürger
und vagabundierende Spielleute Anteil und aus den düsteren
Orangenhainen klangen allenthalben zu begleitendem Saiten-
spiele die glühendsten Liebeslieder hinauf zur harrenden
Schönen. Das silberne Mondeslicht strahlte über Minaretts
und Kuppeln hin auf die zauberhaft schönen Palästen Kordovas
und Granadas. Aus den buntglänzenden Höfen klangen
leise Lieder voll Schmerz um den fernen Geliebten und ver-
hallten zitternd im Dufte der blühenden Myrten. So wurden
alle Sinne berauscht und wohl kaum ward jemals ein Volk
so zur Poesie und poetischen Auffassung der Liebe hingerissen,
wie die Mauren. So schildert Abbas, der Sohn des Ahnaf,
seine Geliebte:
Nur meiner Sonne denk’ ich, Vom Wuchse wie Narzissen
Des schlanken Mädchens nur; Perlgleichen Angesichts,
Ach, hinter finstern Mauern Und lauter Duft ihr Atem,
Verlor ich ihre Spur. Ist sie ein Kind des Lichts.
Ist vom Geschlecht der Menschen Wenn wallenden Gewandes
Vom Stamm der Dschinnen sie? Sie schwebt, behend vom Schritt
Die Macht der Dschinnen übt sie, Zerknickt sie kaum die Halme
Doch ihre Tücke nie. Drauf leicht der Fuß ihr tritt.
Auch Siziliens Fluren waren kurz vor der Herrschaft der
Staufen Zeugen dieser feinen Poesie. War es ein Wunder,
Reitzenstein: Aus dem Liebes- und Eheleben der Mosleminen 333
daß unsere großen Sängerkönige wieHeinrich VI.und Friedrich II.
sich hier besonders wohl fühlten und die Saiten ihrer Lauten
wiederklangen von arabischen Reminiszensen? Dort sang
noch im 11. Jahrhundert Ibn Tubi seiner Geliebten nach:
„O wenn ich nie sie mehr umarmen soll,
So mag mein Leben enden;
Ihr Antlitz nur und ihre Blicke sind’s,
Die mir das Dasein spenden,
Wenn jemals durstend du in langen Zügen
Am Quelle trankst, so wisse:
Gering war deine Wonne gegen meine,
Wenn ihren Mund ich küßte.“
Ibn Zeidun, einer der berühmtesten maurischen Dichter
(ca. 1003 geb.), liebte die hochgebildete omaijadische Prinzessin
Wallada, die selbst Dichterin von Bedeutung war. Um ihret-
willen ward er seines hohen Amtes entsetzt und so klagt er
der schweigenden Nacht in prachtvollen Versen sein Leid:
O du, so ferne mir entrückt,
Wenngleich mein Herz dein Wohnplatz ist,
Vergessen ließ dich deine Welt
Den, dessen ganze Welt du bist.
Bei muntrer Scherze frohem Spiel
Und allem Glück, das dich umgibt,
Blieb kein Gedanke dir zurück
An dem, der dich so innig liebt.
Vielleicht jedoch erreich ich noch
Das Ziel, nach dem ich stets gestrebt;
Du fragst, welch Ziel? verkünden kann’s
Ein jeder Tag, den ich verlebt. —
So glitzern die Worte der arabisch-maurischen Liebes-
dichtung ebenso reich und verschiedenartig wie die Facetten
des geschliffenen Edelsteines. Ähnlich zart — wenn auch in
anderer Art, war das Liebesleben Indiens. Hier lag schon
eine entsprechende Vergangenheit aus der vorislamitischen Zeit
vor. Da man nun in Persien und damit auch im indischen
Gebiet des Islam sich weniger um das Bilderverbot kümmerte,
so treten hier neben die Dichtung auch Miniaturmalereien, die
uns dieses zarte Liebesleben sehr gut schildern. (Abb. 1 u. 2.)
Wer es unternehmen wollte, eine Geschichte der Liebesdichtung
von Indiens Strömen über das rosenduftende Heimatland des
Firdusi bis zu den märchenhaften Gefilden Andalusiens zu
schreiben, brauchte Bände dazu und er hätte damit sicherlich
das Material für eine Psychologie der Liebe überhaupt ge-
sammelt, denn nicht nur trauern konnte der Sänger über seine
verlorene Geliebte, er verstand es auch in Tönen tiefster Ver-
334 Reitzenstein: Aus dem Liebes- und Eheleben der Mosleminen
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Abb, 1, Indisches Liebespaar. (Der Bogen ist dargestellt als der des indischen Liebes-
gottes Kämas der aus Blumen gefertigt ist, während die Sehne aus Bienen besteht.
Reitzenstein: Aus dem Liebes- und Eheleben der Mosleminen 325
achtung zu sprechen, wenn sie ihm untreu wurde. Nur noch
ein Beispiel nach dieser Seite. Ibu ul Haddad singt einmal:
Wie deine Geliebte dich betrog,
So suche du sie zu betrügen
Durch Kälte und durch Vergessenheit
Mußt du die Liebe zu ihr besiegen!
Die Mädchen gleichen dem Rosenstrauch
Und wissen so wie er zu beglücken;
Ein Wanderer hat eine Rose gepflückt,
Der nächste wird die zweite pflücken.
Daß der Moslem auch die Ehe trotz ihrer leichten Scheid-
barkeit besonders hochhält, darf uns eigentlich nicht wundern.
Interessant ist ein Vergleich mit unserem Abendland. Der
heilige Hieronymus (f 240), sagt einmal, daß er es empörend
finde, daß Jovinian keinen Unterschied der Belohnung im
Jenseits mache, und so die reuigen „Huren“ den „un-
befleckten“ Jungfrauen gleichstelle; dabei fährt er fort:
„Gut ists für den Mann, kein Weib zu berühren. Frei-
lich heißt Paulus auch das Heiraten gut, aber nur als
Gegenmittel gegen die „Hurerei. Man nehme die Gefahr der
Unzucht hinweg und Paulus würde nicht mehr sagen: „Jeder
besitze ein Weib!“ Er nennt dann Weizenbrot und Gersten-
brot als Gleichnis, ersteres als gute, dieses als schlechte
Nahrung; freilich sei Ochsenkot (!) noch minder, aber ist das
Weizenbrot nicht das edle Brot, weil man Gerstenbrot dem
Mist vorzieht? Wohl stamme ja auch die Jungfrau aus einer
Ehe; aber nicht der, der das Gold aus dem Kote (!) gräbt,
sondern wer ihm Glanz und Schönheit gibt sei ein Künstler. —
Mithin die „Jungfrau“ ist eine Perle, die aus der Ehe (dem Kote!)
hervorgeht. Anders Mohammed. Er hält es mit Recht für
unmöglich und widersinnig, daß gesunde Menschen im ledigen
Stande „keusch“ leben. So wird von ihm überliefert, daß er
einst einen jungen Menschen fragte: „Bist du verheiratet?“
Dieser antwortete: „Nein“. — „Bist du gesund und wohl?“
fragte Mohammed weiter. „Ja“. „Dann bist du ein Bruder
des Teufels“, fuhr der Prophet fort, „denn die Gottlosesten
unter euch sind die Unverheirateten““. So machte denn auch
Mohammed die echte Prostitution unmöglich, und gewährte,
um dies zu erreichen in geschlechtlicher Hinsicht größere Frei-
heit, stempelte den geschlechtlichen Verkehr nicht zur Sünde,
bot allen Frauen die Möglichkeit und legte ihnen zugleich die
Pflicht auf, sich zu verheiraten. Diese Pflicht zur Ehe ent-
326 Reitzenstein: Aus dem Liebes- und Eheleben der Mosleminen
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de gei Wi {
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DN,
Fr
Abb. 2. Indisches Liebespaar.
Tafel II
ie schöne Schirin genannt).
Mädchenbildnis (d
Persische Malerei 17. Jahrhundert
des Kunstgewerbemuseums Berlin.)
und Eheleben im Islam.)
(Bibl.
Liebes-
ın
. Reitzenste
(Zu v
Tafel Ill
Heimkehrender indischer Sikh. Sehr interessante indisch-persische Malerei.
Besonders wichtig ist das Weib ganz rechts, bei dem eine eigenartige Form der
Infibulation durch einen Ring dargestellt ist. Die pfeifenartigen Instrumente (eigent- |
lich Rohr für Abfluß des Urins in Mädchenwiegen), dienen hier der Masturbation. |
(Nach Reitzenstein, Frhr. v.: Liebe und Ehe im alten Orient.)
(Zu v. Reitzenstein: Liebes- und Eheleben im Islam.)
Reitzenstein: Aus dem Liebes- und Eheleben der Mosleminen 327
spricht aber logischerweise die leichte Scheidung, da es ja zur
Prostitution führen muß, wenn nicht mehr Zusammenpassende
gewaltsam aneinander gekettet sind. So stellt der Islam vor
allem den Trieb zum sexuellen Verkekr höher als den zur
Kindererzeugung, wohlbeachtend, daß der erste primär ist, der
zweite sekundär-unbewußt aus ihm folgend und in seinem
Werte leidet, wenn der primäre Trieb auch nur abgeschwächt ist.
Die altarabische Ehe (nikäh) ist ein sehr weiter Begriff,
weshalb verschiedene Forscher in einzelnen Eheformen „Рго-
stitution“ gewittert haben. Sie kennt beispielsweise poly-
andrische Formen, zumal wenn das Weib durch seinen
Besitz eine besonders hervorragende Stellung einnahm. In
diesem Falle, sagt Bochäri, bildeten mehrere Männer eine Sippe
und wohnten dem Weibe bei; gebar diesesnun ein Kind,so mußten
sämtliche Männer erscheinen und sie bezeichnete aus ihrer
Mitte den Vater. Eine andere Form war die mot’a-Ehe; bei
der der Mann mit dem Weibe eine bestimmte Zeitdauer fest-
setzte und für das später etwa zur Welt kommende Kind ein
Geschenk zurückließ. Mohammed billigte diese Form mit den
Worten: „Wenn ein Mann und ein Weib miteinander eins sind,
soll ihr Zusammensein drei Nächte dauern“. Höher ent-
wickelt und ebenfalls alten mutterrechtlichen Verhältnissen ent-
sprungen, ist die sadîqa-Ehe (von sadäq dem Namen jener
Gabe, die das Weib bekam). Sie war beim Mittelstand sehr
häufig und ist auch die Eheform von Samson und Delila in
der Bibel. Die sadiga-Frau bleibt nämlich in ihrer Behausung
sitzen und empfängt ihren Gatten nur zeitweise. Hat der
Mohammedanismus diese Formen nicht direkt beseitigt, so
tat er es um so mehr bei der rein mutterrechtlichen beena-
Ehe. Hier behielt die Frau vollständig freie Verfügung über
sich und verlangte vom Manne, daß er kein anderes Weib
neben ihr habe; sie war auch bei der Scheidung der ton-
angebende Teil. Heute ist sie verschwunden. Ihr Gegenstück
ist die Ba’alsehe, bei der der Mann der absolute Herr des
Weibes ist und dieses sozusagen sein Eigentum wird. Die
Kinder gehören unbedingt seinem Stamme.
Gehen wir zu den heute herrschenden Verhältnissen über.
Zwar liegt das mögliche Heiratsalter für das Mädchen noch
immer sehr früh — die Ehe kann mit acht Jahren eingegangen
werden — doch wird gewöhnlich 15 Jahre als unterste Stufe
22
328 Reitzenstein: Aus dem Liebes- und Eheleben der Mosleminen
angenommen, da die Türkin schon mit zehn Jahren menstruiert.
Über die Zahl der Frauen ist zumeist eine ganz falsche
Meinung verbreitet. Nicht unbegrenzt ist diese Zahl, sondern
Mohammed erlaubte jedem freien Gläubigen vier freie Frauen,
jedem Sklaven zwei Frauen zur gleichen Zeit zu nehmen;
dagegen steht dem freien Manne nichts im Wege, sich beliebig
viele Sklavinnen zu halten und mit ihnen gegebenen Falles
geschlechtlich zu verkehren. Aber diese Möglichkeit wird
gleich gewaltig eingeschränkt, denn der Mann muß vorher
nachweisen, daß er in der Lage ist, alle Pflichten gegen seine
Frau — die, wie wir oben sahen, recht beträchtlich sind —
zu erfüllen. So ist heute die Polygamie nur noch für die
allerreichsten Leute möglich und der türkische Gesandte im
Haag, Missak Effendi konnte beispielsweise auf das unsinnige
Geschreibsel des Pierre Loti diesem ruhig zurufen, daß es ihm
nicht gelingen dürfte nur zehn Polygamisten in der Türkei zu
nennen! Auch muß der Gatte allen seinen Frauen in sexueller
Beziehung gleiches Recht gewähren. Die Abwechslung der
islamitischen Ehe liegt also tatsächlich nur in der leichten
Scheidung begründet. Erwähnt mag hier noch werden, daß
der Islam gegen andere Glaubensangehörige sehr duldsam
ist; so kann ein Moslim, der mit einer Glaubensgenossin ver-
heiratet ist, eine zweite Ehe mit einer Christin oder einer Jüdin
eingehen und muß diese drei Frauen völlig gleich behandeln.
Die christlichen Religionen haben es nicht vermocht, sich zu
dieser Duldsamkeit aufzuschwingen.
Daraus folgt, daß es heute im Islam bei den Sunniten
zwei Eheformen gibt: die Nikah-el-daim oder die Dauerehe
(pers. Arusi-akd’i), der zufolge laut Sure 4 des Koran der Mann
ein Ehebündnis mit höchstens vier freien Frauen gleichzeitig
eingehen darf und die Nikah-el „‚Ämma“ oder -el Kenizan)
die Sklavenehe, der zufolge sich ein Freier mit einer Sklavin
oder ein Sklave mit einer Freien oder zwei Sklaven unter sich
verbinden können. Rechtlich steht ihr das Konkubinat mit
einer Sklavin (Ästilad) gleich und unterscheidet sich nur durch
das Fehlen einer äußeren Form. Die schiitischen Perser haben
noch eine Eheform, die Nikah-el-mönkese (pers. Arusi sighei)
die Fristehe; sie kann auf eine Stunde bis auf 99 Jahre ge-
schlossen werden. ÄußerlichstehtdasSighe-Weibdem Akd’i-Weib
gleich, nicht aber rechtlich. Bei den Sunniten gilt diese Form nicht.
