Skip to main content

Full text of "Geschlecht und Gesellschaft 11.1922-23"

See other formats




ZS 


SHA 
` 


UNIVERSITY OF 
ILLINOIS LIBRARY 
AT URBANA-CHAMPAIEN 
BOOXSTÄSKI 


ре 


The person charging this material is re- 
sponsible for its return to the library from 
which it was withdrawn on or before the 
Latest Date stamped below. 

Theft, mutilation, and underlining of books are reasons 
for disciplinary action and may result in dismissal from 


the University. 
To renew call Telephone Center, 333-8400 


UNIVERSITY OF ILLINOIS LIBRARY AT URBANA-CHAMPAIGN 


L161—0-1096 





wc 


 GESCHLECHTUND 
GESELLSCHAFT 


HERAUSGEGEBEN 
IN VERBINDUNG MIT NAMHAFTEN FACHLEUTEN 
VON FERDINAND FREIHERRN VON REITZENSTEIN 


ABT.-VORSTAND AM INSTITUT FÜR SEXUALWISSENSCHAFT BERLIN 
(EH. ABT.-VORSTAND AM HYGIENE-MUSEUM, DRESDEN). 


XI. 


VERLAG RICHARD A. GIESECKE 
MÜNCHEN-DRESDEN-LEIPZIG 
1922/23 


ALLE RECHTE VORBEHALTEN 





INHALTS-VERZEICHNIS 
1. ЅАСНКЕСІЅТЕК 

Abbas (maur. Dichter) . . . 332 Ausscheidung der Fortpflan- 
Abraham a Santa Clara . . . 63 zungszellen . ee N 
Abstammung der Haustiere . 204 Autotransplantation 11 
Abstammung der Menschen in 

der Jetztzeit . . . . . 202 Ва’аіѕеһе . . 337 
Abstammung, gemeinsame . . 33 Badeleben . з 87 
Abstammung, monophyletische 193 _ _Badengehen der Hochzeitspaare 242 
Abstammung, DCS . 193 Ваһгргобе . i bi GAMA 
Abstumpfung, geistige e . 147 Bartels 3 
Abu Hanyfa . . ...323 Bart, männlicher 69 
Achmet Ibn Hanbal . . . .324 Ваз. Н . 357 
Adlers Theorien . . . . . 107 Batak 39 
Affen. . e, DI Batuwi . . . 39 
Affen, heilige . 2.0000. . 133  Batz,Gemeindein Dep Loire-Inf. 
Affenkolonie . . tl (Inzucht) . 46 
Aggression der Frau . . . . 143  Bauernhochzeiten . 246 
Ahnenkult in Japan. . . - . 79 Bauernstand * 22 
Aino . . : „2 0.82 Beaufort, Herzogin v. . 117 
Akromegalie ee ar Bedeutung, biolog. der "Stea- 
Aktaufnahmen . . . . 216 topygie . . к 4 
Alkoholismus, chronischer . . 50 Bedürfnisse, sexuelle t „=. 92 
Allmacht des Zaubers . . . . 16 beena— Ehe . . 337 
Altersbekämpfung . . . . . 330  Behaarung. Entfernung der. . 328 
Alterserscheinungen . . . . 380 Вейарег . SL e 219 
Althing bei den Isländern . . 43 Beilager, öffentliches : 214 
Angstanfall. . . à . . 143 Beischlaf S . 158 
Animierstuben . . . . . . 94 Belastung, erbliche. ` 346 
Anomalie, sexuelle . . . . . 102 Benediktiner, 1741 . . 191 
Арһгойіќе . . . . . . 65 Beschneidung . 327 
Araber . . í 42, 322 Betätigung, sexuelle e DS 
Arbeitsgemeinschäft, "psycho- Bettelheiraten . 214 

analitische . . 99 Віратіе . . . 256 
Arrangement, neurotisches 105, 141 Binde- und Schließenbänder . 368 
Arrawakenweiber . . . . . 132 Bisexualität SÉ Ze . 259 
Aredie . . . 3 Віитейе. . 27 
arusi-akd’i (pers. Dauerehe) . . 338 Bilutschande. . 173 
arusi-sighai die Krees . 338 Blutsverwandtschaft” 33, 38, 47, 195 
Aspasia . . . . . 2905 Blutsverw andtschaftsehen 40 
Аат... .. . . . . . 323 Blutuntersuchungen . . 205 
Atavismus . . 3 Blutumlauf, Verbesserung des . 382 
Aufhebung der Reinrassigkeit ` 203 Boleyn, Anna : ‚ 124 
Aufklärungsperiode . . . 281 Bönhäsinnen . . 91 
Augenschminke . . . 327 Bonn. . . 304 
Ausfallserscheinungen nach Bordelle . 2 . 91 

Kastration . . . . „161 Bordell in Athen 290 
Auslese, hemmende . 36 Bordellmädchen . лас! 124 
Ausschaltung des Gattenzweckes 114  Bordellsteuern der Päpste i 94 


Brant, Sebastian . . . . . 58 
Brautbett . . ee те ОВТ, 
Braut-Meye (Maie) . ok . 287 
Brautstrumpfband - 365, 375 


Brautsuppe . 


Breve, (redditae sunt nobis“ 
1746) ч . . 191 
Brustformen ‚ 229 
Brustknospe 06120925 
Вгиѕітиѕке! . . . . . . . 227 
Brust, reife . . . . . . . 226 
Brustwarze . si véi al 225 
Brüste, Zerstörung дег... 31 
Buschmänner . . . а 2 
Сатауоа 5 . 320 
Campignien . . . . . . . 306 
Carolina . . . . . . . . 168 
Chalone . D ao rala 
Chateaurox, Herzogin v.. 121 
Choshiu-Typus sé éi Ié rä ef E 
Christine v. Schweden . . . 124 
Cistellaria v. Plautus . . . . 291 
Clitorisstift - . » » 2.0.1 
coitus analis . 315, 316, 318, 320 
coitus oralis. . . . . 316, 319 
Consanguinität . . . . . . 42 
Corpus luteum ...... 11 
Cromagnon . 2 . . . . . 304 
Сесе р а ел 
Dauerehe . . 04 25 338 
Deformation der Brust 2 18 34239 
Degeneration . . . . . 35, 376 
Dementia praecox . . . . . 100 
Depressionszustand . . . . 101 
D’Estrees NG > ET 
Diagnostik . . . ачаа о 104 
Dichter, erotische 8 2 eh 
Dieuze "Inzucht) п а ат. АӨ 
Dikteriaden . . . . . . . 291 
Domestikation . . . . . . 136 
Doppelehe . . . . 256 

Doppeigeschlechtlichkeit s 
. 299, 301, 302 
Doria (Kardinal) А. 391 
Dschonkina . . . . . .. 75 
Dubarry, Gräfin. . . . . . 122 
Еаааііейег . . . . . . . . 43 
Ehe . dur, wiet éi 16 3946 
Ehe, altarabische” er T 
Ehebegriff МИ ае ДО ЮЗ 
Ehebruch . a 175, 253, 341 
Ehe, Grundlagen der . . en 
Ehe im Islam . . . . 335 


Ehe im jugendlichen Alter . . 214 


Ehe im 17. EE 282 
Ehe in Japan. . . Sn АЙ 
Eheleben . . 321 


Ehelosigkeit, Gesetze gegen die 30 


Ehepatent Josef N rg 217: 192 
Eherecht . . . . . 189 
Ehescheidung . . 331, 342 
Eheschließung . . . 155, 339 
Eheschließung, bürger!l. . 222 


Eheschließungen in fürstlichen 


und adligen Kreisen . . . 215 
Eheschließung, Рилке . . 158 
Eichelstulp . . . S goa ИТ 
Eierstock . . К; 
Eierstocksdrüse, interstitielle e. "RB 
Eierstocksüberpflanzung . 7,12 
Eierstockpräparate . > ir 
Eileiter, Unterbindung der . . 383 
Einkriechen von Insekten in 

Geschlechtsteile. . . . . 17 
Einzelzellen o e e 208 
Eiszeit > . . . 305 
Elefant . Ар 134, 200 
Elefantensäugling . . . . 134 
Епӣоратіе. . . . . . . . 37 
Entbindung . | 
Enthaltsamkeitsmoral . . . . 52 
Entwicklung des Gliedes 207 
Entwicklungslehre . . 376 
Epilepsie . . . 348 
Erasmus von Rotterdam 250: 501123 
Erbmassennetzwerk . . . . 205 
Erbsünde e . 309 
Erbveranlagung bei Zwillingen, 

verschiedene . . 9 . 140 
Erdmenschen, farinische . . . 3 
Erfahrung, geschlechtliche . . 52 
Erziehung, sexuelle. . . . . 54 
Eskimos . . . AR 
Etampes, Herzogin УХ Жо ЖТТ 
Ethik, sexuelle . . Al 
Etoiles, Frau d’. . ... 0.0121 
Eugenik . e ве эс зло, ӘӨ 
Evolutionsfaktor . 207, 203 
Evolutionsgeschichte . 379 
Evolutionslehre © a s BIG 
Evolutionsperioden . . . . . 377 
Eyb, Albrecht von . . . . . 160 
Familienähnlichkeit . . . . 46 
Familienverwandtschaft . . . 7I 
Familienzucht . . 33, 38 
Fastnachtsspiele . . . . . . 25 
ҒеівепЫаќ. . . . . . . . 68 
Festmahl. „2. > 243 
Fettansammlung . 1, 2, 3,5 
Fettansammlung beim Kamel . 5 
Fettsteißentwicklung . 1, 3, 4 


Fleckenstein, Johann v. Bischof 


v. Worms ..... . 63 
Fleury, Kardinal. . . . . . 120 
Fontage, Herzogin Ver Amer 23 
Fontayne, Frl. v. . . . . . 119 
Егапкгеісћ . . . . . 20 


Franzosenkrankheit а с 387, 
Frauenabsperrung . . . 326, 339 
Frauenbewegung, peruanische 
318, 319 
Frauenbewegung, türkische . . 326 
кадыы АН aus Marmor und 
on . o 


Frauenklöster . . . . . . 95 
Frauenraub. . . . . . 16, 267 
Frauenschleier . . . . 327 
Frauenstrumpfbänder, lithau- 
ische . . e ie Aa O 
Frauen, Zahl ВЕС о ВУ 338 
Freiheit, geschlechtliche . . . 22 
Freiwerber . . . . 242 
Freudenmädchen (Japan) ` . . 80 
Freud’sche Theorie . . 106 
Freundschaftsgaben . . . . 62 
Friedrich 1. . . . . ,. . . 333 
Fristehe . . . . 338 
Froschmännchen, kastrierte . . 303 
Fruchtabtreibung . . . . . 178 
Fruchtbarkeitsriten . . . . . 213 
Fruchtbarkeitszauber . . . . 17 
Frühehe (Japan) . . STE 
Frühjahrs ruchtbarkeitsfest . . 247 
Frühlings Erwachen . . . . 241 
Fürstenberg, Florian v. . . . 84 
Gaishas . . 2.2.80 
Garcilaso de la Vega eg 
Gattungen, verschiedene . . . 377 


Gattungszweck der Liebe 113, 115, 
116 


Саисһтаіі. . . . . . . . 59 
Gebi . . . . 200 
Gebrauchstrumpfbänder St 1.5304 
Gefängnisse . . 161 
Geiler -s .. 58 59,83,84, 85 
Geistesschwäche . . .'344 
Geldheiraten . . . . . 214, 221 
Gelehrte, byzantinische . . . 155 
Gemeindehäuser . . . . . . 39 
Genitalapparat des рро. . 299 
Gens Namen . e 74 
Gensverfassung . . . . ` 70, 74 
Gerechtigkeit . . 162 


Gesetzbuch, bürgerliches (Japan) 79 
Geschichte des Strumpfes . 356 
Geschlechtsbedürfnisse . . . 52 
Osschioehischaraktere; sekun- 
däre . . . а Poo a 
Geschlechtsdrüsen . . | | | 380 


Geschlechtskrankheiten . . . 55 
Geschlechisleben, entartetes . 19 
Geschlechtsmerkmale . . . 3, 69 


Geschlechtstrieb . . 8, 9, 51, 81 
Сеѕсћесһізуегкећг . . . . 319 
Geschlechtswechsel . . . . 302 
Gicht, fliegende . . . . . . 343 


Gigantismus . 2 . 313 
Gleichgeschlechtlichkeit $ 257 
Gleichpaarung ; = 36 
Glutealregion . = 3 
Glyzera . . 296 
. Gorilla . 271 
Gottesurteil : . 174 
Grabvasen, altperuanische = 315 
Gräfenitz, Frau v. . 122 
Gravidität . . 12 
Greisenalter . . . 381 
Grödnertal (Inzucht) 45 
Gruppenehe E Fé . 73 
Gruppenverhältnis . 11573 
Gucklhochzeit . 242 
Gynäkomastie . 302 
Haare der Menschenrassen . . 199 
Haarläuse . 196 
Halban . 1 
Hamasa . . . 322 
Hanbaliten . . 324 
Handschilling . 27 
Hanefiten . 323 
Harem . . . 339 
Haremswächter e H 
Hauptrassen . 304 
Hauterotik . . . 146 
Heinrich VI. (Deutschland) . . 333 
Heinrich VIII. (England) . 124 
Heiratsalter . . . . . .77, 337 
Heiratsgesetzee . . . . . . 11 
GE . 242 
Henna . . g . 327 
Hetärenbriefe . e e . 289 
Hetären, freigelassene . 293 
Hetärengespräche von Lukian . 293 
Hetären, griechische . 289 
Hieronymus der Heilige . . 335 
Hinterbacken, Fülle der . . . 3 
Hirschfeld, Magnus . . . 260, 263 
Hirschpark . А 121 
Hochgebirge als Schutzwälle 

gegen Inzucht . Sr се 
Hochkultur . 35 
Hochzeiten . x . 213 
Hochzeitsbitter . 244 
Hochzeitsfeierlichkeiten in 

Italien . u . 218 
Hochzeitsgeschenke ` . 246 
Hochzeitsmahl . 285 
Hochzeitszeremonien 2. 213 
Hoden . . . . . 7, 207, 382 
Hodenverpflanzungen z .. 14 
Homo Europäus . . 305 
Homoiotransplantation. a H 
Homosexualität . . . ЗЬ 81, 312 
Hordeninzucht SIN 35 
Hormone Š . 312 
Hosenbandorden . 367 


Hottentotten 2 
Hottentottenvenus . 1 
Humanismus 155 
Hund. . 16 
Hundehochzeit 16 
Hunde, säugende 133 
Hurenprozession 91 
Hutten, Ulrich v. 186 
Hypertrophie . 1 
Нурорһуѕе ... . 313 
Ee . . 302 
Hysterie . < . 149 
Ibn Tubi . . 333 
Ibn Zeidun . . 333 
Impotenz . . . 342 
Impotenz des Mannes . 184 
Impotenz des Weibes . 8 
Impotenz, germinale NF 14 
Inaktivität, SES $ 9 
Incest . . x 33 
Individualpsychologie 141 
Individualzweck der Liebe . 112 
Infantilismus . 262 
Inkaherrschaft 317, 318 
Inkret «Леле лг лз e ee 
Іпкуо . . Е ааа чй .. 78 
Imru al Kais . . S . 325 
Instinkt der Affen . 274 
Instinkt, tierischer . . 310 
Intersexualität e e o 258 
Inzuchtt . . . . 33, 45, 204 
Inzucht bei den Eskimos 44 
Inzucht bei Tier und Pflanzen 37 
Inzuchtskaste . . 43 
Inzuchtsvölker . 35 
Iberer ч; 307 
Ilam . ... 182, 322 
Isländer . . . 42 
Italien 20 
Jacob, Bischof” von Trier 63 
ahrfeste bei den Peruanern . 315 
apan Se 75 
Јаѕсһтаск . . 327 
Јоһапп Kasimir, Herzog von 

ee a 3 28 
ungfer . Р 27 
ungfernzins . . 27 
ungfräulichkeit . 5 25 
bi ee 

Theorie) . - 153 
jus primae noctis 23 
Kalahari 5 
Karier 307 
Karl II. von Spanien : . 32 
Kastenwesen bei den Batuwi . 4] 
Katharina 11. y . 124 
Kausalität, interseelische ` . 265 
Kehrab EE S . 288 


у 


Keimdrüsen . ML 
Keimdrüsenbeschaffenheit . 261 
Keimdrüsensekretion 24.9 
Keimdrüsenüberpflanzung . 300 
Keim- und Zwischengewebe . 381 
Keimzelle ; er 
Kiembe g ug аЛ 
Kinderehen 211, 214, 215 
Kindersterblichkeit . e „12136 
Kinderverlobungen . . 211 
Kindesmord . 173 
Kirche . e 158 
Kirche, kath. и. Ѕакгатепі derEhe 189 
Kjökkenmöddinger . . . „ . 306 
Klassenliebe RK e E 
Kleiderausschnitt . . . . . 63 
Kleiderläuse . . . . . . . 198 
Kleidung . CR 
Kleinhirnataxie . 343 
Kleinhirnatrophie . 347 
Knochenfunde . 193 
Knospenbrust . . . 225 
Kohl (Augenfarbe) . . 327 
Kommnächte . . 24 
Königsmark, Marie Aurora, 

Gräfin v. . ; . 120 
Konkubinat . 170, 192, 338 
Konsanguinität EN 050) 
Konversion EE E 
Koran . .42, 322, 328 
Korinth . . . 290 
Кӧгрег, gelber (corpus uteum) 8 
Krankheiten, Vererbung von . 343 
Kranzabnehmen . . . . . . 287 
Kränzlein — Ausbitten 248 
Kranzlied . . . . . .. 85 
Kranzsingen . 85 
Kretinismus x 313 
Kreuzbeingegend 2 
Kreuzung . . . 37 
Kriegshysterien . 152 
Kriegsneurose г . 152 
Kriminalpsychologie . 311 
Krise, sexuelle . 209 
Kryptorchismus . . . 10 
Küchenabfallhaufen . 306 
Kudury, Compendium des 331, 323 
Kulturinzuchtsvölker S 36 
Kultur, neolitische rn. -307 
Kuppeipelz Г аа Л; «һа түк 
Kurzschädel ..... . . 305 
Lais . 297 
Lamia . . 296 
Langschädel 304 


Lantzkranna, Stephanv. (Probst) 22 
Leben, asketisches * 2 65 


Leben, mosleminisches . 322 
Leistenhoden er Ar NO 
Leleger . . . . 307 


VU 


Libido . 13 
Lichtenau, Gräfin wi 123 
Liebe 23, 60, 107, 109, 116, 125 
Liebesbriefe ` ё 126, 127 
Liebesempfindung . 115 
Liebeserfüllung . 113 
Liebesgöttin . 65 
Liebeskunst . . 115 
Liebesleben 60, 321, 325, 332, 333 
Liebeslust 5 115 
Liebeswerben bei den Japanern 78 
Liebeszauber . . . . 319 
Liebe und Fortpflanzung. 111 
Lustknaben 3 . 320 
Luther (I) 184 
Luxusgesetze . . 246 
Machttrieb . . 153 
Mahlschatz . 283 
Mailly, Frau v. т з ‚ 121 
Maintenon, Madame de 2 . 119 
Makusi-Indianer . . 132 
Malaria . . 349 
Malekiten . . . . 323 
Malik Ibn Anas . 323 
Mamma areolata . 227 
Mamma papilata . 227 
Mann. . рр 
Männerstrumpfbänder . . 364 
МаппмеіЬ . . . . . . 30 
Mantelüberwerfen . 339 
Martin «2 
Maitressenwesen 117 
Mauren . . 321 
Medina, Schule von . 323 
Melanchthon Е . 187 
Methoden, psychoanalytische . 97 
Mignons . 27931 
Milchabsonderungsbedürfnis . 132 
Milchsekretion is . 12 
Міѕсһеһеп . . . 39 
Mischungsverhältnis e e 5 302 
Mitgift . . . . 219, 246, 339 
Mittenweiler, Heinrich у. . 83 
Modifikation ` . 136 
Mogulzeit . 340 
Mohammedaner . . . 182 
Mohammed asch Schaibäny- 323 
Mohammed asch Schafiy . 324 
Montespan Madame de . . 118 
Moral а, 5 . 53 
Moralprediger . 63 
Mord. . . 178 
Morgan . . 70 
Morgengabe . 287 
Mot’a-Ehe . . 337 
Mowatta . 323 
Munderotik ‚ 146 
Mutterschutz . . 318 


Nachhochzeit . 2 эё 288, 245 
Nacktabbildung, unsittliche 76 
Nacktheit . . 5 
Nacktheit bei den Japanern ` 75 
Nacktphotographien 9 
Nahrungsreservoir 5 
Nakodo . . 78 
Neandertal (Inzucht) . . 304 
Neära . . . 289, 291 
Nebennieren . . 314 
Nervengewitter . 113 
Nervenheilkunde . . 154 
Neurose . . 152 
Neurotiker . . 14 
Nikah . . . 337 
Nikah el „Ama“ . 338 
Nihah-el-daim . . . 338 
Nikah-el-monkese-Fristehe . . 338 
Ninon de l’Enclos . 125 
Notzivilehe . 190 
Notzucht 64 
Oberhof. e . 164 
Oedipuskomplex . 106 
Oeffnung von Hirslanden und 
Stadelhofen E Zei 
Orang . 205 
Orient . 321 
Огиа . 319 
Ovarialfunktion, innersekre- 
torische . А нану 7, 
Ovarienimplantate . . 12 
Ovarium . . 207 
Ovis aries steatopyga 4 
Päderastenverfolgung der Inkas 317 
Päderastie . 320 
Paläolitikum . 304 
Pampayruna ; . 316 
Partner; sexueller 54 
Passarge 5 
Passionsspiele, mittelalterliche 24 
Pe£irka, Dr. med. Professor Ze 32 
Pediculusläuse Aa . 197 
Pellasger . 307 
Penispendulus . 201 
Peru, alt . . 315 
РізѕеІеи Аппе'йе . 117 
Phitiriusläuse . . 197 
Phobien . . 147 
Phryne . . . 295 
Phalluskult } . 8 
Platonismus und Christentum . 298 
Poggio bracciolini . . . 89 
Polterabend . 242 
Polyandrie . . 337 
Polygamie . . . 338 
Polygamie bei den Peruanern . 316 
Polygamie in der Renaissance 117 
Pompadour, Marquise de 121 


уш 


Primat . . 201 
Pronmiskuität 34 
Prosa, isländische ә ә 43 
Prostitution . 93, 298 
Prostitution, Einschränkung der 55 
Prostitution in Italien . А . 94 
Protestantismus . ; . 156 
Prügeln des Bräutigams 5 . 243 
Pseudodemenz . 147 
Pseudohomosexualität . 107 
Pseudomoralität in Italien 20 
Pseudosittlichkeit 19 
Psychoanalyse . 97 
Psychoanalyse, praktische Be- 
deutung der . 100 
Psychogenese . 103 
Psychogenie der Minderwertig- 
keitsvorstellung . 105 
Psychoneurose . . 101 
Pubertätsdrüse _. . 299 
‚Pythionike . . 297 
Quelle neurotischer Erkran- 
kungen rare y 
Rache . š `. 163 
Radscha. . . . 41 
Капке N 
Rasse, armenoide . 305 
Rasse, mediterrane . . 307 
Rasse, melanoderme . 205 
Rassenanlagen З а 58 308 
Rassen, europäische . . 304, 307 
Rassenmischungen . . . 201, 202 
Rassen und Rassenmischungen 304 
Rasse, steatopyge sr Бф 
Rechte des Staates . 161 
Recht, partikulares . 177 
Recht, römisches RO 
Reformation 19, 188 
Reigen . . 3 .. 85 
Reizbestrahlung S . 383 
Renaissance 18, 155, 184, 213, 281 
Renaissance, italienische . 20 
Renntier . dw . 306 
Responsen A, CR . 168 
Rhätoromane . 45 
Rhodopis . 292 
Riesenwuchs . 313 
Romantik e . 156 
Romberg’sches Zeichen . 343 
Samenleiter, EE des 382 
Sammler . br ës vi 29 
Satsuma-Typus . 76 
Säugen von jungen Анеп г an der 
Frauenbrust.. . 119 
Schädel . . 304 
Schafiiten . 324 
Schamgefühl 68 


Schefer von der newen stat . &6 
Scheidung . . 4 4231 
Schenkeistrumpfgürtel аЗ 
Scheuertanz . . „өй з. БӨ 
Sehttten =» ызы» = ..... 322 
Schilddrüse . . . . . 314, 382 
Schlieffen . . . 271 
Schmuckbänder an den Knien. 367 
Schöfferdantz.. . . . . . 86 
Schönheit . . . 66 
Schönheitsideal, japanisches” . 76 
Schöppenstuhl . . . . 167 
Schule, psychoanalytische . . 69 
Schürzenzins . - . e e. EI 
Schwachsinn . . i CAT. 
Scoraille, Marie Angetique << = 123 
Scotto, Graf . . = A Le 
Scotto, Јегопіто РТ. 
Sechsfingrigkeit л AR 
Ѕеіпѕагќеп . . . . . . . . 108 
Seinsminderung . . . . . . 112 
Seinssteigerung . . 112 
Seinszustand der Liebesempfin- 
dung . e . 110 
Sekretion, innere . . 7; 299, 312 
Selbsterhaltungstrieb . . . 152 
Sexualcharaktere, sekundäre . 299 
Sexualdrüse . . . . . . 299 
Sexualfunktionen . . . . . 52 
Sexualtrieb . . e e al 
Sexual- Vergehungen e, ë dé DI 
Sexualzentrtum . . . . . . 115 
Sexusdetermination . . . . 7 
Silikat 2. . ua 2.0827 
Sitten, antike. . . . . . . 291 
Sitz der Brust . . . . . . 231 
Sklavenehe . . . . . . . 338 
ЅКордеп:. =. =. 3. ку а, E 
Ѕойотіа . . . . . . . .317 
Sodomie . S "e w 5 168 
Soissons, Gräfin v. . . . . 118 
Sollsitte - асл „> жж бї 
Somageschlecht . . . . . . 301 
Spanien. ». : = 20... Al 
Sprache . . . ee lt 
Sprache, ligurische SE . 307 
Sprüche auf Strumpfbändern 368 
Stadelweise . . 217071 Zo 
Stadtgericht zu Breslau . . . 167 
Stammbaum einer Familie . . 343 
Stammesinzucht . -. . . . 35, 39 
Ständchen, nächtliches . . . 57 
Statuette, weibliche . . . . 2 
Stauung der Libido . . . „104 
Steatopyggie . . . . 1, 2, 6,7 
Stechgroschen rl 
Steinach. . . . . . 8, 260, 300 
Steintreten . we СОДА 
Steinzeit . . х. Sé 50304 
Stellung der Frau V Tewa ur 29824 


Stewkay in Norfolk macht), 48 
Stillzeit . М . 315 
Strafjustiz . . 161 
Strafrecht а= . 161 
Strafrechtspflege . 165 
Strafstrumpfband . . 368 
Straßenangst . . 146 
Stratz . . 75 
Ѕітитрё . . . . . 353 
Eer Eet . . 353 
Strumpfband, Anlegen des . . 367 
Strumpfbänderin der Empirezeit 371 
Strumpfbänder mit Geburtstags- 
widmungen . ; 373 
Strumpfbandsammlung” S 354, 353 
Strumpfbeinkleider . .. 357 
Strümpfe, seidene . 357 
Strumpfhose . 357 
Strumpfluxus . . 357 
Stuart, Maria . . 124 
Stutzertum . 62 
Sublimierung . 151 
Substanz, männliche und weib- 
liche & . 301 
Sünde . 309 
Sunna . 322 
Sunneweigerinnen . 95 
Sunniten . 322 
Sydow, Anna v. . ‚ 122 
Symptomatologie . . 302 
Symptome, neurotische . 101 
Syphis У . 147 
Tallon 1% 24 + JE A . 163 
Tanzverbote . 286 
Tanzvergnügungen . 83 
Tarantella 5 F 87 
Tarantismus . . . . 87 
Teakbaum . . . . . 134 
Temistios Plethon . 155 
Temperatur, sinkende . . . 377 
Tenna (Graubünden) Inzucht . 48 
Thais. . . . 2907 
Thomasius, Sittenlehre des . 29 
Tieramme e . 129 
Tierkultur . . 130 
Tierliebe der Waldindianer . 131 
Tierspielerei A ‚ 131 
Tonvasen, peruanische 315 
Totemismus . S . 130 
Tournelle, Frau v. . 121 
Träger der Inkretion ИС: 
Transplantation . . 10, 300 
— autoplastische . . . 10, 11 
— homoioplastische 11, 13, 14, 10 
— heteroplastische Sé 10 
— von Stückchen 13 
— erste (Knauer) 11 
— bei Affen . 1 
Traumdeutung 153 


IX 


Trauung . . 
Trauung, kirchliche . 
Tridentiner Konzil . 
Tridentinum 


Triebbildung, frühinfantile i 
Triebzüge, homosexuelle 


Trochanter. . . . 


Ueberkompensation 
Ueberkreuzregel . 


Unfruchtbarkeitvon Mischungen 
Unterbindung des Samen- 


stranges . . 
Untereinanderheiraten 
Unterhautfett . z 
Urgeschlechtszelle ғ 
Urkörperzelle . 4 
Urtrieb, atavistischer . 


Valière de la, Louise Нечен 


von . 
Vaterlandsliebe 

Veitstanz 
Verbrecherphysiognomien 
Vererbung . 


Vergehungen, geschlechtliche e 


Vergeltung. . . 
Vergrößerung der Brüste, 
künstliche $ 


Verheiratung ungeborener 


Verhüllung . 
Verhüllungsmoral 


Verjüngungfragen . І ; 


Verjüngungskuren 
Verjüngungsoperation . 
Verjüngung, teilweise . 


Verkehr, außerehelicher . 


Verkehr, енисе, 
Verlobung . . $ 
Vermischung . . . 


Vermischungstendenzen | 
Verordnung, polizeiliche . 


Verpflanzungen bei Affen 


. 243 
.. 189 


. 266 
. 258 


. 142 


1 299 


195 
10 


. 299 
. 310 


23, 
92, 


Verschiedenheit der Haare . 


Verschleierung 
Verschneidung 


Vertreterinnen der Halbweit in 


Japan . 
Verunsittlichung . 
Verwandtenehen 
Verwandtschaftsheirat ` 
Verwandtschaftssystem 
Vintimille, Frau v. 
Virago . . 
Volksfamilie 
Volksinzucht 
Volksvermischung 
Volkszucht . 


Wachstum, sexuelles . 
Wachstumsmodus 


327, 


Wachstum, vegetatives 


Wadenstrumff . . . 
Warzenhof . 
Warzenhofmuskulatur ` dë 
Wedekind . . . 2.2... 
Wedekindspiele . > 
Weib 


Weiber, breithüftige 
Weib, freies ; 
Weib, nacktes ; т 
Weltanschauung ne 
Weiberspiegel 
Werbung . . 
Werbung am Wiener Hof 
Wert der Ehe, innerer 
Wiedergeburt . ; 
Willendorf in Oesterreich 
(Venusfigur) + 
Willenserklärung 
Windbestäubung . “> 
Wucherungen, abnorme . 
Wüstenpoesie, arabische . 


Zauberglaube . 
Zauberinstrumente . 


1 225, 


Zauberkultu ....... 15 
Zeit der Galanten . . . . . 281 
Zeugung, blutsverwandt- 

schaftliche 33 
Zeugungsfähigkeit, Versagen der E 
Zeugungshelfer б 
Zeugungsmonographien : E 
Zirbeldrüse . d . 313 
Zivilehe, fakultative. . 191 
Zivilehe, MDUERIOrIAChE . 191 
Zölibat . . . ‚ . 158 
Zuchthäuser . 161 
Zuchtjungfern . 5 . 283 
Züchtung von Intersexuellen . 258 
Zuchtwahl, geschlechtliche . 6 
Zusammenwirkung d der PR 

drüsen 27252 
Zweck. Tierzucht . 131 
Zwillinge . 135 
Zwillinge, eineiige ‚ 137 
Zwillingsgeschwister, 

identische ё . 139 
Zwischengewebe . 8 
Zygote . 137 


SI 





Il. TEXTÜBERSCHRIFTEN. 


Classen, K. Rassen und Rassen- 
mischungen in der Steinzeit 
Europas . . . 2.22... 

Classen, K. Vererbung von 
Krankheiten und Krankheits- 


anlagen . . . 333 
Dehnow, F. Die Gesundung 1 der 

sexuellen Ethik . . 51 
Dehnow, F. Wedekind . 238 


Donisch, H. Zweck und Liebe 107 
Fehlinger, H. Geschlechtsleben 
afrikanischer Zauberkultur- 
stämme . . 15 
Fehlinger, H. Liebe und Ehe in 
Japan. . р . 75 
Fehlinger, H. Zwillinge 21138 
Fehlinger, H. Eheliche Rechte und 
Pflichten der Mohammedaner 182 
Fehlinger, H. Die Kinderehe in 
Vorderindien . . 211 
Fehlinger, H. Rassenunterschiede 
der weiblichen Brüste . 
Fließ, W. Pubertätsdrüse und 
Doppelgeschlechtlichkeit . . 299 
Friedenthal, H. Ueber die Wahr- 
scheinlichkeit der polyphyleti- 
schen Abstammung . . . 148 
Friedländer, K. Freie Eierstocks- 
überpflanzung . 
Goldmann, O. Unzüchtige Akt- 
autnahmen . . 276 
Goldmann, О. „Sünde“, Sekre- 
tion und Sühne . . . 
Каттегег, Р. Die Bekämpfung 
des Alterns.. . 
Kiefer, O. Die griechischen F He- 
tären . . . 289 


Kronfeld, A. Erklärungswege der 
Geschlechtlichkeit . 257 


Расһіпрег, М. Strumpf u und 
Strumpfband . . 
Pelirka+ . . 32 


Reitzenstein,F.v. Betrachtungen 
über das Liebesleben in der 
Zeit der Renaissance und der 
Periode der Galanten 18, 57, 

83, 117, 155, 184, 213, 242, "81. 
Reitzenstein, F. v. Aphrodite . 65 
Reitzenstein, F.v. EineErklärung 

zu altperuanischen Grabvasen 315 
Reitzenstein, F. v. Aus dem 

Liebes- und Eheleben der 

Mosleminen . . 321 
Rohleder: Blutsverwandtschaft 

und Inzucht bei den heutigen 

Völkern: ; s-a a e ©» 433 
Rosenthal: Sexualvergehungen 

und ihre Ahndung vor 300 

Јаһгей/ e AN Ai wv Kail 
Rutgers, I. Klärungsversuch des 

ältesten uns bekannten Ver- 

wandtschaftssystems . . 70 
Rutgers, I. Das Sexualleben als 

Evolutionsfaktor . 207 
Rutgers, I. Evolutionslehre und 

Weltanschauung 

Saaler, Bruno. Bedeutung der 
psychoanalytischen Methoden 
und Theorien . . . . 97, 141 

Sokolowsky, A. Fettsteißigkeit 
beim Menschen . . 1 

Sokolowsky, A. Die Frau als 

Tieramme . 129 

Zell, T. Die Affen als Frauen- 

räuber d . 267 


е2) 


Geschlecht und Gesellschaft, 
Neue Folge mm Х|, 1 





Tafe! I 


= 


Fa N 
wem 
d Se EE a 








Hottentotten-Weiber mit Steatopygie 


Die Fettsteißigkeit beim Menschen 


Zu Sokolowsky: 





DIE FETTSTEISSIGKEIT BEIM MENSCHEN. 


Von Dr. ALEXANDER SOKOLOWSKY, Hamburg. 
(Mit 3 Tafeln.) 


Die als Fettsteißigkeit oder Steatopygie bezeichnete hoch- 
gradige Fettanhäufung über den Steißmuskeln ist eine als 
Rasseeigentümlichkeit bei manchen Menschenstämmen bekannte 
Erscheinung. „Weder das Skelett noch die Steißmuskeln“, 
sagt Topinard, „lassen diese Erscheinung vorherrschen; es ist 
mehr als eine Hypertrophie des Fettzellengewebes, es ist bei- 
nahe ein neues Organ — ..“ Diese Charakteristik der Fett- 
steißigkeit durch den bekannten Anthropologen gibt die auf- 
fallende Entfaltung einer solchen lokalen Fettanhäufung als den 
Besitz eines Teiles der Menschheit wieder, denn er berichtet 
ausdrücklich, daß man derselben hie und da in Afrika bei den 
Somali-, Kaffern- und Hottentottenfrauen und immer, wenn auch 
in verschiedenem Grade, bei den Buschmannfrauen begegnet. 
Es fragt sich nun, welchen Standpunkt die moderne anthropolo- 
gische Forschung dem Vorkommen und der Entstehung dieser 
eigenartigen Bildung gegenüber einnimmt. 

Diese erstaunliche Fettansammlung an einem bestimmten 
Teile des menschlichen Körpers war bereits im Altertum bekannt. 
Als Beweis hierfür sei auf die Abbildung einer arabischen 
Fürstin, wahrscheinlich aethiopischer Herkunft, auf einem Wand- 
gemälde der Pyramiden zu Sakharah in Aegypten hingewiesen, 
das von Dümichen mitgeteilt wird. Auch auf cyrenäischen 
Tonschalen des 5. Jahrhunderts vor Christi Geburt, die in Unter- 
aegypten angefertigt zu sein scheinen, finden sich Abbildungen 
von Personen, die mit Steatopygie behaftet gewesen sind. Eine 
eingehende Untersuchung dieser körperlichen Eigentümlichkeit 
verdankt die Wissenschaft Cuvier, der die im Jahre 1815 in 
Paris gezeigte „Hottentottenvenus“ nach ihrem Tode anatomisch 

1 


2 Sokolowsky: Die Fettsteißigkeit beim Menschen 


zu untersuchen Gelegenheit hatte. Später hat Raphael Blan- 
chard sich eingehend mit dem Studium dieser Erscheinung 
beschäftigt und eine wertvolle Abhandlung darüber veröffentlicht. 
Als Resultat dieser Untersuchungen ergab sich, daß, wenn auch 
die Fettablagerung am Rücken selbst nicht entsprechend über- 
mäßig erschien, die Wölbung von der Kreuzbeingegend an zuerst 
fast senkrecht auf die Körperachse nach hinten ging. Früher 
nahm man an, daß das Kreuzbein, der hinteren Hervorwölbung 
entsprechend, bei den Weibern der Hottentotten und Busch- 
männer besonders stark, schwanzartig, nach außen gebogen 
sei. Aber schon Cuvier und Somerville haben diese An- 
sicht als irrtümlich zurückgewiesen. Wir wissen heute, daß es 
sich dabei lediglich um eine Fettansammlung handelt, die durch 
gute Ernährung zur schnellen Entwicklung gebracht, durch 
Nahrungsmangel, Hitze und Strapazen rasch zur Verringerung 
gebracht werden kann. Zum Teil beruht nach Ranke die fast 
senkrechte Hervorwölbung der Gesäßgegend aber auch auf einer 
mit einer stärkeren Beweglichkeit der Lendenwirbelsäule Hand 
in Hand gehenden stärkeren konvexen Lendenkrümmung, eine 
Erscheinung, die als typisch menschliche Bildung bei Natur- 
völkern aufzufassen ist. Wie Martin betont, ist die Bildung 
der Steatopygie schon seit Jahrtausenden beim Menschen vor- 
kommend. Das beweisen Skulpturen an dem Terrassentempel 
Deir-el-Bahri bei Theben aus der 18. Dynastie, in Ballas und 
Nagada am oberen Nil. In Zimbawe in Südafrika sind Schalen- 
reste mit Darstellungen steatopyger Frauen gefunden worden, 
und einige geschnitzte Rundfiguren aus dem Aurignacien Frank- 
reichs von Brassempouy, Maz d’Azil und Mentone weisen 
ebenfalls Steatopygie auf. Ein neuerdings in Laussel in der 
Dordogne gefundenes Basrelief bringt die Steatopygie einer 
Frau aus dem Aurignacien ganz besonders realistisch zum Aus- 
druck. Besonders sei auch auf eine weibliche Statuette aus 
Willendorf in Österreich*) und die aus der vormykenischen 
Periode auf den griechischen Inseln, besonders auf den Ky- 
kladen entdeckten Frauenfiguren aus Marmor und Ton, die den- 
selben Typus zeigen, hingewiesen. In der heute lebenden 
Menschheit findet sich dieser extreme Fall regionaler Fettab- 


*) Siehe das Bild bei Reitzenstein: „Die ältesten sexuellen Dar- 
stellungen der Menschheit“, „Geschlecht u. Gesellschaft“ X, S. 343 u. Tafel l. 


Sokolowsky: Die Fettsteißigkeit beim Menschen 3 


lagerung vorwiegend bei weiblichen Individuen der Busch- 
männer und Hottentotten, aber auch, in sehr verschiedenem 
Grade, bei Kaffern Nigritiern, Somali und Kameruner Waldland- 
negerinnen (Bantu). Auch die Frauen der Rehobother Bastards 
zeigen nach Fischer eine deutliche Hinneigung zum hotten- 
tottischen Fettsteiß. Diese Fettschicht beschränkt sich auf die 
Gesäßregion, die Oberschenkel in der Trochantergegend und 
die untere vordere Bauchwand. Die Haut unter dieser Fett- 
ansammlung hat meist einen schlaffen Charakter. Ihre Ent- 
wickelung beginnt schon bei jungen Mädchen, nimmt aber 
mit dem Eintritt der Geschlechtsreife beträchtlich zu und wird 
noch durch eintretende Schwangerschaft gesteiger. Nach 
Martin handelt es sich dabei in gewissem Sinne um ein 
sekundäres Geschlechtsmerkmal, das vielleicht durch sexuelle 
Auslese seine starke Ausbildung erfahren hat. Obwohl die 
Steatopygie in erster Linie bei den weiblichen Individuen der 
gesamten Völker in Erscheinung tritt, hebt Bartels ausdrück- 
lich hervor, daß bei den s. Z. in Berlin ausgestellten so- 
genannten Farini’schen Erdmenschen, d. h. den Buschmännern 
aus der Kalahari-Wüste, auch die Männer eine ungewöhnliche 
Fülle der Hinterbacken zeigten. Allerdings stand das sie be- 
gleitende ungefähr acht Jahre alte Mädchen in dieser Be- 
ziehung den Männern kaum nach. Wir wissen, daß bei den 
Hottentotten die Fettsteißentwicklung als eine Schönheit gilt, 
wie denn überhaupt runde, fette und fleischige Formen bei 
ihnen als besonders schön angesehen werden. Die Hotten- 
totten wissen dieser eigenartigen Fettanhäufung noch einen 
praktischen Nutzen abzugewinnen, denn auf diesem Fett- 
polster, Aredi genannt, läßt die Hottentottin ihr Kind ruhen. 
Man hat abnorme Fettablagerungen bei den Europäerinnen in 
der Hüftgegend zum Vergleich herangezogen und versuchte 
sie als Steatopygie zu deuten und es liegt der Gedanke nahe, 
bei diesen das Auftreten einer solchen Erscheinung als Ata- 
vismus aufzufassen. Nach Martin kann diese Auffassung 
aber nicht richtig sein, da bei diesen Frauen meist das für 
die Steatopygie durchaus charakteristische Nachhintenragen 
der Glutalregion fehlt und das Unterhautfett besonders in der 
Gegend der Trochanterus entwickelt is. Nach Klaatsch ist 
der große Fettreichtum der weiblichen Unterleibsregion sicher 
in manchen Gegenden durch Auslese herangezüchtet 
1* 


4 Sokolowsky: Die Fettsteißigkeit beim Menschen 


worden, wofür der Fettsteiß der Hottentottenweiber ein 
klassisches Beispiel liefer. . Nach diesem Gelehrten ist 
die mächtige Verbreiterung der unteren Bauch- und 
Gesäßregion, die zum heutigen Schönheitsideal einer 
vollentwickelten Europäerfrau gehört, zum Teil jedenfalls 
eine Anpassungserscheinung an die Zunahme von Kopf und 
Gehirn der Kulturmenschheit. Zugleich aber spielt hierbei 
auch der geschlechtliche Geschmack eine Rolle, der breit- 
hüftige Weiber bevorzugt, wobei auch Rassenneigungen mit- 
sprechen. So bevorzugt der Norden Europas schlanke Figuren, 
der Süditaliener hat eine Vorliebe für die „bella grossa“ 
(„beleibte Schöne“), wodurch sich Anklänge an den Geschmack 
afrikanischer Völker kundgeben. 

Habe ich im Vorstehenden die Forschungsergebnisse und 
Anschauungen hervorragender Anthropologen über die Stea- 
topygie aufgeführt, soll es nun meine Aufgabe sein, den Ver- 
such zu machen, die Gründe für die Entstehung und Ent- 
faltung dieser Erscheinung zu ermitteln: 

Zunächst muß es auffallen, daß die Steatopygie sich in 
besonderem Maße beim weiblichen Geschlecht entfaltet findet. 
Es muß daher von vornherein der Gedanke naheliegen, deren 
Entstehung auf rein geschlechtliche Auslese von Seiten des 
Mannes: als seinem Schönheitsideal zurückzuführen. Diese 
Auffassung kann bei strenger Kritik nicht bestehen, da be- 
richtet wird, daß auch bei männlichen Individuen diese Fett- 
ablagerung nachgewiesen wurde, welche hier aber nur weit 
geringere Entwicklung aufweist. Eine besondere Bedeutung 
hat das Vorhandensein dieser Bildung beim Menschen durch 
die schon erwähnte Tatsache, daß auch beim Steinzeit- 
menschen Steatopygie vorkam. Ob man daraus auf die 
Existenz einer einheitlichen, früher weitverbreiteten steatopygen 
Rasse schließen darf, erscheint nach Martin noch fraglich. 
Ich glaube, man wird der Wahrheit näher kommen, wenn man 
in dieser Hinsicht den engbegrenzten Rassebegriff bei Seite 
läßt und mehr die biologische Bedeutung der Steatopygie 
ins Auge faßt. Um diese in ihrer Wesensart zu verstehen, 
bedarf es der vergleichsweisen Herbeiführung analoger Er- 
scheinungen, die sich bei mehreren Haustierformen des Men- 
schen, dem Fettsteißschaf (Ovis aries steatopyga) im 
Bereiche der Schwanz- und Lendengegend, beim Zebu und 


Sokolowsky: Die Fettsteißigkeit beim Menschen 5 


Kamel als Fettansammlung im Musculus trapezius finden. 
Diese Fettansammlungen dienen den genannten Haustieren 
als Nahrungsreservoir bei eintretendem Mangel an Nahrung. 
Sie sind daher in ihrer Entfaltung von der Güte der Weide 
abhängig. Es ist auch kein Zufall, daß sie sich bei solchen 
Geschöpfen finden, die, wie die Schafe als Steppenbewohner 
und die Kamele als Steppen- und Wüstenbewohner Zeiten 
der Dürre und Entbehrung ausgesetzt sind. Der gute Er- 
nährungszustand dieser Tiere ist leicht durch die prall mit 
Fett angefüllten diesbezüglichen Körperteile ersichtlich. In 
besonders auffälliger Weise konnte ich dieses bei Kamelen 
beobachten, die nach überstandener Seereise der Fettansamm- 
lung im Höcker fast verlustig geworden waren, bald aber, bei 
sorgsamer und reichlicher Fütterung, prall stehende Höcker er- 
hielten. Es muß nun auffallen, daß auch beim Menschen ein 
ähnliches Verhalten nachgewiesen wurde. So berichtet 
Passarge über die Steatopygie der Buschmannfrauen, die 
zwar nicht so ausgeprägt ist wie bei den Hottentottinnen, 
aber bei Frauen in gutem Ernährungszustand doch nie fehlt. 
Diese ist nach ihm um so auffallender, als der Körper dieser 
Frauen sonst gar nicht zur Fettbildung neigt. Derselbe Ge- 
lehrte hebt ausdrücklich hervor, daß bei den Buschmannfrauen 
die Steatopygie nicht so ausgeprägt ist wie bei den Hotten- 
tottinnen. Es ist nun von höchstem Interesse, die Unter- 
schiede in der Lebensweise dieser Völker daraufhin einem 
Vergleich zu unterziehen. Die Buschmänner sind Wanderer, 
die hauptsächlich von den Erträgnissen der Jagd leben, 
äußerst geringen materiellen Besitz haben und ursprünglich 
mit Vorliebe in Höhlen oder im Schutze von überhängenden 
Felsen gewohnt haben, mithin nicht seßhaft in bestimmten 
Wohnsitzen sind und waren, wohl aber ganz bestimmte auf 
festem Grundbesitz gegründete soziale Verhältnisse haben. 
Wenn bei ihnen jetzt ab und zu runde, bienenkorbartige 
Hütten angetroffen werden, so dürfte dieses als Entlehnung 
von ihren Nachbarn anzusehen sein. Sie bewohnen die 
Kalahari und sind an ein äußerst rauhes, entbehrungsreiches 
Leben gewöhnt. Die Ungunst ihrer Lebensverhältnisse treibt 
sie auf die Wanderschaft. Es muß diesen Menschen ein Fett- 
reservoir in Gestalt der Fettsteißbildung in Zeiten der Not und 
des Entbehrens gut zu statten kommen, indem der Körper Fett 


6 Sokolowsky: Die Fettsteißigkeit beim Menschen 

zuzusetzen imstande ist, ohne das Allgemeinbefinden zu 
stören. Auffallen muß es aber, daß die Steatopygie bei den 
Hottentotten,- die in weit besseren Lebensverhältnissen leben, 
entschieden noch ausgeprägter in Erscheinung tritt. Wie er- 
klärt sich dieser Widerspruch? Zunächst ist es nach 
von Luschan nicht mit Sicherheit bekannt, ob diese oft 
monströse Anhäufung von Fett in der Hüftgegend und an den 
Schenkeln schon ursprünglich den Hottentottenfrauen eigen 
war oder ob sie sich nicht etwa erst nach ihrer Vermischung 
mit Buschmännern eingestellt hat. Ich bin nun der Meinung, 
daß die Naturanlage zur Fettsteißbildung bei den Busch- 
männern ursprünglich auf dem Wege natürlicher Anpassung 
entstanden war und von den Menschen, speziell den Hotten- 
totten, erst sekundär auf dem Wege geschlechtlicher. Zucht- 
wahl inseiner Ausbildung gefördert und vergrößert wurde. Das 
konnte aber weniger bei den in steter Wanderung begriffenen 
und daher beweglicheren Buschmännern, als vielmehr in größerem 
Maße bei den seßhafteren Hottentotten geschehen. Hier wurde 
die Steatopygie als Schönheitsideal der Frau von Seiten des 
Mannes großgezogen. Es fragt sich nun, wie es kommt, daß 
speziell die Frauen die Steatopygie in höchster Ausbildung 
zeigen? Berücksichtigen wir die Stellung der Frau bei diesen 
Völkern, so wissen wir, daß die Buschmannfrau als „Lasttier“ 
des Mannes großen Strapazen bei geringerer Ernährung aus- 
gesetzt ist. Der Mann huldigt in ausgesprochenem Maße der 
Jagd, eine bedeutende Fettansammlung wäre ihm hinderlich 
bei seiner Bewegungsfreiheit, auch hat das unstete Umher- 
streifen als Jäger eine große körperliche Anstrengung zur 
Folge, die keine besondere Fettansammlung auf die Dauer 
zulassen würde. Als erfolgreicher Jäger fällt ihm durch den 
Ertrag der Jagd auch dementsprechende Nahrung zu. Der 
Buschmann ist Jäger, die Frau desselben ist Sammlerin. Ihre 
gute resp. schlechte Ernährung ist bei ihrer sozialen Tief- 
stellung von den Launen des jagenden Mannes abhängig. 
Auch bei den Frauen einzelner afrikanischer Zwergvölker ist 
Steatopygie nachgewiesen worden. Hier handelt es sich 
ebenfalls um Jägervölker, die ursprünglich das gleiche 
Leben auf offener Steppe wie die Buschmänner noch heute 
führten, später aber in den Wald hineingetrieben wurden. 
Sie haben sich die Steatopygie als Erbteil aus ihrem 


Friedländer: Freie Eierstocksüberpflanzung 7 


Steppenleben mit in den Wald hineingenommen. Auch 
der Urmensch lebte in ähnlichen entbehrungsvollen Lebens- 
verhältnissen.. Es muß bereits eine Zeit der Entbehrung für 
ihn vorhergegangen sein, bevor er sich befähigt sah, aus 
sexueller Zuchtwahl heraus die Steatopygie in dem Maße 
zur Entwicklung zu bringen, wie sie uns bei den ver- 
schiedenen Erzeugnissen seiner sculpturellen Tätigkeit vor 
Augen tritt. 

Unser Wissen über die Steatopygie ist keineswegs ab- 
geschlossen. Aufgabe der Forschung wird es sein, in das 
Wesen derselben tiefer einzudringen und die Art ihrer Ent- 
stehung klarzustellen. 

KZ 


FREIE EIERSTOCKSÜBERPFLANZUNG. 
Von Dr. med. KURT FRIEDLÄNDER. 


E: ist heute bereits in weite Laienkreise die Erkenntnis ge- 
drungen, daß der Unterschied der Geschlechter bedingt ist 
durch die Verschiedenheiten der Keimdrüsen. Ein Mann ist 
ein Mann eben durch das Vorhandensein des Hodens, ein 
Weib ist das, was es ist, nur durch seinen Eierstock. Und 
zwar wird dieser Unterschied rein biologisch nicht durch das 
nach außen gelieferte Produkt dieser Keimdrüsen bestimmt; 
ein Mann kann auch als Mann bezeichnet werden, wenn er 
keine Samenzellen absondert, und ein Weib kann auch ein 
Weib bleiben, ohne befruchtungsfähige Eier abzustoßen. 

Die Sexusdetermination erfolgt vielmehr gemäß dem nach 
innen ins Blut abgegebenen Produkt der Keimdrüsen. Das 
Inkret bestimmt das Geschlecht. Die Samenzellen- und Eier- 
bildung ist nur ein äußeres Merkmal dieser inneren Keim- 
drüsensekretion, ebenso wie etwa bei der Frau die Bildung 
der Brüste, das reichliche Fettpolster, das breite Becken, die 
typische Schambehaarung und der auf den Mann gerichtete 
Sexualtrieb andere deutliche Zeichen der innersekretorischen 
Ovarialfunktion sind. 

Allgemein herrscht wohl darüber Einigkeit, daß die Pro- 
dukte der inneren Sekretion der Keimdrüsen den maßgebenden 
Einfluß auf die Ausbildung der sekundären Geschlechts- 
charaktere, seien sie somatischer, seien sie psychischer Natur, 


8 Friedländer: Freie Eierstocksüberpflanzung 


haben. Ich brauche hier nicht näher darauf einzugehen und 
darf dies im Wesentlichen als bekannt voraussetzen. 

Das Kapitel der inneren Sekretion, das heute der ganzen 
biologischen Wissenschaft seinen charakteristischen Stempel 
aufdrückt, hat durch die bekannten Arbeiten Steinachs eine 
gewaltige Bereicherung erfahren, speziell hinsichtlich der 
inneren Sekretion der Keimdrüsen. Die Versuche, dieses 
Inkret der Keimdrüsen chemisch zu isolieren, um damit zu 
experimentieren, haben zu einem unbestrittenen, therapeutisch 
verwendbaren Ergebnisse noch nicht geführt. Wir sind bei 
keinem Präparat, mag der Name auch noch so verlockend 
klingen, sicher, wirklich den allein wirksamen Stoff vor uns 
zu haben. Bei den Eierstockspräparaten liegen die Verhält- 
nisse noch komplizierter, als bei denen des Hodens. Während 
beim Hoden das Zwischengewebe, das zwischen den Samen- 
kanälchen liegt, wohl allgemein als das Gewebe angesprochen 
wird, das als der Träger des männlichen Inkretes aufzufassen 
ist, herrscht beim Eierstocke darüber durchaus keine Einigkeit. 
Die einen Autoren sehen im gelben Körper, die anderen in 
der Eizelle und im Follikelepithel den Träger der Inkretion. 
Und schließlich wird analog den Verhältnissen beim Hoden 
dem Zwischengewebe die Hauptwirksamkeit zugeschrieben. 
Ich kann in diesem Zusammenhang auf die komplizierten 
Verhältnisse nicht näher eingehen. Ich verweise auf die aus- 
führliche Darstellung in meiner kürzlich erschienenen Arbeit 
„Die Impotenz des Weibes“. 

Ich will hier nur resümieren, daß wir durch experimentelle 
makroskopische und mikroskopische Beobachtungen gestützt, 
berechtigten Grund zu der Annahme haben, daß das Inkret 
des Ovariums vom Eierstockszwischengewebe geliefert wird, 
daß also die sogenannte interstitielle Eierstocksdrüse den be- 
herrschenden Einfluß auf die sekundären Geschlechtsmerkmale 
ausübt. Nach Steinach besteht ein gewisser Parallelismus 
zwischen der Masse des interstitiellen Gewebes und dem 
Quantum des Inkrets und seiner Wirksamkeit. Je mehr 
Zwischengewebe, um so stärker treten die sekundären Sexual- 
merkmale hervor, umso stärker z. B. der Geschlechtstrieb. 
Die Kenntnis von der Wichtigkeit der Keimdrüsen überhaupt 
für die Ausbildung und Erhaltung der sekundären Geschlechts- 
charaktere wurde uns zuteil durch die Beobachtung an Per- 


Friedländer: Freie Eierstocksüberpflanzung 9 


sonen, denen aus irgend einem Grunde die Keimdrüsen ent- 
fernt wurden. In früheren Zeiten wurden hauptsächlich männ- 
lichen Individuen die für operative Eingriffe leicht zugänglichen 
Hoden entfernt, sei es, daß man diese Personen als Harems- 
wächter wegen ihrer Zeugungsunfähigkeit, sei es als Sänger 
wegen Erhaltenbleibens der knabenhaften Stimme schätzte. 
Schließlich geschieht aus religiösen Gründen auch hente noch 
die Verschneidung bei den Skopzen in Rußland und Rumänien. 
Erst mit der Entwicklung und Ausbildung der operativen 
Technik kommt man nunmehr auch häufig dazu, aus thera- 
peutischen Gründen weiblichen Individuen die in der 
Bauchhöhle liegenden Eierstöcke zu entfernen. Die danach 
auftretenden Ausfallsymptome, die ein vorzeitiges Altern ein- 
leiten und ein Erlöschen aller Geschlechtsfunktionen des 
Weibes bedeuten, sind durchaus unerwünschte Nebenerschei- 
nungen. Es bedeutet für jeden Operateur einen sehr schweren 
Entschluß, einem jungen Weibe beide Eierstöcke nehmen und 
sie damit zur geschlechtlichen Inaktivität verurteilen zu müssen. 
Denn es hört damit nicht nur die Menstruation auf und die 
Möglichkeit, zu konzipieren, sondern in den weitaus meisten 
Fällen erlischt auch das Geschlechtsverlangen und die Ge- 
schlechtslust; Libido und Orgasmus schwinden. 

Die praktischen Versuche, durch Keimdrüsenextrakte von 
Tieren diese Ausfallerscheinungen zu mildern, haben gewisse 
nicht zu leugnende Erfolge aufzuweisen, der Fehler dieser 
Präparate liegt nur, wie ich schon sagte, darin, daß keins den 
allein wirksamen Stoff entbält, sondern daß sie alle mehr oder 
weniger ein Gemisch von mehreren Stoffen darstellen, 

Viel physiologischer muß es erscheinen, einem Individuum, 
dem man eine Keimdrüse — da ich in diesem Aufsatz nur 
von Frauen sprechen will, also ein Ovarium — genommen 
hat, nicht Extrakte und Tabletten, sondern ihm einen Eierstock 
von einem anderen Individuum einzuverleiben, oder wenn es 
die besonderen Verhältnisse gestatten, das aus irgend einem 
Grunde aus seiner normalen Lage entfernte Ovarium in toto 
oder in Scheibchen an eine andere Stelle des Körpers zu 
bringen. — Wir haben oben gesagt, daß die Ausbildung und 
Erhaltung der sekundären psychischen wie somatischen Sexus- 
merkmale ein Produkt der inneren Keimdrüsensekretion ist, 
d. h. ein Produkt der interstitiellen Eierstocksdrüse. Wenn 


10 Friedländer: Freie Eierstocksüberpflanzung 


wir also Frauen vor den Ausfallserscheinungen nach Kastration 
schützen wollen, wenn wir ihnen die typischen Geschlechts- 
zeichen bewahren wollen, so muß unser Bestreben darauf 
gerichtet sein, nicht die äußere Sekretion, die Reifung und 
Ausstoßung von Eiern zu erhalten, sondern ihnen das Inkret, 
das Produkt des ovariellen Zwischengewebes, zuzuführen. 
Man hat sich bemüht, durch entsprechende Versuchsanordnung 
diese Eierstocksdrüse zum Wuchern zu bringen, um auf diese 
Weise eine stärkere Inkretion zu erreichen. 

Man kann dies erzielen durch Ausschaltung der keim- 
bildenden Elemente, beim Hoden der Samenkanälchen, beim 
. Eierstock der Eibläschen, der Follikel. Beim Hoden stehen 
uns vier Wege zur Verfügung: 

1. die Unterbindung des Samenstranges, 

2. die Zerstörung der samenbildenden Elemente durch 

Röntgenstrahlen, 

3. die freie Überpflanzung von Hoden, bei der ebenfalls 
die Samenkanälchen atrophieren und das Zwischen- 
gewebe hypertrophiert. 

4. Die vierte Möglichkeit bietet uns die Natur selbst im 
Leistenhoden, beim Kryptorchismus, wo die Samen- 
kanälchen zerstört sind und wir oft fast eine Reinkultur 
von Zwischengewebe vorfinden. 

Beim Weibe haben wir nur zwei Wege zur Verfügung: 

1. die Röntgenbestrahlung, bei der durch geeignete Do- 
sierung die Eier zerstört werden und das interstitielle 
Gewebe erhalten bleibt und zum Wuchern gebracht wird. 

2. Die Transplantation. 

Über die Röntgenbestrahlung der weiblichen Keimdrüsen 
habe ich in meiner ausführlichen Arbeit zusammenfassend 
berichtet und auch angedeutet, welches weite Arbeitsfeld auf 
diesem Gebiet noch vor uns liegt. Bei der Verpflanzung von 
Ovarien haben wir zunächst drei Formen zu unterscheiden: 

1. die autoplastische Transplantation: die Verpflanzung 

eines Ovariums an eine andere Stelle des Individuums. 

2. die homoioplastische Transplantation: die Verpflanzung 
eines Ovariums eines Individuums auf ein anderes 
Individuum derselben Art. 

3. die heteroplastische Transplantation: die Verpflanzung 
des Ovariums eines Individuums auf ein Individuum 
einer anderen Art. 


Friedländer: Freie Eierstocksüberpflanzung 11 


Die ersten Transplantationen stammen wohl von Knauer. 
Er hat als erster den Nachweis erbracht, daß Transplan- . 
tationen von Ovarien an Tieren mit gutem Erfolg möglich 
seien. Fünfviertel Jahre nach der Transplantation trat bei 
einem Kaninchen Schwangerschaft ein. Die Früchte wurden 
ausgetragen. Diese Versuche wurden von anderen Autoren 
mit Erfolg wiederholt. — Halban machte erfolgreiche Ver- 
pflanzungen bei Affen (Cynocephalus) unter die Haut. Die 
Menstruation blieb erhalten. Knauer hat bei der Homoio- 
transplantation weniger Erfolge gesehen. Von 13 Verpflanzungen 
fand er nur bei zwei Tieren noch nach 21 Tagen sicher funk- 
tionsfähiges Ovarialgewebe. In einem andern Fall fand er nach 
eineinhalb Jahren Ovarialgewebe ohne Keimepithel und Follikel. 

Foà hatte Erfolge, wenn er die Ovarien neugeborener 
Kaninchen auf frisch kastrierte weibliche erwachsene Tiere 
verpflanzte. Diese Keimdrüsen entwickeln sich dann sehr 
schnell zu geschlechtsreifen Ovarien. „Vielen Mißerfolgen bei 
homoioplastischer Transplantation stehen eine Reihe positiver 
Erfolge gegenüber. Es ist histologisch und biologisch der 
Nachweis erbracht, daß homoioplastisch transplantierte Ovarien 
einheilen, Eier ausstoßen und Corpora lutea bilden können, in 
einigen Fällen istSchwangerschaft und Geburt beobachtet. Je höher 
die betreffende Tierart ist, desto größere Schwierigkeiten bieten 
die erfolgreichen homoioplastischen Transplantationen.“ 

Nach Unterberger findet man in den homoioplastisch 
transplantierten Ovarien des öfteren Eizellen erwähnt, es fehlt 
aber häufig jede Bildung eines Corpus luteum. Ein solches 
Ovarium sei aber nicht mehr als funktionstüchtig zu bezeichnen. 
Es findet sich bereits im Stadium des Niedergangs. Hierin 
hat Unterberger nicht Recht. Im Niedergang befindet sich in 
diesen Fällen nur der extrasekretorische Anteil des Ovariums, 
die Eier reifen nicht und werden nicht abgestoßen; der in- 
kretorische Teil dagegen zeigt andere Verhältnisse. Hier muß 
man unterscheiden, ob es sich um eine Auto- oder Homoio- 
transplantation einerseits oder um eine Transplantation von 
Eierstocksgewebe in den kastrierten männlichen Organismus 
anderseits handelt. In dem zweiten Fall findet eine verstärkte 
Follikelatresie statt und damit eine vermehrte Umwandlung in 
interstitielles Gewebe, die Follikel sind weniger befähigt aus- 
zureifen und gelbe Körper zu bilden. Die Tätigkeit der 


12 Friedländer: Freie Eierstocksüberpflanzung 


Ovarienimplantate entwickelt sich mehr in der Richtung der 
inneren Sekretion. 

Die Verpflanzung von Ovarien in kastrierte oder nicht- 
kastrierte weibliche Individuen (auto- oder homoioplastische 
Transplantation) dagegen braucht die Corpus luteum Bildung 
nicht zu beeinträchtigen. Es sind nicht wenige Fälle bekannt, 
wo sogar Gravidität eintrat, sofern nur eine Vereinigung von 
Ei und Same ermöglicht war. 

Die zahlreich variierten Versuchsanordnungen von Athias, 
Sand und speziell Steinach und die Transplantations- 
Ergebnisse liefern einen wertvollen Beitrag zur Frage, welche 
Elemente die Träger der inneren Sekretion seien. Wurden auf 
kastrierte Männchen Ovarien transplantiert, so heilten diese 
Keimdrüsen an und waren imstande, dem männlichen Orga- 
nismus einen weiblichen Wachstumsimpuls zu geben. Die 
männlichen Brustdrüsen hypertrophieren bis zur Milchsekretion, 
auch das psychosexuelle Verhalten der Tiere wurde in weib- 
licher Richtung beeinflußt, auch von andern männlichen Tieren 
wurden sie als Weibchen betrachtet. Diese verstärkte innere 
Sekretion hat ihr anatomisches Substrat in einer stärkeren 
Wucherung der Zwischenzellen nach einem vermehrten Zu- 
grundegehen von Follikeln. Lipschütz wirft in diesem Zu- 
sammenhang die Frage auf, ob nicht auch homoio- oder auto- 
plastisch transplantierte Ovarien auf kastrierte Weibchen eine 
Vermehrung des Interstitiums zeigen, und glaubt diese Frage 
auf Grund der Abbildungen von Marshall und Jolly bejahen 
zu müssen. Exakt darauf hingerichtete Versuche liegen noch 
nicht vor. — Daß aber die Resultate der Eierstocksübertragung 
verschieden sein müssen, je nachdem ob es sich um kastrierte 
männliche oder weibliche Individuen handelt, erscheint mir 
klar zu sein, denn wir müssen uns gewöhnen, den Chemismus 
des Ovariums in den Chemismus der gesamten Blutdrüsen 
einzuordnen, bezw. ihn unterzuordnen. Und ein von vorn- 
herein männlich bestimmtes Blutdrüsensystem wird anders auf 
die Implantation reagieren, als ein weiblich determiniertes. 

Bei Frauen ist die autoplastische Verpflanzung von Ovarien 
in zahlreichen Fällen mit Erfolg durchgeführt, um die 
Patientinnen vor vorzeitigem Klimakterium zu bewahren oder 
zumindest die Menopause um ein paar Jahre hinauszuschieben 

Meistens ist im Anschluß an die beiderseitige Adnex- 


Friedländer: Freie Eierstocksüberpflanzung 13 


exstirpation ein Stück eines Ovariums in das Lig. latum, in 
die Tube, in die Plica vesico-uterina oder in den Uterus 
implantiert worden (Morris, Dudley, Pankow, Cramer). 
Kayser hat sogar nach Entfernung beider Adnexe zwei keil- 
förmige Stücke von -Eierstocksgewebe in den rechten Ober- 
schenkel verpflanzt. Nach zehn Tagen trat die erste Regel 
auf, die weiteren Menses waren unregelmäßig. Die Libido 
war gesteigert. Diese Mitteilung ist für uns wichtig, denn es 
ist anzunehmen, daß in den beiden keilförmigen Stücken durch 
die Verpflanzung eine Vermehrung des Zwischengewebes auf- 
trat, die das gesteigerte Geschlechtsverlangen bewirkte. Tuffier 
hat 109 erfolgreiche Autotransplantationen in das subkutane 
Gewebe der Bauchhaut ausgeführt. ‚Unmittelbar nach der Trans- 
plantation traten Ausfallerscheinungen auf, die nach Einsetzen 
der Regel verschwanden. Der Zeitraum zwischen Transplan- 
tation und erster Menstruation betrug zwei bis sieben Monatel 

Beckwith Withehouse wandte 1913 zum ersten Male 
die „Stückchen-Transplantation* an. Er verpflanzte nicht 
ganze Ovarien, sondern Stücke ins subperitoneale Gewebe 
und zwischen Rektus und vordere Rektusscheide Die Menses 
sollen sich ohne dymenorrhoische Schmerzen in größeren 
Pausen gehalten haben. Die sexuellen Funktionen waren 
normal. Unterberger hat ebenfalls 19 erfolgreiche auto- 
plastische Verpflanzungen ausgeführt. Er beobachtete wie 
Tuffier zuerst das Auftreten von Ausfallserscheinungen — die 
mit dem Einsetzen der Menses verschwanden — Menopause 
nach der Transplantation zwei bis sechs Monate. Nach seiner 
Ansicht kann autoplastisch verpflanztes Eierstocksgewebe noch 
nach fünf Jahren funktionstüchtig sein. 

Die Indikationen für eine homoioplastische Transplantation 
beim Weibe sind im Prinzip etwas abweichende. Es wird 
sich im allgemeinen darum handeln, die eigenen Ovarien des 
betreffenden Individuums, die selbst eine Hypofunktion auf- 
weisen, in ihrer Tätigkeit durch Implantation eines fremden 
Ovariums anregen. Meistens wird es sich um hypoplastische 
Personen handeln, deren Genitalien infantil sind, deren sekundäre 
Geschlechtscharaktere unentwickelt sind. In solchen Fällen 
ist der Geschlechtstrieb oft wenig oder garnicht ausgesprochen, 
das Fettpolster ist gering und die Brüste sind klein, wobei 
nicht zu vergessen ist, daß die Größe einer Brust oft durch 


14 Friedländer: Freie Eierstocksüberpflanzung 


reichliche Fettentwicklung vorgetäuscht wird, während das 
Drüsenparenchym nur spärlich vorhanden ist. 

Die bis jetzt ausgeführten homoioplastischen Transplan- 
tationen sind nicht zahlreich. 

Morris hat drei gute Resultate aufzuweisen. Bei einem 
bemerkenswerten Falle trat vier Jahre nach Verpflanzung in 
einen Schlitz des Lig. latum Gravidität und Partus auf. Das 
Kind wurde gestillt. Hooper, Le Lorier und Cramer 
hatten Erfolge zu verzeichnen. Döderlein und Krönig im- 
plantieren bei vorher kastrierten Frauen ohne Dauerresultat. 
Vier bis sechs Wochen nach der Operation war eine Besserung 
zu bemerken, dann trat der alte Zustand wieder ein. Unter- 
berger hält es für wichtig, die Eierstöcke, oder zumindest 
einen zurückzulassen; durch das implantierte Ovarium wird 
die Inkretion des eigenen Ovariums angeregt und kann dann 
später selbständig funktionieren. Er selbst hat eine erfolg- 
reiche Verpflanzung ausgeführt. 

Nach Unterberger liegt eine Indikation für Homoiplastik 
nur dort vor, wo ein infantiler Genitalapparat oder Atrophie 
der Ovarien mit heftigen Beschwerden diagnostiziert wird. 
Da der Eingriff — Implantation zwischen die geraden Muskeln 
der vorderen Bauchwand — ein kleiner ist — eine Eröffnung 
der Bauchhöhle ist ja nicht nötig — so würde es sich wohl 
lohnen, die Indikation auch auf die germinale Impotenz aus- 
zudehnen. Ich verstehe darunter die Form der Impotenz des 
Weibes, bei der infolge einer Unterfunktion des inkretorisch 
wirksamen Övarialteiles das Gehirn durch die Inkrete, durch 
die Eierstockshormone zu wenig oder garnicht erotisiert wird. 
Es resultiert daraus dann ein Zustand, bei dem die Frau 
weder Lust zum Verkehr, noch Lust im Verkehr empfindet. — 
Wenn wir uns vor Augen halten, welchen verderblichen Ein- 
fluß diese, sonst gar nicht oder kaum zu bessernde Impotenz- 
form auf das Eheleben haben kann und oft genug hat, so wird 
dies unsern Entschluß zu einem Eingriff erleichtern. 

Die freien Hodenverpflanzungen, die in letzter Zeit häufiger 
und mit einwandfreiem Erfolge bei Kastraten und Homo- 
sexuellen ausgeführt wurden und die durch eine vermehrte 
innere Sekretion des Transplantates einen deutlichen Einfluß 
auf das psychosexuelle Verhalten ausübten, speziell die Libido 
wesentlich verstärkten, berechtigen uns, auch beim Weibe mit 


Fehlinger: Vom Geschlechtsleben afrikanischer Zauberkulturstämme 15 


vermindertem oder fehlendem Geschlechtstrieb eine freie 
Eierstocksüberpflanzung zu versuchen. Selbstverständlich, um 
es noch einmal zu betonen, nur bei innersekretorisch bedingter 
Impotenz, wenn alle psychischen und sonstigen Hemmungen 
ausgeschaltet sind, wenn wir in der Impotenz ein organisches 
und nicht ein seelisches Symptom zu erblicken haben. 


REM 


VOM GESCHLECHTSLEBEN AFRIKANISCHER 
ZAUBERKULTURSTÄMME. 


Von H. FEHLINGER, Mitglied des Internationalen Arbeitsamtes Genf. 


D: Zauberglaube ist die Weltanschauung der Australier und 
Melanesier, aber auch eines großen Teils der afrikanischen 
und südamerikanischen Völker. Im Gegensatz zu sämtlichen 
anderen Kulturen mangelt der Zauberkultur die Idee eines Gottes, 
d. h. einer unsterblichen, übersinnlichen Persönlichkeit, zu der 
die Menschen oder ein Teil von ihnen nach dem Tode wieder 
hinstreben. Von den Stämmen der Zauberkultur in Kamerun 
sagt G. Tessmann in der Zeitschrift für Ethnologie (51. Jahr- 
gang, S. 142 u. f.), daß sie an den Anfang der Menschheits- 
geschichte einen männlichen und weiblichen Urgedanken stellen, 
versinnbildlicht in einem großen Baumwollbaum und einer Liane, 
die nicht anders zu deuten sind, als Bilder für die Geschlechts- 
werkzeuge, wobei die Liane oder Schlange das männliche Glied, 
die Nischen zwischen den Brettwurzeln des Baumwollbaumes 
bezw. Höhlungen in anderen Bäumen den weiblichen Geschlechts- 
teil bedeuten. Aus der Vereinigung der Liane und des Baum- 
wollbaumes entstand der erste Mensch und Stammvater des 
Stammes. Er war zwar mit außergewöhnlichen Kräften, nämlich 
Zauberkräften, ausgestattet, aber auch nur Mensch, und ist 
daher auch gestorben. Es ist anzunehmen, daß die Auffassung 
vom Tode in unserem Sinn den Zauberkulturstämmen ursprüng- 
lich unbekannt war. Für sie war der Tod zugleich der Beginn 
eines neuen Lebens auf der Erde in derselben Form, insofern 
der Verstorbene in einem Kinde wieder aufs neue geboren 
wurde. Auch die afrikanischen Zauberkulturstimme haben 
diesen Gedanken früher einmal gehabt, bei den Australiern hat 
er sich bis heute erhalten. Der Glaube an die Wiedergeburt 


16 Fehlinger: Vom Geschlechtsieben afrikanischer Zauberkulturstämme 


ist bei den Zauberstämmen freilich nicht auf Naturphilosophie 
begründet, sondern er beruht auf der Auffassung von der 
Allmacht des Zaubers, aus der sich die überragende Stellung 
des Zauberers in. der primitivsten Gesellschaft ergibt. Die 
kamerunischen Zauberstämme glauben, daß die Mutter die 
Zauberkraft auf die Kinder vererbt; sonst wird in der Regel 
angenommen, daß sie vom Vater auf den Sohn übergeht. 

Als Zauberinstrumente fand Tessmann bei den Bafia in 
Mittelkamerun: Bilder des Stammvaters und der Stammutter; 
Menschen- und Leopardenknochen; das Schwirrholz, das eigent- 
lich den unsichtbaren Körper des Vorfahren darstellt, der dann 
wieder bei der Geburt im Kinde auflebt; und endlich die 
Holzfigur eines Hundes. Der Hund gilt den Leuten in reli- 
giöser Hinsicht als Sinnbild des Geschlechtsverkehrs und 
Tessmann zeigt, daß das Geschlechtsleben der Bafia in der 
Tat mit den Gebräuchen unserer so beliebten Vierfüßler über- 
einstimmt. Für den jungen Mann der ersten Geschlechtsstufe, 
den Kiembe, besteht die Vorstufe einer als Landessitte bezeich- 
neten Gleichgeschlechtlichkeit, aus der sich dann der mann- 
weibliche Geschlechtsverkehr erst entwickelt. Er findet in 
Form des nächtlichen Frauenraubes (oder besser „Frauendieb- 
stahls“, wie die Neger sagen) statt, wobei die Frau natürlich 
mit einverstanden sein muß. Sie gilt nun aber nicht als Eigen- 
tum des Einzelnen, sondern als solches aller geschlechts- 
verkehrenden Jünglinge und Männer der Sippe. Als öffentliche 
Bezeugung dieses Zustandes gilt die Sitte, daß der Frauen- 
räuber selbst die Frau erst nach seinen Sippengenossen gebrauchen 
darf. Da dies bei der großen Zahl der Bewerber in der ersten 
Zeit häufig noch nicht geschehen ist, so kommt es vor, daß 
die Frau inzwischen von anderer Seite wieder geraubt wird 
und der Räuber dann nicht einmal zu seinem Rechte kommt. 
Eine Ehe gibt es nicht, das Entscheidende für das Zusammen- 
leben der beiden Geschlechter war und ist heute noch das 
Kind. Wie sehr diese Leute sich selbst erkannt haben, wenn 
sie den Hund als geheiligtes Sinnbild ihres geschlechtlichen 
Lebens wählten, beweisen die Frauenraubnächte. Sie sind 
nämlich einer Hundehochzeit völlig an die Seite zu stellen, es 
herrscht dabei ein Geschrei, Gerufe und Geheul, das nur der 
sich vorstellen kann, der es miterlebt hat. Infolge der Tat- 
sache, daß der Bafia nichts darin findet, seinen geschlecht- 


Tafel II 








Hottentottenweib mit Steatopygie 
Zu Sokolowsky: Die Fettsteißigkeit beim Menschen 


Tafel UI 





Fettschwanzschaaf 
Zu Sokolowsky: Die Fettsteißigkeit beim Menschen 


me A E E e — —————<=——к—————= er 


Tafel IV 








a et 


Darstellung des erotischen Momentes im Geiste der italienischen Renaissance nach 
Giacomo Palma (* ca. 1480, } 1528 zu Venedig), dem besten Schilderer der vene- 
tianischen Frauenschönheit. (Zum Aufsatz Reitzenstein.) 





Auffassung des Mannes in der deutschen Renaissance nach H. Aldegrever (* 1502 zu 
Paderborn, + 1560 zu Soest). (Zum Aufsatz Reitzenstein.) 


Fehlinger: Vom Geschlechtsleben afrikanischer Zauberkulturstäimme 17 


lichen Trieben freien Lauf zu lassen, gibt es auch kein Scham- 
gefühl, noch eine Bekleidung der Geschlechtsteile. Die Ver- 
deckung der Eingänge in die Geschlechtsteile, beim Mann 
durch einen Eichelstulp, beim Weib durch einen Clitorisstift, 
führen die Leute selbst auf das Schutzbedürfnis vor dem Ein- 
kriechen kleiner Insekten, zumal Ameisen, zurück. Eichelstulpe 
und Clitorisstifte, von denen es solche für die Arbeit, für den 
Alltag und für die Festtage gibt, sind ‚im letzteren Falle so 
auffallend und niedlich gearbeitet, daß sie geradezu die Auf- 
merksamkeit auf die Teile, die sie decken, lenken. 

Die Beschneidung haben die Bafia von Nachbarstämmen 
übernommen, die zu einem anderen Kulturkreise gehören und 
sie als religiöse Handlung üben. Bei den Bafia wurde sie 
zum Mittel des Fruchtbarkeitszaubers, sie soll die Zeugung 
ermöglichen. Auf ihre erst in verhältnismäßig neuer Zeit erfolgte 
Übernahme weist der Umstand hin, daß ihr noch nicht alle 
Männer unterworfen werden. Wird ein nicht beschnittener 
Mann Vater, oder bleiben bei einem beschnittenen Manne 
Kinder aus, so wird angenommen, daß eine von außen kom- 
mende böse Zauberei im Spiele sei. Die Beschneidung hat 
bei den Bafia eine Bedeutung bekommen, die ihr ursprünglich 
fremd war. Das kommt auch sonst bei Übernahme von fremden 
Kulturgütern häufig vor. Überdies ist es wahrscheinlich, daß 
- die Beschneidung, auch wo sie eigenes Kulturgut ist, nicht 
stets auf die gleiche Veranlassung zurückgeführt werden darf. 
Verschiedene Motive geben oft zu einem äußerlich überein- 
stimmenden Kulturmerkmal Anlaß. Ebenso wäre es falsch, die 
geschlechtlichen Sitten der Bafia als Überrest eines einstmals 
weit verbreiteten Zustandes anzusehen. Sie sind vielmehr aus 
besonderen Veranlassungen heraus entstanden, die wir zwar 
nicht kennen, von denen wir aber auch nicht annehmen dürfen, 
daß sie allgemein oder doch bei vielen Völkern bestanden hätten. 


Ge 


= У Ke 7 = Ё TR d ZNE NI w 
IBM, ДЕЕ; 
R 
Lat 
A Ц 


OR 


з 
[У 


Dr 





Abb. 1. Jungfern-Pflugziehen (zu Seite 25). 


BETRACHTUNGEN ÜBER DAS LIEBESLEBEN IN 
DER ZEIT -DER RENAISSANCE UND DER PERIODE 
DER GALANTEN. 

Von FERD. FRHR. VON REITZENSTEIN, Dresden. 


1. Das Geschlechtsleben in der Zeit der Renaissance 
und der Galanten. 


a) Allgemeine Gesichtspunkte. 


on Seiten gewisser Kreise, die sich immer als besonders 
NR „deutschnational“ brüsten, wird neuerdings in Gemeinschaft 
mit den Moralisten jede Bewegung, die für eine freiere Auf- 
fassung des Sexuellen eintritt, bekämpft und dabei darauf hin- 
gewiesen, daß damit deutscher Geist gefährdet würde. Nun, 
wir dürfen annehmen, daß diese Herren sich über den echt 
deutschen Geist unserer Vorfahren, den sie immer zitieren, gar 
nicht klar sind. Woher sollten sie es auch? Wollen wir uns 
daher die letzt vergangenen Jahrhunderte einmal daraufhin ansehen. 

Es waren andere Menschen mit einem ganz anderen Fühlen 
und Denken wie das heutige. Mit einem für uns kaum glaub- 
lichen Freimut drückte man sich aus und besprach öffentlich 
Dinge, die unsere mimosenhaft schamhafte Zeit „entsetzlich“ 
findet. Es liegt das zum Teil daran, daß viele Worte, die 
man heute selbst im engsten Freundeskreise nicht mehr an- 
wendet, damals noch nicht so abgegriffen waren und als 
alte, gute deutsche Bezeichnungen stets gebraucht wurden. 
Man nannte eben das Kind sozusagen beim Namen und ver- 
schmähte es, sich in Umschreibungen zu ergehen. Wer daraus 


Reitzenstein: -Betrachtungen über das Liebesleben 19 


jenen Zeiten einen Vorwurf macht, muß es sich gefallen lassen, 
daß man ihn als einseitig in unserer heutigen Weltanschauung 
befangen betrachtet. Er läuft Gefahr, in kommenden Jahr- 
hunderten vielleicht mit ebensolcher Verachtung betrachtet zu 
werden, wie er sie den Zeiten unserer ehrlicheren Väter glaubt 
entgegenbringen zu müssen, denn sicherlich kommt wieder eine 
Periode, in der man die Heuchelei mehr hassen wird als die 
Wahrheit. In der Tat sind wir heute schließlich auch 
nicht anders als unsere Vorgänger in jenen Zeiten, wie es 
überhaupt ein Erfahrungsgrundsatz ist, daß sich die Menschen 
in allen gesunden, naturfrischen Perioden gleichbleiben. Es 
handelt sich im Grunde immer nur darum, unter 
:welchen äußeren Formen sich das Leben abspielt, und 
wie man es zu jeder Zeit beurteilt. Was als sittlich 
gut und sittlich schlecht anzusehen sei, war stets 
reine Modesache, da man eigentlich niemals von rein 
natürlichen Gesichtspunkten ausging, die allein eine 
allgemeingiltige Grundlage für eine gesunde Ethik 
abgeben könnten. Es kann nicht bezweifelt werden, daß 
weder Moralpredigten noch Gesetze den Menschen in seinem 
Sexualleben wesentlich beeinflussen; denn je mehr Gesetze 
geschaffen werden, desto mehr Verbrechen werden begangen, 
desto mehr krankhafte Ausschreitungen kommen vor. So ist 
es falsch, der Reformation eine Lockerung der ehelichen 
Bande und die Tendenz der Verunsittlichung zuzu- 
schreiben, denn Reformation wie entartetes Geschlechtsleben 
sind beides Abzweigungen der Renaissance. Die Reformation 
ist die geistige Befreiung der Welt von dem auf ihr lastenden 
Gewissensdruck*) und die „gelockerte Moral“ eine Folge jenes 
Vorspiegelns einer Pseudosittlichkeit, wie es die Mora- 
listen und Fanatiker jener Zeit besonders in der Übung hatten. 
Beide Strömungen gehen von der Individualisierung der 
Menschen aus, die die Seele der Renaissance ist.*) Eine 
Individualität will weder geistig noch physisch gedrückt sein 
und übt einen Gegendruck aus, dem oft die richtige Berechnung 
für den geeigneten Haltepunkt fehlt, so daß er das Ziel gar 
oft überschreitet. Selbst die verschiedenen Länder erscheinen 


*%) Vgl. Reitzenstein „Entwicklungsgeschichte der Liebe“, S. 87ff., wo 
bereits eine Charakteristik der Renaissance gegeben ist. 
2 


20 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 


verschieden. Italien hatte wahrhaft gigantische Naturen ge- 
zeugt, die für die von ihnen geschaffene freie Liebe gerade 
groß genug waren, so groß, daß sie selbst dort gewaltig er- 
scheinen, wo sie die Grenzen dessen, was erlaubt ist, über- 
schreiten, nämlich im Verbrechen. Frankreich war galant 
und blieb es; aber es fand nie jenen Boden, auf dem es sich 
dem Weibe gegenüber zu einer imponierenden Individualität 
hätte auswachsen können. Seine „Helden“ wissen ihren Hand- 
lungen nicht den Stempel des absolut zielbewußten, selbständigen 
Handelns aufzudrücken; sie erscheinen vielmehr stets als die 
Sklaven ihrer Leidenschaften. So wurde hier das Weib zum 
Spielball der Launen des Mannes und — da ihm noch mehr 
jeder individuelle Rückhalt fehlte als dem Manne — zum Opfer 
seiner eigenen sinnlichen Erregtheit, die wie eine lange zu- 
sammengepreßte Ladung von Elektrizität schlummerte und sich 
bei jeder Berührung mit einem Manne entlud. Aber hier ist 
die Entladung eine zügellose, keine gewaltige wie bei der Frau 
der italienischen Renaissance, die eben nur bestimmten 
Männern sich hingab, dann allerdings schrankenlos, immerhin 
aber mit einer gewissen individuellen Größe. Dafür sank das 
Italien der Renaissance auch sehr rasch dahin; seine Größe 
war das letzte gewaltige Aufleuchten antiken Geistes, und man 
kann sagen, daß es lange Zeit aufgebraucht war. Frankreich 
hatte seine Kräfte langsamer ausgegeben und schuf das Zeit- 
alter Ludwigs XIV. und das Napoleons. Deutschland spielt 
eine eigenartige Rolle. In einzelnen seiner Erscheinungen werden 
wir gewissermaßen an Italien erinnert, aber das germanische 
Element mit seiner realen und ruhigen Auffassung verhinderte 
ein Verpuffen; es behielt etwas von seiner alten herben Derb- 
heit, aber neben ihr eine ungemein zarte poetische Weltauf- 
fassung, die dem kulturellen Leben immer wieder neuen Nähr- 
boden gab. Dazu kam, daß Italien sehr bald in eine heuch- 
lerische Pseudomoralität verfiel, während in Deutschland mehr 
Offenheit und Ehrlichkeit an der Tagesordnung blieb, die heute 
allerdings auch dahin geht. Noch heute entsetzen sich Italiener, 
wenn sie die Ungeniertheit unserer Liebespärchen sehen; sie 
finden es schauderhaft, daß Bänke in Anlagen Zeugen intimer 
Liebeleien sein können, und loben ihr Land als das moralisch 
bessere, weil man derartige Bilder nicht zu sehen bekäme. 
Und doch tun sie es mit Unrecht. Man lebt in Italien auch 


|4 


аа 


Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 21 


nicht enthaltsamer als in Deutschland, aber man verbirgt es 
mehr. Außerdem ließ die Abschließung der Frauen vor allem 
homosexuelle Neigungen in den Vordergrund treten, und 
diesen huldigt man recht öffentlich. Wenn auch unser & 175 
des Strafgesetzbuches ein Unrecht ist, wollen wir doch lieber 
unseren Liebespärchen auf einer stillen Bank die größte Frei- 
heit lassen, als das Öffentliche Auftreten der homosexuellen 
Liebe begünstigen, denn den Geschlechtstrieb schafft 
niemand aus der Welt; man kann ihn höchstens in andere 
Bahnen lenken, und das wäre für uns noch unnatürlicher, 
Was haben Klöster und ähnliche Anstalten vom Zölibat, wenn 
sie ihn wirklich durchführen? Die Zeitungen beantworten uns 
diese Frage leider zu oft. Fällen wir also kein allgemeines 
Urteil über unsere deutsche Vergangenheit und über unsere 
deutschen Frauen; sie waren doch die besten, selbst wenn sie 
mehr für ihre Befriedigung brauchten, als wir heute für gut 
finden, denn sie hatten auch sonst mehr Kraft übrig als unsere 
heutige abgearbeitete Zeit. Darin allein liegt auch der richtige- 
Maßstab für das Urteil darüber, ob eine Periode als geschlecht- 
lich ausschweifend zu erachten sei oder nicht. Bewegt sich 
das Geschlechtsleben in natürlichen Bahnen und unter- 
gräbt es nicht die Kraft eines Volkes, dann ist es auch 
nicht unsittlich, weil es eben nur eine Äußerung jener 
Kraft ist. Die größere Gefahr ist dabei nicht der geschlecht- 
liche Verkehr, sondern der übertriebene Luxus, der sich bei 
verkehrter Regelung damit verbindet. 

Hier mag zugleich ein öfters erhobener Einwand besprochen 
werden. Es gibt Historiker, die sich als Rechtsanwälte ge- 
bärden und jeden Menschen glauben reinwaschen zu müssen. 
Sie führen aus, jene zeitgenössischen Schilderungen des da- 
maligen Lebens seien übertrieben oder gar völlig erdichtet, 
und die Frauen unserer Vorfahren seien vielmehr stets die 
guten und anständigen Hausmütter gewesen, wie sie die Ge- 
schichte immer gekannt habe. Sicherlich waren sie gute Haus- 
frauen, das zeigen die Leistungen jener Zeit, zu deren Aus- 
führung sie mitberufen waren. Was dies aber mit unserer 
heutigen Mode in geschlechtlichen Fragen zu tun haben soll, 
ist nicht einzusehen. Die Quellen sind klar und einwandfrei; 
die Menschen waren aber wegen ihrer freieren Auffassung 
und ihres ungezwungeneren Lebens nicht nur nicht schlechter 


22 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 


sondern sogar besser, die gute alte Zeit hat existiert, aber 
nicht insofern, daß sie „moralistischer*, sondern daß sie ehr- 
licher, natürlich war. Oder soll ein Weib deswegen keine 
brauchbare Hausfrau sein können, weil es als Mädchen 
mehrere Liebesverhältnisse hatte? Ist nicht heute unser 
Bauernstand in seinem häuslichen Leben gesünder 
als die größte Zahl unserer ersten Kreise? Und doch 
treten da die Mädchen nahezu alle defloriert in die Ehe 
und haben zu mehreren Burschen in Beziehung gestanden. 
Unter unseren Bauern finden wir vielfach noch dieselben An- 
schauungen in geschlechtlichen Fragen, dieselbe Derbheit der 
Sprache, wie sie im 15., 16. und 17. Jahrhundert allgemein 
herrschten. Der Unterschied ist eben in der Hauptsache der, 
daß diese Zeiten ihre offenen und ehrlichen Schilderer fanden, 
die auch offen und ehrlich sprechen durften, während der 
heutige Bauernstand sehr wohl fühlt, daß seine Anschauungen 


denen der sogenannten Gesellschaft zuwiderlaufen, und deshalb 


wenig mitteilsam gegen Beobachter wird. Außerdem sehen 
sich diese Beobachter noch nicht veranlaßt, die Verhältnisse 
zu schildern, wie sie wirklich sind, um nicht in den Geruch 
der „Unsittlichkeit“ zu geraten. Der Vorzug dieses Bauern- 
standes ist aber, daß er gerade infolge dieser geschlecht- 
lichen Freiheit kerngesund ist, während die bürgerlichen und 
ersten Kreise an widernatürlichen Lastern und an der echten 
Prostitution kranken. Wir dürfen also — abgesehen von deut- 
lich als solche erkennbaren Karikaturen, die wir zumeist den 
Moralpredigern jener Zeit verdanken — uns die Menschen 
so vorstellen, wie sie uns geschildert sind, und gerade 
deshalb auch auf ihre soziale Gesundheit schließen. Freilich 
schwelgen Moralprediger aller Zeiten darin, Einzelfälle, die an 
sich gesund und natürlich waren, so auszumalen, daß sie zu 
einem häßlichen Zerrbilde werden. Schon 1472 schreibt der 
Propst Stephan von Lantzkranna in Wien in seiner „Himmels- 
straß“* gegen die volksverderbenden „schamlosen Bilder“; 
heute kämpften und kämpfen Roeren, Bohn und Brunner Seite 
an Seite und predigen den baldigen Untergang unseres Volkes; 
in wiederum 500 Jahren werden vielleicht andere denselben 
Kampf kämpfen, und das Volk wird — sich gleichbleiben. 
Wahrheit und Liebe werden ihren Gegnern nicht erliegen, und 
Uhlands Wort: „Solang es nicht eine greise Jugend gibt, wird 


e 


di. 


Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 23 


stets das Liebeslied die Blume der Lyrik sein“, wird diesen 
eigenartigen Menschen zum Trotz hoffentlich recht lange Gel- 
tung behalten. Und die Liebe ist stets dieselbe, sie äußert sich 
nur in verschiedener Art der Öffentlichkeit gegenüber, je nach- 
dem es die Mode diktiert.e Daß man damals sehr frei 
sprechen konnte, darf uns nicht wundern, weil man überall 
zu den Kindern über geschlechtliche Verhältnisse 
ganz offen sprach. Mit anderen Worten: man erzog 
die heranwachsenden Menschen ohne jede Geheimnis- 
tuerei und brauchte darum später sich nicht den Kopf 
zu zerbrechen, wie man die Jugend „aufklären“ solle. 
So gab der berühmte Erasmus von Rotterdam im 16. Jahr- 
hundert ein sehr verbreitetes Lesebuch heraus, das viele Tau- 
sende, ja Millionen von Kindern benutzten; ursprünglich war 
es lateinisch geschrieben, dann wurde es ins Deutsche, Fran- 
zösische, Englische, Spanische, Hölländische übersetzt. Es wird 
darin rückhaltlos von geschlechtlichen Dingen gesprochen. 
Dort lesen wir z. B.: „Gewisse Frauen sind so eigensinnig, 
daß sie sogar beim Koitus zanken und streiten.“ Oder der 
Verfasser erzählt Episoden, wie die folgende: 

„Zwei junge Ehefrauen sprechen über ihre Männer. A: Ein besseres 
Verhältnis zum Ehemann entsteht, wenn aus dir ein Kind geboren wird. 
B: Das ist ja schon. A: Wann denn? B: Unlängst. A: Wieviel Mo- 
nate sind es? B: Beinahe sieben. A: Was hör’ ich? Du bindest uns 
den Witz auf, daß du drei Monat schwanger warst. B: Keineswegs. 
A: Es muß doch so sein, wenn du die Zeit vom Hochzeitstage rechnest. 
B: Schon vor der Ehe hatte ich mit ihm Zusammenkünfte. A: Und durch 
die Zusammenkünfte werden Kinder geboren? B: Als wir zufällig allein 
waren, fing er an zu spielen, kitzelte mich an den Schultern und an den 
Seiten, und ich mußte arg lachen. Da ich das Kitzeln nicht aushalten 
konnte, legte ich mich rückwärts aufs Bett; er legte sich auf mich, küßte 
mich und — ich weiß nicht, was er sonst noch alles tat: kurz und gut, 
nach einiger Zeit begann mein Unterleib zu schwellen. A: Verachte jetzt 
deinen Mann, wenn er so tändelnd Kinder zeugt; was wird er tun, wenn 
er die Sache mit Ernst anfängt? B: Ich glaube, ich bin jetzt schwanger.“ 

Dazu kam die Lektüre der Bibel, wenigstens bei protestan- 
tischen Kindern, und dergleichen mehr; kurzum, man sieht 
deutlich, daß die Jugend ohne Rückhalt erzogen wurde. 
Auch die Beichten waren dementsprechend. Der außerehe- 
liche Verkehr galt nicht für unsittlich. Hermann von Weins- 
berg erzählt in seinen Aufzeichnungen frei und ohne Rückhalt 
davon; er spricht (Mitte des 16. Jahrh.) von einer außerehelichen 


24 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 


Tochter seines Vaters, von einem Mädchen, das ein Kind von 
seinem Bruder Gottschalk hat, der dieses Kind unterstützt. 
Weiterhin erzählt er seine eigenen Liebesfreuden mit der Magd 
seiner Mutter und sagt aus, daß er für Entbindung und außerdem 
16 Gulden Alimente jährlich zahlen muß. Selbst mit Bildern 
war man nicht allzu ängstlich. Ein französischer Adliger 
schenkte unter König Heinrich Ill. seiner Geliebten ein Büch- 
lein, in dem 32 Damen vom Hofe in hocherotischen Situationen 
mit ihren Liebhabern dargestellt waren. Bilder intimer Szenen 
aus dem Leben der Maria Stuart oder der Katharina von Me- 
dici waren nicht selten; man hielt die Darstellungen für selbst- 
verständlich. Es ist dies auch wenig wunderbar, wenn man 
bedenkt, daß jene Menschen weit leidenschaftlicher und feuriger 
veranlagt waren als wir heute. Man predigte auch nicht gegen 
das Nackte, und es ist kein Zweifel, daß man gerade in dieser 
Periode die wirkliche Schönheit eines nackten Körpers zu 
würdigen wußte, ohne direkt Hintergedanken zu haben, wie sie 
die heutigen Moralprediger offenbar hinter jedem suchen, der 
einen nackten Körper oder ein Bild von diesem betrachtet. 
So traten bei den mittelalterlichen Passionsspielen Adam und 
Eva nackt auf; 1461 wirkten bei einem Festspiel in Paris, bei 
dem Ludwig XI. als Zuschauer zugegen war, drei nackte Mäd- 
chen als Sirenen mit; ebenda wurde 1468 das Urteil des Paris 
aufgeführt, wobei die Darstellerinnen der Göttinnen völlig un- 
bekleidet waren. Zogen Kaiser oder Könige in Städte ein, so 
kam ihnen die Bürgerschaft entgegen, an deren Spitze die 
öffentlichen Mädchen nackt. All dies sah natürlich auch die 
Jugend. Ebenso lag Noah im Passionsspiel nackt auf der 
Bühne. Über Kommnächte und ähnliche Gebräuche habe 
ich an an anderen Orten bereits gesprochen.*) Weder den 
öffentlichen noch den Bordellmädchen haftete später ein 
Makel deswegen an; es wurde ihnen sehr erleichtert, daß sie 
sich verheiraten konnten. Der Bordellbesitzer mußte ein solches 
Mädchen sofort freigeben, wenn ein anständiger junger Mann 
es als Eheweib forderte; ja, die Schuld war ihnen erlassen, 
mochte sie auch noch so groß sein. „Wer eine arme Sün- 
derin aus dem Gemeinen Hause zur Ehe nimmt, soll vor allem 


*) Vgl. Reitzenstein: „Liebe und Ehe im Altertum“, S. 57 und „Liebe 
und Ehe im Mittelalter‘, S. 80, 91. 


Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 25 


andern eine Aussteuer von 12 Gulden haben“, berichtet uns 
Holthaus. Es ist höchst charakteristisc с ier zwei An- 
schauungskreise sich widersprechen. Der Name der Mädchen 
(arme Sünderin) ist kirchliche Schöpfung, und ihre gesetzliche 
Beurteilung ist trotzdem frei davon, weil sie eben dem Empfinden 
des Volkes entsprungen ist. Schon damals wußte man ganz 
gut — offenbar aus Erfahrung —, daß recht gute Hausfrauen 
aus ihnen hervorgehen konnten. So sagt ein Vater in einem 
Nürnberger Gedicht: betitelt: „Wie ain junger gsell weyben soll“: 

„Ich siehs und hör eß oft sagen, 

Das sy sindt geraten gar wol, 

Die jung waren püberei vol, 

Verlyssen den pübschen orden 

Und sind frumm eefrauen worden.“ 


Nimmt man diese nüchterne Beurteilung und bedenkt, daß ent- 
sprechend den Kommnächten und dem übrigen Liebesleben 
wohl nur wenige Mädchen nicht defloriert in den Ehestand 
traten, dann wirken Aussprüche, wie im Freidank: 


„Noch besser wär eines Igels Haut 
Im Bett als eine leide Braut.“ 


höchst lächerlich. Freilich stand in den Gesetzen, die immer 
mehr oder weniger unter kirchlichem Einfluß gegeben waren, 
so etwa im schwäbischen Landrecht: jedermann, der seine 
Gattin nicht mehr für eine Jungfrau hielte, könne von 
deren Eltern fordern, daß sie den Gegenbeweis erbringen, d. i. 
„jr junckfraulichen zaichen“ aufweisen sollten. Dementsprechend 
hätte man das Bettuch der ersten Nacht vor Gericht bringen 
müssen. Dies wird jedoch recht selten geschehen sein, zumal 
da der Mann 40 Stockprügel erhielt, wenn er sich getäuscht 
hatte. Eine solche Täuschung war selbst dann leicht zu er- 
zielen, wenn die junge Frau wirklich schuldig war, denn ein 
fahrender Student sagt: 


„Welche den magtum hat verloren, 
Der mach ich ein salben.“ 


In Wirklichkeit war im alten Volksbewußtsein die Jungfräu- 
lichkeit gar nicht lobenswert; wo sie hervorgehoben wird, 
ist es christlicher Einfluß. In den Fastnachtspielen wird 2. В. 
eines Gebrauches gedacht, daß alle Jungfrauen, die im Winter 
keinen Mann bekommen haben, statt der Pferde an einen Pflug 
gespannt und in einen See oder Fluß getrieben werden. (Siehe 
Abb. 1.) Mag dies in der Zeit der Fastnachtspiele nur noch als Spaß 


26 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 


erzählt worden sein, die germanische Periode hatte sicherlich 
diesen Gebrauch bu · blich erfüllt.*) Überhaupt nahm man das 
Wort Jungfrau nicht so streng wie heute. Dies zeigt u.a. ein 
Gedicht: „Tugendreichen Jungfern Lob“, aus einem Flugblatt 
jener Zeit betitelt: „Kurtzweiliger Zeit-Vertreib“. Darin heißt es: 


„Alsdann erst die Jungfern müssen 
Sich gar freundlich zu uns thun 
Wenn sie Lieb an uns vermerken 
Müssen sie die helffen stärken 
Jungfern machen unsre Sinnen 
Wacker zur Beständigkeit 

Halten uns auch gerne drinnen 
Jungfern kürtzen uns die Zeit 
Was sie unterm Herzen tragen 
Sie uns endlich nicht versagen. 
Jungfern uns gedoppelt zahlen 
Wenn wir geben einfach Gut 
Thun wir nur zu vielen malen 
Seynd sie gerne wohlgemut. 
Helffen uns des Tags mitmachen 
Und des Nachtes bey uns wachen. 
Jungfern uns erfreuen können 
Jungfern seynd all unsre Lust 
Auch ihr Bestes sie uns gönnen... 
Jungfern seynd uns gar gerechte 
Durch sie wächset unser Stamm 
Unser Namen und Geschlechte 
Wann wirs rechnen allzusamm 

So kan nichts auff dieser Erden 
Jungfern vorgezogen werden. 
Jungfern können wir nicht missen 
Sie sind uns wie täglich Brot 
Wenn wir Fleisch derzu geniessen 
Wes dann haben wir vor Noth? 
Jungfern-Kost ist süß als Zucker 
Kein Schau-Essen ist nicht schmucker 
Jungfern sind die Artzeneyen 
Wenn uns Adams Krankheit plagt 
Jungfern uns ihr Bett-Zeug leihen 
Und was uns sonst mehr behagt....“ 


*) Vgl. Reitzenstein „Entwickl. Gesch. d. Liebe“ S. 26. Die sehr 
wichtige, aber derbe Stelle lautet: „Was heur von meiden ist uberblieben 
und verlegen, Die sein gespant in den pflug und die egen, Das sie darinnen 
ziehen mußen und darinnen offentlich pueßen, Das sie sein kumen zu ir 
tagen, Fut ars, tutten vergebens tragen.“ 


1. 


„А 


Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 27 


Sicherlich ist dieses Gedicht keine absolut ernste Quelle, aber 
es zeigt uns doch in seiner ganzen Art, daß, entsprechend den 
tatsächlichen Zuständen, ein Mädchen trotz mehrfachen 
Verkehrs noch immer mit dem Namen Jungfer bedacht 
wurde. Bedenkt man dies alles, so braucht man sich auch 
nicht zu sehr über das „Jus primae noctis“ zu entsetzen, 
d. h. das Recht der ersten Nacht, das dem Herrn der nicht- 
freien Mädchen vor deren Ehevollzug zustand.*) Wenn wir 
keinen anderen Beweis dafür hätten, würde schon die folgende 
Nachricht allein genügen, die in „Oefnung von Hirslanden und 
Stadelhofen“ (im Kanton Zürich von 1538) erhalten ist: „Ouch 
hand die burger die rechtung, wer dar ist, der uf den gütern, 
die in den Kelnhof gehorend, die erste nacht bi sinem wibe 
ligen wil, die er nüwlich zu der ee genommen hat, der sol den 
obgenannten burgervogt dieselben ersten nacht bi dem- 
selben sinem wibe lassen ligen; wil er aber das nüt thun 
so soll er dem vogt geben 4 und 3 Zürcher pfenning, weders 
er мії: die wal hat der brugom (Bräutigam).“ Diese Abfin- 
dungssumme hatte sehr bezeichnende Namen, wie Jungfern- 
zins,Stechgroschen,Handschilling, Blumede,Schürzen- 
zins. Recht originell war oft die Form der Darbringung. Da 
auch die geistlichen Herren gegen ihre Leibeigenen dieses Recht 
hatten, enthält eine Stelle des Lagerbuches des Klosters Adel- 
berg (in Schwaben) von 1496 die Notiz, daß der Bräutigam 
eine Scheibe Holz, die Braut aber ein Pfund und 7 Schillinge 
Heller oder eine Pfanne, „daß sie mit dem Hinteren darein- 
sitzen kann oder mag“, als Lösesumme zu bieten hatte, Diese 
zwar im alten Rechtsbewußtsein begründete, aber für die Folge 
doch immerhin das Weib entwürdigende Stellung fiel damals 
nicht sonderlich auf. Kann doch sogar Bohemus („Poet Kabi- 
nett“) die Frage stellen, ob die Küsse der Adligen denen der 
Bürgerlichen gleichwertig seien, und kommt zu dem Ergebnis 
daß der Kuß einer adligen Dame gerade 1000 Küssen einer 
bürgerlichen gleichkäme!!! 

Entsprechend diesen Grundlagen des Liebeslebens waren 
auch die Grundlagen der Ehe andere, Ein Beispiel zeigt 


*) Die ultramontane Forschung hat ihre Gründe, das ius primae noctis 
zu leugnen, und so hat Karl Schmidt in: „Jus primae noctis“ Frbg. 1881 
alle Mühe aufgewendet, es wegzudisputieren, was ihm aber nicht ge- 
lungen ist. 


28 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 


es wohl am deutlichsten. Es war im Jahre 1586, als sich der 
Herzog Johann Kasimir von Sachsen-Koburg mit der leiden- 
schaftlichen, jugendlichen Tochter des Kurfürsten August von 
Sachsen, die damals 19 Jahre zählte, vermählte. Innige Liebe 
verband zunächst das Paar, wenigstens hing die junge Frau 
sehr an ihrem Gatten, bei dem aber bald eine Erkaltung ein- 
trat; denn er ergab sich, wie dies in der Zeit lag, in erster 
Linie der Jagd und liebte gefüllte Humpen überaus. Tagelang 
blieb er seinen Gemächern fern, was natürlich der feurigen 
Gattin nicht sonderlich angenehm war. Sie versuchte alle 
Mittel; zunächst schrieb sie Briefchen voll von Zärtlichkeit, 
dann scherzhafte Fehdebriefe, in denen sie direkt die Erfüllung 
der ehelichen Verpflichtungen fordert. „Ich bitt, Ihr wollt 
wiederum zu mir ziehen oder mich holen lassen, dann mir die 
Weil so gar lang ist, daß ich nit weiß, wes vor langer Weil 
soll anfangen.“ Doch der Gatte hatte anderswo Ersatz ge- 
funden und kam nicht; während es der jungen sinnlichen Frau 
ging, wie mehr oder minder allen andern Weibern in gleicher 
Lage: sie suchte selbst, was sie wünschte. Bedurfte es in 
solchen Fällen noch einer besonderen Aufmunterung, so fand 
sich diese leicht, denn elegante Schwindler, die alles zu können 
versprachen, durchzogen damals in Menge die Welt. So kam 
in das langweilige Koburg ein gewisser Jeronimo Scotto, der 
als „Graf“ reiste, weil er wußte, damit ohne weiteres sich 
empfehlen zu können. „Graf ‚Scotto“ hatte bereits Erfolge 
aufzuweisen. Er hatte den Kurfürsten und Erzbischof von 
Köln, Gebhard Truchseß von Waldenburg, glücklich an die 
schöne Agnes von Mansfeld verkuppelt und vielleicht dort 
den Boden bereits heiß gefunden, als er 1592 in Koburg auf- 
tauchte, von Johann Kasimir zur damals so beliebten „Gold- 
macherei“ gerufen. Dies verstand er zwar nicht, um so besser 
gelang es ihm aber, sich bei der Frau Herzogin beliebt und 
unentbehrlich zu machen, denn er hatte ihr versprochen, daß 
er sie fruchtbar machen wolle. Danach deckte er sich den 
Rücken, indem er sie an einen jungen Adligen, Ulrich von 
Lichtenstein, weitergab. Als vorsorglicher Mann gedachte er 
auch seiner weiteren Reisekosten, die nach allenfalsiger Rück- 
kehr des Herzogs doch nötig sein möchten, und steckte den 
gesamten Schmuck der Herzogin zu sich. Gar bald empfahl 
sich der vornehme Herr „Graf“ denn auch französisch. Ent- 


Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 29 


sprechend der Leidenschaft der jungen Frau blieb Johann 
Kasimir der neue Zustand nicht verborgen, und er ließ das 
Liebespaar verhaften. In der gegen sie angestrengten Ver- 
handlung gestand die junge Frau zu, daß sie mit Scotto allerlei 
Unterhaltung getrieben, und daß dieser ihr versprochen hätte, 
sie fruchtbar zu machen. Sie wäre deshalb auf sein Zimmer 
gekommen, wo er ihre Hand ergriffen und diese auf ein 
Kreuz aus Pappendeckel, das mit allerlei Zeichen bemalt war, 
gelegt hätte. Von seinen Worten hätte sie nur den Namen 
der heiligen Dreifaltigkeit verstanden. Dann habe der Draht, 
der am Kreuz befestigt war, ihre Finger umsponnen, so daß 
sie ihrer nicht mehr mächtig gewesen sei. Sie hätte ihrer 
Pflichten in seinen Armen vergessen. Dann habe er ihr den 
Ulrich von Lichtenstein gebracht, mit dem sie „ungebührliche 
Spiele“ getrieben und seine Umarmungen genossen habe, wo 
es sich nur habe tun lassen. Sie bat ihren Gatten, er möge 
ihr verzeihen und alles ihrem Unverstand zugute rechnen, da 
sie ja noch ein junges Mensch wäre! Es nützte nichts, die 
eigentlich unschuldige Frau wurde mit ihrem Geliebten in 
Jena zum Tode verurteilt, vom Herzog aber insofern begnadigt, 
daß er sie in die Gefangenschaft nach Eisenach überführen 
ließ, wo sie 1613 starb. Dies ist ein bezeichnendes Bild da- 
maliger Eheverhältnisse oberer Kreise. Man heiratete ohne 
Liebe aus rein politischen Motiven; der Mann ging 
seine Wege und die Frau die ihrigen; gar oft aber war 
dies dem Gatten nicht genehm, und es folgte Bestrafung der 
eigentlich unschuldigen Gattin, wenn er die Machtmittel 
dazu hatte. Auch in bürgerlichen Kreisen waren solche Ehen 
häufig, nur bestand die Strafe höchstens in einer Tracht Prügel 
seitens des stärkeren Teiles. Die Ehescheidung aus solchen 
Gründen lag den Leuten noch ferne. Erst am Abschluß unserer 
Periode stellt der berühmte Thomasius in seiner Sittenlehre 
1692 den Grundsatz auf, daß eine Ehe geschieden werden 
müsse, wenn unter den Ehegatten „Uneinigkeit herrsche, 
die wegen der Hartnäckigkeit des unvernünftigen 
Teiles nicht gehoben oder geschlichtet werden 
könnte. Denn es könne für einen vernünftigen Menschen 
keine größere Qual erfunden werden, als wenn er gezwungen 
sei, mit einer unvernünftigen Person in „genauer Verbündnis 
zu bleiben und sein Leib mit selber zu vermischen“. Leider 
verhallten diese vorzüglichen Worte vollständig. 


30 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 


Nicht viel anders lagen die Verhältnisse in Italien, und 
es war zum Teil so weit gekommen, daß man im Anfang des 
15. Jahrhunderts in Siena oder 1454 in Lucca Gesetze gegen 
die Ehelosigkeit schaffen mußte. Auch hier forderter ein- 
zelne Stimmen, daß Ehen nur so lange geschlossen sein 
sollten, als die Frau dem Manne gefalle; dies war hier 
um so erklärlicher, als die Mädchen der besseren Kreise streng 
abgeschlossen waren, und das Liebesleben aller Art sich 
innerhalb des Kreises der Verheirateten abspielte. Man ge- 
wöhnte sich so vollständig daran, daß die Nachkommenschaft 
nicht sicher in nahem Zusammenhang zum Gatten der 
Frau zu stehen brauche, was übrigens der Rasse selbst — 
wie Burckhardt in seinem vorzüglichen Werke: „Kultur der 
Renaissance in Italien“ bemerkt — nicht schadete. Wichtig 
war dabei, daß die geistige Ausbildung des Weibes, wenigstens 
der höheren Stände, der des Mannes völlig gleichkam; literar- 
ischer, selbst philologischer Unterricht wurde Söhnen und 
Töchtern gleichzeitig erteilt. Die schöne Cosa von Florenz 
sagte bereits 1389: „Die florentinischen Frauen bemühen sich, 
durch eigene Kraft im Reden und Tun Fortschritte zu machen, 
damit sie nicht von den Männern getäuscht werden können.“ 
Freilich wurden die Frauen dabei bedenklich männlich an- 
gehaucht, was das homosexuelle Element begünstigte, und 
daran scheiterte die Entwicklung Italiens. Catarina Sforza 
inspizierte die Truppen; Dichtungen von Frauen sind von 
denen der Männer nicht zu unterscheiden, und eine „virago“, 
ein Mannweib zu sein, war ein großer Vorzug. Heute hat 
Italien diese ungesunde Frauenbewegung längst überwunden, 
aber es hat sie mit seinen kulturellen Werten bezahlen müssen. 
Sehr treffend sagte daher Burckhardt im II. Bande, S. 165, 
seines obenerwähnten Werkes: „Die höher gebildete, individuell 
entwickelte Frau verfügt über sich mit einer ganz anderen 
Souveränität als im Norden, und die Untreue macht nicht 
jenen furchtbaren Riß durch ihr Leben, sobald sie sich gegen 
die äußeren Folgen sichern kann. Das Recht des Gemahls 
auf ihre Treue hat nicht denjenigen festen Boden, den es bei 
den Nordländern durch die Poesie und Leidenschaft der 
Werbung und des Brautstandes gewinnt; nach flüchtigster 
Bekanntschaft, unmittelbar aus dem elterlichen und klöster- 
lichen Gewahrsam tritt die junge Frau in die Welt, und nun 


gr "mmm m, 


чр a 


d'W: 


Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 31 


erst bildet sich ihre erste Individualität ungemein schnell aus. 
Hauptsächlich deshalb ist jenes Recht des Gatten nur ein 
sehr bedingtes, und auch, wer es als ein ius quaesitum an- 
sieht, bezieht es doch nur auf die äußere Tat, nicht auf das 
Herz“. Von seinen großen Frauengestalten ist Italien nichts 
geblieben, sie sind untergegangen, nachdem sie alles Weib- 
liche abgestreift hatten. Die Gegenseite aber, die diese 
Emanzipation begünstigte, das homosexuelle Element, ist noch 
heute eine Geißel, die die Entwicklung der Epigonen der 
Renaissanceriesen lähmt. Den gleichen Gründen entsprang es, 
wenn Leute, die nicht gerade moralisch rein waren, in ärgste 
und lächerlichste Prüderie verfielen, wie der Kardinal Doria, 
der seinen nackten antiken Statuen Hosen von Gips machen 
ließ, und andere derartige Moralheuchler Blechgewänder 
stifteten für die alten Venusbilder, während aus den gleichen 
Kreisen die Mignons hinauszogen in die übrige Welt und: 
allerdings glücklicherweise bei uns wenig Geschmack erregten. 
Da sind wir Deutsche doch bessere Menschen — gewesen, 
als wir noch weniger Moralprediger hatten. 

Spanien spielt eine ganz eigenartige Rolle als das Land 
der spezifisch christlichen Kultur. Wohl nirgends wurde 
— wenigstens in den oberen Kreisen — das Weib unwürdiger 
behandelt als hier unter dem Druck einer Etikette, die vom 
Priestertum einer Reihe von geistig anormalen Regenten auf- 
gedrängt wurde. Schon äußerlich charakterisierte sich diese 
krankhafte Auffassung. Die Spanierin soll keinen Busen haben;, 
deshalb werden zu seiner Unterdrückung Bleiplatten verwendet. 
Gar häufig hatten daher die spanischen Frauen an Stelle der 
Brust Vertiefungen! Der Grund kann nur in einer Art Askese 
liegen, ähnlich der in Rußland gebräuchlichen, wo sich die 
Frauen gewisser religiöser Sekten den Busen ausschneiden. 
Die christliche Zeit mag diese Unsitte überkommen haben, aber 
immerhin kam sie ihr sehr gelegen. Dann darf eine Spanierin 
von Rang niemals ihre Füße sehen lassen, ja es gilt als un- 
sittlich, überhaupt davon zu sprechen. So sagte der Hof- 
marschall König Philipps IV. einmal’ „Die Königinnen von 
Spanien haben keine Beine!“ Kaum hat die versumpfteste 
Haremswirtschaft Persiens eine solche Knechtung der Frau 
gezeitigt, als sie in den vornehmen Kreisen Spaniens während 
jener Periode üblich ist, und die Königin steht mit diesem 


32 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 


traurigen Lose voran. So mußte z. B. die Gemahlin des Königs 
Philipp II, Elisabeth, 1558 drei Tage vor den Toren von Burgos 
warten, bis der König sich entschieden hatte, ob sie durch die 
Stadt oder um die Stadt herumreisen sollte! Was die Geist- 
lichkeit sich erlauben konnte und in frechster Weise fordern 
durfte, geht aus folgender, bei Renee (Les niöces de Mazarin“, 
vol. I) gedruckten Begebenheit hervor, die seinerzeit (23. Dez. 
1688) Ludwig XIV. von Frankreich gemeldet worden war: 
König Karl II. von Spanien war impotent, und sein Beichtvater, 
ein Dominikanermönch, belehrte ihn, daß er behext sei. Er 
(der Beichtvater) habe jedoch eine Vision gehabt, nach der er 
in der Lage sei, den Zauber zu brechen. Der König und die 
Königin müßten sich nackt ausziehen, dann werde er in ponti- 
ficalibus die Besprechung des Geistes vornehmen. Dann müßte 
der König in seiner Gegenwart (!) mit der Königin versuchen, 
in Verkehr zu treten, um zu sehen, ob der Bann auch wirklich 
gebrochen sei. Der König gab sich alle Mühe, die Königin 
zu dieser entwürdigenden Handlung zu bewegen, aber sie war 
als Französin doch nicht sittenlos genug, um einem Priester 
dieses pikante Schauspiel zu geben. 


Prof. Dr. med. Pecirka + 


Am Mittwoch, den 18. Januar 1922 verstarb zu Prag nach längerem 
schweren Leiden unser hochgeschätzter Mitarbeiter Herr Dr. Ferd. 


О. Реёїгка o. Prof. an der tschechischen Universität zu Prag und 
Chefpolizeiarzt. Die Sexualwissenschaft verliert in ihm einen ihrer her- 
vorragendsten Vorkämpfer. Wir werden seiner noch näher gedenken. 





Y 


+=з 


„ 


im 





Tafel VI 


Auffassung des Weibes in der deutschen Renaissance nach H. Aldegrever (* 1502 zu 
Paderborn, + 1560 zu Soest). (Zum Aufsatz Reitzenstein.) 


Tafel VII 








Auffassung des Liebeslebens in der holländischen Renaissance nach einem Kupfer von 
Matham etwa 1600. (Zum Aufsatz Reitzenstein.) 





Geschlecht und Gesellschaft, 
Neue Folge XI, 2 


Tafel I 





Orgie mit Freudenmädchen. 


Kupferstich von Goltzius (geb. 1558 zu Müleberg bei Venloo, + 29. Dez. 1616 
zu Haarlem). Zu Aufsatz von Reitzenstein. 


AT рл. 


ez 





PLAH 205 — 
SE ГЭ 
I GEH 


BLUTSVERWANDTSCHAFT UND INZUCHT BEI 
DEN HEUTIGEN VÖLKERN. 
Von Dr. med. ROHLEDER, Leipzig. 
р“ sexuelle Vermischung Verwandter und ihre Folgen ist 
eins der stiefmütterlichst behandelten Kapitel der gesamten 
Sexualwissenschaft, was umso verwunderlicher, als die Ver- 
wandtenehen rund 1°/, aller Ehen ausmachen und demnach 
Material genug zum gründlichen Studium vorhanden gewesen 
wäre. Die heutigen Kulturstaaten der Gegenwart haben daher 
die Bestimmungen über die Verwandtenehen in ihrer Gesetz- 
gebung mehr vom historischen als vom medizinischen Stand- 
punkt aus getroffen. 

Der Ausdruck „Blutsverwandtschaft“ ist eigentlich ein 
etwas zu eng gefaßter, da er keinen Sexualverkehr innerhalb 
der Abkömmlinge einschließt. Umfassender wäre der Ausdruck 
„blutsverwandtschaftliche Zeugung“ (Generatio consanguinea). 

Blutsverwandtschaft bezeichnet im allgemeinen 
gemeinsame Abstammung. Es ist die Verwandtschaft, die auf 
Abstammung von gemeinsamen Eltern, Großeltern u. s. w. beruht, 
Geschwister, Eltern und Kinder, Großeltern und Enkel, Kousin 
und Kousine, Onkel und Tante resp. Neffe und Nichte sind 
blutsverwandt. Schwager und Schwägerin sind nur verwandt, 
nicht blutsverwandt. Die Bezeichnung „Blut“ ist also der 
Ausdruck aller aus gleicher Abstammung resultierenden charak- 
teristischen Eigenschaften. 

Diese Blutsvermischung kann nun sein 

1. eine solche in engster Blutsverwandtschaft, 
(auf- und absteigender Linie) d. h. Incest, also in ge- 
setzlich verbotenem Sinne; 

2. eine solche in weiterer Blutsverwandtschaft 
d. h. Inzucht, im gesetzlich erlaubten Sinne. 

Familieninzucht ist Blutsvermischung innerhalb 
der Verwandten. 

3 


34 Rohleder: Blutsverwandtschaft und Inzucht bei den heutigen Völkern 


Volksinzucht ist eine solche innerhalb ganzer 
Stämme und Völker. 

Die Inzucht ist so alt wie die Menschlichkeit überhaupt. 
In den prähistorischen Zeiten herrschte noch keine Ehe resp. 
noch kein eheliches Zusammenleben, sondern ein wahlloser 
sexueller Verkehr der Geschlechter untereinander, sogenannte 
Promiscuität, aber mehr innerhalb eines Stammes. Das sexuelle 
Variationsbedürfnis war in der Urzeit sicher noch ein sehr 
starkes. Der Mensch hatte nur physische Bedürfnisse, und 
es war ihm natürlich, daß jeder Mann für jede Frau vor- 
handen war. 

Die Ehe ist ja eine durch die Kultur erst geschaffene, geistig 
sittliche Institution. 

Diese sexuelle Promiscuität fand statt innerhalb eines 
Stammes, so daß sehr enge Inzucht stattgefunden haben muß. 
Der Stamm mußte bei seiner geringen Zahl auf kleinen Erd- 
schollen in Inzucht leben. Erst allmählich bei stärkerer Ver- 
breitung und Vermehrung traten Mischungen und Kreuzungen ein. 


Die prähistorischen Menschen waren also Inzuchtsmenschen, 
wozu noch kommt, daß ihre Behausungen, ursprünglich wohl 
Baum-, dann Höhlen-, dann Pfahlbauten, zur Inzucht führen 
mußten. Es waren kleine, abgeschlossene Anlagen, die von 
kleinen Menschenhorden bewohnt wurden. 

So ist es verständlich, daß alle Völker, wie sie in die Ge- 
schichte eintreten, Inzuchtsvölker sind, wenigstens in vor- 
wiegender Inzucht lebten. Ja, daß sie diese Stufe der Kultur 
erreichten, verdanken sie ihrer Inzucht, denn Inzucht ist zur 
Erreichung einer Kulturstufe eine unbedingte, ja eine 
biologische Notwendigkeit, weil die Natur zur Er- 
haltung des Stammes, der Gattung, den Satz pares cum 
paribus, Gesellung von Gleich zu Gleichem, einschlägt, 
ja, die Inzucht ist im gesamten Tierreich in der phylo- 
genetischen Entwickelung ein Naturgesetz, eine Natur- 
notwendigkeit zur weiteren Entwickelung der Lebe- 
wesen, zur Höherzüchtung bis zur Menschwerdung. 

