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GESCHLECHT UND
GESELLSCHAFT
ec" HERAUSGEGEBEN
IN VERBINDUNG MIT NAMHAFTEN FACHLEUTEN
VON KARL VANSELOW
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10) HELLER 10)
TELEPHON-ABONNENTEN.
VERLAG DER SCHÖNHEIT
BERLIN : LEIPZIG : WIEN
WERDER a. H.
1912.
ALLE RECHTE VORBEHALTEN.
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
VIII, 1.
VASE IN PORZELLANGUSS. (Sammlung Moll.)
ELFENBEINERNER STOCKGRIFF. (Samml. Moll.)
Zu dem Aufsatz »-Die Erotik im Kunstgewerbe«, Seite 13.
ВТВ
SEXUELLE VERSORGUNG.
Von Dr. IKE SPIER, Facharzt in München.
»Solange nicht den Bau der Welt
Philosophie zusammenhält,
Erhält sich das Oetriebe
Durch Hunger und durch Liebe!«
ein Geringerer als Schiller faßte in diese paar wuchtigen
Worte den ganzen kosmischen Regulationsplan zusammen;
in weniger läßt sich gar nicht komprimieren, was so viel be-
deutet und so unbedingt wahr ist.
Mag sein, daß der Hunger, der Kampf um den Brotkorb
und den Suppennapf noch energischere Umwälzungen im mensch-
lichen Leben und in der Geschichte der Völker hervorgerufen
hat; aber außer ihm gibt es bestimmt keinen mächtigeren Trieb als
das, was man Liebe nennt, und was physiologisch meistens nichts
anderes bedeutet, als den Drang nach sexueller Versorgung.
Zweifellos gibt es in den ersten Regungen des Liebes-
triebes bei Kindern und Jugendlichen Momente, wo eine sexuelle
Versorgung bewußt nicht erstrebt wird, weil der Körper noch
keine braucht, seine Zeit ist noch nicht gekommen; es handelt
sich in diesem Stadium um den nach Moll so benannten Kon-
trektationstrieb, die bloße Hinneigung zum anderen Geschlecht,
um eine Art magneto-elektrischer Anziehung ungleicher Pole,
Jedoch beim normalen geschlechtsreifen Individuum läßt sich
diese zwingende Kontrektationsidee rein und frei vom Detu-
meszenzwollen kaum noch nachweisen; die Detumeszenztrieb-
richtung drängt mit unwiderstehlicher Kraft auf eine Ab-
schwellung, also auf erlösende, befreiende Vorgänge im Geni-
talsystem hin, so sehr, daß es effektiv Männer und Frauen
gibt, die gar keine Kontrektationsempfindungen mehr aufkommen-
lassen und nur der Detumeszenz leben; diese an Nymphomanie
und Satyriasis erinnernden Zustände streifen schon nahe das
Gebiet des Pathologischen und gehören zum Teil da hinein.
Die gemischte Sensation der sexuellen Liebe, der Ge-
schlechterhinneigung, ist aber auch bei ganz Normalen zum
großen Teil detumeszensüberwertig, d. h. so, daß unendlich
Geschlecht und Gesellschaft VIII, 1. 1
2 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
viele Menschen den reinen Detumeszenzvorgang erleben müssen,
selbst wenn ihre psychische Seite der Kontrektation gar keine
Befriedigung findet; der Kontrektationstrieb ist bei ihnen sehr
rege und vollkommen erhalten, wird aber zeitweise beim
Mangel an sympathischer Partnerschaft vollkommen überlagert,
so daß er verschwunden scheint.
Newyork hat über 40000 Bordelle, die der Polizei bekannt
sind; die ungezählten heimlichen Stätten der Venus vulgivaga
sind gar nicht zu überwachen, so daß man bei milder Schätzung
für diese amerikanische Weltstadt ca. 50000 annehmen kann;
es wird wohl dabei keiner auf den Gedanken kommen, daß
diese Stätten der Liebe vom allergemeinsten 10 cents-Bordell
bis zum Überluxusvenustempel mit 1000 Dollarrechnungen irgend-
wie etwas mit der Kontrektation zu tun haben; ihre Besucher
mögen ja auch z. T. nicht nur rein physiologisch dort sich
detumeszieren, manche mögen auch für die Frauen da etwas von
Sympathie u. dgl. fühlen, aber das Gros sucht nichts anderes
als den notwendigen lustbetonten Akt.
Diese Art sexueller Versorgung, dieses Zerrbild dessen,
was man Liebe nennt, gibt zu denken, und ihre Verbreitung
über die ganze Erde läßt sie zuletzt als eine organische Not-
wendigkeit erscheinen.
Aber sie ist nur ein schlimmes Ersatzstück, eine jämmer-
liche Imitation des Echten; jeder, der es erschwingen kann,
wo er auch lebe, wenn es Landes Sitte und Art gestatten,
sucht sich eine andere sexuelle Versorgung, mit Umgehung
des Bordells.
Es hilft nichts, zu predigen und Abstinenz zu glorifizieren,
oder wie Tolstoi die Selbstvernichtung zu proklamieren, das
Leben geht mit eisernem Schritt über die Phantasten und
Ideologen weg, das Leben beweist durch die bestehenden Zu-
stände haarscharf, daß das Kapitel der sexuellen Versorgung
eines in nie endenden Fortsetzungen sein und bleiben wird, daß
sexuelle Versorgung und Nahrungstrieb die zwei Pole sind,
um die sich die belebte Welt dreht.
Kultivierte und unkultivierte Völker müssen sich gleicher-
maßen mit dem Problem abfinden und tun es, so gut es möglich ist.
Einige Stämme Australiens halten sich steril gemachte
Frauen, bei denen die unverheiratete Mannschaft ihre Ver-
sorgung findet.
|
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 3
Mexikanische Ureinwohner züchteten die Mujerados, künst-
lich effeminierte Männer, die der Pädicatio u. dgl. dienten.
Andere auf niedriger Stufe stehende Völker haben in ihren
Naturfesten bei Mondesfülle und in den Zwischenzeiten der
Äquinoktien ein Ventil für die überschüssige und nach Er-
lösung drängende Sexualität der Unverheirateten und Vermählten.
Die Onanie ist nach genauen Forschungen bei den Natur-
völkern gewiß nicht weniger verbreitet als bei den Nationen
der Zivilisation.
Im Gegenteil, manche Reisende berichten von öffentlich
ohne Scheu betriebener Masturbation der Geschlechter bei
Negern und Australiern; bei diesen Rassen scheint die so-
genannte Scham noch wenig entwickelt zu sein oder wenigstens
zeitweise vollständig ausgeschaltet zu werden.
In einem australischen Städtchen übte ein Ureinwohner
mit einem jungen Mädchen seines Stammes ohne Harm auf der
Straße den Congressus aus und fand nicht das geringste da-
bei, daß andre zuschauten.
Das ist nicht zu verwechseln mit den künstlich gezüchteten
Obscönitäten und Lüsternheiten der französischen Revolution,
wo in einem Pariser Vorstadttheater ein gänzlich nackter brauner
Wilder mit seiner Rassengenossin vor zahlendem Publikum den
Akt vollzog; später stellte sich aber heraus, daß man es mit
einem Zuhälter und einer Dirne, die sich angemalt hatten, aus
dem Stadtteil La villette zu tun hatte.
Die sexuelle Versorgung bei den Naturvölkern ist eine genau
so zwingende und beunruhigende Frage, die beantwortet
werden muß, wie bei uns. Der Unterschied ist nur dort, daß
sich die Leute selbst ihren Sittenkodex machen und ihnen nie-
mand hineinreden kann.
Außerdem lassen diese Menschen ihre Mannbaren beider-
lei Geschlechtes so früh wie möglich heiraten, wobei auf vor-
handene Jungfernschaft oft gar kein Wert gelegt wird; im
Gegenteil, bei manchen findet ein unberührtes Mädchen keinen
Bewerber, weil der nach seiner Logik schließt, daß sie reizlos
sei und nicht begehrenswert, wenn niemand nach ihr vorher
Verlangen gehabt; eine anziehende Frau muß unbedingt von
anderen schon erkämpft worden sein, so ist seine nach unseren
Anschauungen vollständig verkehrte Konklusion.
Es steht fest, daß bei allen Völkern auf einer niedrigen
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A GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Stufe der Zivilisation, bei Negern und Australiern stets von
Staatswegen, oder besser durch eine stammesgebilligte Sitte,
sexuelle Versorgung auf die eine oder andere Art möglich ist; bei '
den nicht so sensiblen, von Großstadtluft überreizten Land-
bewohnern der meisten Kulturvölker ist eine stillschweigende
Methode der Sexualversorgung insofern möglich, als die Un-
verheirateten Mittel und Wege finden, sich zu vereinigen, wenn
sie wollen; mögen sie später auch heiraten, oder mag diese
Absicht im Momente des sich Findens bestehen, ein Verkehr
vor der Ehe ist in vielen Kreisen der Bevölkerung gang und
gebe, und die Zahl der jungfräulich sich verheiratenden Mädchen
dürfte bei ihnen nicht sehr groß sein.
Es gibt in Deutschland manche Gegenden, wo effektiv das
Gros der weiblichen Bevölkerung vor der Ehe Kinder hat und
ein Ehemann überhaupt nicht gefunden wird, wenn das weib-
liche Wesen vor der Trauung kinderlos, also unfruchtbar, bleibt;
ein Mann will dort Kinder haben und wenn seine Zukünftige
darin versagt, ist er schlimm dran; denn die ganze, durch
Jahrhunderte sanktionierte besondere Erbfolge würde darunter
leiden, später würden die billigen Arbeitskräfte fehlen, und
einen Haushalt ohne Nachkommen schätzt man dort einer
Kirche ohne Turm gleich, als etwas Unvollkommenes.
Die jungen geschlechtsreifen Männer des Volkes in seinen
städtischen und ländlichen Bezirken suchen alle Geschlechts-
verkehr; es gibt wohl keinen einzigen, der gesund und kräftig
ist, welcher keusch in die Ehe tritt.
Die Einwirkung der Seelsorger bleibt rein äußerlich; in
solchen Sachen lassen sich die Menschen ungern zureden. Da-
bei gibts wenig Unterschiede in den verschiedenen Ländern;
man sagt zwar, daß in England, Schottland und Amerika, eben-
so in Australien auch bei der niederen Bevölkerung eine sexuelle
Vermischung der Unverheirateten eine Seltenheit sei, aber die
Statistik der unehelichen Kinder, der kriminellen Aborte, der
Liebestragödien verlassener Wesen, die schwanger waren, u. dgl.
mehr beweisen doch, daß es nicht so sein kann, wie ober-
flächliche Beurteiler schließen; in Italien soll auch das Mädchen
vor der Ehe sehr keusch leben; das mag für die gezwungene
Enthaltsamkeit der höheren Stände gelten, aber es kann nicht
allgemein richtig für die niederen Volksklassen sein. Auch in
Frankreich finden wir den jungen Arbeiter mit seiner An-
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 5
gebeteten, schon kaum daß er auf eigenen Füßen steht, sobald
er geringen Fabriklohn erntet, die sogenannte, wohl ziemlich
gewiß unplatonische Liaison eingehen. Und in Deutschland
lehrt der Augenschein täglich, daß schon die jüngsten Glieder
der arbeitenden Klassen, sobald sie etwas selbständig sind, ihre
Verbindung mit den gern drauf eingehenden Genossinnen an-
knüpfen.
Bei den höheren Gesellschaftsklassen ist es auf der ganzen
Welt ziemlich gleich. Offiziell sind männliche und weibliche
Jugend einander unerreichbar, das ist offenkundig; aber ebenso
bestimmt weiß man, daß die jungen Männer sich alle sexuell
gut versorgen und ausreichend den Congressus suchen, und
daß die jungen Mädchen sehnsüchtig danach trachten, wenn
auch Sitten und Angst, bei den wenigsten sicher nur moralische
Bedenken, eine Barriere bilden; es ist eine »tote Gewißheit«,
daß die weiblichen Mitglieder unserer besseren Kreise samt
und sonders der Onanie fröhnen; es mögen einige außer-
gewöhnlich frigide Geschöpfe sich davon fernhalten, aber nach
Rohleder genießen 95—96 °/,, nach anderen bis 100 °/, dieses
Surrogat der sexuellen Befriedigung.
Es ist natürlich außerordentlich schwer, genaue Angaben
zu erhalten; aber offene und ehrliche Mädchen gestehen, daß
sie onanieren und daß ihre Freundinnen, soweit sie es wissen,
dasselbe tun.
Viele Frauen, die darüber ungenierter reden, bestätigen
diese Angaben und bilden so nach und nach bei dem Sexual-
forscher die feste Meinung, daß nur eine verschwindende
Minderheit der weiblichen Jugend, wenn überhaupt, von der
Masturbation frei bleibt.
Die Männer oder Jünglinge masturbieren, solange sie keine
sexuelle Versorgung haben, ziemlich ausnahmslos; es dürfte
darüber kaum noch eine Meinungsverschiedenheit existieren,
daß die Masturbation die verbreitetste »Jugendsünde« ist;
zweifellos drängt bei vielen jungen Menschen schon,der Körper
zu einer sexuellen Detumeszenz, ob man aber onaniert oder
den Congressus ausübt, ist physiologisch nur insofern ver-
schieden, als der Congressus gesünder ist.
Es gibt nicht wenige Väter, die ihrem heranwachsenden
Sohn den Weg weisen zu einem Congressus, zu einer physio-
logischen Detumeszenz in längeren Intervallen, damit der Junge
6 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
dem seelisch und physisch destruierenden Onanieren fern-
gehalten werde.
Diese Väter, denen manche gram sein mögen, haben
Menschenkenntnis. Sie wissen, daß mit schönen Worten einem
kräftigen, in strotzendem Körper begründeten Sexualtriebe, der
nach Versorgung lechzt, nicht geholfen ist und daß Geheimnis-
tuerei und Vertuschung nur Heuchelei und Unoffenheit
erzieht.
Also weisen sie auf den Weg der physiologischen Detu-
meszenz. Im Orient war es Sitte, schon bei den ersten Zeichen
der Mannbarkeit die betreffenden Individuen zu verheiraten;
damit war das Problem der Sexualversorgung wohl am ein-
fachsten gelöst.
Bei uns ist diese einfache und praktische Eliminierung des
schneidenden Problems nicht möglich; allerlei Hemmnisse
sozialer Art, die Teuerung und damit verbundene Schwierigkeit
für Anfänger, einen Haushalt zu gründen, u. dgl. schieben, wie
schon an anderer Stelle ausgeführt wurde, das Heiratsalter be-
deutend hinauf und drängen die geschlechtsreifen Individuen
auf die merkwürdigsten Wege.
Schon oft ist die sexuelle Abstinenz als die einfachste
Lösung der Versorgungsfrage herbeigeholt worden und zwar
mit wenigen Ausnahmen von streng bibelgläubigen Menschen,
denen eine bona fides zu konzedieren ist.
Dabei ist zu berücksichtigen, daß die Enthaltsamkeit bei
vielen Menschen geradezu quälende Symptome hervorrufen kann.
Es mag auch da einige wenige geben, denen die Abstinenz
leicht und angenehm ist, aber die Regel bilden sie gewiß nicht,
darüber besteht gar keine Diskussion; diese frigiden Menschen,
sowohl männlichen wie weiblichen Geschlechts, sind in einer
verschwindenden Minderzahl, und allgemeingültige Schlüsse kann
man aus ihrem Verhalten unmöglich ziehen; die Erfahrung lehrt,
daß der gewöhnliche Geschlechtsreife oft direkte Pein, die sich
bis zur Unerträglichkeit steigern kann, erduldet, wenn er keine
Detumeszenz erleben kann. Die Onanie als zu verwerfendes
Ablaßventil, als ein Mittel, vor dessen Benutzung überein-
stimmend alle Ärzte und Pädagogen dringend warnen, kommt
selbstredend in einer ernsthaften Besprechung gar nicht in Be-
tracht, obwohl Gegner der sexuellen Detumeszenz vor der Ehe
lieber Onanisten als Congressusausübende haben, z. T. weil die
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 7
Onanie wohl vom ecclesiastischen Standpunkt, moraltheologisch
eine kleinere Sünde ist, als die Vollziehung des Aktes ohne
die vorhergegangene Einwilligung der Geistlichkeit.
Es kann hier natürlich mit Theologen von innerlicher
Überzeugung nicht gerechtet werden; hier können nur physio-
logische Gründe reden; aber in dieser Hinsicht besteht nicht
der geringste Zweifel, daß ein mäßiger, individuell ab-
gestufter Verkehr dem mannbaren Geschöpfe keinen Schaden
körperlicher oder seelischer Art zufügen kann, sondern als eine
Erleichterung, geradezu Steigerung psychischer und vitaler
Kapazität empfunden wird. Sicher züchtet das moderne Leben
eine Menge Existenzen, die im ewigen Ringen nach sexueller
Versorgung direkt zugrunde gehen. Ihre Arbeitskraft ist einfach
gelähmt, ihre Konzentration auf einen Beruf leidet unter dem
fortwährenden Drange ungestillten sexuellen Sehnens. Sie ver-
schwenden Tage und Nächte, um sich eine sexuelle, erotische
Atmosphäre zu bilden, sie suchen Caf&häuser mit Damen-
bedienung, Nachtlokale, Weinstuben, Rennplätze u. dgl. auf,
Orte, wo die Illusion einer speziellen Auslebemöglichkeit am
leichtesten gestaltet wird.
Die Frage der verbummelten Studenten, der auf Abwege
geratenen Kaufleute im jugendlichen Alter, das Scheitern so
vieler Existenzen im Leben der Großstadt besonders wird oft
überraschend geklärt, wenn man solche Elemente genauer be-
obachet, Einblick in ihre Psyche erhält und dann herausfindet,
daß diese, zuweilen einenruhigen und gleichmäßig-stillen Eindruck
machenden Individuen eben Erotiker waren, die unter einem
ständigen Nichtausgleich ihrer sexuellen Kräfte litten. Die
weibliche Welt wird viel härter davon mitgenommen, daß ihr
die erotische Entspannung erschwert ist, als man denkt.
Man braucht kein Mensch mit lüsterner Phantasie zu sein,
der den ganzen Kosmos als eine Folie des großen Phallus an-
schaut, und kann doch bei objektiver Prüfung herausfinden,
daß ungezählte Tragödien stiller und lauter Art, eine Menge
von Krankheiten, psychische Depressions- und Exaltations-
zustände bei Frauen in der Zeit der Geschlechtsreife, Verbitte-
rung und Lebensüberdruß durch den Mangel der Versorgung, in
sexuellen Nöten, ihre Deutung finden. Wenn Goethe seinen
Mephisto satirisch sagen läßt, daß die Frauen von einem
Punkt aus alle zu kurieren seien, so hat der große Dichter, dem
8 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
die Geheimnisse der Natur divinatorisch kund wurden, die
Wahrheit fast oder ganz genau präzisiert; gerade die leichter
formbare, weibliche Seele erhält aus sexuellen Nöten schlimme
Eindrücke, deren Spuren oft über das ganze Leben hinaus un-
verwischbar vorhanden sind und das Wesen in einer bestimmten
Richtung hin umbilden.
Wenn diese Tatsachen so wenig allgemein bekannt sind,
so kommt das eben daher, daß die Frauen gewissermaßen eine ge-
schlossene Phalanx gegen die Männerwelt formieren, daß in
stillschweigendem Übereinkommen, wie bei den Auguren im
alten Rom, »nicht aus der Schule geplaudert wird«, daß
überhaupt die feminine Psyche mehr der mimosa pudica gleicht,
die sich einer rauhen Berührung mit der Außenwelt sehr emp-
findsam verschließt und selten jemand einen tieferen Einblick
gestattet.
Zuweilen aber erhält man doch genaue Daten, die all-
gemeingültigen Wert besitzen.
Die folgende Krankengeschichte einer Patientin aus bessern
Kreisen soll ein ungefähres Bild von solchen Möglich-
keiten geben.
Еп. Е. у. ]., 21 Jahre alt, leidet an allerlei nervösen Be-
schwerden und unbestimmten Zuständen; sie ist reizbar, oft
unzufrieden mit ihrem ganzen Leben, von einer drückenden
Spannung gequält; ihr Appetit ist gestört, die Verdauung sehr
unregelmäßig, sie ist schlaflos usw.
Frl. v. J. ist die Tochter eines Arztes, der aber schon ge-
raume Zeit tot ist. Sie hat eine umfassende Bildung, eine
hervorragende Intelligenz und macht den Eindruck einer ge-
wissen geschlossenen Persönlichkeit, die eventuell recht energisch
sein kann. Nach und nach entschließt sie sich mit einem »merk-
baren Ruck« zu einem kompletten rückhaltslosen Geständnis.
Seit ihrem 12. Lebensjahre onaniert sie. In der Pension einer
vornehmen schweizerischen und später einer sächsischen Stadt hat
sie stets mit intimen Freundinnen mutuell masturbiert, sogar
schon den cunnilingus ausgeübt; dabei ist sie nicht die Ver-
führerin gewesen, sondern die älteren Pensionskolleginnen haben
sie eingeweiht.
Nach ihrer Rückkehr ins Mutterhaus suchte sie, wo nur
möglich, Lektüre sexuellen Inhalts zu ergattern, das Konver-
sationslexikon, die Bücher aus der Bibliothek ihres Vaters usw.
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 9
mußten ihr ein notdürftiges Äquivalent bieten; die Phsychopathia
sexualis von Kraft-Ebing geriet in ihre Hände und brachte
sie beinahe durch die darin enthaltenen Schilderungen, die bei
ihr zur fortwährenden Onanie drängten, zur Überreizung; sie
onanierte jede Nacht seitdem, ca. 3 Jahre lang, und ist fort-
während in sexueller Spannung. Ihre Beherrschung aber hat
sie bis jetzt vom Verkehr mit Männern zurückgehalten, jedoch
erstrebte sie mit allen Kräften die baldige Heirat mit ihrem Ver-
lobten, einem Staatsbeamten, der natürlich von ihren Zuständen
keine Ahnung hatte.
Die Patientin fand in einer baldigen Heirat die gewünschte
Erlösung und ist seitdem glücklich, vor den quälenden An-
stürmen ihrer Sexualität Ruhe bekommen zu haben.
Diese intelligente Frau, welche offen ohne Prüderie und
Lüsternheit, absolut kritisch ihre Konstitution beobachtete, be-
stätigte, ohne irgend welche Entschuldigung darin für sich zu
suchen, rein objektiv, daß ihre Erfahrung erlaube, für viele
Frauen und Mädchen ähnliche Situationen anzunehmen, bei
manchen weniger, bei anderen gerade so ausgebildet, bei allen
aber einen zwingenden Drang zur sexuellen Versorgung, zur
Entspannung, zur Detumeszenz.
Warum nun gibt es Forscher, die derartige Fälle nicht als
allgemeingültig anerkennen wollen?
Weil ihnen eben nicht die Informationen zu Gebote stehen,
weil nicht jedem gegenüber die Frauen sich rückhaltslos offen-
baren und vor allem, weil viele Frauen eher sterben als ihre
Seele mit scävolanischer Härte dem Wissen eines anderen dar-
bieten wollen; es gibt Frauen, in denen ein erotischer Vulkan
glüht und die mit eiserner, raffinierter Konsequenz den Ein-
druck absoluter Frigidität hervorzurufen imstande sind; nicht
alle Frauen sind sexuell überwertig, das ist klar; aber das Gros
mit dem gesunden Geschlechtstrieb sucht auch im richtigen
Alter physiologisch die richtige Versorgung, den Congressus:
es braucht dabei gar keine messalinische Unersättlichkeit im
Spiele zu sein; das normale weibliche Geschöpf wird gedrängt
nach einer normalen Detumeszenz, das ist der Congressus.
Wenn viele diesem Drängen einen Widerstand entgegen-
setzen, so hat dies die bekannten Gründe, und zwar in erster
Linie die dem weiblichen Geschlecht anhaftende größere Scham-
haftigkeit und die in unseren Gegenden übliche Betrachtungs-
10 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
weise sexueller Freiheit bei Frauen, die, wenn sie erotisch
»freibeutern«, stets verdammt werden, und als wichtigster, die
Angst vor der Konzeption, dem illegitimen Kinde.
Ein etwas drastischer Ausspruch eines bekannten Theo-
logen lautete: »Wenn die Polizei nicht wäre, würden sich die
Menschen unter den Linden betragen wie die Hunde.«
Er würde noch vollständiger sein, wenn er lautete: »Die
Polizei und die Angst vor dem Kinde.«
Es ist gar nicht vorauszusehen, wie frei und ungebunden
die jetzt schon ziemlich fessellosen breiten Massen der Völker
sexuell sich betätigen möchten, wenn »das Kind« nicht das
ewige Schreckgespenst bliebe. Die sexuelle Versorgung einer-
seits und die Gefahr der Konzeption sind sich feindlich gegen-
überstehende Probleme. Trotzdem kann die bewußte Prognose,
daß von 1000hne Vorsichtsmaßregelnausgeübten Geschlechtsakten
ca. 10—20 mit einer Befruchtungschance beschwert sind, nur
wenige, ängstliche Menschen davon abhalten, ihren Trieben,
wenn sich Gelegenheit bietet, rückhaltslos zu folgen, sie zu
befriedigen.
Man sieht, die Qual der sexuellen Versorgung, das Natur-
gesetz der geschlechtlichen Polarität, der Zwang des erotischen
Detumeszierens kennt nur wenig Dämme, und auch diese reißen,
wenn die Flut zu hoch steigt.
Es ist gar keine Frage mehr, daß der geschlechtsreife
Mensch eine sexuelle Versorgung braucht und daß alle Vereine
gegen die venerischen Krankheiten, alle Predigten von Moral
und Ethik, von hehren Ideen und entsagendem Martyrium stets
nur auf wenige wirken werden, auf eine so geringe Minderzahl,
daß der Wert solcher Unternehmungen ganz und gar proble-
matisch ist; die große Masse kümmert sich absolut nicht um
solche Dinge und lebt, so gut es eben geht, mit eigener Hilfe,
nach eigenem Gutdünken, diese Unannehmlichkeit der sexuellen
Karenz vermeidend.
Es ist hier unnötig, die aus sexueller Not begangenen
Sittlichkeitsdelikte anzuführen, um die aktuelle Wichtigkeit, die
soziale Bedeutung dieser Frage zu illustrieren.
Es steht fest, daß ein Vielfaches der zur Anzeige kommen-
den und bestraften Delikte unentdeckt bleibt oder absichtlich
verdeckt wird, daß eine ungeheure Anzahl von sonst gut ge-
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 11
achteten und anständigen Menschen bestraft und geächtet sein
würden, wenn überall ein Kläger sich fände.
In etwas übertriebener Art erlaubte sich ein Autor die
Phrase, »daß ziemlich alle Menschen Sittlichkeitsverbrecher
seien, wenn man die feinsten Maßstäbe des Strafgesetzes an-
legen wollte.«
Die sexuelle Versorgung ist ein noch viel komplizierteres
Problem als die meisten sozialen Tagesfragen, zu deren Lösung
Staat und Parteien, alle Schichten der Bevölkerung beitragen.
Nur ist an ihr das Gute, daß man sich unter Umständen helfen
kann und auch eventuell sogar muß, auf eine Art, die keinen
Konflikt mit dem Strafgesetzbuch im Gefolge hat.
Der jetzt überall lebhaft diskutierte Geburtenrückgang ist
aufs engste mit der Frage der sexuellen Versorgung verknüpft;
die Zahl der Eheschließungen nimmt ab und auch besonders
die Zahl der Geburten; die Eheschließungen müssen zurück-
gehen, weil die Möglichkeit der Heirat in allen Schichten der
Bevölkerung aus ökonomischen Gründen sehr erschwert worden
ist und so die übliche legitime, gesetzlich lizensierte Sexual-
versorgung immer mehr in den Hintergrund tritt im Vergleich
‘zu der Anzahl derer, welche auf eigene Faust ihre erotische
Sättigung jenseits von Traualtar und Standesamt suchen müssen;
es wäre also die Ehrenpflicht eines vernünftigen Staates und
auch eine Tat kluger, nationaler Selbsterhaltung, wenn er durch
eine weise Gesetzgebung, eine geeignete Zollpolitik die Lebens-
mittel aufs äußerste verbilligte, seine Schulen umsonst dem Be-
such freigäbe, die Steuern soweit wie möglich erniedrigte usw.,
damit die Erzeugung der Kinder und ihre Erziehung keinen
Schrecken mehr für die Eltern habe. Dann würden sich be-
stimmt die Ehen außerordentlich vermehren und die sogenannte
zivile Sexualversorgung würde in ungeahntem Maße wachsen.