Reitzenstein: Aus dem Liebes- und Eheleben der Mosleminen 329
Der Eheschließung geht in Arabien die Werbung voraus.
Der eigentliche Kern der Verlobung (tazvig, tamlik, imläk) be-
stand in der Übertragung der Gewalt über das Mädchen
vom Vali auf den Bräutigam. Der Islam schreibt vor, daß
das Mädchen sein Einverständnis geben muß. Dann wird es
geputzt, parfümiert und geschmückt. Der wichtigste Ritus
der Eheschließung selbst ist das Überwerfen des Mantels
und das Errichten des Zeltes. Darnach sagt man bana ’alaihä
er heiratet, d. h. er baut ein Zelt über sein Weib. Bei den
Türken sind ein Brautanwalt und zwei Brautzeugen nötig.
Die Ehe selbst wird vor dem Richter geschlossen; wenn dieser
aber zu teuer sein sollte, kann man jeden anderen unbescholtenen
Mann wählen. Die Absicht zur Eheschließung muß entweder
persönlich oder durch einen Vertreter ausgedrückt werden.
Meist sprechen die Parteien nur das Wort nikiah oder tesevüdsch
(Heirat) aus oder der Mann sagt: „Ich habe dich gekauft“
während die Frau antwortet: „Ich gebe mich dir als Geschenk“,
Die Feierlichkeiten sind ziemlich einfach.
In Persien (Schiiten) ist die Sache umständlicher und
kostspieliger. Die Werbung geschieht durch die Eltern und
die Zeichnung des Ehekontrakts durch den Priester. Die
Feierlichkeiten sind durch einen kolossalen Pomp begleitet.
Wenn die beiderseitigen Bevollmächtigten ihre Sprüche ge-
wechselt haben, erklärt der Mullah die Ehe für geschlossen,
wobei die Braut vollständig verschleiert wird.
Ähnlich wie auch bei uns, ist ein besonders wichtiger
Akt bei der Eheschließung die Heimführung der Braut in das
Haus des Gatten. Sie gilt auf diesem Wege besonders bedroht
durch Dämonen und Geister und wird daher so gut wie
möglich verhüllt (Schleier, gänzlich geschlossene Sänfte).
Bei den syrischen Stämmen gehen dem Hochzeitszug be-
sondere Tänzer voraus, bei denen die Männer Säbel tragen
„um die Geister zu vertreiben“ (Abb. 3).
Eine eigentliche Mitgift kennt das islamitische Recht nicht;
was aber die Frau mitbekommt, bleibt ihr alleiniges Eigentum.
Da der Islam sehr auf absolute Reinheit des Stammes
sieht, war es eigentlich zu erwarten, daß er die dem alten
Arabertum eigentlich fremde Frauenabsperrung je nach der
Sekte mehr oder weniger streng übernahm und sie zum
Haremswesen ausbildete.e Bei uns herrschen darüber aller-
22*
330 Reitzenstein: Aus dem Liebes- und Eheleben der Mosleminen
dings sehr falsche Ansichten. Weder ist der „Harem“ (besser „das
Harim“) ein Gefängnis — schon deshalb nicht, weil die Orien-
talin ihn nicht als solchen empfindet, denn das orientalische Leben
spielt sich nicht wie das unsrige in der Öffentlichkeit sondern
im Heim ab, noch ist es heute etwa eine Folge märchenhafter
Prunkräume, wie das vereinzelt in der Fatimidenzeit oder in
den Palästen Granadas der Fall war, sondern ein mehr oder
minder europäisch ausgestatteter Raum, meist von recht ein-
fachem Charakter. Indien der Mogulzeit mit seinem sprich-
Abb, 3 Syrische Hochzeitstänzer.
Т "МАИ -
Reitzenstein: Aus dem Liebes- und Eheleben der Mosleminen 331
wörtlichen Reichtum hat natürlich auch hier viel Glanz gezeitigt,
wie Abb. 4 zeigt. Aus den gleichen Gründen, denen die
Frauenabsperrung entsprang, wird auch Ehebruch streng
geahndet. Eigentlich soll er mit Steinigung zu Tode gestraft
werden. Wer aber jemand fälschlich des Ehebruchs bezichtigt,
erhält 80 Stockschläge. Die Klage auf Ehebruch (lican) ist
schwierig. Der Mann erhebt sie öffentlich in Gegenwart der
Richter auf der Kanzel der Moschee mit den Worten: „Ich
Abb. 4. Indischer Haremsgarten.
332 Reitzenstein: Aus dem Liebes- und Eheleben der Mosleminen
rufe Gott zum Zeugen, daß ich die Wahrheit spreche, indem
ich meine Frau N.N. des Ehebruchs beschuldige, und daß das
von ihr geborene Kind ein Kind des Ehebruchs ist und nicht
von mir herstammt“. Dies muß er viermal wiederholen. Nun
macht ihn der Richter auf die Folgen aufmerksam und er
antwortet: „Gottes Fluch ruhe auf mir, wenn ich die Unwahrheit
rede“. Nun ist das Weib vom Ehebett geschieden, darf von
ihrem Manne nie wieder geheiratet werden und das Kind ist
vaterlos. Das Weib verfällt der Strafe, wenn es sich nicht
durch einen Gegenfluch reinigt. Sie kann ihrerseits viermal
die Kanzel besteigen und sagen: „Ich rufe Gott zum Zeugen,
daß N.N. lügt, in dem er mich des Ehebruchs beschuldigt“.
Damit bleibt sie zwar geschieden; ist aber straffrei. Nun muß
sie eine Wartezeit durchmachen, ob sie nicht schwanger ist
und kann dann wieder heiraten. Nie darf sie aber den Mann
heiraten, zu dem sie Beziehungen hatte.
Die sonstige Ehescheidung (taläk) ist leicht. Gegen-
seitiges Einverständnis oder auch Verstoßung durch den Gatten
genügt. Die Verstoßung kann widerruflich sein (radjii), dann
findet nach einiger Zeit eine Wiedervereinigung auch gegen
den Willen der Gattin statt, oder sie ist unwiderruflich (bain),
dann muß der Mann einen neuen Vertrag schließen wenn er
mit derselben Gattin wieder getraut werden will. Hat er drei-
mal seine Gattin verstoßen, kann er sie nur wieder heiraten,
wenn sie unterdessen eine Ehe mit einem andern eingegangen
hatte. Von besonderem Interesse ist zum Schlusse noch die
Ehescheidung wegen Impotenz. Bei Schiiten und Hanbaliten
ist die Befriedigung des sexuellen Triebes wichtiger als die
Kinderzeugung; bei Hanefiten und Malekiten sind beide Zwecke
gleich. Deshalb ist bei Schiiten, Hanbaliten und Schafiiten
Sterilität kein Ehehindernis, wohl aber Impotenz zum Verkehr,
dagegen ist bei Hanefiten und Malekiten auch die Unfruchtbar-
keit Ehehindernis.
SS
Classen: Vererbung von Krankheiten und Krankheitsanlagen 333
VERERBUNG VON
KRANKHEITEN UND KRANKHEITSANLAGEN
DURCH MEHRERE GENERATIONEN.
Von Dr. med. K. CLASSEN, Grube in Holstein.
Mo nunmehr über 20 Jahren hatte ich Gelegenheit, in meiner
Praxis eine eigenartige und seltene Krankheit, die Kleinhirn-
Ataxie, bei drei Männern zu beobachten, welche Geschwister-
kinder waren. Seitdem habe ich der Sache weiter nachgeforscht
und in der Verwandtschaft jener drei noch andere Anomalien
des Zentralnervensystems aufgefunden; da überdies die Kleinhirn-
Ataxie unter den Nachkommen noch heute nicht ganz aus-
gestorben ist, so ergibt sich ein interessantes Bild von
Krankheitsvererbung, welches ich im folgenden erörtern möchte.
Das Krankheitsbild der Kleinhirn- Ataxie, hierzulande
„fliegende Gicht“ genannt, besteht in mangelhafter Beherrschung
der Muskeln; der Kranke kann sich niemals ganz ruhig ver-
halten, zuckt bald mit den Armen, bald mit den Beinen; sein
Gang ist schwankend wie der eines Betrunkenen, der Kopf
bewegt sich hin und her, die Lippen und Gesichtsmuskeln
zucken, so daß die Sprache schlecht artikuliert ist, die Augen
können nicht gut fixiert werden. Die geistigen Fähigkeiten
sind normal. Anzeichen von Rückenmarkserkrankungen fehlen
(wie Rombergsches Zeichen), die Kniereflexe sind lebhaft.
Die Krankheit hatte sich erst in höherem Alter, nach dem
50., bei dem einen erst nach dem 60. Lebensjahre eingestellt.
Der Tod ist in meinen drei Fällen plötzlich an Gehirnschlag
oder Herzlähmung erfolgt.
Die Eltern der drei Patienten habe ich nicht mehr gekannt,
jedoch konnte ich erfahren, daß die Mütter von zweien und
der Vater des dritten, die Geschwister waren, gleichfalls in
höherem Alter von der „fliegenden Gicht“ befallen sein sollten
und daß ihre gemeinsame Großmutter, die 90 Jahre alt geworden
war, ständig mit dem Kopf gewackelt habe und in den letzten
Jahren nicht mehr imstande gewesen sei, zu gehen.
Die Betrachtung des Stammbaumes dieser Familie ergibt
nun mancherlei Interessantes. Die Stamm-Mutter A hatte acht
Kinder. Von diesen scheint nur ein Sohn (5) ganz gesund
gewesen zu sein; unter seinen Nachkommen, von denen mir
viele bekannt sind, habe ich keine krankhafte Anlage nach-
weisen können.
334 Classen: Vererbung von Krankheiten und Krankheitsanlagen
An Ataxie haben außer den erwähnten dreien (im Stamm-
baum 1, 7 und 8) auch die Tochter 2, die verheiratet aber
kinderlos gewesen ist, und der Sohn 4 (dessen eine Tochter
sich mit einem Sohn von 7 verheiratet hat) gelitten, soweit
die Angaben der Angehörigen zuverlässig sind.
Der Sohn 3 ist wunderlich und beschränkt gewesen und
71 Jahre alt unverheiratet gestorben (an „Brustkrankheit“, wie
das Kirchenbuch sagt). Auch der Sohn 6 war von wunderlichem
Wesen, kinderlos verheiratet hat er 68 Jahre alt durch Selbst-
mord geendet.
Auch unter den Kindern von 7 war ein Sohn von eigen-
sinnig beschränktem Charakter.
DerStammbaum weist noch eine weitere Anomalie auf, nämlich
die Kyphoskoliose, die unter den Nachkommen von 7 mehrfach
vorkommt. Auch bei dem Sohn 1, den ich selbst beobachtet,
bestand eine Kyphose (Verkrümmung) der oberen Brustwirbel.
Geistesschwäche tritt in der dritten Generation noch einmal
unter den Nachkommen von 7a auf, hier jedoch liegt Belastung
durch den Vater vor. Dieser ist selbst zwar durchaus normal,
jedoch sind von den Kindern seiner zwei Schwestern mehrere
schwachsinnig. Er hat von 7a zwei blödsinnige und einen
gesunden Sohn, von einer zweiten Frau mehrere gesunde Kinder.
Die Ataxie hat sich unter den Nachkommen von 1 und 8
bis auf die dritte Generation fortgepflanzt, allerdings nur in
einem Kinde unter mehreren Geschwistern, während sie in der
Nachkommenschaft von 7 nicht mehr vorkommt. Die jetzt
60jährige Tochter von 1 leidet daran in so hohem Grade, daß
sie sich nur mit Mühe vorwärtsbewegen und sich nicht allein
ankleiden kann; sie ist kinderlos. Bei der Tochter von 8, die
etwa 50 Jahre alt ist, ist das Leiden noch nicht so weit aus-
geprägt, jedoch ist sie sehr nervös und leicht erregt. Sie hat
drei anscheinend gesunde Kinder. Von ihr leben drei ältere
und vier jüngere Geschwister, die bisher alle gesund sind und,
soweit mir bekannt, gesunde Kinder haben.
Wir haben also eine Familie mit acht Kindern, von denen
ein Sohn durchaus gesund war und gesunde Nachkommen
gezeugt hat, während drei, oder vielleicht fünf Geschwister
mehr oder weniger von Ataxie befallen waren und diese
Krankheit vererbt haben und zwei Brüder geistig schwach und
kinderlos gewesen sind.
Classen: Vererbung von Krankheiten und Krankheitsanlagen 335
Von dem Stammvater, dem Gatten von A, ist mir nichts
bekannt; soweit seine Verwandtschaft hier lebt, ist sie frei von
krankhaften Anomalien. Umso interessanter ist die Verwandt-
schaft von A.
Diese Elsabe KI. (geboren 1777, gestorben 1867) war das
Älteste von neun Geschwistern. Das jüngste ist früh gestorben,
die andern sind alle verheiratet gewesen und haben Nachkommen
hinterlassen. Eine Schwester ist in ein anderes Kirchspiel ver-
zogen; von dieser sollen jetzt keine Nachkommen mehr leben.
Von allen andern kann ich auf Grund der Kirchenbücher der
Gemeinde Grube die Stammbäume bis in die Gegenwart
nachweisen.
Zwei Töchter (D und G; die Buchstaben beziehen sich
auf die Reihenfolge der Lebensalter) können aus der Betrachtung
ausscheiden, weil ihre Kinder und Enkel gesund geblieben sind.
Es bleiben also vier Stammbäume (B, C, E, H) zu betrachten übrig.
B (Simon KI., geb. 1779, gest. 1847) war dreimal verheiratet;
die ersten beiden Frauen waren Schwestern; deren Kinder und
Enkel, soweit sie noch leben, sind gesund. Aus der dritten
Ehe stammten zehn Kinder. Die Mutter ist bald nach der
Geburt des letzten Kindes gestorben und das Kind kurz darauf.
Von den anderen Kindern ist ein Sohn unverheiratet gestorben,
die übrigen waren verheiratet und hatten Kinder, bei fast allen
sind die Kinder mehr oder weniger geistig defekt gewesen.