Bei jeder neuentstehenden, aus einer anderen hervorgehenden 
Art findet zuerst eine Paarung der allernächsten Individuen 
statt, die allmählich durch weitere Paarung der Individuen 
gleichen Stammes, gleicher Art, zu Höherem sich entwickelt, 


Rohleder: Biutsverwandtschaft und Inzucht bei den heutigen Völkern 35 


So müssen wir annehmen, daß der Werdegang bei den 
Urmenschen wahrscheinlich der ist, daß die ursprüng- 
lich engere Blutsverwandtschaft zur Familieninzucht, 
diese zur Stammes- und Hordeninzucht wurde, aus 
der sich, durch Vermischung mit anderen Stämmen, 
in langen Jahrtausenden eine kleine Volksinzucht ent- 
wickelte. 

So sehen wir gerade jene Länder, die durch hohe Ge- 
birge oder Meere abgeschnitten waren und dadurch Volks- 
inzucht treiben mußten, auch als relativ hohe Kulturvölker in 
die ersten Zeiten der Geschichte eintreten, wie Indien, Italien, 
Spanien, die Schweiz, Mexiko, Peru oder wie Ägypten, das 
durch seine Lage im Niltale eine Hochburg der Inzucht, damit 
der Hochkultur wurde. 

Dieser günstigen regenerierenden Seite der Inzucht steht 
aber auch eine ungünstige, degenerierende gegenüber. Wird 
nämlich das Maximum der Inzuchtsregeneration er- 
reicht, so beginnt allmählich eine Übersättigung der 
günstigen Faktoren einzutreten, eine allzugroße Ver- 
feinerung. Damit setzt Verweichlichung, Schwächung 
ein, ein allmählicher Rückgang, eine Degeneration der 
ferneren Nachkommen, wie wir in der Kulturwelt ja bei 
allen Kultur- d. h. Inzuchtsvölkern beobachten können. 

Damit wird aber, um mit Darwin d. h. naturwissenschaft- 
lich zu reden, die natürliche Auslese, die zu weiterer Höher- 
bildung notwendig ist, gehemmt. Auf dieser Beobachtung dürfte 
es auch beruhen, daß allmählich die Meinung von der Schäd- 
lichkeit der Inzucht, überhaupt der Blutsverwandtschaft, ins 
Volksbewußtsein drang, damit aber die Kenntnis von der Nütz- 
lichkeit solcher Verbindungen verloren ging. 

Inzucht wirkt nur dann schädlich, wenn sie zu 
lange fortgesetzt wird. Nicht der einzelne Fall einer 
Blutsverwandtenehe, selbst der Incest nicht, sind so 
schädlich, wie man meint, sondern einzig und allein 
die durch viele Generationen geübte Inzucht. Dadurch 
wird aus der Familieninzucht eine Stammes- resp. kleine Volks- 
inzucht, die den Keim zur Degeneration legt. 

Wir wissen aus der Tierzucht, daß es einer Inzucht durch 
6—8 Generationen hindurch bedarf, um einen Artcharakter zu 
fixieren. Es würden also beim Menschengeschlecht (drei 

35* 


36 Rohleder: Blutsverwandtschaft und Inzucht bei den heutigen Völkern 


Generationen gleich ein Jahrhundert gerechnet) zwei Jahr- 
hunderte notwendig sein, um die regenerative Kraft der In- 
zucht in die Degeneration zu verwandeln. 

Die degenerative Wirkung länger fortgesetzter Inzucht 
sehen wir bei den alten Kulturvölkern. 

Wenn wir bei den alten Ägyptern z. B. ein ca. vier Jahr- 
tausende anhaltendes Bestehen von Inzucht annehmen können, 
so würde das, drei Generationen — ein Jahrhundert gerechnet, 
eine Inzuchtsperiode von ca. 120 Generationen sein. Das eine 
solch lange Inzucht bei dem damals noch kleinen, nicht nach 
vielen Millionen zählenden Volkskörper zur Degeneration führen 
mußte, liegt auf der Hand. Die Inzucht hatte hier das Maxi- 
mum der regenerativen Kraft überschritten und der Verfall des 
ägyptischen Volkes mußte eintreten. 

je größer ein Volk, desto später und schwieriger wird die 
Degeneration eintreten. Das zeigt sich besonders bei den 
Mongoloiden. In dem 300 Millionen starken chinesischen Volks- 
körper hat die Inzucht zu einer Erstarrung des Volkscharakters 
geführt, aber noch nicht zu einer Degeneration. Selbst in dem 
ca. 50—80 Millionen starken Volke der Japaner ist diese 
Degeneration noch nicht eingetreten. Im Gegenteil, beide ver- 
danken den hohen Stand ihrer Kultur und Volkskraft ihrer In- 
zucht, und wenn bei diesen ostasiatischen Kulturinzuchtsvölkern 
erst einmal eine größere Volksvermischung, besonders mit einer 
kulturell höher stehenden Rasse, eintreten sollte, dürfte aller- 
dings eine ungeheure Kraftentfaltung des durch die Inzucht 
aufgespeicherten Kraftreservefonds dieser ca. 400 Millionen ein- 
treten und damit die „gelbe Gefahr“ eine totbringende für die 
heutigen Kulturvölker werden. Allerdings könnte diese Re- 
generation wohl erst nach Jahrhunderten eintreten. 

Jedenfalls sind auch der Inzucht, wie allem im Leben, 
Grenzen gesetzt. Dank dem großen in der Natur durch- 
gehend waltenden Gesetze der Gleichpaarung ent- 
wickelte sich jede Species. Die Inzucht brachte die- 
selbe auf ein gewisses Höhestadium, erhob Pflanze, 
Tier und Mensch zu einer gewissen Kulturstufe Mit 
der Erreichung dieses Maximums aber tritt eine Stag- 
nation ein, die, wenn nicht eine Vermischung eintritt 
(d. h. hemmende Auslese im Sinne Darwins), zur Degenera- 
tion führt. 


Rohleder: Blutsverwandtschaft und Inzucht bei den heutigen Völkern 37 


Die Inzucht hat also entwickelungsgeschichtlich, 
wie geschichtlich - kulturhistorisch, eine ungeahnt 
günstige Wirkung ausgeübt. Nur vermittelst derselben 
war eine allmähliche Entwickelung auf unserem Erd- 
ball möglich. 

Die Inzucht und, als ursprünglichste Form der- 
selben, die Blutsverwandtschaft, sind hierzu absolute 
Notwendigkeit, die aber nach einiger Zeit mit Ver- 
mischung gepaart sein muß. Hierauf beruht das Ge- 
heimnis der physischen und geistigen Entwickelung 
aller heute lebenden Kulturvölker. 

Dieser Grundsatz ist experimentell erhärtet worden durch 
die Tier- und Pflanzeninzucht. Vermischung heißt hier Kreuzung. 

Die Züchtungen ergaben, daß die Inzucht 

1. Schwächung der Körperkonstitution, 

2. Schwächung der Reproduktionskraft, 

3. Erstarrung der Rassencharaktere 

im Gefolge hat, daß aber die Vermischung 

1. die körperliche Konstitution erstarkt, 

2. die Reproduktionskraft wieder anregt und 

3. die Erstarrung der Rassencharaktere durch 
Einführung neuer Charaktere aufhebt. _ 

In dieser Wechselwirkung von Inzucht und Vermischung 
beruht letzten Endes aller Fortschritt der Menschheit, der Kultur. 

In meinem Werke: „Die Zeugung unter Blutsverwandten“ 
(Bd. II meiner „Zeugungsmonographien“), dem ich auch die 
bisherigen Angaben entnommen, habe ich dieses Walten der 
Kultur bezüglich der Inzucht im Pflanzenreich, Tierreich und 
bei den frühesten Kulturvölkern (Ägyptern, Juden, Persern, Indern, 
Peruanern und Mexikanern) gezeigt und verweise darauf. 

Ich habe daselbst gezeigt, daß die engste Blutsver- 
wandtschaft zur Züchtung bestimmter Familiencharak- 
tere, weitere Inzucht zur Bildung von Rassencharakteren 
und weiteste Inzucht in einem ganzen Volke, die Endogamie, 
zur Bildung von Volks-Nationalcharakteren führt. Inzuchts- 
völker aber haben scharf ausgeprägten Volkscharakter, der 
kulturfördernd wirkt. Je stärker ein Volk die Inzucht ge- 
pflegt hat, desto stärker die Fortschritte desselben in 
der Kultur, desto größer war seine Rolle in der Ge- 
schichte. Aber man darf nie vergessen: Inzucht ist keine 


38 Rohleder: Blutsverwandtschaft und Inzucht bei den heutigen Völkern 


Blutsverwandtschaft mehr. Eine Familie degeneriert durch 
Inzucht, ein Volk regeneriert durch Inzucht, weil eben 
Familieninzucht keine Volksinzucht ist. Beide führen zur 
Züchtung der der Familie resp. dem Volke eigentümlichen 
Eigenschaften. Bei der Familieninzucht erstarrt der Familien- 
charakter schon nach wenigen Generationen. In einem ganzen 
Volke, wenn es nicht gerade ein ganz abnorm kleines ist, ist 
aber eine derartige starre Heranzüchtung des Charakters zu 
einem pathologischen nach wenigen Generationen undenkbar. 
Es finden hier zu viel Vermischungen statt, d. h. eine eigent- 
liche Abstammung von einem einzelnen Stammespaar zu einer 
großen blutsverwandten Volksfamilie liegt hier nicht vor. Nicht 
„Volksinzucht“, sondern „Volkszucht“ liegt hier vor. Man 
könnte fragen, wo hört der Begriff Familien- resp. Stammes- 
inzucht auf, wo fängt Volks(in)zucht an. Überall da, wo Bluts- 
verwandtschaft, auch allerweiteste, aufhört. 

Inzucht ist hier mehr Abgeschlossenheit gegenüber den 
Nachbarn, den anderen Stämmen und Nationen. Diese Inzucht 
in abseits gelegenen Stämmen und kleinen Völkern führt aber, 
je nach der Größe derselben, bei jahrhundertelangem Zustand 
ebenfalls nach Regeneration zur Degeneration, falls keine Ver- 
mischung erfolgt. Daher erachte ich das Studium der 


Inzucht bei den Völkern und einzelnen Stämmen der 
Jetztzeit 
für höchst wichtig für unsere Frage. 


Volksinzucht ist bei den heutigen Kulturvölkern infolge 
des gegenseitigen Verkehrs derselben kaum noch zu finden, 
wenigstens nicht im Sinne des Altertums, wie bei den alten 
Ägyptern, Peruanern usw. 


Wir finden aber auch heute noch Stammesinzucht und 
selbst noch relative Blutsverwandtschaft 


1. bei den unkultivierten Völkerschaften, 
2. bei den kultivierten Völkern 


a) bei einigen Insel- resp. Küstenvölkern, 


b) in abgelegenen Gebirgstälern bei einzelnen, kleinen 
Volksstämmen, 


с) їп einzelnen sehr isoliert gelegenen Ortschaften. 


Rohleder: Blutsverwandtschaft und Inzucht bei den heutigen Völkern 39 


1. Stammesinzucht bei den heutigen unkultivierten 
Völkerschaften. ; 


Dieselbe findet sich hauptsächlich in Westjava, dann auch 
auf Borneo, Sumatra und Celebes, weil die holländische Regierung 
bestrebt ist, die Eingeborenen des Landes in ihren Sitten und 
Gebräuchen möglichst zu schonen. 


In Westjava finden wir die Inzucht hauptsächlich bei den 
Batuwis in der Residentschaft Bantam. Sie sollen nach 
Schiller-Tietz („Folgen, Bedeutung und Wesen der Bluts- 
verwandtschaft* 2. Aufl. 1892), der die Angaben Krusemann 
„enkele dagen onder de Batuwis“ entlehnt, echte Sudanesen 
sein, die in Sprache und Sitte von den Javanern sich unter- 
scheiden. Es ist ein Überbleibsel jener Bevölkerung, die bei 
Einführung des Islam in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts 
in die unzugänglichen Winkel des Kandang sich zurückzogen 
und hier ihre Selbständigkeit bewahrten. Sie leben in Innen- 
und Außendörfern. Die Bewohner der Innendörfer halten sich 
streng gesondert, die in nunmehr vier Jahrhunderten in engster 
Blutsverwandtschaft sich fortpflanzen, derart, daß Mischehen 
zwischen Batuwis und benachbarten Völkerschaften kaum vor- 
kommen. Heiratet aber wirklich ein Batuwimädchen einen 
Mohammedaner, so tritt es zum Islam tiber und scheidet aus 
dem Volksstamm der Batuwis aus. 


Die Folgen der vier Jahrhunderte langen engsten Bluts- 
verwandtschaft? Eine kräftige Rasse, männlicher- und weiblicher- 
seits. Ein sehr ruhig dahinlebender, von allen sich absondernder 
ruhiger Menschenschlag Also zirka 12 Generationen 
haben hier keine Degeneration bewirkt. 


Auf Sumatra beobachten wir strengste Inzucht bei den 
Bataks (Batta), ein zu der malaiischen Rasse gehörender 
Menschenschlag, in dem sich die frühesten Bewohner 
in fast ungefälschter Reinheit erhalten; sie sind zurück- 
gedrängt auf die Hochebene der Insel Toba. Der ganze Stamm 
zählt zirka '/, Million Menschen, die in Dörfern auf Pfahl- 
häusern wohnen und auf strengste Inzucht halten. Zur Auf- 
nahme von Fremden, die aus diesem Grunde nicht in ihren 
Häusern wohnen dürfen, sind Gemeindehäuser errichtet. 


Dieser Volksstamm ist neben den Batuwis vielleicht 
derjenige, bei dem man in der Jetztzeit die Folgen der 


40 Rohleder: Blutsverwandtschaft und Inzucht bei den heutigen Völkern 


Inzucht bei einem relativ nicht allzu großen Stamme 
am besten studieren kann. 

Wir besitzen darüber zwei ausgezeichnete Schriften: 1. von 
Junghuhn „Die Battaländer auf Sumatra“, Berlin 1847, 2 Bde., 
und Schreiber „Die Batta in ihrem Verhältniszu den Malaien auf 
Sumatra“, Barmen 1847. Dieser Volksstamm ist ethnographisch 
und wissenschaftlich hochinteressant. Wir sehen an diesem 
relativ unkultivierten Volksstamm recht deutlich, wie 
hier, abseits von jeder Kultur, die engste Inzucht allein 
zu einer gewissen Kulturhöhe, und zwar autochthonen 
Kultur hinaufführt. Es herrscht bei diesen Bataks der 
Brauch,schon seit uraltenZeiten, eine Base, die Tochter 
des Onkels mütterlicherseits, zu heiraten. Schon seit 
Jahrhunderten herrscht diese Familieninzucht. Das be- 
weist, daß Heiraten im vierten Verwandtschaftsgrade 
Jahrhunderte hindurch bei einem Volksstamm von 
ı/, Million nicht zur Degeneration führt. 

Dieses Volk ist ein schlagendes Experiment im 
Großen über die Blutsverwandtschaft und ihre Folgen 
und die daraus sich ergebenden gesetzlichen Be- 
stimmungen sind m.E. von höchster Wichtigkeit. Wir 
sehen hier an diesem Versuche en masse, daß in 
diesem Verwandtschaftsgrad schon Blutsverwandt- 
schaftsehen für die Nachkommen unschädlich sind, 
ein Beweis, wie wir ihn exakter am Menschen- 
geschlecht geführt nicht denken können. 

Der Brauch dieser Verwandtschaftsheirat ist bei diesem 
Volksstamm so allgemein, daß der Mann seine Frau mit dem 
Worte boru-ni-datulang, d. h. Tochter des Mutterbruders, die 
Frau ihren Mann resp. Bräutigam mit ibebere-ni-damang, d. h. 
Sohn der Vaterschwester anredet. Nichtsdestoweniger finden 
wir bei den Batta absolut keine Degeneration, Sie sind körper- 
lich sogar kräftiger entwickelt als die Malaien der Küsten- 
gegenden, ja, sie gehören körperlich und geistig zu den höchst- 
entwickelten des ganzen indischen Archipels, haben kräftige 
Gliedmaßen im Gegensatz zu den mit schwachem Körperbau 
und mageren Gliedmaßen behafteten Malaien der Küsten- 
gegend. 

Ihre geistige Entwickelung muß für ein Malaienvolk gerade- 
zu in Erstaunen setzen. Sie sind ein seßhaftes, Ackerbau und 


Rohleder: Biutsverwandtschaft und Inzucht bei den heutigen Völkern 41 


Viehzucht treibendes Volk. Aber auch eine Industrie haben 
sie entwickelt, Farbstoffe und feine Edelmetallarbeiten, Filigran- 
arbeiten in Gold und Silber verfertigen sie, und ein lebhafter 
Handel nach den holländischen Küstenplätzen findet statt. 

Sogar ein gewisser Rechtsstaat hat sich entwickelt. 
Volksversammlungen führen die Regierung, und die Volks- 
bildung ist eine erstaunlich hohe. Alle Batta können lesen 
und schreiben. Sie haben ein eigenes, von der alt- 
indischen Monumentalschrift herrührendes Alphabet 
und ihre eigene geschriebene Literatur, die in Büchern 
(Pustahas) niedergelegt ist, die aus fächerartig zusammen- 
gefalteten, mit Tinte von links nach rechts geschriebenen Baum- 
rinden zwischen zwei Deckeln bestehen. Besonders der Holländer 
van der Tunk hat uns diese Sprache und Schrift vermittelt. 

Selbst ein Kastenwesen hat sich, wie bei allen 
Inzuchtsvölkern, herausgebildet. Die Regierung der 
Gemeinden beruht in der Hand der Radschas, die mit 
einem durch die Inzucht großgewordenen, nicht ge- 
ringen Stolz, 'Adelsstolz, einem Kastengeist ausgestattet 
sind. Das Radschatum ist erblich. Ihre Religion ist Ahnenkult. 

Die Verwandtschaftsinzucht ist also hier gleichzeitig 
zur Volksinzucht geworden, da ein Volk von !/, Million 
die Blutsverwandtschaftszucht allgemein angenommen 
hat und dadurch, daß sie eben nicht aufkleine Familien- 
kreise, sondern auf einen größeren Volkskörper sich 
erstreckt, sehen wir nicht nur keine körperliche De- 
generation, sondern starke Regeneration im Volke als 
Folge eintreten, und zwar körperlich und geistig, wie 
wir sie bei unzivilisierten Volksstämmen sonst kaum 
wiederfinden, denn sogar zu einem Schrifttum und zu einer 
gewissen Literatur, selbst zu Gesetzesformen und zu einer 
Kastenbildung hat es dieses Inzuchtsvolk gebracht. 

Es ist wohl das einzige Volk der Jetztzeit, das wie kein 
zweites die Blutsverwandtschaft von frühester Jugend als Norm 
hochgehalten hat, und es wäre dringend zu wünschen, daß 
dort tätige holländische oder deutsche Kolonialärzte dieses Volk 
einem gründlichen wissenschaftlichen Spezialstudium in medi- 
zinischer Hinsicht unterwerfen würden. 

Die anderen modernen Inzuchtsvölker treten als solche 
- hinter den Batuwis resp. gar den Batta weit zurück, weil bei 


42 Rohleder: Blutsverwandtschaft und Inzucht bei den heutigen Völkern 


ihnen die Inzucht eben nicht so scharf ausgeprägt ist. Es 
sind dies 

3. die Araber. Sie bilden unter den heutigen Inzuchts- 
völkern gleichsam den Übergang von den „Natur“völkern zu 
den „Kultur“völkern, obwohl sie, besonders die Beduinen im 
Innern Arabiens, an Kultur durchaus nicht höher stehen als 
die Batta, eher unter ihnen. Denn Lesen und Schreiben sind 
bei ihnen eine seltene Kunst, obgleich sie eine viel längere 
Kultur- und Entwicklungsperiode hinter sich haben als jene 
Naturvölker. Der Koran verbietet ihnen das Heiraten unter 
Verwandten, trotzdem findet man vielfach, durchaus aber nicht 
durchweg, wie bei den Batta, Ehen mit Nichten, wie bei 
diesem Volksstamm, besonders mit Nichten von Vater- 
seite, mit einer bint’amm, d. h. einer Tochter von einem 
amm, einem Oheim von Vaterseite. Auch der Araber 
nennt daher seine Frau resp. seine Geliebte „Base“ 
und seinen Schwiegervater Oheim, auch wenn seine Frau 
keine Nichte, also sein Schwiegervater kein Oheim ist. Nach 
Doughly haben sich die Araber in verschiedenen Volks- 
stämmen in Consanguinität fortgepflanzt, aber frei von 
Krankheiten gehalten. Man darf aber hier nicht vergessen, 
daß dieser Brauch nicht durchgängig ist und gerade die Araber 
in außerordentlich viele Stimme gesondert und getrennt sind, 
eine Vermischung hier vielfach stattgefunden hat, also Bluts- 
verwandtschaft und Vermischung hier vielfach mit- 
und nebeneinander bestehen. Nur der geringste Teil der 
Araber sind Hadesi, d. h. Ansässige, nicht Nomadenvölker, bei 
denen eine strengere Inzucht möglich ist. 

Das sind die drei z. Zt. etwas größeren heutigen Natur- 
völker resp. Völkerstämme, an denen man das Walten der 
Blutsverwandtschaft und Inzucht noch am besten studieren kann. 

Bei den heutigen Kulturvölkern ist das Studium unserer 
Frage im allgemeinen verwischt. Der internationale Verkehr 
unserer Jetztzeit hat ein völliges Abgeschlossensein moderner 
Kulturvölker und eine strenge Inzucht derselben fast unmöglich 
gemacht. Am ehesten haben eine solche bis zu einem ge- 
wissen Grade m. E. noch eingehalten 

a) einige Insel- resp. Küstenvölker und zwar 

1. die Isländer. Mit dem Jahre 874 begann die Ein- 
wanderung in Island seitens der Norweger. Gleichzeitig ließen 


e Ze 


Rohleder: Blutsverwandtschaft und Inzucht bei den heutigen Völkern 43 


sich aber auch Dänen, Schweden und Kelten auf der Insel 
nieder. Es trat also von Beginn an eine genügende Ver- 
mischung dieser Völker ein. Seit dieser Zeit aber erfolgten 
infolge der abgelegenen, isolierten Lage Islands hoch 
im Norden keine Vermischungen weiter bis zur Jetztzeit. 
Diese Inzucht in der relativ schwachen Bevölkerung 
führte zur Kultur. Die erste Folge der Inzucht war die ` 
Bildung einer Adelskaste, die nach zwei Generationen Island zu 
einem Freistaat mit einer Landesverfassung erhob mit einem 
Althing (Reichstag) mit gesetzlichen Befugnissen. Hin und 
wieder eintretende kleine Vermischungen verhinderten, daß 
schädliche Inzuchtsfolgen eintraten. 

Die Inzucht ist hier eine zirka tausendjährige, nur 
hin und wieder durch kleine Vermischungen unbe- 
deutenden Umfanges unterbrochen und was sehr 
wichtig war, mit einer sehr hochentwickelten, stamm- 
verwandten Rasse, mit Norwegern und Dänen. Diese 
Umstände waren von günstigen Folgen für die Kultur 
der Isländer. 

Eine Vermischung unter Menschen von geringerer Rassen- 
differenz ergibt nämlich besseren Ausgleich als eine solche 
unter Menschen mit größerer Rassendifferenz, wie wir es be- 
sonders in Zentral- und Südamerika beobachten, wo die Ver- 
mischung der weißen Rassen mit den Eingeborenen zu einer 
Bevölkerung geführt hat, die geistig und kulturell relativ tief 
steht, was ja auch einleuchtend ist. 

Die altnordische Sprache hat sich in Island, dank seiner 
Inzucht, in ihrer Reinheit erhalten, deren bedeutendstes Literatur- 
produkt ja die Eddalieder sind, die bis ins 10. Jahrhundert 
zurückreichen. 

Am deutlichsten zeigt sich der Einfluß der Inzucht in der 
isländischen Prosa, besonders der Sagenliteratur, die ein Produkt 
der aristokratischen Kaste ist. Es war der durch die Inzucht 
gezüchtete Ahnenstolz der vornehmen Kaste, der in diesen 
Sagas eine Geschichte dieser Adelskaste schuf. Die ganze 
Geschichtsschreibung Islands ist eine außerordentlich stark 
durch die Inzuchtskaste beeinflußte, da sie immer an die hervor- 
ragendsten Persönlichkeiten dieser Inzuchtskaste anknüpft. 

Mit der im 13. und 14. Jahrhundert stattfindenden Volks- 
mischung zeigt sich auch ein Rückgang in der Literatur, in der 


44 Rohleder: Blutsverwandtschaft und Inzucht bei den heutigen Völkern 


Kultur. Sie war unfruchtbar. Erst später, nach diesen kleinen 
Volksvermischungen entwickelte sich durch die folgende strenge 
Volksinzucht die neuisländische Literatur. Kurz, der Einfluß 
der Inzucht auf Kunst, Literatur, der kulturelle Einfluß der In- 
zucht läßt sich gerade in Island und an seinen Bewohnern 
besonders scharf verfolgen. — Weit weniger ist dies der Fall 
bei den den Isländern stammverwandten 
2. Eskimos. 

Sie zählen in Grönland nur zirka 10—11000 Bewohner. 
Aber der außerordentlich erschwerte Verkehr der arktischen 
Zone brachte es mit sich, daß dieser Volksstamm mehr oder 
weniger in Inzucht leben mußte, daß eine Vermischung wohl 
vorhanden, doch relativ sehr gering war. 

Die erste Vermischung fand statt von Island aus im An- 
fang des 10. Jahrhunderts. Dieser ersten Vermischung 
zwischen Grönländern und Normannen folgteeine3 bis 
4 Jahrhunderte lange Inzucht mit all ihren Folgen: 
Bildung einer aristokratischen Inzuchtskaste religiöser 
Art, Gründung mehrerer Kirchen. Aufstellung eines Bischofs 
von Gardar. Ausbildung von Viehzucht, Handel, Jagd, Fischerei. 

Die Kultur in Grönland hat sich, infolge der geologischen 
Beschaffenheit des Landes, auf die Küsten beschränkt. Die 
Grönländer leben ohne eine eigentliche Regierung in voll- 
kommener Gleichheit, zur Bildung einer regierenden Kaste hat 
es die Inzucht hier nicht gebracht, wohl aber haben die Grön- 
länder eine Bilderschrift und eine relativ fortgeschrittene Religion, 
aber eine eigene Literatur zu schaffen, vermochte die Inzucht 
hier ebenfalls nicht, sie ist ein Ergebnis der dänischen Mission 
(Hans von Egede). 

b) DieBlutsverwandtschaftin entlegenen Gebirgsteilen 
als Stammesinzucht. 

Hochgebirge sind resp. waren, wie ich schon sagte, Schutz- 
wälle gegen Invasion und als solche der Entwicklung von In- 
zucht in einem Volk außerordentlich günstig. Dies zeigt uns 
das Himalajagebirge (bei den Indern), die Anden (bei den 
Peruanern), weil dadurch einer Vermischung mit anderen Völkern 
vorgebeugt wird. Ein solches Hochgebirge sind auch die 
Alpen. Wenn sie auch mehr natürliche Paßübergänge besitzen 
als die ersteren beiden und infolgedessen eine solche Abge- 
schlossenheit sich nicht bildete wie bei den ersteren, so erhielt 





= 


vor 


Rohleder: Biutsverwandtschaft und Inzucht bei den heutigen Völkern 45 


sich doch bis vor zirka einem Jahrhundert, wo die Verkehrswege 
noch recht beschwerlich waren und es noch keine Bahnen 
gab, die Inzucht in den verschiedensten Alpentälern, besonders 
in der Schweiz und in Tirol. 

Ein solches Inzuchtstal ist z. B. das Grödnertal in Tirol 
(zwischen Brixen und Bozen), das noch eine relative, aber 
durchaus keine absolute Inzucht durch zwei Jahrhunderte hin- 
durch bewährte, wie Reibmayr will. Man hat behauptet, daß 
die Grödener das reinste Inzuchtsvolk der Erde sein sollen, 
nach Tappeiner zu 47,5°/, (die Juden nach Virchow zu 42°|,). 
Das ist nicht der Fall. Zum mindestens sind sie nicht so ein 
Inzuchtsvolk wie die genannten Batuwis auf Java und die Batta 
auf Sumatra. Ja, ich halte von den Kulturvölkern die Isländer 
für ein stärkeres Inzuchtsvolk als die Grödener. 

Doch sei dem, wie ihm wolle. Jedenfalls ist sicher, daß 
die Inzucht bei den Grödenern auch heute noch eine relativ 
recht große ist, daß auch heute noch ein Grödener möglichst 
eine Grödenerin zu heiraten trachtet und auch aus der Fremde 
immer wieder in seine Heimat zurückkehrt. Daß dabei aber 
Vermischungen mit unterlaufen und hin und wieder auch diese 
regelmäßig durchbrochen werden, ist sicher. 

Mehr oder weniger können wir dies auch von anderen 
Alpengebirgstälern behaupten, wie vom Avisotal (Zimmerstal, 
Fleimsertal), vom Nonsberg- und Sulzbergertal usw. Ebenso 
gibt es in der Schweiz Täler, die bis vor 50 Jahren noch un- 
beleckt von der Außenwelt waren und in denen Stammesinzucht 
bis zu einem gewissen Grade sich vorfand. 

Bekannt ist z. B. das Engadintal, das heute noch sein 
Rhätoromanisch spricht und an dem die Bevölkerung, obwohl 
sie nebenbei italienisch und deutsch spricht, hartnäckig fest- 
hält. Der Rhätoromane, besonders der Engadiner, hat infolge 
Inzucht viel von seiner Eigenart sich bewahrt. Heute ist die 
Inzucht allerdings im Rückgang begriffen, da die Bahnverbindung 
durch den ganzen Engadin hindurch und der starke Verkehr 
mehr Vermischung zustande bringt. 

Kurz, in den Gebirgstälern treffen wir heute mehr oder 
weniger noch Inzucht mit allen ihren charakteristischen Er- 
scheinungen, kräftiger Bevölkerung mit Inzuchtscharakter und 
Inzuchtsstolz. Die Inzucht macht die Stämme und Völker kon- 
servativ gegen alles Fremdländische. Sie lieben ihre Heimat. 


46 Rohleder: Blutsverwandtschaft und Inzucht bei den heutigen Völkern 


Daher die daraus resultierende Vaterlandsliebe. Nur ist jetzt 

auch in entferntest gelegenen Alpentälern ein Rückgang der 

Inzucht zu verspüren. 

c) Die zufällig in einzelnen Ortschaften gefundene 
Inzucht. ` 

Außer dieser bei unkultivierten Völkerschaften und bei 
kultivierten in einzelnen Gebirgstälern und Inseln gefundenen 
Inzucht finden wir solche zufällige Befunde hin und wieder 
auch im Flachland, wo durch ganz besonders günstige oder 
ungünstige Umstände es durch Jahrzehnte und Jahrhunderte 
hindurch in einzelnen Fällen zu vermehrten Heiraten zwischen 
Blutsverwandten kam. 

Bisher sind folgende Fälle beobachtet. 

1. Dr. Poliyn Büchner hat, wie Alfred Huth mitteilt, 
in der Gemeinde Schokland im Zuidersee in Holland, einer 
kleinen Gemeinde von 6—700 Einwohnern, starkes Unter- 
einanderheiraten gefunden, ohne irgendwelche Folgen, 
anscheinend in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts. 

Ebenso sollen nach diesem Autor 

2. die Bewohner des zwischen Whitby und Salt- 
burn gelegenen Dorfes Staithes bis vor kurzem in 
völliger Zurückgezogenheit gelebt haben und unter- 
einander alle stark verwandt gewesen sein, so daß 
alle mehr oder weniger dieselbe Familienähnlichkeit 
zeigten. Trotzdem soll sich nirgends irgendein un- 
günstiger Einfluß der Blutsverwandtschaft gezeigt 
haben. 

3. sollen nach Jung und Martini 
die Bewohner der Gemeinden Winningen a. d. Mosel, 
des Dorfes Meppen bei Osnabrück nur unter sich 
heiraten. 

Die beiden nächsten aber sind die wichtigsten von allen. 

4. Voisin teilt von der Gemeinde Batz mit: Batz liegt 
auf einer isolierten Halbinsel im Departement Loire-Inferieuere 
und hat nur über 3000 Einwohner. Infolge der geographischen 
Isolation, die, wie wir wissen, ein vorzügliches Mittel zur 
Inzucht bei den Bewohnern ist, haben sich letztere nicht nur 
ihre eigenen Bräuche und Sitten bewahrt, sondern sind auch 
stark untereinander verheiratet. Es bestanden dort 46 Ver- 
wandtenehen und zwar 5 zwischen Onkel und Nichten, 


Rohleder: Blutsverwandtschaft und Inzucht bei den heutigen Völkern 47 


31 zwischen Kindern derselben und 10 zwischen Neffen 
und Nichten. Wir finden hier also gleichsam den 
Beginn eines Überganges von erweiterter Blutsver- 
wandtschaftszuchtzurengerenStammesinzucht,. Nichts- 
destoweniger zeigte sich absolut keine Folge des In- 
einanderheiratens. Durchschnittlich hatte fast jeder 
4 Kinder aufzuweisen, eine für Frankreich enorme 
Fruchtbarkeit. Von einer Herabsetzung der Fruchtbarkeit, 
wie wir sie bei einigen Tieren bei Blutsverwandtschaft, aller- 
dings erst nach 6—8 Generationen, treffen, finden wir hier 
noch nichts angedeutet. 

Diese Tatsachen werden auch heute noch bestätigt. Der 
Privatdozent a. d. Universität Neuchatel Dr. Kanngieser hat, 
angeregt durch diese meine Mitteilung über Batz in meinem 
Werke „Die Zeugung unter Blutsverwandten“, sich um Aus- 
kunft direkt an Kollegen Gouraud in Gouerand gewandt, der 
ihm folgendes mitteilt („Straßburger medizinische Zeitung“, 
6. Heft, 1913): „Voici les renseignements que m’a donnes la 
mairie au sujet du nombre des mariages consanguins à Batz; 
au total sur trois périodes de dix ans il y a en 574 mariages 
sur-lesquels 22 entre cousins germains et 98 entre cousins du 
second et troisième degré. Je mhabite pas la commune de Batz, 
je ne peux donc pas répondre aussi exactement à vos questions, 
quoique j'y aille plusieurs fois chaque semaine. Je n'y connais 
pas d’idiots, ensemble de la population est plutôt d'intelligence 
ouverte. Il y aurait trois sourds- muets dont deux issus de 
parents non сопѕаприіпѕ (ип des conjoints étant même dans 
les deux cas étrangers à la commune), le troisième sourd-muet 
est né de parents consanguins au second degré. Les familles 
étant jusqu’à ces dix dernières années assez nombreuses, elles 
le sont de moins en moins, mais C'est volontairement je crois. 
D’une manière générale les habitants de Batz sout três forts, 
assez intelligents. Plusieurs villages voisins tels que Saillé et 
Clis, dont la population est comme celle de Batz adonnée aux 
travaux du sel marin, présentent la même particularité de tou- 
jours se marier entre eux.“ ; 

Dieser Pall Batz (resp. Saillé und Clis) ist für die 
Beurteilung der Folgen der Consanguinität beim 
Menschengeschlecht von außerordentlicher Wich- 
tigkeit. Es ist gleichsam ein physiologischer Versuch 


48 Rohleder: Blutsverwandtschaft und Inzucht bei den heutigen Völkern 


en gros zur Klärung unserer Frage, wie wir ihn nicht 
besser wünschen können. 


Ein weiterer 5. Fall ist der von Devay, der angibt, daß 
inlseaux, einem Dorfe im Departement Isere, die Einwohner 
jahrelang untereinander heirateten und dadurch fast 
die ganzen Dorfeinwohner untereinander verwandt 
und verschwägert waren (zirka anno 1830). Dieser Fall 
ist: ebenfalls ein Übergang von der Blutsverwandtschaft 
zur Stammesinzucht. Einige Einwohner litten an Sechs- 
fingrigkeit. Dieselbe war aber keine Folge der Inzucht, 
sondern ursprünglich eingebracht und durch die In- 
zucht eben außerordentlich untereinander verbreitet 
worden. Beweis dafür ist, daß sie nach Zufuhr von 
neuem Blut verschwand. Die Bewohner von Iseaux 
waren sämtlich gesund und zeigten absolut kein 
Degenerationszeichen. Also auch dies ist ein Beweis 
der absoluten Unschädlichkeit consanguiner Ehen vom 
3. resp. 4. Verwandtschaftsgrad an. 


Als 6. weiteren Fall möchte ich noch ausführen das Bluter- 
dorf Tenna in Graubünden in der Schweiz, das uns durch 
Grandidier und Hößli genau beschrieben wurde. Hier 
haben mehrfach Ineinanderheiraten stattgefunden, aber durchaus 
nicht in solchem Maße wie in den Fällen 4 und 5. 


7. berichtet (nach Scherbel) Ancelon, daß in der (jetzt 
wieder französischen, seit 1871—1919 deutschen) Stadt Dieuze 
‚die Blutsverwandtschaft häufig sein soll und in diesen con- 
sanguinen Ehen sollen die Nachkommen gesünder sein, 
weniger mit pathologischen Folgen behaftet als in 
den nicht consanguinen. 


Dann wird hin und wieder als Inzuchtsstätte genannt 
Stewkey in Norfolk (England). 

Bei einem Aufenthalt in England im Jahre 1908 erfuhr ich 
in Cambridge zufällig, daß in der Grafschaft Norfolk, unweit 
des Städtchens Wells next the sea ein kleiner Ort sich be- 
finden solle, dessen Bewohner infolge der Inzucht völlig 
degeneriert seien. Da das in der Nähe von Cambridge war, fuhr 
ich hin. Zirka eine Stunde von Wells entfernt, erblickte ich 
ein Dörfchen mit kleinen, elenden, zerstreut liegenden Häuschen, 
‚Stewkay. Eine Totenstille lag über dem Dörfchen. Drei 


an hä 


-j 


Bauernbursche beim Fensterln. 


Stich schwäbischer Herkunft. 


Zu Aufsatz von Reitzenstein. 


Tafel II 








Tafel Ш 


Rohleder: Blutsverwandtschaft und Inzucht bei den heutigen Völkern 49 


Momente fallen dem Fremden bei Betrachtung der Eingeborenen 
sofort in die Augen: 

1. Am Tage sieht man fast nur Männer und Kinder. Die 
Frauen und Mädchen gehen während der Ebbe zum Meeres- 
strand zum Muschelsuchen. Die eingebrachten Muscheln ver- 
kaufen sie an die Händler nach Lynn. Die Männer arbeiten 
nur sehr wenig, destomehr geben sie sich aber auch am Tage 
dem Alkohol, Grog und Bier hin; 

2. machen die Bewohner einen stumpfsinnigen und apathi- 
schen Eindruck und 

3. sind sie fast alle rothaarig, aber nicht von jener gold- 
gelbenschönenHaarfarbe, die man auch in England hin und wieder 
sieht, sondern sie haben ein häßliches, mehr ziegelrotes Haar. In 
diesen beiden letzten Punkten stachen sie ganz außerordentlich 
ab von der intelligenten, hellblonden angelsächsischen Be- 
völkerung Norfolks, der ich auf der Bahnfahrt in der aller- 
nächsten Umgebung in Dowicham, Lynn, Hunstanton be- 
gegnete. Р 

In Norfolk sagt man im Volke, daß in Stewkey nur Heiraten 
der Einheimischen unter sich stattfinden, weil kein Engländer 
oder Engländerin sich einen Ehegefährten aus Stewkey holen 
würde. Ich habe diese Anschauung in meinem Werke „Die 
Zeugung unterBlutsverwandten“ als begründet angenommen. Wie 
Dr. Kanngießer an angeführter Stelle mitteilt, ist ihm vom 
Kollegen Gordon Calthrop in Wells on sea darüber folgendes 
mitgeteilt worden: „The population of Stewkey is about 400. An 
old inhabitant of reliable character tells me that he knows of 
extremely few, if any intermarriage of first cousins for a great 
many years. To verify this I got him to enumerate the various 
family names of genuine old residents, and I find that there 
are at least 20—70 different original families in the village. 
Taking the whole present populations I find there are 55—60 dif- 
ferent family names which I myself can remember and I expect 
there are a few which I have omitted. This I think is suffi- 
cient to prove that there cannot have been much intermarriage 
of near blood relations for many years.“ 

Nun, man wird zugeben müssen, daß das kein absoluter 
Beweis dafür ist, daß Blutsverwandtschaft daselbst nicht häufig 
sei. Als wissenschaftliche Beweisführung dürfte das nicht an- 
erkannt werden. Aber selbst zugegeben, daß dort keine stärkere 

4 


50 Rohleder: Blutsverwandtschaft und Inzucht bei den heutigen Völkern 


Blutsverwandtschaft zu finden ist, kann m. E. nicht geleugnet 
werden, daß eine physische Degeneration dort. besteht. 

Wer die häßlichen und müden, stier vor sich hinschauen- ` 
den, abgearbeiteten Frauen und Mädchen mit ihrem blöden 
Gesichtsausdruck geschaut hat, denen man nicht bloß die Sorge, 
sondern auch, wie den Männern und Kindern, eine gewisse 
geistige Verkümmerung vom Gesicht ablesen kann, fragt sich 
unwillkürlich nach dem Grunde all dieses physischen und 
psychischen Jammers inmitten der sonst geistig so hochintelli- 
genten Bevölkerung Norfolks, der berechtigt, von einer gewissen 
Degeneration zu sprechen. 

Ich habe in meinem Buche schon angedeutet, daß hier weit 
eher der chronische Alkoholismus der männlichen Bevölkerung 
als Ursache hierfür verantwortlich zu machen sein wird, und 
wenn Kollege Calthrop in Wells auch meint „I do not think 
there is much actual drunkeness“, so gibt er doch im nächsten 
Atemzuge zu „I do think many of the men and women drink 
more than in other villages in this district“. 

Die Entartung in Stewkey ist zum mindesten kein ein- 
wandfreier Beweis für Blutsverwandtschaft in ihren Folgen 
wie Batz, Iseaux, die Batta und Batuwis, und scheidet für die 
strenge wissenschaftliche Forschung aus. 

Dafür geben uns aber in heutigen Tagen die heutigen 
Inselvölker der Isländer und Grönländer, die Be- 
wohner entlegener Gebirgstäler, wie die Grödener, 
Engadiner, isolierter Ortschaften wie Batz, Iseaux, 
von Städten wie Dieuze, Winningen, Meppen, besonders 
aber die Volksstämme der Batuwis auf Java und der 
Batta auf Sumatra ein noch mehr als hinreichendes Material, 
um auch heute noch bestehende Blutsverwandtschaft und 
Volksinzucht in ihren Folgen wissenschaftlich zu durchforschen, 
Möchten bald Forscher erstehen, die sich dieser Aufgabe 
unterziehen. 

Aber, soweit dies geschehen ist, haben uns die Resultate 
gezeigt, daß Veredelung, Verfeinerung der körperlichen, Rein- 
züchtung der seelischen Eigenschaften, besonders in den ersten 
Generationen, Folgen der Blutsverwandtschaft sind, die aber 
bei weiterem Fortbestehen ausarten. Daher sind abwechselnd 
Konsanguinität, Inzucht und Vermischung das beste Mittel zur 
Höherzüchtung eines Volkes, der Menschheit überhaupt, sie sind 


Dehnow: Die Gesundung der sexuellen Ethik 51 


es im ganzen belebten Reiche der Natur. Ja, sie sind eine 
unumstößliche Notwendigkeit zur Höherzüchtung der 
einzelnen Lebewesen wie ganzer Kulturvölker, aller 
Fortschritte in der Natur und Kultur. 

In meinem genannten Werke, dem ich die hier nieder- 
gelegten Daten entnommen, habe ich die Inzucht in der Pflanzen-, 
Tier- und Menschenwelt, in letzter beim Urmenschen, Kultur- 
menschen des Altertums und der Jetztzeit, in all ihren Folgen 
vom medizinischen und juristischen Standpunkt aus ausführlich 
abgehandelt und muß Interessenten darauf verweisen. 


е2) 


DIE GESUNDUNG DER SEXUELLEN ETHIK.*) 
Von Dr. FRITZ DEHNOW, 
vormaligem Staatsanwaltschaftsrat k. A. 


m Mangel an naturwissenschaftlicher Orientierung liegt der 

Grundfehler der überkommenen sexuellen Moral. Die Ein- 
führung des biologischen Gesichtspunktes wird sich hier, wie 
auf so vielen Gebieten, als überaus fruchtbar erweisen; besseres 
VerständnisdersexualbiologischenTatsachenwirdIrrvorstellungen 
zerstreuen. Entschließt man sich erst nur, die biologische Funktion 
sexueller Handlungen ins Auge zu fassen, dann brechen eine 
Reihe seitheriger Irrtümer zusammen: die Meinung, daß ge- 
schlechtliche Handlungen außerhalb bestimmter Rechtsformen 
(Ehe) „schadeten“; daß sie „Ausschweifungen“* und „Ent- 
gleisungen“ bedeuteten; daß sie dem „sittlichen Geist“ wider- 
sprächen, „tierisch“, eine „menschliche Schwäche“, ein „Übel“ 
seien; daß es eine „Würde des Menschen“ gebe, die sie ver- 
biete. Als eine geistige Verirrung wird dann erkennbar, daß 
man den Geschlechtstrieb gern als etwas Lächerliches betrachtet. 
Alsmißverständlichundschädlich erweistsich dieVerschweigungs-, 
Verheimlichungs- und Verhüllungsmoral, derzufolge sogar in der 
Umgangssprache Bezeichnungen für geschlechtliche Organe und 
Vorgänge fehlen. Als mißverständlich auch jene, sogar von 
Angehörigen der |Wissenschaft gehörte Auffassung, als ob das 


*) Aus der demnächst erscheinenden Schrift: Ethik der Zukunft. Bei- 
träge von P. Barth, H. v. Beaulieu, F. Dehnow, A. Forel, A. Grotjahn, 
J. Petzoldt, W. Rathenau u. A., (Leipzig, O. R. Reisland). 

4* 


LIBRARY Eis 
F ILLIN 
UNIVERSITY р злАОЛІСМ 


52 Dehnow: Die Gesundung der sexuellen Ethik 


Sexualleben ein „heikles“ Gebiet sei. Die Wissenschaft sollte 
ohnehin „heikle“* Gegenstände nicht kennen. Als haltlos kenn- 
zeichnet sich dann die Auffassung von Künstlern, die „die 
Klagen der aussichtslosen Liebe für das wahrhaft Erhabene 
halten“ (Dühring) und vor dersich erfüllendenLiebe zurückscheuen. 
Unter den biologischen Funktionen des Menschen nehmen 
seine Sexualfunktionen eine fast zentrale Stellung ein. Man 
braucht nicht, wie eine neuere Richtung in der Sexuologie, alles 
Ach und Weh aus dem einen Punkte kurieren zu wollen, um 
feststellen zu müssen, daß froh-zufriedene Ausübung der Ge- 
schlechtsfunktionen jedenfalls eines der Grundbedürfnisse des 
Menschen ist. Die Art der Sexualität eines Menschen ist mit- 
bestimmend für sein ganzes Naturell; nur fehlerhafterweise pflegt 
man bei der Beurteilung von Menschen ihre Sexualität außer 
Acht zu lassen. Durch gesunde sexuelle Betätigung kann der 
ganze Mensch gesunden. Mangel an Sexualität ist mangelhafte 
biologische Beschaffenheit, d. h. ein Mangel der Persönlichkeit. 
Die sexuellen Bedürfnisse sind ein wesentliches Stück der 
menschlichen Natur und unabweisbar; eine Abweisung würden 
sie auch gar nicht verdienen. Für den Kulturmenschen ändert 
sich hieran nichts. Nur fälschlich wird unterstellt, „Natur und 
Kultur“ müßten im Widerstreit liegen; die Kultur ist vielmehr 
selbst nur ein Stück Natur. Eine Kultur, die versucht, Natur- 
gesetzen in den Weg zu treten, sät damit nur Verwirrung und 
Unheil. Nicht Unterdrückung, nur Regelung und Läuterung der 
Geschlechtsfunktionen kann Aufgabe der Kultur sein. 
Diejenigen, die die Geschlechtsbedürfnisse inhibieren wollen, 
sind Toren und zugleich Menschenfeinde: sie wollen dem Körper 
in seinem physiologisch bedingten, ungeheuren Tumult die wohl- 
tätige Entspannung versagen, fordern vom Menschen einen un- 
gesunden, aufreibenden Kampf gegen sich selbst. Vielfältiges 
Unglück bereiteten die Menschen einander durch die „Enthalt- 


samkeits“-Moral: „Es ist dem Menschen gut, daß er kein Weib ` 


berühre“ (Paulus). 

Die Enthaltsamkeitsmoral überschätzt den Wert und unter- 
schätzt die Nachteile geschlechtlicher Unberührtheit. Sexuelle 
Betätigung erst lehrt das Leben kennen; ohne sie wird keiner 
ein Vollmensch. Unberührtheit verschiebt die Lebensauffassung; 
durch sexuelle Betätigung berichtigen und beruhigen sich An- 
sichten und Gefühle. Geschlechtliche Erfahrung erst lehrt eigene 





Dehnow: Die Gesundung der sexuellen Ethik 53 


und fremde Sexualität beurteilen; sie äridert die Ansprliche, die 
man an das andere Geschlecht stellt und beseitigt trügerische 
Geschmacksrichtungen; erst sie lehrt erkennen, welche Neigung 
bleibt und wer zum Gatten taugt. 

Ob ein Mädchen unberührt geblieben ist, hängt weniger 
von ihrer Sinnesart ab, als von Zufall und Gelegenheit. Soweit 
die Sinnesart mitbestimmend ist, mag zwar öfters Gemütsreinheit 
mitsprechen. Unberührt halten sich aber am ehesten solche 
Mädchen, die ihre Herzenbedürfnisse zurück- und Nützlichkeits- 
rücksichten in den Vordergrund stellen; Mädchen von praktisch 
gestimmter oder kühl berechnender Sinnesart, die mehr als 
durch alles andere sich durch die Furcht vor Entbindung und 
Skandal bestimmen lassen; auch solche, die dem Anerzogenen 
und Überlieferten anhaften. Die „Moral“ der unberührten Mädchen 
ist oft nur die Angst davor, daß etwas passiert. 


* * 
* 


Als Reaktion gegen die Mißachtung des Geschlechtstriebes 
machen sich Strömungen geltend, die über das Ziel hinaus- 
schießen und zur Überschätzung des Geschlechtslebens neigen. 
Hierher gehören jene Autoren, die von der „Anbetung“ des 
Sinnengenusses sprechen und wahllosem „Sichausleben“ das 
Wort reden; „erotische“ Dichter, die eigene sexuelle Erlebnisse 
mit dichterischer Verschönerung auszuschmücken lieben. 

Erfrischend wirkt es demgegenüber, wenn Sudermann ein- 
mal ausruft: 

„Und Liebesabenteuer?“ 
„Wenn Ihr das Abenteuer nennen wollt.“ 


Ebensowenig wie sexuelle Enthaltung, können sexuelle 
Handlungen als solche eine positive ethische Bewertung bean- 
spruchen. Wahlloser Geschlechtsverkehr ist, wie alles wahl- 
lose Handeln, unethisch. Auf die Beschaffenheit des Ge- 
schlechtsverkehrs kommt es an. In der Hebung seiner Be- 
schaffenheit besteht sexuelle Kultur. 

Nur ein äußerliches Kriterium für die Bewertung seiner 
Beschaffenheit wäre seine Vornahme innerhalb der Rechtsform 
der Ehe. Aber gesunde Einfachheit und Natürlichkeit im Sexual- 
leben, Vermeidung sexueller Verweichlichung, Selbstdisziplin 
innerhalb der physiologisch gegebenen Grenzen gehören zu 
den wahren sexualethischen Gütern. Zu ihnen führt allerdings 


54 Dehnow: Die Gesundung der sexuellen Ethik 


nicht fromme Unterweisung, sondern Abhärtung und Athletik — 
Dinge, die den Generationen der „Sittlichen“ fremd waren. 

Strenge Auswahl der sexuellen Partner vor allem sollte 
als sexualethische Norm gelten. Gerade der beste soll als 
sexueller Partner gut genug sein. Die überlieferte Moralan- 
schauung war geringwertig auch darin, daß sie dem Manne 
gerade das am ehesten nachsah, was sie hätte am meisten 
verpönen sollen, nämlich den Umgang mit minderwertigem 
Weibsvolke. Sogenannte Lebemänner, die sich Prostituierte 
kaufen oder Mädchen wirtschaftlich aushalten, genossen sogar 
einen törichten Respekt. 

Der Sinnlichkeit eines Menschen gebührt das gleiche Maß 
von Achtung und Sympathie, wie dem Menschen selbst. Gut 
Geratene keidet ihre Sinnlichkeit gut; Üble läßt sie noch übler 
erscheinen. 

* & * 

Wenn eine weitgehende sexuelle Misere während ganzer 
Menschheitsperioden bestand, das Geschlechtsleben Quelle 
schwerster Bedrängnis und Not war, so trug die überlieferte 
Ethik die Hauptschuld. Ohne Not fügten die Menschen selbst 
einander dies Unheil zu. Jene „Sittlichkeit“ trug die Haupt- 
schuld, von der Robert Hessen sagt: „Der Heiland würde vor 
ihr ausspeien“; jener Codex sinnloser Pflichten, der geschöpft 
war aus Glaube und Aberglaube, aus Apriorismus und Logi- 
zismus und der die wirkliche und unabänderliche Natur des 
Menschen tyrannisiertee Noch stehen sexuelle Moral und 
Sexualstrafrecht großenteils unter diesem Zeichen. Wenn Jüngling 
und Mädchen miteinander verkehren — nichts Selbstverständ- 
licheres; aber die geltende Moral macht, wo sie nur kann, 
Tragödien daraus. 

So ist für die Erneuerung des Sexuallebens die Gesundung 
der sexuellen Ethik ein Haupterfordernis. Weitere Erforder- 
nisse sind: 

1. Sexuelle Erziehung; d. h. Erziehung zu kerngesunder, 
reinlicher Auffassung in sexuellen Dingen. Bisher trifft Felix 
Salten’s resignierter Ausruf: „Was wissen wir von unseren 
Kindern?“ für nichts mehr zu als für ihre Sexualität. Die seit- 
herige Erziehung beschränkte sich auf eine Erziehung zur Ent- 
haltsamkeit und blieb in der Regel unfruchtbar. Rigorose Be- 
urteilung sexueller Handlungen Jugendlicher schuf nur Unheil. 


Dehnow: Die Gesundung der sexuellen Ethik 55 


2. Ausrottung der Geschlechtskrankheiten. Die Gesundheit 
der Geschlechtsorgane ist eine allererste Rücksicht, hinter der 
alle anderen „Rücksichten“ zurückzutreten haben.*) Aber noch 
scheut man sich hier vor durchgreifenden Maßnahmen. Den, 
der stiehlt oder betrügt, sperrt man zwar ohne weiteres ein; 
aber man fürchtet sich, in nur geringem Maße die „Freiheit“ 
gemeingefährlicher Infektionsträger zu beschränken. 

3. Progressive Einschränkung der Prostitution. Daß die 
Prostitution ein „notwendiges Übel“ sei, ist eine oberflächliche 
Phrase. Menschen müssen imstande sein, in menschenwürdiger 
Weise ihr Sexualleben einzurichten; sie müssen ein zufriedenes 
Sexualleben führen können, ohne daß Mengen von Weibern in 
einen Pfuhl versinken, in dem sie keinen Heller mehr wert sind. 

4. Sorge für die nichtehelichen Kinder. Die Geburt von 
Kindern außerhalb der Ehe darf nicht eine moralische und 
wirtschaftliche Kalamität bleiben. Eine einfache, aber gesunde 
und ordentliche Erziehung ist jedem nichtehelichen Kinde 
zu sichern. 

Hierfür sind nicht ausschließlich die unehelichen Väter in 
Anspruch zu nehmen. Ihre Belastung ist nur in engeren Grenzen 
statthaft. Denn einmal steht die uneheliche Vaterschaft in der 
Regel nur unsicher fest; die richterliche Feststellung besagt hier 
nicht mehr, als daß die eine oder die andere Partei einer be- 
stimmten gesetzlichen Beweislast sich entledigt hat. Auch ist 
für den Mann außerehelicher Geschlechtsverkehr zumeist nur 
ein episodisches Ereignis; es sollte nicht zum Anlaß genommen 
werden, ihm die vollen Erziehungslasten für das Kind einer 
fremden Frau aufzubürden. Hier muß und wird früher oder 
später der Staat selbst unterstützend eingreifen. 

5. Berichtigung der Stellung der Frau im Leben. Jedwede 
Gynäkokratie ist zu beseitigen. Aber die Unabhängigkeit der 
Frau bedarf der Förderung, ihr sexuelles Los der Besserung. 

6. Der gegenwärtige Zustand der Ehen „erfüllt die Gesell- 
schaft mit Unreinheit und Unglück“ (Ellen Key). Erziehung 
und öffentliche Meinung müssen tatkräftiger auf pflichtmäßige 
eheliche Lebensführung hinwirken. Mißglückte Ehen müssen 
leichter getrennt werden können. Die Aufziehung der Kinder 
aus geschiedenen Ehen muß staatlich gesichert werden. 


*) Seht richtig; aber der Moralismus will das nicht, weil sonst das 
„Schreckmittel“ fehlt. Die Schriftleitung.) 


56 Dehnow: Die Gesundung der sexuellen Ethik 


7. Quantitative Eugenik. Nicht „Bevölkerungspolitik“, die 
gegen das Wohl des Einzelnen rücksichtslos ist; am wenigsten 
eine solche, die „dem Eros die Aufgabe zuteilt, nur ein unbe- 
grenztes Massenaufgebot für den nächsten Millionenaufzug der 
Morituri zur Verfügung zu stellen“. Sondern fortlaufende 
Aufklärung der Bevölkerung über den jeweilgen Stand des 
Bedürfnisses nach Bevölkerungsvermehrung oder -verminderung. 

8. Qualitative Eugenik: „Von den Besten so viele Kinder 
wie möglich, von den Schlechten so wenige wie möglich“ 
(Müller-Lyer). Dies ist die edelste und oberste sexualethische 
Norm. Aber das Zukunftsbild der Eugenik „deutet sich im 
Gesichtsfelde der Kultur und der Wissenschaft erst von ferne 
an“ (Grotjahn). 

Sittlichkeit im rationellen Sinne bedeutet nicht Enthaltsamkeit, 
sondern sie bedeutet gesundes, gedeihliches Sexualleben. Von ihm 
hängt für das richtig verstandene Gedeihen der Menschheit mehr 
ab, als von denjenigen wirtschaftlichen und politischen Fragen, 
die heute des Interesses aller kleingestimmten Gemüter sicher 
sind. Allerdings nicht durch Diskussionen, Beweise und 
Widerlegungen wird der Kampf für die Gesundung des Sexual- 
lebens entschieden werden, sondern dadurch, daß die Wahr- 
heit immer wieder aufs Neue ausgesprochen wird und sich 
durchsetzt vermöge der ihr innewohnenden Kraft. 





Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 57 


BETRACHTUNGEN ÜBER DAS LIEBESLEBEN IN 
DER ZEIT DER RENAISSANCE UND DER PERIODE 
DER GALANTEN. 

Von FERD. FRHR. VON REITZENSTEIN, Dresden. 

І. Das Geschlechtsleben in der Zeit der Renaissance 
und der Galanten. 

(Fortsetzung.) 


b) Das Liebesleben der Renaissance und der galanten Zeit. 


Fir Entwicklung der Grundideen des Liebeslebens nach 
seinem psychischen Inhalt haben wir in der „Entwicklungs- 
geschichte der Liebe“ bereits gegeben. Es erübrigt, hier die 
äußere Erscheinung des Liebesverkehrs zu betrachten, die natür- 
lich bestimmend auf die damalige Ehe einwirkt. Wie wir im 
vorigen Kapitel des weiteren auseinandergesetzt haben, waren 
jene Zeiten sehr frei, sowohl in Worten wie in Werken, und 
wir haben gesehen, daß es nicht nur unstatthaft, sondern völlig 
unberechtigt ist, jene Zeiten mit dem heute gebräuchlichen 
moralischen Maßstab zu messen. 

Die Jugend liebte damals wie heute, und ein nächtliches 
Ständchen gehörte schon in alter Zeit nicht zu den Selten- 
heiten. Freilich war es nicht so sanft, wie es heute ausfallen 
muß, wenn es überhaupt ausgeführt werden soll. Wenn man 
an das ganz andere Straßenbild von damals denkt und nicht 
vergißt, daß die Straßenpolizei nahezu fehlte, während die liebe 
Jugend weniger zahm war als die heutige, so erscheint es 
jedem begreiflich, daß damals sicherlich oft genug äußerst origi- 
nelle Bilder entstanden sind. Unsere kleinen Universitätsstädte 
haben noch Nachklänge davon bis in die jüngste Zeit erhalten, 
wenigstens bis zum Weltkrieg, wo sie noch Studenten im alten 
Sinne waren. 

Wir lesen in Fastnachtsspielen: 

„Nu will ich euch melden die nachtraben, die des nachts auf der 
gassen umbtraben Und großer ungefur vil daraufflegen Und den leuten 
umbwerffen ir schregen Und unten darin die stollen zercliben (= zer- 
spalten) Und ier karren in das Wasser schiben Und die vischer auf dem 


Vischmarkt denten, denselben verwechseln sie die prennten, Und welcher 
eine große vor ihm hat, dem setzen sie eine cleine an die stat.“ 


Daß solche übermütigen Kumpane nicht still und mit ge- 
senkten Blicken an den Mädchen vorübergingen, ist wohl 
selbstverständlich, und daß sie gerne vor jenen Fenstern sich 


58 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 


zu Schaffen machten, aus denen öfters ein holdes Mädchen- 
antlitz sah, ebenfalls. Die Geistlichkeit und die Moralprediger 
jener Zeit waren natürlich nicht gut auf sie zu sprechen, weniger 
FR WIR Li e deswegen, weil sie sich 
2 S sehr in ihrer Lebens- 
|{ weise von ihnen ипїег- 
schieden, sondern des- 
halb, weil sie von dieser 
Jugend nur Spott und 
Hohn ernteten. Sie hatten 
daher für diese nur sehr 
unfreundliche Namen 
(so z. B.: „Löffel“) übrig. 
So schreibt Sebastian 
Brant in seinem Narren- 
schiff“: 


„Wan nit hie waren auch 
die löffel, die gassentretter 
und die göffel, die durch die 
nacht keyn ruow went han, 

Fastnacht in Venedig. Wenn sie nit uff der gassen 
gan Und schlagend luten vor der tuer, Ob gucken well ir mätz (Geliebte) 
herfuer, Und kumen uß der gassen nit, Biß man eyn kammerlong (Nacht- 
gefäß) inn gytt oder sie würffet mit eym steyn. Es ist die freud war- 
heyt klein. Inn winters nacht also erfrueren. So sie die gonuchin duont 
hofyren (= poussieren) mit seittenspiel, mit pfiffen, syngen. Am holtz- 
markte über die bloecher (große Stämme) springen, das duonts studenten, 
pfaffen (!) leyen, Die pfiffen zur der narren reyen. Еупег schrygt, 
juchzet, bröllt und blört, als ob er yetzend würt ermört. Je eyn narr 
do den andern segt, Wo er muoß wartten uff bescheyt, do muoß man 
im dann hoffrecht machen, Als heymlich haltet er syn sachen, das yeder- 
mann davon muoß sagen, dy vischers uff den Küblen schlagen. Mancher 
syn frow loßt an dem bett, die lieber kurtzwil mit im hett...“ 


Freilich gar oft ging es den damaligen Liebhabern so, 
wie es den heutigen geht; das Ziel ihrer Wünsche führt sie 
etwas an der Nase oder wird mit ihrer absagenden Antwort 
etwas allzudeutlich. So berichtet uns Geiler:*) 

„Außerdem ist beliebt „hoffieren (= unser „poussieren“) mit seiten- 
spiel, lauten, zincken, violen auff der fiedlen, mit pfeiffen, singen, springen, 
tantzen, grossem geblär, das nachts auff der gassen vor den Häusern 
ein geheul haben gleich wie die hundt. О wie eine grosse thorheit ist 





*) Geiler von Kaisersburg, ein berühmter Straßburger Kanzelredner, 
geb. 1445 in Schaffhausen, | 1510 іп Straßburg, ist eine unserer wich- 
tigsten kulturgeschichtlichen Quellen. In seiner Sprache ist er allerdings 
etwas maniriert und macht der Lachlust seiner Hörer Zugeständnisse. 


Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 59 


doch diß hoffieren mitten im winter, das nachts auff der gassen, in kält 
und schnee erfrieren... dann es meinen manchmal solche narren, sie 
löfflen irem Eißle oder Kätterle, das an dem Fenster lieget, so ist es 
ein weisse katz gewesen. Darnach geschicht es offt, wenn sie iren 
bulen hoffieren, daß sie etwann ein andern in iren armen hat, mit dem 
sie kurtzweilet, und wirdt der Hoffiernarr auff der gassen veracht, auch 
gibt man ihm offt ein schlafftrunck von kamerlaugen und wohlschmecken- 
den gereuchle, dervon es also übel stincket, des einem die gantze gassen 
zu eng wirdt.“ 

Solche Situationen müssen recht häufig gewesen sein, 
denn die Täuschung des Liebhabers wird auch. an anderen 
Stellen erwähnt. Aus dem „Gauchmatt“ erfahren wir die List 
des Mädchens noch etwas deutlicher, und ihre Durchführung 
erscheint bei der Dunkelheit und Enge der damaligen Straßen 
sowie der Kleinheit der Fenster nicht ganz unmöglich. Wir lesen: 


„Sy kan mit falschheit dich ergetzen, Ein schübutzen (Puppe) in 
das Fenster setzen. Wenn du wendt, sy lyg selb do, so ist ein butz 
gemacht uß stro.“ „Und er meynt, daß sy im fenster lag, da hat sy 
schleyer zusammen bunden Und wie ein menschenkopff gewunden. Der 
arme gouch stund darumb drunten Und meynt, er nem ir eben war, do 
was es eyn schübebutz gestellet dar. Wenn sy ungefor erwacht, den 
butzen sy bewegen macht. Domit betrog sy yn die nacht.“ 

Aber selbst wenn das Mädchen seinen Geliebten empfing, 
scheint es nicht immer ganz aufrichtig gewesen zu sein, 
wenigstens hielt es ihn selbst für Narren und dachte mehr an 
seine finanziellen oder geschlechtlichen Vorteile. In 
dem Büchlein, das „De fide meretricum“ (Von der Treue 
öffentlicher Mädchen) betitelt ist und 1501 erschien, gibt das 
liebe „Кеќегіеп“ (= Käthchen) zwei Nelken, mit blauem 
Seidenband umwunden, ihrem Geliebten, der ihr wertvolle 
Gaben gewidmet hat, und als er sie gefragt, was das „Blau“ 
bedeute — wobei er jedenfalls eine Versicherung ihrer Treue 
erwartete — antwortet sie ihm: „Es bedeutet narr hie, narr do.“ 
So ganz unrecht hatten diese Mädchen ja nicht, noch heute 
macht Liebe nicht nur blind, sondern sie bestimmt den Menschen 
auch zu allerlei Handlungen, die er sonst nicht begehen würde. 
„Narrenhände beschmieren Tisch und Wände“, sagt ein altes 
Sprichwort, und nicht ganz mit Unrecht darf man es auf Liebes- 
paare mit Vorliebe anwenden. Der „Gauchmatt“ weiß auch 
bereits davon zu berichten: „Uff den disch und an die wend, 
an alle ort, an alle end, schreyb der gauch irn nammen an, 
critzt und krampt das alles dran, das nit eyn kirchlein ist im 
land, da nit der gauchin nammen stand“. Aber trotz der 


60 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 


rauhen Schale sehen wir in der deütschen Liebe doch einen recht 
gesunden Kern, der, wie wir in der „Entwicklungeschichte der 
Liebe“, S. 79,*) gezeigt haben, hauptsächlich im bürgerlichen 
Liebesleben gepflegt wurde und dem alten Naturempfinden, 
das in der gotischen Zeit neu aufgelodert war, zu danken ist. 
Trotz aller Derbheiten fehlt eine gesunde, manchmal allerdings 
unbeholfene Galanterie nicht, und wenn Geiler über sie spottet, 
so zeigt er sich damit als einseitigen, scholastisch-asketisch 
angekränkelten Menschen, der uns wohl eine gute Quelle, aber 
keinen Richter abgeben kann. So sagt er: 

„Dann kommt mit speiß und malzeiten oder fürlegen hoffieren. Es 
hoffiern etlich irer bulschafft mit fürlegen der guten bißen oder nemmen 
ihn an die speiß von den dällern unnd schmecken daran, ob sie auch 
wolschmäcket sey, und wenn sie inen nicht gefelt, legen sie inen ändere 
und bessere für. Deren hoffierung und gebreng, so die buler inn mal- 
zeiten üben, sein gar unzelbarlich viel, nemlich in dem krebsessen, pyren 
und öpffelschelen, zerlegung der hüner und andern Dingen mehr. Diese 
hoffzucht gieng zwar etliche massen hin und war wol für höfflich zu 
halten, wenn man nur nicht darinn etlich sondere bedeutung und anzeigung 
braucht, als nemlich, wenn man das hertz, das leberle, den kopf und 
das hinderteil so förlegen.“ 


Noch von jeher hat Liebe Geld gekostet, und wir haben 
bereits in der „Entwicklungsgeschichte der Liebe“, $. 76, ge- 
sehen, wie der Tannhäuser klagt. Der Gauchmatt weiß noch 
deutlicher zu berichten. Er erzählt uns, wie das Schätzchen 
jeden Festtag, jede Jahreszeit auszunutzen versteht, um mög- 
lichst viel Geld und Vergnügen zu erlangen; denn schließlich 
handelte es sich bei jenen Verhältnissen ebensowenig um die 
Absicht einer späteren Heirat wie im gleichen Falle heute. 
Die jungen Mädchen waren liebebedürftig und wollten etwas 
sehen und hören, und dies macht sich eben am besten am 
Arme eines Geliebten; die jungen Ehefrauen aber hatten den 
Gewinn noch mehr im Auge, zumal wenn sie nicht gerade 
reich verheiratet, dafür aber um so putzsüchtiger waren. Da- 
mals wie heute drückte daher auch ein Ehemann ein Auge 
und, wenn’s gut ging, auch beide zu. Geld und nochmals 
Geld war also für jeden, der die Rolle eines Liebhabers 
spielen wollte, Hauptsache. Kurz, der Gauchmatt kann mit 
Recht sagen: 


„Kumpt es uff den wynachttag, So gib ich ir, was ich vermag, Und 
schenk ir das zum guten ior... Wenn man dann ein künig macht, do 


*) v. Reitzenstein, F. Frhr.: Entwickl. Gesch. der Liebe. Stuttgart 1908. 


Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 61 


muß ich haben große acht, das ir vor ir löß küniglich kron. Wo aber 
künigin wurd die schon, So muß ich ir das rich begon, das ich in armut 


gang darvon.... die fastnacht wil sy gon spazieren. So muß ich’s mumlen 
umbhar fieren. Das kost denn ouch wol zwelffthalb pfunt... die fasten 
kouff ich ir den fisch, Wo ich den allerbesten erwisch... Am ostertag 


kouff ich ein schaff Und send ir das heym in den schlaff ... Im meyen 
farend wir gen Baden, Lug das der seckel sy geladen. Denn das bad 
hat solche art: Wer mit wybren daryn fart Und bringt nit pfenniggelt 
domit, So wurckt desselbig bad do nit, denn syn natürlich würckung thut, 
das du verdouwest gelt und gut... Darnach von Franckfort kumpt die 
meß: zu koomen keiner nit vergeß.“ Sy nemen sich der schenk zu dodt: 
„Ach lieber Herr, nun koomen mir. Die Franckfurter meß kumpt auch 
harfür. Schenk mir dies, ach gebt mir das!“ 

Dieses Schenken will den Schreibern unserer Quellen, die 
eben mehr oder minder einseitig sind, gar nicht in den Sinn. 
Die meisten spotten darüber, daß der Verehrer reiche Geschenke 
gibt, während sich das Mädchen mit ein paar Blumen oder 
einer Handarbeit revanchiert. Geiler und seine Gesinnungs- 
genossen hatten eben kein Empfinden dafür, daß oft eine 
Blume oder eine kleine eigene Arbeit mehr erfreut, insbesondere 
ein liebendes Herz, als ein wertvolles Geschenk, das der Ver- 
mögende ohne weiteres kaufen und ohne Opfer für sich geben 
kann. Man sieht deutlich, wie diese Verfeinerung unseres 
Liebesgefühls in keiner Weise den offiziellen Vertretern der 
damaligen Sollsitte zukommt, denn gerade diese standen auf 
einem sehr realistischen Boden. Dies geht deutlich genug aus 
den Worten Geilers hervor: 

„Es folget darauf mit geschenkungen und gaben hoffieren: denn es 
schicket das hertzliebe Annele dem Holderstock*) einen schönen vergulten 
Strauß, oder ein krantz mit negelen (Nelken) und nestlen (Schleifen) 
gemacht, oder ein bulenbrieff oder ein schön par hosenbändel oder hembt, 
oder außgenehet tuchle, daran er den unflath wüschet. Hargegen verehrt 
der Holderstock das Elßle widerumb mit einem gulten ring oder einem 
weissen oder roten par stiffel, oder mit einem par seiden zupffen, oder 
mit einem sammeten gürtel, der mit Silber beschlagen ist, oder mit einem 
damastenen leible und andern Dingen viel mehr. Sie wicklens ein für 
ein herrlichen Schatz, küssen und rühmen dasselbig als für ein unzergenglich 
Ding. Des morgens, wenn sie aufstehn, sehen sie es an und preisen das 
für Gott; mit diesem fangen sie ir gebet an, und was sie nur handlen 
und wandlen, das ist allein auff diese schenkung gerichtet. Setzen also 
ir hoffnung allein auf blosse und heimliche geschenk, dadurch sie dann 
oftermalls umb ir jungfrawschafft kommen und solche geschenk für ihr 


ehr und jungfrawschafft müssen behalten, wann der buler und Holder- 
stock zum thor außführet und sie mit vollem bauch last sitzen.“ 


*) Dies ist die ständige Bezeichnung, die Geiler für den Liebhaber 
gebraucht. 


62 _ Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 


Hier spricht sich deutlich genug die verhaltene Wut gegen 
das Liebesleben aus; man sucht die Freundschaftsgaben zu 
diskreditieren und zu guter Letzt als eine schwindelhafte Ab- 
findungssumme für das Kind, mit dem das Mädchen sitzen- 
bleibt, hinzustellen. Gewiß hat es damals wie heute genug 
Leute gegeben, die sich aus dem Staube machten, wenn das 
Liebesverhältnis Pflichten mit sich brachte; überall war dies 
nicht der Fall. Keineswegs aber wurden diese Geschenke 
gemacht in der Absicht, das Mädchen zu bezahlen, wenn 
es auch die Moralprediger so hinzustellen suchten. Am deut- 
lichsten tut dies Th. Murner in seiner „Narrenbeschwörung“: 


„Für einen Rosenstrauch gebunden mit blauer oder grüner Seide, für 
ein Kränzlein, schenkt er einen Rock, für ein Halsschnürlein einen Pelz, 
für ein facillet einen grünen Unterrock oder verbürgt sich beim Tuch- 
händler für sie.“ Oder noch deutlicher heißt es im Gauchmatt: „Zum 
dritten nam er ir das hor (Haar), und macht darauß ein schnirrlin vor, 
Ein sylbeerniß hertzlin hing er dran, das er allzeyt um hals volt an. Zum 
sechsten was sy geschenket hat: zwey, dry, fier, fünff facillet (Taschen- 
tücher). Zwey hat er an die knüw gebunden und eins umb seynen Hals 
gewunden, Ouch in den latzen eins gestossen, das sindt die rechten 
gauchschen bossen; das fünft trug er in seinen henden, an allen ort, an 
allen enden. Sy macht mir ein schönes facillet, das an den ecken drasten 
(Franzen) hat, Umbynneyt mit syden rot. Es war ein quintlin und ein 
lot. Das neyen sy groß arbeit nam, das sy schier wardt in henden lam.“ 


Darauf gibt er ihr einen goldenen Ring, am Mittelfinger 
zu tragen, für 15 Gulden. Sie wäscht ihm die Hemden und setzt 
oben daran schwarze Bänder, dafür bekommt sie ein Tuch von 
Arras. Für eine leinene Unterhose schenkt er drei seidene Hauben. 
„Da neyt sy mir irn namen fry uff den ermel, den hosen an, 
das ich solt zierlich yehar gan.“ Diese Aufmerksamkeit wird 
durch einen Kranz von Perlen und Edelsteinen vergolten. 

Zugleich sehen wir aus diesen Ausführungen, daß sich im 
Gefolge des Liebeslebens ein regelrechtes Stutzertum aus- 
gebildet hatte; je größer dies war, desto leichter konnte es 
gerupft werden. Darauf gingen besonders verheiratete Frauen aus. 

Wenn eine Frau glaubte oder sicher wußte, daß die Frau 
Nachbarin schönere Kleider habe als sie, und der Ehegatte ihr 
nicht schleunigst noch schönere zu kaufen versprach, dann fiel 
sie zwar nicht in Ohnmacht, wie es heute vorkommen soll, 
sondern sie erklärte kurz angebunden, daß sie zu den Mönchen, 
zum Adel oder zu den Pfaffen gehen werde. Die Geistlichen 
gaben in solchen Fällen ganz gewaltige Summen für Geschenke 
aus, wie wir durch Murner erfahren. 


Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 63 





Natürlich gab es auch Ehegatten, die nicht gerade gern 
zusahen, wenn ihre Frauen den Ehebegriff allzuweit 
faßten; auch manche Väter waren mit dem Verhalten der 
Töchter nicht einverstanden, besonders, wenn die Liebhaber 
geistliche Herren waren. So lesen wir in Joh. Nolici Chron. 
Hassiacum: 

„Im Jahr 1511 in der Fasten war Bischoff von Trier Jacob genandt 
und gebohrener Marggraf von Baden, ein hochgelährter der Schrift; zu 
Confluentz hatte ein Kürschner ein Tochter, zu der gesellet sich der Bischoff 
in Venus gier, und kam ein Nachts heimblich zu ihr in ihres Vaters hauß, 
dessen ward der Vater inne, vielleicht ohnwissend, daß es der Bischoff 
were, und ward sein Hauß Ehr lieb und schlug den Bischoff so lang, daß 
seine Diener zuliefen und retteten ihn und mit ihm zu schiff nach Cöln 
zueyleten, ob ihm zu helfen möchte seyn, aber er starb im Schiff, eh er 
gehn Cöln kam. Im Jahr davor war zu Wormbs (Worms) ein Bischoff, 
Johann von Fleckenstein genandt, der hatte Gemeinschafft mit eines 
Bürgers Weib, daselbs zu Wormbs, der (Bürger) trug des handels Wisssen, 
nahm vielleicht Miet darumb, und ließ die Buberei geschehen, durch Gift 
und Gabe (= Geschenke) zu einem mahl hatte er gern etwas erlangt 
von dem Bischoff, ward ihm nicht gewilliget, darumb beschied er ihn, 
als ob es die Frau gethan hatte, hatte der Bürger im Eintritt des Hauses 
einen Keller und darinn gesetzt spitze Pfäl, und den Keller ufgesperrt. 
Da der Bischoff kam, unwissend der Maußfallen, trat kecklich ein nach 
seiner Gewohnheit, fiel in die Pfäl, ward auch durch seine Diener, die 
seiner vor der Thür warteten, herausgezogen, doch starb er.“ 

Man sieht auch hier, daß der Bürger eigentlich gegen das 
Liebesverhältnis seiner Frau nichts hatte, daß aber der Bischof 
eben unvorsichtig genug war, ihm eine Bitte abzuschlagen. 
Die Moralprediger und Sittenmänner der Zeit suchten die 
Gründe dieser Neigung zum Ehebruch überall, nur nicht dort, 
wo sie wirklich lagen — bei sich selbst. Sie gaben der 
Kleidung, die stark ausgeschnitten war, den Tänzen und anderen 
Vergnügungen die Schuld, wollten aber nichts davon wissen, 
daß ihre Moralpredigten für den Ehebruch der beste Dung 
waren, und daß ihre Gesetze die Prostitution geschaffen oder, 
besser gesagt, auf deutschen Boden verpflanzt hatten. 

Kann man sich eine bessere Reklame für tiefen Kleider- 
ausschnitt denken, als sie z. B. in einer der Predigten des be- 
kannten Abraham a Santa Clara*) liegt. Er wetterte einmal 
furchtbar von der Kanzel gegen die weitausgeschnittenen Kleider 
der damaligen Hofgesellschaft und schloß seine Rede etwas 
unsanft: „Weiber, die sich so sehr entblößen, sind nicht wert, 


*) Eigentlich Ulrich Megerle aus Kreenheinstetten bei Meßkirch in 
Baden, geb. 1644; später Hofprediger in Wien, + 1. Dez. 1709. 


64 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 


daß man ihnen ins Gesicht spuckt.“ Die Kaiserin befand sich 
auch darunter und war begreiflicherweise von dem nicht ganz 
hoffähigen Ton ihres Seelenhirten wenig erbaut. Man legte 
ihm nahe, zu widerrufen oder sein Amt niederzulegen. Der 
wackere Prediger entschloß sich zum wörtlichen Widerruf, 
bestieg die Kanzel und sprach: „Ich sagte neulich, Weiber, 
die sich so entblößt tragen, seien nicht wert, daß man ihnen 
ins Gesicht spuckt; dies widerrufe ich hierdurch und erkläre, 
sie sind es wert.“ — 

Freilich liebten jene Menschen nicht etwa platonisch; 
sie hatten wenig Empfinden dafür, und der volle Besitz der 
Geliebten war das Endziel wohl jedes Verhältnisses. Schließlich 
gilt das aber auch heute noch, wo etwa der Geldbeutel nicht 
noch höher geschätzt wird. Die Zeit nahm daran wenig An- 
stoß, weil sie es selbstverständlich fand, und die Mädchen 
wußten wohl darum und zierten sich auch nicht sonderlich. 
Dementsprechend waren aber umgekehrt die Strafen, die auf 
Notzucht standen, sehr scharf, wohl kaum zu übertreffen, und 
gerade dies zeigt, wie gesund jene Zeit dachte. So ordnen 
schon die Weistümer von Cröve (ll. 381) an; 


„item were eß, daß ein mann ein maget oder weiff noitzucht, das 
da were über iren willen, und das man mit clage furprechte, also das 
die scheffen sehen, das er wol der sachen überzeuget und schuldig were, 
so soll man einen pal (Pfahl) dort zu machen und sulle den man uff 
den rucke legen und im den pal uff den bauch setzen, und sulle das 
weib, die also von ime geclaget hat, den pal mit einem schlegel drei 
stund (= dreimal) darauf schlagen und sollen dan die rechten boden 
vorbaß schlagen, biß in die erde und ine darin halten, biß er von dem 
leben zu dem tode gebracht wurd.“ 


Sonst war man aber recht frei, was Geiler manche schwere 
Stunde bereitet und ihn sagen läßt: „Es sein etlich, die hof- 
fieren irem Elsell (= Elschen) mit greiffen hin und wider, 
hinden, jetzt vornen, jetzt oben, dann unden, und treiben ir 
narrenspiel also mit einander, daß offtermals auß dem schimpff 
(= Spaß) ein ernst wirdt. Darnach sein etlich, die greiffen 
ire bulschafft an den kleidern an oder henden oder geben ir 
einen heimlichen kuß, daß es jederman höret.“ 


(Fortsetzung folgt.) 


KZ 


Geschlecht und Gesellschaft, 
Neue Folge XI, 3 


+ ES pg DE emm eg 


-uadaomyuy uf OYI IYW 'OE + "(UIOM зәро) uadsıg ur „st unf -ggZ oa susana “a 








A чол зэм мәә цои Zuch) 


Tafel I 





APHRODITE. 


Dem heutigen „freien“ Deutschland ins Stamm- 
buch als Gegenstück zu blamablen Prozessen. 


Von FERD. FRHR. VON REITZENSTEIN, Dresden. 


E: war irgendwo in einem alten Park. Träumerisch guckten 
die grauen Mauern eines Lustschlosses durch Gesträuch 
und Ranken. Verlassen, still und einsam, genau wie die Wasser- 
werke, die in der Nähe liegen. Und darüber rauschten die alten 
Bäume eine Melodie. Liebesgeschichten vielleicht aus einer 
vergangenen Zeit, die sie miterleben durften. Aus einer Zeit, 
die man die „gute alte“ nannte. Deren Sittlichkeit man der 
heutigen Generation immer predigt. Nun, vielleicht war die 
Zeit sittlicher, weil sie — ehrlicher war. Aber so meinen 
es die, die heute Sittlichkeit predigen, ja gar nicht. Für sie ist 
jene gute alte Zeit durchaus nicht die Zeit von ehedem, sondern 
eine Zeit, die nur in ihren Träumen existiert. In Träumen, 
die nicht umweht werden von dem Zauberhauch einer fast leicht- 
sinnigen, schwülen Liebesluft, wie sie damals fächelte, sondern 
vom Moderduft der Grüfte, in denen heute die ruhen, die damals 
lebten, sich der goldenen Sonne freuten, die noch heute durch 
die Gipfel der alten Bäume ihre schaukelnden Lichter wirft, 
leicht und tändelnd, und die grauen Mauern vergoldet. 

Es ist eine Lüge, wenn man jene Zeit als eine Periode 
asketischen Lebens malt. Schlagworte, bei denen der Wunsch 
Vater des Gedankens ist. Denn die Zeit, in der die so ge- 
priesene Askese von heute regierte, gab es nie! Ein Märchen, 
tendenziös und armselig, ein Märchen ohne Vergangenheit, eine 
MißgeburtkrankerGehirne. Wir gehen weiter, einen Lauben- 
gang hindurch. Am Ende rieselt eine Quelle, heute wie einst, 
und daneben leuchtet durch Zweige, Ranken und Blüten ein 
altes Marmorbild. „Ein nacktes Mädchen“ sagt der Volks- 
mund, „ein schamloses Frauenzimmer“ sagt die Moral 
und hält die Hand mit gespreizten Fingern vor die Augen. 
Aphrodite, die Liebesgöttin, nennt sie der, der Bildung besitzt. 
Es verlohnt sich, hier zu weilen. Nicht auf dem Platze vor 
ihr, wo die kleinen Kieselsteine auf dem halb verlornen Wege 
liegen, den eine alte Gärtnerhand aus Anhänglichkeit in Stand 
hält, sondern dahinter, auf moosbewachsenem Felsblock, verdeckt 
durch schweigsames Grün. 

5 


66 Reitzenstein: Aphrodite 


Ein Reisebuch bildet sie ab und macht darauf aufmerksam; 
denn sie ist das Werk eines großen Meisters. Da kommen 
manche, sie zu beschauen, Berufene und Unberufene, wie das 
immer der Fall ist. Wenn sie mindestens zu zweit sind, dann 
urteilen sie auch, jeder so gut er kann. 

Zunächst zwei ältere Herren: „Also das ist „Schönheit“. 
Hm, ganz hübsch, aber doch nichts besonderes! Du, die Tänzerin 
gestern Abend im Kabarett hat mir besser getallen, die zierlichen 
Füßchen, die feinen Strümpfe, die rauschenden Röckchen ... 
Wenn man die einladen könnte zu einem Abendbrot! — —“ 
Die Kieselsteine knarren und ich höre noch: „In der Weinstube 
„Zum Apfel“ soll ein guter Tropfen sein.“ — „Gehen wir doch 
.heute vorher nochmals ins Kabarett... Warum man eigentlich 
die Figur nicht wegschafft in ein Museum oder so. Wenn sie 
Kinder sehen! ... .* Schritte und Stimmen verhallen. 

Und wieder klirren Kieselsteine. Eine derbe Gestalt mit 
Wadenstrümpfen und eine beinahe noch derbere Begleiterin. 


„Schau, a nacketes Weib!“ — „Dös soll schö sei, zerbrecha 
tuats, wann ma’s afaßt!* — „Brauchsts net aschaug’n, wann’s 
dr nett g’fallt!“ -- „Na, unser Dirn g’fallt ma bessa .. .“ 


Kleine Eifersuchtsszene. 

Und wieder nahen Schritte. Zwei Männergestalten, Der 
eine mager, in schwarzem Gehrock, der andere klein, mit miß- 
gebildetem Kopf. „Es ist doch stark, in einem öffentlichen 
Park wieder so ein nacktes Frauenzimmer und noch dazu in 
der versteckten Ecke! Ist denn hier noch kein Sittlichkeits- 
verein, der solche skandalöse Figuren wegschafft? Diese 
Brust und nicht einmal ein Feigenblatt! Das reizt doch zum 
sinnlichen Verkehr! Unsere unschuldige Jugend muß ja ver- 
dorben werden! In der guten alten Zeit kam so etwas nicht 
vor, aber heute greift die Unsittlichkeit immer mehr um sich. 
Wo soll das noch hinführen? Schicken Sie doch jemand auf 
die Polizei, ich bin außer mir, das muß abgestellt werden!“ 
Und ich höre Schilderungen von Verführungsszenen und 
wundere mich, woher der alte Herr das alles weiß. 

Sie gehen, und es ist mir, als ob es leise durch die Blätter 
lispelt: „Was wollten die denn, ich bin doch aus der guten 
alten Zeit, aus der schönen alten Zeit, wo der Herr Bischof 
noch hier in seinem Lustschloß die Sommer zubrachte und gar 
manches Dämchen vom Hofe hier im Mondenschein wartete... .“ 
Die gute alte Zeit! 


Reitzenstein: Aphrodite 67 


Von ferne rauschen Blätter, Zweige krachen und Schritte 
kommen näher. „Ein prachtvoller Park, die wunderbaren 
Szenerien, nichts stört den Hauch der Vergangenheit, diese 
Stille! Unsere Vorfahren hatten recht, wenn sie den Geist 
ihrer Gottheit nur im Rauschen ihrer Wälder preisen konnten ...“ 
Sie bleiben stehen... Lautlose Ruhe, dann löst der Ausruf: 
„Herrlich!“ das Schweigen. „Das ist sie also, die berühmte 
Aphrodite. Ein Meisterwerk! Und welch’ feiner Geist muß 
der Bischof gewesen sein, der sie gerade hier in diese 
stimmungsvolle Umgebung bringen ließ. Kann man sich etwas 
denken, was den Volksgeschmack mehr bilden könnte? Man 
sollte Schulen hierher führen und sie lehren, wie rein der 
menschliche Körper ist. Dieser herrliche, edle Körper in seiner 
vollendeten Schönheit in diesem heiligen Tempel der Natur! 

Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen, 
Und haben sich, eh’ man es denkt, gefunden; . 
Der Widerwille ist auch mir verschwunden. 
Und beide scheinen gleich mich anzuziehen. 

Ja, Goethe hatte recht, hier sind seine Worte zur Wahr- 
heit geworden. Ob man in diesem Städtchen versteht, welches 
Juwel man hier besitzt? Hoffentlich sorgt die Regierung dafür, 
daß es erhalten bleibt!“ 

Wieder lispelt es durch die Blätter: „Ob die wohl aus der 
guten alten: Zeit herniedergestiegen sind? Sie sprachen von 
Goethe! Wie gern stand er hier. Lange, lange habe ich nichts 
mehr von ihm gehört. Ich bin froh, die Deutschen kennen ihn 
noch...“ 

Und die Abendsonne übt ihren Zauber: den kalten Marmor 
umfließt ein zartes Rot. So sah sie aus, die gefeierte Schön- 
heit der kleinen bischöflichen Residenz, die das Vorbild war 
der Aphrodite von... 

Viel haben wir gehört und alles war anderer Meinung. 
Den Spießbürger, den Mann aus dem Volke, den Moralfanatiker 
mit seiner krankhaften Phantasie und seinen degenerierten Be- 
gleiter und den wahrhaft Gebildeten. Wie kommen nun 
diese Urteile zustande? Alle Dinge üben auf uns einen 
bestimmten Reiz aus, ungewohnte einen besonders starken. 
Jeder Reiz hinterläßt im Gehirn Erinnerungsreste, und es bilden 
sich im Laufe des Lebens zahllose, die unserem Bewußtsein 
aber wieder verloren gehen. Sie ruhen gleichsam verborgen 

5* 


68 Reitzenstein: Aphrodite 


im Unbewußten. Ein neuer Reiz kann einen Teil von ihnen 
wieder wecken. Sie treten über die Bewußtseinsschwelle ins 
Bewußtsein zurück: sie fallen uns wieder ein. Die Fähigkeit, 
dies zu ermöglichen, nennt man das Gedächtnis, sie selbst 
aber Erinnerungsbilder oder Vorstellungen. Nun ist der Zustand 
der Nacktheit der von der Natur gegebene und kann also 
nicht unsittlich sein, denn an sich ist die Natur das Unver- 
gängliche, Unabänderliche, der letzte Maßstab alles Mensch- 
lichen, während die Kleidung immer sekundär, d. h. ein von 
der Kulturentwicklung geschaffener Begriff ist. Sie entstand, 
wie moderne Wissenschaft einwandfrei zeigte, nicht aus dem 
Schamgefühl, sondern dieses aus ihr! Ein nackter Körper ist 
an sich weder sittlich noch unsittlich; ist indifferent. Daß 
jemand im nackten Körper etwas Unsittliches sieht, liegt daran, 
daß der Reiz, der von ihm ausgeht, aus seinem Unbewußten 
Erinnerungsbilder hervorruft, die ins Bewußtsein treten und 
geschlechtlich gefärbt sind. In seinem Gehirne entsteht also 
ein Geflecht zwischen unsittlichen Vorstellungen und dem Nackten. 
Er setzt seine eigene unlautere Gedankenwelt an Stelle des 
gegebenen, indifferenten Begriffes. 

Das schöne Nackte wird dagegen aus dem Unbewußten 
des künstlerisch empfindenden Menschen ästhetische, d. h. schöne 
und edle Vorstellungen wecken. Das unschöne Nackte da- 
gegen zwar widerliche, aber ebenfalls keine unsittlichen. 
Ob man das Nackte mit dem Maßstab des Sittlichen oder des 
Natürlichen und Künstlerischen mißt, hängt davon ab, welche 
Erinnerungsbilder damit in den Gehirnzentren verknüpft werden, 
mit anderen Worten: von der Erziehung und der Selbsterziehung. 
Wer das Nackte für unsittlich erklärt, dokumentiert öffentlich, 
daß er über eine schlechte Erziehung verfügt und dabei auch 
früher das Nackte mit unsauberen Gedanken in Verbindung 
brachte. Er verfügt über keine anständigen Erinnerungs- 
bilder, während doch alles Nackte in ewiger unveränderlicher, 
reinnatürlicher Art vor ihm steht. Er ist unerzogen, ungebildet. 

Unsittlich wirkt dagegen das Feigenblatt, die 
Kastration von Kunstwerken, wie überhaupt jede Verstümmelung, 
die unbegründet ist oder gar den Naturgesetzen widerspricht. 
All diese Momente zwingen dazu, den Blickpunkt auf. diese 
widernatürliche Stelle zu verlegen und so gerade geschlecht- 
liche Erinnerungsbilder zu wecken, wo sie normaler Weise bei 


Reitzenstein: Aphrodite 69 


gesunder Erziehung nicht geweckt worden wären. Unsere 
Erziehung muß also dafür sorgen, daß die Jugend möglichst 
wenige unsittliche Erinnerungsbilder erwirbt, daß sie 
an das Nackte, ja sogar an einen leichten.Einschlag von Ero- 
tik gewöhnt wird, damit edle, ästhetische Erinnerungsbilder 
entstehen und sie Kunstwerke aller Art als das betrachten 
lernt, was sie sind, als die Krone menschlichen Schaffens. 
Es ist das größte Armutszeugnis, wenn man sagt, man habe 
den größten Künstlern — also den größten Interpreten der un- 
vergänglichen Natur — seine eigene krankhafte Meinung gesagt. 
Das Malen der fleischlichen Lust, auch wenn man den 
Teufel daneben pinselt und Moral dazu predigt, schafft ja erst 
die unsittlichen Erinnerungsbilder. 

Wer die weibliche Brust als unsittlich verhüllt und 
von ihr unsittliche Erinnerungsbilder in der Seele entwirft, müßte 
folgerichtig auch den männlichen Bart verhüllen, denn auch 
er ist „ein Geschlechtsmerkmal mitten im Gesicht“, wieSchopen- 
hauer sagt. Tut er das, dann schafft er ein neues, geschlecht- 
liches Reizmittel, denn seine Verhüllung oder Enthüllung würde 
dann unsittliche Erinnerungsbilder wecken, da ja Brust und 
Bart beide sekundäre Geschlechtsmerkmale sind. Es liegt also 
an der krankhaften, moralistischen Erziehung, daß unsere Zeit 
immer reizbarer wird. Sicher aber ist, daß die Polizei und 
der Richter nicht dazu da sind, immer nur der Büttel für die 
krankhaft veranlagten oder für die Menschen zu sein, die 
über unsaubere Erinnerungsbilder verfügen. Und die Zensur 
erst recht nicht. Es darf nicht sein, daß von Amts wegen unsere 
Zeit und unsere größten Führer mit brutaler Macht ihrer ge- 
schaffenen Werke entkleidet werden und die Nachwelt über 
uns lacht, weil wir keine kulturellen Schätze hinterlassen haben. 
Aufgabe der Regierung ist es, Kulturführer zu schützen und 
Kranken den Eintritt in ein Sanatorium zu ermöglichen. Auch 
die Menschen mit reinen Erinnerungsbildern haben ein Recht! 

Das ist das Geheimnis der marmornen Aphrodite. 


SS 


70 Rutgers: Klärungsversuch d. ältest. u. bekannten Verwandtschaftssystems 


KLÄRUNGSVERSUCH DES ÄLTESTEN UNS 
BEKANNTEN VERWANDTSCHAFTSSYSTEMS. 


Von Dr. med. J}. RUTGERS, Lochem, Holland. 


enn Morgan in seiner klassischen Arbeit: Ancient 

Society (London, 1877, Vol. II, Chap. I) das alt-australische 
Verwandtschaftssystem beschreibt, wo die Bevölkerung nicht 
nur in Gentes, sondern jede Gens wieder in acht Klassen unter- 
verteilt ist, deren Mitglieder nicht unter sich heiraten dürfen, 
wobei noch das sonderbarste ist, daß jede nächstfolgende Gene- 
ration zwar in der eigenen mütterlichen Gens bleibt, aber jedes- 
mal in eine andere Klasse umwandert..... da fängt es uns 
an vor den Augen zu flimmern. Morgan selbst nennt es dann 
auch „a stupendous scheme“ (Seite 49) und fügt weiter (Seite 51) 
hinzu: „Although the class-system when traced out fully, involves 
some bewildering complications, it will reward the attention 
necessary for its mastery.“ 

Diese Schwierigkeiten lassen es notwendig erscheinen, das 
Material durchzuarbeiten, weil nach Morgan darin das aller- 
primitivste Verwandtschaftssystem liegt, das uns bis jetzt bekannt 
geworden ist, und zugleich den Schlüssel liefert zum rechten 
Verständnis der Punalica-Ehe. 

Ich gebe zunächst die wichtigste Übersichtstafel nach 
Morgan (Seite 56), mitsamt der Erläuterung, die er hinzugibt. 
Er beschreibt das Klassensystem bei den Kamilaroi, die am 
Darlingfluss N. von Sydney wohnen. 

Nach den vorangegangenen Erläuterungen wird man die 
Zusammensetzung der Gentes verstehen können, wenn man sie 
in ihrem Verhältnis zu den Klassen darstellt. Diese Klassen 
stammen von einander ab in Paaren von Brüdern und Schwestern; 
und die Gentes selbst stehen mittelst dieser Klassen auch zwei 
an zwei miteinander in Verbindung; also: 

6 Gentes: 5 Klassen: 
männl. weibl. männl, weibl. 


Iguana sind alle entweder Murri und Mata oder Kubbi und Kapota 
Emu an = Kumbo „ Buta „ Ірраі „ Ippata 


Kangoroo ,„ 5 x Murri „ Mata „ Kubbi „ Kapota 
Bandicoot „ e Se Kumbo „ Buta „ Ippai „ Ippata 
Opossum Gr: ` wë Gë Murri „ Mata „ Kubbi „ Kapota 
Blacksnake „ „ ée Kumbo „ Buta „ Ippai „ Ippata 





Rutgers: Klärungsversuch d. ältest. u. bekannten Verwandtschaftssystems 71 


Die Beziehung der Kinder zu einer bestimmten Gens, ist 
aus den Heiratsgesetzen herzuleiten: ein Iguana-Mata-Mädchen 
darf nur einen Kumbo-Mann heiraten; ihre Kinder gehören zur 
Kubbi und Kapota-Klasse in der Gens Iguana, weil das Kind 
dem Stamm der Mutter folgt. In der nächsten Generation heiratet 
dann so ein Iguana-Kapota-Mädchen einen Ippai-Mann; ihre 
Kinder werden dann wieder der Murri- und Mata-Klasse ange- 
hören, in der Gens Iguana aus gleichem Grunde. 

Ebenso geht es in der Gens Emu. Alle Emu-Buta-Mädchen 
heiraten Murri-Männer; ihre Kinder gehören zur Ippai- und 
Ippata-Klasse in der Gens Emu. In der nächsten Generation 
heiratet dann so ein Emu-Ippata-Mädchen einen Kubbi-Mann; 
ihre Kinder werden wieder der Kumbo- und Buta-Klasse der 
Gens Emu angehören. 2 

Bis hierher Morgan. Man sieht, er hat nicht zu viel ge- 
sagt, als er dieses System „a stupendous scheme“ nannte, und 
den verschiedenen späteren Autoren ist es noch viel weniger 
gelungen sich in diesem System zu orientieren. Ich meine aber 
den Schlüssel gefunden zu haben, um dieses System zur völligen 
Klarheit zu bringen. Es wäre ja auch unwahrscheinlich, daß 
das primitivste System der Familienverwandtschaft zur gleichen 
Zeit das komplizierteste wäre. 

Ich möchte jetzt den Leser bitten, vorläufig ganz Abstand zu 
nehmen von Morgan, von den Australiern, von den „Wilden“ 
und von den „Barbaren“. Wollen wir uns an einem schönen 
Sommertag auf die Heide versetzt denken, wo nur einige wenige 
ärmliche Hütten zu erblicken sind, die in kleinen Gruppen auf 
der unendlich weiten Ebene zerstreut liegen. 

Denken wir uns weiter zwei dieser Bauernhütten nahe bei- 
sammen und bewohnt von Familien, die einander nicht verwandt 
sind. Der Sohn wird dann eheliche Beziehungen anknüpfen 
mit einem Mädchen der anderen Familie, nicht mit der älteren 
Generation, und gewiß werden auch die Geschwister unter sich 
nicht heiraten dürfen. Man findet also auch hier noch immer 
die männlichen Beschränkungen im Wahlkreis der Ehe, wie bei 
den genannten Alt-Australiern. Wird ein Sohn geboren, dann 
wird ihm der Name seines Großvaters gegeben, wie dies ehe- 
mals allgemein üblich war. 

Denken wir uns nun weiter, doch nicht zwei einzeln stehende 
Bauernhütten, sondern zwei kleine Dörfer oder Häusergruppen 


72 Rutgers: Klärungsversuch d. ältest. u. bekannten Verwandtschaftssystems 


nahe aneinander liegend. Die Einwohner jedes der beiden Dörf- 
chen sind unter sich zu nahe verwandt um unter sich heiraten 
zu wollen, sie sind aber mit denen des anderen Dörfchens nicht 
verwandt. Die Namengebung ist in beiden Dörfern so primitiv, 
daß, wenn der älteste Sohn einmal Hans genannt worden ist, 
auch alle anderen Brüder Hans genannt werden*), resp. wenn 
die älteste Schwester Grete heißt, alle andern Schwestern auch 
einfach Grete heißen. In der nächsten Generation werden viel- 
leicht alle Männer Karl, und alle Weiber Lise heißen. Die Enkel 
natürlich wieder alle Hans resp. Grete usw. Das gleiche gilt 
‚auch für die andern Dörfchen. Hier werden in der älteren 
Generation alle Männer vielleicht Peter und alle Weiber Petro- 
nelle heißen; in der jüngeren Generation alle Burschen Michel, 
und alle Mädchen Michaela. Es leuchtet ein, daß in diesem 
Fall alle Burschen, die Karl heißen, eheliche Beziehungen an- 
knüpfen werden mit den Mädchen, die Michaele heißen, und 
alle namens Michel mit Mädchen namens Lise. 

Wir wollen jetzt das eine Dörfchen Dahlem, das andere 
Urgan nennen. Mit der Zeit wird die Bevölkerung der beiden 
Dörfchen im Verhältnis zu den vorhandenen Existenzmitteln zu 
zahlreich werden. In einiger Entfernung, wo noch neues Acker- 
land urbar zu machen ist, und wo sie deshalb an sich schon 
öfter verweilten, werden jetzt neue Ansiedlungen: Neu-Dahlem 
und Neu-Urgan gegründet. Die nämlichen ehelichen Verhält- 
nisse werden sich auch hier abspielen. Weil die Identität der 
Namen die Erinnerung an der Blutverwandtschaft immer wieder 
wach ruft, werden auch später die Neu-Dahlemer Einwohner 
nicht mit Einwohnern aus Dahlem sich verheiraten und ebenso 
nicht die Neu-Urganer Leute die mit denen von Urgan. Höchstens 
würden die Neu-Dahlemer mit Urganern, und Neu-Urganer mit 
Dahlemer Einwohnern Verbindungen eingehen, es wird dies aber 
nicht leicht vorkommen, schon wegen der Entfernung und wegen 
der Eifersucht der anderen Berechtigten. 

Im Laufe der Jahrhunderte werden immer neue Dörflein 
gegründet werden, je nachdem die Bevölkerung zunimmt und 
die Urbarmachung des Bodens Fortschritte macht. 


*) In einer sehr abgelegenen Ortschaft in primitivster Umgebung habe 
ich auch selbst einmal einen Fall erlebt, wo zwei Brüder einfach identische 
Taufnamen hatten. 


Rutgers: Klärungsversuch d. ältest. u. bekannten Verwandtschaftssystems 73 


Ich werde jetzt diesen einfachst denkbaren Fall von ehe- 
lichen Verhältnissen übersichtlich in einem Schema darstellen, 
sechs Dörflein und acht Namensgruppen umfassend, die mit 
jeder Generation wechseln. 


Dörfchen Namensklassen Dörfchen Namensklassen 
männl. weibl. männl. weibl. 
Dahlem Urgan 
alle heißen Hans und Grete alle heißen Peter u.Petronella 
nächste Generation Karl , Lise nächste Generation Michel „Michaela 
Neu-Dahlem Neu-Urgan 
alle heißen Hans und Grete alle heißen Peter u.Petronella 
nächste Generation Karl „ Lise nächste Generation Michel „ Michaela 
Hinterwald-Dahlem Hinterwald-Urgan 
alle heißen Hans und Grete alle heißen Peter u.Petronella 
nächste Generation Karl ,„ Lise nächste Generation Michel „Michaela 


Es ist auch hier wieder einleuchtend, daß die Karlgruppe 
aus Hinterwald-Dahlem eheliche Beziehungen anknüpfen wird 
mit der Michaelagruppe aus Hinterwald-Urgan, und jeder Michel 
daselbst mit einer Lise aus Hinterwald-Dahlem. Etwas ein- 
facheres läßt sich nicht denken. 

Jetzt kommen wir wieder zu Morgan und seinen Alt- 
Australiern. Hier liegt die Sache noch einfacher als wie sie 
unsern heutigen individualistischen Begriffen je möglich wäre, 
weil bei den Australiern die Ehe nicht ein Band zwischen zwei 
bestimmten Personen war, sondern ein Gruppenverhältnis. 
Alle Brüder namens Hans sind sämtlich die rechtmäßigen Gatten 
aller Petronella-Schwestern in der anderen Gens, und alle Grete’s 
die Gattinnen aller Peter’s en bloc. 

Die Gruppenehe versetzt uns in die ältesten Perioden der 
Mutterfolge. Bei einer solchen Ehe wird nicht umgezogen. 
Die Männer bleiben auf ihrem Bauerngehöfte wohnen, wo sie 
ihren Kommunalbesitz jedoch nicht im Stich lassen können 
und besuchen nur gelegentlich, wenn sie etwas zu verschenken 
haben, nachts beim Mondschein die Schwesterschar der nächsten 
Gens. Erst später kam man zu individuellen Praeferenzen und 
es entwickelten sich Beziehungen, wie sie jetzt noch vielfach 
auf dem Lande als Verlobungszeit üblich sind, in den Städten aber 
als äußerlicher Verkehr bezeichnet werden. Die Kinder werden 
ursprünglich im Hause der Mutter großgezogen. 

Schließlich wird der Leser sich wundern, wenn ich Gens und 
Dörflein miteinander in Parallele bringe, wiewohl ersteres auf 


74 Rutgers: Klärungsversuch d. ältest. u. bekannten Verwandtschaftssystems 


Blutverwandtschaft, letzteres auf ein geographisches Zusammen- 
wohnen hinweist. Ursprünglich aber waren beide Begriffe nicht 
zu trennen, sie waren eben identisch. Erst später wurden die 
ökonomischen Verhältnisse mehr kompliziert und so hat die 
Gensverfassung der örtlichen Verfassung weichen müssen. Doch 
sind noch immer viele Ortsnamen Tiernamen, wie die austra- 
lischen und amerikanischen Gensnamen auch öfters Tiernamen 
waren. 

Zum Schluß will ich jetzt noch einmal das genannte Schema 
von Morgan übersichtlich darstellen. 


Gentes Namensklassen Gentes Namensklassen 
männl. weibl. männl. weibl. 
Iguana Emu 
alle heißen Murriund Mata alle heißen KumboundButa ` 
nächsteGenerationKubbi „ Kapota nächste Generation Ippai „ Ippata 
Känguruh Bandicot 
alle heißen Murriund Mata alle heißen Kumbo und Buta 
nächsteGenerationKubbi „ Kapota nächste Generation Ippri „ Ippata 
Opossum Blacksnake 
alle heißen MurriundMata alle heißen Kumbo und Buta 


nächste Generation Kubbi „ Kapota nächste Generation Ippai „ Ippata 


Jetzt ist es klar, daß bei der älteren Generation die Iguana- 
Mata-Mädchen sich mit der Kumbo-Gruppe verbinden, und daß 
die Kinder in der Iguana-Gens alle zur Kubbi- und zur Kapota- 
Klasse gehören werden. In der jüngeren Generation verbinden 
sich dann die Iguana-Kapota-Mädchen mit der Ippai-Klasse, 
ihre Kinder werden alle wiederum nach ihren Großeltern Murri 
und Mata genannt werden. 

Ebenso werden die Emu-Buta-Mädchen sich mit der Klasse 
der Murri-Männer verbinden und die Kinder werden in der 
Gens Emu alle zu der Klasse der Ippai und der Ippata gehören, 
die Emu-Ippata’s mit den Kubbi-Männern, wobei dann die 
Kinder wieder die Namen der Großeltern Kumbo und Buta 
erhalten. 

Alles was dann Morgan weiter von diesem Klassen-System 
sagt, wird jetzt ebenfalls klar. Ich will dem Leser Wieder- 
holungen sparen. 

Wenn man bedenkt, daß in der primitiven Kultur der Name 
das eigentliche Wesen eines Menschen ist und alle seine Rechte 
zusammenfaßt, dann verspürt man, wie eine rührende Familien- 
solidarität und Pietät diesem System von Namensklassen zu 


Fehlinger: Von Liebe und Ehe in Japan 75 


Grunde liegt, so war es auch das wirksamst denkbare Mittel 
um Inzucht zu verhüten. Nur eine ungeeignete mathematische 
Formulierung konnte diese so einfachen Verhältnisse verfinsteren 
und zu einem „unklaren System“ umgestalten. 

Doppelt genial aber dachte Morgan, daß er nichtsdesto- 
weniger dieses System als das primitivste System erkannt hat. 


SS 


VON LIEBE UND EHE IN JAPAN. 
Von H. Fehlinger. 

С" manche Besucher Japans, die sich von den europäischen 

Begriffen über die Nacktheit des Körpers und ihre Be- 
ziehungen zur geschlechtlichen Sittlichkeit nicht frei machen 
konnten, sagten den Japanern gering entwickeltes Schamgefühl 
und lockere Sitten nach, weil diese lange nicht in dem Maße 
wie wir Europäer es gewohnt sind, sich dicht in die Kleider 
hüllen. In Wirklichkeit aber wirkt die Nacktheit bei Japanern, 
Männern wie Frauen, wenig sexuell anreizend. Eine ganz oder 
halb entblößte Frau zudringlich anzusehen, wird dem Japaner 
niemals einfallen, und wenn der Europäer seinem Beispiel folgt, 
so bewegt sie sich vor seinen Augen ebenso natürlich und 
ungezwungen, wie vor ihren eigenen Landsleuten. Stratz*) sah 
vor Badehäusern in Yumoto völlig entkleidete Männer, Frauen 
und Kinder in traulichem Gespräch beieinander sitzen. Auch 
auf dem Weg von und nach den Badehäusern war am Morgen 
die weibliche Kleidung eine sehr bescheidene. In den Dörfern 
konnte er häufig halb oder ganz entkleidete Mädchen hinter 
den offenen Türen oder in den Höfen der Häuser bei der Ar- 
beit beobachten. Im gewöhnlichen Leben fällt die Nacktheit 
nicht auf, sie gilt da nicht als sittlichkeitsverletzend.. Wo je- 
doch der europäische Einfluß zur Geltung kommt, wie in den 
Küstenstädten, dort verbirgt die sittsame Frau ihren Körper 
vor dem sinnlichen Blick der Europäer ebenso wie vor ihres- 
gleichen. Der von entkleideten Mädchen ausgeführte National- 
tanz Dschonkina wurde von der Regierung in allen Küsten- 
plätzen verboten, nicht weil er an sich unsittlich ist, sondern 
weil er durch den europäischen Einfluß unsittlich aufgefaßt 
wurde und dadurch entartete. 


*) C.H. Stratz, Rassenschönheit des Weibes, 5. Aufl., S. 105—106. 


76 Fehlinger: Von Liebe und Ehe in Japan 


In Anbetracht der Tatsache, daß die Nacktheit in Japan 
nicht sittlich anstößig ist, und daß die Verhüllung des Körpers 
nicht soweit getrieben wird wie in Europa, ist es auffallend, 
daß das japanische Schönheitsideal neben Gesicht und Händen 
nur den bekleideten weiblichen Körper berücksichtigt. Als schön 
gelten Frauen mit langem schmalem Gesicht und feinen Zügen, 
schmaler gewölbter Nase, schmalem Kinn und schlankem Hals, 
magerer Gestalt, kleinen Brüsten, nicht vorspringenden Hüften 
und zartem Gliederbau. Die Zartheit dieses feinen Typus 
(Choshiu-Typus genannt), schrieb E. Baelz, artet nur allzuoft 
ins kränkliche aus. Der durchscheinende, marmorblasse Teint, 
die glänzenden schönen Augen, der sanfte rote Hauch auf den 
Wangen, verkünden dem erfahrenen Blick Unheil. Schädlich- 
keiten und Stürmen vermöge diese schlanken Frauengestalten 
nicht zu trotzen, sie werden leicht‘Opfer der Tuberkulose. Des- 
halb konnte auch der feine Typus der Frau, obzwar er dem Rasse- 
ideal entspricht, nicht zum herrschenden werden. Er kommt 
vornehmlich — aber nicht ausschließlich — in den sozial höher 
stehenden Volksschichten vor. 

Unter den Bauern und den niederen Klassen der Stadt- 
bewohner ist der plumpe Frauentypus (oder Satsuma-Typus) 
vorherrschend, der durch kräftigen robusten Körperbau, nament- 
lich breite Hüften, und durch ein der mongolischen Rassen- 
eigenart entsprechendes breites Gesicht mit vorspringenden 
Jochbogen, breiter stumpfer Nase und großem Mund mit wulstigen 
Lippen ausgezeichnet ist. 

Nach europäischen Vorstellungen am besten gebaut ist der 
mittlere Typus. Die Gestalt ist gleichweit entfernt von der 
Magerkeit und Schlaffheit des feineren wie von der plumpen 
Fülle des niederen Typus. Das Gesicht hat fast stets etwas 
Liebliches, eigentlich schön ist es selten. Es ist verhältnismäßig 
breit, aber wegen der wohlgebildeten Weichteile springen die 
Jochbogen nicht häßlich vor. Die Augen sind wenig schief. 

Dicke, volle Formen bei Frauen sind nach japanischer An- 
sicht Zeichen unschönen Überwiegens des Rohsinnlichen, Ma- 
teriellen, während man bei einem schönen Weibe das Verfeinerte, 
Ästhetische, das Überwiegen des höheren, dem Rohmateriellen 
fernstehenden Elements sucht. 

Breite Hüften gelten für das Unfeinste, was am weiblichen 
Körper vorkommen kann. Eine schlaffe Brust wird gern ver- 


Fehlinger: Von Liebe und Ehe in Japan 77 


ziehen (man sieht sie ja meist nicht), ein plumper Fuß und ein 
häßlicher Gang sind entschuldbar, aber breite Hüften nie. Der 
Japaner will zierliche Hüften sehen, schlank wie eine Weide. 
Deshalb betrachtet es eine Frau als Unglück, wenn ihr die 
Natur ein breites Becken verliehen hat. 

Die körperliche Entwicklung der japanischen Knaben und 
Mädchen hält (nach Baelz) bis zum 15. oder 16. Jahr mit der 
der Europäer Schritt; dann aber bleibt sie plötzlich weit zurück 
und das Wachstum wird bald vollendet. Der Eintritt der Ge- 
schlechtsreife findet nicht so früh statt, wie man in Europa 
gewöhnlich glaubt. Von 240 Mädchen hatten die erste Men- 
Struation: 

2 im 11. Jahr 64 im 15. „ 
Б Тм Hr E 
30.421, % St wv TÉL 
ЭФ... 142 5 10 „ 19. „ 

Die Entwicklung des Busens fällt etwas früher als die 
Menstruation. Die Behaarung der Genitalien tritt bei beiden 
Geschlechtern spät auf. 

Die Ehe schließen viele Japaner in verhältnismäßig jugend- 
lichem Alter und die starke Verbreitung der Frühehe ist wohl 
die wichtigste, wenn schon nicht die einzige Ursache davon, 
daß ein Rückgang der Geburtenziffer in Japan nicht stattfand. 

Das weibliche Geschlecht heiratet im allgemeinen in jüngerem 
Alter als das männliche. Auch im Gesetze ist ein Unterschied 
festgelegt, denn das mindeste Heiratsalter ist für männliche 
Personen das vollendete 17., für weibliche das vollendete 15. 
Jahr. Vergleichen wir, nach dem Geschlechte getrennt, das 
Heiratsalter in Japan und in Deutschland, so erhalten wir fol- 
gendes Bild*): 

Männl. Geschlecht Weibl. Geschlecht 
Alter der Ehe- Japan Deutschld. Japan Deutschld. 
schließung: (1899—1910) (1901—1910) (1899—1910) (1901—1910) 


weniger als 20 Jahre 62 1 295 84 
20—25 „ 330. 293 418 486 
25—30 „ 328 428 169 274 
30—40 , 199 205 90 116 
40—50 „ 56 46 21 30 

über 50 „ 25 27 7 10 


*) Nach Jaeckel: Das Heiratsalter im modernen Japan. Zeitschrift für 
Sozialwissenschaft, N. F., 6. Jahr., S. 896—713. 


78 Fehlinger: Von Liebe und Ehe in Japan 


Es ist bemerkenswert, daß auch in Japan noch eine Zahl 
von Männern im Alter von mehr als 50 Jahren heiratet, obzwar 
sie dort bereits als „Inkyo“ oder Greise gelten, die sich vom 
täglichen Leben zurückziehen und all ihre Habe den Söhnen 
übergeben sollen. 

Die im Alter von weniger als 20 Jahren heiratenden Männer 
haben in den elf angegebenen Jahren an Zahl stark abgenommen 
und zwar sowohl absolut wie relativ. Die weiblichen Früh- 
heiratenden weisen in der ganzen Periode wohl mannigfache 
Schwankungen aber keinen absoluten Rückgang auf; relativ hat 
sich ihre Zahl jedoch auch beträchtlich vermindert. In sämt- 
lichen anderen Altersklassen hat die Zahl der Eheschließenden 
beider Geschlechter zugenommen. Der Einfluß der Kriegs- und 
wirtschaftlichen Krisenjahre auf die Heiratshäufigkeit tritt beim 
männlichen Geschlechte deutlicher hervor als beim weiblichen. 
Es zeigt sich aber, daß das weibliche Geschlecht im Heirats- 
alter sich dem Manne anpaßt. Ist der Mann in einem be- 
stimmten Alter allgemein verhindert zu heiraten, so weisen auch 
die Frauen der gleichen oder entsprechenden Altersklassen ein 
Minus auf. Die langsame Erhöhung des Heiratsalters zeigen 
beide Geschlechter, das männliche jedoch stärker. 

Persönliches Liebeswerben ist nur bei den unteren sozialen 
Schichten üblich. Bei den Oberschichten spielt es keine Rolle. 
Hier werden die Ehen fast stets von den Eltern oder nächsten 
Verwandten abgemacht, oder man bedient sich eines Vermittlers 
(„Nakodo“), dessen Pflicht darin besteht, der Beteiligten Charak- 
ter, Gewohnheiten, schlechte und gute Eigenschaften und Körper- 
mängel gegenseitig zur Kenntnis zu bringen und alles aufzu- 
bieten, um die Angelegenheit günstig abzuschließen. Schließlich 
bringt der Vermittler eine Begegnung des Paares zustande und 
wenn nachher der eine Teil mit dem anderen nicht zufrieden 
ist, wird das Verhandeln abgebrochen. 

In früheren Zeiten wurden in den unteren Volksschichten 
verhältnismäßig wenige Ehen formal geschlossen. Die Ehe war 
innerhalb eines Standes ganz Privatsache. Erst 1870 erging 
ein Erlaß, wonach zu jedem Ehebündnis die obrigkeitliche 
Kenntnis und Genehmigung erforderlich ist. Im folgenden Jahre 
schaffte man die Standesschranken gegen die Verehelichung 
ab und zwei Jahre später wurde den Frauen das Recht einge- 
räumt, Klagen und Ehescheidung bei den Gerichten einbringen 


Fehlinger: Von Liebe und Ehe in Japan 79 


zu können. Ehedem wurden auch Ehen auf eine gewisse Zeit 
abgeschlossen, gegenwärtig ist das nicht mehr der Fall, denn 
es gilt für die Regelung der Eheverhältnisse das neue bürger- 
liche Gesetzbuch Japans, das sich dem europäischen Recht eng 
anschließt (besonders dem Code Napoleon und dem deutschen 
Bürgerlichen Gesetzbuch). Aber trotzdem hat die japanische 
Ehe noch nicht ihre orientalischen Charakterzüge verloren. Auf 
das Verhältnis der Ehegatten zu einander sind noch heute die 
überlieferten Sitten von großem Einfluß. Die Frau schuldet 
dem Manne unbedingte Unterwerfung, wie sie auch vom Kinde 
den Eltern gegenüber gefordert wird. Dr. Ichikawa schrieb 
diesbezüglich: „Vom frühesten Kindesalter an gilt als Haupt- 
aufgabe der Erziehung, der Jugend das Gehorchen beizubringen. 
Namentlich gilt dies für die Mädchen, die nach der späteren 
Vermählung nicht nur dem Manne, sondern auch der Schwieger- 
mutter aufs Wort parieren müssen. Ohne die würde es gar 
nicht gehen, da nach japanischer Sitte alle Kinder, solange sie un- 
vermählt sind, im Elternhause verbleiben, die Söhne sogar, nach- 
dem sie sich verheiratet haben.“*) Die Stellung der Frauen ist 
untergeordnet, wenn auch nicht mehr in dem Maße wie in der Zeit 
vor der Berührung Japans mit der europäischen Kultur. Nach An- 
gaben von Japanern sind dieEhen gewöhnlich sehr glücklich, trotz- 
dem die Gattenwahl Sache der Eltern ist. Schlechte Behandlung 
der Ehefrauen soll so gut wie gar nicht vorkommen. Die Frau 
geht ganz und gar in ihren ehelichen, mütterlichen und häus- 
lichen Pflichten auf. Ehebruch seitens der Frau soll kaum je- 
mals begangen werden. Früher ging die Treue der Frau sogar 
soweit, daß die Wiederverheiratung von Witwen zu den größten 
Seltenheiten gehörte. Ein Schatten fällt nur in die Ehe, sagt 
Ichikawa, „wenn diese unfruchtbar ist oder wenn die männliche 
Nachkommenschaft ausbleibt. Der Mann ist tatsächlich an 
eheliche Treue nicht gebunden, er kann sich ohne besondere 
Gründe von seiner Frau trennen, und er darf sich danach so oft 
wieder verheiraten als er will, nur nicht mit der leiblichen 
Schwester der Frau oder einer Schwester der vorigen Gattin.“ 

Des in Japan noch bestehenden Ahnenkultus wegen gibt 
es dort für eine Familie kein größeres Unglück, als keinen 
Sohn zu haben. Deshalb ist die Adoption oder Annahme an 


*) Eheleben in Japan. Ostasiatischer Lloyd, 21. Jahrgang, Nr. 17. 


80 Fehlinger: Von Liebe und Ehe in Japan 


Kindes statt eine alte, weit verbreitete und viel geübte Sitte. 
Ihr religiöser Zweck ist die Erhaltung der Familie durch einen 
angenommenen Sohn. 

Von den japanischen Mädchen der höheren Gesellschafts- 
klassen wird verlangt, daß sie bis zu ihrer Verheiratung im 
Elternhause bleiben und den Umgang mit Männern außerhalb 
desselben meiden und auch beim wohlhabenden Mittelstande 
herrschen ziemlich strenge Sitten in bezug auf das Verhalten 
der Töchter vor der Ehe. Wesentlich anders ist es bei den 
unteren Gesellschaftsklassen, bei denen vorehelicher Sexual- 
verkehr der Mädchen kaum als anstößig gilt. So gut wie aus- 
schließlich aus den Töchtern der armen Bevölkerung gehen die 
Gaishas hervor, die Sängerinnen und Tänzerinnen, wie auch 
die Freudenmädchen der Teehäuser. Beide Klassen von Mäd- 
chen kommen in der Regel jung an gewinnsüchtige Unternehmer, 
welche ihnen nach japanischen Begriffen eine gute Erziehung 
geben lassen. Von ihrer Moral läßt sich nur sagen, daß sie 
zumeist jederzeit bereit sind, mit Zustimmung ihres Herrn sich 
durch Vertrag auf einen Monat oder längere Zeit an einen 
Einheimischen oder Fremden zu vermieten. Es ist auch etwas 
Alltägliches, daß Gaishas von angesehenen Bürgern aufgefordert 
werden, mit ihnen und ihren Familien zusammen einen ver- 
gnügten Tag in einem anständigen Teehause zu verbringen, 
mit Tanz und Gesang zur Unterhaltung beizutragen; ein anderes- 
mal verlangt man die gleiche Leistung in einem Privathause. 
Bei großen Tempelfesten müssen diese Mädchen in vollem 
Schmuck im Zug mitgehen und zu manchem Gastmahl eines 
höheren Beamten werden sie gerufen, um Speisen aufzutragen. 
(Rein, „Japan“, Leipzig 1905.) 

Nicht zu verwechseln mit den Gaishas sind die Ver- 
treterinnen der Halbwelt, deren große Zahl und Stellung in den 
altjapanischen Sitten begründet ist. Sie werden ebenfalls in 
früher Jugend von den Eltern gegen Entgelt den Unternehmern 
von Yoschiwarahäusern überlassen, wo die älteren Insassinnen 
sie im Lesen, Schreiben, Tanzen und Singen ebenso wie in 
anderen Künsten unterrichten. Die öffentlichen Häuser stehen 
unter strenger Polizeikontrolle, doch bedeutet der Aufenthalt 
darin für die Freudenmädchen keineswegs soziale Ächtung. 
Im Gegenteil, weitaus die meisten heiraten bald und werden 
gute Ehefrauen und Mütter. Einen Ehemann zu finden, wird 


"WI}SUIZJIONY иол 236ү пд "ZUBJLUOSEN 





Tafel II 


We", eg у> 


e, em 





Tafel III 





Badestube. Nach einer Miniatur der Breslauer Stadtbibliothek. 


Zu Aufsatz von Reitzenstein. 