Die Ehen würden vor allem in viel früheren Jahren geschlossen,
als dies jetzt der Fall ist; die Ehe sei hier absolut nicht als
kirchliches Sakrament oder pragmatische, staatspolitische In-
stitution gepriesen, also ethische, religiöse und patriotisch-
konservative Gründe spielen keine Rolle hier, sondern nur vom
Standpunkt der praktischen, der gesunden, normalen Sexual-
versorgung, der hygienischen, sauberen und auch ungefährlichen
Detumeszenz für beide Teile wird sie hier gewertet.
Auch die Kinder befinden sich in einer ruhigen Ehe zweifel-
12 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
los — bei den heutigen sozialen Anschauungen und üblichen
Urteilen der großen Masse über illegitime Verbindungen und
daraus entsprossene Nachkommen — besser, als in einem freien
Nebeneinandersein der beiden Eltern; es sei hier absolut nichts
gegen die geläuterte freie Ehe und Liebe, das zwanglose, ethische
Zusammenleben geistig und sittlich hochstehender Individuen
vorgebracht, im Gegenteil für so geartete Geschöpfe kann es
gar nichts Idealeres geben als das ungebundene, bei beider-
seitigem Übereinkommen ruhig lösbare Verhältnis. i
Aber die groBe Menge ist noch nicht reif für solche Ideen
und es bleibt zweifellos, ob sie es je sein wird und mag; des-
halb muß mit praktischen Tatsachen gerechnet und auf ihrer
Grundlage gearbeitet werden.
Also die Ehe als rein soziales, praktisches Moment wäre
eine sehr feste Burg für die solide sexuelle Versorgung, wenn
es unsere Verhältnisse erlauben möchten, daß geschlechtsreife
Individuen jung und früh heiraten, d. h. sobald sie im körper-
lichen und seelischen Besitz aller Fähigkeiten sind, die eine ge-
sunde Nachkommenschaft garantieren können. Dies alles hier
Geforderte ist vorerst Utopie von reinstem Wasser. Es ist
absolut ausgeschlossen, daß sich in absehbarer Zeit die öko-
nomischen Lebensbedingungen derart ändern werden, daß eine
frühere legitime Verbindung jugendlich Mannbarer stattfindet,
als es jetzt üblich ist; im Gegenteil, die Zustände werden sich
in dieser Richtung verschlimmern und die sexuelle Versorgung
wird ein böses Problem in der Nationalökonomie und Sexual-
hygiene der nächsten Dezennien bleiben.
Es wird für den Staat einfach gar kein anderer Weg gangbar
sein, als die Prostitution milder und gerechter zu betrachten,
die illegitimen Verbindungen der Geschlechter ungeschoren zu
lassen und das Konkubinat, die freie Ehe mehr als bis jetzt
anzuerkennen und besonders die illegitimen Sprößlinge recht-
lich ganz anders zu stellen; auch die Volksschätzung der Kinder
aus nicht lizensierter Verbindung wird sich ändern müssen, da
eine Abnahme der »Unehelichen« nirgends zu konstatieren ist
und man doch nicht einfach einen erheblichen Prozentsatz der
Bevölkerung, der dazu noch im langsamen Wachsen begriffen
ist, einfach zu zweitklassigen Helotengeschöpfen degradieren
kann. Die zwingend geforderte Beantwortung der Frage nach
sexueller Versorgung dürfte noch lange in Schwebe gehalten
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 13
werden, wenn man nicht die organische Entwicklung unserer
Volkssexualität so anerkennen will, wie sie sich, unabhängig
von behördlicher Billigung oder Mißbilligung, den Umständen
sich anpassend, darbietet.
Die »sexuelle Versorgung« wird sich stets so unbesiegbar
selbst ihre Wege bahnen, allein, wenn man sie nicht unterstützt,
wie die »Magen- und Darmversorgung«e. Ohne Essen und
Liebe kann der Mensch nicht sein; wenn also Staat und öffent-
liche Meinung, was oft mit öffentlicher Heuchelei gleichkommt,
nicht mit den bestehenden Zuständen sich abfinden wollen,
dann werden sich die Evolutionen ohne diese zwei Faktoren,
oder sogar gegen, sie in weiser Selbststeuerung weiter helfen.
KZ
DIE EROTIK IM KUNSTGEWERBE,
Von Dr. J. B. SCHNEIDER.
We man die zahlreichen Probleme der Kunst mit ihren
tausendfachen und scheinbar einander widersprechenden
Ausstrahlungen genau ins Auge faßt, so lassen sich alle
auf einen ursprünglichen Gedanken zurückführen, den man
gleichsam als das Urphänomen alles Künstlerischen be-
zeichnen könnte. Das ist die Symbolik des Geschlecht-
lichen, Eros pandämos, die ewig wechselnden Gezeiten der
Liebe, von der bereits die alten Dichter gesungen haben
und die uns auch das Märchen von Aphrodite schenkte. Die
Erotik ist die letzte Wurzel aller künstlerischen Gestaltung,
angefangen von den spielerischen Erzeugnissen primitiver Ur-
völker bis zu den raffinierten Produkten moderner Kunsttechnik,
und mithin eine Idee von zeitloser Bedeutung, die die gesamte
sonstige Metaphysik an Einfluß und Interesse überwiegt. Wie
weit sich die Sexualität eines Zeitalters in den überlieferten
Bildwerken ausspricht, wird allein der Kulturhistoriker ent-
scheiden können, dem gleichzeitig die intimste Geschichte jener
Epoche bekannt ist; aber bis zu einem gewissen Grade wird
auch der Laie aus der Wirkung, die das Kunstwerk beim
Beschauen auf ihn ausübt, den Gedanken, von dem sich der
Künstler bei seinem Werke leiten ließ, erkennen und den
sinnlichen Gehalt der Schöpfung nachempfinden. Bei voll-
14 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
endeten Werken, die des Meisters Hand verraten, wird natür-
lich das ästhetische Element überwiegen, und selbst für grob-
sinnliche Vorwürfe dürfte sich immer noch ein Grund der
Entschuldigung finden lassen. So gibt es eine Reihe von Jahr-
hunderten, die immer auf den groben Effekt hingearbeitet haben
und vor den unverhülltesten Obszönitäten nicht zurückschreckten,
denen gleichwohl künstlerischer Ernst und großzügige Anlagen
nicht abgesprochen werden können. Solche Bilder sprechen
dann deutlicher als alle anderen von der sinnlichen Atmosphäre
der Vorzeit und eine seltsame tragigroteske Verbindung von
Schönheit und Häßlichkeit scheint aus all den halbverwitterten
Kompositionen und Plastiken zu atmen.
Über diesen verschleierten und doch deutlichen Symbolen
der Sexualität fühlt sich schließlich der Laie unschwer ver-
leitet, das Geringfügige und Unscheinbare in der Kunst zu
übersehen, und namentlich die Kleinprodukte, die auf das All-
tagsleben Bezug haben, in ihrer kulturhistorischen und ästhe-
tischen Bedeutung zu unterschätzen. Und doch sind die ver-
schiedenen Gegenstände kunstgewerblichen Fleißes, die die
einzelnen Jahrhunderte hervorgebracht haben, mit demselben
Aufwand von Erfindungskraft und bei weitem mehr Humor
verfertigt, obwohl die Meister nicht den berühmten Klang
im Namen wie Rembrandt, Rubens, van Dyk, Tintoretto,
Carracci, Aldengrever u. a. haben, sondern meist kleine unbe-
kannte Kunsthandwerker waren. Es ist erst ein Verdienst der
letzten Jahrzehnte, daß die Schöpfer des Kleinkunstgewerbes
in ihren originellsten Köpfen den bedeutendsten zeitgenössischen
Malern gleichgeachtet werden. Vereinzelt treten zwar auch in
der Kunstgeschichte verflossener Jahrhunderte Namen auf wie
Cellini, Peter Flötner, Veit Stoß usw., die Zeugnis ablegen,
daß auch das Kunstgewerbe immer seine erlesenen Meister
besessen hat. Aber die genannten Künstler stünden wohl
nicht in den Annalen der Historie, wenn sie nicht gleichzeitig
im Dienste anderer bedeutender Männer gestanden hätten. Von
den ungezählten Tausenden, die das altrömische Kunstgewerbe
zu seiner einzig dastehenden Blüte gebracht haben, von den
Gold- und Rotschmieden des Mittelalters, die jene seltsamen,
von grotesken phallischen Figuren gezierten Geschmeide ge-
schaffen haben, von den modernen Fabriksarbeitern endlich,
deren volkstümlicher und gesunder Humor sich an ungezählten
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 15
kunstgewerblichen Gegenständen verbreitet, wird in der Ge-
schichte der Kunst nirgends näher berichtet. Aber der Geist,
von dem die kunstgewerblichen Arbeiten getragen sind, ist
volkstümlicher, wahrer und natürlicher als der der großartigsten
Meisterwerke; denn er ist ein Teil von dem ursprünglichen
Volkswitz und der Gedankenwelt, in der sich der kleine Mann
mit Vorliebe bewegt. Man darf nicht vergessen, daß ein
großer Teil der kunstgewerblichen Gegenstände für die Bedürf-
nisse gerade des kleinen Mannes bestimmt war und daß bei-
spielsweise der erotische Scherz, der auch auf dem Trinkglas
angebracht war, genau dem: geistigen Horizont seines Besitzers
entsprach; und da zeigt sich wiederum deutlich die ungemessene
Freude, die jeder einzelne zu allen Zeiten an Dingen der Erotik
empfindet, die Bestätigung des alten Satzes, der den Trieb
der Geschlechter zueinander als das Alfa und Omega alles
Seins bezeichnet. Die überlieferten Schöpfungen der Kleinkunst
sind mit wenigen Ausnahmen Erotika und beweisen die un-
geheuerliche Durchdringung alles Fühlens und Handelns. durch
das Sexuelle. Man hat im Laufe der Jahrhunderte ein erstaun-
liches Material zusammengehäuft, aber bei genauer Sichtung
und Prüfung bleiben nur wenige Motive übrig und die über-
gehen von Jahrhundert auf Jahrhundert, von den Hellenen bis
auf die Neuzeit, einzig das Gewand, in das sie sich kleiden,
ist nach der Kultur ein verschiedenes. Das Grundmotiv, mit
dem sich das Kunstgewerbe immer mit Vorliebe beschäftigt
hat, ist die Verherrlichung des Phallus, sei es, daß er in
herrischer Einsamkeit oder in seinen zahlreichen Beziehungen
zum andern Geschlechte gezeigt wird. Von den alten asiatischen
Kulturvölkern, deren Erbe die Griechen übernommen haben,
soll an dieser Stelle nicht gesprochen werden. Für uns datiert
die Kultur doch nur von jenem Augenblick an, da das hell-
äugige Volk an der Aigäs seine Geschichte zu schreiben an-
fing. Von den Mysterien dieses Volkes, die sich um die An-
betung des Phallus und seiner geheimnisvollen Kräfte drehten,
handelt Fuchs in seiner Geschichte der erotischen Kunst, in
der er ein umfassendes Sittenbild der antiken Welt entwirft.
Das Erbe der Griechen, das auf uns überkommen ist, erschöpft
sich leider nur nach der Seite der bildenden Kunst hin, in der
sie wohl für alle Zeiten einen vorbildlichen Rang erstritten
haben. Kaum daß einzelne Gemmen, Münzen und sonstigen
16 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Schmuckgegenstände auch die kunstgewerblichen Anlagen der
Hellenen ins Licht rücken; sie verraten dieselbe leidenschaftlich-
sinnliche Weltanschauung, und neben dem Sinn für Schönheit
auch den für die Karrikatur, so wenn z. B. eine kunstvolle
Gemme den Heldenjüngling Alcibiades zeigt, der als großer
aufgereckter Phallus einherwandelt und nach allen Seiten hin
von Symbolen der Weiblichkeit umschwärmt wird. Was im
übrigen die Griechen auch im Kunstgewerbe verherrlichten,
waren die gleichen Motive aus der Göttersage, die sinnlichen
Verhältnisse der Götter und Halbgötter untereinander, denen
sie in der Legende und in der Plastik so wundervollen Aus-
druck geliehen haben. Das eigentliche Altertum ist repräsen-
tiert in den Sammlungen aus den pompejanischen Funden und
den Ausgrabungen auf altrömischen Plätzen, wo in den
herrlichsten Baudenkmälern auch die entzückendsten Werke
der Kleinkunst zu Tage treten. Die Häufigkeit der altrömischen
Vasen, Lampen, Krüge, Schüsseln, Spangen, Münzen, Messer
und sonstigen Gebrauchsartikel, die selbst als erotische Symbole
geformt oder mit einem solchen versehen sind, beweist, wie
allgemein diese phallisch gezierten Gegenstände waren. Man
muß darin noch immer keinen Beweis einer umfassenden
Lüsternheit, einer schreckhaften Korruption sehen, ebenso wenig
wie die modern-erotischen, kunstgewerblichen Gegenstände ein
Zeichen der zunehmenden Degeneration unserer Zeit sind. Die
Freude an allem Erotischen, die Naivität der Massen, die in
einem obszönen Stück lieber einen guten Witz als einen An-
griff auf die Öffentliche Sittlichkeit sehen und in der ver-
schleierten Betonung alles Geschlechtlichen ihre eigentliche
Genugtuung finden, bringen es mit sich, daß trotz der Polizei-
fehme derartige Gegenstände immer von neuem auf den Markt
gebracht werden. Р
Kleinpaul hat in einer Untersuchung Ȇber das Strom-
gebiet der Sprache« auf den geheimen erotischen Sinn hin-
gewiesen, der beinahe jedem alltäglichen Wort zu Grunde liegt.
Ähnlich könnte man auch in allen Gegenständen, die scheinbar
ganz harmloser Natur sind, eine geheime sexuelle Bedeutung
symbolisiert finden, sofern man nur die Phantasie rege arbeiten
läßt. Eine Naturgeschichte der erotischen Kunst möchte ich
an dieser Stelle zwar nicht geben, aber trotzdem an ein-
zelnen Beispielen erläutern, wie ich mir das Zustandekommen
“(sHapunyayef ‘ZI səp əpug) Zunis1z13Aj3999q зәцәвӊцозә иш ISOASYVAVLIANNHIS INYIIANN
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VOR- UND RÜCKSEITE EINER MODERNEN ZÜNDHOLZSCHACHTEL
AUS ZINK,
Zu dem Aufsatz Die Erotik im Kunstgewerbe«, Seite 13.
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 17
erotischer Symbole denke. Aus den Funden von Pompeji,
Nimes, Arles, Paris und anderswo kennen wir eine ganze
Reihe von phallischen Bronzelampen, deren sich scheinbar die
Römer mit besonderer Vorliebe bedient haben. Neben der
Verwendung des Phallus und anderer religiöser Motive mag
die Anspielung auf das Grobsexuelle gerade in der Verzierung
der Lampen sich aus der intimen Mission dieser Gegenstände
erklären lassen. Dienten doch die Lampen wie heute so auch
früher immer zur Erleuchtung der stillen Gemächer, in denen
sich das Liebesspiel zumeist vollzog, und waren demnach die
unmittelbaren Zeugen des uralten Mysteriums, das am besten
in die geheimnisvollen Schleier der Nacht gehüllt wird. Auch
die Form der Lampen, die zumeist hufeisenförmig ist, dürfte
man wohl kaum als zufällig bezeichnen; das Hufeisen gilt seit
den erdenklichsten Zeiten als ein glückbringender Gegenstand,
der überdies in seiner Form die weiblichen Genitalien nach-
zuahmen scheint. Der gleiche erotische Sinn läßt sich bei
näherem Zusehen in vielen anderen kunstgewerblichen Objekten
finden, die im Verkehr üblich waren. Namentlich die Trink-
gefäße, Becher, Pokale, Pulverhörner, Kaffeekannen, Tassen etc.
ähneln bereits äußerlich durch ihre Form mehr oder minder
dem Phallus bezw. den weiblichen Geschlechtsteilen, und
reizten gerade dadurch, daß sie bei den festlichen Angelegen-
heiten des Lebens, beim Trinken und Schmausen verwendet
wurden, zur erotischen Ausschmückung; denn jedermann weiß,
daß Trink- und Eßgelage nicht allzu selten mit einem Liebes-
fest schließen. Das Jagdhorn mag wohl aus demselben Grunde,
dann aber des Klanges wegen, der an den Brunstschrei der Tiere
erinnert, mit den mannigfaltigsten obszönen Bildern und scherz-
haften Aufschriften bedeckt worden sein. Eine andere Spezies,
die sich bis heute erhalten hat, sind die erotisch gezierten
Schnupftabaksdosen, die, um ein Beispiel zu geben, an der
Außenfläche das Bild einer jungen, hübschen Falknerin zeigen,
auf den Innenflächen dagegen die obszönsten Aktbilder auf-
weisen. Es scheint mir nicht unwesentlich, daß gerade Schnupf-
tabaksdosen mit derartigen Bildern geziert werden, denn das
Schnupfen ist in erster Linie eine Domäne der alten Herren,
denen solche handgreiflichen Stimulantien ganz erwünscht sein
mögen. Auf dem Wege der Assoziation, daß ein Schnupfer für
gewöhnlich ein bejahrter Mann sein dürfte, ist demnach der
Geschlecht und Gesellschaft VIII, 1 2
18 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Kunstarbeiter zur Verwendung der pornographischen Motive
gelangt. Wie ausgedehnt diese Praxis im Laufe der Jahre
wurde, beweist der Umstand, daß sich die „Dosenstücke“ zur
Bezeichnung einer selbständigen Gattung der erotischen Literatur,
der kleinen, scharf pointierten Skizzen obszönen Inhalts, aus-
gebildet haben. Auf diese Weise läßt sich in den meisten
kunstgewerblichen Gegenständen ein direkter Bezug zum Ge-
schlechtlichen herausfinden, der von dem Volksinstinkt zumeist
viel leichter erfaßt wird als von dem grübelnden Geistesarbeiter,
der sich mit der Deutung solcher Gegenstände abgibt.
Je kraftvoller und sinnlicher ein Zeitalter an sich ist, um
so häufiger stoßen wir auf die Verwendung phallischer Motive
an kunstgewerblichen Produkten, deren Beurteilung im Rahmen
des gesamten Kunstschaffens solcher Zeitläufte vorgenommen
werden muß. Ob zwar die Moderne an erotischen kunstgewerb-
lichen Gegenständen nicht arm ist, zeigt sie bei weitem nicht
jene Überfülle des Materials wie die vorhergehenden Epochen
der Renaissance, des Barocks und teilweise des bürgerlichen
Zeitalters. Daß das Mittelalter verhältnismäßig wenig an Klein-
kunstwerken aufweist, ergibt sich aus dem allgemeinen Tief-
stand der mittelalterlichen Kunst; jedoch finden sich auch hier
vereinzelt Münzen, Ketten, Schlösser, Gürtel — man vergleiche
den im Mittelalter beliebten Keuschheitsgürtel! — und zahlreiche
Broschen aus Blei, die in ihrer Form unzweideutig die An-
lehnung an das Sexuelle bekunden. Die meisten derartigen
Gegenstände wurden auch als Amulette gegen den Einfluß
der bösen Geister getragen, die sich nach mittelalterlichem
Glauben durch die jungfräuliche Scham vertreiben ließen. Daß
dem Phallus im Geheimen immer eine besondere fruchtbare
und erlösende Kraft zugeschrieben wurde, beweist ja der Aber-
glaube, der noch heute in den nördlichen und südlichen Zonen
verbreitet ist und in dessen Mittelpunkt das begehrte Symbol
der männlichen aktiven Kraft steht. Aus der Hölle des christ-
lichen Mittelalters ist der antike Priap unverbrannt hervor-
gegangen, nur hat dieser heidnische Gott der fleischlichen Liebe
eine Gloriole bekommen und ist zu einem christlichen Heiligen
erhoben worden. Der römische Tutunus oder Midinus und
der heilige Cosimo der italienischen Bäuerinnen sind im letzten
Grunde ein und dieselbe Person geblieben. Aber der Über-
gang vom Mittelalter zur Neuzeit, an deren Schwelle die gigantische
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 19
Periode der Renaissance steht, weist eine ungeheure Menge
erotisch oder obszön verschleierter Gegenstände auf, die für
den Alltagsgebrauch bestimmt waren; ja man kann sagen, daß
alles und jedes, mit dem die Renaissance in Berührung trat,
den sinnlichen Überschwang der damaligen Menschheit ma-
nifestier. Angefangen von den Geräten, die auf den Tisch der
Fürstlichkeiten und Bürger kamen, bis zu den Degen, Spiel-
karten, Toilettegegenständen etc. war alles mit erotischen Motiven
geziert. Häufiger noch begnügte man sich nicht mit der An-
deutung, sondern zeigte die Dinge in ihrer ganzen brutalen
Wirklichkeit. Zur Illustration des Ebengesagten genügen
einzelne Beispiele, die wir aus der Fülle des überlieferten
Materials herausgreifen. Brantöme erzählt von einem Prinzen,
der einen köstlichen, von Benvenuto Cellini gefertigten Trink-
becher besessen haben soll, der mit Gruppen nach Aretino
und Giulio Romano geziert war. Der Prinz stellte ihn
mit Vorliebe auf die Tafel, wenn Damen zugegen waren,
oder er bot auch öfter seiner Partnerin einen Trunk aus dem
merkwürdigen Pokal an. Brantöme berichtet nicht, daß die
damaligen Damen an dem Vorgehen des Prinzen etwas An-
stößiges gefunden hätten. Philipp von Burgund soll »eine
schöne nackte Venus aus Gold sein Eigen genannt haben, die
den Tischwein in eine Kanne p....« Harmloser war die
Methode, wo der Tischwein aus den Brüsten eines jungen
nackten Weibes perlte, und zwar aus der einen der rote, aus
der andern der weiße. Ein kunstgewerbliches Meisterstück
war auch der Holzschuherpokal, von Peter Flötner gefertigt
und von dem bekannten Nürnberger Patrizier Holzschuher bei
seinen Trinkfesten verwendet. Derlei Scherze waren auch in
späteren Jahren durchaus nicht verpönt. Von Ludwig XIV.
wird erzählt, daß er sich beim Spiel besonderer Karten bedient
habe, die mit allerlei Akten von Bestialität, obszönen Stellungen
verschiedener Tiere geschmückt waren. Ein Seitenstück zu den
derben Sitten der Fürstlichkeiten war die Verwendung phallisch
gezierter oder mit eindeutig erotischen Sprüchen bedeckter
Geräte an der kleinbürgerlichen und bäurischen Tafel. Die
meisten Produkte des Töpfers, Schüsseln, Teller, Krüge usw.
wiesen zotige Sprüche oder auch derb realistische Bilder auf,
die in irgend einer Beziehung zu der festlichen Gelegenheit
standen, bei der sie verwendet wurden. Teller, die als Ge-
2*
20 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
schenk der Braut gegeben wurden und dementsprechend mit
den kräftigsten Sprüchlein ausgestattet waren, sind auch heute
auf dem Lande beliebt, ebenso wie es in manchen alten Bauern-
häusern Truhen und Schränke mit gemalten Sprüchen gibt, die
von einer unverblümten, humorvollen Erotik zeugen. Fuchs
zählt aus einer oberfränkischen Sammlung eine ganze Anzahl
derartiger Inschriften auf, die stellenweise ziemlich harmloser
Natur sind: »Küss’ mich, ich drück’ dich«, »Zum Zeitvertreib
nehm’ ich mir ein Weib« oder »Allerschönste Dorothee, sitzt
im Bett und fangst die Flöh«e. Auch ein derberes Kaliber ist
durchaus nicht verpönt: »So oft er will, halt ich ihm still« oder
»Junge Weiber denken bei ihren Männern nur an das, was
von ihnen der Kammertopf sieht« u.s.f. Von dem gleichen
offenen Ausdruck sind die Inschriften, die auf den Tellern und
Kammergeschirren angebracht waren, die man in bäuerlichen
Kreisen von allen Seiten der Braut verehrte. Auch hiervon
gibt Fuchs eine Anzahl gelungener Proben, deren Wiedergabe
jedoch den Rahmen dieser Studie überschreiten würde. Es
muß noch hinzugefügt werden, daß die neuzeitliche kunst-
gewerbliche Erotik weniger in derlei Sprüchen arbeitet, sondern
das Bild oder die plastische Gruppe bevorzugt. Jedermann
wird gewiß Tabakspfeifen, Spazierstöcke, Ringe, Uhrschlüssel,
Gabel, Messer, Löffel, Tafelaufsätze, Billardkugeln, Schlösser,
Siegel etc. gesehen haben, die in irgend einer Weise mit
realistischen Liebesszenen oder mit dem Symbol der Liebe
geschmückt sind. Eine leise verhüllte Erotik ist im übrigen
an vielen kunstgewerblichen Gegenständen der Moderne ange-
bracht, ohne daß der Käufer eine Ahnung von den geheimnis-
vollen Beziehungen erhält. Es gibt beispielsweise eine ganze
Reihe hochmoderner Stockgriffe, die in ihrer Form nichts anderes
als Phallen sind, wie überhaupt Stöcke ähnlich wie früher der Degen
und die sonstigen Waffengattungen der Vortäuschung männ-
licher Aktivität dienen. Weibliche Handtaschen in ihrer doppel-
teiligen Anordnung, Broschenformen, überhaupt der größte Teil
des weiblichen Schmuckes erinnern teilweise an den Phallus,
teilweise an die weibliche Scham, was allerdings nur bei ein-
gehender Beobachtung herauszufinden ist.
Moll zählt in seinem Handbuch der Sexualwissenschaften
die außereuropäischen Völker auf, die sich gewerbsmäßig mit
der Herstellung derartiger pornographischer bezw. erotischer
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 21
Gegenstände beschäftigen, und nennt an erster Stelle die
Chinesen und Japaner, für deren Kunst sich der abendländische
Kontinent in den letzten Jahrzehnten immer lebhafter zu inter-
essieren beginnt. Die Japaner haben frühzeitig das erotische
Element in der Kunst gepflegt, was ihre klassische Literatur
beweist, und auch ihre Bilder wimmeln von erotischen Situa-
tionen, die neben der charakteristischen Form und Farbe dem
Gemälde die besondere pikante Note verleihen. Die japanische
erotische Bildkunst, namentlich die Illustrationen der Hochzeits-
bücher, die in früheren Jahren jungen Ehepaaren gegeben
wurden, würde ein Kapitel für sich beanspruchen. Die Be-
rührung Japans mit England und Amerika hat auch die Welt-
anschauung dieses Volkes zum Teil umgeformt und neuen,
prüderen Gesetzen Eingang in das Reich des Mikado ver-
schafft. Zweifelsohne würden Werke von so unzweideutiger
Erotik wie die Romane der Murasaki-Shikubu und die ausge-
lassenen Skizzen der Sei-Shonagen heute nicht mehr mit jener
allgemeinen Hochachtung begrüßt werden ‘wie in den Zeiten
der Kaiserin Jotomonen und den darauffolgenden Jahrhunderten.
Aber die Kleinkunst der Japaner zeigt erotische Motive noch
in genügender Anzahl, und die Proben der Buxbaum- und
Elfenbeinschnitzereien, die Moll in seinem ausgezeichneten
Buch gibt, sprechen deutlicher als alles andere für die außer-
ordentliche Verbreitung erotischer kunstgewerblicher Artikel
auch im heutigen Japan. Neben größeren Figuren, die zu
Gruppen beim Tanz und beim Musizieren vereinigt sind, und
wobei unter der Kleidung der Körper bis in alle Einzelheiten
durchgearbeitet is, wurden hauptsächlich in früheren Zeiten
die sogenannten Netsuken zur Darstellung erotischer Figuren
verwendet. Sie bildeten einen Teil des japanischen Kostüms
und wurden in der Regel oberhalb des Gürtels getragen.