Besonders stark belastet ist die Nachkommenschaft von B2,
dessen Ehefrau aus einer Familie stammte, in welcher geistige
Abnormität (wunderlich exzentrisches Wesen bei Beschränktheit)
vorkam. Acht Kinder waren klein gestorben, drei Töchter
blieben am Leben, die eine völlig blödsinnig, die zweite schwach-
sinnig, hat ein blödsinniges Kind. Der uneheliche Vater dieses
Kindes hat die dritte Tochter geheiratet, die beschränkt und
wunderlich ist und hat mit ihr eine Reihe gesunder Kinder
gezeugt. Nur der älteste Sohn aus dieser Ehe zeigt eine
Abnormität, insofern er ständig den Kopf auf- und abbewegt
und die Augen hin und her gehen läßt; geistig ist er normal.
Man könnte meinen, daß die krankhafte Belastung weniger
vom Vater B, als von seiner dritten Frau stammt, da ja die
Kinder aus den beiden ersten Ehen gesund waren. In der
seitlichen Verwandtschaft der dritten Frau sind mir jedoch
keine krankhaften Anlagen bekannt. In Hinblick auf die Seiten-
336 Classen: Vererbung von Krankheiten und Krankheitsanlagen
verwandtschaft von B muß man doch annehmen, daß die
krankhafte Erbanlage in ihm „rezessiv“ vorhanden gewesen
und daher nur bei etwa der Hälfte seiner gesamten Kinder in
Erscheinung getreten ist.
Stamm C (Jürgen KI., 1794 bis 1847) scheint weniger be-
lastet zu sein. Unter acht Kindern haben fünf, soweit es sich
ermitteln läßt, ganz gesunde Sprößlinge gezeugt, während unter
den Nachkommen von dreien mehrere Male geistige Schwäche
verschiedenen Grades vorkommt. Der Gatte von C2 war vor-
her schon verheiratet gewesen und hatte aus erster Ehe drei
gesunde Kinder. Hier stammt also die erbliche Belastung aus-
schließlich von mütterlicher Seite.
Іт Stamm E (Hans KI., 1782 bis 1832) ist unter sieben
Kindern nur die Nachkommenschaft einer Tochter belastet.
Jedoch mag von außen die Belastung hineingetragen sein. Der
einzige Sohn von 2 hat eine Frau desselben Familiennamens
geheiratet, auf deren Verwandtschaft ich weiter unten noch zu
sprechen kommen werde. Aus dieser Ehe stammen mehrere
geistig unbegabte Kinder, von denen eine Schwester zuweilen
an epileptischen Anfällen leidet und einige gleichfalls wenig
begabte Kinder hat. Eine Tochter von E3 hat einen Sohn von
A5, also aus gleichfalls belastetem Stamm, geheiratet und hat
drei durchaus gesunde Kinder. Also ist Stamm E wohl als
nicht erblich belastet anzusehen.
Stamm H (Karsten KI., 1788 bis 1854) ist wieder schwer
belastet. Die einzige Tochter von H hatte unter sieben Kindern,
von denen zwei klein gestorben sind, zwei blödsinnige Söhne
und eine anscheinend normale, jedoch wohl etwas beschränkte
Tochter, die wieder mehrere schwachsinnige und ein normales
Kind hat.
Von den Stämmen D und G (Katharina KI., 1782 bis 1866,
und Anna KI., 1787 bis 1870) ist nicht viel zu sagen. D hatte
aus zwei Ehen zwölf Kinder, deren Nachkommen, soweit sie
sich in hiesiger Gegend nachweisen lassen, keine krankhaften
Anlagen bieten. G hatte vier Kinder, deren eine Tochter einen
kyphoskolistischen Sohn (jetzt 60 Jahre alt) neben mehreren
gesunden Kindern hat.
Der Vater der Geschwister A bis G, der Großbauer Jochim
Kl, geb. 1724, gest. 1809, ist zweimal verheiratet gewesen-
Aus der ersten Ehe stammte ein Sohn und eine Tochter. Nur
Classen: Vererbung von Krankheiten und Krankheitsanlagen 337
von dem Sohn läßt sich die Nachkommenschaft in einem
Stamm bis in die Gegenwart verfolgen, und dieser Stamm ist
ohne erbliche Belastung. Die oben erwähnten neun Kinder
stammen alle von der zweiten Frau. Es ist also denkbar, daß
die erbliche Belastung nicht vom Vater, sondern von der Mutter
herrührt. Über deren Familie kann ich nichts ermitteln. Daß
sie mit ihrem Gatten verwandt war, ist nicht anzunehmen, denn
beide stammen aus ganz verschiedenen Gegenden des Kirchspiels.
Der Familienname Kl. ist hier weit verbreitet. In den
Kirchenbüchern habe ich mehrere Altersgenossen von Jochim Kl.
gefunden, die vielleicht seine Brüder, sicher Verwandte waren.
Aus einer dieser Familien ist ein 25jähriger schwachsinniger
Sohn im Armenhaus zu Grube gestorben; aus einer anderen
Familie lebt jetzt ein 60 jähriger, gleichfalls geistig beschränkter,
unverheirateter Insasse im Armenhause. In diese Familie gehört
auch die oben bei Stamm E erwähnte Frau des Sohnes 2, die
eine epileptische Tochter hatte. Auch von Stamm C hat sich
der Sohn 3 mit der Tochter einer geborenen KI. verheiratet;
seine Nachkommen sind jedoch erblich nicht belastet.
Erörtern wir nun den gesamten Stammbaum mit seinen
Verzweigungen, so erkennen wir in dem, was auf den ersten
Blick rätselhaft und willkürlich erscheint, Gesetzmäßigkeit und
Regel nach den Ergebnissen der modernen experimen-
tellen Erblichkeitsforschung.
Wir müssen von der Voraussetzung ausgehen, daß in
einem der beiden Ureltern Jochim KI. und Anna Hft. die Anlage
zu Schwachsinn „rezessiv“ vorhanden gewesen ist. Es handelt
sich um primären Schwachsinn, welcher atropische, nicht
degenerative Veränderungen in der Großhirnrinde zur
Ursache hat, stets angeboren ist und daher vererbt werden kann.
Da diese Anlage „rezessiv“, nicht „dominant“ war, so erklärt es
sich, daß sie nur auf die Hälfte der Kinder sich vererbt hat.
Im Stamm A tritt noch eine andere erbliche Anlage auf,
nämlich die Kleinhirnatrophie. Diese beruht auf ebenfalls nicht
degenerativen, sondern atrophischen, daher angeborenen Ver-
änderungen im Kleinhirn und in den vom Kleinhirn stammenden
Rückenmarksfasern*) Nun hat der Ehemann von A denselben
*) Literatur: Max Nonne, Archiv für Psychiatrie, Bd. ХХІІ, Ней 2;
derselbe, ibidem, Bd. XXVII, Heft 2; Pierre Marie, Semain, medicalee
1893, Nr. 56; derselbe, ibidem 1894, September 27; Paul Londe, Maladies
familiales du système nerveux. Hérido-ataxie cérébelleuse. Paris 1895.
338 Classen: Vererbung von Krankheiten und Krankheitsanlagen
Familiennamen wie ihre Mutter; es ist also sehr wohl möglich,
daß hier Verwandtschaft vorliegt, wenngleich sie aus den
Kirchenbüchern nicht mehr nachweisbar ist (sie müßte aus der
Mitte des 18. Jahrhunderts stammen). Es ist wohl kein Zufall,
daß gerade diese Erbanlage in den anderen Stämmen nicht
vorkommt. In den folgenden Generationen erlischt sie mehr
oder weniger schnell. In der vierten Generation kommt sie
nur einmal unter acht Geschwistern vor.
Stamm B zeigt die Vererbung mit der Sicherheit des
Experiments: von dreizehn Kindern aus drei Ehen sind fünf in
den Nachkommen belastet; vielleicht waren noch mehr belastet,
denn zwei Kinder sind klein gestorben und eine Tochter ist
kinderlos geblieben.
Ähnlich verhält es sich im Stamm C: von acht Kindern
haben drei belastete, vier gesunde Kinder gezeugt, während
sich von einer Tochter nichts nachweisen läßt.
Stamm E ist nur wenig belastet, vielleicht ist E selbst
unbelastet gewesen. Denn die epileptische Enkelin, die noch
lebt und, wie oben erwähnt, aus einer Verwandtenehe stammt,
ist verheiratet mit einer Schw. aus derselben Familie, aus
welcher der Epileptiker unter B5 stammt, der melancholisch
und nicht verheiratet war und 40 Jahre alt in einem epileptischen
Anfall gestorben ist. Diese Familie ist zwar sonst, so weit
ich sie kenne, gesund; durch Verbindung mit den belasteten
Stämmen der Familie Kl. ist Epilepsie und Schwachsinn in
Erscheinung getreten.
Stamm H hat sich ebenso wie E nur in einem Kinde fort-
gepflanzt; hier ist aber die Belastung schwer, insofern von
sieben Kindern wenigstens drei geistig nicht normal sind.
Die Nachkommen der Töchter D und G, deren Stamm-
baum ich nicht dargestellt habe, sind ganz gesund geblieben.
D hatte aus zwei Ehen zwölf, G vier Kinder. Die Familien-
namen der Ehegatten, Pr. und Hft. und wiederum Pr., sind
wieder dieselben, die schon in den andern Stämmen begegnet
sind.*) Irgendwelche entfernte, wenngleich nicht mehr nach-
weisbare Blutsverwandtschaft besteht sicher. Da aber die
Schwestern D und G von ihren Eltern keine krankhafte Erb-
*) In allen Gemeinden des hiesigem Kreises wiederholen sich die-
selben Familiennamen, die schon im 18. Jahrhundert vorkommen, die Folgen
der Seßhaftigkeit von den Zeiten der Erbuntertänigkeit her.
Classen: Vererbung von Krankheiten und Krankheitsanlagen 339
anlage mit auf die Welt bekommen haben, so ist auch in
der Nachkommenschaft keine Krankheitsanlage in Erscheinung
getreten.
Fragen wir nun nach der letzten Ursache der krankhaften
Erbanlage bei den Stammeltern Jochim Kl. und Anna Hft. Es
muß bei einem dieser beiden oder auch schon bei deren Vor-
fahren eine Schädigung der Keimanlage stattgefunden haben.
Wir denken dabei zunächst an keimschädigende Gifte, wie
Syphilis und Alkohol. Diese beiden glaube ich jedoch hier
mit Sicherheit ausschließen zu können. Nach meiner fast
dreißigjährigen Erfahrung spielt der Alkoholismus im hiesigen
Landvolk keine ernste Rolle, und früher, als hier mehr Armut
und Beschränktheit aller Bedürfnisse herrschte, gewiß noch
weniger; auch von Syphilis sind mir früher, d. h. vor dem
großen Kriege, ganz vereinzelte Fälle begegnet und diese waren
von weither eingeschleppt. Gewerbliche Gifte kommen bei
dem Fehlen jeglicher Industrie gleichfalls nicht in Betracht.
Die Menschen leben hier durchweg in dem gesündesten Beruf,
der landwirtschaftlichen Arbeit. Auch wenn in obigen Stamm-
bäumen Handwerker, wie Maurer, Weber, Tischler vorkommen,
so treiben sie doch nebenher Landwirtschaft.
Vielleicht kann die Malaria als keimschädigender Moment
in Betracht kommen; denn diese ist in früheren Zeiten hier
sehr verbreitet gewesen, namentlich in den Niederungen am
Gruber See, wo die Familie Kl. und ihre Verwandtschaft an-
sässig ist. Erst seit etwa 40 Jahren, seitdem die Ländereien
überall drainiert sind, ist die Malaria hier erloschen.
Aus meinen Untersuchungen möchte ich die folgenden
bevölkerungspolitischen Schlußfolgerungen ziehen:
1. Günstige hygienische Verhältnisse bei Abwesenheit aller
schädigenden Einflüsse, wie Alkohol, Syphilis, Fabrikarbeit ver-
mögen eine Bevölkerung nicht vor der Verbreitung erblicher
Anlagen des Zentralnervensystems zu schützen;
2. gerade solche Umstände, welche die „Reinrassigkeit“
begünstigen, wie kinderreiche Ehen bei geringer Kinder-
sterblichkeit, wenig Ab- und Zuwanderung, befördern auch die
Verbreitung erblicher Anlagen und führen schließlich zur
Degeneration.
340
Classen: Vererbung von Krankheiten und Krankheitsanlagen
Jochim Klahn, Hufner in Guttau, 1724 bis 1809*)
(Mutter geborene Heinrichsen),
verheiratet I. mit Anna Schütt:
5 — % — асһі Кіпаег, ohne Belastung.
?— keine Kinder.
2 — keine
Kinder.
IL mit Anna Höft, gest. 1819 (Mutter geborene Fischer):
A EE EI HP DICH DO S
. Elsabe Klahn (1777—1867), © Jürgen Höft (1759—1844).
. Simon Klahn (1779—1847), dreimal verheiratet.
. Jürgen Klahn (1781—1865), >> Katharina Prüß.
. Katharina Klahn (1782—1866), co Johann Höft (1766—1844).
. Hans Klahn (1782—1832), © Elisabeth Schröder.
. Wiebke Klahn, & Reis (in Großenbrode).
. Anna Klahn (1787—1870), © Jürgen Prüß.
. Karsten Klahn (1788—1856), > Margarethe Kröger.
. Gestorben vor 1819.
Stamm A: Elsabe Klahn und Jürgen Höft, Gosdorf:
—
.9— & Аќахіе — |, d gesund, acht gesunde Kinder.
Sander ? Ataxie, keine Kinder.
2. 2 — keine Kinder.
3. d unverheiratet (71 Jahre alt +).
4. $ — а.
(Jürgen) b.
E "e
? gesund, verheiratet mit Te. (Langbehn).
? unverheiratet.
? keine Kinder.
а. d keine Kinder.
5..8
ca bp E o © рр
g.
. d gesund, Nachkommen unbekannt.
. d gesund, fünf gesunde Kinder.
. ļ Nachkommen unbekannt.
Nachkommen unbekannt.
. & gesund, drei gesunde Kinder (s. Stamm E4).
. 2 gesund, gesunde Kinder.
g gesund, gesunde Kinder.
6. d keine Kinder, Selbstmord (68 Jahre alt).
7. % — а.
b.
с.
d.
e.
f.