Fehlinger: Von Liebe und Ehe in Japan 81 


ihnen leicht, weil sie besser erzogen sind als andere Mädchen 
niederen Standes. Arge Übertreibung ist es freilich, wenn 
Е. S. Kraus („Das Geschlechtsleben in Glauben, Sitte Brauch 
der Japaner,“ S. 68) schreibt, „die Mehrzahl der armen Japaner 
wählt ihre Frauen aus diesen Häusern.“ Dagegen ist Kraus 
beizupflichten, daß die Teehäuser, in denen Freudenmädchen 
leben, im ganzen Lande die Mittelpunkte des geselligen Ver- 
kehrs sind und daß sich dort vor der Öffentlichkeit nichts 
ereignet, was die Grenzen des Anstandes überschreitet. A. H. 
Exner („Japan“, Leipzig 1891) betont, daß nach dem Urteil 
aller, welche die Verhältnisse kennen, die japanischen Halb- 
weltdamen nie auf einer so niedrigen Stufe stehen wie die 
Demimondänen unserer großen Städte. Auch werden die Be- 
wohnerinnen der Freudenhäuser (Yoschiwaras) von dem besseren 
Teil der Gesellschaft nicht verachtet, sondern nur bemitleidet, 
befinden sie sich doch nicht aus eigener Schuld und Neigung 
dort, sondern meist auf Befehl ihrer Eltern, d. h. in Ausübung 
des schuldigen kindlichen Gehorsams und der Kindesliebe. 

Ein nicht genannter japanischer Mitarbeiter an Kraus’ oben 
erwähntem Buch (S. 81 u. f.) vertritt anderen Autoren gegen- 
über (die das Gegenteil aussagten), die Meinung, daß Homose- 
xualität in Japan fast ebenso verbreitet sei, wie in anderen 
Ländern; aber sie trete weniger zutage und offenbare sich erst 
dem geschärften Blicke. Im alten Japan habe Homosexualität 
als nichts schlimmes gegolten. „Erst als der Einfluß westlicher 
Kultur in Japan fühlbar wurde,.... änderten sich die Anschau- 
ungen über gleichgeschlechtliche Liebe. Und was früher öffent- 
lich betrieben wurde und als Ausfluß der Ritterlichkeit galt, 
wurde nun in Acht und Bann erklärt als etwas Barbarisches 
und Unsittliches, das mit Heimlichkeit zu umgeben sei... . 
Wenn sich auch äußerlich die Anschauung über homosexuelle 
Liebe geändert hat, die alte Auffassung der Samurai lebt aber 
im Stillen in wohl kaum vermindeter Weise weiter und ihr 
Hauptträger ist nach wie vor der Soldatenstand geblieben.“ 
Über diesen Gegenstand vergleiche man das Buch von F. Karsch- 
Haack, „Das gleichgeschlechtliche Leben der Östasiaten: Chinesen, 
Japaner, Koreaner. (München 1906.) 

Im alten Japan weit verbreitet war der Phalluskult und 
die Verehrung des weiblichen Geschlechtsteils. Auf dem Lande 
hat er sich noch im beträchtlichem Umfange erhalten, dort findet 

6 


82 Fehlinger: Von Liebe und Ehe in Japan 


man noch heute an vielen Orten Phalli aus Stein oder Holz 
die mit Fruchtbarkeitszauber in Verbindung stehen. Auch der 
Abwehr böser Geister scheinen diese Bilder zu dienen. Neben 
großen Phallustempeln mit eigenen Priestern gibt es überall 
im Lande kleine Hütten, mit Bildern des Phallus und der Rima. 
Über den Phalluskult unterrichtet ausführlich E. Buckley’s Schrift 
„Phalizism in Japan“, Chicago 1895, die in deutscher Über- 
setzung bei Kraus wiedergegeben ist. 

Über das Sexualleben der Aino, des eigenartigen Natur- 
volkes im nördlichsten Japan, ist nicht viel bekannt geworden. 
B. Scheube („Die Aino“ Mitteilungen für Natur- und Völker- 
kunde Ostasiens, Heft 26) berichtet, dab die Menstruation ge- 
wöhnlich vom 14.—16. Jahre eintritt und daß die Fortpflanzungs- 
fähigkeit bis zum 49. oder 50. Lebensjahre dauert. Die Ainos 
heiraten frühzeitig, die Männer durchschnittlich vom 18., die 
Frauen vom 16. Lebensjahre an. Vor der Verheiratung ist der 
Verkehr beider Geschlechter ein freier. Kinder, die aus solchen 
Liebesverhältnissen entspringen, bilden für die spätere Verhei- 
ratung der Mutter kein Hindernis. Die Aino haben meist nur 
eine Frau, doch ist Mehrweiberei erlaubt. Die Frau nimmt 
dem Manne gegenüber eine ziemlich hohe Stellung ein. Die 
bei der Eheschließung üblichen Gebräuche erinnern an die 
japanischen. Es ist die Ausnahme, daß ein junger Mann die 
Gattin selbst wählt; in der Regel besorgen das die Eltern. 
Eltern, die eine Tochter haben, nehmen für sie einen Sohn an. 
Die Eltern eines jungen Mannes wenden sich gewöhnlich an 
Heiratsvermittler, wenn sie die Zeit für seine Verheiratung ge- 
kommen glauben. Der Vermittler sieht sich nach einer passenden 
Gattin um; hatten die Eltern bereits ein bestimmtes Mädchen 
in Aussicht genommen, so wirbt er bei deren Eltern. Sobald 
der Vermittler die Sache ins Reine gebracht hat, übersendet 
der junge Mann den Brauteltern ein Geschenk; wenn es erwidert 
wird, so ist das ein Zeichen, daß die Hochzeit am nächsten Tag 
stattfinden soll. Zur Hochzeit kommt die Braut mit ihren Eltern 
in Begleitung des Vermittlers. Das Hochzeitsfest währt mehrere 
Tage. Die Ehen sind nur mäßig mit Kindern gesegnet; 3 bis 
4 ist deren gewöhnliche Zahl. Die Entbindungen erfolgen 
leicht ohne irgendwelche Kunsthilfe. Die vertrockneten und 
abgefallenen Nabelschnurstücke ihrer Kinder trägt die Mutter 
zeitlebens in einem Säckchen auf der Brust und nimmt sie mit 
ins Grab. Das Säugen währt bis ins 4. oder 5. Jahr. 


Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 83 


BETRACHTUNGEN ÜBER DAS LIEBESLEBEN IN 
DER ZEIT DER RENAISSANCE UND DER PERIODE 
DER GALANTEN. 

Von FERD. FRHR. VON REITZENSTEIN, Dresden. 
(Fortsetzung.) 


TY? wie heute waren die Tanzvergnügungen die be- 
liebtesten Wege, um mit Mädchen in engere Berührung zu 
kommen. Kein Wunder, daß alle Gegner des Liebeslebens 
besondere Wut darüber hatten und nicht nur „Anstoß“ daran 
nahmen, sondern sogar manchmal recht herbe Worte dagegen 
gebrauchten. Oft mit Recht, noch öfter mit Unrecht. Sicherlich 
waren die Tänze sehr derb und sinnlich dazu, aber die Zeit 
fand daran an sich wenig zu tadeln, nur die Moralisten haben 
sich entsetzt und uns so Beschreibungen erhalten, die wir ohne 
sie nicht hätten. Bei den meisten Tänzen kam es auf körper- 
liche Entblößung an, was aber für die damalige Zeit lange 
nicht das bedeutet, wie für uns, da man damals, wie wir ge- 
sehen haben, keine Scheu vor dem nackten Körper hatte und 
allezeit Gelegenheit genug hatte, ihn zu sehen oder zu berühren. 
Geiler sagt einmal: 

„Es sind, die gehen darumb zum tantz, damit sie andere zur geilheit 
und muttwillen anreitzen. Da fahnt man an unnd wirt einander hold, 
da schwetzet lieb und leid miteínander, wo sie sonst nicht zusammen 
mögen kommen, da trucken sie einander die Händ, geben einander bulen- 
brieffle, darin Gredten und Hansen anliegen steht und in summa: es 
wirdt alles bey dem tantz außgericht. Dann wo das Grettle und der 


vetter Wandele sonst nit mögen zusammenkommen, geschieht es gentz- 
lich bey dem tantz.“ 


Dementsprechend hatten denn auch überall die Gemeinden 
und Zünfte ihre eigenen Tanzsäle, neben denen es noch 
öffentliche gab; aber man tanzte auch in Rathäusern, in Kirchen, 
Klöstern, ja sogar auf Kirchhöfen. Die oberbayrischen Tanz- 
böden und zum Teil auch die oberbayrischen Tänze (Schuh- 
plattler) geben heute noch ein Bild jener Tage. Im „Ring“ 
des Heinrich von Mittenweiler wird bereits Bezug genommen 
auf die Art des Tanzes: 


„Die Mäczli (Mädchen): waren also rüg Und sprungen her so gar 
gefüg, Daz man in oft, ich wayßB nit wie, Hinauf gesach bis an die knie. 
Hilden Hauptloch (Halsausschnitt) was ze weyt, darumb ir an derselben 
Zeit das tüttel aus dem puosen sprang; tanczens gyr sey dar zuo twang. 
Hüddelein, der ward so hayß, day sey den Kittel vor auf rayß des sach 
man ir die iren do und macht viel mängen herczen fro.“ 


6* 


84 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 


Weniger gemütlich behandelt den Tanz ein anderer Augen- 
zeuge, Florian von Fürstenberg, Pfarrer von Schnellewalde, der 
1567 eine Flugschrift „Tantzteuffel“ schrieb. Darin sagt er, 


daß die Tanzenden 

„offt durcheinander unordentlich gehen und lauffen wie die bisenden 
Küh, sich werffen und verdrehen, welches man jetzt verködern heisset. 
So geschiehet nun solch schendtlich, unverschämt schwingen, werfen, ver- 
drehen und verködern von den Tantzteuffeln, so geschwinde, auch in aller 
Höhe, wie der Bawer den Flegel schwinget, daß bißweilen den Jungfrauen, 
Dirnen und Mägden die Kleider biß über den Gürtel, ja bis über den 
Kopff fliegen. Oder werffens sonst zu boden, fallen auch wol beide und 
andere viele mehr, welche geschwinde und unvorsichtig hernach lauffen 
und rennen, daß sie über einen hauffen liegen: die gerne unzüchtig Ding 
sehen, denen gefallt solch schwingen, fallen und kleiderfliegen sehr wohl, 
lachen und seind fröhlich dabey, denn man machet jnen gar ein fein 
welsch Bellvidere. Welche Jungfraw, Magd und Dirne am meisten am 
Tantze herumbgefüret, geschwungen, gedrehet und beschawet wirdt, die 
ist die fürnembste und beste und rühmen und sagen die Mütterlein 
selber: Es ist gar bedrang umb meine Tochter am Tantze, jedermann 
wil mit jr tantzen, sie hat heut am Tantz guten Markt gehabt. Auch sticht 
der Narr unsere jungen und alten Witwen, die treibens ja so körbisch, 
wilde und unflätig, als die jungen Mägdlein, seind bey den Nachttäntzen 
sowol die ersten und die letzen.“ 


Ohne es vielleicht zu wollen, hat sich der Berichterstatter 
in Gegensatz zu seiner Zeit gebracht, denn wir sehen 
deutlich, daß die Leute, insonderheit auch die Mütter, es übel 
empfunden hätten, wenn die Reize ihrer Töchter nicht zur 
Geltung gekommen oder gar vernachlässigt worden wären. 
Man hielt diese Reize damals noch ganz und gar für etwas 
Natürliches. Der Tänze gab es eine ganze Menge; von vielen 
wissen wir nicht mehr als den Namen, aber allen, die wir ge- 
nauer kennen, liegt ein sexuelles Moment zugrunde. Fast überall 
kommt es darauf an, die Tänzerin hochzuheben und in der 
Luft zu schwenken. Geiler geriet darüber in gewaltigen Zorn 
und bedient sich einer Reihe von Kraftausdrücken, mit denen 
damals die Gesellschaft von der Kanzel aus unterhalten wurde, 
während er es vielleicht im Innern gar nicht so bös meinte: 


„Darnach findt man klötz, die tantzen also sewisch und unflätig, das 
sie die weiber und Jungfrawen dermassen herumschwenken und in die 
höhe werffen, das man ihn hinden und vornen hinauff siehet, biß in die 
weich, also daß man ihr die hübsche weisse beinle siehet und schwartze 
oder weiß stiffele, die oft so voller Koth und unrath, sein, daß einer darob 
spewrn und undewen solt. Auch findt man etliche, die haben dessen ein 
ruhm, wann sie die Jungfrawen und weiber hoch in die höhe können 
schwencken, und haben es bißweilen die jungfrawen (so anders solche 
jungfrawen zu nennen sein) fast gern und ist jenen mit lieb gelebt, wann 
man sie also schwenket, daß man ihnen, ich weiß nicht wohin siehet.“ 


Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 85 


Einer der beliebtesten Tänze war das Kranzsingen, bei 
dem es darauf ankam, daß die Kränze der Mädchen an ihre 
Liebhaber und deren Kränze an die betreffenden geliebten 
Mädchen kamen. Ein Stück eines Kranzliedes aus dem 
16. Jahrhundert ist uns erhalten: 


„Ich kumm aus frembden landen her, 
und bring euch vil der newen mär, 
der newen mär bring ich so viel, 

mer dann ich euch sie sagen wil. 

Die frembden Land die seind so weit, 
darin wechst uns gut summerzeit, 
darin wachsen blümlein rot und weiß, 
die brechend jungfrawen mit ganzem Fleiß 
Und machen daraus einen kranz 

und tragen ihn an den abendtanz 

und lond die gsellen darumb singen, 
bis einer daz krenzlein tuot gewinnen.“ 


Wie es dabei zuging, können wir uns ungefähr vorstellen, 
wenn wir das bei den Schweden übliche Kranzsingen betrachten. 
Die Beteiligten bilden einen Kreis, in dem ein Mädchen und 
ein Bursche stehen; das Mädchen windet einen Kranz. Unter- 
dessen schreiten die Umstehenden im Reigenschritt und singen: 


„Das Mägdlein (bzw. der Bursche) steht hier mitten im Tanz 
Und pflückt sich Rosen wunderfein, 
Es windet daraus den schönsten Kranz 
Wohl für den Herzgeliebten sein.“ 
Unterdessen setzt im Ringe das Mädchen den fertigen 
Kranz dem Burschen auf, während der Reigen fortdauert, und 
die Teilnehmenden singen: 


„Komm du, mein Geliebter, her, 
Den ich mir hier ausersah, 

Willst du dies und wohl noch mehr, 
Reich die Hand und sprich ein Ja.“ 


Jetzt tanzt auch das Paar im Kreise. Wir kommen in späteren 
Zeilen darauf zurück. Es ist sehr wahrscheinlich, daß in 
diesem Kranzsingen ein Stück der alten Verlobung steckt; 
doch bedarf das besonderer Untersuchung. Der Reigen kam 
auch in anderer Form vor und mag eine ganz ähnliche Grund- 
bedeutung gehabt haben, weshalb man „unzüchtige“ Lieder 
dazu sang. Ein Mann stand immer zwischen zwei Frauen, und 
die ganze Gesellschaft faßte sich bei den Händen, wozu man 
sang. Nach Geiler waren diese Lieder sehr „unzüchtig“; er sagt: 


„Noch hat ich schier ein tantz vergessen, nemlich den reientantz; da 
werden auch mitunter untzucht und schand begangen, weder um der 


86 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 





Tanzende Bauern von de Bry 


anderen, von wegen der schandtlichen und schamparen hurenlieder, so 
darin gesungen werden, damit man das weiblich Geschlecht zu der geil- 
heit und unkeuschheit anreitzet.“ 

Sicherlich waren dies uralte Lieder, die in Beziehung zu 
einem Fruchtbarkeitskultus standen. Am berüchtigtsten 
aber war für die Leute asketischen Schlages ein Tanz, der 
„schöfferdantz“ oder der „schefer von der newen stat“ 
hieß. Die Pointe war, daß man die Tänzerin umarmte und 
küßte. So steht in den „Epistolae virorum obscurorum“ 
(ed. Böcking 33 S. 50): 

„Neulich tanzte ich im Hause des Schulzen beim Abendtanze, da 
pfiff der Pfeifer das Lied vom ‚Schäfer von der newen Stadt‘, und so- 
gleich umarmten alle Tänzer ihre Tänzerinnen, wie dies Sitte ist.“ 

Man hat diesen Tanz besonders verfolgt, und so ist uns 
nur der Anfang des Gesanges geblieben. Die ehedem 
so sehr beliebte Melodie mag wohl noch in einzelnen Volks- 
liedern erhalten sein. Das Ge- 
dicht fing an: 

„Der Schäfer von der Newenstadt, 
Sein Rößlein aufgeboten hat, 

Ein unverzagten Mann zu geben, 
Dem nit sein Weib darf widerstreben 
Findt aber kein, ders so begert, 
Deshalb behalt er wol sein Pferdt.“ 
„Stadelweise“ und „Scheuer- 
tanz“ scheinen besonders bei 
den Bauern beliebt gewesen zu 
sein. Letzterer war ein spezi- 
fischer Hochzeitstanz und wurde 
besonders in Unterfranken nach 
der kirchlichen Trauung in der 


Bäuerliche Tänzer von M. Treu Scheune getanzt. 








Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 87 


Wie sich jene Zeit überhaupt auslebte, so tobte sie teil- 
weise im Tanze. Die Tanzwut war pathologisch geworden 
und grassierte besonders im Jahre 1418. Es kann kein Zweifel 
sein, daß dieser Erscheinung sexuelle Momente zugrunde lagen. 
Diese in Apulien und anderen Teilen Italiens auftretende Tanz- 
seuche (Tarantismus) beruhte auf einer Art psychischer An- 
steckung; sie hat mit dem Tarantelstich nichts zu tun, gegen 
den angeblich als bestes Heilmittel ein wilder Tanz (Tarantella) 
gegolten haben soll; gerieten die Tanzenden danach in starken 

.Schweiß und fielen dann in tiefen Schlaf, so seien sie geheilt 
gewesen. Man weiß aber jetzt längst, daß der Biß jener süd- 
italienischen Webspinne gewöhnlich keine schweren Er- 
scheinungen nach sich zieht, und daß die alten Schilderungen 
auf Aberglauben und Übertreibungen zurückzuführen sind. Jene 
eigenartige Erkrankung war von einer sonderbaren Sehnsucht 
nach dem Meere begleitet und zog viele in die Wellen. Ein 
auf sie Bezug nehmendes Lied lautet: 

„Zum Meere tragt mich, 

Wenn ihr mich heilen wollt. 

Zum Meere schnell! 

Wenn mich meine Herrin liebt, 

Zum Meere, zum Meere, 

Solange ich lebe, liebe ich dich.“ 

In Deutschland grassierte eine ähnliche sexuelle Erkrankung, 
die man Veitstanz hieß. 


Die Liebe zum Wasser war ja überhaupt ein Charakteristi- 
kum des mittelalterlichen Liebeslebens. Wir haben das Bade- 
leben bereits mehrfach behandelt,*) es erreichte in der Re- 
naissancezeit seinen Höhepunkt, um auch in ihr ganz plötzlich 
abzusterben. Der Kampf der Geistlichkeit und der Moral- 
prediger hatte in einer damals mit furchtbarer Macht auf- 
tretenden Geschlechtskrankheit, einer Abart der Syphilis, 
die man in Deutschland „Franzosenkrankheit“ hieß, einen 
gewaltigen Bundesgenossen erhalten. Die Bäder, die eine 
enge Vereinigung vieler Menschen mit sich brachten, wurden 
zu Hauptansteckungsherden, und so gelang es ihren Gegnern 
leicht, das Volk dagegen einzunehmen und behördliche Verbote 


*) Vgl. Reitzenstein: „Entwicklungsgeschichte der Liebe“ S. 72, 82, 
85, 94, „Liebe und Ehe im Altertum“ S. 8, 18, 57, „Liebe und Ehe im 
Mittelalter“ S. 40, 60, 88, 89. 


88 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 


zu erwirken. Es war dies damals schließlich auch das beste 
Aushilfsmitte, da man desinfizierende Mittel nicht kannte. 
Freilich wurde hier das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, und 
die Welt verfiel ins Gegenteil. Erst unsere Zeit macht sich 
wieder frei von der christlichen Verachtung des Bades und 
räumt ihm seine Rechte wieder ein. Der Wannenbäder haben 
wir bereits in der „Entwicklungsgeschichte der Liebe“ und der 
„Liebe und Ehe im Mittelalter“ gedacht; es erübrigt uns daher 
in erster Linie, von den großen Badeorten zu sprechen. 





Frauen mit einem Narren, der nichts verraten kann. 


Man verband verschiedene Zwecke damit. Zunächst wohl war 
der Hauptbeweggrund, Unterhaltung zu finden und sich aus- 
zuleben. Man reiste mit Frauen oder mit Geliebten hin, fand 
auch dort genügend, wenn man allein kam. Der kleinere Teil 
gebrauchte die Bäder zu Heilzwecken, unter denen im Vorder- 
. grund eine Kur für unfruchtbare Frauen stand. Dafür 
war jedenfalls sehr gesorgt, und schon das Mittelalter sprach 
von der „merkwürdigen Kraft“ der Bäder in dieser Hinsicht, 
und bezeichnend sagt eine Strophe: 


Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben | 89 





„Für unfruchtbare Frauen ist das Bad das beste, 
Was das Bad nicht tut, das tun die Gäste.“ 


Das gilt ja schließlich auch heute noch. — 

Am beliebtesten waren: Baden (heute Baden-Baden), ein 
bad bey Mentz genannt Wißbaden, Wiltbad, Pfeffers, Ems, 
ein bad bey Eger zuom Elnpogen (bei Karlsbad) und besonders 
Baden im Aargau. Davon haben wir eine kulturgeschichtlich 
ebenso beachtenswerte Schilderung, wie sie auffallend gerecht 
und sachlich gehalten ist. Sie stammt aus der Feder des 
italienischen Humanisten Poggio Bracciolini (1380 bis 1459). 
Er schreibt: 


„Besonders fein sind die Bäder in Privathäusern; Männer und Frauen 
baden gemeinsam, sind allerdings durch eine Holzwand geschieden, in 
der aber mehrere Fenster angebracht sind, so daß man sich nicht nur 
unterhalten, sondern auch zusammen trinken kann; man vermag auch 
rüber und hinüber zu sehen und sich zu berühren, was nach ihrer Ge- 
wohnheit recht oft geschieht. Über den Wasserbehältern sind Galerien 
angebracht, auf denen, die Männer stehen, die lediglich zusehen und sich 
unterhalten wollen, da es jedermann gestattet ist, in die Bäder zu kommen, 
sich aufzuhalten, zuzusehen, zu plaudern, Scherze zu machen und sich 
aufzuheitern. Dabei kann man die Frauen sehen, wie sie ins Wasser 
steigen oder wieder herauskommen. Niemand wacht am Eingang, niemand 
behütet die Türe, und niemand denkt an etwas Unsittliches. Die Männer 
tragen nur eine Schambinde, die Frauen dagegen leinene Hemden, die 
vom Hals bis zu den Schenkeln reichen, aber an der ganzen Seite offen 
sind, wobei sie außerdem weder Hals noch Brust noch Arme bedecken. 
Gar oft beobachtet man, daß sie im Wasser essen, auf gemeinsame Kosten. 
Ein geschmückter Tisch schwimmt zu dem Zwecke auf dem Wasser, und 
auch die Männer nehmen daran teil... So fehlt nichts zu dem Ge- 
mälde, wie Jupiter die Danae als goldener Regen befruchtete... Meine 
(d. h. Poggios) beiden Begleiter waren mit leinenen Hemden angetan, 
wie das bei Männern Sitte ist, die in die Frauenbäder eingeladen waren; 
ich jedoch sah von der Galerie aus zu und beobachtete Sitten, Gewohn- 
heiten, Liebenswürdigkeiten, Freiheit und Ungeniertheit dieser Lebensart. 
Es ist geradezu auffällig zu sehen, in welcher Unschuld sie leben, und 
mit welchem Vertrauen die Männer es mitansehen, daß ihre Frauen von 
Fremden berührt werden. Niemand wird erzürnt, ja es achtet nicht ein- 
mal jemand darauf, denn man nimmt alles von der besten Seite. Es 
gibt nichts, und wäre es noch so schwer, das bei ihrer Weltanschauung 
nicht leicht würde. Sie hätten ganz in Platos Staatswesen gepaßt, wo 
alles gemeinsam ist, da sie, ohne seine Lehre zu kennen, seine treuesten 
Schüler sind. In einigen Bädern sind nämlich die Männer mit den Frauen 
zusammen, denn sie sind ihnen entweder verwandt, oder man gestattet 
es aus Wohlwollen. Täglich drei- bis viermal geht man ins Bad und 
bleibt den größten Teil des Tages darin, ein Teil singt dabei, der andere 
trinkt, und wieder andere tanzen einen Reigen. Dann singen sie wieder 
im Bade selbst eine Zeitlang, und dabei ist es besonders schön, den er- 
wachsenen, heiratsfähigen Mädchen, die in Kostüm und Gestalt Göttinnen 
gleichen, zuzuhören, während ihnen ihre Kleider auf dem Wasser gleich- 
sam nachschwimmen; da könnte man jede für die Venus selbst halten. 


90 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 


Sehr gebräuchlich ist es dann wieder, daß die Frauen von den Männern, 
die von oben zusehen, scherzhaft kleine Geschenke erbitten. Und so 
geschieht es, daß ihnen, besonders den Schönsten, Geldstücke zugeworfen 
werden, die sie dann mit der Hand oder ihren aufgehobenen Hemden 
auffangen. Dabei stoßen sie einander fort, und es kommt gerne vor, daß 
bei diesem Spiele geheime Reize enthüllt werden. Dann fliegen wieder 
Kränze, aus allerhand Blumen gewunden, herab, und die Badenden winden 
sie sich ins Haar. Auch ich habe aus reiner Freude zuzusehen und zu 
scherzen, alle Zeit, die mir mein zweimaliges Baden an jedem Tage über- 
ließ, dazu benützt, die übrigen Bäder zu besuchen, und habe gar häufig 
Geldstücke und Kränze hinabgeworfen, wie das die anderen auch getan 
haben. Denn im ganzen Orte war weder zum Lesen noch zum Denken 
Zeit, klangen doch allenthalben Symphonien, Trompeten oder Zithern, so 
daß schon der bloße Willen zu denken eine Torheit gewesen wäre, be- 
sonders für einen, der nicht gerade ein Heiliger ist, sondern ein allem 
Menschlichen zugängliches Wesen. Freilich fehlte mir*) die mündliche 
Unterhaltung, deren Mangel das Vergnügen beeinträchtigte, denn von allen 
Dingen hat sie den meisten Wert; und so blieb mir nichts übrig als die 
Augenweide und das Verfolgen des Spieles. Auch zum Spaziergehen war 
Gelegenheit und sehr viel Freiheit, da es nicht durch Gesetze eingeschränkt 
wurde. Neben diesen an sich reichen Vergnügungen gibt es noch andere, 
die auch recht amüsant sind. Hinter der Stadt nämlich, am Flusse, ist 
eine Wiese, auf der viele Bäume stehen. Dorthin kommt alles nach dem 
Nachtessen zusammen von allen Seiten. Da werden dann allerlei Spiele 
gespielt; die einen tanzen, die andern singen, die Mehrzahl aber spielt 
Ball aber nicht nach unserer (d. h. italienischen) Sitte, sondern die Männer 
und Frauen werfen sich als besondere Liebesauszeichnung einen mit 
Schellen besetzten Ball zu, und wer ihn erhalten hat, wirft ihn seiner- 
seits wieder nach einer ihm besonders lieben Person, während die vielen 
andern mit vorgestreckten Händen bitten, und der Werfende sie irreführt, 
indem er sich stellt, als ob er den Ball bald dem, bald jenem zuwerfen 
wolle. Auch sonst werden allerlei Scherze getrieben, die zu beschreiben 
aber zu weit führen würde... Fragt man nach der Wirkung der Bäder, 
so muß ich zugestehen, daß sie mannigfaltig und recht verschieden ist; 
auf alle Fälle aber ist ihre Kraft wunderbar, fast möchte man sagen gött- 
lich. Kaum glaube ich, daß es auf der ganzen Welt ein wirkungsreicheres 
Bad für die Fruchtbarkeit der Frauen gibt, und wegen Unfruchtbarkeit 
kommen denn auch viele hierher, und die erfahren eine merkwürdige 
Kraft... So siehst du ungezählte schöne Frauen ohne Männer oder 
Verwandte, begleitet etwa von zwei Dienerinnen und einem Knecht oder 
auch einigen alten Angehörigen, die man sicherlich leichter hinters Licht 
führen als ernähren kann... So leben hier Äbte, Mönche, Brüder und 
Priester in größerer Freiheit als anderswo, sie baden zuweilen gemeinsam 
mit den Frauen, schmücken sich die Haare mit Kränzen und lassen 
Religion Religion sein... Besonders merkwürdig ist, daß bei einer so 
großen Menge von Menschen — es sind ihrer beiläufig 1000 — und 
bei so verschiedenartigen Sitten keine durch Trunksucht entfachte Zwie- 
tracht entsteht, und kein Aufruhr, kein Streit, kein Schimpfen und Fluchen 
ausbricht. Die Männer sehen, wie ihre Frauen berührt werden, sie sind 
Zeugen, daß sie mit Fremden, und zwar unter vier Augen, verkehren; 
aber sie werden dadurch nicht erregt, sie sind nicht einmal erstaunt und 


*) Poggio konnte nicht Deutsch. 


Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 91 


behandeln die Sache so, als ob alles in gutem, ehrbarem Sinne vor sich 
gehe. Hier findet denn Eifersucht, die doch sonst alle Ehemänner drückt, 
unter ihnen keinen Boden, ihr Name ist sogar unbekannt und unerhört. 


Diese Beschreibung gehört sicherlich zu den interessantesten 
Quellen, die wir aus jener Zeit besitzen, denn nur wenige 
Schilderungen weiseneine ähnliche Frische der Beobachtung 
und des Urteils auf. Übrigens waren diese Badeorte keine 
Plätze der Verschwendung; denn wir erfahren, daß im Jahre 
1475 der Kaplan Joh. Knebel aus Basel im Juli — also in der 
Hochsaison — mit Magd und Diener nach Baden kam, sich 
4 Wochen daselbst aufhielt und 10 rheinische Gulden brauchte. 
Dies sind in unserem vorkriegszeitlichem Gelde 100 Mark, und 
wenn wir annehmen, daß der Geldwert etwa ums 20fache ge- 
sunken ist, etwa 2000 Mark (heute wohl 40000 Mark). Daß 
in diesen Bädern die Halbwelt eine große Rolle spielte, ist 
selbstverständlich, besonders wenn man bedenkt, daß das 
Mittelalter ihr nicht mit der heute so sehr beliebten Verachtung 
begegnete. Das Wort Hure ist jetzt für „gute“ Gesellschaft 
eigentlich unbrauchbar geworden; damals war dies nicht der 
Fall. Diese Öffentlichen Mädchen sind aus den „Fahrenden 
Leuten“, den Taschenspielern, Mimen, Gauklern hervorgegangen; 
sie scheinen sehr zahlreich gewesen und ziemlich öffentlich 
aufgetreten zu sein. In Wien erschienen sie beispielsweise bei 
großen Volksfesten, in durchsichtige Gewandung gehüllt, und 
liefen so um die Wette um einen Schmuckgegenstand oder ein 
Stück Tuch. In Leipzig veranstalteten sie die berühmte „Huren- 
prozession“, in der sich ein alter Fruchtbarkeitskult erhalten 
hat. Zu Anfang der Fastenzeit hielten sie einen Umzug, an 
dessen Spitze ein Strohmann ‚getragen wurde, und sangen da- 
bei ein Lied gegen den Tod. Dann wurde der Strohmann in 
die im Norden der Stadt in die Pleiße mündende Parthe ge- 
worfen, und man erhoffte dadurch einen Zauber gegen die 
Pest ausgeübt zu haben. In ständiger Feindschaft lebten sie 
mit den Bordellmädchen, von denen sie „Bönhasen“ 
genannt wurden. Die Bordelle entstanden in. Deutschland als 
eine Folge der Moralpredigten und des Jungfrauenkultes. Man 
glaubte durch die würdelose Bestimmung einer gewissen 
Menge von Mädchen, die ihren Leib um Geld verkaufen 
mußten, die deutschen Bürgermädchen dem Jungfrauenstand 
zuzuführen. Zum Teil gelang das ja auch, wenigstens in den 


92 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 


Städten, während auf dem Lande die alten Zustände eines 
freien Verkehrs blieben, und der Bauernstand so freigehalten 
wurde von der menschenunwürdigen Prostitution. Natürlich 
war der Erfolg im Bürgertum größtenteils nur ein Scheinerfolg; 
die meisten Mädchen hatten natürlich ihre Liebesverhältnisse, 
aber sie wurden mit ihrem Verkehr in die Winkel gedrängt 





Landsknecht und Soldatendirne 
Nürnberger Holzschnitt von Guldenmund. 


und dadurch in ethischer Hinsicht verschlechtert. Die 
„konzessionierten“ Mädchen aber mußten natürlich allmählich 
dem Verbrechen in die Arme getrieben werden und bilden 
einen Pfahl im deutschen Fleische, der nicht anders heraus- 
zuziehen ist als dadurch, daß freier Verkehr nicht mehr 
verachtet oder gar bestraft wird. Der geschlechtliche 
Verkehr — solange er natürliche Bahnen innehält — müßte 
auch wieder natürlich betrachtet werden; die Prostitution 


Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 93 


hätte dann ihr Ende erreicht und mit ihr die Geschlechts- 
krankheiten. Die wahre Gefahr der Prostitution liegt darin, 
daß sexueller Verkehr sofort gegen Geld zu erlangen ist, 
daß die Jugend mit Mädchen zusammenkommt, die die Ver- 
einigung nicht mehr als Endziel und Lohn der Liebe und 
Werbung betrachten, sondern je nach Bezahlung dafür ein 
größeres oder geringeres Raffinement setzen und so zum Luxus 
verleiten, den sie selbst als Lockmittel bedürfen. Wo sie sich 
gar mit dem Zuhältertum vereint — und dies geschah sehr 
frühzeitig —, führt sie direkt zum Verbrechen. Diese Leistung 
der Moralisten kann nicht genug gebrandmarkt werden; wer 
aber glaubt, die Prostitution abschaffen zu können, ohne daß 
er zugleich das Liebesleben, und zwar das geschlechtliche, 
wieder in ehrbare Bahnen lenkt, ist auf dem Irrwege. 
Jedes Gesetz gegen Prostitution wird dann keine Abschwächung 
bringen, es wird sie nicht quantitativ verringern, wohl aber 
qualitativ verschlechtern. Die Folgen der Prostitution machten 
sich schon im Mittelalter geltend, besonders wenn junge Leute, 
die von ihren Schattenseiten noch nicht berührt waren, in 
Bordelle kamen. Dies zeigt ein Bericht von 1507 aus Fritz 
Schickers Tagebuch vom Reichstag in Konstanz. 


„Ich ging eines Tages ins Freie und wandelte am See hin und her. 
Da begegnete mir des Herzogs Georg Schreiber. Der nahm mich bei 
der Hand und fragte: „Willst du mit mir gehen?“ Fragte ich: „Wohin ?« 
Antwortete er: „Wo hübsche Mädchen sind.“ Wußte ich nicht, was ich 
antworten sollte, und ging mit. Kamen wir da in ein Wirtshaus, da 
saßen vielerlei Dirnen, wohl angetan, und hatten Blumen in den Händen 
und sahen uns lächelnd an. Wir aber ließen uns Wein geben, und ich 
verfiel in tiefe Gedanken. Da kamen die Musikanten des Bischofs von 
Augsburg und spielten ganz lustig auf zum Tanze. Alsbald wurden die 
Dirnen ergriffen und fingen an zu tanzen. Die jungen Gesellen riefen 
mir zu, auch mittanzen, aber ich entgegnete: „Dessen bin ich nicht 
kundig“. Da setzte sich zu mir eine Dirne, reichte mir eine Blume und 
sagte: „Wenn du den Tanz nicht liebst, was liebst du denn? Sprach ich: 
„Eine Jungfrau.“ Darauf sie: „Eine allein? Das ist nicht recht. Die 
andern wollen auch nicht verachtet sein, und hier bist du in der Fremde, 
sie weiß es ja nich. Kommst du heim, so ist alles wieder gut.“ Da 
merkte ich wohl, was sie wollte, und bestellte noch mehr Wein, als 
wollte ich bleiben, ging aber und kam nicht wieder. 


In Ulm mußte sogar gesetzlich festgelegt werden, daß 
Knaben von 12—14 Jahren nicht in die Bordells gehen durften. 
Schon damals bestand in gewisser Hinsicht jene Übung, die 
heute Gesetz wurde, daß ein Mädchen, das für Hingabe Ge- 


94 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 


schenke annimmt oder in ein Frauenhaus gegangen war, 
offiziell zu einer Prostituierten gestempelt wird. Dies 
ist ein Schandfleck der abendländischen Kultur, den wir auch 
den Moralpredigern verdanken. Im Volke hatte man ursprüng- 
lich kein Verständnis dafür, und in seinen gesunden Teilen 
hat man es auch heute noch nicht. Die Anschauung früherer 
Zeiten darüber bekundet eine Episode, die Heinrich Deichsler 
in seiner Nürnberger Chronik vom 22. Sept. 1502 berichtet. 
Dort heißt es: 


„Desselbigen tags, da war einer, genannt der junge Kornschreiber, 
der hat ein schönes Dirnlein, ein pulschaft; der hat er gezielt, sie solt 
die nacht bei ihm ligen, und er füeret sie pei nacht ins frawenhaus und 
hat ir vielleicht gesagt, er wolt sie zu im haim in sein haus füern und 
er lag die nacht pei ir im frawenhaus, und des morgens da kamen die 
frawen all zu ir und setzten ir ein strönß kräntzlein auf, und er zwu 
namen sie und füerten sie wie ein praut herüber über den Obßmark und 
sprachen: „wir mußen dich zum suessen wein füeren und wollen dir die 
hurnzunft schenken des suessen weins’ und so sis füerten pei den Predigern, 
so lauft ein gesell dar, den erparmt des schön Dirnlein, und schlug der 
füererin eine in das angesicht, da luffen die andern zu und wollten ir 
helfen, so kompt ein anderer Gesell und sieht die anderen Huren, das 
sie über purzelt, und entran die Dirn in allen. man legt den Kornschreiber 
ins loch und verpot im zehen jar die stat.“ 


Heute wäre es nahezu umgekehrt! 


Mit den Frauenhäusern entstanden aus den gleichen 
Gründen die Animierstuben. Bereits Äneas Silvius be- 
richtet von Wien, daß fast alle Bürgertavernen „lusten Fröw- 
lein“ halten, in denen es umsonst zu essen gab, damit die 
Gäste mehr trinken sollten. 


In Italien hatte die Prostitution zunächst einen indivi- 
duelleren Charakter, schon deshalb, weil neben ihr eine grobe 
Anzahl von Kurtisanen stand, die den Hetären des alten 
Athen glichen und nicht zur Prostitution im wahren Sinne des 
Wortes gerechnet werden können. Auch hier beschäftigt sich 
die Gesetzgebung viel mit den Cortigiane und Donne di libera 
уйа. Lange währte es aber nicht, und Italien sank aus den 
oben angeführten Gründen auf eine ganz schlimme Stufe herab. 
Noch schlimmer sieht sich die Sache an, wenn man bedenkt, 
daß die Päpste Steuern aus Bordellen erhoben. Sixtus IV. 
z. B. bezog die ungeheure Summe von 20000 Dukaten auf 
diesem Wege von einem Bordelle. 


Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 95 


Im 16. Jahrhundert glaubte man vielfäch die sexuelle Frage 
so weit gelöst zu haben, daß die Bordelle aufgehoben 
werden könnten soweit sie nicht wie wir an anderer Stelle 
zeigten, eingingen*). So geschah es 1537 in Ulm, doch sah 
man sich schon 1551 gezwungen, sie wieder in Betrieb zu 
setzen. Es war nämlich eine sehr gefährliche Lage geschaffen 
worden durch Überhandnehmen der öffentlichen Mädchen, die 
nun mit allen Lastern der Bordellprostitution behaftet wurden, 
weil die Bordellmädchen unter dem Namen „Büßerinnen 
Maria Magdalenas“ zu Landstreicherinnen geworden waren. 
Sie gingen schließlich in den Öffentlichen Mädchen auf; man 
hatte ihnen den Namen „Sunneweigerinnen“ gegeben. Der 
Zusammenhang der Prostitution mit den Klöstern war über- 
haupt ein sehr enger. Schon Hans Rosenplüt läßt die Bordell- 
mädchen über die Nonnen klagen. Er sagt: 

„Auch clagen sie über die closterfrawen 
Die konnen so hübschlich über die snur hauen, 


Wenn sie zu ader lassen oder paden, 
So haben sie junkher Conraden geladen.“ 


Geiler kann sogar die Frage aufwerfen: „Ich weiß nicht, 
welches schier das best wer, eine tochter in ein semlich closter 
thuon oder in ein frauwenhaus. Wann warumb? ут closter 
ist sie en huor!“ So fand dann Bischof Gaimbus von Kastell 
bei der Visitation des Klosters zu Söflingen bei Ulm, daß fast 
alle Nonnen in gesegneten Umständen waren. Die Kinder 
wurden zumeist getötet, und aus dem „Pfaffenspiegel“ von Corvin 
erfahren wir, daß man die Klosterteiche dazu benutzte, denn 
der Bischof von Augsburg erzählt, daß unter Papst Gregor 1. 
aus einem Klosterteiche 6000 Kinderköpfe herausgefischt wurden. 
Besonders der Adel ging in den Frauenklöstern ein und aus. 
So beschreibt die Zimmersche Chronik eine Begebenheit, die 
im Kloster Oberndorf im Tal (Württemberg) statthatte, wo be- 
sonders die Familien Ow, Rosenfeldt, Brandeyk, Stein und 
Neuneck verkehrten: 


„Es sein einmal auf ein Zeit viele vom Adel und gute Gesellen im 
Kloster gewesen, die haben den Abendtanz ziemlich spät gehalten. Hat 
sich dabei mit Fleiß von ohngefähr begeben, daß in allem Tanz die 
Lichter sein verlöscht worden. Da ist ein wunderbarliches Blatterspiel 


*) Frhr. v. Reitzenstein, „Ehe und Prostitution I“ in: „Das Wissen dem 
Volke“. 1921. 


96 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 


entstanden und hat sich männiglich anfahen zu paren. Unter anderm ist 
versehen worden, daß die Thüren versperrt und kein brennend Licht im 
Saal kommen noch gelassen. Und gleichwohl allda niemand ist verschont 
worden, so hat sich doch niemand ob dem andern beklagt, allein ein 
Edelmann unter dem Haufen, dem ist in seinem Sinn ein widerwärtiger 
Casus begegnet, den er in einer Ungeduld, da er vermeint, die Zeit sei 
ihm zu kurz, und man werde bald ein Licht einhertragen, überlaut ge- 
schrien „Lieben Freunde, eilet nicht, lassets noch einmal umhergehen! ich 
habe meine Schwester erwischt!“ 


(Fortsetzung folgt.) 





Geschlecht und Gesellschaft, 
Neue Folge XI, 4 


Tafel I 














Diana von Poitiers. 


Herzogin von Valentinois. Geliebte König Heinrich II. von Frankreich, 
geb. 3. Sept. 1499, 7 22. April 1566. Tochter von Jean de Poitiers, 
Herrn von Saint-Valliers, vermählt im Alter von 13 Jahren mit Ludwig von Breze, 
Großseneschall der Normandie 7 1531, dann,Maitresse des Königs. 
(Zum Aufsatz Reitzenstein). 








DIE BEDEUTUNG DER PSYCHOANALYTISCHEN 
METHODEN UND THEORIEN 
FÜR DIE PRAKTISCHE HEILKUNDE. *) 
Von Dr. BRUNO SAALER. 

р“ Formulierung, die ich in dem Thema gegeben habe, 

deutet schon an, daß ich nicht beabsichtige, eine eingehende 
Darstellung der phychoanalytischen Theorien zu geben, die 
für diejenigen, die mit dem Gegenstand noch wenig vertraut 
sind, sich noch immer als wenig nutzbringend erwiesen hat. 
Noch. weniger liegt mir daran, eine Diskussion im Sinne eines 
„Für und wider“ herbeizuführen. Solche Erörterungen sind 
gerade auf diesem Gebiet so unfruchtbar, weil bekanntlich nicht 
einmal die einzelnen psychoanalytischen Schulen in der Lage 
sind, sich gegenseitig Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ge- 
schweige denn, daß es ihnen möglich wäre, sich mit den aus- 
gesprochenen Feinden der Psychoanalyse zu verständigen. Nie- 
mals ist man ja einer wissenschaftlichen Lehre mit so offener 
Feindschaft begegnet wie der Psychoanalyse. Diese Tatsache 
hat ihre tiefere innere Ursache darin, daß die Psychoanalyse 
ja nicht nur die Struktur der Neurose aufdeckt, sondern 
darüber hinaus an seelischen Einstellungen rüttelt, die das 
Produkt oft mühseliger, erst nach langen inneren Kämpfen 
entschiedener geistiger Prozesse sind. Die feindselige Haltung 
gegenüber der Psychoanalyse ist somit tatsächlich nicht anders 
zu werten als ein neurotisches Symptom, das ja auch — wie 
die Psychoanalyse lehrt — zur Sicherung gegenüber einer als 
solcher erkannten Gefahr errichtet wird. In diesem Sinne ist 
die Psychoanalyse für viele tatsächlich eine Gefahr. Indem 
sie Erkenntnisse zeitigt, die nicht nur individuelle seelische 
Phänomene, sondern ganze Weltanschauungen, Religionen und 
Kulturen als Reaktionsbildungen libidinöser**) Strebungen er- 


*) Vortrag im Charlottenburger Ärzteverein am 3. 11. 21. Unter 
Psychoanalyse versteht man die Erforschung des Seelenzustandes eines 
Nervenkranken nach einer zuerst durch Freud-Wien genauer ausgebauten 
Methode. Der Patient muß sich dabei über seine ganze Vergangenheit 
aussprechen, auch besonders seine Träume erzählen, um unterdrückte 


7 


98 Saaler: Die Bedeutung d. psychoanalitischen Methoden u. Theorien usw. 


scheinen lassen, wirkt sie revolutionierend, öffnet sie der Skepsis 
Tür und Tor und setzt ein Fragezeichen hinter Wertungen, 
an denen eine Jahrhunderte alte Tradition festzuhalten gewohnt 
war, ohne überhaupt an ihrer inneren Berechtigung sich nur 
den leisesten Zweifel zu gestatten. Von dieser Gefährlichkeit 
soll man sprechen — denn sie meint man in Wirklichkeit —, 
wenn man die Psychoanalyse eine Gefahr nennt, und nicht 
von einer Gefährlichkeit, die dem Individuum durch die psycho- 
analytische Behandlung erwachsen soll, die in Wirklichkeit nur 
da besteht, wo die Psychoanalyse stümperhaft und ohne tiefere 
Kenntnis seelischer Zusammenhänge und Reaktionen ausgeführt 
wird. Auch die Hypnose hat man mit diesem Argument zu 
bekämpfen versucht, und lange Zeit hindurch mit Erfolg. Die 
Psychoanalyse aber, die ja nicht nur eine Methode zur Be- 
handlung von Neurosen, sondern eine geistige Bewegung ist, 
die aus der Not der Zeit geboren zu sein scheint, einer Zeit, 
die infolge der Mechanisierung unseres Wirtschaftslebens dem 
Glücksverlangen der Menschheit immer höhere und schließlich 
unübersteigbare Wälle entgegensetzte, eine geistige Bewegung, 
die von der plötzlich gewonnenen Erkenntnis der Knechtung 
elementarster menschlicher Regungen durch die Zivilisation 
gespeist wurde, eine solche Bewegung kann man nicht mit 
der Warnung vor ihrer Gefährlichkeit und auch nicht mit der 
Entrüstung des in seiner Behaglichkeit gestörten Bürgers tot- 
schlagen. Ich stimme, obwohl ich der Psychoanalyse gegen- 
über seit jeher eine kritische und zum Teil ablehnende Stellung 


Vorstellungen dem Untersuchenden zu offenbaren, die die Ursache der 
Erkrankung sind. Sie treten dann wieder ins-Bewußtsein, werden durch 
den Behandelnden aufgeklärt und zum Abreagieren gebracht, wodurch 
Heilung erzielt wird. Daß solche unterdrückte Vorstellungen besonders 
sexueller Natur sind, ist bei der unsinnigen Moral und den wider- 
natürlichen Forderungen der Kirche und der sogenannten Gesellschaft, 
sowie krankhafter Vereinigungen und absolutem Abstinenzverlangen selbst- 
verständlich. Die Psychoanalyse hat sich heute in viele Richtungen ge- 
spalten, sie hat hochbedeutende Vertreter, aber sehr viele Gegner, be- 
sonders in moralistischen Kreisen. Wir haben uns entschlossen, einige 
Aufsätze zu bringen, ohne uns voll an die Auffassungen der Psycho- 
analyse, die zweifelsohne in dem Bestreben, alles erklären zu wollen, 
zu weit geht, zu binden. Wir wollen aber gleich hier bemerken, daß 
die Sexualwissenschaft der Psychoanalyse ungemein viel verdankt 
und so bei der hohen Wichtigkeit einerseits und der geringen Kenntnis 
weiterer Kreise andererseits unseren Lesern näher gebracht zu werden 
verdient. (Die Schriftleitung.) 
**) Libido = Geschlechtslust. 


Saaler: Die Bedeutung d. psychoanalitischen Methoden u. Theorien usw. 99 


einnehme, der Freud’schen Schule darin durchaus bei, daß der- 
jenige, der mit Entrüstung auf die Lehren der Psychoanalyse 
reagiert, zu einer Diskussion über sie noch nicht reif ist. 
Entrüsten darf sich nur der, wer die Voraussetzungs- 
losigkeit wissenschaftlicher Forschung bestreitet. 
Entrüstung ist kein Argument, sondern die Folge einer 
persönlichen affektiven Stellungnahme zu Fragen, 
über die wissenschaftlich zu diskutieren nicht nur 
möglich ist, sondern über die ganz unabhängig von 
der Psychoanalyse tatsächlich schon längst disku- 
tiert wird. 

"Wenn der Freud’schen Schule somit darin beizustimmen 
ist, daß sie eine gefühlsmäßig orientierte Kritik ablehnt, so 
muß man sie andererseits tadeln, daß sie sich auch einer 
sachlichen Kritik ihrer Lehren konsequent zu entziehen ver- 
sucht. Sie bekennt sich zu der Ansicht, daß nur, wer zur 
engeren psychoanalytischen Arbeitsgemeinschaft gehört, in der 
Lage sei, über Psychoanalyse zu urteilen. Psychoanalyse 
— sagen sie — könne man nicht aus Büchern lernen, sondern 
nur gezeigt bekommen, und ein wichtiges Erfordernis sei ferner, 
daß man sich selbst einer Analyse unterzogen hat. Nun, das 
ist eine Behauptung, die aus einer Zeit stammt, in der es nur 
eine einzige psychoanalytische Schule gab, die auf die Worte 
des Lehrers und Meisters schwören mußte. Seitdem zahlreiche 
Schüler Freud’s ihn verlassen haben und eigene Wege gehen, 
obwohl sie den Bedingungen der Freud’schen Schule, die den 
Diplomanalytiker im Gegensatz zum „wilden“ Analytiker schufen, 
entsprochen hatten, seitdem sollte man sich hüten, diese Be- 
hauptung zu wiederholen. Daß man noch immer mit solchen 
Argumenten hantiert, ist leider ein Beweis für die Erstarrung, 
die sich der Freud’schen Lehre bemächtigt hat, und die ihren 
Ausdruck darin findet, daß vorhandene Gedanken zu Lehr- 
sätzen umgeprägt werden, die in ihrer unbiegsamen Starrheit 
sich ihres tatsächlichen Wertes selbst entkleiden. Es bedarf 
daher gar keiner Erörterung, ob es für den psychiatrisch ge- 
schulten Arzt möglich ist, sich aus der vorhandenen Literatur 
ein Bild der Psychoanalyse zu machen und sie so erlernen. 
Diese Frage kann nur bejaht werden, wenn auch zugegeben 
werden muß, daß die Ausübung der Psychoanalyse nicht jeder- 
manns Sache ist, da sie eine besondere Begabung der psycho- 

7% 


100 Saaler: Die Bedeutung d. psychoanalitischen Methoden u. Theorien usw. 


logischen, insbesondere der psychosexuellen Intuition voraus- 
setzt. Diese Begabung scheint mir aber gerade manchen Mit- 
gliedern der psychoanalytischen Arbeitsgemeinschaften abzu- 
gehen, da sie es sonst nicht nötig hätten, einem Schematismus 
zu huldigen, der ganz gewiß keine Kunst ist, oft genug aber 
blühender Unsinn. 

Es liegt mir daher auch nicht daran, daß meine Aus- 
führungen den Beifall der engeren Freud’schen Schule finden 
— das könnten sie gar nicht. Es liegt mir aber sehr daran, 
dazu beizutragen, daß die große Entdeckung, als die sich die 
Freud’sche Psychoanalyse in ihren Grundsätzen darstellt, als 
wissenschaftliche Arbeits- und Forschungsmethode von Ärzten 
anerkannt und gefördert wird. Aus diesem Grunde spreche 
ich über die praktische Bedeutung der Psychoanalyse für 
den Arzt. Es kommt mir nicht darauf an — und es wäre 
ohnedies auch unmöglich —, ein auch nur annähernd voll- 
ständiges Bild der psychoanalytischen Methoden und Theorien 
zu entwerfen. Viel wichtiger erscheint mir der Nachweis, daß 
mit Hülfe der psychoanalytischen Methode Einblicke gewonnen 
werden, die uns bisher verschlossen blieben, und die für das 
ärztliche Handeln von weittragender Bedeutung sind. 


Ich beginne daher mit einer Krankheitsgeschichte: Ein 20 Jahre alter 
Student, Sohn gesunder Eltern, sehr intelligent, rational philosophisch 
veranlagt, früher stets gesund, heiter, erkrankte an einer Depression 
hypochondrischer Färbung. Er zog sich von seinen Kameraden zurück, 
war arbeitsunlustig und grübelte unablässig und scheinbar zwangsmäßig, 
wobei er auf jede nur denkbare Weise den Nachweis der eigenen Minder- 
wertigkeit zu erbringen suchte. Anfangs begründete er seine Minder- 
wertigkeit damit, daß er vor Jahren beim Nachhilfeunterricht, den er ge- 
geben hatte, einen Knaben geschlagen hätte, um sich Lustgefühle dadurch 
zu verschaffen, später glaubte er, er sei homosexuell, dann wollte er be- 
weisen, daß ihm jedes natürliche Schamgefühl abgehe, weil er sich immer 
Freunden gegenüber rückhaltlos ausspreche, während andere viel reser- 
vierter seien. Als man ihm ärztlicherseits sagte, daß er an einer neu- 
rasthenischen Depression litte und seine Minderwertigkeitsvorstellungen 
nur der Ausfluß dieser Depression seien, konstruierte er aus der Tat- 
sache dieser Depression erbliche Belastung, Degeneration und konstitu- 
tionelle Minderwertigkeit. Kurz, er benutzte jede nur denkbare Möglichkeit 
zum Beweis dafür, daß er minderwertig sei, wie das bei Depressions- 
zuständen ja die Regel ist. Äußere Ursachen für das Auftreten der 
Depression waren nicht bekannt. 


Man wäre somit durchaus berechtigt gewesen, die Diagnose: 
Endogener Depressionszustand zu stellen, und darüber hinaus 
sogar die Möglichkeit einer beginnenden Dementia praecox 
(Jugendirresein) in Erwägung zu ziehen. 


Saaler: Die Bedeutung d. psychoanalitischen Methoden u. Theorien usw. 101 


Ich will nun zunächst erwähnen, daß der Depressions- 
zustand doch eine äußere Ursache hatte, daß sich diese aber 
erst im Laufe der analytischen Behandlung ergab. Der junge 
Mann hatte eine starke Neigung zu einem jungen Mädchen 
gefaßt, das ihm anfangs auch zugetan war. Das Mädchen 
siedelte in eine andere Stadt über und beantwortete seine 
Briefe immer spärlicher und kälter. Die Veränderung in seinem 
Wesen setzte nun ungefähr zu der Zeit ein, in der er sich 
darüber klar werden mußte, daß das Mädchen sich innerlich 
von ihm zurückzog. Wenn man diese Tatsache kennt, erscheint 
die Analyse schon wesentlich einfacher. Dies ist aber gerade 
charakteristisch für die Psychoneurose,*) daß das Wesent- 
liche nicht erzählt, sondern unterschlagen wird. Es kann 
aber gar keine Rede davon sein, daß es sich um eine bewußte 
und beabsichtigte Verheimlichung handelt. Wäre dem Patienten 
der Zusammenhang seiner Depression mit dem Er- 
eignis bewußt gewesen, so hätte er es bestimmt erzählt. 
Er legte aber gar keinen Wert darauf und gab auf Befragen 
nach irgendwelchen Liebesbeziehungen nur ganz nebensächlich 
an, daß er einmal ein Mädchen gerne gehabt habe, daß das 
aber längst vorbei und ohne Bedeutung sei. Tatsächlich also 
ist der Affekt, der mit der Liebesenttäuschung verbunden war, 
„verdrängt“ worden und damit unbewußt geworden. Die 
Verdrängung einer affektbetonten Vorstellung ist aber nach 
Freud die Quelle neurotischer Symptome. Sie geschieht, 
weil der Vorstellungsinhalt dem Bewußtsein unerträglich ist. 
Wir haben uns jetzt also die Frage vorzulegen, warum die 
Vorstellung, von der Liebesenttäuschung schwer betroffen zu 
sein, der Verdrängung anheimfiel, weshalb sie bewußtseins- 
unfähig war, wie Freud sich ausdrückt. Sie war es sicherlich 
nicht deshalb, weil der Schmerz unerträglich war, sondern 
— für diese Annahme bestehen Gründe, über die später noch 
zu sprechen sein wird — weil der Mißerfolg in der ersten 
Liebesangelegenheit zu einer so schweren Erschütte- 
rung seines Persönlichkeitsbewußtseins geführt hatte, 
daß er es nur durch die Ableugnung des Liebes- 
affektes vor sich selbst behaupten zu können 


*) Neurose — funktionelle Erkrankung der Nerven, ohne daß anato- 
misch Veränderungen nachweisbar sind. 


102 Saaler: Die Bedeutung d. psychoanalitischen Methoden u. Theorien usw. 


glaubte. Welches waren nun die Konsequenzen? Der 
Patient hatte sich bekanntlich sadistischer bzw. homosexueller 
Regungen bezichtigt, und man hatte naturgemäß diese Be- 
schuldigungen als den Ausfluß einer krankhaften Depression 
angesehen. Diese Annahme erwies sich aber bei näherer Be- 
trachtung als irig. Denn der Kranke gab sich im Anschluß 
an seine Liebesenttäuschung tatsächlich erotischen Phanta- 
sien sadistischen bzw. homoerotischen Inhalts hin, wie er sie, 
wie sich jetzt herausstellte, in geringerem Maße schon früher 
gehabt hatte, d. h. er stellte sich nackte Knaben vor, schlug 
sie in Gedanken und hatte dabei Pollutionen. Daß es sich 
hierbei nicht um eine melancholische Vorstellung handelt, geht 
schon daraus hervor, daß die Tatsache häufiger Pollutionen 
von dem Vater bestätigt werden konnte. Zur gleichen Zeit 
machte sich die Befürchtung geltend, auf Grund von Sadismus 
und Homosexualität minderwertig zu sein. Es ist bezeichnend, 
daß es ihm zunächst gar nicht darauf ankam, von den Ärzten, 
die er konsultierte, zu hören, daß er gar nicht sadistisch oder 
homosexuell sei, denn er wußte ja — subjektiv —, daß er es 
war, während die Ärzte, denen er die Tatsachen unterschlug, 
es ja nicht wissen konnten; sondern er legte den Ärzten inımer 
wieder die Frage vor, ob es für Minderwertigkeit spreche, wenn 
er in dieser Hinsicht sexuell abnorm sei. Hieraus muß man 
folgern, daß es dem Patienten damals nur darauf ankam, nicht 
als minderwertig zu gelten. Er war ja zu der sexuellen 
Anomalie nur gekommen, weil er nicht minderwertig dem weib- 
lichen Geschlecht gegenüber sein wollte. Drohte jetzt die 
Minderwertigkeit nichts desto weniger aus dem Tatbestand 
der sexuellen Anomalie, so durfte er diese nur bewußt akcep- 
tieren, wenn er deswegen nicht minderwertig war; mußte sie 
dagegen wieder „verdrängen“, wenn die Minderwertigkeit aus 
dieser Ursache feststehen sollte. Die dringlichen diesbezüg- 
lichen Fragen des Patienten wurden ihm von dem ihn damals 
behandelnden Arzt nun — wenn auch mit großer Reserve — 
dahin beantwortet, daß eine gewisse Minderwertigkeit in einem 
solchen Falle, der bei ihm aber nicht vorliege, doch angenommen 
werden müsse. Er reagierte nun darauf sofort mit der Ver- 
drängung und versuchte, sich wieder heterosexuellen 
Strebungen (also auf das Weib gerichteten) zuzuwenden. 
Damit war der Konflikt aber nicht nur nicht gelöst, sondern 


Saaler: Die Bedeutung d. psychoanalitischen Methoden u. Theorien usw. 103 


erst recht akut geworden, denn die Libido war nunmehr „ein- 
geklemmt“, sie konnte nicht in der — sagen wir einmal — 
perversen Weise Befriedigung finden, weil dieser Weg „Minder- 
wertigkeit“ bedeutete; sie konnte auch nicht den normalen 
Weg gehen, weil dieser durch „die Flucht vor dem Weibe“ 
verbaut war. Diese war ja notwendig geworden, weil die 
Aggression schon einmal zu einer Niederlage geführt hatte, 
daher die Gefahr der erneuten Niederlage in sich schloß und 
somit erst recht den Nachweis der Minderwertigkeit erbringen 
mußte. Der Kranke sah also weniger als je einen Ausweg 
aus dem Konflikt. Die Vorstellung, minderwertig zu sein, 
ergab sich mit Notwendigkeit und dominierte tatsächlich stärker 
als zuvor. Sie wurde jetzt mit ganz fadenscheinigen Gründen, 
die das Produkt des Zwangsgrübelns waren und jeglicher 
Tatsächlichkeit entbehrten, motiviert und trug zweifellos bereits 
den Charakter der schweren melancholischen Vorstellung, zu 
deren Psychogenese gleichzeitig hiermit ein Beitrag geliefert 
wird. In diesem Stadium der Erkrankung kam der Patient in 
meine Behandlung, da der Zustand, wie er sich nach außen 
dokumentierte, eine sichtliche Verschlechterung erfahren hatte. 
Er gab nun spontan an, obgleich er Pollutionen mit Phantasien 
bisexuellen Inhalts zugab, ganz sicher heterosexuell zu sein, 
er merke das an seinem libidinösen Verhalten gegenüber dem 
weiblichen Geschlecht, und sei nun davon überzeugt, daß die 
Furcht vor der Homosexualität eine krankhafte Vorstellung 
gewesen sei, wie. das ja auch die Ärzte angenommen hätten. 
Dazu ist folgendes zu sagen: Ein affektbetonter, ins Unbewußte 
verdrängter Komplex, der die Ursache der neurotischen Symp- 
tome darstellt, hat, wie Freud gezeigt hat, stets das Bestreben, 
ins Bewußtsein durchzubrechen. Er wird daran verhindert, 
indem im Bewußten eine Gegenvorstellung errichtet wird, die 
eine umso größere Intensität an Überzeugungskraft für das 
Individuum gewinnt, je größer die Gefahr des Durchbruches 
des verdrängten Komplexes ins Bewußtsein ist. Der Kranke 
hatte jetzt — wie ich vorhin zeigte — die Vorstellung, sadistisch 
bzw. homosexuell zu sein, verdrängt. Um diesen Komplex 
in der Verdrängung zu halten, durfte er sich einen Zweifel an 
seiner heterosexuellen, normalen Triebrichtung überhaupt nicht 
gestatten. Die Entschiedenheit, mit der der Kranke sich jetzt 
als in sexueller Beziehung durchaus normal bezeichnete, und 


104 Saaler: Die Bedeutung d. psychoanalitischen Methoden u. Theorien usw. 


die Überlegenheit, mit der er die frühere Vorstellung, homo- 
sexuell zu sein, abtat, konnte nicht anders als in diesem Sinne 
gedeutet werden. Hier berühre ich einen wichtigen Punkt. 
Denn man könnte sagen, „es ist doch ein Unfug, einen 
Menschen, der sich als sexuell normal gerichtet bezeichnet, 
schon bei der ersten Sitzung zu beargwöhnen!* An und für 
sich ist es gewiß ein Unfug. Wenn man aber einen Menschen 
vor sich hat, der an allem zweifelt, an seinen geistigen Fähig- 
keiten, an seiner moralischen, an seiner erbbiologischen Voll- 
kommenheit und an vielem mehr, aber erhaben ist über den 
Gedanken, daß er vielleicht homosexuell gerichtet sein könnte, 
obwohl er früher solche Vorstellungen äußerte, und obwohl er 
sich — allerdings sehr nebenbei — Phantasien bisexuellen 
Inhalts zugab, so ist man nicht nur berechtigt, sondern ge- 
zwungen, zu vermuten — nicht daß der Patient homosexuell 
sei, sondern daß er sich für homosexuell halte, diese Vor- 
stellung aber und wahrscheinlich damit auch die Triebregungen, 
die ihn zu dieser Annahme gebracht hatten, vor sich selbst 
ableugnete, also verdrängt hatte. Ein solcher Argwohn, wie 
man ihn den Psychoanalytikern so sehr verdenkt, ist nichts 
anderes als das, was uns auch sonst in der Diagnostik leitet. 
Der bessere Diagnostiker ist immer der, der am ehesten einen 
— notabene — berechtigten Argwohn hat. In diesem Falle 
war also der Argwohn nicht nur berechtigt, sondern stellte 
auch den Wegweiser für die analytische Arbeit dar. Der Tat- 
bestand, der ermittelt wurde, war — kurz zusammengefaßt — 
folgender: Im Alter von etwa 12 Jahren bemerkt ein Junge, 
daß er beim Schlagen eines Knaben Lustgefühle verspürt. 
Er gibt sich jahrelangen Phantasien hin, in denen er nackte 
Knaben schlägt und läßt sich verleiten, später seine Schüler 
häufiger zu schlagen, als sachlich gerechtfertigt war. Die be- 
schriebenen erotischen Phantasien begleiten seine ganze Ent- 
wicklung, bis er ein Mädchen kennen lernt, in das er sich 
verliebt. Dann treten sie zurück. Nun muß er aber die Er- 
fahrung machen, daß seine Neigung nicht erwidert wird, das 
Mädchen vielmehr das Verhältnis als rein freundschaftlich 
angesehen wissen will. Er fürchtet für sein Persönlichkeits- 
bewußtsein, verdrängt seine Liebe zu diesem Mädchen und 
damit die Triebrichtung zum anderen Geschlecht über- 
haupt. Die Libido „staut“ sich —, wie Freud das ausdrückt, 


Saaler: Die Bedeutung d. psychoanalitischen Methoden u. Theorien usw. 105 


wird zurückgeworfen „wie ein Strom, dem das Flußbett ver- 
legt wird“, und der sich nun Kollateralen aufsucht, die früher 
schon einmal vorübergehend angefüllt waren, d. h. sie greift 
zurück auf den kindlichen Lustgwinn, den er sich vor- 
her durch sadistische und homosexuelle Phantasien verschafft 
hatte. Er fürchtet nun auf Grund sexualethischer Erwägungen 
hierdurch erst recht in seinem Persönlichkeitsbewußtsein 
beeinträchtigt zu werden, verdrängt auch die sadistisch- 
homoerotische Triebrichtung, sucht wieder auf den 
normalen Weg zu gelangen, der aber infolge des ersten 
Verdrängungsvorgangs verbaut ist, sieht keinen Ausweg, da- 
gegen nach beiden Richtungen das Gespenst der Minder- 
wertigkeit auftauchen und verfällt immer stärker in De- 
pression. Die Analyse deckt die Psychogenie der Minder- 
wertigkeitsvorstellung und der Depression auf, führt den intra- 
psychischen Konflikt dem Kranken vor Augen, zeigt ihm, daß 
die Ursache seiner Erkrankung eine Liebesenttäuschung 
war, die er nicht wahr haben wollte, und demonstriert ihm 
seine neurotische Einstellung, die zum „Ausweichen“, „zur 
Flucht vor dem Weibe“ führte, um Mißerfolgen aus dem Wege 
zu gehen, die die „Aggression“, zu der ihn der normal ge- 
richtete Geschlechtstrieb notwendigerweise führte, zur Folge 
gehabt hätte. Es wurde dem Kranken klar gemacht, daß die 
Politik des Ausweichens und Verdrängens, die zu „Regression“ 
des Geschlechtstriebs auf infantile Entwicklungsstufen und 
Verschleierung des psychologischen Tatbestandes, mit anderen 
Worten zum „neurotischen Arrangement“ mit hysterischen 
Symptomen und psychologisch undurchsichtigen Zwangsvor- 
stellungen führe, die Wurzel seines Leidens sei, daß diese 
Politik ein Produkt moralischer Feigheit sei und aufgegeben 
werden müsse. Er dürfe nicht fürchten, bei einer erneuten 
Aggression des weiblichen Geschlechtes wiederum einen Miß- 
erfolg zu erleben, er solle vielmehr sich Mühe geben, das Ver- 
trauen zu sich selbst in dieser Beziehung aufzubringen, das das 
Einzige sei, was ihm fehle. Der Behandlungserfolg war ein durch- 
schlagender, die Depression schwand, desgleichen die Hypo- 
chondrie, die Minderwertigkeitsvorstellung und dasZwangsgrübeln. 
Nur die Furcht, homosexuell zu sein, hielt sich noch eine Zeitlang, 
bis eine erneute erfolgreiche Aggression des weiblichen Ge- 
schlechtes auch ihr — wenigstens vorläufig — ein Ende bereitete. 


106 Saaler: Die Bedeutung d. psychoanalitischen Methoden u. Theorien usw. 


Fragen wir uns, was aus dem Kranken geworden wäre, 
wenn der psychische Konflikt nicht aufgedeckt und der 
Lösung zugeführt worden wäre, so berühren wir damit das 
Problem der Entstehung sexueller Perversionen und 
der Homosexualität, und man ersieht daraus, daß die Freud- 
sche Theorie der Entwicklung der Sexualität von einem poly- 
morphperversen Frühstadium zur heterosexuellen reifen Libido 
über zahlreiche Entwicklungsstadien der infantilen Sexualität, 
in denen die „erogenen“ Zonen und der Schau- und Grau- 
samkeitstrieb eine dominierende Rolle spielen als notwendige 
Konsequenz psychoanalytischer Forschung aufgestellt worden 
ist und nicht — wie gewöhnlich behauptet wird — ein voll- 
kommen willkürliches Phantasieprodukt ist. In diesem Fall 
sehen wir beieinem 12jährigen KnabenlibidinöseStrebungen, 
die sich auf jüngere Angehörige des gleichen Geschlechts als 
Sexualobjekte richten und in sadistischen Handlungen bezw. 
Phantasien ihren Ausdruck finden. Nach Freud müßten wir 
annehmen, daß hier infolge von Erlebnissen und Bindungen, 
die bis in die frühe Kindheit zurückzuverfolgen seien, eine 
Fixierung des Geschlechtstriebes auf einer infantilen Ent- 
wicklungsstufe erfolgt sei, die eine Weiterentwicklung nicht zu- 
lasse. Die weitere Analyse nach Freud würde mit größter 
Wahrscheinlichkeit dartun — wie die orthodoxe Freud’sche 
Schule dasgmit monotoner Regelmäßigkeit tut —, daß der Patient 
libidinds an die Mutter gebunden ist (Oedipuskomplex)*), infolge 
der Incestscheu die geschlechtliche Vereinigung mit dem Weibe 
als Mutterschändung empfindet und im Augenblick, der ihn zur 
heterosexuellen (auf das andere Geschlecht gerichteten) Objekt- 
wahl reif macht, gezwungen war, seine Libido autoerotisch oder 
homoerotisch (d. h. auf sich oder das gleiche Geschlecht ge- 
richtet) zu fixieren. Für die Tatsache der sadistischen Be- 
tätigung würde man andere typische Komplexe verantwortlich 
machen, die ich ebenso wie den Oedipuskomplex in den meisten 
Fällen nicht nur für unerweislich, sondern infolge der schema- 
tischen Anwendung auch für trivial und letzten Endes oft genug 
für überflüssig halte. In unserm Fall ist eine Fixierung des 
Geschlechtstriebes gar nicht erfolgt, wie die später aufgeflammte, 


*) Oedipus, sagenhafter König von Theben, Sohn der Jokaste, heiratete 
später, ohne es zu wissen, seine Mutter. 


Saaler: Die Bedeutung d. psychoanalitischen Methoden u. Theorien usw. 107 


zweifellos starke Neigung für das Mädchen erkennen läßt. 
Wäre sie es aber, so würde zur Begründung der gleiche Um- 
stand völlig ausreichen, der für die Regression der Libido auf 
die frühere Entwicklungsstufe nach erfolgter Liebesenttäuschung 
verantwortlich gemacht werden muß, nämlich die Furcht vor 
dem Weibe infolge seiner Überschätzung und des mangelnden 
Vertrauens zu seiner erfolgreichen Aggression. Diese Begrün- 
dung fußt nicht auf der Lehre Freuds, sondern auf den Theo- 
rien Alfred Adlers*), auf die ich noch zu sprechen komme. 
Gleichgültig aber, ob man Mutterkomplex oder Minderwertigkeits- 
gefühl gegenüber dem Weibe für die Regression der Libido 
verantwortlich macht, in beiden Fällen sieht man in der Per- 
version etwas Sekundäres, was erst infolge der Flucht vor dem 
Weibe in Erscheinung treten kann. Würde man diesen Tat- 
bestand auf analytischem Wege nicht geklärt haben, so hätte 
zweifellos die Gefahr einer bleibenden Perversion oder Inversion 
des Geschlechtstriebs bestanden. Die Entstehung einer In- 
version auf diesem Wege kann also nicht geleugnet werden, 
indessen müssen wir solche Fälle als Pseudohomosexualität 
von der echten biologisch bedingten Inversion trennen, was die 
Freud’sche Schule bekanntlich nicht tut. 


*) Alfred Adler, Der nervöse Charakter. 
(Schluß folgt.) 


SS 
ZWECK UND LIEBE. 


Eine Studie zu den ethischen Grundfragen der Liebe. 
Von stud. phil. HERMANN DONISCH, Jena. 

Hein Menschen richten sich die Mittel nach den Zwecken, 
» іп der Natur richten sich die Zwecke nach den Mitteln.“ *) 
Die klare Erkenntnis dieser schlichten Wahrheit mit allen ihren 
Konsequenzen würde die Menschen von vornherein bewahrt haben 
vor der naiven teleologischen Weltanschauung mit allen ihren 
Konsequenzenundvorder unnötigenEreiferung um den sogenann- 
ten teleologischen Gottesbeweis. Doch auch heute noch stehen 
nicht wenige Menschen unter dem Einfluß teleologischer Zwangs- 
vorstellungen und vermögen sich nicht über diese jahrhunderte- 


*) Carneri, Der moderne Mensch, 5. Auflage S. 61. 


108 Donisch: Zweck und Liebe 


lange Selbsttäuschung des Menschengeistes hinweg zur schlich- 
ten Wahrheit durchzuringen. Immer noch halten sie die Zwecke, 
die sie erst kraft ihrer zweckformenden Vernunft- und Ver- 
standesfunktionen in die Welt hineingeschrieben, für ureigene 
Schrift dieser Natur selbst. Doch diese Natur selbst kennt 
keine Zwecke, sie ist zwecklos, weil alle ihre Seinszustände 
und Seinsformen**) so, wie sie sind, sein müssen und nicht 
sollen oder wollen. Nur ein Sollen oder Wollen in der Natur 
würde den Zweckbegriff überhaupt erst rechtfertigen. 

Alle Seinsarten des Allseins bestehen jedoch nebenein- 
ander ohne jede Zweckbeziehung, absichtslos; sie rechtfertigen 
ihr Sein lediglich durch sich selbst in ihrem Selbstzweck. 
Seinsarten aber, die nur zu sich selbst in Beziehung stehen, 
stehen damit auch außerhalb jeder sittlichen Wertung. Der 
Begriff des Guten und Bösen ist nur denkbar bei der Zweck- 
beziehung zwischen zwei oder mehreren Seinsarten, einer Be- 
ziehung, die ein Sollen oder Wollen voraussetzen würde. 
Treten nun zwei absichtslos nebeneinander bestehende Seins- 
arten, die als solche das augenblickliche Endglied einer natur- 
gesetzlichen Kausalreihe darstellen, miteinander in Wechsel- 
beziehungen (nicht zu verwechseln mit Zweckbeziehungen), eine 
Zufallsmöglichkeit, die bei der Kontinuierlichkeit des Weltganzen 
dauernd gegeben ist, so können sie sich in ihrem Sein ein- 
seitig oder gegenseitig stärken oder auflösen. Diese Wechsel- 
beziehung erfolgt dann ganz außerhalb des Rahmens von Gut 


**) Zum besseren Verständnis des nachfolgenden möchte ich hier 
gleich kurz die von mir gebrauchten Begriffe „Seinszustand“ und „Seins- 
form“ erläutern. Beide Begriffe betrachte ich als Teilbegriffe des über- 
geordneten Seinsbegriffes „Allsein“. Seinszustände und Seinsformen sind 
Seinsarten des Allseins.. Zu den Seinszuständen gehören alle physika- 
lischen Bewegungen, sowie alle Gefühle und Empfindungen; zu den Seins- 
formen gehören alle anorganischen und organischen Individuen, wie 
Sterne, Erden, Sonnen, Pflanzen, Tiere, Menschen. Denken, Wollungen 
und Handlungen führe ich nicht gesondert auf, weil sie als Seinszustände 
sich zurückführen lassen auf ihre Ur-Seinszustände „Gefühl“ und „Empfin- 
dung“. Ein näheres Eingehen auf diese Probleme würde mich hier zu 
weit führen. Nach der dynamischen Weltauffassung würde man ja auch 
alle Seinsformen als Seinszustände ansehen müssen. Doch ist die Zwei- 
teilung des Allseins in Seinszustände und Seinsformen der Übersichtlich- 
keit und des besseren Verständnisses wegen bei unserer Betrachtung 
notwendig. 


Donisch: Zweck und Liebe 109 


und Böse, nur innerhalb des Rahmens einer unerbittlichen 
Naturgesetzlichkeit mit all ihrer Grausamkeit und Tragik. Die 
Seinsform eines Diphteriebazillus oder der Seinszustand eines 
Blitzes, denen die Seinsform eines Menschenkindes zum Opfer 
fällt, sind ethisch völlig indifferent, sie stehen vor dem Antlitz 
der Natur rein und fleckenlos da, einfach aus dem Grunde, 
weil sie nicht wollen oder sollen, sondern müssen. Erst der 
.zweckformende und bewertende Mensch deutet alle ungewoll- 
ten Wechselbeziehungen in gewollte und gesollte Zweckbe- 
ziehungen um, indem er bei der Wechselbeziehung zweier Seins- 
arten diejenige, die er höher wertet, als Zweck überordnet und 
diejenige, die er niedriger wertet, als Mittel zum Zweck unter- 
ordnet. Ein Hauptaxiom seines Wertens über Gut und Böse 
ist nun die Annahme, daß alle Seinszustände und Seinsformen 
des Allseins dem Individual- und Gattungssein des Menschen 
als Mittel zum Zweck unterzuordnen seien, d. h. daß alle Seins- 
arten, also auch Wollungen und Handlungen gut seien, wenn 
sie die Seinsart „Mensch“ fördern und stärken, dagegen 
schlecht, wenn sie die Seinsart „Mensch“ mindern und auf- 
lösen. Dieses Axiom, daß die Welt mit allen ihren Seinszu- 
ständen und Seinsformen letzten Endes Mittel zum Zweck 
„Mensch“ sei, ist wohl die größte Selbstgefälligkeit und Selbst- 
täuschung zugleich, die sich der Mensch je geleistet hat. Der 
Mensch ist eben als Seinsart, als Glied des Allseins, natur- 
gewollt weder übergeordnet noch untergeordnet, sondern bei- 
geordnet. In der Natur gibt es keine gewollte Überordnung 
einer Seinsart über die andere; es gibt nur eine absichtslose 
Koordination der Selbstzwecke, nie eine gewollte Subordination 
eines Selbstzweckes zu einem Mittel zum Zweck. — 

Diese Einsicht in die „natürliche“ Absichtslosigkeit, diese 
Befreiung von allen teleologischen Vorurteilen ist nun aber 
auch für eine natürliche und unbefangene Beurteilung mensch- 
licher Liebeslust nicht ohne Bedeutung. Die Liebe, die sinn- 
liche Liebesempfindung, ist in ihrer Eigenschaft als Empfindung 
ein Seinszustand des Allseins, der wie alle Seinszustände und 
Seinsformen zunächst völlig absichtslos als Möglichkeit im 
Schoße des Weltalls ruhte. Man muß sich (wenn’s auch 
schwer fällt) erst einmal vollkommen daran gewöhnen, sich 
die Liebesempfindung losgelöst zu denken von jeder Wechsel- 
und Zweckbeziehung zu anderen Seinsarten, also auch von 


110 Donisch: Zweck und Liebe 


jeder menschlich hineingedeuteten Zweckbeziehung zur Seins- 
art des vegetativen, organischen Individual- und Gattungslebens 
des Menschen. Man muß sie sich zunächst als Seinszustand ganz 
ohne Wechselbeziehung denken, ganz ohne Zweckbeziehung, 
ganz in sich selbst ruhend, ganz als Selbstzweck. Daß dieser 
Seinszustand der Liebesempfindung nun später im Laufe der 
Entwicklungsgeschichte gleichsam hochgezüchtet ist in gegen- 
seitig fördernder Wechselbeziehung zu der Seinsart des vege- 
tativen, organischen Gattungslebens, ist vom Standpunkt der 
Natur aus ein reines Zufallsergebnis, ungewollt und absichts- 
los, vom anthropozentrischen Standpunkt des Menschen aus 
aber, anthropozentrisch ausgedrückt, ein glücklicher Schachzug 
der Natur. Die Tatsache, daß uns heute der Seinszustand der 
sinnlichen Liebesempfindung nur noch in gebundener Wechsel- 
beziehung zu einer tierischen Seinsform und ihrer Fortpflan- 
zung als möglich entgegentritt, ist entwicklungsgeschichtlich 
zwar verständlich, darf uns aber nie zu dem teleologischen 
Trugschluß verleiten, daß hier nun etwa ein naturgewolltes 
Subordinationsverhältnis von Mittel „Lustempfindung“ zum 
Zweck „Fortpflanzung“ bestehe.*) Die Behauptung, die Liebe 


*) Wie sehr jedoch gerade diese scheinbare, naturnotwendige Ver- 
knüpfung von Liebesempfindung und Fortpflanzung von eben dieser 
Natur selbst schon wieder gelockert ist im Laufe der Entwicklungs- 
geschichte, mag folgende Betrachtung dartun: Beim Manne steht der 
Gipfelpunkt der sinnlichen Liebesempfindung, der Orgasmus, in enger, 
scheinbar unlösbarer Verknüpfung mit der gleichzeitigen Loslösung der 
Fortpflanzungszellen (Ejakulation). Genau dieselbe enge Verknüpfung 
von Orgasmus und Loslösung der Fortpflanzungszellen bestand nun 
aber auf einer früheren Ahnenstufe des Menschen (Fisch - Amphibium- 
stadium) wahrscheinlich auch beim Weibe. Und doch ist dieser 
enge Kausalzusammenhang von Liebesempfindung und Loslösung der 
Fortpflanzungszellen im Laufe der Entwicklung beim Weibe eigentlich 
wieder vollkommen verschwunden, so daß heute der Orgasmus des 
Weibes in gar keiner Beziehung mehr steht zur Ablösung der Fort- 
pflanzungszellen. Diese nachträgliche Trennung der Liebesempfindung 
von der Loslösung der Fortpflanzungszellen hat der Mann nicht mit- 
gemacht. Über den Nutzen oder Schaden dieser männlichen Rückstän- 
digkeit kann man ja nun zweifacher Meinung sein, und will ich dem 
Urteil der Leser an dieser Stelle in keiner Weise vorgreifen. Tatsache 
ist, daß diese Verknüpfung beim Manne nun einmal besteht und eine 
Lösung vorerst nicht abzusehen ist. Das beweist aber an sich nichts 
gegen die Möglichkeit. Was ist in der Natur unmöglich" — 
Mag dies immerhin als utopistisches Ideal angesehen werden, unsittlich 


Donisch: Zweck und Liebe 111 


sei für die Fortpflanzung da, ist genau so sinnlos, wie die Be- 
hauptung, die Fortpflanzung sei für die Liebe da. Beide sind 
zunächst für sich selbst da, ohne Zweck und Wert, weder 
guten noch bösen. Naturgewollte Zwecke gibt es nicht. 

Ein Beispiel aus dem Pflanzenleben wird den Widersinn 
teleologischer Naturauffassung noch deutlicher machen: Be- 
kanntlich ist im Laufe der Entwicklung der Seinszustand des 
Windes zu der Seinsart der Pflanze in die Wechselbeziehung 
der Windbestäubung getreten. Hieraus nun, aus dieser Zufalls- 
beziehung, den teleologischen Trugschluß zu ziehen, der Wind 
habe für die Pflanze einen naturgewollten Gattungszweck, ist 
doch unberechtigt und bedarf keiner Widerlegung. Dasselbe 
gilt für die Wechselbeziehung zwischen Pflanze und Insekt 
bei der Insektenbetäubung. Wind, Pflanze und Insekt sind in 
erster Linie für sich selbst da als Selbstzweck und nicht als 
naturgewollte Mittel zum Zweck. Erst in zweiter Linie darf 
der Mensch mit seiner Zweckbrille diese gegenseitigen Wech- 
selbeziehungen der Seinsarten umdeuten in Zweckbeziehungen, 
d. h. den Selbstzweck einer Seinsart (z. B. des Windes und 
der Insekten) zu einem Individual- oder Gattungszweck einer 
anderen Seinsart (z. B. der Pflanze) erweitern. Das hebt aber 
den Selbstzweck nicht auf. SE 

Genau so ist es mit der Wechselbeziehung des Seinszu- 
standes „Liebesempfindung“ zu der Fortpflanzung der Seins- 
form „Mensch“. Diese Beziehung, die sich im Laufe der 
organischen Entwicklung herausgebildet hat, darf man nie ohne 
weiteres als naturgewollte Absicht teleologisch ausdeuten. 
Damit würde man der Natur wieder einmal Absichten unter- 
schieben, die ihr garnicht zukommen. Auch hier kann man 
zunächst nur von einem Selbstzweck der beiden Seinsarten 
reden, dem man dann als zweckformender Mensch noch einen 
Individual- und Gattungszweck erweiternd hinzufügen mag, 
wertend nach dem Grundsatz unseres bekannten Menschen- 
Axioms. 


ist es darum nicht. Was kann wohl der sittlichen Freiheit reifer 
Menschen würdiger sein als ein Zustand, bei dem Mann wie Weib 
nicht mehr Sklaven, sondern Herren sind nicht nur der Fortpflanzung, 
sondern auch der Liebe, ein Zustand, bei dem die Trennung von Liebes- 
lust und Fortpflanzung nicht nur in der Idee, sondern auch in der 
Tat besteht. j 


112 Donisch: Zweck und Liebe 


Die klare und scharfe Trennung dieser drei Zwecke ist 
nun für die Gewinnung klarer und scharfer Werturteile über 
die Liebe und Liebeshandlungen unbedingt erforderlich. Die man- 
gelnde Erkenntnis, die dauernde Verwechslung und unklare 
Scheidung dieser drei Zwecke sind die Ursachen jener ver- 
worrenen und törichten sexualethischen Werturteile und Vorurteile 
der Vergangenheit und Gegenwart, unter deren Druck die 
Menschen so oft gelitten und sich um ihr eigenes Glück be- 
trogen haben. Diese törichten Werturteile stammen zumeist aus 
den oft recht törichten Lebensanschauungen des christlichen 
Mittelalters, Anschauungen, die den damaligen Menschen mit einer 
Ernergie und Suggestionskraft aufgezwängt wurden, die bis in 
unsere heutige Zeit nachwirkt. Zunächst verfielen die christ- 
lichen Kirchenvertreter bei ihrer vollkommenen Weltabgewandt- 
heit auf den absurden Gedanken, daß die sinnliche Liebes- 
empfindung als solche, noch ganz abgesehen von ihrem Individual- 
oder Gattungszweck, bereits an sich schon moralisch minder- 
wertig, schlecht und böse sei. Den logischen Unsinn dieses 
Werturteils brauche ich wohl nach den vorhergegangenen 
Betrachtungen nicht weiter zu erläutern. Er besteht eben darin, 
daß man über die sinnliche Liebe als solche, losgelöst von 
ihrem Individual- und Gattungszweck, außerhalb des Rahmens 
von Gut und Böse, überhaupt ein sittliches Werturteil fällte, 
daß man in eine Sache einen Wertbegriff hineinbrachte, der 
zunächst noch gar nicht hineingehört. — 

Den Individualzweck der Liebe hat man wohl im Mittel- 
alter überhaupt nicht beurteilt, wahrscheinlich aus dem ein- 
fachen Grunde, weil man ihn als solchen überhaupt noch gar 
nicht richtig erkannte, geschweige denn scharf vom Gattungs- 
zweck zu trennen wußte. Auch heute noch wird wohl vielen 
Menschen diese scharfe Trennung (auch in der Wertung) von 
Individualzweck und Gattungszweck der Liebe neu und nicht 
sonderlich geläufig sein. Und doch ist gerade die scharfe 
Sonderwertung der Liebe im Hinblick auf diese beiden Zwecke 
zur Lösung unseres Problems von der größten Bedeutung. 

Die psycho-physiologischen Wechselwirkungen zwischen 
dem Seinszustand der Liebe und dem Individualsein des 
Menschen sind äußerst mannigfaltige, wechselnd zwischen 
höchster Seinssteigerung bei harmonischer Liebeserfüllung und 
tiefster Seinsminderung bei Nichterfüllung. Höchste Schaffens- 


Tafel II 


(urajsuazyoy zyesipny wnZ) ‘OLLI W ‘OE + Sueg nz £0L1 das '67 'qa3 “wypnog Jg пол Зіницојәл 
"ISSINEW GPLI HS `шәцәцшпо, әр }йпеш1опәл sıajya9gdjessuan) sap 1ә}цдоу, 'sajresıaa ur 9/1 dv er + ‘smeg u! 
IZLI 2әд GC ‘998 *Цәтәјҳиеі4 иол ‘ЛХ З!лрпт Zo 3440190 





'snuay se mopedwog ap asınbaew uossıod 'v əpəueəf 


Tafel Ill 





“(uyojsuazyoyy zyesiny UNZ) ‘ıoyanog zuei Yen 
"цэтәЈуиРІ.] UOA 'AX SMpnT Zuoy assaew “ydıow.o 














Donisch: Zweck und Liebe 113 


steigerung und Harmonie einerseits, tiefste Resignation und 
Disharmonie andererseits. Goethe und Goethes Werther geben 
für beide Fälle treffende Beispiele. Auch rein körperlich ist 
der Einfluß der Liebe unverkennbar. Beschleunigung und 
Förderung des Blutkreislaufes, der Atmung und des Stoff- 
wechsels auf der einen, Störung und Hemmung bis zur Krank- 
heit auf der anderen Seite. Die Schwierigkeit nun, diese 
Wechselbeziehung zwischen Liebesempfindung und Individual- 
sein zu einer möglichst „guten“ zu gestalten, d. h. die Liebe zur 
größtmöglichen Steigerung des Individualseins auszunutzen, 
beruht darauf, daß die Erfüllung des guten Individualzweckes 
der Liebe, die eben meistens gleichbedeutend ist mit Liebes- 
erfüllung, scheinbar naturgewollt nur möglich ist bei gleich- 
zeitiger Erfüllung des Gattungszweckes. Wesentlich vergrößert 
wird diese Schwierigkeit innerhalb unseres modernen Gesell- 
schaftslebens noch dadurch, daß sich vielfach die Ansicht erhalten 
hat, es sei eine Liebeserfüllung nur bei gleichzeitiger Erfüllung des 
Gattungzweckes zu rechtfertigen und jede Ausschaltung des 
Gattungszweckes zugunsten des Individualzweckes sei sittlich 
verwerflich. Die Torheit und Widersinnigkeit dieses Wert- 
urteils wird folgender Vergleich bestens dartun: Denken wir 
uns in Analogie zu einem unter dem Drucke ungelöster Liebes- 
spannungen stehenden Menschen einen Menschen, der unter 
den unerlösten Elektrizitätsspannungen eines gewitterschwülen 
Sommertages zu leiden hätte. Wie töricht und unverständlich 
würde es uns nun erscheinen, wenn dieser Mensch auf das 
reinigende und befreiende Gewitter lieber deshalb verzichten 
wollte, weil die Gefahr des Blitzeinschlages sein Haus 
bedrohen könnte und er die Ausschaltung dieser Gefahr durch 
Anwendung eines Blitzableiters, den ihm die physikalische 
Einsicht an die Hand gibt, als frevelhafte Durchkreuzung der 
Naturzwecke ansieht und deshalb ablehnt. Genau so töricht 
müßte es uns aber auch erscheinen, wenn ein Mensch auf 
das reinigende Nervengewitter*) und den befreienden Liebes- 
sturm deshalb verzichten wollte, weil er die Gefahr einer 
unwillkommenen Erfüllung des Gattungszweckes der Liebe 


*) Das Wort „Nervengewitter“ stammt aus Wilhelm Bölsches 
„Liebesleben in der Natur“. Es erschien für diesen Zusammenhang 
besonders geeignet, da man auch in der Nervenphysiologie elektrische Aus- 
lösungsvorgänge als Begleiterscheinungen psychischer Vorgänge annimmt. 


8 


114 Donisch: Zweck und Liebe 


befürchten muß und die Ausschaltung dieser Gefahr durch 
Anwendung von Hilfsmitteln, die ihm die biologische Einsicht 
an die Hand gibt, für eine frevelhafte Durchkreuzung der 
Naturzwecke hält und - deshalb ablehnt. Diese Anschauung 
von der frevelhaften Naturwidrigkeit menschlichen Eingreifens 
in die Naturvorgänge ist weiter nichts als eine mangelnde 
Einsicht in die Tatsache, daß die sogenannten Naturzwecke 
den menschlichen Zwecken oft diametral entgegenlaufen und 
daß es nicht Sache des denkenden Menschen sein kann, jede 
Marotte der Natur mitzumachen; daß es vielmehr Aufgabe und 
Ziel des Menschen sein muß, wissend und korrigierend zu 
seinem Besten in die Naturvorgänge einzugreifen, kurz daß der 
Mensch ein kulturgemäßes Leben zu führen hat und nicht ein 
naturgemäßes Leben ad absurdum führen soll. — 

Ich brauche wohl nicht noch besonders zu erwähnen, daß 
der Gattungszweck der Liebe oft nicht nur zugunsten des 
Individualzweckes, sondern eben gerade um des „guten“ 
Gattungszweckes willen selber ausgeschaltet werden muß. 
Nämlich immer dann, wenn die Gefahr der Ansteckung oder 
die Gefahr der Vererbung erblicher Krankheiten vorliegt. Dieses 
ist aber so selbstverständlich, daß die Berechtigung zur Aus- 
schaltung des Gattungszweckes in diesen Fällen allgemein 
anerkannt wird. Es ist aber nicht nur ein Recht, sondern 
eine heilige Pflicht. — 

Ich könnte nun nach der Loslösung und Trennung des 
Individualzweckes der Liebe vom Gattungszweck noch einen 
Schritt weiter gehen und mir die Liebesempfindung als Selbst- 
zweck losgelöst denken nicht nur vom Gattungszweck, sondern 
auch vom Individualzweck, als einen Seinszustand, der gleich 
der Tonempfindung in der Musik hinübergerettet wird in die 
beziehungslose und damit sittlich völlig neutrale Sphäre der 
Kunst. Auch die Klangempfindung hatte ja ursprünglich, vom 
anthropozentrischen Zweckstandpunkt aus gesehen, für den 
Menschen nur einen biologischen Individualzweck als Warn- und 
Locksignal für biologisch wichtige Reize. Und doch wurde 
später dieser Individualzweck der Klangempfindung völlig 
zurückgedrängt durch die Erhebung derselben in die neutrale 
Zone der Kunst, die als solche außerhalb aller Zwecke und Begriffe 
liegt. — Wann endlich wird der Mensch reif werden, die 
Symphonien der Liebesempfindungen ebenso arglos und schuld- 


Donisch: Zweck und Liebe 115 


los hinzunehmen, wie die Symphonien der Tonempfindungen, 
wann wird er reif werden, sich der Liebeskunst ebenso 
unbefangen hinzugeben wie der Tonkunst?! Doch dazu 
gehören Künstlerseelen. — 

Ich kann nach den obigen Ausführungen zunächst keinen 
ethischen Wertunterschied zwischen lustbetonter Ton- und 
Liebesempfindung anerkennen, höchstens einen Lokal- und 
Intensitätsunterschied. Einen Lokalunterschied insofern, als die 
Tonempfindung in der Musik an das Musikzentrum und die 
Liebesempfindung in der Liebe an das Sexualzentrum unseres 
Gehirns gebunden ist.*) Einen Intensitätsunterschied insofern, 
als die sexuelle Lust der Liebesempfindungen die ästhetische 
Lust der Tonempfindungen an Intensität um ein Vielfaches 
übertrifft. Wenn ich mich nun auf den Standpunkt stelle, daß 
die Lust eine höhere Seinsart darstellt als alle anderen Seins- 
zustände und Seinsformen, so muß ich folgerichtig anerkennen, 
daß die Liebeslust in ihrer höchsten Intensität den voll- 
kommensten Seinszustand darstellt, den wir kennen. Von jeher 
spielt im Geistesleben des Menschen der Erlösungsgedanke 
eine bedeutende Rolle. In welcher Form er auch im Laufe der 
menschlichen Geschichte aufgetreten sein mag, immer denkt 
man sich die Erlösung in Verbindung und durch Vermittelung 
einer höchsten Seinsart. Siehe, hier hast du eine höchste 
Seinsart vor dir, beinahe handgreiflich, durch die die Erlösung 
des Menschen in der Zeit Wahrheit wird in Wirklichkeit, und 
nicht in Hoffnung bleibt in Unwirklichkeit! — 

Über die Bedeutung des Gattungszweckes brauche ich 
wohl nun nicht mehr allzuviel zu sagen. Derselbe ist so klar 
und einleuchtend, daß er selbst von den mittelalterlichen 
Kirchenvertretern letzthin als notwendiges Übel anerkannt 
wurde, wahrscheinlich, weil sie sonst wohl so langsam auf 
dem Aussterbeetat angelangt wären. Wenngleich, überall 
scheint man sich auch über diesen Gattungszweck noch nicht 
so ganz im klaren zu sein. Deshalb möchte ich denselben an 
dieser Stelle noch einmal kurz formulieren: „Gattungszweck 


*) Die genaue Lokalisation des Sexualzentrums ist der Wissenschaft 
bisher noch nicht gelungen. Ich vermute, daß es sich in Analogie zum 
Musikzentrum, welches sich in der Nähe der Hörsphäre befindet, in der 
Nähe der Fühlsphäre, also in der Gegend der hinteren Zentralwindung 
oder Scheitellappenpartie zu suchen ist. 


116 Donisch: Zweck und Liebe 


der Liebe ist die bewußte und gewollte Erzeugung eines 
möglichst hochwertigen Nachwuchses bei Übernahme jeglicher 
Gewähr für dessen gesicherte Aufzucht“. Wie oft jedoch gerade 
dieser Gattungszweck heute noch verfehlt wird,beweisenalleKinder 
mit den Kainszeichen des Zufalls- oder Nebenproduktes. 

Zum Schluß bleibt mir nur noch übrig, das folgerichtige 
Ergebnis unserer Betrachtungen in nachstehendem Werturteil 
zusammenfassen: 

„Liebe ist als intensivste Lustempfindung an sich, in ihrem 
Selbstzweck, weder gut noch böse. Sittliche Bedeutung gewinnt 
sie erst in ihrer Wirkung und in ihren Folgen für das Indivi- 
duum und die Gesellschaft. Dieser ethische Wert der Liebe 
bestimmt sich hinsichtlich ihres Individualzweckes nach dem 
Grade gegenseitiger individueller Lebens- und Schaffenssteige- 
rung des Einzelnen, hinsichtlich ihres Gattungszweckes nach dem 
Grade sozialer Wertsteigerung der Gesamtheit durch die Erzeugung 
neuen Lebens. Ihr sittliches Hochziel wird die Liebe in dem Ver- 
hältnis zweier Menschen dann erreichen, wenn ihr Individualzweck 
und Gattungszweck ohne gegenseitige Störung und Hemmung 
die höchste Erfüllung finden.“ (Das Ideal aller Ehereformer.) 

Ich habe es eigentlich als selbstverständlich vorausgesetzt, 
daß man bei dem Individualzweck der Liebe der Natur und der 
Sache nach, beide Kontrahenten eines Liebesverhältnisses im 
Auge haben muß. Um jedoch auch hier einer individualistisch- 
egoistischen Falschdeutung obigen Werturteils vorzubeugen, 
will ich noch folgendes ergänzend und erweiternd hinzufügen: 

„Sittlich einwandfreie und harmonische Liebes- und Ehe- 
verhältnisse sind nur da möglich, wo die Liebe zu gleichen 
Teilen im Nehmen ein Geben und im Geben ein Nehmen ist. 
Andernfalls wird der eine Partner bald in die Lage des Gläubigers 
oderSchuldners kommen, ein Zustand, der feinfühlenden Menschen 
zum mindesten peinlich, wenn nicht gar unerträglich ist. Umso- 
mehr, als es sich um eine Schuld handelt, die nicht wie andere 
Schulden durch sonstige Güter ausgeglichen werden kann und sich 
am allerwenigsten durch eine Summe Geldes, des beliebtesten und 
bequemsten Tauschmittels, bestimmen oder gar tilgen läßt. Dies 
besagt alles gegen die Liebe in der heutigen Form der Prostitution 
und in der Form jener Eheverhältnisse, die, unter falschem Kom- 
promiß abgeschlossen, trotz staatlicher Sanktion, der Prostitution 
sehr nahe kommen. Liebe läßt sich nur mit Liebe lohnen.“ 


Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 117 


BETRACHTUNGEN ÜBER DAS LIEBESLEBEN IN 
DER ZEIT DER RENAISSANCE UND DER PERIODE 


DER GALANTEN. 
Von FERD. FRHR. VON REITZENSTEIN, Dresden. 
(Fortsetzung.) 


u dem Einflusse dieser Lebensweise blühte die alte Poly- 
gamie wieder auf, wenn auch in einer eigenartigen Form. 
Polygamie mit einer Hauptfrau und Nebenfrauen war nie ganz 
unterdrückt worden, wie wir bei den Karolingern bereits ge- 
sehen haben. Die Zeit der Renaissance mit ihrer Geltend- 
machung der Individualität führte sie neuerdings durch. Sie 
tauchte unter dem Namen Mätressenwesen zwar in anderer 
Form, aber mit gleichem Inhalte wieder auf und wurde sogar 
zu einer anerkannten Form der Geschlechtsverbindung. Be- 
sonders charakteristisch für das Mätressentum ist es, daß die 
eigentliche Gattin dadurch völlig in den Hintergrund gedrängt 
wird und eigentlich nur als Mutter des Erben Bedeutung hat. 
In seinen Anfängen können wir es bereits in der Mitte des 
15. Jahrhunderts am Hofe Ludwigs XI. von Frankreich beobachten. 
Er besaß in verschiedenen Städten Geliebte, meist dortige 
Bürgersfrauen; trat aber insofern zu ihnen in ein mehr öffent- 
liches Verhältnis, als er sie auf Reisen mitnahm und sich 
auch sonst öffentlich mit ihnen sehen ließ. Zum völligen Durch- 
bruch kam es aber mit Franz l., also im Anfang des 16. Jahr- 
hunderts; denn jetzt ahmte nicht nur der Adel, sondern auch 
das Bürgertum diese neuen Liaisons nach, und die einfachen 
Geliebten fangen an, Individualitäten, wenn auch zum Teil 
sehr schwächlicher, launenhafter Art, zu werden. Den Reigen 
eröffnet die Herzogin von Etampes, ursprünglich Anne de 
Pisseleu, also bereits eine Persönlichkeit, die durch den höchsten 
Adelstitel sozusagen in der Familie legitimiert war, was für die 
Folge maßgebend blieb, wenn auch häufig eine Scheinehe dem 
Verhältnisse einen anderen Stempel aufdrücken sollte. Bereits 
hier geschah die Einführung durch die Gattin des Königs selbst. 
Heinrich IV. ahmte dieses System nach, indem er seine Ge- 
liebte Gabrielle d’Estrees zuerst zur Marquise von Monce- 
aux, dann zur Herzogin von Beaufort erhob und seinen Sohn 
von ihr als Herzog von Vendöme öffentlich anerkannte. So 
war es kein Wunder, daß man in weitesten Kreisen der Mätresse 


118 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 


mit einer fast königlichen Verehrung begegnete, denn schließ- 
lich stand sie dem Herzen des Königs näher als seine Ge- 
mahlin, die fast stets nur aus politischen Rücksichten gewählt 
worden war. Je nachdem nun der Herrscher eine kraftvolle 
Person war, bekam auch dieses Verhältnis einen mehr oder 
minder individuellen Charakter, und so darf man sagen, daß 
es unter Ludwig XIV. seinen Höhepunkt erreichte, während es 
unter Ludwig XV. bereits völlig nach der skandalösen Seite 
auszuarten anfing. Mehr wie sonst begannen aber schon unter 
Ludwig XIV. die Mätressen sich abzulösen, wenn die Laune 
des Königs auf eine andere Persönlichkeit fiel, denn bei der 
offiziellen Stellung waren zwei Hauptmätressen — so darf man 
jetzt bereits sagen — nebeneinander nicht denkbar. Die Großen 
des Reiches übernahmen dann oft die scheidende bisherige 
Sonne und bemühten sich, dafür dem Könige zu einer neuen 
Geliebten zu verhelfen, um sich so mit dieser eine einflußreiche 
Stellung zu sichern. Selbst Damen sehen wir solche Mittler- 
dienste ausführen. Ja so hoch war dieses weibliche Amt in 
Macht und Ansehen gestiegen, daß sich die Prinzessin Hen- 
riette nur zu deutlich bei Ludwig XIV. darum bewarb, wenn 
auch erfolglos. An Stelle der Gräfin von Soissons trat je- 
doch nicht sie selbst, sondern ihre Hofdame Louise de la 
Vallière, die zur Herzogin ernannt wurde. Sie war eine wirk- 
lich edle und vornehme Persönlichkeit, und es wäre sicherlich 
ein Segen gewesen, hätte sie dem König bis zu seinem Ende 
zur Seite stehen können. Die Erhebung in den Herzogstand 
vollzog sich denn auch ganz offiziell mittels eines Handschreibens, 
in dem es heißt: 

„Wir haben geglaubt, die Achtung, die wir unserer vielgeliebten und 
getreuen Louise de la Valliere zuteil werden lassen, vor der Oeffentlich- 
keit nicht besser ausdrücken zu können, als daß Wir ihr den höchsten 
Ehrentitel als ein Zeichen ganz besonderer Hochschätzung verleihen, die 
eine Menge seltener und guter Eigenschaften in Unserem Herzen erregt 
hat und Uns seit einigen Jahren die höchste Gunst für sie einflößt.“ 

Trotzdem erblaßte bald ihr Bild im Herzen des Königs, 
und Frau von Montespan, damals 22 Jahre alt, verdrängte 
sie vollends! Die Herzogin von La Valliere aber beschloß ihr 
Leben im Kloster. Die neue Nebenfrau wurde zur Marquise 
erhoben, während die bisherige die strengsten Bußübungen 
ausführte! Fast 20 Jahre dauerten die Beziehungen Ludwigs 
zur Montespan, und doch wurde sie erst nach zehnjährigem 


Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 119 


Verhältnis mit dem Könige von ihrem Gatten geschieden. Hier 
wie bei der La Vallière erkannte der König die Kinder an, 
und zwar schenkte ihm die Herzogin deren vier, die Marquise 
sechs. Für diese fand sie in der Person der Frau Scarron 
eine tatsächlich gute, aber auch sehr zielbewußte Erzieherin, 
die schließlich selbst das Interesse des Königs erregte, der ihr 
die Herrschaft Maintenon schenkte, wonach sie sich ohne 
weiteres für die Folge Madame de Maintenon nannte. Sie 
war eine große Frömmlerin und der König frömmelte mit, so 
daß die Geistlichkeit vollständig auf ihre Rechnung kam; sie 
unterstützte ihrerseits denn auch dieses neue Verhältnis mehr 
als alle früheren. Da auch noch die Montespan zu frömmeln 
begann, hatte die Erzieherin leichtes Spiel; sie nährte in ihr 
die Reuegefühle, und schon wollte sie ins Kloster gehen. Aber 
dies ward ihr wieder leid, und so kam es zu Streitigkeiten 
zwischen den beiden Nebenfrauen. Beide schlugen nun eine 
getrennte Taktik ein, die zum Verfall des Mätressentums führen 
mußte. Der Grundzug der Montespan war grenzenlose Eifer- 
sucht, und so suchte sie den König von allen übrigen Wegen, 
die er zur Befriedigung seiner Sinnenlust einschlug, abzuhalten, 
während sie sich derart erniedrigte, daß sie auf alles einging, 
was er forderte, oder sogar noch sich bemühte, ihm selbst 
alles Bordellraffinement beizubringen. Daß dies einen 
alternden Mann nicht befriedigen konnte, ist klar. Anders ver- 
fuhr Frau von Maintenon, deren Grundcharakterzug ruhige, 
kalte Überlegung war. Sie wußte nur zu gut, daß sie den 
König von anderen Liebschaften nicht abhalten konnte, und 
so begünstigte sie diese. Man hatte z. B. ein Fräulein 
von Fontayn eigens für die Wünsche des Königs erzogen, 
und mit diesem vereinte sich die Maintenon. So fiel ihr der 
Sieg zu, und als die Königin gestorben war, und die Monte- 
span den Hof endgiltig verlassen hatte, heiratete schließlich 
der König die Maintenon. Wir sehen aus diesem Entwicklungs- 
gang, daß die Mätressen so zu einer Art Kupplerinnen ge- 
worden waren, die die Regelung des königlichen Harems zu 
leiten hatten, Trotzdem blieben sie politisch kräftige Per- 
sönlichkeiten, zumal sie sich, wie das meist der Fall war, auf 
die Geistlichkeit stützten. Politischer Kuhhandel war auch da- 
mals schon an der Tagesordnung, und da eine Hand die andere 
zu waschen pflegt, brachte Frau von Maintenon ihren Freunden 


120 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 


eine glänzende Gegenleistung: die Aufhebung des Ediktes 
von Nantes, das den Reformierten den Boden ihres Vater- 
landes raubte. Über 500000 der tüchtigsten Bürger wanderten 
aus Frankreich aus, während das hübsche Bündnis von 








Maria Aurora Gräfin v. Königsmark und August d. Starke, Kurfürst v. Sachsen, 
König v. Polen (geb. 8. Mai 1662 in Stade, + 16. Febr. 1728, Mutter des berühmten 
Marschall Moriz Graf v. Sachsen, später nach 1701 Pröpstin v. Quedlinburg). 


Mätressentum und Geistlichkeit die Grundlage der 
französischen Revolution schuf. Mätressen und Geist- 
liche versahen Ludwig XV. mit ganz verkommenen Geschöpfen, 
lediglich um sich die Herrschaft zu sichern. Zunächst war es 
der Kardinal Fleury, der diesen Posten zweifelhaften Rufes 
übernahm, und nur seine Absicht, eine möglichst rückgratlose 


Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 121 


Bewerberin zu finden, hielt die schlimmsten Auswüchse noch 
zurück. Frau de Mailly war wenigstens dem Luxus ab- 
geneigt. Aber der Kardinal war unvorsichtig. Ludwig XV. 
hatte große Vorliebe für sehr junge Mädchen, und so kam 
eines Tages ihr Schwesterchen aus dem Kloster zu ihr auf 
Besuch nach Versailles mit der Absicht, den König für sich 
zu gewinnen. Dies gelang, und trotz ihrer Jugend war ihr 
Einfluß so groß, daß der Kardinal damit wenig zufrieden war. 
Sie starb plötzlich, und es gab Leute, die den Kirchenfürsten 
nicht von der Schuld freisprachen am Tode der Frau von 
Vintimille, denn das junge Mädchen war zu einer Scheinehe 
veranlaßt worden. Nun tauchte eine zweite Schwester der Frau 
von Mailly auf, Frau von La Tournelle. Sie war fast noch 
zielbewußter als ihre Schwester und knüpfte ihre Hingabe an 
gewichtige Bedingungen. Sie forderte Herzogsrang und dem- 
entsprechende finanzielle Sicherstellung, sowie die — Unter- 
bringung ihrer Schwester in einem Kloster. Es geschah; die 
Reihen des französischen Hochadels waren durch die „Her- 
zogin von Chateaurox“ vermehrt. Das gleiche Schauspiel: 
die energische Dame starb plötzlich, und auch hier wird wieder 
von Gift gesprochen. Frau d’Etoiles erschien auf dem Plane; 
entsprossen einer geringen und dazu sehr zweifelhaften Familie, 
hatte man sie absichtlich für den König „vorbereitet“; wenig- 
stens pflegte ihre Mutter sie einen „Königsbissen“ zu nennen. 
So zog sie denn durch Vermittlung eines Kammerdieners am Hofe 
ein, nachdem der König die beiden bisherigen Mätressen des 
Cardinal Richelieu, die ihm dieser ehrerbietigst überlassen wollte, 
abgelehnt hatte. Der Gatte der Frau d’Etoiles wurde einfach 
nach Avignon verbannt, während sie selbst zur Marquise 
von Pompadour erhoben wird. Zunächst tat sie alles, was 
der König von ihr wünschte, dann umgab sie ihn — wenig 
eifersüchtig — mit weiblichen Kreaturen, die keinen sonder- 
lichen Ehrgeiz hatten, aber gegen Geld zu allem bereit waren. 
Auch die Ausgestaltung des bekannten Hirschparkes war ihr 
Werk. Hier wurden junge Mädchen aller Kreise in Einzelhaft 
erzogen, ohne zu wissen, für wen und für welchen Zweck. 
Bald erschien der König, und man spiegelte dieser mensch- 
lichen Ware vor, es sei ein fremder Edelmann, und ließ sie 
bei diesem Glauben — denn Ludwig XV. wünschte die „Moral“ 
zu wahren. Der politische Einfluß der Pompadour war ge- 


122 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 


waltig, und Maria Theresia, die sonst so viel auf ihren guten 
Ruf gab, richtete Briefe an sie, in denen sie die königliche 
Mätresse mit „gute Cousine“ und „liebe Freundin“ ansprach. 
Als sie am 15. April 1764 starb, erhielt sie eine Nachfolgerin 
in der Gräfin Dubarry, die die Tatkraft der Pompadour 
nicht besaß, sie in Verkommenheit aber bei weitem übertraf. 
Wenn ein Kopf mit Recht auf der Guillotine der französischen 
Revolution fiel, so war es dieser. Von Haus aus ein Bordell- 
mädchen mit dem Namen „Ange“ (Engel), wurde sie an einen 
Grafen Dubarry verheiratet. Der König war so entzückt von 
ihr, daß der Herzog von Noailles einmal äußern konnte: „Sire, 
man sieht, daß Sie noch nie an einem gemeinen Orte waren.“ 
Unter Ludwig XVI. trat eine Art Ernüchterung ein; er scheint 
kein allzu großer Frauenfreund gewesen zu sein, während dafür 
umgekehrt Maria Antoinette allerlei Beziehungen unterhielt. 

In den übrigen Ländern war es nicht viel anders, zumal 
im Zeitalter Ludwigs XIV. Freilich verhinderten die doch ge- 
sünderen Verhältnisse Deutschlands die ärgsten Auswüchse 
des ungesunden Mätressentums. Ansätze davon sind allerdings 
in Deutschland gleichzeitig mit Frankreich aufgetreten, so schon 
im 16. Jahrh. am Hofe des Kurfürsten Joachim I. von Branden- 
burg, der mit seiner zweiten Gemahlin Hedwig zerfiel, weil er 
in Beziehung zur „schönen Gießerin“ Anna von Sydow, der 
Witwe eines Stückgießers, trat, die auf die Politik starken Ein- 
fluß ausübte. Überhaupt ist in Deutschland oft sehr schwer 
zwischen einer Geliebten und einer Mätresse zu unterscheiden, 
und gar häufig haben wir es mit ersterer zu tun, wenn auch 
gewisse Kreise das „französische“ Wort vorzogen. Das Haus 
Habsburg war an solchen Liebschaften und daraus entsprossenen 
Kindern sehr reich; aber überall haben wir es doch eigentlich 
in ihren Müttern mehr mit Mädchen oder Frauen zu tun, die 
in keinerlei Weise ihr Liebesverhältnis mit einer öffent- 
lichen Stellung am Hofe verbanden. Auch manche ge- 
krönten Frauen waren außerehelichen Liebesverhältnissen sehr 
geneigt, wie das ja eben im Geiste der Zeit lag, und man er- 
zählt sich besonders von der Gattin Kaiser Sigismunds, daß 
sie auf dem Konzil zu Konstanz mehr als frei aufgetreten sei. 
Erst im Laufe des 18. Jahrhunderts kommt das Mätressenwesen 
mehr zur Geltung, so in Frau von Grävenitz am Hofe Herzog 
Eberhard Ludwigs von Württemberg. Sie war eine hübsche, 


Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 123 


romantisch veranlagte Mecklenburgerin, die mit ihrem Musik- 
lehrer durchgebrannt war und in Stuttgart in der Komödie 
auftrat. Der Herzog liebte sie glühend und ehelichte sie später 





Marie Angelique de Scoraille, Herzogin von Fontange, Maitresse König Ludwigs XIV. 
als Venus, geb. 1661, | 1681. Nachfolgerin der Montespan. 


morganatisch. Ähnlich ist es mit der Gräfin Lichtenau; 
oder wie sie von Hause aus hieß: Wilhelmine Enke (geb. 1754 
zu Berlin). Sie stand in einem ehrlichen und soliden Liebes- 
verhältnis zum damaligen Kronprinzen, dem nachmaligen König 


124 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 


Friedrich Wilhelm II. von Preußen, und wurde später mehr 
seine Freundin als seine Mätresse. Freilich hat sie den sonst 
nicht sehr fähigen König noch mehr abgelenkt und war, wenn 
auch wider ihren Willen, die Ursache großen Geldaufwandes, 
der dem damaligen preußischen Hof immerhin empfindlich 
sein mußte. 

Die nordischen Staaten blieben mehr ihrer nationalen Über- 
lieferung treu. Eine eigenartige Ausnahme macht vor allem 
Königin Christine von Schweden, die Tochter Gustav 
Adolfs, die sich durch ihre Sinnlichkeit zu brutalen Handlungen 
hinreißen ließ und nach ihrer Thronentsagung (1654) ihren 
Wohnsitz größtenteils in Paris nahm. Sie war verwachsen, 
soll aber eine besonders schöne Haut besessen haben, weshalb 
sie sich ihren Verehrern nackt auf einem schwarzsamtenen Bette 
zu zeigen beliebte. Den Italiener Monaldeschi ließ sie er- 
morden, weil er zuviel von ihr wußte. In Rußland herrschten 
ganz barbarische Verhältnisse, die durch einen Zug von Sadis- 
mus oft ans Pathologische streifen. Besonders erwähnt muß 
die Lebensweise der Kaiserinnen werden, die das französische 
Mätressenwesen im umgekehrten Sinne genau nachahmten und 
so eine auf sexueller Basis beruhende Günstlingswirtschaft 
schufen, die unter Katharina Il. ihren Höhepunkt erreichte. 
England hat zeitweise Naturen hervorgebracht, die völlig in 
die italienische Renaissance passen. Dazu gehört besonders 
König Heinrich VIll. Verbrechen und Geistesgröße schmelzen 
in ihm ineinander. Ganz dem Geiste der Zeit entsprechen 
seine Briefe. So schreibt er einmal an Anna Boleyn, seine 
spätere Frau, die er dann enthaupten ließ: „Ich übersende Euch 
Hirschfleisch, es stellt meinen Namen dar (hart = Harry), und 
ich hoffe, daß Ihr auch noch, so Gott will, von meinem Fleische 
genießen sollt, wonach Ihr, wie ich glaube, so sehr verlangt 
wie ich nach Eurem.“ Noch mehr an das verbrecherische 
Element grenzt das Liebesleben Maria Stuarts, der aber 
andererseits die imponierende Individualität vollständig fehlte. 
Über Italien haben wir uns in der „Entwicklungsgeschichte 
der Liebe“*) bereits eingehender verbreitet. Solche Individuali- 
täten, wie sie sich hier Bahn brachen, haben wir in Deutsch- 


*) Frhr. v. Reitzenstein: Entwicklungsgeschichte der Liebe. Stutt- 
gart 1908. 


Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 125 


land und in Frankreich nur wenige, und wo sie vorkommen, 
haben sie doch etwas an sich, was sie vom Kreise der Galanten 
nicht frei werden läßt. Das zeigt z. B. die berühmte Ninon 
de /’Enclos, die 1616 geboren wurde. Das geistreiche und 
hochgebildete, überaus schöne Mädchen fand keinen Gefallen 
am offiziellen Eheleben; sie war bestrebt, ihr irdisches Dasein 
nach eigenen Prinzipien zu gestalten, und huldigte daher der 
freien Liebe, die ihr nur Vergnügen, keine Verpflichtung bringen 
durfte. Ihre Liebhaber wurden entlassen, sobald sie auf- 
hörte, sie lieben zu können, und sehr schlagfertig ant- 
wortete sie dem groen Condé, der ihr ihre Unbeständigkeit 
vorwarf: „Warum haben Sie aufgehört, mir liebenswürdig zu 
erscheinen?“ In Ninons Salon verkehrten nicht nur die vor- 
nehmsten, sondern auch die geistvollsten Kreise, und Ninon 
bewahrte ihre bezaubernde Schönheit bis in ihr höchstes Alter 
Am 17. Oktober 1706 starb sie, 90 Jahre alt, und vermachte 
noch dem jungen Voltaire 2000 Livres zum Ankauf von Büchern. 

Diesem Liebesleben, das wirin der „Entwicklungsgeschichte 
der Liebe“ als „Klassenliebe“ bezeichnet haben, tritt, wie 
wir am gleichen Orte zeigen, zu allen Zeiten gleicherweise ein 
volkstümliches Element, die bürgerliche Liebe, zur Seite. Diese 
ist von einem romantischen Element getragen, von einer 
Liebe zur Natur, die dem Verkehr beider Geschlechter nicht 
nur ein feineres Empfinden, sondern auch eine gesunde Sinn- 
lichkeit erhalten hat. Diese Liebe allein war entwick- 
lungsfähig und war für unsere Zeit die Grundlage; sie allein 
ging tiefer, und nur bei ihr flatterte der Mann nicht von Blume 
zu Blume, nachdem er von jeder den Honig geraubt hatte. 
Auch der Mensch der bürgerlichen Liebe fordert 
volle Gewährung, aber nicht zur momentanen Be- 
friedigung, sondern als Ausdruck des Aufgehens in- 
einander. So ist es dankbar, und wenn das Schicksal mit 
eiserner Hand das zarte Band der Liebe zerrissen hat, dann 
klingt in ihm der ganze Zauber einer glücklichen Zeit wieder 
und wird zu einer Symphonie, deren Nachklänge in wunder- 
baren Gedichten noch die Nachwelt heben und verfeinern. Das 
hat die Klassenliebe nicht vermocht; was sie von bleibenden 
Werten beisteuerte, war die Individualisierung und das Be- 
streben, sich in bewußten Gegensatz zur Askese zu setzen. 
Gibt es feineres Empfinden, als es in folgenden Gedichtchen 


126 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 





ausgedrückt ist? Das erste war 1534 in Nürnberg vorhanden, 
das zweite 1556 bereits aufgezeichnet. 


„Ach Elslein, liebes Elselein 
wie gern wär ich bei dir! 
so sein zwei tiefe waßer 
wol zwischen dir und mir. 


Das bringt mir großen schmerzen, 
herzallerliebster gsell! 

red ich von ganzem Herzen, 
hab’s für groß ungefell!‘ 


Hoff, zeit werd es wol enden, 
hoff, Glück werd kummen drein, 
sich in als guts verwenden, 
herzliebstes Elselein !“ 


„Ich hört ein sichellin rauschen, 
wol rauschen durch das Korn, 
ich hört ein fein magt klagen: 
sie hat ir lieb verlorn. 


La rauschen, lieb, la rauschen! 
ich acht nit wie es ge; 

ich hab’ mir ein bulen erworben 
in feinl und grünen kle. 


Hast du ein bulen erworben 
in feinl und grünen kle, 

so ste ich hie alleine, 

tut meinem Herzen we.“ 


Oder welch goldige, herzige Liebe klingt aus den folgenden 


trauten Strophen (1569): 
„Es fleugt ein kleines Wandervögelein 
der lieben fürs Fensterlein, 
es klopfet also leise 
mit seinem goldschnebelein: 
‚stand auf, herzlieb, und laß mich ein 
ich bin so lang geflogen 
wol durch den willen dein.‘ 


Bist du so lang geflogen 

wol durch den willen mein, 

kommt heint um halber mitternacht! 
so will ich dich lassen ein; 

ich will dich decken also warm 

ich wil dich freundlich schließen 

in meine schneeweiße arm.“ 


Wie die Gedichte zart, so sind die Liebesbriefe jener 
Zeit originell, zum Teil von einer überraschenden Offen- 
heit. Einzelne sind uns erhalten, so ist der folgende an eine 
„Jungfer zu Amsterdam“ gerichtet und stammt aus einem alten 
Flugblatt: 


Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 127 


„Meinen freundlichen Gruß | mit Wünschung alles Gutes zuvor. Ins- 
besonders günstige hertzliebste Jungfer Gretchen | ich wünsche euch 
sambt eurem Vater und Mutter viel Guts | denn ich hätte bey dieser 
kalten Winters-Zeit | freundliches liebes Hertzchen | mein Schätzlein 
mein hunderttausend Dinglein | euch vorlängst gerne geschrieben | aber 
ich habe keine Gelegenheit gehabt | dann jetzund / und bitte euch mein 
Hertzlein | mein Schätzlein / mein hunderttausend Dinglein und hertz 
verguldetes Gretchen | wenn ihr den Brief gelesen habt | wolt ihn also- 
bald zerreißen | das er nicht unter die Leute komme | und mich vexiren - 
aber ich frage nichts darnach | und kan sie wohl über die Schnautz 
holen. Der Henker hole sie | wie ihr am nechsten wohl gesehen | da 
wir beyde zur Hochzeit giengen | und ich meinen Jungen das Gewehr 
ließ holen / denn ich habe euch aus Grund meines Hertzens lieb und 
wenn ich euch nicht sehe / weiß ich nicht was ich anfangen soll | denn 
ich ohn Unterlaß an euch gedenke. Potz Slapperment Gretchen | ich habe 
euch lieb / wenn ich euch aber sehe | oder von euch höre reden | glaubts 
mir mein Hertzlein / mein Schätzlein | mein hunderttausend Dingelein | und 
hertzvergüldetes Gretchen / oder ich will mein Lebenlang ein loser Schelm 
sein | das Hertz springt mir vor Freude immer auff. Ich hab euch im 
Kretschen einst nicht recht ins Gesicht können sehen | Potz Slapperment | 
das verdreust mich noch | auch habe keine lieber in der gantzen Welt | 
dann euch j; und daß ihr mich auch ein wenig lieb habt | das weiß ich 
auch gar wohl. Gräntzel der Narr | gönnt es mir nicht [ich wil bey 
euch zu Bier kommen | und wil Hanns Gürgen mit der Lauten mitbringen, 
und mit euch tantzen / ich wil mit keiner lieber tantzen als mit euch / und 
wenn es schon ein Haase wäre | frage ich doch nichtes darnach. Mein 
allerliebstes Hertzlein / ihr wollet mir wiederum. schreiben | wie es eurem 
Vater und Mutter gefallen hat / da ich euch am nächsten den Krantz 
schickete | denn es hat mir überaus wohl gefallen, daß ihr den meinet- 
wegen getragen habt. Mein liebes Hertzlein | ihr dürfft euch nicht ärgern 
oder verwundern ; daß ich noch keinen Barth habe / denn wenn mir der 
Barth anfängt zu wachsen | werde ich noch einen viel schöneren Barth 
bekommen / als mein Vater Elias. Ich habe diesen Sommer nur drey 
Tage über diesem Brief geschrieben | in meiner Kammer /und es war zu 
der Zeit sehr kalt | da ich diesen Brief schrieb; Potz Slapperment | Gretchen I 
wie fror mich damahls / Vale. 