Moll bringt auch Porzellanfiguren, die wertvolle Stücke alt-
japanischer Kleinkunst darstellen und trotz des realistischen
Inhalts nicht abstoßend obszön, sondern vielmehr ästhetisch
wirken. Auch die Chinesen haben häufig erotische Motive in
ihren kunstgewerblichen Erzeugnissen gebraucht. Eine Anzahl
der zierlichsten Elfenbeinschnitzereien und farbigen Mosaik-
tafeln, die als Ganzes genommen zu dem Entzückendsten ge-
hören, was auf diesem Gebiete hervorgebracht wurde, zeigen
Männlein und Weiblein in den verschiedenartigsten Umarmungen,
22 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
wobei sich die nackten Körper mit ihren geschmeidigen Linien
den phantastischen Ornamenten und farbigen Blattranken ganz
wunderbar anpassen. Vielfach verwenden die Chinesen Serien-
zeichnungen, die irgend ein erotisches Verhältnis bis in die
extremsten Konsequenzen variieren und gleichzeitig Dokumente
von sittengeschichtlicher Bedeutung darstellen. Eine Reihe ge-
lungener erotischer Karrikaturen an kunstgewerblichen Gegen-
ständen hat der Verfasser dieses in slavischen Gegenden, nament-
lich an altböhmischer Majolika und böhmischer Glasmalerei be-
obachtet. In den Kirchen kleiner Dörfer kann man: wiederholt
auf Holzschnitzereien stoßen, die an Eindeutigkeit nichts zu
wünschen übrig lassen. Kleine Vasenbilder aus Rußland und
Nippfiguren, die kürzlich auf den Markt gebracht und inhibiert
wurden, zeigten Nachbildung russischer Kosaken, die sich
in intimer Umarmung mit weiblichen Figuren befanden,
wobei die Dimensionen übergroß ausgearbeitet waren. Die-
selben Figuren finden sich übrigens in russischer bäurischer
Holzschnitzerei wieder. Interessant wäre auch eine Darstellung
aller französischen Artikel des genannten Genres, die m. E. das
Raffinierteste, aber auch Vollendetste auf diesem Gebiet dar-
stellen. Namentlich in der farbigen Postkartenindustrie und
in der erotischen Photographie sind die Franzosen uner-
reichte Meister geblieben. Mit der zunehmenden Industrie-
alisierung aller gewerblichen Betriebe sind die Handfertigkeiten
immer mehr in den Hintergrund getreten, und damit ist auch,
wie bereits gesagt, die urwüchsige derb-erotische Kleinkunst
zurückgedrängt worden. Das luxusiöse und auf Raffinement
berechnete Element, das der neuzeitlichen Kunst ihren extremen
sinnlichen Stempel gibt, tritt auch hier wachsend zu Tage,
ebenso wie in der modernen Literatur an Stelle der Zote seit
kurzem die viel raffiniertere erotische Pointe getreten ist. Die
Erotik ist eben wie ein roter Faden, der sich durch alle Zeiten
und alle Kulturen gleichmäßig dahinzieht; Kunst und Kultur aber
unter eine asketische Moral zu stellen, wäre gleichbedeutend,
wie beide ihrer Lebensfähigkeit und ihrer besten Wirkungen zu
berauben.
SS
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 23
ZUR PSYCHOLOGIE DER HOCHZEITSREISEN.
Von LOTHAR EISEN.
ie Entwicklung der modernen Kultur zu einem reinen Produkt
des Kapitalismus hat es mit sich gebracht, daß die Ehe
ihre hohe sozialethische Bedeutung, die sie auf der christlichen
Basis erlangt hat, immermehr einbüßt und sich von den beiden
Grundelementen der Moderne, Spekulation und Konvention,
völlig abhängig zeigt. Ich habe bereits in einem früheren
Aufsatz an anderer Stelle die Ehe als eine Industrie-Anstalt
bezeichnet, die auf derselben Basis gegründet ist wie derlei
Unternehmungen überhaupt und auf den höchsten erreichbaren
materiellen Profit abzielt. Begreiflicherweise sind auch die
Kapitel vor der ehelichen Verbindung, die Bräutigamszeit sowie
die poetischen Flitterwochen, längst ihrer mystischen Herrlichkeit
entkleidet worden, und was heute noch diesen beiden Perioden
anhaftet, das ist der Zustand der dauernden moralischen Ver-
logenheit, in dem Braut und Bräutigam einander begegnen.
Unsere Mütter würden das nicht ertragen haben, aber die Enkel
stehen unter dem Einfluß des gegenwärtigen alles nivellierenden
Zeitgeistes, und dieser Einfluß ist fressend, zerstörend wie eine
Säure, die über einen glänzenden Metallgegenstand gegossen
wird. Allerdings weiß die jüngere Generation wie keine andere
vorher den äußeren Schein zu wahren, und so kommt es, daß
nie soviel praktische Bücher über die Ehe, Diskussionen des
monogamen Prinzips, Ratschläge und Winke für junge Mütter etc. -
in die Öffentlichkeit geschleudert wurden wie in unserer schreib-
wütigen und lesehungrigen Zeit. Bedeutet nun die Ehe nicht mehr
das Fest der endgültigen und restlosen Vereinigung zweier ver-
wandter Individualitäten, so hat sich gleichwohl eine Reihe von
Gebräuchen erhalten, die den holden Schein von einst gern vor-
trügen möchten, und andere neue sind hinzugekommen, die
vielleicht eine Auffrischung uralter natürlicher Instinkte bedeuten,
heute aber ganz andere, das junge Ehepaar direkt schädigende
Zwecke erfüllen. Von der langen Bräutigamszeit, die für die
Mehrzahl der Verlobten nichts weniger als eine bittere Karenz-
zeit bedeutet, und die in ihren verhängnisvollen Einflüssen be-
reits früher an dieser Stelle gekennzeichnet worden ist, unter-
scheidet sich das Stadium der Erfüllung lediglich durch den
Akt vor dem Standesbeamten und die darauf folgende Hochzeits-
reise, die unter den neuzeitlichen Zeremonien vielleicht als die
24 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
wichtigste angesprochen werden muß. Die jungen Mädchen
von heute verheiraten sich nicht mehr, um die Mysterien der
Brautnacht und des in ihr erschlossenen neuen, bewußteren
Lebens kennen zu lernen — das haben die aufgeklärten Kinder
der Großstadt und die sittlich depravierten Kreise des Landes
nicht mehr nötig — sondern sie wünschen zunächst eine standes-
gemäße Versorgung und dann die Fortsetzung des Flirts, den
sie mit ihrem künftigen Gatten begonnen hatten und in der
Ehe mit andern Männern weiter führen. Ein Symptom dieses
Flirtes, der Sucht nach immer neuen Sensationen, die geeignet
sind, die Sinne aufzupeitschen, und eine Verbeugung vor den
Exzentrizitäten der Mode ist die Hochzeitsreise. Wenn die Kopu-
lation durch den Priester oder die zuständige Behörde vollzogen
ist, schnürt das neuvermählte Paar seinen Koffer, löst ein Billet
nach Paris und Venedig, und fort geht es mit dem ersten D-Zug
in das gelobte Land der Mädchenträume, die in Wirklichkeit
darauf gerichtet sind, wieviel neue Toiletten und Hüte das
Männchen in Paris kaufen wird und was die lieben Freun-
dinnen dazu sagen werden, wenn man nach drei Wochen in
einem solchen Staat zurückkehrt. Die wenigsten der jungen
Eheleute denken wohl daran, daß auch die Hochzeitsreise
ursprünglich einem höheren geistigen Zweck gedient haben muß,
und daß der Kern ein durchaus gesunder ist, wenngleich sie
heute ein Spiel mit verfälschten Werten, kurz eine Farce, be-
deutet. In der Hochzeitsreise nämlich lebt wieder jener Instinkt
auf, der die Liebenden in zeitweilige Einsamkeit drängt, zur
Hingabe aneinander, die durch keinerlei fremde Einflüsse be-
einträchtigt ist. Schon in der Natur suchen Männchen und
Weibchen, wenn sie den letzten Liebesakt zu vollziehen sich
anschicken, irgend ein abgelegenes, unbewachtes Plätzchen auf,
sie wählen eine Stunde, wo der Tag kaum im Erwachen be-
griffen und lautlose Einsamkeit über alle Gegenstände gebreitet
ist. Auch die primitiven Völker mochten gleichwie die späteren
Kulturvölker, so weit sie sich nicht durch extremen Luxus und
ein raffiniertes Genußleben unter das Tier herabwürdigten, in
dem Liebesakt eine Handlung ersehen haben, die sie um jeden
Preis vor der Profanation durch fremde Augen und Ohren
schützten und die sie nur in einer geeigneten Stunde und in
geeigneter Umgebung vollzogen. Das Bedürfnis der Liebenden,
allein beieinander zu sein und das höchste Opfer der Liebe
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 25
womöglich am schönsten Orte darzubringen, dürfte demnach
das Primäre in dem Brauch der Hochzeitsreise gewesen sein.
Ob die antiken Völker, deren vorbildliches Leben bis in
die kleinsten Details uns überliefert ist, bereits die Hochzeits-
reise gekannt haben, ist freilich nicht erwiesen. Allein gewisse
symbolistische Ansätze dazu finden sich in den Märchen und
Sagen der Vergangenheit, wo berichtet wird, daß Prinzen und
Könige große Reisen machen mußten, um die Auserwählte
ihres Herzens nach Hause zu bringen. Die Einholung des
„Mädchens aus der Fremde“ durch Mittelspersonen, häufiger
jedoch durch den Bewerber selbst, ist kein ledigliches Sagen-
motiv geblieben, sondern das ganze Mittelalter hindurch bis in
die jüngste Neuzeit hat die Werbung par distance und die
darauf folgende Brautreise der Verlobten zurück in die Heimat
im Leben der Völker eine wichtige Rolle gespielt. Hochzeits-
reisen im eigentlichen Sinne sind erst um die Wende des
18. Jahrhunderts gang und gäbe geworden und nahmen ihren
Ursprung noch aus einer anderen als der bereits genannten
Wurzel. Bekanntlich vollzog sich die Ehe in den Uranfängen
der Kultur und auch noch bei einzelnen asiatischen und afri-
kanischen Völkern der Jetztzeit auf der Basis des Raubes,
indem der stärkere Mann das schwächere Weib bei günstiger
Gelegenheit überwältigte und dann mit ihm in die Einsamkeit
floh. In milderer Form hat sich der Frauenraub, von dem
bereits die klassisch-römische Sage zu berichten weiß, bis in
die Jetztzeit erhalten. Die Entführung, sei es nun die gewalt-
same oder die mit Einverständnis beider Teile erfolgte, ist
nichts als eine Wiederholung des bekannten uralten Prinzips,
nur daß vielleicht der ganze Vorgang mit einer gewissen
Romantik, ich möchte beinahe sagen, Affektation umgeben
wurde. Das 18. Jahrhundert, namentlich gegen seinen Aus-
klang hin, hatte besonders zahlreiche Entführungen aufzuweisen,
ja, um in der fashionablen Hofgesellschaft zu bestehen, mußte
jede Dame mindestens ein derartiges Erlebnis hinter sich haben.
Selbstverständlich wurde dieser Brauch von der bürgerlichen
Gesellschaft fleißig nachgeahmt, und die Entführungen resp.
heimlichen Trauungen waren in diesen Kreisen nicht weniger
verbreitet als unter den oberen Zehntausend. Die Institution
des Schmiedes von Gretna-Green, dem die Kopulation flüch-
tiger Paare oblag, mag heute für unsern Geschmack etwas
26 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Lächerliches an sich haben. Dem Geist jener Zeit war sie
völlig adäquat und das beste Ausdrucksmittel für die ver-
schrobene Romantik der damaligen Gesellschaft. Vielleicht
liegt dem heutigen Hochzeitsreisebrauch eine dunkle Erinnerung
an die so beliebte Entführungsromantik zu Grunde, indem der
Bräutigam seine Braut aus der Alltagsumgebung in andere
romantisch-verklärte Gegenden führt. Es ist im übrigen nicht
irrelevant, daß die deutschen jungen Paare mit besonderer
Vorliebe nach Italien reisen. Italien ist ja das Land der
klassischen Träume des Germanentums, die Sehnsucht und
das Ziel ganzer Epochen gewesen, um dessentwillen Heere
zusammengeschweißt und Kronen gestürzt wurden, und wenn
heute noch ein Deutscher den Märchenboden nennen sollte,
aus dem die blaue Blume der Romantik sprießt, so würde er
unbedenklich sagen: Italien. In jüngster Zeit macht zwar Paris
mit seinem Renommee von Lebenskunst und Raffinement
Florenz, Venezien und der heiligen Roma ernste Konkurrenz;
allein Italien ist noch immer das bevorzugte Land.
Noch aus einer dritten psychologischen Wurzel läßt sich
die Gewohnheit der Hochzeitsreise erklären, doch sind sich die
reisenden Paare ihrer ebenso wenig bewußt wie der sonstigen
Gründe, aus denen sie unbequeme Fahrten in die weite Welt
einem angenehmen und traulichen Beisammensein zu Hause
vorziehen. Es ist eine bekannte Tatsache, daß zur Zeit der
sexuellen Überspannung viele Menschen sich dadurch Er-
leichterung schaffen, daß sie Stunden und Tage lang im
Freien herumwandern oder auch fremde, nie gesehene Orte
besuchen. Mit dem unbefriedigten Paarungstrieb geht ein mehr
oder minder intensiver Wandertrieb Hand in Hand, vielleicht
auch aus dem Verlangen geboren, die Träume, die der dauernde
Rauschzustand vorgaukelt, in eine lebendige farbensprühende
Wirklichkeit zu übertragen; wiederum eine symbolistische
Handlung, die im letzten Grunde auf Entspannung der auf-
gehäuften sexuellen Energie hinarbeitet. Nehmen wir nun an,
daß Mann und Weib, die sich nach längerer Wartezeit endlich
zu einem Paare vereinigt haben, mit dieser Energie vollgeladen
sind und dem instinktiven Wandertrieb nachgeben, der sich
bei ihnen gleichzeitig meldet! Beide suchen nach dem besten
Ausdrucksmittel für ihre zur Überfülle gesteigerten seelischen
Erlebnisse und finden sie in der Einrichtung der — Hochzeits-
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 27
reise. Von dem Standpunkt aus scheint die Hochzeitsreise
weder ungerechtfertigt noch überflüssig, ja es haftet ihr eine
gewisse romantische Verklärung an, so daß sie als der beste
und ethisch wertvollste Teil der ganzen Hochzeitszeremonien
betrachtet werden könnte. Leider sprechen hier so viel weitere
Faktoren mit, die sehr unhygienischer und unästhetischer Art
sind, daß die Hochzeitsreise bei allen medizinischen Autoritäten
und auch bei einsichtigen Laien immermehr in Mißkredit ge-
kommen ist. Zunächst wird sie, wie bereits erwähnt, zumeist
aus Eitelkeitsgründen unternommen. Sie ist gleichsam das
Paradestück, das die Jungverheirateten in ihre Ehe mitbringen,
oft ein Paradestück, das von einer bedenklichen finanziellen
Krisis begleitet wird. Denn so eine Reise kostet Geld, und
gerade das ist in jungen Wirtschaften minderbemittelter Leute am
wenigsten vorhanden. Aber eine Hochzeitsreise muß um jeden
Preis gemacht werden. Dazu drängt der Bräutigam, die Braut,
die Eltern, Tanten und sonstigen Verwandten, koste es, was
es will, und sollte es auch auf Kosten der künftigen Bequem-
lichkeit des neuen Heimes gehen. Was ist die Folge einer
solchen Reise? Einzelne blendende Eindrücke, die nachträg-
lich von den Gefühlen der Sorge und materiellen Bedrängung
überwogen werden und die erste Gelegenheit zu einem Zer-
würfnis zwischen den neu gebackenen Ehegatten bieten, so daß
die Hochzeitsreise gerade das Gegenteil erreicht, was sie be-
zweckte, nämlich das traute Beisammensein der Gatten zu
fördern und die Befangenheit auf beiden Seiten nach Tunlich-
keit zu beheben. Sind dagegen die Hochzeitsreisenden genügend
mit finanziellen Mitteln versehen und wurde die Ehe nach den
Grundsätzen kapitalistischer Kalkulation geschlossen, so fördert
die Hochzeitsreise nicht nur nicht die geringe Sympathie der
eben Angetrauten, sondern sie zerstört sie vollends durch die
Wucht der zahlreichen neu einstürmenden Eindrücke und Aben-
teuer, denen beide auf der Reise ausgesetzt sind. Daß der
geschlechtliche Verkehr unter Umständen, wo das seelische
Moment vollkommen fehlt, nichts weiter als eine Art ehelicher
Prostitution ist, wird nach dem Gesagten niemand bestreiten
wollen. Häufiger noch hat die mondaine Frau, die sich mit
ihrem Gatten auf der Hochzeitsreise befindet, Gelegenheit, neue
erfolgreiche Bekanntschaften anzuknüpfen, und so manches ille-
gitime Verhältnis, das später Jahre der Ehe überdauert hat,
28 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
wurde in den ersten Tagen der Flitterwochen angebahnt. Bei der
modernen konventionellen Ehe ist die Hochzeitsreise überdies
ein Kunstgriff, durch den sich die Gatten dem Urteil der Öffent-
lichkeit entziehen. Es ist plausibler, wenn eine Disharmonie
erst nach vier bis sechswöchentlichem Aufenthalt in Grado
oder sonstwo an der Riviera zu Tage tritt, als wenn sie vom
ersten Augenblick der Ehe an vorhanden wäre.
Will man jedoch von allen den genannten Bedenken ab-
sehen, so bleibt trotzdem noch der wichtigste Einwand bestehen,
der sich gegen die Hochzeitsreise vorbringen läßt und der rein
praktisch-hygienischer Natur ist. Mann und Weib haben sich
in der Brautzeit seelisch kennen gelernt, aber erst nach der
kirchlichen, bezw. standesamtlichen Trauung dürfen sie das
letzte Ziel ihrer Wünsche, die körperliche Hingabe aneinander,
erreichen. Statt nun in die Einsamkeit zu gehen und sich im
Sinne der Natur an der gegenseitigen Schönheit zu freuen,
schleppt der Mann die Frau auf eine mehr oder minder lange
Reise, auf der sie allerlei anstrengenden Touren, Bergsteigen,
Pflasterlaufen, Land- und Wasserfahrten, unbequemem Nacht-
lager, Erkältungen etc. ausgesetzt ist und überdies die gehäuften
Liebkosungen des jungen Gemahls, vielleicht Tag für Tag und
Nacht für Nacht erdulden muß. Dazu kommen die Eindrücke
von außen, die auf das ohnehin in seinem Gleichmaß erschütterte
Gemüt der Frau einen gefährlichen Einfluß üben können und
so häufig der Grund späterer Hysterie oder sonstiger Psychosen
werden. Aber auch das körperliche Befinden leidet unsagbar
unter der übermäßigen sexuellen Anstrengung und den mecha-
nischen Beschwerden der Hochzeitsreise, derart, daß es zu Er-
krankungen edler Organe und zu einer Störung des natürlichen
Verlaufs der Konzeption kommen kann. Bockelmann hat kürz-
lich in der Münchener medizinischen Wochenschrift über den
Flitterwochenabort geschrieben, wo er dauernde sexuelle Über-
reizung während der Verlobungszeit als häufigste Ursache des
vorzeitigen Fruchtabgangs während der Flitterwochen annimmt.
Durch die ständige Hyperämie des Unterleibes und der Sexual-
organe komme es zu einer Art endometritischer Wucherung,
die die Einbettung des Ovulums in der Schleimhaut der Gebär-
mutter verhindere. Ohne die Berechtigung dieser Theorie be-
streiten zu wollen, möchte ich trotzdem nach wie vor die
Beschwerden der Hochzeitsreise und die Schädigungen des
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 29
leiblichen Organismus, die eine solche mit sich zu bringen
pflegt, als die erste wichtigere Ursache des Flitterwochenabortes
ansehen. Abgesehen davon, daß die ständige psychische Auf-
regung und auch die äußeren mechanischen Umstände auf der
Hochzeitsreise eine eben eingetretene Schwangerschaft ungünstig
beeinflussen, unterbricht oft der Mann infolge der maßlos aus-
geübten Kohabitation, dem brutalen Angriff auf das unerfahrene
Weib, die Gravidität, die kaum über das vorbereitende Stadium
hinaus war. Selbstverständlich sind alle derartigen Fälle mit
einer direkten Gefährdung der Gesundheit des weiblichen Teiles
verbunden, und zahlreiche Gebärmutterentzündungen, Unterleibs-
wucherungen, Sterilitätt und andere schwere Krankheiten in
späterer Zeit sind auf die maßlosen sexuellen Übergriffe während
der Hochzeitsreise zurückzuführen. Zur Illustrierung des eben
Gesagten verweise ich auf Scanzoni, der die Schäden der über-
mäßigen Beiwohnung ausführlich beschrieben hat und unter
anderem auch über die Hochzeitsreise wie folgt urteilt: »Nach
wochenlanger unbefriedigter geschlechtlicher Aufregung geben
sich die nun unbewachten jungen Eheleute dem vollen Genusse
der Liebe hin, die intensiven geschlechtlichen Erregungen unter-
halten einen hohen Grad von Reizung und Hyperämie in den
Genitalien des Weibes, und kommen nun noch hinzu die auch
auf Reisen sich so häufig geltend machenden Einflüsse äußerer
Schädlichkeiten, verbunden mit durch die Schamhaftigkeit der
jungen Frau hervorgerufenen diätetischen Fehlern, so darf es
nicht befremden, warum es so häufig geschieht, daß die gesund
abgereiste Frau mit dem Keim einer Krankheit zurückkehrt,
welche sie in der Folge nie völlig mehr los wird, die eine Quelle
zahlreicher Beschwerden und namentlich einer unfruchtbaren
Ehe abgibt.« Ein Fall dieser Art, der gerade in den letzten
Tagen zu meiner Kenntnis gelangte, spricht am deutlichsten
gegen den eben geschilderten Unfug, der mit den modernen
Hochzeitsreisen verbunden ist. Ein junger Offizier befand sich
mit seinem eben angtrauten reizenden Frauchen auf der Hochzeits-
reise, die sie auf dem üblichen Wege über Dresden, Wien, Adels-
berg und Triest nach Italien führte. Während der ersten drei
Tage hatte er den ausgiebigsten Gebrauch von seinen ehelichen
Rechten gemacht und die zarte, gebrechliche Frau in keiner
Weise geschont. Am vierten Tage wurde sie plötzlich — vor-
zeitig — von der Menstruation überrascht und hätte in diesem
30 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Zustand unbedingt der größten Ruhe und Schonung bedurft.
Allein das Ehepaar pflog nicht nur den sexuellen Verkehr
weiter, sondern der Mann schleppte sie über allerlei Tanzböden,
von Stadt zu Stadt, Museum zu Museum, bis sie schließlich in
der Adelsberger Grotte ohnmächtig zusammenbrach. Die Folge
war eine beiderseitige Lungenentzündung verbunden mit Bauch-
fellentzündung, die schließlich zu einem tödlichen Ausgang führte.
Schuld daran war die Hochzeitsreise mit ihren Aufregungen
und der schonungslosen Ausnutzung des Zusammenseins, das
durch den gewaltsam herbeigeführten Tod der jungen Frau
leider ein frühes Ende erfahren sollte.
Faßt man den Zweck, den die Hochzeitsreise erfüllen soll,
richtig ins Auge, so wird er durch die heutige Praxis ge-
fährdet, wenn nicht geradezu unmöglich gemacht. Mann und
Weib sollen nach geschlossener Ehe das größte Geheimnis
ihres Lebens aufdecken, den Traum zu Ende träumen, den sie
in der Kindheit geahnt, als junge Mädchen gefürchtet und als
Verlobte mit ganzem Herzen herbeigesehnt hatten. Gehört
nicht dieser Traum in die stillen vier Wände des eigenen
Heims, das man sorgfältig dazu vorbereitet hatte, in das man
alles Schöne seit langem zusammentrug, von dem man hoffte,
daß es das Zusammenleben schöner und reizvoller gestalten
würde? Die Liebe ist eine so mimosenhafte Pflanze, daß sie
der zärtlichsten und sorgfältigsten Wartung bedarf, die leicht
durch das Überhandnehmen fremder Einflüsse zerstört wird und,
wenn sie einmal einen Riß bekommen, nicht wieder in ihrer
einstigen strahlenden Gänze ersteht. Wo aber könnten Mann
und Weib einander so restlos begreifen lernen als in der intimen
Behausung, wo alles auf den harmonischen Einklang, das Milieu
auf die Menschen — und vor allem auf sie allein — abgestimmt
ist? Die kapitalistische Kultur, die aus der ehelichen Verbindung
zweier Menschen ein Auseinanderfliehen beider Teile gemacht
hat, diese streng egoistische Kultur hat für den Traum der
Flitterwochen das traurige Surrogat der Hochzeitsreise erfunden.
Das ist aber der beste Weg, auf dem sich zwei Menschen,
die sich bis dahin teuer waren, mit Sicherheit — verlieren können.
SS
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 31
DIE KINDHEIT ALS QUELLGEBIET PERVERSER
NEIGUNGEN.
Von Dr. тей. J}. MARCINOWSKI.*)
ir haben im Leben des Erwachsenen eine Unzahl von
Verkehrtheiten des Liebeslebens zu beklagen, die wir zu
den krankhaften Erscheinungen zählen müssen. Alle diese
haben ihre Wurzeln in dem kindlichen Erleben mit seiner gegen-
über dem des Erwachsenen gesteigerten Eindrucksfähigkeit.
Es widerstrebt mir aber, die außerordentliche Vielseitigkeit
in der Möglichkeit sinnlicher Lustgewinnung deswegen schon
als »universell oder polymorph pervers« zu bezeichnen, weil
die Perversionen des Geschlechtslebens in ihr ihre Wurzeln
haben. Unsere Kinder sind zwar sämtlich polymorph erotisch,
und manche bleiben es auch, aber sie sind nicht pervers und
noch lange keine verkappten Sadisten und Lustmörder, weil
ihre Träume und Phantasien oft von so blutrünstiger Natur sind.
Ich habe schon wiederholt darauf hingewiesen‘), daß es
eine mißbräuchliche Verwendung technischer Ausdrücke sei,
wenn man Begriffe wie: Sadismus, Homosexualität und der-
gleichen verallgemeinernd auch auf die leisen Andeutungen
solcher Züge in der Breite des Gesunden überträgt. So wichtig
es war, daß wir die große Mannigfaltigkeit in den Möglich-
keiten der kindlichen Lustbeziehung nachwiesen, und daß wir
in dem Kindesleben von uns allen die Wurzeln erkennen,
aus denen heraus durch einseitige Festlegung auf einen Teil-
trieb eine echte Perversion herauswächst, so wenig dürfen wir
jene Ausdrücke schon da gebrauchen, wo sich irgendein Herren-
gelüst einmal mit lockeren Handgelenken verbindet, so wenig
geht es an, schon jeden gehorsam artigen Knaben als eine
Verdichtung masochistischer Unterordnungslust und pervers
homosexueller Verleugnung männlichen Charakters aufzufassen.
Warum die Menschen mit solchen großen Worten unnötig
erschrecken? Homosexualität ist doch kein berechtigter Aus-
druck für all die Fülle noch unentschiedenen Liebessuchens
im Kinde und im hierin oft noch Kind gebliebenen Erwachsenen.
Es ist die unentschiedene Gefühlseinstellung, die geschlecht-
*) Aus »Der Mut zu sich selbst«. Das Seelenleben der Nervösen und
seine Heilung. Von Dr. med. J. Marcinowski. Verlag von Otto Salle, Berlin.
1) Vgl. Zentralblatt für Psychonanalyse 1912, Heft 9, Seite 541/2.
32 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
liche Unterschiede noch gar nicht kennt; es ist die Vielseitigkeit
in der Möglichkeit der Lustbeziehungen, aber noch keine
Homosexualität. Das Wort hat erst da Berechtigung und Sinn,
wo eine einseitig starre Festlegung auf gleichgeschlechtliche
Liebesziele stattgefunden hat. Dazu gehört die gleichzeitige
Ablehnung der gesunden andersgeschlechtlichen Ziele.