? gesund, gesunde Kinder.
d beschränkt, skoliotisch, gesunde Kinder.
d ataktisch, Kinder kyphoskoliotisch (s. 4a).
? gesund, gesunde Kinder.
$ Nachkommen unbekannt.
? gesunde Kinder.
*) d = männlich, ? = weiblich.
Classen: Vererbung von Krankheiten und Krankheitsanlagen 341
8.5 a.d ataktisch: acht Kinder, darunter eins ataktisch
und neurasthenisch, eins hemiparatisch (beide mit
gesunden Kindern).
с
. 8 in Amerika.
? gesund.
. 2 gesund.
om Do
d nicht bekannt.
go ш
. 2 bei Segeberg, schwachsinnig, ohne Kinder.
. 2 gesund, gesunde Kinder.
Stamm B: Simon Klahn, dreimal verheiratet:
d
1. $ Johnsen [ ? keine Kinder.
zwei gesunde Kinder.
ee 2 gesunde Nachkommen. .
I. $ Johnsen ?
Ш. ®% Витапп 1а. $ Nachkommen nicht nachweisbar.
2b.
3b.
44.
5e.
6f.
7g.
8h.
9i.
10k.
1.2 —(? gesunde Kinder.
d
?
$
$
$
?
V
d
Nachkommen schwachsinnig
und blödsinnig.
Nachkommen schwachsinnig.
schwachsinnig, ohne Kinder.
ein Enkel epileptisch.
Nachkommen gesund (soweit
bekannt).
Nachkommen unbekannt.
schwachsinnig, schwach-
sinnige Kinder und Enkel.
unverheiratet jung gestorben.
O klein gestorben.
Stamm C: Jürgen Heinrich Klahn, verheiratet mit Katharine Prüss:
g ein schwachsinniges, mehrere gesunde Kinder.
2. 2— [3 klein gestorben.
$ ѕсһмасһѕіппір.
8 blödsinnig.
? klein gestorben.
3. d6—d gesunde Nachkommen.
? gesunde Nachkommen.
d gesund.
d gesund.
g gesund.
4. < — $ реѕипа.
d gesund.
$ gesund.
342 Classen: Vererbung von Krankheiten und Krankheitsanlagen
5. ?—? gesund und gesunde Kinder.
6. ? — Nachkommen unbekannt.
Т. &—d gesund, gesunde Kinder.
? gesund.
d gesund.
Ф nicht bekannt
8. ? — schwachsinnig.
Stamm D: Katharina Klahn und Johanna Höft:
І. (Prüss) 2 drei gesunde Kinder.
. (Höft) a.
—
=
gesund, gesunde Kinder.
gesund, gesunde Kinder.
уте ою ACA D,
O3 O3 Oy +0 +0 +0 +0
. 8 gesund, gesunde Kinder.
LN keine Kinder.
Stamm E: Hans Klahn und Elisabeth Schröder:
. keine Kinder.
. $ Nachkommen beschränkt, eine Tochter leicht epilep-
tisch, beschränkte Kinder.
с w
soweit nachweisbar gesunde Nachkommen.
оао
Oy O +0 O Оу
g.
Zu b: Frau aus der Seitenverwandtschaft, in der auch
Fälle von Schwachsinn vorkommen (s. Stamm A5e).
Stamm G: Anna Klahn und Jürgen Prüss:
a. ? gesunde Nachkommen.
b. ? Nachkommen unbekannt.
с. ? gesunde Nachkommen aus zwei Ehen.
d. ? gesunde Nachkommen, ein Sohn kyphoskoliotisch
Stamm H: Karsten Klahn und Margarete Schröder:
Nachkommen unbekannt, auswärts verheiratet.
Nachkommen unbekannt, auswärts verheiratet.
klein gestorben.
blödsinnig.
blödsinnig.
klein gestorben.
gesund, schwachsinnige Kinder.
?
+0 юю Оу Оч Оу юю юю
Geschlecht und Gesellschaft,
Neue Folge XI, 12
Tafel I
Strumpfband.
(Zu Pachinger: Strumpf und Strumpfband.)
STRUMPF UND STRUMPFBAND.
Kulturgeschichtliche Studie von Hofrat PACHINGER, Linz a.D.
Mit 3 Tafeln und 8 Textabbildungen.
Lee: sind die Blüten, die der menschliche Geist
auch in Bezug auf das Sammeln merkwürdiger Dinge
treibt. Und gar vieles von den alltäglichsten Gebrauchsgegen-
ständen wäre uns nicht erhalten geblieben, wenn nicht sammel-
frohe Menschen, die vor allen ehrwürdigen Zeugen früherer
oder späterer Vergangenheit eigene Pietät gewahrt haben, es
aufbewahrt und so vor der Vernichtung geschützt hätten.
Sammeln ist, oder wird Leidenschaft, und jede Leidenschaft
kann ins Pathologische übergehen. Sie kann ausarten, aber
nichts destoweniger ist vor allen der Kulturhistoriker dem
Sammler zu Dank verpflichtet.
Die Brüsseler „Gazette“ erzählte unlängst von einer Tisch-
zeug-, Handschuh-, Kneifer- und Kleiderbürsten-Sammlung.
Im XVIII. Jahrhundert gab es sehr luxuriös ausgestaltete Bürsten,
kunstgewerbliche Meisterstücke. Sie waren mit Lacküberzug,
mit Goldfäden, Malereien und Inschriften versehen. Es gibt
auch Fangbechersammlungen; ein Sammler in Bordeaux besitzt
etwa hundert Fangbecher aus Holz und Elfenbein, die aus drei
Jahrhunderten stammen und höchst originelle Verzierungen auf-
weisen. Man weiß auch von mehr als einer Strumpf- und
Strumpfbandsammlung: auf der halbverblichenen Seide mancher
dieser Bänder stehen gar sehr gewagte Verse und Devisen...
Herr von Watteville besaß eine äußerst reichhaltige Pfeifen-
sammlung. Er führte den Vorsitz in zahlreichen wissenschaft-
lichen Vereinen und die Forscher, die in die Welt hinauszogen,
ließen sich angelegen sein, ihm von ihren Reisen merkwürdige
Pfeifen mitzubringen. Er pflegte lachend zu sagen, daß man
nur bei ihm noch die echte Friedenspfeife rauchen könne, da
die Indianer sich jetzt nur ganz gewöhnlicher Tonpfeifen be-
dienen; — auch ein Fortschritt der Zivilisation!
Baron Perignon sammelte Rockknöpfe lange vor dem Ent-
stehen des bekannten Prager Knopfmuseums, Francois Carnoth
23
344 Pachinger: Strumpf und Strumpfband
alte Bleisoldaten aller Zeiten und Länder. Er bekam einen
sehr tüchtigen Konkurrenten in Herrn d’Allemagne, der sich
eine Sammlung von altem Spielzeug anlegte und der mit den
kleinen Soldaten, die er besitzt, ganze Schlachten schlagen könnte.
Der erste, welcher Schlüssel sammelte, war ein Maler,
Le secqu. des Tournelles. Er hatte hunderte von Schlüsseln aus
allen Epochen, von den plumpen und massiven Stadttorschlüsseln
der alten Zeit bis zu den ganz kleinen, ziselierten Schlüsselchen,
die wahrscheinlich die Pforte des Glückes öffneten. Unter seinen
Schlüsseln befand sich auch einer, der aus der Werkstatt Louis
XVI. hervorgegangen war. Wie wir wissen, war dieser arme
König ein vorzüglicher Schlosser, wie sein Vorgänger Louis XV.
ein ausgezeichneter Buchbinder war. Ein Herr Derriard hatte
höchst merkwürdige Autographen gesammelt: Briefe von Mördern.
Man mußte schon ein sehr anständiges Verbrechen begangen
haben, wenn man in seine Sammlung gelangen wollte. Derriard
besaß auch einen Brief, den der Massenmörder Troppmann aus
seiner Zelle heraus an den Untersuchungsrichter schrieb, um
ihm mitzuteilen, wo er das seinen Opfern geraubte Geld ver-
steckt habe; er besaß ferner einen Brief, in welchem der Gift-
mischer Dr. La Pommerais kurze Zeit vor Begehen seiner Ver-
brechen Ansprüche auf einen Orden geltend machte. Zu den
merkwürdigen Sammlungen gehört auch eine Schädelsammlung,
die Herr Le Barbier de Tinan besaß. Diese Sammlung war
jedoch nicht so unheimlich, wie es scheinen mochte, denn es
handelte sich nur um künstliche Schädel aus Holz, Elfenbein,
Eisen, Porzellan, Gold und Silber. In der Kunst, solche Schädel
zu formen, zeichnen sich besonders die Japaner aus. Der vor
ein paar Jahren verstorbene Pfarrer Liebe sammelte sein Leben
lang Edelsteine. Er hinterließ eine große derartige Sammlung,
die anfänglich für ungemein wertvoll gehalten wurde, bis Fach-
leute erklärten, daß es sich bloß um gute Kopien in geschliffenem,
farbigem Glas handelte; diesem Sammler bereiteten seine farben-
prächtigen, geschliffenen Glasstücke gewiß dieselbe Freude, wie
den reichen Fürsten die Schätze seiner Raritätenkammer.
Eine bekannte Newyorker Millionärs-Gattin sammelte mit
Leidenschaft — Strumpfbänder berühmter und vornehmer
Frauen. Hohe Summen wurden bezahlt, um diese mindestens
originelle Kollektion ständig zu vermehren. Die Amerikanerin
hat ein großes Zimmer ihrer Wohnung diesem Sporte eingeräumt.
Pachinger: Strumpf und Strumpfband 345
Hier finden sich die einzelnen Exemplare fein säuberlich auf
samtnen Kissen in gläsernen Vitrinen aufbewahrt. Man erblickt
zum Beispiel ein Strumpfband der verstorbenen Kaiserin Elisabeth
von Österreich, das diese eines Tages am Strande eines eng-
lischen Seebades verloren haben soll, neben dem der jugend-
lichen Prinzessin (Gustav Adolf von Schweden, das auf dem
nicht ganz lauteren Wege der Dienstbotenbestechung in den
Besitz der amerikanischen Lady gelangt sein soll. Auf ähnliche
Weise kamen wohl auch die der Königin Wilhelmina von
Holland und der Königin-Witwe Margarita von Italien hieher,
doch zeichnen sich beide Bänder nicht in besonderer Weise
aus. Sehr beliebt scheint es, wie man bei dieser Gelegenheit
erfährt, bei manchen Damen der großen Welt, dies intime
Toilettenstück mit einem Spruche zu versehen. So enthält die
Sammlung das Strumpfband der schönen, morganatischen Ge-
mahlin eines immer noch aus seiner Heimat verbannten russischen
Großfürsten, das auf seidenem Untergrunde eine mit Silberfäden
gestickte Devise zeigt. Ein anderes, das die unglückliche
Königin Draga von Serbien in ihren letzten Lebenstagen getragen
haben soll, zeigt ein volkstümliches serbisches Motto. Mit den
Strumpfbandversen werden wir uns im Folgenden noch ein-
gehend beschäftigen. Aber alle aus dem höchsten Gesellschafts-
niveau stammenden Bänder nehmen sich höchst unscheinbar
aus neben denen einiger berühmter Koryphäen aus dem Reiche
der Tanzkunst. Hierzu gehört ein Strumpfband, das einst ein
Prinz aus regierendem Hause der bekannten spanischen Tänzerin
Otero verehrt haben soll, und das einer ihrer Pariser Rivalinnen,
beide reich mit Gold und Edelsteinen verziert, aber wenn auch
kostbarer, so doch nicht so geschmackvoll wie das, welches
einst der unvergeßlichen Maria Taglioni gehörte und, aus
schwerem Golde gearbeitet, in gefälliger Zeichnung die Form
einer gewundenen Schlange zeigt, deren Augen durch ein Paar
prächtig leuchtende Rubine gebildet sind. Eine Gerichtsver-
handlung wegen ein paar mit Diamanten besetzten Strumpf-
bändern, die in einem Städtchen des Staates New-York spielte
und im letzten Vorkriegsjahre viel Heiterkeit erregte, hat sich
folgendermaßen zugetragen: Miß A. D., eine bekannte Schau-
spielerin war von ihrer Schneiderin in Boston auf Bezahlung
von 500 Dollar verklagt worden. Die Diva räumte unumwunden
ein, diese Summe zu schulden, könne aber im Augenblick nicht
23*
346 Pachinger: Strumpf und Strumpfband
bezahlen, weil sie von ihrem Direktor die Gage noch nicht be-
kommen habe. Der Anwalt der klagenden Schneiderfirma
griff aber in die Verhandlung ein und erklärte, er werde Pfän-
dung der Beklagten beantragen. Sie habe pfändbare Gegen-
stände im Besitz, nämlich diamantbesetzte Strumpfbänder, die
einen Wert von 1170, in Buchstaben: elfhundert und siebzig
Dollar — hätten. Der Verteidiger der Schauspielerin ging darüber
hinweg, und fragte nur, woher sein Gegner diese Kenntnis habe.
Er bestritt den Tatbestand durchaus nicht, meinte aber, dort wo
die Verklagte ihre Strumpfbänder zu tragen pflege, seien sie
außerhalb des Bereiches der Gerichtsbarkeit, damit war die
Frage der Pfändbarkeit auf ein anderes Gebiet hinübergespielt.
Das Gericht entschied daher: die juwelengeschmückten Strumpf-
bänder im Werte von 1170 Dollar dürften nicht gepfändet
werden, solange sie da getragen würden, wo sie außerhalb des
Machtbereiches des Gerichtes seien. Und dabei blieb es.
Die Geschichte des Strumpfes ist noch nicht geschrieben.