P. S. Ich hoffe | mein Hertzlein, mein Schätzlein, mein hundert- 
tausend Dinglein / mein vergüldetes Gretchen | und vielgeliebtestes Venus- 
Lieb /du wirst mich wol nicht verlassen | nach eurem Versprechen | zu 
tausend guter Nacht | diß hab ich in Eyl gemacht. Potz Slapperment 
Gretchen / ich habe euch dann noch sehr lieb! Adieu 

Verbleibe indessen 


Hanns Sommeroth.“ 


Wie sorgfältig mag dieser liebe „Hanns“ den Brief aus- 
gearbeitet haben; schrieb er doch drei Tage daran! Wie stolz 
mag er gewesen sein, als ihm dieses Meisterstück gelungen 
war! Und trotz aller Formen, die hier durchblicken, ist er 
doch so recht vom Herzen geschrieben. Liebesbriefsteller 
gab es damals bereits. So stammen die beiden folgenden, höchst 


128 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 





originellen Briefe aus der Nürnberger „Brief-Verfassungs-Kunst“ 
von 1682; sie geben zugleich an, wie man damals in feinen 
Kreisen zu schreiben pflegte: 


„Hochgeehrte Jungfer! 

Der aller Menschen allgewaltige Hertzens-Bezwinger und blinde 
Schütz hat an mir geringe Macht seiner gewöhnlichen Tyranney (wenn 
anders die Libe also zu nennen) verüben oder anwenden dürffen, massen 
ihr (holdselige Dam) weit überirdisches Angesicht ein an der Liebe gantz 
entäußerten Menschen leichtlich zu überwinden mächtig, als wird sie, 
mein Jungfer, die Straf solcher Vermessenheit. (wofern ein solche Liebe 
also genanndt werden kan) mehr ihrer eigenen Schönheit als deren mir 
verursachten Künheit beymessen können, und weile solche meine in Wahr- 
heit nicht geringe Liebe zu keinem anderen Zwecke als wohlmeynend 
zielet, als wird sie, wie wol ich es gantz nicht meritire, solche meine 
ehrliche und treu-meinende Neigung nicht anders als rechtmäßig erkennen, 
die Bestättigung soll der Bzeugung gleich seyn. Indessen ich ihr mich 
selbst zum Pfand lasse und verbleibe 

Dero allergetreuester Knecht 
N. N.“ 


Antwort: 

„Mein Herr! 

Ich werde seinen Worten, welche Er Belieben getragen mir durch 
das unmündige Papier anzuvertrauen, nicht anderst als wahrhaften Glauben 
beimessen können und leichtlich glauben, daß Ihn der kleine blinde Schütz 
wie er ihn zu benahmen pfleget) wenig und absonderlich meiner geringen 

erson wegen wird tyrannisiert haben, massen seine Liebe, welche Er 
sich gegen mir zu erklären oder Meldung zu thun mehr mit höflichen 
Schertz als einer absonderlichen Liebesbezeugung angefangen. Deme sey 
aber wie ihm wolle, so ist jedweder Mensch, doch mit gebührender Be- 
scheidenheit und nach gestalt der Sachen, ehrlich zu lieben befugt, also 
ich zu geringe, ihme solches zu verwidern, gegen mir aber eines solchen 
aus Mangel der Schönheit nicht zu versehen, doch zu verweisen schuldig, 
daß ich sey Seine gehorsame Dienerin 
: N. N.“ 


Welch ein Unterschied gegen den ersten Brief! Dort Leben 
und Innigkeit, hier leere Worte und kalte Form. Besser könnte 
der Unterschied zwischen unserer echt deutschen bürgerlichen 
Liebe und der französelnden Klassenliebe wohl nicht in die 
Augen springen. 

(Fortsetzung folgt.) 


KZ 














OH ИЧ 






DIE FRAU ALS TIERAMME. 
Von Dr. ALEXANDER SOKOLOWSKY, Hamburg. 
(Mit Tafel I). 

E: ist eine historisch-ethnologische Tatsache, daß bei manchen 

Völkern Tiere kleinen Kindern als Säugammen gegeben 
werden. Angaben hierüber sind der Wissenschaft schon aus 
den Tagen: des klassischen Altertums bekannt. Derlei Fälle 
spielen schon, wie Ploß-Bartels hervorheben, im alten Mythus 
eine hervorragende Rolle. Es sei nur an Romulus und Remus, 
die Säuglinge der Wölfin, erinnert. Wenn diese Sitte auch aus 
der Zeit des Mittelalters bekannt wurde, so dürfte in der 
Gegenwart noch selten ein solcher Fall nachzuweisen sein. 
Ganz anders verhält es sich dagegen mit der umgekehrten 
Sachlage, der Sitte, junge Tiere an der Frauenbrust zu säugen. 
Dieser eigenartige Gebrauch erfreut sich noch heute bei einer 
Reihe von Völkern ungestörter Ausübung. Um zu einem er- 
klärenden Grund hierfür zu gelangen, bedarf es meines Er- 
achtens zunächst einer Klarstellung des Verhältnisses des 
Menschen zu den Tieren. 

Der primitive Mensch kommt zunächst als Sammler und 
Jäger mit der Tierwelt in Berührung. Unzweifelhaft war der 
Mensch ursprünglich, wie Passarge sagt, wie noch heutzutage 
der Affe, Sammler; und aus dem Sammler entwickelte sich der 
Jäger, indem er Waffen erfand, die Tiere zu töten und Methoden 
ersann, die Tiere zu fangen. Diese Berührung mit der Tier- 
welt suchte der Mensch zunächst aus Existenzgründen, wobei 
es ihm darauf ankam, sich durch Sammeln in den Besitz von 
allerlei kleinem Getier zu setzen, sowie durch Jagen und Über- 
listen größeres Wild zu erlangen. Sammel- und Jagdbeute 
dienten und dienen noch vielfach dem Naturmenschen zur Be- 
friedigung seines Hungers. Dabei war er angewiesen, um auf 
der Jagd guten Erfolg zu haben, auf dem Wege der Erfahrung 
Kenntnisse über die Eigenart und die Lebensgewohnheiten 
seiner Jagdtiere zu gewinnen, so daß möglichst wenig МїВ- 
erfolg auf der Jagd eintrat und dadurch Zeit gewonnen wurde. 
Durch diese Beschäftigung mit der Jagd geriet der Mensch in 
ein intimes Verhältnis zur Tierwelt. Da die Jagd häufig mit 
Lebensgefahr verbunden ist, so ist es begreiflich, daß der Jäger 

9 


130 Sokolowsky: Die Frau als Tieramme 


nicht nur seine Jagdtiere genau kennen lernt, sondern auch in- 
folge ihrer Schlauheit und ihres mutigen Verhaltens zu würdigen 
versteht. Mit anderen Worten gesagt: ihm werden seine Jagd- 
tiere lieb, da er sie schätzte und aus der Liebe zur Tierwelt 
hat sich dann später ihre Verehrung als Gottheit von Seiten 
der Menschen entwickelt Auch der Totemismus ist, soweit 
er sich auf die Tierwelt erstreckt, in seiner Entstehung auf die 
Tätigkeit des Jägers und die dadurch bedingte Berührung mit 
den Tieren zurückzuführen. Wie innig Totemismus und Tier- 
kultur zusammenhängen, geht nach Schurtz aus der Neigung 
primitiver Völker hervor, Tiere bildlich, ornamental oder in 
der Tatauierung des Körpers darzustellen. Hier mag auch zu- 
nächst der Wunsch des primitiven Künstlers vorgewaltet haben, 
die Vorgänge auf der Jagd, den Kampf mit wehrhaften Tieren, 
registrierend und für die Nachwelt mitteilend, darzustellen. Die 
für uns Kulturmenschen oft geradezu Staunen erregend und 
verblüffend wirkende naturgetreue Wiedergabe der wilden 
Tiere durch den prähistorischen Menschen zeugt von seiner 
großen Tierkenntnis und Schulung durch die Jagd. Es geht 
aus diesen Angaben hervor, daß der primitive Jäger, obwohl 
er zuerst aus rein praktischen Beweggründen sich als solcher 
mit der Tierwelt beschäftigen muß, um zur Nahrung zu ge- 
langen. Aber bald schon ergeben sich bei ihm Seelenregungen, 
die abstrakteren Ursprungs sind, obwohl sie mit den Nützlich- 
keitsgründen in Zusammenhang stehen. 

Das einmal durch die Jagd bedingte Interesse für die Tiere 
erstreckt sich schließlich nicht nur auf die Jagdtiere, sondern 
dehnt sich aus auf andere Tiere, die vom Standpunkt der 
Nützlichkeit dem Menschen gleichgültig sind. Dabei darf aber 
nicht vergessen werden, daß viele kleinere Geschöpfe, ohne Jagd- 
wild zu sein, dennoch in gewissem Zusammenhang mit der 
Jagd stehen. Ihr Vorkommen verrät dem jagenden Wilden die 
Nähe der begehrten Jagdtiere, wie z. B. das der Madenhacker, 
oder aber auch sie vergrämen dem Jäger das Wild durch ihre 
Warnungsrufe. Der Naturmensch, der gleich dem tierischen 
Bewohner seiner Heimat beim Herumstreifen in ständiger Aktion 
ist, beobachtet intensiv die Vorgänge in der Umwelt, ihm bietet 
sich daher häufig Gelegenheit, ihm als Jagdbeute gleichgültige 
Tiere zu erhaschen oder junge Exemplare seiner Beutegeschöpfe 
einzufangen. Diese bringt er seinen Frauen und Kindern als 


Sokolowsky: Die Frau als Tieramme 131 


Spielzeug mit. Sehr interessantes Verhalten zeigen in dieser 
Hinsicht die südamerikanischen Waldindianer. Wir wissen 
durch Karl von den Steinen, welche Tierliebe diesen eigen 
ist: „In der Hütte bekunden Aras und Tucans, mehrere Arten 
Papageien und Perikiten, auf Stangen sitzend oder frei umher- 
hüpfend und kletternd, die Neigung des Indianers, mit Tieren 
zu verkehren. Jedes Familienmitglied hat unter gezähmten Affen 
und schön befiederten Vögeln, deren Gesellschaft manchmal 
durch ein lebend heimgebrachtes Faultier oder einen kleinen 
Ameisenfresser vermehrt wird, seinen Liebling, mit dem es sich 
vielfach unterhält.“ Daß es sich bei dieser Tierhaltung tat- 
sächlich nur um Freude am Tier handelt, geht aus der Mit- 
teilung desselben Gelehrten hervor, wenn er sagt: „So ist es 
nicht wunderbar, daß auch Nutztiere europäischen Ursprungs, 
die sich bei den Indianern verbreitet haben, nur als Spielzeug 
dienen oder ebenfalls als Wertsachen, denen kein wirklicher 
Nutzen entspricht.“ Solche „Tierspielerei“ findet sich nicht 
etwa nur bei den Indianern, sondern ist auch für altweltliche 
Völker nachgewiesen. Die Wissenschaft nimmt mit Recht an, 
daß hier die Entstehungsursachen zur Haustierwerdung gesucht 
werden müssen. Die „zwecklose Tierzucht“ wird erst später 
zur „Zweck-Tierzucht“, wenn der Mensch sich zu höherer 
Kulturstufe emporarbeitet und Interesse daran nimmt, Tiere für 
die Zwecke seiner Wirtschaft zu halten und heranzuzüchten. 
Es soll meine Aufgabe hier nicht sein, den Ideengang dieser 
Entwicklung hier weiter zu verfolgen. Ich möchte nur im Hin- 
blick auf mein Thema die Zusammenhänge zwischen Tierhaltung 
zum Spiel und Haustierhaltung zum Nutzen hingewiesen haben. 
Es entsteht für uns die Frage, welchen Zweck verfolgte das 
menschliche Weib, jungen Tieren sich zu deren Aufzucht als 
Amme herzugeben? 

Es ist meiner Ansicht nach auch hierbei anzunehmen, daß 
die „Freude am Tiere“ dem eigentlichen Nützlichkeitsgedanken 
vorausging, denn es ist begreiflich, wenn die stillende Mutter 
aus Mitleid jungen tierischen Lieblingen neben ihrem eigenen 
Kinde ebenfalls die Brust bietet. Die Aufzucht des jungen 
tierischen Säuglings erfolgt aber nicht nur von Seiten des 
menschlichen Weibes zur Erhaltung des Tieres selbst, sondern 
wie aus zahlreichen Fällen bekannt geworden ist, um die Milch- 
absonderung des Weibes für ihre eigenen Kinder vor dem 


132 Sokolowsky: Die Frau als Tieramme 


Versiegen zu schützen. Wenn, wie Ploß-Bartels mitteilen, 
die Arrawaken-Weiber in Südamerika nicht allein Schweine, 
sondern auch jung eingefangene Affen an die Brust legen, so 
tuen sie dieses, um die Milch möglichst lange zu erhalten. 
Bei den Makusis-Indianern in Britisch- Guyana erhalten sich 
die Mütter ihre Milch bis an das hohe Alter; das Kind bleibt 
an ihren Brüsten, so lange es demselben gefällt. Wenn sich 
inzwischen die Familie vermehrt, so übernimmt die Großmutter 
die Pflicht der Mutter gegen die Enkel. Dieser fällt auch 
meistenteils die Pflicht zu, die aufgefundenen jungen Säuge- 
tiere, Beutelratten, Affen usw. an ihrer Brust aufzuziehen. 

Man sieht oft, daß die Weiber diesen jungen Tieren mit 
gleicher Zärtlichkeit die andere Brust reichen, wenn aus der 
einen das Kind schon die Nahrung sog. Nach Schomburgk 
besteht der Stolz der Frauen nämlich hauptsächlich im Besitz 
einer großen Anzahl zahmer Säugetiere. 

Es mutet uns Europäer eigentümlich an, von Frauen junge 
Tiere aufsäugen zu sehen. Dabei darf aber nicht vergessen 
werden, daß der Naturmensch in ganz anderen Verhältnissen 
zur Natur und ihren Geschöpfen steht. „Primitive Rassen,“ 
sagt Schurtz, „empfinden den Unterschied zwischen Tier und 
Mensch ohnehin nicht so lebhaft, ja sie betrachten oft die 
Tiere völlig als ihresgleichen, glauben nach dem Tode selbst 
in Tiergestalt fortzuleben oder meinen, daß ihr Geschlecht von 
einem tierischen Ahnherrn abstamme.“ 

Handelt es sich in diesen Fällen um Befriedigung des 
Milchabsonderungsbedürfnisses des primitiven menschlichen 
Weibes, so ist es Tatsache, daß auch der Mann als Jäger ein 
Interesse an der Aufzucht junger Tiere durch die Frau hat. 
Nach zweierlei Richtungen offenbart sich dieses. Hat er als 
wichtigen Kulturbesitz sich bereits den Haushund erworben, 
den er als Gefährten bei der Jagd verwendet, so muß ihm die 
Aufzucht junger Exemplare besonders erwünscht sein. Teils 
aus Tierliebe zum treuen vierbeinigen Gefährten, teils aber auch, 
um die jungen Hunde gewissenhaft zur Aufzucht zu bringen, 
säugen die Weiber einer Anzahl Völker häufig diese an ihrer 
Brust. Oft müssen die jungen Hunde die Milch mit einem 
menschlichen Kinde teilen, 

Erland Nordenskiöld sah einmal eine Chorotifrau (süd- 
amerikanische Indianerin), die an der einen Brust ihr Kind, an 


Sokolowsky: Die Frau als Tieramme 133 


der anderen einen Hund säugte. Bei diesen Indianern spielen 
die Hunde als Jagdgefährten eine wichtige Rolle. Man hat 
eigens für die Wildschweinjagd abgerichtete Jagdhunde. Die 
Aufzucht der jungen Hunde liegt hier also im Interesse des 
Jägers. 

Auch der Australier legt großen Wert auf die Aufzucht 
seiner Hunde, der gezähmten Dingos. Auch hier werden häufig 
Weiber mit saugenden Hunden an ihrer Brust angetroffen. 

Daß Jägervölker junge Jagdtiere, die sie einfingen, zur 
Aufzucht ihren Weibern überlassen, ist ebenfalls bekannt ge- 
worden. Die Kamtschadalen legen junge Bären ihren Frauen 
an die Brust und von den Ainos wird solches auch erzählt. 
Hier handelt es sich um den Wunsch des Menschen, junge Jagd- 
tiere als Fleischlieferanten auf diese Weise aufzuziehen, um sie 
sich später nutzbar zu machen. 

Obwohl der Hund bei den Australiern ab und zu im ge- 
zähmten Zustande, als Wildhund aber sehr gern gegessen wird, 
kann man ihn aber nicht als eigentliches Fleischtier für diese Wilden 
bezeichnen, dagegen ist das Schwein als Haus- und Fleischtier 
über die Südsee weit verbreitet. Es läßt sich nachweisen, 
daß die Aufzucht von jungen Schweinen an der Weiberbrust 
eine weite Verbreitung bei Südseevölkern hat. 

Handelt es sich bei den zuletzt angeführten Beispielen 
um Gebräuche der Menschen, wilde Tiere, sowie Haustiere für 
die Beschaffung von Fleisch zu Nahrungszwecken aufzuziehen, 
so bieten Fälle, in denen junge Säugetiere durch das mensch- 
liche Weib aus religiösen Motiven aufgezogen werden, er- 
höhtes Interesse. Wir wissen durch Schomburgk, daß in 
Siam häufig junge Affen von Frauen an der Brust gesäugt 
werden. Leider hat der Forscher den Zweck dieses Gebrauchs 
nicht angegeben. Ich vermute aber, daß es sich hier um heilige 
Affen handelt,;deren,Gedeihen auf diese sorgfältige Weise sicher- 
gestellt ist. Dagegen bin ich in der Lage, einen Fall mitzu- 
teilen und durch eine photographierte Aufnahme zu illustrieren, 
bei dem es sich um die Aufzucht eines junges Elefanten handelt, 
die von einer Birmesin ausgeführt wird. 

In Birma spielt der Elefant als Gebrauchstier eine wichtige 
Rolle. Es werden dort zirka 3000 Arbeitselefanten, teils in der 
Umgebung von Rangoon, teils im Innern des Landes, vor allem 
aber in dem an der Küste gelegenen Mulmein verwandt. Die 


134 Sokolowsky: Die Frau als Tieramme 


letztere Stadt ist der Hauptausfuhrort des Teakholzes, einer der 
wichtigsten Ausfuhrartikel Birmas. Der Teakbaum (Tectona 
grandis) wird wegen seines sehr haltbaren, braunen, schweren 
Holzes zum Schiffsbau benutzt. Das Alter dieser Bäume be- 
trägt oft mehrere hundert Jahre. Sämtliche Holzsäulen, die man 
in Birma, Siam, China und Japan antrifft, sind aus diesem wert- 
vollen Holze hergestellt. In den vor der Stadt gelegenen zahl- 
reichen Sägewerken sieht man die mächtigen Stämme aufge- 
stapelt, zu deren Transport nach dem Schiff Arbeitselefanten 
benutzt werden. Elefanten werden auch als Reittiere auf der 
Strecke zwischen Rangoon und der Hauptstadt von Siam, 
Bangkok, verwandt. Endlich gelten dort nach Bockenheimer 
einige dieser Tiere als heilig und werden sogar von frommen 
birmesischen Frauen an der Brust genährt. Das vorstehende 
Bild, das ich der Güte des Herrn Tierimporteurs Krohn ver- 
danke, der es von einer seiner für die Firma Carl Hagenbeck 
in Stellingen ausgeführten Reisen mitbrachte, zeigt einen Ele- 
fantensäugling im Akt des Saugens bei seiner birmesischen 
Amme. Man sieht deutlich, wie der kleine Dickhäuter die 
rechte Brust derselben mit seinem Maule umfaßt; auch an der 
Haltung und dem Ausdruck des ganzen Kopfes erkennt man, 
daß er saugt. Den Rüssel hält er nach oben und hat ihn der 
Birmesin auf die Schulter gelegt. Die Abbildung stammt aus 
dem Orte Moda in Birma. 

Die Tragzeit des Indischen Elefanten beträgt nach 
Brehm 20 Monate und 18 Tage. Die neugeborenen Kälber 
messen zirka 90 cm Höhe und sind zirka 90 kg schwer. Ihre 
Saugzeit dauert 6 Monate; sie beginnen dann allmählich etwas 
zartes Gras zu sich zu nehmen, ernähren sich aber immerhin 
noch einige weitere Monate hauptsächlich von Milch. 

Es ist selbstredend unmöglich, daß besagte Birmesin den 
jungen Elefanten durch ihre Milchspendung allein aufziehen 
könnte. Es handelt sich dabei nur um die interessante Tat- 
sache, daß ein Weib aus religiösen Motiven durch Hergabe 
von Milch zu seiner Ernährung beiträgt. 


SI 


Fehlinger: Zwillinge 135 


ZWILLINGE. 
Von H. FEHLINGER-Genf. 
(Mit Tafel II und III). 

р“ körperliche und seelische Artung einzelner Menschen 

sowie ganzer Völker wird durch die erbliche Veranlagung 
und durch die vielfachen Einwirkungen der geographischen und 
sozialen Umwelt bestimmt. Welcher Anteil an der Ausprägung 
der leiblichen und psychischen Eigenschaften jeder dieser beiden 
Gruppen gestaltender Einflüsse zukommt, ist jedoch nicht leicht 
zu bestimmen. Von Seiten der biologischen Forschung wird 
die Macht der Vererbung obenan gestellt, während die Sozio- 
logen wieder die Auffassung vertreten, daß Erziehung und 
Bildung, wirtschaftliche und soziale Verhältnisse, die aus- 
schlaggebenden Faktoren darstellen, welche jeden zu dem 
machen, was er ist. Diese Auffassung hat in der öffentlichen 
Meinung noch den größeren Anhang, was nicht wundernehmen 
darf, denn Umweltwirkungen auf den Menschen — wie auf 
andere Lebewesen — konnten schon seit langer Zeit beobachtet 
und festgestellt werden, sie liegen häufig ganz klar zutage, 
während die Aufdeckung von Vererbungseinflüssen viel 
schwieriger ist und erst seit wenigen Jahrzehnten von einer 
kleinen Zahl von Biologen versucht wird. Der Vererbungs- 
forschung sind beim Menschen die wichtigen Mittel und Wege 
verschlossen, die ihr sonst seit dem Beginne des neuen 
Jahrhunderts große Fortschritte ermöglichten; es bleibt vor 
allem der zweckdienlich eingeleitete und planmäßig durch- 
geführte Paarungsversuch naturgemäß völlig ausgeschlossen 
und es ist dem einzelnen Forscher auch nicht möglich, die 
Ergebnisse der natürlichen Paarung durch eine längere Reihe 
von Geschlechterfolgen unmittelbar zu beobachten; ja selbst 
diesbezügliche Aufzeichnungen stehen nur in seltenen Fällen 
zu Gebote, und zwar sind das fast ausschließlich Fälle des 
Auftretens auffallender Anomalien des Körpers. Erschwert 
wird die Aufdeckung der Vererbungsverhältnisse durch die 
große Zahl und die starke Durcheinandermischung der Erb- 
einheiten. Die Bevölkerungen der modernen Kulturstaaten sind 
vielfach bastardiert und jede Fortpflanzung stellt sich als neue 
Bastardierung dar. Trotz allen Schwierigkeiten, welche die 
Vererbungsforschung beim Menschen begegnet, ist einwandfrei 
sichergestellt, daß unsere Art denselben Grundgesetzen der Ver- 


136 Fehlinger: Zwillinge 


erbung unterworfen ist wie die Tiere und Pflanzen. Ebenso 
wie bei diesen, sind auch beim Menschen nicht alle körper- 
lichen und psychischen Eigenschaften ererbt und wieder ver- 
erbbar. Viele der von Person zu Person bestehenden Besonder- 
heiten, ebenso wie Besonderheiten ganzer Gemeinschaften, sind 
durchaus unweltbedingt, Ergebnisse der direkten Wirkung von 
Klima, Nahrung, chemischen und physischen Einflüssen. Man 
nennt sie „Modifikation“ oder „Paravariationen“, im Gegensatz 
zu den in der Erbveranlagung bedingten Abweichungen oder 
„Idiovariationen“. Die natürliche Modifikationsbreite, die Fähig- 
keit des Lebewesens, nicht erbliche Abweichungen hervor- 
zubringen, ist von Art zu Art sehr verschieden groß. Der 
Botaniker kann sie leicht durch Stecklingsvermehrung prüfen. 
Ebenso gelingt es bei vielen wirbellosen Tieren durch unge- 
schlechtliche Fortpflanzung irgendwelcher Art eine Anzahl von 
Lebewesen von erblich gleicher Zusammensetzung heranzuzüchten 
und ihre Modifikationsbreite zu bestimmen. Bei Wirbeltieren 
ist im allgemeinen eine Beobachtung von Individuen mit gleicher 
Erbveranlagung nur schwer auszuführen, und ganz besonders 
gilt dies in bezug auf den Menschen. Allem Anschein nach 
ist der menschliche Organismus unter dem Einfluß der Dome- 
stikation*) außerordentlich modifizierbar und gleiche oder ähn- 
liche äußere Verhältnisse in der Lebenszeit aufeinanderfolgender 
Geschlechter bewirken das Auftreten gleicher oder ähnlicher 
Modifikationen, so daß Vererbung vorgetäuscht und zu falschen 
Schlüssen Anlaß geboten wird. So ist z. B. groBe Kinder- 
sterblichkeit nicht immer ein Ausdruck schlechter Rasse, sondern 
vielfach ungünstiger Lebensbedingungen und viel Schwäche, 
die leicht tödlich wird, ist in Wirklichkeit modifikationell, etwa 
die Folge von Nahrungsmangel. 

Bei der Art Mensch haben wir nur eine Möglichkeit, um 
mehrere erblich völlig gleich veranlagte Personen in bezug 
auf ihr körperliches und geistiges Verhalten zur Umwelt zu 
beobachten und um zu prüfen, wie weit persönliche Verschieden- 
heiten allein auf ungleiche Beeinflussung durch die Lebens- 
bedingungen zurückzuführen sind. Die einzige solche Gelegen- 
heit bietet die Beobachtung von Zwillingen (vielleicht auch 


*) Domestikation ist die willkürliche Gestaltung der Ernährungs- und 
Fortpflanzungsbedingungen. 


Fehlinger: Zwillinge 137 


Drillingen), die aus einem befruchtetenEi, aus einer Zygote, 
wie die Biologen sagen, hervorgegangen sind. Diese sind in 
der Tat die einzigen Menschen mit identischem Erbgute, die 
einzigen isozygoten Individuen: denn der gleiche Samenfaden 
und das gleiche Ei sollen ihnen, nach der theoretischen Vor- 
stellung, ihre Erbmitgift liefern. Das Studium von eineiigen 
oder identischen Zwillingen sollte die Grundlage aller Unter- 
suchungen der Erbveranlagung des Menschen bilden. Doch, 
in welchen Fällen haben wir aus einem befruchteten Ei ent- 
standene Zwillinge vor uns? Der Arzt ist zwar bei der Geburt 
durch die Untersuchung der Eihäute in der Lage, zweifelsfrei zu 
entscheiden, ob ein Zwillingspärchen einem oder zwei Eiern ent- 
stammt. Doch nur in seltenen Fällen wissen im späteren Leben die 
Zwillinge Genaues über Ein- oder Zweieiigkeit anzugeben. 

Die Beobachtung von Zwillingen ergibt, daß allzumeist 
die beiderseitige Ähnlichkeit nicht größer ist, als bei anderen 
Geschwisterpaaren, nur fällt diese Ähnlichkeit wegen der 
Gleichaltrigkeit mehr auf als bei sonstigen Geschwistern. 
Wenn zwei einander sehr ähnliche Kinder in mehrjährigem 
Abstand geboren werden, wird freilich ihre Ähnlichkeit nur 
allzuleicht nicht richtig eingeschätzt, weil sie nicht in gleichem 
Alter verglichen werden können, und es ist doch zweifellos, 
daß mit dem Alter starke Veränderungen in körperlicher wie 
in geistiger Beziehung stattfinden können. Die große Mehr- 
zahl der Zwillingsgeschwister vermag man sofort voneinander 
zu unterscheiden. 

Manchmal jedoch begegnet man Menschen, die auf den 
ersten Blick nicht sicher auseinanderzuhalten sind, da sie sich 
nicht nur in den Gesichtszügen und in der Gestalt gleichen, 
sondern ebensosehr in ihren Gehaben, in den Bewegungen, 
Gewohnheiten und in den Äußerungen ihres persönlichen 
Geschmacks, so daß sie sich gar nicht selten auch gleich 
kleiden, was namentlich bei dem in dieser Beziehung sehr fein 
empfindenden weiblichen Geschlecht auffällt. Bei solchen 
Personen, deren Anblick überrascht, haben wir es jedenfalls 
mit Zwillingen zu tun, die aus der gleichen Vereinigung einer 
männlichen mit einer weiblichen Fortpflanzungszelle, aus der 
gleichen Zygote, entstanden. 

In der Regel entwickelt sich aus jedem befruchteten 
menschlichen Ei nur ein Kind. Bald nach der Vereinigung 


138 Fehlinger: Zwillinge 


der männlichen Samenzelle mit der weiblichen Eizelle, die 
Befruchtung genannt wird, beginnt der Vorgang der Teilung 
des Vereinigungsprodukts, es bilden sich nach und nach die 
verschiedenen Körperorgane aus, deren Anlagen in den beiden 
Ausgangszellen vorhanden waren. Alle Anlagen, die ein Mensch 
von seiner Mutter erbt, sind in der mütterlichen Keimzelle 
oder Eizelle enthalten, die sich bei der Befruchtung mit der 
väterlichen Samenzelle vereinigt, die wieder alles birgt, was 
an natürlichen Anlagen vom Vater auf das Kind übergeht. 
Es ist wundervoll und kaum vorstellbar, daß eine einzige, mit 
freiem Auge nicht sichtbare Zelle soviel von unserem Schicksal 
in sich schließt, daß die alles zur Bestimmung unserer Körper- 
formen, unserer Sinneskräfte, unserer Neigungen usw. Not- 
wendige enthält. Von all den Fortpflanzungszellen eines 
Menschen sind sich auch nicht zwei gleich, alle sind ver- 
schieden, in jeder sind die Anlagen zu den erblichen Eigen- 
schaften in anderer Zusammensetzung gegeben. Daher 
kommt es, daß die Söhne und Töchter eines und desselben 
Paares untereinander ungleich sind. Sie sind sich aber in der 
Regel doch ähnlicher als sonstige Personen, weil sie aus dem 
gleichen Bestand von Erbgut hervorgingen, während dieses bei 
anderen Eltern wieder abweichend zusammengesetzt ist. 

Ganz ausnahmsweise kommt es vor, daß aus einem Ver- 
einigungsprodukt von Ei- und Samenzelle, aus einer Zygote, 
mehrere Lebewesen entstehen, beim Menschen Zwillinge und 
wohl auch Drillinge. Der Nachweis hiefür wurde erbracht 
durch die Beobachtung der Vereinigung von zwei Kindern in 
einer Eihaut. Es ist nicht anders denkbar, als daß solche 
Kinder aus den gleichen elterlichen Vererbungsstoffen auch 
eine fast völlige Übereinstimmung ihrer körperlichen und 
geistigen Eigenschaftsanzeigen besitzen. In allen Fällen, in denen 
bisher mit einiger Sicherheit die Entwicklung eines Zwillings- 
paares aus einem befruchteten Ei festgestellt werden konnte, 
war zwar nicht völlige Übereinstimmung gegeben, aber die 
Unterschiede erwiesen sich auch nicht größer als die, welche 
sonst zwischen der rechten und linken Hälfte des Körpers 
eines und desselben Menschen bestehen. Diese Asymmetrie 
des Körpers ist von Person zu Person verschiedengradig, und 
ebenso verschiedengradig ist die körperliche und geistige Ab- 
weichung zwischen identischen Zwillingen. Vielleicht sind die 


Fehlinger: Zwillinge 139 


Unterschiede so zu erklären, daß Größe und Inhalt der beiden 
sich sondernden Eihälften doch nicht ganz genau gleich sein 
mögen, Bemerkenswert ist die weitgehende Übereinstimmung 
des Hautliniensystems der Innenflächen der Hände und der 
Fußsohlen bei identischen Zwillingen, wie man sie sonst bei 
Geschwistern niemals antrifft. Sie ist einer der sichersten 
Beweise der Entstehung aus demselben Keimplasma. Die 
Figuren, welche die Hautlinien bilden, sind bei identischen 
Zwillingsgeschwistern in der Regel gleich, ungleich aber ist 
die Zahl der daran beteiligten Linien. Überdies war zu 
beobachten, daß die Figuren an der rechten und linken Hand 
wie auch am rechten und linken Fuß bei diesen Zwillingen 
mehr als sonst sich gleichen, so daß alle vier in Betracht 
kommenden Hände oder Füße im Grunde dasselbe Bild zeigen. 

Im Kindesalter geht die Ähnlichkeit identischer Zwillinge 
so weit, daß es oft den eigenen Müttern Mühe kostet, Ver- 
wechslungen zu vermeiden. Im späteren Leben zeigen diese 
Zwillinge eine starke Anhänglichkeit aneinander, sie trennen 
sich nicht gerne auf die Dauer. Eine von der amerikanischen 
genetischen Gesellschaft ausgeführte Erhebung ergab, daß die 
aus einem befruchteten Ei entstandenen Zwillinge gerade so 
wie in ..der äußeren Erscheinung, auch in ihren Fähigkeiten, 
Neigungen und Abneigungen in hohem Maße übereinstimmen, 
ja selbst in Eigenarten beim Essen und Trinken, in der Art 
sich zu kleiden, in dem Verhalten gegenüber gesellschaftlichen 
Anreizen, und das ist sicher der Grund dafür, daß sie seelisch 
weit besser harmonieren und miteinander verkettet bleiben als 
gewöhnliche Geschwister. Die seelische Übereinstimmung 
geht nach Aussagen identischer Zwillingsgeschwister manch- 
mal so weit, daß sie bei räumlicher Trennung voneinander 
denselben Gedanken nachgehen. Dank der gleichen Ver- 
anlagung sind sie, unter ungefähr denselben äußeren Lebens- 
bedingungen, auch durch übereinstimmende Gesundheitsverhält- 
nisse und ungefähr gleiche Lebensdauer ausgezeichnet. Alle 
diese Tatsachen zeigen mit großer Deutlichkeit, wie wichtig 
das von den Vorfahren überkommene Erbteil für die Menschen 
ist, daß es zu einem guten Teil unser Lebensschicksal ent- 
scheidet, wenn auch daneben die Verhältnisse der Umwelt, 
die äußeren Daseinsbedingungen, ebenfalls eine Rolle spielen. 

Die Macht der Vererbung kommt bei identischen Zwillingen 


140 Fehlinger: Zwillinge 


klar und unbestreitbar zum Ausdruck, während man sie sonst 
allzugerne unterschätzt und z. B. die Schuld an der Glatze 
den Hüten zuschreibt, die Schuld an dem übermäßigen Leibes- 
gewicht dem guten Essen, das lange Leben der Enthaltsamkeit 
von Alkohol, Tabak und dergleichen, aber übersieht, daß 
andere Leute ebensolche Hüte trugen und ebensolche Nahrung 
hatten, ohne kahlköpfig und fettleibig zu werden, und daß 
andere trotz strengster Enthaltsamkeit von allen Reizmitteln 
doch frühzeitig starben. 

Bei Zwillingen, die aus verschiedenen befruchteten Eiern 
entstanden, schwankt der Grad der körperlichen und geistigen 
Ähnlichkeit — wie die Geschwisterähnlichkeit überhaupt — 
innerhalb sehr weiter Grenzen. Solche Zwillinge gleichen sich 
namentlich im Kinderalter sehr stark, bevor noch Umwelt- 
einflüsse in bedeutendem Maße auf sie wirken konnten, Jedoch 
mit fortschreitendem Alter entfernen sie sich mehr und mehr 
voneinander. Das trifft beispielsweise zu bei den Zwillingen 
der Tafel II, Fig. 1 (den nun neunjährigen Schwestern A. und E.G.). 
Bei der Geburt befand sich jedes der Mädchen in einer be- 
sonderen Eihülle, aber sie waren dennoch in frühester Kind- 
heit einander überraschend ähnlich. Seit ihrem sechsten Lebens- 
jahr ist ihre körperliche und geistige Entwicklung verschieden 
geworden. A. ist kleiner aber widerstandsfähiger, hat heiteres, 
sonniges Temperament. E. ist größer und stärker, dabei stiller 
und nachdenklicher veranlagt; sie hatte bisher mehrere Krank- 
heiten zu überstehen, ihre Schwester dagegen nicht, worin die 
verschiedene Erbveranlagung deutlich zum Ausdruck kommt. 
Die Gesichtszüge und der Gesichtsausdruck der Schwestern 
änderten sich allmählich so, daß sie einander unähnlicher 
werden. Fremde verwechseln sie auch jetzt noch. 

Tafel II, Fig. 2 zeigt die wahrscheinlich identischen 
Zwillinge H. und F. N. in H. bei Z. in Sachsen, geb. 9. V. 1909. 
In dieser Familie wurden seit 15 Jahren 3 mal Zwillingspaare 
geboren. Tafel III zeigt das Zwillingspaar Z. in D. (Sachsen). 


SI 


Saaler: Die Bedeutung d. psychoanalytischen Methoden u. Theorien usw. 141 


DIE BEDEUTUNG DER PSYCHOANALYTISCHEN 
METHODEN UND THEORIEN 
FÜR DIE. PRAKTISCHE HEILKUNDE. 
Von Dr. BRUNO SAALER. 
(Schluß). 

I erwähnte bereits, daß ich bei dieser Analyse nicht strikt 

den Freud’schen Lehren folgte, sondern mir dabei einen 
der Hauptgedanken der Individual-Psychologie Alfred Adlers 
zu eigen machte. Adler ist einer der ältesten Schüler Freuds, 
hat ihn bald verlassen und ist eigene Wege gegangen. Während 
Freud bekanntlich die Sexualität in den Mittelpunkt seiner 
Lehre gestellt hat, räumt Adler ihr für die Neurose keine sou- 
veräne Stellung ein, sondern betrachtet sie nur als eine unter 
vielen anderen Strebungen, deren sich die Psyche bedienen 
kann, um ein Ziel zu verfolgen, welches der Neurotiker unter 
allen Umständen und mit allen Mitteln, zu erreichen sucht. 
Dieses Ziel ist die Erlangung von Macht, die aber 
nur zur Kompensation eines tiefsitzenden Minderwertig- 
keitsgefühls erstrebt wird. Adler geht davon aus, daß 
jeder Neurotiker von Hause aus eine Organminder- 
wertigkeit besitzt, infolge deren er sich in seinem Persön- 
lickeitsbewußtsein beeinträchtigt fühlt und die er unter allen 
Umständen zu kompensieren, andererseits aber auch vor sich 
selbst zu verschleiern bestrebt ist. Das tiefsitzende aber vor 
sich selbst abgeleugnete Minderwertigkeitsgefühl hindert ihn 
in allen seinen Handlungen und Entschließungen, da er 
stets den Mißerfolg präsumiert. Um sich nun vor diesem 
Mißerfolg zu schützen, bedarf er weitgehender „Sicherungen“, 
die als „neurotisches Arrangement“ unter Einhaltung einer 
„fiktiven Leitlinie“ ausgebaut werden zu dem einzigen Zweck, 
den Mißerfolg, der das Persönlichkeitsbewußtsein erschüttern 
könnte, zu verhindern. Der Neurotiker geht also nach Adler, 
um populär zu sprechen, um alles wie um einen heißen Brei 
herum. Ein solcher heißer Brei ist für ihn auch die Sexua- 
lität. Er fingiert eine Perversion, sagt Adler, um sich vor 
einem Mißerfolg zu sichern, den die Aggression der Frau, wie 
er zwar glaubt, aber vor sich abstreitet, unbedingt zur Folge 
haben müßte. Er sagt sich also bewußt: Es würde mir na- 
türlich nicht schwer fallen, eine Frau zu gewinnen. Ich 
kann aber leider nicht heiraten oder ein Verhältnis anfangen, 


142 Saaler: Die Bedeutung d. psychoanalytischen Methoden u. Theorien usw. 


weil ich diese unglückliche Perversion habe oder weil 
ich Onanist bin oder impotent oder dergl. Immer ist die 
sexuelle Anomalie nur eine Fiktion zur Sicherung des 
neurotischen Arrangements. Diese Sicherung geschieht 
in der Regel vermittels des „männlichen Protestes“, d. h. der 
Neurotiker, der sich nicht zutraut, im Geschlechterkampf ob- 
zusiegen, ihm daher ausweicht, sieht sich veranlaßt, seine 
Männlichkeit in anderer Form einwandfrei darzutun, er über- 
kompensiert. In unserm Falle würde diese Überkompen- 
sation in dem Schlagen der Knaben zum Ausdruck kommen. 
Das Schlagen ist der Beweis der Überlegenheit, das Resultat 
des männlichen Protests, das Ressentiment gegenüber 
der praesumierten Erniedrigung durch die Frau. Hier- 
gegen spricht auch nicht der Umstand, daß der Patient schon 
im 12. Lebensjahre beim Schlagen von Knaben sexuelle Lust- 
gefühle verspürte, also zu einer Zeit, in der die. Aggression 
der Frau im sexuellen Sinne bestimmt noch keine Rolle spielte, 
denn damals kann das Schlagen eine Sicherung gegenüber 
der Überzeugung der Inferiorität in anderer Beziehung dar- 
gestellt haben. Im übrigen dürfte die Rivalität der Geschlechter 
ohne ausgesprochen sexuelle Färbung ihren Beginn schon in 
den frühen Stadien der Kindheit haben. Dem sexuellen Lust- 
gewinn beim Schlagen von Knaben wäre dann nur sekundäre 
Bedeutung beizumessen. Mit Bezug auf diese Handlungen 
muß aber an die Freud’sche Theorie der infantilen Sexualität 
erinnert werden, deren Komponenten Schau- und Grausam- 
keitstriebe von Seiten der Psyche und von Seiten der Körper- 
sphäre Antriebe sind, die mit motorischen Leistungen (Laufen, 
Schlagen) und Betätigung der erogenen Zonen in Verbindung 
stehen. Unter Zugrundelegung der Freud’schen Sexual- 
theorie wie der Freud’schen Lehre überhaupt dokumentiert 
sich demnach die Neurose unseres Patienten als Folge des 
Mißlingens der Umwandlung der infantilen autoerotischen in 
ausgereifte, auf Objekte des anderen Geschlechts gerichtete 
Sexualität. Nach Adler ist die sadistische, homoerotische 
Betätigung bzw. Phantasie nur eine Fiktion, die vom Unbewußten 
errichtet wurde, um die Flucht vor der Frau zu rationalisieren, 
um sich darüber hinwegzutäuschen, daß die Flucht notwendig 
wurde, um einem als sicher geglaubten Mißerfolg aus dem 
Wege zu gehen. Ich halte die Anschauung Adlers von der 


Saaler: Die Bedeutung d. psychoanalytischen Methoden u. Theorien usw. 143 


fiktiven Bedeutung sexueller Perversionen für sehr gezwungen 
und in unserm Fall höchstens von untergeordneter Bedeutung, 
insofern als die sadistisch-homoerotischen Strebungen, an deren 
tatsächlichem Bestehen gar nicht zu zweifeln ist, benutzt werden, 
um die Flucht vor dem Weibe zu rationalisieren. Dagegen ist 
die Adler’sche Motivierung des Ausweichens vor der 
Aggression der Frau sehr häufig und auch hier zutreffend, . 
während die Freud’sche Annahme der Bindung an die 
Mutter m. E. nur selten erweisbar sein dürfte. In gewissem 
Sinne allerdings muß man auch in unserem Falle dem Mutter- 
komplex Bedeutung beimessen. Der Patient hat stets eine 
große Achtung vor seiner Mutter gehabt, und die Mutterimago 
ist zweifellos bestimmend gewesen für das Bild, das er sich 
von der Frau im allgemeinen machte. Daraus resultierte dann 
deren Überschätzung und das Gefühl der eigenen Unterlegen- 
heit. Aber auch für die Adler’schen Gedanken der Organ- 
minderwertigkeit als Ursache des Minderwertigkeitsgefühls er- 
gaben sich Anhaltspunkte, auf die ich aber nicht näher ein- 


gehen will. 
Ich habe diesen Fall etwas ausführlich besprochen, weil 
er — ohne sonderlich kompliziert zu sein — einen guten Ein- 


blick in die psychische Struktur der Neurose und ihren Zu- 
sammenhang mit der Entwicklung der Sexualität im Sinne der 
Freud’schen Sexualtheorie gewährt. Ich will noch kurz auf 
einen anderen Fall eingehen, der gleichfalls die Beziehung zur 
Sexualentwicklung und gleichzeitig den Mechanismus der 
Konversion,*) von dem noch nicht die Rede war, und die 
Symbolik der Neurose vor Augen führen soll: 

Eine 20jährige Frau erkrankt im Anschluß an die Hoch- 
zeitsnacht an Angstanfällen, Unfähigkeit zu gehen und zu 
stehen, an Blasenlähmung, Gefühlsabstumpfung der Körper- 
oberfläche und nervösem Husten. Die Analyse nahm in diesem 
Falle ihren Ausgangspunkt von einem Symptom, nämlich dem 
Angstanfall. Angst bedeutet nach Freud verdrängte Lust. 
Sie entsteht dadurch, daß die ins Unbewußte verdrängte Lust 
im Bewußten durch ihren Widerpart ersetzt wird. Das Vor- 
zeichen wird gewechselt; aus Lust wird Unlust. Diese 


*) Konversion ist nach Freud die unbewußte „Umwandlung“ von 
affektbetonten Vorstellungen, hauptsächlich sexueller Natur in andere 
Vorstellungen. 


144 Saaler: Die Bedeutung d. psychoanalytischen Methoden u. Theorien usw. 


wird zur Angst, wenn die Gefahr besteht, daß der verdrängte 
Komplex aus dem Unbewußten ins Bewußtsein durchbricht, 
wenn also das Minusvorzeichen des Affektes droht, wieder in 
das Plusvorzeichen umzuschlagen. Bei jedem hysterischen 
Angstanfall wissen wir also, daß der Kranke eine lust- 
betonte Vorstellung verdrängt hat und ihren Durchbruch 
ins Bewußtsein fürchtet. Unsere Patientin hatte nun in einem 
von mir selbst beobachteten Angstanfall die Halluzination 
einer Pistole, mit der sie ihr früherer Bräutigam bedrohte. 
An sich wäre diese Angstvorstellung verständlich gewesen, 
denn ihr erster Verlobter hatte gedroht, sie zu erschießen, 
wenn sie einen anderen Mann heirate. War die Angst aber 
wirklich die Folge verdrängter Lust, so konnte sie mit dieser 
Drohung nichts zu tun haben. Dann war die Angst vor der 
Pistole nur die Konversion der verdrängten Vorstellung, die 
lustbetont gewesen sein muß, in einen anderen Vorstellungs- 
komplex, der für die Angst eine plausible Erklärung bot. Be- 
rücksichtigt man nun den Umstand, daß die Patientin im An- 
schluß an die Hochzeitsnacht erkrankte, so lag der Gedanke 
nahe, daß die Kranke, um normal geschlechtlich verkehren zu 
können, eine früher beliebte erotische Betätigung zu 
verdrängen gezwungen war, was ihr indessen nur un- 
vollkommen gelungen sein konnte, denn die Neurose ist 
immer das Kennzeichen der mißlungenen Verdrängung. 
In dem Angstanfall sah ich nun die Patientin mit einer Gier, 
die ihren sexuellen Charakter nicht verleugnen konnte, an den 
Lippen lutschen. Das ließ darauf schließen, daß der ver- 
drängte Komplex munderotischer Natur war. Die Pistole 
kennt die Psychoanalyse als Symbol für den männlichen Ge- 
schlechtsteil. Somit wurde gefolgert, daß der Angstanfall das 
verdrängte Verlangen der Patientin, das männliche Glied in 
den Mund zu nehmen, symbolisierte. Die Konversion dieses 
Vorstellungskomplexes auf den der Drohung des ersten Bräuti- 
gams, sie zu erschießen, ließ darauf schließen, daß sie gewöhnt 
war, mit diesem in der genannten Weise geschlechtlich zu ver- 
kehren, und der nervöse Husten, der ja auch auf die Mund- 
zone hinwies, deutete an, daß sie sich energisch, aber vergeb- 
lich bemühte, diesen Vorgang als jetzt unlustbetont ab- 
zulehnen. Die Angstvorstellung war demnach die Folge der 
Konversion der verdrängten Vorstellung in eine andere Vor- 


Tafel Il 














Fig. 2. Zwillingstypen. 
Fig. 1, Schwestern G., 9 Jahre alt (zweieiig). Fig. 2, Zwillinge H. u. F. N. (wahrsch. eineiig). 


Tafel II 

















Bild 


oben jugendl. 


in D, 
unten beide erwachsen. 


ве 1. 


Zwillin 





\ 


Saaler: Die Bedeutung d. psychoanalitischen Methoden u. Theorien usw. 145 


stellung, der nervöse Husten die Folge ihrer Konversion in ein 
körperlich hysterisches Symptom. Die Kranke gab den so 
erschlossenen Tatbestand unumwunden zu und er- 
klärte, daß sie die Vorgänge vor ihrer Heirat bedaure, 
vergessen wolle und sich danach sehne, mit ihrem 
jetzigen Mann normal zu verkehren, leider aber dabei 
keinerlei Lust verspürt habe. Im Verlauf der klinischen 
Beobachtung war die Kranke stets symptomfrei, wenn sie sich 
in der Phantasie in der beschriebenen perversen Weise be- 
stätigte; hysterische Symptome traten dagegen immer auf, so- 
bald sie versuchte, sich auf den normalen sexuellen Verkehr 
umzustellen. Die perverse Sexualbetätigung ließ sich in ihren 
Komponenten als Erscheinung der infantilen Sexualität im 
Sinne Freud’s dartun, die Neurose somit als der Ausdruck des 
Mißlingens des Übergangs von der infantilen zur reifen Sexuali- 
tät sowohl in psychischer wie in somatischer Hinsicht. 

Hier war also eine Fixierung der Libido auf einer 
früheren Entwicklungsstufe der Sexualität eingetreten, 
als deren letzte Ursache aber nicht seelische Vorgänge an- 
gesprochen werden konnten, sondern ein biologisch be- 
dingter Stillstand in der Entwicklung, der der Gesamtpersön- 
lichkeit den Stempel des Infantilismus aufdrückte. 
Die orthodoxe Freud’sche Schule erkennt eine solche biolo- 
gische Ursache als Fixierung nicht an,*) sondern sucht auch 
hier nach psychischen Ursachen, was dem Arzt, der nicht nur 
Psychoanalytiker ist, keineswegs als Notwendigkeit erscheinen 
muß. Einer Erklärung bedürfen in diesem Falle noch die 
körperlichen hysterischen Symptome. Daß der nervöse 
Husten das Negativ der Munderotik darstellt, die im Angst- 
anfall sich als Positiv in Form des Lutschens an den 
Lippen zeigte, wurde bereits gesagt. Der Angstanfall zeigt ja 
die verschärfte Bedrohung des Bewußtseins mit dem Durch- 
bruch aus der Verdrängung an, das Minusvorzeichen des Affekts 
droht in das Plusvorzeichen umzuschlagen, das Negativ in das 
Positiv. Dieses Symptom ist somit der Ausdruck der Kon- 
version einer verdrängten Vorstellung in ein Symptom. 
Das Gleiche gilt für die übrigen Symptome. Die Gefühls- 
abstumpfung ist das Negativ der Hauterotik und die Unfähig- 


*) Besonders diese Auffassung der Psychoanalyse möchte ich ab- 
lehnen. (Die Schriftleitung.) 


10 


146 Saaler: Die Bedeutung d. psychoanalytischen Methoden u. Theorien usw. 


keit zum Gehen und Stehen ist die Folge der Verdrängung 
der Lust, die mit dem Gebrauch der Muskulatur der Beine 
verbunden ist. Munderotik, Hauterotik, ausgiebiger Gebrauch 
der Muskulatur sind nach Freud Komponenten der infantilen 
Sexualität. Durch ihre Verdrängung entstand durch Konversion 
ihr Negativ, das sich in den Symptomen kundgab. Auch die 
Blasenlähmung als Negativ der „Urethralerotik* paßt in diesen 
Zusammenhang. Die Bedeutung der Blasentätigkeit für die 
sexuelle Entspannung ist übrigens nicht erst von Freud ent- 
deckt worden, sondern wird schon von Havelock Ellis hervor- 
gehoben. Bemerkenswert ist, daß die Analyse dieses Falles 
eine spastische Darmlähmung, die seit der Kindheit bestanden 
hatte, offenbar zu dem Zwecke, damit durch tägliche 
Klystiere Reizungen der Analzone im Sinne der Anal- 
erotik erfolgen sollten, mit einem Schlage restlos beseitigt 
hat. Dieser Fall bestätigt somit die Bedeutung der erogenen 
Zonen für die infantile Sexualität und die Neurose. 

Anschließend hieran will ich kurz eines Falles von Straßen- 
angst gedenken*), aus dem ebenfalls ersehen werden kann, 
daß — ob es sich um Straßenangst, Platzangst, Brückenangst, 
Eisenbahnangst oder um andere Phobien handelt, ist ganz 
gleich — die Angstvorstellung immer nur die Rationalisierung 
einer Angst darstellt, die in Wirklichkeit andere Gründe hat, 
d. h. infolge von Konversion in einen anderen Vorstellungs- 
komplex entstand mit dem Zweck, den unbewußt gewordenen 
Komplex, von dem der Affekt losgelöst wurde, in der Ver- 
drängung zu halten. 

Eine Dame erkrankt, während ihr Gatte im Felde steht, an der Phobie, 
es würde ihr, wenn sie sich auf die Straße begäbe, etwas zustoßen. 
Nachdem sie lange Zeit nicht zu bewegen war, auszugehen, wurde ihr 
vom Arzt eine Krankenschwester beigegeben, in deren Begleitung sie sich 
frei bewegen konnte. Verließ die Schwester sie aber nur einen Augen- 
blick, so stellte sich regelmäßig schwere Angst ein. Heilsuggestionen, 
die ihr in regelmäßigen Abständen gegeben worden waren, hatten zwar 
günstig eingewirkt, den Zustand aber nicht wesentlich beeinflussen können. 
Die Analyse ergab, daß die Kranke in einen schweren Gewissenskonflikt 
geraten war, indem sie im Begriff stand, obgleich sie ihren im Felde 


befindlichen Gatten liebte, den stürmischen Werbungen eines 
anderen Mannes nachzugeben. Die Angst vor der Straße war nichts 


*) Ich habe über diesen Fall schon in anderem Zusammenhang ge- 
sprochen: Die psychische Behandlung der funktionellen Nervenkrankheiten 
unter Berücksichtigung der Kriegserfahrungen, Berl. Klin. Wochenschr. 
1920. Nr. 50. 


Saaler: Die Bedeutung d. psychoanalytischen Methoden u. Theorien usw. 147 


anderes als die Furcht, dem Manne, der ihr aufzulauern pflegte, zu be- 
gegnen und zu erliegen, also letzten Endes die Furcht vor ihren Trieben 
und Willensschwäche. Angesichts dieses Tatbestandes war es natürlich 
sinnlos, die Phobie auf suggestivem Wege zu bekämpfen. Die Angst 
konnte nicht schwinden, so lange die eigentliche Ursache der Angst be- 
stehen blieb. Die Analyse zwang die Patientin, den Weg der Flucht in 
die Krankheit zu verlassen und sich mit dem seelischen Konflikt bewußt 
auseinanderzusetzen. Die weitere Therapie hatte im wesentlichen sexual- 
pädagogische Aufgaben zu erfüllen. Wollte man Suggestion anwenden, 
so mußte die Suggestion lauten: „Sie werden die Kraft besitzen, Ihrem 
Manne die verdiente Treue zu halten!“ und nicht, wie es geschehen 
war: „Ihre Angst vor der Straße wird sich legen!“ 


Dieser Fall lehrt, daß Phobieen — wie das ja Freud ins- 
besondere von den Zwangsvorstellungen behauptet — aus der 
Verdrängung wiederkehrende Selbstvorwürfe darstellen, sich 
aber durchaus nicht immer, wie Freud meint, auf eine mit Lust 
ausgeführte Aktion der Kinderzeit zu beziehen brauchen, son- 
dern mit ganz aktuellen Vorgängen in Beziehung stehen können. 

Sehr lehrreich ist der folgende Fall: 

Im Jahre 1915 erkrankte eine bis dahin völlig gesunde 
Frau von 33 Jahren an einer Veränderung, die sich in erster 
Linie als geistige Abstumpfung geäußert haben muß. Denn 
der Arzt, der sie damals behandelte, gibt an, daß sie, obwohl 
sie jetzt völlig attent und intelligent ist, damals ganz „verblödet“ 
war. In dieser Auffassung ist er allerdings durch ein autori- 
tatives Urteil bestärkt worden, welches bei der Kranken, nach- 
dem sich eine Augenmuskellähmung hinzugesellt hatte, eine 
tertiär-syphilitische Erkrankung des Gehirns annahm, obwohl 
die Wassermann’sche Untersuchung des Blutes negativ aus- 
gefallen war und außer den genannten Erscheinungen für 
Syphilis nur die Tatsache sprach, daß die Kranke im Alter von 
20 Jahren im Krankenhaus einmal wegen Halsschmerzen mit 
Injektionen behandelt worden sein wollte, die nur ihrer Meinung 
nach Quecksilber-Injektionen waren. Die.Patientin erhielt nun 
Salvarsan und wurde sofort gesund. Es kann als ausgeschlossen 
betrachtet werden, daß damals ein Gehirnsyphilis bestand. Die 
„Verblödung“ verschwand nach Einleitung der antisyphilitischen 
Kur ebenso schnell und plötzlich, wie sie gekommen war, was 
bei einer organisch bedingten Demenz ausgeschlossen, bei 
der hysterischen Pseudodemenz aber die Regel ist. Augen- 
muskellähmungen als Begleiterscheinung hysterischer Psychosen 
sind viel häufiger als man glaubt. Die Analyse ergab folgendes: 
Die Patientin hatte vor ihrer Ehe ein Verhältnis mit einem 

10* 


148 Saaler: Die Bedeutung d. psychoanalytischen Methoden u. Theorien usw. 


Mann, das sie aufgab, nachdem sie von ihm ein Kind be- 
kommen und obendrein die Überzeugung gewonnen hatte, 
daß sie von ihm syphilitisch infiziert worden war. Diese 
Annahme steht aber auf schwachen Füßen. Es ist nicht einmal 
wahrscheinlich, daß sie Quecksilber-Injektionen erhalten hatte. Sie 
weiß nur, daß man ihr Spritzen ins Gesäß verabfolgte. Von 
Syphilis oder auch nur von Quecksilber ist gar nicht gesprochen 
worden; den Zusammenhang hatte sie nur kombiniert. Die 
Patientin reagierte aber auf die Überzeugung, syphilitisch zu 
sein, wie die Analyse ergab, derart, daß sie die Sexualität 
überhaupt ablehnte, sich mit keinem Manne mehr abgab, 
obwohl sie zweifellos stark sinnlich veranlagt war, und 
schließlich einen unscheinbaren, hinkenden Menschen heiratete, 
der sie sexuell absolut nicht befriedigte, den sie aber zu 
lieben versuchte, weil sie sich infolge der Syphilis für so ent- 
wertet hielt, daß sie ihn als den für sie passenden Ehepartner 
empfand. Zur selben Zeit nun, in der sie an der Pseudo- 
demenz erkrankte, war sie in einen schweren seelischen Konflikt 
geraten, indem sie von einem gut gewachsenen jungen Mann 
bedrängt wurde, ihn zu heiraten. Eine Möglichkeit, ihren sexu- 
ellen Trieben, die sie mit Macht zu diesem Manne trieben, zu 
folgen, gab es für sie nicht, da sie sich durch ihre Syphilis 
für entwertet hielt, inzwischen übrigens noch andere Hin- 
derungsgründe äußerer Natur sich hinzugesellt hatten und end- 
lich die Wiederaufnahme des außerehelichen Verkehrs sie von 
neuem mit Schwangerschaft und Geschlechtskrankheit bedrohte. 
Sie suchte daher den Ausweg aus dem Konflikt wie vor Jahren 
durch die Entwertung. Sie mußte ihre „heimliche Krank- 
heit“ manifest werden lassen, um die Unmöglichkeit, 
einen gesunden jungen Mann zu heiraten, zu demon- 
strieren, andererseits aber auch, um sich die Gefahren des 
außerehelichen Verkehrs deutlich zu machen. Alles zu dem 
Zweck, um zu zeigen, daß sie einzig und allein zu ihrem 
hinkenden Mann gehöre, mit ihm zusammengeschmiedet durch 
das gemeinsame Schicksal der Verkrüppelung. Die Er- 
krankung an syphilitischen Erscheinungen war das einzige Mittel, 
um den Aufruhr im Innern zu beschwichtigen und den Be- 
werber abzustoßen. So entstand die Neurose, die übrigens 
zunächst eine Schwangerschaftsphantasie als Reminiscenz an 
den vorehelichen Sexualverkehr produzierte und die Vermutung 


Saaler: Die Bedeutung d. psychoanalytischen Methoden u. Theorien usw. 149 


einer Bauchhöhlenschwangerschaft nahelegte. Im Krankenhaus 
erkannte man die funktionelle Natur der Erkrankung und ent- 
ließ sie, ohne sie antisyphilitisch behandelt zu haben, aller- 
dings auch ohne daß sich der Zustand geändert hätte. Da- 
gegen verschwanden, nachdem die ersehnte Diagnose 
„Syphilis“ gestellt war, die Augenmuskellähmung nach der 
ersten Salvarsanspritze und die übrigen Krankheitserscheinungen 
bald darauf, — nicht infolge der spezifischen Wirkung der 
Behandlung, sondern weil die Anerkenung der Syphilis 
die Krankheitserscheinungen überflüssig gemacht 
hatte. Sie wußte jetzt, daß sie bei ihrem Manne zu bleiben 
hatte, und so gelang es ihr den Bewerber abzuweisen. Selbst- 
verständlich sind alle diese seelischen Vorgänge unbewußt ge- 
wesen und erst durch die Psychoanalyse aufgedeckt worden. 
‘ Hierzu paßt die Angabe der Kranken, daß sie erst, nachdem 
der Bewerber aus ihrem Gesichtskreis entschwunden war, ge- 
merkt habe, daß sie ihn liebe. Die Gefahr war aber nun einmal 
heraufbeschworen, und im Jahre 1919 kamen die abgeleugneten 
Regungen, das Verlangen nach sexueller Befriedigung 
durch einen gesunden jungen Mann, zumal sie zahlreiche Be- 
werber hatte, wieder zum Durchbruch. Als äußere Erscheinung 
dieses Durchbruchs zeigte sich ein hysterisches Hinken, 
das sich als „überdeterminiert“ erwies, d.h. gleichzeitig mehreren 
unbewußten Gedankengängen entsprach, auf die ich des Näheren 
aber nicht eingehen kann. Der Hauptantrieb war jedenfalls 
der der Entwertung der eigenen Persönlichkeit durch die Fiktion 
eines „heimlichen“ Leidens. Die Kranke wurde jetzt lange 
Zeit auf Ischias, Muskelrheumatismus u, dergl. mit Elektrizität, 
Diathermie, Massage u. s. w. behandelt. Solche harmlose Er- 
klärungen für die Krankheitserscheinung konnten der Patientin 
aber nicht genügen. Allerdings reichte jetzt auch die Diagnose 
Syphilis nicht mehr aus; sie bedurfte der Gewißheit, nicht 
nur syphilitisch zu sein, sondern infolge von Syphilis ein 
schweres Leiden des Rückenmarks oder des Gehirns zu haben, 
um dem unerträglich drängenden Sexualtrieb, der sie von ihrem 
Manne wegtrieb, widerstehen zu können. Da diese Diagnose 
nicht gestellt wurde, blieb das Hinken und behauptete sich 
sogar auch gegenüber stark wirkenden Suggestionen, die и. а. 
von dem bekannten Laienhypnotiseur Otto Otto angewandt 
wurden. Es verschwand aber nach der zweiten psycho -ana- 


150 Saaler: Die Bedeutung d. psychoanalytischen Methoden u. Theorien usw. 


lytischen Sitzung, die ich mit der Patientin vorgenommen hatte, 
und in der ihr vor Augen geführt wurde, daß sie niemals 
„scheel und lahm“ war, daß sie aber „scheel und lahm“ 
sein wollte, um sich mit ihrem Schicksal, an einen Krüppel 
gekettet zu sein, abfinden zu können — allerdings nur vorüber- 
gehend. Die Tatsache, daß die Kranke zeitweilig gebessert 
war, dann aber immer wieder von neuem die gleiche Geh- 
störung produzierte, illustriert die Unentschlossenheit, die die 
Behandlung in ihr auslöste. 

In diesem Falle wie in vielen anderen habe ich feststellen 
können, daß das Symptom durchaus nicht schwinden muß, 
wenn eine Psychogenie aufgeklärt ist, wie die Freud’sche Schule 
annimmt, sondern daß es nur dann definitiv schwindet, wenn 
der ihm zugrunde liegende Konflikt gelöst wurde. Wo das 
nicht geschieht, bleibt das Symptom oder es wird durch ein 
anderes ersetzt, was allerdings noch häufiger der Fall ist, aber 
immerhin eine gewisse Produktivität voraussetzt. In diesem 
Fall war der Konflikt natürlich nicht gelöst, sondern nur bewußt 
gemacht worden. Gelöst ist der Konflikt erst, wenn die Patientin 
entweder imstande ist, mit Erfolg gegen den drängenden Sexual- 
trieb anzukämpfen oder den Mut und die Kraft findet, sich 
von ihrem Manne frei zu machen, um sich anderweitig ihr 
Glück zu suchen. Ich bemerke, daß wir ärztlicherseits zu der 
letzteren Eventualität nicht raten dürfen. Ganz abgesehen von 
den ethischen Bedenken und der schweren Verantwortung, mit 
der wir uns belasten würden, wird mit einer solchen Empfehlung 
auch gar nichts erreicht. Denn die Tatsache, daß die Patienten 
bisher die Krankheit einer solchen Lösung vorgezogen haben, 
beweist, daß unüberwindliche Schwierigkeiten dieser Lösung 
entgegenstehen. Diese Schwierigkeiten objektiv zu werten, ist 
gar nicht möglich. Und eine freiheitliche Auffassung des Ge- 
schlechtlichen gerade Menschen beizubringen, die — wie ihre 
Neurose beweist — alles andere eher besitzen als moralischen 
Mut und Entschlußkraft, ist ein Beginnen, das man mit dem 
besten Willen nicht als ärztlich bezeichnen kann. Wenn wir 
bei unserer psychoanalytischen Tätigkeit also feststellen, daß 
die herrschende Sexualmoral einen Hauptfaktor bei der 
Entstehung von Neurosen darstellt, so ist die Konse- 
quenz, die daraus gezogen werden muß, nicht, daß das 
Individuum, sondern die Gesellschaft zu einer anderen 


Saaler: Die Bedeutung d. psychoanalytischen Methoden u. Theorien usw. 151 


Moral erzogen werden soll. Die Konsequenz ist also keine 
praktisch-ärztliche, sondern eine soziologische bzw. eine sozial- 
hygienische. 

Was geschieht aber mit dem Individuum? Es soll sich 
ablenken und den Sexualtrieb nicht unterdrücken aber beherrschen 
lernen. Vollwertigen Persönlichkeiten gelingt das meistens, wenn 
auch erst nach langen Kämpfen. Freud hat bekanntlich von 
der Verdrängung die Sublimierung unterschieden, d. h. die Hin- 
lenkung sexueller Energien auf höhere, insbesondere kulturelle 
Ziele. Man hat vielfach die Unterscheidung der Sublimierung 
von der Verdrängung als willkürlich und unklar bezeichnet, 
und es ist zuzugeben, daß der Unterschied von Freud nicht 
sehr klar herausgearbeitet wurde. Ich sehe in dem Mechanis- 
mus der Verdrängung — abweichend von der Annahme der 
engeren Freud’schen Schule — etwas Forciertes, Gewaltsames 
und nicht Definitives, während die Sublimierung eine harmonische 
Umwandlung der Persönlichkeit, etwa wie wir sie bei Goethes 
Faust erleben, bedeutet. Dagegen ist die vielgerühmte zweite 
Unbefangenheit des Dichters Thomas Mann eine Folge der 
Verdrängung und daher auch kein dauernder Schutz, wie der 
Dichter selbst in seiner Novelle „Der Tod in Venedig“ dartut. 
Sie entspricht etwa der appollinischen Ruhe des zweiten Satzes 
der fünften Symphonie Beethovens, dem vorläufigen Sieg über 
das, was man gewöhnlich „Schicksal“ nennt, aber sicher nichts 
anderes ist als die finsteren Mächte in der eigenen Brust. 
Diese melden sich denn auch zu Beginn des dritten Satzes von 
Neuem. .Vergeblich sucht hier ein mit Trompetenklängen ein- 
setzendes forciertes Scherzo ihrer mächtig zu werden. Erst 
die Sublimierung, tiefste Verinnerlichung und Wachsen der 
Persönlichkeit zu menschlicher Größe bringt den endlichen 
Triumph. Ich empfehle den Psychotherapeuten, die gegen Psycho- 
neurosen den Geschlechtsverkehr empfehlen, die Beschäftigung 
mit großen Kunstwerken, aus denen für die Psychotherapie viel 
zu lernen ist. Gewiß, für die Sublimierung wird ein großer 
Teil der Patienten nicht zu haben sein. Bei diesen müssen 
wir wenigstens zu erreichen suchen, daß sie es aufgeben, die 
Flucht in die Krankheit als Mittel zu benutzen, um seelische 
Konflikte auszutragen. 

Der letzte Fall bestätigt ebenso wie der erste die Adler’sche 
Hypothese von der Bedeutung des Minderwertigkeitsgefühls 


152 Saaler: Die Bedeutung d. psychoanalytischen Methoden u. Theorien usw. 


als Neurosenbildners und der fiktiven Beschaffenheit von Leiden 
zum Zwecke des neurotischen Arrangements, das das Ziel ver- 
folgt, wichtigen Entscheidungen aus dem Wege zu gehen. Aber 
auch er zeigt wie der erste und die beiden anderen die Be- 
ziehungen zur Sexualität. 

Ich muß aus meiner Erfahrung sagen, daß es, abgesehen 
von den Kriegsneurosen, tatsächlich kaum eine neurotische 
Erkrankung gibt, bei der sexuelle Strebungen gar keine Rolle 
spielen. Indessen teile ich trotzdem nicht die Anschauung der 
Freud’schen Schule, die in der Sexualität die ausschließliche 
Quelle neurotischer Erkrankungen sieht. Die Kriegshysterien, 
bei denen es mir gelungen ist, die gleichen seelischen Mechanis- 
men nachzuweisen, wie wir sie bei den Neurosen aus anderer 
Ursache kennen gelernt haben, haben diese Annahme völlig 
gerechtfertigt. Der Versuch der Freud’schen Schule, sie in 
sexuellem Sinne umzudeuten, muß als durchaus verfehlt be- 
zeichnet werden. Vielmehr geschieht die Komplexbildung und 
ihre Verarbeitung zu neurotischen Phaenomenen unter dem Ein- 
fluß von affektbetonten Strebungen jeglicher Art. Unter unseren 
heutigen kulturellen und wirtschaftlichen Verhältnissen 
ist der am meisten leidende und am schwersten zu 
seinem Recht kommende Affekt trotz seiner elemen- 
taren Eigenschaft und trotz seiner keinem Individuum 
abzustreitenden Daseinsberechtigung der sexuelle; 
seine Durchsetzung findet mehr Konfliktstoff als irgend ein 
anderer, und deshalb finden wir ihn in der überwiegen- 
den Mehrzahl der Neurosen als treibendes Agens. Im 
Krieg dagegen, als es sich um den noch elementareren Trieb 
handelte, nämlich um den Selbsterhaltungstrieb, spielten 
sexuelle Strebungen naturgemäß kaum eine Rolle. Es geht 
aber auch nicht an, zu folgern, nur elementare Triebe wie der 
Selbsterhaltungstrieb und der Sexualtrieb besäßen neurosen- 
bildende Kraft. Denn hinter den Kriegsneurosen stand keines- 
wegs immer der Selbsterhaltungstrieb, oft genügte schon das 
Verlangen nach Rückkehr in die häuslichen Verhält- 
nisse, nach Ruhe und Bequemlichkeit, um Neurosen ent- 
stehen zu lassen, wie ich das in einer früheren Arbeit aus- 
geführt habe. Ferner muß darauf hingewiesen werden, daß es 
auch zahlreiche Fälle gibt, die sich restlos in das Adler’sche 
Schema einfügen lassen, in denen die Sexualität also eine 


Saaler: Die Bedeutung d. psychoanalytischen Methoden u. Theorien usw. 153 


untergeordnete oder auch gar keine Rolle spielt, in denen viel- 
mehr der Machttrieb, der Wille zur Macht dominiert. Daß 
die Verschiedenheit der treibenden Motoren weder von Freud 
noch von Adler anerkannt wird, ist der einzige Grund für die 
Einseitigkeit beider und für die Unmöglichkeit, eine Brücke 
zwischen beiden zu schlagen. Wir können nicht einen Fall 
nach Freud oder nach Adler analysieren, je nachdem, wie 
unsere Stellung zur Psychoanalyse ist. Wir müssen vielmehr 
erkennen, daß im einen Fall der Sexualtrieb, im anderen der 
Machttrieb herrscht, die Augen aber auch nicht vor der Tat- 
sache verschließen, daß Macht- und Sexualtrieb, wie es im 
ersten Falle, den ich besprach, klar wird, innig miteinander 
verkettet sein können. In diesen Fällen und in anderen brauchen 
wir Freud’sche und Adler’sche Lehren, vielleicht sogar noch 
einiges mehr, und erkennen, daß jede Einseitigkeit zu Fehl- 
schlüssen führt, weshalb es auch immer fehlerhaft ist, wenn 
man sich streng. an das Freud’sche oder Adler’sche Schema 
hält. Jung, auf dessen Theorien ich mir versagen muß, näher 
einzugehen, hat richtig erkannt, daß den Systemen von 
Freud und Adler verschiedene Menschentypen zu- 
grunde gelegt wurden, und versuchte, durch eine neue 
Theorie eine Brücke zu schlagen, die auf beide Menschen- 
typen passen soll. Diese Jung’sche psychoanalytische 
Theorie kann aber keineswegs den Lehren Freuds und Adlers 
als gleichwertig zur Seite gestellt werden, denn sie bringt nach 
keiner Richtung hin grundsätzlich Neues. Unüberbrückbare 
Gegensätze zwischen Freud und Adler sind überhaupt gar nicht 
da. Es ist nur nötig, daß der eine die Lehre von der Sexualität 
und der andere die vom Willen zur Macht als der alleinigen 
Quelle der Neurose aufgibt. Dann wird sich zeigen, daß die 
Lehre Alfred Adlers keinen Gegensatz, sondern eine notwendige 
Ergänzung zu der Freud’schen darstellt. 

Was ich hier habe vortragen können, bedeutet natürlich 
nur einen Querschnitt aus der psychoanalytischen Arbeit. Vieles 
mußte unerwähnt bleiben. Gar nicht berührt habe ich — um 
nur eines hervorzuheben — die Traumdeutung,*) die eines 
der wichtigsten Mittel der psychoanalytischen Technik ist und 
ohne deren Kenntnis ein tieferes Verständnis der Neurose im 


*) Wir werden darüber eine besondere Arbeit bringen. (Die Schriftleitung.) 


154 Saaler: Die Bedeutung d. psychoanalytischen Methoden u. Theorien usw. 


Sinne der psychoanalytischen Lehren und insbesondere der 
Symbolik, auf die ich mir habe versagen müssen, näher ein- 
zugehen, überhaupt nicht möglich ist. Es kam mir aber, wie 
ich schon anfangs erwähnte, nicht so sehr darauf an, über 
Psychoanalyse zu referieren, als ihre außerordentliche Bedeutung 
für die praktische Heilkunde darzutun, Die Psychoanalyse 
hat bekanntlich ja ihr Arbeitsfeld schon längst erweitert. Sie 
ist nicht mehr nur eine medizinisch-psychologische Methode, 
sondern hat sich auf dem Gebiet der Völkerkunde, der Mytho- 
logie und Märchenforschung, der Religionswissenschaft, der 
Kulturgeschichte und in zahlreichen Zweigen der Soziologie, 
insbesondere der Pädagogik in wachsendem Maße Geltung 
verschafft, und die Forschung auf diesen Wissensgebieten in 
weit höherem Maße beeinflußt als die Medizin. Diese Tat- 
sache findet ihre Begründung hauptsächlich in der unzureichen- 
den psychologischen und soziologischen Schulung der Ärzte. 
Noch immer hat es ein großer Teil der Neurologen nicht be- 
griffen, daß Nervenheilkunde nicht nur biologisch orientiert sein 
kann; und nur deswegen konnte ich mißverstanden werden, 
als ich vor kurzem zum Ausdruck brachte, zu einer gerechten 
Würdigung der Psychoanalyse bedürfe es einer geistigen Um- 
schaltung in „modernem“ Sinne. Damals machte ein Kollege, 
der die Psychoanalyse in Grund und Boden verdonnerte, ge- 
kränkt geltend, nichtsdestoweniger ein „moderner Nervenarzt“ 
zu sein. Allerdings konnte er das mit Recht, denn es waren 
ausgezeichnete Anregungen im Sinne der neuesten Forschungen 
auf dem Gebiet der Gehirnphysiologie und Pathologie von 
ihm ausgegangen. So hatte ich es aber nicht gemeint. Ich 
nannte denjenigen „modern“, der über die Grenzen der engeren 
Neurologie hinausschaut, der Stimme des Zeitgeists zu lauschen 
versteht und es wohl merkt, daß schon eine neue psychologisch 
orientierte Nervenheilkunde im Entstehen begriffen ist, die 
grundsätzlich andere Wege wandeln wird als die, die noch 
heute auf den Universitäten gelehrt wird, und der es zu verdanken 
ist, daß weite Kreise von Ärzten und Laien Neurologie und 
Psychiatrie als therapeutisch sterilen Boden und ihre tatsäch- 
lichen Leistungen als nur schlecht verhüllten Nihilismus werten. 


SS 


Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 155 


BETRACHTUNGEN ÜBER DAS LIEBESLEBEN IN 
DER ZEIT DER RENAISSANCE UND DER PERIODE 
DER GALANTEN. 


Von FERD. FRHR. VON REITZENSTEIN, Dresden. 
(Fortsetzung. 


II. Eheschließung. 


ie schon gesagt, stehen wir in einer großen Zeit voller Tat- 

kraft und geistiger Anspannung. Baute die christliche Welt- 
auffassung des Mittelalters sich auf einem ausgeprägten 
Autoritätsglauben auf, so wurde die neue Zeit ein Tummel- 
platz persönlicher Individualität. Die Renaissance ist keine 
plötzliche Wiedergeburt, wie man stets glaubte und deshalb 
ihren Namen wählte, sie ist ein langsames Wiedererstehen 
antiken Denkens, das wie aus einem Zauberschlafe er- 
wachte zu einem letzten, gewaltigen Sichausleben. Man schrieb 
den byzantinischen Gelehrten dieses Erwecken zu, die bei Be- 
drohung von Byzanz durch die Türken nach Italien kamen. 
Auch das ist unrichtig; diese Gelehrten des verknöchertsten 
Landes, das die damalige Welt kannte, wären gar nicht in der 
Lage gewesen, eine solch gewaltige, jugendfrische Bewegung 
zu wecken. Als sie kamen, erhob sich schon allenthalben aus 
den Trümmern der immer noch gewaltige Geist der Antike, 
der sich rasch in die neue Zeit fand, ihr aber ebensoschnell 
seinen Stempel aufdrückte. Er war erwacht, da die Betäubung, 
die die christliche Hypnose über die Menschheit gelegt hatte, 
wie ein Alpdruck verschwand. 1438 traf der Platoniker Temistios 
Plethon als erster Byzantiner ein; er konnte weiterbauen auf 
den mächtigen Fundamenten, die er bereits fand, und ohne die 
er nichts erreicht haben würde. Die Wiedergeburt des mensch- 
lichen Individualismus schuf den Humanismus, der die Person 
züchtete und mit jugendfrischer Kraft die düsteren Fesseln der 
hierarchischen Asketik zersplitterte. Die christliche demütfige 
Selbsterniedrigung, die Sklavennaturen gezeitigt hatte, machte 
einem Gefühle persönlichen Wertes Platz. Nun brach 
Stein um Stein vom Turme der Scholastik, und mit der Los- 
trennung der exakten Wissenschaften von der Theologie stürzte 
die scholastische Weltanschauung nach und nach zusammen 
und neues Leben blühte aus den Ruinen. Daß der Renaissance 
nur eine kurze Dauer beschert sein konnte, war klar, denn 


156 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 


immerhin war sie eben das Sichausleben der antiken Welt, 
das sie in einen gewissen Gegensatz zur Natur brachte. Dieses 
Naturgefühl, diese Romantik im weitesten Sinne des 
Wortes, erwuchs unter ihrem Schutze zu einer freien Geistes- 
richtung, und wenn sie auch nie zu wirklicher Kraft gelangte, 
so war sie doch stark genug, um die gänzlich verflachten Aus- 
läufer der Renaissance zu beseitigen. Ihre größte Macht- 
entfaltung war eigentlich die deutsche Gotik, die die Renaissance 
gewaltsam unterbrochen hatte, aber, wie eben gesagt, ihren 
Grundgedanken bewahrte sie auf. Aus der Sphäre dieses ur- 
deutschen Empfindens, das die Renaissance eben großgezogen 
hatte, entwickelte sich Luther I. Er stellt den Höhepunkt jener 
für Deutschland charakteristischen Mischung germanischen Natur- 
lebens und antiken Eigenlebens dar, eine echt deutsche Gestalt. 
War er es nicht, so wäre es ein anderer gewesen, der den 
Bruch zwischen Germanentum und Romanentum vollzogen hätte, 
denn auch das kam nicht plötzlich; auch das war längst vor- 
bereitet. Leider aber hatte dieser Luther eine Doppelgestalt, 
der wertvoll jugendliche Luther machte bald dem alten Luther 
Platz, der mehr und mehr den gesunden Standpunkt verließ 
und so den Protestantismus nicht zu einer „deutschen“ 
Renaissance auf deutscher Grundlage werden ließ. Im kirch- 
lichen Rechte streiten beide Auffassungen von allem Anfang 
an miteinander, und gerade die Renaissance mit ihrer Indivi- 
dualisierung war es, die das Germanentum zur Verteidigung 
zwang. 1517 war es, als Luther die Thesen an die Schloß- 
kirche zu Wittenberg schlug und damit die Trennung zweier 
Weltauffassungen auch äußerlich kennzeichnete. Diese 
Trennung betraf auch die Ehe. Luther sah tief. Er wollte sie 
ihrem ursprünglichen Zwecke zurückgeben, wollte sie befreien 
von den Schlinggewächsen, die aus dem sakramentalen 
Boden um sie gewuchert waren und sie zu ersticken drohten. 
Er hatte hier wie auch sonst die beste Absicht; auch die 
Religion sollte ihm lebend werden — eine Parallele zur wissen- 
schaftlichen Erkenntnis der Zeit, kein totes Dogma. Frei- 
lich erreichte er das nicht. Wohl hatte er das religiöse Leben 
nach dem damaligen Wissensstande gereinigt; aber Luther Il 
und seine Nachfolger hätten in diesem Sinne fortfahren sollen 
— sie taten es nicht. Man blieb auf jener Zeitauffassung 
stehen, anstatt fortzuschreiten, und so unterscheidet sich der 


Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 157 


heutige orthodoxe Protestantismus eigentlich nur darin vom 
Katholizismus, daß seine Dogmen um einige Jahrhundert jünger 
sind! Das gilt besonders auch von der Ehe; bei der noch alles 








Abb. 1. Der Besuch des Liebhabers 
zeigt den Geist des Liebeslebens in der Renaissance. 


mehr oder weniger beim alten geblieben ist. Wir haben in 
„Liebe und Ehe im Mittelalter“ *) gesehen, wie die Kirche all- 
mählich die Ehe in ihre Hand bekam; nachdem sie sie 


*) F. Frhr. v. Reitzenstein, Liebe und Ehe im Mittelalter. 
Stuttgart 1912. 


158 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 


frühzeitig hatte für ein Sakrament erklären lassen, als sie 
dabei Siegerin in einem langen Streite geblieben war. Wir 
sehen aber, daß sie, unter germanischem Einflusse stehend, als 
eheschließendes Moment den Beischlaf ansprach, wenn 
sie auch an Stelle der elterlichen Genehmigung als. zweitwich- 
tigsten Punkt die Willenserklärung der beiden Nup- 
turienten setzte. Ihre Mitwirkung beim Eheabschluß hatte 
sie nur als einen freiwilligen Segen anerkannt. So hatte das 
Nichtbeachteri der kirchlichen Vorschriften auch keinen Ein- 
fluß gehabt auf die Giltigkeit der Ehe, die immer zu Recht 
bestand, wenn eben Beischlaf und Willenserklärung stattgefunden 
hatten. Freilich wünschte die Kirche den Segen schon sehr 
früh, setzte auch kirchliche Strafen darauf, wenn jemand sich 
nicht fügen wollte, aber, und das ist wichtig: der Priester 
segnete nur die bereits geschlossene Ehe ein. Die Ehen 
waren also heimlich gewesen oder konnten es sein; es war 
also auch keine durchgreifende Kontrolle möglich, ob nicht da 
oder dort eine Doppelehe vorlag oder Blutsverwandtschaft 
zwischen den Ehegatten bestand. Deshalb forderte die Kirche 
zunächst öffentliche Eheschließung; freilich war dies mehr 
der äußere Grund, denn die wirkliche Grundlage dieser For- 
derung entsprang der Erkenntnis, daß man mit der Eheschließung 
einen gewaltigen Einfluß auf das Familienleben erlangen 
könnte. Die durch den Willen der Brautleute und den Bei- 
schlaf geschlossene Ehe sollte durch den Priester öffentlich 
eingesegnet werden, und das vierte lateranische Konzil (1215) 
war bereits einen Schritt weitergegangen, als es die Einsegnung 
durch den zuständigen Pfarrer forderte. Wurde das einmal 
durchführbar, so war damit ein gewaltiger Schritt getan, da 
die Kirche so eine äußerst genaue Kontrolle in den Händen 
hatte. Vorläufig war es natürlich lediglich kirchliches Gebot, 
dem die weltliche Macht ihren Arm nicht lieh. Die Ehe war 
trotzdem giltig (validum), wenn sie auch unerlaubt (illicitum) 
war. Die Trauung war also immerhin in den Kreis der Kirche 
gezogen, wenn sie auch noch formlos blieb, als Luther auf- 
tra. Vom Zölibat der Priester ausgehend, für den er, da 
er ja gerade den Hierarchismus bekämpfte, keine Verwendung 
hatte, trat er vor allem dem sakramentalen Charakter der Ehe 
entgegen, den man unterdessen vollständig zur Geltung gebracht 
hatte. Luther war nicht der erste, der den Zölibat bekämpfte; 


Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 159 


ja, wie wir gesehen haben, bestand dieser in der alten Kirche 
nicht zu Recht. Der krankhafte Zug gegen die Ehe geht, wie 
wir sahen, vom Paulinismus aus, der ihn wohl aus der 
griechischen Philosophie übernommen hat, und kommt im 
2. Jahrhundert mehr und mehr zum Durchbruch. Die Synode 
von Elvira (306) fordert dann bereits Ehelosigkeit von den 
höheren Priestern, uud zwar eigentlich deshalb, damit diese 
von weltlichen Einflüssen frei wären und um so bessere Werk- 
zeuge des päpstlichen Hierarchismus abgeben könnten, der 





Abb. 2. Zeigt die sexuelle Entspannung in den großen Badeorten. 


damals schon schüchtern hervortritt. Das Konzil zu Nizäa hatte 
sich zwar gegen das Verbot entschieden, aber die Synode von 
Gangra (343) führt es strenger durch. Dieses Bestreben der 
Kirche wurde im Kampfe zwischen Kaiser und Papst eine der 
Hauptwaffen, denn Gregor VII, erblickte mit Recht darin den 
besten Weg, sich in der Geistlichkeit willenlose Werkzeuge zu 
schaffen, die seinem Machtgelüste den Weg ebrien helfen konnten. 
Kalixtus II. (1119 und 1123), dann Jnnozenz Il. (1139) er- 
klärten sodann alle Priesterehen für ungiltig, und das Konzil 
zu Trient bestätigte dies. Diese Durchführungen waren natür- 


160 Reitzenstein; Betrachtungen über das Liebesleben 


lich nicht ohne Kampf gelungen, und stets und zu jeder Zeit haben 
sich vernünftig und rechtlich denkende Naturen dagegen aufgelehnt. 
Um nur die Zeit kurz vor Luther zu streifen, sei eine Stelle 
aus dem für seine Zeit epochemachenden Werke Albrechts von 
Eyb (* 1420, + 1475): „Ob einem Mann sey zu nemen ein 
eeliches weyb oder nit“, das 1472 zuerst in Nürnberg erschien, 
angeführt. Er betrachtete die Ehe bereits wieder mehr vom 
natürlichen Standpunkte, freilich haftet er dabei noch immer 
an dem patristisch-scholastischen Standpunkt, daß sie auch zur 
Vermeidung von „Unkeuschheit“ zu schließen sei. Er schreibt: 
„Vn mugen nit werde auffenthalde vnd gemeret dann durch ver- 
mischug des mannes mit der frawe dieselben vermischug hat got gesatzt 
in de paradeiß in gestalt der heiligen ee. Darumb ist eim manne zu 
nemen ein weyb auch durch vrsachen das die welt mit menschen er- 
füllet die menscheit geewigt ein geschlecht vn name gemert vn die sünde 
der vnkeuscheit vermide werde.“ ? 
Dies ist im wesentlichen auch der Standpunkt Luthers 1, 
obwohl dieser bereits zu fühlen beginnt, daß die Liebe die 
eigentliche Grundlage zu bilden hätte. Noch trennt er 
aber nicht den individuellen Geschlechtstrieb vom un- 
bewußten Kinderzeugungstrieb, aber es war ein ganz 
gewaltiger Fortschritt, daß er wenigstens diesen ein Hauptmotiv 
für die Eheschließung sein ließ, und ihn mit Essen und Trinken 
gleichstellte. Er sagt: 


„Ein Weib, wo nicht die hohe seltsame Gnade da ist, kann eines 
Mannes ebensowenig entrathen, als essen, schlafen, trinken und andere 
natürliche Notdurft. Wiederum also auch ein Mann kann eines Weibes 
nicht entrathen. Ursach ist die: es ist ebenso tief eingepflanzt der Natur, 
Kinder zeugen als essen und trinken. Darum hat Gott dem Leib die 
Glieder, Adern, Flüsse und alles, was dazu dienet, geben und eingesetzt. 
Wer nun diesem wehren will und nicht lassen gehen, wie Natur will 
und muß, was tut er anders denn er will wehren, daß Natur nicht Natur 
sei, daß Feuer nicht brenne, Wasser nicht netze, der Mensch nicht esse 
noch trinke noch schlafe.“ 

Hätte Luther schon unsere moderne sexualpsychologische 
Kenntnisse vor sich gehabt, er würde sicher geschrieben haben: 
er ist ebenso tief eingepflanzt, der Natur geschlechtliche Ver- 
einigung zu suchen — — denn nur dieser Begriff steht auf der 
gleichen Stufe mit dem Trieb zu essen und zu trinken. Es gibt 
nicht selten jemand, der nur deshalb ißt und trinkt, weil er seinen 
Körper erhalten will, sondern weil er das Hunger- und Durstgefühl 
befriedigen und damit sein Wohlbefinden sichern will. Ebenso 
ist es mit dem Vereinigungstrieb. (Fortsetzung folgt.) 


Geschlecht und Gesellschaft, 
Neue Folge XI, 6 


Tafel I 


Wenerew ffraff nie bringer frische / 
Der Pompe dict iñ def meyfters sucht. 
Def werck und zeug wirt bie ange3cYgt/ 
Wol dem der fich 3ú cugene neygt- 


man mifschac peinlich ftraffen foll. 

Үгет fo jemandr den gemeinen gefcbziben A echten nach, durch eyn ve 
срез handlung das lebe verwircht hatımag ma nach gütter gewonbeye/ oder nach 
ordnung eyns güecen rechruerftcndigen Richters fo gelegenbeye on ergernuf 
derübelchar ermeflen Fan die form vn weife derfelben rödrung halten vn virer 
len/aber in fällen darumb(oder derfelben gleiche )die gemein Reyferliche recht 
nic fegen /oder zitlaflen sjemande zum code züftraffen , haben wir in difer vnfer 
ordnung auch Feynierley codrftraff gelenr/aber ın erlichen mißrhaten laifen di: 
rccbe peinlich itraffe am leib oder glıdern 34 /damir danneft die geftraffcen by 
dern Ichen bleiben mögen  Diefelben ftraff mag man auch erfenien vnd gebrau 
chen nach gürser gewonbeye deb landes /oder aber nach ermeflung eyns gieen 





Eine Seite aus der Bambergischen Gerichtsordnung von 1538. 















RR RAR RR 3 
TE NC NAV 


HOHOROHOHONONOHOHONOHOHOROHOT 


5 








SEXUAL-VERGEHUNGEN UND IHRE AHNDUNG — 
VOR DREIHUNDERT JAHREN. 


Von Justizrat Dr. ROSENTHAL, Breslau. 


р“ Geschichte des sogenannten „Strafrechts“ ist nichts als 
eine Kette von grauenhaften Verirrungen in der Entwicklung 
des menschlichen Geistes. Worauf, d.i. auf welchen Rechts- 
grund, das vermeintliche Recht des Staates, zu strafen, sich 
in Wahrheit gründe, ist unter den Gelehrten allezeit streitig 
gewesen und niemals überzeugend dargetan worden. Vielleicht, 
ja sicher wird eine nicht zu ferne Zeit ein solches Strafrecht, 
d. i. in dem Sinne, daß der Staat oder sonst Jemand das 
„Recht“ habe, Übel um ihrer selbst willen — gleichviel 
zu welchen Zwecken — über einen vermeintlichen Missetäter 
zu verhängen, überhaupt nicht kennen. Künftige Jahrhunderte 
werden unsere „Zuchthäuser* und „Gefängnisse“ nicht mit 
anderen Augen ansehen, wie wir die Folterkammern ver- 
gangener Jahrhunderte. Die Rechte des Staates werden sich 
durchaus darin erschöpfen, denjenigen, der die festgesetzte 
Ordnung bricht, zu „erziehen“ und, soweit erforderlich, die 
Gesellschaft vor weiteren Rechtsbrüchen zu „schützen“. 
Bisher ist das sogenannte „Strafrecht“ stets ein Kind seiner 
Zeit gewesen, die all deren Mängel und Schwächen, die ganze 
Unvollkommenheit der menschlichen Geistesverfassung poten- 
ziert zur Erscheinung gebracht hat. Das Gegenwärtige nehmen 
wir, wie fast überall, so auch auf diesem Gebiete als not- 
wendig und selbstverständlich ohne viel Nachdenken hin. 
Rückblickend selbst auf eine gar nicht ferne Vergangenheit 
müssen wir erschauern vor den Sinnlosigkeiten und Grausam- 
keiten, welche der Staat, die Gesellschaft, in Form der „Straf- 
justiz“, im Namen einer vermeintlichen „heiligen“ Gerechtigkeit 
verübt hat. Nicht umsonst hat Themis die Binde vor den 
Augen. Blind und zweckwidrig hat die menschliche Gesell- 
schaft gegen ihr eigen Fleisch und Blut, gegen Vernunft und 
Menschenwürde gewütet. Wir möchten hier nur als Beispiel 
11 


162 Rosenthal: Sexual-Vergehungen u. ihre Ahndung — vor 300 Jahren 


an die Inquisition und Glaubensverfolgungen, an die Tortur, 
an die Fülle von allergrausamsten Todesarten, an Teufels- 
glauben und Hexenverbrennungen usw. erinnern, die sich bis 
tief in das achtzehnte Jahrhundert hineingezogen haben. Wer 
ein Beispiel aus neuerer Zeit für die Auswirkung des „Straf- 
rechts“ sich vor Augen führen will, lese etwa — ein Doku- 
ment für Tausende — Dostojewski’s: Aus dem Totenhause, 
um schaudernd zu erfahren, welche Qualen und Leiden sinn- 
und gedankenlos oder mit sadistischem Behagen über wehr- 
lose Menschen verhängt, welche Unsummen an Lebenswillen 
und Lebenskräften im Namen der staatlichen Gerechtigkeitspflege 
nutzlos aufgerieben und zugrunde gerichtet wurden und werden. 

Gewiß, das Streben „gerecht“ zu sein, „gerecht“ zu 
strafen, findet sich zu allen Zeiten, bei allen. sogenannten 
Kulturvölkern. Aber was ist „Gerechtigkeit“? Alle Zeiten 
hatten wohl die Idee einer höchsten, sei es göttlichen, 
sei es sonst absoluten „Gerechtigkeit“ Sieht man aber 
näher zu, so zerfließt dieser Begriff. Eine absolute Gerechtig- 
keit gibt es in menschlichen Verhältnissen eben nicht; es bleibt 
nur etwas Relatives — eine Gerechtigkeit, die sich wandelt, 
die den Umständen und der jeweiligen Erkenntnisstufe sich 
anpaßt. Jedes Volk hat seine eigene Gerechtigkeit; ja, in der 
Regel zugleich zwei Arten hiervon. Die eine, sozusagen 
volkstümliche, die praktisch zur Geltung gelangt und — den 
Interessen und Wünschen der herrschenden Klassen weit ent- 
gegenkommt; sie hat im geltenden Gesetzeswerk, in Sitte und 
Rechtsprechung ihren Niederschlag gefunden. Die andere: 
Die ideelle Gerechtigkeit, wie sie in den Köpfen und Herzen 
nur Weniger, der Besten und Weisesten der Zeit, vorgestellt 
wird. Das aber ist vielleicht die „praktische“ Gerechtigkeit 
einer kommenden Zeit, dazu bestimmt, wiederum von einer 
höheren, zunächst nur ideellen Gerechtigkeit überwunden und 
abgelöst zu werden. 

Langsam und zögernd, Schritt um Schritt, weicht die ver- 
altete und überlebte Gerechtigkeitspflege der neu sich bildenden 
Gerechtigkeitsidee. Sie erscheint denen, die diese Idee in sich 
aufnehmen, als „ewige Krankheit“, die sich von Geschlecht 
zu Geschlecht vererbt. In ihrer praktischen Anwendung wird 
sie immer stärker als schreiendes Unrecht gegen die Lebenden 
und ihre berechtigten Ansprüche empfunden und — gebrand- 


Rosenthal: Sexual-Vergehungen u. ihre Ahndung — vor 300 Jahren 163 


markt: fiat justitia, pereat mundus! Schließlich aber siegt das 
Leben und die stetig fortschreitende Entwickelung. 

Galt es einst für billig und recht, „Rache“ zu nehmen für 
erlittene Unbill — nicht nur am Übeltäter, sondern am Stamme, 
dem er zugehört, an der ganzen Familie, an Kindern und Kindes- 
kindern (Blutrache); übernahm später der Stamm, der „Staat“ 
die Ausübung dieser „Rache“, die Bestimmung ihres Maßes, 
so galten zu anderen Malen die „Vergeltung“, — die ihren 
praktisch rohesten Ausdruck in einer buchstäblich genommenen, 
aber grausamst verzerrten „Talion* fand (Aug’ um Auge, Zahn 
um Zahn etc.) — oder ferner die „Abschreckung“ oder die 
„Besserung“ des Übeltäters oder die Herstellung der verletzten 
Ordnung oder die Unschädlichmachung des Ordnungsbrechers, 
der Schutz der Gesellschaft u.a.m. als die „wahrhaften“ Prin- 
zipien der strafenden „Gerechtigkeit“. Und ebenso wechseln 
mit den Zeiten die Anschauungen über die Strafbarkeit ge- 
wisser Handlungen überhaupt und mehr noch über den Grad 
ihrer Strafbarkeit. Hochverrat und Landesverrat hängen in ihrer 
Strafwürdigkeit durchaus von der Auffassung des „Staates“ ab. 
Spionage gilt dem eigenen Volke als verdienstlich, dem feind- 
lichen dagegen als todeswertes Delikt, ganz zu schweigen von 
dem straflosen Massenmorden und den anderen Verbrechen, 
die der Krieg heraufbeschwört und zu verdienstlichen Hand- 
lungen stempelt. Auf dem Gebiete des Geschlechtslebens bleibt 
die Vergewaltigung der eigenen Ehefrau straffrei, während 
homosexuelles Verhalten (unter Männern) und „Bestialität“ 
(Sodomie), früher todeswürdige Verbrechen, auch jetzt noch 
mit entehrenden Strafen belegt werden. Auch sei an den 
Wandel der Anschauungen hinsichtlich der Strafbarkeit des 
außerehelichen Verkehrs, hinsichtlich der Abtreibung etc. hier 
kurz erinnert. 

Wir müssen uns bescheiden, jede Zeit nach Maßgabe ihrer 
beschränkten Erkenntnis, ebenso aber auch die unsere nach 
Maßgabe unserer Einsicht die beste Gerechtigkeit suchen zu 
lassen. In diesem Sinne müssen wir auch die harten, grau- 
samen Strafen vergangener Jahrhunderte, ihre Vorurteile und 
Irrtümer, ihre verfehlten Methoden der Wahrheitsfindung immer- 
hin als Ausfluß ihres Suchens und Strebens nach der „gerechten“ 
Strafe hinnehmen. 

Die Strafrechtspflege der Gegenwart durchdringt sich mehr 

11* 


164 





Rosenthal: Sexual-Vergehungen u. ihre Ahndung — vor 300 Jahren 


Abb. 2. Zuchthaus für männliche Sträflinge (Amsterdam). 


Ir 


эй 


1 


NS 
Ре 


жагыш 


aan 





ZZ ард. 


WE 


Rosenthal: Sexual-Vergehungen u. ihre Ahndung — vor 300 Jahren 165 





Abb. 3. Holzraspeln als Beschäftigung für männliche Sträflinge 1663. 


und mehr mit humanen und sozialen Rücksichten zugunsten 
des „Delinquenten“. Sie zeigt in ihrer Entwicklung deutlich 
die Tendenz, sich selbst — in dem oben gedachten Sinne: 
durch allmähliche Umwandlung der „Strafe“ in Maßnahmen 
der Erziehung und Sicherung — überflüssig zu machen. Doch 
geht diese Entwickelung naturgemäß und im Zusammenhang 
mit dem ihr zum Teil noch stark widerstrebenden Volks- 
empfinden nur sehr langsam von statten. Ein Blick in die 
Vergangenheit, deren Strafrechtspflege humane Gesichtspunkte 
allgemein betrachtet noch nicht aufkommen ließ, läßt deutlich 
genug die brutale Auffassung der Zeit, die Wahnvorstellungen, 
die sie beherrschen (z. B. Teufels- und Hexenglaube, Liebes- 
zauber, Brunnenvergiftung, Gottesurteil und Folter als Beweis- 
methoden etc.) und insbesondere — am Erfolge gemessen — 
die Sinn- und Zwecklosigkeit der grausamen Strafverhängung 
erkennen, Er sollte freilich auch zur Einkehr in uns selbst 
und zur Einsicht führen, daß auch wir, so „herrlich weit“ wir 
es gebracht haben mögen, doch in Irrtümern befangen danach 


streben müssen, diese zu erkennen und zu überwinden. Immerhin 


bietet auch die Geschichte der Strafrechtspflege den Trost, 


166 Rosenthal: Sexual-Vergehungen u. ihre Ahndung — vor 300 Jahren 


daß in der praktischen Übung vielfach menschliches Verstehen 
und mitfühlendes, redliches Wollen die oft unmenschliche Grau- 
samkeit, die strengen, vorurteilsvollen Strafvorschriften zu mildern 
und abzuschwächen versucht hat. 

Besonders eindringlich treten auf dem Gebiete der so- 
genannten geschlechtlichen Vergehungen diese Er- 
scheinungen zutage: Die Abhängigkeit des Strafsystems von 
dem Geist und der Auffassung — von den Irrtümern — der 
Zeit, andererseits die Zähigkeit, mit der an veraltenden und 
überlebten Vorurteilen, ja Wahnvorstellungen festgehalten wird. 
Ob die Heraushebung dieser Vergehungen, die unser geltendes 
deutsches Strafgesetzbuch zusammenfassend als „Verbrechen 
und Vergehen wider die Sittlichkeit“ in einem besonderen Ab- 
schnitt rubriziert, berechtigt und angebracht ist, ist hier nicht 
zu erörtern. Nur ein kleiner Ausschnitt dieses Gebiets aus 
der Rechtsübung vergangener Zeiten soll aus rechts- und kultur- 


7 


SE 





Abb. 4. Szene vor dem Richter 15. Jahrh. (Aus dem mittelalterlichen Hausbuch). 
Links Kläger, rechts Verbrecher vom Häscher gehalten. 


Rosenthal: Sexual-Vergehungen u. ihre Ahndung — vor 300 Jahren 167 


geschichtlichem Interesse im folgenden an einigen Beispielen 
beleuchtet werden. 

Das ehemalige „Stadtgericht“ zu Breslau, bereits im 
13. Jahrhundert begründet, ist im Mittelalter und darüber hinaus 
zu hohem Ansehen gelangt. Zahlreiche Fürsten, Städte, Kor- 
porationen, auch Private, insbesondere adlige Gerichtsherren, 
denen damals die Jurisdiktion in einem gewissen Bezirke zu- 
stand, haben von diesem Gerichte sich Rechtsbelehrungen in 
bürgerlichen und kriminellen Streit- und Zweifelsfragen — gegen 
die festgesetzten „Sporteln*“ — geholt. Vielfach ist hierbei das 
Breslauer Stadigericht bzw. der dort eingesetzte „Schöppen- 
stuhl“, indem die Ratsuchenden sich seinem Spruche unter- 





Abb. 5. Schöppenstuhl nach Diebold Schilling Schweizerchronik (1507—13) Luzern. 


warfen, „Oberhof“ gewesen und hat als solcher die Urteile in 
den ihm vorgelegten Rechtssachen gefällt. Über diese, meist 
sehr eingehend verhandelten Rechtssachen wurden Verzeich- 
nisse und Bücher geführt, von denen das Stadtarchiv zu Breslau 
noch eine Anzahl bewahrt; u. a. eine Handschrift in Quart mit 
der Überschrift: „In nomine Sacrosanctae et individuae Trini- 
tatis, Verzeichnis etzlicher Fälle, so in der Schöffenstuben zu 
Breslau vorgelaufen und wie sie decidiret worden“. Sie ent- 
hält 262 „Responsen“ teils zivil-, teils strafrechtlichen Inhalts 


168 Rosenthal: Sexual-Vergehungen u. ihre Ahndung — vor 300 Jahren 


aus dem Anfange des 17. Jahrhunderts. Einige, Delikte ge- 
schlechtlicher Art betreffende Fälle sollen im folgenden mit- 
geteilt*) und besprochen werden. 


In den „Responsen“ ist u. a. mehrfach die sogenannte 
„Sodomie“ abgeurteilt. Diese wird nach unserem geltenden 
Strafrecht — § 175 R. St. G. B. — als „widernatürliche Un- 
zucht“ in gleicher Reihe mit der „Päderastie“, mit Gefängnis- 
strafe — evtl. unter Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte — 
bedroht. Wie sehr und mit wie starken Gründen die Be- 
strafung der letzteren von der neueren Wissenschaft und Ein- 
sicht beanstandet wird, ist bekannt. Aber auch für die Straf- 
barkeit der Sodomie als solcher, des Verkehrs von Menschen 
mit Tieren, als eines geschlechtlichen Deliktes, d. h. als 
einer Verletzung der geschlechtlichen Ehre oder Unversehrtheit 
eines Anderen, fehlt es an jedem vernünftigem Grunde. Sie 
wird zumeist mit einem größeren Tiere, einer Kuh, einem Kalbe, 
einem Pferde etc. vorgenommen und von einem jugendlichen, 
meist ganz oder halb blöden Menschen verübt, der in dem 
unwiderstehlichen, dunklen Drange seines Triebes auf diesen, 
durch die Gelegenheit sich bietenden Ausweg geführt wird. 
Das ist gewiß weder geschmackvoll noch empfehlenswert. 
Aber ein „Verbrechen“? Die Handlung kann unter Umständen 
zur Tierquälerei ausarten oder bei nicht genügender Vorsicht 
den öffentlichen Anstand verletzen, dann auch insoweit — im 
Rahmen unseres heutigen Rechts — als strafbar erscheinen. 
Hiervon abgesehen verletzt sie kein wesentliches Rechtsgut, 
ist sie strafrechtlich durchaus irrelevant. Das benutzte Tier 
wird in der Regel weder geschädigt noch irgendwie beein- 
trächtigt werden, der zu dieser Form der Triebbefriedigung 
schreitende Mensch ist rechtlich kaum anders anzusehen, als 
wenn er — die doch nirgends strafbare — Onanie betriebe. 
Im Gegensatz zu der heute wesentlich milderen Anschauung 
bedrohte die „Peinliche Gerichtsordnung“ des Kaisers Karl V., 
die sogenannte „Karolina“, 1532 zum Reichsgesetz erhoben, 
die „Unzucht von Mensch und Vieh“ — zweifellos unter dem 
Einfluß der strengen biblischen Verpönung (Sodom und 


*) Nach Dr. Frauenstädt: „Strafrechtliche Breslauer Schöffensprüche 
aus den Jahren 1600 bis 1603“ in der Zeitschrift f. d. ges. Strafrechts- 
wissenschaft, Bd. 26, S. 50 ff. 


Rosenthal: Sexual-Vergehungen u. ihre Ahndung — vor 300 Jahren 169 


Gomorrha) — mit dem Feuertode! Die gleiche „Strafe“ trifft 
auch das beteiligte Tier! 

In einem Falle (no. 35) unserer Handschrift hat ein Stall- 
junge, 18 Jahre alt, „mit einer Kuhe zu tun gehabt, welches 
er auch gestanden“. Die am 23. Juli 1601 gefällte Entscheidung 
geht dahin, daß „der Sodomit mit dem Schwert gerichtet und 





Abb. 6. Gerichtssitzung (Holzschnitt von Hans Burgkmair (1472—1531). Lauter Ver- 
brecher in Halseisen vorgeführt. Im Hintergrund die Strafen: Rädern, Hängen. Pfählen, 
Ertränken, Enthaupten, Verbrennen. 


hernach sambt der Kuhe andern zur Abscheu zu asche ver- 
brannt werde“. Dabei hat ihm nur sein jugendliches Alter 
zur Milderung der Todesart verholfen, — „alias hatte er sollen 
lebendige verbrannt werden“. 

Nicht so klar liegt ein weiterer Fall (no. 201). Da ist ein 
Mann Namens George Walther beschuldigt „mit seines lebendi- 
gen Eheweibes Schwester in Unehren zu thun gehabt zu haben“. 


170 Rosenthal: Sexual-Vergehungen u. ihre Ahndung — vor 300 Jahren 


Er wird auf die Folter gespannt und bekennt nun nicht allein 
dieses Vergehen, sondern — „bekennt auch, daß er mit einer 
Stuten zu thun gehabt; ob er aber woll im Werk gewesen, so 
hab ers doch nicht vollbracht, weil sich die Stutte gewendet“. 
Quaeritur, quid juris? (vgl. Tafel II). 

Der Arme wird nochmals gefoltert und bekennt nun, „daß 
er die viehische Unzucht mit der Stutten ganz vollbracht habe, 
ita ut semen demiserit, quod tamen in terram concidit“.... 
Das Urteil — vom 26. Juli 1602 — übergeht dann ganz das 
Vergehen, dessen der Delinquent ursprünglich beschuldigt war 
(Verkehr mit der Schwägerin). Es lautet dahin, daß der An- 
klagte, wenn er auf „seinem Bekenntnuß verharre... nach 
Scherffe der rechte von wegen seines zugestandenen viehischen 
Schandlasters.... mitsamt der (Stute), mit welcher er die that 
vollbracht, andern zum abscheulichen Exempel mit dem feuer 
vom Leben zum Tode bracht uud also gerichtet werden solle“, 

Es macht den Eindruck, als ob der bedauernswerte De- 
linquent, von Natur nicht sehr standhaft, in der Tortur auch 
sonst alles, was man ihm untergeschoben oder von ihm ge- 
wünscht hätte, „zugestanden“ haben würde. 

Anders als die neuere Zeit stellten sich frühere Jahrhunderte 
zur außerehelichen Geschlechtsgemeinschaft lediger 
Personen. Im römischen Recht ist die Strafbarkeit auf das 
stuprum — die Schwächung einer Jungfrau oder Wittwe von 
ehrbarem Wandel — beschränkt, während die fornicatio, der 
Geschlechtsverkehr als solcher, straffrei blieb, und das Kon- 
kubinat, bei uns als „wilde“ oder „freie“ Ehe bezeichnet, als 
durchaus sittlich betrachtet und sogar begünstigt wurde. Die 
germanische Auffassung ging ursprünglich dahin, die Schwächung 
einer ledigen Frauensperson als eine Wertminderung, die 
dem Gewalthaber zu vergüten war, anzusehen. Noch nach 
dem Schwäbischen Landrechte muß der stuprator einer Jung- 
frau — „ihrem Vater 100 Mark Silbers geben und soll die 
Jungfrau zu rechter Ehe haben, dieweile sie lebt“. Späterhin 
machte sich der Einfluß der Kirche und des Kirchenrechts 
geltend. Im Mittelalter rügten die Geistlichen allgemein den 
außerehelichen Beischlaf — und zwar schon als solchen, nicht 
bloß das stuprum — durch Kirchenbußen, mitunter in gar un- 
passender Form. Die Carolina überging diese Sache mit Still- 
schweigen, daher herrschte hiernach hinsichtlich der Frage der 


Rosenthal: Sexual-Vergehungen u. ihre Ahndung — vor 300 Jahren 171 


Strafbarkeit große Verwirrung. Die gemeinrechtliche Praxis 
hielt sich für befugt, jeden außerehelichen Verkehr, außer dem- 
jenigen mit konzessionierten Personen, nach Gutdünken — 
bald mit Geldbußen, bald mit Gefängnis etc. — zu bestrafen.*) 

Der Breslauer „Schöppenstuhl“ stellt sich in no. 129 der 
Entscheidungen auf den grundsätzlichen Standpunkt, daß der 
Geschlechtsverkehr eines ledigen oder verwitweten Mannes mit 
einer ledigen Weibsperson an beiden nur mit „Verweisung“ zu 
strafen sei, auch wenn das Delikt wiederholt vorgekommen 
sei. Es kommen im Einzelnen aber doch in der so viel- 
gestaltigen Praxis auf diesem Gebiete mancherlei Modifikationen 
zur Geltung. So haben im Falle no. 78 Vater und Sohn mit 
der gleichen „ledigen Vettel“ zu tun gehabt. Der Alte wird 
zu Staupenschlägen und „ewiglicher“ Verweisung, der Junge 
nur zu einfacher Verweisung verdonnert. Auch die „Vettel“ 
muß daran glauben, man nimmt aber Rücksicht auf ihren 
schwangeren Zustand. Sie erhält die gleiche strenge Strafe 
wie der Alte, soll aber erst „nach abgelegter weiblichen Bürden 
und Ausgang ihrer Sechswochen Zeit zur staupen geschlagen“ 
werden. In einem anderen Falle hat ein „Ehemann mit nahmen 
Pioch“ (no. 40) eine ledige, aber blinde Weibsperson ge- 
schwängert. Erschwerend fällt gegen ihn ins Gewicht, daß er 
„des nachts nicht bei seinem Weibe, sondern im Beinhause, 
auf den Beinen stets gelegen, et sic deseruit conjugem“. Urteil 
vom 4. August 1601 ergeht dahin, „daß der Ploch solle zur 
staupen geschlagen, die Dirne aber verwiesen werden solle“, 

Klatsch und üble Nachrede scheinen schon zu da- 
maligen Zeiten, nach der Häufigkeit der Fälle zu urteilen, sehr 
im Schwange gewesen zu sein. Die angebliche Verleumdung 
einer verlobten „Jungfrau“, Christiana Jacobi, wegen deren ihr 
Vater die kriminelle Beleidigungsklage erhebt, wird an dem 
Beleidiger, — dem Barbiergesellen Adrian Albinus Guttmann 
von Dresden, — der „vielmahl* mit ihr Unzucht getrieben zu 
haben behauptete, damit geahndet, daß er „nach erlittenem 
gefängniß (Untersuchungshaft) deß Orts ewiglich verwiesen 
werden solle“ Das Gericht hat die Zeugen nicht-eidlich ver- 
nommen; diese haben u. a. bekundet, „sie hetten Albinus und 
Christianam offt mit einander gesehen sich küssen, herzen, 


*) Vgl. Berner, Deutsches Strafrecht, Leipzig 1882, $. 4221. 


172 Rosenthal: Sexual-Vergehungen u. ihre Ahndung — vor 300 Jahren 


löffeln, in ein gemach allein gehen, auff die ruines zusammen 
steigen“. Man hat daraufhin „nur Löffelung, die begangene 
Unzucht aber nicht“ als erwiesen angenommen und ist einen 
„linderen weg“ gegangen. Das Gericht fällt hierbei die be- 
merkenswert verständige Sentenz: Aus dem Zeugnis hat man 
befunden, daß die Dirne nicht gar unschuldig sey,... diffamaus 
wird gleichwoll gestraft“. Die Christian selbst zu vernehmen, 
wie vorgeschlagen war, hat das Gericht, weil man ihr doch 
nicht glauben könne, abgelehnt. Schließlich heißt es: „Unus 
et alter ex dominis (Schöppen) putabat, man möchte sie be- 
sichtigen. Sed non placuit“, 

In einem ähnlichen Falle (similis casus) rühmt sich ein 
lediger Geselle Balzer Scholze, er habe einer Jungfer, die einem 
andern zugesagt (verlobt) war, „gar vielmahl dran grieffen“. 
Ein Zeuge bekundet den recht verdächtigen Umstand, „daß er 
gesehen, daß Balzer Scholz die handt untter der Jungfer Schürz- 
tuch gehabt“. Scholz habe gesagt, „er suche sein Ringlein, 
das er verloren; die Jungfer hätte es ihm genommen und ge- 
sagt: weil (sie) es auf dem ihrigen funden, hatte sie es macht 
zu behalten“. Hier wird von der Jungfern Mutter „Abtrag 
(Widerruf) und verdiente Straffe“ beantragt. Das Gericht lehnt 
den Widerruf ab, der „weitläuffigkeit verursachen“ und der zu 
schließenden Ehe wohl gar hinderlich werden könnte, und er- 
kennt, daß der Beleidiger „nach erlittenem gefängnuß des Orts 
abgeschafft werden solle“. Auch in diesem Falle sind sich 
die Richter in ihrer Mehrzahl darüber klar: „Die Dirne möge 
auch woll nicht gar unschuldig sein“. 

Ein weiterer ähnlicher Fall — ein gewisser Hielisch rühmt 
sich, mit Merten Kreisel’s hinterlassener Wittib Unzucht ge- 
trieben zu haben, — ist dadurch bemerkenswert, daß der An- 
geschuldigte in einer „supplication“ rund erklärt: „er könne 
keine Zeugen führen, sindtemahl man in solchen privat sachen 
und scortatione keine Zuschauer brauche. Was er aber geredet, 
das gestehe er noch und wolle es mit Gott und seinem gewissen 
bezeugen“. Diese Art der Verteidigung hilft ihm aber wenig; 
er soll nach dem darauf ergehenden Urteil „zur staupe ge- 
schlagen und des Ortes ewiglich verwiesen“ werden. 

In einem andern Fall wird ein Ehemann, „der sonst gutten 
Wandels“, Scholze zu Schwarzbach, von einer Dienstmagd be- 
schuldigt, er habe mit ihr Unzucht getrieben und sie ge- 


Rosenthal: Sexual-Vergehungen u. ihre Ahndung — vor 300 Jahren 173 


schwängeıt. „Der Ehemann leugnet solches, ist auch kein 
Beweis vorhanden, obwohl die Dirne alle Umstände anzeigt. 
Quid juris?“ Der anfragende Gerichtsherr, Friedrich von 
Nimbtsch auff Falkenhain und Schwarzbach, wird dahin be- 
schieden, daß wider den Scholzen zur Zeit nichts tätliches 
vorgenommen, die „Vettel aber nach erlittenem gefängnuß des 
Orts abgeschafft und verwiesen werden“ möge. 

Das Vergehen der sogenannten „Blutschande“ 
(Incest) hat seinen Umkreis hinsichtlich des Grades 
der Verwandtschaft, der die Strafbarkeit begründet, ver- 
schiedentlich gewechselt. Das Kanonische Recht dehnte 
den Begriff ungebührlich aus, z. B. sogar auf „Gevattern“ 
wegen ihrer „geistlichen“ Verwandtschaft; nach der Karolina 
hingegen war es schon zweifelhaft, ob der Incest selbst unter 
Geschwistern von diesem Gesetze erfaßt wurde.*) In unserer 
Handschrift wird dieser in einem Falle (unter no. 918) behandelt. 
Ein Bruder hat seine Schwester geschwängert. Nur die letztere 
wird abgeurteilt und zwar dahin, „daß sie zur staupen ge- 
schlagen und des Orts ewiglich verwiesen werden solle“. 

Die Blutschande, zu deren Begriff die natürliche Beischlafs- 
vollziehung zwischen solchen Personen, die wegen ihrer Ver- 
wandtschaft die Ehe mit einander nicht schließen dürfen, ge- 
hört, ist auch nach den neueren Gesetzesbüchern durchweg, 
meist in verschiedenen Graden, strafbar. Das deutsche Reichs- 
strafgesetzbuch bedroht in 8 173 den Beischlaf von Ascendenten 
und Descendenten mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren, jedoch 
nur an den ersteren. Die letzteren und ebenso Geschwister 
sowie Verschwägerte auf- und absteigender Linie werden mit 
Gefängnis bis zu zwei Jahren bedroht. Personen der ab- 
steigenden Linie bleiben gänzlich straflos, wenn sie das acht- 
zehnte Lebensjahr noch nicht vollendet haben; sie gelten in 
diesem Falle als schuldios Verführte, 

Die strenge Verfolgung und Ächtung des außerehelichen 
Verkehrs überhaupt, das harte Los der ledigen Mutter und 
ihres Kindes, machen es erklärlich, daß trotz der unerbittlich 
grausamen Strenge der Strafe, auch der Kindesmord zu den 
häufigeren Vergehungen gehört. Die mildere Auffassung, welche 
die neuere Zeit, unter Würdigung der verschiedenen, die Zu- 


*) Berner, a. a. O. S. 418f. 


174 Rosenthal: Sexual-Vergehungen u. ihre Ahndung — vor 300 Jahren 


rechnungsfähigkeit so stark herabsetzenden Beweggründe zur 
Tat, gerade der Kindesmörderin zuteil werden, den „Kindes- 
mord“ als ein besonderes, minder strafbares Delikt behandeln 
läßt, war dem älteren Rechte fremd. Auch das römische Recht 
gab dem Kindesmord — der Tötung eines neugeborenen un- 
ehelichen Kindes durch die Mutter — keine gesonderte Stellung. 
Ältere Germanische Rechte sahen darin sogar eine besonders 
schwere und schwer zu ahndende Missetat. Nach altem 
deutschen Gewohnheitsrecht verfiel die Kindesmörderin einer 
grauenhaften Bestrafung: sie „soll lebendig begraben und ein 
Pfahl durch sie geschlagen“ werden. Nur bei mildernden Um- 
ständen, „auf vielfältige Fürbitt“ soll sie begnadigt werden 
können — zur Strafe des Ertränkens! Diese Strafe läßt auch 
die Karolina wahlweise zu. Damit verglichen ist freilich die 
Strafandrohung des $ 217 unseres Strafgesetzbuchs — Zucht- 
haus nicht unter drei Jahren und bei mildernden Umständen 
Gefängnis nicht unter zwei Jahren — wenn auch streng und 


in gewissem Sinne ungerecht, — die moralische und soziale 
Verschuldung liegt oft mehr auf Seiten des Erzeugers, der 
straflos ausgeht, — als äußerst human anzusehen. 


Einer unserer Fälle (no. 46) wird dadurch von besonderem 
Interesse, daß das Gottesurteil der uralten sogenannten 
„Bahrprobe“ zur Anwendung gelangt. Es ist „eine ledige magt 
den 20. Augusti (1600) eines Kindes genoßen, cum sola esset“. 
Das Kind wurde unter dem Bette aufgefunden, in ein Schürz- 
tuch eingewickelt und mit des Schürztuchs Schnuren um den 
Hals gebunden. Die Beschuldigte bekannte sich zum Kinde, 
behauptete aber, es tot geboren zu haben. Nun wurde zum 
„Gottesurteil“ gegriffen und die „Bahrprobe“ gemacht: „Man 
hat das Kindtlein rein abgewischet, der Mutter förgetragen und 
befohlen, daß sie ihm ihre Handt auf die Stirne legen sollte. 
Als das geschehen, ist dem Kindtlein das blutt mildiglich auß 
beiden Nasenlöchern geflossen, dadurch vormahls kein blutt 
gespüret worden“. Freilich, eine absolut bindende Beweiskraft 
legt das Gericht diesem „Gottesurteil“ nicht bei. Unter Be- 
rücksichtigung seines Ausganges sowie auch der übrigen, die 
Angeklagte schwer belastenden Indizien wird angeordnet, daß 
„zu erkundigung der wahrheit, ob sie nicht selber das Kindt vom 
leben zum tote bracht, mit der Tortur und Peinlicher Frage ver- 
fahren werden möge“. Das endgiltige Ergebnis ist nicht mitgeteilt. 


Rosenthal: Sexual-Vergehungen u. ihre Ahndung — vor 300 Jahren 175 


In einem anderen Fall (no. 61) ist nicht ersichtlich, ob es 
sich um Mord oder um Kindestötung (an Drillingen ?) handelt. 
Es ist nur mitgeteilt, daß die Magd Ursula aus Brieg drei 
Kinder, die sie mit David Jagtmann gezeugt, umgebracht habe; 
nur von zweien erfährt man, wie: „das eine erstickt sie in 
einem Sack, darin sie es neben sich geleget, dem andern hält 
sie das mäulichen zu“. Ihre Strafe ist, daß sie „erstlich mit 
glüenden Zangen nehmlich mit drei griffen gerißen und nach- 
mahls in ein fließend wasser geworffen und darinnen er- 
tränket werde“.*) 

Recht zahlreich sind schließlich auch die abgeurteilten 
Fälle von „Ehebruch“ vertreten. Die Auffassung des „Römi- 
schen Rechts“ wirkt auch bei diesem Delikt im deutschen ge- 
meinen Recht noch stark nach. Der Ehebruch der Frau war 
in Rom strafbar als Auflehnung gegen das Hausrecht des 
Mannes und, weil er die Vaterschaft unsicher machte. Der 
Ehemann konnte an seiner eigenen Ehe einen Ehebruch über- 
haupt nicht begehen; es galt nicht als Ehebruch, wenn er mit 
einer ledigen Frauensperson verkehrte. Nur wenn er mit der 
Ehefrau eines Anderen zu tun hatte, war er gewissermaßen als 
deren Mittäter schuldig. Neben den Strafen (Verweisung, Geld- 
strafen) hatte der beleidigte Ehemann von alters her bei Ertappung 
in flagranti die Befugnis zur Tötung oder Gefangensetzung 
der ertappten Schuldigen. Im Germanischen Recht war die 
Auffassung ähnlich; doch trat vielfach noch die Todesstrafe 
— durch das Schwert oder Lebendigbegraben — hinzu. Erst 
das Kanonische Recht begann damit, die eheliche Treue auch 
vom Manne zu verlangen und den Begriff des Ehebruchs auch 
auf die Untreue des Mannes gegen seine Ehefrau auszudehnen. 
Dem schloß die Karrolina sich an und verhängte strenge Be- 
strafung: für den Ehebrecher das Schwert, für die Ehebrecherin 
das Kloster. Die Praxis des gemeinen Rechts gestaltete sich 
jedoch — vermutlich wegen der Häufigkeit des Vorkommens — 
milder; es wurden zumeist nur arbiträre Freiheitsstrafen ver- 
hängt, auch wurde im allgemeinen, — sofern nicht bösliche 


*) Die an sich grausame Strafart des „Ertränkens“ wurde in der prak- 
tischen Ausübung oft in der Weise verschärft, daß der Delinquent oder 
die Delinquentin zusammen mit verschiedenem Getier — einem Hund, 
einer Katze, einem Hahn, einer Natter etc. in einen Sack eingenäht, mehr- 
mals untergetaucht und erst alsdann definitiv versenkt wurde. 