Aber andrerseits ist es auch nicht zu verkennen, daß hier
die Richtungslinien zu sehen sind, auf denen ein extremer
Charakterzug sich zu jenen Verzerrungen des Natürlichen hin
entwickelt; aber es geht denn doch nicht an, jeden Wesenszug
in unserer Persönlichkeit nach seinen krankhaften Über-
treibungen zu benennen. Dadurch stempeln wir sehr berechtigte
Teile unseres Charakters zu etwas Unerlaubtem und zum
mindesten Unerwünschtem und Krankhaftem, und verfallen
damit nur in den umgekehrten Fehler wie der Moralist, der
Sinnlichkeit als Unzucht bezeichnet und Kinderdummheiten als
Laster. Der Arzt soll aber befreiend und nicht einschüchternd
wirken: und wenn er auch nicht schönfärben darf, so ist es
doch gottlob ebenso unrichtig wie unpraktisch, die Patienten
mit solchen unangebrachten Ausdrücken zu erschrecken.
Sorgen wir lieber dafür, das ein klares Erkennen für die
Entwicklungsgesetze krankhafter Gefühlstöne angebahnt werde,
damit wir die Entwicklung von Unerwünschtem besser in die
Hand bekommen. Denn das steht fest, die begleitenden Um-
stände, unter denen ein Kind seine ersten sinnlichen Em-
pfindungen bewußt empfing, die bleiben ihm für alle Zeit als
feste Norm bestehen, und nichts wird seine erotische Erreg-
barkeit in Zukunft stärker wachrufen, als das, was den Inhalt
dieser Nebenumstände ausmachte?).
Der Säugling verankert sein Glücksempfinden mit hoch-
busigen Frauengestalten; das Kind lernt an seinen Eltern
Frauen und Männer lieben; beim Erwachsenen meldet sich,
gern Gleiches mit Gleichem vergeltend, die leise Erinnerung
an die Liebkosungen der Hausmägde, und von Geschwistern
und Gespielen her bleibt uns die Liebe zu Kindern eine lust-
betonte Beziehung. Einen Schritt weiter: dies Erinnern läßt
2) Vgl. Marcinowski: Krankhafte Richtungen des Geschlechtstriebes.
Vortrag im Flugblatt des Volksbundes zur Bekämpfung des Schmutzes in
Wort und Bild.
"EI 3935 >эәдләмә3увипу ш} {ңолд at, zeen шәр п7
Споуу Зипүшшес) 2101 Ing (aan ш Paszyuyosupquayg “NTI4V.L 3HOISISINIHD
ZUCKERSCHERE UND STOCKGRIFF,
aus Bein geschnitzt.
SCHNUPFTABAKSDOSENDECKEL. 1830.
Zu dem Aufsatz Die Erotik im Kunstgewerbe:, Seite 13.
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 33
den erotischen Trieb die Grenze des Unbewußten mit der
Wucht einer Zwangserscheinung durchbrechen, und dann sind
wir mitten im sogenannten Laster und im Perversen. Und
wieder ist es die gespaltene Bewußtheit, die im gelockerten
Gefüge Teiltriebe zu unerwünschter Eigenbetätigung gelangen
läßt. Das Gesunde wächst über all das hinweg, erst Hunger
und Konfliktslagen lassen uns auf die ersten Formen der kind-
lichen Lustbeziehungen zurückgreifen. So drängt erzwungene
Enthaltsamkeit zur kindlichen Betätigungsform zurück, und der
Kranke ist seinerseits auf ihr sitzen geblieben, wenn sie auch
oft nur als geheime, uneingestandene Neigung besteht, die
sich nur da und dort flüchtig andeutet oder sich nur im Traume
hervorwagt. Immer bleibt aber das erste bewußte erotische
Erleben für die ganze Richtung von einem stark bestimmenden
Einfluß.
Das geht so weit, daß selbst einzelne Körperteile und
Gegenstände, wie Fuß, Höschen, Schuhe und dergleichen zum
Träger der Lust am Ganzen werden, zum Fetisch, zur Be-
dingung erotischer Erregbarkeit, zum Merkmal des erregenden
Typus, vom winzigen Zug bis zur ganzen Persönlichkeit in
allen Abstufungen lebendig. Doch bleiben wir beim Alltäglichen.
Ein Knabe, der von einer armen, erotisch bis zur Tollheit
verhungerten Erzieherin verführt wurde und dabei zum ersten Male
bewußt sinnlich empfand, er wird für sein Lebtag dadurch gefeit
sein gegen alle homosexuellen Gelüste. Ein Bube aber, den seine
älteren Schulkameraden in demselben Sinne auf dem Gewissen
haben, wird ebenso sicher, wenigstens in der Phantasie, mit ihnen
zu kämpfen haben. Und wenn er später durch irgendwelche
Verhältnisse so hungrig wurde, wie die arme Erzieherin, von
der ich sprach, so werden ihm seine Sinne Knaben vorzaubern
von der Art und dem Alter, wie die Begleiter seines ersten
Sexualerlebens waren. Die ersten Eindrücke bleiben eben oft
maßgebend, auch wenn sie dem gewöhnlichen Hang der Natur
zuwiderlaufen. Sie bilden zum mindesten einen Einschlag in
das Gewebe naturgewollter Lebensformen.
Übrigens, ein gewisses Maß von Sinnenfreude am eigenen
Geschlecht haben wir alle, denn wir machen sämtlich während
der Entwicklungsjahre eine Periode gleichgeschlechtlicher Zärt-
lichkeitsbeziehungen naturgemäß durch. — Sie ist vermutlich
auch wieder ein Erinnerungsrest aus tausendjährigem Gebrauch-
Geschlecht und Gesellschaft VIII, 1. 3
34 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
tum, überwachsen und in ein jugendlicheres Alter zurück-
gesunken, wie wir das ja allenthalben finden. Männerwerk der
Vorzeit wird zum Knabenspiele der Gegenwart, alte heilige Ge-
bräuche und Kultgeräte zum Spielzeug.
Über die ganze Erde verteilt finden wir bei den primitiven
Völkern die jungen unverheirateten Männer abgesondert und
gemeinsam wohnend, und in dieser Abgeschlossenheit häufig
gleichgeschlechtlicher Sinnenlust fröhnend. Den Männerbünden
entspricht das Zusammenhocken in Frauengemeinschaften. Da-
von besitzen wir auch bei uns noch deutliche Reste, die Spinn-
stuben und das Zusammenrotten der männlichen Dorfjugend.
Ich muß mich hier mit Andeutungen begnügen. Die Haupt-
sache ist ja, daß wir überall den Anstoß empfangen, in unserer
überlieferungsarmen Zeit den Sinn für kulturgeschichtliche
Zusammenhänge zu wecken und die entwicklungsgeschichtlichen
Bedingtheiten rätselvoller Erscheinungen aufzusuchen.
Tatsache ist, daß in diesem gleichgeschlechtlichen Zusammen-
leben eine abenteuerliche Fülle von sinnlichen Verirrungen Platz
griff, die wir nur nicht als unmoralisch werten dürfen, denn dem
primitiven Menschen ist Sinnenlust jeder Art etwas ganz harm-
los Vergnügliches, wie auch unseren Kindern. Erst mit dem
Wissen um die Zeugungsvorgänge und mit dem bewußten
Zeugungswillen, der uns innewohnt, wächst das alles ins
Gebiet des Sittlichen hinein. Vergessen wir auch bitte nicht,
daß in der Reihe der höheren Säugetiere die menschenähnlichen
Geschöpfe von ganz anderen Gesetzen des Triebverlangens be-
herrscht werden, als die übrigen Tierarten. Diese kennen
einen Geschlechtstrieb nur zur Zeit der Brunst; der Hengst nur,
wenn die Stute rossig ist, der Hund nur, wenn die Hündin
läufig, also wenn die Weibchen in der Periode des Blutflusses
sind. Das ist im besten Falle zweimal im Jahre; in der übrigen
Zeit schweigt das Begattungsverlangen. Bei den Menschen-
arten aber schwankt die Brunst in so kurzen Perioden auf und
nieder, daß der Trieb überhaupt nie ganz zur Ruhe kommt.
Übrigens hat das erst unsere heutigen kulturellen Verhältnisse
ermöglicht. Der Trieb wurde dadurch zahmer und flacher.
Man stelle sich unsere gesellschaftlichen Verhältnisse vor, wenn
alle Herbst und Frühjahr ein kurzer, aber um so gewaltigerer
Trieb über die Menschheit käme. Der tollste Fasching müßte
ja ein Ideal von Sittsamkeit dagegen bleiben und Verhältnisse
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 35
wären unvermeidlich, die nach unseren heutigen Begriffen als
tierische Roheit gelten.
Schließlich, alle Gesellschaftsbildung hat nur den Sinn, den
wirtschaftlichen Geltungsbereich des Einzelnen und der Gemein-
schaft abzugrenzen und die geschlechtlichen Beziehungen in ihr
zu regeln, d. h. Hunger und Liebe in künstliche, machtdiktierte
Gesetze zu zwängen. Wie das alles früher einmal geworden
ist, das spiegelt die Entwicklung des Kindes eben wieder.
Darum haben wir neben manchem anderen auch die Periode
der Hordenbildung und der Knabenfreundschaften, in der der
Junge auf alles Weibliche mit einer gewissen Verachtung herab-
blickt; selbst Mutter und Schwester sind ihm mehr geduldete
Größen, und ihnen bei ausgesprochen weiblichen Verrichtungen
hilfreich zur Hand zu gehen oder gar Pakete zu tragen, gilt in
dieser Zeit als ein Schimpf und gegen die Ehre.
Die alten griechischen Philosophen hatten sich solche
Neigungen für die ungescheute Betätigung ihrer sinnlichen Aus-
wüchse so zurecht gelegt, daß selbst in dieser anscheinend
doch unverkennbaren Unnatur etwas Naturgewolltes liegen
solle. Sie faßten diese Neigung als eine Schutzmaßregel des
Geschlechtsinstinktes auf, die zu verhüten bestimmt war, daß
Kinder eher gezeugt wurden, als bis die jugendlichen Körper
zu einer Reife gelangt waren, die kraftvolle Kinder gewährleisten
konnte. Dem gleichen Zwecke dient vielleicht auch die allen
Menschen gemeinsame Periode spielerischer Selbstbefriedigung.
Der erwachende Trieb tobt sich am eigenen Körper aus, statt
sich, bar der Hemmungen des erwachsenen Menschen, auf andere
zu stürzen, was er sonst sicher tun würde, wie wir aus dem
Seelenleben des Kindes wohl nicht allzu kühn schließen dürfen.
Im gleichen Sinne scheint mir auch jene hochidealisierte
Art jugendlicher Liebesverirrung von der Natur gewollt zu sein,
die man so etwas spöttisch als Sekundanerliebe bezeichnet.
Wollte man einem solchen Jüngling zumuten, daß er der Ge-
liebten mit einem feurigen Kusse statt mit schlechten Versen
nahe, er würde das als tötliche Beleidigung der Angebeteten
mit der gleichen Entrüstung zurückweisen, als hätte er einen
Kollegen vor sich, der Psychoanalyse zu treiben wagt.
Ausgeprägter und ich möchte sagen naiver liegen die
gleichgeschlechtlichen Verhältnisse beim weiblichen Geschlecht,
mit seinem ewigen Geknutsche und seinen Küssen, mit seinen
3°
36 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Backfischfreundschaften und eifersuchtsvollen Schwärmereien
für Lehrerinnen und dergleichen. Übrigens, da wir den
Mädchen gegenüber hierin nachsichtiger fühlen und ihre gegen-
seitigen Zärtlichkeiten nicht in dem Maße als unnatürlich
empfinden, so erhält sich die Möglichkeit, das Liebesbedürfnis
am eigenen Geschlecht zu sättigen, beim Weibe leichter und
weiter ins spätere Leben hinein als beim Mann. Das alles
aber ist keine Perversion, ist durchaus nicht ausgesprochene
Homosexualität. Beides wird das erst in seinen äußersten
Übertreibungen bis zur Unfähigkeit, Liebe für das andere Ge-
schlecht zu empfinden, und bis zu jenen verkehrten Gefühls-
einstellungen, bei denen sich die Frau als Mann und der Mann
als Frau empfindet und gebärdet.
Leugnen läßt sich allerdings nicht, daß durch unser ganzes
Wesen, oder wenigstens doch bei einer so großen Zahl von
Menschen Anklänge an solche, ich möchte sagen Charakter-
verwechslungen vorliegen, daß man unsere seelische Verfassung
mit Recht als eine »bisexuelle« bezeichnet hat, also als eine
doppelgeschlechtliche in dem Sinne, daß nicht nur unbegrenzte
Möglichkeiten geschlechtlichen Lustgewinnes nach beiden Seiten
hin für uns vorliegen, sondern daß auch in unserm ganzen
Wesen eine Art Mischung von weiblichen und männlichen
Zügen zutage tritt, die sich bis auf die körperlichen Eigenheiten
ausdehnt und sich gelegentlich auch in ihnen deutlich ausprägt.
Es ist hier nicht der Platz, dies ausführlich darzulegen, aber
ich kann mich auch wohl mit dem Hinweis begnügen, daß
jeder von uns Mannweiber und weibische Männer kennt, wenn
auch vielleicht nur aus der hierin sehr ergiebigen Literatur-
quelle unserer Witzblätter.
Was dort in komischen Formen geschildert wird, hat aber
in irgendeinem Mischungsverhältnis mehr oder weniger für
jeden von uns Geltung, und darin prägt sich nicht bloß die
Eigenart unserer Charaktermischung und unserer Lebensführung
aus — das sind ja nur die äußersten Spitzen — es tritt viel-
mehr in seinem eigentlichen Wesen noch viel deutlicher zutage,
wenn wir an der Hand unserer Traumbilder das unterirdische
Leben unserer außerbewußten Vorstellungen durchforschen.
Das Seelenleben der Nervösen mit seinem größeren Kon-
fliktsreichtum läßt das natürlich auch in entsprechend reicherem
Maße erkennen. Ja, es gibt eigentlich kaum einen Fall, bei
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 37
dem man tiefer eindringend nicht auf Vorstellungsgruppen
dieser Art stieße. Sie übersehen wollen, wäre nicht nur kurz-
sichtig, sondern auch unpsychologisch, denn die Heilung einer
Neurose hängt ja davon ab, daß all ihre unbewußten Konflikt-
. stellungen in bewußte verwandelt werden, als die allein sie zu
gesunder Entscheidung gebracht werden können. Gerade des-
wegen müssen wir ja die Erotik des Kindeslebens so sorgsam
studieren, weil diese Forderung auf das Aufdecken der Ent-
wicklungsgeschichte der ganzen Neurose und ihrer einzelnen
Symptome herauskommt.
Bei der Tatsache der Zweigeschlechtlichkeit unserer
seelischen Anlage — übrigens auch unserer körperlichen im
Embryo — muß ich darum so lange verweilen, weil sie sich
trotz aller Offensichtlichkeit doch der Erkenntnis im Einzelnen
oft ungewöhnlich stark entzieht, ja ich möchte sagen wider-
setzt; d. h. die gleichgeschlechtlichen Neigungen unserer noch
in allen erotischen Triebrichtungen so gänzlich unentschiedenen
Kinderzeit pflegen wir sehr früh und mit besonderer Wucht
ins Hinterbewußte zu verdrängen. Die Gründe hierfür sind
uns noch sehr unklar. Ich möchte glauben, daß sie vor allem
beim Knaben — die Mädchen haben das der Mutter gegen-
über weniger nötig — in der Ehrfurcht vor der überragenden
Gestalt des Vaters liegen, die uns scheu zurückbeben läßt und
sinnliche Regungen im Keime erstickt. . Aber wie alles Ver-
drängte, bleibt es eben vom Hinterbewußten her wirksam und
bedingt von dort aus unsere Handlungen und unsere Neigungen.
Ich beschränke mich auf diese Darstellung, weil die unendliche
Fülle der Traumbilder nicht viel Neues dazu zu sagen hätte.
Nur für jeden Fall ein Bild:
Sie war mittlerweile ein altes Mädchen geworden,’und eine
tiefe Niedergeschlagenheit begleitete den allmählichen Verzicht
auf eigenes Liebesglück, namentlich nachdem ihre geliebte Mutter
gestorben war, an der sie von Kindheit auf mit ungewöhnlicher
Zärtlichkeit gehangen hatte, während ihr Herz den Vater stets
ablehnte. Ihre inneren Konflikte enthüllte sie mir in folgendem
Traum: »Wir waren auf einer schönen Reise nach Italien, dem
gelobten Land der Sinnenfreude und der Hochzeitsreisen.
(Symptomhandlungen nennt Freud solche unbewußten Scherze.
Gerade diese Reise hat nämlich eine merkwürdige Ideenver-
bindung zum Geschlechtlichen, sie führt gen Italien, d. h. zu
38 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
den Gen-italien) Die Mutter lebte wieder, und wir fuhren
zusammen nach Mailand, besuchten dort eine liebe Freundin
und berieten, ob wir nicht bei ihr wohnen bleiben sollten.
Auch meine Nichte war da, die sehr schönes blondes Haar hat.
Die Freundin wühlte ihr mit sichtlichem Wohlbehagen in den
Наагеп.« — So weit dieser Traum — er hatte natürlich noch
mancherlei Geschwister. Er sagte mir deutlich: »Laßt mich
mit den Männern zufrieden; das Weib ist mir alles, ist mir
Mutter, Lebensgenosse (Freundin) und Kind. Das ist's, was
ich mir erträumte!«
Das führte zum vollen Verstehen ihrer seelischen Eigenari
und ihrer Schwierigkeiten im Leben. Nie war sie verliebt ge-
wesen, und ihren Vater hatte sie nicht gemocht, seinen Tod
als Erlösung empfunden. Mutter und Schwester waren ihr
voller Ersatz. Später, nachdem sich ihr die Schwester durch
Heirat entzogen hatte, trat an deren Stelle die Nichte mit dem
schönen blonden Haar. Den Gedanken an Heirat fand sie
»unappetitlich«.
Das ist übrigens so bezeichnend für gleichgeschlechtliche
Gefühlseinstellungen, daß wir ohne weiteres auf sie zu schließen
haben, wenn uns irgendwo in der Neurose Ekel und Wider-
wille dem anderen Geschlecht gegenüber entgegentritt. Es ist
im Grunde derselbe Widerwille, den der Gesunde bei dem
Gedanken an eine gleichgeschlechtliche Betätigung empfindet,
nur hat der ihn meist nicht nötig zu äußern; denn an ihn
treten nur ganz selten Wünsche heran, die ihn in Zwiespalt
mit dem eigenen Empfinden versetzen.
Weiter: ein anderes Bild. Als kleines Mädchen hatte sie
mit einer Spielgenossin wilde und heimliche Umarmungen
getauscht, aber stets hatte sie dabei in Gedanken und in ihrer
Körperhaltung den Mann gespielt. Durch alle ihre Phantasien
und Träume zog sich das auch später hindurch, und als sie
heiratete, war sie trotz aller Leidenschaftlichkeit nicht fähig, am
Manne Liebe zu empfinden. Eine schwere Herzneurose brachte
sie zu mir, denn jede Erregung ihrer Sinne führte seit vielen
Jahren nur zu Herzklopfen, aber niemals zu ersehnter Lust.
Und da sie stets unbefriedigt blieb, blieben ihre Sinne immer
hungrig, und stets kam das arme Herz durch die fast immer
wache und doch so vergebliche Erregtheit nie zur Ruhe. Ver-
gebliche Sinneserregung, das Erzwingenwollen des erlösenden
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 39
Höhepunktes im Empfinden führt ja allemal zu wüsten Un-
ordnungen der Herztätigkeit. Hier möchte ich einschalten, daß
die sogenannte Gefühlskälte des Weibes, an der so viele ehe-
liche Gemeinschaften kranken und zugrunde gehen, nicht nur
der Ausdruck dafür ist, daß dem Weibe eben der rechte Mann
fehlt — die erotische Erregbarkeit ist ja nicht nur an gleich-
und andersgeschlechtliche Gefühlseinstellungen geknüpft, sondern
auch durch körperliche und seelische Eigenarten bis ins Feinste
hinein bedingt. Die Gefühlskälte ist vielmehr sehr oft nur eine
Strafe für kindlichen Mißbrauch der Genitalien. Die Wahl
des Gatten ist also meist nicht anzuschuldigen. Daß Männer
zeugungsunfähig werden, weil sie die Vorstellung in sich tragen,
sie hätten ihr Glied in kindlichem Unverstand »ruiniert«, ist
bekannt. Das starke Unglücksgefühl des schwächlichen Gatten
ist nicht zum kleinsten Teil durch die Gedanken der selbst-
verschuldeten, also der verdienten Strafe bedingt. Aber, daß
dieser Gedankengang auch für Frauen zutrifft, ist nicht be-
kannt genug.
Ich behandelte eine Kranke, die durch ihre Gefühlsunfähig-
keit Höllenqualen litt, denn ihr drohte dadurch der Verlust des
geliebten Mannes. Sie hatte Tag und Nacht keinen anderen
Gedanken, und je wilder sie Liebesfülle zu erzwingen ver-
suchte, desto weniger konnte ihr Erfüllung werden, wie immer
der heftige Wunsch so ziemlich das stärkste Hindernis zum
Erreichen 151%). Man hatte mittels elektrischer Ströme fest-
gestellt, daß die Gegend des Kitzlers gänzlich unerregbar sei (!)
— nun war das Unglück da, die Lähmung offiziell! Die psycho-
logische Auffassung führte gottlob zu anderen Ergebnissen.
Das wilde Kind hatte seinen erwachenden Trieb an allen
möglichen Gegenständen zu sättigen gesucht; auch harte waren
dabei gewesen, an denen sie sich den Kitzler oft schmerzhaft
gedrückt hatte. »O Gott, hast du dir auch nichts damit entzwei
gemacht!«e — Nach dem, was wir von den Fähigkeiten des
ideoplastischen Vermögens kennen gelernt haben, brauche ich
wohl diesem Ausruf nichts mehr hinzuzufügen. Die hysterische
Gefühlsabsperrung als Strafe ist doch recht offenkundig. Therapie:
Analyse und Aufklärung; probatum est!
Auch bei den Klagen unserer zweiten Patientin war »Ekel«
®) Vgl. Marcinowski: Nervosität und Weltanschauung Kap. IV.
40 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
das dritte Wort. Auch hier die Fixierung einer kindlichen Ge-
fühlseinstellung fürs Leben, aber keine echte Perversion, sondern
nur eine phantastische Nachahmung mit der Möglichkeit des
Nachentwickelns gesunder Triebe, also der Heilung: kenntlich
daran, daß im Unbewußten Träume echt weiblichen Inhalts
lebten. In einem derselben deutet sich die spätere Entwick-
lung männlichen Gebahrens allerdings schon an, während die
ganze Traumlage noch typisch weiblich zu nennen war. Sie
hatte mit vier Jahren, also als ganz kleines Mädelchen, geträumt,
sie könne fliegen und schwebte zu einem »runden Dachfenster«
hinaus in einen Garten. Wie sie sich aber zur Erde hernieder-
lassen wollte, da stand ein »wilder Mann« aufrecht zwischen
den »Büschen« und hielt ihr ein »blankes Messer« entgegen.
»Angstvoll« versuchte sie, mit den kleinen Flügelchen die Höhe
zu gewinnen, aber immer wieder kam sie auf das Messer herab.
So deutlich war der Traum, daß sie ihn nach fast 30 Jahren
noch genau wußte. Nun, Gebäude sind Körper mit Öffnungen
und Fenstern. Der Weg des kleinen Engleins führt also aus
der Geschlechtsöffnung des Mutterleibes auf den ragenden
Phallus des Vaters im Gebüsch der Schamhaare, der wie eine
allegorische Figur durch das Attribut des blitzenden Dolches
unverkennbar gekennzeichnet war. Auf und nieder schwebte
das Englein, sehr rhythmisch nachahmend, was es in irgend-
einer ähnlichen Lage erlauscht haben mag.
Aber nun beachte man, wie diese Lage beschaffen war.
Von unten her ragte ihr das männliche Prinzip entgegen, in
Umkehrung der gewöhnlichen Verhältnisse, und als das Mädchen
einige Jahre darauf an der kleinen Spielgefährtin die erste Lust
suchte und fand, da spielte sie immer noch in ihrer ganzen
Haltung den Mann und hielt das Mägdlein unter sich fest. So
wachsen die Formen unseres Liebeslebens und unserer ero-
tischen Erregungsmöglichkeiten aus den Tiefen der kindlichen
Erotik hervor. Auch dieser Traum malt deutlich, wie wir die
Geschlechtsteile als Personen träumen, den Phallus als einen
wilden Mann — oft auch als Knaben, als kleinen Mann und
Sohn — das weibliche Geschlecht mit Vorliebe als kleines Mädchen,
als die kleine Schwester, als Töchterchen, als »die Kleine«.
Da, wo eine solche Zwiegeschlechtlichkeit in schwankenden
Einstellungen unentschiedene Züge aufweist, da spiegelt sie sich
auch im Charakterbilde als sinngemäßer Ausdruck dieses Vor-
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 4
bildes wieder. Ja, ist denn jeder Charakter der letzte und
stärkste Ausdruck unserer Art als Geschlechtsmensch? — Ist
kraftvolle Männlichkeit und echte Weibesnatur je etwas anderes,
und kann dem Impotenz und Verzerrung des Gefühlslebens ent-
sprechen? Ich habe wiederholt die Probe gemacht; wenn ich
in der Analyse auf Tatsachen stieß, die mir eine unentschiedene,
zweifelhafte, schwankende Gefühlseinstelluug aus frühesten
Kinderjahren bewiesen, da konnte ich auch allemal ohne
Kenntnis der gegenwärtigen Lebensumstände die verblüffende
Behauptung aufstellen, das gleiche Schwanken habe der Kranke
im Berufsleben, in der Berufswahl, in allen großen und kleinen
Entscheidungen seines äußeren Lebens bewiesen. Es sei wie
ein Fluch in seinem Leben, daß er an allem zweifeln und
immer schwanken müsse. Das ist der sinngemäße Ausdruck
jener Tatsache, daß er sich über seine Rolle als Geschlechts-
wesen nicht klar wurde, als er noch Kind war, als er erwachsen.
Das Weib kannte er nicht, er wagte sich nicht zu ihm in
dem Gefühl seiner Unsicherheit und Triebschwäche ihm gegen-
über, und die Gleichgeschlechtlichkeit mied er aus moralischer
Scham, und mit dem Drang zu beidem brach er in fürchter-
licher Einsamkeit zweifelnd zusammen.
Auch den umgekehrten Weg bin ich gegangen, um mich
selbst zu überzeugen. Ich traf Menschen, die waren schwankend
in ihren Entschlüssen und unglücklich in ihrer ewigen Zwitter-
stellung zu allen Aufgaben des Lebens; stets wollten sie zweier-
lei und konnten es nicht vereinigen. Ich las in ihren Träumen
und erzählte ihnen ihre Jugendgeschichte, die ich nicht kannte,
und die ich nur aus den Folgen geschlossen hatte. Ich malte
ihnen ihre schwankende Liebe zwischen Vater und Mutter,
zwischen Mann und Weib und ihre Zwitterrolle als Geschlechts-
wesen, und erstaunt mußten sie mir zugeben, daß alle dem so
gewesen sei.
Zweifler sind meist Naturen, die in ihrem Wesen starken
Hemmungen unterliegen. Nichtwoller in all ihrer Sehnsucht,
richtiger gesagt: Nichtkönner und Nichtdürfer. Dieselben Ver-
hältnisse ausgeprägter Doppelgeschlechtlichkeit führen bei
hemmungslosen Charakteren zu ganz anderen Lebensformen,
und lassen da so recht den allem Perversen gemeinsamen Ur-
grund, das polymorph Erotische unseres kindlichen Wesens er-
kennen, von dem die einzelne Perversion immer nur ein winziger
42 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Teiltrieb ist, der durch irgendwelche Ungunst festgelegt und in
den Vordergrund geschoben wurde, und zwar in der Regel
durch Abwehr und Unterdrückenwollen, also gerade durch den
Willen gegen ihn, unendlich viel seltener durch unbändiges
Verlangen gerade in dieser einen Richtung. Unterdrücken hält fest!