In einem St. Gallener Manuskript aus dem Jahre 832 findet sich
eine Bemerkung, daß für ein paar Strümpfe acht Denare gezahlt
wurden. Freilich dürfen wir dabei nicht an einen Strumpf in
unserem Sinne denken. Es wird sich jedenfalls um Männer-
strümpfe handeln, die hier erwähnt sind. Wir finden auf den
Abbildungen des Mittelalters bei den Damen lange Kleider, die
das Bein fast bis zur Schuhspitze verhüllten, denn es galt in
vornehmen Kreisen als unanständig, die unbekleideten Beine zu
zeigen. Wie man aus Zeichnungen des XII. und XIII. Jahr-
hunderts ersieht, trugen nur die Bauernmädchen damals kurze
Kleider. Sie tanzten in schwerfälligen Holz- oder Lederschuhen
mit bloßen Beinen. Um die Mitte des XV. Jahrhunderts scheint
der Wadenstrumpf in Gebrauch gekommen zu sein. Seine Er-
findung mußte damals sensationell gewirkt haben. Die Königin
Maria von Ungarn, eine Schwester Karl V., hatte ein eigenes
Fest zu Ehren des Strumpfes gefeiert. In einem allegorischen
Festspiele, das diese Entdeckung verherrlichte, trat sie mit ihren
Hofdamen auf. Der Strumpf wirkte schnell und revolutionär
auf die Kleidermode der Damen. Die Gewänder wurden
kürzer, der wallende Stoffüberfluß, der bis dahin die Beine und
Füße der Frauen verbarg, verschwand; die Damen konnten den
Fuß freigeben, weil sie die Beine bekleiden konnten. Diese
Entwicklung muß rapid gewesen sein, denn wir finden bald in
348 Pachinger: Strumpf und Strumpfband
schließlich zum Gebrauch für Frauen bestimmt. Daher begnügte
man sich nicht mit einfachen Seidenbändern und Schleifen,
sondern faßte die Bänder sogar mit Juwelen ein und hielt sie
mit Edelsteinschlössern zusammen. Als Zeichen besonderer
Zärtlichkeit galt es, wenn ein Miniaturbildnis oder wenigstens
die Silhouette des Gatten oder Liebhabers auf dem Strumpfband-
Abb. 1. Augsburger Modekupfer von M. Will (18. Jh.)
Strumpf wird mit breitem Band befestigt. (Sig. Pachinger, Linz).
schloß prangte. Durfte man das Bildnis nicht offen und ehr-
lich tragen, so ließ man es in einem Medaillon mit Geheim-
schloß anbringen und die Juweliere jener Zeit hatten gute Tage,
da die Aufträge auf Medaillons mit Geheimschlössern nicht
gerade selten einliefen.
Amaranthes (G. W. Corvinus) beschäftigt sich in seinem
berühmten, in Leipzig 1719 erschienenen „Nutzbaren, galanten
und kuriösen Frauenzimmer-Lexikon“ auch mit den Strümpfen.
Pachinger: Strumpf und Strumpfband 349
„Die Strümpfe“ — sagt der biedere alte Forscher — „seynd
ein Überzug der Füsse, von Wolle, Zwirn, Garn, Seide, Bieber-
Haaren oder Castor und Baumwolle gewebet, gewalcket, genehet
oder gestricket, manchmal mit Gold oder silbernen Zwickeln
Abb. 2. Strumpf und Strumpfband am Ende des 18. Jh.
gezieret; zu Sommerszeit träget das Frauenzimmer auch der-
gleichen von Leder, wider den Mückenstich.“ Auch des Strumpf-
bandes wird ausführlich erwähnt, und zwar „ist es ein gewircktes
oder von Damast zusammen genähtes Band, womit sich das
Frauenzimmer die Strümpffe unter dem Knien hinaufzubinden
350 Pachinger: Strumpf und Strumpfband
pflege. Einige bedienen sich auch der Knie-Tressen mit
Schnällchen. Etliche Potentaten haben den Gebrauch, daß, ehe
sie ihre Braut zu Bette führen, sie selbiger zuvor durch einen
von ihren Ministern das eine Strumpffband in der Brautkammer
ablösen lassen, wiewol es auch die Adel-Bräute an etlichen
Orten also halten.“ Corvinus teilt aber auch mit, wie die
zerrissenen Strümpfe zu reparieren sind. „Strümpffe besohlen
oder besetzen heißet dem Weibsvolk die unten her zerrissenen
Strümpfe durch eine nach dem Fuß aus Parchet oder Leinwand
geschnittene Sohle und Kappe wiederum ersetzen und ganz
machen.“
Nicht uninteressant ist die Erwähnung des ‚Strumpfbandes
bei J. J. Casanova, dem berühmten Abenteurer und Lebens-
künstler. Wir lesen Bd. 6, c. 8 „Fortschritt meiner Liebschaft
mit der schönen C. C.“ folgendes: „Aber, mein Freund, erkläre
mir die Worte, die auf die Strumpfbänder gestickt sind.“ (Sie)
„Sind Worte darauf? das wußte ich nicht.“ (Er)
„Ja es ist französisch, mache mir das Vergnügen und lies
es mir vor.“ Hier die beiden Verse, die ich hätte lesen sollen,
ehe ich ihr das Geschenk machte.
„Ihr, die ihr täglich den Schmuck meiner Schönen erblickt —
Sagt ihr, daß Liebe allein sie beglückt.“
Diese Verse, die ohne Zweifel sehr frei waren, schienen mir
treffend, komisch und geistreich zu sein. Ich lachte laut und
mein Lachen verdoppelte sich, als ich ihr die Verse übersetzen
mußte, um sie zufrieden zu stellen; da der Begriff für sie neu
war, mußte ich ihr denselben verdeutlichen und das setzte uns
ganz in Feuer.
„Ich werde jetzt nicht mehr wagen, meine Strumpfbänder
irgend jemand zu zeigen“ — sagte sie — „und das tut mir
leid.“
Ich hatte ein nachdenkliches Wesen angenommen und sie
fragte:
„Sag mir, woran denkst du?“
„Ich denke daran, daß diese glücklichen Strumpfbänder
ein Vorrecht genießen, welches mir vielleicht nie zu Teil wird.
Wie gerne möchte ich an ihrer Stelle sein!“
In Prosa und Dichtung ist von kostbar gestickten, mit
Edelsteinen verzierten Strumpfbändern die Rede. Der Franzose
kennt mehrere Charaden und Rätsel, die sehr pikant scheinen,
Pachinger: Strumpf und Strumpfband 351
deren einfache Lösung aber das Wort „Strumpfband“ ist.
Maler und Kupferstecher aller Zeiten verherrlichen auf galanten
Bildern diesen vielsagenden Toilettegegenstand und in des
Hofrates Moritz August von Thümmel bekanntem Roman „Reise
Abb. 3. „Am häuslichen Herd“. Strumpf und Strumpfband um 1800.
durch die mittägigen Provinzen von Frankreich“ spielt auch
das Strumpfband Marias eine wichtige Rolle.
Seinen höchsten Luxus entfaltete der Strumpf in Frankreich
und England zur Zeit Louis XV. und während der Revolutions-
epoche (um 1795) boten sich die weiblichen Strümpfe-in den
grellsten Farben und überladen mit Stickereien in den ver-
schiedensten Mustern den Blicken ziemlich aufdringlich dar.
Unter dem Kaiserreich zeigten sie freilich etwas mehr Zurück-
haltung, aber an luxuriöser Ausstattung standen sie denen des
alten Regimes wenig oder gar nicht nach. Die erste Gemahlin
Napoleons ließ ihrer Putzsucht auch in diesem Artikel frei die
352 Pachinger: Strumpf und Strumpfband
Zügel schießen. Sie besaß 108 weißseidene, mit ihrem Namens-
zuge und teils auch mit Spitzen geschmückte Strümpfe, für die
sie 18 bis 72 Francs das Paar bezahlte, wohl in noch größerer
Zahl blauseidene, die sie bevorzugte; außerdem 32 Paar rosa-
farbene und 18 Paar anders gefärbte. Auch Maria Louise,
Napoleons zweite Gemahlin, die sonst keinen übermäßigen
Abb. 4. Strumpfband zum Binden. (Radierung v. Gillray, 1791.)
Toiletteluxus trieb, glaubte sich ohne die feinsten, kunstvoll
verzierten Strümpfe nicht behelfen zu können. Ihre höchsten
Triumphe aber feierten die „Bas“ in Frankreich um das Jahr
1839, als die Mode der kurzen Kleider ihnen gewissermaßen
einen freien Ausblick gewährte.
Die weißen Damenstrümpfe blieben bis zum Ende des zweiten
Kaiserreiches vorherrschend. Erst in den letzten Jahrzehnten
Pachinger: Strumpf und Strumpfband 353
des vorigen Jahrhunderts gewannen die schwarzen den Vorzug
und haben bisher allen Anstürmen, die darauf gerichtet waren,
sie zu entthronen, fast in allen Ländern siegreich stand gehalten.
In unserer Zeit überbieten die Frauen und Töchter amerika-
nischer Multimillionäre und die „neuen Reichen“ in Deutschland
selbst die extravagantesten Pariserinnen. Hugues le Roux er-
zählt in seinem Buche: „Die Liebe in den Vereinigten Staaten“,
Abb. 5. Rolle der Weiber beim Boxermatch (v. Thomas Rowlandson 1811).
Zeigt das zur Schleife gebundene Strumpfband.
einer der größten Strumpffabrikanten Amerikas habe ihm ver-
raten, seine Kundinnen gäben bereitwillig hundert Franken für
ein paar Strümpfe ohne Stickereien. Der Preis gehe nicht un-
erheblich in die Höhe, wenn echter Spitzenbesatz hinzukäme.
Das war natürlich noch im tiefsten Frieden.
Um nun wieder auf unsere Strumpfbänder zurückzukommen,
wäre zu erwähnen, daB im XVIII. Jahrhundert für diesen
Toilettegegenstand farbenprächtige Bänder, Stickereien auf Gold-
und Silberbrokat, Seide und Atlas bevorzugt wurden. Als Ver-
zierung herrschte neben dem Ornamente der Buchstabe vor,
der sich zu Monogrammen, Worten, Versen und selbst ganzen
Dichtungen gestaltete.
354 Pachinger: Strumpf und Strumpfband
Die Bänder, ursprünglich zum Binden eingerichtet (Abb. 1,
2,3,4), werden jetzt schon zum Teil mittels Metallschnallen
geschlossen (siehe Tafel I). Natürlich wird bei der Herstellung
dieser Schließen wieder viel Luxus verwendet. Bei Bändern,
die nicht zu Maschen gebunden wurden (Abb. 5), verwendet
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Abb. 6. Strumpfband mit Aufschrift
„Hony soit qui mal y pense“ (= Schmach über den, der Übles denkt).
man, um sie elastisch zu machen, feine Spiralfedern aus Metall-
draht. In der Rokokozeit finden sich Männerstrumpfbänder,
die denen der Damen an Kostbarkeit der Ausführung und des
Materiales nicht nachstehen (Tafel III).
Aus der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert sind uns
viele mit Bild und Vers sinnig verzierte Braut- und Gebrauchs-
Strumpfbänder erhalten, die mit Kunst und Witz geschmückt sind.
Pachinger: Strumpf und Strumpfband 355
In dieser Zeit blüht die Poesie nicht nur in freundschafts-
seligen Stammbuchversen, nein, auch an den Strumpfbändern,
an den Beinen schöner Frauen, rankt sie sich in zarten Blüten
empor (Tafel I).
Stickerei, Pinsel und Druckerschwärze kommen zur An-
wendung, um Linien und Buchstaben, Liebesgötter, Blumen und
empfindungsvolle Reimereien auf dem knisternd-bunten Zeuge
zu verewigen.
Anfänglich überwiegt dabei auch im deutschen Lande die
Auslandskultur. Die Devisen und Verse sind in französischer
Sprache abgefaßt. Die Poesien behandeln — häufig mit einem
leicht erotischen Beigeschmack (Abb. 6) — immer Liebe, Frauen
Abb. 7 Anlegen des Strumpfbandes aus A. M. Thümmels „Reise durch die mittägigen
Provinzen Frankreichs. (Stich um 1790, Sig. Pachinger).
356 Pachinger: Strumpf und Strumpfband
und sachgemäß das Knie der betreffenden Dame, der man die
Paradestrumpfbänder verehrte. Immer drücken die dargebrachten
Verse eine Huldigung, in vielen Fällen Segenswünsche für eine
junge Ehe aus.
Wie schon früher erwähnt, spielt das Brautstrumpfband in
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hohen Gesellschaftskreisen heute noch eine gewisse Rolle. Am
preußischen Hofe wurde nach einem feststehendem Zeremoniell
während des Hochzeitstanzes der jungen Frau das Strumpfband
geraubt, das dann zerschnitten und an die Gäste des Hauses
als Erinnerung an das Fest verteilt wurde.
Pachinger: Strumpf und Strumpfband 357
Die französische Hofchronik erzählt, daß Kaiser Joseph II.
bei seinem Besuch in Paris auch die Gräfin Dubarry, die letzte
Staatsmaitresse Louis XV., aufsuchte. Während des Gespräches
entfiel der sehr beweglichen Französin eines ihrer Strumpfbänder.
Schnell bückte sich der galante Monarch, hob es auf und
überreichte es der schönen Gräfin mit den Worten: „Es ist
nicht unter der Würde eines Kaisers, den Grazien zu dienen.“ —
Selbstverständlich war das Anlegen und Öffnen des Strumpf-
bandes eine besondere von den Damen verliehene Gunst (Abb. 7
und Tafel III).
Mohammed sagt in Bezug auf die Strumpfbänder, wohl
zum Hinweis auf Jesaias c. 3, 16—24: „Die Frauen sollen die
Schmuckbänder an den Knien nicht zeigen.“ Unter diesen
Schmuckbändern sind meines Erachtens keine Strumpfbänder in
unserem landesüblichen Sinne, sondern schimmernde Spangen
und klirrende Fußkettchen zu verstehen.
Die griechische Sprache unterscheidet schon das eigentliche
„Strumpf“band, das unterhalb des Knies getragen wurde.
ö yovarodeouos (Gonatodesmos) oder Unoyovdrıos desuös (Hypo-
gonatios desmos) von dem Schenkelband: т0 лергсх оу (Регіѕ-
kelion).