176 Rosenthal: Sexual-Vergehungen u. ihre Ahndung — vor 300 Jahren | 


Veranlassung hinzukam, — nur auf Antrag des verletzten Ehe- 
gatten eingeschritten. 

Damit wird allmählich der mehr private und privatrecht- 
liche Charakter des Ehebruchs anerkannt. In einem der Fälle 
unserer Handschrift freilich (no. 225: „casus notabilis“) wird 
einem Ehemann — „einem уот Айе!“ — die Versöhnung mit 
seinem Eheweib, so einen Ehebruch begangen, recht schwer 
gemacht. Er soll, da er sie wieder zurücknehmen will, „der- 
wegen von seinem Landesherrn gestrafft und von seinen Vettern 
des wappens endtsetzet werden“. Er scheint allerdings sehr 
gutmütig und versöhnlicher Natur zu sein, denn die Frau hat 
es ziemlich arg getrieben. Sie hat mit einem Reitknecht zu 


tun gehabt: „nobilis ille, als er solches erfahret, lässt den Knecht i 
(ins Gefängnis) setzen; das Weib Kombt zu ihm in den Stock ` 





Abb. 7. Folterwerkzeuge (Stock (für Arme und Beine) Pech- und Bleipfannen, Stein*zum 
Anhängen und Hochziehen. Eisen. 


“yayef '97) Zundeupg ayayurad "Зпапү mm зәшшеҳгәџоҷ 








Tafel II 


#991 шерзәјѕвшү ѕпең-јәдѕеу seq 











Rosenthal: Sexual-Vergehungen u. ihre Ahndung — vor 300 Jahren 177 


und treibt auch daselbst Unzucht mit ihm. Der vom Adel will 
den Knecht torquiren lassen; als sein Weib solches vermerket, 
bekennet sie die that, fallet an den Junkern ihren Ehemann 
und bittet umb gnade, welcher sich erbeut sie wieder anzu- 
nehmen, dofern ihre freunde bei dem Landeßherrn erlangen 
möchten, daß es ihme ohne nachteil sein sollte“. Das gibt 
aber große Schwierigkeiten. Der Landesherr widerspricht und 
droht mit Strafe; die Verwandtschaft will ihn des wappens 
(des Adels) verlustig gehen lassen. Der Breslauer Schöppen- 
stuhl weist beides als unberechtigt zurück und erklärt „den 
vom Adel“ für wohlbefugt, „mit seinem Eheweibe sich zu ver- 
söhnen und derselben Ehelichen wiederumb beizuwohnen“. 
Nur freilich stünde es dem Landesherrn zu, ungeachtet der 
„Rekonciliation“ die Frau nach Ermessen zu strafen. 

In partikularen Rechten erhielt sich sehr lange Zeit — bis 
zum Erlaß des deutschen Strafgesetzbuchs — die unterschied- 
liche Behandlung von Mann und Frau beim Ehebruch, indem 
der erstere weniger streng oder gar nicht zu bestrafen war. 
Die jetzige Rechtslage ist bekanntlich die, dad — in Fort- 
entwickelung der privatrechtlichen Auffassung des Ehebruchs, 
im Interesse auch der Aufrechterhaltung der Ehe und des 
Familienlebens — der Ehebruch für sich allein überhaupt nicht 
straffällig ist. Er wird es erst, wenn er die Ehe seibst zer- 
stört und zu deren Auflösung, also zur rechtskräftigen Scheidung 
der Ehe wegen dieses Ehebruchs geführt hat; auch alsdann 
tritt die Verfolgung nur auf Antrag des verletzten Ehegatten 
ein. Daß sich diese Art der Regelung, deren Unzweckmäßig- 
keit noch durch das widersinnige Verbot der Heirat zwischen 
den Ehebrechern überboten wird, irgendwie bewährt habe, wird 
Niemand, der das Leben kennt, behaupten wollen. Kriminell 
ist insbesondere die Folge, daß die Bestrafung des Ehebruchs, 
die hiernach praktisch nur selten eintritt, entweder sich als Akt 
einer hartnäckigen Rachsucht oder als Auswirkung einer miß- 
lungenen Erpressung darstellt. 

Die Strafen, die der Breslauer Schöppenstuhl verhängt, 
sind bei einfachem Ehebruch schon verhältnismäßig milde. Im 
Fall no. 69 frägt der „Haubtmann Wenzel Forchtenau zu 
Bernstadt“ an, wie gegen eine Ehebrecherin, so mit einem 
ledigen Gesellen zu tun gehabt, mit Strafe zu verfahren sei. 
Der Bescheid geht dahin, daß beide Ehebrecher „mit staupen- 

12 


178 Rosenthal: Sexual-Vergehungen u. ihre Ahndung — vor 300 Jahren 


schlägen belegt und des Orts ewiglich verwiesen werden 
sollen“, (vergl. Tafel 1), allerdings mit der billigen 
Rücksichtnahme: „die Vettel nach abgelegter weiblichen 
Bürden“. Nicht besser ergeht es (no. 127) einem Ehe- 
mann, der mit einer ledigen Frauensperson sich ver- 
gangen hat; ja, da er nach erfolgter Verweisung zurückgekehrt 
ist und wiederholt mit ihr sich eingelassen hat, wird er „mit 
etwa sterkerem und mehrerem staupenschlag“ belegt und nun- 
mehr „mit ernster Bedrauung“ ewiglich verwiesen. 

In einem andern Falle ist der Ehebruch mit hinzukommender 
„Fruchtabtreibung“, auf welche letztere jedoch das Gericht sich 
garnicht näher einläßt, verknüpft. Der Beschuldigte, selbst 
Ehemann, hat mit zwei Frauen Verkehr gehabt. Die eine — 
Elisabeth Mertz — beschuldigt ihn bei ihrem Geständnis, er 
habe ihr „etliche tränke eingegeben, dannenhehr sie ein un- 
zeitig Kindt geboren, welches derselbe maritus heimlich be- 
graben“. Der Ehebrecher, Balthaser Mönch mit Namen, wird 
im peinlichen Verhör und unter der Folter übel mitgenommen. 
Er macht aber dem Gericht großes Kopfzerbrechen; denn auch 
„in die scharffe Frage genommen und eine ganze stunde ge- 
peinigt per intervalla“ bekennt er doch absolut nichts. Dies 
kommt ihm bei der Strafe zustatten; er wird „der gefanglichen 
hafft entledigt und auff geschworenen Urfriedt abgeschafft“. 
Die Elisabeth Mertz erhält die übliche. Strafe (Staupenschläge 
und ewigliche Verweisung). Hinsichtlich der zweiten Ehe- 
brecherin, „des Tautologie (?) Eheweib“, werden noch Er- 
mittlungen tatsächlicher Art angestellt, deren Ergebnis noch 
festzustellen ist; aber es „ergeht auch ihrer Person ferner was 
recht ist“. 

Im letzten hier zu besprechenden Falle steht der Ehebruch 
in idealer Konkurrenz mit Mord bzw. Beihilfe hierzu. Der 
Dienstknecht Hanss Sterk hat mit seines eigenen Herrn Ehe- 
weib ein Verhältnis gehabt und den Herrn schließlich in seinem 
eigenen „Schlaffgemach“ in seinem Bette mit einer Waldaxt 
erschlagen. Nach den Beweggründen befragt, erklärt er: „er 
wüßte keine andere Ursache, als daß er mit der Frauen zu 
tun hatte gehabt; er wäre am nechstvergangenen Freytage etwa 
umb Mitternacht, als er außem Kretscham gekommen, auf einer 
lietter (Leiter), die er ihm selber angelegt, zum Fenster in des 
Herrn Schlafkammer gestiegen; da wehre die Fraue zu ihm 


Rosenthal: Sexual-Vergehungen u. ihre Ahndung — vor 300 Jahren 179 





Abb. 8. Folterwerkzeuge, gesp. Hase, Richtschwert, Halskragen, Maske. 


aufgestanden. Indem hatte der Herr sie gefraget, Wer ist der, 
und gesaget, hastu Dich verirret, hierauff er der Knecht ihn 
alsbalt überfallen undt ihm mit einer Axt liegende erschlagen; 
der herr hatte sich wol mit den handen etwas gewehret, aber 
er wahre seiner balt mächtig worden, und die fraw wehre 
davon gelaufen“. Der Knecht war ritterlich genug, die mit- 
schuldige Frau nach Möglichkeit zu entlasten. Er blieb selbst 
unter der Folter dabei: „sie hätte ihn nicht heißen todtschlagen“. 
Allerdings haben sich die beiden auch nach der Tat nicht sehr 
schön benommen: „nachdem er ihne erschlagen, sey sie wieder 
zu bett gegangen, so hatte er sich zu ihr gelegt und mit ihr 
Unzucht getrieben; darnach hatte er den toten Körper im 
Keller begraben. Nach des Herrn Tode hatte er alle nacht 
mit der frauen weiter Unzucht getrieben“. 
12* 


180 Rosenthal: Sexual-Vergehungen u. ihre Ahndung — vor 300 Jahren 


Auch die „adultera“ aber entging, nachdem man fest- 
gestellt hatte, daß sie nicht schwanger sei, der Folter nicht. 
Sie suchte sich damit zu entlasten: „Sie hatte in 13 Jahren 
viel Unruhe mit ihrem Manne gehaht, sonderlich hatte er sie 
mit dem ersten Kinde gravidam geschlagen, daß sie vermeinet, 
es würde ihr übel gehen“. Sie bekannte schließlich unter der 
Folter, auch selbst aktiv an der Tat teilgenommen zu haben; 
sie habe ihren Ehemann, als er erschlagen wurde, „gehalten 
und in ihn etzlichmahl mit einem Messer gestochen, wie dem 
die Stiche in dem Cörper befunden worden“. Der Spruch, der 
über sie verhängt wurde, sah ganz von ihrem Ehebruch ab und 





Abb. 9. Richtstätte mit Rad und Galgen von Hans Burgkmaier (1472—1531). 


Rosenthal: Sexual-Vergehungen u. ihre Ahndung — vor 300 Jahren 181 


lautete dahin: sie hätte mit ihrem mordt verschuldet, daß ihr 
anfenglich die rechte faust, mit welcher sie ihren Ehemann ge- 
stochen, abgeschlagen, nachmahls sie mit glüenden Zangen 
gerießen, folgends mit dem schwert vom leben zum tode bracht 
und ihr Körper auf ein radt gebunden und geleget, endtlich 
ihrKopff sambt der abgeschlagenen Faust auff eine stangen 
anderen bluttgierigen und boßhafften Eheleuten zur Abscheu 
gestecket werden solle“, 

Über die Bestrafung des Knechtes findet sich a. a. O. 
keine Auskunft. — 

Der vorliegende Ausschnitt aus der Strafjustiz vergangener 
Tage zeigt, trotz allen guten Willens und Strebens der Richter 
nach „Gerechtigkeit“, ihre Abhängigkeit von der Härte und 
dem Aberwitz ihrer Zeit. Er mag auch genügen, uns hin- 
sichtlich der Gegenwart bescheiden zu stimmen und zugäng- 
lich für die Notwendigkeiten einer weiteren Entwicklung, die 
auf dem Fortschritt der Wissenschaft in Verbindung mit 
tieferem menschlichen Verstehen und Mitempfinden aufgefbaut 
werden muß. 








EHELICHE RECHTE UND PFLICHTEN 
DER MOHAMEDANER. 
Von HANS FEHLINGER (Mitglied des internationalen Arbeitsamtes Genf). 


twa der siebente Teil aller Menschen sind Bekenner des 

Islam, dessen Bereich sich von der Balkanhalbinsel und Süd- 
ostrußland bis nach China, den ostindischen Inseln und Zentral- 
afrika erstreckt. Die Malayen Ostindiens ebenso wie die Neger 
südlich der großen afrikanischen Wüstenzone befolgen aber die 
religiösen und rechtlichen Satzungen des Islam nur in sehr be- 
schränktem Maße und bei ihnen ist auch das Eheverhältnis 
viel freier als bei den Mohamedanern Westasiens und Nord- 
afrikas. Im engeren islamischen Kulturbereiche ist die Frau 
von jedem gesellschaftlichen Verkehr mit Männern ausgeschlossen 
und es besteht auch keine eheliche Genossenschaft, keine Lebens- 
gemeinschaft zwischen den Ehegatten selbst. Die Frau hat das 
Recht auf besondere Wohnräume und sie ist nicht verpflichtet, 
ihrem Manne nach einem Ort zu folgen, der mehr als drei 
Tagreisen vom Orte der Eheschließung entfernt ist. Ein Zu- 
sammentreffen der Ehegatten findet gewöhnlich nur dann statt, 
wenn es sich um die Erfüllung der ehelichen Pflichten handelt. 
Der Mann hat zu diesem Zwecke die Frau in ihren Wohn- 
räumen zu besuchen und nur ausnahmsweise darf er sie zu 
sich kommen lassen. Besonders genau muß das eingehalten 
werden, wenn der Mann mehrere Frauen hat. Die Stellung 
der Frau in der Ehe ist eine sehr untergeordnete und durch 
die Leichtigkeit der Scheidung wird geradezu ihre Minder- 
wertigkeit ausgedrückt, insbesondere dadurch, weil der Mann 
sozusagen die Auflösung der Ehe herbeiführen kann, während 
es der Frau fast unmöglich ist, eine Trennung zu erwirken. 
In vermögensrechtlicher Beziehung bleibt jeder der Gatten Allein- 
eigentümer seines Vermögens und es steht dem Gatten ins- 
besondere keinerlei Verwaltungsrecht über das Vermögen der 
Frau zu. Die Frau kann vielmehr über ihr Vermögen ganz 
selbständig und allein ohne Einwilligung oder irgendwelche 
Ingerenz des Gatten verfügen, falls sie volljährig ist; bei Minder- 


Fehlinger: Eheliche Rechte und Pflichten der Mohamedaner 183 


jährigen steht die Obsorge über ihr Vermögen ihrem Vater oder 
Vormund zu. Als Gegenleistung für die eheliche Gemeinschaft 
hat die Frau Anspruch auf eine materielle Leistung, den „Meh’r“, 
der ihr ausschließliches Eigentum bleibt, auch wenn die Ehe 
geschieden wird. Die Höhe des Meh’r wird gewöhnlich durch 
Vertrag festgesetzt. Der Unterhalt der Frau wird nach den Ver- 
mögensverhältnissen des Gatten bestimmt und es kann die 
Nahrung und Kleidung in natura oder im Geldeswerte verab- 
reicht werden. Der Unterhalt gebührt der Gattin regelmäßig 
auch nach ihrer Verstoßung oder nach Trennung der Ehe. Die 
vermögensrechtliche Unabhängigkeit der Frau vom Manne be- 
ruht auf der Auffassung der Ehe als rein sexuelles Verhältnis. 
Wird nach Auflösung einer giltigen Ehe ein Kind geboren, 
sei die Auflösung durch Verstoßung, Trennung oder durch den 
Tod erfolgt, so gilt als Grundregel, daß das Kind rechtmäßig 
is, wenn es innerhalb von zwei Jahren, vom Tage der Auf- 
lösung der Ehe an gerechnet, geboren wird. Es gelten jedoch 
wichtigere Ausnahmen. Die Person und das Vermögen der 
Kinder unterstehen der väterlichen Gewalt, solange diese minder- 
jährig sind. Doch ist die Mutter berechtigt, die Kinder zu be- 
aufsichtigen, zu warten und bei sich zu behalten. Dieses Recht 
hört bei den Knaben mit dem vollendeten 7. Jahre, bei den 
Mädchen aber erst mit dem vollendeten 9. Jahre auf und nach 
Vollendung dieses Alters muß das Kind dem Vater oder dem 
Vormunde übergeben werden, welcher den weiteren Aufent- 
haltsort zu bestimmen hat. Vor Erreichung dieses Alters darf 
das Kind nicht vom Orte entfernt werden, wo die Mutter sich 
befindet, aber auch diese darf regelmäßig das Kind ohne Zu- 
stimmung des Vaters aus dessen Wohnorte nicht entfernen, es 
sei denn in ihrem Geburtsort, wenn dies zugleich auch der 
Ort ist, wo die Ehe geschlossen wurde. Für die Kosten des 
Unterhalts der Kinder hat der Vater aufzukommen. Е, 


(ыў 


184 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 


BETRACHTUNGEN ÜBER DAS LIEBESLEBEN IN 
DER ZEIT DER RENAISSANCE UND DER PERIODE 


DER GALANTEN. 
Von FERD. FRHR. VON REITZENSTEIN, Dresden. 


(Fortsetzung.) 


үү“ naturgemäß der junge Luther I dachte, geht aus fol- 
genden Worten hervor: „Die Ehe und die Hurerei sind 
einander so gleich, was das Werk belangt, daß man sie kaum 
unterscheiden kann, denn Beischlafen ist einerlei, Kinderzeugen 
einerlei.“ Es mutet uns heute komisch an, daß man das erst 
besonders sagen mußte. Er unterscheidet dann die Ehe nur 
dadurch, daß sie durch Gottes Wort eingesetzt sei. Auf den 
inneren Wert der Ehe aber verweist er bereits: „Es ist 
kein lieblicher, freundlicher, holdseliger Verwandtnis, Gemein- 
schaft und Gesellschaft denn eine gute Ehe, wenn Eheleute 
in Frieden und Einigkeit miteinander leben“, oder wenn er 
sagt: „Die Ehe ist eine schöne herrliche Gabe und Ordnung.“ 
Vom außerehelichen Verkehr dachte Luther nicht anders 
als seine Zeit, deren natürlichem Empfinden er ja überhaupt 
nahestand; aber er unterscheidet sich insofern von ihr, daß 
er nicht wie andere „Moral“ heuchelt, sondern offen aus- 
spricht und die Konsequenzen zieht. In einer Predigt vom 
Jahre 1519 (also 6 Jahre vor seiner Ehe) sagt er: „Ich habe 
von mir nicht so viel, daß ich mich enthalten kann.“ Später 
fiel Luther um und widerrief dann derartige Aussprüche aus 
seiner gesunden Sturm- und Drangperiode; dies war wohl be- 
gründet im Anschluß an die „moralisierenden“ Reformierten, 
die päpstlicher sein wollten als der Papst, und denen der 
Protestantismus hauptsächlich die krankhafte Seite seiner Ent- 
wicklung zu danken hat. Zu dieser freien Auffassung gehört 
auch eine Stelle aus dem Traktat über das eheliche Leben, in 
der Luther bei Impotenz des Mannes bemerkt: 

„Wenn ein tüchtig Weib zur Ehe einen untüchtigen Mann überkäme 
und könnte doch keinen anderen offentlich nehmen und wollte auch nicht 
gern wider Ehre (un, soll sie zu ihrem Mann also sagen: Siehe, lieber 
Mann, du kannst mein nicht schuldig werden, und hast mich und meinen 
jungen Leib betrogen, dazu in Gefahr der Ehre und Seligkeit bracht und 
ist für Gott keine Ehe zwischen uns beiden, vergönne mir, daß ich mit 


deinem Bruder oder nächsten Freund eine heimliche Ehe habe und du den 
Namen habst, auf daß dein Gut nicht an fremde Erben komme und laß 


Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 185 





Der impotente Ehemann. Spottbild auf den geschlechtlich kalten Gatten. 


dich wiederum williglich betrügen durch mich, wie du mich ohne deinen 
Willen betrogen hast.“ 

An sich ist dies ja nichts anderes als das urdeutsche 
Institut des Zeugungshelfers; außerdem wird hier zu- 
gleich das Recht auf Befriedigung des Geschlechtstriebes be- 
tont. Nach Luther (Jena 1522 II 146) hat der Mann diese Bitte 
zu erfüllen; wenn er nicht will, dann darf er auch nicht böse 
sein, wenn die Frau von ihm läuft. Die ganze Zeit hatte diese 
normale Auffassung. So sagt umgekehrt Viviennus in seinem 
1565 erschienenen Weiberspiegel: 

„с. 5. Derhalben muß ich desto heftiger straffe | die weiber in 
Belgico vn Niderlanden 1 die da jhren Mennern | wann sie sich etwan 
ergetzen wollen | vnd einen guten muth haben / gar faulentzig vnd vnwillig | 
darzu dienen oder nottdurst darzu vorschaffen oder zubereiten | упа jagen 
sie also aus dem Haus / gleich als aus einer Wüsten | Da wischen sie 
dann dahin in einen Weinkeller | da sie zu allen Dingen gesellschaft 
пир bekommen | vnd in alle laster gerathen | vnd nicht ehe dann wann 
sie stickende voll sein wieder anheim kommen.“ 

So kommt Luther dazu zu sagen: „Ich bin im Sinn, ehe 
ich aus diesem Leben scheide, mich in dem Ehestande finden 
zu lassen, welchen ich von Gott gefordert erachte.“ Das Er- 
freuliche ist nun, daß Luther nicht nur derartige Aussprüche 
tat, wie das ähnlich schon vor ihm geschah, sondern sie in 
die Tat umsetzte, denn nur dadurch war jener Zeit, die 
so viel hören mußte, der Beweis erbracht. Man nimmt an, 


186 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 


daß die Freifrau Argula von Grumbach ihn dabei bestärkt 
habe, was nicht ausgeschlossen ist, denn der Adel jener Zeit 
war vom Humanismus durchdrungen und liebte ein markantes, 
deutliches Vorgehen. Auch Ulrich von Hutten schreibt 
unter dem 21. Mai 1519 an den Domherrn Friedrich Fischer 
in Würzburg: 

„Mich beherrscht jetzt eine Sehnsucht nach Ruhe. Darum brauche 
ich eine Frau, die mich pflege. Du kennst meine Art. Ich kann nicht 
wohl allein sein, nicht einmal bei Nacht. Vergebens preist man mir das 
Glück der Ehelosigkeit, die Vorteile der Einsamkeit an, ich glaube mich 
nicht dafür geschaffen. Ich muß ein Wesen haben, bei dem ich mich 
von den Sorgen, ja auch von den ernsten Studien erholen, mit dem ich 
spielen, Scherze treiben, angenehme und leichte Unterhaltung pflegen kann; 
ein Wesen, bei dem ich die Schärfe des Grams abstumpfen, die Hitze 
des Kummers mildern kann. Gib mir eine Frau, mein Friedrich, und damit 
Du wissest, was für eine, so laß sie schön sein, jung, wohlerzogen, 
heiter, züchtig, geduldig! Besitz gib ihr genug, nicht viel! Denn Reich- 
tum suche ich nicht, und was Stand und Geschlecht betrifft, so glaube 
ich, wird diejenige adelig genug sein, welcher Hutten seine Hand reicht.“ 
(Huttens Werke III, 158.) 

Darin sehen wir am deutlichsten jenes germanische Emp- 
finden, das arı der Renaissance groß wuchs, jene Romantik im 
weitesten Sinne des Wortes. Sie war der Träger des Liebes- 
lebens und feineren Empfindens, und dies können wir allent- 
halben zwischen den Zeilen dieses Briefes herauslesen. Die 
ganze Scholastik wäre unfähig gewesen, auch nur eine der- 
artige Zeile zu schreiben: Hutten und Luther brechen hier mit 
dem frauenfeindlichen Paulinismus, der sich als roter 
Faden durch die Scholastik hinzieht. Das Weib wird ihnen 
mehr als ein Abwehrmittelder Unzucht und eine bloße 
Maschine zur Kinderzeugung, um — Gläubige zu 
schaffen, wie es die armseligen Epigonen unserer großen Vor- 
fahren von heute tun, seien sie Moralprediger seien sie von 
der „deutsch“-völkischen Psychose angekränkelt, oder von der 
Neurose einer bestimmten Art von Frauenbewegung betroffen. 

Es kostete heiße Kämpfe, bis diese neue Auffassung durch- 
drang, die in der Entwicklung des geschlechtlichen und Ehe- 
lebens einen der bedeutendsten Marksteine ausmacht. Es er- 
schienen eine Reihe. höchst interessanter Flugblätter zur Ver- 
teidigung einerseits und zur Bekämpfung andererseits. So 
schreibt „ain Einsiedel, nun aber eelich worden an etlich trost- 
loß Ordenslewt (Ordensleute) und Pfaffen“ 1576 ein Flugblatt: 


Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 187 


„ob ain Priester ain Eeweyb oder Concubin | das ist / аіп 
beyschlaff haben möge“, und entscheidet sich für die Ehefrau.*) 
Gewaltige Streitschriften gingen voraus, so ein Flugblatt, das 
1522 erschien und betitelt ist: „Wie gar gfarlich sey, so ain 
Priester kain eeweyb hat von Johann Eberlin (Güntzburg)“,**) 
das vom Grundsatz ausgeht: „Got hat Eelichen stand geboten 
und von disem gebot die Pfaffen nit außgenommen.“ Diese 
Schrift zeichnet sich durch ein originelles Titelbild aus (Abb. 00). 
Wir sehen im Vordergrund einen Bischof, der mit einem jungen 
Mädchen durch einen gewöhnlichen Priester getraut wird, im 
Hintergrund links einen Mönch und eine Nonne, die ein anderer 
Mönch traut, und rechts einen Mönch und eine Bürgersfrau, 
die ein Bischof traut. Solche Bilder wirkten natürlich mehr 
als alle Worte. Im Jahre 1524 gab Stephan Stör von Diessen- 
hoffen vonhafft zu Liechkal eine Disputation heraus, in der er 
folgende Thesen aufstellt: 
1. Die heylig Eeistkeinem stand in der heiligen geschrifft verbotten. 
2. Unküscheyt vsserthalb der Ee vnnd hury | ist nach allem gsatz | 
allen standen gebotten (soll natürlich heißen: verbotten). 
3. Unküscheyt vsserthalb der Ee vnd hury zu vermyden | ist die Ee 
allen standen gebotten. 
4. Sollich vnküscheit уп һигу | ist in keinem stand (der ergernüß 
halb) schädlicher | dann in dem priesterlichen. 
5. Ein offentlicher Hurer | ist nach götliche gesatz in dem rechten 
уппа waren bann | vnnd deshalb untüglich zu priesterlichem ampt. 


Er fordert jedermann auf, mit ihm darüber zu disputieren.***) 
Im Jahre 1541 gab dann auch Phil. Melanchthon ein Flug- 
blatt heraus „wider den vnreinen Bapstes Celibat, verdeutschet 
durch Justum Jonam“.f) Melanchthon erfaßt die Gründe des 
Zölibats ziemlich richtig: 

„Der Adel ist der Priesterehe | nicht wol geneiget / ja gantz ent- 
gegen. Denn von den Thümen (Domen) vnd Stifften | haben sie grossen 
fürzug vnd vorteil | genies vnd herrlichkeit / Vnd viel Geschlecht vom Adel 
werden durch Bistumb und Thümereien | wie itzund die gelegenheit ist | 
аш den Stifften zu reichtumb vnd herrlichem wesen erhaben. Wenn 
aber der Ehestand würde den Geistlichen vnd Pfaffen frey gelassen | so 
würden viel geschlecht vom Adel | solchen nutz vnd herligkeit | solchen 
genies von den Stifften nicht haben | wie denn wol abzunemen / vnd wenn 


*) Staats-Bibl. Berlin Cu 8154 
Sr Cu 1932. 

*+#) Staats-Bibl. Berlin. Cu 6203. 
+) Cu 4318. 


188 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 


sich die Pfaffen in Ehestand begeben | wurden sie allen Iren stand und 
pracht müssen geringer füren.“ Er erwähnt ferner, daß es nicht eine 
solche Menge von Pfaffen gäbe, wenn sie verheiratet wären, und ihnen 
nicht soviel „Fürstengüter“ zukämen. Er erwähnt ferner sodann: „Das 
kein vnterschied ist | vnter der Priesterehe und der Leyenehe / vnd das 
der stand Gott gfallet“ und kommt zu der Luther nahestehenden Erkenntnis: 
„Denn des Menschen natur ist also geschaffen | das sie Kinder zeuge vnd 
sich mehren soll Wie Gen. 1 geschriebe stehet. Er hat sie ein Menlin 
упа Frawlin geschaffen. So ist nu dem Manne angeborn | natürliche lüste 
vnd neigung zu dem Weibe / Widderumb dem Weibe zu dem Manne / 
dis ist Gottes geschöpff | Vnd wenn Adam nicht gefallen were / so were 
die neigung vnd brunst rein | vnd on sünde gewesen.“ 

In diesem letzten Satze liegt das Moment, das auch die 
Reformatoren nicht klarsehen ließ: die Idee der Erbsünde 
hielt auch sie im Banne, wenigstens Melanchthon, und in diesen 
kritiklos übernommenen Phrasen ist der Ausgang des ortho- 
doxen Protestantismus begründet, der die Vorzüge der Refor- 
mation auf dem Gebiete der sexuellen Frage nicht begriff und 
heute nicht begreift; er hat darin zum Teil Schlimmeres ge- 
leistet als die früheren Jahrhunderte. Es gibt natürlich keinen 
unreinen Geschlechtsverkehr. Luther stand dieser Auffassung 
weit näher als Melanchthon, der überhaupt für ihn kein Glück 
war, da ihm das echtdeutsche Denken fehlte. 

Noch müssen wir hier zweier Aussprüche gedenken, die 
Luther zugeschrieben werden, aber in seinen Schriften nicht 
nachweisbar sind: „Wer nicht liebt Wein, Weib und 
Gesang, der bleibt ein Narr sein Leben lang,“ und 
in betreff der Regelung des Geschlechtsgenusses: „In der 
Woche zwier Schadet weder mir noch dir“. Wir 
können nur wünschen, daß es gelingen möchte, diese Worte 
definitiv bei ihm nachzuweisen, denn beide könnten ihm nur 
Ehre machen und bedürfen nicht der Verteidigung. Fragen 
wir uns nun, was nach diesen Kämpfen in bezug auf die Ehe 
in protestantischen Kreisen galt: Im wesentlichen läßt es sich 
in folgende 4 Punkte zusammenfassen: 

1. die Ehe ist kein Sakrament, 

2. die Ehe kommt durch die Willenseinigung der Braut- 

leute zusammen, 

3. die kirchliche Einsegnung kann vollzogen werden, 

4. die Ehe gehört als ein „weltliches Ding“ 

grundsätzlich in den Wirkungskreis des 
Staates. 


Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 189 


In betreff der Trauung sagt Luther selbst in der Vorrede 
zum Traubüchlein: 

„So manches Land, so manche Sitten, sagt das gemeine Sprüchwort- 
Dennoch, weil die Hochzeit und Ehestand ein weltlich Geschäft ist, 
gebürt uns Geistlichen oder Kirchendienern nichts näher darin zu 
ordnen oder regieren, sondern lassen einer jeglichen Stadt und 
Land hierin ihren Brauch und Gewohnheit, wie sie gehen . . . aber so 
man von uns begeret, vor der Kirche oder in den Kirchen sie zu 
segnen, über sie zu beten oder auch sie zu trauen, sind wir schuldig, 
dasselbige zu tun.“ 

Das ist deutlich genug, und der heutige Protestantismus 
würde in seinem Interesse handeln, sich recht genau daran zu 
halten. 
So war die Ehe vollständig freigegeben und zu einem 
rein bürgerlichen Vertrag geworden; das Eherechtwar 
in dieHände der Landesherren gelegt. Und sonder- 
bar! Die Landesherren hatten kein Eherecht und waren zu 
bequem, eines zu schaffen; so kam zunächst eine große 
Unordnung in das protestantische Eheschließungswesen, und 
das Ende vom Liede war, dank der Gleichgültigkeit, die die 
deutschen Regierungen in kulturellen Fragen stets an den Tag 
legen, daß das kirchlich-konfessionelle Eherecht 
auf den Staat überging. Das Höchste, wozu diese Gleich- 
gültigkeit sich aufschwang, waren zunächst Erklärungen, wie: 
Kraft staatlicher Hoheit soll das kirchliche Recht gelten. Die 
Landesherren waren mit Jagd und Maitressen in ihren Arbeits- 
möglichkeiten zu sehr überlastet und die schlauen Beichtväter 
nahmen ihnen äußerlich seufzend innerlich lachend die wert- 
volle Arbeitslast ab. 

Gegen Luther machte nun die katholische Kirche Front. 
Sie stützte sich zunächst auf die Bulle „Unam sanctam“ (er- 
lassen von Bonifazius VIll. 1302), derzufolge der Staat der 
Kirche untergeordnet sei. Da nun die Ehe Sakrament sei, 
könne der Staat überhaupt kein Gesetz über die Ehe erlassen. 
Die damaligen Regierungen haben dies allerdings — aus Be- 
quemlichkeit — ja auch gar nicht getan. Trotzdem aber fürch- 
tete die katholische Kirche, daß ihr durch die immerhin noch 
große Möglichkeit der heimlichen Ehen Gefahr drohe, 
und so wurde das Eherecht einer der Diskussionspunkte des 
Tridentiner Konzils (1545—1563), dessen 24. Sitzung am 
11. Nov. 1563 sich damit befaßtee Man wollte dabei solche 


190 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 


heimliche Ehen überhaupt zu ungültigen stempeln, nach- 
dem sie bisher nur unerlaubt, aber doch gültig gewesen 
waren. Sie wurden „trennendes Ehehindernis“. Das 
„decretum de reformatione matrimonii“ oder, wie es auch ge- 
nannt wird, das „Tam etsi dubitandum“ fordert für eine giltige 
Ehe folgende Punkte; sie muß geschlossen werden: 

l. im Angesicht der Kirche (in facie ecclesiae), 

2. in Gegenwart des zuständigen Pfarrers, 

3. in Gegenwart zweier Zeugen, 

4. nach dreimaligem Aufgebot durch den Priester an drei 

aufeinanderfolgenden Festtagen (Sonntagen). 

Wer diese Punkte nicht befolgte, den erklärte die Kirche 
für unfähig, eine Ehe zu schließen. Die Heimlichkeit war 
also trennendes Hindernis geworden (impedimentum dirimens 
clandestinitatis). 

Damit stand die Kirche vor einer schwierigen Frage. Da 
sie stets noch mit der Möglichkeit rechnete, daß die Pro- 
testanten wieder zu gewinnen wären, so durfte sie diesen 
Beschluß nicht unbedingt aussprechen, da sonst alle protestan- 
tischen Ehen, die nach der alten formlosen Art geschlossen 
waren, nach einer solchen Vereinigung ungültig gewesen wären. 
Sie setzte daher fest, daß die Beschlüsse nur dort gelten sollten, 
wo das Tridentinum verkündigt wäre; wo dies nicht 
geschah, war die alte Art zwar unerlaubt, aber doch gültig. 
So kam es, daß auch in vielen katholischen Gegenden das 
Tridentinum nicht verkündigt wurde; infolgedessen besteht 
sehr häufig heute darüber Unklarheit, ob es verkündigt worden 
ist oder nicht. Erst in allerneuster Zeit hat, wie wir sehen 
werden, die katholische Kirche diese Hoffnung aufgegeben 
und die Eheschließung endgültig geregelt. 

Der erste Konflikt mußte natürlich entstehen, wenn die 
Frage einer gemischten Ehe auftrat; und dieses Moment 
rüttelte die Regierungen auf. Der Staat mußte für solche Leute, 
die die Kirche nicht wollte, eine Möglichkeit der Eheschließung 
schaffen. Dafür hatte er drei Wege, da er die allgemeinen 
christlichen Grundideen nicht aufgeben wollte: 

1. Die Notzivilehe, derzufolge alle diejenigen, die zu 

einer kirchlichen Eheschließung nicht gelangen konnten 
(aber nur diese), durch eine bürgerliche Eheschließung 
dem Staate gegenüber vollgültig getraut wurden. 


Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 191 


2. Die fakultative Zivilehe. Der Staat stellt es frei, 
ob jemand sich kirchlich oder zivilrechtlich trauen 
lassen will. 

3. Die obligatorische Zivilehe: der Staat erkennt 
überhaupt nur die zivile Eheschließung an, wendet 
aber nichts dagegen ein, wenn sich jemand außerdem 
noch will kirchlich trauen lassen. Damit war auf diesem 
Gebiete eine Trennung von Kirche und Staat durch- 
geführt. 

Diese staatliche Zivilehe schuf aber keine neuen Ge- 
setze, sondern nahm, wie erwähnt, die alten kirchlichen Ver- 
ordnungen herüber, nach denen erforderlich war: 

l. Die Willenserklärung der beiden Brautleute, nach dem 

Satze consensus facit nuptias; 

2. daß diese Erklärung vor einem Standesbeamten ab- 
gegeben werden muß; 

3. daß sie in Gegenwart von zwei Zeugen abgegeben wird. 

Es wurde also die Heimlichkeit auch für den 
Staat ein trennendes Hindernis. 

Trotzdem wurde von den Formen der Zivilehe recht wenig 
Gebrauch gemacht. Zunächst sahen sich Holland und West- 
friesland 1580 (und 1656 die ganzen Niederlande) gezwungen, 
die fakultative Zivilehe einzuführen. Nach dem Grundsatz der 
Kirche, den Protestanten den Rückweg nicht zu erschweren, 
erließ deshalb am 4. Nov. 1741 Papst Benedikt XIV. einen 
Erlaß, die Benediktina, demzufolge „diese Ketzerehen und 
ketzerischen Zivilehen“ gültig seien, auch wenn die Formen 
des Tridentinums nicht beachtet wurden. (Für rein katholische 
Ehen galt dies natürlich nicht). Dann diente einem ähnlichen 
Zwecke das am 17, Sept. 1746 erlassene Breve desselben 
Papstes („Redditae sunt nobis“). Die dem Tridentinum 
unterworfenen Katholiken dürfen sich, um der Trauung durch 
einen nicht katholischen Religionsdiener zu entgehen, 
bürgerlich vor Standesbeamten trauen lassen. 

Dann führte England unter der Regierung Cromwells im 
17. Jahrh. die obligatorische Zivilehe ein; sie verschwand 
aber wieder. 

Trotz dieser Freiheiten ging in Deutschland besonders 
die Zivilehe wenig durch; im Gegenteil, im 18. Jahrhundert, 
dessen zweite Hälfte die traurigste Periode, die wir kulturge- 


192 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 


schichtlich nächst unserer Gegenwart kennen, war, wurde die 
Trauung durch den Pfarrer der eigentliche Akt der 
Eheschließung, auch bei Protestanten, was vollständig 
Luthers Prinzipien widersprach. Aber darin lag auch 
der Grund für die neue Entwicklung. Am 16. Januar 1783 
erließ Kaiser Joseph Il. ein Ehepatent, in dem die durch die 
Reformation geschaffenen Ideen in die landesfürstlichen Gesetze 
in Matrimonialsachen eingeführt und für alle Untertanen bin- 
dend wurden. (Freilich gingen diese Anordnungen, obwohl 
sie am 1. Juli 1811 ins bürgerliche Gesetzbuch aufgenommen 
waren, am 8. Okt. 1856 durch kaiserliches Patent wieder ver- 
loren, und die Eheschließung wurde der Kirche zurückgegeben). 

Anders wurde die Sache erst mit der französischen Re- 
volution. 

Hier mag noch bemerkt werden, daß der Konkubinat 
durch die Reichspolizeiordnung von 1577 als „unsittlich und 
gemeingefährlich“ (!!) verboten wurde. Damit beschäftigten 
sich also die Regierungen, obwohl keine Gefahr vorlag, ja die 
meisten Konkubinate hoch über den Ehen standen an wirk- 
lichem, innerem Werte. 

(Fortsetzung folgt.) 





Geschlecht und Gesellschaft, 
Neue Folge XI, 7 





DA ES ECH tA 





Hochzeitszug eines Nürnbergers Patriziers 1621 (Laurentius Strauch pict.) Zum Aufsatz Reitzenstein. 


ÜBER DIE WAHRSCHEINLICHKEIT DER POLY- 
PHYLETISCHEN ABSTAMMUNG DES MENSCHEN- 
GESCHLECHTES. 


Von Univ.-Professor Dr. Hans FRIEDENTHAL. 
(Aus der Arbeitsstätte für Menschheitskunde, Berlin). 


We gewohnt ist seine Worte in wissenschaftlichen Ab- 
handlungen, wie es nötig ist, recht genau abzuwägen, 
der wird lächeln, wenn er in so vielen Schriften von Beweisen 
liest, die entweder die monophyletische Abstammung*) des 

Menschen oder die polyphyletische Abstammung sicherstellen 
sollen. Wir haben weder, noch werden wir in absehbarer 
Zeit Beweise haben für die Abstammung des Menschen, 
sondern wir müssen uns mit Hinweisen begnügen, die uns 
zu einer begründeten Überzeugung führen können, auch bei 
Abwesenheit zwingender Beweise. Es wird wenig Menschen 
geben, welche ihre eigene Abstammung von einem Menschen- 
paar nicht als unerschütterliche Überzeugung festhalten, ob- 
wohl sie im naturwissenschaftlich-mathematischen Sinne nicht 
bewiesen werden kann. Nur Analogieschlüsse, nicht Beweise 
vermitteln uns unsere Überzeugungen von unserer eigenen 
Abstammung, denn für den Naturforscher ist null und nichtig, 
was der Jurist als Beweis für Abstammung gelten läßt, wie 
Eide und Urkunden. Die Knochenfunde, welche wir von der 
Zukunft noch erhoffen können, liefern niemals Beweise für 
irgend eine Form der Abstammung, wohl aber ist es Aufgabe 
jeder wissenschaftlichen Abhandlung über Abstammung des 
Menschen, alle Tatsachen der Naturgeschichte, welche über- 
haupt bekannt geworden sind, mit zu verwenden bei Fest- 
legung auf eine begründete Überzeugung. 

2 In der Menschheitskunde tun wir gut daran, uns zu 
erinnern, daß das Leben des einzelnen Menschen das Leben 
der ganzen Menschheit in der gleichen Weise abgekürzt 
widerspiegelt, wie das Leben einer einzelnen Körperzelle 
abgekürzt widerspiegelt das Leben des ganzen Zellenstaates, 
welcher wnsern Körper darstellt. In der ersten Hälfte unseres 
Lebens weist unser eigenes Dasein zurück auf die Vorgeschichte 
des Menschengeschlechtes und auf die Vergangenheit der 
ne 


= i Monp hyletisch von einem Menschenpaar abstammend, polyphyletisch 
n Ursprung von mehreren Stellen nehmend. 


13 


194 Friedenthal: Über die Wahrscheinlichkeit der polyphylet. Abstammung 


Menschheitsgeschichte, in der zweiten Lebenshälfte aber weist 
der Ablauf unseres eigenen Lebens vorauf in die Zukunft 
der Menschheit und des Menschengeschlechtes. Wie dem 
einzelnen Menschen, so ist auch der gesamten Menschheit 
der Tod als Ende gewiß. 

Halten wir die Analogie unseres eigenen Lebens mit dem 
Leben der Menschheit für brauchbar bei Erörterung der Ab- 
stammungsfrage, so werden wir uns bewußt werden müssen, 
daß jede Zelle unseres Körpers abstammt von zwei ver- 
schiedenen Zellen zweier verschiedener Individuen. Wohl 
könnten Anhänger einer monophyletischen Abstammung sagen 
— alle Körperzellen stammen von einer einzigen Zelle ab, 
nämlich von der befruchteten Eizelle, aber diese an sich 
richtige Ausdrucksweise würde die Tatsache verschleiern, 
daß wir der Kreuzung zweier Individuen unser Dasein ver- 
danken, welche sich so verschieden verhalten können, somatisch 
und geistig, wie etwa zwei verschiedene Menschenrassen. 
Daß Geschlechtsverschiedenheiten nicht dasselbe bedeuten wie 
Rassenverschiedenheiten, mag noch besonders betont werden, 
um Mißverständnisse bei der Vergleichung von Individual- 
schicksal und Menschheitsschicksal möglichst auszuschalten. 
Wir können also sagen, unsere Lebensgeschichte würde hin- 
weisen auf eine Abstammung des Menschengeschlechtes aus 
zwei verschiedenen Quellen, welche sich zu einer vereinigt 
haben. Von der Vereinigung zweier Ströme zu einem Strome 
sind dann später alle Varianten entsprossen, welche wir heute 
als verschiedene Menschenrassen, die jemals auf der Erde ge- 
lebt haben, kennen gelernt haben. Es ist alsdann Geschmacks- 
sache, ob man eine solche Hypothese monophyletisch oder 
diphyletisch nennen will. Daß der Ablauf unseres Individual- 
lebens uns nur einen Hinweis geben kann, nicht aber Be- 
weise für diese Art der Ausbreitung des Menschengeschlechtes 
auf der Erde, soll dem Leser noch einmal in Erinnerung ge- 
bracht werden. In der Bibel wird ebenfalls erzählt, daß außer 
den Kindern von Adam noch Kinder des Lichtes bei der 
Menschenzeugung beteiligt waren, während irrtümlicherweise 
die Anhänger einer monophyletischen Abstammung des 
Menschen sich auf das Zeugnis der Bibel beriefen, welche sie 
so ungenau studiert hatten, daß ihnen die Schilderung der 
mehrfachen Abstammung entgangen war. 


Friedenthal: Über die Wahrscheinlichkeit der polyphylet. Abstammung 195 


Wir können als sicher annehmen, daß heute die Mehrzahl 
der Anthropologen der Ansicht einer monophyletischen Ab- 
stammung des Menschen zuneigt und nur ein sehr kleiner 
Kreis von Fachgenossen eine polyphyletische Abstammung für 
denkbar hält. Der maßgebende Grund für die Anthropologen, 
die Menschen monophyletisch abstammend zu denken, liegt wohl 
in der unbestreitbaren Arteneinheit aller heute lebenden Menschen. 
Es gibt, soweit unsere Erfahrungen reichen, keine Menschen- 
rassen, welche nicht unbeschränkt fruchtbar miteinander ge- 
kreuzt werden könnten, und alle entgegenstehenden Angaben 
über Unfruchtbarkeit von Mischungen haben sich als irrtümlich 
erwiesen. Bei den Australiern war behauptet worden, daß sie 
mit Europäern nicht fruchtbar sich kreuzen könnten, während 
nur die Frauen die Empfängnisse künstlich verhüteten. Es 
gibt heute kaum noch Anthropologen, welche nicht an die 
unbeschränkte Fruchtbarkeit aller Menschenrassen untereinander 
glaubten. Nach dem Ergebnis seiner Blutsverwandtschafts- 
versuche kam Verfasser vor mehr als 20 Jahren zu dem Schluß, 
daß eine Befruchtung eines Menschenaffeneies durch Menschen- 
samen ihm wahrscheinlich erschiene nach Analogie der Tier- 
mischungserfahrung, daß gleiche Blutreaktion bei zwei Tierarten 
auf Möglichkeit der Bastardierung hinwiese. Daß die Bastarde 
auch unfruchtbar sein können trotz gleichartiger Blutreaktion, 
zeigte das Beispiel von Pferd und Esel. Verfasser hatte bei 
seinen Versuchen gefunden, daß, wenn man Kaninchen 
Menschenblut injiziert, das Blut von Menschenaffen, namentlich 
des Orang nicht später und nicht schwächer reagierte als das 
zur Vorbehandlung benutzte Blut von Angehörigen der weißen 
Rasse. Es hatte sich nicht in den Versuchen eindeutig gezeigt, 
daß einer der Stämme der lebenden Anthropomorphen dem 
Menschen näher stünde als die übrigen, doch wäre eine 
Weiterverfolgung der damaligen Versuche über Blutsverwandt- 
schaft, die dem Verfasser mangels eines Laboratoriums nicht 
möglich sind, anthropologisch von dem größten Interesse. 

Die Mischungsmöglichkeit aller heute lebenden Menschen 
bildet zwar keinen Beweis für die monophyletische Abstammung 
der Menschheit, lenkte aber doch die Blicke der meisten 
Anthropologen auf den großen morphologischen Abstand, der 
im Gegensatz zur Nähe der Blutreaktion, alle Menschen trennt 
von allen Anthropomorphen wie von allen übrigen Primaten- 

13* 


196 Friedenthal: Über die Wahrscheinlichkeit der polyphylet. Abstammung 


arten und Tierarten. Es soll nachdrücklich darauf hingewiesen 
werden, daß durch keinen der bis 1913 fachwissenschaftlich 
beschriebenen Funde von Knochenresten die Kluft zwischen 
den Menschenformen und sonstigen Tierformen geschlossen 
wurde, mit Ausnahme vielleicht des Pithecanthropusfundes. 
Die Beurteilung der Pithecantropusreste schwankt aber der- 
artig bei den verschiedenen Anthropologen, und es fehlen so- 
viele zur näheren Beurteilung notwendigen Formbestandteile, 
daß ein vorsichtiger Forscher gut tun wird, weitere Funde 
sowohl, wie eine genauere Pithecantropuswürdigung abzuwarten, 
ehe er versucht, sich ein Urteil über die Abstammung des 
Menschen bilden zu wollen auf Grund der Funde von Dubois 
in Trinil, Selbst wenn wir Knochenformen finden würden, 
welche bis in alle Einzelheiten und in vollständigen Skeletten 
dem Bilde gleichen, welches wir uns von einem morphologischen 
Zwischenglied zwischen Mensch und heutigem Anthropo- 
morphen machen können, so würde ein solcher Fund uns in 
keiner Hinsicht Beweise liefern für die Abstammung der heutigen 
Menschen von derartigen Wesen. Wir brauchen nicht die 
Möglichkeit zu leugnen, daß in der Urzeit auch Menschenrassen 
gelebt haben können, welche in einzelnen Merkmalen anthro- 
poidenähnlicher gewesen sind als alle heute lebenden Menschen- 
rassen, und doch weisen heute eine Reihe von eingehenden 
Betrachtungen namentlich der foetalen Entwicklung jedes 
Menschen darauf hin, daß vor der heutigen Menschen- 
form nicht die Anthropoidenform, sondern die eines halbaffen- 
oder früher sogar faultierähnlichen Wesens gestanden hat. 
Für die Beurteilung der Nähe der Blutsverwandtschaft von 
Anthropoiden und Mensch mag hier erneut auf die Arbeit des 
Verfassers über die Verwertung der Haarparasiten hingewiesen 
werden, welche zuerst im Jahre 1908 in der physiologischen 
Gesellschaft zu Berlin vorgetragen wurden, ehe die Arbeiten 
des verdienten Entomologen Fahrenholz bekannt geworden 
waren. Darwin hatte zwar darauf hingewiesen, daß Verwandt- 
schaft von Parasiten auf Blutsverwandtschaft von Säugetieren 
deute, doch waren Darwin keine Parasiten auf Menschenaffen 
bekannt gewesen, so daß er auch für die Verwandtschaft von 
Affe und Mensch nicht auf die Verwandtschaft der Haarläuse 
hinweisen konnte. Verfasser fand nicht nur auf dem Schim- 
pansen eine Läuseart, welche im Gegensatz zu den Läusen 


Friedenthal: Über die Wahrscheinlichkeit der polyphylet. Abstammung 197 


niederer Affenarten zur Familie Pediculus gehörte wie die 
Menschenläuse, sondern entdeckte noch auf dem Hylobates 
Müller eine Läuseart, von Fahrenholz Pediculus Friedenthali 
genannt, welche den Menschenläusen noch viel ähnlicher war 
als die Schimpansenlaus, welche durch besonders lange Glied- 
maßen ausgezeichnet waren. Übertragungsversuch des Ver- 
fassers vom Schimpansenhaarpelz auf den Menschen mißlangen, 
so daß die Schimpansenlaus das Menschenblut verschmäht, 
obwohl sie eine Pediculusart ist. Auf niederen Altweltsaffen 
wurden bisher nur Pediculusläuse und Mallophagenläuse oder 
Pelzfresserläuse gefunden, welche letzteren sich nicht von Blut 
nähren, sondern von den Haaren selber. Verfasser möchte 
darauf aufmerksam machen, daß weder auf dem Gorilla noch 
auf den Orang-Utan jemals eine Läuseart bisher gefunden 
wurde, während die Gattung Mensch nicht weniger als 3 Läuse- 
arten beherbergt, welche bei den verschiedenen Menschenrassen 
kleine Abweichungen zeigen, die bereits von Darwin be- 
merkt worden waren. Verfasser hat zuerst darauf hingewiesen, 
daß nur der Mensch Phtiriusläuse beherbergt, allein von allen 
Säugetieren, die Menschenaffen nicht ausgenommen. Da die 
Phtiriusläuse (auch Filzläuse genannt) am meisten von allen 
blutsaugenden Läusearten sich an die parasitiale Lebensweise 
angepaßt haben und zu fast bewegungslosen Nestlingen sich 
umgewandelt haben, liegt der Gedanke nahe, daß wir in den 
Phtiriusläusen eine sehr alte Schmarotzerfamilie vor uns sehen, 
welche bereits bei den Ahnenstufen der Menschen an die 
parasitiale Lebensweise sich anpaßten. Fahrenholz hatte da- 
rauf aufmerksam gemacht, daß unter den amerikanischen Affen 
Ateles ebenfalls Pediculusläuse beherbergt, wie Mensch und 
Menschenaffe. Eine Änderung in der Beurteilung der syste- 
matischen Stellung von Ateles kann aus dem Befund von 
Pediculusläusen nach Ansicht des Verfassers nicht erfolgen, 
da in allen übrigen anatomischen Merkmalen Ateles sich als 
echter Breitnasenaffe erwiesen hat. 

Die Unterschiede in den Läuseformen der heute lebenden 
Menschenrassen sind so gering und so schwierig genau zu 
präzisieren, daß Verfasser glaubt, auch in dem Verhalten der 
Läusearten einen Hinweis auf die zoologische Gleichartigkeit 
der heute lebenden Menschheit zu erblicken. Es ist dem Ver- 
fasser bisher noch nichts davon bekannt geworden, daß man 


| 198 Friedenthal: Über die Wahrscheinlichkeit der polyphylet. Abstammung 


bei allen lebenden Menschenrassen Phtiriusläuse gefunden hätte, 
und doch wäre auch für die Beurteilung der polyphyletischen 
Abstammung des Menschen es nicht gleichgiltig, wenn sich 
` herausstellen sollte, was Verfasser für möglich hält, daß niemals 
Phtiriusläuse bei Melanodermen gefunden werden, während 
Australier, Arier und alle Poikilodermen als Träger von Phtirius- 
läusen bekannt geworden sind. Verfasser möchte auch an 
dieser Stelle auf die Wichtigkeit der Untersuchung der Parasiten 
der verschiedenen Menschenrassen hinweisen, welche bisher 
von fast allen Forschungsreisenden arg vernachlässigt worden 
sind. Es ist notwendig, sich die Eigenheiten der menschlichen 
Läusearten recht genau einzuprägen, wenn man beim Sammeln 
zu neuen Ergebnissen beitragen will. Die Kleiderläuse, die 
häufigste Läuseform, scheint auf der ganzen Erde am gleich- 
artigsten gefunden zu werden, während die Kopfläuse ent- 
sprechend der Haarverschiedenheit der Menschenrassen mehr 
differieren.. Über die Haarverschiedenheiten bringen Aus- 
führliches die Beiträge des Verfassers zur Naturgeschichte des 
Menschen. Jena, Verlag von Gustav Fischer, 1908. Die Be- 
trachtung der Verschiedenheit der Haare bei den heute lebenden 
Menschenrassen könnte noch am ehesten den Gedanken an eine 
polyphyletische Abstammung des Menschengeschlechtes nahe 
legen, wenn wir nicht wüßten von unsern Haustieren her, wie 
stark das Haarkleid variieren kann bei ganz nahe verwandten 
Säugetierarten. Immerhin glaubt Verfasser, auch bei unsern 
Haustierrassen sehr häufig den Charakter des Haarkleides zur 
Wahrscheinlichmachung von Kreuzungen heranziehen zu müssen. 
Ја, тап kann sogar annehmen, daß gewisse Haarformen wie 
das Pudelhaar beim Hunde, ebenso wie das Haar der Melano- 
dermen beim Menschen letzten Endes der Kreuzung ver- 
schiedener Abarten mit darauf folgender Beschleunigung des 
Hautwachstumes ihr Dasein verdanken. Nicht die Betrachtung 
der Form, also die Kräuselung, sondern die Beachtung der 
Beschleunigung des Wachstums der Epidemis, auf welche Ver- 
fasser als Physiologe hinwies, eröffnet uns ein Verständnis für 
die Bedeutung des Auftretens des Kraushaares beim Menschen 
und den Haustieren. Erst die Beachtung der Funktion lehrt 
uns die Bedeutung einer Form im Tierreich erkennen, weshalb 
der Physiologie des Menschen in der Anthropologie ein ganz 
anders breiter Raum zu widmen wäre als der bloßen ana- 


Friedenthal: Über die Wahrscheinlichkeit der polyphylet. Abstammung 199 


tomischen Formbeschreibung, welche bisher fast ausschließlich 
von den Anthropologen bevorzugt wurde. Wie die Form zu 
verstehen ist aus der Funktion, konnte am Haarkleid des 
Menschen besonders deutlich gemacht werden, doch verlangen 
alle übrigen Organsysteme, besonders aber das Zentralnerven- 
system nicht minder eine kritische und eingehendere funktionelle 
Formanalyse, als sie bisher bekannt geworden ist. 

Für die Haare der Menschenrassen gilt heute die Erfahrung, 
daß — abgesehen von ganz groben Anomalien, wie Auftreten 
von Fellhaar bei den sogenannten Haarmenschen oder Pudel- 
menschen, welches stets mit Zahnanomalien verbunden auftritt, 
niemals längere Zeit reinrassig gezüchtete Individuen extreme 
Haarformen außerhalb ihrer Rassekreise aufweisen. Ein bestimmt 
reinrassiger Chinese mit Buschmannhaar ist niemals beschrieben, 
ebensowenig ein Südafrikaner mit straffen Haaren, nicht einmal 
bei den mittelhaarigen Poikilodermen, der sogenannten weißen 
Rasse, treten jemals Individuen auf, welche Haare wie die 
Melanodermen haben. Locken sind bereits verdächtige Hinweise 
auf südländische Beimischung, krause Haare aber bestimmter 
Hinweis auf Melanodermenblut in der Ahnenreihe. In der 
gleichen Weise sind bei Negern langes mittelweiches Haupthaar 
sicheres Zeichen von Bastardierung. Wir können also mit 
einiger Sicherheit beim heutigen Menschen die Beschaffenheit 
der Haupthaare für Rassendiagnose verwenden, ohne befürchten 
zu müssen, durch Spontanvariationen (ohne Kreuzung) getäuscht 
zu werden. Für die Abstammung des Menschengeschlechtes 
aus zwei verschiedenen Stämmen spricht also das Auftreten 
einer Variante mit Haaren, wie sie der Buschmann als extrem 
aufwies, der heute als reine Rasse gänzlich ausgestorben ist, 
so daß sein Blut nur noch in Mischungen den extrem krausen 
Haartypus vererbt. Beim Hunde wissen wir, daß der extrem 
krause Haartypus des Pudels mit Sicherheit durch die Kreuzung 
zweier Hunderassen jederzeit von uns neu erzeugt werden kann, 
wenn wir wollen. Beim Menschen ist die Mischlingskunde 
noch so wenig ausgebildet, daß wir keine Nachricht von dem 
Auftreten krauseren Haares aus zwei weniger krausen Rassen 
haben, ohne daß wir daraus schließen dürfen, daß beim 
Mischen der Menschenrassen so etwas unmöglich wäre, Beim 
Pudel ist wie beim kraushaarigen Menschen die Kraushaar- 
bildung auf Beschleunigung des Hautwachstumes und auf 


200 Friedenthal: Über die Wahrscheinlichkeit der polyphylet. Abstammung 


überschüssiges Hautwachstum zurückzuführen. Beim Pudel 
wie beim Neger ist faltige lose Haut mit der Kraushaar- 
bildung verbunden, während straffes Haar beim Menschen 
wie bei den Hunderassen mit enganliegender straffer Haut 
verbunden auftritt. Das Haarwachstum ist nur ein Spezialfall 
des Wachstums der Oberhaut, aus deren überschüssigem 
Wachstum durch Einfaltung nach innen die Haare hervorgehen. 
So ungewohnt den Anthropologen die Auffassung der Busch- 
männer als einer Kreuzung aus zwei noch älteren Menschheits- 
zwergen auch sein mag, lehrt uns doch das Beispiel unserer 
Haustiere auch diese Möglichkeit ernsthaft ins Auge zu fassen. 
Verfasser möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, wie wichtig 
die systematische, wissenschaftliche Verfolgung des Haar- 
schicksales bei Pudelbastarden wäre und wie dringend not- 
wendig die Menschenkunde eine systematische Durchforschung 
der Rassenkreuzungen nötig hat. Reinrassige Menschen wird 
es in kurzer Zeit auf der Erde nicht mehr geben, — sie sind 
jetzt bereits sehr selten, — wenn die Menschheit nicht die 
Reinzüchtung von Rassen aus den vorhandenen Mischungen 
nach wissenschaftlichen Prinzipien in die Hand nimmt. Der 
Mensch als Tierart ist einheitlich und durch eine Kluft von 
allen lebenden, und wir dürfen hinzusetzen, vorläufig noch von 
allen bekannten ausgestorbenen Tierarten getrennt. Damit geht 
es dem Menschen zoologisch nicht anders wie zum Beispiel 
dem Elefanten, der sogar weiter zoologisch absteht von allen 
anderen lebenden Tierarten als der Mensch von den andern 
Primatenarten. Die Entstehung des Elefanten aus Nichtrüssel- 
tieren ist ebensowenig physiologisch klar gelegt wie die des 
Menschen und doch wissen wir, daß eine ganze Zahl von 
elefantenähnlichen Säugetieren ausgestorben sind und daß sich 
auf diese Weise die Kluft zwischen den Elefanten und den 
übrigen Säugetieren vergrößert hat. Über die eigentlichen 
Ursachen der Bildung irgend einer Tierart sind wir ebensowenig 
unterrichtet wie über die Art der Herausbildung der Menschen- 
form. Noch heute gibt es eine kleine Zahl von Merkmalen, 
die der Mensch mit allen anderen Primatenarten teil. Wir 
können vor allem das Gebiß nennen. Während kein lebendes 
Säugetier die Zahnformel mit den Elefanten teilt, entspricht die 
Zahnformel des Menschen der der Ostaffen, indem je zwei 
Schneidezähne und Eckzahn, zwei Vormahlzähne und drei 


Friedenthal: Über die Wahrscheinlichkeit der polyphylet. Abstammung 201 


Backenzähne in jeder Hälfte des Ober- und Unterkiefers vor- 
kommen. Hier sei jedoch darauf hingewiesen, daß bei einer 
großen Zahl von Individuen der Poikilodermen-Rasse nicht 
mehr als zwei Backenzähne gleichzeitig in jeder Kieferhälfte 
gefunden werden, so daß also die Zahnformel des modernen 
Menschen sich durch Mangel von vier Zähnen von der Zahn- 
formel der Menschenaffen und Ostaffen zu unterscheiden beginnt, 
und wo bei den Elefantenarten ein völliges Isoliertstehen auch 
in der Zahnformel beim Menschen sich anbahnt. Die Westaffen 
oder amerikanischen Affen haben drei Normalzähne und zwei 
Mahlzähne. Allen Affen und dem Menschen gemeinsam im 
Gebiß ist der Besitz von vier Schneidezähnen und vier Eck- 
zähnen. Alle Affenarten und der Mensch haben unbewegliche 
Ohrmuscheln und eine Forea centralis, eine Stelle des deutlichsten 
Sehens in der Netzhaut sowie eine Parallelstellung der Augen 
allein unter allen Säugetieren. Alle Affenarten haben neben 
dem Daumen, der einigen Affen fehlt, wie der Mensch acht 
dreigliedrige Finger an Händen und Füßen, sowie zweigliedrige 
Großzehen an den Füßen neben acht dreigliedrigen Zehen. 
Die verkümmerte Ausbreitung der Brustwarzen auf einen kleinen 
Bezirk ist allen Primaten gemeinsam, ebenso im Gröberen die 
Form der Samenfäden. Alle Primaten besitzen mit dem Men- 
schen zwei brustständige Zitzen und eine ähnliche Bildung 
der Eihäute, trotz Verschiedenheit in der Implantation des Eies 
in der Gebärmutterschleimhaut. Die Männchen besitzen äußere 
Hoden und einen Penispendulus. Іт Zentralnervensystem 
überdeckt bei allen Primaten wie beim Menschen das Groß- 
hirn das Kleinhirn vollständig. Die Knochen an Becken und 
Schultergürtel sind allen Primaten, unter ihnen dem Menschen, 
gemeinsam. 

Dagegen gibt es eine Reihe von Merkmalen, die zwar 
allen Primatenarten, aber nicht dem Menschen zukommen und 
daher für unser Gefühl eine Sonderstellung des Menschen auch 
in zoologischer Hinsicht bedingen. Keine andere Primatenart 
besitzt wie der Mensch eine Krümmung der Lendenwirbelsäule, 
keinem Primaten außer dem Menschen fehlt deutlich Sohlen- 
hornbildung unter den Nägeln, kein Primat besitzt ein Sprach- 
zentrum im Gehirn. Das Diastema der Eckzähne fehlt keinem 
anderen Primaten, ebenso größere vorspringende Eckzähne. 
Jeder Primat außer dem Menschen besitzt Blutsackhaare 


202 Friedenthal: Über die Wahrscheinlichkeit der polyphylet. Abstammung 


(Sinneshaare) wie alle übrigen Säugetiere, kein Primat besitzt 
Phtiriusläuse wie der Mensch. Die Kinnmuskelstärke, die 
Wadenmuskelstärke des Menschen fehlt allen übrigen Primaten. 
Alle Primaten außer dem Menschen besitzen verkümmerte 
Daumen, alle eine verküümmerte knöcherne äußere Nase. Achsel 
und Schambehaarung sowie Sichtbarkeit des weiblichen Sexual- 
teiles bei der völligen Aufrichtung von vorn fehlt allen 
Primaten außer dem Menschen, die Haararmut des Menschen 
auf dem größten Teil der Leibesoberfläche wird bei keinem 
andern Primaten gefunden. Alle diese Unterschiede neben der 
geringen Gehirngröße bedingen für uns das Gefühl der Ab- 
sonderung aller Menschenrassen von allen übrigen Primaten- 
arten oft in so hohem Grade, daß das Gewicht der gemein- 
samen körperlichen Merkmale inklusive der Blutsverwandt- 
schaftsreaktion zu wenig beachtet wird. Wenn wir versuchen 
wollen uns ein Bild davon zu machen, ob eine polyphyletische 
oder eine monophyletische Abstammung des Menschen mehr 
Wahrscheinlichkeit für uns haben soll, können wir versuchen, die 
Abstammung der in historischer Zeit entstammenden Völker- 
schaften ins Auge zu fassen, und erst wenn wir hierin klar 
sehen, weiter in die Vergangenheit hinabzusteigen. Wir werden 
gut tun bei der Betrachtung vergangener Zeiten, nie mehr uns 
geändert zu denken gegenüber der Jetztzeit, als unbedingt nötig 
ist und jede überflüssige Abweichung als fehlerhafte Betrachtung 
aufzufassen. 

Gehen wir die Abstammung der Menschen in der Jetztzeit 
durch, so finden wir zum Beispiel in England Nachkommen 
von Kelten, Römern, Angeln, Sachsen, Normannen und Juden, 
nicht zu rechnen alle die übrigen Völker, von denen einzelne 
Individuen auf englischem Boden sich fortgepflanzt haben oder 
in den englischen Kolonien ihr Blut mit dem englischen ge- 
mischt haben unter Rückwanderung der Mischlinge nach Eng- 
land. In Spanien haben wir die Nachkommen der Römer, 
Basken, Iberer, Karthager, Araber, Juden, Germanen in vorläufig 
untrennbarer Mischung, in Italien und Griechenland die gleichen 
Mischungen, in Frankreich die Nachkommen der Kelten, Römer, 
Germanen, Araber und Juden, in Deutschland und Österreich- 
Ungarn die Nachkommen der Germanen, Slaven, Ungarn, 
Mongolen, Türken, Juden, Römer und Kelten, in Rußland haben 
sogar 128 verschiedene Völkerschaften der verschiedensten 


Friedenthal: Über die Wahrscheinlichkeit der polyphylet. Abstammung 203 


Rassen zur Bildung der heutigen Mischung beigetragen. Auf 
der Balkanhalbinsel war das Völkergemisch noch weit reich- 
haltiger als in Spanien und Italien, da diese Gegend gürtel- 
förmig von den verschiedensten Menschenrassen umlagert ist. 
In Asien haben wir ein Volksgemisch, welches im Norden die 
Polarrassen, im Osten die mehr xanthodermen Mischungen, im 
Süden die malayischen Rassen, im Westen die Poikilodermen, 
überall vereinzelt australische Urrassenabkömmlinge und Ab- 
kömmlinge von Melanodermen an der Peripherie. Reinrassige 
Individuen im Sinne der Tierzüchter werden eher in Asien zu 
finden sein. In Australien finden wir die Reste der Urbevölkerung 
gemischt mit papuanischen also melanodermen eingeführten 
Arbeitern und die Menge der eingewanderten Weißen neben 
wenigen chinesischen Einwanderern auf den ozeanischen Inseln, 
eine aus vielen Rassen gemischte Bevölkerung mit kaum 
merklichen Resten der Ureinwohner. Bei der Entdeckung waren 
bereits drei verschiedene Rassen in Ozeanien angesiedelt, die 
melanodermen Papuas die indianerähnlichen maoriartigen 
Rassen der Ostinseln und die Uraustralier. Amerika zeigt heute 
ein Gemisch von Polarmenschen, Indianerresten, Negern, Asiaten 
und alle europäischen Völker und Rassen bunt durcheinander. 
Die Negerbevölkerung dringt vom Süden immer weiter nach 
dem Norden vor, während die alteingewanderten weißen 
Familien häufig aussterben. In Afrika sind im Süden die 
Reste der ausgestorbenen Buschmänner, ferner Hottentotten, 
Hamiten, Neger, Weiße, Inder und Araber im Mittelteil, Akka’s 
Neger, Weiße aller Rassen und Mischungen sowie Inder und 
Araber im Norden, die Araber, Juden, Fellachen und Weiße 
gemischt mit Negern und Hamiten. Es wird dem Anthropologen 
schwer fallen in wenigen Generationen reinrassige Individuen 
in Afrika noch anzutreffen, da keinerlei systematische Inzuchts- 
bestrebungen, die in Europa die Allmischung der Menschen- 
rassen wenigstens verzögern, in Afrika sich geltend machen 
und das reine Element wohl nur in Mischlingen in Afrika 
bodenständig werden kann. Obige Übersicht zeigt, daß in der 
Jetztzeit die Freizügigkeit der Menschheit über den ganzen 
Erdball und die Vermischungstendenzen einen solchen Grad 
erreicht haben, daß die Wirkungen der durch Isolierung hervor- 
gerufenen Inzucht und Rassenbildung aufgehoben zu werden 
scheinen und eine allmähliche Aufhebung aller Reinrassigkeit 


204 Friedenthal: Über die Wahrscheinlichkeit der polyphylet. Abstammung 


sich anbahnen will. Betrachten wir die Menschheit zur Zeit 
der ältesten geschichtlichen Urkunden, also etwa 4000 vor 
Christus, so finden wir schon dort in jedem Erdteil mindestens 
zwei verschiedene Menschenrassen wohnen, deren Mischung 
bereits vor der Einwanderung der ersten Weißen begonnen 
hatte. Freilich war in dieser Menschheitsepoche Isolierung 
ganzer Stämme für lange Zeiten und damit Bildung neuer 
Menschenrassen die Regel, Vermischung die Ausnahme, während 
heute Aufhebung jeder Isolierung in der Menschheit das 
Charakteristikum unserer Zeitepoche bildet. Dieser stete Wechsel 
von Perioden der Inzucht und Isolierung, also der Rassen- 
bildung und der Vermischung, welche zur Bildung neuer 
Elemente, nämlich der Mischrassen führte, aus denen durch 
spätere Isolierung und Inzucht wieder neue Rassen sich bilden 
konnten, erklärt uns die Schwierigkeit des Problems der Ab- 
stammung der Menschheit aus den Tierformen der Vorzeit. 
Wir müssen brechen mit der Vorstellung, daß das gesamte 
Reich der Lebewesen einem Baume gleicht, dessen Zweig- 
spitzen die heutigen Lebewesenformen darstellen, diesem Baume 
gleicht nur unsere Systematik. Die Lebewesenwelt selber 
dagegen gleicht einem Netzwerk mit Knotenpunkten, 
welche die Zeit der Kreuzung darstellen und Faden- 
teilen, welche den Zeiten der Isolierung und Rassen- 
bildung entsprechen. Wie in unserem erwachsenen Körper 
nicht ein einziges Organ aus einer Zellart sich bildet, sondern 
alle Organe polyphyletisch durch Zusammenschluß mehrerer 
Zellarten sich bilden, so können wir uns auch jede Lebensart 
durch Zusammenschluß verschiedenartiger Elemente entstanden 
denken. Ist durch Zusammenschluß zweier Verschiedenheiten 
etwas Neues entstanden, dann tritt Inzucht als artbildender 
Faktor auf um das entstandene neue herauszuheben aus der 
sonst unübersehbaren Masse der Mischungen. Die Unter- 
suchung der Abstammung unserer Haustiere bietet weniger 
Schwierigkeiten als die des Menschen und wird sehr wahr- 
scheinlich ergeben, daß unsere variabelsten Haustiere, wie 
Hund, Rind und Schwein nicht monophyletisch sondern poly- 
phyletisch entstanden gedacht werden können. Nicht genug 
kann darauf aufmerksam gemacht werden, wie notwendig die 
Betrachtung der Haustierähnlichkeit des Menschen für die 
Menschenkunde ist. 


4 
riedenthal: Über die Wahrscheinlichkeit der polyphylet. Abstammung 205 


Wir ziehen also aus der großen Variationsbreite der 
heutigen Menschen einen Schluß auf die polyphyletische Ab- 
stammung der Menschheit, welche bei Annahme eines Erb- 
massennetzwerkes, wie es oben schon geschildert wurde, 
an sich die größere Wahrscheinlichkeit für sich hat. Wenn 
auch heute wohl kein Forscher mehr die Abstammung 
von einem Anthropoiden vertrit, so wäre doch noch zu 
untersuchen, ob der Betrachtung der sogenannten Urrassen 
eine Scheidung in orangähnliche oder besser ostanthropoiden- 
ähnliche und gorilla- oder schimpansenähnliche oder west- 
anthropoidenähnliche Menschenrassen möglich ist. Die Blut- 
untersuchungen haben bisher nicht zu einer Bestätigung dieser 
Ansicht geführt. Für eine Ähnlichkeit der melanodermen Rassen 
mit dem Schimpansen, der übrigen Menschen mit dem Orang 
(so würde Verfasser gliedern), spricht nur eine gewisse Ähn- 
lichkeit der Temperamentveranlagung, welche allerdings sehr 
suggestiv zu wirken imstande ist. Der überlegende, im Alter 
melancholische Charakter der Orangs, die hohe Stirnentwick- 
lung der ganzen Orangs erinnert an gewisse Ostasiaten- 
charaktere, ebenso wie die gelblichen Hautpigmente mit blauen 
Flecken, die an die Mongolenflecke der Menschen erinnern. 
Die schwarze Haut vieler Schimpansen und der Gorillaarten, 
das heutige Temperament der ganzen Schimpansen im Gegen- 
satz zu den jungen Orang-Utans erinnert an ähnliche Eigen- 
schaften der Melanodermen, ebenso wie die fliehenden 
Stirnen der jugendlichen Westmenschenaffen. Die kurzen 
Beine der Orangfoeten, die längeren Beine der Schimpansen- 
foeten erinnern, wie Verfasser fand, an die Kurzbeinigkeit der 
Ostasiaten und die extreme Langbeinigkeit vieler Negerstämme, 
die bereits in der Foetalperiode ausgesprochen ist. Mit diesen 
wenigen Ähnlichkeiten ist, soweit Verfasser suchte, alles er- 
schöpft, was als Ähnlichkeit der Menschenaffenzweige mit 
solchen von Menschenrassen angeführt zu werden verdient. 
In allen übrigen Punkten, die einen Menschenaffen von 
einer Menschenrasse unterscheiden, ist damit zugleich ein 
Unterschied gegen alle Menschenrassen überhaupt gegeben, 
obwohl erst nach eingehenderer Untersuchung aller Organ- 
systeme ein sichereres Urteil sich wird fällen lassen als heute 
möglich ist. So ist die Großzehe aller Orangs nagellos, aber 
nicht die Großzehe irgend einer Menschenrasse, so fehlen, wie 


206 Friedenthal: Über die Wahrscheinlichkeit der polyphylet. Abstammung 


Studienrat Weinert fand, allen Orangarten und Hylobatesarten 
die Stirnhöhlen, die allen übrigen Ostaffen und auch allen 
Menschenrassen zukommen. Der Pithecanihropus soll starke 
Stirnhöhten aufweisen wie alle Menschenarten. Als Regel 
können wir heute bereits aussprechen, daß Unterschiede einer 
Menschenaffenart gegenüber einer Menschenrasse zugleich 
Unterschiede gegenüber allen Menschenrassen bedeuten, Nach 
unseren heutigen anatomischen Kenntnissen haben wir kein 
Recht die hypothetischen Ahnenstufen des Menschen mit den 
heutigen Menschenaffen in nähere Beziehung zu bringen, wenn 
auch eine eingehende nochmalige Prüfung der wichtigen Frage 
der verschiedenen Menschenaffenähnlichkeit verschiedener 
Menschenrassen durchaus vom Verfasser empfohlen werden 
soll, da doch einige wenige Hinweise vorliegen. Namentlich 
die Untersuchung von Menschenrassefoeten und Menschen- 
affenfoeten, von denen Verfasser einige wenige Exemplare er- 
halten konnte, versprechen hier neues Licht und vielleicht eine 
Entscheidung zu bringen. Die Frage nach der polyphyletischen 
Abstammung des Menschengeschlechtes ist nach Ansicht des 
Verfassers unabhängig von dem Bau der heutigen Menschen- 
affen ebenso umstritten, wie die Frage nach der Abstammung 
irgend einer anderen Lebewesenart, namentlich der verschiedenen 
Affenarten, von denen wir bei keiner Art etwa mehr wissen, 
als von der Abstammung des Menschen. Vielleicht verhilft 
die Anschauung vom Erbmassennetzwerk der Lebewesen 
zu einer klareren Einsicht von der Blutsverwandtschaft aller 
Lebewesen im Erbnetz der Vergangenheit an Stelle der häufig 
allzustreng monophyletisch gefaßten Hypothesen. 





208 Rutgers: Das Sexualleben als Evolutionsfaktor 


Da fragt man sich erstaunt, wie kann das Sexualleben, 
das doch unsere höchste Entwicklungsstufe darstellt, so weit- 
gehende Analogien mit Krankheitserscheinungen darbieten? 
Wer findet hier den Leitfaden, um uns aus diesem Labyrinth 
herauszuhelfen? 

Die Natur ist immer und überall voll von den schroffsten 
Widersprüchen und Gegensätzlichkeiten, die sich dann später 
wieder harmonisch, wenn auch nicht immer nach unserm 
Geschmack, lösen. Werden und Vergehen, Aufbau und Ab- 
bau, Evolution und Regression gehen immer Hand an Hand, 
bedingen sich sogar gegenseitig. 

So finden wir auch, namentlich bei den vielzelligen 
Organismen, einen biologisch sehr tiefliegenden Gegensatz 
zwischen dem vegetativen Wachstum (der Bildung von Zellen, 
die aneinander verkettet bleiben) und dem sexuellen Wachs- 
tum (der Bildung von Einzelzellen).. Das vegetative Wachs- 
tum ist weitaus das mächtigere, und ermöglicht bei den 
Pflanzen wie bei vielen niedrigen Tiergattungen eine fast 
unbedingte Vermehrung der Internodienzahl, resp. der 
Gliederzahl. Und doch gibt es Fälle, wo es schließlich 
stockt. Sobald die Bäume zu hoch, die Zweiglein zu lang 
werden, sobald Wasserpflanzen und Schimmelfaden die Grenze 
ihres feuchten Mediums erreichen, sobald bei den höheren 
Tiergattungen mit ihrer in sich selbst abgeschlossenen Körper- 
form die Grenze der Wachstumsmöglichkeit etwa erreicht ist, 
ist das normale vegetative Weiterwachsen eine Unmöglich- 
keit geworden, und wenn dann doch noch genug Energie- 
vorrat aufgespeichert ist, kann diese nur in einem modifizierten 
Wachstumsmodus zum Ausdruck kommen. 

Unter abnormaler Kernteilung bilden sich jetzt Einzelzellen, 
die dann bald massenhaft abgestoßen und ausgestreut werden, 
und die wir deshalb Fortpflanzungszellen nennen. Immer 
handelt es sich dabei erst um eine abnormale Wucherung 
als Ausdruck der noch vorhandenen Wachstumsenergie: eine 
Pinselbildung beim Penicillium glaucum, eine Tumorbildung 
bei den meisten Pilzen, eine Blüteknospenbildung bei den 
Pflanzen, eine Testes- und Ovarienbildung bei den höheren 
Tiergattungen. Alles abnormale Wucherungen, die schließlich 
in ihre Einzelzellen (Sporen oder Befruchtungszellen) aus- 
einanderfallen. Geht hierbei auch in vielen Fällen das 


Tafel Il 











н Weinende Bauernbraut. 
P Zum Aufsatz Reitzenstein. 
p. 





Tafel Il 











Keuschheitsgürtel v. P.Flötner (geb. zirka 1493, 7 Nürnberg 23. Okt. 1546. 
Zum Aufsatz Reitzenstein. 


Rutgers: Das Sexualleben als Evolutionsfaktor 209 


Individuum zugrunde die Fortexistenz der Gattung ist dann 
doch verbürgt. 

Dieser abnorme Wachstumsvorgang ist als ein Rück- 
schlag, ein Atavismus zu betrachten, wie in der Urperiode 
des organischen Lebens alle Organismen einzellig waren. 
Damals ist erst durch üppiges Wachstum die Bildung von 
vielzelligen Organismen ermöglicht; kein Wunder also, daß, 
sobald dieses Wachstum zu sehr gehemmt wird, das einzellige 
Stadium wieder auftritt. Wenn dann aber nachträglich diese 
Einzelzellen wieder in üppige Lebensbedingungen versetzt 
werden, z. B. indem die Sporen nach einem besseren Stand- 
ort auswandern, oder die Befruchtungszellen nach einer Energie 
verdoppelnden Zusammenschmelzung im mütterlichen Organis- 
mus günstige Bedingungen finden, fängt wieder ein neues 
vielzelliges Stadium an sich auszubilden, aber jetzt mit 
günstigeren Bedingungen und besserer Aussicht auf Erfolg. 
So geht es immer periodisch weiter. Beide Phasen, die 
vegetative vielzellige und die sexuelle einzellige Phase, mit 
ihren gegensätzlichen Lebensbedingungen und ihren gegen- 
sätzlichen Vorzügen, ergänzen sich wechselseitig. Es ist dieser 
periodische Wechsel die schönste Stufenleiter der Evolution. 

Anfangs mag das erste Auftreten dieser sexuellen Wachs- 
tumsmodifikation eine seltene Ausnahme gewesen sein, etwa 
wie eine Krankheitserscheinung infolge der genannten Wachs- 
tumshemmung. Weil aber die höheren anspruchsvolleren 
Gattungen früh oder spät immer an einen Punkt kommen, 
wo dem vegetativen Wachstum ein Ziel gesetzt wird, so ist 
auch mit der Zeit die sexuelle Reaktion gegen diese Hemmung 
immer mehr etwas wesentlich normales geworden. 

Jeder Evolutionsfaktor ist ja der daran vorangehenden 
Norm gegenüber anfangs als etwas abnormales zu betrachten; 
von Krankheit aber reden wir nur dann, wenn wir die Nach- 
teile hervorheben wollen. Hier darf man also jetzt nicht mehr 
von einer Krankheitserscheinung reden. In der alten Medizin 
nannte man einen so schroffen Übergang: eine Krise. So hat 
man auch hier an den Wendepunkten jedesmal abwechselnd: 
die sexuelle Krise als Übergang vom vielzelligen zum ein- 
zelligen Stadium, und dann wieder die Geburtskrise, sobald 
der vielzellige Organismus wiederum an die Öffentlichkeit tritt. 

Nur so läßt sich das sexuelle Phänomen mit seinen 

14 


210 Rutgers: Das Sexualleben als Evolutionsfaktor 


schroffen Gegensätzen zum vegetativen Wachstum recht ver- 
stehen. Anstatt bei jeder Hemmung rettungslos unterzugehen, 
wird die Gattung jedesmal wie von Anfang an neu geschaffen, 
jedesmal wieder besser angepaßt, jedesmal höher hinaufgezüchtet. 
Und weil es sich bei jeder Gattung erst im erwachsenen 
Lebensalter verwirklichen kann, ergänzt uns das Sexualleben 
in der Natur durch seine unendliche Formverschiedenheit und 
seinen Farbenreichtum. 


Auch für das Individuum selbst, das von der sexuellen 
Katastrophe befallen wird, hat dieses Ereignis eine alles über- 
wältigende Bedeutung, gerade deshalb, weil das Sexualleben 
in einem so schroffen Widerspruch zum vegetativen Leben 
steht. Hierüber noch ein paar Worte. Unser Körperwachs- 
tum ist dann im Großen und Ganzen vollendet, aber wie 
können jetzt diese Einzelzellen hinausbefördert werden? Hier 
stößt man auf Widerstände, die kaum zu bewältigen sind. 
Dieser zarte Prozeß verlangt die gegenseitige Unterstützung 
und Anregung eines Partners. Das erheischt dann wieder 
einen ganzen Aufwand von geistiger Anstrengung, von Sehn- 
sucht, von Liebe. Von jetzt an heißt es, sich dafür eine Zu- 
kunft, eine Existenz zu schaffen. 

So führt uns die sexuelle Krise zum Gipfelpunkt unserer 
Lebensenergie; so wird sie die Urquelle aller ritterlichen, 
aller altruistischen Tugenden, was aber nicht ohne schweren 
Kampf einhergeht. Je höher wir uns unsere Ideale stellen, 
umsomehr Entsagung und Selbstbeherrschung muß vorangehen, 
bevor wir es so weit bringen können, und erinnert uns dann 
auch wieder jedesmal so recht an den schroffen Gegensatz 
des Sexuellen und des Vegetativen. Gelingt es uns aber da- 
durch, unserm Ideale näher zu kommen, dann führt uns das 
Sexualleben zur höchsten Wonne. 


ISS 


Fehlinger: Die Kinderehe in Vorderindien 211 


DIE KINDEREHE IN VORDERINDIEN. 
Von H. FEHLINGER, Mitglied des Intern. Arbeitsamtes in Genf. 


Кит sind bei den Naturvölkern sehr häufig, 
aber es ist bei ihnen doch selten, daß Kinder als rechtliche 
Ehegatten gelten. Dagegen ist die förmliche Kinderehe in 
Vorderindien weit verbreitet. Nach den Ergebnissen der letzten 
Volkszählung waren von je 100 bis fünfjährigen Hindumädchen 
zwei verheiratet, von den Hindumädchen der Altersklasse 
5 bis 10 Jahre 14 von 100 und von jenen der Alterklasse 
10 bis 15 Jahre schon 47 von 100. Die entsprechenden 
Zahlen für die gleichalterigen Hinduknaben sind 1, 5 und 17 
von 100. Auch bei den Mohamedanern Indiens ist die Kinder- 
ehe in bedeutendem Umfange Brauch und sie kommt selbst 
bei den Christen vor. Von den indischen Christenmädchen 
waren ehelichen Standes in der Alterklasse bis 5 Jahre 0,4, 
in der Klasse 5 bis 10 Jahre 1,6 und in der Klasse 10 bis 15 
Jahre 11,6 von 100. In Betracht kommt dabei auch, daß die 
Mehrheit der indischen Christen im Süden der vorderindischen 
Halbinsel ansässig sind, wo die Kinderehen bei der Bevölkerung 
überhaupt verhältnismäßig weniger Brauch sind. 

Die regionalen Unterschiede in der Häufigkeit der Kinder- 
ehe sind auffallend. So gut wie unbekannt ist sie im äußersten 
Westen, nämlich in der Nordwestgrenzprovinz, in Belutschistan 
und in den zur Provinz Bombay gehörigen Landschaft Sind- 
Gebieten, wo der Islam die herrschende Religion ist und wo 
die sozialen Einrichtungen des eigentlichen Indien bisher nicht 
Fuß zu fassen vermochten. Die Kinderehe ist ferner unbekannt 
in Birma, in Assam, in den südindischen Eingeborenenstaaten 
in Kotschin, Travancur und Maisur und in dem kleinen 
Gebiet Kurg. 

Es kommt bei den Hindu sogar vor, daß noch ungeborene 
Kinder förmlich verheiratet werden. J. A. Sauter („Mein Indien“, 
Leipzig 1921), schreibt diesbezüglich: Wenn eine Frau 
schwanger geworden ist, sucht der Mann unter den Kasten- 
genossen nach einer Frau, die sich im gleichen Zustand be- 
findet. Nach der Erledigung des geschäftlichen Teils wird die 
Hochzeit mit allen Zeremonien vollzogen, und das noch nicht 
auf der Welt erschienene Brautpaar wird durch zwei im Hoch- 
zeitsstaat geschmückte Puppen vergegenwärtigt. Da sich das 

14* 





212 Fehlinger: Die Kinderehe in Vorderindien 


Geschlecht des Kindes vor der Geburt nicht feststellen läßt, 
ist die Hochzeit eine „bedingte“, d. h. wenn das Kind der zweiten 
Frau vom selben Geschlecht ist, so sind die Zeremonien un- 
gültig und der Vater des Knaben wiederholt die gleiche Spe- 
kulation bei einer anderen Frau. 

Bei den noch nicht dem Einfluß des Hinduismus unter- 
worfenen Drawidenvölkern Indiens ist die Kinderehe unbekannt. 
Wird aber ein Drawidenstamm hinduisiert, so muß die vordem 
bestandene voreheliche Freiheit restlos aufgegeben werden und 
man sucht die Tugend der Mädchen damit zu schützen, daß 
dieselben vor Eintritt des Geschlechtstriebes verheiratet werden, *) 
also bevor sie die Möglichkeit zu vorehelicher Hingabe haben. 
Damit stimmt die Tatsache überein, daß die Kinderehe im 
Kontaktgebiet der Rassen am häufigsten ist, und daß ihr die 
unteren Kasten mehr zugetan sind als die höheren. Die Aus- 
breitung der Kinderehe mag durch andere Faktoren noch be- 
günstigt worden sein, wie z. B. durch das Verbot der Verhei- 
ratung von Witwen, durch welches das ohnehin schon be- 
stehende Mißverhältnis in der Zahl der geschlechtsreifen, heirats- 
fähigen Personen beider Geschlechter noch vergrößert wird. 
Es sind viele heiratslustige Männer in Gefahr, keine Frauen zu 
finden; um nicht zeitlebens ledig bleiben zu müssen, sichern 
sie sich Gattinnen, die noch nicht geschlechtsreif sind. 


*) Dies ist sicherlich nicht Grund der Frühehe; sondern der Glaube, 
es sei Sünde, wenn beim Mädchen die erste Ovulation ohne Gelegenhtit 
Mutter zu werden verläuft. Es ist dies eine religiöse Vergewaltigurg 
des Volkes, wie solche ja auch bei uns nicht selten sind. 

Die Schriftleitung. 


Reitzenstein: Betrachtungen über das L’ebesleben 213 


BETRACHTUNGEN ÜBER DAS LIEBESLEBEN IN 
DER ZEIT DER RENAISSANCE UND DER PERIODE 
DER GALANTEN. 

Von FERD. FRHR. VON REITZENSTEIN, Dresden. 
(Fortsetzung. 

III. Hochzeiten. 

a) In der Zeit der Renaissance. 

р“ Heiratszeremonien sind zumeist noch dieselben wie im 

Mittelalter oder auch zum Teil wie in noch älterer Zeit; 
das Volk hängt ja zähe an seinen alten Sitten und Gebräuchen. 
Freilich sind sie längst zu unwesentlichen Momenten der 
Eheschließung geworden, ihr Sinn ist den Beteiligten bereits 
dunkel, oder man hat gar versucht, ihm eine andere Bedeu- 
tung aus den neuen Zeitverhältnissen heraus zuzuschreiben. 
In den Kreisen der Vornehmen ist in der Renaissanceperiode 
auch ein guter Teil alter Sitten bereits als „gewöhnlich“ ab- 
gestreift oder durch fremdländische Züge, die dem Deutschen 
ja immer „vornehmer“ dünkten, ersetzt worden. Erhalten 
haben sich überhaupt in allen Bevölkerungsschichten nur jene 
Gebräuche, die entweder an die staatliche oder die kirchliche 
Eheschließung anknüpfen. Die größte Menge alten Gutes ist 
daher am deutlichsten in den konservativen Kreisen, dem Adel 
und dem Bauernstand geblieben, während der Mittelstand sich 
gewöhnlich nur auf das Wesentlichste beschränkt, teils, weil 
er sich erhaben dünkte über die alten Sitten, teils, und das ist 
der Hauptgrund, weil ihm häufig Zeit und Geld fehlte, um die 
teilweise kostspieligen Gepflogenheiten mitmachen zu können. 
Am beliebtesten sind natürlich alle jene Sitten geblieben, die 
mit der Mahlzeit zusammenhängen, während die alten Frucht- 
barkeitsriten der Prüderie zum großen Teil erlegen sind, 
da man anfing, sie für „unsittlich“ zu halten. Am gefährlichsten 
war ihnen die Zeit der sogenannten Aufklärung und 
des Protestantismus gewesen; besonders die reformierte 
Kirche streifte alles ab, was ihrer „Vernunftehe“ widersprach. 
So sind es denn zumeist Listen der reichen Ausstattung der 
Braut oder Schilderungen von Gelagen, die wir überkommen 
haben. 

Die Ehen jener Zeit dienen sehr bestimmten Zwecken. 
Zunächst waren meistens Kinder ganz erwünscht, und wir 


214 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 


sind überrascht, wie ungemein kinderreich sie im allgemeinen 
waren. 12 Kinder ist, wenn auch nicht gerade Durchschnitts- 
zahl, so doch sehr häufig, und Ehen mit 20 oder 24 Kindern 
werden da und dort erwähnt. Guarinonius schreibt 1610 ein- 
mal etwas derb: „Unter hundert kinderträchtigen Weiber nit 
zwey onzeitlich verrecken, deren Todt nit auß oberfressen in 
der Kindelbette verursacht und sein Ursprung genommen 
haben. Dann obschon der mehrer Haufen ober 20 bis auf 
28 mal im Tag und Nacht frist, so seyn doch unter den 
schwächeren und ärmeren oder auch edlen und verständigen, 
die vmb 8 mal weniger essen.“ Man glaubte nämlich durch 
dieses immense Essen — das die derbe Schilderung recht- 
fertigt — die gefährlichen Folgen dieser vielen Geburten aus- 
gleichen zu können. Dieser Familienreichtum und das an sich 
kostspielige Leben jener Zeit begünstigte die Geldheiraten 
besonders sehr auf Kosten der anderen, für eine ähnliche Wahl 
maßgebenden Faktoren. Es gilt dies nicht nur für die fürst- 
lichen und adligen Ehen, sondern in ähnlich hohem Grade 
auch für das Bürgertum und noch mehr für den Bauernstand. 
Allgemein wird vor Bettelheiraten gewarnt, denn aus solchen 
Ehen könnten nur wieder Bettler hervorgehen, die den Schelmen, 
Dieben, Räubern und Mördern Zuwachs geben würden. Becher 
fordert bereits 1703, daß die Mädchen eine genügende Mitgift 
haben müßten, wenn die Einnahmequellen des Bräutigams zur 
Ernährung einer Familie nicht ausreichten. 

Ehen wurden oft sehr früh eingegangen, aber wir dürfen 
doch ohne weiteres annehmen, daß dies nicht die allgemein- 
giltige Sitte war. Weniger wird uns das jugendliche Alter 
der Nupturienten in Italien wundern, wo man auch heute 
12—13 jährige Mütter genug findet. Vernünftige Eltern ließen 
jedoch wenigstens den Vollzug der Ehe nicht allzufrüh zu; 
so verweigerte dies die Mutter der 11 jährigen Constanza von 
Mantua 1743. Dagegen erfahren wir, daß Girolamo Riario 
seine Verbindung mit der 10 jährigen Catarina Sforza tatsächlich 
vollzog, daß ferner Santi Bentivoglio die 12 jährige Ginevra, 
die Tochter des Alessandro Sforza, 1454 heiratete, und daß 
Ludovico Gonzaga sich 1433 mit der 10 jährigen Barbara von 
Brandenburg vermählte, die ihm 11 Kinder schenkte; freilich 
wurde das erste, ein Knabe, erst 1440 geboren. Daneben 
stehen reine Kinderheiraten aus politischen und ähnlichen 


Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 215 


Gründen, bei denen von einem wirklichen Vollzug natürlich 
nicht die Rede sein kann, wenngleich anzunehmen ist, das 
sexuelle Beziehungen oft nicht fehlten. So wurden die etwa 
8—9jährigen Kinder Giangaleazzo Visconti und Isabella von 
Valois vermählt, während die Heirat des Giovanni Franz 
Maria della Rovera mit der 10 jährigen Leonora Gonzaga 1505 
durch Prokura geschlossen ward. Die Heirat der Tochter des 
Cesare Borgia mit Frederigo von Mantua wurde verabredet, 
als dieser 2 Jahre alt war, während das Mädchen erst einige 
Monate zählte, also ein Fall von Kinderverlobung. Große 
Altersunterschiede in meist aus finanziellen Gründen ge- 
schlossenen Ehen sind uns ebenfalls bezeugt. Der etwa 
80 jährige Augsburger Kürschner Emler fand z. B. 1521 ein 
19jähriges Mädchen, das ihm die Hand reichte, während 
Hermann von Weinsberg als 30jähriger Mann eine 36 jährige 
Witwe heiratete. Er begründete diesen Schritt mit folgender 
Notiz: „Dieweil ich auch 30 jar alt war, wolte ich gein jong- 
frau nemen von 20 jarn, dan mich duchte, das sulte sich besser 
schicken, das der man jonger wern dan die Frau, vir ursache 
mich darzu bewegende.“ Diese wissen wir nicht alle, es ist 
uns nur bekannt, daß er mit einem Bruchleiden zu tun hatte. 

Betrachten wir zunächst nun einige Eheschließungen, 
wie sie in fürstlichen und adligen Kreisen gebräuchlich 
waren. Es war im Juni 1585, als zu Düsseldorf die Ver- 
mählung des Herzogs Wilhelm III. von Jülich-Kleve und 
Berg mit Jakobäa, der Tochter des Markgrafen Philibert 
von Baden, stattfand. Düsseldorf hatte sich alle Mühe gegeben 
und wollte es besonders den fremden Gästen gegenüber an 
nichts fehlen lassen, „nicht allein zur notdurfft, sondern zum 
Oberfluß und vollust“. Die Braut selbst fuhr mit ihrem Ge- 
folge zu Schiffe den Rhein herab und zog am 15. Juni in einem 
Gutzwagen (sechsspännige Kutsche) in Düsseldorf ein, emp- 
fangen vom Donner der Kanonen. Der Herzog selbst er- 
wartete sie vor dem Tore und führte sie in festlichem Umzuge 
durch die reichgeschmückten Straßen seiner Hauptstadt nach 
dem Schlosse, wo sie von den Schwiegereltern begrüßt wurde. 
Man führte sie sogleich in die für sie bestimmten Gemächer. 
An den Wänden hingen Teppiche, auf denen Bilder dargestellt 
waren, „so zur ehelichen Lieb’ am meisten und vornehmlich 
gehörig“, d. h. mythologische Szenen, die in bekannt freier 


216 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 


Weise geschlechtliche Dinge behandelten. So verging der 
erste Tag. Gegen Abend des nächsten ging die ganze Gesell- 
schaft mit dem Brautpaare nach der Schloßkapelle, wo die 
Trauung vollzogen wurde. Den Zug eröffnete eine Reihe 
Musikanten, denen etwa ein Dutzend Edelleute mit Wachs- 
fackeln in den Händen folgten; hinter diesen kam die reich- 
geschmückte Braut, die ein goldenes Krönchen im ge- 
scheitelten Haare trug. Die kirchliche Handlung wurde durch 
eine lange Predigt eingeleitet, dann nahm der Geistliche aus 
der Hand des Bräutigams einen goldenen Ring, den er der 
Braut an den Finger steckte, während er von dieser einen 
Kranz bekam, den er dem Bräutigam aufsetzte. An diese 
Zeremonie schloß sich die Einsegnung, die durch Trompeten 
und Pauken nach außen verkündet wurde, und ein Tedeum. 
Wie stets, beeilte man sich zum Festmahl zu kommen, bei 
dem Edelleute in spanischen Mänteln unter Führung des Hof- 
marschalls die Speisen auftrugen. Nach beschlossener Tafel 
schritt man zum Tanz, den das Brautpaar eröffnete, „denen 
man mit Flambos vor- und nachtanzte“. Dann ging man 
in ein weiteres Gemach, in dem ein Schauessen aus Zucker- 
gebäck aufgestellt war, das einen Garten mit Bäumen, Felsen, 
Wasserfällen, Flüssen, Burgen und den verschiedensten Tieren 
darstellte. Man brach sich davon Stücke ab und aß sie, 
Unterdessen war es Zeit zum Vollzug der Ehe geworden; 
das junge Paar wurde in die Hochzeitskammer geführt. Wie 
stets erfolgte am nächsten Morgen die Regelung der Morgen- 
gabe und der Hochzeitsgeschenke, während für die Gäste 
eine Reihe von festlichen Tagen, mit Gastmählern, Ringelrennen, 
Tänzen, Maskeraden und Feuerwerk sich anschloß. Diese 
Beschreibung enthält das Wesentlichste der damaligen Ehe- 
schließung, in der wir noch viele alte Züge, so den Brautzug, 
den Fackelzug, den Feuertanz und das Brautessen usw. be- 
obachten können, alles freilich gänzlich verflacht und durch 
die kirchlichen Zeremonien in den Hintergrund gedrängt. 
Durch andere Hochzeitsfeste läßt sich das Bild ergänzen. 
Die Werbungen sind meist sehr umständlich gewesen, so er- 
zählt uns J. Chr. Wagenseil (1653 bis 1705) Näheres darüber 
vom Wiener Hof. Der heiratslustige Herr ist verpflichtet, 
zunächst bei der Anstandsdame seiner Auserwählten um das 
Recht zu bitten, dieser aufwarten zu dürfen. In der Ge- 


Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 217 


währung dieser Bitte liegt eigentlich auch schon die bejahende 
Antwort selbst. Damit hat er bereits große Verpflichtungen 
übernommen. Er beschenkt die Dame mit einem reichen 
Kostüm, ebenso wie er jedem ihrer Diener eine Livree be- 
schaffen muß. Daß er Blumen schickt und dabei sich täglich 
nach ihrem Wohlbefinden und ihrem Vorhaben erkundigt, ist 
selbstverständlich; daß er ihr gegenüber sich besonders galant 
zeigen muß, ebenfalls. Freilich mutet uns das oft sonderbar 
an, so z.B. daß er mit bloßem Haupte neben ihrem Wagen 
reiten soll, während sie zur Kirche fährt, oder daß er sich dort 
selbst zu Gaste bittet, wo sie eingeladen wurde, und ihr vor- 
legt, was übrigens österreichische Sitte war. Er hält ihr auch 
stets einen Teller unter das Glas, wenn sie trinkt; nur er allein 
darf auf ihre Gesundheit trinken usw. Diese Werbungszeit 
dauert wenigstens 3 Monate und wird recht kostspielig, denn 
er „muß seiner Liebsten schicken Galanterien auff einer großen 
silbern Tatzen (Tablett) als etl. paar seidene Strümpfe, Seiden 
Zeug, Band, Handschuh, 12 Fecker, Spitzen, Kammertuch und 
was er meinet, das ihr angenehm sey. Nun Kommets auff, 
daß die Hern alle tage ein present schicken, da doch Keins 
wird unter 100 Thlr. kommen, Silbern und Golden geschmeide, 
als Armbänder, Ohrengehenke von Edelsteinen“. Recht originell 
ist wieder, daß er ihr Zimmer tapezieren lassen muß, einen 
Pagen, zwei Lakeien, Kutscher und Vorreiter annimmt und ihr 
einen Wagen schickt, zu dem 7—8 Pferde gehören. Rückt 
dann der Tag der Hochzeit heran, dann versammelt der 
Bräutigam seine Freunde; sie fahren abends 9 Uhr zur Kirche, 
wo sie die Braut erwarten; diese sowohl wie der Bräutigam 
sind in Weiß gekleidet. Bei anderen Hochzeiten werden 
bei diesem Kirchenzug wieder Fackelträger erwähnt. Bei 
den Wiener Hochzeitsgebräuchen des Hofes erscheint dagegen 
der Ehrentanz mit 12 Fackeln nach dem Mahle; es sind 
Hofkavaliere oder Generale, die sie tragen, während Wagen- 
seils Bericht sagt, daß der Brautführer mit 2 Fackeln den 
Ehrentanz eröffnet, dem das Brautpaar folgt. Die Mahl- 
zeiten waren nach unserer Auffassung unmenschlich üppig; 
sie paßten vollständig zu dem stark entwickelten Geschlechts- 
leben. Guarinonius erzählt uns von einer adligen Hochzeit, 
bei der im Hause des Bräutigams 7 Tafeln aufgestellt waren, 
auf jede kamen 4 Trachten zu je 13 Gerichten. Zweimal des 


218 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 


Tages aß man so reichlich, und die Hochzeit währte 2 Tage. 
Von einer freiherrlichen Hochzeit erzählt er, daß es 3 Gänge 
gab, jeder zu 100 Gerichten „außer der Nachwehen und Nach- 
richten des Confekts und Geschleck’s, so auch hundert waren“. 
Da dabei auf einem Tisch kaum 50 Gerichte untergebracht 
werden konnten, mußten die übrigen von Dienern in der Hand 
gehalten werden! In Italien waren die Feierlichkeiten eigent- 
lich noch glänzende. So sind wir näher unterrichtet über 
die Vermählung der Lukrezia Borgia (die 1478 oder 1480 
geborene Tochter des Papstes Alexander VI.) mit Alfonso 
von Este, die am 20. Dez. 1502 stattfand. Schon als die 
Verlobung bekannt geworden war, ritt Lukrezia in reichem 
Gefolge nach der Kirche, während von der Engelsburg die 
Kanonen donnerten, und alle Glocken der ewigen Stadt läuteten. 
Am Abend wurde ein großes Feuerwerk abgebrannt. Während 
des ganzen Tages ritt ein Schauspieler durch die Straßen und 
rief: „Viva illustrissima Duchessa di Ferrara, viva Papa Alessandro, 
vivi!“ Die eigentliche Hochzeit wurde durch Prokuration 
vollzogen, die der Bruder des Bräutigams, Don Fernando, 
vollzog. Lukrezia selbst war im großen Gefolge zum Vatikan 
gekommen, wo ihr Vater, Papst Alexander, die Trauung voll- 
zog. Dann setzte sich dieser aneinen Tisch in der MittedesZimmers, 
zu seiner Rechten stand die Braut, zur Linken Don Fernando, 
der dem Papste den Ring reichte, während ihn dieser seiner 
Tochter ansteckte. Danach trat Kardinal Ippolito d’Este vor 
und gab ihr noch vier andere kostbare Ringe sowie ver- 
schiedene wertvolle Schmucksachen, deren Wert auf 
10000 Dukaten angegeben wird. 15 Brautjungfern hatten sie 
bekleidet, und der Luxus der Kostüme soll enorm gewesen 
sein. Ihr eigenes Brautkostüm bestand aus einem Überkleid 
von Goldfadengewebe, mit offenen französischen Ärmeln; da- 
runter eine Weste aus purpurner Seide, mit Hermelin besetzt. 
Auf dem Hinterhaupte hatte sie auf das zurückgestrichene, bis 
auf die Schultern herabfallende Haar, das eine dünne schwarze 
Schnur zusammenhielt, eine dunkelrotseidene Kappe gestülpt, 
die mit Goldfäden durchwirkt war. Ein Halsband aus riesigen 
Perlen mit einem kostbaren Anhänger schmückte ihren Hals, 
Am Abend fand in Lukrezias Palast ein glänzender Ball statt, 
der bis gegen Tagesanbruch währte.e Truppenparaden und 
Manöver fanden statt, bei denen 5 Mann getötet wurden; dann 


Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 219 





ein Turnier mit Schwertern und Schilden. Einige Tage später 
fand die Reise nach Ferrara statt, während Lukrezias Gatte 
sich verkleidete und sie mit einigen Freunden überraschen 
wollte. Maskeraden spielten auch anderwärts eine große Rolle. 
Da das Beilager, ursprünglich vor der Öffentlichkeit voll- 

zogen, später nur markiert wurde, so lag es nahe, etwas von 
der Prachtliebe jener Zeit auf die Betten zu verwenden. Im 
allgemeinen brachte der Brautvater den in „Nachthabit“ um- 
gekleideten Bräutigam vor das Bett der Braut, wo noch eine 
Rede gehalten wurde. In einer Druckschrift von 1599 wird 
das damals übliche Beilager folgendermaßen geschildert: 

„Rheingraff Ottho führt die Braut hinauff mit fleyß 

In jr gezimmer hüpsch und weyß. 

Da wartet sie, bis zu jr kam 

Der junge Herr und Bräutigam 

Mitt allen Fürsten, Graffen, Herren, 

So folgen theten willig gern. 

Vor jnen her Trommeter bliesen, 

Die stark in jre Pfeifen stiessen. 

Als nun der Hochborn Bräutigam 

Hinauff in sein Schlafzimmer kam, 

Sein Manttel und Kranz legt von sich, 

Sein Wöhr und Ketten und gabs gleich 

Sein Hofmaister, solchs zu bewarn: 

Derseibig thet den fleyß nicht sparen. 

Als nun die Fürsten, Herren, Frawen 

Stunden in diesem Gemach zu schawen, 

Die zween Brautführer traten her 

Die Gsponß sie brachten höflich sehr 

Und legten sie hinein inns Bett, 

Jr weyssen Kleyder noch an hett. 

Dann legten sie den Bräutigam 

Zu seinem Gsponß also zusam, 

Die Döcker überschlagen thaten, 

Biß sie ein Weyl gelagen hatten. 

Gar bald sie wieder auffgestanden, 

Die Fürsten, Herren seind vorhanden, 

Wünscht jeder da für seinen theyl 

Dem Bräutigam und Braut vil heyl, 

Vil glücks und gutten segen reich 

Darnach lugt jeder, das er weich 

Und selber in sein Kammer kumb, 

An seinem schlaff auch nichts versumb.“ 


Die Hauptsache war selbstverständlich die Mitgift, und 
so sind denn auch alle Berichte, die wir über damalige Hoch- 


220 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 





zeiten haben, in erster Linie diesen hochwichtigen Ausfüh- 
rungen gewidmet. So wird uns über die Aussteuer der Lukrezia 
Borgia berichtet, daß sie mindestens einen Wert von 300 000 
Dukaten hatte und an Gold, Juwelen, Silber, Gewändern, Bett- 
wäsche allein einen Wert von 100000 Dukaten; jedes der 
200 Hemden der Lukrezia kostete 100 Dukaten (also in unserem 
Geldwert rund 5000 Mark!). Etwa 1000 Pferde und 200 Wagen 
dienten für den Hochzeitszug. In Deutschland war man zu- 
meist etwas sparsamer. Immerhin aber hatte die Prinzessin 
Anna bei ihrer Ehe mit Kurfürst Johann Sigismund von 
Brandenburg 1594 Schmucksachen im Werte von 14138 Mark 
mitbekommen. Interessant ist eine Notiz aus dem 16. Jahr- 
hundert, die einem Buche von Gräffer, „Historische Raritäten 
oder Magazin elterner Memoiren“, entnommen ist. Dort heißt es: 

„Meiner tochter Jutto habe ich, Hanns von Schibelin, zum schmucke 
an ihrem ehrentag gegeben: Einen rock von Damasden / einen rock von 
sammat, schwarz mit perlein gezieret ; ein bätbuch von blawen sammat 
mit gülden schloß / zwei gülden ringe mit köstlichen steinen, so ihrer 
seelig mutter zuhändig gewest / ein gülden Herzlein / ein paar gülden arm- 
spangen | eine schnur großer reiner Perlen umb den Hals und schön rot 
korallen umb die vom ebenfalls ihrer seeligen mutter geeignet | samptlich 
klare und starke leinewand von meiner secligen Frau wie auch ihre schön 
fein theuere Kanten Der bräutigam hat ihr verehrt: eine schnur gekrümter 
goldgülden / ein silbern Heft und knäuffel | zwei silbern schelenbänder an 
den arm / ein gürtel mit verplatten von silber und steinen | ein schlicht 
gülden ring mit edelgestein | ein schön gülden Kränzlein / ein parett von 
sammat | ein bunt gestreift seidenkleid unten mit filz ausstaffiert / eines 
von Damasden / ein durchsigtig Kleid von nesselgarn | ein paar schön 
schmal spitzige schuh zum tanzen | ein paar pantöflein von silberstuck | 
ein paar schön ausgenehet schnupftüchlein / ein schleier mit silberpreßli 
fein durchwürkt | ein gülden ring mit kruzifix. Ferner hat Jutto von ihrer 
schwieger als ein hochzeitsgeschenk bekommen: ein groß silbern trink- 
gefäß | eine sehr schöne spindel so gar kinstlich gearbeitet | ein wiegen 
so auf fünfzig und mehr gulden gekost und zwar anmutig zu schauen | 
ein groß fein tafeldecken. Nicht zu gedenken der vielen anderen und 
schönen und köstlichen geschenk, so ihr von den befreundeten und fremden 
hochzeitsgästen gemacht worden. Waren deren über hundert an der 
Zahl und haben auf die sechs tag lang banketiert narriert getanzt künst- 
lich Feuer geworfen und lustschierten gethan. Hab ich bei dissem ehren- 
mal nichts aufgespahrt und den ersten Tag wohl hundertley essen an- 
geschafft ohn die schauessen so gar schön und zierlich zugericht gewest, 
auch mein gantz vorrath von köstlichen rheinischen weine hergeben unter 
beständigem pauken und trometenschall. Auch sänger und reimer und 
stocknarren gehalten und ist mir alles theuer zu stehen kommen. Geschah 
alles meiner einichen tochter zu ehren und hab deß keine rew noch klag. 


Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 221 





um tag sibillä ist sie mit ihrem ehelich gemahl heimgezogen. Gott geb 
zur glücklichen stund!“ 


Dies ist, abgesehen vom unmenschlich reichlichem Essen, 
nicht übermäßig und wird durch die bürgerlichen Kreise, wie 
wir sehen werden, übertroffen. In Italien zeigten sich dann 


Orgie von Edelleuten und Edelfrauen. 


Abb. 1. 





auch bald die Folgen dieser oft recht schmutzigen Geldheiraten, 
da Mädchen ohne Mittel sitzen blieben. 

Das Bürgertum suchte eben hier wie auch sonst in jener 
Zeit den Adel nachzuahmen und verzichtete beklagenswerter- 
weise nur zu oft auf die einfacheren, aber besseren alten 


222 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 


Sitten. Besonders die Bürger der Reichsstädte, die als Patrizier 
vielfach mit dem Adel verschwägert waren oder von ihm ab- 
stammten, sorgten dafür, daß die Grenze verwischt wurde. 
So kam ein hohler Luxus einerseits und ein leerer heuchle- 
rischer Gesellschaftston andererseits in die gesündesten Kreise 
des Volkes, die die guten alten Sitten — gut trotz oder viel- 
leicht eben wegen ihrer offenen Derbheit — verdrängten und 
durch jene Heuchelei ersetzten, die noch heute den Grund- 
zug der sogenannten „guten Gesellschaft“ ausmacht. — Orgien 
nach innen, Moralpredigt nach außen, geht ja immer Hand in 
Hand. Jeder, der ihr anzügehören meint, glaubt unbedingt den- 
selben Luxus nachahmen zu müssen, wie ihn die mit Mitteln geseg- 
neten „tonangebenden“ Glieder der Gesellschaft vormachen, und 
richtet so sich und seine Umgebung zugrunde. Die Möglich- 
keit, den Wohlstand zu erhalten, entschwindet so dem Mittel- 
stande mehr und mehr und führt zu unbedingtem Untergang. 
Staatswesen, in denen einem absoluten Reichtum nur eine 
absolute Armut gegenübersteht, ohne daß der eigentlich kultur- 
tragende Mittelstand lebensfähig wäre, sind tot, unproduktiv 
und sterben ab. Dies war der Grund des Untergangs der 
alten Welt, dies ist der Grund der traurigen Lage Spaniens 
und soundso vieler anderer Länder und das scheint mehr und 
mehr das Ziel zu werden, dem wir zusteuern. Nicht zum min- 
desten bilden die Hochzeitssitten die Grundursache dieser höchst 
gefährlichen Erkrankung. Dies abzustellen, müßte die Haupt- 
aufgabe aller Sozialpolitik sein — das Mittelalter mit seinen 
Luxusgesetzen hatte dies eingesehen — und nicht die ein- 
seitige Hebung des Proletariats, die wertlos ist, wenn nicht 
vorher ein gesunder Mittelstand geschaffen wird, da sie vor- 
läufig auf dessen Kosten geschieht. 

Betrachten wir nun einige bürgerliche Eheschließungen. 
Die Schwester des Frankfurter Bürgers Job Rohrbach verlobte 
sich mit Karl Heuspurg. Es ergingen reichlich Einladungen 
zur Eheschließung (wenkauf oder hantschlag), und zwar wurden 
die Männer zwischen 12 und 1 Uhr nach der Barfüßerkirche 
bestellt, während sich die Frauen im Hause der Brautmutter 
versammelten. Als alles beisammen war, begaben sich auch 
die Männer ins Haus, und Johann Bruon gab das Paar zur 
„heiligen Ehe“ zusammen. Die Trauung fand am 1. Juli — 
die Verlobung war am 18. Mai — „in facie ecclesiae“ (also 


Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 223 


vor der Kirchentüre)*) um 8 Uhr morgens statt. Wir sehen 
hier also einen eigenartigen Streit zwischen der alten deutschen 
Eheschließung im Familienkreise und der kirchlichen 
Trauung. Man war gründlich und vollzog beide. Die alte 
Eheschließung verschmolz dann mehr und mehr mit den Ver- 
lobungsgebräuchen. Den Bräutigam geleiteten die beiden 
Brüder der Braut, diese die Mutter, die Schwiegermutter und 
zwei Freundinnen. Am 6. Juli wurde im Trierschen Münzhofe 











Abb. 2. Nürnberger Patrizierbraut mit Jungfer (nach Jost Amman). 


die Hochzeit mit Essen und Trinken gefeiert, und das Bei- 
lager vollzogen; aber erst am 9. Juli geht die junge Frau nach 
ihrer zukünftigen Wohnung, dem Fodenhof. Wir haben aber 
auch Hochzeitsbeschreibungen, die uns einen kaum glaublichen 
Luxus schildern. So heiratete, wie die Konstanzer Chronik 
erzählt, 1465 in Konstanz ein Diener des Bischofs eine Webers- 
tochter aus St. Gallen. Diese kam am 4. Febr. des Jahres 
zwischen 4 und 5 Uhr nachmittags mit 120 Pferden in Konstanz 


*) Vgl. Reitzenstein: „Liebe und Ehe im Mittelalter“. 


224 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 


an. Das Nachtmahl wurde im bischöflichen Palaste einge- 
nommen, während der Abend im Hause des Vaters des 
Bräutigams zugebracht wurde. Am nächsten Morgen zieht 
die Hochzeitsgesellschaft mit 2 Pfeifern, einem Trompeter, 
einem „Ruspfiff“, einem Lautenschläger und einem Geiger nach 
der Stephanskirche und hielt ihre Hochzeitsfeier im Palaste. 
Am folgenden Morgen essen sie zuerst beim Vater des Bräuti- 
gams, dann nochmals im Palaste.e. Noch luxuriöser war die 
Hochzeit des Augsburger Zinkenbläsers Baruch mit der Tochter 
des Bäckers Veit Gundlinger, die 1493 stattfand. Man speiste 
an 60 Tischen, an denen je 12 Gäste saßen, so daß 720 Personen 
geladen waren. Dieses Festessen dauerte 8 Tage, und man 
verzehrte: 20 Ochsen, 49 Zicklein, 500 Stück Federvieh, 30 Hirsche, 
15 Auerhähne, 46 gemästete Kälber, 900 Würste, 95 gemästete 
Schweine, 25 Pfauen, 1006 Gänse, 15000 Hechte, Barben, 
Aalraupen, Forellen und Krebse!! Entsprechend der Hochzeits- 
feier war auch die Ausstattung der Braut. Sie hatte 3000 Gold- 
stücke (= 150000 Mark Goldwährung in Vorkriegszeit, heute 
etwa 300 Mill. Papiermark!) in bar mitbekommen und trug ein 
Kleid, das aus lauter einzelnen Stücken farbigen Stoffes zu- 
sammengesetzt und mit blauer Seide geziert war; die einzelnen 
Nähte waren mit goldenen Spangen besetzt; den Saum des 
Oberrockes faßte eine breite Goldspange, während der Unter- 
rock mit köstlicher Arbeit gar fein genäht war. Um die Taille 
lag ein goldener Gürtel, und die Armbänder waren reich mit 
Edelsteinen besetzt. Die Strümpfe waren mit goldenen Fädchen 
gebunden, und die Schuhe mit Silberblech belegt. Der Bräutigam 
trug ein grünes Röcklein, große Schnabelschuhe und eine 
breite Goldspange um den Hut. Der Augsburger Kaufmann 
Lucas Rem, der am 30. Mai 1518 die Anna Echainin heiratete, 
hat folgende Rechnung seiner Hochzeitskosten aufgestellt, die 
wir heute für den Bürgerstand kaum mehr begreifen: 
eigene Kleidung 65 fl. 10 sch, 
Geschenk a. d. Frau 381 fl. 
yj b. d. Hochzeit 254 fl. 


Hochzeit selbst 222 fl. 
Ausgaben d. Braut 69 Я. 
991 fl. 10 sch. 


oder nach dem Geldwert vor dem Kriege etwa 50000 Mark. 
(Fortsetzung folgt.) 


Geschlecht und Gesellschaft 
Neue Folge XI, 8 





Tafel I 





Schalenförmige Brust 
(Nach einer Naturaufnahme a. d. Verlag der „Schönheit“, R.A. Giesecke, Dresden) 


Zum Aufsatz Fehlinger 





RASSENUNTERSCHIEDE 
DER WEIBLICHEN BRÜSTE. 

Von H. FEHLINGER (Mitglied des Intern. Arbeitsamtes Genf, mit 3 Tafeln.) 
р" Brüste sind das auffälligste der sekundären Geschlechts- 

merkmale des Weibes, die nicht nur ein von der Natur 
gegebenes Erkennungszeichen des Geschlechts bilden, sondern 
überdies den Nachweis für seine funktionelle Eignung zur 
Mutterschaft erbringen. Die Ausbildung der Brüste macht 
während des Lebens verschiedene Entwicklungszustände durch. 
Die erste Form ist die kindliche, wobei die Brustwarze sich 
in der Mitte des scheibenförmigen Warzenhofes mehr oder 
weniger deutlich erhebt. Dann wölbt sich infolge des Wachs- 
tums der Milchdrüse zuerst der Warzenhof empor, es entsteht 
die Brustknospe. Hierauf werden auch die umgebenden Teile 
halbkugelig emporgewölbt, die Brust rundet sich mehr und 
mehr und der Warzenhof sitzt ihr als kegelförmiges Hütchen 
auf. Das ist die Knospenbrust oder Mamma areolata. (Abb. 1.) 
Abgesehen von der Größenzunahme bleibt die Entwicklung oft 
auf dieser Stufe stehen, die Knospenbrust wird dauernd bei- 
behalten, was bei Europäerinnen und den Frauen der west- 
asiatischen Kulturvölker seltener der Fall ist als bei Frauen 


N /, 





Abb. 1. Kaespenbrust (Mamma areolata) 





226 Fehlinger: Rassenunterschiede der weiblichen Brüste 


farbiger Naturvölker, namentlich den Afrikanerinnen und 
Ozeanierinnen. Von den Japanerinnen und Chinesinnen ist 
das Bestehenbleiben der Knospenbrust bisher nicht bekannt 
geworden. Meist erreicht die Brust noch eine weitere Aus- 
bildungsform: Der Warzenhof senkt sich wieder, so daß er 
nicht mehr über den Fetthügel der Brust hervorragt, sondern 
in der Gesamtwölbung !derselben aufgeht. Das ist die reife 
Brust oder Mamma papillata. (Abb. 2.) 


W YJ 





Abb. 2. Reife Brust (Mamma papillata). 


Friedenthal (Beiträge zur Naturgeschichte des Menschen 
v. S. 259) fand, daß bei einzelnen Frauen die Brust je nach den 
äußeren Umständen die Form einer Knospenbrust oder einer 
reifen Brust annehmen konnte. Bei Erregung und Kälte sprang 
der Warzenhof in Form einer Knospe vor, bei Hitze und Er- 
schlaffung lag er im Niveau der übrigen Haut. Da der 
Warzenhof glatte Muskulatur besitzt, nimmt Friedenthal an, 
„daß die Form der Mamma areolata auf einem Dauertonus der 
glatten Muskulatur beruht, der bei den protomorphen Rassen 
(Naturvölker) jahrelang anhalten kann. Bei dem Tode der 


Fehlinger: Rassenunterschiede der weiblichen Brüste 227 


Trägerin einer Mamma areolata braucht der Tonus der glatten 
Muskulatur durchaus nicht zu verschwinden ... Wir werden 
annehmen können, daß die Warzenhofmuskulatur der xantho- 
dermen Rasse (Chinesen, Japaner) am wenigsten stark aus- 
gebildet ist und daß das rassenmäßige Tragen warmer Kleidung 
den Fortfall des Tonus der Warzenhofmuskulatur begünstigt.“ 
Friedenthal hält es für sehr wahrscheinlich, daß die wulstigen 
Negerlippen, als Anpassung an die ungefüge Form der Warzen- 
höfe der Mamma areolata der Negerinnen aufzufassen sind. 
Vom mechanischen Standpunkt sagt er, „geschieht das Saugen 
eines kleinen Europäermundes an der Mamma papillata sehr 
viel vollkommener, ebenso wie das Sprechen mit kleinem 
Munde mit geringerem Arbeitsaufwand erfolgt als mit großen 
wulstigen Lippen. Der Fortfall der Mamma areolata bedeutet 
bei Berücksichtigung der davon abhängigen Lippenbildung 
eine Begünstigung der Sprachbewegungen beim Gesäugten 
neben der Erleichterung des Saugens. Bei Europäerinnen 
finden sich wulstige Lippen und Anlage zu Mamma areolata 
häufig kombiniert, in manchen Fällen (Süditaliener) als Hinweis 
auf ehemalige Beimischung von Negerblut.“ 

Die Wölbung und Festigkeit, welche die Brust mit vollen- 
deter Reife erlangt, ist allzumeist nicht von langer Dauer. 
Schon nach der ersten Schwangerschaft tritt gewöhnlich eine 
Senkung und Festigkeitsabnahme ein und nach folgenden 
Schwangerschaften verliert die Brust mehr und mehr von 
ihrer Schönheit. Auch der Ernährungszustand ist von Belang. 
Bei Unterernährung setzt sich wenig Fettgewebe an, so daß 
die Brüste klein bleiben und wenig konsistent sind. Anderer- 
seits verlieren auch bei sehr starkem Fettansatz die Brüste bald 
und bleibend ihre schöne Form, namentlich wenn der Fett- 
ansatz schon in der Jugend auftritt, wie es bei Turkvölkern 
und Semiten (Westasien, Nordafrika) und bei den Chinesen 
häufig der Fall ist. Eine elastisch gespannte Haut ist der 
Bewahrung der guten Form der Brüste günstig. Wo Neigung 
zu frühem Faltigwerden der Haut besteht, wie bei den Busch- 
leuten, Hottentotten, dann Australiern und Indianern, dort 
werden die weiblichen Brüste am frühesten schlaff und faltig. 