Also bei hemmungslosen Naturen bleibt die Zwitterhaftigkeit
des Empfindens als vielgestaltige Lustmöglichkeit bestehen,
während sie beim Gehemmten alle Möglichkeiten der Lust-
gewinnung lahm legt. Das gibt unter günstigen Umständen
Menschen von wilder Schönheit in ihrem großartigen all-erotischen
Empfinden, Künstler der Liebe und des Lebens, nur dürfen sie
nicht roh sein.
Klassisch rein spiegelt sich die zwiegeschlechtliche
Phantastik, die diesen Verhältnissen zugrunde liegt, in folgendem
Traumbilde: »Ich ging in einen Laden. Man zeigte mir Teller
mit Porzellanmalerei. Auf dem einen sah man die Darstellung
eines Gottes und einer Göttin in ihrer Vereinigung, stehend
einander gegenüber. Aber das Glied, das stark und groß
zwischen beiden Körpern zu sehen war, ragte von der weib-
lichen Gestalt aus schräg aufwärts, als ob die Göttin der Mann
wäre. Auch konnte ich nicht erkennen, bei wem es eigentlich
angewachsen war«.
Also der Mann war eine Frau, und die Frau hatte ein
männliches Glied. Bezeichnenderweise sind beide göttliche,
mythologische Phantasiegestalten. Die Träumerin will Weib
und Mann sein, — der Traum sagt zweifelnd, »oder«: ich
konnte nicht erkennen, bei wem es angewachsen war — alles
mit einem Worte, unersättlich in der Größe ihres phantastischen
Liebesverlangens. Auch hier sind die Verhältnisse aus den
Phantasien der kindlichen Psyche herausgewachsen, denn auch
die Träume und Zeichnungen aus ihrer Kinderzeit sollen in
Art und Inhalt ganz ähnliche gewesen sein.
Weiter: ein anderes Bild. Ein zarter, schmächtiger Mann,
elend und heruntergekommen an seinem Körper und in seiner
Ernährung. Drei Träume wußte ich von ihm. Der erste war
ein Wachtraum, eine Art Zwangsvorstellung, mitten am Tage.
Er beugte sich zum Fenster hinaus und sah die ragenden
Akazien sich kahl und dürr ihm entgegenstrecken. Da mußte
er denken, wie es wäre, wenn er hinunterspränge und auf sie
fiele! Das war eine typisch weibliche Phantasie. Wir kennen
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 43
sie schon von dem kleinen Mädchen her, das denselben Weg
ging. Hier fühlte der Träumer sich Weib. Er verschmolz mit
dem Fenster zur weiblichen Genitalöffnung, zu der der baum-
lange Phallus emporragte.
Dann lag er im Traum auf sonniger Wiese. Da kam ein
Flugschiff, gleich einem Raubvogel, auf ihn herabgestoßen, und
mit Angst wachte er auf. Auch dieser Traum zeigt ihn in der
erträumten Rolle des Weibes. Der Phallus, den er voll Sehn-
sucht erwartete, war in seiner Phantasie ins Riesenhafte ver-
größert, weil früheste Kindheitserinnerungen ihm das Glied des
Vaters als etwas Gewaltiges festgehalten hatten. Die
dichterische Form, die er wählte, vereinigte eine ganze Menge
phallischer Symbole in sich. Da war erst mal der Vogel als
Raubvogel und als Flugzeug; und unwillkürlich tauchen vor
einem all die heiligen Befruchtungszauber-Vögel auf: der
Storch und die Taube und die priapischen Amulette mit Flügeln
und Vogelbeinen und dergleichen mehr. Dazu die Form des
Luftschiffs, die langgestreckte Zigarre, das wie ein echter Phallus
in sich zusammensinken kann und dann wieder in praller
Füllung dahinsegelt. Wieder ist der Traum ein Dichter, und
das Wildeste, was wir scheu nicht zu nennen wagen, malt er
mit seinen Wunderbildern scheulos und rein, wie die Kinder
denken. — Also auch hier war er Weib.
Der dritte Traum lautete: »Ich sah meine tote Mutter, aber
sie lebte wieder, sie war nur scheintot gewesen; elend und
mumienhaft sah sie aus«.. — Nun, wir träumen und dichten
nur immer uns selber, das wissen wir längst. Auch die tote
Mutter ist nur ein Bild des Träumers, indem er seine Sehn-
sucht und seine Leiden verkörpert. Wieder ist er ein Weib
und diesmal deutlich das Weib seines Vaters, den er in
frühester Kinderzeit leidenschaftlich geliebt, bis er ihn, hundert-
mal zurückgestoßen und enttäuscht, endlich hassen lernte,
ihn, den Treulosen, der längst zum zweiten Male geheiratet.
Wie ein Scheintoter fristete der Knabe seitdem ein halbes
Leben, und »mumienhaft elend« suchte er endlich als Mann
bei mir Trost und Heilung. Ein Weib zu berühren, war ihm
nie in den Sinn gekommen; war er doch selber eins geworden,
als er am Vater lieben lernte, statt an der Mutter. So spielen
wir als Erwachsene, was wir als Kinder erträumten.
Überdies wies dieser Kranke noch einen Zug auf, den ich
44 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
sehr häufig beobachtet habe. Er hatte die Zwangsvorstellung, daß
er sich wie ein kleiner Bub benähme. So trug ihn nach der
Empörung und Entfremdung mit seinem Vater der Wunschtraum іп
die Kinderzeit zurück, in der er den Vater noch liebte; und die
Gefahr war groß genug. Ohne die Analyse dieser geheimen
Triebkräfte hätte er sich wahrscheinlich von der Wirklichkeit
abgewendet und wäre im Geist in das Land seiner Kindesliebe
entflohen, wo ihn der Arzt nicht mehr erreichen konnte. —
Noch ein anderes Gebiet muß ich hier berühren: die un-
geheure Verbreitung jener Verirrungen der Geschlechtslust, die
sich an Grausamkeiten und Mißhandlungen, erlittene wie ver-
übte, knüpft. Auch hier ist die Unwissenheit eine grenzenlose
und darum auch das Unheil, das daraus erwächst. Wieder ist
es die früheste Kinderzeit, in der sich die Sinnenlust eines
unglücklichen Augenblicks mit seinen äußeren Nebenumständen
verankert. Ungezählte Menschen sind so dazu gekommen,
körperliche Züchtigungen als wollusterregend kennen zu lernen,
und sie später bewußt zu begehren und als Lustquellen auf-
zusuchen. Und von den Ungezählten sind einige, für die wird
diese eine Möglichkeit des Lustgewinnes zur alles beherrschen-
den Einzigkeit ihrer Lustmöglichkeiten, und fast immer waren
sie in der Kinderzeit in den Händen von unbeherrschten Er-
ziehern und Erzieherinnen gewesen, die die eigene Wollust in
den erniedrigenden Mißhandlungen der entblößten Kinder zu
finden gewußt hatten. Die gemeinsame Lust verband das Kind
mit dem gehaßten Peiniger zu einer geheimen Sinnesgemein-
schaft, und zugleich wand sich die arme Seele in den Qualen
der Selbstverachtung für eine Erniedrigung, die ihm doch
wieder auch Lust brachte.
Man ist übrigens in letzter Zeit aufmerksam geworden auf
die Tatsache der ungeheuren Verbreitung grausamer Miß-
handlungen aus Wollust. Wohl ist manches, was die
Kranken uns als erlebt und wirklich auftischen, nur ein über-
lebhaftes Ergebnis ihrer phantastischen Träume, aber ich kenne
auch als wahr erwiesene Fälle genug, die in ihrer Grausen-
haftigkeit ein erschütterndes Bild bieten, und um so er-
schütternder, wenn ihnen niemand ihr Elend glaubt und sie
4) Vgl. Adele Schreiber, Prügelkinder, „Pädagogische Verbrechen“.
Verlag Frauen-Rundschau.
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 45
als alberne Hysteriker verhöhnt werden, wenn sie die Angst
in ihre grausenerfüllten Dämmerzustände hineinpeitscht. In
ihnen toben sie dann in Gedanken ihre wilden Mißhandlungs-
orgien aus, bis sie ermattet zusammensinken, als ob sie es
alles wirklich erlebt hätten. Das Ganze ein Akt psychischer
Onanie.
Ihr Träumen überwuchert das Tagesbewußtsein; aber fest
verschlossen sind ihre Lippen, und nie erführe ein Mensch
von ihrer Qual, nie hätte ich den einen oder anderen von ihr
erlösen können, wenn wir nicht imstande wären, uns mit dem
Schlüssel der Traumanalysen die Pforten ins Unbewußte zu er-
öffnen. Da wimmelt es von Sklavenhaltern und Auspeitschungs-
szenen, da wird man geraubt und gefesselt, da findet sich
alles, was wir in der merkwürdigen Literatur, die dieser Ver-
kehrtheit dient, ausgeheckt finden, und was in geheimen Klubs
tatsächlich geschieht. Und wiederum ist es, als ob diese ver-
zerrteste aller Verzerrungen des Geschlechtstriebes nur das in
die Tat übersetzte Träumen und ein Rest vergangener Jahr-
tausende sei; denn ich fand solches Träumen bei Menschen,
die keine Ahnung weder von der Wirklichkeit noch von ihrer
Literatur hatten. Es muß also wohl oftmals auch von seiten
der Kinder ein gewisses Entgegenkommen dafür vorhanden
sein. Oft werden sie so die Lust auch an Züchtigungen lernen,
die keineswegs dem Lustwillen des Züchtigers entsprangen.
Aber wenn dem Erwachsenen die Erinnerung davon verblieben
ist, wie seine Kindergärtnerin in der Spielschule ihn immer
wieder auf den Abtritt genommen und ihm die Höschen herunter-
gezogen hatte, um ihn für Unrecht zu strafen, von dem er nie
wußte, worin es bestanden hatte, dann mutet uns doch solche
Erzählung seltsam verdächtig an, zumal wenn sie hier aus dem
Munde eines ernsthaften, gebildeten Mannes stammt. Da wäre es
nun wirklich vielleicht schon besser gewesen, sie hätte gleich so
vielen anderen ihres Geschlechts dem ihr anvertrauten Knaben
den eigenen Körper und seine Lust zu kosten gegeben, er
wäre dann wenigstens nicht in so tragischer Form erkrankt.
Gesunde Kinder wachsen Gott sei Dank aus all diesen
Fährlichkeiten kraftvoll empor und vergessen alles oder machen
sich später bewußt drüber lustig. Daß eine solche Verführung,
wie ich hier eben andeutete, in gewissem Sinne sogar ihr Gutes
haben kann, sagte ich schon. Wie sie aber auch da noch
46 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
formbestimmend für das spätere Leben wird, ist manchmal sehr
merkwürdig zu beobachten.
So mußte ich einst einen alten Herrn wegen seiner Zwangs-
vorstellungen beraten. Der beichtete mir in seiner Todesangst
folgendes: Er käme aus kleinen Verhältnissen, und in seiner Kinder-
zeit sei es sehr kümmerlich zugegangen. Die Wohnung wäre
äußerst beschränkt gewesen, und während der ganzen Knabenjahre
habe er das Zimmer mit der alten Großtante geteilt. Die hätte
ihn fast allnächtlich zu sich ins Bett genommen und an dem
Knaben ihr Lüstchen gekühlt. Als er dann später geheiratet
habe, da müsse er gestehen, sei es mehr der alten Schwieger-
mutter wegen gewesen, als der jungen Braut zuliebe. Schon
in der Verlobungszeit habe er mit der alten Dame zärtliche
Liebe gepflogen und diese Gewohnheit auch jetzt noch bei
der Greisin, die bei ihm wohne, beibehalten. Was er in
früher Kindheit zuerst als Lieben kennen gelernt hatte, dem
blieb er mit zwingender Gewalt sein Leben lang treu.
Danach ist es leicht verständlich, warum in der »frommen
Helene« von Wilhelm Busch der »heilige Franz« einen so un-
überwindlichen Hang zum Küchenpersonal an den Tag legte.
Er war vermutlich wie ungezählte Jungens in früher Kindheit
der Gegenstand lüsterner Liebkosungen seitens des »Mädchens
für alles« gewesen, und dieser Erinnerung gedenken manche
auch später nicht ungern, so wie unser Patient seiner Grei-
sinnenliebhaberei. Dieser Hang des Küchenpersonals selber
zu spielerischem Mißbrauch der Kinder ihrer Herrschaft hat
übrigens oft noch ernstere Folgen, denn, da die Kinder nur
sehr selten zu natürlichem, normalem Geschlechtsgenuß ge-
eignet sind, lernen sie statt dessen bei solchem Mißbrauch auch
der Form nach Mißbräuchliches kennen und lieben.
Nun dürfen wir uns nicht auf den Standpunkt des Moralisten
stellen und all die unendliche Fülle von Liebkosungen und
Zärtlichkeiten, die sich die glühende Phantasie auch der ge-
sunden Menschen verschwenderisch schenkt, als häßlich und
unzüchtig ansehen; denn Liebe adelt alles. Aber wo wir es
mit nervöser Veranlagung zu tun haben, da kommt das Schuld-
gefühl und die Sündenlehre, und die beiden wiederum be-
schmutzen alles, was Liebe adeln konnte. Und da wird es
denn oft für das Seelenleben des Erwachsenen verhängnisvoll,
wenn der Körper des kleinen Kindes Liebkosungen ausgesetzt
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 47
war, die z. B. als unaufhörliche Küsse seine kleinen Geschlechts-
teile trafen, oder was sich sonst die zur Einsamkeit verurteilte
Phantasie einer tagsüber streng gehüteten und des Nachts wohl-
eingeschlossenen Dienstmagd als Ersatz ausheckt.
Das Merkwürdigste an all diesen Erscheinungen bleibt
dauernd die Ahnungslosigkeit und Harmlosigkeit der Eltern.
Ich will sie mit meinen Darlegungen darin stören, wenn ich
mir auch bewußt bin, wie wenig das helfen wird. Übrigens
verdanke ich meinen Beobachtungen die Kenntnis davon, wie
weit die Erinnerungsfähigkeit eines erwachsenen Menschen in
seine Kinderjahre zurückreichen kann. Ich habe eine Frau
behandelt, die eine klare Erinnerung an Verhältnisse und Vor-
gänge hatte, die nachgewiesenermaßen fast bis ins erste Lebens-
jahr zurückreichten, denn sie bezogen sich auf die eigene Amme,
und deren Entlassungstermin im 15. Monat stand fest.
Auch da handelte es sich um Mißbrauch des kindlichen
Körpers durch leidenschaftliche Küsse auf die Geschlechtsteile.
Die Frau erinnerte sich mit starkem Lustgefühl daran und
hatte niemals zu irgendeinem Menschen davon gesprochen, so
wenig wie von ihrer starken Neigung zu gleichgeschlechtlichen
Lustbeziehungen.
Heftige Anfälle von unstillbarem Erbrechen lösten sich
mir als Ekel gegen den Mann, bezw. gegen sich selbst auf;
dadurch kam das eine sowohl wie das andere zur Sprache.
Es leuchtet ohne weiteres ein, daß diese Erinnerung nicht aus
späteren Erzählungen der Erwachsenen herstammt; selbst wenn
die darum gewußt haben sollten, würden sie in Gegenwart des
Mädchens doch nie davon gesprochen haben. Die einige Jahre
ältere Schwester war indessen nach der Erinnerung der Patientin
öfter Zeuge dieser Liebkosungen gewesen. Als wir sie nun
danach befragten, bestätigte sie die Erinnerung aus der Säug-
lingszeit. Es dürfte wohl zum mindesten sehr berechtigt sein,
daß die Frau ihre gleichgeschlechtlichen Neigungen auf dieses
sinnliche Verhältnis zu ihrer Amme zurückführte.
Ich habe die kindliche Erotik so eingehend behandelt,
teils weil ihr Vorhandensein überhaupt geleugnet wird, teils
weil sie tatsächlich die Vorbedingung der Erotik des Erwachsenen
ist und damit auch die Vorbedingung der Konfliktstellungen,
in denen wir im Sinne der Nervosität erkranken.
D D
48 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
ZUR PHYSIOLOGIE DER TARDIVEN
EJAKULATION.
Г der amerikanischen Monatsschrift „The Am. Journal of Urologie«
widmet Dr. Viktor Blum eine eingehende Studie der männlichen Im-
potenz, die sich neben zahlreichen anderen Symptomen auch durch eine
verspätete oder gänzlich ausbleibende Ejakulation anmeldet. Die tardive
Ejakulation — schreibt der Verfasser — hat ihren Grund entweder in
der verminderten Erregbarkeit des Ejakulationszentrums oder in einem
Ausbleiben der entscheidenden ejakulatorischen Reflexeinstellung. Die
Verzögerung der Ejakulation hat mithin physiologische Gründe, sei es,
daß bei einem sonst völlig gesunden Manne die Libido und der Koitus-
drang nicht genügend stark waren, oder aber der taktile Schleimhautreiz
in der Vagina zur Auslösung des ejakulatorischen Reflexes nicht aus-
reichte. Das kann sowohl bei Störungen des spinalen Nervenzentrums
als auch bei Erkrankungen der Kopulationsorgane eintreten. Namentlich
die Abstumpfung der reizempfindlichen Stellen an der glans penis, die
mit dem Ausbrechen von Rückenmarkskrankheiten verbunden ist, pflegt
den normalen Ejakulationsprozeß unmöglich zu machen. Häufig geübter
Coitus interruptus, bei dem die Ejakulation auf der Höhe des Orgasmus
gewaltsam zurückgedämmt wurde, kann für den normalen Verkehr in-
soweit nachteilige Folgen haben, als eine lange mechanische Friktion
des Gliedes notwendig ist, um den Orgasmus und Samenerguß herbei-
zuführen. Die extremste Form der tardiven Ejakulation ist der sog.
psychische Aspermatismus, wo die Koitusbewegungen bis zur Er-
schöpfung fortgesetzt werden können, ohne zu der endgültigen Ent-
spannung der Libido zu führen; dagegen stellt sich nach derartigen
fruchtlosen Versuchen häufig noch in derselben Nacht eine mehr oder
minder ausgiebige Pollution ein. Der Verfasser teilt alle Fälle ver-
zögerter Ejakulation in zwei Gruppen, die sich symptomatologisch von-
einander genau unterscheiden. In der ersten Gruppe bleibt der Samen-
erguß aus, Orgasmus und Sättigung der Libido sind jedoch vorhanden.
Die Lähmung des zerebralen Ejakulationszentrums wird durch äußere
Umstände (z. B. physische Qualitäten des weiblichen Partners) ver-
ursacht und läßt sich auch durch andauernde mechanische Reizung nicht
beheben. Die zweite Gruppe umfaßt alle Fälle von sexueller Neu-
rasthenie, hervorgerufen durch dauernden Mißbrauch der Geschlechts-
kraft. Der Zustand der verzögerten Ejakulation unterscheidet sich von
der vollkommenen Impotenz dadurch, daß Erektion des Gliedes und
Orgasmus immer vorhanden sind. (Vgl. Löwenfelds Patienten, die an
schmerzhaften Priapismen litten. U. E. mußte diese Beobachtung bei
der Beschreibung der tardiven Ejakulation herangezogen werden. Anm.
d. Red.) -еі-
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RÖMISCHE LAMPE AUS DER KAISERZEIT. (Sammlung Moll.)
PHALLISCHE BRONZE. (Geflügelter Löwe.) Pompeji.
Zu dem Aufsatz »Die Erotik im Kunstgewerbe :, Seite 13.
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
уш, 2.
CHRISTUS UND DIE EHEBRECHERIN. Von LUCAS CRANACH d. A. (München, Pinakothek)
Zu dem Aufsatz »Die eheliche Untreue<. Seite 86.
Klee El EE
DER GESCHLECHTSVERKEHR ZWISCHEN
BLUTSVERWANDTEN.
Von Dr. med. HERMANN ROHLEDER').
as Wort Inzest (franz. inceste, ital. und span. incestum, engl.
bloodshed, holländ. bloedskand, von incestus (Cicero), auch
incestum, von incestare = verunreinigen, beflecken) hat heute
im streng juristischen Sinne die Bedeutung von geschlecht-
lichen Verkehr zwischen Verwandten im Sinne von Eltern und
Kindern, Großeltern und Enkel, Geschwistern und Verschwä-
gerten untereinander. Die Lex lata bestimmt in
8 173 Deutsches Str. G. B.:
„Der Beischlaf zwischen Verwandten auf- und absteigen-
der Linie wird an den ersteren mit Zuchthaus bis zu fünf
Jahren, an den letzteren mit Gefängnis bis zu zwei Jahren
bestraft.
Der Beischlaf zwischen Verschwägerten auf- und ab-
steigender Linie sowie zwischen Geschwistern wird mit Ge-
fängnis bis zu zwei Jahren bestraft.
Neben der Gefängnisstrafe kann auf Verlust der bürger-
lichen Ehrenrechte erkannt werden.
Verwandte und Verschwägerte absteigender Linie bleiben
straflos, wenn sie das 18. Lebensjahr nicht vollendet haben.
Sog. „Blutschande“.
Charakteristisch ist für diesen Paragraph, daß er, in Über-
einstimmung mit den meisten Kulturstaaten, den Inzest bei den
Aszendenten schärfer bestraft als bei den Deszendenten, die
Eltern mit Zuchthaus, die Kinder mit Gefängnis. Interessant
ist hierbei, daß hier der Begriff der unehelichen Verwandtschaft
nicht freimacht, also daß z. B. der Inzest zwischen Vater und
unehelicher Tochter, zwischen unehelichen Geschwistern be-
straft wird.
1) Aus Monographien über die Zeugung beim Menschen von Dr. med.
Hermann Rohleder. Band II. Die Zeugung unter Blutsverwandten. Leipzig
1912, Verlag von Georg Thieme.
Geschlecht und Gesellschaft VIII, 2. 4
50 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Da dem Gesetz in erster Linie der Gedanke der Kinder-
zeugung zugrunde liegt, darf es nicht wundernehmen, wenn
es nur von Blutschande, d. i. Beischlaf zwischen Ver-
wandten, aber nicht von unzüchtigen Handlungen
zwischen Verwandten spricht. Es scheint keine solchen
anzunehmen, denn $ 174 spricht von unzüchtigen Handlungen
nur an Vormündern, Adoptiv- und Pflegeeltern.
Weit genauer ist das
Oesterreichische Strafgesetzbuch.
Es bestimmt in
$ 131, П,
daß Blutschande, welche zwischen Verwandten in auf- und
absteigender Linie, ihre Verwandtschaft mag von ehelicher oder
unehelicher Geburt herrühren, begangen wird, mit Kerker von
sechs Monaten bis einem Jahr bestraft wird, und
§ 132, IV,
daß Kuppelei, wofern dadurch eine unschuldige Person ver-
führt wurde, oder wenn sich Eltern, Vormünder, Erzieher
oder Lehrer gegen ihre Kinder, Mündel oder gegen die
ihnen zur Erziehung oder im Unterricht anvertrauten Personen
schuldig machen, mit schwerem Kerker von 1—5 Jahren be-
straft werden, und dann noch in
§ 501,
daß Unzucht zwischen voll- und halbbürtigen Geschwistern,
mit den Ehegenossen der Eltern, der Kinder und Geschwister
als Ubertretung mit 1—3 Monaten Arrest, der nach Umständen
verschärft werden soll, zu bestrafen ist.
Diejenigen, die durch die Untersuchung als Verführer er-
kannt werden, sind zu strengem Arrest von 1—3 Monaten
zu verurteilen.
Wulffens „Sexualverbrecher“ entnehme ich S. 634 fol-
gende historische Tatsachen: „Das römische Recht strafte nicht
den Geschlechtsverkehr zwischen Verwandten als solchen, son-
dern nur den Abschluß einer Ehe zwischen solchen Personen.
Es unterschied also zwischen Incestus juris gentium, Ehe
zwischen Verwandten auf- und absteigender Linie und Incestus
juris civilis. Ähnlich unterscheidet das kanonische Recht, wel-
ches den Begriff stark erweiterte (cognatio spiritualis zwischen
Taufpaten und Täufling!), zwischen Incestus juris divini und
Blutschande nach Menschensatzung. Die Rechte des deut-
52 GESCHLECHT UND QESELLSCHAFT
Sicher ist die Westermarcksche Anschauung einer instink-
tiven Abneigung |gegen den Inzest (und die Inzucht) schon
bei den Urvölkern und geschichtlichen Völkern die unwahr-
scheinlichere. Heute ist jedenfalls im Verlauf von mindestens
zwei Jahrtausenden bei allen zivilisierten Völkern und auch
den meisten unzivilisierten diese Abneigung gegen eine Zeu-
gung unter allernächsten Verwandten zu einer ethischen ge-
worden.
Daß die Abneigung gegen den Sexualverkehr mit Bluts-
verwandten, der Inzest kein instinktmäßig angeborener im Sinne
Westermarcks ist, also kein gleichsam ererbter, uns phylo-
genetisch überkommener, sondern ein gezüchteter, auf Kultur
und Sitte basierter, geht übrigens auch aus Beobachtungen im
Tierreich hervor. Schon Darwin hat die Richtigkeit des In-
zestes beim Tier an Beobachtungen dargetan. Woltermann
macht darauf aufmerksam, daß bei den Haustieren, kein Wider-
wille gegen Inzest vorhanden ist, daß z. B. eine Schafmutter
so lange für ihr Junges sorgt und es pflegt, bis es sich selbst
ernähren kann, daß sie aber später, wenn es erwachsen ist,
das Junge nicht mehr kennt und sich mit ihm paart. Der
Widerwille gegen den Inzest ist also ein innerhalb
der geschichtlichen Entwicklung der Menschheit er-
worbener, durch das dauernde Zusammenleben, das Mitein-
anderaufgewachsensein während der Kindheit bis zur Pubertät
in der Ehegemeinschaft. Dieselben stumpfen die Phantasie,
die Libido ebenso ab wie das ständige Zusammenleben des
Mannes mit der Ehefrau in der Ehe. Fast immer ist es der
Reiz der Neuheit, die Abstumpfung durch das Alltägliche, die
die Ehegatten zum Ehebruch führt. Dort wirkt diese Anein-
andergewöhnung sexuell günstig, in der Ehe — die Kehr-
seite — ungünstig ein. Wie mächtig diese Angewöhnung
wirkt, zeigt ja die Ehe — leider — so deutlich. Wie oft habe
ich beobachtet, wenn eine Ehe aus reiner sinnlicher Zuneigung
geschlossen wird, in sog. „Liebesheiraten“, wo also gleichsam
nur der sexuelle Rausch die treibende Kraft zur Verehelichung
ist, wird doch langsam, aber sicher, durch das ständige
sexuelle Zusammenleben die Libido übersättigt. Der poly-
gamische Sexualtrieb ist es, der vermittelst der Erzie-
hung zur Abneigung gegen den Inzest führt, aber auch
zur „sexuellen Anästhesie“ in der Ehe. Bernhardin de St.
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 53
Pierres sagt: „Liebe entsteht aus Gegensätzen, und je größer
diese sind, desto mehr Kraft hat sie“ Der Libido sexualis
geht es also gleichsam wie den allzu gleichen Keimzellen in
der Blutsverwandtschaft: je näher verwandt letztere sind und
je länger verwandt sie sind, desto weniger kommt es zur Aus-
lösung der biologischen Energie bei der Befruchtung. Je
länger die Libido zwischen zwei Menschen besteht, desto mehr
wird sie abgestumpft, desto weniger kommt es zur Auslösung
der Anziehungsenergie ad cohabitationem. Während es dort
sogar usque ad sterilitatem bei fortgesetzter Inzucht kommen
kann, wissen wir Sexualpathologen, daß es hier usque ad
impotentiam kommen kann. Gerade deshalb soll ja die Ehe
nicht auf sexueller Anziehungskraft allein basieren, sondern
auf geistiger besonders. Die geistigen Qualitäten der Ehe-
gatten sollen einander anziehen und veredeln und den ur-
sprünglich bei den meisten Menschen polygamen Sexualtrieb
in der Ehe zu einem monogamen umwandeln. Sie haben also
gleichsam dieselbe Bedeutung für die Ehe wie die Vermischung
für die Blutsverwandtschaft.