In England gelangt das Strumpfband schon in früher Zeit
auf einen hohen Rang, zur Staatswürde, durch Gründung des
sogenannten Hosenbandordens, den Eduard III. im Jahre 1350
gestiftet hat. Die Sage erzählt, daß bei einem Feste während
des Tanzes die Maitresse des Königs, die schöne Gräfin Salis-
bury ihr blaues Strumpfband verlor. Der galante Monarch
bückte sich und, indem er es aufhob, zog er das seidene Ge-
wand seiner Dame in die Höhe. Die umstehenden Hofleute
lächelten, die Gräfin wurde böse und der König hob das blaue
Band in die Höhe und knüpfte es sich mit den historischen
Worten: „Honny soit, qui mal y pense“ unter das linke Knie.
kg Häufig scheint man in Frankreich und auch in Wien auf
jedem Bein zu langen Strümpfen zwei Strumpfbänder getragen
zu haben und zwar unter dem Knie ein zu einer Masche ge-
knüpftes Seidenband, über dem Knie ein elastisches Band mit
Schließe. Eine ganze Reihe galanter Photographien aus Wien
und Paris aus den 50er und 60er Jahren des vorigen Jahr-
hunderts zeigen bei den Damen, die ihre Beine enthüllen, diese
beiden Arten der Strumpfbefestigung. Wir bringen (im Aus-
358 Pachinger: Strumpf und Strumpfband
schnitt) auch ein derartiges Lichtbild, das um die Mitte der 60er
Jahre zu setzen sein dürfte. Die Trägerin hat handgestrickte
Strümpfe mit breiter Durchbruch-Randbordüre. Hinter den
Beinen ist die Krinoline sichtbar und zwar eine französische
Krinoline mit in Netzwerk eingesetztem Fischbeinreifen (Abb. 8).
Um alle Arten des Strumpfbandes aufzuzählen, müssen wir
endlich auch noch das Strafstrumpfband erwähnen, den traurigen
Rest mittelalterlicher Tortur. Dieses Instrument besteht aus
einem feinmaschigen Drahtgeflecht von zwei Zentimeter Breite,
dessen ganze innere Fläche mehrreihig mit kleinen Eisenspitzen
bedeckt ist, die besonders beim Knien, der Trägerin sich in
sehr schmerzhafter Weise fühlbar gemacht haben dürften. Diese
Strafstrumpfbänder waren ihrer Konstruktion nach in gleicher
Weise wie die sogenannten Klosterbußgürtel geflochten, die
noch im XVII. Jahrhundert reuige Sünder und schöne
Sünderinnen eine bestimmte Zeitlang am bloßen Leibe um die
Taille tragen mußten. In meiner Sammlung besitze ich von
den Drahtstrumpfbändern und diesen Bußgürteln je zwei
Exemplare.
Zu dieser erbaulichen Abhandlung hat mich eine in Linz a.D.
befindliche Sammlung von Strumpfbändern veranlaßt und es
drängt sich mir das Bedauern auf, daß man die einzelnen er-
wähnenswerten Stücke dieser galanten Kollektion nur mit
Worten beschreiben und nicht dem Leser in ihrer bunten
glitzernden Farbenpracht, den eigenen Zauber der alten Atlas-,
Seiden- und Samtbänder, die im Laufe der Zeit verblaßt und
harmonisch matt gestimmt sind, vor Augen führen kann. Diese
Sammlung von eigenem Reiz weist fast einhundert Paare der-
artiger Bänder und Verschlüsse auf, von denen wir vor allem
diejenigen, welche Verse zeigen, ins Auge fassen wollen.
Wir finden hier durch einen Zeitraum von ca. 150 Jahren
alle Typen der Binde- und Schließenbänder vertreten.
Ein paar weiße Atlasbänder, weich gefüttert und mit Gold-
fäden und bunter Seide bestickt, zeigen von wellenförmigen
Ornamenten eingefaßt, den Spruch:
„Wo Tugend und Verstand mit reiner Liebe wohnet“ —
am zweiten Bande: „Die wird durch Himmels Hand mit gleichem
Wert belohnet.“
Die Mitte jedes Bandes ziert ein Herz, dessen Fläche ein-
mal in Goldstickerei das Monogramm C. D. C., das andere Mal
Lady Hamilton. (Detail eines großen Kupferstichs von Gillray.)
Strumpfband als einfaches Band.
(Zu Pachinger: Strumpf und Strumpfband.)
Tafel II
Tafel II
Der Raub des Strumpfbandes.
Englisches Schabkunstblatt von Brilly um 1790. Sig. Pachinger, Linz.
(Zu Pachinger: Strumpf und Strumpfband.)
Pachinger: Strumpf und Strumpfband 359
die Jahreszahl 1747 füllt. Aus derselben Zeit stammt ein
anderes Paar mit dem wieder auf beide Bänder verteilten
Spruche:
„Aller Segen, den der Himmel hat,
Soll dein edles Herz erfreuen.“
Diese beiden Schriftzeilen sind umgeben von einem in
zarten Farben gestickten Kranze, der aus Rosen und Vergiß-
meinnicht geflochten ist. Ein paar andere Strumpfgürtel aus
der Mitte des XVII. Jahrhunderts tragen in Webetechnik den
schönen Spruch:
„Conservant ton estime sera toujour content.
Ton plus fidel ami toi töffre ce present.“
Zu deutsch:
„Dein treuer Freund wird immer zufrieden sein, wenn er sich
durch dieses Geschenk deine Achtung bewahrt.“
Ein paar verblaßte, gelbliche Seidenbänder mit Atlas-
polsterung — richtige Oberkniegürtel — reich mit bunter Seiden-
flachstickerei verziert, tragen nebst dem Monogramm E. v. K.
die Sprüche:
„La gloir est la recompence de la vertu.
Au bessoire on connoit lami.“
Zu deutsch:
„Der Ruhm ist Lohn für die Tugend.“ „In der Not erkennt
man den Freund.“
Ein paar rosafarbene brokatseidene Binde-Strumpfbänder
vom Jahre 1750 tragen den sinnigen Spruch:
„Wo wir binden, wo wir glänzen,
Sind Ulricis Landesgrenzen.“
Jedenfalls hieß der schüchterne Bräutigam oder Liebhaber Ulrich.
Noch weniger harmlos sind schon die Worte, die sich auf
einem purpursamtenen Beingürtel in feiner Goldstickerei vor-
finden:
„Les filles traitables
Sont les plus aimables.
Zu deutsch:
„Die nachgiebigsten Mädchen sind die liebenswürdigsten.“
Zwei lange, seidenbordenartig gewebte Strumpfbänder von
goldbrauner Farbe aus dem Nachlaß der bekannten 1830 ver-
storbenen Wiener Sängerin Therese Krones stammend, tragen
24
360 Pachinger: Strumpf und Strumpfband
in gelber Seidenstickerei die begehrlichen Worte: „Un peu —
Plus haut!“
Dem ХУШ. Jahrhundert gehören auch noch die beiden
langbändigen spanischen Strumpfbänder an, die in einem blauen
Mittelstreifen, von weißen, silberfadendurchwirkten Bordüren
gesäumt, in Webetechnik den Spruch tragen:
„No puede y con razon —
Des cansar mi corazon.“
Zu deutsch:
„Ich kann nicht und mit Grund
Mein Herz ermüden.“
Zwischen zierlich gewebten Rosengirlanden lesen wir auf
zwei blaßgelben Bändern die Worte:
„Dein weißes Knie
Vergeß ich nie.“
Auf zwei rotseidenen Bändern mit Metallschließen finden
sich in dem weißen Mittelstücke folgende volkstümliche Verse:
„Kommt dir gleich einer,
Ist schöner als ich,
Herzchen, mein Schätzchen,
Gedenke an mich.“
„Herzchen, mein Schätzchen,
Bist tausendmal mein.
Laß dir kein’ andern
Nicht herzlieber sein“ (s. Tfl. 1).
Auf hellgrünem Atlas von Kupferdruck-Verzierung: Stab, Blumen,
Kränze und Amor mit Blumenvase, finden sich auf zwei
Schließenstrumpfbändern folgende eigentümlich anmutende Verse:
„In stillen, ungestörten Freuden
Durchwandle deine Lebensbahn:
Ein Engel mild’re deine Leiden
Und ordne deines Daseyns Plan.“
„Schön, wie die ersten Frühlingskränze,
Die uns des Zephyrs Athem gab,
Sanft wie die Abendröthe glänze
Dein Nachruhm um dein spätes Grab.“
Endlich wären noch die lithauischen Frauenstrumpfbänder
aus der Mitte des XVII. Jahrhunderts zu erwähnen, zweifinger-
breite, aus starker Seide gewebte, je (ix Meter lange Bänder
Pachinger: Strumpf und Strumpfband 361
in den lithauischen Farben, deren Enden in Fransen verlaufen.
Auf beiden Bändern läuft eingewebt ins Band der Wunsch:
„Aus Freundes Hand“ — „Ein lithauisch Band.“ Diese volks-
tümlichen Webereien dienten als Geschenke, welche von
lithauischen Studenten, die zu Anfang des XIX. Jahrhunderts
eigene landsmännische Verbindungen in Süddeutschland ge-
gründet hatten, aus der Heimat mitgebracht und ihren Freun-
dinnen in den Universitätsstädtchen verehrt wurden.
Diese langen, breiten Bänder wurden jedenfalls oberhalb
des Knies gebunden und in schöne Maschen geschlungen und
sind vielleicht die letzten Ausläufer der um die Mitte йез ХУШ.
Jahrhunderts sehr gebräuchlichen „Schenkelstrumpfgürtel* zu
betrachten.
Und zwei weißsamtene, mit Blumen bemalte, breite Knie-
gürtel aus dem Ende des XVIll. Jahrhunderts drücken den
frommen Wunsch aus:
„So oft dich diese Schleife drückt“ — „So denk an mich.“
Aus der gleichen Zeit stammen zwei hellblaue Moir&bänder,
deren jedes zwei Verszeilen trägt:
„Ein Seidenbändchen blau dem elfenschlanken Bein.
O! wäre ich dein Mann. O! wärst du doch schon mein.“
Von zwei Paar weißen Atlasbändern (Zeit um 1800) trägt
das eine die Widmung:
„In stetem Wohlergehen
Dein Eh’stand soll bestehen.“
während das andere auch in Pinselschrift den Wunsch zum
Ausdruck bringt:
„Nichts mache bis an’s späte Ziel
Des Ehestands Freuden trübe.“
In der Empirezeit werden die Verse auf den Seidenbändern
länger, die Ausschmückung aber minderwertiger. An Stelle
der mühevollen Stickereien und Applikationsarbeiten, schillernder
Metallfäden, Flinserln und Plättchen, tritt der Buchdruck auf und
wie bei Wunschkarten aus dieser Zeit, werden Einrahmungen
und Bordüren im Kupferstich aufgepreßt.
In der vorliegenden Sammlung finden sich an solchen
Bändern (aus der Zeit von 1800—1830) noch zahlreiche, mit
Versen und Bordüren, Amoretten und Allegorien reich ge-
schmückte hellblaue, rosenfarbene und weiße, größtenteils schon
‚24*
362 Pachinger: Strumpf und Strumpfband
mit Schließen (nicht mehr mit Bindebändern) in zierlicher Form
versehene Strumpfbänder vor.
Einige der originellsten Gedichte, die für diese gefühlvolle
Zeit charakteristisch sind, möchte ich noch im Wortlaute an-
führen.
Das weiße Band von zwei rotseidenen, mit vergoldeten
Schließen gezierten Kniegürteln trägt von 1—4 numeriert,
folgendes Gedicht:
„Wenn erwacht von süßem Schlummer
Dir Aurora lächelt früh,
O! so binde ohne Kummer
Dieses Bändchen um dein Knie.“
„Sinkt die Sonne abends wieder
Nach vollbrachtem Tageslauf,
Löse, Liebe, sie dann wieder
Mit Erinn’rung an mich auf.“
„Möchte dieses Bändchen an den Füßen
Jeden Schritt des Lebens dir versüßen.
Mächt gleich wie des Frühlings Blütenhain,
Heiterkeit und Scherz dein Leben sein.“
„Heiter stets und immer freudenhelle
Soll dir jeder Lebenstag entflieh’n.
Dann wird, wie die Blüten an der Quelle
Schöner deines Daseins Stern erglüh’n.“
Zwei Strumpfbänder aus blauem Atlas mit Ornamenten,
Blumen und Amoretten reich verziert, mit Silberschließen zum
Befestigen, tragen folgenden frommen Wunsch:
„Binde dieses Bändchen
Alle Morgen früh
Mit deinem schönen Händchen
Um dein rundes Knie.“
„Kommt der Abend wieder
Nach der Sonne Lauf,
Binde dieses Bändchen
Mit Vergnügen auf.“
Wenn wir im Vorigen Widmungen im allgemeinen Sinne
vor uns hatten, so folgen vier Paar Bänder mit Gedichten zu
ganz bestimmter Gelegenheit. Vorerst zwei Geburtstagswid-
mungen:
Pachinger: Strumpf und Strumpfband 363
Auf glattem, rosafarbenem Atlasband in Kupferstichverzierung
die Verse: Zum Geburtsfeste 1830.
Friederike!
„Teure Freundin, an dem frohen Tage
Der sich heute festlich Ihnen ’neut,
Sey mit doppelt raschem Herzensschlage
Hier mein süßer Seelenwunsch geweiht.“
„Freudelächelnd im Verklärungsglanze
Und der Liebe süßes Hochgefühl,
Die Gesundheit mit dem Nelkenkranze,
Und der munt’re Scherz im leichten Tanze
Leite Sie bis an Ihr spätes Ziel!“ М. В.
Ein anderes Paar, rosaseidene mit langen Bindebändern,
grüner Randeinfassung und dito Atlasfutter trägt in der Mitte
die Widmung: „Meiner Freundin Nanette Högl“ — „Zum
Geburtsfeste gewidmet von J. B. Stanger.“
„Nimm hin das Bändchen als ein Zeichen
Der Achtung und Verbindlichkeit.
Noch oft sollst du den Tag erreichen,
Der heute mich und Dich erfreut.“
„Von Freuden, die mein Herz entzücken,
Sey jede deiner Stunden voll.