Mitbestimmend für die Gestaltung der weiblichen Brust 
ist die Beschaffenheit des großen Brustmuskels (Abb. 3). Je 
kräftiger dieser Muskel ist, desto besser kommt auch die 

15* 


228 Fehlinger: Rassenunterschiede der weiblichen Brüste 





/ 


7 
5 N E 


N 
NY 


ZUM) T E: 


У \ 
A 


Abb.3. Reife Brust (Mamma papillata). 


Abb. 4. Brustformen (schalenförmig, halbkugelig, konisch, euterförmig). 


Rundung der darauf ruhenden Brustdrüse zum Ausdruck. 
Besonders aus diesem Grunde sind bei Völkern, deren Frauen 
Muskelarbeit leisten, die Brüste in der Jugend gut ausgebildet. 

In bedeutendem Maße ausschlaggebend für die Form der 
Brust ist das Verhältnis des Durchmessers ihrer Grundfläche 
oder Basis zum Höhen- oder Längendurchmesser. (Abb. 4.) 
Ist der Durchmesser der Grundfläche groß und der Höhen- 
durchmesser vom Brustansatz zur Warze gering, so ist die 
Brust schalenförmig. (Tafel I.) Diese Form kommt haupt- 
sächlich bei Europäerinnen vor; auch bei den Völkern der 
außereuropäischen Mittelmeerländer (Semiten, Hamiten usw.) 


Fehlinger: Rassenunterschiede der weiblichen Brüste 229 


ist sie noch verhältnismäßig häufig, ausnahmsweise trifft man 
sie sogar noch im ostafrikanischen Kenyagebiet, nämlich bei 
den Stämmen mit hamitischer Blutbeimischung. 

Halbkugelige Form erhält die Brust, wenn der Höhen- 
durchmesser dem Basisdurchmesser nahe kommt. Solche 
Brüste sind bei Europäerinnen häufig, bei den Frauen der 
Kulturvölker West- und Ostasiens die Regel und auch bei den 
Malayen, den indonesischen Inlandsstämmen und den Poly- 
nesiern trifft man sie. (Tafel II u. III.) 

Konisch oder birnförmig ist die Brust bei geringem 
Zurückbleiben des Basisdurchmessers gegenüber der Länge 
von der Basis zur Warze. (Abb. 5.) Übersteigt das letztere 
Maß das erstgenannte stark, so erhält die Brust Euterform 
(Abb. 6), die bei den Negerinnen und Indianerinnen vorwiegt, 






er ER 
BA RE N ae) 


Abb.5. Frau von den Admiralitätsinsein, zirka 20 Jahre alt mit konischer Brust. 


230 Fehlinger: Rassenunterschiede der weiblichen Brüste 


von denen viele auch birnförmige Brüste haben, während halb- 
kugelige Brüste ganz selten vorkommen. Hartmann schrieb 
mit Bezug auf die ziegeneuterförmige Brust von Negerinnen, 
daß diese nur dann den europäischen Schönheitssinn beleidigt, 
wenn sie zu voll und gar zu hängend ist. In gemildertem 
Grade, klein und zierlich, passen derartige Brüste ganz gut zu 
den grazilen Formen der Mädchen. (Zeitschrift für Ethnologie, 
Bd. 9, S. 201.) 

Kegelförmige und Euterbrüste sind charakteristisch für die 
Zwergrassen (Negrito der Philippineninseln, Andamanesen, 
Buschleute, afrikanische Urwald- 
zwerge), die Papua und Melanesier, 
Australier, die Drawiden Süd- 
indiens, manche Neger und die 
amerikanischen Indianer. G. Fritsch 
(Die Eingeborenen Südafrikas) weist 
daraufhin, daß er bei den Hotten- 
tottinnen das massige, euterartige 
Ansehen der Brüste nicht beobach- 
tete, das für die Negerinnen (Bantu) 
bezeichnend ist. Der Busen der 
Hottentottenfrauen ist verhältnis- 
mäßig klein und zugespitzt, mit 
vortretender Brustwarze und der 
Warzenhof überragt den Fetthügel 
nur wenig. Wegen der starken Hin- 
neigung zur Faltenbildung werden 
freilich auch die Brüste bald recht 
häßlich. 

Keine Rasse weist eine Sonder- 
form der Brüste auf, nämlich eine, 
die nur ihr zukommt. Die Rassen- 
unterschiede bestehen vielmehr in 
dem Vorwiegen der einen Form und 
dem Zurücktreten der andern For- 
men. Alle gekennzeichneten For- 
men der Brüste werden durch 
Schwangerschaften und das Still- 
Shdsmerikänische Indianern mit. BESCH? mehr oder minder ver- 

euterförnigen Brüsten. ändert; sie werden schlaff und 





Abb. 6. 


Fehlinger: Rassenunterschiede der weiblichen Brüste 231 


senken sich. Am frühesten tritt diese funktionelle Verände- 
rung bei den Naturvölkern mit stark entwickelten birn- 
oder ziegeneuterförmigen Brüsten ein. Man findet bei ihnen 
nur wenig Frauen von mehr als 30 Jahren, deren Brüste nicht 
welk und herabhängend sind. Die im Verhältnis zur Länge 
geringe Basis begünstigt selbstverständlich das Herabsinken. 
Die Brust der Europäerinnen und der Frauen der asiatischen 
Kulturvölker zeichnet sich weniger durch Größe als dadurch 
aus, daß sie nicht so bald und so leicht wie die Brust der 
Naturvölker ihre Festigkeit verliert. 

Der Warzenhof ist meist kreisförmig und teils scharf, teils 
aber unscharf begrenzt. Sein Durchmesser schwankt bei er- 
wachsenen Frauen zwischen drei und elf Zentimetern. Bei 
starker Senkung der Brust bekommt er eine längsovale Form, 
die bei den langstillenden Naturvölkern die Regel ist. Die 
Färbung des Warzenhofes ist um so dunkler, je dunkler die 
Hautfarbe einer Rasse ist. Alle dunkelfarbigen Rassen haben 
braune Warzenhöfe, auch jene, deren Haut grauschwarz ist, 
wie z. B. die Dinka und Tuaregg in Afrika und die Negritto 
der Philippinen-Inseln. Bei Europäerinnen schwankt die Fär- 
bung der Warzenhöfe von hellrosa bei manchen Blonden bis 
dunkelbraun bei brünetten Spanierinnen und Italienerinnen. 
Sehr ausgebreitete Warzenhöfe sind vornehmlich bei Euro- 
päerinnen und Afrikanerinnen (Hottentottinnen, Negerinnen) 
beobachtet worden; bei der Mehrzahl der farbigen Naturvölker 
scheinen die Warzenhöfe gewöhnlich klein zu sein. Die indi- 
viduellen Unterschiede sind bei allen Rassen aber recht bedeutend. 
Auffallend große Brustwarzen haben viele Negerinnen. 

Der Sitz der Brust auf dem Brustkorbe ist zum Teil durch 
dessen Form bedingt. Die weite achselständige Lage (Abb. 7) der 
menschlichen Brustdrüse steht in Zusammenhang mit der Breite 
und Flachheit des menschlichen Brustkorbes, doch bestehen in 
dieser Beziehung wie auch in Bezug auf die höhere oder 
tiefere Stellung der Brustdrüse bedeutende persönliche wie 
rassenmäßige Abweichungen. Rassenunterschiede in der 
Höhenlage der Brust sind erst in wenigen Fällen festgestellt 
worden, nicht weil sie unbedeutend sind, sondern weil sie zu 
wenig beachtet wurden. Innerhalb der ganzen Primatengruppe 
ist der Sitz der Brust beim Menschen am tiefsten; ähnlich tief 
ist er nur bei einigen Lemuren, am höchsten bei den Neuwelt- 





232 Fehlinger: Rassenunterschiede der weiblichen Brüste | 





Abt 7. Zwei Buschweiber, links mit schlaffer, rechts mit stark achselständiger Brust. 
Die jüngere ist 14jährig und besitzt Säugling. Aufnahme v. Fr. Seiner nach Ploß-Bartels, 
„Das Weib I (X1. Aufl. уоп Рета. Frhr. v. Reitzenstein). 


e e 


Fehlinger: Rassenunterschiede der weiblichen Brüste 233 


affen. Unter den sogenannten Menschenaffen zeichnet sich 
besonders der Orang-Utan durch eine sehr hoch sitzende 
Brust aus. Der Abstand vom oberen Brustbeinrande zur Brust- 
warze beträgt bei diesem Anthropomorphen im Durchschnitt 
11 °% дег Rumpflänge (mindesten 9, höchstens 12 °/,), beim 
Schimpansen 13 (11—17), bei der Europäerin (Badnerin) aber 
33 (24—50). Als Regel für die ausgebildete Brust der Europäerin 
wird eine Ausdehnung von der 3. bis zur 6. Rippe angenommen, 
wobei die Brustwarze zwischen die 4. und 5. Rippe zu liegen 
kommt. (Martin, Lehrbuch der Anthropologie, S. 265—266). 
Sehr hoch steht dagegen die Brust häufig bei Indonesierinnen 
und namentlich bei den Zwergvölkern. Tiefer Brustansatz 
ist bei Negerinnen häufig. Durch Einschnüren des oberen 
Teils der Brüste wird bei gewissen zentralafrikanischen Stämmen 
das Schönheitsideal zu fördern gesucht. 

Von Naturvölkern ist manchmal die Ausbildung der körper- 
lichen Reifezeichen und namentlich der weiblichen Brüste in 
sehr frühem Altar behauptet worden. So schreibt Buschan 
(„Völkerkunde“ S. 220): „Die Entwicklung der weiblichen Brust 
fängt bei den afrikanischen Völkern frühzeitig an, oft bereits 
„ mit sieben bis neun Jahren; gegen die Pubertät hat dieselbe 
schon meistens ihre größte Fülle erreicht. Gelegentlich beginnt 
dann aber auch schon eine leichte Neigung zum Herabsinken 
sich bemerkbar zu machen.“ Solche Meinungen von der 
Frühreife der Naturvölker entstehen infolge unrichtiger Ein- 
schätzung der Wachstumsverhältnisse und des Alters der Jugend 
bei diesen Völkern, namentlich den Bewohnern heißer Erd- 
striche. Richtig sagt Külz: „Da der Eingeborene weder sein 
eigenes Alter noch das seiner Kinder kennt, und der Eindruck 
des Alters, den man namentlich von Negerkindern bekommt, 
unwillkürlich vollständig unter dem Einfluß der von Europa 
her haftenden Eindrücke steht, wird man gut tun, sich an 
einen rein objektiven Anhaltspunkt bei der Alterschätzung 
jugendlicher Individuen zu halten. Als solchen habe ich durch- 
weg die Dentition verwertet, von der wir berechtigt anzunehmen 
sind, daß sie zeitlich ungefähr denselben Verlauf hat wie bei 
jugendlichen Europäern. Ich war anfangs oft erstaunt, wie 
hoch das Alter der Negerkinder nach ihr angesetzt werden 
muß, das ich nach dem äußern Eindruck der Entwicklung um 
mehrere Jahre jünger eingeschätzt hätte“. Diese Beobachtung 


234 Fehlinger: Rassenunterschiede der weiblichen Brüste 


fand O. Reche (Korr.-BI. d. d. G. f. Anthr., 41, S. 49 u. f.) an melane- 
sischen Kindern bestätigt. 

Bei Negern, Melanisiern und anderen farbigen Rassen 
werden die sekundären Geschlechtsmerkmale verhält- 
nismäßig spät ausgebildet, später als bei den Europäerinnen, 
und viele farbige junge Frauen werden deshalb weit jünger ein- 
geschätzt, als sie in Wirklichkeit sind. Oft wird von 10—12- 
jährigen Müttern gesprochen, wo es sich tatsächlich um 15—18- 
jährige Personen handelt. Der späte Eintritt der körperlichen 
Reife, den Baelz auch von den Japanern berichtete (Zeitschrift 
f. Ethnologie, Bd. 33), ist der Hauptgrund dafür, daß man 
jugendliche Farbige stets jünger eingeschätzt als sie 
sind. Reche schreibt: „Erst bei den 16jährigen Matupimädchen 
zeigte sich der erste Ansatz des Überganges von der Areolen- 
mamma*) zur Knospenbrust (Mamma areolata); die Entwicklung 
der Brust scheint also mit der ersten Menstruation ungefähr 
zusammenzufallen“. 

Über die Japanerin sagt Baelz: „Die Entwicklung des 
Busens bei der Frau fällt etwas früher als die Menstruation. 
Die Behaarung der Genitalien tritt bei beiden Geschlechtern 
spät auf“. Die Menstruation aber tritt bei Japanerinnen später 
als bei europäischen Mädchen auf. “ 

Auffallend frühzeitig kommt es zur Ausbildung der Knospen- 
brust wie auch der reifen Brust bei den Frauen der Länder 
am Mittelländischen Meer, und zwar bei Europäerinnen ebenso 
wie bei Semitinnen und Hamitinnen. Der Verfall tritt bei den 
Frauen dieser Völker ebenfalls rasch ein, was wieder leicht zu 
Altersüberschätzung Anlaß geben kann. 

Die Menschenbrust und namentlich die Brust der Natur- 
völker ist gegenüber der Brust der Säugetiere durch eine be- 
deutende funktionelle Mehrleistung ausgezeichnet, denn bei 
zahlreichen Völkerschaften ist eine Säugezeit von 2, 3 oder 4 
Jahren Brauch. Selbst auf der Balkanhalbinsel und in Rußland 
ereignet es sich noch, daß Großmütter die Fähigkeiten besitzen, 
ihre Enkelkinder zu stillen; bei Negerinnen, Ozeanierinnen und 
Indianerinnen ist eine solche Fähigkeit keine Seltenheit. Die 
bei den meisten Naturvölkern übliche lange Ernährung der 
Kinder mit Muttermilch, die Ausdehnung des Säuglingsalters 


*) Areolomamına — asexuelle kindliche Form. 





Fehlinger: Rassenunterschiede der weiblichen Brüste 235 


bis ins 3., 4. oder 5. Lebensjahr, ist eine der besten Sicherungen 
der Fortpflanzung dieser Völker. Wo sie durch Berührung 
mit Europäern einen Kulturwandel erfahren, wird diese Siche- 
rung meistens aufgehoben und es setzt eine Kindersterblichkeit 
in großem Umfang ein, so daß es zum Rückgang der Volks- 
zahl kommt. Doch ist das nicht die einzige Gefährdung der 
Existenz der Naturvölker. (Vgl. Fehlinger, Fortpflanzung der 
Natur- und Kulturvölker, Bonn 1921.) 

Absichtliche oder unbeabsichtigte Deformation der 
weiblichen Brüste kommt bei verschiedenen Völkern vor. 
Die Entwicklung der Brust kann durch Tragen starker Schnür- 
mieder, besonders solcher mit festen Einlagen, in weitgehendem 
Maße beeinträchtigt, ja fast vollständig gehemmt werden. Die 
Mädchen und Frauen einiger Inlandstämme von Borneo (Indo- 
nesien) tragen aus Rohr und Messing gefertigte Mieder, die 
zum Teil zwar die Brüste freilassen, manchmal aber doch so 
weit hinaufreichen, daß sie deren Entwicklung beeinträchtigten 
(Abb. 8). Auf einigen der. alfurischen Inseln werden die 
Brüste in der Jugend eingeschnürt, weshalb sie schlecht ent- 
wickelt sind; bei anderen Stämmen dieser Inselgruppe bedienen 
sich die Frauen eng anliegender Leibchen, durch welche die 
Brüste gedrückt und mehr oder weniger mißgestaltet werden. 
Durch Schnürleibchen verflacht werden die Brüste der Kalmü- 
kinnen, ferner der Ossetinnen, Tscherkessinnen und der Frauen 
anderer Kaukasusvölker. Die Schnürleibchen, die von den 
Tscherkessenmädchen etwa vom 10. Lebensjahr an getragen 
werden, sind aus Leder gefertigt. Durch Brustschnüre herab- 
gedrückt und beutelförmig gestaltet werden die Brüste bei 
manchen zentralafrikanischen Negerstämmen und brasilianischen 
Indianern. Die stark gezogenen und hängenden Brüste vieler 
Negerinnen und südamerikanischer Indianerinnen sind nicht 
allein eine Folge zahlreicher Schwangerschaften und des lang- 
andauernden Stillens der Kinder, sondern sie werden auch 
durch den Umstand begünstigt, daß die auf der Hüfte getragenen 
Kinder sich an der Brust festzuhalten pflegen und sie dabei 
immer mehr dehnen. (Martin a. a. O. S. 284.) 

Die meisten Naturvölker lieben besonders große Brüste 
und es werden auch Mittel zu künstlicher Vergrößerung an- 
gewendet. So sagt Iden-Zeller von den Tschuktschen im 
äußersten Osten Sibiriens in der Zeitschrift für Ethnologie, 


"1404 J3po Auıssaw sne uiaparw ur oausog sne uaneijuapyeleg '8 qQqV 


236 


Fehlinger: Rassenunterschiede der weiblichen Brüste 





Se 


| d 





Fehlinger: Rassenunterschiede der weiblichen Brüste 237 


Bd. 43, S. 850: „Wenn wir zusammen im Freundeskreise saßen, 
kam es oft vor, daß die Mütter ihrem zehn- bis zwölfjährigen 
Töchterchen vor den Augen aller Männer die Brüste knetete 
und herunterzog, um sie recht groß werden zu lassen. Die 
Männer lachten dann behaglich und fanden alles in schönster 
Ordnung“. Ähnlich verfahren die Basuto in Südafrika. 

Bei manchen Australierstämmen ist Narbenschneiden und 
Narbenbrennen gebräuchlich. Zentralaustralische Frauen haben 
tiefe Schnittnarben am Busen, am oberen Ansatz der Brüste. 
Die Bathurstinsulanerinnen bringen sich mit spitzen Steinen 
oder Muscheln, oder auch mit glühenden Stäbchen, Narben 
bei, die in krummen Linien von den Schultern auf die Brüste 
verlaufen. (Spencer und Gillen, „Across Australie“; Spencer, 
„Native Tribes of the Northern Territory“). 

Unrichtig sind wahrscheinlich die Berichte älterer Reisender 
über Amazonen, weibliche Krieger, denen die rechte Brust ab- 
geschnitten war, damit sie so ungehinderte Bewegungsfreiheit 
des Armes erlangten. Dagegen werden bei der russischen 
Skopzensekte aus religiösem Fanatismus beide Brüste ganz 
oder teilweise abgetragen. 





238 Dehnow: Wedekind 


WEDEKIND. ` 
Von Dr. FRITZ DEHNOW, ehem. Staatsanwaltschaftsrat Hamburg . 


N Freude und nicht wohltuende Erquickung kann man 
aus Frank Wedekinds, des am 9. März 1918 Verstorbenen, 
Dichtung schöpfen. Ihr fehlt das Wohlgemute, und ihr fehlt 
edle Art. 

Nicht ein Eugenet sprach hier. Nicht einer der gesunde 
Lebensfreude atmete. Nicht ein Mensch aus einem Guß. Er 
entbehrte des seelischen Gleichgewichtes, neigte zu Extremen. 

Einer, der in schwerem Werdegang ward und kein Glück- 
licher ward. 

Der ohne Bodenständigkeit und ein Heimatloser war. Kein 
Heimatton zieht durch sein Werk. 

Ein Friedloser, der in so schwerem Zwiespalt wie nur je 
ein Genie mit sich und mit der Mitwelt lag. 

In Auftreten und Erscheinung ein Kümmerlicher. 

Und dennoch einer von den Großen unter den Erkennern. 
Hier sprach einer, dessen Stimme schwerer wog als die 
Stimmen all der gefeierten Halbgrößen. Ernsteste, tiefe Wahr- 
heit sprach er aus. Das eigene Schicksal, ein typisches 
Denkerschicksal, schilderte er erschütternd. 

Sein Vater war von niedersächsischem Blut. Seine Mutter 
scheint Jüdin gewesen zu sein. Jede noch so tiefgehende 
Rassenfeindschaft sollte Haltmachen vor einem Manne, dessen 
Werk so überragend ist. Ein so Überlegener, Großer, Tiefer 
war er, wie in Börries von Münchhausens Gedicht der Rabbi 
Manasse Cohen: 

In der Hohen Schule zu Prag sitzt einer, 

Wer stillt ihm die Sehnsucht nach Weisheit? Keiner! 
Er sucht seinen Gott in der Schrift irgendwo. 

Findet er seinen Gott in der Schrift? — Nirgendwo! 

Man hat Wedekind mit Lenz und Grabbe verglichen. Er 
ragt weit über sie hinaus. Eher könnte seine Bedeutung an 
derjenigen Ibsens und Tolstois gemessen werden. Andere 
Vergleiche, die man gezogen hat — mit den Romantikern, mit 
Heine und Nietzsche —, treffen noch weniger zu. Man hat 
ihn auch in die eine oder andere der herkömmlichen Literatur- 
kategorien einreihen wollen. Indessen alle literarhistorischen 
Klassifikationen, Vergleiche und Abhängigkeitsermittlungen sind 
ohne Wert, solange man über ihn selbst irrt. 


Dehnow: Wedekind 239 


Daß seine Zeit ihn mißverstand, war unvermeidbar; so 
weit war er ihr voraus, und so von Grund aus frei und un- 
befangen trat er ihren Anschauungen entgegen. Gleichwohl 
nahm das Mißverstehen einen fast tragischen Zug an. In das 
gerade Gegenteil deuteten die Zeitgenossen um, was er aus- 
sprach. Was er tiefernst als Wahrheit vortrug, verstand man 
als spöttische Parodie; es war ein „Fluch der Lächerlichkeit“, 
von dem er sich verfolgt sah. Wer Wedekind als einen 
„Zyniker“, einen „Ironiker“, „Karikaturisten“, als „grotesken“, 
„barocken“, „bizarren“, „skurrilen“, „närrischen“, „infernalischen“, 
„mephistophelischen“ „Spötter“ ansieht — so lautet das Wörter- 
buch der stereotyp gewordenen Attribute, mit denen sogar 
seine Monographen ihn immer wieder belegen —, der ver- 
steht diesen ernsten Wahrheitssucher und Wahrheitskünder 
nicht und sollte das Dankgebet des Herakles an Zeus lesen 
und sich fragen, ob so ein Zyniker und Spötter schreibt. 

Man hielt sich an gelegentliche, auffallende Bonmots aus 
seinen Dramen: „das Leben ist eine Rutschbahn“ oder „die 
Moral ist das reelle Produkt zweier imaginärer Größen“ (näm- 
lich „Sollen Jund Wollen“), oder an die Bemerkung von der 
„Kreuzung von Philosoph und Pferdedieb“. Solche drastischen 
Gelegenheitsäußerungen, die der oberflächlichen Betrachtung 
auffielen, die aber in Wedekinds Dramen eine ganz unter- 
geordnete oder gar keine Bedeutung haben, nahmen ihren Weg 
durch die Zeitungen, und man glaubte, nach ihnen den Mann 
und sein Werk beurteilen zu können. 

Man hielt sich an angebliche „Tendenzen“ seiner Dramen. 
Das Thema von „Frühlings Erwachen“ wollte man im Ein- 
treten für sexuelle Aufklärung der Jugend, das Thema von 
„Musik“ in einer Polemik gegen den Abtreibungsparagraphen 
finden. Beide Dramen sagten weit mehr, Anderes und 
Größeres, das man übersah. 

Die Äußerungen seiner Bühnenfiguren verstand man als 
Selbstbekenntnisse oder aber als Spott, auch dort, wo sie nur 
die charakteristischen Äußerungen dieser Figuren waren. 

Wedekind selbst war ein schlechter Interpret seiner Grund- 
gedanken. Er verkleidete sie in einem schwer durchsichtbaren 
Gewande, und seiner Diktion fehlte Eindeutigkeit. Dem Ver- 
ständnisse des Lesers entgegenzukommen, war ihm nicht ge- 
geben; er besaß nicht das Gefühl dafür, wie er auf das Pu- 


240 Dehnow: Wedekind 


blikum wirken mußte: Den Gehalt seiner Dichtungen klar zu 
formulieren, gelang ihm selten; auch Vorworte und Prologe, 
die er beigab, fielen in der Regel unglücklich aus und erzeugten 
nur neue Mißverständnisse. 

Nicht wenig diskreditierten ihn Interpreten in Zeitungen 
und Zeitschriften durch widerwärtige Erörterungen über den 
„Erotiker“ Wedekind und über das Verhältnis von „Fleisch 
und Geist“, 

Den Weg zu seinem Verständnisse versperrten vollends 
Bühnenaufführungen seiner Stücke - „Hinrichtungen“ nennt 
Wedekind sie einmal. Die Bühne hat ihn lange gröblich miß- 
deutet; durch das, was sie dem Publikum vorführte, wurde 
oft aufs vollkommenste dasjenige verdeckt, was Wedekind 
hatte sagen wollen. 

Den Rest gab böser Wille von manchen Seiten. Das 
eine fühlten viele richtig, daß sie es hier mit einem gefähr- 
lichen und Erzfeind der Philisterwelt (der „Kartoffelseelen“, wie 
er einmal sagt) zu tun hatten; mit einem, der Todfeindschaft 
angesagt hatte und gegen den es nur Todfeindschaft gab. Die 
kindischsten und unglaubhaftesten Anekdoten verbreitete man, 
um ihn zu verdächtigen, und sie fanden Glauben. Am rüdesten 
wurde er aus denjenigen Kreisen angegriffen, die stets der 
Feind des Neuen und des Besseren in Wissenschaft und 
Kunst und darum stets der Feind der Wissenschaft und der 
Kunst waren. Radau, Stinkbomben und Gummiknüppel be- 
nutzten sie als ihre Propagandamittel auch bei Wedekind- 
aufführungen. 

Man wird später für diese Haltung seiner Zeitgenossen 
nur noch das Achselzucken der Mißachtung übrig haben. 

Unverstanden vom Publikum und auch unverstanden von 
vielen seiner Anhänger ist Wedekind in seinem wesentlichen 
Kerne noch heute, wo er als „sensationell“ auf allen Theatern 
aufgeführt wird und zu den meistgespielten Autoren. gehört. 
| Die Zeit freilich ist vorbei, in der es erlaubt war, ihn 
„nicht ernst“ zu nehmen und als „verrückt“ abzutun. Erst 
kurz vordem hatte durch gleiche Urteile über Ibsen ein geistiger 
Pöbel nur sich selbst beschmutzt. 

Bald wird man auch davon ablassen, ihn — dem Kraft, 
Gesundheit, Rasse alles galten — als einen „Dekadenten“ 
hinzustellen und ihn wegen seiner unbefangenen Betrachtung 


Dehnow: Wedekind 241 


des Sexuallebens in dem Rufe zu erhalten, er komme für die 
gute Gesellschaft nicht völlig in Betracht. 

Die Wedekindspiele 1912 und sein fünfzigster Geburtstag 
1914 zeigten, wie in immer weiteren Kreisen Verständnis und 
Verehrung für sein Schaffen wuchsen. 

Bereits ist die Zeit ihm in vielem gefolgt, großenteils ohne 
ihn zu kennen oder ohne ihn zu verstehen, und sie folgt 
ihm weiter. 

Der kaum jemals richtig verstandene Kern seines Werkes: 
Die Orientierung der Lebensauffassung und der Ethik 
aus der biologisch-vitalen Natur des Menschen, dringt 
in der Wissenschaft, in der Volksanschauung, in der Dichtung 
durch. 

Die Körperkultur- und Nacktkulturbestrebungen, deren 
Leitsätze er vorwegnahm, haben sich überall entfaltet. 

Seine Sexualmoral, in den neunziger Jahren noch unerhört, 
ist zum Teil Gemeingut geworden. 

Seinen rassehygienischen Anschauungen steht die neue 
wissenschaftliche Rassenhygiene und Eugenik nahe. 

„Frühlings Erwachen“ (1891) enthält die Grundgedanken 
der heutigen Jugendbewegung in seither unübertroffener Klar- 
heit und Tiefe. 

Als Pazifist bekannte Wedekind sich bereits vor 1900. 

Die bedeutendsten Strömungen unserer Zeit hat er ante- 
zipiert. In manchem ist über ihn die Zeit bereits hinweg- 
geschritten. Zur Minderbewertung von Geld und Gut, zur 
Mißachtung des Luxus, zur Ablehnung des Alkohols war er 


noch nicht gelangt. 


242 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 


BETRACHTUNGEN ÜBER DAS LIEBESLEBEN IN 
DER ZEIT DER RENAISSANCE UND DER PERIODE 
DER GALANTEN 
Von FERD. FRHR. VON REITZENSTEIN, Dresden. 
(Fortsetzung.) 


A bei bürgerlichen Ehen traten die Vermittler auf. 
So verlobte sich am 21. Januar 1466 zu Frankfurt Bernh. 
Rohrbach mit Eilgin v. Holzhausen, wobei Gerlach v. Londorf 
als Freiwerber tätig war. Das Laden der Gäste besorgte 
nach alter Sitte der Verlobte selbst, während es bei der Ehe 
des Bernhard Wiß mit Margarete v. Artenberg, die sich am 
18. August 1495 verlobten, durch Diener geschah. Rohrbach, 
der diese Hochzeit in seinem Tagebuch erwähnt, hebt dies 
eigens hervor. Die Gäste wurden, so gut es ging, versorgt, 
auch sah man darauf, daß sie in sexueller Beziehung be- 
friedigt wurden. So erzählt der Bieler Bürger Höpfner, der in 
Bern wohnte, in einem Briefe an J. G. Forster vom 20, Juni 


1788, es sei im Berner Oberland verbürgter Brauch, daß ein . 


Vater seine Tochter, ein Bruder seine Schwester, ein Mann 
seine Frau dem fremden Gast in alter Höflichkeit zur Nacht 
anbiete und sich eine große Ehre daraus mache, wenn dieser 
es annimmt, also ein alter deutscher Gebrauch. In Irland ist 
es bis heute in einzelnen Gegenden üblich, daß die Tochter 
des Hauses den Gast entkleidet, ihm hilft zu Bett zu gehen 
und sich dann mit einem Kuß verabschiedet; auch am Morgen 
kommt sie wieder, um ihn zu wecken. Der. Polterabend, 
auch Guckel- oder Nachthochzeit genannt, war früher ver- 
breiteter als heute. Sehr gebräuchlich war es in deutschen 
Bürgerfamilien, ein Brautpaar einzuladen. So erfahren wir 
dies 1506 von Anton Tucher in Nürnberg, dem diese Gepflogen- 
heit überhaupt Freude gemacht haben muß, denn am 16. Juli 
1512 hat er wieder ein Brautpaar und am 11, Januar 1516 
sogar zwei geladen. Drei Tische waren mit Gästen besetzt. 
Das Badengehen der Hochzeitspaare, das im Mittelalter so 
sehr Sitte war, wird jetzt dank christlicher Einflüsse mehr 
und mehr verboten. Der Tanz war selbstverständlich, und 
auch bei bürgerlichen Hochzeiten wurde der Fackeltanz nicht 
vergessen, so bei der Hochzeit des Bernhard Wiß mit Marga- 
rete v. Artenberg, von der wir oben sprachen. Hier wird auch 


ee 


me 


Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 243 


noch erwähnt, daß am folgenden Tage der Küchenmeister, der 
Silbermeister, der Schenktischdiener, der Küchenknecht, die 
Schmutzbuben und der Stubenknecht mit Mägden und Weibern 
den Küchentanz aufführten, voran der Hofmeister mit einer 
Fackel, dann jeder mit seinen „Amtswaffen“ (also der Koch 
mit Löffeln u. dergl). In betreff der Trauung hielt das 
Bürgertum viel länger an den von den Vätern ererbten Ge- 
danken fest als Fürsten und Adel. Trotzdem war in der 
hier geschilderten Zeit die kirchliche Trauung schon 
sehr verbreitet. Die Stunde ist sehr verschieden; die Kirche 
suchte, wie wir schon erwähnten*), die frühe Morgenstunde 
allgemein durchzuführen. So erfahren wir, daß man in Köln 
schon früh 4 Uhr traute, in Breslau wurde laut Verordnung 
vom 2. April 1603 nur zwischen 12 und 1 Uhr und 3 und 
4 Uhr getraut. In den norddeutschen Städten scheint der 
Nachmittag bevorzugt worden zu sein. Nach der Trauung 
war es in vielen Gegenden noch üblich, daß der Bräutigam 
weidlich durchgeprügelt**) wurde. 1607 erließ der Erz- 
bischof von Köln eine besondere Verordnung dagegen; aber 
sie fruchtete nichts. Wichtiger erscheint aber auch in bürger- 
lichen Kreisen das Festmahl. Viele Verordnungen suchten 
gerade in ihnen den furchtbaren Luxus einzuschränken, aber 
ohne Erfolg; man liebte die Einladungen schon deshalb, weil 
man ja gute Hochzeitsgeschenke erwarten durfte. Guarinonius 
überliefert uns, daß man zu seiner Zeit (also Anfang des 
17. Jahrhunderts) in bürgerlichen Häusern durchschnittlich 
6 Gänge zu je 9 Speisen gab. Auffälligerweise hat sich in 
Lübeck noch im Anfang des 16. Jahrhunderts die Sitte erhalten, 
daß das Brautpaar von den übrigen Gästen getrennt in 
der Brautkammer speiste und erst zu den übrigen Ge- 
ladenen kam, wenn der Braten aufgetragen wurde. Die Männer 
setzten sich zu dem Bräutigam, die Braut zu den Frauen. Die 
Speiseverbote sind massenhaft; wir werden später darauf 
zurückkommen; hier sei nur das der Nürnberger Ordnung von 
1485 erwähnt. Zunächst wird darin festgesetzt, daß die „Tanntz- 
lader“ nur drei Pferde gebrauchen durften, während der Hege- 
lein (d. h. der Spruchsprecher) auf dem vierten reiten darf. 


*) Vgl. Reitzenstein: „Liebe und Ehe im Mittelalter“, S. 54 ff. 
**) Vgl. Reitzenstein: „Liebe und Ehe im Mittelalter“, S. 84. 


16* 


244 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 


Diese Tanzlader (Hochzeitsbitter) erhalten des Morgens eine 
Frühsuppe nebst einer oder zwei gesottenen Hennen und 
Frankenwein. Da es früher üblich war, daß der Bräutigam 
seine Freunde auf seine Kosten in seine Farben kleidete, so 
wird das jetzt dahin eingeschränkt, daß er nur noch einen 
Knecht oder einen Knaben in dieser Weise kleiden dürfe. Dann 
folgt das Speisegebot: 

„Weder rephun, haselhun, vaßhun (Fasan), norhannen (Auerhähne) 
byrckhannen, pfaben (Pfauen), noch koppauonen, weder gesotten noch 
gebraten, auch weder һугѕсһіп- посһ геһіп-ргаќеп . . . noch ainicherley 
hochzeytkraut darf aufgetragen werden, und auf jedem Tisch ein ge- 


bratener Kapaun. Ißt einer an dem Tage kein Fleisch, so darf er 
1—2 Fischgerichte erhalten“. 


Verschiedene uralte Gebräuche finden wir noch stellen- 
weise erwähnt. So das Steintreten. Bei der Hochzeit des 
Berth. Sastrow in Greifswald wurde am Hochzeitstage nach- 
mittags 3 Uhr der Bräutigam von den beiden Bürgermeistern 
in Begleitung seiner Freunde auf den Marktplatz geführt, wo 
er auf einem vierkantigen Eckstein ein paar „Pater noster“ lang 
stehenblieb, während die Musik dazu spielte. Man legte dieser 
Sitte den Sinn unter*), daß der Bräutigam die Einsprüche er- 
wartete, die gegen seine Ehe gemacht werden konnten. Sehr 
alt sind auch jene Gebräuche, bei denen das Verspeisen von 
Eierkuchen vorkommt.*) So erfahren wir, daß bei der 
Hochzeit des Bernh. Wiß mit Margarete v. Artenberg 1449 ein 
großer Eierkuchen aufgetragen wurde, der mit Blumen und 
Wachsfiguren verziert war und zerschnitten den Kindern mit- 
gebracht wurde. 

Das öffentliche Beilager ist noch in seinen Spuren 
nachweisbar. So auf einer Hochzeit, die der Silberknecht der 
Herzogin von Pommern mit ihrer Köchin vollzieht. Das feier- 
liche Beilager findet hier auf einem im Saale aufgestellten 
Bette statt; danach ziehen sich die fürstlichen Herrschaften 
zurück, während das Bett weggeräumt wird, und das Fest 
essen beginnt.***) Besonders von Interesse ist auch der Voll 
zug der Ehe von Rohrbachs Schwester mit Karl Heuspurg, 


*) Vgl. A. Schultz in „Das häusl. Leben der europ. Kulturvölker* 
München 1903 (in Hdb. d. mittl. u. neuen Geschichte von Below) S. 168 

**) Vgl. Reitzenstein: „Liebe und Ehe im Altertum“, S. 74. 

***) Diese äußerst wichtige Notiz findet sich in Ph. Hainhofers 
Reisetageb. 1617 in Balt. Studien II. 2. S. 77. 





Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 245 


von dem Rohrbach in seinem Tagebuch berichtet. Die Braut 
wird im Wixhuserhoff in einem gemalten Gemach dem 
Bräutigam beigelegt. Dabei ist der 26jährige Job unter dem 
Bett versteckt und zieht seiner Schwester den rechten Schuh 
aus, während Jakob Neuhausen den linken erhascht.*) Ein 
Rest uralter Fruchtbarkeitszeremonie ‚hat sich in der Nach- 
hochzeit erhalten, die einem Moralisten wie Guarinonius (in 
„Grewel der Verwüstung“) nicht nur viel Tinte sondern auch 


| 
\ 
NI 
N 


2222 


б 


ГА 


К 





Abb, 1, Öffentliches Beilager vom Bischof eingesegnet, 


viel Ärger kostete; aber wir sind ihm dankbar, denn in seineri 
sonst wertlosen Auslassungen findet sich eine Beschreibung 
dieses Gebrauches. 

„Ich bin mit bey gewesen auff deiner Hochzeit am andern Tag, 
wellichen man allhie zu Lande den gülden Tag oder „Eyer in Schmaltz“ 
nennet; allda man den Spielleuten die allerschändlichsten Lieder an- und 
auffgeben, nicht allein auff ihren Instrumenten zu spielen, sonder auch 
mit der stimme darein zu singen; daß aber nicht genug war, sonder ein 
ungehobleter Ehrloser Schalcksnarr allda zugegen war, wellicher ein darzu 


*) Vgl. dazu Reitzenstein: „Liebe und Ehe im Altertum“, S. 78 und 
„Liebe und Ehe im Mittelalter“, S. 78. 


— mr — 


246 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 


gerüste Bank hatte, dieselb, mitten in die Stuben niderstellet, damit er 
von allen wol mochte gesehen werden, der Taffeln aber vier wol besetzt, 
Manns- und Weibsbilder und Jungfrawen vorhanden waren. Auff dieser 
Banck übet er dergleichen gebärden, ob wellichen ich noch in dieser 
stundt mich vo Hertzen schäme zu gedenken“. 


Mitgift und Geschenke waren aber auch unserem 
Bürgertum die Hauptsache. Über die Brautgeschenke haben 
wir schon teilweise gesprochen. Betreffs Mitgift und Wieder- 
lage werden größere Verhandlungen geführt. So berichtet 
Guarinonius über die Verhandlungen des Geizkofler mit seiner 
ihm am 27. Juni 1588 verlobten Braut Kath. Hörmann. In 
einem Heiratskontrakt sagt sie Geizkofler als „mütterliches und 
vätterliches Erbe als Heiratsgut und Heimsteuer 2000 GI. zu... ., 
und L. Geizkofler gibt ihr zur rechten Widerlegung auch 
2000 Gl. und als freie Morgengabe 500 Gl. Im Jahre 1516 
heirate Ulrich Fugger des Laux Gassners Tochter, der ihr als 
Heiratsgutt 12 M. fl. (12000) gab, während der Fugger 13 M. fl. 
(13000) als Wiederlage und dazu 3 M. fl. (3000) an Klaidern 
und Klainaten schanckt.“ Die Luxusgesetze gingen natürlich 
auch hier vor. So wurde in Rom 1471 festgesetzt, daß die 
Mitgift 800 Goldgulden nicht überschreiten, und die Aussteuer 
höchstens 600 Gulden kosten dürfe. 1511 setzte Florenz fest, 
daß die Mitgift höchstens 1600 fl. betragen solle, um die 
minderbemittelten Mädchen auch noch als begehrenswert er- 
scheinen zu lassen. In Lübeck wurde 1566 bestimmt, daß 
der Bräutigam am Verlobungstage der Braut einen Rosenkranz, 
in späterer Zeit 3—4 goldene Ringe, 2 goldene Ketten, 3 Samt- 
kragen und 3 Paar Ärmel schenken dürfe, wozu, wenn er 
Patrizier war, noch der weiße Patrizierkragen kam. Die Braut 
durfte geben: eine Badekappe und ein Hemd, später noch 
2 Schnupftücher, ein Barett und den Trauring. In Schlesien 
gibt der Bräutigam Brautkleid, Schmuck und Gebetbuch und 
die Braut das Bräutigamhemd, ein Schnupftuch, manchmal eine 
Weste. Es steht ihr jedoch frei, ihm ein halbes Dutzend 
Hemden und ein Dutzend Taschentücher mitzubringen. 

Die Bauernhochzeiten unterscheiden sich in unserer 
Periode eigentlich in gar nichts von denen des Mittelalters, 
höchstens beginnt auch bei ihnen die kirchliche Trauung 
von jetzt an Fuß zu fassen. Bereits in der uns bekannten 
Hochzeitsschilderung des Heinrich von Wittenweiler im „Ring“ *) 


*) Vgl. auch Reitzenstein: „Liebe und Ehe im Mittelalter“, S. 84. 


Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 247 


ist die kirchliche Trauung erwähnt. Daß natürlich auch hier 
das Essen und Trinken eine große Rolle spielt, ist selbst- 
verständlich, und wie gegessen wurde, haben wir ja bereits 
im „Mittelalter“ gesehen. Jedenfalls ist es bezeichnend genug, 
daß Guarinonius folgenden „vereinfachten“ Speisezettel vor- 
schlägt: „Suppe mit einem guten Stück Fleisch und Knödeln; 
Kraut mit Speck, die Schüssel am Rande mit Bratwürsten 
garniert; einen guten Rinder- oder Kalbsbraten; Gerste oder 
Reis in Milch“ (dies ist das alte Brautessen). Es waren zu 
seiner Zeit nämlich in Tirol bei geringen Hochzeiten 12—16 
Tafeln, bei reicheren 24 Tafeln Gäste geladen. Nicht unerwähnt 
lassen möchte ich eine Stelle, die in den Weistümern von 
Liestal (Basel) 1411 angegeben wird; es heißt da: 


„Der schultheis sol ouch heirathin jerlichs uf die zite vor vasnacht 
als man gewohnlichen zu der heiligen ehe griffet, besehen, welche knaben 
und töchteren zu dem elter sind, daß si billichen wibe und mann nemmen 
sollen, daß es dan wibe und man gebe, zu gleichen sinem genossen“. 


Diese Sitte reicht in eine uralte Zeit zurück, in der das 
Frühjahrsfruchtbarkeitsfest die Zeit für den Abschluß der 
Ehen war, und man dann einfach alle diejenigen zusammengab, 
die geschlechtsreif waren und die Befruchtungszeremonie 
durchgemacht hatten. Wir besitzen aus dieser Zeit ein 
Flugblatt, das betitelt ist: „Kurtze Anleitung, wie man auf eine 
Landhochzeit bei der Löblichen Bauernschaft bitten soll.“ 
Dies erscheint als so wichtige Quelle, daß es im Auszug mit- 
geteilt werden soll. Zunächst wird die Frage beantwortet, wie 
man zur Hochzeit bitten soll. Der Hochzeitslader stellt 
sich vor als von dem N.N. Junggesellen geschickt und bittet, 
man möge zum Bräutigam auf den nächsten Dienstag oder 
Mittwoch kommen, man möge mit ihm zu seiner Liebhabenden 
und in die Kirche ziehen, dann zu ihm nach Hause gehen 
zum Mahle, und „dabey seine Armuth nicht verachten, und 
ferner läßt er euch bitten / daß ihr wollet mitbringen | wer 
euch lieb seyn möchte, dieselben sollen ihnen auf ihren Hoch- 
zeitlichen Ehren und Freuden auch lieb und angenehm seyn“. 
Man bedankt sich und sagt zu. Dann wird berichtet, wie 
man den Priester um die Trauung ansprechen kann, ferner 
wie man sich bedanket des Einzuges wegen. Es handelt sich 
hier sowohl um den Einzug in „Haus und Hof, in seinen 
vier Pfählen“, als um den „Eintritt in die Stuben“. Sodann 


248 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 


wenden sich die Bitter an den Schultheiß „umb Erlaubnüß in 
dem Kretscham zu tantzen“. 


„Daß ihr ihm wollet vergönnen, allhier auf unsers Aller- 
gnädigsten Herrn Grund und Boden so wol in eurem Haus ; 
in eurem vier Pfählen / gar ein ordentliches Täntzlein zu tantzen / 
mit seiner vielgeliebten Braut und mit seinen hierzu erbetenen 
Hochzeit Gästen, wir wollen uns halten nach dem / was billich 
und bräulich ist / so sind wir auch in guter Hoffnung ihr 
werdet euch gegen uns verhalten, was eim Wirthe gebühret 
und zuständig, und bitte derowegen gantz freundlich um einen 
kurtzen Bescheid und Antwort.“ 


Diese fällt natürlich bejahend aus. 


Daran schließt sich nun in unserem Flugblatt eine genaue 
Beschreibung: „Wie man das Kräntzlein ausbitten soll.“ 
Da mir nicht bekannt ist, daß ein ähnlich genauer Bericht 
vorliegt, soll er im folgenden trotz seiner Länge wörtlich wieder- 
gegeben werden, zumal er ungemein reich an uralten Stellen 
und Wendungen ist. 


„Also [Erbarn, vielgeliebte Frauen und Jungfrauen / ich 
grüß euch ganz freundlich insgemein, ihr Grossen und ihr 
Kleinen / wenn ich eine thäte grüssen und die ander nicht, so 
hielt ihr mich vor einen ehrlichen Gesellen nicht. Von grüner 
Heyd komm ich daher geschritten, hätt ich ein Rößlein / so 
käm ich geritten, weil ich aber das nicht hab / so muß ich zu 
Fusse gehn / ich armer Knab. 


Gott grüß euch / ihr Alten und Jungen / sind euch eure 
rothe Rosen entsprungen / bis in den roten und gelben Klee | 
so will ich sie holen / wie ich hier steh. 


So hab ich nun auch hin und her gewandelt / mit Jung- 
frauen gehandelt | und manches schönes Kräntzlein hab ich 
empfangen | so hat mir anitzo eines thun belieben und ge- 
fallen / bey euch Tugendsamen Jungfrauen allen | so wil ich 
euch um euer Kleider eine ansprechen / wenn ihr euch nicht 
wollet wieder rächen, ich meyne nicht das Kleid / was ihr an- 
gehabt / ich meyne auch nicht das Kleid / was ihr um euren 
jungen Leib geschlossen habt. Ich meyne das Kleid / das ihr 
auf eurem Geel-weissen Haare tragt. 


Ist es euch nicht feil / so wil ichs euch feil machen / mit 
Worten und mit Sachen daß euer rother Mund soll lachen. 


Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 249 





So bitte ich euch, ihr wollet nehmen dassellbige Kräntzlein 
in eure Schnee-weisse Hand, ihr wollets schwenken dem 
Reuter auf sein Schwerdt / derselbe wird es halten hoch und 
werth / hat er derselben Waare nicht verdient | so wil ichs 
und andere erbare Jungesellen noch weiter verdienen. 

So bitte ich euch, ihr wollet euch gegen meine Bitte be- 
zwingen / und meine Bitte lassen gelingen, ihr wollet mir euer 
Kräntzlein nicht versagen / ihr wollet michs lassen williglich 
von hinnen tragen. Ich bin gar von kurtzen Sitten / lange 
kann ich nicht drum bitten / ich bitte / ihr wollet mirs verehren 
und nicht versagen, daß ich es möge zu Ehren tragen. 

Das Versprechen der Jungfern um das Kräntzlein: 

Jungfer: Mein Vielgeliebter Erbarer Junggesell. Es sind 
in unsern Landen nicht Sitten, daß die Junggesellen um das 
Kräntzlein bitten. e 

Junggesell: Meine Vielgeliebte Tugendsame Jungfer. Da- 
rum sind die Jungfern also frech / daß sie thun den Jung- 
gesellen das Kräntzlein versprechen. 

Jungfer: Ich saß wohl auf dem Reine [ ich machte mir ein 
Kräntzlein alleine / es halff mir weder Ritter noch Knecht / 
mein Kräntzlein ist euch nicht gerecht. 

Junggesell: Ich setzte mich wohl gar nahe dabey / ich 
machte der Gesetze schöner drey / ich hoff das Kräntzlein wird 
mein eigen sein. 

Jungfer: In meines Vaters Garten, da stehen zwo Wiethen, 
davon habe ich die Schiene gebogen / die Nachtigal da durch- 
geflogen, werdet ihr mir sie wieder zurück durchjagen, so solt 
ihr mein Kräntzlein von hinnen tragen. 

Junggesell: Ich wil mich machen zu einem kleinen Wald- 
Vögelein / ich wil mich schwingen in die Luft hinein, ich wil 
sie wieder zurück schlagen hinein, ich hoff, das Kräntzlein 
wird mein eigen sein. 

Jungfer: In meines Vaters Garten / da stehet eine Pappe! | 
daran hengen drey goldene Tropffen / werdet ihr mir den 
untersten und obersten rühren an / den mittelsten lassen stille 
stahn / so solt ihr mein Kräntzlein von hinnen tragen. 

Junggesell: In meines Vaters Stalle, da stehet ein Rappen, 
denselben will ich mir satteln, ich wil reiten unter die Pappel, 
ich wil den oberen ritteln / den untersten schütteln / ich hoffe 
das Kräntzlein wird stehn auf meinem Hüttel (Hut). 


250 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 


Jungfer: Werdet ihr mir erschwingen, fünff Zungen hören 
aus einem Haupt klingen / so sollt ihr mein Kräntzlein von 
hinnen bringen. 

Junggesell: In meines Vaters Garten, da liegt ein alter 
Roßkopf / darein hat eine Goldammer fünff Junge geheckt, 
solches kann ich mir erschwingen, fünff Zungen hören aus 
einem Haupte klingen, ich werde die Kräntzlein doch von 
hinnen bringen. 

Jungfer: Was ist weisser als der Schnee? Was ist grüner 
als der Klee? Was ist schwärzer als der Raben? Was ist 
tiefer als der Graben? Was ist stoltzer als der Knabe? 

Junggesell: Der Tag isl weisser als der Schnee, die Rauthe 
grüner als der Klee, die Feder ist schwärtzer als der Raben, 
der Brunn ist tiefer als der Graben, das Roß ist stöltzer als 
der Knabe / itzt wil ich das Kräntzlein haben. 

Jungfer: Schwartze Saat auf weissem Acker, steht bis- 
weilen dick und wacker / rathet mir das / und noch so viel / 
so steht mein Kräntzlein nach eurem Will. 

Junggesell: Wenn ich wärr ein gelehrter Mann ; und solte 
über denselben Acker gahn / so wollte ich wissen was darauf 
stahn / ich wil gleichwohl das Kräntzlein von euch han. 

Jungfer: Die Schiene ist mit Gold belegt, und geht darunter 
ein stoltzer Leib / die Seide ist so klein gesponnen / und ist 
umb dieselbe Schiene gewunden / werdet ihr mir sie herunter 
winden / so sollt ihr mein Kräntzlein von hinnen bringen. 

Junggesell: Ist die Schiene mit Gold belegt / und gehet 
darunter ein stoltzer Leib, ist die Seide so klein gesponnen | 
und ist um dieselbe Schiene gewunden / so bin ich doch so 
hoch gesprungen / und habe sie herunter gewunden / ich ver- 
hoffe das Kräntzlein zu bekommen. 

Jungfer: Ich gieng spaziren über grüne Au [ich wand 
mir mein Kräntzlein grün und blau [ich wand mir es umb | 
ich wand mir es ein / drumb muß das Kräntzlein ja meine seyn. 

Junggesell: Ich gieng spaziren nicht weit vorbey / das 
Kräntzlein gefiel mir von Hertzen fein, ich hoffe es wird bald 
meine seyn. 

Jungfer: Ich saß auf eim hohen Berg-Spitze / ich macht 
mir ein Kräntzlein in grosser Hitze | noch sind mir die rothen 
Rosen hinunter gefallen / werdet ihr mir sie wieder hinauf 
winden, so solt ihr mein Kräntzlein bey mir finden. 


Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 251 





Junggesell: Sind euch eure rothe Rosen hinunter gefallen / 
so bin ich hinunter gesprungen, und habe sie wieder herauf 
gewunden /ich hoffe, das Kräntzlein sey gewonnen. 


Jungfer: Ich gieng spaziren in mein Vater Rosen-Gärtlein / 
da hab ich mir abgebrochen drey Röselein, daraus habe ich 
mir gemacht ein Kräntzlein / von Gold und grüner Seiden um- 
wunden /ich hoffe, die Kräntzlein sind gewonnen. 

Junggesell: Giengt ihr spazieren in eures Vaters Rosen- 
Gärtlein und ihr habt euch abgebrochen drey Röselein, von 
Gold und grüner Seiden umwunden / ich hoffe, das Kräntzlein 
ist gewonnen. 

Jungfer: Werdet ihr mir erschwingen [und die kleinen 
Wald-Vöglein singen, so solt ihr mein Kräntzlein von hinnen 
bringen. 

Junggesell: Einer singt grob, der andere singt klein / ich 
hoffe die Kräntzlein sind mein. 

Jungfer: Was ist härter als ein Stein? was ist geschwinder 
als ein Pfeil? 

Junggesell: Des Menschen Hertz ist härter als ein Stein, 
und die Gedanken sind schneller als ein Pfeil, gebt mir das 
Kräntzlein in aller Eil. 

Jungfer: Rathet mir das: Was ist heisser als der Brand? 
Was ist größer als die Schand? Was ist schwerer als der Sand? 

Junggesell: Das Bley ist schwerer als der Sand, die Wahrheit 
ist heisser als der Brand, die Gnade Gottes ist größer als die 
Schand, schenkt das Kräntzlein den Junggesellen zu Ehren dem 
gantzen Vaterland. 

Jungfer: In meines Vaters Garten da steht ein weisser 
Rosen-Strauch / und auf dem Rosen-Strauche eine Schneeweisse 
Taube / werdet ihr mir dreymal um den Strauch herum draben / 
und die Schnee-weisse Taube nicht aufjagen, so solt ihr mein 
Kräntzlein von hinnen tragen. 

Junggesell: Ich will mich machen zu einem geschwinden 
Knaben, und dreymal geschwind um den Rosen-Strauch draben, 
und die Schneeweisse Taube nicht aufjagen, ich hoff nun 
Kräntzlein von hinnen zu tragen. 

Jungfer: Es ritt ein Reuter über den Rhein / er bracht seiner 
Liebsten Meth und kühlen Wein, ohne Glaß und ohne Faß; 
Junggesell rath, was ist das? 


252 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 





Junggesell: Ist das nicht Meth und kühler Wein, so muß 
es aus einem frischen Brunnen seyn. 

Jungfer: Rath mir das: Rote Lilien auf weisser See / rath mir 
das und anders meh / so wollen wir einander zum Tantze gehn. 

Junggesell: Auf jerrem Teiche wachsen zwey Lilien mit 
einander zu gleiche | wenn ihr eines wedet gerathen haben, 
so will ich mit eures Antwort sagen. 

Jungfer: In meines Vaters Garten, da steht ein Bethlein 
Weize / und mitten inne steht eine schöne Jungfer, wo ihr 
dieselbe habt hören singen, so solt ihr mein Kräntzlein von 
hinnen bringen. 

Junggesell: Womit dieselbe Jungfrau kan so schöne singen, 
es gefällt mir auch wohl, wenn ich höre solche Stimmen klingen / 
eur Kräntzlein muß ich doch von hinnen bringen, 

Jungfer: Wenn ihr spatziret aus der Stuben in das Haus, 
und aus dem Haus, wol um das Haus / und darnach wieder 
herein /so wil ich euch das Kränztlein nicht weiter versagen. 

Junggesell: Ich bin aus der Stube ins Haus geschritten / 
und aus dem Hause um das Haus / und wieder herein, ich 
hoffe das Kräntzlein wird meine seyn. 

Jungfer: Meine Frau hat mirs verboten, ich soll das 
Kräntzlein nicht weg geben. 

Junggesell: Ich wil mir mein Roß satteln, ich will sie darum 
bitten /sie wird die Bitte nicht abschlagen, ihr werdets mir 
geben mögen, ich wils euch zu Ehren tragen. 

Jungfer: Es saß eine schöne Jungfrau in einem Gezelt, mit 
Ehr und Redlichkeit war sie gezieret nach derselben trachten 
die Fürsten, Grafen und Herren | so haben sie auch dieselbe 
nicht können bekommen [ich hoffe, daß ichs errathen habe / 
gibt mir der Kräntzen zur Morgen-Gabe. 

Jungfer: Rathet mir das: was ist krümmer als der Kraut- 
strunk? Werdet ihr mir das errathen, so sollt ihr mein 
Kräntzlein haben. 

Junggesell: Ich gieng durch einen grünen Wald /ich fand 
der Wurzeln jung und alt /ich fand ihr vil darunter | sie waren 
krümmer als der Krautstrunk; gebt mir das Kräntzlein, es 
ist genung. 

Jungfer: In meines Vaters Garten /da steht ein Böthe mit 
Petersilye / dieselbe ist nicht gejethen, werdet ihr mir dieselbe 
jethen 'un kein Blatt zertreten so habt ihr mein Kränztlein erbeten, - 


Reitzenstein: Betrachtungen übes das Liebesleben 253 





Junggesell: Ich wil die Petersilye jethen /und kein Blatt 
zertreten, gebt mir das Kräntzlein ungebeten. 

Jungfer: Mein Kräntzlein ist euch viel zu schlecht / und 
noch darzu euch nicht gerecht. 

Junggesell: Mein Haupt ist mir gar zu glatt und schlecht / 
das Kräntzlein ist mir schon gerecht. 

Jungfer: Mein Kräntzlein stehet mir so veste, als an dem 
Baum die grünen Äste. 

Junggesell: Es stehen so viele Bäume in dem Walde, daß 
die Ästlein wohl selber herunter fallen. 

Jungfer: Der Junggesell kan der Red nicht mehr, drum 
gebt die Kräntzlein alle her. 

Jungfer: Ein Vogel in der Lufft schwebet / auf Erden seines 
gleichen nicht lebet, wenn ihn hungert / frißt er sieben Ochsen. 

Junggesell: Es ist kein Adler oder Schwan /ich mein es 
sey ein Wetterhahn /ich muß das Kräntzlein von euch han. 

Junggesell: Wenn so viel stünden der Jungfern fein, als 
Tropfen in dem Rheine seyn / und euch würd aufgesetzt hin- 
durch zu gehen, mit trocknem Fuß ohne Schiffsteig, Karn und 
Wagen / ich lob euch frey, könnt ihr mir das sagen. 

Jungfer: Da habt ihr denn die Kräntzlein beyde / und 
traget sie mit grosser Freude, ihr habt sie wohl von mir er- 
beten / und kommt so seuber hergetreten / Gott gebe darzu 
seinen Seegen, daran das meiste ist gelegen. 

Junggesell: Also, meine vielgeliebte Jungfern, ich thue mich 
freundlich bedanken / mit den Schwaben und Franken, wenn 
ihr werdet kommen in mein Vaterland / so wil ich machen mit 
euch bekandt, wil lassen decken Tisch und Bänke, den Meth 
und kühlen Wein wil ich euch schenken / daß ihr sollt mein 
gedencken / wird es gleich aus einem kleinen Brünnlein mit 
meiner Hand geschöpffet seyn“. 

Dieses uralte Wortspiel findet sich bei unseren Vätern 
allenthalben in ähnlicher Weise wieder und lebt heute zum 
Teil noch in Kinderreimen weiter. In vorstehendem Beispiel, 
das ja verhältnismäßig spät aufgezeichnet ist, sind verschiedene 
Antworten bereits verloren gegangen und durch wenig 
passende ersetzt. Im großen und ganzen aber gibt es doch 
ein treffendes Beispiel für diesen alten Hochzeitsbrauch. 

Wie wir bereits aus dem ganzen Texte ersehen, war Ehe- 
bruch absolut keine Seltenheit. An Belegen dafür fehlt es 


254 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 


nicht. So berichtet vor allem Äneas Silvius Piccolomini (der 
spätere Papst Ріиѕ 11., 1458—64), аав іт mittelalterlichen Wien 
alle Frauen Ehebrecherinnen, alle Wiener Hahnreie oder Zu- 
hälter seien. Auch Geiler von Kaisersberg erzählt uns ähn- 
liches: „Wenn sie kein gelt mehr haben, sagen sie den weibern: 
‚gehe und lug, das wir gelt haben; gehe zu diesem oder jenem 
Pfaffen, studenten oder edelmann unnd heiß dir ein gülden 
leihen und danck, komb mir nicht zu hauß, wo du kein gelt 
bringest, lug wo du gelt auftreibest oder verdienest, wenn du 





schon es mit der handt verdienest, da du auff sitzest‘. Als- 
dann gehet sie ein ehrliche unnd fromme fraw auß dem Hauß 
und kompt ein hur wider heim“. Daß die Männer gerade sehr 
häufig ihre Frauen verkuppelten, wollen wir nicht annehmen; 
daß es vorkam, ist selbstverständlich. Der häufigste Ehebruch 
seitens des Weibes wurde eben durch die oft lange Abwesenheit 
des Mannes, durch seine zeitweilige Impotenz infolge Trunken- 
heit und durch Krankheit verursacht sowie besonders durch 
die Unmöglichkeit einer leichten Scheidung. So erzählt 
Georg Viviennus im 17. Kapitel seines 1565 erschienenen 
„Weiberspiegels“: 

„Vorzeiten als ich zu Tholosa war /sagte mir ein Student ein lecher- 
lichen bossen / von rechtschaffener Weiberlist._. Derselbe rühmte sich, 


Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 255 


das er mit eines nicht sehr klugen Mannes Weib bulete | welcher oftmals 
schuldenhalber sich nicht durfte lassen daheim finden | sondern mußte die 
Nacht draussen auff de felde schlafen | Als sie aber auff ein zeit den 
Buler bey sich gehabt |ist man vnversehens zu nacht in der temmerung 
zu Hause kommen | da solches geschehen ; hat sie eilendt den Ehebrecher 
vnter des Bette verstackt |und angefangen йеп Мап һе ір zu schelten ! 
das er anheim keme mit meldung |ob er wolle im gefangnus auffstehen | 
dann jetzund erst |sagte sie /sind des Richters diener hie gewesen | vnd 
haben das gantze haus ausgesucht | vnd begeren dich gefangen zu nemen / 
Als ich aber zu ihnen gesagt du pflegest nicht daheim zu schlaffen, 
giengen sie wider hinweg vnd draweten (drohten) | sie wollten nicht lang 
aussen sein | sondern wollten wieder kommen /der gute Mann erschrak 
vn bekümmerte sich | wie er wieder davon Коте / aber die Stadtthor waren 
schon geschlossen | Da sagte das Weib | Wie thustu jm doch du armer 
man | wirstu begriffen /so ist es mit dir aus. Als er aber vor forcht 
zitterte | vnd fragte das Weib vmb rhat | da war sie behende uff list / vnd 
hies ihn hinauff inn den Taubenschlag steigen |vnd die nacht darinnen 
bleiben /so wollte sie aussen die Thür daran zumachen |vnd die leiter 
dauon nemen | das niemandt denken möchte | das er oder jemand darinnen 
wehre ; der Mann folget des Weibes rhat / die dann | nachdem sie die Tür 
vormachet / das er nicht aus dem Taubenschlag gekönt | vnd die leutern 
hinweg genommen /ihren Bulen aus der nottstel darein er sich verkrochen 
hat | wieder herfür bracht | vnd erlöset hat / Welcher dann auch ein gros 
gerausch angerichtet / vnd sich gestelt als wern des Richters Diener 
wiederumb da /vnd dieweil das Weib dagegen des Mannes wort geredet | 
haben sie ihm grosse furcht gemacht | Nach deme es aber alles wieder 
still | sind sie beyde mit einander zu bette gangen | vnd haben sich die 
nacht fröhlich gemacht | der Mann aber ist droben vnter den Tauben und 
Taubenkot gesteckt |“ 


Gefährlich wurde es aber, wenn die Frau es zwar mit ihrer 
Treue nicht genau nahm, sich aber vom Drucke eines bösen 
Gewissens nicht anders befreien konnte als eben auf dem 
Wege der Beichte. In welch sonderbarer Weise sich eine 
solche Beichte dann oft vollzogen haben mag, geht aus nach- 
folgender Episode, die Viviennus an gleicher Stelle erzählt, hervor: 

„Anderswo ist auch fast ein berechtiget Weib gewesen | welche mit 
einem Ehebrecher ein Kind gezeuget | Als sie aber solches gebeichtet ist, 
sie vnterwiesen worden / Gott vergebe jhr solche sünde nicht |sie be- 
kennete sie denn jhrem Man /da erdenkt sie ein werckliche list | wie dann 
die Weiber zu listigkeit geartet sein / Erstlich hat sie den Man gebeten / 
упа so viel bey jhm erhalten / das er sich verlauffen solte / vnd mit andern 
so auff diese zeit Mummen (maskiert) giengen |in die Mummerey gehen | 
solte auch entlich also vermummet anheim kommen | Da aber solches ge- 
schehen /und er also heimkommen /da hat sie das uneheliche Kind umb- 
fangen /und zu ihm gesaget | Sihe | wer ist der Man: es ist ein vermummter 
Teuffel oder Narr ; backe dich du jecke /das ist nicht dein Son (er hat 
einen andern Vater“. 


256 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 





Stellenweise, so in Lübeck, kam es allerdings auch vor, 
daß Ehefrauen, mit dichten Schleiern angetan, in die Wein- 
keller gingen, um sich hier preiszugeben. Doch mag auch 
das selten gewesen sein. 

Bigamie wurde streng bestraft nach der Hals- oder Pein- 
lichen Gerichtsordnung Karls V.: 

„Дет, so eyn ehemann eyn ander weib oder ein eheweib ein andern 
mann inn gestalt der heyligen ehe bei leben des ersten ehegesellen nimbt, 
welche übelthat dann auch eyn ehebruch und großer dann das selbig 
laster ist, und wiewol die Kayserlichen recht auff solche übelthat kayn 
straf am leben setzen, so wollen wir doch, welcher solchs lasters be- 
trüglichen muß, mit wissen und willen ursach gibt und vollbringt, daß die 
nit weniger dann die ehebrüchigen peinlich (d. h. mit dem Todel!) ge- 
straft werden sollen“. (ed. Koch 1800 S. 63.) 

Sie war aber trotzdem nicht allzu selten, denn es werden 
uns mehrere Beispiele berichtet, so: „1447 des jars 12 tag im 
nofember da ertrenckt man einen, des Löffelholtz knecht auf 
der Hallerwisen (zu Nürnberg), hat 4 eefrawen.“ Über die 
Doppelehe des Landgrafen von Hessen haben wir be- 
reits gesprochen. Gesetzlich wurde in Italien der einfache 
Ehebruch mit 50 Lire Geldstrafe und 6 Monaten Gefängnis 
bestraft, während den Juden Bigamie gesetzlich gestattet war.*) 


(Schluß folgt.) 


*) Vgl. Reitzenstein: „Liebe und Ehe im alten Orient“, S. 39. 


Geschlecht und Gesellschaft 
Neue Folge XI, 9 














Kupfer von Dambrun 


Zum Aufsatz Reitzenst 


gen der Braut 


Zubettebrin 


as 


D 


ein 





ERKLÄRUNGSWEGE 
DER GLEICHGESCHLECHTLICHKEIT"). 
Von Dr. med. et phil. Arthur KRONFELD. 


E: wird bekannt sein, daß die Gleichgeschlechtlichkeit oder 
Homosexualität, wie der unglücklich gebildete Fachausdruck 
lautet, von Seiten der naturwissenschaftlichen Betrachtung in 
zwiefacher Richtung einem erklärenden Gesichtspunkt unter- 
worfen worden ist. In dem Lager der im engeren Sinne 
psychiatrischen Erklärung stehen seit Westphal die großen 
klinischen Lehrer der Seelenkunde: Kraepelin, Zieher, 
Heilbronner, Räcke, Klieneberger, Stier. Ihre Meinung 
ist auf eine kurze Formel zu bringen: die gleichgeschlechtliche 
Einstellung des Triebes und Gefühlslebens sei zufällig im 
Einzelnen erwachsen. Gewissen Erlebnissen und Entwicklungs- 
stadien der Kindheit und der Pubertätszeit, die auf erotischem 
oder sexuellem Gebiet sich abspielten, hafte eine derartige 
dauernde Nachwirkung an, daß das seelische Leben des Be- 
treffenden sich niemals wieder von ihr zu befreien vermag. 
Trieb und Strebungen stellten sich ja nach Wirkungen dieser 
Erlebnisse um und erstarrten allmählich in dieser Umstellung. 
Gewiß machen einzelne dieser Forscher noch besondere An- 
nahmen und Voraussetzungen geltend, um die Nachwirkungen 
solcher zufallsmäßigen Erlebnisse sexueller Art verständlich zu 
machen. Diese Annahmen bestehen darin, daß den betreffenden 
Menschen besondere allgemein-seelische Dispositionen 
zugeschrieben werden, die sich auf ihre überstarke Beeindruck- 
barkeit und Gefühlsnachwirkung beziehen, die sich in einer 
gewissen Labilität und Unsicherheit der aktiven seelischen 
Tendenzen äußern, und die man, ohne sie genauer zu zer- 
gliedern, gerne mit dem Worte der psychopathischen Dis- 


*) Aus einer soeben erschienenen Schrift: Über Geschlechtlich- 
keit, Erklärungswege und Wesensschau. Verlag von Julius Pütt- 
mann, Stuttgart. 

17 


258 Kronfeld: Erklärungswege der Gleichgeschlechtlichkeit 





positionen zusammenfaßt, weil wir derartige abwegige Ver- 
haltensweisen, besonders derartige Fixierungen und Nach- 
wirkungen gefühlsstarker Eindrücke auch auf nichtsexuellem 
Gebiete besonders bei solchen Menschen finden, welche zu 
seelischen Leidenszuständen disponiert sind. 

Das zweite Lager, welches mit dem Anspruch auftritt, 
die Gleichgeschlechtlichkeit erklären zu wollen, ist das der 
Konstitutionsforschung. Hier geht man von der Tatsache 
aus, daß sich homosexuelle Triebzüge nicht nur bei reifen 
Kulturrassen mit differenziertem Seelenleben finden, sondern 
auch bei primitiven Völkern und bei Tieren, bei letzteren bis- 
weilen in wesentlich häufigerem Maßverhältnis als beim 
Menschen (so bei Ziegen etwa in 8—10°/,), und daß dieses 
Verhalten beim Tier regelmäßig geknüpft ist an eine besondere 
Beschaffenheit seiner Konstitution, insbesondere derjenigen 
seiner Keimdrüsen. Man geht von zahlreichen klinischen und 
experimentellen Tatbeständen aus, welche die Abhängigkeit 
des Sexualverhaltens, auch im Sinne der gegenständlichen 
Bindung sexueller Triebe, von dem sogenannten Blutdrüsen- 
apparat dartun, zu welchem auch die Keimdrüsen gehören. 
Bekannt sind in dieser Richtung im weiteren Publikum ins- 
besondere die aufsehenerregenden, wenn auch vielseitig deut- 
baren und zuweilen mit vorschneller Einseitigkeit gedeuteten 
Forschungen Steinachs geworden. In der gesamten „Blut- 
drüsenformel“ schien sich mehr und mehr eine ursprüngliche 
physiologisch-dynamische Ausprägungsweise der individuellen 
Konstitution, nicht bloß im Hinblick auf die geschlechtliche 
Eigenart, sondern auch auf den Körperbau und dessen Bean- 
spruchbarkeit, auf viele Krankheitsdispositionen und auf gewisse 
allgemeine psychische Temperamentsgrundlagen (Kretschmer) 
darzubieten. Vererbungsbiologische Tatbestände kamen hinzu. 
Es ließ sich bei manchen Tierarten feststellen, daß die бе 
schlechtsbestimmung der Nachkommen sich nach bestimmten 
Gesetzen an die Zahl der Chromosomen, der Träger des Erb- 
guts, in der männlichen Keimzelle band. Es gelang sogar 
(Goldschmidt, Correns) durch Abstufung der Erbwertig- 
keiten bei Insekten „Intersexe“, also Zwischenglieder zwischen 
männlichem und weiblichem Geschlecht in den körperlichen 
Ausprägungen, zu züchten. Und selbst den Eintritt der Inter- 
sexualität konnte man zeitlich experimentell bestimmen. Er 


Kronfeld: Erklärungswege der Gleichgeschlechtlichkeit 259 


erwiessich als abhängig von der Produktionskurve gewisser Stoffe 
im Zellinnern, deren Wirksamkeit man nicht gut anders be- 
greifen konnte als nach Analogie mit der Wirksamkeit der 
Blutdrüsenformel höherer Tiere, also als Hormone. Die Kon- 
stitutionsforschung ergab also in bezug auf die Grundlagen der 
Geschlechtlichkeit, von weicher unter biologischen Erklärungs- 
gesichtspunkten die psychische Geschlechtlichkeit nicht gut 
abgetrennt werden konnte, drei einwandfreie Daten: Erstens 
die Abhängigkeit in dem Werden und der Ausprägung dieser 
Geschlechtlichkeit von gewissen physiologisch wirksamen, im 
Organismus produzierten Substanzen. Zweitens die direkte 
unmittelbare Zurückführung in der Produktion dieser Substanzen 
auf das konstitutionelle Fundament dieses Organismus. Drittens 
die vererbungsbiologisch feststehende Beziehung dieser kon- 
stitutionellen Fundamente auf die Erbwerte der beidgeschlecht- 
lichen elterlichen Erzeuger. 

Gewisse biologische Theorien haben aus diesen Befunden, 
und überhaupt aus der allgemeinen im Bereich des Lebendigen 
gültigen Tatsache, daß das Erbgut der Erzeuger beiderlei Ge- 
schlechts sich auf die Nachkommen überträgt, ein Naturgesetz 
vo: allgemeinem Gültigkeitsanspruch gefolgert: dieBisexualität 
alles Lebendigen. In der umfassendsten Formulierung dieses 
Gesetzes, welche etwa zwei verschiedene Arten lebendiger 
Substanz, solche mit männlichen und solche mit weiblichen 
Qualitäten und Entwickelungsphasen zugrunde legt (Fliess, 
Weininger), handelt es sich wohl nur um eine philosophierende 
Spekulation, der schon die Tatsache entgegenzuhalten wäre, 
daß der Gonochorismus, die Differenzierung in zwiegeschlecht- 
licher Hinsicht, erst eine entwicklungsgeschichtlich spätere 
Erscheinung darstellt, die nur für einen Teil der Lebewesen 
zutrifft. In seiner engeren Fassung kann man die potentielle 
Bisexualität, die in ihr ruhenden Entwickelungstendenzen, die 
„prospektiven Potenzen“ im Sinne Drieschs, für getrennt ge- 
schlechtliche Lebewesen zugestehen, da sie den erbbiologischen 
Tatsachen entspricht. Aber diese potentielle Bisexualität ist 
eben in ihrer Realisierung den Erbgesetzen unterworfen, und 
da zeigen ja die Tatsachen, daß immer nur die eine Seite der 
biologischen Geschlechtlichkeit zur Dominanz gelangt. Sie 
prägt die Blutdrüsenformel, und diese differenziert das Soma 
nach Gestalt, Funktion und Form in ihrem Sinne. Mit der 

17* 





260 Kronfeld: Erklärungswege der Gleichgeschlechtlichkeit 


allgemeinen Formel von der potentiellen Bisexualität ist also 
zur Erklärung seelischer Eigenarten des Menschen in 
sexueller und erotischer Hinsicht nicht viel anzufangen. 

Es ließe sich aber etwa deduzieren, daß die Dispositionen 
zu den einzelnen Komponenten der Geschlechtlichkeit viel- 
fache seien, und daß jede von ihnen isoliert in der Erbmasse 
übertragen werde. Dann wäre es vorstellbar, daß die einzelnen 
Merkmale der Geschlechtlichkeit unabhängig voneinander 
nach den Gesetzen des Erbganges variationsfähig seien. So 
ließe sich z. B. vorstellen, daß die körperlichen Geschlechts- 
merkmale in ihrer Ausbildung einzeln angelegt und vor- 
bestimmt seien, und daß die Tätigkeit der Blutdrüsen diese 
Anlage bloß aktualisiert. Das Gleiche ließe sich auch im Be- 
reich des seelischen Verhaltens in geschlechtlicher Hinsicht 
vorstellen. So würde die biologische Grundlage dafür gegeben 
sein, daß zwischen der gleichsinnigen Ausprägung aller 
körperlichen und seelischen Merkmale als männlich oder als 
weiblich sich eine fließende Übergangsreihe von Zwischen- 
stadien denken ließe, innerhalb deren einzelne Merkmals- 
komplexe im gegengeschlechtlichen Sinne entwickelt wurden. 
Dieser Gedanke ist der Kern dessen, was an der berühmt 
gewordenen Zwischenstufentheorie Magnus Hirschfelds, 
welche dieser hochverdiente Forscher zur Erklärung der Homo- 
sexualität und verwandter Erscheinungen als erster aufgestellt 
hatte, noch heute berechtigt ist. Es ist deutlich, daB diese 
Annahme rein deduktiv zustandekommt, und daß wir noch 
nicht fähig sind, sie empirisch und experimentell zu bestätigen. 
Sie ist in dieser Formulierung eine physiologisch-erbbiologische 
Hypothese, welche wir einem Einteilungsprinzip als Er- 
klärung zugrunde legen. Auch wer diese Hypothese ablehnt, 
wird von dem Klassifikationsprinzip in der Beschreibung der 
hierher gehörigen Fälle Gebrauch machen müssen. Und in 
der Durchführung dieses Klassifikationsprinzips durch alle 
„intersexuelle“* Bildungen hindurch liegt die eigentliche Be- 
deutung der Magnus Hirschfeld’schen Arbeiten. Man hat 
geglaubt, daß die experimentelle Blutdrüsenforschung, und ins- 
besondere die Arbeiten Steinachs, geeignet sind, dieser 
Theorie eine neue Stütze zu geben. Das ist nicht in vollem 
Maße der Fall. Aber den Arbeiten Steinachs geschieht in 
der Gegenwart vielfach ein durch nichts begründetes Unrecht. 


Kronfeld: Erklärungswege der Gleichgeschlechtlichkeit 261 
Weil die überpflanzten Keimdrüsen beim Menschen nicht ein- 
heilungsfähig sind, und weil darum die Erfolge der Keim- 
drüsenüberpflanzung beim Menschen nicht den Erwartungen 
entsprachen (was nicht das Geringste gegen die Tierversuche 
besagen will), und ebenso weil Steinach in Einzelheiten der 
morphologischen Deutung der Keimdrüsenbefunde sich in 
offensichtlichen Irrtümern bewegte, — darum besteht noch 
nicht der mindeste Grund, den positiven Gewinn seiner ex- 
perimentellen Studien so gewaltsam zu übersehen, wie dies 
heute vielfach geschieht. Es bleibt eine Tatsache, daß es 
möglich ist, durch experimentelle Überpflanzung von Keim- 
drüsen auf entgegengesetzt geschlechtliche Tiere, die man zuvor 
der eigenen Keimdrüsen beraubt hat, heterologische Geschlechts- 
merkmale zu erzeugen, nicht nur im Körperbau, sondern auch 
in ihrem seelischen und geschlechtlichen Verhalten. Hierin 
liegt eine mächtige Stütze der konstitutions-biologischen An- 
nahme, daß das geschlechtliche Verhalten ebenso eindeutig von 
der Beschaffenheit der Blutdrüsen und ihrem Zusammenspiel 
abhängt und durch Veränderungen desselben modifizierbar ist, 
wie etwa die Körperbeschaffenheit. Gesamtbiologisch gedacht, 
müßte dies auch für den Menschen gelten, und somit wäre 
auch das seelische Verhalten des Menschen in erotischer 
und sexueller Hinsicht der direkte Ausdruck seiner Kon- 
stitution, es wäre die Ausprägung seiner besonderen indivi- 
duellen Organisiertheit. Und auch die Gleichgeschlechtlichkeit 
entspräche dann einem tiefen wesensmäßigen Bedürfnis seiner 
spezifischen Organisation. 

Welcher Art beim gleichgeschlechtlichen Menschen diese 
Spezifität der Organisation ist, darüber wissen wir noch außer- 
ordentlich wenig. Die naturwissenschaftliche Erklärung gibt 
dazu nur Fingerzeige und Analogien, aber keinerlei faßbares 
Ergebnis. Nur in sehr seltenen Fällen gelingt es uns, beim 
gleichgeschlechtlichen Menschen Abweichungen in der Keim- 
drüsenbeschaffenheit etwa im Sinne einer Mischung der beid- 
geschlechtlichen Keimdrüsen festzustellen. Etwas häufiger sind 
die Fälle, wo nicht sowohl die Keimdrüsen, als vielmehr 
andere Blutdrüsen bei gleichgeschlechtlichen Menschen ein 
anomales Zusammenspiel zeigen, und dadurch die Konstitution 
in verschiedener Weise modifizieren. In der Mehrzahl der 
Fälle bieten die gleichgeschlechtlichen Menschen Individuali- 


262 Kronfeld: Erklärungswege der Gleichgeschlechtlichkeit 

täten dar, die wir konstitutionsbiologisch nicht auf Gesetze 
einer Zwischengeschlechtlichkeit zurückführen können, auch 
wenn wir es wollen. Die Gleichgeschlechtlichkeit steht in einer 
engen Wechselwirkung zur übrigen seelischen und sozialen 
Persönlichkeit; alle diese Wechselwirkungen gehorchen ihren 
eigenen Notwendigkeiten. Vergeblich aber suchen wir oftmals 
nach irgend welchen physisch spezifischen Korrelaten. 

Ein solches Korrelat scheint sich uns einstweilen zu bieten, 
wenn wir gerade bei gleichgeschlechtlichen Menschen die 
mehr oder weniger ausgeprägten Anzeichen eines Konstitutions- 
typus finden, welche wir dem Sammelbegriff der „dysklan- 
dulären Infantilismen“ im weitesten Sinne unterordnen 
können. Es handelt sich um konstitutionelle Zusammenwirkung 
der Blutdrüsen, welche eine Persistenz, ein Bestehenbleiben 
kindlicher oder jugendlicher Entwicklungszüge über ihre sonstige 
Dauer hinaus bewirken. Durch die besondere Art des Zu- 
sammenwirkens der Blutdrüsen entsteht in solchen Fällen eine 
vorbedingte Hemmung in der Reifeentwicklung be- 
stimmter Körperbaustigmen und wahrscheinlich auch bestimmter 
seelischer Haltungen. Die Gründe dieser abnormen Zusammen- 
wirkung der Blutdrüsen sind sehr vielseitige und können hier 
nicht weiter verfolgt werden*), ebensowenig wie die einzelnen 
Typen der infantilistischen Konstitution (die hypophysären 
Typen, die dysgenitalen Typen, der thymisch-Iymphatische Typ, 
der dysthyreotische Typ usw.). Wir finden die Merkmale der- 
artiger Infantilismen beim gleichgeschlechtlichen Menschen, 
zum mindesten partiell, relativ häufig: und insbesondere Weil 
hat auf bestimmte Eigenarten in den Wachstumsverhältnissen 
homosexueller Männer und Frauen hingewiesen, die sich exakt 
messen lassen, und im Sinne des Infantilismus von denen der 
normal-sexuell veranlagten Menschen abweichen. Kretschmer 
hat die Eigenarten der Körperbaustigmen bei gleichgeschlecht- 
lichen Menschen sehr häufig vereinigt gefunden mit Dis- 


*) Die genauere fachwissenschaftliche Begründung der oben dar- 
gelegten Stellungnahme, und ebenso die weitere Ausführung meiner 
eigenen Arbeit auf diesem Gebiete findet der Interessierte in meinen 
Abhandlungen: „Der konstitutionelle Faktor bei sexuellen Triebanomalien«, 
Zeitschrift für Sexualwissenschaft, Band 8, 1.—3. Heft 1921. Und ferner: 
„Über psychosexuellen Infantilismus“, 1921, Verlag Ernst Bircher, Leipzig 
ınd Bern, 1921. 


Kronfeld: Erklärungswege der Gleichgesc hlechtlichkeit 263 





positionen zu bestimmten allgemeinen Temperamentseigen- 
schaften, mit einem Springen der Temperamentskurve zwischen 
Hyperästhesie und bewußter Kühle, und mit .der Disposition 
zu bestimmten vererbbaren Charakterstrukturen und seelischen 
Erkrankungsweisen im Sinne mancher Jugendirreseinsformen. 
Magnus Hirschfeld und auch ich haben nicht allzuselten 
erlebt, wie ohne Wissen von einander Vater und Sohn, oder 
Bruder und Bruder einzeln in die Sprechstunde kamen und ein 
Bekenntnis ihrer Gleichgeschlechtlichkeit ablegten. Auch 
hierin liegt ein Hinweis auf die gleichsinnige Vererblichkeit der 
biologischen Merkmalsgruppen, aus welchen auch die Gleich- 
geschlechtlichkeit irgendwie derivieren muß. 

Fassen wir die etwas verstreuten konstitutionsbiologischen 
Befunde in einen Satz zusammen, so lehren sie uns: Die 
Gleichgeschlechtlichkeit ist ihren Trägern etwas Wesens- 
mäßiges, mit ihrer Konstitution schicksalshaft verwachsen; sie 
ist nicht eine zufällige Pervertierung der Seele und der Triebe, 
wie dies von bestimmten anderen sexuellen Verhaltensweisen 
angenommen wird, sondern sie entspricht einem notwendigen 
und tiefen Wesensbedürfnis in den Grundlagen des gesamten 
Menschen, der sie trägt. 

Ich glaube auch nicht, daß ein wirklicher Gegensatz 
zwischen den beiden Lagern besteht, die wir als das psycho- 
pathologische und das konstitutionsbiologische in dieser Frage 
ursprünglich geschieden sahen. Schon mit dem Ausspruch, 
die gleichgeschlechtliche Einstellung gründe sich auf Erlebnis- 
wirkung, war für das psychologische Lager ja die Notwendig- 
keit gegeben, darzutun, inwiefern bestimmte Erlebnisse von 
so grundlegender und gestaltender Nachwirksamkeit auf einzelne 
Menschen zu sein vermöchten, die bei anderen Menschen ein- 
druckslos und rasch vorüberhuschen. Die einseitige Heraus- 
hebung des äußeren Zufallsfaktors ist nur eine falsche psycho- 
logische Abwandlung der Leibnizschen Formel: 

Nihil est in intellectu, quid non fuerit in sensu. 

So richtig dieser Satz aus der Erkenntnislehre ist, so 
wenig ist es seine Meinung, daß es nicht besonderer 
Grundlagen und Anlagen bedürfe, damit etwas, was in sensu 
war, auch in den Intellekt übergehen könne. Diese Anlagen 
in ihrer spezifischen Bedeutung dürfen für kein Erlebnisgebiet 
übersehen werden; sie sind, auch wo sexuelles Erleben zur 


264 Kronfeld: Erklärungswege der Gleichgeschlechtlichkeit 


Nachwirkung gelangt, sicherlich zum Teil allgemein- 
seelischer Art. Aber damit sexuelles Erleben sich dauernd 
und Richtung gebend fixiere, und die Triebform nach kurzem 
in seinem Gleise erstarren lasse, bedarf es doch 
spezifischer Anlagen und Voraussetzungen, die zu be- 
stimmten Ausprägungsweisen des Triebes die Vorbedingungen 
abgeben. Und man sieht schon, wie diese Annahme den- 
jenigen der konstitutionsbiologischen Erklärung entgegenkommt. 
Kraepelin selber faßt neuerdings diese spezifischen Dis- 
positionen für die Fixierung gleichgeschlechtlichen Erlebens 
und Reagierens als Infantilismen auf — eine Formel, die 
sicherlich nur teilweise richtig ist, in welcher aber ein Teil 
der konstitutionsbiologischen Daten bereits zu voller An- 
erkennung durchbricht. 

Ebenso wäre eine konstitutionsbiologische Erklärung ein- 
seitig, wenn sie nicht auch den zeugenden und bestimmenden 
Wert des Erlebens für die Bildung der Seele gelten ließe, 
wenn sie vielmehr ein starres und vollendetes Präformations- 
system annähme, an welchem Entwicklung und Leben nichts 
mehr zu formen und mit Inhalt zu erfüllen hätten. Man muß 
sich doch fragen: was kann angelegt, was kann als Disposition 
gegeben sein? Und sofort wird die Antwort sein: bestimmte 
Fähigkeiten und Möglichkeiten, bestimmte Reaktionsbereit- 
schaften, kurz ein nach Qualität und Stärke bestimmter Inbegriff 
von „Irritabilität“ im Sinne des großen Haller. 

So muß es auf allen seelischen und körperlichen Gebieten 
sein; aber erst die gelebte Wirklichkeit schafft aus diesen 
potentiellen Formen tatsächliche Gebilde und individuelle 
Gestalt. Wir haben Sprachzentren, und die Fähigkeit sprechen 
zu können ist uns angeboren, sie ist in uns angelegt. Welche 
Sprache aber der Einzelne erlernt, das bestimmt sich durch 
Umstände, die außerhalb seiner selbst liegen; und damit 
wird sein ganzer Gesichts- und Kulturkreis, sein Denkstil und 
seine geistigen Möglichkeiten, kurz ein entscheidender Anteil 
seiner Individualität, durch seine Entwicklung und durch sein 
äußeres Erleben selber erst geformt. 

Wir sehen somit: Der genannte Gegensatz: „exogen“ und 
„endogen“ — ist falsch. In ihm hebt sich ein einseitiger 
Abstraktionsgesichtspunkt heraus, welcher sinnwidrig ver- 
absolutiert wird. Jedes seelische Sichereignen ist notwendig; 


: Kronfeld: Erklärungswege der Gleichgeschlechtlichkeit 265 


keines ist zufallsmäßig. Jedes ist Folge mehrerer Deter- 
minanten; in den Symbolen „Erlebnis“ und „Reaktivität“ er- 
fassen wir wenigstens einige von ihnen; und gerade diese 
beiden sind in ständiger Wechselwirkung. Wir können 
dies ausdrücken durch die umfassendsten Formeln, die wir 
für alle Bildungen des Lebendigen überhaupt besitzen: durch 
Verworns Formel vom Wesen des Organismus, welche sich 
in den Beziehungen von Reiz und Reaktion abdrückt; oder 
durch die philosophische Formel des deutschen Idealismus vom 
Wesen des spezifisch Seelischen als einer „erregbaren Selbst- 
tätigkeit“. 

So sehen wir, wie das Wesen der Gleichgeschlechtlichkeit 
den Erklärungsgesichtspunkten der Naturwissenschaften — so 
wertvolles sie auch an Hinweisen aufzuführen vermögen — 
eigentlich entgleitet. Wir haben hier noch eines letzten Er- 
klärungsversuchs zu gedenken, welcher vor den oben genannten 
den einen gewaltigen Vorzug hat, daß er sich nämlich ganz 
innerhalb der innerseelischen Kausalität hält. Es ist 
die Erklärung der Gleichgeschlechtlichkeit durch die allgemeinen 
Annahmen Freuds und seiner Schüler. Es ist hier nicht der 
Ort, zu dem Gesamtgebäude der Lehren des genialen Psycho- 
logen Stellung zu nehmen. Wir wollen auch nicht seine be- 
sonderen genetisch-dynamischen Behauptungen über die Ent- 
stehung der Gleichgeschlechtlichkeit im Einzelnen kritisieren; 
wir wollen lediglich an ihnen, als an einem Beispiel, uns klar 
machen, wie es auch der sorgsamsten Analyse individueller 
Seelengestaltung nicht zu gelingen vermag, die Gleichgeschlecht- 
lichkeit wesensmäßig und ohne Rest aus bloßen Erlebnis- 
wirkungen herauswachsen zu lassen. Bekanntlich verlegt 
Freud die Entstehung der Gleichgeschlechtlichkeit ebenso wie 
die aller Triebgestaltungen in die erste Kindheitsepoche, in 
jene Zeit, in welcher sich aus dem undifferenzierten Strome 
des Trieblebens, der „Libido“, die einzelnen Stufen und 
Stadien der Triebentwicklung organisieren und herausschälen. 
Und er sieht für die Entstehung der Gleichgeschlechtlichkeit 
beim Manne die wesentlichen seelischen Bedingungen in einer 
frühkindlichen übermäßigen Fixierung des Trieblebens an die 
Mutter, sowie an das eigene Ich. Aber derartige Fixierungen 
treten nach seiner eigenen Lehre in jedem Falle und gesetz- 
mäßig immer wieder auf; und es erhebt sich die Frage: wir 


266 Kronfeld: Erklärungswege der Gleichgeschlechtlichkeit 





kommt es zu einer besonderen Nachwirkung gerade dieser 
Fixierungen frühkindlicher Triebe beim gleichgeschlechtlichen 
Menschen? Schon Freud selber mußte hier zu der biologischen 
Hilfsvorstellung greifen, daß in diesen Fällen eine besondere 
Disposition zum Haften und zur Nachwirkung gerade derartiger 
frühinfantiler Bindungen vorausgesetzt werden muß; und ledig- 
lich einige seiner Schüler, die er selber mit Recht als „ver- 
wahrlost“ bezeichnet hat, übersehen diese seine Annahme, um 
„psychologisch“ darauf loszuorakeln. Freud war auch der erste, 
der erkannt hat, was die wirklich wertvollen Nachfolger seiner 
Lehre immer mehr herausgearbeitet haben: daß die Typik der 
frühinfantilen Triebbildungen ganz allgemein einer Dynamik 
entspricht, die aus entwicklungspsychologisch frühen Stufen des 
seelischen Werdens stammt, und für deren archaische Dispo- 
sitionen und Mechanismus jene frühinfantilen Erlebnisse nur 
die ersten wirklichen Prüfsteine sind. Wir fassen heute 
jene frühkindliche Entwicklung der Libido nur noch als die 
Bestätigung und das Signal für die Ansprechbarkeit und das 
Vorhandenseinjenerarchaischen, primitiven Erlebensdispositionen 
auf, gemäß denen sich dann die inviduellen Triebschicksale 
gestalten. Wir sehen also in dieser neueren Formulierung der 
Lehre, wie sie vor allem Schilder vertritt, daß die lediglich auf 
das äußere Erleben gestellte Betrachtung der Triebentwicklung 
mehr und mehr durch eine synthetische Erfassung der seelisch 
disponierenden dynamischen Einstellungsformen und des 
frühkindlichen Erlebens ersetzt worden ist. Auch hier also ist 
man zur Betrachtung der seelischen Anlage in ihrer indivi- 
duellen psychischen Ausprägung immer mehr fortgeschritten. 
In dieser letzten Formulierung hält die — von früheren Dog- 
matismen gereinigte — Freudsche Lehre unaufhaltsam ihren 
Einzug in die Psychiatrie wie in die Sexualwissenschaft und in 
dieser Form vermag sie unsere oben gewonnenen Ergebnisse 
zur Erklärung der Gleichgeschlechtlichkeit, so spärlich sie waren, 
um manche Einzelzüge zu bereichern. 

Es zeigt sich bei dieser Gelegenheit, daß es um die wesens- 
mäßigen Grundlagen der Gleichgeschlechlichkeit als ursprünglich 
gegebene anzuerkennen, relativ belanglos ist, ob man sich diese 
inneren Determinanten als allgemeinbiologisch oder als sexual- 
spezifisch, ob man sie sich als körperlicher oder als rein see- 
!ischer Artung vorstellt. Freilich sind spezifische sexualbiologische 


Zell: Die Affen als Frauenrauber 267 


Bestimmungsstücke als Dispositionen zu gleichgeschlechtlicher 
Triebrichtung in keinem einzigen empirischen Falle mit Sicher- 
heit auszuschließen. Wir kennen sie andererseits allerdings 
fast niemals. Sodann aber sind charakterogene Notwendig- 
keiten und Wesensgemäßheiten gerade so real, gerade so sehr 
Notwendigkeiten, wie dies körperlich verankerte Dispositionen 
sind. Es ist bedauerlich, daß in der naturwissenschaftlichen 
Erklärung der Gleichgeschlechtlichkeit diese selbstverständliche 
Einstellung niemals so recht zum Durchbruch gelangt. Das 
liegt an der Befangenheit dieser ganzen Erklärungsweise in dem 
vermeintlichen Primat des Körperlichen. 


Sal 


DIE AFFEN ALS FRAUENRÄUBER*). 
Von Dr. TH. ZELL, Berlin. 


р“ Glaube, daß die männlichen Affen auf unsere Frauen 
lüstern seien, besteht wohl bei allen Völkern, in deren Gebiet 
große Affen hausen. Ja, dieser Glaube muß schon seit Urzeiten 
bestanden haben, denn die Sage von den nach Weibern lüsternen 
Satyrn kann, wie wir sehen werden, nur auf diesem Wege ge- 
deutet werden. 

Ist an diesem Glauben etwas Wahres? Müßte diese Frage 
bejaht werden, so wäre damit für das Bestehen der Überkreuz- 
regel ein sehr wichtiger Beweis geliefert. 

Über die Frage, ob Frauenraub durch Affen vorkommt, 
habe ich bereits im Jahre 1914 in den Zeitungen das Wort 
ergriffen. Im Deutschen Kurier (Nr. 164) erwähne ich den 
Bericht des Feldmessers Nahr in „Kolonie und Heimat“, der 
folgendermaßen lautet: 

„Es war am 1. März 1911, als ich von meiner mehrtägigen 
Dienstreise von Jaunde auf dem Lager des Landmessers Wilhelm 
bei dem Orte Esumba-Mbeke, hart an der Grenze der beiden 


*) Мі gütiger Genehmigung aus Dr. Th. Zell: Die Diktatur der Liebe, 
Hamburg-Berlin, Verlag von Hoffmann & Campe. Dieses von uns bereits 
besprochene kleine hübsche Geschenkwerk kann unseren Lesern nur 
dringend empfohlen werden. Es zeichnet sich durch seinen angenehmen 
und leicht verständlichen Stil aus und schneidet eine Reihe der inter- 
essantesten Fragen an. Zu beziehen durch unsere Buchhandlung Richard 
A. Giesecke, Dresden, Hettnerstr. 4. Die Schriftleitung. 


268 Zell: Die Affen als Frauenräuber 


großen Stämme Jaunde und Bakoko eintraf, um mich von den 
ausgestandenen Anstrengungen zu erholen. Ich hatte es mir 
kaum etwas bequem gemacht, als ich ganz in der Nähe des 
Buschhauses ein fürchterliches Schreien und Jammern hörte. 
Der schwarze Koch des Herrn Wilhelm kam ins Haus gestürzt 
und rief mir mit allen Zeichen des Entsetzens zu: „Herr, der 
große Buschmann ist da!“ Schnell packte ich meine gute Pürsch- 
büchse und rannte in meinen nicht mehr ganz wasserdichten 
Hausschuhen dem Unhold entgegen. Als ich aber nach wenigen 
Minuten an dem Platze ankam, von dem das Geschrei ertönte, 
bot sich mir ein furchtbarer Anblick. Ein mächtiger Gorilla 
lag auf einem Schwarzen und richtete sein Opfer schrecklich 
zu, während die Kameraden mit Buschmessern bewaffnet, in 
kurzer Entfernung den Schauplatz umstanden, aber nicht wagten, 
den Unglücklichen aus der Gewalt des Gorillas zu befreien. 
Als ich mit meiner Büchse in einer Entfernung von etwa 
40 Meter erschien, was der Bestie nicht entgangen war, erhob 
sich diese kampfbereit. Doch das Tier hatte keine Zeit mehr zu 
einem Angriff. Durch einen Herzschuß getroffen, wankte es 
noch drei Schritte abseits, um dann zusammenzubrechen. Der 
Kampf zwischen dem Schwarzen und dem Affen hatte sich 
nach der: Erzählung der Eingeborenen etwa folgendermaßen 
abgespielt: Das Tier spazierte gemütlich aus dem Busch heraus, 
um eine der auf der Farm arbeitenden Frauen zu entführen. 
Die begann natürlich fürchterlich zu schreien. Die Männer 
wurden dadurch aus ihrem gewohnheitsmäßigen Schlaf auf- 
gescheucht und eilten der Frau zu Hilfe. Der Affe ließ nun 
von dem Weibe ab, rächte sich aber dafür an demjenigen, der 
ihm zu nahe gekommen sein mußte. Dieser Mann, den ich 
nachher nach dem Hospital der Kameruner Mittellandbahn an 
der Kribi-Jaundestraße (wo ihn Herr Dr. Fußzek behandelte) 
bringen ließ, hatte furchtbare Verletzungen. Beide Hände waren 
total zu Brei gedrückt. Die Waden waren bis auf den Knochen 
glatt durchgerissen, ebenso die Armmuskeln. Ein Beweis, welch 
unheimliche Kraft ein solches Tier besitzt.“ 

Diesem Bericht kann man wohl, da er alle Einzelheiten 
genau angibt, Glauben schenken. Man kann es umso eher, da 
er ganz im Einklange mit ähnlichen Beobachtungen steht. 

Sehr lehrreich ist folgender Fall, bei dem ein Mandrill der 
Held der Ereignisse ist. Er gehört sicherlich zu den scheuß- 


Zell: Die Affen als Frauenräuber 269 


lichsten Affenarten, die wir kennen, da er eine zinnoberrote 
Nase und blaugefurchte Wangen besitzt. Seine Kehrseite kann 
man gar nicht schildern. Augenblicklich besitzen wir im „Zoo“ 
ein ausgewachsenes .Prachtexemplar und ebenso einen Vetter 
von ihm, den schwarzköpfigen Drill, dessen Gesicht ein weißer 
Bart umrahmt. Beide geben an Größe einem Orang-Utan nicht 
viel nach. Im Pflanzengarten zu Paris hatte sich, wie Brehm 
erzählt, ein solcher Mandrill in die Tochter eines Wärters ver- 
liebt, und seine Eifersucht wurde einmal sehr geschickt benutzt, 
um ihn, der aus seinem Käfige ausgebrochen war und viel 
Unheil anrichtete, wieder in das Gefängnis zu bringen. Er 
hatte alle gütlichen Versuche scheitern gemacht und bereits 
einige von seinen Wärtern verwundet, als der schlaueste der- 
selben auf den Gedanken kam, den Affen durch seine Leiden- 
schaft in den Kerker zurückzulocken. An der Rückseite des 
Käfigs befand sich eine kleine Tür; hinter diese mußte sich die 
Tochter eines der Wärter stellen, und zwar so, daß sie der 
Affe sehen konnte. Nun trat einer der Wärter zu dem Mädchen, 
umarmte es und stellte sich dann an, als ob er es küssen 
wollte. Das war zu viel für den verliebten Mandrill. Er stürzte 
wie rasend auf den Mann los, gewiß in der besten Absicht, ihn 
zu zerreißen, mußte aber, um zu seinem Zwecke zu gelangen, 
notwendig in den Käfig hineingehen. Alle Klugheit war ver- 
gessen, der eifersüchtige Affe ging ohne Besinnen durch die 
offene Tür und sah sich eine Minute später hinter den eisernen 
Gittern. 

Selbst von den kleinen Affen, wie dem Wanderu (macacus 
silenus) und dem grünen Affen wird ähnliches erzählt. Hartmann 
berichtet von dem Babuin, einer Pavianart, folgendes: Die Ein- 
geborenen bekümmern sich im ganzen wenig um ihn, obschon 
sie gelegentlich ein Junges fangen und aufziehen. In einer 
Hinsicht aber scheinen diese Paviane den Fungis doch lästig 
zu werden, wenn diese nämlich Wasser holen wollen. Die 
Paviane steigen von den Bergen, aus denen einige dünne 
Wasserfäden abwärts rieseln, zur Ebene hinab und trinken hier 
aus den kleinen Quellteichen und Regenwasserpfützen. Nun 
versichern die Fungis allen Ernstes, daß ihre jungen Mädchen 
beim Wasserholen nicht selten von alten Babuinen angegriffen 
und mißhandelt werden. Deshalb gehen, sobald man noch 
halbe Kinder auf die Wasserplätze sendet, stets einige mit 


270 Zell: Die Affen als Frauenräuber 


Lanzen und Schleudereisen bewaffnete junge Männer zu deren 
Schutze mit. 

Daß die großen Affen Frauen rauben, ist von den Ein- 
geborenen stets erzählt, aber eigentlich nicht recht geglaubt 
worden. In der zweiten Auflage von Brehm steht beispielsweise 
folgender Bericht von Wimwood Reade: In einem Dorfe am 
rechten Ufer des Fernandovaz wurde mir erzählt, daß die 
Frauen, während sie zum Brunnen gingen, sehr häufig von 
Gorillas gejagt werden, in der folgenden Auflage hat man diese 
Stelle, jedenfalls weil man sie für unglaubwürdig hielt — ge- 
strichen. 

Hiergegen hat Dr. Reichenow in der „Täglichen Rund- 
schau“ Nr. 137 das Wort ergriffen, unter der Überschrift: Der 
Gorilla als Entführer. 

Meine Erwiderung lautete „Tägliche Rundschau“ Nr. 163: 
Es ist mit Dank zu begrüßen, daß ein Fachmann den riesigsten 
Affen in seiner Heimat eingehend beobachtet hat. Trotzdem 
kann ich seinen Ausführungen nicht beistimmen. 

Mein Gewährsmann ist der leider so früh verstorbene 
Major Dominik. Was bisher selbst im Altertum noch nicht 
gelungen war, nämlich ausgewachsene männliche Gorillas ein- 
zufangen, war ihm mit Hilfe von 1000 Eingeborenen geglückt. 
Ich habe den Bericht über den gelungenen Fang seinerzeit in 
der „Gartenlaube“ (1907 Nr. 41) auf Grund seiner mündlichen 
Angaben veröffentlicht. 

Major Dominik hatte die Freundlichkeit, meine Arbeiten 
über den Gorilla durchzusehen und mit mir alle Einzelheiten 
zu besprechen. 

Aus seinen Gesprächen ging hervor, daß Major Dominik 
jedenfalls nicht daran gedacht hat, den Frauenraub von Gorillas 
als törichtes Märchen zu bezeichnen. 

Es fehlt mir leider der Raum, meine Ansicht eingehend 
zu begründen. Ich will zum besseren Verständnis für den 
Leser folgendes Beispiel wählen. Wir wissen, daß in Deutsch- 
land alljährlich ein Mensch einem wütenden Hirsch zum Opfer 
fällt. Ein Gelehrter bezweifelt das, bereist Deutschland und 
erklärt: „Diese Angabe ist ein Märchen, denn Hirsche leben in 
der Nähe mancher Ortschaften. Die Leute besuchen ohne 
Furcht den Wald, wo Hirsche leben.“ 

Das ist genau die Beweisführung von Dr. Reichenow. — 


| 
| 


Zell: Die Affen als Frauenräuber 271 


Warum ist sie ganz verfehlt? Weil kein Tisrxenner auf den 
Gedanken kommen kann, daß der Gorilla stets auf solchen 
Raub ausgehe. In Betracht kommen doch nur oder fast nur 
abgekämpfte Männchen, die also keine Äffin erhalten haben, 
genau wie der Hirsch, namentlich der eingegatterte, nur zur 
Brunstzeit, also im September und Oktober gefährlich wird. 

Hat der Gorilla nur die Absicht, wie Herr Dr. R. meint, 
sich Ruhe zu verschaffen, so braucht er dem Negerweib doch 
nur mit seinen Riesenfäusten auf den Schädel zu hauen. Dann 
könnte auch kein Neger auf den Gedanken kommen, er habe 
sie rauben wollen. 

Was Dr. Reichenow anführt, beweist demnach nicht das 
geringste. Leider läßt sich eine Menge von dem, was zur Be- 
stätigung meiner Ansicht dient, in einer Zeitung nicht gut ver- 
öffentlichen. 

Wen noch irgendwelche‘ Zweifel plagen, ob die männlichen 
Affen eine Vorliebe für Menschenfrauen haben, den dürften die 
Erlebnisse mit der Affenkolonie Windhausen bei Kassel eines 
besseren belehren. 

Franz Treller hat darüber in einem Artikel im „Daheim“ 
berichtet. Der Gründer dieser Kolonie, die wohl einzig in 
Deutschland dagestanden hat, ist der hessische Staatsminister 
Martin Ernst von Schlieffen. 

Daß es sich hier um eine historisch beglaubigte Tatsache 
handelt, geht daraus hervor, daß auch der neueste Brehm sie 
anführt. 

Im siebenjährigen Kriege hatte Schlieffen eine Äffin aus 
dem Geschlechte der Makaken, die Buffon Aigrettes nannte, 
ein Mittelding zwischen Pavian und Meerkatze, die in Mittel- 
afrika zu Hause sind, erworben. Da das Tier ihm große An- 
hänglichkeit zeigte, führte er es auf all seinen Feldzügen mit 
und bereitete ihm später eine Heimstätte in Windhausen. Ја, 
er wußte ihm einen männlichen Gefährten zu verschaffen, und 
hatte bald die Freude, eine Affenfamilie um sich zu sehen, die 
sich von Jahr zu Jahr vermehrte und bald Enkel und Urenkel 
aufwies. Schlieffen ließ seine Affen vollständig im Freien, nur 
daß verschiedene für sie angelegte Grotten und Höhlen ihnen 
Schutz vor den Unbilden der Witterung gewährten. 

Die ganze Affenkolonie bezeigte ihrem Herrn die größte 
Anhänglichkeit. Fuhr oder ritt er nach Cassel, so begleiteten 


272 Zell: Die Affen als Frauenräuber 


sie ihn bis zum Rande des Parks und hockten solange ängstlich 
ausspähend auf dessen Bäumen, bis er zurückkehrte. Erblickten 
sie ihn endlich in der Ferne, war die leidenschaftliche Freude 
der Tiere ganz unbeschreiblich und gab sich in geradezu 
rührender Weise kund. 

Als die Kolonie, sehr zum Verdrusse des Gärtners, der 
Haushälterin, der Dienerschaft, immer zahlreicher wurde, stellten 
sich nach und nach Unliebsamkeiten heraus, die auch den um- 
wohnenden Bauern wenig angenehm waren. 

Das erste gewaltige Aufsehen machte die Entführung eines 
Säuglings. Eine Bauersfrau, die auf Windhausen arbeitete, hatte 
ihr erst wenige Monate altes Kind mit sich geführt und in 
einem Korbe neben sich liegen. Das kleine Menschenkind 
erregte die lebhafte Teilnahme einer zärtlichen Äffin, sie nahm 
es aus dem Korb und begab sich mit ihm auf das Dach der 
nahen Scheune, es dort nach ihrer Weise liebkosend. Die 
Angst und Verzweiflung der Mutter, die Aufregung der Knechte 
und Mägde war groß. Jeden Augenblick konnte das launische 
Tier sein Spielzeug der Gefahr aussetzen, hinabzustürzen; es zu 
jagen, um ihm die Beute abzunehmen, würde das Verderben 
des Kindes erst recht besiegelt haben. Der General war nicht 
anwesend. Dem Verwalter, der noch am besten mit dem Affen 
umzugehen verstand, gelang es endlich, nachdem er vorsichtig 
das Dach der Scheune erstiegen, durch Schmeicheleien und 
Darbietungen von Leckerbissen das Tier zu bewegen, seinen 
Raub gutwillig fahren zu lassen, so daß der geängstigten Mutter 
das Kind unverletzt zurückgegeben werden konnte. 

Bald darauf erregte ein anderer Vorgang noch größeren 
Unwillen. Die älteren männlichen Makakos zeigen mitunter eine 
lebhafte Vorliebe für die jungen Bauernmädchen, gewöhnlich 
aber gelang es diesen, den zudringlichen Galan mit einer Ohr- 
feige abzufertigen. Eines Tages benahm sich ein alter Bursche 
aber so frech, und endlich bissig gegen ein durch den Park 
gehendes Mädchen, daß dieses um Hilfe schrie. Einige Burschen 
eilten herzu, den Affen zu verjagen, dem aber kamen sofort 
seine Stammesgenossen zu Hilfe, und es entspann sich eine 
Schlacht, in der unter den Knütteln der wütenden Bauern Affen- 
arme und -beine brachen und zwei der Vierhänder ihr Ende 
fanden. Die Bauern, von denen einige gehörige Bißwunden 
davongetragen hatten, waren so wütend, daß nur der tiefe 
Respekt vor dem General sie abhielt, alle Affen niederzumachen. 





Tafel II 


d CEA 


ae | WA TE ET TEL A ee — 


x 7 zu ~ ~ е r e wıw ~ Y Tr ғ ” 
А AAS EAA Sn ne Г RENNER rau daten | 


7 
пи Јо 


МЕЕ. 


А Ст u 


„А. МА 





Fee EE 


_ 





Aufstehen nach der Brautnacht — Kupfer v. Dambrun 
Zum Aufsatz Reitzenstein 


Tafel III 








Gefährliches Vergnügen 
Zum Aufsatz Reitzenstein 








Zell: Die Affen als Frauenräuber 273 


Einige Tage später ließen sich die Vierhänder in einen 
Kampf mit einem Metzgerhunde ein, der einigen von ihnen arge 
Bißwunden einbrachte. Gleich darauf verbreitete sich das 
Gerücht, der Hund wäre toll gewesen, was bei der nahliegenden 
Gefahr der Ansteckung und den agressiven Neigungen der Tiere 
die größte Besorgnis erregte. Von Kassel aus erging darauf 
der bestimmte Befehl an Schlieffen, die Affen, um Gefahr für 
Menschen zu verhüten, sofort zu beseitigen. 

Mit schwerem Herzen gehorchte der General und ließ seine 
Lieblinge erschießen. Die erste Affenkolonie im deutschen Wald 
fand so ein rasches und blutiges Ende. 

Dies ging dem alten Herrn so nahe, daß er tagelang sein 
Zimmer nicht verließ. Er ließ die Überreste seiner langjährigen 
Freunde gemeinsam bestatten und errichtete über ihrem Grabe 
ein Denkmal in Form einer 3'/, Meter hohen Sandsteinsäule 
von mehr als einem Meter Durchmesser, die noch heute, nach 
mehr als hundert Jahren die lesbare Inschrift trägt: 

Hier wiederkehrten zum großen Urstoffhaufen irdischer 
Wesen die letzten Bestandteile eines Geschlechtes. Afrikaner, 
lange einheimisch auf diesen Fluren nach vielen Geburten. 
Nicht Sklaverei, das Schicksal seiner Landsleute, der Schwarzen, 
völlige Freiheit war dessen Los und ihre Folge Liebe für den 
Wohltäter, der leider endlich, da Wutbisse es vergifteten, als 
alles für einen stritt, eigne Wonne gemeinsamer Wohlfahrt 
nachsetzen mußte. Verhängter Tod traf Väter und Söhne, Groß- 
väter und Enkel, Mütter und Säuglinge. — Ganz zählte man’s 
nicht zur Gattung der Nächsten. Ihm hatte Prometheus zwo 
Hände mehr, uns bessere Sprachfertigkeit gegönnt. Aber an 
Verschmitztheit, an Mischung von Güte und Tücken, an Lust 
gegen Verbot, schien es in Affenhaus Menschenart, und der 
Angeborenheit so auffallende Macht riet dem zehnfingrigen 
Beobachter Nachsicht für seinesgleichen.“ 

Das war der mehr als wunderliche Nachruf des Generals 
an seine Gesellschafter und Lieblinge, die mit seltener Zuneigung 
an ihm hingen und ihm manche Stunde seines Lebens ver- 
kürzten, wenn er, müde des Treibens draußen, die Einsamkeit 
Windhausens aufsuchte. 

Die Tatsache aber, daß im deutschen Walde afrikanische 
Affen einst gediehen, die heute nur noch wenig bekannt ist, 
mag dem Naturforscher zu denken geben. 

18 


274 Zell: Die Affen als Frauenräuber 


Vorstehender Bericht stand, wie erwähnt wurde, im „Daheim“. 

Ein christlich konservatives Familienblatt hebt also aus- 
drücklich hervor, daß die männlichen Affen die deutschen 
Bauernmädchen belästigen. An der Wahrheit dieser Angabe 
dürfte demnach nicht der geringste Zweifel gehegt werden. 
Hierbei handelt es sich noch um eine kleine Affenart und gar 
nicht um menschenähnliche Affen. 

Nachdem also bei freilebenden Affenmännchen in Deutsch- 
land dieses Benehmen gegen Menschenfrauen unzweifelhaft 
festgestellt ist, scheint es ganz natürlich zu sein, daß überall, wo 
Affen hausen, die Eingeborenen diese Vorliebe ihnen nachsagen. 
Es handelt sich eben nicht um eine Phantasie, sondern um eine 
-Tatsache. Daher ist der Mythus von den Satyrn, den behaarten, 
nach Weibern und Wein lüsternen Waldmenschen mit Bocks- 
beinen, uralt, weil er sich auf Tatsachen gründet. Ich brauche 
wohl nicht erst zu betonen, daß, wenn ich eine Überkreuzregel 
bei Affen und demnach eine Vorliebe der Affenmännchen für 
Menschenfrauen unbedingt zugebe, noch lange nicht behaupte, 
daß die Affen Frauen rauben, entführen und sie begatten. Bei 
günstiger Gelegenheit mögen sie einen Begattungsversuch 
machen und ihr Opfer deshalb nach einer passenden Stelle 
bringen. Dagegen ist es als widerliche Reklame zu bezeichnen, 
wenn haarlose Schimpansen, die infolge der bekannten Neger- 
krankheit ihr Haar verloren haben, als Früchte dieser Vereinigung 
zwischen Affen und Mensch ausgestellt werden, wie es zu 
Friedenszeiten in Berlin geschehen ist. 

Um auf die Denkmalinschrift des Generals zurückzukommen, 
so fällt die Stelle auf: „der Angeborenheit so auffallende Macht“. 
Falls kein Druckfehler vorliegt, möchte ich den Ausdruck des 
Generals bei seiner Vorliebe für die deutsche Sprache als eine 
Übersetzung des Wortes „Instinkt“ auffassen. Er meint also 
des Instinktes so auffallende Macht riet dem menschlichen 
Beobachter zur Vorsicht. Das würde ganz mit dem überein- 
stimmen, was allen Tierbeobachtern auffällt, namentlich wenn 
es sich um freilebende Tiere handelt. Der General war sicher- 
lich höchst erstaunt, daß die afrikanischen Affen sich in der 
ganz fremden Welt so schnell zurechtfanden. Indem sie in 
Deutschland die ihnen zusagende Nahrung wählten und un- 
zweckmäßige, z.B. giftige liegen ließen, erwiesen sie sich den 
Menschen überlegen. In jedem Jahre sterben Menschen an 


Zell: Die Affen als Frauenräuber 275 


giftigen Pilzen und Kinder an giftigen Beeren. Mit Recht schob 
Schlieffen diese Überlegenheit auf ihren Instinkt, den er An- 
geborenheit nennt. 

Von einer Seite wird die Sache mit dem Erschießen der 
Affen so hingestellt, daß die Geschichte von dem tollen Hunde, 
der einige Affen gebissen haben sollte, absichtlich erfunden 
gewesen wäre, um endlich einen durchschlagenden Anlaß zu 
haben, die Plagegeister zu beseitigen. Jedenfalls hat Brehm 
ganz recht, wenn er die Affen als die größten Feinde der 
Landwirte schildert. Sie würden auch wohl mit Händen und 
Füßen dagegen protestieren, daß nochmals ein solcher Versuch 
mit der Aussetzung von Affen stattfände. 

Für unsere Zwecke war dieser Versuch im höchsten Grade 
lehrreich, und wir können dem merkwürdigen Manne nur dank- 
bar sein, daß er Gründer einer deutschen Affenkolonie wurde. 





— 


216 Goldmann: Unzüchtige Aktaufnahmen 


UNZÜCHTIGE AKTAUFNAHMEN. 
Von Staatsanwalt Dr. GOLDMANN, Leipzig. 

ktbilder sind Nacktbilder. Gegenstand dieses Aufsatzes 

sollen nur Photographien und deren Wiedergabe sein. 
Wann sind diese unzüchtig? 

Zunächst fällt auf, daß die Gerichte sich beinahe nie mit 
Abbildungen nackter männlicher Körper zu befassen haben. 
‚Schönheitshefte‘, Sammlungen, einzelne Bilder usw. geben zu 
99 ?/,°/, weibliche Gestalten wieder. Ist die Folgerung 
richtig: das nackte Weib ist unzüchtiger als der Mann? Oh 
nein! höre ich sagen, beim Weibe genügt eine Wendung, 
eine gewagte Stellung, Beleuchtung, ja oft allein der Gesichts- 
ausdruck, um dem Körper etwas Verlockendes, An- und Auf- 
reizendes zu geben und damit etwas Unsittliches. So sagt 
der Laie und er trifft damit schon beinah den Kernpunkt der 
ganzen Frage. 

Nicht der Körper ist es, der unsittlich ist. Naturalia non 
sunt turpia. „Das unsittliche Moment wird vom Beschauer 
in den Gegenstand hineingetragen“ hat einmal das Reichs- 
gericht gesagt. Es kommt auf die Augen, das Urteil, das 
Empfinden des Durchschnittsmenschen an. Natürlich gibt es 
immer Leute, welche der Anblick der Venus von Milo sexuell 
erregt, die bei jeder Nacktheit — in Kunst oder im Leben — 
in Unruhe geraten, empört sind oder sich empört stellen. 
Diese müssen aber bei unserer Betrachtung ausscheiden. Es 
kommt nach der Rechtsprechung auch nicht auf die Gefühls- 
empfindung oder -Verletzung Nichterwachsener an, sondern 
auf ‚das Publikum‘, auf den Beschauer im allgemeinen. Der 
Standpunkt eines in der Pubertät befindlichen 14 jährigen ist 
nicht maßgebend, noch etwa der eines Sittlichkeitsvereins 
in Köln. 

Uns Bewohnern von Mitteleuropa fehlt de Gewöhnung 
an den Anblick des nackten Menschen. Dieser galt weder 
im klassischen Altertum, noch gilt er jetzt z.B. in Japan als 
unsittlich. Die bei uns allgemeine Sinnesrichtung ist durch 
den Zwang zur Kleidung aus klimatischen Gründen bestimmt. 
Die Frage, ob das Schamgefühl mit der Kleidung oder die 
Kleidung infolge des Schamgefühls gekommen ist, kann bei 
Seite bleiben. Hier interessiert nur: wann ist eine Nacktab- 
bildung unsittlich? 





Goldmann: Unzüchtige Aktaufnahmen 277 


Und mit obigem Laien weiter zu sprechen: dann, wenn 
die Aufmerksamkeit des Beschauers in auffallender Weise ab- 
sichtlich oder unabsichtlich auf Teile des Körpers abgelenkt 
wird, die den Geschlechtsfunktionen dienen. 

Es dürfte bekannt sein, daß männliche sizilianische Modelle 
sich zur öffentlichen Vorführung als ungeeignet erwiesen 
haben, weil bei ihnen der Geschlechtsteil zuweilen übermäßig 
entwickelt war. Dabei lag gar nicht die Absicht vor, diese 
Zone besonders deutlich vorzuführen. Es geht eben nicht, 
bei einem Manne in erster Linie den Penis auf dem Bilde zu 
verewigen. 

Wie ist es nun bei der Frau? Sagte da neulich jemand: 
„Beim nackten Weibe wirkt alles aufreizend; Busen, Hüften, 
Beine“ Diesen guten Mann dürfen wir nicht weiter zu Worte 
kommen lassen. Er gehört in die Kategorie des oben er- 
wähnten Pubertätsknaben, der auch recht reifen Alters sein kann. 

Das Kapitel ‚Verhüllungen‘ vorweggenommen. Manche 
Darsteller verteidigen sich damit, daß sie sagen: Der Körper 
ist doch gar nicht nackt! Und sie verweisen auf Trikots, auf 
Schleier, auf andere Verhüllungen. Glaubt diesen falschen 
Propheten nicht! Sie erinnern zu sehr an den Wolf im Schafs- 
kleide. Jeder sieht, daß gerade diese raffinierten Verhüllungen 
die Aufmerksamkeit auf gewisse Teile lenken sollen und lenken. 
Dadurch wird die halbe Nacktheit erst durchsichtig und brutal. 

Ein ‚mondainer‘ Leipziger Maler tobt sich mit Vorliebe in 
diesem Genre aus. Er zeichnet z.B. ein junges Mädchen, das 
— lediglich — mit einem Pelz bekleidet daliegt. Pech nur, 
daß dieser Pelz so knapp ist, daß er Brust und Schoß frei- 
läßt. Ohne Pelz wäre das Bild weder auffallend, noch irgend- 
wie Anstoß erregend. Die Bekleidung hat es dazu gemacht. 

Ende der 90er Jahre konnte man in Berlin in Zeitschriften 
und bei StraBenhändlern Abbildungen der Fürstin Ch., der 
Rita D. und der Susanne D. im Trikot mit Drapierungen in 
verschiedenen Stellungen bewundern. Die Bilder wurden be- 
schlagnahmt und blieben es. Das Reichsgericht hat in seinem 


Urteile vom 10. Dezember 1897 hierzu u. a. ausgeführt: 
‚Der Vergleich mit der Vorführung von klassischen Skulpturen 
durch lebende Bilder (auf Bühnen und Varietes unbeanstandet ge- 
blieben) schlägt nicht durch. Dort geschieht die Darstellung in 
künstlerischer Weise. Der Zuschauer hat die Reproduktion des 
betr. Kunstwerkes vor Augen. Die gemeine Sinnlichkeit tritt zu- 


278 Goldmann: Unzüchtige Aktaufnahmen 


rück gegenüber dem reinen und edien Gefühl. Daher ist dort 

Verhüllung nur in beschränktem Maße erforderlich, Dieselbe 

Verhüllung kann aber im Licht und Leben der öffentlichen Straße 

unzüchtig sein und so wirken. Entscheidend ist aber auch, daß 

im vorliegenden Falle Körper von Frauen, die durch ihre Liebes- 

abenteuer in schlechten Ruf geraten sind, von allen Seiten her 

sichtbar gemacht worden sind.‘ 

Dieses Urteil ist jetzt 25 Jahre alt. Aber noch heute kann 
man es unterschreiben. Wenn es schon aus einem Grunde 
sein muß, dann lieber ganz nackt, als teilweise verhüllt! Es 
ist tatsächlich die Darstellung ganz nackter Körper in beliebigen 
Stellungen in der Regel weniger auffällig, als eine solche, wo 
mit gewisser — hinterher schwer abzuleugnender — Absicht- 
lichkeit Hilfsmittel zur Verdeckung bestimmter Teile herbei- 
gezogen sind. 

Manche meinen, Staatsanwaltschaft und Gericht für sich 
gewinnen zu müssen, indem sie mit Retouche arbeiten. Da 
werden auf den Platten oder den Abzügen die Schamhaare 
mit dem Retouchierstift exstirpiert oder ähnliche Operationen 
vorgenommen. Ist ja gar nicht nötig, liebe Leute! Ein Bild 
wird dadurch nicht sittlicher, wenn es einmal unzüchtig ist. 
Und ist es mit dem natürlichen Haarkleide nicht zu beanstanden, 
so war die Operation gar nicht nötig. Man könnte höchstens 
den guten Willen anerkennen, nicht unzüchtig wirken zu 
wollen. Auf deutsch: ‚subjektiver Tatbestand‘. Nur daß bei 
einem Aktbilde weniger der Wille als die Wirkung ent- 
scheidend ist. Auch ist zu bedenken: lenkt nicht ein heller 
Fleck gerade die Augen auf sich, wo der’ normale Mensch 
bei sich und anderen einen dunklen zu wissen gewohnt ist? 
Die Sache hat also ihren Haken. Entscheidungen hierüber 
lagen mir nicht vor. 

Ich sagte oben: „wenn — schon“. Ist es denn überhaupt 
nützlich, wünschenswert, nötig, den nackten Menschen ab- 
zubilden? 

Alte Tanten, der größte Teil der Geistlichkeit, Sittlichkeits- 
vereine und so sagen, nein schreien: nein, es ist nicht nötig! 

Hören wir mal ein paar andere Leute. 