Marcuse hat die Häufigkeit der Inzestdelikte beleuchtet
und meint, daß nur außerordentlich selten die Kunde von
sexuellen Verirrungen zu allgemeiner Kenntnis kommt. Irgend-
welche statistische Angaben lassen sich nicht machen. Jeden-
falls würden die gesammelten Kriminalfälle nur einen außer-
ordentlich verschwindend geringen Bruchteil im Verhältnis
zur Bevölkerung ausmachen. Er hat jedenfalls ganz recht,
wenn er meint, daß nur die verschwindend seltenen Fälle zur
Aburteilung kommen, überhaupt bekannt werden, denn unter
dem Proletariat der Großstädte herrsche eine „regelrechte ge-
schlechtliche Promiskuität“, und zwar, je größer die Stadt, desto
schlimmer, als Folge des Wohnungselends. Es geht hier wie
mit dem kriminellen Abort. Nur die allerwenigsten kommen
zur Kenntnis der Behörden und werden bestraft. Landesrat
Schmidt hat, wie dieser Autor angibt, in seinen Akten unter
80 Fällen von Fürsorge 40mal Blutschande, verübt von Vätern
an ihren Töchtern, oder von Kuppelei, gewerbsmäßiger Un-
zucht u. dgl. gefunden. Dabei handelte es sich nur in fünf
Fällen um Wohnungen von drei Räumen, in 21 Fällen in sol-
chen von zwei und in 49 Fällen in solchen von einem Raum.
Mittermaier hat nun erwiesen, daß auf dem Lande der
54 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Inzest noch weit schlimmer haust, daß an den krimi-
nellen Fällen von Blutschande wesentlich die Land-
bevölkerung beteiligt war. Auch hier war die Haupt-
ursache das Wohnungselend. Marcuse hat noch eine Art
„mittelbaren“ Inzestes aufgestellt, wenn z. B. Mutter und Tochter
denselben Geliebten haben. Daß hier von Inzest im eigent-
lichen Sinne, also von „Blutschändung“ keine Rede sein kann,
leuchtet ein. Der Begriff des Inzestes ist m. Е, für solche
Fälle streng auszuscheiden. Der Ansicht dieses Autors, daß
- der Inzest in zahlreichen Fällen nur faute de mieux, mangels
anderer Ursachen, gepflogen werde, vermag ich nicht ohne
weiteres zuzustimmen. Wenn auch in diesen unteren Be-
völkerungskreisen mit infolge des Wohnungselends eine große
moralische Verderbtheit herrschen mag, meine ich, ist im großen
und ganzen auch in diesen Kreisen dennoch eine Abneigung
gegen den familiären Umgang verbreitet, als daß hier allein
aus diesem Grunde in zahlreichen Fällen dazu geschritten
werden sollte. Es müssen hier schon andere Faktoren mit-
sprechen, wie geistige Minderwertigkeit oder, was wohl die
Hauptsache ist, irgendwelche Rauschzustände, sittliche Ver-
worfenheit usw., wie akuter Alkoholrausch oder Sexualrausch,
wie überhaupt sexuelle Hyperästhesie, Satyriasis resp. Nympho-
manie u. dgl.
Der Begriff der Verwandtschaft ist bezüglich des
Inzests sehr weit gefaßt, ja m. E. etwas zu weit. Daß
die unehelichen Kinder resp. der Verkehr mit ihnen seitens der
Eltern mit einbezogen ist, wird jeder rechtlich Denkende billig
finden. Aber der Inzest beschränkt sich ja nicht nur auf die
Eltern und Kinder sowie Geschwister ehelicher oder unehe-
licher Herkunft, sondern auch auf die verschwägerten Familien-
mitglieder, ja selbst auf Personen, von denen eine mit Eltern,
Voreltern oder Abkömmlingen der anderen geschlechtlichen
Verkehr gepflogen hat, wenigstens darf keine Ehe mit den-
selben geschlossen werden. Daß hier von „Blutsverwandtschaft“
keine Rede sein kann, leuchtet ja sofort ein. Inzest im eigent-
lichen Sinne, also Verkehr zwischen „Blutsverwandten“, liegt
ja auch bei „Verschwägerten“ nicht vor. Wenn der Gesetz-
geber auch diesen Verkehr unter Strafe stellt, so bewog ihn
dabei jedenfalls kein naturwissenschaftlich-hygienischer Stand-
punkt, sondern allein der der Familie. Die Familie als Grund-
GESCHLECHT UND QESELLSCHAFT 55
pfeiler des Staates soll rein erhalten werden. Das ist ja der
Grund der ganzen Inzestgesetzgebung, des deutschen § 173
StGB. Von diesem Standpunkt also‘, vom staatlichen resp.
moralischen kann man die Ausdehnung der Strafbarkeit auf
diese Verwandtschaft wohl anerkennen. Vom biologisch-
hygienischen Standpunkt aus hat sie keine Berechtigung. Eine
juristische Autorität wie Mittermaier hat daher auch eine
Streichung des Schwagerschaftsverhältnisses befürwortet.
Daß der Inzest, vom medizinischen und natur-
wissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet, noch
schädlicher sein muß als die erlaubte Konsanguinität
resp. die Inzucht, ist natürlich selbstverständlich, da
die Gleichheit der Keimzellen hier ja noch eine viel
größere ist als bei der Inzucht, ja die allergrößte, die
überhaupt denkbar ist, da sie die Allernächsten be-
trifft, die direkten Abkömmlinge, und infolgedessen
die Eiweißzersetzung beim Befruchtungsvorgange, der
chemische Oxydationsprozeß der Nukleine der beiden
Keimzellenkerne ein noch viel mehr geschwächter
sein wird als bei der Blutsverwandtschaft. Die bio-
logische Energie ist noch mehr vermindert. Beim heu-
tigen Menschengeschlecht liegen glücklicherweise keine Anhalts-
punkte vor über Resultate einer längeren Inzestperiode. Wir
können hier nur die geschichtlichen Zeiten der alten Perser,
Ägypter und Peruaner heranziehen. Leider bieten die natürlich
für die medizinisch exakte Beurteilung nicht genügenden An-
haltspunkt, da hier nicht allein reiner Inzest, sondern auch
Inzucht, also Zeugung unter weiterer Blutsverwandtschaft, vor-
kam. Dasjenige Volk, das am allerstrengsten, besonders in
den herrschenden Familien, den Inzest pflegte, waren die alten
Peruaner. Denn hier war er in der Herrscherfamilie direktes
Hausgesetz. Ein Inka mußte seine Schwester heiraten. Wir
hätten hier die Folgen des Inzestes beim Menschengeschlecht
am besten studieren können. Leider haben wir von diesem
Volke keine schriftlichen Überlieferungen, da dasselbe keine
Zeichenschrift hatte oder wenigstens keine auf uns über-
kommen ist. Die spanischen Werke, auch die besten, wie die
von Paz Soldan, de las Casas, Garcilaso de la Vega,
können keine Aufschlüsse geben. Wir sind also über die
körperlichen Folgen der Inzestzucht allein auf die Tierzucht
56 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
angewiesen, und sie hat uns gezeigt, daß die Inzestzucht
die Folgen der verstärkten Blutsverwandtschaftszucht
hat, d.h. die Verfeinerung und Schwächung der Kon-
stitution,die Unfruchtbarkeit usw.tretennoch schneller
und stärker auf als bei der Blutsverwandtschaftszucht
und wir müssen daraus schließen, daß Inzestzucht
beim Menschen durch mehrere Generationen hindurch
von denselben pathologischen Folgen begleitet sein
würde und besonders durch die psychischen Organe,
die geistigen Fähigkeiten affiziert werden würde. Da-
mit aber wäre der Inzest auch vom staatswirtschaft-
lichen Standpunkt aus gerichtet.
Es ist aber beim Inzest nicht bloß der gesundheit-
liche und staatswirtschaftliche Standpunkt, der in
Betracht kommt, sondern auch der ethisch-sittliche.
Denn der Staat ist begründet auf der Institution der Familie,
der Ehe. Ist diese auf sittlich reiner Grundlage aufgebaut,
dann kann auch das Staatswesen gedeihen. Wäre aber das
Eheleben moralisch so morsch und mürbe, daß diese Reinheit
der Familie durch solche sexuelle Delikte wie der Inzest ge-
duldet würde, dann würde ein solches Staatswesen eben in
seinen sittlichen Grundfesten, in seinem Innersten zerstört und
zerrüttet. Denn ein Staatswesen, das solche sittlichen Delikte
innerhalb der Familie ungestraft dulden würde, würde binnen
kurzem zugrunde gehen müssen an moralischer Zerrüttung
und Verkommenheit. Jeder sittlich intakte Mensch wird fühlen,
daß das Verbrechen des Inzestes schwerer ist und tiefer steht
als das der Notzucht. Der Inzest ist eines der allerschwersten
Sittlichkeitsdelikte, die überhaupt begangen werden können,
und zwar in allen Kultur- und Halbkulturstaaten. Mit Recht
sagt daher auch v. Krafft-Ebing in seiner „Psychopathia
sexualis“, 12. Aufl., S. 432: „Die Wahrung sittlicher Reinheit
des Familienlebens ist eine Frucht der Kulturentwicklung, und
lebhafte Unlustgefühle erheben sich beim ethisch intakten
Kulturleben da, wo ein lüsterner Gedanke bezüglich eines
Gliedes der Familie auftauchen mag. Nur mächtige Sinnlich-
keit und defekte rechtlich-sittliche Anschauungen dürften im-
stande sein, zum Inzest zu führen.“ Aus der jahrtausende-
langen kulturhistorischen Entwicklung der Abneigung
gegen Inzest heraus muß man auch annehmen oder
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 57
wenigstens vermuten, daß nicht allein laxe sittliche
Anschauungen in Verbindung mit sexueller Hyperäs-
thesie (Nymphomanie, Satyriasis) zum Inzest führen, son-
dern meistenteils auch ein gewisser geistiger Defekt,
sei es durch erbliche Belastung, sei es durch andere
Ursachen, der dabei mit im Spiele ist. Kurz das Ver-
brechen des Inzestes sollte dem Arzte wenigstens
den Gedanken nahelegen, daß beim Täter vielleicht
doch eine psycho-pathologische Grundlage vorhanden
ist. Krafft-Ebing meint ja nun, daß in der Mehrzahl der
Fälle „eine pathologische Begründung des nicht bloß die Bande
des Blutes, sondern auch die Gefühle eines Kulturvolkes tief
verletzenden Aktes“ sich nicht erbringen lasse, aber wir nehmen
an, daß in gar manchem dieser Fälle „eine psychopathische
Begründung zur Ehre der Menschheit“ sich finden lasse.
Jedenfalls finden wir den Inzest vielfach bei irgend-
welcher geistigen Minderwertigkeit resp. bei direkt
Geisteskranken, bei Schwachsinnigen, Epileptikern,
Idioten, Paranoikern und chronischen Alkoholisten
resp. Morphinisten, also auch bei solchen, bei denen in-
folge chronischer Gifte der geistige Vollbesitz nach irgendeiner
Richtung hin einen Defekt erlitten hat. Gerhard Hauptmann
hat in seinem Erstlingsdrama: „Vor Sonnenaufgang“ gezeigt,
wie der Alkoholismus auch die Schranke der Blutschande
niederreißt, und Erich Wulffen hat in seinem Werke „Ger-
hard Hauptmanns Dramen, kriminalpsychologische und -patho-
logische Studien“ auch eine äußerst feine, höchst interessante
psychologische Sexualstudie gegeben. Helenes Vater, der alte
Krause, ist ja ein völlig vertierter Alkoholiker. „In seiner
Trunkenheit umarmt er seine Tochter und vergreift sich un-
züchtig an ihr. Sie weint und schreit: ‚Tier, Schwein‘. Der
Zusammenhang von Alkohol und Verbrechen wird angedeutet.
Der Alkohol schädigt das Hemmungsvermögen gegen die
Blutschande“ usw.
Es würde zu weit führen, an kriminellen Fällen von Inzest
den Zusammenhang von Geisteskrankheiten oder wenigstens
geistiger Minderwertigkeit und unserem Verbrechen darzutun,
Man lese Krafft-Ebings, Wulffens u. a. Werke. Auch er-
lasse man mir, hier Kasuistik über Fälle von Inzest zu geben.
Alle Tageszeitungen bringen sie in Hülle und Fülle. Am
58 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
häufigsten ist der Inzest des Vaters mit der Tochter, seltener
der Mutter an dem Sohn, resp. umgekehrt, und zwischen Ge-
schwistern. Fast ausschließlich ist er heterosexuell. Die
Fälle von homosexuellem Inzest gehören wohl zu den größten
Seltenheiten.
Es gibt auch genügend Fälle, bei denen jegliche patholo-
gische Unterlage fehlt. Andererseits ist der Inzest, wie
bisher von noch keinem Autor berichtet, bisweilen
eine Folge einer krankhaften Erscheinung des Ge-
schlechtslebens, der sog.Paedophilia erotica. In meinen
„Vorlesungen über das gesamte Geschlechtsleben des Men-
schen“, Bd. Il, S. 502, habe ich auf die Paedophilia erotica
homosexualis feminarum, der allerdings seltensten Betätigungs-
form der weiblichen Homosexualität kleinen Mädchen gegen-
über, hingewiesen.
In dieser selteneren Art menschlichen Geschlechtstriebes
besteht eine Neigung zum Verkehr mit unreifen resp. sexuell
sich erst entwickelnden Kindern während der Pubertät resp.
bei Beginn der Pubertät. Bekannt ist ja die „griechische Liebe“.
In meinem genannten Werke, Bd. II, Vorlesung 50, S. 260 ff.,
bin ich näher auf dieselbe eingegangen. Diese Neigung
ist bisweilen so stark, daß sie selbst zu den eigenen
Kindern hindrängt.
Ganz kurz illustriere dies folgende eigene Beobachtung.
Vor einigen Jahren konsultiert mich ein höchst achtens-
werter Herr, Kaufmann von ca. 46 Jahren, mit schon meliertem
Vollbart. Derselbe macht den Eindruck voller geistiger Intakt-
heit. Eine subtile Untersuchung ergab auch nicht den ge-
ringsten Anhaltspunkt für irgendwelche geistige Degeneration
nach irgendeiner Richtung hin. Kein Trinker, kein Morphinist.
Er erzählt, seit ca. einem Jahr sei in seiner gesamten Sexual-
psyche ein gewaltiger Umschwung eingetreten. Es reize ihn
jetzt nur noch das Jugendliche, besonders aber die sich ent-
wickelnde Pubertas, nicht das volle Ausgereiftsein. Ein junges
Mädchen, dessen Busen er in seinem Wachstum beobachten
könne, reize ihn ungemein. Diese Neigung sei aber in letzter
Zeit so stark ausgeprägt, daß sogar seiner eigenen 15jährigen
Tochter gegenüber sie durchbreche, Es sei ihm jetzt nicht
mehr möglich, was er noch vor einem Jahre gekonnt, dieselbe
auf den Schoß zu nehmen. So wie er es tue, bekomme er
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 59
heftigste Erektionen und gleichzeitig starken sexualen Drang,
den er kaum zu bemeistern уегтӧре. Seine Libido sei sonst
normal bisher gewesen, nie abnorm stark. Sein Kind zu lieb-
kosen oder gar zu küssen, sei ihm jetzt unmöglich. Er müsse
demselben aus dem Wege gehen und es direkt von sich
stoßen. Schon das Betasten seiner Tochter löse die heftigsten
satyriatischen Neigungen in ihm aus, und unwillkürlich komme
ihm der Gedanke bei ihrem Anblick, nach dem Busen seiner
Tochter oder gar nach den Genitalien zu greifen. (Wieder-
erkennung des Jugendbildes seiner eigenen Frau in der
Tochter??) Patient vermag diesen verhängnisvollen Trieb nur
zu stillen bei ganz jugendlichen Prostituierten, wo er seinen
Neigungen freien Lauf lassen kann. Er konsultierte mich
später noch einmal. Sein unheilvoller Trieb hatte sich noch
nicht gelegt. Ich hatte ihm nur Antaphrodisiaka für die
schlimmsten Anfälle geben können und den guten Rat, seine
Tochter baldmöglichst aus dem Hause zu geben bis zur
völligen sexuellen Entwicklung und auch andere weibliche
Wesen in diesem Alter (Dienstmädchen usw.) nicht zu dulden.
Überhaupt findet man diese Paedophilia besonders im späteren
Lebensalter, wenn die Sexualakme überschritten ist, bei Frauen
besonders in der Zeit der Menopause.
Daß der Inzest in den meisten Kulturstaaten als ein Sitt-
lichkeitsdelikt angesehen wird, beweist die Gesetzgebung der-
selben.
Die Lex lata der hauptsächlichsten Kulturstaaten
Europas bezüglich der Blutschande ist folgende:
Deutschland ($ 173 StGB.) und Oesterreich (88 131,
132 u. 501) habe ich schon eingangs des Abschnittes „Inzest“,
S. 153/154 angeführt.
Frankreich bestraft (Art. 331 des Code pénal) den Inzest
als „Attentat aux moeurs“ in den Aszendenten gegen die
minderjährigen Deszendenten als Mißbrauch eines Abhängig-
keitsverhältnisses, aber nicht als eigentliches Delikt, dasselbe
tut der Code pénal von Monaco.
Spanien bestraft im Código penal, Art. 458, den Inzest
mit der Tochter oder Schwester als Autoritätsmißbrauch.
Holland (Art. 249) die Unzucht der Eltern gegenüber
den unmündigen Kindern.
60 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Belgien und Portugal, ebenso die Schweizer Kantone
Genf und Waadt lassen die Blutschande als solche straffrei.
Italien und der Kanton Neuenburg strafen nur bei
öffentlichem Skandal.
In England, ebenso dem nordamerikanischen Common
Law kann der Inzest nur vor den geistlichen Gerichten ge-
straft werden, nicht in Schottland und den Kolonien. In
New York ist das Eingehen einer inzestuosen Ehe strafbar.
In allen diesen Gesetzgebungen, die den Tatbestand an-
erkennen, sind Aszendenten und Deszendenten, ebenso Oe
schwister strafbar.
Über diese Verwandtschaft hinaus gehen noch Schweden
und Finnland, welche die ganze erste Seitenlinie und Schaff-
hausen-Wallis, welche sogar bis zum dritten Grad der
Seitenlinie bestrafen.
Verschwägerte auf- und absteigender Linie sind nicht
strafbar in Ungarn, in den meisten schweizerischen Kantons-
gesetzgebungen wie Bern, St. Gallen, Luzern, Schwyz,
Solothurn, Thurgau, Wallis, Zürich und im Schweize-
rischen Entwurf.
Verschwägerte der Seitenlinien werden nur in Oester-
reich (GG 501), Schweden (18, 8 5), Finnland (20, 8 5), und
Dänemark (165) bestraft.
Stiefeltern und Kinder werden bestraft in Schweden
(ХУШ, 2), Dänemark (162), Obwalden, Glarus, Basel und
Schaffhausen, hier sind sogar Adoptiveltern (!) und Kinder
strafbar.
Die uneheliche Verwandtschaft fällt in den meisten Staaten
hierbei unter das Gesetz. Uneheliche Schwägerschaft in Däne-
mark, in diesem ist aber die Strafe gemildert.
Bei der Geschwisterschaft werden in allen Gesetzen voll-
und halbbürtige Geschwister bestraft.
In einigen Gesetzen gilt die Schwägerschaft nur während
der Ehe, wie in Schaffhausen und Norwegen (208), nicht
nach der Ehe.
Fast in allen Gesetzgebungen sind die Strafen sehr hohe
bei den Aszendenten, milder bei den Deszendenten, Geschwistern
und Verschwägerten.
Abkömmlinge sind straffrei in Rußland bis zu 14 Jahren,
in Aargau, Zürich, Zug (fakultativ), in Ungarn, Norwegen
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 61
bis zu 16 Jahren, alle Minderjährigen (bis 18 Jahren) in Neuen-
burg, im Schweizer Entwurf und Norwegen bei Ver-
führung durch die Großjährigen.
Kurios ist, daß in Ungarn (244) die Strafverfolgung der
Blutschande einen Strafantrag der Eltern oder des Kurators
erfordert.
Mittermaier, dem ich all diese juristischen Bestimmungen
entnehme, schlägt vor, den Tatbestand ganz zu streichen,
„da er nur eine Unmoral und keine besondere Gefahr darstellt
und da die schwereren Fälle in anderen Tatbeständen wieder-
kehren. jedenfalls aber würde das Schwagerschaftsverhältnis
wegzulassen und nur im Verwandtschaftskreise zwischen As-
zendenten und Deszendenten und zwischen Geschwistern, hier
aber auch trotz unehelicher Verwandschaft zu strafen sein.
Der Tatbestand wäre Beischlaf, vielleicht auch widernatürliche
Unzucht. Der Gedanke, nur bei öffentlichem Ärgernis zu
strafen, ist zwar gut — aber in praxi herrscht er schon von
selber. Alle Minderjährigen unter 18 Jahren oder die der
Verführung Mehrjähriger unterliegen, sollten straffrei sein.“
Man sieht aus den angeführten Gesetzgebungen, daß der
Grundgedanke des Inzestes ein nichts weniger als einheitlicher
genannt werden kann. Teilweise gingen die Gesetzgeber von
dem Gedanken der Schädigungen der Nachkommenschaft, teil-
weise von dem der Abneigung, teilweise von dem der Schädi-
gung der Sittlichkeit, der Familienreinheit aus. Letztere be-
sonders war es, die die Verschwägerten in den Begriff des
Inzestes hereinzog. Mittermaier hält die Bestrafung hier
„für durchaus unberechtigt und lediglich einem allgemeinen
Moralgefühl sowie überlebten religiösen Ideen entsprechend.“
Man wird hier diesem Autor rückhaltlos auch vom medizini-
schen Standpunkt nur zustimmen können, denn Verschwäge-
rung ist keine „Blutsverwandtschaft“.
Was die
Lex ferenda in ihrer Stellung zum Inzest
anbetrifft, so behält
Deutschland
in seinem Vorentwurf zu einem deutschen Strafgesetzbuch 1909,
$ 249 das Verbrechen der Blutschande bei. Nur will es, im
Gegensatz zum bisherigen Recht, ermöglichen, daß Verwandte
und Verschwägerte absteigender Linie, die das 18. Lebensjahr
62 GESCHLECHT UND QESELLSCHAFT
noch nicht vollendet haben, bestraft werden. Das bisherige
Recht nahm unbedingte Straflosigkeit Verwandter und Ver-
schwägerter absteigender Linie an. Diese Gesetzesänderung
ist deswegen in Vorschlag gebracht worden, weil die prak-
tische Erfahrung zeigte, daß ein nahe an der Vollendung des
18. Lebensjahres stehender solcher Verwandter oder Ver-
schwägerter der Urheber resp. Anstifter zum Inzest sein kann.
Die Strafbarkeit würde im eventuellen künftigen $ 249 also
vom einzelnen Fall abhängen.
Der Standpunkt Mittermaiers, den Tatbestand der Blut-
schande aus dem Gesetzbuch überhaupt ganz zu streichen,
weil er nur eine Unmoral, aber keine Gefahr darstelle, scheint
mir für gewisse Fälle von Inzestdelikten, die nur aus niedrig-
ster, rohester Gesinnung bei vollständigster Zurechnungsfähig-
keit begangen werden, so ganz allgemein doch etwas zu
radikal. Der Richter muß den einzelnen Umständen jedes
einzelnen Falles gerecht zu werden versuchen. Daß mehrfach
in Fällen von Inzest psychopathische Belastung des Inkulpaten
vorliegt, wenn sonst das geistige Verhalten desselben bisher
noch keine Spur davon gezeigt hat, ist nicht zu leugnen. Be-
sonders ist dies der Fall bei Aszendenten im höheren Alter,
wo der Gedanke an Dementia senilis nahe liegt. Andererseits
wird in vielen Fällen von geistiger Intaktheit nur der momen-
tane Zustand wie akuter Rausch, Wohnungsmisere usw. das
Ausschlaggebende gewesen sein. In $ 83 des Vorentwurfs
zu einem D.St.G. hat der Richter das Recht, in solchen Fällen
die Strafe zu mildern. Ob und wieweit das eintreten wird,
müßte die Praxis erst erweisen. Jedenfalls müssen wir
Arzte darauf hinweisen, daß, wie in meinem oben an-
geführten Falle, ein psychopathischer Sexualtrieb wie
die Paedophilia resp. Parthenophilia erotica event.
selbst bis zum Inzest führen kann und daß in solchen
Fällen verminderte strafrechtliche Verantwortlichkeit, geringere
Strafe, selbst Straflosigkeit am Platze wäre. Schließlich wäre
noch zu bedenken, daß der Inzest meist ein Notzuchtsakt ist.
Das österreichische Strafgesetzbuch
hat in einem Vorentwurf vom September 1909 in $ 271 die
Blutschande als Sittlichkeitsdelikt weiter beibehalten und droht
mit Gefängnis von vier Wochen bis drei Jahre bei Geschlechts-
verkehr zwischen Blutsverwandten in gerader Linie und zwischen
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 63
voll- und halbbürtigen Geschwistern. Straffrei ist die noch
nicht 16jährige Person, wenn sie zum Fall verführt wurde.
Was dieser Gesetzentwurf aber, sowie schon das daselbst
geltende Strafrecht ($ 501 und 132 II) im Gegensatz zum
deutschen, und zwar mit Recht, hat, ist die Strafbarkeit des
„Unzuchttreibens“ an einem Blutsverwandten absteigender Linie.
Der Schweizerische Vorentwurf vom April 1908 zu
einem Strafgesetzbuch schaltet die Blutschande aus den Sexual-
delikten aus und reiht sie den Verbrechen gegen die Familie
ein (Art. 137). Trotzdem aber bestraft er sie wechselweise
mit Gefängnis oder Zuchthaus. Strafbar ist hier ebenfalls
Beischlaf zwischen Blutsverwandten in gerader Linie und
zwischen voll- und halbbürtigen Geschwistern.
Die Verleitung eines unmündigen Verwandten in gerader
Linie zum Beischlaf wird mit Zuchthaus bestraft. Wenn die
Person noch unter 16 Jahren ist, tritt Zuchthausstrafe nicht
unter 2 Jahren ein. Die der Verführung unterlegenen Un-
mündigen bleiben straflos.
Zuletzt möchte ich noch eines Punktes gedenken, der,
obwohl nicht strikt zur „Zeugung unter Blutsverwandten“ ge-
hörend, doch oft die Vorstufe dazu bildet, und ihr sehr nahe
verwandt ist, jedenfalls demselben perversen Triebleben oft
entspringt, der Unzucht an Blutsverwandten.
In meinen Vorlesungen über „Geschlechtstrieb und ge-
samtes Geschlechtsleben des Menschen“, Bd. Il, 39. Vorlesung
habe ich unter obigem Titel gesagt: „Ebensogut wie man
Notzucht und Unzucht trennt, d. h. erzwungenen Beischlaf
und Unzucht an Fremden, sollte man auch Beischlaf (Inzest)
und Unzucht an Blutsverwandten trennen. Allerdings betrifft
das deutsche Strafgesetzbuch sowohl den Inzest ($ 173) als
auch die Unzucht (§ 174) und ebenso das österreichische
Strafgesetzbuch, aber nicht direkt letztere an Blutsverwandten.
Ein besonderer Strafparagraph wäre aber deswegen
angebracht, weil es — wenigstens nach meinem Ge-
fühl — kein größeres Verbrechen geben kann, keine
größere sittliche Verworfenheit, Verkommenheit und
Roheit als jene, welche die eigenen Kinder (oder
nächsten Blutsverwandten) schändet und vorbereitet
zum unsittlichen Gebrauch für Fremde gegen Entgelt.
Nur pekuniärer schmutziger Verdienst der gemeinsten Art
64 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
veranlassen solche Scheusale von Eltern, an ihrem Liebsten,
was sie besitzen, an ihren Kindern resp. nächsten Bluts-
verwandten die unzüchtigsten Handlungen vorzunehmen, meist,
um sie zu präparieren für die Prostitution.“
„Es ist außerordentlich schwierig, die Unzucht an Bluts-
verwandten gesetzlich zu fassen. Daß dies aber notwendig
ist, weil in praxi sie leider, wenn auch selten, vorkommt, steht
für mich fest, um so mehr als hier nicht geistige, sondern
moralisch-sittliche Defekte der Grund sind, also verworfenste
Subjekte niedrigster Art die Stupratores sind.“
Nach unserem jetzigen Strafgesetzbuch werden derartige
Handlungen nach $ 176,3 abgeurteilt:
Mit Zuchthaus bis zu 10 Jahren wird bestraft, wer
3. mit Personen unter 14 Jahren unzüchtige Handlungen
vornimmt oder dieselben zur Verübung oder Duldung un-
züchtiger Handlungen verleitet.