Mit Wonnestrahl aus deinen Blicken
Zufriedenheit und inn’res Wohl.“
Zwei Bänder aus rosafarbener Seide in gleichfarbiger Ein-
fassung mit weißem Atlas weich gefüttert und mit langen rosa
Seidenbändern zum Befestigen, tragen in der Mitte in einem
klassizierenden Kupferdruckrahmen die Widmung: „Zum An-
denken meiner Freundin Minna Veith“ — „Gewidmet von
С. Zernack. Merseburg im Jahre 1839.“
„Geliebtes Mienchen, diese Bänder
Sind Dir geweiht als Unterpfänder
Der Freundschaft, Treu und Liebe
Aus reinem Herzens-Triebe.“
„Umwinde fröhlich deine Knie
Mit diesen Bändern und es blüh’
Gleich Rosen Deine Lebenszeit
In Wonne und in Fröhlichkeit.“
364 Pachinger: Strumpf und Strumpfband
(Am 2. Bändchen:)
„Blumen, in Kränze gewunden,
Sieht man in wenigen Stunden
Welken, sterben und traurig verblüh’n.“ —
„Doch in dem Herzen des Treuen, der diese Bänder Dir weiht,
Blüht Achtung und Liebe, die nimmer verglüh’n.“
Ein paar weiße Atlasstrumpfbänder mit langen, hellgrünen
Bindebändern, das Hochzeitsgeschenk eines Freundes, tragen
die folgenden launigen Verse. (Buchdruck in Kupferstich-
umrahmung).
Ja, ja, so geht's, wenn man sich auch
Nach alter Sit? und deutschem Brauch
Zu Liebesdiensten offeriert.
Wenn man auch gleich bei Ehr und Pflicht
Beteuert, daß man eben nicht
Dem Nächsten bloß um Lohn serviert,
So wird ein solcher Dienst doch manchmal depreciert.
Dies Schicksal hatte jüngst auch ich,
Als alter Praktikus erbot ich höflich mich,
Und zwar, ich könnt’ es leicht beschwören,
Recht säuberlich in Zuchten und in Ehren,
Ja, was noch mehr, um billigen Lohn
Für meine Operation,
Ein Strumpfbandmaß gleich ober’m rechten Knie
Bey einer jungen Braut zu nehmen.
Allein, so gern ichs that, so hieß es doch: Merci,
Mein Herr. Hierzu kann ich mich keineswegs bequemen.“
„Da stand ich alter Praktikus,
Sann hin und her bei rebus ita stantibus.
Was ist, dacht ich, zu thun? Jenun, du willst probieren
Willst aufs gerade Wohl Strumpfbänder fabrizieren,
Und sie der jungen Braut zur Hochzeit präsentieren.
Sie wird doch, paßt euch nicht das Maß,
Sie nicht, dies wäre mir ein schöner Spaß, —
Mir jenen Liebesdienst auch etwa refüsieren?“
„Doch nein, das fürcht ich nicht. Wohlan, istnun auch gleich
Die Fabrikation an Stickerei nicht reich,
Ja fehlt auch hie und da so manches an den Bändern,
Pachinger: Strumpf und Strumpfband 365
Sind sie zu kurz, zu lang, zu breit,
So wird im Kabinett dies alles mit der Zeit
Der Bräutigam schon wissen abzuändern.“
Als Brautstrumpfbänder muß auch jenes Paar angesprochen
werden, das in feiner Applikationsarbeit auf weißer Zwirnspitze
mit Klöppelspitzen garniert und breiten Seidenbändern zum
Binden, im Mittelstück in einem ovalen, gestickten Kränzchen in
bunter Seidenmosaiktechnik einen Herrn zeigt, der einer Dame
in Krinoline die.Hand reicht. Daneben die Jahreszahl 1863 und
links die Buchstaben H. C. und E. C. auf jedem Mittelstücke.
Vielleicht können auch jene beiden grünseidenen, weichen
Bänder als Brautstrumpfbänder in engerem Sinne angesehen
werden, die auf einem schmalen, weißen Mittelstück in feiner
(Haar-?) Stickerei die Devise zeigen: „Nous offre a la prudence.“
Zu deutsch: „Sei klug.“
Die Poesie der Strumpfbänder ist heute endgültig vorüber.
Es geht damit, wie mit vielem anderen aus der guten, alten
Zeit, was uns so poetisch anmutet, wie der Lavendelduft in
Großmutters Wäschekasten. Hygienische Bedenken sollen maß-
gebend sein, daß der Gebrauch des zierlichen, altehrwürdigen
Strumpfbandes in Mißkredit gekommen ist.
Vom poesieumsponnenen Bändchen ist man heute zu einer
anderen Mode gelangt, den Strapes, jenen Flaschenzug ähnlichen
Gebilden, welche die schwarzen und farbigen zarten Strumpf-
gewebe an den schlanken oder plastischen Beinen unserer
modernen Damen festhalten.
Ge
366 Rutgers: Evolutionslehre und Weltanschauung
EVOLUTIONSLEHRE UND WELTANSCHAUUNG.
Von Dr. J. RUTGERS, Lochem (Holland).
р“ Evolutionslehre von Darwin und Häckel kann gewiß
nicht ohne Einfluß auf unsere Weltanschauung bleiben.
In der mittelalterlichen Dogmatik war die Weltanschauung
einfach genug. Man kannte damals die Entwicklungslehre
noch nicht, die jetzt auch von kirchlicher Seite als das Bild
einer durchlaufenden Schöpfungsarbeit gewürdigt wird. Man
betrachtete damals die Schöpfung einfach als ein Opus
operatum, einen einmaligen Akt, und man lehrte: alle Gattungen
sind dereinst gut und vollkommen geschaffen, später jedoch
ist der Mensch durch die Sünde abfällig geworden. Was die
moderne Ethnographie jetzt mit Recht als die primitiveren
Volksstämme erkennt, die noch am längsten rückständig ge-
blieben sind, diese „blinden Heiden“ waren in ihren Augen
gerade diejenigen, die von dem ursprünglichen Paradieses-
zustand am weitesten abgewichen und verirrt waren. Wegen
der fortwährend um sich her grassierenden Sünde erkennt
diese Kirchenlehre überall eine herabsteigende Linie; nur für
eine kleine Schar von Auserwählten erblickt man in der
entferntesten Zukunft ein grenzloses Ansteigen.
Demgegenüber gibt es in der Neuzeit viele, die sich
Schüler Darwins nennen und die nur von Evolution reden,
die also überall eine aufsteigende Linie erblicken; wiewohl
Darwin selbst fortwährend auch die Degeneration erwähnt.
Erst in der weitesten Ferne erblicken sie ein grenzloses
Sinken dieser Linie, wenn schließlich die Temperatur unserer
Erde allzutief heruntergehen wird.
In der Wirklichkeit aber gehen Evolution und Degeneration
überall und fortwährend Hand in Hand; wir erblicken nirgends
eine gerade Linie, weder eine gerade Evolutionslinie noch eine
gerade Degenerationslinie, sondern immer nur stetig wechselnde
Kurven. Sowohl im Stoffwechsel jeder einzelnen Zelle, wie
in der Evolutionsgeschichte der Gattungen gehen Aufbau und
Abbau, Progression und Regression immer untrennlich zu-
sammen. Stärker noch. Alles was in einer Richtung einen
Schritt vorwärts bedeutet, ist in anderer Hinsicht ein Schritt
rückwärts; nur überwiegt in der Jugend der Aufbau, im Alter
das Hinfälligwerden. |
Rutgers: Evolutionslehre und Weltanschauung 367
So auch mit den verschiedenen Gattungen. Während
einige emporkommen, gibt es andere, die im Rückgang be-
griffen sind. Es wird dies bloß deshalb so leicht übersehen,
weil wir seit Darwin nur zu sehr geneigt sind, alle Organe
und alle Gattungen, die auf einer niedrigen Stufe stehen, ein-
fach als die primitiveren zu betrachten; es können aber
ebensowohl Organe sein, die rudinientär geworden, und
Gattungen*), die degeneriert sind.
So geht es auch mit der materiellen Grundlage der ganzen
organisierten Welt, mit unserer Erde. Wegen der sinkenden
Temperatur sind immer diejenigen chemischen Bestandteile,
die in einer vorigen Periode die größte Bedeutung hatten,
erstarrt und von anderen verdrängt worden, die sich jetzt
wieder als chemisch wirksamer erweisen. Die älteren treten
dann allmählich immer mehr zurück. So sind z. B. die Sili-
kate, die anfangs eine so entschiedene Hauptrolle spielten,
auch die vielen unserer niedrigsten Pflanzen und Tiere immer
noch als ein höchst wichtiger Bestandteil vertreten; beim
Menschen aber nur noch in der Glasur unserer Zähne;
während jetzt das Wasser in der anorganischen wie in der
organischen Welt die Hauptrolle spielt. Und wer weiß, wie
schöne Organismen künftig von den jetzt noch gasförmigen
Elementen aufgebaut werden sollen! Sogar die Sonnen-
systeme sind dem wechselnden Spiel des Kommens und des
Vergehens unterworfen.
So kekommen wir auf einmal auch eine richtigere
Würdigung und Anerkennung der verschiedenen Evolutions-
perioden**). Wir dürfen gewiß die primitiven Zustände nicht
idealisieren, wir dürfen sie aber auch ebensowenig gering
schätzen. Ich meine, in jeder Periode war die Natur an und
*) Man darf z.B. eine Seepocke (Balanus halanoides) und nament-
lich deren Männchen, das ja nicht viel mehr wie ein winziges Säckchen
mit Sperma darstellt, doch nicht einfach als die primitive Grundform be-
trachten, aus welcher sich im Laufe der Zeiten alle stattlichen Krebs-
arten entwickelt haben; sondern vielmehr als eine Degenerationsform
dieser ehemals so mächtigen geharnischten und reich bewaffneten Raubritter!
+*+) Eine übersichtliche Darstellung der Evolutionsgeschichte in diesem
Sinn findet man in Dr. J. Rutgers, Das Sexualleben in seiner
biologischen Bedeutung, Heft IV, Kap. 40. Dresden, Verlag Rich. A.
Giesecke 1922. Jedes Heft ist auch einzeln zu haben.
368 Rutgers: Evolutionslehre und Weltanschauung
für sich vollkommen; und nicht bloß das Höhere, sondern
auch’ das Niedere in der Natur bleibt unentbehrlich.
Fragen wir z. B., welche spontan bewegliche Organismen
sind am besten dazu angetan, zweckmäßig Schädlichkeiten zu
entfliehen und aufzusuchen, was ihnen nützt, dann muß die
Antwort lauten: je niedriger in der Reihe der Geschöpfe,
desto mehr sehen wir sie, wenigstens in nicht komplizierten
Fällen, instinktiv und unwiderstehlich immer die richtige Wahl
treffen; bei den allerprimitivsten Organismen sogar mit mathe-
matischer Gewißheit ganz unbewußt mittels Chemotaxis usw.
Je höher aber in der Evolutionsreihe, destomehr wird es ein
hoch differenziertes Gehirnspiel, wobei im voraus gar nicht
zu sagen ist, wie schließlich die Wage ausschlagen wird; man
hat dabei dann aber wieder den Vorteil, auch in höchst
komplizierten Fällen die richtige Wahl mit Bewußtsein treffen
zu können.
Im nämlichen Sinn kann man sagen: gezähmte Tiere sind
degenerierte Tiere, und wir zivilisierten Menschen sind ent-
artete Urmenschen. Gewiß! Nur dann stehen wir Menschen
obenan in der Evolutionsreihe, wenn eine verfeinerte Differen-
zierung zum Maßstab gewählt wird; dann stehen wir obenan
mit unserm erhöhten Glücksgefühl. Sobald aber umgekehrt
die ursprüngliche Einfalt, die brutale Kraft, die elementäre
Widerstandsfähigkeit als Maßstab genommen wird, dann
stehen wir untenan mit unserm gleichfalls erhöhten Leidgefühl.
So auch auf ethischem Gebiet. Was ein ethisch hoch-
gesinnter Mensch als die höchsten Tugenden betrachtet, wie:
Bescheidenheit, Zufriedenheit, Verzeihungsgesinntheit, Selbst-
verleugnung, das sind vom Standpunkt der brutalen Natur-
gewalt her gesehen gerade die schlimmsten Sünden. In Wirk-
lichkeit ist und bleibt es immer sehr notwendig, daß diese
zwei einander zuwiderlaufenden Kategorien von Tugenden
sich gegenseitig das Gleichgewicht halten, sei es auch nur
zur Selbsterhaltung. Unsere Pflicht ist es, für jeden Spezial-
fall zu beurteilen, wie weit wir in der einen und wie weit wir
in die andere Richtung gehen sollen.
Namentlich kommt diese richtige Würdigung der ent-
gegengesetzten Tugenden in Betracht, sobald wir andere be-
urteilen wollen. Wir können z. B. die alles Sexuelle ver-
neinende Keuschheit der Heiligen als etwas Erhabenes würdigen
Rutgers: Evolutionslehre und Weltanschauung 369
und ebenso sehr uns ergötzen an der brennenden Wollust
zweier Verliebten; nur beides an der rechten Stelle und inner-
halb gewisser Schranken.
Wer dieses bunte Flechtwerk nicht durchschaut, kann die
ganze Weltgeschichte nicht verstehen; und wenn er Politiker
ist, gehört er zu denjenigen, die, wenn sie es in ihrer Gewalt
hätten, das Schiff des Staates entweder auf dem rechten oder
auf dem linken Ufer zerschmettern würden; denn auch vom
schönsten politischen, sozialen oder pädagogischen System
muß doch gesagt werden: sobald man es in seinen äußersten
Konsequenzen durchführen wollte, käme man bald an einen
Punkt, von wo an, je mehr man in einer Richtung vorwärts
geht, man sich in anderer Hinsicht ebensoviel verschlechtert.
So führt uns die Evolutionsgeschichte, wie ja auch schon
die nüchterne Realität des Lebens in seiner Allseitigkeit zu
einer praktischen Moral, die uns gewiß weltklug und an-
passungsfähig macht, zu einer Moral des Mittelwertes. Will man
aber zielbewußt einen pädagogischen Zweck verfolgen, will
man arbeiten an dem weiteren Aufbau der Welt im idealistischen
Sinn, an der Höherzüchtung unserer Evolution, will man als
Kulturmensch das Leben mit Vorbedacht künstlich verschönern
und bereichern, dann ist es angezeigt, einseitig die positive
Seite der Evolution, die aufsteigende Linie speziell ins Auge
zu fassen und als Lehrmaterial anzuwenden. Mephisto
kann man es dann weiter ruhig überlassen, immer nur einseitig
die Verneinung, die Vernichtung, das Häßliche in den Vorder-
grund zu drängen.