Geh. Medizinalrat Prof. Dr. Fritsch sagt: 

„Für den Maler ist ein eingehendes Stadium der Natur 
unerläßlich. Gewiß wird die Photographie durch ihr eigen- 
sinniges Festhalten an der idealen Wahrheit viel zum Fort- 


Goldmann: Unzüchtige Aktaufnahmen 279 


schritt beitragen können. Es ist ja nicht nötig, die Unsumme 
von Häßlichkeit, die von der Kleidung verborgen wird, gerade 
zur Darstellung zu bringen. Es ist aber auch ganz gut, wenn 
falsche Anschauungen über den Körper des Weibes beseitigt 
werden, der Glaube zerstört wird, das Weib sei so gebaut, 
wie es z. B. im ‚Floh‘ oder im ‚Pschütt‘ zur Abbildung zu 
kommen pflegt.“ 

Das wäre also ein negativer, ästhetischer Anschauungsunter- 
richt, den Fritsch vorschlägt. Auch eine Lesart. Manchen 
heilt schon das Familienbad in dieser Richtung. 

Lassen wir den Regierungsrat L. Schranck sprechen: 

„Die vollkommenen Modelle sind selten. In der Gotik 
war der nackte Leib ‚des Teufels Anteil‘, Eine Bresche wurde 
erst geschlagen durch die Renaissance. Es gab wieder nackte 
Bilder, aber die Nacktheiten waren horrend häßlich. Die 
Nacktphotographie, da sie die Unschönheiten der Natur über- 
nimmt, dient dem Maler selten mehr, als um Studien herzustellen, 
und es ist nur die höchste künstlerische Kraft imstande, uns 
über jene animalischen Instinkte hinwegzutragen, die der An- 
blick eines reizenden, nackten Weibes bewirkt. Erst durch 
Vermittelung der Heliogravüre und die Retouchemöglichkeit 
ist die Darstellung des Nackten in der Photographie auf die 
höhere Stufe gehoben.“ 

Professor Dr. Bruno Meyer sagt: 

„Nacktphotographien haben Bedeutung für die Studien 
bildender Künstler. Für diese sind sie nützlich und sie sind 
unanfechtbar, wenn sie nicht handgreiflich gegen den $ 184 
StGB. verstoßen. Das einzige Bedenken ist: hier erscheint 
ein Individuum, eine bekannte Person, nicht bloß die Gestalt 
eines schönen Weibes an sich. Die photographische Dar- 
stellung des Nackten hat daher in den Augen des Publikums 
weit eher etwas anstößiges, als in der Malerei oder gar Bild- 
hauerei. Wer aber einen zu billigenden Zweck bei photo- 
graphischen Aufnahmen des Nackten verfolgt und dabei nichts 
tut, was wider die guten Sitten läuft, kann dies ohne Schaden 
für sein oder anderer Seelenheil tun.“ 

Zuletzt lassen wir zu Worte kommen Eduard Daelen, 
den Kunstmaler: 

„Jetzt endlich gilt: Photographie ist eine Kunst! Die 
Nacktheit ist das heiligste Mysterium, dunkel und lichtvoll zu- 


280 Goldmann: Unzüchtige Aktaufnahmen 


gleich. Die bildende Kunst ist bestimmt, Bringerin einer neuen 
Offenbarung zu sein. Auf diesem Wege kann auch besonders 
die Photographie viel leisten. Wegen ihrer leichten Verbreitung 
hat sie großen erzieherischen Einfluß. Wenn sie deshalb 
leider auch mit Vorliebe von gemeiner Zuchtlosigkeit miß- 
bräuchlich verwendet wird, so hat ihre künstlerische Form 
dem entgegenzuarbeiten. Immerhin muß sie vorsichtig sein, 
da sie direkt nach der Natur arbeitet. Schon seit 1000 Jahren 
haben Poeten die göttliche Schönheit des menschlichen Körpers 
besungen. Es könnte sie ja also eigentlich die Photographie 
am glaubhaftesten vor Augen führen. Aber nur dann, wenn 
sie sich wie die Malerei oder Plastik zu den höchsten Kunst- 
leistungen emporgeschwungen hat. Nicht jeder kann aus 
Lehm eine Venus von Milo bilden!“ 

Und ich möchte diese Betrachtung schließen: nicht jeder 
Amateur soll sich vermessen, mit seiner 10-Mark-Kamera 
Aktbilder eines x-beliebigen Mädels aufzunehmen und als 
‚Kunst‘ vorzuführen. ‚Unzüchtige‘ Bilder kann ich diesem 
Aufsatz nicht beigeben, obwohl ich Staatsanwalt bin und 
Muster in jeder Gangart vorlegen könnte. Jeder kann, wenn 
er gesunde, klare Augen im Kopfe hat, selbst urteilen und 
ausscheiden. Aber wer unanfechtbare Aufnahmen sehen und 
sich an ihnen erfreuen will, der betrachte die Arbeiten eines 
Magnus Weidemann, eines v. Jan, der Lotte Herrlich, der 
Hanni Schwarz, von Smith, Otto Schmidt, Lemoine u. a. 


Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 281 


BETRACHTUNGEN ÜBER DAS LIEBESLEBEN IN 
DER ZEIT DES RENAISSANCE UND DER PERIODE 


DER GALANTEN. 


Von FERD. FRHR. VON REITZENSTEIN, Dresden. 
(Schluß,) 


b) In der Zeit der Galanten. 

Das 17. Jahrhundert bietet uns sehr wenig Neues. Die 
alten Gebräuche schwinden noch mehr dahin, und der manch- 
mal selbst im Verbrechen gewaltige Geist der Renaissance 
verflacht so sehr, daß er wenig Erfreuliches zeitigt. Es fehlt 
den Menschen jede Kraft, alles ist „galant“. Dabei hatte die 
ganze Zeit weder Bedürfnis noch Lust, etwas Ernsthaftes zu 
arbeiten, man trachtete nur nach dem Vergnügen, und 
das war eigentlich nur dann ein solches, wenn es irgendwie 
mt Liebe, dh hier geschlechtlichem Verkehr, in Verbindung 
stand. So konnte diese Zeit unmöglich etwas leisten, so konnte 
unmöglich eine brauchbare Ordnung im Geschlechtsleben ent- 
stehen, denn der geschlechtliche Verkehr stand nicht am 
Ende eines Liebesverhältnisses als dessen höchste Gnade und 
vollste Belohnung nach langer Überlegung, sondern am 
Anfang, und das Liebesverhältnis führt dann nicht auf- 
wärts, sondern abwärts zur raschen Ernüchterung. Leichtsinn 
und Gedankenlosigkeit, wenn auch gepaart mit einem gewissen 
Grade Witz, höchstens aber leerem „Esprit“, waren das Kenn- 
zeichen dieser Zeit der Eleganz und Oberflächlichkeit. „Apres 
nous le déluge“ (Nach uns die Sintflut, d. h.: nach uns ge- 
schehe, was will) ist am besten geeignet, dieser Periode als 
Überschrift zu dienen, wenn ihr auch diese Worte vielleicht 
nicht entstammen. Die Aufklärungsperiode, die mit dieser 
Zeit zusammenfällt, hat dem Fortschritt der Menschheit mehr 
geschadet als genützt, da sie ihren Gegnern zu große Angriffs- 
flächen bot und es ihnen erleichterte, ihre Siege über die 
„Aufklärer“ zu Siegen über die exakte Forschung aufzubauschen. 
Wir leiden noch heute darunter. 

Wie man sich mit allen Liebesfragen abgab und in 


welcher Weise, das zeigt z. B. folgende Definition : 

„Kuß oder Mäulgen, auch Schmätzgen und Heitzgen genannt, ist eine 
aus Liebe herrührende und entbrannte Zusammenstossung und Vereinigung 
derer Lippen, wo der Mund von zwey Personen so fest aneinander ge- 
drückt wird, daß die Lippen bey dem Abzug einen rechten und deutlichen 
Nachklang zum Zeichen des Wohlgeschmacks von sich geben“. 


282 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 


So wenig wählerisch man in Liebesdingen war, so wähle- 
risch war man in der Ehefrage, aber nicht etwa von einem 
naturgemäßen vernünftigen Standpunkte, sondern lediglich von 
dem der Standes- und Geldinteressen aus. Darin liegt 
auch der Grund der Diskreditierung der damaligen Ehe. Recht 
originell drückt Abraham a S. Clara diese Mißwirtschaft aus: 

„Bey dieser galanten und eigennützigen Welt’, müssen die Weiber 
Geld haben, denn man schaut nicht auf das Gesicht, sondern auf das 
Gewicht. Will die Jungfrau Sabina haben einen wackeren Kerl, muß sie 
haben Geld, Kleinod, und Perl. Will die Jungfrau Sandel haben einen 
tapferen Offizier, muß sie haben Ducaten und Silbergeschirr. Will die 
Jungfrau Leonorl, daß sie Ihro Gnaden sey, so thun die Batzen das beste 
dabey: das Geld richt alles aus in der Welt, sonst gilt die Jungfrau Clärl 
nicht ein Härl, die Catharinl nicht ein Quädrinl, die Baberl nicht ein 
Hallerl, wenn sie nicht ein Thaler im Kasten hat. Adel und Tugend gilt 
nichts, und kommt die nächste Beste zur Heyrath, wenn sie nur Geld 
hat. Goldgelbe Haar und bleyerne Beutl kommen nicht an, aber bleyerne 
Haar und ein goldener Beutel erhalten das Lob und sieget allen Orten ob“. 

So war die Ehe zu einer Stätte echter Prostitution 
geworden und dies um so viel mehr, als man sie nicht 
oder doch nur schwer scheiden konnte. Der außer- 
eheliche Geschlechtsverkehr war daher der gesunde 
Rückschlag dieses Irrweges, auf dem wir noch heute wandeln. 
„Schau, mein Liserl,“ fährt Abraham fort, „sagt die Mutter zu 
ihrer Tochter, du mußt diesen nehmen; der Kerl hat gute Mittl, 
hat wacker Batzen — unterdessen ist er wie ein Buch mit 
einem goldenen Schnitt, aber inwendig voller Esels-Ohren“; 
oder aber spricht die Mutter zu dem Sohn: 

„Mein Hänßl, du mußt diese nehmen: das Mädl ist zwar ein wenig 
bucklet, doch hat sie ein guten Rantzen mit Geld in Kasten; unsern 
Nachbahrn sein Bärbel hinkt ein wenig, gleichwolen gehört das Hauß 
ihr zu. Die Mariändi hat nur ein Aug, hingegen bedecken das andern 
die Duggaten“. 

Und umgekehrt sprach man von einem riesigen Glück, 
wenn — wie es normal sein sollte — ein schönes und ge- 
eignetes Mädchen trotz seiner Armut eine „gute Partie“ macht. 
1710 erschien in Würzburg Abraham a. 5. Claras „Wohl an- 
gefüllter Wein-Keller“. Dort heißt es: 

„Du kennst ja des Meisters Jacobs, des Schusters oder Schuhmachers 
sein Cätherl? Gedenck, sie wird heurathen; die Krot hat ein Glück: 
sie ist wohl recht Catharina mit dem Rad: der gnädige Herr von Leders- 
Berg thut sie nehmen, das ist ein Glück! Diese Schusters Tochter thut 
dasmal wohl nicht einschustern, der Herr muß ein gut Sporn haben, daß 


Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 283 


er ein so gemeinen Stieffel-Balg nimmt; wie muß er sich doch vergafft 
haben in dem so gar nichts corduanisch an ihr; sie mag wohl preißisch 
(d.i, sämisch) Leder kennen, aber viel preißwürdiges ist nichts an ihr, 
sie ist wohl über keinen guten Laist geschlagen, du kennest sie nur zu 
gut: die Bestie wird hoffärtig werden und fast oben schwimmen wie das 
Pantoffel Holtz (= Kork); sie mag aber ein Dutzent Balsam-Büchslein 
bei ihr tragen, so wird sie gleich wohl nach Pech schmecken; das Glück 
ist schier zu groß für sie, sonst hätt sie wahrhaftig einen hinkenden 
Kneipen-Trucker haben müssen. jetzt wird mans müssen ihr Gnaden 
schalten, die vorhero fast allen hat müssen zu Gnaden seyn“. 


Unsere .Zeit ist noch nicht so gebildet, um nicht ebenso 
zu urteilen. 

Selbstverständlich spielt auch jetzt der Werber noch eine 
große Rolle; man hielt gewöhnlich nicht selbst an, obwohl 
dies vorkam! Dabei wird der Mahlschatz gegeben, der in 
einem Ring oder Schmucksachen bestand. Es werden bereits 
Ringe gewechselt, und zwar soll es in „Beyseyn einiger darzu 
erbethener Gezeugen“ geschehen. Bei dieser „Verlobung“ 
wird auch gleich die Mit-Gifft oder Ehesteuer, auch 
Heyraths-Gut genannt, festgelegt; während der Werber für 
seine Bemühungen den „Koppel-Pelz“ erhält. Bald darauf 
wird dann auch der „Hochzeits-Zeddel“ mit den Namen 
derer, die man laden muß oder laden will, weil sie gute Ge- 
schenke geben, festgesetzt und dem „Hochzeits-Bitter“ 
übergeben. Dieser ist bereits schwarz gekleidet und trägt 
manchmal eine große Rosette auf dem Hut oder ein weißes 
Schnupftuch mit einem Kranz und bunten Bändern in der Hand. 
Der Braut müssen die „Züchterinnen“ oder „Zucht- 
jungfern“ beistehen, die „bey der Tafel sehr erbar zu thun 
pflegen“ — mit anderen Worten: offizielle Vertreterinnen der 
gesellschaftlichen Heuchelei. Am französischen Hof und viel- 
leicht auch anderweitig — denn er diente ja in allem als hohles 
Vorbild — wurde die Braut von den nächsten weiblichen An- 
verwandten des Bräutigams einer genauen körperlichen 
Visitation unterworfen, während sie selbst durch das „Braut- 
Bad“ vorbereitet ward. Sehr beliebt war der Polterabend, 
auch Rammelabend genannt, der erst in unserer Zeit leider 
abkommt. 

Ist alles soweit vorbereitet, so erfolgt die Trauung. In 
der Brautkutsche fuhr man zur Kirche, um zunächst die Braut- 
messe zu hören. Die Kirche verkaufte diese je nach Bezahlung 
kürzer oder lang, denn man unterschied ganze oder halbe 


284 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 


Messen in verschiedenen Preislagen. War die Braut defloriert, 
so konnte es sein, daß sie bei dieser Fahrt mit fein- 
geschnittenem Stroh sehr „nächstenliebend“ beworfen 
wurde; ein Gebrauch, der christliche Einführung ist. Außerdem 
wurden, wie Abraham a S. Clara erwähnt, messingene 
Flitter gestreut, aus denen „eine fruchtbare Ehe prognosticiret“ 
wird, wenn sie die vorbeilaufenden Kinder aufklauben.*) An 





Galante Hochzeitsanzeige (deutscher Herkunft). 


die Messe selbst schloß sich die Trauung, „die zwischen 
Braut und Bräutigam von dem Priester der Kirchen vor dem 
Altar durch Verwechselung der Trau-Ringe öffentlich verrichtete 
Einsegnung und Copulation in Beyseyn derer hierzu ab- 
sonderlich erbetener Weiber und Männer.“ Diese hat also 
einen wesentlichen Fortschritt gemacht; nicht nur, daß sie jetzt 
das eigentlich eheschließende Element darstellt, wird sie bereits 
vor dem Altar vollzogen (nicht mehr in der Vorhalle) und 


*) Vgl. Reitzenstein: „Liebe und Ehe im Altertum“, S. 21, 24, 31 ff. 


Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 285 


nach außen durch Ringwechsel gekennzeichnet. Wie in 
früheren Jahrhunderten, eilte man nach der Trauung zum 
Hochzeitsmahl. Dieses wurde entweder in eigens dazu 
bestimmten Häusern oder in einem Privathause gehalten, in 
dem dann häufig eine eigene „Hochzeit-Küche“ aufge- 
schlagen war. Bei dieser Gelegenheit werden auch gewöhnlich 
die Hochzeitsgeschenke überreicht, die die Gäste mit- 
zubringen haben. Sehr wichtig ist es aber geworden, daß man 
recht abgeschmackte Worte findet, um allen Beteiligten. Glück 
zu wünschen; ganze Werke sind darüber geschrieben worden. 
Nach der Tafel tanzt die Braut den „Brautreyhen“ mit dem 
„Brautdiener“, d. h. einem Junggesellen, den sie selbst ge- 
wählt hat, damit er sie bei der Tafel bedient. Der Luxus 
war noch immer gewaltig groß, und eine ganze Menge von 
Verboten regnete nieder, die leider zumeist aber die alten 
Sitten mittrafen, die dieser vornehmen, prüden und heuchlerischen 
Zeit wegen ihrer Offenheit unfein oder gar gemein vorkamen. 
So bestimmte die Sachsen-Altenburgische Policey-Ordnung, die 
ihrer Zeit als „höchstlöblich“ erschien, weil sie fein säuberlich 


zu klassifizieren verstand, folgendes: 

„Fürstlichen Räthen und denen vom Adel (auch hochgraduierten Per- 
sonen sollen zum meisten acht | vornehmen andern Dienern, Bürgermeistern 
Raths-Personen | wie auch Pfarrern sechs | vermögenden Handelsleuten und 
gemeinen Bürgern | oder Bauern | vier Essen zu speisen in allem erlaubet 
seyn, oder es soll ein ieder von einem jeglichen übrigen Essen ein 
Reichsthaler Strafe geben, iedoch daß ein bloßer Salat, wie auch Capern, 
und dergleichen nicht vor absonderliche Essen gehalten werden... Nach- 
dem man auch bis hero wahrgenommen, daß die Schüssel mit mehrern, 
als die Nothurft erfordert, angefüllet /und wohl öfters drey, vier, fünf 
Hasen / аисһ 12—15 Кебһіһпег, und dergleichen auf einmal als lauterer 
Verschwendung, bey Bauern aber und anderen gemeinen Leuten vier oder 
fünferley unterschiedenen Speisen / zusammengelegt werden, so soll eine / 
so wohl als das andere, bey Vermeidung obgemeldeter Strafe hieführo 
gänzlich abgestellet seyn ... . gantz keine fremde, süsse, als Spanische 
und dergleichen Weine sollen bey diesen Ausrichtungen gespeiset werden, 
sonst mag ein ieder, seinem Vermögen nach, deren Franken- und Land- 
Weine sich gebrauchen, gemeine Bürger und Bauern aber sollen am Bier 
Genügen haben, ausser da einem andern der Wein erwachset“. 


Den Hochzeitsbittern wird in Sachsen-Weimar verboten, 
mit Gewehren zu schießen, in Berlin, daß sie jemand 
anders laden, als auf dem Zettel steht, und daß sie besondere 
Mahlzeiten verlangen usf. Solcher Verordnungen ließen sich 
in dieser Blütezeit polizeilicher Verordnungen viele Tausende 


286 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebeslenen 


anführen; jede Übertretung machte den Menschen zu einem 
Vorbestraften. Woher nur die Polizei die Zeit nahm, fragt 
man sich immer wieder, wenn man z. B. jenichens „Besondere ° 
Anmerkungen von denen .... Verlöbniß-Mahlzeiten etc. etc. 
Jena 1745“ liest, wo alle diese Vorschriften gesammelt sind. 
Wie sehr die Geistlichkeit dahintersteckte, geht aus den Tanz- 
verboten am deutlichsten hervor. Jenichen nennt das Tanzen 
ein „sündliches Vergnügen, das in christlichen Staaten billig 
ein fremder, unerhörter und ungewöhnlicher Name seyn sollte“. 
Betrieben aber wird es von 

„fleischlich gesinnten Welt-Menschen, welche noch zu keiner leben- 
digen Erkenntnis Gottes und seines Wortes gelanget sind, welche eine 
harte Stirne haben, und welche weder durch Krieg, Pest, Hunger noch 
andere verderbliche Land- und Stadt-Plagen, zur Erkenntnis ihrer Sünden 
gelangt sind“. 

Andere Verordnungen sind recht originell und tragen un- 
verkennbar die grüne Tischplatte abgedrückt. So sollten die 
Bauern in Chur-Sachsen bei Hochzeiten nicht auf Waldhörnern, 
sondern auf Parforce- und Jagdhörnern blasen. Die Strafe 
betrug nicht weniger als — 100 rheinische Goldgulden! Also 
ein großes Kapital für jene Zeit. Dann aber werden verboten: 
alle übrigen Mahlzeiten, Gastereien, Zusammenkünfte vor und 
nach der Hochzeit, so Biddelkost oder Vullbecksabend, der 
Brautleuchter, der Brautwocken, das Bittessen, der Schlachttag, 
der Bad- und Braut- wie auch Walcherabend, die Brautwachten 
und Nachtage, Nach- und Gesellentage, Mahlzeiten vor dem 
Kirchgange, geile Brote, geile Biere, Brautsuppen, Brauthahnen, 
alles Verschicken an Essen und Trinken, das an einigen Orten 
von den Hochzeitsgästen eingeführte Holen des Schlaftrunks, 
alle Gastereien, die unter dem Schein des Hochzeitsbittens, 
des Reisverlesens, Kränzebindens, Wein- oder Bierschmeckens, 
Schiff- und Ausfahrten angestellt werden, die Ausschenkung 
des süßen Getränkes, die unnötige kostbare Reichung allerhand 
Konfekts und Marzipane, wenn die Braut und der Bräutigam 
in das Brautbett gesetzt werden usf. Man sieht aus diesem 
Verzeichnis, wieviel prachtvolles volkskundliches 
Material hier dem Unverstand, der Prüderie und der 
Heuchelei dieses Zeitalters zum Opfer fiel. Wir leben 
heute in der Fortsetzung. Die letzten Reste unseres deutschen 
Volkstums wurde von der Polizei auf Rat derer, die sich die 
„Deutschen“ nennen, verboten, so die alten Fastnachtsgebräuche. 


Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 287 


Bald wird nichts mehr da sein, auf der Verflachung thront der 
Moralismus und unter seinem Thronsessel entwickelt sich die 
Verpestung. 


War nun der Tanz vorbei, so folgte das Kranzabnehmen, 
und eine Dienerin, die mit der Liverey der Braut geschmückt 
ist, muß den Kranz verteidigen. Man setzt der Braut dafür 
die Vexierhaube auf, ein Netzchen von Zwirn oder Seide 
mit bunten Tupfen, das mit Rauchwerk, kleinen Wickelkindern 
und Kindergerät benäht ist. Auf den Geschlechtsakt be- 
zügliche Redensarten waren dabei sehr gebräuchlich. Der 
Kranz war damals aus Lorbeerblättern oder künstlich aus über- 
sponnenem Draht. An seiner Stelle trugen z.B. die Augs- 
burgerinnen das Hochgestrick, das aus Wülsten, die mit 
rotem Atlas umwunden waren, bestand; die Ulmerinnen nannten 
es „hohes Umgeschläge“. 


Besonders von Interesse, weil sehr alt, ist die Braut-Meye, 
ein grüner, mit allerhand kleinem Kinderzeug geschmückter 
Baum, den die Bauernmädchen der Braut ins Haus bringen.*) 
Sehr häufig geschieht dies erst am Tag nach der Hochzeit. 


Vor dem Beilager war es besonders in fürstlichen Kreisen 
und beim Adel Sitte, daß der Braut das Strumpfband gelöst 
wurde. Bei Fürsten geschah das durch den Minister. Wie 
weit diese an alte Gebräuche anknüpfende Sitte in dieser Form 
ins Volk gedrungen war, müßte untersucht werden.*) Das 
Brautbett wird uns in zeitgenössischen Quellen („Albertäten 
300“) beschrieben „als ein grosses auf vielerley facon kostbahr 
verfertigtes und mit falbala oder andern Zierrathen ausgeputztes 
Bette, auf zwey Personen gerichtet, worinnen die Braut zum 
allererstenmahl neben dem Bräutigam schläft“. Am Morgen 
nach der Brautnacht wird die Morgengabe gegeben, die an 
gleicher Stelle als „ein ansehnliches Praesent, welches ein neuer 
Ehemann von Adel seiner Braut den andern Hochzeits-Tag 
früh Morgens nach dem ersten Beyschlaff und beschlagener 
dscke statt eines Lohnes und einiger Ergötzlichkeit vor die 
verlohrne Jungferschaft zu verehren pflegt“, bezeichnet wird. 


*) Vgl. Reitzenstein: „Liebe und Ehe im Altertum“, 5. 81, 94. 

**) Vgl. Reitzenstein: „Liebe und Ehe im Altertum“, S. 83 und 
Reitzenstein, Ethnoanalyse in „Jahreskurse für ärztliche Fortbildung“ 1922. 
Septemberheft S. 51. 


288 Reitzenstein: Betrachtungen über das Liebesleben 


Allgemein werden anch sogenannte Nachhochzeiten 
erwähnt, zu denen meist jene Personen geladen wurden, die 
„wegen ihrer aufgetragenen Verrichtungen dem rechten Hoch- 
zeit-Mahl nicht beywohnen können“, Dies ist natürlich nicht 
der ursprüngliche Zweck, der vielmehr in einem Befruch- 
tungsfeste bestand.*) Das wichtigste Gericht war nämlich 
die Brautsuppe, die „aus Wein, Eyern und Semmel abge- 
würtzte gelbe Brühe“. „Man pfleget auch an etlichen Orten 
diejenigen lustigen und schertzhafften Carmina Braut-Suppen 
zu benennen, so man den andern Hochzeits-Tag bey der Tafel 
austheilet“. Diese Carmina (Gedichte) bezogen sich auf ge- 
schlechtliche Fragen und die Befruchtung. An diesem Tage 
pflegte sich auch die Amme der jungen Frau einzufinden, 
die deren erste Schuhe dem jungen Gatten auf einem Teller 
präsentiert und dafür ein stattliches Trinkgeld erhält. 

Der wirkliche Abschluß der Hochzeit ist der Kehrab, so 
„heisset derjenige lange Tantz, mit welchem die sämtlichen 
Hochzeit-Gäste, die sich mit den Händen in einer langen Reyhe 
fest an einander geschlungen und allerhand Figuren in solchem 
Tanz sehen lassen, die Hochzeit-Lust beschliessen und den 
Musicanten Feyerabend geben“. 

Damit stehen auch wir am Schlusse unserer Betrachtung, 
die nur das Wesentlichste aus der erdrückenden Fülle von 
Material bieten konnte. Es ist aber zugleich der schwüle 
Abend angebrochen, und über der hohlen Zeit ziehen bereits 
die Wetterwolken eines mächtigen Gewitters herauf, das mit 
furchtbaren Blitzschlägen die Luft reinigt und eine neue Ära 
beginnen läßt, leider aber auch viel Gutes zerstört hat: - 


Die französische Revolution. 


Heute atmet Europa eine ähnliche Luft, möchten wir 
lernen, bevor es zu spät ist und eine Evolution einleiten 
auf dem Grundsatz: „Ehre Freiheit und Recht“. 


22] 


*) Vgl. Reitzenstein: „Liebe und Ehe im Altertum“, 5. 108 unter 
„Fruchtbarkeitszauber“, 


Geschlecht und Gesellschaft 
Neue Folge XI, 10 








Griechische Hetären eine Dionysosherme verehrend (Vasenbild). (Zu Kiefer: Über die griechischen Hetären.) 





ÜBER DIE GRIECHISCHEN HETÄREN. 


Studie von Dr. ©. KIEFER. 
(Mit 2 Tafeln und 5 Abbildungen). 


ber die griechischen Hetären ist schon viel geschrieben 
worden. Aber kaum ein Forscher konnte es unterlassen, 
dabei seinen moralisierend-christlichen Standpunkt hervor- 
zukehren, womit man eben nun einmal fremden, fernliegenden 
Kulturerscheinungen nicht gerecht werden kann. Von diesem 
і unmöglichen Standpunkt abgesehen, enthält Beckers „Cha- 
rikles“, bearbeitet von Göll, wohl die gründlichste Sammlung 
des diesbezüglichen Materials, während des guten, feinen 
Jakobs „Beiträge zur Geschichte des weiblichen Ge- 
schlechts“ sich anerkenrtenswerte Mühe hinsichtlich objek- 
` tiver Darstellung geben. 
Die vorzüglichsterr antiken Quellen über die Hetären sind 
эу мог allem des Athenäus „Deipnosophistae“ Buch XIII, 
dann aber auch die Komödien eines Aristophanes, Terenz, 
A Plautus end die erhaltenen Fragmente antiker Komödien. Eine 
7а. eigenartige, kulturgeschichtlich wertvolle, aber als historische 
ух Quelle wertlose Schrift sind die sog. Hetärenbriefe der 
(y hellenistischen Sophisten Alkiphron und Aristänetos. I 
ı die krasse Wirklichkeit des Lebens der gewöhnlicheren He- 
ı tären führt die angeblich von Demosthenes stammende 
"Rede gegen Neära ein. Da wir eine wirklich gute und er- 
schöpfende griechische Kulturgeschichte (trotz Jakob Burck- 
hardts Werk) auch heute noch nicht besitzen, möge folgende 
Darstetlumg als ein vieleicht micht ganz unerwünschter Bau- 
stein für ein solches Werk betrachtet werden. 





19 


290 Kiefer: Über die griechischen Hetären 


Man hat, meine ich, bisher bei der Darstellung der Zu- 
stände des griechischen Hetärenwesens einen wichtigen 
Punkt ganz außer acht gelassen: den Zusammenhang der 
wirtschaftlichen Faktoren mit dem Emporkommen der Hetäre. 
Ein Volk, das wie die homerischen Griechen noch fast aus- 
schließlich von Ackerbau, Viehzucht und Tauschhandel lebt, 
kennt (wie übrigens auch die älteren Römer!) keine Hetären, ja, 
ich möchte sagen, überhaupt keine käufliche Liebe. Erst die 
Geldwirtschaft, vollends aber der Kapitalismus, hat für diese 
Menschenklasse die wirtschaftlichen Möglichkeiten geschaffen. 
So ist es denn keineswegs zufällig, daß man in erster Linie 
aus großen Seehandelsstädten wie Korinth und Athen Nach- 
richten über bekannte Hetären überliefert hat, während von 
spartanischen Hetären kaum die Rede ist. Man wird vielleicht 
einwenden, freie Sexualverhältnisse habe es doch schon in der 
sog. heroischen Zeit gegeben, und man wird an eine Kalypso, 
eine Circe, an eine Briseis usw. erinnern. Aber alles das sind 
ja doch keine Hetären im üblichen Sinn, keine Weiber, die 
aus der sexuellen Hingabe ein Gewerbe machen. Diese Mög- 
lichkeit kennt das homerische Epos noch nicht. Begreiflicher- 
weise, da solch ein Gewerbe eben das Aufkommen der Geld- 
wirtschaft zur Voraussetzung hat. Für das Weib in der hero- 
ischen Zeit gab es wirtschaftlich gar keine Möglichkeit, vom 
Verkauf ihres Körpers zu leben, mit dem Aufkommen der 
Geldwirtschaft war dagegen diese Möglichkeit vorhanden und 
wurde denn auch alsbald ausgenützt. Auch da begegnet uns 
zuerst die gebundenere Form: die Bordelle, erst viel später 
mit fortschreitender Entwickelung zum Großhandel und 
Kapitalismus die freiere der einzeln lebenden, der „berühmten“ 
Hetäre. Angeblich hat Solon das erste öffentliche Bordell in 
Athen errichtet, um „der Liebeswut der jungen Leute“ zu be- 
gegnen. Die Insassen waren natürlich Sklavinnen. Auch von 
Tempeln der Aphrodite Pandemos wird berichtet, deren 
Dienerinnen, besonders in Korinth, wohl nichts anderes waren 
als öffentlich sanktionierte Dienerinnen der Lust. Korinth, die 
glänzende, reiche Seehandelsstadt, erlangte im Lauf der Zeit 
so sehr den Ruf einer Dirnenhochschule, könnte man sagen, 
daß man das Sprichwort prägte: „nicht einem jeden ist die 
Fahrt nach Korinth von Vorteil,“ ja daß der Ausdruck „ein 
korinthisches Mädchen“ gleichbedeutend wurde mit dem Wort 


Kiefer: Über die griechischen Hetären 291 


„Hetäre“. Diese staatlich sanktionierten Hetären, auch „Dik- 
teriaden“ genannt (vom Wort Dikterion-Bordell) stellten die 
niedrigste Sorte der käuflichen Weiber dar. (Abb. 1) Etwas an- 
gesehener waren die Bewohnerinnen der Privatbordelle, Mädchen, 
die von einzelnen Unternehmern, sozusagen auf deren Rechnung 
gekauft und der öffentlichen Benützung zur Verfügung gestellt 
waren. Solche Verhältnisse hat der Verfasser der oben ge- 
nannten Rede gegen Neära im Auge: eine Freigelassene, 
Nikarete, hat sich sieben junge Mädchen gekauft und treibt 
mit deren Körper ihr Gewerbe. Auch Plautus in der Cistellaria 
weist auf solche Zustände hin. Es kommt auch nicht selten 





Abb. 1. Griechische Hetären die Pyrriche tanzend (v. Tischbein), 


vor, daß solche Mädchen von ihrem Eigentümer für längere 
Zeit vermietet, ja sogar ganz verkauft werden und in andern 
Besitz übergehen. Sogar der uns unglaublich scheinende Fall, 
daß zwei Besitzer sich an einem solchen Mädchen gemeinsam 
in aller Eintracht erfreuen, scheint gelegentlich stattgefunden zu 
haben. Allerdings war dann wohl ein bitterer Streit zwischen 
den eifersüchtigen Genießern der häufigere Fall. Die genannte 
Rede läßt uns in dieser Hinsicht merkwürdige Bilder antiker 
Sitten erblicken. 

Handelt es sich bei all diesen Mädchen um Unfreie, um 


Sklavinnen, die man wie einen Gebrauchsgegenstand benutzte, 
19* 


292 Kiefer: Über die 


verlieh, verkaufte, so treten mit fortschreitendem Individualismus, 
der seine wirtschaftliche Grundlage in der fortschreitenden 
Geldwirtschaft hat, mehr und mehr die sogenannten „berühmten“ 
Hetären in das Licht der Geschichte, Persönlichkeiten an 
Stelle der früheren Klasse. Diese sind es, die dem Namen 
Неге seine eigentliche Bedeutung, fast möchte man sagen, 
seinen poetischen Schimmer verliehen haben. Das waren 
einzeln lebende Frauen, oft erst aus dem Stande der Sklavin 





1 


li 


Abb.2. Griechisches Gelage (Vasenbild). 
zur Freigelassenen heraufgekommen, aber auch Töchter eines 
freien Hauses, die — genau wie heute — unbemittelt und 
alleinstehend in die Großstadt kommen, um sich durchs Leben 
zu bringen, dann an einen Liebhaber und so ins He 
dasein geraten. Die — bekanntlich ganz von griechischen 
Vorbildern abhängigen — Lustspiele eines Terenz und Plautus 
bringen viele derartige Gestalten auf die Bühne, Das älteste, 
historisch beglaubigte Beispiel solch einer frei gewordenen 
Hetäre erzählt uns Herodot (II, 134 ff). Es ist die Thrakerin 
Rhodopis, die, etwa um 580 v. Chr., als Sklavin nach Ägypten 
kam, dann durch den Bruder der Sappho freigekauft wurde 
und schließlich in der Freiheit solche Reichtümer zusammen- 
brachte, daß sie u.a. den zehnten Teil ihres Vermögens dazu 
verwendete, um für den Tempel in Delphi große eiserne Bral- 


IER 


D ien 





Бе. 


ebe 1 
ША 
Verin 
d bei fe 
ersetzten 
denen, 

ielmehr 
шы 
Kal 
Sie 


оњ 
к. 
КТ 





on, 





Kiefer: Über die griechischen Hetären 293 


spieße zu den Festopfern zu stiften. Zu dieser Kiasse der 
freigelassenen Hetären gehören auch die zahllosen Flöten- 
bläserinnen (Tafel I u. II, Fig. 1) und Zitherspielerinnen, Mädchen, 
die bei festlichen Opfern und Gelagen sozusagen das Orchester 
ersetzten, (Abb. 2 u. 3) um morgen als Hetären ihr Brot zu ver- 
dienen. (Abb. 4 u.5). Nicht alle Hetären waren so freigiebig; 
vielmehr ist eine Haupteigenschaft aller dieser Hetären ihre 
Habgier. Überhaupt darf man Züge von rührender Weib- 
lichkeit bei den meisten dieser Venuspriesterinnen nicht 
suchen. Die Komödien, die Briefe des Alkiphron, die 
Hetärengespräche des Lukian, also die hauptsächlichsten 


Abb. 3. Hetärin (Vasenbild). 


Quellen über das alltägliche Leben und Treiben der griechischen 
Hetären, zeigen ein in den wesentlichen Charaktereigenschaften 
der Hetären gleiches Bild: Geldgier, Verschlagenheit, alle 
Künste der Verstellung, um Liebe vorzutäuschen, die doch fast 
nie vorhanden ist, Genuß und Putzsucht, dabei ein stetes 
neidisches Schielen nach den glücklicheren Schwestern, be- 
sonders nach den Verheirateten. Dabei fehlen gewisse mensch- 
lich sympathische Züge nicht unbedingt: die griechische Hetäre 
ist nie roh, schon aus kluger Berechnung schätzt und übt sie 
gesellschaftliche Formen, sie ist spröde aus Berechnung der 
Wirkung, sie hat aber bisweilen auch Stunden der Einsicht 
in das Unerfreuliche ihres ganzen Lebens und kann dann 
sentimental werden und eine junge Schutzbefohlene vor dem 
trügerischen Gewerbe warnen. Wenn es ihr vollends gelingt, 
in die 'sozial höhere Schicht der Ehefrau aufzusteigen, dann 
will sie von ihrem früheren Dasein nichts mehr hören und 
wird eine brave, ja philiströse Matrone. Doch wir kommen 
mit dieser Schilderung allgemein vorhandener Züge des 
Hetärenlebens schon in die Zeiten des späteren Hellenismus, 


Kiefer: Uber die griechischen Hetären 


294 





Abb. 4. Nächtliches Schwärmen (Vasenbild) 








Kiefer: Über die griechischen Hetären 295 


da es keine „großen“ Hetären mehr gab, sondern nur einander 
mehr oder minder gleichende Damen, die sich wohl eher durch 
die mehr oder minder graziöse Rundung ihrer Hüften als durch 
ihren Geist von einander unterschieden, wie das ja der be- 
kannte, pikante Brief Alkiphrons so reizend darstellt (Megara 
an Bacchis). 

Weitaus die berühmteste Hetäre des ganzen Altertums ist 
wohl Aspasia, (Tafel II, Fig. 4) die Freundin des Perikles, der ihr 
zuliebe seine rechtmäßige Gattin verstoßen haben soll. Aus der 
reichen asiatischen Handelsstadt Milet stammend, soll sie die 





Abb. 5. Hetären beim Gastmahl (Vasenbild). 


erotischen Geheimnisse jonischer Hetären nach Athen verpflanzt 
haben, andererseits traute man ihr aber auch bedeutsamen Ein- 
fluß auf die politischen Entschlüsse ihres Freundes Perikles zu 
(so anekdotenhaft auch das meiste klingt, was in dieser Hinsicht 
überliefert ist). Nach der pseudoplatonischen Schrift „Mene- 
xenos“ hat sogar Sokrates sich von ihr in der Kunst der Rede 
unterweisen lassen. Auch die Komödie hat sich ihre Gestalt 
nicht entgehen lassen: Eupolis gibt ihr den Beinamen Helena, 
wohl um anzudeuten, daß sie im Volksmund als Anstifterin 
des peloponnesischen Krieges galt, wie Helena als die des 
trojanischen. Bei andern Komödiendichtern erscheint sie als 
Beraterin des Sokrates in Sachen der Knabenliebe, ja selbst 
als die Geliebte des Sokrates, was nun gewiß eine wenig 
geschmackvolle Verdrehung der Wahrheit gewesen ist. Jeden- 
falls war sie ein kluges, ungewöhnlich vielseitig begabtes Weib, 
dessen Stern weithin in die Jahrhunderte leuchtete. Nicht viel 
weniger berühmt ist Phryne, die Geliebte des Praxiteles, eine 


296 Kiefer: Über die griechischen Hetären 


Königin körperlicher Schönheit! Sie war des Meisters Modell 
für seine berühmte knidische Aphrodite, sie soll selbst am 
Feste des Poseidon in Eleusis im Angesicht der staunenden 
Menge nackt mit aufgelöstem Haar als Abbild der schaum- 
geborenen Göttin ins Meer gestiegen sein. Man war von 
ihrer Schönheit so entzückt, daß die Erzählung entstehen 
konnte, ihr Verteidiger und späterer Liebhaber Hyperides habe 
in einem Prozeß, der zu ihren Ungunsten auszugehen drohte, 
die Richter für sie gewonnen, indem er ihr Gewand zerriß 
und die göttliche Schönheit ihres Busens enthüllte. Man hält 
wohl heute diese Geschichte nicht mehr für historisch, immer- 
hin ist sie hübsch erfunden, indem sie zeigt, welche Macht 
körperliche Schönheit über das griechische Empfindungsleben 
ausübte. Man muß sich klar machen, was es heißt, wenn ein 
Volk, das Jahrhunderte lang nur für den Staat gelebt und 
dessen Erotik fast ganz in der Knabenliebe pulsiert hatte, 
wenn dies Volk einer weiblichen Schönheit fast göttliche Ver- 
ehrung entgegenbrachte! Vom vierten Jahrhundert an setzte 
sich die Hetäre, zugleich mit der Emanzipation der Frau über- 
haupt, in einem Maße durch, wie man es früher für ganz 
unmöglich gehalten hätte. Sie, nicht die still und unbeachtet 
dahinlebende Hausfrau, die man bekanntlich nach Demosthenes 
Wort nur zur Erzeugung rechtmäßiger Kinder erheiratet hatte, 
zog alle Strahlen erotischer Empfindungen auf sich, sie wurde 
mehr und mehr zur Verkörperung der Göttin Aphrodite selbst. 
Sind auch die direkten Quellen über das Hetärenleben jener 
Tage uns nimmer zugänglich, bezeichnend genug ist schon, 
daß wir von einer ganzen Anzahl Schriften über das Hetären- 
leben hören. Bruchstücke daraus hat Athenäus in dem schon 
erwähnten Buch XIII seines Sophistengastmahls verwendet. 
Vollends zeigt ein Blick in die Reste der neueren Komödie, 
etwa des Menander und seiner römischen Nachahmer Plautus 
und Terenz, wie die Frau, vor allem in der Gestalt der Hetäre, 
jetzt der Mittelpunkt der männlichen Interessen geworden ist, 
die zu Aristophanes Zeiten ganz dem Staat und vielfach der 
Knabenliebe gehörten. Wurde uns in der klassischen Zeit 
genau überliefert, welche schöne Knaben ein Themistokles, 
Sophokles, Pindar usw. liebten, so tritt jetzt neben einen 
Menander seine Glycera, neben einen Demetrius Poliorketes 
seine Lamia. Und Aristipp, so recht der Philosoph einer zu 


Kiefer: Über die griechischen Hetären 297 


raffiniertem Genußleben neigenden Zivilisation (nicht mehr 
„Kultur“!), teilt sich mit Diogenes in den Besitz der korin- 
thischen (älteren) Lais, jener geldgierigen Schönen, der die 
Korinther ein Denkmal, darstellend eine Löwin, die "einen 
Widder zerriß, errichteten. Die Gestalt des großen Alexander 
steht am Wendepunkt der Zeiten: man kennt seinen innig 
geliebten Freund Hephästion, man liest aber auch, daß er u.a 
die athenische Hetäre Thais mit sich |nach Asien führte, der 
zuliebe er die Königsburg von Persepolis einäschern ließ. 
Harpalus vollends, erst Freund und Günstling Alexanders, 
später Defraudant im größten Stil, ein typischer Vertreter der 
üppigen, gewissenlosen Diadochenzeit, trat ganz als König 
auf und hatte berühmte Hetären in seiner Umgebung: 
erst die Athenerin Pythionike, die er nach ihrem Tod 
gleich einer Göttin! mit Denkmälern und einem Tempel 
verehrte, später die Glycera, bevor diese Menanders Geliebte 
war. Vom Leben und Treiben dieser sogenannten „be- 
rühmten Hetären“ berichten die graziösen Briefe des Alkiphron 
wohl mehr novellistisch unterhaltend denn historisch getreu. 
Besonders die zwischen Menander und Glycera gewechselten 
Briefe zeigen ein keineswegs nur auf sexuelle Beziehungen 
aufgebautes, mehr inniges Verhältnis. So unterhält sich 
wirklich nur ein gebildetes Weib mit dem Erwählten seines 
Herzens, so läßt ein Dichter die Geliebte an allem teil- 
nehmen, was ihn bewegt. Aber im allgemeinen dürfte es 
doch mit der sog. Bildung dieser Hetären etwas bescheidener 
bestellt gewesen sein, als man, wohl im Hinblick auf eine 
Aspasia, bisweilen anzunehmen geneigt ist. Jedenfalls kann 
man aus den von Athenäus überlieferten Witzworten der 
Hetären höchstens auf eine gewisse Schlagfertigkeit, besonders 
in zweideutigen Antworten, aber nicht auf echte Bildung 
schließen. Die namenlosen, ungezählten niedrigeren Weiber 
dieser Art vollends werden vor den heutigen Erscheinungen 
ähnlicher Art höchstens eine größere Naivität in der Frechheit, 
sonst aber nichts voraus gehabt haben. Immerhin hätte sich 
aus der Gestalt der großen Hetäre in der Tat etwas für die 
ganze Folgezeit Erfreuliches entwickeln können, eine Art groß- 
denkende, gebildete, wirkliche Freundin des Mannes, was ja 
die griechische Ehefrau niemals gewesen ist. Zweierlei stand 
hindernd im Wege: die wirtschaftliche Unmöglichkeit (eine 


298 Kiefer: Über die griechischen Hetären 


solide Ehe ist billiger, freilich auch um vieles nüchterner und 
keine ganze Lösung des erotischen Problems), dann aber auch 
die mit dem Sieg des asketischen Platonismus und seiner 
Popularisierung, genannt Christentum, eintretende Verachtung 
und Unterdrückung der sexuell-sinnlichen antiken Schönheits- 
freude. Es ist wirklich so, wie Nietzsche sagt: das Christen- 
tum gab dem Eros Gift zu trinken, er starb zwar nicht daran, 
aber er entartete und wurde zum Laster. Eine Prostitution 
im heutigen, verachteten Sinn hat es in der Tat erst mit dem 
Christentum gegeben. Wir können nur mit wehmütigem Blick 
auf die Zeiten zurückschauen, da ein sinnenfrohes Kulturvolk 
den Naturtrieb so hoch geadelt hat, daß es seine leuchtendsten 
Vertreterinnen gleich einer Göttin anbetete! 





Fiieß: Pubertätsdrüse und Doppelgeschlechtigkeit 299 


PUBERTÄTSDRÜSE 
UND DOPPELGESCHLECHTIGKEIT. 


Von Dr. med. WILHELM FLIESS. 


Hos Ansehen hat heutigen Tages die Pubertätsdrüse. Jeder- 
mann weiß, daß Hoden oder Eierstöcke eine Drüse mit 
innerer Sekretion darstellen, welche das Wachstum und die Ent- 
wicklung aller derjenigen körperlichen Attribute bewirkt, die den 
Mann als Mann, das Weib als Weib erscheinen lassen. 

Frühzeitig sondert sich im befruchteten Ei Urgeschlechts- 
und Urkörperzelle. Aus der einen gehen die Genitalorgane, 
aus der anderen der ganze übrige Körper hervor. Aber Ge- 
schlechtsorgane und Körper entwickeln sich nicht ohne Ab- 
hängigkeit von einander. Ihre räumlichen Beziehungen, ihre Ab- 
hängigkeit von gemeinsamer Ernährung, gemeinsamer Inner- 
vation waren von jeher selbstverständlich; die Erkenntnis ihrer 
funktionellen Unterordnung untereinander wurde erst durch das 
allgemeine Wissen von der innern Sekretion ermöglicht. Der 
Genitalapparat eines jeden Embryo ist doppelgeschlechtlich an- 
gelegt, und man meint heute, daß es eine Hormonwirkung sei, 
welche den Entscheid darüber fällt, ob die männliche oder die 
weibliche Anlage des Fötus der Verklimmerung anheimfällt. 
In der Tat läßt das männliche Kind seine weiblichen, das weib- 
liche seine männlichen Sexualorgane atrophieren, während die 
eigengeschlechtlichen Genitalien einer Entwicklung zustreben, 
wie sie das Neugeborene zeigt. 

Deutlicher sehen wir ein andres Mal unsern Organismus 
unter der Herrschaft der Sexualdrüse. Zur Pubertätszeit ent- 
wickeln sich sprunghaft einige Teile unseres Körpers, welche 
Darwin als sekundäre Sexualcharaktere bezeichnete, und deren 
plötzliches Wachstum uns in seiner Gesamtheit geradezu den 
Symptomenkomplex jener Drüsenwirkung vor Augen führt. 
Körperform, Stimme und Behaarung geben dem kindlichen 
Organismus somatische, die beginnende Sinnlichkeit verleiht 
psychische Reife. Der Mann scheint Mann, das Weib scheint 
Weib. Gleichzeitig beginnen die primären Sexualcharaktere, 
die Keimzellen ihre Reifung. Eier und Samen werden vom 
Organismus abgesondert, können befruchten und werden be- 
fruchte. Nun ist der Mann ein Mann, das Weib ist Weib: 

All dieses weiß der Leser. Und er weiß noch mehr. Er 


300 Fließ: Pubertätsdrüse und Doppelgeschlechtigkeit 


kennt Steinachs Transplantationsversuche. Der Wiener Ex- 
perimentator hat Ratten kastriert, denen er die Geschlechtsdrüse 
des anderen Genus überpflanzte.. So gelang es, den Habitus 
völlig zu ändern. Der Rattenbock, dessen Hoden man mit einem 
Ovarium vertauscht, erhält weibliche Behaarung, Zitzen und die 
Gunst der Männchen. Umgekehrt ändert sich das kastrierte 
Weibchen, welchem man einen Hoden einverleibt hat. Seine 
Brustdrüse atrophiert, die Behaarung wird männlich, und es 
beginnt seine ehemaligen Geschlechtsgenossinnen zu bespringen. 

Diese Versuche, meint Steinach, bestätigen, daß die Pubertäts- 
drüse es ist, welche über die Geschlechtszugehörigkeit des 
Individuums entscheidet. Der übrige Körper sei von der Natur 
neutral angelegt, erst die Geschlechtsdrüse bilde ihn zum Ge- 
schlecht. Man könne mit dieser Drüse Männer zu Weibern 
machen und Weiber zu Männern. 

Das klingt zunächst annehmbar. Und das Virchowsche 
Wort „propter ovarium solum mulier est quod est“ scheint eine 
Bestätigung durch die Humoralphysiologie zu erfahren. 

Aber hier ist der Punkt, um mit einer Frage an den Ex- 
perimentator und seine Gefolgschaft zu treten. Diese Frage ist 
seinerzeit in der Freude über die lehrreichen Versuche vergessen 
und — nachdem ich sie bereits vor Jahren gestellt und beant- 
wortet*) — bis zum heutigen Tage noch nicht diskutiert worden. 
Das erste begreife, das zweite bedaure ich. 

Das gesunde Ovarium im geschlechtsreifen weiblichen 
Organismus gibt befruchtungsfähige Eier. Würde das Männchen 
wirklich ein Weibchen durch die Eierstockstransplantation, müßte 
füglich das überpflanzte Ovarium die gleichen befruchtungs- 
fähigen Eier hervorbringen. Tut es das? lautet die Frage. Nein! 
ist die Antwort des Experimentes. Und der Hoden im kastrierten 
weiblichen Körper? Produziert keinerlei zeugungsfähigen 
Samen! 

Die Keimdrüsenüberpflanzung ist also nicht in der Lage, 
Weiber in Männer und Männer in Weiber zu verwandeln. Sie 
ist es wirklich nicht, und das ist der wichtigste Teil Steinachscher 
Experimentalergebnisse. Denn der Versuch am Lebenden liefert 
die besondere Bestätigung eines allgemeinen Naturprinzips, 
in welches der Beginn meiner Forschungen mir die erste Ein- 


*) Vgl. Wilhelm Fließ „Vom Leben und vom Tod“, 6.—8. Tausend, 
Jena 1919, S. 134. 


Fließ: Pubertätsdrüse und Doppelgeschlechtigkeit 301 


sichtnahme eröffnet. Dieses Prinzip ist die dauernde Doppel- 
geschlechtigkeit alles Lebendigen. Nicht Bisexualität oder Doppel- 
geschlechtlichkeit ist hiermit gemeint, in dem Sinne der Tat- 
sache etwa, daß jedes Tier die Genitalorgane des anderen Ge- 
schlechts rudimentär in sich trüge, sondern die Doppel- 
geschlechtigkeit des gesamten tierischen und pflanzlichen 
Organismus, das Bestehen jeder einzelnen Zelle, jedes einzelnen 
Zellteiles aus männlicher und weiblicher Substanz. Von den 
Voraussetzungen für diese Erkenntnis zu handeln, ist hier nicht 
der Raum. Aber das Gesetz selbst muß man sich klarmachen, 
denn es handelt sich um einen Teil seiner Folgerungen. 

Die Substanz, aus der unser Körper erbaut wurde, hat — 
wie alle lebendige Substanz — gleichsam zwei Sorten: Männ- 
lichen und weiblichen Stoff. Und wir selbst sind eine Misch- 
sorte, wir bestehen aus männlicher und weiblicher Substanz. 
Der Mann aus mehr männlicher, das Weib aus mehr weiblicher 
Stoffmischung. Deswegen — und deswegen allein — ist der 
Mann ein Mann, deswegen — und deswegen allein — das 
Weib ein Weib. Nicht propter ovarium. Ich kann ihren Eier- 
stock wegnehmen, und sie wird eine Kastratin, aber sie bleibt 
ein Weib. Und ich kann ihr einen Hoden dafür geben, dann 
wird sie männisch, aber nicht männlich; sie bleibt ein Weib. 
Denn die Natur hat in dem Mischungsverhältnis ihres doppel- 
geschlechtigen Körpers für das Somageschlecht weiblich ent- 
schieden. Und der weibliche Körper gestattet dem Eierstock, 
was er dem Hoden verbietet: die Erzeugung befruchtungsfähiger 
weiblicher Keimzellen. Vice versa gilt all das vom Manne. 
Nicht seines Hodens wegen ist er ein Mann, sondern er hat 
einen Hoden, weil er ein Mann ist. Sein männliches Körper- 
geschlecht ist die Voraussetzung für den funktionstüchtigen 
Hoden. Das überpflanzte Ovarium kann — bei allem Einfluß 
auf die sekundären Geschlechtscharaktere des Kastraten — Eier 
nicht produzieren. Bei der Frau aber pflegt ein transplantierter 
Eierstock durchaus funktionstüchtig zu bleiben. Ihr weibliches 
Somageschlecht gibt keine Hemmung ab für die weibliche Keim- 
drüse eines anderen Individuums. 

Das Somageschlecht muß primär sein, nicht die Geschlechts- 
drüse. Denn wir können die Drüse vertauschen, das Soma- 
geschlecht bleibt. Man hat leichtfertig gefolgert, die überpflanzte 
Keimdrüsenzwischensubstanz schaffe neue Geschlechtscharaktere 


302 Fließ: Pubertätsdrüse und Doppelgeschlechtigkeit 


in einem neutralisierten Körper, und dabei gar nicht bedacht, 
wie sehr ein solches Ergebnis sich in Widerspruch setzen würde 
zu der wichtigsten Vorstellung aus dem Gebiete der Drüsen- 
physiologie. Eine Drüse ist niemals befähigt, etwas neues zu 
schaffen, wie es allein die Keimzelle kann. Ihr Einfluß ist immer 
nur regulativ im weitesten Sinne. Was geschieht denn z. B. im 
Krankheitsbilde der Akromegalie? Das zu reichliche Hypophysen- 
sekret läßt die acra megala, die Glieder groß werden. Hände, 
Füße, Nase, Kiefer, Lippen, Geschlechtsteile beginnen unter 
Störungen im Allgemeinbefinden ein plötzliches Wachstum. 
Also Vorhandenes wächst, etwas Neues entsteht keineswegs. 
Und das gleiche zeigt eine jede Symptomatologie, deren Ursachen 
im geänderten Funktionieren einer Drüse mit innerer Sekretion 
gelegen ist. Anatomische und physiologische Veränderungen, 
Wachstum oder Schwund, gesteigerte oder verringerte Stoff- 
wechselvorgänge, Über- oder Untererregbarkeit stellen sich ein, 
niemals aber tritt eine Bildung auf, die nicht vorher bereits 
vorhanden gewesen. Nach den gleichen Gesetzen arbeitet die 
Pubertätsdrüse. Haare wachsen oder schwinden, Brüste ver- 
größern sich oder atrophieren, und diejenigen Geschlechtsteile, 
welche, der gegengeschlechtigen Anlage entstammend, im Laufe 
der Entwicklung zurücktreten mußten, erwachen aufs neue. 
Nichts wird erschaffen. Und daß trotzdem eine Umstimmung 
erzielt wird, deren Ausmaß selbst die Forscher täuschen, und 
zu dem voreiligen Schluß eines Geschlechtswechsels verleiten 
konnte, hat seinen Grund in der Doppelgeschlechtigkeit des 
lebendigen Körpers. Die Brust des Mannes enthält — wie eine 
jede Zelle seines übrigen Organismus — weiblichen Stoff neben 
dem männlichen. Dieser weibliche Stoff wird gedüngt von der 
weiblichen Substanz eines transplantierten Ovariums. Der Mann 
bekommt Weiberbrüste, er wird ein Gynäkomast. Es gehört 
jedoch zu den landläufigen Beobachtungen, daß die Gynä- 
komastie ohne jedes geschlechtliche Zwittertum in Erscheinung 
tritt. Und das kann sie nur, wenn auch der Hoden Elemente 
aus der weiblichen Keimdrüse birgt, deren Hormon die weib- 
liche Substanz in der Männerbrust zur Vermehrung bringt. Die 
Voraussetzung hierfür muß in dem Mischungsverhältnis des 
betreffenden Mannes gelegen sein. Das Überwiegen der weib- 
lichen Substanz in einem solchen Manne hat dann eine doppelte 
Wirkung. Einmal können normalerweise zugrunde gehende 


Fließ: Pubertätsdrüse und Doppelgeschlechtigkeit 303 


weibliche Elemente in seiner Keimdrüse erhalten bleiben, und 
dann finden diese Elemente eine genügende Menge weiblicher 
Substanz in seiner Brustdrüse vor, um durch deren innersekre- 
torische Düngung eine Weiberbrust wachsen zu lassen. 

Dieses große Prinzip kannten wir lange vor dem anatomischen 
Nachweise von Elementen des anderen Geschlechtes im Hoden. 
Und längst vor den Meisenheimerschen Versuchen. In ihnen 
werden wir auf eine ganz eigentümliche Weise bestätigt. Nie- 
mals entwickelt das kastrierte Froschmännchen die Daumen- 
schwielen, mit denen der normale Frosch in der Brunst das 
Weibchen umklammert. Wohl aber wachsen die Schwielen, 
wenn man ihm Hoden oder Eierstöcke unter die Haut bringt. 
Die Eierstöcke wirken nicht ganz so stark wie die Hoden, aber 
sie wirken. Und das könnten sie nicht, wenn nicht männliche 
Anlagen in ihnen wären. Unser Schluß aber müßte bestehen, 
auch wenn niemals — wie es von Pick: geschehen ist — Eier- 
stockzellen im Hoden und Hodenzellen im Eierstock nach- 
gewiesen worden wären. Die Doppelgeschlechtigkeit der einzelnen 
Zelle zeigt ja heute noch kein Mikroskop. Und doch ist sie 
notwendig, denn die Zelle lebt nur, so lange männliche und 
weibliche Substanz in ihrem Inneren aufeinander wirken. Die 
Doppelgeschlechtigkeit ist weit mehr als ein anatomischer Zu- 
stand, sie hat die wichtigste biologische Funktion. 

Diese Erkenntnis fließt aus den Ergebnissen eines großen 
Experimentators, aus den Naturergebnissen. Die Natur selbst 
schafft ja jeden erdenklichen Übergang zwischen männlichen 
und weiblichen Charakteren. Und ihr großes „Zwischenreich“ 
bildete seinerzeit mein Material, als ich die Beziehungen zwischen 
Doppeligeschtigkeit und bilateraler Symmetrie, zwischen Künstler- 
tum und dem gegengeschlechtigen Einschlag finden durfte. 
Leider hat niemand bisher dieses neue biologische Bild in der 
Gesamtheit gesehen, und die Befruchtung einiger Spezialgebiete 
durch die neue Erkenntnis geschah auf dem illegitimen Wege 
bewußten und unbewußten Plagiates. Das ist tief zu bedauern. 
Nicht einer Priorität zuliebe, sondern weil die Verbindung von 
Einzelerkenntnissen mit dem umfassenden Naturprinzip dadurch 
unmöglich gemacht wird. Sexuelle Zwischenstufen und psychische 
Homosexualität werden so wenig verstanden ohne ein über- 
geordnetes Gesetz wie das vielbedachte Problem von Geschlecht 
und Charakter. Und heute noch kann ein frappierendes Experiment 
über das größte Naturgesetz hinwegtäuschen. 





ÜBER RASSEN UND RASSENMISCHUNGEN IN 
DER STEINZEIT EUROPAS. 
Von Dr. med. K. CLASSEN, Grube (Holstein). 


som in der paläolithischen Periode, d. h. während der 
Eiszeit einschließlich der letzten Zwischeneiszeit, haben in 
Europa mehrere Menschenrassen gelebt. Das geht aus den an 
verschiedenen Stellen, Frankreich, Belgien, Südengland, Mittel- 
und Süddeutschland, Mähren und Österreich gefundenen Schädeln 
und Skelettresten hervor. Eine dieser Rassen, die vom Neander- 
tal, ist mit dem Ende der Eiszeit ausgestorben oder hat sich 
bis in die spätere Zeit wenigstens nicht mehr reinblütig erhalten. 
Die andern lassen sich mehr oder weniger deutlich m der 
während der jüngeren Steinzeit Europa bewohnenden Rassen 
wiedererkennen. 

jene verschiedenen Rassen haben im Paläolithikan nicht 
nur nebeneinander gewohnt, sondern sie sind auch schon 
Mischungen miteinander eingegangen. So hat man in der Nähe 
von Bonn zwei Schädel, einen männlichen und einen weiblichen, 
nebst andern Knochen nahe beieinander gefunden, die offenbar 
von einer gemeinsamen Bestattung herrührten. Der männliche 
Schädel hatte die Gestalt der aus andern Funden wohlbekannten 
Cromagnon-Rasse, der weibliche zeigte bei aller Ähnlichkeit 
doch einen Einschlag anderer Rasse. 

Von der jüngeren Steinzeit her bis auf die Gegenwart 
haben sich die europäischen Rassen nicht wesentlich geändert. 
Einwanderungen von Osten und Südosten in geschichtlicher 
und vorgeschichtlicher Zeit haben das Gesamtbild nicht zu 
ändern vermocht. Da in der Steinzeit allgemein die Leichen 
bestattet, nicht verbrannt wurden (Leichenbrand läßt sich mit 
einzelnen Ausnahmen erst in der Bronzezeit nachweisen), so 
ist ein sehr reichhaltiges Schädelmaterial vorhanden. 

Wir können nun in Europa, wenn wir von Mischrassen, 
Übergängen von einer zur anderen Rasse, versprengten Resten 
alter Rassen absehen, im großen und ganzen vier Hauptrassen 
unterscheiden: Langschädel mit hoher Stirn und länglichem 





(ayaısun E1104) "UO шпәвпшиәш1әц]. 


IYBULIDA SOyIOg N 203 "A Cpp PW U! (uosy] 1әцәвївїлорпл) `әџроціу зәр әиогцү шол әш 





mdinys ayyuy `е15205ү ‘Sos "21 "риәѕеүа әјоү4 әләң әцәвщзәигу ү ‘514 


к= 





Tafel III 


Altperuanische Vas 


en mit päderastischen Darstellungen. 





(Zu Aufsatz: v. Reitzenstein.) 


Classen: Über Rassen u. Rassenmischungen in der Steinzeit Europas 305 


Gesicht, vorwiegend in Nordeuropa verbreitet, bis nach Mittel- 
und Süddeutschland reichend (Homo Europaeus); Kurzschädel 
mit scharfgeschnittenem Profil und Adlernase, von der Balkan- 
halbinsel bis in die Donauländer, auch nach Südrußland aus- 
gebreitet (Armenoide-Rasse): Kurzschädel mit breitem Gesicht 
und stumpfer Nase, von Norditalien über die Alpenländer ins 
Rheintal, nach Belgien und Nordfrankreich sich ausdehnend 
(H. Alpinus), Langschädel mit mehr breiter als hoher Stirn und 
abgeplatteten Schläfen, auf den südlichen Halbinseln und in 
einem großen Teil Frankreichs (H. mediterraneus). 

Allerdings sind die Gebiete dieser vier Hauptrassen keines- 
wegs gegeneinander genau abzugrenzen, sie greifen vielmehr 
überall ineinander über. Im Norden finden sich Kurzschädel 
verschiedener Gestalt überall zwischen den Langschädeln, und 
die nordischen Langschädel sind wiederum bis in alle drei 
südlichen Halbinseln Europas verbreitet. Was die Farbe der 
Haut, der Haare und Augen betrifft, so findet sich zwar die 
helle Komplexion vorwiegend im Norden, die dunkle mehr im 
Süden Europas; jedoch ist jene keineswegs der nordischen 
(europäischen) Rasse allein eigentümlich, wie auch wieder inner- 
halb dieser Rasse blaue Augen und blonde Haare durchaus 
nicht ausschließlich herrschend sind. 

Daß gerade vier Hauptrassen die Bestandteile der heutigen 
Bevölkerung Europas bilden, ist kein Zufall, sondern erklärt 
sich aus der Gestaltung unseres Erdteils und der Verteilung 
der Gletscher während der letzten Vereisung. Wir müssen da- 
bei berücksichtigen, daß das Leben des Menschen während der 
Eiszeit an die Existenz des Renntiers gebunden war. Dieses 
harmlose und mit primitiven Waffen zu erlegende Tier bot 
dem Menschen Material zur Befriedigung seiner wichtigsten 
Lebensbedürfnisse: Fleisch und Fett zur Nahrung, Knochen und 
Geweih zu Werkzeugen, Waffen und Schmuck, Sehnen zu 
Stricken und Schnüren, Fell zur Kleidung. Hätten nicht damals 
große Renntierherden am Rande der Gletscher gelebt, wo sie 
in der Renntierflechte ihre Lieblingsnahrung fanden, so hätten 
sich die Menschen der Vor- und Zwischeneiszeit wohl vor den 
sich ausbreitenden Gletschern nach milderen Ländern verzogen 
und die feine Kultur der letzten Eiszeit, deren Kunstfertigkeit 
in Schnitzerei, Plastik und Malerei wir bewundern, wäre nicht 
in Erscheinung getreten. 

20 


306 Classen: Über Rassen u. Rassenmischungen in der Steinzeit Europas 


Das Renntier ist mit den großen Gletschern in Europa 
verschwunden und damit hat die Kultur des Menschen eine 
große Einbuße erlitten. In Norddeutschland, Dänemark und 
Südschweden hat man nur vereinzelte Stücke vom Renngeweih 
mit Spuren von Bearbeitung durch den Menschen gefunden, 
aber nichts mehr von der alten Kunstfertigkeit; die Menschen 
waren auch wohl an Zahl zurückgegangen. Wenn sich auf den 
ehemals vom Eise bedeckt gewesenem Boden Europas, der an 
Fruchtbarkeit seinesgleichen suchte, eine neue Menschheit er- 
heben sollte, so mußte Zuwanderung stattfinden aus Gegenden, 
in denen das Renntier eingelebt hatte, wo also die Menschen 
gelernt hatten, ohne den Nutzen, den dieses Tier bot, die An- 
fänge der Kultur zu begründen. 

Solcher Gegenden gab es nun in Europa vier, nämlich die 
drei südlichen Halbinseln und das südliche Rußland. Südlich 
der Pyrenäen, der Alpen und des Balkan hat es zwar auch 
noch Gletscher gegeben, aber keine Renntiere, und in Rußland 
hat der Südrand des großen nordischen Gletschers höchstens 
bis in die Gegend von Kiew gereicht, weiter im Osten sogar 
noch weniger weit nach Süden. So war das ganze südöstliche 
Rußland, der größte Teil des Wolgastromgebiets, vom Eise 
freigeblieben. Diese vier Gebiete, Pyrenäen, Appenin-, Balkan- 
Halbinsel und unteres Wolgagebiet, waren in paläolithischer 
Zeit schon vom Menschen bewohnt, wenngleich wir über deren 
Kultur nicht so gut unterrichtet sind, wie über die verschiedenen 
Eiszeitperioden. 

Das vom Eise befreite Land bot nun in den Flußtälern und 
Ebenen sowie an den Meeresküsten, soweit es nicht von dichtem 
Wald bedeckt war, einen fruchtbaren, für primitiven Ackerbau 
wohl geeigneten Boden. Die neue Kulturperiode beginnt unter 
ganz anderen Bedingungen. Das gibt sich darin zu erkennen, 
daß unter den Werkzeugen, welche sich die Menschen aus ver- 
schiedenen Steinarten herstellten, jetzt das Beil das wichtigste 
ist. In der Eiszeit kannte man das Beil nicht, denn damals 
gab es noch keine Bäume zu fällen, kein Holz zu bearbeiten. 

Die älteste Periode der Nacheiszeit, nämlich die Kultur der 
nordischen Küchenabfallhaufen (Kjökkenmöddinger) — die in 
Frankreich als Kultur von Campigny an der Seine (Campignien) 
bezeichnet wird, — könnte man noch als bodenständig, d. h- 
von den Resten der Eiszeitmenschen selbst hervorgebracht, auf- 


Classen: Über Rassen u. Rassenmischungen in der Steinzeit Europas 307 


fressen. Jedoch die dann folgende hohe neolithische Kültur mit 
polierten Feuersteinbeilen und mannigfachen Geräten, mit Vieh- 
zucht und Ackerbau, kann nur durch Zuwanderung neuer Volks- 
massen entstanden sein. Da es nun vier Gebiete in Europa 
gab, aus denen solche Zuwanderung stattfinden konnte, so er- 
klärt sich leicht die Zusammensetzung aus vier Hauptrassen, 
die sich aus jenen vier Gebieten herleiten lassen, nämlich die 
kurzweg als „europäisch“ bezeichnete Rasse aus Südrußland, 
die armenoide Rasse von der Balkanhalbinsel und: weiter aus 
Vorderasien, die alpine Rasse von Italien, die mittelländische 
Rasse von der Pyrenäenhalbinsel. Allerdings läßt sich nicht 
behaupten, daß diese Rassen in diesen Gebieten ursprünglich rein 
einheimisch gewesen seien. Von der mediterranen Rasse läßt 
sich vermuten, daß sie rings um das Mittelmeer verbreitet 
gewesen ist, und die europäische Rasse mag sehr früh schon 
kurzköpfige Beimischung von Asien her erhalten haben. Die 
sich nun in Mittel- und Nordeuropa ansiedelnde reine Be- 
völkerung wird an vielen Stellen Reste der alten Paläolithiker vor- 
gefunden haben, deren Verwandtschaft aus einer oder der andern 
der neuen Rassen mehr oder weniger deutlich zu erkennen ist. 

So sind im neuen Europa durch Berührung und Ver- 
mischung verschiedener Rassen, wobei es wohl nicht immer 
friedlich zugegangen ist, unter Austausch von Kulturgütern, 
neue Völker entstanden. Was heutzutage die Völker trennt 
sowohl wie einigt ist weniger die Rasse als die Sprache. Wenn 
wir nun nachforschen, welche Sprachen in Europa ursprünglich 
einheimisch gewesen sind, so kommen wir wiederum auf vier 
nachweisbar ganz verschiedene Sprachen hinaus. 

In der Gegenwart sind die der indogermanischen Gruppe 
zugehörigen Sprachen in ganz Europa herrschend. . Aber es 
läßt sich nachweisen, daß überall ehemals andere Sprachen 
geredet wurden, abgesehen etwa von Norddeutschland, Skandi- 
navien, Litauen und Rußland. In Spanien, in Frankreich, auf 
den britischen Inseln, in Süditalien und auf Sizilien wurde im 
Altertum iberisch gesprochen. In einigen Teilen Norditaliens 
und Südfrankreichs saßen die Ligurer mit eigener Sprache, die 
sich in zahlreichen Namen von Bergen und Flüssen bis ins 
Rheinland nachweisen läßt. Die Balkanhalbinsel nebst den 
griechischen Inseln hatte in vorhellenischer Zeit eine Ur- 


bevölkerung, die Pelasger, Karier, Leleger, deren Sprache in 
20* 


308 Classen: Über Rassen u. Rassenmischungen in der Steinzeit Europas 


vielen Ortsnamen erhalten ist und ihre Verwandten in Vorder- 
asien hat. Dieselben Namen von Bergen und Flüssen kehren 
in Griechenland, auf Kreta, in Kleinasien und in den rätischen 
Alpen wieder. 

Während von der ligurischen Sprache keine Reste mehr 
lebend erhalten sind, — die für ligurisch geltenden Inschriften 
sind noch nicht gedeutet, — lebt die Sprache der alten Iberer 
in den baskischen Dialekten zu beiden Seiten der Pyrenäen 
fort, und die Sprachen der Pelasger und Karer haben wahr- 
scheinlich in Georgischen oder einer anderen kaukasischen 
Sprache eine lebende Verwandte. 

Wenn wir nun die heutigen Völker Europas anthropologisch 
untersuchen, so werden wir in jeden derselben neben einer 
vorwiegenden Hauptrasse mehr oder weniger deutliche Spuren 
der andern drei Rassen finden. Allerdings nicht in dem Sinn, 
daß nun in jedem Individuum die Züge verschiedener Rassen 
ausgeprägt waren, — es gibt auch jetzt noch viel reinrassige 
Menschen; — sondern das Charakterbild einer Nation setzt 
sich zusammen aus den verschiedenen Charakterzügen ihrer 
Rassenbestandteile. 

Die Rassen unterscheiden sich nicht nur durch Schädel- 
gestalt und andere körperliche Merkmale, sondern auch durch 
geistige Eigenschaften; jede Rasse hat ihre besonderen Anlagen, 
Begabungen und Neigungen. Das Schicksal eines Volkes, die 
Stellung, die es in der Kultur einnimmt, und die Rolle, die er 
in der Geschichte spielt, erklären sich aus seiner Rassen- 
zusammensetzung, und es ist eine reizvolle Aufgabe für den 
Historiker, solches aus den Schicksalen eines Volkes im einzelnen 
nachzuweisen, ebenso wie der Biograph versucht, den Charakter 
eines Helden aus seiner Abstammung verständlich zu machen. 
Denn große Männer sind selten reinrassiger Herkunft, sondern 
aus einer glücklichen Mischung verschiedener Rassenanlagen 
hervorgegangen. 


Sg 


ХАЛАС АК АС 





„SÜNDE“, SEKRETION UND SÜHNE. 
Von Landgerichtsrat Dr. OTTO GOLDMANN. 


р" modernen Kriminalisten interessiert angesichts der jetzigen 
Hochflut von Verbrechen mehr denn je die Frage: woher 
kommt die Sünde, die strafbare Untat? 

1. Ist sie lediglich eine Folge der Umgebung, der Er- 
ziehung des Täters? 

2. Ist der verbrecherische Wille, ist die Neigung, Straf- 
taten zu begehen, vererbt, angeboren? Unterfrage: bei 
allen Menschen ohne Ausnahme („Erbsünde“)? So daß der 
Grad und die Stärke von „Hemmungsvorstellungen“ ausschlag- 
gebend sind. Oder gibt es „sündlos geborene“, die aus 
anderen Gründen später straffällig werden? 

Diese Fragen lassen sich weder mit Ja noch mit Nein 
unbedingt beantworten. Sie entscheiden zu können, würde 
bedeuten, „Welträtsel“ gelöst zu haben. Wir können nur aus 
langer Beobachtung, Erfahrung und Statistik Schlüsse ziehen, 
gewisse Regeln aufstellen um — beim nächsten Fall schon 
einzugestehen, daß wieder eine Ausnahme vorliegt. 

Oft hörte ich Psychiater sich äußern: „Der Angeklagte ist 
erblich belastet. Sein Vater war Trinker. Eine Tante ist in 
der Irrenanstalt gestorben. Wir wissen nicht, ob der An- 
geklagte die Tat auch begangen hätte, wenn diese Umstände 
nicht gegeben wären. Es dürfte daher mindestens eine ver- 
minderte Zurechnungsfähigkeit anzunehmen sein. 

Hierzu möchte ich bemerken: Wenn es schon richtig ist, 
daß kranke Zellen oder Keime der Voreltern sich vererben 
und die Psyche ungünstig beeinflussen, wie nun wenn irgend 
ein Vorfahr des Angeklagten vor 100 oder gar 200 Jahren ein 
noch viel schlimmerer Trinker war, als der Vater des An- 
geklagten? Denn auch von jenem Vorfahr trägt er Keime 
oder Zellen mit sich herum! 

Wie weit geht überhaupt diese Vererbung? In welchem 
Jahrtausend seit Entstehung des Menschen ist von diesem 
Ur-Menschen an durch Vererbung übertragenen Keimen in der 
späteren Menschheit nichts mehr vorhanden? Es wird immer 
noch etwas vorhanden sein, ‚sage ich, denn jeder Mensch 


310 Goldmann: Sünde, Sekretion und Sühne 


entstand aus dem Stoffe von Menschen. Es verhält sich da- 
mit wie in der Chemie. In einem Gemengsel ist ein be- 
stimmter Ur-Stoff trotz späterer Zutaten und Beimischungen 
theoretisch immer noch nachweisbar, wenn auch zuletzt nur 
nach milliardstel von Bruchteilen. 

So tragen wir alle noch Reste der Ur-Menschen in uns 
und ich behaupte, daß die Mehrzahl dieser Keime einst nicht 
sittliche und edle, sondern egoistische, gewalttätige, tierische, 
animalische waren. So äußert sich denn der heutige Kampf 
ums Dasein, der Kampf um mein und dein, der Kampf des 
Männchens um das Weibchen noch als Folgeerscheinungen 
der Bedingungen und Zustände, unter denen die Ur-Menschen 
ihr Leben fristen mußten — — umheult von noch echten 
Tieren, befehdet von Mensch-Übergangstieren und in streit- 
süchtigem, materiellem Ausgleichsverfahren stehend mit eben- 
falls schon Mensch gewordenen. Dies nur ein Stimmungs- 
bil. Ob es wissenschaftlich richtig ist, ob diese drei 
Gattungen gleichzeitig existierten, bleibe künftiger Forschung 
vorbehalten. Bisweilen findet man ja wieder in tiefen Erd- 
schichten einen alten Schädel, ein paar Knochen, und der 
Gelehrtenstreit: schon Mensch oder noch Tier? erhebt sich 
aufs neue. Ich darf daher getrost noch mein Stimmungsbild, 
das allerdings nicht biblisch ist, vorführen. 

Jedenfalls war der Ur-Mensch kein Engel. Mord war für 
ihn meist „Notwehr-Akt“. Diebstahl und Raub wurden durch 
einen „Notstand“ entschuldigt. Und Mädchenraub, Verführung, 
Notzucht oder Einbruch in ein eheähnliches Verhältnis wurden 
durch einen Trieb ausgelöst, der elementar dem Geschlechts- 
leben entsprang, der unwiderstehlich war und der sicher stets 
zur Anwendung des 8 51 des Strafgesetzbuchs geführt hätte. 

Solche Keime leben noch in uns. Das sehen wir jeden 
Tag, obwohl seitdem Erden verschwunden sind, Meere sich 
neu gebildet haben und die Maxime der reinen oder kritischen 
Vernunft eigentlich alles beherrschen müßten. Im Grunde ge- 
nommen ist alles beim alten geblieben. Nur etwas kultivierter 
und verfeinerter geworden. Aber das Tier, der tierische 
Instinkt, der atavistische Urtrieb bricht bei dem einen oder 
anderen von Zeit zu Zeit wieder durch, auch bei bester Er- 
ziehung usw. 

Könnten wir es sonst verstehen, daß zum Beispiel ein 
Sohn bester Familie, von gesunden Eltern, in völlig aus- 
reichenden Vermögensverhältnissen eine Straftat, ich will ein- 
mal annehmen eine Unterschlagung begeht? Die Tat ist 


Goldmann: Sünde, Sekretion und Sühne 311 


„allen unverständlich“. Der Psychiater wird — nicht zuletzt 
— bemüht und nimmt den Missetäter unter die verschiedensten 
Lupen seines wissenschaftlichen Rüstzeugs, um — nichts zu 
finden. Man pflegt dann zu sagen: die Hemmungsvorstellungen 
waren nicht stark genug, um den verbrecherischen Anreiz zu 
unterdrücken. Hieraus macht man dem Betreffenden einen 
Vorwurf, denn man bestraft ihn ja, man muß ihn bestrafen. 

Aber — und nun kommt mein aber: wenn dieser Mensch 
den verbrecherischen Anreiz nicht unterdrücken konnte in- 
folge ungenügender Hemmungsvorstellungen, weil nämlich in 
seinem System sich noch mehr unsittliche als sittliche ata- 
vistische, vererbte Urtriebe befanden, was konnte er dann 
hierfür? 

Ich weiß, daß bei Verfolgung dieser Theorie eigentlich 
alle Verbrecher straflos bleiben müßten. Dies zu propagieren, 
ist keineswegs meine Absicht. Ich wollte nur einerseits die 
allzueifrigen Anhänger der kriminellen Vererbungs- und Ent- 
schuldigungspraktik ad absurdum führen, andererseits aber 
den Weg ebnen zur Stellung einer weiteren Frage, da wir 
doch bemüht sind, Gründe für den Ursprung der strafbaren 
Untat zu finden. 

3. Kann die Kriminalpsychologie die Lösung finden auf 
dem Wege der Prüfung der Körperbeschaffenheit des 
Täters? 

Ein Lombrosoanhänger? Nein, das bin ich nicht. Die 
Lehre vom „geborenen Verbrecher“, dem man jeden einzelnen 
Tatbestand des Strafgesetzbuchs gewissermaßen schon an der 
Nasenspitze ansehen kann, ist bekanntlich (von Ausnahmen 
abgesehen) längst als untrügliches System verworfen worden. 
Eine englische Kommission hat zum Beispiel festgestellt, daß 
die Nachkommen von elenden Arbeiterfamilien, welch letztere 
man in günstigste Verhältnisse verpflanzt hatte, den Kindern 
Wohlhabender in jeder Beziehung glichen, also nicht mehr 
„Verbrecherphysiognomien“ aufwiesen, die den Eltern so oft 
den Stempel „reif fürs Zuchthaus“ aufdrückten. Also: der 
schlechte körperliche Charakter ist während des Einzellebens 
im allgemeinen erworben, nicht angeboren, also auch nicht 
vererbbar. Unterfrage: Ist etwa ein in niederster sozialer 
Schicht erworbener körperlich minderwertiger Charakter die 
Ursache einer Mißbildung der Psyche im verbrecherischen 
Sinne, so daß er diese gewissermaßen „spiegelt?“ 

Auch dies nicht. Es gibt Tausende körperlich minder- 
wertiger Menschen, deren Haltung und Angesicht keineswegs 


312 Goldmann: Sünde, Sekretion und Sühne 


dem idealen Schönheitsbegriffe entspricht, und die sich doch 
nie strafbar gemacht haben. Umgekehrten Falles müßte man 
doch sonst bei einem abstoßend häßlichen Menschen, der in 
den besten Verhältnissen lebt, jeden Augenblick auf die „längst 
fällige Untat“ warten können! 

Weshalb also dann „Prüfung der Körperbeschaffenheit?“ 
Ist es etwa nicht die äußere Form, sondern das Innere des 
Menschen in anatomischer, physiologischer Hinsicht, das ge- 
prüft und gegebenenfalls als Verursacher der „Sünde“ ver- 
antwortlich gemacht werden könnte? 

Es ist so. In vielen Fällen wenigstens. Denn „Welt- 
rätsel“ zu lösen wird auch auf diesem Wege nicht gelingen. 
Nur etwas mehr Klarheit für die Kriminalpsychologie wird 
erbracht, wenn man die neuesten Forschungen verfolgt und 
ihre Tragweite überlegt. 

Es handelt sich um die Lehre von der sogenannten 
inneren Sekretion der menschlichen Organe. Deren in das 
Blut oder das Nervensystem abgegebenen Sekrete sind von 
ungeheurem Einfluß auf die Psyche, auf das Tun und Lassen. 
Mithin auch auf das kriminelle Wohl- oder Übelverhalten. 

Man spricht von Hormonen, das sind Drüsensekrete, 
die eine anreizende Tätigkeit ausführen, und von Chalonen, 
solchen, die eine hemmende, erschlaffende Wirkung auf das 
System des Menschen ausüben. 

Viele Erfahrungen, zum Teil auch schon praktisch ver- 
wertet (Steinach!) hat dieser Teil der Wissenschaft schon 
gesammelt. Wir wollen im nachfolgenden jedoch nur die- 
jenigen aufführen, welche für den Kriminalisten Neuland, aber 
verwertbares Neuland sein können. 

Die Erscheinungen der Homosexualität sind hinlänglich 
bekannt, Da aber das Strafgesetzbuch mit seinem mehr be- 
rüchtigten als berühmten § 175 die männlichen Homosexuellen 
unter Strafe stellt, scheint der damalige Gesetzgeber doch 
wohl angenommen zu haben, daß es sich um eine durch 
Hemmungsvorstellungen unterdrückbare Neigung handelt. Der 
moderne Arzt und Forscher sagt uns aber heute: die Ursache 
liegt tiefer. Die Drüsensubstanz dieser Menschen ist nicht 
normal. So beeinflussen ihre Sekrete die Psyche und sind 
die Ursache des Verstoßes gegen das Strafgesetz. Мап ist 
sogar auf dem Wege, nicht etwa durch Richterspruch, sondern 
mittels Operation, Einpflanzung normaler Hodensubstanz, einen 
Homosexuellen auf die sexuelle Norm „zurückzukorrigieren“. 
Man rufe also lieber den Chirurgen, als den Staatsanwalt! 


Goldmann: Sünde, Sekretion und Sühne 313 


Zwang zur Operation aus staatspolitischen Gründen? Schnell 
über diese Frage hinweg! 

Bei den Eunuchen — wir leben zwar in Deutschland, 
aber die Fälle sind leider nicht selten, wo der Krieg Männern 
schwere Verletzungen der Zeugungsorgane gebracht hat — 
nimmt der Körper nicht etwa die Eigentümlichkeiten des 
anderen Geschlechts an (man glaubte früher wegen der hohen 
Stimme an diese Möglichkeit), sondern der Körper wird asexuell. 
Ein Mann ohne diese Organe, mithin ohne Sexualsinn ist kein 
vollwertiger Mensch, weder seelisch, noch demzufolge kriminal- 
psychologisch. Der Kastrat wird verschlossen, mißtrauisch. 
Er neigt zu asozialem Verhalten. Damit ist eine Quelle für 
manche strafbare Untat geöffnet. Inwieweit strafbar, muß 
der Arzt entscheiden. 

Ein überaus wichtiges Organ ist die Hypophyse, der so- 
genannte Hirnanhang. Das Sekret seines hinteren Lappens, 
das Pituitrin, verstärkt und erhöht den Blutdruck, verstärkt die 
Herztätigkeit. Erhöhte Sekretion könnte also die Ursache 
mancher Affekt-Untat gewesen sein. 

Vergrößert sich die Hypophyse krankhaft, abnorm, so 
entsteht der Riesenwuchs, der sogenannte Gigantismus. Ich 
weiß nicht, ob in Schaubuden ausgestellte „Riesen“ nach 
ihrem Tode seziert worden sind, aber sicher hätte der Ge- 
hirnbefund die Ursache des anormalen Wachstums ergeben. 
Und die Ursache für noch manches andere bei Lebzeiten. 
Mit dem Gigantismus ist nämlich meist auch psychischer In- 
fantilismus verbunden, kindliches Zurückbleiben der Psyche, 
die bei Straftaten solcher Riesen mehr den Arzt, als den 
Strafrichter interessieren müßte. Über den Kretinismus siehe 
weiter unten. 

Fehlt die Zirbeldrüse (Epiphyse), die nicht etwa, wie man 
in alten Zeiten annahm, „Sitz der Seele“ ist, sondern lediglich 
als Organ neben der Hypophyse sitzt, so wird bei Männern 
eine frühzeitige Entwicklung der Geschlechtsmerkmale be- 
obachtet. Damit ist oft ein geistiges Zurückbleiben verbunden. 
Geschwülste der Epiphyse rufen oft ein vorzeitiges Wachstum 
der Geschlechtsorgane hervor. Diese Feststellungen konnten 
gemacht werden bei zwei jugendlichen Söhnen bester Familien 
in Leipzig, von denen der eine im Jahre 1902 ein achtjähriges 
Judenmädchen nach oder bei einem Sittlichkeitsverbrechen er- 
mordet und in eine Kiste gepackt, der andere, selbst minder- 
jährig, eine Minderjährige verführt hatte. Beide Missetäter 
gingen straffrei aus. Nicht weil sie Söhne achtbarer Eltern 


314 Goldmann: Sünde, Sekretion und Sühne 


waren, sondern — weil die ärztliche Wissenschaft schon 
damals ahnte, was wir jetzt wissen. Es lag Unzurechnungs- 
fähigkeit vor, weil sicher die Epiphyse erkrankt war. (Der 
Freisprechung des ersten Falles konnten wir uns nicht an- 
schließen. Die Schriftl.) 

Beim Fehlen oder bei Unterentwicklung der Schilddrüse 
tritt geistige Verblödung (Kretinismus) ein. Somnolenz und 
Apathie werden hervorgerufen durch Störung der Funktion 
der Schilddrüse. Bei Überproduktion dieser Drüse tritt er- 
höhte Reizbarkeit ein, besonders bei Frauen ganz plötzlich 
nach heftigen Gemütserregungen. Begeht daher eine Frau 
nach solchen eine Affekt-Untat, so wird der Grund hierzu 
sehr oft in dieser Drüsentätigkeit, nicht in „einem verbreche- 
rischen Willen“ zu finden sein. 

Außerordentliche Bedeutung kommt den, den Nieren an- 
gelagerten Nebennieren zu. Ihr Sekret ist das Adrenalin oder 
Suprarenin, das an das Blut abgegeben wird. Es beschleunigt 
den Pulsschlag, verengt die Blutgefäße. Eine Hyper(Über) 
Sekretion steigert die geschlechtliche Begierde. Das Cholin 
andererseits, das Rindensekret der Nebennieren, wirkt dem 
entgegen, indem es den Blutdruck herabsetzt. So sind die 
Nebennieren und ihre Tätigkeit für das Geschlechtsleben und 
alle mit ihm zusammenhängenden Handlungen von besonderer 
Bedeutung. Ihre beträchtliche Vergrößerung hat eine mächtige 
Entwicklung der Frühreife zur Folge. Diese ist zu beachten 
bei Sittlichkeitsdelikten Jugendlicher. Bei Anomalien der Neben- 
nieren treten allerlei geschlechtliche Abnormitäten auf. Immer 
wieder rückfällige Exhibitionisten müssen daher dem Straf- 
richter entzogen und dem Arzt zugeführt werden. Ob Ein- 
spritzungen mit Cholin „heilen“ können, wage ich allerdings 
als medizinischer Laie nicht zu entscheiden, da sehr oft nicht 
nur eine Erkrankung der Nebennieren, sondern eine tiefer 
liegende Störung der Gehirnfunktionen vorliegen dürfte. 

Jedenfalls ersehen wir aus den neuesten Forschungen, daß 
keineswegs bei jeder Untat Vererbung, Not, Verführung oder 
ungünstiges Milieu die Ursache zu sein brauchen, sondern 
daß neue und gewichtige Erkenntnisquellen dem Laien, dem 
Richter und dem Arzte auf dem Gebiet der Kriminalpsycho- 
logie zu fließen beginnen. Seien wir begierig, diesen frischen 
Born auszuschöpfen! 


е2) 





EINE ERKLÄRUNG 
ZU ALTPERUANISCHEN GRABVASEN. 
(Mit 1 Tafel.) 
Von FERDINAND FRHRN. V. REITZENSTEIN, Dresden. 
(Abteilungs-Vorstand am Institut für Sexualwissenschaft, Berlin.) 


pe hat uns seine Kulturwelt hauptsächlich in einem uner- 
meßlichen Schatze von Tonvasen hinterlassen, die zum Teil 
sowohl in Form wie Farbe geradezu mustergültig durchgeführt 
sind. Es gibt fast nichts, was hier nicht dargestellt wäre und 
so ist denn auch das Sexualleben nicht nur häufig, sondern 
auch sehr deutlich und ohne jeden Vorbehalt behandelt. Die 
bezüglichen Vasendarstellungen haben schon mehrfach das 
Interesse der Forscher erregt. Was uns veranlaßt, auf dieses 
Thema zurückzukommen, ist eine Beobachtung, die sich an einigen 
Gefäßen aus Chimbote machen läßt, von denen zwei der 
charakteristischsten in unserer Tafel 3 wiedergegeben sind. 
Beide zeigen uns die Verrichtung des coitus in anum (Hinter- 
teil) in zwei Stellungen und bei beiden liegt vor dem Weibe in 
höchst auffälliger Weise ein Wickelkind. Das Weib ist 
also als Mutter, die noch nicht lange geboren, dar- 
gestellt. Nun wissen wir, daß Naturvölker ihre Kinder nicht 
nur selbst stillen, sondern dieses Geschäft sehr lange fortsetzen. 
Wir erfahren beispielsweise von den nordamerikanischen 
Indianerinnen, daß sie ihre Kinder bis zum 12., von den Eskimos 
von King-Williams-Land gar bis zum 15. Lebensjahr trinken 
lassen. Wichtig ist nun, daß sich während dieser Zeit der 
Mann fast überall des geschlechtlichen Verkehrs mit 
dem Weibe zu enthalten pflegt, da eine Schwängerung 
während dieser Zeit nicht gewünscht wird. Im alten Peru wird 
uns nun allerdings die Säugezeit nur auf 2 Jahre angegeben, 
gegen die obigen Zeiträume sehr kurz, aber immerhin lang für 
die Enthaltung vom geschlechtlichen Verkehr. Bei den meisten 
Naturvölkern hat nun der Mann die Möglichkeit, seine Bedürf- 
nisse anderweitig zu befriedigen. Auch bei den Peruanern war 
das nicht ausgeschlossen. Es gab zunächst allerlei Jahrfeste, 


316 Reitzenstein: Eine Erklärung zu altperuanischen Grabvasen 


bei denen völlig freier geschlechtlicher Verkehr herrschte. So 
erzählt Pedro de Villagomez, Erzbischof von Lima, daß man 
ein altes Fest beging zur Zeit der Reife der Kal’tayfrüchte, was 
im Dezember der Fall war, dabei fand ein etwa fünftägiges 
Fasten statt, während dessen sich Männer und Weiber ganz 
nackt an einer bestimmten Stelle der Obstgärten trafen. Man 
veranstaltete einen Wettlauf nach einem bestimmten Hügel. 
Welcher Mann nun dabei ein Weib einholte, hatte die Ver- 
pflichtung, mit ihm ohne weiteres auf der gleichen Stelle zu 
kohabitieren. Das Fest währte 6 Tage und 6 Nächte‘). Auch 
Prostituierte, die man Pampayruna nannte, gab es im Lande. 
Das wichtige daran war aber, daß sie sehr verachtet waren und 
die Frauen keinen Verkehr mit ihnen haben mochten. Polygamie 
war für den Inka selbstverständlich, für den Vornehmen gestattet, 
während aber der Mann aus dem Volke schon bei Bigamie die 
Todstrafe erlitt). Auch Ehebruch war schwer verpönt, wir 
erfahren sogar, daß die Ehebrecherin gesteinigt wurde. Be- 
denken wir nun, daß es kaum wieder ein Land gab, in dem die 
Arbeit so exakt verteilt war wie im Inkareiche und daß man 
infolgedessen sehr arbeitsam war, so blieb dem Manne aus dem 
Volke außerhalb der Feste während der Säugezeit eigentlich 
nichts anderes übrig, als der unnatürliche Weg des Geschlechts- 
verkehrs, der coitus analis oder oralis. Beide Fälle finden wir 
denn auch deutlich dargestellt und auch für den coitus oralis 
in den erhaltenen Vasen genügend Beispiele. Den Hinweis auf 
die Säugezeit zeigten aber nur unsere hier abgebildeten beiden 
Vasen deutlich, denn nur die ganz bestimmte Absicht, den Grund 
des unnatürlichen Verkehrs anzugeben, kann den Künstler ver- 
mocht haben, das Wickelkind neben die Frau zu legen. Man 
scheint also durch die Darstellung des Kindes den Zweck des 
coitus analis, nämlich die stillende Frau schonen und eine Neu- 
schwängerung vermeiden zu wollen, betont zu haben. Nun 
hat uns Brüning eine Reihe von Stellen aus der altperuanischen 


1) Villagomez Carta pastoral de exortacions è instruccion Fol. 47 bei 
Tschudi, Beiträge z. Kenntnis des alten Peru; Wien 1891. S. 26. Vergi. 
Dulaure, Die Zeugung usw., hrsg. von Krauss, Reiskel u. Ihm, S. 273 ff. 

*) Bericht des Fra Cristobal de Castro u. Ortego Morjan an den 
Vizekönig Mendoza in Relacion y declaracion del modo que este valle de 
Chincha ... y se hizo en el año 1558 manusc. bei Brehm, Das Inkareich, 
Jena 1885. S. 96. 


318 Reitzenstein: Eine Erklärung zu altperuanischen Grabvasen 


und von seinem 20. Lebensjahr ab in Spanien erzogen, wo er 
unter Don Juan d’Austria gegen die Reste der Mauren in Spanien 
kämpfte. Wir kennen ihn auch sonst als ausgesprochenen 
Christen, von dem man voraussetzen muß, daß er viel christ- 
liche Denkweise in seine Darstellung einfließen ließ, besonders 
dort, wo sich ihm halbwegs ein Anhaltepunkt bot. Und dies 
war hier sicherlich der Fall. Die Inkaherrschaft war eine der 
größten Militärherrschaften, die die Welt je gesehen hat und so 
natürlich Gegnerin jeder Beschränkung der Kinderzahl. Wir 
dürfen also annehmen, daß tatsächlich seitens der Inka gegen 
die volkszahlbeschränkenden Maßnahmen ein starker Kampf 
geführt wurde, den aber Garcilaso im christlich-moralistischen 
Sinn aus deutete. Jedenfalls darf man nicht vergessen, daß die 
höhere peruanische Kultur an sich der Vorinkazeit angehörte. 
Da unsere Betrachtung sich nicht mit der Päderastie als solcher 
beschäftigt, sondern nur mit dem coitus in anum bei jungen Müttern, 
scheidet die Frage über die Päderasten als solche aus und wir 
wollen nur die Gründe des Vorgehens bei stillenden Frauen unter- 
suchen. In diesem Falle wäre als „Mutterschutz“ die Handlungs- 
weise der Eingeborenen doch etwas anders zu beurteilen als es 
Garcilaso vom rein moralistischen Standpunkt aus tut. Jeden- 
falls war aber den Frauen die Sitte an sich nicht angenehm, 
wie wir aus dem Memoiren des Montesino ersehen‘). Dort 
heißt es, daß 4000 Jahr nach der Sintflut die „Unzucht“ in Peru 
aufs höchste gestiegen gewesen und die Päderastie zur Staats- 
sünde geworden wäre. Die Frauen beklagten sich bitter 
über das ihnen zugefügte Unrecht, bis zuletzt eine tapfere 
Frau den Anlaß gab, die Inkadynastie zu gründen (!!). „Die 
das Unglück am herbsten fühlten, das waren die Frauen, weil 
sie sahen, dad man der Natur den Zuwachs und ihnen 
das Vergnügen entzog. In ihren Versammlungen verhandelte 
man von keiner anderen Sache, als von dem unglücklichen Zu- 
stande der geringen Achtung, in den sie gelangt waren; sie 
brannten vor Eifersucht, sehend, daß sie sich unter Männern 
die Gunstbezeichnungen und Liebkosungen teilhaftig werden 
ließen, die nur ihnen zukamen; sie gaben und nahmen Mittel 
zur Abhilfe, gebrauchten Kräuter und Listen, aber es half nichts, 


1) Montesino Memorias Antiguas Historiales y Politicas del Peru ed. 
Marcos Jiménez de la Espada in „Collección de Libros Españoles rares ó 
curiosos Madrid 1882. 


Reitzenstein: Eine Erklärung zu altperuanischen Grabvasen 319 


die freie Willkür umzuändern.“ Montesino berichtet dann, die 
Frauen seien unter Führung eines Weibes aus königlichem Ge- 
schlechte, Manca Ciuaca, gestanden, deren zwanzigjähriger Sohn 
Roca Führer der Bewegung wurde und von seiner Mutter durch 
Intriguen zum Herrscher von Cuzko (also zum Inka) gemacht 
worden sei. Aber noch unter dem 5. Inka (Sinchi Roca) wird 
berichtet, daß damals die Könige die Päderastie wenig gehindert 
hätten, um nicht das Mißfallen ihrer Untertanen zu erregen. 
Die Frauen aber hätten mit Liebeszauber gearbeitet und viele 
Männer vergiftet. Man wird aus dieser Darstellung heraus- 
schälen können, daß die Inkadynastie (die natürlich nicht in 
dieser Weise auf den Thron kam) ursprünglich gar nicht daran 
dachte, gegen diese Sitte vorzugehen, daß sie dann aber durch 
den großen Menschenverlust, den ihre Raubkriege mit sich 
brachten, gegen jede Beschränkung der Kinderzahl einschritten 
und dabei bei den Frauen, die nach Art jeder Frauenbewegung 
nur geschlechtsegoistische Interessen hatten, Anerkennung fanden. 
Aus einer Reihe von Berichten, die etwa um 1570 der Vizekönig . 
Francisco de Toledo über das Vorkommen der Päderastie (also 
unter christlicher Herrschaft) anfertigen ließ'), ersehen wir, daß 
die Sitte hauptsächlich unter den Collas im Hochland und unter 
den Küstenbewohnern grassierte. Brüning vermutet mit Recht, 
daß unter dem Namen Chinichaychumgo, wie eine solche Küsten- 
gegend genannt wird, wohl der Name Chinchaysuyu, wie das 
ganze Nordgebiet des Inkareiches genannt wurde, steckt. Es 
ist überaus charakteristisch, daß man jene Männer, die sich 
zur Päderastie hergaben und die man Orua nannte (= Mann, 
welcher als Weib dient) nicht bestraft, sondern verlacht wurden, 
während der andere Teil eine sehr schwere Strafe zugeteilt bekam. 
Der Päderast wurde mit großer Menge von Salz neben einen 
Wasserfall gebracht, an einen Hund angebunden und so in den 
Fluß geworfen, wo er ertrank. 

Ähnliches gilt für den coitus oralis, soweit er mit Frauen 
ausgeübt wird. 

Wir dürfen also annehmen, daß auf Grund der Darstellungen 
im alten Peru eine und zwar mit Recht eigenartig anmutende 
Form von Geschlechtsverkehr bestand, die aus Gründen der 
Beschränkung der Kinderzahl geübt wurde, den Frauen aber nicht 


1) Coloccion de Documentos inéditos del Archivio de Indias. Bd. XXI. 


320 Reitzenstein: Eine Erklärung zu altperuanischen Grabvasen 


angenehm war, weil sie „ihnen das Vergnügen entzog“, das sie 
demnach höher einschätzten, wie die immerhin beachtenswerte 
Form des Mutterschutzes. Denn es ist nicht anzunehmen, daß 
für den Mann ein besonderer sexueller Reiz darin gelegen wäre, 
in weitergehendem Grade den coitus analis oder oralis beim 
Weibe zu suchen, als eben aus dem Grunde, daß er tatsächlich 
die Kinderzahl beschränken wollte. Ganz anders zu beurteilen 
ist natürlich die Sitte des coitus analis bei Männern oder Knaben, 
von dem wir aus den gleichen Quellen hören, daß er ebenfalls 
sehr verbreitet war. Oviedo!) erzählt z. B., daß in der Provinz 
Cuevas von verschiedenen Vornehmen zum großen Ärger der 
Frauen Knaben (Camayoa) gehalten wurden, die wie Weiber 
gekleidet waren und drum häusliche Arbeit verrichteten. Das 
gleiche berichtet Francisco de Toledo?) von den Bewohnern von 
Collao. Dort hätte es Indianer gegeben, die wie Weiber ge- 
kleidet und geschminkt einher gingen und die Päderastie aus- 
übten. Von Interesse ist weiterhin, daß Indianer dem Cristöbal 
Vaca de Castro, der darüber am 24. Nov. 1542 an Karl V. aus 
Cuzco schrieb, erzählten, diese Päderasten seien für reisende 
Indianer da, damit sie die Frauen der Orte, durch die sie kämen, 
nicht belästigen®?). Ganz besonders auffällig aber ist die Notiz 
bei Pater Calancho (Mitte des 17. Jahrh. Prior des Augustiner- 
klosters in Guadelupe, Prov. Tacasmayo)*): Die Indier der Küsten- 
täler waren der Päderastie sehr ergeben, und heute (Mitte des 
17. Jahrh.) seien sie nicht frei davon, nur mit dem Unterschiede, 
daß jetzt die passive Person die Frau ist, während es früher 
in ihrem Heidentum der Mann war, in dem sie so mit dem Ehe- 
stande diesen Verrat an der Natur verdeckten. Demnach würde 
also die uns interessierende Form erst später aufgekommen sein, 
was unsere Meinung über ihren Zweck nur unterstützen könnte. 


1) Oviedo, Historia General y Natural de Indias. Tom. Ill, Lib. XXIX, 
cap. XXVII. 

*) Colleccion de Libros Españoles raros y curiosos, tom. XVI, pag. 199. 

3) Pedro Sarmiento de Camboa, Geschichte des Inkareiches ed. R. 
Pietschmann. Seite LXXXVIII. 

*) Corönica moralizada del Orden de S. Augustin en el Peru, cap. Il. 


SS 


Geschlecht und Gesellschaft 
Neue Folge XI, 11 


Tafel I 





Mädchenbildnis. Persische Malerei um 1500. (Sammlung L. Cartier, Paris.) 
(Zu v. Reitzenstein: Liebes- und Eheleben im Islam.) 





AUS DEM LIEBES- UND EHELEBEN 
DER MOSLEMINEN. 


Von FERD. FRHR. v. REITZENSTEIN, Dresden. 
(Mit 3 Tafeln und 4 Abbildungen.) 


„Der Abend wie lau und die Wiesen wie grün, 
Ulmengezweig wieget die Luft, 
asmin und gelbe Narzissen blühn, 
nd die Halden entlang die Rosen glühn. — 
Die Näh’ und Weite schwimmen in Duft. 
Da wird den Mauren das Herz bewegt, 
Seliger Zeiten gedenken sie, 
Wo sie Haurans schlanke Gazellen erlegt, 
Wo sie Märchen gelauscht und der Liebe gepflegt: 
Und die Palmen geschaut von Engadi“. 


So singt unser nun auch heimgegangener Paul Heyse. Nicht 
nur die Mauren Spaniens, nicht nur Paul Heyse empfanden 
diesen feinen, unendlich zarten Reiz des Orients; jeder von 
uns trägt davon Akkorde in seiner Brust. Dem bestrickenden 
Zauber der Märchen von 1001 Nacht hat sich niemand ent- 
ziehen können, der sie gelesen hat. Wer paradiesisches Leben 
malen will, gebraucht die Farben des Orients und er tut es 
nicht mit Unrecht. Die Farbenpracht der Bauten, die der 
starke Duft orientalischen Parfüms durchzieht, die umwebt sind 
vom Märchenhauche langer Jahrhunderte, umwuchert von einer 
niegeschauten Blütenpracht, durch die Menschen wandeln, deren 
Leben erfüllt wird von einer seltsamen Ruhe dieses bestrickenden 
dolce far niente mit seinen einfachen und doch unendlich feinen und 
vielfältigen Genüssen, zieht uns in seinen Bann, dem wir nicht 
entfliehen können. Gerade wir Nordländer, mit unserem harten 
Klima und unserer hastigen, nie befriedigten Lebensweise sind 
am begierigsten, in dieses bunte Kaleidoskop des Orients zu 
blicken, der Deutsche allen voran; wie unsern Vorfahren der 
Zauberglanz des goldenen Rom blendete, so richten wir, ihre 
Epigonen, unsere Blicke mit Vorliebe nach der Levante. Jetzt 
mehr denn je. Wir Deutsche, denen die Erforschung des 
Orients so viel zu danken hat, sind heute aus diesen Gefilden 
ausgeschlossen und der Orient sieht in unseren Feinden 


auch die seinigen, in Kämpfen für ähnliche Ideale, die der 
21 


322 Reitzenstein: Aus dem Liebes- und Eheleben der Mosleminen 


gemeinsame Feind, der Engländer, mit geringen Ausnahmen 
unfähig, sich zu ihnen zu erheben, mehr und mehr seinen arm- 
seligen Krämergeiste opfern möchte, aus denen er bereits eine der 
schönsten Perlen, die Insel Phylä*) brach. Und doch, wie 
falsch sind zumeist die Vorstellungen, die wir vom Oriente 
in unserer Heimat finden, besonders im Liebesleben. Was 
stellt man sich nicht alles unter den Schlagworten Harem und 
Vielweiberei vor! Da ist es sicherlich recht angebracht, einiges 
darüber zu schreiben. 

Das heutige mosleminische Leben baut auf auf der Welt 
der alten Araber; kaum der Wiege entsprungen, nahm es gierig 
die Reste der altägyptischen, persischen und byzantinischen 
Kulturwelt auf und verschmolz sie zu einer Einheit, die zweifels- 
ohne eine der schönsten Blüten am Kulturstamm der Mensch- 
heit ist. Nordarabien, das etwa um 500 vor unserer Zeit- 
rechnung der Erbe der südarabischen uralten Kultur wurde, 
brachte zugleich mit einem Blütenregen prächtiger Poesie 
(Hamäsa) den Koran hervor. Mohammed, einer der Haupt- 
verkünder der neuen Lehre, gilt heute als ihr Stifter. Der Islam 
ist keine einseitige weltfremde Spekulation, sondern trägt dem 
Volksbewußtsein und der alten nationalheimischen Entwick- 
lung völlig Rechnung. Die gesunde menschliche Natur kommt 
überall zu ihrem Anteil. Keine übertriebene Askese bekämpft 
die menschlichen Rechte, wohl aber ist ein edler Kampf gegen 
verderblichen Luxus, eine Erziehung zur Mäßigung und Edel- 
mut das Grundprinzip dieser Weltreligion. Heute gliedert sich 
der Islam in zwei große Gruppen, die Schiiten und die 
Sunniten; die Schiiten entsprangen dem nationalen Haß der 
Perser gegen ihre Eroberer, die Araber; sie erkennen die drei 
ersten Kalifen nicht an und verwerfen daher auch deren Tradi- 
tion, die Sunna, die der übrige Islam nächst dem Koran als 
Hauptglaubensschrift betrachtet und sich darnach nennt. Diese 
Tradition baute nur auf mündlichen Überlieferungen auf. Dabei 
unterschied man zwischen dem Überlieferungsstoff der von 
„Gefährten des Propheten“ und solchem, der von den Täbiy, 
d. h. den „Nachkommen“ stammte. Die „Gefährten“ waren 
also Menschen, die noch persönlich mit Mohammed verkehrt 


*) Durch das Nilstauwerk englischer Krämer ist dieses Schatzkästchen 
der Welt größtenteils unter Wasser gesetzt und geht seinem Untergang 
entgegen. 


Reitzenstein: Aus dem Liebes- und Eheleben der Mosleminen 323 


hatten, die Nachkommen hingegen lebten z. Z. der auf ihn 
folgenden Generation. Für unsere Zwecke aber wird noch 
eine weitere Quelle wichtig, nämlich die Entscheidungen, die 
den drei ersten Kalifen (Abu Bekr, Omar und Othman) zuge- 
schrieben werden und die man als Atär bezeichnet. Die Auf- 
zeichnungen sollen, besonders auf den Aussagen der Witwen 
Mohammeds aufbauend, hauptsächlich von 7 Rechtsgelehrten, 
die man die „Sieben von Medina“ nannte, gemacht worden 
sein. So entstand die Schule von Medina, deren Rechtswelt 
auf Koran, Sunna und Atär aufbaute, aber schon frühzeitig in 
etwa 80 Sekten zerfiel, von denen sich im Laufe der Zeit vier 
weitergehende Anerkennung errungen haben und noch heute 
bestehen. Ihre Stifter waren: Abu Hanyfa, Malik Ibn Anas, 
Mohammed esch Schafiy und Achmed Ibn Hanbal. Im Wesent- 
lichen unterscheiden sich diese Sekten durch ihre Auffassung 
in wie weit die Vernunft gegenüber der Tradition als giltig 
zuzulassen sei, also in wie weit die Vernunft gegenüber dem 
blinden Glauben zu Recht bestehe. Abu Hanyfa wurde als 
Enkel eines persischen Sklaven 699 in Kufa geboren; als 
Gegner abbassidischer Kalifen starb er 762 im Kerker, so daß 
sein System erst durch seinen Enkelschüler Mohammed asch 
Schaibäny abgeschlossen werden konnte. Es ist in bezug auf 
die Vernunftfrage zweifelsohne das freieste aller islamitischen 
Systeme, denn es wird unbedingt anerkannt, daß der freien, 
vernunftmäßigen Logik innerhalb der religiösen Literatur und 
des Rechtes ein starker Einfluß zuzubilligen sei. Man bezeichnet 
seine Anhänger als Hanefiten, besonders die heutigen Türken 
und die türkischen Völker in Zentralasien gehören dazu; das 
wichtigste Werk des hanefitischen Rechtes ist das Kompendium 
des Kudury (f 1036). 

Sind die Anhänger Hanyfas die freiesten Vertreter des 
Islams, so sind die des Malik Ibn Anas (geb. 705, t 795) 
zweifelsohne die rückständigsten, sie halten in der sklavischsten 
Weise an der Tradition fest. Es erklärt sich wohl am besten 
daraus, daß Malik Ibn Anas in Medina geboren und so direkt 
unter den Einfluß der Schule von Medina geraten war. Seine 
Anhänger verwarfen die Spekulation zwar nicht direkt, glauben 
aber, in ihrem Hauptwerke „Mowatta“ genannt (= das Geebnete) 
alles notwendige ein für allemal festgelegt zu haben. Die 


Anhängerschaft (Malekiten) bildet die Bevölkerung von Nord- 
21* 


324 Reitzenstein: Aus dem Liebes- und Eheleben der Mosleminen 


afrika (also Algier, Tunis, Marokko und der Sudan). Das geist- 
liche Oberhaupt ist der Sultan von Marokko. Die fanatischste 
Richtung allerdings wurde von Achmed Ibn Hanbal begründet 
(Hanbaliten). Auch er verlegte sich ganz auf die Tradition 
und nur dort, wo diese schweigt habe freie Forschung ein 
Recht tätig zu sein. In fanatisch-orthodoxer Weise bekämpfte 
er die freiere Weltauffassung der Kalifen, wütete gegen „Wein, 
Weib und Gesang“, konnte aber nur in beschränkten Gebieten 
Anerkennung finden; zunächst im Irak, dann aber im Inneren 
von Arabien, wo die Lehre heute allein noch eine schwache 
Anhängerschaft hat und vor etwa 100 Jahren in der Sekte der 
Wahabiten nochmals zu einer fanatischen Genossenschaft auf- 
lebte. Die erste Gruppe, die Anhänger des Mohammedesch 
Schafiy, der übrigens der Lehrer Hanbals war, lassen die 
Spekulation nur als strengen Vernunftschluß zu. Ihr Gründer 
starb 820 und war ein Schüler Maliks. Seine Lehre stellt so 
einen Übergang von der traditionellsten Schule seines Lehrers 
Malik zu der des Aba Hanyfa dar und erfreut sich heute der 
weitesten Verbreitung, denn Ägypten, Ostafrika, Syrien, Indien, 
Ceylon, Afghanistan usw. und die islamitischen Malaien hängen 
ihr an. Neben diesen sunnitischen Kreisen stehen wie gesagt 
als große getrennte Gruppe die Schiiten; die Feindschaft der 
Perser gegen die Araber war, wie oben erwähnt, unüberbrückbar 
und als nun zwischen den Anhängern Ali’s und denen Moäwijas I. 
um das Kalifat der Kampf ausbrach, traten die Perser natürlich 
auf die Seite Alis. Der Kampf wurde bekanntlich zugunsten 
Moäwijas entschieden, der nun der Begründer der Omaijaden- 
dynastie wurde. Ali galt bei seinen Anhängern deshalb als 
direkter Nachfolger und Erbe Mohammeds, weil er sein 
Neffe, Adoptiv- und Schwiegersohn war, während die Witwe 
Mohammeds, Aischa, in engster Verbindung zur Schule von 
Medina stand, denn sie war die Tante des Orwa Ibn Zobair, 
der einer der sieben Rechtsgelehrten dieser Schule war. Gerade 
unsere Frage, Liebe und Ehe betreffend, wird natürlich von 
den Auffassungen dieser Sekten besonders stark getroffen, 
Bevor wir nun aber zur Schilderung des Liebes- und Ehe- 
lebens des Islam übergehen, ist die Klarstellung verschiedener 
Begriffe unserer Gebiete von besonderer Wichtigkeit. Zunächst 
die Entwicklung der Stellung der Frau. Die falschesten 
Ansichten herrschen ja gerade hier. Im alten Arabien war sie 


Reitzenstein: Aus dem Liebes- und Eheleben der Mosleminen 325 


die denkbar freieste; doch fehlte dem Liebesleben die rein 
psychische Seite; es ist ein glühend-sinnlicher Kult. Das 
Mädchen galt bei seiner Geburt zwar sehr wenig und wurde oft 
getötet; sonderbar sind dabei aber die Motive; man hatte 
Angst vor unebenbürtigen Freiern, da man darin eine besondere 
Schmach erblickte. Das Schwergewicht lag auf dem Geschlechte 
der Mutter. Kein Araber gab seine Tochter dem, der sie 
offensichtlich angeliebelt hatte. Liebe zu jungen Mädchen war 
daher unschicklich. Freilich war das an sich schwierig, da das 
Mädchen bereits mit 12 Jahren verheiratet wurde. Alles Liebes- 
leben und die gesamten prächtigen Lieder galten daher der 
verheirateten Frau, aber nicht der eigenen Frau, sondern der 
eines anderen, wobei für den Ehemann stets der Spott übrigblieb. 

So hat die Poesie der vorislamischen Araber sehr häufig 
die Schilderung solcher heimlichen Liebesszenen zum Gegen- 
stand. Einer der berühmtesten Dichter dieser Zeit Imru al Kais*) 
besingt eine derartige Liebesnacht: 


Ich sandt’ ihr einen Boten in tiefer Winternacht, 
Damit sie niemand höre, wenn sie sich aufgemacht. 


Sie kam langsamen Schrittes, vorm Nachtweg bang, heran, 
Und mit zwei Seiten streifte sie an vier Mägdlein an. 


Die sie gelind antrieben, daß wie berauscht sie ging 
Im Mark die Neige Schlummers, der sie noch erst umfing. 


Sie sprach, als ich die Kleider ihr nahm, als ob ein Reh, 
Schlanknackig, dunkeläugig du schrecktest auf vom Klee. 


Beim Sterne deines Glückes, ja wär’ ein Bote mir 
Gekommen außer deinen — doch was versagt ich dir? 


Das Wild wich uns zur Seite, da lagen wir gestreckt, 
Zwei Toten gleich, von denen die Spur ist unentdeckt. 


Sie scheute zu berühren das Schwert am untern Rand, 
Und breitet auf mich leise ihr streifiges Gewand. 


Sie lehnte, wenn ein Schauer der Nacht sie überschlich, 

An einer Unerschrock’nen und Goldnen Schulter sich. 

Das Leben der Weiber hatte aber dabei einen recht freien 
Zug angenommen, ja noch lange hielt sich im alten Arabien 
die Meinung, daß es dem freien Weibe erlaubt sei, nach Be- 
lieben Verkehr zu haben; ihre Kinder waren keine Bastards 
und die Mutter wurde nicht bestraft. So konnte Hind, das 


*) Ег war kurz vor Mohammed als Sohn des Stammeskönigs der 
Benu Asad, Hodschr geboren. Als seine Familie die Herrschaft verlor, 
ging er an den Hof des byzantinischen Kaisers Justinian, auf dessen Befehl 
er übrigens meuchlings soll ermordet worden sein. 


326 Reitzenstein: Aus dem Liebes- und Eheleben der Mosleminen 


Weib des Abü Sofyän mit Recht zu Mohammed der 
ihr Gesetze gegen die „Hurerei“ vorhielt, sagen: „Ein freies 
Weib begeht keine Hurerei“. Anders werden die Verhältnisse 
später, als der Islam die persische Frauenabsperrung und das 
byzantinisch-christliche Eunuchentum übernahm. Lediglich im 
Westen, bei Sarazenen und Mauren erhielten sich Reste der 
alten Freiheit der Frau. Durch diese beiden Momente ging 
das Frauenleben des Ostens in seinen Freiheiten unter und 
zeitigte Auswüchse, zu deren Beseitigung erst in allerletzter 
Zeit Ansätze gemacht wurden. Abgesehen von diesen be- 
dauerlichen Errungenschaften, ist aber das Recht der Frau 
manchmal ein größeres als das der Europäerin. Zwar muß 
auch die mosleminische Frau dem Gatten überall hin folgen, 
doch nicht unbedingt, wenn der neue Wohnsitz mehr als drei 
Tagereisen entfernt ist. Bei Strafe muß der Mann seine Frau 
wohlwollend behandeln, darf ihr im Falle eines Fehlers eine 
Disziplinarstrafe geben, niemals aber Gewalt anwenden, während 
bekanntlich verschiedene europäische Rechte die recht derbe 
Züchtigung zuließen, oder es doch wenigstens bis vor kurzen 
taten. Hat der Mohammedaner mehr Frauen, so muß er sie 
gleichmäßig behandeln und wird strafbar, wenn er eine vor- 
zieht. Ist er vermögend, muß er seinen Frauen auf Wunsch 
sogar eigene Häuser gewähren; ihnen überhaupt alles bieten, 
was sie gewohnt sind; er muß z. B. seiner Frau alle Dienerinnen 
weiterhalten, die sie bisher zu haben gewohnt war; er muß ihr 
Gesellschaft bieten und wenn sie sich zu einsam fühlt, sogar 
eine andere Wohnung beziehen. Sind die Unterhaltungskosten, 
die der Mann der Frau gewährt zu gering, so ist diese be- 
rechtigt auf seine Verantwortung hin eine entsprechende Summe 
zu leihen. Ganz selbständig verwaltet die Frau ihr Vermögen 
und kann ebenso darüber verfügen. Der Mann darf nicht 
einmal die Zimmer seiner Frau betreten, wenn diese Besuch 
hat. Kann ein Mann mit seiner Frau keine Nachkommenschaft 
erzielen, so kann er jemand bitten seiner Frau so lange bei- 
zuwohnen, bis diese schwanger wird (nikah-el ästäbda). Die 
Türkei hat heute übrigens ihre starke Frauenbewegung, die 
dort eigentlich leichter ist, weil die Frau in ihren religiösen 
Pflichten nicht so kontrolliert wird wie der Mann, außerdem 
auch die Mädchen zumeist von europäischen Erzieherinnen 
herangebildet werden. Die jungtürkische Bewegung hat dieses 


Reitzenstein: Aus dem Liebes- und Eheleben der Mosleminen 327 


Moment sehr gefördert. Da die Türkei nicht vom europäischen 
Kuhhandel, der Mitgift, abhängig ist, kann gerade hier die 
Frauenbewegung einmal sehr wertvoll werden, wenn sie nicht, 
was ja auch nicht zu hoffen ist, in die Modetorheit der 
krankhaften unerzogenen dafür aber nach Begriffen einer ge- 
wissen Sorte „moralischen“ Engländerinnen verfällt oder gar 
die krankhafte Richtung der „Mannweiber“ mit ihrer Lehre 
von der doppelten Moral und ihrer Sucht nach männlicher 
Tätigkeit und Berufen einschlägt. Für das Geschlechtsleben 
des Orients sind einige Gebräuche besonders wichtig, die uns 
mehr oder minder fremdartig erscheinen. Schon in vorislamischer 
Zeit ging die Frau verschleiert Doch hat erst ein Miß- 
verständnis einer Koranstelle unter persischem Einfluß, den 
Frauenschleier (arab. qinä, türk. jaschmak) zur Pflicht gemacht. 
Ursprünglich war er nur ein Schutzmittel gegen Zauber und 
bösen Blick und konnte dort abgenommen werden, wo man 
keine Sorge zu haben glaubte. Die heutige freidenkende Türkei 
fängt ja auch bereits an, diese Schranke wieder zu durch- 
brechen. Ähnlich wie die alte Ägypterin schminkt die 
Mosleminin vielfach ihre Augenlider mit einem Präparat dunkel- 
blau und färbt die Lippen gar mit Indigo. Die Augenschminke 
ist eine Salbe, deren Hauptbestandteil Ruß eines aromatischen 
Holzes, oder verbrannte Mandelschalen sind. Sie wird mit 
einem Stäbchen aufgetragen und „das Kohl“ genannt Medi- 
zinische Augensalben enthalten auch Blei oder Antimon. 
Viele Bekennerinnen des Islam (besonders im schafiitischem 
Gebiet) färben auch ihre Handflächen und die Füße gelbrot, 
ebenso die Nägel. Dieser Farbstoff heißt Henna und wird 
aus den Blättern der Lawsonia inermis hergestellt. Sehr wichtig 
ist die Beschneidung; ihr muß sich jeder Moslem unter- 
ziehen und zumeist auch das mohammedanische Mädchen. 
Der Koran erwähnt sie zwar nicht, aber sie gilt als Verdienst. 
Bei den Arabern geschieht sie durch Barbiere. Bei den Türken 
wird der Knabe gewöhnlich im 12,—13, Jahre beschnitten, nicht 
so sehr wie der Jude, da nur die Vorderpartien der Vorhaut 
abgenommen werden. Man spricht dabei ein Glaubens- 
bekenntnis. Die Perser vollziehen die Beschneidung oft schon 
im 3.—4, Jahr. Bei den Mädchen werden die glans und das 
präputium clitoridis abgetragen und die alten Araber hielten es 
für sehr schimpflich, wenn es bei einem Mädchen nicht ge- 


328 Reitzenstein: Aus dem Liebes- und Eheleben der Mosleminen 


schehen wäre. Unter allen Umständen aber muß die Orien- 
talin die Behaarung des mons veneris entfernen. Man 
nennt dies hadschebi keschidew (sich dem Gesetzlichen unter- 
ziehen), bei uns Epilation. Zu diesem Zwecke dient eine Salbe 
(türk. rusma, pers. nureh genannt), die aus Auripigment, ge- 
branntem Kalk und Rosenwasser zu gleichen Teilen besteht. 
Sie bleibt einige Minuten auf der betreffenden Stelle und wird 
dann sorgfältig abgewischt. Mit besonderen Ringen werden 
die Haare sodann abgeschabt. Erst nach dieser Zeremonie ist 
das Mädchen heiratsfähig. 

Bevor wir nun zu einer Schilderung des Liebeslebens 
selbst gehen, wollen wir uns einige Stellen des Koran an- 
sehen, der nach Abschluß der altarabischen Periode nun gleich- 
sam das offizielle Gesicht des Orients wiederspiegelt. Im Koran 
ist die 4. Sure, geoffenbart zu Medina, den „Weibern“ gewidmet’). 


1. © ihr Menschen, fürchtet euern Herrn, der euch er- 
schaffen aus einem Wesen und aus ihm erschuf seine Gattin 
und aus ihnen viele Männer und Weiber entstehen ließ. Und 
fürchtet Allah, in dessen Namen ihr einander bittet, und eurer 
Mutter Schoß. Siehe, Allah wacht über euch. 

3. Und so ihrfürchtet nicht Gerechtigkeit gegen die Waisen 
zu üben, so nehmet euch zu Weibern, die euch gut dünken, 
(nur) zwei oder drei oder vier; und so ihr (бшсен dann) 
fürchtet nicht billig zu sein, heiratet nur eine oder wer eure 
Rechte (an Sklavinnen) besitzt. Solches schützt euch eher vor 
Ungerechtigkeit. Und gebet den Weibern ihre Morgengabe 
freiwillig. Und so sie auch gern etwas davon erlassen, so 
genießet es bekömmlich und zum Wohlsein. 

8. Die Männer sollen einen Teil von der Hinterlassen- 
schaft ihrer Eltern und Verwandten empfangen und ebenfalls 
sollen die Weiber einen Teil der Hinterlassenschaft ihrer Eltern 
und Verwandten empfangen. Sei es wenig oder viel, sie sollen 
einen bestimmten Teil haben. 