Dieser Paragraph trifft also nur die unzüchtigen Hand-
lungen an Kindern unter 14 Jahren schlechthin und ich weiß
nicht, ob der Gesetzgeber dabei das Vorkommen solcher un-
züchtigen Handlungen an Blutsverwandten dabei mit im
Auge hatte, oder ob er solche dabei als überhaupt nicht vor-
kommend angenommen hat, fast scheint mir das letztere der
Fall zu sein, denn sonst sollte man meinen, $ 173 (der
Inzestparagraph) oder wenigstens der Vorentwurf zu einem
deutschen Strafgesetzbuch hätte dieselben erwähnt; aber der
8 176, 3 kehrt ohne wesentliche Änderung im $ 244, 4 des
Entwurfs wieder.
„Meinem Rechtsgefühl nach sind diese Handlungen an
Blutsverwandten eine derartige scheußliche Gemeinheit und
sittiche Verkommenheit, daß ihnen eine stärkere Bestrafung
zukommen müßte als den unzüchtigen Handlungen an Kindern
unter $ 176, 3 schlechthin und sie besonders gefahndet
werden müßten,“
Das hat wohl auch der österreichische Gesetzgeber ge-
fühlt, der in seinem Vorentwurf die Strafbarkeit des „Unzucht-
treibens“ an einem Blutsverwandten absteigender Linie bestraft
wissen will.
Ich muß es den Juristen überlassen, ob nicht vielleicht
doch de lege ferenda der Blutschandeparagraph folgendermaßen
zu erweitern wäre:
SYMBOLISCHE DARSTELLUNG DER EHE. Deutsche
Handzeichnung (1504).
Zu dem Aufsatz »Die eheliche Untreue«. Seite 86.
Ы ата «унан Te a en E ~
eom v aueren
P
i
PARTIE CONTRE-CARREE. Anonyme gal. französ. Lithographie. Um 1855.
Zu dem Aufsatz »Die eheliche Untreue«. Seite 86.
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 65°
„Der Beischlaf zwischen ehelichen und unehelichen Ver-
wandten auf- und absteigender Linie, die unzüchtigen
Handlungen an ehelichen und unehelichen Verwandten
auf- und absteigender Linie unter 14 Jahren sowie die
Verübung oder Duldung solcher unzüchtigen Handlungen
wird an ersteren mit Zuchthaus, .. .. an den letzteren mit
Gefängnis . .. . bestraft. |
Die unzüchtigen Handlungen an ehelichen oder unehe-
lichen Geschwistern unter 14 Jahren sowie die Verübung oder
Duldung solcher unzüchtigen Handlungen wird mit Gefängnis
bis... . bestraft.
Neben der Oefängnisstrafe kann auf Verlust der bürger-
lichen Ehrenrechte erkannt werden.
Sogen. Blutschande.“
Von der Erziehung der Kinder zur Unzucht seitens
der Eltern bis zum eigenen sexuellen Gebrauch der
ersteren ist nur ein Schritt und ein solches Gesetz
könnte m. E. prophylaktisch sehr segensreich wirken,
um so mehr, als es sich hier bei der Unzucht an Bluts-
verwandten fast nie um geistige, sondern nur um rechtlich-
sittliche Defekte einer der moralisch verkommensten Menschen-
klasse handelt. Schon Casper hat uns erzählt, wie verworfene
Mütter in den Großstädten es fertig bringen, ihre kleinen
Töchter in scheußlicher Weise an den Genitalien zuzubereiten,
um sie zu sexuellen Untaten seitens der Wollüstlinge gegen
gute Bezahlung zu präparieren, Taxil, Lombroso („la donna
delinquente“), Grandpre, Coffignon u.a. ebenfalls. Glück-
licherweise gehören ja solche Scheußlichkeiten zu den Selten-
heiten, jedenfalls sind sie seltener als der Inzest. Ich wollte
hier nur kurz auf die ersteren als Vorstufe zum letzteren hin-
weisen.
Jedenfalls ist es m. E. schon als Fortschritt zu bezeichnen,
wenn ein Strafgesetzbuch (das österreichische, $ 132, IV, sowie
sein Vorentwurf) diesen Gedanken, den ich schon 1907 in
meinen „Vorlesungen“, II. Aufl., aussprach, aufgenommen hat,
dort Kuppelei der Eltern gegen ihre Kinder resp. „Unzucht-
treiben“ an einem Blutsverwandten genannt. Denn man ver-
gesse nicht, daß ein solches „Unzuchttreiben“ eine meist leider
sehr gründliche Vorschule zur Prostitution verderblichster Art
darstellt, zur scheußlichsten aller Kuppeleien.
Oeschlecht und Gesellschaft VIII, 2. 5
66 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Wer Italien resp. Spanien bereist hat, wird wissen, daß
dort Verkuppelung der eigenen Kinder seitens der Eltern an
Fremde zu den gemeinsten Sexualverbrechen an der Tages-
ordnung ist. Ich erinnere nur an Rom und Neapel. Wohl
fast jedem Fremden, der allein Rom resp. alle größeren, süd-
lich davon gelegenen Städte, Neapel, Palermo usw. bereist hat,
wird dies aufgefallen sein. Das geht sogar soweit, daß selbst
Säuglinge gegen gutes Entgelt Fremden verabreicht werden!
Mir selbst passierte es in Neapel, daß auf der Via già Roma
(dem früheren Toledo), als ich in einem Café an der Ecke
dieser Straße und der Piazza Dante saß, eine Frau mit einem
ca. vierjährigen Mädchen und dreijährigen Knaben an mich
herantrat und sowohl sich, als — jedes ihrer Kinder für je
10 Lire ad libitum anbot. Ich war entsetzt, die Frau fand
nichts weiter dabei! Forscht man in solchen Fällen weiter,
kann man häufig erfahren, daß der eigene Vater zuerst sein
Kind gebrauchte, gleichsam um es zu diesem niederträchtigen
Kuppeleigeschäft erst zu präparieren.
SYPHILIDOPHOBIE.
Von Dr. ALFRED ADLER, Wien.
ES kommt mir selten ein Fall von Neurose vor, der nicht
in ausgeprägter Weise Gedankengänge der Syphilisfurcht
verriete. Bald steht dieses Symptom im Vordergrund, ist oft
das einzige, dessentwegen der Patient den Arzt aufsucht, bald
wieder verwebt es sich mit einer Unzahl anderer Symptome
in der mannigfaltigsten Weise. Meist sind es Patienten, die
noch keine Infektion durchgemacht haben. Aber auch ehe-
mals infizierte Neurotiker zeigen zuweilen eine derartige Phobie,
ersetzen sie jedoch häufiger durch die Furcht vor Gonorrhöe,
vor Ungeziefer, oder vor Filzläusen, Tabes (Rückenmark-
schwund) und Paralyse, oder sie zittern vor dem Schicksal
ihrer noch lange nicht geborenen Kinder. Stets heftet sich
ein ungeheures Interesse an den Syphiliskomplex, in Wort
und Schrift jagen sie diesem Thema nach, und nicht selten
findet man auch, wie sich diese Aufmerksamkeit zeichnerisch,
malerisch betätigt.
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 67
Daß die Furchtsamen und Hypochonder vorsichtig sind,
wäre eine Binsenwahrheit, und es lohnte nicht der Mühe,
davon zu sprechen, wenn sie diesen Charakterzug nicht
mit jedem Neurotiker teilten. Eine eingehende Analyse
dieser Zustände kann jeden leicht belehren, daß die phobischen
und hypochondrischen Symptome eine ausgezeichnete Eignung
besitzen, ihren Träger vor einer Gefahr zu sichern, ja daß
Vorsicht in unserem Sinne fast überflüssig erscheint, da sie
ganz durch die Phobie ersetzt werden kann.
Nun entstehen jene Zustandsbilder, deren Auflösung und
Verständnis so große Anforderungen an den Neurologen stellen.
Da die Phobie aus der Sicherungstendenz entspringt,
den Patienten mehr als genugsam behütet, darf er sich schon
den Luxus erlauben, Unvorsichtigkeiten zu begehen. In der
Tat kann jeder Syphilidophobe Beweise erbringen, wie unvor-
sichtig er sein kann. Steckel hat in seinen „Nervösen Angst-
zuständen“ (Urban und Schwarzenberg, Berlin und Wien 1908)
auf diese „Bipolarität“ kurz hingewiesen. Der psychische Zu-
sammenhang dieser, wie Bleuler sagen würde, „voluntären
Ambivalenz“ ist damit allerdings noch nicht einmal angedeutet.
Er liegt in der Dynamik des psychischen Hermaphro-
ditismus mit folgendem männlichen Protest, und die
kontrollierende, sozusagen zuschauende („sentimentalische“
Schiller’s!) Instanz des neurotischen Seelenlebens gerät unter
den Eindruck: „So unvorsichtig kann ich sein! Ich kenne
keine Grenzen! Also Vorsicht!“ Dies ist die zwingende
Seelenregung des Phobikers, die er regelmäßig auftauchen läßt,
ob er sich nun irgendwelcher Unvorsichtigkeiten erinnert, oder
ob er sie, was wohl bedeutungsvoller wird, arrangiert.
In dieses neurotische Arrangement gehört z. B. die
dauernde oder gelegentliche Abneigung gegen Schutzmaßregeln.
Als Erklärung für diesen „Leichtsinn“ hört man stets die gleichen
scheinbaren Ungereimtheiten: „Die Schutzmaßregeln taugen
nichts!“ — Oder: „Ich bin nicht imstande, ein Kondom zu
benützen.“ Und ähnliches mehr.
Daß diese Einwände des leichtsinnig scheinenden Neuro-
tikers eine gewisse Berechtigung haben, soll nicht geleugnet
werden. Aber diese Berechtigung sollte doch für alle gelten!
Und in der Tat überzeugt man sich leicht, daß der Syphili-
5*
68 OESCHLECHT UND OESELLSCHAFT
dophobe dieser Kategorie auch anders kann, daß er auch
Schutzmaßregeln anzuwenden imstande ist.
In diesem Gebaren liegt derselbe Sinn, den ich in meinen
früheren Arbeiten wiederholt beschrieben habe: der Patient
spielt mit der Gefahr, läuft seinen Ohrfeigen nach, nur um
sich in sein Sicherungsnetz um so fester einzuspinnen, um
sich die Gefahren der Außenwelt und seine eigene Minder-
wertigkeit recht drastisch vor die Seele zu rücken. Ein Patient,
der kurz nach einer erworbenen Lues wegen anderer nervöser
Symptome in meine Behandlung kam, drückte dieses Verhältnis
mit den Worten aus: „Jetzt bin ich erst von meiner Neurose
erleichtert, seit ich an Lues erkrankt bin. Seit 10 Jahren habe
ich auf diese Infektion mit Angst und Bangen gewartet!“
Die meisten Syphilidophoben rücken allerdings mit ihrer
Sicherungstendenz direkt gegen die Infektionsgefahr. Sie sichern
sich auf allen entfernteren und näheren Gebieten, die mit der
Infektionsmöglichkeit zusammenhängen, vermeiden sogar Be-
rührungen, Trinken aus fremden Gläsern, schließen sich von
Gesellschaften ab und können nur den eigenen Abtritt benützen.
In den weiteren Kreis ihrer Sicherungen gehören Masturbation,
Ejaculatio praecox, Pollutionen und psychische Impotenz. Auch
gewisse Charakterzüge werden maßlos verstärkt. So der Geiz.
Dadurch ist ihnen der Weg zur Frau aufs äußerste erschwert.
Ihre Ästhetik und ihre ethischen Grundsätze erreichen
ein unheimliches Maß, ihre Augen, Ohren und Nasen wittern
überall Unrat und Fehler. Die syphilidophobischen Mädchen
flirten oft unaufhörlich, schrecken aber vor der Liebe und Ehe
wie die männlichen Patienten zurück. Wegen des Geruchs,
wegen der Unreinlichkeit, wegen der Flatterhaftigkeit, Verlogen-
heit — weil die Männer nicht rein in die Ehe treten —, also
lauten die bezüglichen Erklärungsversuche. Nicht so selten
hört man von Mädchen die Befürchtung, vom Manne in der
Ehe infiziert zu werden. Weitere Sicherungen solcher Frauen
sind Frigidität, solcher Männer und Frauen Homosexualität
und Perversionen.!)
1) Bei der Perversion ist, wie ich in anderem Zusammenhange schon
öfters ausgeführt habe, ein zweifacher psychischer Modus zu entdecken.
1. Die Perversion, in der Regel Masochismus, um durch eigene Unterwerfung
den Partner zu fesseln. Also Pseudomasochismus. Oder 2. Perversion
als äußerster Grad der Unterwerfung, um vom Partner loszukommen, sich
70 GESCHLECHT UND OESELLSCHAFT
Flecken, Schmutz und Staub. Daß dabei den Stuhl- und Harn-
funktionen ein geradezu rituelles Gepräge gegeben wird, wobei
nicht selten Obstipation als Zeichen des Reinlichkeits-
dranges auftritt, liegt auf der gleichen Linie. Organische
Minderwertigkeitserscheinungen des Darm- und Harnapparates
(Hämorrhoiden, Schrunden, Mißbildungen der männlichen
Harnröhre, unfreiwilliger Harnabgang und Erkrankungen der
beiden Apparate in der Vorgeschichte) sind häufig, und deren
Äußerungen werden als schreckende Spuren von der Erinne-
rung bewahrt.
Die Phantasietätigkeit umrankt fortwährend — entsprechend
der frühzeitig erregten und eingestellten Aufmerksamkeit —
Probleme des Krankseins, des Sterbens, der Schwangerschaft
und des Gebärens (auch bei Männern), heftet sich an Aus-
schläge, Flecken, Schwellungen, und verwendet sie in sym-
bolischer Weise ebenso wie Gedankengänge über Kas-
tration und Kleinheit des Penis. Das Empfinden einer
nicht erreichten, nie ganz zu vollendeten Männlich-
keit führt kompensatorisch maßlose Übertreibungen
herrschsüchtiger, sadistischer und erotischer Reg-
ungen herbei.
Ein überaus verschärftes Mißtrauen, die immerwährende
Sucht, bei anderen Fehler zu entdecken, steht mit der
Entwertungstendenz im Zusammenhang und hindert jede
dauernde freundschaftliche und erotische Beziehung. Eine
weitere Lebensschwierigkeit schafft der aus der Kindheit über-
nommene Zweifel, ursprünglich aus dem Gefühl der Minder-
wertigkeit erwachsen, die hervorstechendste Form der ursprüng-
lichen Unsicherheit.
Aus Erlebnissen, wie sie jedermann zu Gebote stehen,
holen die Syphilidophoben ihre Überzeugung von ihrer alles
überschreitenden Erotik. Diese Überzeugung drückt auf
ihre Entschließungen, ruft die Phobie hervor und steigert sie
stetig. Genügt diese nicht vollkommen, um den Patienten zu
sichern, dann kommt es zu psychischer Impotenz oder anderen
Sicherungen. Nicht selten gesellen sich weitere Phobien, wie
Platzangst, Angst vor dem Erröten etc., und andere hysterische,
neurasthenische und Zwangserscheinungen hinzu und machen
den Patienten gesellschaftsunfähig, um ihn vor Liebe und Ehe
zu schützen. Einmal beobachtete ich eine Kombination mit
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 71
Nieskrampf, in der sich der Patient wie der Held in Vischer’s
Auch Einer“ benahm, ohne daß er diesen Roman gekannt hätte.
Syphilidophobe Mädchen zeigen dieselben Symp-
tome wie die männlichen Patienten. Die Entwertung
des Mannes erreicht bei ihnen die gleiche Stärke, wie die der
Frauen bei den männlichen Phobikern.
Die Bedeutung der Phobie als Sicherung wird ganz
klar in solchen Fällen, wo der Patient, meist wenn er mit der
Verheiratung ernst machen soll, einen Hautausschlag oder
öfters einen gonorrhoischen Ausfluß fälschlich an sich bemerkt
und die Flucht ergreift. Organminderwertigkeitszeichen, wie
falsche Harnröhrengänge, Verengung der Vorhaut, kleiner Penis,
versteckte Hoden oder kleine Testes, vergrößerte Labia minora,
sind öfters zu konstatieren.
Die Analyse ergibt, wie so oft in der Neurosenpsycho-
logie, eine Aufklärung, die dem Standpunkt des Patienten
gerade entgegengesetzt ist. Der Patient führt an, er fürchte
die Lues und hüte sich deshalb vor dem Sexualverkehr. Wir
können ihm nachweisen: er fürchtet die Frau (resp. den
Mann) und deshalb arrangiert er die Syphilidophobie.
Immer dringt die Kampftendenz gegen das andere Geschlecht
durch und läßt sich bis ins früheste Kindesalter zurückverfolgen.
Ich habe auf die literarische und wissenschaftliche Verwendung
dieses Problems bereits hingewiesen (Schopenhauer, Strind-
berg, Moebius, Fließ, Weininger) und will nur kurz auf
die Allgegenwart dieser Phobie vor der Frau in Dicht-
kunst und Malerei aufmerksam machen. Wegen der scharfen
Problemstellung ist mir noch der Dichter Georg Engel („Die
Furcht vor der Frau“ und „Der Reiter auf dem Regenbogen“)
aufgefallen, sowie die gedankenreiche Arbeit Philipp Frey’s:
„Der Kampf der Geschlechter“).
Schopenhauer läßt sich in den „Aphorismen zur Lebens-
weisheit“ folgendermaßen vernehmen: „Sie zusammen (das
ritterliche Ehrenprinzip und die venerische Krankheit) haben
rege xa pila des Lebens vergiftet. Die venerische Krankheit
nämlich erstreckt ihren Einfluß viel weiter, als es auf den
ersten Blick scheinen möchte, indem derselbe keineswegs ein
bloß physischer, sondern auch ein moralischer ist. Seitdem
1) Wiener Verlag 1904.
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Amors Köcher auch vergiftete Pfeile führt, ist in das Verhält-
nis der Geschlechter zueinander ein fremdartiges, feindseliges,
ja teuflisches Element gekommen; infolge wovon ein finsteres
und furchtsames Mißtrauen es durchzieht; und der mittelbare
Einfluß einer solchen Änderung in der Grundfeste aller mensch-
lichen Gemeinschaft erstreckt sich, mehr oder weniger, auch
auf die übrigen geselligen Verhältnisse; — —.“ Wir tun dem
Späherauge des großen Philosophen wohl keinen Abtrag,
wenn wir auch sein „feindseliges“ Verhältnis zur Frau in Zu-
sammenhang bringen mit seiner ursprünglichen feindseligen
Regung gegen die starke Mutter. Daß Schopenhauer auch
in den übrigen Punkten unserer Schilderung des Syphilido-
phoben gerecht wird, ist männiglich bekannt. Hervorheben
will ich sein Beben und sein Erstaunen über die Macht
des Sexualtriebes, seine Überempfindlichkeit, ѕеіп МіВ-
trauen und die stark ausgeprägte Entwertungstendenz
gegen Mann und Frau. Gab er doch seinem Hunde den
Namen „Mensch“. Seine Verneinung des Lebens ist im selben
Sinne Verneinung des Sexualtriebes, wie die Syphilidophobie.
Das Motiv ist das gleiche wie bei unseren Neurotikern: der
Kampf gegen das starke Weib, die Furcht vor der Frau.
Ich will noch eine Reihe von Gemälden namhaft machen,
die aus der gleichen psychischen Dynamik erflossen sind.
Der in ihnen sichtbare Antrieb führt so deutlich auf die Furcht
vor der Frau zurück, daß es uns nicht wundern wird, alle
oben ausgeführten Probleme des Phobikers wieder zu finden.
Deutlicher bei symbolischen und stilisierten Darstellungen.
Eine Unzahl oft der herrlichsten Werke folgen dem Kampaspa-!),
Delila- oder Salomemotiv und stellen bei oberflächlicher Be-
trachtung oft nur den abstrakten Triumph oder die Macht
der Liebe dar, oder das Problem ist soweit reduziert, daß bloß
die räumlichen Maße (große Frau — kleiner Mann) die Furcht
vor der Frau andeuten. Daß sich das Madonnenmotiv
dazu sehr gut eignet, ist leicht zu erraten. Unter den Reak-
tionen auf diese ursprüngliche Furcht fehlt die Entwertung
der Frau in der überwiegend von Männern geübten Kunst?)
!) Kampaspa, die Geliebte Alexanders, auf Aristoteles reitend.
2) Hier liegt offenbar eine der Ursachen für die Überlegenheit des
Mannes in der Kunst, daß das vielleicht weitreichendste Problem der Malerei
und Bildhauerei aus den psychischen Regungen des Mannes stammt.
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 73
gleichfalls nicht. Entscheidend aber ist, daß man, wie beim
Phobiker, ganze Reihen von Bildern aufstellen kann, seien sie
nun von einem oder mehreren Künstlern genommen, die fast
alle die oben angeführten Sicherungstendenzen aufweisen.
Recht augenfällig ist die umfassende Produktion der Probleme
bei Rops, und die Identität mit den Problemen des Neuro-
tikers bedarf keines weiteren Beweises, wenn wir folgende
Bilder der Betrachtung empfehlen: „La dame au pantin“,
„Sphinx“, „Pornokrates“, „Cocottocratie“, „Alkoholistin“, „Mors
syphilitica“. Es klingt wie der Text zu diesen Bildern und
schildert die Empfindung des Syphilidophoben, wenn Baude-
laire verkündet: „Ich kann mir eine Schönheit ohne ein
damit verbundenes Unglück gar nicht vorstellen.“ Und in den
„Blumen des Bösen“:
Du wandelst über Tote, Schönheit, lachst sie aus,
Den Schrecken hast du dir zum schönsten Schmuck erwählt,
Behängst als liebstes Zierrat dich mit Mord und Graus,
Der protzig gleißend uns von deinem Stolz erzählt.
Du bist der Augenblick, der wehend uns verfliegt,
Die Flamme bist du, wie sie knistert und verblaßt.
Der Mann, der brünstig schönen Frauenleib umschmiegt,
Ist gleich dem Sterbenden, der’s eigne Grab umfaßt’).
Der Künstler ist, wie ähnlich schon oft hervorgehoben
wurde, aus einem dem Neurotiker verwandten Stoff gefertigt.
Seine aus dem Organischen abgeleitete Unsicherheit
begleitet ihn durch das ganze Leben, nie und nirgends fühlt
er sich ganz heimisch; sein Zagen vor der Handlung, vor der
Prüfung, das Lampenfieber und die Furcht, nicht zu Ende zu
kommen, sind ebenso zu weit getriebene Sicherung, wie das
Zurückweichen des Neurotikers in seiner Höhen- oder Platz-
angst, wie sein Beben vor dem stärksten männlichen Triumph,
vor der Liebe.
In der Praxis ergeben sich meiner Erfahrung nach zumeist
Bilder, wie die folgenden, die nach dem Obigen leicht zu
durchschauen sind:
1. Ein kürzlich verheirateter Fabrikant, der mit seiner Gattin
in glücklicher Ehe lebt, kommt mit der Klage, daß ihn seit
einigen Tagen ununterbrochen die Furcht quäle, er werde Lues
1) Ѕіеһе die entsprechenden Auseinandersetzungen in Gustave Kahn,
Das Weib in der Karikatur Frankreichs (H. Schmidt, Stuttgart), denen auch
diese Verse entnommen sind.
74 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
bekommen. Er könne nicht schlafen und nicht arbeiten; er
fürchte sich, im Ehebett zu schlafen, seine Frau zu küssen
oder sein Badezimmer zu benutzen, um nicht auch seine
Gattin zu gefährden. Auf näheres Befragen ergibt sich, daß
er kurz vor Ausbruch seiner Phobie ein fremdes Mädchen in
der Bahn geküßt habe. Die Heilung erfolgte nach zwei Unter-
redungen, in denen dem Patienten klar gemacht wurde, daß
er sich durch die Syphilidophobie vor weiteren Seitensprüngen
sichern wolle. — Die Disposition dürfte dadurch kaum be-
einflußt worden sein. —
II. Traum aus einer längeren Kur eines Mediziners, der
an Zwangsvorstellungen und gehäuften Pollutionen litt.
„Mir träumte, ich sei bei der Türkenbelagerung Wiens
anwesend und erwarte die Niederlage und Flucht der Türken.
Ich wußte im Traume, um welche Zeit die Türken geschlagen
auf der Bildfläche erscheinen müßten, ich hatte es ja gelesen.
Um ein Übriges zu tun, nahm ich ein Gewehr und wollte
den fliehenden Kara Mustapha unter Zuhilfenahme einiger Ge-
nossen gefangen nehmen. Zur bestimmten Zeit tauchte Kara
Mustapha mit mehreren anderen auf schwarzen Pferden auf.
Meine Gefährten liefen davon. Ich sah mich allein einer riesigen
Macht gegenüber, wollte mich auch zur Flucht wenden und
erhielt einen Schuß ins Rückenmark. Ich fühlte, wie ich starb.“
Die Deutung ergibt als Versuch des Vorausdenkens
im Traum Gedanken über den Erwerb einer Lues und deren
Ausgang, Tabes und Tod. Die Einfälle gingen über Türken,
Halbmond, Halbweltl. Was dem Träumer, einem jungen
Mediziner, aus dem Buche bekannt war, betraf die Zeit des
Exanthemausbruchs. Der Reiter auf dem schwarzen ВоВ
(„Das ist der finstere Thanatos“) ist der Tod. Der Schuß in
den Rücken bedeutet außer Tabes noch das Erleiden einer
weiblichen Rolle einem Manne gegenüber (Ein Loch mehr!),
der gegenüber der Versuch eines männlichen Protestes im
Ergreifen des Gewehres. Schließlich dringt der männliche
Protest auf dem Umweg über die Vorsicht durch: Weg von
den Prostituierten! D. h. weg von jenen Frauen, die für den
Patienten fast ausschließlich in Betracht kamen. Und ein weiterer
Protestgedanke: viele Weiber, Türken, Harem! — Ähnliche
Sicherungstendenz zeigt der zweite Traum, den ich in den
„Träumen einer Prostituierten“ (Zeitschrift für Sexualwissen-
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 75
schaft, 1908, Heft 2) analysiert habe. Auch Lenau behandelt
das gleiche Problem in der gleichen Weise in seiner „War-
nung im Traum“:
„Nun ist kein Haus zu schauen mehr;
Mit arg betroffnen Blicken
Sieht er nur Gräber rings umher
Und ernste Kreuze nicken.
Da wend’t sie sich im Mondenlicht,
Zu seiner Qualgenesung:
Mit grau verwischtem Angesicht
Umarmt ihn — die Verwesung." —
Von ausführlicheren Analysen sehe ich hier ab. Wo ein
Patient Syphilidophobie zeigt, kann man sicher sein, daß da-
hinter die Furcht vor dem Weibe, respektive vor dem Manne,
meist vor beiden zu finden sein wird.
DIE PROBLEMATISCHE FRAU.