Nirgends wird das Hand-in-Handgehen des Gegensätz-
lichen zu einer höheren Einheit so sehr als höchstes Ideal
empfunden wie im Sexualleben. Ist doch eine passende,
gegenseitige Befriedigung wohl die schönste Verknüpfung der
beiden tief in unserm Wesen liegenden Prinzipien des Egois-
mus und des Altruismus.
222)
DIE BEKÄMPFUNG DES ALTERNS.
(GEGENWÄRTIGER STAND DER VERJÜNGUNGSFRAGEN.)
Von Dr. PAUL KAMMERER (Prof. an der Universität Wien).
mmer wieder vernimmt man — von Laien wie von Kundigen —
den Ausspruch, die im Frühsommer 1920 mit so viel Tamtam
ausposaunte Möglichkeit der Verjüngung sei wohl auch längst
wieder begraben worden, gleich so mancher sonstigen Sensations-
meldung: denn im Blätterwalde sei es still geworden, man höre
kaum mehr etwas davon. Wer so denkt und spricht, vergißt,
daß andere weltbewegende Nachrichten in der Tagespresse ihr
Recht fordern; daß die Zeitungen sich nicht fortgesetzt derselben,
sei es noch so wichtigen und allgemein interessierenden Ent-
deckung widmen dürfen. In der Fachpresse jedoch hat Nach-
prüfung und Ergänzung, Kritik und Antikritik seither keinen
Augenblick geruht; und es erscheint daher zweckmäßig, auch
an gegenwärtiger Stelle den ganzen Fragenkomplex, der sich
um das „Problem der Probleme“ dank Steinachs Initiative auf-
gerollt hat, wieder einmal zu durchleuchten und auf Grund der
seit 1920 erzielten Erfahrungen in Kürze neu darzustellen.
Zu den verstimmendsten Alterserscheinungen gehört un-
streitig das Versagen der Zeugungsfähigkeit, bedingt durch
Entartung der Zeugungsorgane; und es scheint zuweilen,
als hinge der Inbegriff des Alterns irgend vom Untauglichwerden
der Geschlechtswerkzeuge ab oder mit ihm zusammen. So lag
Versuchen, den Altersvorgang abzuwenden und umzukehren,
seit langem (Brown-Séquard) der Gedanke nahe, den Hebel im
Geschlechtsbereiche anzusetzen.
Die Geschlechtsdrüsen bestehen — abgesehen von dem in
jedem Organe gegenwärtigen Stützgewebe?) — aus zweierlei be-
!) Daß ich in einer kuzgefaßten, übersichtlichen Beschreibung („Ver-
jüngung und Verlängerung des persönlichen Lebens“, Deutsche Verlags-
anstalt Stuttgart-Berlin 1921, S. 17) dieses überall vorhandene, hier ganz
unwesentliche Gewebe nicht eigens erwähnte, hat mir Durig (Wiener
klinische Wochenschrift Nr. 45, 1922) als Unkenntnis ausgelegt und blindes
Parteigängertum für Steinach ganz unbegründet und mit einer Heftigkeit
zum Vorwurfe gemacht, die selber den Verdacht einer gewissen Parteilich-
keit nahelegt.
Kammerer: Die Bekämpfung des Alterns 371
langreichen Geweben: Keim- und Zwischengewebe. So-
lange die Zeugungsreife dauert, besteht Wechselwirkung unter
diesen Geweben, dergestalt, daß immer herdweise Keimgewebe
(Eier, Samen und die sie bergenden Taschen und Schläuche)
verbraucht wird, an dessen Platz das Zwischengewebe vorrückt.
Von diesem geht ein Nährquell aus, der das Keimgewebe
wiederherstellt. Es ist Kirles Verdienst, den Automatismus
von Verbrauch und Ersatz im Hoden aufgedeckt zu haben.
An der Schwelle des Greisenalters (im weiblichen wie männ-
lichen „Klimakterium“) beginnt der Ersatzmechanismus zu ver-
sagen: noch wuchern zuweilen eine Zeitlang die Zwischenzellen;
aber sie vermögen neues Keimgewebe nicht mehr zu erzeugen,
die Keimdrüse?) schrumpft und mit ihr der ganze Reigen leben-
spendender Blutdrüsen. Die festgefügte Einheit des Organismus
ließ es aussichtsreich erscheinen, sein durch Abnützung ge-
fährdetes Gleichgewicht wiederherzustellen, wenn selbst nur eine
jener Drüsen neuerlich in Schwung gebracht würde: sie müßte
dann die übrigen, mit denen sie einen geschlossenen Ring des
Zusammenarbeitens bildet, mit sich fortreißen. Die unaufhörlich
in den Kreislauf träufelnden Aussonderungen der wiederbelebten
Drüsen müßten dann — überallhin als Lebenselixier entsendet —
dem ganzen Körper nochmalige Auffrischung bringen.
Brächte man also in das erlöschende Abwechseln von Keim-
zellen- und Zwischenzellenregeneration, wie es sich in der
Geschlechtsdrüse abspielt, vorerst neuen Betrieb, so würde diese
Maßregel nicht bloß zur „Teilverjüngung“ (Pütter) und
Herstellung der Geschlechtstätigkeit, sondern zur „Wieder-in-
Gangsetzung“ (Kölsch)*) des einheitlich organisierten Ganzen
®) Die Frage, ob Geschlechtszeichen und Vollkraft von den Reizstoffen
(Hormonen) des Keim- oder des Zwischengewebes entwickelt, erhalten
und rückgebildet werden — die vielumstrittene Frage nach Sitz und Wesen
der von Steinach so geheißenen „Pubertätsdrüse“ — lasse ich hier,
da erst in zweiter Hinsicht wichtig, absichtlich beiseite. Wir betrachten
allgemeine Lebens- und besondere Zeugungskraft als das Werk der Ge-
samtheit innersekretorischer oder Blutdrüsen. Eine davon ist die ganze,
für Eingriffe gegenwärtig am leichtesten zugängliche Geschlechtsdrüse.
®) Welche Wortungetüme ersonnen wurden, um dem verwegenen Aus-
drucke „Verjüngung“ auszuweichen, davon gibt dieses ein Beispiel. Und wer
ein Musterbeispiel sehen will, was Kurzsichtigkeit und Böswilligkeit der Kritik
zu leisten vermögen, der lese Kölschs Besprechung meines iin Note I genannten
Buches (Literaturblatt der Frankfurter Zeitung Nr. 10, S. 2, 11. Mai 1921).
372 Kammerer: Die Bekämpfung des Alterns.
ausreichen. Nun ist wenigstens die männliche Drüse, der Hoden,
durch eine sehr einfache Operation zur Wiederaufnahme ihres
Wachstums zu bringen: durch Unterbindung seines Ausführungs-
ganges, des Samenleiters. Verhindert man den Samen (solange
noch Restbestände hiervon vorhanden sind!), abzufließen, so
staut er sich, drückt auf die Samenkanälchen im Hoden, wo-
durch dieses empfindlichste Gewebe — diesmal nicht örtlich,
sondern im Gesamtbereiche — zugrunde geht und durch Zwischen-
gewebe ersetzt wird, Das Zwischengewebe gewinnt einen
stürmischen Wachstumsimpuls, der etwas später auch das Keim-
gewebe funktionstüchtig wieder aufbaut. Der verjüngende Ein-
griff ist daher nichts „Widernatürliches“, sondern gleich allen,
überhaupt erfolgversprechenden Eingriffen nur die künstliche
Unterstützung eines auch im natürlichen Verlaufe möglichen,
jedoch vorzeitig erlahmenden Vorganges.
Im Gefolge werden (soweit bis jetzt mikroskopisch unter-
sucht — Schleidt:) Schild- und Hirnanhangsdrüse neu
hergestellt; in weiterer Folge alle äußeren und inneren Organe
und Organtätigkeiten. Vielleicht gilt dies mit einziger Aus-
nahme des Zentralnervensystems (Harms), das aber jeden-
falls länger auszuhalten vermag, als der gewöhnliche Lebenslauf
ihm gestattet; zumal wenn von den Nebennieren aus, die
ebenfalls im Bunde der Blutdrüsen stehen, so gut wie keine
Farbstoffe mehr sich in den Nervenzellen ablagern und so deren
Betrieb ins Stocken bringen (Koppanyi).
Die Verjüngung nimmt, in den Blutdrüsen entspringend,
ihren Ausgang von der Verbesserung des Blutumlaufes:
die Blutkörperchen vermehren sich, Herzschlag und Puls werden
kräftiger, zu hoher Blutdruck und Gefäßverhärtung nehmen ab,
alle Gewebe, früher bleich und trocken, werden wieder gut
durchblutet. Das Blut bereichert sich mit Sauerstoff, weil die
Luftmenge beim Atmen sich vergrößert (Löwy und Zondek).
Hinter dem Gaswechsel kann der übrige Stoffwechsel nicht
zurückbleiben: die Operierten werden heißhungrig und nehmen
schnell zu, innere Organe und Haut polstern sich mit Fett.
Alles ist wie frisch geölt, der Darm, die blühend gerötete Mus-
kulatur, welch letztere neuen Bewegungstrieb verleiht und neue
Beweglichkeit gewinnen läßt. Die Sinne schärfen sich; sogar
grauer Star und Schwerhörigkeit werden oft behoben; das Ge-
dächtnis, geistige und leibliche Leistungsfähigkeit kehren zurück,
Kammerer: Die Bekämpfung des Alterns 373
Lebenslust und Arbeitsfreude, darunter auch — aber keines-
к wegs etwa als unschön vordrängendes Sympton — geschlecht-
— liches Begehren und Vermögen. Die trockene, runzlige, ab-
schilfernde, blasse oder blaurote Greisenhaut wird ersetzt durch
eine feuchte, geschmeidige, rosige Jünglingshaut, auf der die
Ge Falten sich glätten und neue dichte Haare von der ursprüng-
v» lichen Jugendfarbe sprießen. Geschwülste (Talgdrüsentumoren,
Adenome der Vorsteherdrüse, selbst Carcinome) werden — wo
их nicht geheilt — so doch in ihren jugendlichen, noch gutartigen
— Zustand zurückversetzt (Harms, Finsterer). Tuberkulose und
manche Nervenleiden werden — wohl im Wege des gehobenen
Stoffumsatzes — oft günstig beeinflußt.
Es fehlt zur Zeit noch ein zuverlässiges Mittel, um auch in
der weiblichen Geschlechtsdrüse, im Eierstock, den Auto-
matismus von Zerfall und Aufbau wieder in Gang zu bringen;
. wenigstens an einem Mittel, das Anwendung auf die mensch-
liche Frau erlaubt. Im Tierversuch dient dazu die Einpflanzung
fremder Eierstöcke, die am besten aus trächtigen Weibchen ent-
nommen werden: von diesen jugendfrischen Organen aus (selbst
wenn sie in ihrer neuen Umgebung langsam aufgezogen werden,
also nicht einmal dauernd einheilen) werden die eigenen Eier-
. stöcke des alten Weibchens derart restauriert, daß es neuerdings
“ brünstig und fruchtbar und übrigens auch wieder in sämtlichen
übrigen, körperlichen und seelischen Beziehungen leistungsfähig
wird.
Beim Menschen fehlt es begreiflicherweise an Einpflanzungs-
material: die Unterbindung der Eileiter wirkt aber kaum, weil
sie im Eierstock keinerlei Stauungserscheinungen auslösen kann.
Das Aufblühen der Frauen, denen wegen Myomen die Gebär-
mutter entfernt worden war (Liepmann), erklärt sich un-
gezwungener daraus, daß fortan ihre schweren Blutungen zum
Stillstand kamen. In mehreren Fällen glückte eine mittlere
Reizbestrahlung mit Röntgenstrahlen, die den hochempfind-
lichen Eiapparat ausschalten, ohne das Gesamtorgan zu zer-
stören. Aber die Strahlenmenge (Holzknecht) ist nicht leicht
zu bemessen, da sie auch von der individuellen Beschaffenheit
der zu behandelnden Frau abhängt.
Erfolgreiche Verjüngungskuren sind durchgeführt an männ-
lichen und weiblichen Ratten (Steinach, Romeis), Meerschwein-
chen(Harms),Kaninchen undHunden(Kuntz,Sand,O.Wilhelm),
374 Kammerer: Die Bekämpfung des Alterns
Schaf- und Ziegenböcken (Voronoff), Stieren (O. Wilheln
Hengsten (Lengemann) und Menschen (Lichtenstern, Hol
knecht, Edgar, Benjamin, Lydston, Stanley, Brinklay, Pet
Schmidt, Levy-Lentz, Otmar Wilhelm u. v. a). Aller Gegnerschs
zum Trotz, die von Duckmäusern und Dunkelmännern ausge
und zuweilen geradezu krankhafte Dimensionen annimmt, lä
sich die Errungenschaft nicht mehr aus der Welt schaffe
Mäterlinck ist von Voronoff verjüngt worden; nicht mmer ab
sind es die Förderer der Menschheit, die dieser Wohltat teil
haftig werden: Cl&menceau verdankt seine unverwüstliche Rüstig
keit, seine erst kürzlich wieder der eines Fünfzigers gleich
gestellte Konstitution dem bei einem Eingriff in die Vorsteher
drüse unvermeidbaren Durchreißen der Samenleiter, — dahe
auch seine Arbeitskraft, mit der er fortdauernd dem Friede
Europas verderblich wird.
Die Verjüngungsoperation läßt sich wiederholt vornehmen
etwa zuerst nur Abbinden eines Samenleiters, erst bei aber
maligem Altern auch des zweiten. Hierauf Abbindung nähe
dem Hoden, wodurch die belebende Stauung verstärkt wirt
Sind all diese Eingriffe erschöpft, so steht noch die Einpflanzunj
fremder, jugendlicher Drüsen offen. Die fortschreitende chirur-
gische Technik wird aus der Verlegenheit befreien, die uns hie
aus der Materialnot noch ersteht: die Einheilung von Tierdrüser
wird gelingen (Voronoff). Und wenn selbst nicht die dauernd
Einwachsung: wir erwarten von der fremden Drüse nichts anderes
als daß sie das eigene Drüsensystem zu neuer Tätigkeit, neuem
Gewebewachstum апгере. Dafür genügt kurze Zeit; dann hat
die fremde Drüse ihre Schuldigkeit getan, dann darf sie in den
verjüngten Körpersäften ihrer Auflösung entgegengehen.
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