12. Allah schreibt auch vor hinsichtlich eurer Kinder, dem 
Knaben zweier Mädchen Anteil zu geben. Sind es aber (nur) 
Mädchen, mehr als zwei, sollen sie zwei Dritteile der Hinter- 
SES erhalten. Ist’s nur ein Mädchen, soll sie die Hälfte 

aben. 

13. Und euch sei die Hälfte dessen, was eure Gattinnen 
hinterlassen, so sie kein Kind haben; haben sie jedoch ein 
Kind, so sollt ihr den vierten Teil haben von ihrer Hinter- 


1) Wir zitieren nach der unsern Lesern leicht erreichbaren Ausgabe 
des Koran von Max Henning. (Leipzig, Reclam). 


Reitzenstein: Aus dem Liebes- und Eheleben der Mosleminen 329 


lassenschaft, nach Abzug eines etwa gemachten Legats oder 
einer Schuld. 

23. O ihr, die ihr glaubt, nicht ist euch erlaubt, Weiber 
wider ihren Willen zu beerben. 

24. Und so ihr eine Gattin gegen eine andere eintauschen 
wollt und ihr habt der einen ein Talent gegeben, so nehmt 
nichts von ihm fort. 

26. Und heiratet nicht Frauen, die euere Väter ge- 
heiratet hatten, es sei denn bereits zuvor geschehen. Siehe, 
es ist eine Schande und ein Abscheu und ein übler Weg. 

27. Verwehret sind euch eure Mütter, eure Töchter, eure 
Schwestern, eure Vatersschwestern und Mutterschwestern, eure 
Bruderstöchter und Schwestertöchter, eure Nährmütter und 
Milchschwestern und die Mutter eures Weibes und eurer 
Stieftöchter, die in eurem Schutze sind, von euren Weibern, 
die ihr heimsuchtet. Habt ihr sie jedoch noch nicht heim- 
gesucht, so ists keine Sünde. Ferner die Ehefrauen eurer 
Söhne aus euern Landen; und nicht sollt ihr zwei Schwestern 
zusammen haben, es sei denn bereits geschehen. 

28. Und (verwehrt sind euch) verheiratete Frauen, außer 
denen, die eure Rechte besitzt (= Sklaven und Sklavinnen). 
Dies ist Allahs Vorschrift für euch. Und erlaubt ist euch 
außer . diesem, daß ihr mit eurem Geld Frauen begehrt, zur 
Ehe und nicht in Hurerei. Und gebet denen, die ihr genossen 
habt, ihre Morgengabe. 

29. Und wer von euch nicht vermögend genug ist, 
gläubige Frauen zu heiraten, der heirate von den gläubigen 
Sklavinnen, die seine Rechte besitzt; und Allah kennt sehr 
wohl euern Glauben. Ihr seid eins vom andern. Drum 
heiratet sie mit Erlaubnis ihres Herrn und gebet ihnen ihre 
Morgengabe nach Billigkeit. Sie seien jedoch keusch und sollen 
nicht Hurerei treiben und sich keinen Geliebten halten. 

30. Sind sie aber verheiratet und begehen Ehebruch, so 
treffe sie die Hälfte der Strafe der verheirateten (freien) Frauen. 

38. Die rechtschaffenen Frauen sind gehorsam und sorgsam 
in der Abwesenheit (ihres Gatten) wie Allah für sie sorgte. 

39, Und so ihr einen Bruch zwischen beiden (d. h. Mann 
und Frau) befürchtet, dann sendet einen Schiedsrichter von 
ihrer Familie und einen Schiedsrichter von seiner Familie. 
Wollen sie sich aussöhnen, so wird Allah Frieden zwischen 
ihnen stiften. 

Weitere Angaben macht besonders die 2. Sure („Die Kuh“), 


geoffenbart zu Medina. 

220. Und heiratet nicht eher Heidinnen als sie gläubig 
geworden sind; wahrlich, eine gläubige Sklavin ist besser als 
eine Heidin, auch wenn sie euch gefällt. Und verheiratet 
(eure Tochter) nicht eher an Heiden als sie gläubig wurden; 


330 Reitzenstein: Aus dem Liebes- und Eheleben der Mosleminen 


und wahrlich, ein gläubiger Sklave ist besser als ein Heide, 
auch wenn er euch gefällt. 

222. Und sie werden dich über die Reinigung befragen. 
Sprich: „Sie ist ein Schaden. Enthaltet euch daher eurer 
Weiber während der Reinigung und nahet ihnen nicht eher 
als bis sie rein sind. Sind sie jedoch rein, so suchet sie heim, 
wie Allah es euch geboten hat. 

223. Eure Weiber sind euch ein Acker. Gehet zu 
eurem Acker, von wannen ihr wollt; aber schicket (etwas) zuvor 
für euere Seelen und fürchtet Allah und wisset, daß ihr ihm 
begegnen werdet. 

226. Für die, welche schwören, sich von ihren Weibern 
zu trennen, seien vier Monate Wartezeit festgesetzt. Geben 
sie dann ihr Vorhaben auf, siehe, so ist Allah verzeihend und 
barmherzig. 

227. Und so sie zur Scheidung entschlossen sind, siehe, 
so ist Allah hörend und wissend. 

228. Und die geschiedenen Frauen sollen warten, bis 
sie dreimal die Reinigung gehabt haben, und es ist ihnen 
nicht erlaubt, zu verheimlichen, was Allah in ihren Schößen 
erschaffen hat, so sie an Allah glauben und an den jüngsten 
Tag. Und geziemender ist es für ihre Eheherrn, sie in diesem 
Zustande zurückzunehmen, so sie sich aussöhnen wollen. Und 
sie sollen (gegen ihre Gatten) verfahren, wie (jene) gegen sie 
in Güte; doch haben die Männer den Vorrang vor ihnen; und 
Allah ist mächtig und weise. 

229. Die Scheidung ist zweimal (erlaubt); dann aber 
müßt ihr sie in Güte behalten oder mit Gut entlassen. Und 
es ist euch nicht erlaubt, etwas von dem, was ihr ihnen gebt, 
zu nehmen, außer es fürchteten beide, nicht Allahs Ge- 
bote halten zu können. Und so ihr fürchtet, daß beide Allahs 
Gebote nicht halten können, so begehen beide keine Sünde, wenn 
sie sich mit etwas loskauft (d. h. das Weib gibt an den Mann 
etwas von ihrer Hochzeitsgabe, die er für sie gezahlt hat, zurück). 

230. Und so er sie (ein drittes Mal) entläßt, so ist sie 
ihm nicht mehr erlaubt, ehe sie nicht einen andern Gatten 
geheiratet hat. Wenn dieser sie entläßt, so begehen beide 
keine Sünde, wenn sie wieder zu einander zurückkehren, im 
Glauben, Allahs Gebote erfüllen zu können. Und dies sind 
die Gebote Allahs, die er verständigen Leuten klar macht. 

231. Und so ihr euch von euren Weibern scheidet und 
sie ihre Frist erreicht haben, so haltet sie fest in Güte oder 
entlasset sie in Güte; und haltet sie nicht fest mit Gewalt, so 
daß ihr euch vergeht. Wer dieses tut, der sündigt wider sich. 

232. Wenn ihr euch von euren Weibern scheidet und sie 
ihre Frist erreicht haben, so hindert sie nicht, ihre Gatten zu 
heiraten, so sie sich in Billigkeit geeinigt haben. Das ist 


Reitzenstein: Aus dem Liebes- und Eheleben der Mosleminen 331 


eine Mahnung für denjenigen unter euch, der an Allah glaubt 
und an den jüngsten Tag. 

233. Und die (geschiedenen) Mütter sollen ihre Kinder 
zwei volle Jahre säugen, so jemand will, daß die Säugung 
vollständig sei; und dem Vater soll ihre Versorgung und 
Kleidung nach Billigkeit obliegen. Niemand soll über Ver- 
mögen bemüht werden. Eine Mutter soll nicht wegen ihres 
Kindes bedrängt werden, und ebenso auch der Vater nicht 
wegen seines Kindes; und dasselbe gilt für den Erben. Wenn 
sie jedoch beide nach gegenseitigem Einvernehmen und Be- 
ratung das Kind entwöhnen wollen, so begehen sie keine 
Sünde. Und so ihr euer Kind säugen lassen wollt, so begeht 
ihr keine Sünde, wofern ihr den ausbedungenen Lohn nach 
Billigkeit gebt. 

234. Und diejenigen von euch, welche verscheiden und 
Gattinnen hinterlassen, — so müssen diese vier Monate und 
zehn Tage warten. 

235. Und ihr begeht keine Sünde, wenn ihr den Frauen 
den Vorschlag zur Verlobung macht (d. h. den Witwen 
innerhalb der vier Monate und zehn Tage). 

237. Ihr begeht keine Sünde, wenn ihr euch von euren 
Weibern scheidet, bevor ihr sie berührt oder ihnen eine 
Mitgift festgesetzt habt. Und sorget für sie, — der Bemittelte 
nach Vermögen und der Unbemittelte nach Vermögen — in 
Billigkeit; dies ist Pflicht für die Rechtschaffenen. 

238. Scheidet ihr euch jedoch von ihnen, bevor ihr sie 
berührt habt und habt ihnen bereits eine Mitgift festgesetzt, so 
sei es die Hälfte von dem, was ihr festsetztet, es sei denn, sie 
ließen ab oder er, in dessen Hand das Eheband ist, ließe ab. 


Das sind die wichtigsten Abschnitte, die der Koran selbst 
über das weibliche Leben bringt; wir sehen es nicht viel, 
umsomehr bringen dagegen die übrigen Schriften. Dazu ge- 
hören z. B. die Vorschriften über Ehescheidung im Kodex 
Kudury. Hat der Gatte ein körperliches Gebrechen und der 
Richter hat sein Vorhandensein anerkannt, dann kann das Weib 
sich vom Gatten trennen und es muß ihr das volle Heiratsgut 
ausbezahlt werden. Die Frau kann sich auch von einer Ehe, 
die durch häusliche Zwistigkeiten unerträglich geworden ist, 
loskaufen — also ein Fortschritt gegen unser Recht. Dieser 
Loskauf kann eventuell im Verzicht der Frau auf ihr Heirats- 
gut beruhen. Das Heiratsgut ist aber stets der Frau zu be- 
lassen, wenn der Gatte die Lösung der Ehe fordert, ohne daß 
das Weib schuldig ist. 

Das Liebesleben der Länder des Islam ist ein sehr bunt- 


332 Reitzenstein: Aus dem Liebes- und Eheleben der Mosleminen 


farbiges. Wir haben bereits erwähnt, daß es im alten Arabien 
Sitte war, mit der verheirateten Frau in Liebesbeziehungen zu 
treten. Ihr galt die ganze schöne Wüstenpoesie mit ihren 
Tageliedern beim Krächzen des guräbu’l-baiss, des „Trennungs- 
raben“. Und wenn dann das Schiff der Wüste, das Kamel, 
mit der Angebeteten im Takte des Gesanges in der Ferne ver- 
schwindet, dann sang der rauhe Sohn des Sandmeeres: 


Kein Schlauch, gehörend faulem Weib, zerrissen an der Naht, 

Womit ein Knecht das Vieh getränkt, eh’ er eingeweicht ihn hat; 

Ist rinnender als du, mein Aug’ in, Tränen früh und spat 

Denk ich, wo sie nun wohnt, und seh’, wo sie gewohnt einst hat. 
(Hamäsa übersetzt von Rückert.) 


Eine geradezu bestrickende Feinheit aber erlebte das 
Liebesleben im fernen Westen, in den Reichen der spanischen 
Mauren. Schon zu einer Zeit, wo man in dem von der christ- 
lichen Askese niedergedrückten Teile des Abendlandes nicht 
entfernt imstande war, Erhabenes zu dichten, hatte das arabische 
Liebesleben sich einen unvergänglichen Platz in der Kultur- 
geschichte durch seine Feinheit gesichert. Wie später im 
Minnesang, dessen Wurzeln gerade im arabischen Spanien 
liegen, nehmen hier hoch und nieder, Könige, Fürsten, Bürger 
und vagabundierende Spielleute Anteil und aus den düsteren 
Orangenhainen klangen allenthalben zu begleitendem Saiten- 
spiele die glühendsten Liebeslieder hinauf zur harrenden 
Schönen. Das silberne Mondeslicht strahlte über Minaretts 
und Kuppeln hin auf die zauberhaft schönen Palästen Kordovas 
und Granadas. Aus den buntglänzenden Höfen klangen 
leise Lieder voll Schmerz um den fernen Geliebten und ver- 
hallten zitternd im Dufte der blühenden Myrten. So wurden 
alle Sinne berauscht und wohl kaum ward jemals ein Volk 
so zur Poesie und poetischen Auffassung der Liebe hingerissen, 
wie die Mauren. So schildert Abbas, der Sohn des Ahnaf, 
seine Geliebte: 


Nur meiner Sonne denk’ ich, Vom Wuchse wie Narzissen 

Des schlanken Mädchens nur; Perlgleichen Angesichts, 

Ach, hinter finstern Mauern Und lauter Duft ihr Atem, 

Verlor ich ihre Spur. Ist sie ein Kind des Lichts. 

Ist vom Geschlecht der Menschen Wenn wallenden Gewandes 

Vom Stamm der Dschinnen sie? Sie schwebt, behend vom Schritt 
Die Macht der Dschinnen übt sie, Zerknickt sie kaum die Halme 
Doch ihre Tücke nie. Drauf leicht der Fuß ihr tritt. 


Auch Siziliens Fluren waren kurz vor der Herrschaft der 
Staufen Zeugen dieser feinen Poesie. War es ein Wunder, 


Reitzenstein: Aus dem Liebes- und Eheleben der Mosleminen 333 


daß unsere großen Sängerkönige wieHeinrich VI.und Friedrich II. 
sich hier besonders wohl fühlten und die Saiten ihrer Lauten 
wiederklangen von arabischen Reminiszensen? Dort sang 
noch im 11. Jahrhundert Ibn Tubi seiner Geliebten nach: 


„O wenn ich nie sie mehr umarmen soll, 
So mag mein Leben enden; 

Ihr Antlitz nur und ihre Blicke sind’s, 
Die mir das Dasein spenden, 


Wenn jemals durstend du in langen Zügen 

Am Quelle trankst, so wisse: 

Gering war deine Wonne gegen meine, 

Wenn ihren Mund ich küßte.“ 

Ibn Zeidun, einer der berühmtesten maurischen Dichter 

(ca. 1003 geb.), liebte die hochgebildete omaijadische Prinzessin 
Wallada, die selbst Dichterin von Bedeutung war. Um ihret- 
willen ward er seines hohen Amtes entsetzt und so klagt er 
der schweigenden Nacht in prachtvollen Versen sein Leid: 


O du, so ferne mir entrückt, 

Wenngleich mein Herz dein Wohnplatz ist, 
Vergessen ließ dich deine Welt 

Den, dessen ganze Welt du bist. 


Bei muntrer Scherze frohem Spiel 
Und allem Glück, das dich umgibt, 
Blieb kein Gedanke dir zurück 

An dem, der dich so innig liebt. 


Vielleicht jedoch erreich ich noch 

Das Ziel, nach dem ich stets gestrebt; 
Du fragst, welch Ziel? verkünden kann’s 
Ein jeder Tag, den ich verlebt. — 


So glitzern die Worte der arabisch-maurischen Liebes- 
dichtung ebenso reich und verschiedenartig wie die Facetten 
des geschliffenen Edelsteines. Ähnlich zart — wenn auch in 
anderer Art, war das Liebesleben Indiens. Hier lag schon 
eine entsprechende Vergangenheit aus der vorislamitischen Zeit 
vor. Da man nun in Persien und damit auch im indischen 
Gebiet des Islam sich weniger um das Bilderverbot kümmerte, 
so treten hier neben die Dichtung auch Miniaturmalereien, die 
uns dieses zarte Liebesleben sehr gut schildern. (Abb. 1 u. 2.) 
Wer es unternehmen wollte, eine Geschichte der Liebesdichtung 
von Indiens Strömen über das rosenduftende Heimatland des 
Firdusi bis zu den märchenhaften Gefilden Andalusiens zu 
schreiben, brauchte Bände dazu und er hätte damit sicherlich 
das Material für eine Psychologie der Liebe überhaupt ge- 
sammelt, denn nicht nur trauern konnte der Sänger über seine 
verlorene Geliebte, er verstand es auch in Tönen tiefster Ver- 


334 Reitzenstein: Aus dem Liebes- und Eheleben der Mosleminen 





УЧ 
GË ерата 


, Paz 
LE? Za 
län ы.) 


хе, 





Abb, 1, Indisches Liebespaar. (Der Bogen ist dargestellt als der des indischen Liebes- 
gottes Kämas der aus Blumen gefertigt ist, während die Sehne aus Bienen besteht. 


Reitzenstein: Aus dem Liebes- und Eheleben der Mosleminen 325 


achtung zu sprechen, wenn sie ihm untreu wurde. Nur noch 
ein Beispiel nach dieser Seite. Ibu ul Haddad singt einmal: 


Wie deine Geliebte dich betrog, 

So suche du sie zu betrügen 

Durch Kälte und durch Vergessenheit 
Mußt du die Liebe zu ihr besiegen! 


Die Mädchen gleichen dem Rosenstrauch 
Und wissen so wie er zu beglücken; 
Ein Wanderer hat eine Rose gepflückt, 
Der nächste wird die zweite pflücken. 


Daß der Moslem auch die Ehe trotz ihrer leichten Scheid- 
barkeit besonders hochhält, darf uns eigentlich nicht wundern. 
Interessant ist ein Vergleich mit unserem Abendland. Der 
heilige Hieronymus (f 240), sagt einmal, daß er es empörend 
finde, daß Jovinian keinen Unterschied der Belohnung im 
Jenseits mache, und so die reuigen „Huren“ den „un- 
befleckten“ Jungfrauen gleichstelle; dabei fährt er fort: 
„Gut ists für den Mann, kein Weib zu berühren. Frei- 
lich heißt Paulus auch das Heiraten gut, aber nur als 
Gegenmittel gegen die „Hurerei. Man nehme die Gefahr der 
Unzucht hinweg und Paulus würde nicht mehr sagen: „Jeder 
besitze ein Weib!“ Er nennt dann Weizenbrot und Gersten- 
brot als Gleichnis, ersteres als gute, dieses als schlechte 
Nahrung; freilich sei Ochsenkot (!) noch minder, aber ist das 
Weizenbrot nicht das edle Brot, weil man Gerstenbrot dem 
Mist vorzieht? Wohl stamme ja auch die Jungfrau aus einer 
Ehe; aber nicht der, der das Gold aus dem Kote (!) gräbt, 
sondern wer ihm Glanz und Schönheit gibt sei ein Künstler. — 
Mithin die „Jungfrau“ ist eine Perle, die aus der Ehe (dem Kote!) 
hervorgeht. Anders Mohammed. Er hält es mit Recht für 
unmöglich und widersinnig, daß gesunde Menschen im ledigen 
Stande „keusch“ leben. So wird von ihm überliefert, daß er 
einst einen jungen Menschen fragte: „Bist du verheiratet?“ 
Dieser antwortete: „Nein“. — „Bist du gesund und wohl?“ 
fragte Mohammed weiter. „Ja“. „Dann bist du ein Bruder 
des Teufels“, fuhr der Prophet fort, „denn die Gottlosesten 
unter euch sind die Unverheirateten““. So machte denn auch 
Mohammed die echte Prostitution unmöglich, und gewährte, 
um dies zu erreichen in geschlechtlicher Hinsicht größere Frei- 
heit, stempelte den geschlechtlichen Verkehr nicht zur Sünde, 
bot allen Frauen die Möglichkeit und legte ihnen zugleich die 
Pflicht auf, sich zu verheiraten. Diese Pflicht zur Ehe ent- 


326 Reitzenstein: Aus dem Liebes- und Eheleben der Mosleminen 





$ 
ai Ze 2 
de gei Wi { 


ЛИ, 


DN, 
Fr 





Abb. 2. Indisches Liebespaar. 


Tafel II 





ie schöne Schirin genannt). 


Mädchenbildnis (d 


Persische Malerei 17. Jahrhundert 


des Kunstgewerbemuseums Berlin.) 


und Eheleben im Islam.) 


(Bibl. 
Liebes- 


ın 


. Reitzenste 


(Zu v 


Tafel Ill 





Heimkehrender indischer Sikh. Sehr interessante indisch-persische Malerei. 


Besonders wichtig ist das Weib ganz rechts, bei dem eine eigenartige Form der 
Infibulation durch einen Ring dargestellt ist. Die pfeifenartigen Instrumente (eigent- | 
lich Rohr für Abfluß des Urins in Mädchenwiegen), dienen hier der Masturbation. | 
(Nach Reitzenstein, Frhr. v.: Liebe und Ehe im alten Orient.) 
(Zu v. Reitzenstein: Liebes- und Eheleben im Islam.) 


Reitzenstein: Aus dem Liebes- und Eheleben der Mosleminen 327 


spricht aber logischerweise die leichte Scheidung, da es ja zur 
Prostitution führen muß, wenn nicht mehr Zusammenpassende 
gewaltsam aneinander gekettet sind. So stellt der Islam vor 
allem den Trieb zum sexuellen Verkekr höher als den zur 
Kindererzeugung, wohlbeachtend, daß der erste primär ist, der 
zweite sekundär-unbewußt aus ihm folgend und in seinem 
Werte leidet, wenn der primäre Trieb auch nur abgeschwächt ist. 

Die altarabische Ehe (nikäh) ist ein sehr weiter Begriff, 
weshalb verschiedene Forscher in einzelnen Eheformen „Рго- 
stitution“ gewittert haben. Sie kennt beispielsweise poly- 
andrische Formen, zumal wenn das Weib durch seinen 
Besitz eine besonders hervorragende Stellung einnahm. In 
diesem Falle, sagt Bochäri, bildeten mehrere Männer eine Sippe 
und wohnten dem Weibe bei; gebar diesesnun ein Kind,so mußten 
sämtliche Männer erscheinen und sie bezeichnete aus ihrer 
Mitte den Vater. Eine andere Form war die mot’a-Ehe; bei 
der der Mann mit dem Weibe eine bestimmte Zeitdauer fest- 
setzte und für das später etwa zur Welt kommende Kind ein 
Geschenk zurückließ. Mohammed billigte diese Form mit den 
Worten: „Wenn ein Mann und ein Weib miteinander eins sind, 
soll ihr Zusammensein drei Nächte dauern“. Höher ent- 
wickelt und ebenfalls alten mutterrechtlichen Verhältnissen ent- 
sprungen, ist die sadîqa-Ehe (von sadäq dem Namen jener 
Gabe, die das Weib bekam). Sie war beim Mittelstand sehr 
häufig und ist auch die Eheform von Samson und Delila in 
der Bibel. Die sadiga-Frau bleibt nämlich in ihrer Behausung 
sitzen und empfängt ihren Gatten nur zeitweise. Hat der 
Mohammedanismus diese Formen nicht direkt beseitigt, so 
tat er es um so mehr bei der rein mutterrechtlichen beena- 
Ehe. Hier behielt die Frau vollständig freie Verfügung über 
sich und verlangte vom Manne, daß er kein anderes Weib 
neben ihr habe; sie war auch bei der Scheidung der ton- 
angebende Teil. Heute ist sie verschwunden. Ihr Gegenstück 
ist die Ba’alsehe, bei der der Mann der absolute Herr des 
Weibes ist und dieses sozusagen sein Eigentum wird. Die 
Kinder gehören unbedingt seinem Stamme. 

Gehen wir zu den heute herrschenden Verhältnissen über. 
Zwar liegt das mögliche Heiratsalter für das Mädchen noch 
immer sehr früh — die Ehe kann mit acht Jahren eingegangen 


werden — doch wird gewöhnlich 15 Jahre als unterste Stufe 
22 


328 Reitzenstein: Aus dem Liebes- und Eheleben der Mosleminen 


angenommen, da die Türkin schon mit zehn Jahren menstruiert. 
Über die Zahl der Frauen ist zumeist eine ganz falsche 
Meinung verbreitet. Nicht unbegrenzt ist diese Zahl, sondern 
Mohammed erlaubte jedem freien Gläubigen vier freie Frauen, 
jedem Sklaven zwei Frauen zur gleichen Zeit zu nehmen; 
dagegen steht dem freien Manne nichts im Wege, sich beliebig 
viele Sklavinnen zu halten und mit ihnen gegebenen Falles 
geschlechtlich zu verkehren. Aber diese Möglichkeit wird 
gleich gewaltig eingeschränkt, denn der Mann muß vorher 
nachweisen, daß er in der Lage ist, alle Pflichten gegen seine 
Frau — die, wie wir oben sahen, recht beträchtlich sind — 
zu erfüllen. So ist heute die Polygamie nur noch für die 
allerreichsten Leute möglich und der türkische Gesandte im 
Haag, Missak Effendi konnte beispielsweise auf das unsinnige 
Geschreibsel des Pierre Loti diesem ruhig zurufen, daß es ihm 
nicht gelingen dürfte nur zehn Polygamisten in der Türkei zu 
nennen! Auch muß der Gatte allen seinen Frauen in sexueller 
Beziehung gleiches Recht gewähren. Die Abwechslung der 
islamitischen Ehe liegt also tatsächlich nur in der leichten 
Scheidung begründet. Erwähnt mag hier noch werden, daß 
der Islam gegen andere Glaubensangehörige sehr duldsam 
ist; so kann ein Moslim, der mit einer Glaubensgenossin ver- 
heiratet ist, eine zweite Ehe mit einer Christin oder einer Jüdin 
eingehen und muß diese drei Frauen völlig gleich behandeln. 
Die christlichen Religionen haben es nicht vermocht, sich zu 
dieser Duldsamkeit aufzuschwingen. 

Daraus folgt, daß es heute im Islam bei den Sunniten 
zwei Eheformen gibt: die Nikah-el-daim oder die Dauerehe 
(pers. Arusi-akd’i), der zufolge laut Sure 4 des Koran der Mann 
ein Ehebündnis mit höchstens vier freien Frauen gleichzeitig 
eingehen darf und die Nikah-el „‚Ämma“ oder -el Kenizan) 
die Sklavenehe, der zufolge sich ein Freier mit einer Sklavin 
oder ein Sklave mit einer Freien oder zwei Sklaven unter sich 
verbinden können. Rechtlich steht ihr das Konkubinat mit 
einer Sklavin (Ästilad) gleich und unterscheidet sich nur durch 
das Fehlen einer äußeren Form. Die schiitischen Perser haben 
noch eine Eheform, die Nikah-el-mönkese (pers. Arusi sighei) 
die Fristehe; sie kann auf eine Stunde bis auf 99 Jahre ge- 
schlossen werden. ÄußerlichstehtdasSighe-Weibdem Akd’i-Weib 
gleich, nicht aber rechtlich. Bei den Sunniten gilt diese Form nicht. 


Reitzenstein: Aus dem Liebes- und Eheleben der Mosleminen 329 


Der Eheschließung geht in Arabien die Werbung voraus. 
Der eigentliche Kern der Verlobung (tazvig, tamlik, imläk) be- 
stand in der Übertragung der Gewalt über das Mädchen 
vom Vali auf den Bräutigam. Der Islam schreibt vor, daß 
das Mädchen sein Einverständnis geben muß. Dann wird es 
geputzt, parfümiert und geschmückt. Der wichtigste Ritus 
der Eheschließung selbst ist das Überwerfen des Mantels 
und das Errichten des Zeltes. Darnach sagt man bana ’alaihä 
er heiratet, d. h. er baut ein Zelt über sein Weib. Bei den 
Türken sind ein Brautanwalt und zwei Brautzeugen nötig. 
Die Ehe selbst wird vor dem Richter geschlossen; wenn dieser 
aber zu teuer sein sollte, kann man jeden anderen unbescholtenen 
Mann wählen. Die Absicht zur Eheschließung muß entweder 
persönlich oder durch einen Vertreter ausgedrückt werden. 
Meist sprechen die Parteien nur das Wort nikiah oder tesevüdsch 
(Heirat) aus oder der Mann sagt: „Ich habe dich gekauft“ 
während die Frau antwortet: „Ich gebe mich dir als Geschenk“, 
Die Feierlichkeiten sind ziemlich einfach. 

In Persien (Schiiten) ist die Sache umständlicher und 
kostspieliger. Die Werbung geschieht durch die Eltern und 
die Zeichnung des Ehekontrakts durch den Priester. Die 
Feierlichkeiten sind durch einen kolossalen Pomp begleitet. 
Wenn die beiderseitigen Bevollmächtigten ihre Sprüche ge- 
wechselt haben, erklärt der Mullah die Ehe für geschlossen, 
wobei die Braut vollständig verschleiert wird. 

Ähnlich wie auch bei uns, ist ein besonders wichtiger 
Akt bei der Eheschließung die Heimführung der Braut in das 
Haus des Gatten. Sie gilt auf diesem Wege besonders bedroht 
durch Dämonen und Geister und wird daher so gut wie 
möglich verhüllt (Schleier, gänzlich geschlossene Sänfte). 
Bei den syrischen Stämmen gehen dem Hochzeitszug be- 
sondere Tänzer voraus, bei denen die Männer Säbel tragen 
„um die Geister zu vertreiben“ (Abb. 3). 

Eine eigentliche Mitgift kennt das islamitische Recht nicht; 
was aber die Frau mitbekommt, bleibt ihr alleiniges Eigentum. 

Da der Islam sehr auf absolute Reinheit des Stammes 
sieht, war es eigentlich zu erwarten, daß er die dem alten 
Arabertum eigentlich fremde Frauenabsperrung je nach der 
Sekte mehr oder weniger streng übernahm und sie zum 


Haremswesen ausbildete.e Bei uns herrschen darüber aller- 
22* 


330 Reitzenstein: Aus dem Liebes- und Eheleben der Mosleminen 


dings sehr falsche Ansichten. Weder ist der „Harem“ (besser „das 
Harim“) ein Gefängnis — schon deshalb nicht, weil die Orien- 
talin ihn nicht als solchen empfindet, denn das orientalische Leben 
spielt sich nicht wie das unsrige in der Öffentlichkeit sondern 
im Heim ab, noch ist es heute etwa eine Folge märchenhafter 
Prunkräume, wie das vereinzelt in der Fatimidenzeit oder in 
den Palästen Granadas der Fall war, sondern ein mehr oder 
minder europäisch ausgestatteter Raum, meist von recht ein- 
fachem Charakter. Indien der Mogulzeit mit seinem sprich- 





Abb, 3 Syrische Hochzeitstänzer. 


Т "МАИ - 





Reitzenstein: Aus dem Liebes- und Eheleben der Mosleminen 331 





wörtlichen Reichtum hat natürlich auch hier viel Glanz gezeitigt, 
wie Abb. 4 zeigt. Aus den gleichen Gründen, denen die 
Frauenabsperrung entsprang, wird auch Ehebruch streng 
geahndet. Eigentlich soll er mit Steinigung zu Tode gestraft 
werden. Wer aber jemand fälschlich des Ehebruchs bezichtigt, 
erhält 80 Stockschläge. Die Klage auf Ehebruch (lican) ist 
schwierig. Der Mann erhebt sie öffentlich in Gegenwart der 
Richter auf der Kanzel der Moschee mit den Worten: „Ich 


Abb. 4. Indischer Haremsgarten. 


332 Reitzenstein: Aus dem Liebes- und Eheleben der Mosleminen 


rufe Gott zum Zeugen, daß ich die Wahrheit spreche, indem 
ich meine Frau N.N. des Ehebruchs beschuldige, und daß das 
von ihr geborene Kind ein Kind des Ehebruchs ist und nicht 
von mir herstammt“. Dies muß er viermal wiederholen. Nun 
macht ihn der Richter auf die Folgen aufmerksam und er 
antwortet: „Gottes Fluch ruhe auf mir, wenn ich die Unwahrheit 
rede“. Nun ist das Weib vom Ehebett geschieden, darf von 
ihrem Manne nie wieder geheiratet werden und das Kind ist 
vaterlos. Das Weib verfällt der Strafe, wenn es sich nicht 
durch einen Gegenfluch reinigt. Sie kann ihrerseits viermal 
die Kanzel besteigen und sagen: „Ich rufe Gott zum Zeugen, 
daß N.N. lügt, in dem er mich des Ehebruchs beschuldigt“. 
Damit bleibt sie zwar geschieden; ist aber straffrei. Nun muß 
sie eine Wartezeit durchmachen, ob sie nicht schwanger ist 
und kann dann wieder heiraten. Nie darf sie aber den Mann 
heiraten, zu dem sie Beziehungen hatte. 

Die sonstige Ehescheidung (taläk) ist leicht. Gegen- 
seitiges Einverständnis oder auch Verstoßung durch den Gatten 
genügt. Die Verstoßung kann widerruflich sein (radjii), dann 
findet nach einiger Zeit eine Wiedervereinigung auch gegen 
den Willen der Gattin statt, oder sie ist unwiderruflich (bain), 
dann muß der Mann einen neuen Vertrag schließen wenn er 
mit derselben Gattin wieder getraut werden will. Hat er drei- 
mal seine Gattin verstoßen, kann er sie nur wieder heiraten, 
wenn sie unterdessen eine Ehe mit einem andern eingegangen 
hatte. Von besonderem Interesse ist zum Schlusse noch die 
Ehescheidung wegen Impotenz. Bei Schiiten und Hanbaliten 
ist die Befriedigung des sexuellen Triebes wichtiger als die 
Kinderzeugung; bei Hanefiten und Malekiten sind beide Zwecke 
gleich. Deshalb ist bei Schiiten, Hanbaliten und Schafiiten 
Sterilität kein Ehehindernis, wohl aber Impotenz zum Verkehr, 
dagegen ist bei Hanefiten und Malekiten auch die Unfruchtbar- 
keit Ehehindernis. 


SS 


Classen: Vererbung von Krankheiten und Krankheitsanlagen 333 


VERERBUNG VON 
KRANKHEITEN UND KRANKHEITSANLAGEN 
DURCH MEHRERE GENERATIONEN. 

Von Dr. med. K. CLASSEN, Grube in Holstein. 

Mo nunmehr über 20 Jahren hatte ich Gelegenheit, in meiner 

Praxis eine eigenartige und seltene Krankheit, die Kleinhirn- 
Ataxie, bei drei Männern zu beobachten, welche Geschwister- 
kinder waren. Seitdem habe ich der Sache weiter nachgeforscht 
und in der Verwandtschaft jener drei noch andere Anomalien 
des Zentralnervensystems aufgefunden; da überdies die Kleinhirn- 
Ataxie unter den Nachkommen noch heute nicht ganz aus- 
gestorben ist, so ergibt sich ein interessantes Bild von 
Krankheitsvererbung, welches ich im folgenden erörtern möchte. 

Das Krankheitsbild der Kleinhirn- Ataxie, hierzulande 
„fliegende Gicht“ genannt, besteht in mangelhafter Beherrschung 
der Muskeln; der Kranke kann sich niemals ganz ruhig ver- 
halten, zuckt bald mit den Armen, bald mit den Beinen; sein 
Gang ist schwankend wie der eines Betrunkenen, der Kopf 
bewegt sich hin und her, die Lippen und Gesichtsmuskeln 
zucken, so daß die Sprache schlecht artikuliert ist, die Augen 
können nicht gut fixiert werden. Die geistigen Fähigkeiten 
sind normal. Anzeichen von Rückenmarkserkrankungen fehlen 
(wie Rombergsches Zeichen), die Kniereflexe sind lebhaft. 

Die Krankheit hatte sich erst in höherem Alter, nach dem 
50., bei dem einen erst nach dem 60. Lebensjahre eingestellt. 
Der Tod ist in meinen drei Fällen plötzlich an Gehirnschlag 
oder Herzlähmung erfolgt. 

Die Eltern der drei Patienten habe ich nicht mehr gekannt, 
jedoch konnte ich erfahren, daß die Mütter von zweien und 
der Vater des dritten, die Geschwister waren, gleichfalls in 
höherem Alter von der „fliegenden Gicht“ befallen sein sollten 
und daß ihre gemeinsame Großmutter, die 90 Jahre alt geworden 
war, ständig mit dem Kopf gewackelt habe und in den letzten 
Jahren nicht mehr imstande gewesen sei, zu gehen. 

Die Betrachtung des Stammbaumes dieser Familie ergibt 
nun mancherlei Interessantes. Die Stamm-Mutter A hatte acht 
Kinder. Von diesen scheint nur ein Sohn (5) ganz gesund 
gewesen zu sein; unter seinen Nachkommen, von denen mir 
viele bekannt sind, habe ich keine krankhafte Anlage nach- 
weisen können. 


334 Classen: Vererbung von Krankheiten und Krankheitsanlagen 


An Ataxie haben außer den erwähnten dreien (im Stamm- 
baum 1, 7 und 8) auch die Tochter 2, die verheiratet aber 
kinderlos gewesen ist, und der Sohn 4 (dessen eine Tochter 
sich mit einem Sohn von 7 verheiratet hat) gelitten, soweit 
die Angaben der Angehörigen zuverlässig sind. 

Der Sohn 3 ist wunderlich und beschränkt gewesen und 
71 Jahre alt unverheiratet gestorben (an „Brustkrankheit“, wie 
das Kirchenbuch sagt). Auch der Sohn 6 war von wunderlichem 
Wesen, kinderlos verheiratet hat er 68 Jahre alt durch Selbst- 
mord geendet. 

Auch unter den Kindern von 7 war ein Sohn von eigen- 
sinnig beschränktem Charakter. 

DerStammbaum weist noch eine weitere Anomalie auf, nämlich 
die Kyphoskoliose, die unter den Nachkommen von 7 mehrfach 
vorkommt. Auch bei dem Sohn 1, den ich selbst beobachtet, 
bestand eine Kyphose (Verkrümmung) der oberen Brustwirbel. 

Geistesschwäche tritt in der dritten Generation noch einmal 
unter den Nachkommen von 7a auf, hier jedoch liegt Belastung 
durch den Vater vor. Dieser ist selbst zwar durchaus normal, 
jedoch sind von den Kindern seiner zwei Schwestern mehrere 
schwachsinnig. Er hat von 7a zwei blödsinnige und einen 
gesunden Sohn, von einer zweiten Frau mehrere gesunde Kinder. 

Die Ataxie hat sich unter den Nachkommen von 1 und 8 
bis auf die dritte Generation fortgepflanzt, allerdings nur in 
einem Kinde unter mehreren Geschwistern, während sie in der 
Nachkommenschaft von 7 nicht mehr vorkommt. Die jetzt 
60jährige Tochter von 1 leidet daran in so hohem Grade, daß 
sie sich nur mit Mühe vorwärtsbewegen und sich nicht allein 
ankleiden kann; sie ist kinderlos. Bei der Tochter von 8, die 
etwa 50 Jahre alt ist, ist das Leiden noch nicht so weit aus- 
geprägt, jedoch ist sie sehr nervös und leicht erregt. Sie hat 
drei anscheinend gesunde Kinder. Von ihr leben drei ältere 
und vier jüngere Geschwister, die bisher alle gesund sind und, 
soweit mir bekannt, gesunde Kinder haben. 

Wir haben also eine Familie mit acht Kindern, von denen 
ein Sohn durchaus gesund war und gesunde Nachkommen 
gezeugt hat, während drei, oder vielleicht fünf Geschwister 
mehr oder weniger von Ataxie befallen waren und diese 
Krankheit vererbt haben und zwei Brüder geistig schwach und 
kinderlos gewesen sind. 


Classen: Vererbung von Krankheiten und Krankheitsanlagen 335 


Von dem Stammvater, dem Gatten von A, ist mir nichts 
bekannt; soweit seine Verwandtschaft hier lebt, ist sie frei von 
krankhaften Anomalien. Umso interessanter ist die Verwandt- 
schaft von A. 

Diese Elsabe KI. (geboren 1777, gestorben 1867) war das 
Älteste von neun Geschwistern. Das jüngste ist früh gestorben, 
die andern sind alle verheiratet gewesen und haben Nachkommen 
hinterlassen. Eine Schwester ist in ein anderes Kirchspiel ver- 
zogen; von dieser sollen jetzt keine Nachkommen mehr leben. 
Von allen andern kann ich auf Grund der Kirchenbücher der 
Gemeinde Grube die Stammbäume bis in die Gegenwart 
nachweisen. 

Zwei Töchter (D und G; die Buchstaben beziehen sich 
auf die Reihenfolge der Lebensalter) können aus der Betrachtung 
ausscheiden, weil ihre Kinder und Enkel gesund geblieben sind. 
Es bleiben also vier Stammbäume (B, C, E, H) zu betrachten übrig. 

B (Simon KI., geb. 1779, gest. 1847) war dreimal verheiratet; 
die ersten beiden Frauen waren Schwestern; deren Kinder und 
Enkel, soweit sie noch leben, sind gesund. Aus der dritten 
Ehe stammten zehn Kinder. Die Mutter ist bald nach der 
Geburt des letzten Kindes gestorben und das Kind kurz darauf. 
Von den anderen Kindern ist ein Sohn unverheiratet gestorben, 
die übrigen waren verheiratet und hatten Kinder, bei fast allen 
sind die Kinder mehr oder weniger geistig defekt gewesen. 

Besonders stark belastet ist die Nachkommenschaft von B2, 
dessen Ehefrau aus einer Familie stammte, in welcher geistige 
Abnormität (wunderlich exzentrisches Wesen bei Beschränktheit) 
vorkam. Acht Kinder waren klein gestorben, drei Töchter 
blieben am Leben, die eine völlig blödsinnig, die zweite schwach- 
sinnig, hat ein blödsinniges Kind. Der uneheliche Vater dieses 
Kindes hat die dritte Tochter geheiratet, die beschränkt und 
wunderlich ist und hat mit ihr eine Reihe gesunder Kinder 
gezeugt. Nur der älteste Sohn aus dieser Ehe zeigt eine 
Abnormität, insofern er ständig den Kopf auf- und abbewegt 
und die Augen hin und her gehen läßt; geistig ist er normal. 

Man könnte meinen, daß die krankhafte Belastung weniger 
vom Vater B, als von seiner dritten Frau stammt, da ja die 
Kinder aus den beiden ersten Ehen gesund waren. In der 
seitlichen Verwandtschaft der dritten Frau sind mir jedoch 
keine krankhaften Anlagen bekannt. In Hinblick auf die Seiten- 


336 Classen: Vererbung von Krankheiten und Krankheitsanlagen 


verwandtschaft von B muß man doch annehmen, daß die 
krankhafte Erbanlage in ihm „rezessiv“ vorhanden gewesen 
und daher nur bei etwa der Hälfte seiner gesamten Kinder in 
Erscheinung getreten ist. 

Stamm C (Jürgen KI., 1794 bis 1847) scheint weniger be- 
lastet zu sein. Unter acht Kindern haben fünf, soweit es sich 
ermitteln läßt, ganz gesunde Sprößlinge gezeugt, während unter 
den Nachkommen von dreien mehrere Male geistige Schwäche 
verschiedenen Grades vorkommt. Der Gatte von C2 war vor- 
her schon verheiratet gewesen und hatte aus erster Ehe drei 
gesunde Kinder. Hier stammt also die erbliche Belastung aus- 
schließlich von mütterlicher Seite. 

Іт Stamm E (Hans KI., 1782 bis 1832) ist unter sieben 
Kindern nur die Nachkommenschaft einer Tochter belastet. 
Jedoch mag von außen die Belastung hineingetragen sein. Der 
einzige Sohn von 2 hat eine Frau desselben Familiennamens 
geheiratet, auf deren Verwandtschaft ich weiter unten noch zu 
sprechen kommen werde. Aus dieser Ehe stammen mehrere 
geistig unbegabte Kinder, von denen eine Schwester zuweilen 
an epileptischen Anfällen leidet und einige gleichfalls wenig 
begabte Kinder hat. Eine Tochter von E3 hat einen Sohn von 
A5, also aus gleichfalls belastetem Stamm, geheiratet und hat 
drei durchaus gesunde Kinder. Also ist Stamm E wohl als 
nicht erblich belastet anzusehen. 

Stamm H (Karsten KI., 1788 bis 1854) ist wieder schwer 
belastet. Die einzige Tochter von H hatte unter sieben Kindern, 
von denen zwei klein gestorben sind, zwei blödsinnige Söhne 
und eine anscheinend normale, jedoch wohl etwas beschränkte 
Tochter, die wieder mehrere schwachsinnige und ein normales 
Kind hat. 

Von den Stämmen D und G (Katharina KI., 1782 bis 1866, 
und Anna KI., 1787 bis 1870) ist nicht viel zu sagen. D hatte 
aus zwei Ehen zwölf Kinder, deren Nachkommen, soweit sie 
sich in hiesiger Gegend nachweisen lassen, keine krankhaften 
Anlagen bieten. G hatte vier Kinder, deren eine Tochter einen 
kyphoskolistischen Sohn (jetzt 60 Jahre alt) neben mehreren 
gesunden Kindern hat. 

Der Vater der Geschwister A bis G, der Großbauer Jochim 
Kl, geb. 1724, gest. 1809, ist zweimal verheiratet gewesen- 
Aus der ersten Ehe stammte ein Sohn und eine Tochter. Nur 


Classen: Vererbung von Krankheiten und Krankheitsanlagen 337 


von dem Sohn läßt sich die Nachkommenschaft in einem 
Stamm bis in die Gegenwart verfolgen, und dieser Stamm ist 
ohne erbliche Belastung. Die oben erwähnten neun Kinder 
stammen alle von der zweiten Frau. Es ist also denkbar, daß 
die erbliche Belastung nicht vom Vater, sondern von der Mutter 
herrührt. Über deren Familie kann ich nichts ermitteln. Daß 
sie mit ihrem Gatten verwandt war, ist nicht anzunehmen, denn 
beide stammen aus ganz verschiedenen Gegenden des Kirchspiels. 

Der Familienname Kl. ist hier weit verbreitet. In den 
Kirchenbüchern habe ich mehrere Altersgenossen von Jochim Kl. 
gefunden, die vielleicht seine Brüder, sicher Verwandte waren. 
Aus einer dieser Familien ist ein 25jähriger schwachsinniger 
Sohn im Armenhaus zu Grube gestorben; aus einer anderen 
Familie lebt jetzt ein 60 jähriger, gleichfalls geistig beschränkter, 
unverheirateter Insasse im Armenhause. In diese Familie gehört 
auch die oben bei Stamm E erwähnte Frau des Sohnes 2, die 
eine epileptische Tochter hatte. Auch von Stamm C hat sich 
der Sohn 3 mit der Tochter einer geborenen KI. verheiratet; 
seine Nachkommen sind jedoch erblich nicht belastet. 

Erörtern wir nun den gesamten Stammbaum mit seinen 
Verzweigungen, so erkennen wir in dem, was auf den ersten 
Blick rätselhaft und willkürlich erscheint, Gesetzmäßigkeit und 
Regel nach den Ergebnissen der modernen experimen- 
tellen Erblichkeitsforschung. 

Wir müssen von der Voraussetzung ausgehen, daß in 
einem der beiden Ureltern Jochim KI. und Anna Hft. die Anlage 
zu Schwachsinn „rezessiv“ vorhanden gewesen ist. Es handelt 
sich um primären Schwachsinn, welcher atropische, nicht 
degenerative Veränderungen in der Großhirnrinde zur 
Ursache hat, stets angeboren ist und daher vererbt werden kann. 
Da diese Anlage „rezessiv“, nicht „dominant“ war, so erklärt es 
sich, daß sie nur auf die Hälfte der Kinder sich vererbt hat. 

Im Stamm A tritt noch eine andere erbliche Anlage auf, 
nämlich die Kleinhirnatrophie. Diese beruht auf ebenfalls nicht 
degenerativen, sondern atrophischen, daher angeborenen Ver- 
änderungen im Kleinhirn und in den vom Kleinhirn stammenden 
Rückenmarksfasern*) Nun hat der Ehemann von A denselben 

*) Literatur: Max Nonne, Archiv für Psychiatrie, Bd. ХХІІ, Ней 2; 
derselbe, ibidem, Bd. XXVII, Heft 2; Pierre Marie, Semain, medicalee 


1893, Nr. 56; derselbe, ibidem 1894, September 27; Paul Londe, Maladies 
familiales du système nerveux. Hérido-ataxie cérébelleuse. Paris 1895. 


338 Classen: Vererbung von Krankheiten und Krankheitsanlagen 


Familiennamen wie ihre Mutter; es ist also sehr wohl möglich, 
daß hier Verwandtschaft vorliegt, wenngleich sie aus den 
Kirchenbüchern nicht mehr nachweisbar ist (sie müßte aus der 
Mitte des 18. Jahrhunderts stammen). Es ist wohl kein Zufall, 
daß gerade diese Erbanlage in den anderen Stämmen nicht 
vorkommt. In den folgenden Generationen erlischt sie mehr 
oder weniger schnell. In der vierten Generation kommt sie 
nur einmal unter acht Geschwistern vor. 

Stamm B zeigt die Vererbung mit der Sicherheit des 
Experiments: von dreizehn Kindern aus drei Ehen sind fünf in 
den Nachkommen belastet; vielleicht waren noch mehr belastet, 
denn zwei Kinder sind klein gestorben und eine Tochter ist 
kinderlos geblieben. 

Ähnlich verhält es sich im Stamm C: von acht Kindern 
haben drei belastete, vier gesunde Kinder gezeugt, während 
sich von einer Tochter nichts nachweisen läßt. 

Stamm E ist nur wenig belastet, vielleicht ist E selbst 
unbelastet gewesen. Denn die epileptische Enkelin, die noch 
lebt und, wie oben erwähnt, aus einer Verwandtenehe stammt, 
ist verheiratet mit einer Schw. aus derselben Familie, aus 
welcher der Epileptiker unter B5 stammt, der melancholisch 
und nicht verheiratet war und 40 Jahre alt in einem epileptischen 
Anfall gestorben ist. Diese Familie ist zwar sonst, so weit 
ich sie kenne, gesund; durch Verbindung mit den belasteten 
Stämmen der Familie Kl. ist Epilepsie und Schwachsinn in 
Erscheinung getreten. 

Stamm H hat sich ebenso wie E nur in einem Kinde fort- 
gepflanzt; hier ist aber die Belastung schwer, insofern von 
sieben Kindern wenigstens drei geistig nicht normal sind. 

Die Nachkommen der Töchter D und G, deren Stamm- 
baum ich nicht dargestellt habe, sind ganz gesund geblieben. 
D hatte aus zwei Ehen zwölf, G vier Kinder. Die Familien- 
namen der Ehegatten, Pr. und Hft. und wiederum Pr., sind 
wieder dieselben, die schon in den andern Stämmen begegnet 
sind.*) Irgendwelche entfernte, wenngleich nicht mehr nach- 
weisbare Blutsverwandtschaft besteht sicher. Da aber die 
Schwestern D und G von ihren Eltern keine krankhafte Erb- 

*) In allen Gemeinden des hiesigem Kreises wiederholen sich die- 


selben Familiennamen, die schon im 18. Jahrhundert vorkommen, die Folgen 
der Seßhaftigkeit von den Zeiten der Erbuntertänigkeit her. 


Classen: Vererbung von Krankheiten und Krankheitsanlagen 339 


anlage mit auf die Welt bekommen haben, so ist auch in 
der Nachkommenschaft keine Krankheitsanlage in Erscheinung 
getreten. 


Fragen wir nun nach der letzten Ursache der krankhaften 
Erbanlage bei den Stammeltern Jochim Kl. und Anna Hft. Es 
muß bei einem dieser beiden oder auch schon bei deren Vor- 
fahren eine Schädigung der Keimanlage stattgefunden haben. 
Wir denken dabei zunächst an keimschädigende Gifte, wie 
Syphilis und Alkohol. Diese beiden glaube ich jedoch hier 
mit Sicherheit ausschließen zu können. Nach meiner fast 
dreißigjährigen Erfahrung spielt der Alkoholismus im hiesigen 
Landvolk keine ernste Rolle, und früher, als hier mehr Armut 
und Beschränktheit aller Bedürfnisse herrschte, gewiß noch 
weniger; auch von Syphilis sind mir früher, d. h. vor dem 
großen Kriege, ganz vereinzelte Fälle begegnet und diese waren 
von weither eingeschleppt. Gewerbliche Gifte kommen bei 
dem Fehlen jeglicher Industrie gleichfalls nicht in Betracht. 
Die Menschen leben hier durchweg in dem gesündesten Beruf, 
der landwirtschaftlichen Arbeit. Auch wenn in obigen Stamm- 
bäumen Handwerker, wie Maurer, Weber, Tischler vorkommen, 
so treiben sie doch nebenher Landwirtschaft. 


Vielleicht kann die Malaria als keimschädigender Moment 
in Betracht kommen; denn diese ist in früheren Zeiten hier 
sehr verbreitet gewesen, namentlich in den Niederungen am 
Gruber See, wo die Familie Kl. und ihre Verwandtschaft an- 
sässig ist. Erst seit etwa 40 Jahren, seitdem die Ländereien 
überall drainiert sind, ist die Malaria hier erloschen. 


Aus meinen Untersuchungen möchte ich die folgenden 
bevölkerungspolitischen Schlußfolgerungen ziehen: 


1. Günstige hygienische Verhältnisse bei Abwesenheit aller 
schädigenden Einflüsse, wie Alkohol, Syphilis, Fabrikarbeit ver- 
mögen eine Bevölkerung nicht vor der Verbreitung erblicher 
Anlagen des Zentralnervensystems zu schützen; 


2. gerade solche Umstände, welche die „Reinrassigkeit“ 
begünstigen, wie kinderreiche Ehen bei geringer Kinder- 
sterblichkeit, wenig Ab- und Zuwanderung, befördern auch die 
Verbreitung erblicher Anlagen und führen schließlich zur 
Degeneration. 


340 


Classen: Vererbung von Krankheiten und Krankheitsanlagen 


Jochim Klahn, Hufner in Guttau, 1724 bis 1809*) 


(Mutter geborene Heinrichsen), 
verheiratet I. mit Anna Schütt: 


5 — % — асһі Кіпаег, ohne Belastung. 
?— keine Kinder. 


2 — keine 


Kinder. 


IL mit Anna Höft, gest. 1819 (Mutter geborene Fischer): 


A EE EI HP DICH DO S 


. Elsabe Klahn (1777—1867), © Jürgen Höft (1759—1844). 
. Simon Klahn (1779—1847), dreimal verheiratet. 

. Jürgen Klahn (1781—1865), >> Katharina Prüß. 

. Katharina Klahn (1782—1866), co Johann Höft (1766—1844). 
. Hans Klahn (1782—1832), © Elisabeth Schröder. 

. Wiebke Klahn, & Reis (in Großenbrode). 

. Anna Klahn (1787—1870), © Jürgen Prüß. 

. Karsten Klahn (1788—1856), > Margarethe Kröger. 

. Gestorben vor 1819. 


Stamm A: Elsabe Klahn und Jürgen Höft, Gosdorf: 


— 


.9— & Аќахіе — |, d gesund, acht gesunde Kinder. 
Sander ? Ataxie, keine Kinder. 


2. 2 — keine Kinder. 
3. d unverheiratet (71 Jahre alt +). 


4. $ — а. 
(Jürgen) b. 
E "e 


? gesund, verheiratet mit Te. (Langbehn). 
? unverheiratet. 
? keine Kinder. 


а. d keine Kinder. 


5..8 


ca bp E o © рр 


g. 


. d gesund, Nachkommen unbekannt. 
. d gesund, fünf gesunde Kinder. 
. ļ Nachkommen unbekannt. 


Nachkommen unbekannt. 


. & gesund, drei gesunde Kinder (s. Stamm E4). 
. 2 gesund, gesunde Kinder. 


g gesund, gesunde Kinder. 


6. d keine Kinder, Selbstmord (68 Jahre alt). 


7. % — а. 


b. 


с. 


d. 
e. 


f. 


? gesund, gesunde Kinder. 

d beschränkt, skoliotisch, gesunde Kinder. 

d ataktisch, Kinder kyphoskoliotisch (s. 4a). 
? gesund, gesunde Kinder. 

$ Nachkommen unbekannt. 

? gesunde Kinder. 


*) d = männlich, ? = weiblich. 


Classen: Vererbung von Krankheiten und Krankheitsanlagen 341 


8.5 a.d ataktisch: acht Kinder, darunter eins ataktisch 
und neurasthenisch, eins hemiparatisch (beide mit 
gesunden Kindern). 


с 


. 8 in Amerika. 


? gesund. 
. 2 gesund. 


om Do 


d nicht bekannt. 


go ш 


. 2 bei Segeberg, schwachsinnig, ohne Kinder. 


. 2 gesund, gesunde Kinder. 


Stamm B: Simon Klahn, dreimal verheiratet: 


d 





1. $ Johnsen [ ? keine Kinder. 


zwei gesunde Kinder. 


ee 2 gesunde Nachkommen. . 
I. $ Johnsen ? 
Ш. ®% Витапп 1а. $ Nachkommen nicht nachweisbar. 


2b. 


3b. 
44. 
5e. 
6f. 


7g. 
8h. 
9i. 
10k. 


1.2 —(? gesunde Kinder. 


d 
? 
$ 
$ 
$ 
? 


V 


d 


Nachkommen schwachsinnig 
und blödsinnig. 

Nachkommen schwachsinnig. 
schwachsinnig, ohne Kinder. 
ein Enkel epileptisch. 
Nachkommen gesund (soweit 
bekannt). 

Nachkommen unbekannt. 
schwachsinnig, schwach- 
sinnige Kinder und Enkel. 
unverheiratet jung gestorben. 


O klein gestorben. 
Stamm C: Jürgen Heinrich Klahn, verheiratet mit Katharine Prüss: 


g ein schwachsinniges, mehrere gesunde Kinder. 


2. 2— [3 klein gestorben. 


$ ѕсһмасһѕіппір. 


8 blödsinnig. 
? klein gestorben. 


3. d6—d gesunde Nachkommen. 
? gesunde Nachkommen. 


d gesund. 
d gesund. 
g gesund. 
4. < — $ реѕипа. 
d gesund. 
$ gesund. 


342 Classen: Vererbung von Krankheiten und Krankheitsanlagen 


5. ?—? gesund und gesunde Kinder. 
6. ? — Nachkommen unbekannt. 
Т. &—d gesund, gesunde Kinder. 

? gesund. 

d gesund. 


Ф nicht bekannt 
8. ? — schwachsinnig. 
Stamm D: Katharina Klahn und Johanna Höft: 
І. (Prüss) 2 drei gesunde Kinder. 
. (Höft) a. 


— 
= 


gesund, gesunde Kinder. 


gesund, gesunde Kinder. 


уте ою ACA D, 
O3 O3 Oy +0 +0 +0 +0 


. 8 gesund, gesunde Kinder. 
LN keine Kinder. 
Stamm E: Hans Klahn und Elisabeth Schröder: 
. keine Kinder. 
. $ Nachkommen beschränkt, eine Tochter leicht epilep- 
tisch, beschränkte Kinder. 


с w 


soweit nachweisbar gesunde Nachkommen. 


оао 
Oy O +0 O Оу 


g. 
Zu b: Frau aus der Seitenverwandtschaft, in der auch 
Fälle von Schwachsinn vorkommen (s. Stamm A5e). 
Stamm G: Anna Klahn und Jürgen Prüss: 
a. ? gesunde Nachkommen. 
b. ? Nachkommen unbekannt. 
с. ? gesunde Nachkommen aus zwei Ehen. 
d. ? gesunde Nachkommen, ein Sohn kyphoskoliotisch 
Stamm H: Karsten Klahn und Margarete Schröder: 
Nachkommen unbekannt, auswärts verheiratet. 
Nachkommen unbekannt, auswärts verheiratet. 
klein gestorben. 
blödsinnig. 
blödsinnig. 
klein gestorben. 
gesund, schwachsinnige Kinder. 


? 


+0 юю Оу Оч Оу юю юю 


Geschlecht und Gesellschaft, 
Neue Folge XI, 12 


Tafel I 





Strumpfband. 
(Zu Pachinger: Strumpf und Strumpfband.) 





STRUMPF UND STRUMPFBAND. 
Kulturgeschichtliche Studie von Hofrat PACHINGER, Linz a.D. 


Mit 3 Tafeln und 8 Textabbildungen. 


Lee: sind die Blüten, die der menschliche Geist 
auch in Bezug auf das Sammeln merkwürdiger Dinge 
treibt. Und gar vieles von den alltäglichsten Gebrauchsgegen- 
ständen wäre uns nicht erhalten geblieben, wenn nicht sammel- 
frohe Menschen, die vor allen ehrwürdigen Zeugen früherer 
oder späterer Vergangenheit eigene Pietät gewahrt haben, es 
aufbewahrt und so vor der Vernichtung geschützt hätten. 
Sammeln ist, oder wird Leidenschaft, und jede Leidenschaft 
kann ins Pathologische übergehen. Sie kann ausarten, aber 
nichts destoweniger ist vor allen der Kulturhistoriker dem 
Sammler zu Dank verpflichtet. 

Die Brüsseler „Gazette“ erzählte unlängst von einer Tisch- 
zeug-, Handschuh-, Kneifer- und Kleiderbürsten-Sammlung. 
Im XVIII. Jahrhundert gab es sehr luxuriös ausgestaltete Bürsten, 
kunstgewerbliche Meisterstücke. Sie waren mit Lacküberzug, 
mit Goldfäden, Malereien und Inschriften versehen. Es gibt 
auch Fangbechersammlungen; ein Sammler in Bordeaux besitzt 
etwa hundert Fangbecher aus Holz und Elfenbein, die aus drei 
Jahrhunderten stammen und höchst originelle Verzierungen auf- 
weisen. Man weiß auch von mehr als einer Strumpf- und 
Strumpfbandsammlung: auf der halbverblichenen Seide mancher 
dieser Bänder stehen gar sehr gewagte Verse und Devisen... 

Herr von Watteville besaß eine äußerst reichhaltige Pfeifen- 
sammlung. Er führte den Vorsitz in zahlreichen wissenschaft- 
lichen Vereinen und die Forscher, die in die Welt hinauszogen, 
ließen sich angelegen sein, ihm von ihren Reisen merkwürdige 
Pfeifen mitzubringen. Er pflegte lachend zu sagen, daß man 
nur bei ihm noch die echte Friedenspfeife rauchen könne, da 
die Indianer sich jetzt nur ganz gewöhnlicher Tonpfeifen be- 
dienen; — auch ein Fortschritt der Zivilisation! 

Baron Perignon sammelte Rockknöpfe lange vor dem Ent- 
stehen des bekannten Prager Knopfmuseums, Francois Carnoth 

23 


344 Pachinger: Strumpf und Strumpfband 


alte Bleisoldaten aller Zeiten und Länder. Er bekam einen 
sehr tüchtigen Konkurrenten in Herrn d’Allemagne, der sich 
eine Sammlung von altem Spielzeug anlegte und der mit den 
kleinen Soldaten, die er besitzt, ganze Schlachten schlagen könnte. 

Der erste, welcher Schlüssel sammelte, war ein Maler, 
Le secqu. des Tournelles. Er hatte hunderte von Schlüsseln aus 
allen Epochen, von den plumpen und massiven Stadttorschlüsseln 
der alten Zeit bis zu den ganz kleinen, ziselierten Schlüsselchen, 
die wahrscheinlich die Pforte des Glückes öffneten. Unter seinen 
Schlüsseln befand sich auch einer, der aus der Werkstatt Louis 
XVI. hervorgegangen war. Wie wir wissen, war dieser arme 
König ein vorzüglicher Schlosser, wie sein Vorgänger Louis XV. 
ein ausgezeichneter Buchbinder war. Ein Herr Derriard hatte 
höchst merkwürdige Autographen gesammelt: Briefe von Mördern. 
Man mußte schon ein sehr anständiges Verbrechen begangen 
haben, wenn man in seine Sammlung gelangen wollte. Derriard 
besaß auch einen Brief, den der Massenmörder Troppmann aus 
seiner Zelle heraus an den Untersuchungsrichter schrieb, um 
ihm mitzuteilen, wo er das seinen Opfern geraubte Geld ver- 
steckt habe; er besaß ferner einen Brief, in welchem der Gift- 
mischer Dr. La Pommerais kurze Zeit vor Begehen seiner Ver- 
brechen Ansprüche auf einen Orden geltend machte. Zu den 
merkwürdigen Sammlungen gehört auch eine Schädelsammlung, 
die Herr Le Barbier de Tinan besaß. Diese Sammlung war 
jedoch nicht so unheimlich, wie es scheinen mochte, denn es 
handelte sich nur um künstliche Schädel aus Holz, Elfenbein, 
Eisen, Porzellan, Gold und Silber. In der Kunst, solche Schädel 
zu formen, zeichnen sich besonders die Japaner aus. Der vor 
ein paar Jahren verstorbene Pfarrer Liebe sammelte sein Leben 
lang Edelsteine. Er hinterließ eine große derartige Sammlung, 
die anfänglich für ungemein wertvoll gehalten wurde, bis Fach- 
leute erklärten, daß es sich bloß um gute Kopien in geschliffenem, 
farbigem Glas handelte; diesem Sammler bereiteten seine farben- 
prächtigen, geschliffenen Glasstücke gewiß dieselbe Freude, wie 
den reichen Fürsten die Schätze seiner Raritätenkammer. 

Eine bekannte Newyorker Millionärs-Gattin sammelte mit 
Leidenschaft — Strumpfbänder berühmter und vornehmer 
Frauen. Hohe Summen wurden bezahlt, um diese mindestens 
originelle Kollektion ständig zu vermehren. Die Amerikanerin 
hat ein großes Zimmer ihrer Wohnung diesem Sporte eingeräumt. 


Pachinger: Strumpf und Strumpfband 345 


Hier finden sich die einzelnen Exemplare fein säuberlich auf 
samtnen Kissen in gläsernen Vitrinen aufbewahrt. Man erblickt 
zum Beispiel ein Strumpfband der verstorbenen Kaiserin Elisabeth 
von Österreich, das diese eines Tages am Strande eines eng- 
lischen Seebades verloren haben soll, neben dem der jugend- 
lichen Prinzessin (Gustav Adolf von Schweden, das auf dem 
nicht ganz lauteren Wege der Dienstbotenbestechung in den 
Besitz der amerikanischen Lady gelangt sein soll. Auf ähnliche 
Weise kamen wohl auch die der Königin Wilhelmina von 
Holland und der Königin-Witwe Margarita von Italien hieher, 
doch zeichnen sich beide Bänder nicht in besonderer Weise 
aus. Sehr beliebt scheint es, wie man bei dieser Gelegenheit 
erfährt, bei manchen Damen der großen Welt, dies intime 
Toilettenstück mit einem Spruche zu versehen. So enthält die 
Sammlung das Strumpfband der schönen, morganatischen Ge- 
mahlin eines immer noch aus seiner Heimat verbannten russischen 
Großfürsten, das auf seidenem Untergrunde eine mit Silberfäden 
gestickte Devise zeigt. Ein anderes, das die unglückliche 
Königin Draga von Serbien in ihren letzten Lebenstagen getragen 
haben soll, zeigt ein volkstümliches serbisches Motto. Mit den 
Strumpfbandversen werden wir uns im Folgenden noch ein- 
gehend beschäftigen. Aber alle aus dem höchsten Gesellschafts- 
niveau stammenden Bänder nehmen sich höchst unscheinbar 
aus neben denen einiger berühmter Koryphäen aus dem Reiche 
der Tanzkunst. Hierzu gehört ein Strumpfband, das einst ein 
Prinz aus regierendem Hause der bekannten spanischen Tänzerin 
Otero verehrt haben soll, und das einer ihrer Pariser Rivalinnen, 
beide reich mit Gold und Edelsteinen verziert, aber wenn auch 
kostbarer, so doch nicht so geschmackvoll wie das, welches 
einst der unvergeßlichen Maria Taglioni gehörte und, aus 
schwerem Golde gearbeitet, in gefälliger Zeichnung die Form 
einer gewundenen Schlange zeigt, deren Augen durch ein Paar 
prächtig leuchtende Rubine gebildet sind. Eine Gerichtsver- 
handlung wegen ein paar mit Diamanten besetzten Strumpf- 
bändern, die in einem Städtchen des Staates New-York spielte 
und im letzten Vorkriegsjahre viel Heiterkeit erregte, hat sich 
folgendermaßen zugetragen: Miß A. D., eine bekannte Schau- 
spielerin war von ihrer Schneiderin in Boston auf Bezahlung 
von 500 Dollar verklagt worden. Die Diva räumte unumwunden 


ein, diese Summe zu schulden, könne aber im Augenblick nicht 
23* 


346 Pachinger: Strumpf und Strumpfband 


bezahlen, weil sie von ihrem Direktor die Gage noch nicht be- 
kommen habe. Der Anwalt der klagenden Schneiderfirma 
griff aber in die Verhandlung ein und erklärte, er werde Pfän- 
dung der Beklagten beantragen. Sie habe pfändbare Gegen- 
stände im Besitz, nämlich diamantbesetzte Strumpfbänder, die 
einen Wert von 1170, in Buchstaben: elfhundert und siebzig 
Dollar — hätten. Der Verteidiger der Schauspielerin ging darüber 
hinweg, und fragte nur, woher sein Gegner diese Kenntnis habe. 
Er bestritt den Tatbestand durchaus nicht, meinte aber, dort wo 
die Verklagte ihre Strumpfbänder zu tragen pflege, seien sie 
außerhalb des Bereiches der Gerichtsbarkeit, damit war die 
Frage der Pfändbarkeit auf ein anderes Gebiet hinübergespielt. 
Das Gericht entschied daher: die juwelengeschmückten Strumpf- 
bänder im Werte von 1170 Dollar dürften nicht gepfändet 
werden, solange sie da getragen würden, wo sie außerhalb des 
Machtbereiches des Gerichtes seien. Und dabei blieb es. 

Die Geschichte des Strumpfes ist noch nicht geschrieben. 
In einem St. Gallener Manuskript aus dem Jahre 832 findet sich 
eine Bemerkung, daß für ein paar Strümpfe acht Denare gezahlt 
wurden. Freilich dürfen wir dabei nicht an einen Strumpf in 
unserem Sinne denken. Es wird sich jedenfalls um Männer- 
strümpfe handeln, die hier erwähnt sind. Wir finden auf den 
Abbildungen des Mittelalters bei den Damen lange Kleider, die 
das Bein fast bis zur Schuhspitze verhüllten, denn es galt in 
vornehmen Kreisen als unanständig, die unbekleideten Beine zu 
zeigen. Wie man aus Zeichnungen des XII. und XIII. Jahr- 
hunderts ersieht, trugen nur die Bauernmädchen damals kurze 
Kleider. Sie tanzten in schwerfälligen Holz- oder Lederschuhen 
mit bloßen Beinen. Um die Mitte des XV. Jahrhunderts scheint 
der Wadenstrumpf in Gebrauch gekommen zu sein. Seine Er- 
findung mußte damals sensationell gewirkt haben. Die Königin 
Maria von Ungarn, eine Schwester Karl V., hatte ein eigenes 
Fest zu Ehren des Strumpfes gefeiert. In einem allegorischen 
Festspiele, das diese Entdeckung verherrlichte, trat sie mit ihren 
Hofdamen auf. Der Strumpf wirkte schnell und revolutionär 
auf die Kleidermode der Damen. Die Gewänder wurden 
kürzer, der wallende Stoffüberfluß, der bis dahin die Beine und 
Füße der Frauen verbarg, verschwand; die Damen konnten den 
Fuß freigeben, weil sie die Beine bekleiden konnten. Diese 
Entwicklung muß rapid gewesen sein, denn wir finden bald in 


348 Pachinger: Strumpf und Strumpfband 


schließlich zum Gebrauch für Frauen bestimmt. Daher begnügte 
man sich nicht mit einfachen Seidenbändern und Schleifen, 
sondern faßte die Bänder sogar mit Juwelen ein und hielt sie 
mit Edelsteinschlössern zusammen. Als Zeichen besonderer 
Zärtlichkeit galt es, wenn ein Miniaturbildnis oder wenigstens 
die Silhouette des Gatten oder Liebhabers auf dem Strumpfband- 





Abb. 1. Augsburger Modekupfer von M. Will (18. Jh.) 
Strumpf wird mit breitem Band befestigt. (Sig. Pachinger, Linz). 


schloß prangte. Durfte man das Bildnis nicht offen und ehr- 
lich tragen, so ließ man es in einem Medaillon mit Geheim- 
schloß anbringen und die Juweliere jener Zeit hatten gute Tage, 
da die Aufträge auf Medaillons mit Geheimschlössern nicht 
gerade selten einliefen. 

Amaranthes (G. W. Corvinus) beschäftigt sich in seinem 
berühmten, in Leipzig 1719 erschienenen „Nutzbaren, galanten 
und kuriösen Frauenzimmer-Lexikon“ auch mit den Strümpfen. 


Pachinger: Strumpf und Strumpfband 349 


„Die Strümpfe“ — sagt der biedere alte Forscher — „seynd 
ein Überzug der Füsse, von Wolle, Zwirn, Garn, Seide, Bieber- 
Haaren oder Castor und Baumwolle gewebet, gewalcket, genehet 
oder gestricket, manchmal mit Gold oder silbernen Zwickeln 


Abb. 2. Strumpf und Strumpfband am Ende des 18. Jh. 





gezieret; zu Sommerszeit träget das Frauenzimmer auch der- 
gleichen von Leder, wider den Mückenstich.“ Auch des Strumpf- 
bandes wird ausführlich erwähnt, und zwar „ist es ein gewircktes 
oder von Damast zusammen genähtes Band, womit sich das 
Frauenzimmer die Strümpffe unter dem Knien hinaufzubinden 


350 Pachinger: Strumpf und Strumpfband 


pflege. Einige bedienen sich auch der Knie-Tressen mit 
Schnällchen. Etliche Potentaten haben den Gebrauch, daß, ehe 
sie ihre Braut zu Bette führen, sie selbiger zuvor durch einen 
von ihren Ministern das eine Strumpffband in der Brautkammer 
ablösen lassen, wiewol es auch die Adel-Bräute an etlichen 
Orten also halten.“ Corvinus teilt aber auch mit, wie die 
zerrissenen Strümpfe zu reparieren sind. „Strümpffe besohlen 
oder besetzen heißet dem Weibsvolk die unten her zerrissenen 
Strümpfe durch eine nach dem Fuß aus Parchet oder Leinwand 
geschnittene Sohle und Kappe wiederum ersetzen und ganz 
machen.“ 

Nicht uninteressant ist die Erwähnung des ‚Strumpfbandes 
bei J. J. Casanova, dem berühmten Abenteurer und Lebens- 
künstler. Wir lesen Bd. 6, c. 8 „Fortschritt meiner Liebschaft 
mit der schönen C. C.“ folgendes: „Aber, mein Freund, erkläre 
mir die Worte, die auf die Strumpfbänder gestickt sind.“ (Sie) 

„Sind Worte darauf? das wußte ich nicht.“ (Er) 

„Ja es ist französisch, mache mir das Vergnügen und lies 
es mir vor.“ Hier die beiden Verse, die ich hätte lesen sollen, 
ehe ich ihr das Geschenk machte. 

„Ihr, die ihr täglich den Schmuck meiner Schönen erblickt — 

Sagt ihr, daß Liebe allein sie beglückt.“ 

Diese Verse, die ohne Zweifel sehr frei waren, schienen mir 
treffend, komisch und geistreich zu sein. Ich lachte laut und 
mein Lachen verdoppelte sich, als ich ihr die Verse übersetzen 
mußte, um sie zufrieden zu stellen; da der Begriff für sie neu 
war, mußte ich ihr denselben verdeutlichen und das setzte uns 
ganz in Feuer. 

„Ich werde jetzt nicht mehr wagen, meine Strumpfbänder 
irgend jemand zu zeigen“ — sagte sie — „und das tut mir 
leid.“ 

Ich hatte ein nachdenkliches Wesen angenommen und sie 
fragte: 

„Sag mir, woran denkst du?“ 

„Ich denke daran, daß diese glücklichen Strumpfbänder 
ein Vorrecht genießen, welches mir vielleicht nie zu Teil wird. 
Wie gerne möchte ich an ihrer Stelle sein!“ 

In Prosa und Dichtung ist von kostbar gestickten, mit 
Edelsteinen verzierten Strumpfbändern die Rede. Der Franzose 
kennt mehrere Charaden und Rätsel, die sehr pikant scheinen, 


Pachinger: Strumpf und Strumpfband 351 


deren einfache Lösung aber das Wort „Strumpfband“ ist. 
Maler und Kupferstecher aller Zeiten verherrlichen auf galanten 
Bildern diesen vielsagenden Toilettegegenstand und in des 
Hofrates Moritz August von Thümmel bekanntem Roman „Reise 





Abb. 3. „Am häuslichen Herd“. Strumpf und Strumpfband um 1800. 


durch die mittägigen Provinzen von Frankreich“ spielt auch 
das Strumpfband Marias eine wichtige Rolle. 

Seinen höchsten Luxus entfaltete der Strumpf in Frankreich 
und England zur Zeit Louis XV. und während der Revolutions- 
epoche (um 1795) boten sich die weiblichen Strümpfe-in den 
grellsten Farben und überladen mit Stickereien in den ver- 
schiedensten Mustern den Blicken ziemlich aufdringlich dar. 
Unter dem Kaiserreich zeigten sie freilich etwas mehr Zurück- 
haltung, aber an luxuriöser Ausstattung standen sie denen des 
alten Regimes wenig oder gar nicht nach. Die erste Gemahlin 
Napoleons ließ ihrer Putzsucht auch in diesem Artikel frei die 


352 Pachinger: Strumpf und Strumpfband 


Zügel schießen. Sie besaß 108 weißseidene, mit ihrem Namens- 
zuge und teils auch mit Spitzen geschmückte Strümpfe, für die 
sie 18 bis 72 Francs das Paar bezahlte, wohl in noch größerer 
Zahl blauseidene, die sie bevorzugte; außerdem 32 Paar rosa- 
farbene und 18 Paar anders gefärbte. Auch Maria Louise, 
Napoleons zweite Gemahlin, die sonst keinen übermäßigen 





Abb. 4. Strumpfband zum Binden. (Radierung v. Gillray, 1791.) 


Toiletteluxus trieb, glaubte sich ohne die feinsten, kunstvoll 
verzierten Strümpfe nicht behelfen zu können. Ihre höchsten 
Triumphe aber feierten die „Bas“ in Frankreich um das Jahr 
1839, als die Mode der kurzen Kleider ihnen gewissermaßen 
einen freien Ausblick gewährte. 

Die weißen Damenstrümpfe blieben bis zum Ende des zweiten 
Kaiserreiches vorherrschend. Erst in den letzten Jahrzehnten 


Pachinger: Strumpf und Strumpfband 353 


des vorigen Jahrhunderts gewannen die schwarzen den Vorzug 
und haben bisher allen Anstürmen, die darauf gerichtet waren, 
sie zu entthronen, fast in allen Ländern siegreich stand gehalten. 
In unserer Zeit überbieten die Frauen und Töchter amerika- 
nischer Multimillionäre und die „neuen Reichen“ in Deutschland 
selbst die extravagantesten Pariserinnen. Hugues le Roux er- 
zählt in seinem Buche: „Die Liebe in den Vereinigten Staaten“, 











Abb. 5. Rolle der Weiber beim Boxermatch (v. Thomas Rowlandson 1811). 
Zeigt das zur Schleife gebundene Strumpfband. 


einer der größten Strumpffabrikanten Amerikas habe ihm ver- 
raten, seine Kundinnen gäben bereitwillig hundert Franken für 
ein paar Strümpfe ohne Stickereien. Der Preis gehe nicht un- 
erheblich in die Höhe, wenn echter Spitzenbesatz hinzukäme. 
Das war natürlich noch im tiefsten Frieden. 

Um nun wieder auf unsere Strumpfbänder zurückzukommen, 
wäre zu erwähnen, daB im XVIII. Jahrhundert für diesen 
Toilettegegenstand farbenprächtige Bänder, Stickereien auf Gold- 
und Silberbrokat, Seide und Atlas bevorzugt wurden. Als Ver- 
zierung herrschte neben dem Ornamente der Buchstabe vor, 
der sich zu Monogrammen, Worten, Versen und selbst ganzen 
Dichtungen gestaltete. 


354 Pachinger: Strumpf und Strumpfband 


Die Bänder, ursprünglich zum Binden eingerichtet (Abb. 1, 
2,3,4), werden jetzt schon zum Teil mittels Metallschnallen 
geschlossen (siehe Tafel I). Natürlich wird bei der Herstellung 
dieser Schließen wieder viel Luxus verwendet. Bei Bändern, 
die nicht zu Maschen gebunden wurden (Abb. 5), verwendet 


м 
‹ 
> 

22 


7 PN 
* 
ШАЛ 


# 
1 


у" 


„Де 
р 
Are 

уб = 


e 





Abb. 6. Strumpfband mit Aufschrift 
„Hony soit qui mal y pense“ (= Schmach über den, der Übles denkt). 

man, um sie elastisch zu machen, feine Spiralfedern aus Metall- 
draht. In der Rokokozeit finden sich Männerstrumpfbänder, 
die denen der Damen an Kostbarkeit der Ausführung und des 
Materiales nicht nachstehen (Tafel III). 

Aus der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert sind uns 
viele mit Bild und Vers sinnig verzierte Braut- und Gebrauchs- 
Strumpfbänder erhalten, die mit Kunst und Witz geschmückt sind. 


Pachinger: Strumpf und Strumpfband 355 





In dieser Zeit blüht die Poesie nicht nur in freundschafts- 
seligen Stammbuchversen, nein, auch an den Strumpfbändern, 
an den Beinen schöner Frauen, rankt sie sich in zarten Blüten 
empor (Tafel I). 

Stickerei, Pinsel und Druckerschwärze kommen zur An- 
wendung, um Linien und Buchstaben, Liebesgötter, Blumen und 
empfindungsvolle Reimereien auf dem knisternd-bunten Zeuge 
zu verewigen. 

Anfänglich überwiegt dabei auch im deutschen Lande die 
Auslandskultur. Die Devisen und Verse sind in französischer 
Sprache abgefaßt. Die Poesien behandeln — häufig mit einem 
leicht erotischen Beigeschmack (Abb. 6) — immer Liebe, Frauen 





Abb. 7 Anlegen des Strumpfbandes aus A. M. Thümmels „Reise durch die mittägigen 
Provinzen Frankreichs. (Stich um 1790, Sig. Pachinger). 


356 Pachinger: Strumpf und Strumpfband 


und sachgemäß das Knie der betreffenden Dame, der man die 
Paradestrumpfbänder verehrte. Immer drücken die dargebrachten 
Verse eine Huldigung, in vielen Fällen Segenswünsche für eine 
junge Ehe aus. 

Wie schon früher erwähnt, spielt das Brautstrumpfband in 


*`пәмәп}3$014 ләцәгд\ з3әшә Japupgqgdunng 'g 'qqV 





hohen Gesellschaftskreisen heute noch eine gewisse Rolle. Am 
preußischen Hofe wurde nach einem feststehendem Zeremoniell 
während des Hochzeitstanzes der jungen Frau das Strumpfband 
geraubt, das dann zerschnitten und an die Gäste des Hauses 
als Erinnerung an das Fest verteilt wurde. 


Pachinger: Strumpf und Strumpfband 357 


Die französische Hofchronik erzählt, daß Kaiser Joseph II. 
bei seinem Besuch in Paris auch die Gräfin Dubarry, die letzte 
Staatsmaitresse Louis XV., aufsuchte. Während des Gespräches 
entfiel der sehr beweglichen Französin eines ihrer Strumpfbänder. 
Schnell bückte sich der galante Monarch, hob es auf und 
überreichte es der schönen Gräfin mit den Worten: „Es ist 
nicht unter der Würde eines Kaisers, den Grazien zu dienen.“ — 
Selbstverständlich war das Anlegen und Öffnen des Strumpf- 
bandes eine besondere von den Damen verliehene Gunst (Abb. 7 
und Tafel III). 

Mohammed sagt in Bezug auf die Strumpfbänder, wohl 
zum Hinweis auf Jesaias c. 3, 16—24: „Die Frauen sollen die 
Schmuckbänder an den Knien nicht zeigen.“ Unter diesen 
Schmuckbändern sind meines Erachtens keine Strumpfbänder in 
unserem landesüblichen Sinne, sondern schimmernde Spangen 
und klirrende Fußkettchen zu verstehen. 

Die griechische Sprache unterscheidet schon das eigentliche 
„Strumpf“band, das unterhalb des Knies getragen wurde. 
ö yovarodeouos (Gonatodesmos) oder Unoyovdrıos desuös (Hypo- 
gonatios desmos) von dem Schenkelband: т0 лергсх оу (Регіѕ- 
kelion). 

In England gelangt das Strumpfband schon in früher Zeit 
auf einen hohen Rang, zur Staatswürde, durch Gründung des 
sogenannten Hosenbandordens, den Eduard III. im Jahre 1350 
gestiftet hat. Die Sage erzählt, daß bei einem Feste während 
des Tanzes die Maitresse des Königs, die schöne Gräfin Salis- 
bury ihr blaues Strumpfband verlor. Der galante Monarch 
bückte sich und, indem er es aufhob, zog er das seidene Ge- 
wand seiner Dame in die Höhe. Die umstehenden Hofleute 
lächelten, die Gräfin wurde böse und der König hob das blaue 
Band in die Höhe und knüpfte es sich mit den historischen 
Worten: „Honny soit, qui mal y pense“ unter das linke Knie. 

kg Häufig scheint man in Frankreich und auch in Wien auf 
jedem Bein zu langen Strümpfen zwei Strumpfbänder getragen 
zu haben und zwar unter dem Knie ein zu einer Masche ge- 
knüpftes Seidenband, über dem Knie ein elastisches Band mit 
Schließe. Eine ganze Reihe galanter Photographien aus Wien 
und Paris aus den 50er und 60er Jahren des vorigen Jahr- 
hunderts zeigen bei den Damen, die ihre Beine enthüllen, diese 
beiden Arten der Strumpfbefestigung. Wir bringen (im Aus- 


358 Pachinger: Strumpf und Strumpfband 


schnitt) auch ein derartiges Lichtbild, das um die Mitte der 60er 
Jahre zu setzen sein dürfte. Die Trägerin hat handgestrickte 
Strümpfe mit breiter Durchbruch-Randbordüre. Hinter den 
Beinen ist die Krinoline sichtbar und zwar eine französische 
Krinoline mit in Netzwerk eingesetztem Fischbeinreifen (Abb. 8). 

Um alle Arten des Strumpfbandes aufzuzählen, müssen wir 
endlich auch noch das Strafstrumpfband erwähnen, den traurigen 
Rest mittelalterlicher Tortur. Dieses Instrument besteht aus 
einem feinmaschigen Drahtgeflecht von zwei Zentimeter Breite, 
dessen ganze innere Fläche mehrreihig mit kleinen Eisenspitzen 
bedeckt ist, die besonders beim Knien, der Trägerin sich in 
sehr schmerzhafter Weise fühlbar gemacht haben dürften. Diese 
Strafstrumpfbänder waren ihrer Konstruktion nach in gleicher 
Weise wie die sogenannten Klosterbußgürtel geflochten, die 
noch im XVII. Jahrhundert reuige Sünder und schöne 
Sünderinnen eine bestimmte Zeitlang am bloßen Leibe um die 
Taille tragen mußten. In meiner Sammlung besitze ich von 
den Drahtstrumpfbändern und diesen Bußgürteln je zwei 
Exemplare. 

Zu dieser erbaulichen Abhandlung hat mich eine in Linz a.D. 
befindliche Sammlung von Strumpfbändern veranlaßt und es 
drängt sich mir das Bedauern auf, daß man die einzelnen er- 
wähnenswerten Stücke dieser galanten Kollektion nur mit 
Worten beschreiben und nicht dem Leser in ihrer bunten 
glitzernden Farbenpracht, den eigenen Zauber der alten Atlas-, 
Seiden- und Samtbänder, die im Laufe der Zeit verblaßt und 
harmonisch matt gestimmt sind, vor Augen führen kann. Diese 
Sammlung von eigenem Reiz weist fast einhundert Paare der- 
artiger Bänder und Verschlüsse auf, von denen wir vor allem 
diejenigen, welche Verse zeigen, ins Auge fassen wollen. 

Wir finden hier durch einen Zeitraum von ca. 150 Jahren 
alle Typen der Binde- und Schließenbänder vertreten. 

Ein paar weiße Atlasbänder, weich gefüttert und mit Gold- 
fäden und bunter Seide bestickt, zeigen von wellenförmigen 
Ornamenten eingefaßt, den Spruch: 

„Wo Tugend und Verstand mit reiner Liebe wohnet“ — 
am zweiten Bande: „Die wird durch Himmels Hand mit gleichem 
Wert belohnet.“ 

Die Mitte jedes Bandes ziert ein Herz, dessen Fläche ein- 
mal in Goldstickerei das Monogramm C. D. C., das andere Mal 


Lady Hamilton. (Detail eines großen Kupferstichs von Gillray.) 
Strumpfband als einfaches Band. 
(Zu Pachinger: Strumpf und Strumpfband.) 


Tafel II 





Tafel II 





Der Raub des Strumpfbandes. 
Englisches Schabkunstblatt von Brilly um 1790. Sig. Pachinger, Linz. 


(Zu Pachinger: Strumpf und Strumpfband.) 


Pachinger: Strumpf und Strumpfband 359 


die Jahreszahl 1747 füllt. Aus derselben Zeit stammt ein 
anderes Paar mit dem wieder auf beide Bänder verteilten 
Spruche: 

„Aller Segen, den der Himmel hat, 

Soll dein edles Herz erfreuen.“ 

Diese beiden Schriftzeilen sind umgeben von einem in 
zarten Farben gestickten Kranze, der aus Rosen und Vergiß- 
meinnicht geflochten ist. Ein paar andere Strumpfgürtel aus 
der Mitte des XVII. Jahrhunderts tragen in Webetechnik den 
schönen Spruch: 

„Conservant ton estime sera toujour content. 
Ton plus fidel ami toi töffre ce present.“ 

Zu deutsch: 

„Dein treuer Freund wird immer zufrieden sein, wenn er sich 
durch dieses Geschenk deine Achtung bewahrt.“ 

Ein paar verblaßte, gelbliche Seidenbänder mit Atlas- 
polsterung — richtige Oberkniegürtel — reich mit bunter Seiden- 
flachstickerei verziert, tragen nebst dem Monogramm E. v. K. 
die Sprüche: 

„La gloir est la recompence de la vertu. 
Au bessoire on connoit lami.“ 

Zu deutsch: 

„Der Ruhm ist Lohn für die Tugend.“ „In der Not erkennt 
man den Freund.“ 

Ein paar rosafarbene brokatseidene Binde-Strumpfbänder 
vom Jahre 1750 tragen den sinnigen Spruch: 

„Wo wir binden, wo wir glänzen, 
Sind Ulricis Landesgrenzen.“ 
Jedenfalls hieß der schüchterne Bräutigam oder Liebhaber Ulrich. 

Noch weniger harmlos sind schon die Worte, die sich auf 
einem purpursamtenen Beingürtel in feiner Goldstickerei vor- 
finden: 

„Les filles traitables 
Sont les plus aimables. 

Zu deutsch: 

„Die nachgiebigsten Mädchen sind die liebenswürdigsten.“ 

Zwei lange, seidenbordenartig gewebte Strumpfbänder von 
goldbrauner Farbe aus dem Nachlaß der bekannten 1830 ver- 


storbenen Wiener Sängerin Therese Krones stammend, tragen 
24 


360 Pachinger: Strumpf und Strumpfband 


in gelber Seidenstickerei die begehrlichen Worte: „Un peu — 
Plus haut!“ 

Dem ХУШ. Jahrhundert gehören auch noch die beiden 
langbändigen spanischen Strumpfbänder an, die in einem blauen 
Mittelstreifen, von weißen, silberfadendurchwirkten Bordüren 
gesäumt, in Webetechnik den Spruch tragen: 

„No puede y con razon — 
Des cansar mi corazon.“ 

Zu deutsch: 

„Ich kann nicht und mit Grund 
Mein Herz ermüden.“ 

Zwischen zierlich gewebten Rosengirlanden lesen wir auf 

zwei blaßgelben Bändern die Worte: 
„Dein weißes Knie 
Vergeß ich nie.“ 

Auf zwei rotseidenen Bändern mit Metallschließen finden 
sich in dem weißen Mittelstücke folgende volkstümliche Verse: 
„Kommt dir gleich einer, 

Ist schöner als ich, 
Herzchen, mein Schätzchen, 
Gedenke an mich.“ 


„Herzchen, mein Schätzchen, 
Bist tausendmal mein. 
Laß dir kein’ andern 
Nicht herzlieber sein“ (s. Tfl. 1). 
Auf hellgrünem Atlas von Kupferdruck-Verzierung: Stab, Blumen, 
Kränze und Amor mit Blumenvase, finden sich auf zwei 
Schließenstrumpfbändern folgende eigentümlich anmutende Verse: 
„In stillen, ungestörten Freuden 
Durchwandle deine Lebensbahn: 
Ein Engel mild’re deine Leiden 
Und ordne deines Daseyns Plan.“ 


„Schön, wie die ersten Frühlingskränze, 
Die uns des Zephyrs Athem gab, 
Sanft wie die Abendröthe glänze 
Dein Nachruhm um dein spätes Grab.“ 
Endlich wären noch die lithauischen Frauenstrumpfbänder 
aus der Mitte des XVII. Jahrhunderts zu erwähnen, zweifinger- 
breite, aus starker Seide gewebte, je (ix Meter lange Bänder 


Pachinger: Strumpf und Strumpfband 361 


in den lithauischen Farben, deren Enden in Fransen verlaufen. 
Auf beiden Bändern läuft eingewebt ins Band der Wunsch: 
„Aus Freundes Hand“ — „Ein lithauisch Band.“ Diese volks- 
tümlichen Webereien dienten als Geschenke, welche von 
lithauischen Studenten, die zu Anfang des XIX. Jahrhunderts 
eigene landsmännische Verbindungen in Süddeutschland ge- 
gründet hatten, aus der Heimat mitgebracht und ihren Freun- 
dinnen in den Universitätsstädtchen verehrt wurden. 

Diese langen, breiten Bänder wurden jedenfalls oberhalb 
des Knies gebunden und in schöne Maschen geschlungen und 
sind vielleicht die letzten Ausläufer der um die Mitte йез ХУШ. 
Jahrhunderts sehr gebräuchlichen „Schenkelstrumpfgürtel* zu 
betrachten. 

Und zwei weißsamtene, mit Blumen bemalte, breite Knie- 
gürtel aus dem Ende des XVIll. Jahrhunderts drücken den 
frommen Wunsch aus: 

„So oft dich diese Schleife drückt“ — „So denk an mich.“ 

Aus der gleichen Zeit stammen zwei hellblaue Moir&bänder, 
deren jedes zwei Verszeilen trägt: 

„Ein Seidenbändchen blau dem elfenschlanken Bein. 

O! wäre ich dein Mann. O! wärst du doch schon mein.“ 

Von zwei Paar weißen Atlasbändern (Zeit um 1800) trägt 
das eine die Widmung: 

„In stetem Wohlergehen 
Dein Eh’stand soll bestehen.“ 


während das andere auch in Pinselschrift den Wunsch zum 
Ausdruck bringt: 

„Nichts mache bis an’s späte Ziel 

Des Ehestands Freuden trübe.“ 


In der Empirezeit werden die Verse auf den Seidenbändern 
länger, die Ausschmückung aber minderwertiger. An Stelle 
der mühevollen Stickereien und Applikationsarbeiten, schillernder 
Metallfäden, Flinserln und Plättchen, tritt der Buchdruck auf und 
wie bei Wunschkarten aus dieser Zeit, werden Einrahmungen 
und Bordüren im Kupferstich aufgepreßt. 

In der vorliegenden Sammlung finden sich an solchen 
Bändern (aus der Zeit von 1800—1830) noch zahlreiche, mit 
Versen und Bordüren, Amoretten und Allegorien reich ge- 


schmückte hellblaue, rosenfarbene und weiße, größtenteils schon 
‚24* 


362 Pachinger: Strumpf und Strumpfband 


mit Schließen (nicht mehr mit Bindebändern) in zierlicher Form 
versehene Strumpfbänder vor. 

Einige der originellsten Gedichte, die für diese gefühlvolle 
Zeit charakteristisch sind, möchte ich noch im Wortlaute an- 
führen. 

Das weiße Band von zwei rotseidenen, mit vergoldeten 
Schließen gezierten Kniegürteln trägt von 1—4 numeriert, 
folgendes Gedicht: 

„Wenn erwacht von süßem Schlummer 
Dir Aurora lächelt früh, 

O! so binde ohne Kummer 

Dieses Bändchen um dein Knie.“ 

„Sinkt die Sonne abends wieder 

Nach vollbrachtem Tageslauf, 

Löse, Liebe, sie dann wieder 

Mit Erinn’rung an mich auf.“ 

„Möchte dieses Bändchen an den Füßen 
Jeden Schritt des Lebens dir versüßen. 
Mächt gleich wie des Frühlings Blütenhain, 
Heiterkeit und Scherz dein Leben sein.“ 


„Heiter stets und immer freudenhelle 
Soll dir jeder Lebenstag entflieh’n. 

Dann wird, wie die Blüten an der Quelle 
Schöner deines Daseins Stern erglüh’n.“ 

Zwei Strumpfbänder aus blauem Atlas mit Ornamenten, 
Blumen und Amoretten reich verziert, mit Silberschließen zum 
Befestigen, tragen folgenden frommen Wunsch: 

„Binde dieses Bändchen 

Alle Morgen früh 

Mit deinem schönen Händchen 
Um dein rundes Knie.“ 


„Kommt der Abend wieder 
Nach der Sonne Lauf, 
Binde dieses Bändchen 
Mit Vergnügen auf.“ 

Wenn wir im Vorigen Widmungen im allgemeinen Sinne 
vor uns hatten, so folgen vier Paar Bänder mit Gedichten zu 
ganz bestimmter Gelegenheit. Vorerst zwei Geburtstagswid- 
mungen: 


Pachinger: Strumpf und Strumpfband 363 


Auf glattem, rosafarbenem Atlasband in Kupferstichverzierung 
die Verse: Zum Geburtsfeste 1830. 
Friederike! 
„Teure Freundin, an dem frohen Tage 
Der sich heute festlich Ihnen ’neut, 
Sey mit doppelt raschem Herzensschlage 
Hier mein süßer Seelenwunsch geweiht.“ 


„Freudelächelnd im Verklärungsglanze 

Und der Liebe süßes Hochgefühl, 

Die Gesundheit mit dem Nelkenkranze, 

Und der munt’re Scherz im leichten Tanze 

Leite Sie bis an Ihr spätes Ziel!“ М. В. 

Ein anderes Paar, rosaseidene mit langen Bindebändern, 

grüner Randeinfassung und dito Atlasfutter trägt in der Mitte 
die Widmung: „Meiner Freundin Nanette Högl“ — „Zum 
Geburtsfeste gewidmet von J. B. Stanger.“ 

„Nimm hin das Bändchen als ein Zeichen 

Der Achtung und Verbindlichkeit. 

Noch oft sollst du den Tag erreichen, 

Der heute mich und Dich erfreut.“ 


„Von Freuden, die mein Herz entzücken, 
Sey jede deiner Stunden voll. 

Mit Wonnestrahl aus deinen Blicken 
Zufriedenheit und inn’res Wohl.“ 


Zwei Bänder aus rosafarbener Seide in gleichfarbiger Ein- 
fassung mit weißem Atlas weich gefüttert und mit langen rosa 
Seidenbändern zum Befestigen, tragen in der Mitte in einem 
klassizierenden Kupferdruckrahmen die Widmung: „Zum An- 
denken meiner Freundin Minna Veith“ — „Gewidmet von 
С. Zernack. Merseburg im Jahre 1839.“ 

„Geliebtes Mienchen, diese Bänder 
Sind Dir geweiht als Unterpfänder 
Der Freundschaft, Treu und Liebe 
Aus reinem Herzens-Triebe.“ 


„Umwinde fröhlich deine Knie 
Mit diesen Bändern und es blüh’ 
Gleich Rosen Deine Lebenszeit 
In Wonne und in Fröhlichkeit.“ 


364 Pachinger: Strumpf und Strumpfband 


(Am 2. Bändchen:) 


„Blumen, in Kränze gewunden, 
Sieht man in wenigen Stunden 
Welken, sterben und traurig verblüh’n.“ — 


„Doch in dem Herzen des Treuen, der diese Bänder Dir weiht, 
Blüht Achtung und Liebe, die nimmer verglüh’n.“ 

Ein paar weiße Atlasstrumpfbänder mit langen, hellgrünen 
Bindebändern, das Hochzeitsgeschenk eines Freundes, tragen 
die folgenden launigen Verse. (Buchdruck in Kupferstich- 
umrahmung). 


Ja, ja, so geht's, wenn man sich auch 

Nach alter Sit? und deutschem Brauch 

Zu Liebesdiensten offeriert. 

Wenn man auch gleich bei Ehr und Pflicht 
Beteuert, daß man eben nicht 

Dem Nächsten bloß um Lohn serviert, 

So wird ein solcher Dienst doch manchmal depreciert. 


Dies Schicksal hatte jüngst auch ich, 

Als alter Praktikus erbot ich höflich mich, 

Und zwar, ich könnt’ es leicht beschwören, 

Recht säuberlich in Zuchten und in Ehren, 

Ja, was noch mehr, um billigen Lohn 

Für meine Operation, 

Ein Strumpfbandmaß gleich ober’m rechten Knie 

Bey einer jungen Braut zu nehmen. 

Allein, so gern ichs that, so hieß es doch: Merci, 

Mein Herr. Hierzu kann ich mich keineswegs bequemen.“ 


„Da stand ich alter Praktikus, 

Sann hin und her bei rebus ita stantibus. 

Was ist, dacht ich, zu thun? Jenun, du willst probieren 
Willst aufs gerade Wohl Strumpfbänder fabrizieren, 

Und sie der jungen Braut zur Hochzeit präsentieren. 

Sie wird doch, paßt euch nicht das Maß, 

Sie nicht, dies wäre mir ein schöner Spaß, — 

Mir jenen Liebesdienst auch etwa refüsieren?“ 


„Doch nein, das fürcht ich nicht. Wohlan, istnun auch gleich 
Die Fabrikation an Stickerei nicht reich, 
Ja fehlt auch hie und da so manches an den Bändern, 


Pachinger: Strumpf und Strumpfband 365 


Sind sie zu kurz, zu lang, zu breit, 

So wird im Kabinett dies alles mit der Zeit 
Der Bräutigam schon wissen abzuändern.“ 

Als Brautstrumpfbänder muß auch jenes Paar angesprochen 
werden, das in feiner Applikationsarbeit auf weißer Zwirnspitze 
mit Klöppelspitzen garniert und breiten Seidenbändern zum 
Binden, im Mittelstück in einem ovalen, gestickten Kränzchen in 
bunter Seidenmosaiktechnik einen Herrn zeigt, der einer Dame 
in Krinoline die.Hand reicht. Daneben die Jahreszahl 1863 und 
links die Buchstaben H. C. und E. C. auf jedem Mittelstücke. 

Vielleicht können auch jene beiden grünseidenen, weichen 
Bänder als Brautstrumpfbänder in engerem Sinne angesehen 
werden, die auf einem schmalen, weißen Mittelstück in feiner 
(Haar-?) Stickerei die Devise zeigen: „Nous offre a la prudence.“ 
Zu deutsch: „Sei klug.“ 

Die Poesie der Strumpfbänder ist heute endgültig vorüber. 
Es geht damit, wie mit vielem anderen aus der guten, alten 
Zeit, was uns so poetisch anmutet, wie der Lavendelduft in 
Großmutters Wäschekasten. Hygienische Bedenken sollen maß- 
gebend sein, daß der Gebrauch des zierlichen, altehrwürdigen 
Strumpfbandes in Mißkredit gekommen ist. 

Vom poesieumsponnenen Bändchen ist man heute zu einer 
anderen Mode gelangt, den Strapes, jenen Flaschenzug ähnlichen 
Gebilden, welche die schwarzen und farbigen zarten Strumpf- 
gewebe an den schlanken oder plastischen Beinen unserer 
modernen Damen festhalten. 


Ge 


366 Rutgers: Evolutionslehre und Weltanschauung 


EVOLUTIONSLEHRE UND WELTANSCHAUUNG. 
Von Dr. J. RUTGERS, Lochem (Holland). 


р“ Evolutionslehre von Darwin und Häckel kann gewiß 
nicht ohne Einfluß auf unsere Weltanschauung bleiben. 

In der mittelalterlichen Dogmatik war die Weltanschauung 
einfach genug. Man kannte damals die Entwicklungslehre 
noch nicht, die jetzt auch von kirchlicher Seite als das Bild 
einer durchlaufenden Schöpfungsarbeit gewürdigt wird. Man 
betrachtete damals die Schöpfung einfach als ein Opus 
operatum, einen einmaligen Akt, und man lehrte: alle Gattungen 
sind dereinst gut und vollkommen geschaffen, später jedoch 
ist der Mensch durch die Sünde abfällig geworden. Was die 
moderne Ethnographie jetzt mit Recht als die primitiveren 
Volksstämme erkennt, die noch am längsten rückständig ge- 
blieben sind, diese „blinden Heiden“ waren in ihren Augen 
gerade diejenigen, die von dem ursprünglichen Paradieses- 
zustand am weitesten abgewichen und verirrt waren. Wegen 
der fortwährend um sich her grassierenden Sünde erkennt 
diese Kirchenlehre überall eine herabsteigende Linie; nur für 
eine kleine Schar von Auserwählten erblickt man in der 
entferntesten Zukunft ein grenzloses Ansteigen. 

Demgegenüber gibt es in der Neuzeit viele, die sich 
Schüler Darwins nennen und die nur von Evolution reden, 
die also überall eine aufsteigende Linie erblicken; wiewohl 
Darwin selbst fortwährend auch die Degeneration erwähnt. 
Erst in der weitesten Ferne erblicken sie ein grenzloses 
Sinken dieser Linie, wenn schließlich die Temperatur unserer 
Erde allzutief heruntergehen wird. 

In der Wirklichkeit aber gehen Evolution und Degeneration 
überall und fortwährend Hand in Hand; wir erblicken nirgends 
eine gerade Linie, weder eine gerade Evolutionslinie noch eine 
gerade Degenerationslinie, sondern immer nur stetig wechselnde 
Kurven. Sowohl im Stoffwechsel jeder einzelnen Zelle, wie 
in der Evolutionsgeschichte der Gattungen gehen Aufbau und 
Abbau, Progression und Regression immer untrennlich zu- 
sammen. Stärker noch. Alles was in einer Richtung einen 
Schritt vorwärts bedeutet, ist in anderer Hinsicht ein Schritt 
rückwärts; nur überwiegt in der Jugend der Aufbau, im Alter 
das Hinfälligwerden. | 


Rutgers: Evolutionslehre und Weltanschauung 367 


So auch mit den verschiedenen Gattungen. Während 
einige emporkommen, gibt es andere, die im Rückgang be- 
griffen sind. Es wird dies bloß deshalb so leicht übersehen, 
weil wir seit Darwin nur zu sehr geneigt sind, alle Organe 
und alle Gattungen, die auf einer niedrigen Stufe stehen, ein- 
fach als die primitiveren zu betrachten; es können aber 
ebensowohl Organe sein, die rudinientär geworden, und 
Gattungen*), die degeneriert sind. 

So geht es auch mit der materiellen Grundlage der ganzen 
organisierten Welt, mit unserer Erde. Wegen der sinkenden 
Temperatur sind immer diejenigen chemischen Bestandteile, 
die in einer vorigen Periode die größte Bedeutung hatten, 
erstarrt und von anderen verdrängt worden, die sich jetzt 
wieder als chemisch wirksamer erweisen. Die älteren treten 
dann allmählich immer mehr zurück. So sind z. B. die Sili- 
kate, die anfangs eine so entschiedene Hauptrolle spielten, 
auch die vielen unserer niedrigsten Pflanzen und Tiere immer 
noch als ein höchst wichtiger Bestandteil vertreten; beim 
Menschen aber nur noch in der Glasur unserer Zähne; 
während jetzt das Wasser in der anorganischen wie in der 
organischen Welt die Hauptrolle spielt. Und wer weiß, wie 
schöne Organismen künftig von den jetzt noch gasförmigen 
Elementen aufgebaut werden sollen! Sogar die Sonnen- 
systeme sind dem wechselnden Spiel des Kommens und des 
Vergehens unterworfen. 

So kekommen wir auf einmal auch eine richtigere 
Würdigung und Anerkennung der verschiedenen Evolutions- 
perioden**). Wir dürfen gewiß die primitiven Zustände nicht 
idealisieren, wir dürfen sie aber auch ebensowenig gering 
schätzen. Ich meine, in jeder Periode war die Natur an und 


*) Man darf z.B. eine Seepocke (Balanus halanoides) und nament- 
lich deren Männchen, das ja nicht viel mehr wie ein winziges Säckchen 
mit Sperma darstellt, doch nicht einfach als die primitive Grundform be- 
trachten, aus welcher sich im Laufe der Zeiten alle stattlichen Krebs- 
arten entwickelt haben; sondern vielmehr als eine Degenerationsform 
dieser ehemals so mächtigen geharnischten und reich bewaffneten Raubritter! 

+*+) Eine übersichtliche Darstellung der Evolutionsgeschichte in diesem 
Sinn findet man in Dr. J. Rutgers, Das Sexualleben in seiner 
biologischen Bedeutung, Heft IV, Kap. 40. Dresden, Verlag Rich. A. 
Giesecke 1922. Jedes Heft ist auch einzeln zu haben. 


368 Rutgers: Evolutionslehre und Weltanschauung 


für sich vollkommen; und nicht bloß das Höhere, sondern 
auch’ das Niedere in der Natur bleibt unentbehrlich. 

Fragen wir z. B., welche spontan bewegliche Organismen 
sind am besten dazu angetan, zweckmäßig Schädlichkeiten zu 
entfliehen und aufzusuchen, was ihnen nützt, dann muß die 
Antwort lauten: je niedriger in der Reihe der Geschöpfe, 
desto mehr sehen wir sie, wenigstens in nicht komplizierten 
Fällen, instinktiv und unwiderstehlich immer die richtige Wahl 
treffen; bei den allerprimitivsten Organismen sogar mit mathe- 
matischer Gewißheit ganz unbewußt mittels Chemotaxis usw. 
Je höher aber in der Evolutionsreihe, destomehr wird es ein 
hoch differenziertes Gehirnspiel, wobei im voraus gar nicht 
zu sagen ist, wie schließlich die Wage ausschlagen wird; man 
hat dabei dann aber wieder den Vorteil, auch in höchst 
komplizierten Fällen die richtige Wahl mit Bewußtsein treffen 
zu können. 

Im nämlichen Sinn kann man sagen: gezähmte Tiere sind 
degenerierte Tiere, und wir zivilisierten Menschen sind ent- 
artete Urmenschen. Gewiß! Nur dann stehen wir Menschen 
obenan in der Evolutionsreihe, wenn eine verfeinerte Differen- 
zierung zum Maßstab gewählt wird; dann stehen wir obenan 
mit unserm erhöhten Glücksgefühl. Sobald aber umgekehrt 
die ursprüngliche Einfalt, die brutale Kraft, die elementäre 
Widerstandsfähigkeit als Maßstab genommen wird, dann 
stehen wir untenan mit unserm gleichfalls erhöhten Leidgefühl. 

So auch auf ethischem Gebiet. Was ein ethisch hoch- 
gesinnter Mensch als die höchsten Tugenden betrachtet, wie: 
Bescheidenheit, Zufriedenheit, Verzeihungsgesinntheit, Selbst- 
verleugnung, das sind vom Standpunkt der brutalen Natur- 
gewalt her gesehen gerade die schlimmsten Sünden. In Wirk- 
lichkeit ist und bleibt es immer sehr notwendig, daß diese 
zwei einander zuwiderlaufenden Kategorien von Tugenden 
sich gegenseitig das Gleichgewicht halten, sei es auch nur 
zur Selbsterhaltung. Unsere Pflicht ist es, für jeden Spezial- 
fall zu beurteilen, wie weit wir in der einen und wie weit wir 
in die andere Richtung gehen sollen. 

Namentlich kommt diese richtige Würdigung der ent- 
gegengesetzten Tugenden in Betracht, sobald wir andere be- 
urteilen wollen. Wir können z. B. die alles Sexuelle ver- 
neinende Keuschheit der Heiligen als etwas Erhabenes würdigen 


Rutgers: Evolutionslehre und Weltanschauung 369 


und ebenso sehr uns ergötzen an der brennenden Wollust 
zweier Verliebten; nur beides an der rechten Stelle und inner- 
halb gewisser Schranken. 

Wer dieses bunte Flechtwerk nicht durchschaut, kann die 
ganze Weltgeschichte nicht verstehen; und wenn er Politiker 
ist, gehört er zu denjenigen, die, wenn sie es in ihrer Gewalt 
hätten, das Schiff des Staates entweder auf dem rechten oder 
auf dem linken Ufer zerschmettern würden; denn auch vom 
schönsten politischen, sozialen oder pädagogischen System 
muß doch gesagt werden: sobald man es in seinen äußersten 
Konsequenzen durchführen wollte, käme man bald an einen 
Punkt, von wo an, je mehr man in einer Richtung vorwärts 
geht, man sich in anderer Hinsicht ebensoviel verschlechtert. 

So führt uns die Evolutionsgeschichte, wie ja auch schon 
die nüchterne Realität des Lebens in seiner Allseitigkeit zu 
einer praktischen Moral, die uns gewiß weltklug und an- 
passungsfähig macht, zu einer Moral des Mittelwertes. Will man 
aber zielbewußt einen pädagogischen Zweck verfolgen, will 
man arbeiten an dem weiteren Aufbau der Welt im idealistischen 
Sinn, an der Höherzüchtung unserer Evolution, will man als 
Kulturmensch das Leben mit Vorbedacht künstlich verschönern 
und bereichern, dann ist es angezeigt, einseitig die positive 
Seite der Evolution, die aufsteigende Linie speziell ins Auge 
zu fassen und als Lehrmaterial anzuwenden. Mephisto 
kann man es dann weiter ruhig überlassen, immer nur einseitig 
die Verneinung, die Vernichtung, das Häßliche in den Vorder- 
grund zu drängen. 

Nirgends wird das Hand-in-Handgehen des Gegensätz- 
lichen zu einer höheren Einheit so sehr als höchstes Ideal 
empfunden wie im Sexualleben. Ist doch eine passende, 
gegenseitige Befriedigung wohl die schönste Verknüpfung der 
beiden tief in unserm Wesen liegenden Prinzipien des Egois- 
mus und des Altruismus. 


222) 





DIE BEKÄMPFUNG DES ALTERNS. 
(GEGENWÄRTIGER STAND DER VERJÜNGUNGSFRAGEN.) 
Von Dr. PAUL KAMMERER (Prof. an der Universität Wien). 
mmer wieder vernimmt man — von Laien wie von Kundigen — 
den Ausspruch, die im Frühsommer 1920 mit so viel Tamtam 
ausposaunte Möglichkeit der Verjüngung sei wohl auch längst 
wieder begraben worden, gleich so mancher sonstigen Sensations- 
meldung: denn im Blätterwalde sei es still geworden, man höre 
kaum mehr etwas davon. Wer so denkt und spricht, vergißt, 
daß andere weltbewegende Nachrichten in der Tagespresse ihr 
Recht fordern; daß die Zeitungen sich nicht fortgesetzt derselben, 
sei es noch so wichtigen und allgemein interessierenden Ent- 
deckung widmen dürfen. In der Fachpresse jedoch hat Nach- 
prüfung und Ergänzung, Kritik und Antikritik seither keinen 
Augenblick geruht; und es erscheint daher zweckmäßig, auch 
an gegenwärtiger Stelle den ganzen Fragenkomplex, der sich 
um das „Problem der Probleme“ dank Steinachs Initiative auf- 
gerollt hat, wieder einmal zu durchleuchten und auf Grund der 

seit 1920 erzielten Erfahrungen in Kürze neu darzustellen. 

Zu den verstimmendsten Alterserscheinungen gehört un- 
streitig das Versagen der Zeugungsfähigkeit, bedingt durch 
Entartung der Zeugungsorgane; und es scheint zuweilen, 
als hinge der Inbegriff des Alterns irgend vom Untauglichwerden 
der Geschlechtswerkzeuge ab oder mit ihm zusammen. So lag 
Versuchen, den Altersvorgang abzuwenden und umzukehren, 
seit langem (Brown-Séquard) der Gedanke nahe, den Hebel im 
Geschlechtsbereiche anzusetzen. 

Die Geschlechtsdrüsen bestehen — abgesehen von dem in 
jedem Organe gegenwärtigen Stützgewebe?) — aus zweierlei be- 


!) Daß ich in einer kuzgefaßten, übersichtlichen Beschreibung („Ver- 
jüngung und Verlängerung des persönlichen Lebens“, Deutsche Verlags- 
anstalt Stuttgart-Berlin 1921, S. 17) dieses überall vorhandene, hier ganz 
unwesentliche Gewebe nicht eigens erwähnte, hat mir Durig (Wiener 
klinische Wochenschrift Nr. 45, 1922) als Unkenntnis ausgelegt und blindes 
Parteigängertum für Steinach ganz unbegründet und mit einer Heftigkeit 
zum Vorwurfe gemacht, die selber den Verdacht einer gewissen Parteilich- 
keit nahelegt. 


Kammerer: Die Bekämpfung des Alterns 371 


langreichen Geweben: Keim- und Zwischengewebe. So- 
lange die Zeugungsreife dauert, besteht Wechselwirkung unter 
diesen Geweben, dergestalt, daß immer herdweise Keimgewebe 
(Eier, Samen und die sie bergenden Taschen und Schläuche) 
verbraucht wird, an dessen Platz das Zwischengewebe vorrückt. 
Von diesem geht ein Nährquell aus, der das Keimgewebe 
wiederherstellt. Es ist Kirles Verdienst, den Automatismus 
von Verbrauch und Ersatz im Hoden aufgedeckt zu haben. 
An der Schwelle des Greisenalters (im weiblichen wie männ- 
lichen „Klimakterium“) beginnt der Ersatzmechanismus zu ver- 
sagen: noch wuchern zuweilen eine Zeitlang die Zwischenzellen; 
aber sie vermögen neues Keimgewebe nicht mehr zu erzeugen, 
die Keimdrüse?) schrumpft und mit ihr der ganze Reigen leben- 
spendender Blutdrüsen. Die festgefügte Einheit des Organismus 
ließ es aussichtsreich erscheinen, sein durch Abnützung ge- 
fährdetes Gleichgewicht wiederherzustellen, wenn selbst nur eine 
jener Drüsen neuerlich in Schwung gebracht würde: sie müßte 
dann die übrigen, mit denen sie einen geschlossenen Ring des 
Zusammenarbeitens bildet, mit sich fortreißen. Die unaufhörlich 
in den Kreislauf träufelnden Aussonderungen der wiederbelebten 
Drüsen müßten dann — überallhin als Lebenselixier entsendet — 
dem ganzen Körper nochmalige Auffrischung bringen. 


Brächte man also in das erlöschende Abwechseln von Keim- 
zellen- und Zwischenzellenregeneration, wie es sich in der 
Geschlechtsdrüse abspielt, vorerst neuen Betrieb, so würde diese 
Maßregel nicht bloß zur „Teilverjüngung“ (Pütter) und 
Herstellung der Geschlechtstätigkeit, sondern zur „Wieder-in- 
Gangsetzung“ (Kölsch)*) des einheitlich organisierten Ganzen 


®) Die Frage, ob Geschlechtszeichen und Vollkraft von den Reizstoffen 
(Hormonen) des Keim- oder des Zwischengewebes entwickelt, erhalten 
und rückgebildet werden — die vielumstrittene Frage nach Sitz und Wesen 
der von Steinach so geheißenen „Pubertätsdrüse“ — lasse ich hier, 
da erst in zweiter Hinsicht wichtig, absichtlich beiseite. Wir betrachten 
allgemeine Lebens- und besondere Zeugungskraft als das Werk der Ge- 
samtheit innersekretorischer oder Blutdrüsen. Eine davon ist die ganze, 
für Eingriffe gegenwärtig am leichtesten zugängliche Geschlechtsdrüse. 


®) Welche Wortungetüme ersonnen wurden, um dem verwegenen Aus- 
drucke „Verjüngung“ auszuweichen, davon gibt dieses ein Beispiel. Und wer 
ein Musterbeispiel sehen will, was Kurzsichtigkeit und Böswilligkeit der Kritik 
zu leisten vermögen, der lese Kölschs Besprechung meines iin Note I genannten 
Buches (Literaturblatt der Frankfurter Zeitung Nr. 10, S. 2, 11. Mai 1921). 


372 Kammerer: Die Bekämpfung des Alterns. 


ausreichen. Nun ist wenigstens die männliche Drüse, der Hoden, 
durch eine sehr einfache Operation zur Wiederaufnahme ihres 
Wachstums zu bringen: durch Unterbindung seines Ausführungs- 
ganges, des Samenleiters. Verhindert man den Samen (solange 
noch Restbestände hiervon vorhanden sind!), abzufließen, so 
staut er sich, drückt auf die Samenkanälchen im Hoden, wo- 
durch dieses empfindlichste Gewebe — diesmal nicht örtlich, 
sondern im Gesamtbereiche — zugrunde geht und durch Zwischen- 
gewebe ersetzt wird, Das Zwischengewebe gewinnt einen 
stürmischen Wachstumsimpuls, der etwas später auch das Keim- 
gewebe funktionstüchtig wieder aufbaut. Der verjüngende Ein- 
griff ist daher nichts „Widernatürliches“, sondern gleich allen, 
überhaupt erfolgversprechenden Eingriffen nur die künstliche 
Unterstützung eines auch im natürlichen Verlaufe möglichen, 
jedoch vorzeitig erlahmenden Vorganges. 

Im Gefolge werden (soweit bis jetzt mikroskopisch unter- 
sucht — Schleidt:) Schild- und Hirnanhangsdrüse neu 
hergestellt; in weiterer Folge alle äußeren und inneren Organe 
und Organtätigkeiten. Vielleicht gilt dies mit einziger Aus- 
nahme des Zentralnervensystems (Harms), das aber jeden- 
falls länger auszuhalten vermag, als der gewöhnliche Lebenslauf 
ihm gestattet; zumal wenn von den Nebennieren aus, die 
ebenfalls im Bunde der Blutdrüsen stehen, so gut wie keine 
Farbstoffe mehr sich in den Nervenzellen ablagern und so deren 
Betrieb ins Stocken bringen (Koppanyi). 

Die Verjüngung nimmt, in den Blutdrüsen entspringend, 
ihren Ausgang von der Verbesserung des Blutumlaufes: 
die Blutkörperchen vermehren sich, Herzschlag und Puls werden 
kräftiger, zu hoher Blutdruck und Gefäßverhärtung nehmen ab, 
alle Gewebe, früher bleich und trocken, werden wieder gut 
durchblutet. Das Blut bereichert sich mit Sauerstoff, weil die 
Luftmenge beim Atmen sich vergrößert (Löwy und Zondek). 
Hinter dem Gaswechsel kann der übrige Stoffwechsel nicht 
zurückbleiben: die Operierten werden heißhungrig und nehmen 
schnell zu, innere Organe und Haut polstern sich mit Fett. 
Alles ist wie frisch geölt, der Darm, die blühend gerötete Mus- 
kulatur, welch letztere neuen Bewegungstrieb verleiht und neue 
Beweglichkeit gewinnen läßt. Die Sinne schärfen sich; sogar 
grauer Star und Schwerhörigkeit werden oft behoben; das Ge- 
dächtnis, geistige und leibliche Leistungsfähigkeit kehren zurück, 


Kammerer: Die Bekämpfung des Alterns 373 


Lebenslust und Arbeitsfreude, darunter auch — aber keines- 


к wegs etwa als unschön vordrängendes Sympton — geschlecht- 
— liches Begehren und Vermögen. Die trockene, runzlige, ab- 


schilfernde, blasse oder blaurote Greisenhaut wird ersetzt durch 
eine feuchte, geschmeidige, rosige Jünglingshaut, auf der die 


Ge Falten sich glätten und neue dichte Haare von der ursprüng- 
v» lichen Jugendfarbe sprießen. Geschwülste (Talgdrüsentumoren, 


Adenome der Vorsteherdrüse, selbst Carcinome) werden — wo 
их nicht geheilt — so doch in ihren jugendlichen, noch gutartigen 
— Zustand zurückversetzt (Harms, Finsterer). Tuberkulose und 
manche Nervenleiden werden — wohl im Wege des gehobenen 
Stoffumsatzes — oft günstig beeinflußt. 

Es fehlt zur Zeit noch ein zuverlässiges Mittel, um auch in 
der weiblichen Geschlechtsdrüse, im Eierstock, den Auto- 
matismus von Zerfall und Aufbau wieder in Gang zu bringen; 
. wenigstens an einem Mittel, das Anwendung auf die mensch- 
liche Frau erlaubt. Im Tierversuch dient dazu die Einpflanzung 
fremder Eierstöcke, die am besten aus trächtigen Weibchen ent- 
nommen werden: von diesen jugendfrischen Organen aus (selbst 
wenn sie in ihrer neuen Umgebung langsam aufgezogen werden, 
also nicht einmal dauernd einheilen) werden die eigenen Eier- 
. stöcke des alten Weibchens derart restauriert, daß es neuerdings 

“ brünstig und fruchtbar und übrigens auch wieder in sämtlichen 
übrigen, körperlichen und seelischen Beziehungen leistungsfähig 
wird. 

Beim Menschen fehlt es begreiflicherweise an Einpflanzungs- 
material: die Unterbindung der Eileiter wirkt aber kaum, weil 
sie im Eierstock keinerlei Stauungserscheinungen auslösen kann. 
Das Aufblühen der Frauen, denen wegen Myomen die Gebär- 
mutter entfernt worden war (Liepmann), erklärt sich un- 
gezwungener daraus, daß fortan ihre schweren Blutungen zum 
Stillstand kamen. In mehreren Fällen glückte eine mittlere 
Reizbestrahlung mit Röntgenstrahlen, die den hochempfind- 
lichen Eiapparat ausschalten, ohne das Gesamtorgan zu zer- 
stören. Aber die Strahlenmenge (Holzknecht) ist nicht leicht 
zu bemessen, da sie auch von der individuellen Beschaffenheit 
der zu behandelnden Frau abhängt. 

Erfolgreiche Verjüngungskuren sind durchgeführt an männ- 
lichen und weiblichen Ratten (Steinach, Romeis), Meerschwein- 
chen(Harms),Kaninchen undHunden(Kuntz,Sand,O.Wilhelm), 


374 Kammerer: Die Bekämpfung des Alterns 


Schaf- und Ziegenböcken (Voronoff), Stieren (O. Wilheln 
Hengsten (Lengemann) und Menschen (Lichtenstern, Hol 
knecht, Edgar, Benjamin, Lydston, Stanley, Brinklay, Pet 
Schmidt, Levy-Lentz, Otmar Wilhelm u. v. a). Aller Gegnerschs 
zum Trotz, die von Duckmäusern und Dunkelmännern ausge 
und zuweilen geradezu krankhafte Dimensionen annimmt, lä 
sich die Errungenschaft nicht mehr aus der Welt schaffe 
Mäterlinck ist von Voronoff verjüngt worden; nicht mmer ab 
sind es die Förderer der Menschheit, die dieser Wohltat teil 
haftig werden: Cl&menceau verdankt seine unverwüstliche Rüstig 
keit, seine erst kürzlich wieder der eines Fünfzigers gleich 
gestellte Konstitution dem bei einem Eingriff in die Vorsteher 
drüse unvermeidbaren Durchreißen der Samenleiter, — dahe 
auch seine Arbeitskraft, mit der er fortdauernd dem Friede 
Europas verderblich wird. 

Die Verjüngungsoperation läßt sich wiederholt vornehmen 
etwa zuerst nur Abbinden eines Samenleiters, erst bei aber 
maligem Altern auch des zweiten. Hierauf Abbindung nähe 
dem Hoden, wodurch die belebende Stauung verstärkt wirt 
Sind all diese Eingriffe erschöpft, so steht noch die Einpflanzunj 
fremder, jugendlicher Drüsen offen. Die fortschreitende chirur- 
gische Technik wird aus der Verlegenheit befreien, die uns hie 
aus der Materialnot noch ersteht: die Einheilung von Tierdrüser 
wird gelingen (Voronoff). Und wenn selbst nicht die dauernd 
Einwachsung: wir erwarten von der fremden Drüse nichts anderes 
als daß sie das eigene Drüsensystem zu neuer Tätigkeit, neuem 
Gewebewachstum апгере. Dafür genügt kurze Zeit; dann hat 
die fremde Drüse ihre Schuldigkeit getan, dann darf sie in den 
verjüngten Körpersäften ihrer Auflösung entgegengehen. 


SS 


~ 


a wm аа А 53 ка 20 Së. e Vi RS AA Së, es Ж. (МА Ж! аа БАШ. ET ЭЕ "90 Get 


Är: 


bag