Von Dr. ERNST BERNHARD.
m Grunde genommen ist der Begriff der „problematischen
Frau“ einerseits zu vielsagend, auf der anderen Seite dagegen
nicht ausreichend genug für eine Charakteristik, die weniger
einen bestimmten Seelenzustand, sondern vielmehr die Be-
deutung der Frau für das zeitgenössische Kulurleben beleuchten
will. Problematisch ist bis zu einem gewissen Grade — wenn
man nicht gerade Ibsens Nora als typisch für diese Gattung
ansieht — eine jede Frau, die über den geistigen Durchschnitt
ihrer Zeit hinausgediehen ist, problematisch aber auch jedes
junge Mädchen, das dem unverstandenen Frühling seiner frau-
lichen Gefühle gegenübersteht. Die Psyche solcher Frauen
hat für mich nichts Rätselvolles, wenn ich mir auch gern zu-
gestehe, daß ein gewisser Schuß von „Unverstandensein“ jede
Frau mit einer reizvollen Pikanterie umwittert. Nur sind der
„Unverstandenen“, die sich bei näherem Zusehen als sehr
natürliche und durchaus unkomplizierte Menschen entpuppen,
so viele, daß für den unbeteiligten Dritten die problematische
Frau nachträglich zur Nervenqual wird. Ich halte es für über-
flüssig, Rätsel lösen zu wollen, die zu den beliebtesten Sujets
der modernen Literatur gehören und die es zu Stande gebracht
76 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
haben, daß es in der zeitgenössischen Literatur von lauter
problematischen Frauen wimmelt, aber kein einziges richtiges
Weib vorkommt. Meine „problematische Frau“ ist kein Klischee,
sondern ein Ausdruck, der mir lediglich als Notbehelf dient,
da sich in kein zweites Wort soviel Eindeutiges und dennoch
Verschiedenes fassen läßt, wie in dieses. Ich bezeichne damit
die moderne Frau überhaupt, soweit sie Teil an jener groß-
zügigen Bewegung hat, die im Laufe der Zeit unter dem Namen
„Frauenemanzipation“ Gesetze und gesellschaftliche Begriffe
umgeformt hat. In einem Zeitalter, das so offenkundig den
Stempel der Frauenherrschaft trägt, wird man wohl immer auf
die alten Themen zurückkommen, deren ältestes und inter-
essantestes unzweifelhaft die Frau — besser gesagt das Ewig-
Weibliche, wie es bereits Goethe benannte — ist. Das ewig
Weibliche, gleichsam die physiologische Seite der Frauen-
bewegung, soll auch der vorliegenden Skizze Gehalt und Ton
geben; denn wenn in letzter Zeit ein Gegenstand bis zum
Überdruß diskutiert wurde, so waren es die Licht- und Schatten-
seiten der Frauenemanzipation sowie ihre Stellung zu den
einzelnen Kulturfragen. Den Gegnern des rühmlichst bekannten
Professors Möbius überlasse ich die Widerlegung der These
von dem angeborenen Schwachsinn des Weibes und alle, denen
der langbärtige Jenenser zu forsch ist, finden sich vielleicht
noch auf dem Wege des Karl Ert zu einem einträchtigen Kom-
promiß zusammen. Uns scheinen doktrinäre Fragen von der
Art: ob die Frau vorwiegend produktiv oder reproduktiv ver-
anlagt sei, ob ihre Intellektualität, losgelöst von der Mutter-
schaft, sich steigere, ob ihr Gehirn 200 g mehr oder weniger
wiege, indifferent, wenn nicht gerade müßig, denn die Frau
hat im Grunde genommen gar keine Geistigkeit, sondern sie
ist nur ein Komplex von Leidenschaften und Gefühlen und
will als solcher richtig gewertet werden. Die Frau handelt,
um paradox zu sprechen, nie mit Überlegung, sondern immer
impulsiv, ihr ganzes Sein und Denken steht unter dem Ein-
fluß ihres sexuellen Fühlens.. Man könnte die weiblichen
Leistungen in allen Fällen als Äußerungen eines gesteigerten
oder verdrängten Sexualtriebes bezeichnen, auch jene, die
scheinbar ganz aus dem Rahmen einer solchen Betrachtung
fallen, weil sie zu banal sind, um unter höheren Perspektiven
gewertet zu werden. Nun ist das erotische Problem allerdings
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 177
wiederholt zur Deutung der Emanzipationsgelüste unserer
Frauen herangezogen worden. Man hat auf den Umstand
hingewiesen, daß die Frauenbewegung eine groß angelegte
Propaganda für eine Demoralisation der weiblichen Jugend
treibe und daß das Ziel der Emanzipation letzten Endes Un-
zucht und geschlechtliche Promiskuität wären. Das wäre ja
traurig, wenn die tapferen Vorkämpferinnen dieser neuzeitlichen
Idee nichts anderes vor Augen gehabt hätten als die Korruption
der weiblichen Massen und eine folgenschwere Zerstörung
aller ethischen und moralischen Werte! Man muß schon ein
Weiberhasser von Schopenhauers oder Weiningers Güte sein,
um sich zu so extremen und oberflächlichen Maximen zu be-
kennen. Die Verfechter solchen Unsinns mißverstehen die
erotische Tendenz, die sich in der Frauenbewegung manifestiert,
vollständig oder sie umkleiden bestenfalls ein Körnchen Wahr-
heit mit einem Wust von Ungeheuerlichkeiten, Lügen und
Übertreibungen. „Armselige Frauen, die so ganz die Be-
stimmung ihrer Natur und die Größe ihrer Zukunft vergessen
können!“ sagt Robert Heymann in seinem Essay „Über Liebe,
Scham und Sünde“, in dem er den modernen Frauen ein recht
eindringliches Kapitel über ihre derzeitige Verworfenheit liest.
„An Generationen wird sich die Schuld der Geschlechter
rächen und ein trauriger Mißwachs wird die Apotheose dieses
Verbrechens sein. Was sind diese Frauenrechtlerinnen für
Geschöpfe? Ein drittes Geschlecht, losgelöst aus dem Rahmen
der Naturbedingungen, selbstschöpferisch gegen die Ästhetik.“
Frage: wie kommt ein Autor, der nebenbei ein so augezeichneter
Romanpsycholog ist, dazu, die Begiffe von dem Wesen der
Frauenbewegung so ausgiebig und nach allen Regeln der
Kunst zu mißverstehen? Oder genügt es nicht, wenn er sich
einfach auf den verneinenden Standpunkt stellt und in einer
sachkundigen Diskussion eine Idee ablehnt, die unstreitig
nicht für die Massen gedacht ist?
Ein Körnchen Wahrheit ist in den Behauptungen der
Frauenhasser und Emanzipationsgegner unstreitig enthalten;
‘das ist die Tatsache, daß der Kampf der Frau um eine in-
dividuelle Weltanschauung weder neu ist, noch anderen als
erotischen Wurzeln entspringt. Emanzipierte Frauen, die es
den Männern in allem gleich taten, und auch ihre sexuellen
Rechte nach allen Regeln der Kunst ausnutzten, hat es eigentlich
78 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
zu allen Zeiten gegeben, ja in der Vergangenheit relativ noch
öfter als heute. Problematisch, nicht im landläufigen Sinne
des Wortes, sondern einfach über den Weibtypus ihres Jahr-
hunderts hervorragend waren bereits die geistlichen Dichterinnen
des Mittelalters, die blutrünstige Roswitha von Gandersheim
das Heer der Mystikerinnen, in deren Briefen und tagebuch-
artigen Bekenntnissen eine seltsame Verquickung von Erotik
und Religion niedergelegt ist. Ferner die geistlichen Dichterinnen
des 17. Jahrhunderts, unter denen wie eine kranke, wundersam
strahlende Blume eine Anna Ovena Hoyer aufleuchtet. Eman-
zipierte Frauen waren auch die adligen Romanschreiberinnen
an den französischen und deutschen Fürstenhöfen, die an
Pracht der Brutalität der Phantasie einen Boccaccio in den
Schatten stellten und die in einer einzigen Novelle alle Ten-
denzen vorweg nahmen, denen später Ellen Key und Andere
Bücher gewidmet haben. Die Geschichte der Karschin, deren
problematischen Charakter selbst Friedrich der Große nicht
bestritten hätte, wenn er für sie mehr als lediglich den be-
rühmten Taler übrig gehabt hätte, zeigt in unverhüllter Weise
die innigen Zusammenhänge, die zwischen Sexualtrieb und
Geistigkeit der Frau bestehen. Über die Frauen der romantischen
Epoche endlich, die geistreiche Stael, die feinsinnige Sophie
Laroche, die beiden Schlegel, die kühle und bedeutende Rahel
Varnhagen, die kleine, wie von tausend Feuern durchsprühte
Bettina von Arnim, die gleichzeitig eine rege Politikerin war
und in das Gewirre der damaligen Freiheitskriege und Revo-
lutionen mit ihren temperamentvollen Schriften handelnd eingriff,
und später die interessante Henriette Herz: über all die ge-
nannten Frauen ist in der neueren Literatur nach allen Seiten
hin Licht verbreitet worden. Die wenigen Beispiele genügen
jedoch, um die Behauptung zu widerlegen, daß die emanzipierte
Frau erst ein Produkt der neunziger Jahre des letzten Jahr-
hunderts ist, und die Frauen der früheren Zeit sich damit be-
gnügten, ehrbare und züchtige Hausfrauen, wie sie sich etwa
Chamisso geträumt hat, zu spielen. Allerdings muß man zu-
geben, daß gerade die berühmten Frauen Ausnahmeerscheinungen
in ihrer Zeit darstellten und daß den Ideen, deren Vorkämpferinnen
sie waren, keine generelle Bedeutung zukommen kann. Aber
sind nicht auch die extrem individuellen Frauen der Moderne
Repräsentantinnen einer Klasse, die kaum nach Hunderten,
80 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Frauen in allen Fragen des Sexuallebens zu eigen gemacht.
Aber alle Erkenntnisse entspringen aus Selbstbeobachtung und
können nur dann allgemeine Geltung erlangen, wo es sich um
vollwertige Edelmenschen handelt. Ich will damit nicht sagen,
daß vielleicht die Urheberinnen der Frauenbewegung ihr Ge-
fühlsleben nicht objektiv genug eingeschätzt haben, bzw. nicht
als vollwertige Rasse von Menschen anzusehen sind. Aber
wenn man die Frauengestalten vergangener und gegenwärtiger
Zeit, die durch ein Übermaß von Selbständigkeit und Intelligenz
hervorragten, scharf ins Auge faßt, so machen sich fast durch-
wegs gewisse Anomalien auf dem Gebiete ihres Sexuallebens
bemerkbar. Es handelt sich immer um ausgesprochen frigide
‘oder sexuell überreizte Frauen, deren höhere Geistigkeit gleich-
sam im Austausch für die Mängel ihres Sexualbefindens vor-
handen zu sein scheint. Alle Forderungen, die auf eine Reform
des geschlechtlichen Lebens Bezug haben, entspringen letzten
Endes dieser verdrängten oder übermäßig vorhandenen Sexu-
alität. Der optimistische Reformeifer dieser Frauen steht dia-
metral gegenüber der Reformmüdigkeit ihres Zeitalters und
wirkt faszinierend auf alle, die mit seinen Trägerinnen in Be-
rührung kommen. Aber wenn Frauen spaltenlange Essays
über die sexuellen Rechte des Weibes, über soziale und öko-
nomische Fragen schreiben, so ist das im letzten Grunde das-
selbe, wie wenn eine deutsche Prinzessin in zweideutigen
Tagebüchern ihre nymphomanischen Liebesleidenschaften vor
einem gierigen Pöbel ausbreitet, oder wenn in früheren Zeiten
deutsche Fürstinnen galante Abenteuer im Stile des Boccaccio
veröffentlichen und sich an Schilderungen der obszönsten
Situationen nicht genug tun konnten. Das, wie jenes, ist ein
Akt von ideellem Exhibitionismus, indem die Frau ihre in-
timsten Gefühle, ihre Gedanken von sexuellen Dingen, von
Mannessehnsucht und Brautschaft, ohne Bedenken prostituiert.
Wollte man gerecht sein, müßte man zugeben, daß eigentlich
die gesamte erotische und sexuelle Literatur dem Drang nach
ideellem Exhibitionismus entspringt. Damit soll nicht gesagt
werden, daß man besser ohne sie auskäme, ebenso wie auch
die Frauenbewegung eine Reihe von Problemen angeschnitten
hat, deren Bedeutung für die soziale Wohlfahrt der Nationen
von jedem gern zugegeben wird. Die Enthüllung der erotischen
Triebfeder unserer Frauenrechtlerinnen soll nur zur Aufklärung
FLAGRANT DELIT. Von JULES GARNIER. Um 1888.
Zu dem Aufsatz »Die eheliche Untreue<. Seite 86.
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 81
der Tatsache beitragen, daß die Frauenbewegung immer auf
einzelne verteilt bleiben wird, und daß es dem normalen weib-
lichen Gefühle widerstrebt, sein Innerstes so unverhüllt preis-
zugeben, wie es die emanzipierte Frau tut. Sieht man einmal
die treuesten Anhängerinnen und Mitläuferinnen der Frauen-
emanzipation näher an, so erkennt man sofort, daß es sich
entweder um unreife weibliche Elemente, halb verbildete
höhere Töchter und vorlaute Backfische, oder um jene Ge-
sellschaftsklasse, die man schlechtweg mit dem vielleicht etwas
indiskreten Begriffe „alte Jungfer“ bezeichnet, handelt. Aber
wenn die Frau ein gesundes Liebesleben begonnen hat und
auch in diesem verharrt, splittern nach und nach alle indivi-
dualistischen Ideen von ihr ab und es meldet sich das Be-
wußtsein, das alle anderen Gefühle übertäubt: Weib zu sein
und nach uraltem, natürlichen Gesetze dauernd im Manne
aufzugehen. Fast in allen Fällen, wo die Frau über die ehe-
liche Verbindung hinaus unbefriedigt bleibt, überall dort also,
wo bedeutsame Frauen an scheinbar oder wirklich unbe-
deutende Männer gekettet sind, mag man immerhin ein ab-
normales Triebleben annehmen. Die freien Eheverbindungen,
die mit vollem Bewußtsein aller etwaigen Folgen geschlossen
werden, beweisen nicht das Gegenteil. Gerade in letzter Zeit
häufen sich die Fälle, wo exaltierte Frauen, Anhängerinnen der
Emanzipation, ihren Partner auf irgend eine Weise aus dem
Wege schaffen, weil er ihre hochgespannten Erwartungen nicht
voll erfüllt hat. Überhaupt wäre es eine dankenswerte Arbeit,
wenn man die Fäden aufdecken wollte, die Frauenemanzipation
und Verbrechen verbinden. Vielleicht spräche gerade eine solche
Arbeit amdeutlichsten für die früher ausgesprochene Behauptung,
daß die Wurzel der Frauenbewegung im Erotischen oder besser
gesagt im krankhaft Erotischen liege. Zur Illustration dieses
Themas müssen dann auch Fälle wie die der Frau Blum, Crespi,
Lamberjack und anderer, die die Öffentlichkeit in letzter Zeit
bewegt haben, herangezogen werden. Im Rahmen derselben
Untersuchung müßte auch der Prostitution gedacht und jene
Einflüsse festgestellt werden, die die Frauenbewegung auf das
Abschwellen bezw. die Verbreitung dieser Seuche genommen
hat. Soviel steht fest, daß manche Maximen über das sexuelle
Leben, die von Frauen ausgesprochen wurden, bei den Ge-
schlechtsgenossinnen eine gänzlich falsche Interpretation ge-
Geschlecht und Gesellschaft, VIII, 2. 6
82 OESCHLECHT UND OESELLSCHAFT
funden haben, und daß namentlich in intellektualen Kreisen
dadurch einer geheimen Prostitution Türe und Tor geöffnet
wurde. Ich verweise nur auf die Zustände unter der jung-
russischen Oymnasialjugend, wo der Ssaninismus eine not-
wendige Folge der durch die Frauenbewegung eingeleiteten
Aufklärung war und wo die freie Geschlechtswahl sich nach-
gerade von einer geschlechtlichen Promiskuität in gar nichts
mehr unterscheidet. „In Rußland hat die sexuelle Evolution“,
schreibt Wulffen, „ganz eigentümliche Früchte getragen. Im
Mai 1908 wurden in Woronosch 40 Schüler und Schülerinnen
des dortigen Gymnasiums und der Realschule verhaftet, darunter
sieben aus einer Familie. Sämtliche gehörten dem Verbande
„Freie Liebe“ an und sollen in geheimen Lokalitäten geschlecht-
liche Orgien gefeiert haben. Ähnliche Nachrichten drangen
bald aus allen Enden des Zarenreiches. In Minsk hatte sich
mit der Liga und ihrer Organisation ein Leutnant befaßt. Die
freie Liebe fand täglich unter der Schuljugend neue Anhänger
und Anhängerinnen. Gleiche Vorgänge sollen sich in Jeka-
terinoslaw und Perm zugetragen haben In Kiew hat ein
Student die Liga eingerichtet, die gegen 100 Mitglieder zählt.
Diese fröhnt in fünf Wohnungen ihrem unzüchtigen Verkehr,
erst findet Kneiperei und dann freie Liebe statt. Die Ehe, so
lautet des Programm, ist eine veraltete Einrichtung. Der Mensch
ist frei und bedarf auch Freiheit in seinen Begierden. Ent-
sprechende Lektüre sorgt für nötige Aufklärung und Anregung.
Die jungen Mädchen werben schamlos für ihren Verein männ-
liche Mitglieder, die jungen Männer sind auf der Suche nach
weiblichen Adepten. Die Backfische sind mehr als die Jüng-
linge bei der Sache. Der Verein besteht zu großem Teil aus
Mädchen, die beiden weiblichen Gymnasien in Kiew stellen
das Hauptkontingent. Dazu gesellen sich noch einige Zu-
hörerinnen der Hebammenschule. Die anständige Jugend hat
gegen dieses Treiben lebhaft Protest erhoben. Dayn (Zeit-
schrift für Sexualwissenschaft I, 499) erwähnt, daß er genau
darüber informiert sei, wie die Schülerinnen der drei bis vier
höchsten Klassen der verschiedensten Städte im Süden und
Westen des Landes fast durchgehend in intimem Verkehr mit
gleichaltrigen jungen Männern standen und daß selbst bei
denen, die vor dem Geschlechtsakt noch zurückschreckten,
doch die gegenseitige Berührung der äußeren Genitalien gang
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 83
und gäbe wäre, wie auch das sogenannte Minettieren häufig
ausgeübt wurde. Eine allgemeine Erotodämie hat die russische
Jugend ergriffen, hervorgerufen durch das in der russischen
Literatur aufgerollte Sexualproblem.“ (Wulffen, Sexualver-
brecher 410 ff.).
Man kann die Frauenbewegung nicht allein dafür verant-
wortlich machen, daß das sexuelle Problem in so ausgiebiger
Weise aufgerollt wurde, aber zweifelsohne hat sie viel zur
öffentlichen Diskussion beigetragen. Allein schon diese Be-
hauptung dürfte genügen, um dem Verfasser dieses den Vor-
wurf einzubringen, daß er die Frau, die unter mühsamen
Ringen ihre Persönlichkeit und ihre sexuellen Rechte durch-
gesetzt hat, wieder auf den Standpunkt der züchtigen Schiller-
schen Hausfrau zurückführen möchte, darum weil ihm die
Emanzipation nicht ganz einwandfreien Wurzeln zu entstammen
scheint. Das ist jedoch keineswegs der Fall; ich verhehle mir
nicht, daß die aufgeklärte Frau für die soziale Wohlfahrt und
Ökonomie des Staates, aber auch für eine Wiedergeburt der
ethischen Grundsätze der Gesellschaft von größter Bedeutung
ist, und daß namentlich die im öffentlichen Beruf stehende
Frau eine bei weitem wertvollere Stütze des Mannes darstellt
als der männliche Gehilfe. Die Frage, ob die geistige, selbst-
schöpferische Arbeit der Frau über das Niveau des Durch-
schnitts emporragen kann, und ob die Romane einer Ebner-
Eschenbach, Viebig, Lagerlöf, die Gedichte einer Janitscheck,
Ritter, Madeleine usw. doch anderes enthalten als nur nach-
empfundene Stimmungen und Situationen, möchte ich in diesem
Zusammenhang unerörtert lassen. Nicht die künstlerische oder
berufliche Tätigkeit der Frau verschuldet deren problematischen
Charakter, Schuld daran ist vielmehr das aktive Eingreifen in
den Streit über die sexuellen, wissenschaftlichen Erkenntnisse
und die schamlose Propaganda, die einzelne Frauen mit ihrem
intimsten Gefühlsleben treiben. Die Liebe ist ein Kapitel, das
die Frau in erster Linie angeht, aber sie birgt soviel Heimlich-
keiten, Schmerzen und Abgründe, daß sie eine Frau mehr
noch als ihre kostbarsten Juwelen in ihren geheimsten Fächern,
das ist die Seele, verschließen sollte. Die modernen Frauen-
rechtlerinnen reißen diese Fächer auf, streuen — um drastisch
aber bildlich zu sprechen — die Perlen vor die Säue und ver-
letzen so die Schamhaftigkeit, die trotz Emanzipation und
6*
84 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
beruflichem Wissen immer eine erlesene Zierde des Weibes
bleiben wird. Man soll nicht dagegen einwenden, daß das
Weib doch in erster Linie dazu berufen ist, Licht über sich
selbst zu verbreiten und daß niemand die Frauenpsyche so
restlos zu analysieren vermag wie die Frau selbst. Über jene
Dinge, über die ihr von der Natur aus zu schweigen geboten
wurde, werden auch die wenigen positiven Mitteilungen von
fraulicher Seite nicht die nötige Klarheit bringen. Typisch ist
ja, daß alle Forderungen, soweit sie das weibliche Sexualleben
betreffen, die Idee von dem Rechte auf Mutterschaft, zuerst
von männlicher Seite ausgesprochen wurden und daß dann
die Frauenemanzipation eine Bewegung daraus konstruiert hat.
Auch ohne die Schriften der Frauenrechtlerinnen. über das
sexuelle Problem wäre die Wissenschaft zu den heutigen Er-
kenntnissen gelangt, und die Männer hätten wohl in ihrem
eigensten Interesse darauf gedrungen, die Frau so frei als
möglich zu machen. Liegt es doch im eigensten Interesse
des Mannes, eine Moral zu beseitigen, die einer Herrenrasse
unwürdig und in ihrer engen Verknüpfung mit religiöser Dog-
matik allen Kulturfortschritt hemmen muß. Es ist ja alles wahr,
was die Frauenbewegung aufgerührt und zur Sprache gebracht
hat. Wir brauchen eine Reform des Sexuallebens, um auch
auf anderen Gebieten zu neuen humaneren Gesetzen zu ge-
langen. Aber man überlasse doch den Streit darum den Männern,
denn dieses Gebiet ist für die Frau genau so undankbar wie
die Politik. Es hat Zeitalter gegeben, die vielleicht noch mehr
als das gegenwärtige unter der Vorherrschaft des Weibes ge-
standen haben, aber in keinem anderen haben die Frauen ihre
Seele so skrupellos vor der Öffentlichkeit seziert wie heute;
und man würde über diese Tatsache noch hinwegsehen, wenn
der praktische Erfolg mit dem Aufwand an Scharfsinn und
Worten in irgend einem Einklang stände. Aber dieselbe Frau,
die eine halbe Stunde zuvor eineröffentlichen Frauenversammlung,
in der die Prostitutionsfrage aufgerollt wurde, beigewohnt hat,
urteilt beim Five o’clocktee oder in der Theaterloge doch nicht
anders als früher über diese Parias unter den modernen
Proletariern. Freilich ist es heute modisch, so oft und so
umfassend wie möglich sich über das sexuelle Problem aus-
zulassen, und noch modischer für eine mondaine Frau, irgend
einen Zug an sich zu haben, der verborgene Perversionen
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 85
wittern läßt. Ich kenne Frauen und Mädchen der Berliner
Gesellschaft, die ‘es mir als sexualwissenschaftlichen Schrift-
steller wiederholt zu verstehen gaben, daß sie homosexuell
veranlagt seien und gleich mit einem Wortschwall geistreicher
und läppischer Phrasen über den § 175 und ähnliche Gesetzes-
bestimmungen herfielen. Man kann es wohl ruhig als Un-
delikatesse, ich möchte beinahe sagen seelische Verrohtheit,
bezeichnen, wenn Frauen bei einem Fünfuhrtee über den homo-
sexuellen Paragraphen verhandeln und Worte wie Tribadie,
Masturbation, mutuelle Onanie usw. in den Mund nehmen.
Und das hat die aufklärende Propaganda getan, die von den
Führerinnen leider mit einem phänomenalen Erfolg eingeführt
wurde. Man staunt darüber, daß in England die Wotes for
women-campagne so wenig positive Früchte trägt. Man kann
im Gegenteil sagen, wenn jemals die britische Regierung sich
mit dem Gedanken getragen hätte, den Frauen das aktive
Wahlrecht zu gewähren, so ist sie durch diese Bewegung auf
das gründlichste davon abgeschreckt worden. Ebenso mag man
berechtigterweise annehmen, daß viele Gesetze, die mit dem
sexuellen Problem zusammenhängen und augenblicklich eines
Kulturstaates unwürdig sind, von den maßgebenden Faktoren
geändert würden, wenn die Anregung hierzu aus ernsten
fachmännischen Kreisen käme, und wenn nicht die Gefahr
bestünde, daß die emanzipierten Frauen allmählich zu den
extremsten Forderungen schreiten. Man glaubt es nicht, was
eine Frau alles fordern kann, wenn erst ein Teil ihrer Wünsche
befriedigt wurde. Aber es ist ja Hoffnung vorhanden,
daß diese ganze Bewegung, die so plötzlich einsetzte, all-
mählich in gesündere Bahnen einlenkt, und daß wir nicht bei
jenem gefürchteten Typus des Überweibs anlangen, was nicht
minder größere Schäden im Gefolge haben könnte, wie etwa
die Prostitution oder die Durchseuchung des Volkes mit einer
ansteckenden Krankheit.
Ө EI
Ө
86 GESCHLECHT UND OESELLSCHAFT
DIE EHELICHE UNTREUE
Von Dr. I. B. SCHNEIDER.
L
as Verbrechen der ehelichen Untreue beginnt in der Mensch-
heitsgeschichte mit jenem Moment, wo das monogame
Prinzip sich allgemein durchgesetzt hat. Die historischen und
sozialen Grundlagen dieses Deliktes, das von ausnehmender
Bedeutung ist, weil es mit dem brennendsten Problem aller
Zeiten — dem sexuellen — zusammenhängt, sind dieselben,
auf denen sich die monogame Ehe aufgebaut hat, und der
strafrechtliche Tatbestand ist auch nur solange gesichert, als
das vorgenannte Prinzip seine augenblicklich herrschende Be-
deutung behält. Die monogame Ehe stellt den Endpunkt einer
Entwicklung dar, die im Verlauf sich auf eine Reihe von Jahr-
tausenden erstreckt, An der Schwelle dieser prähistorischen
Reihe steht jene Gemeinschaftsform, die dem vom Tiere zum
geistig organisierten Wesen sich entwickelnden Individuum
zunächst entsprechen mußte: die geschlechtliche Promiskuität,
d. i. die wahllose Paarung zwischen Mann und Weib, wo die
Rechte und Pflichten des männlichen Partners mit dem Moment
der Nachkommenzeugung erlöschen. Einzelne Autoren, wie
Forel, sind allerdings der Ansicht, daß es eine regelrechte
Promiskuität mit Ausnahme der modernen Prostitution niemals
gegeben habe, die Umstände jedoch, die noch heute bei vielen
Naturvölkern herrschen und die sich wenig von der eigent-
lichen Promiskuität unterscheiden, sprechen eher für das
Gegenteil. Von dem vorgenannten primitiven Zustand ge-
schlechtlicher Gemeinschaft, dessen höhere Stufen die Gruppen-
ehe, die Polyandrie und die Vielweiberei bilden, gelangte der
Mensch im Lauf der Jahrtausende zur höchsten Form der
ehelichen Gemeinschaft, der Monogamie, auf deren Boden sich
im weiteren Verlauf die Gründung der vorhandenen Familie
und der Staaten vollzog. In der modernen Ehe finden sich
alle diese Probleme wiederholt, und sämtliche Stadien, die die
Ehe durchlaufen und überwunden hat, kehren gleichsam in
einer Synthese wieder, bilden jene ungesetzlichen Zustände,
die als Verbrechen gegen das monogame Prinzip gekennzeichnet
sind. Der Kampf zwischen Mutter- und Vaterrecht, Frauen-
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 87
raub und Raubehe, Kaufehe und Weibertausch bilden den
Gegenstand zahlreicher Prozesse, in denen die intimsten
Familienskandale vor der Öffentlichkeit breit getreten werden.
Die ideale Lösung des monogamen Eheproblems ist schließ-
lich heute wie in historischer Zeit nur auf einzelne beschränkt
geblieben — die Geschichte berichtet überall von nur wenig
glücklichen, aber um so mehr verfehlten Ehen —, und auch
unsere Ehe ist wie in anderen Jahrhunderten nichts weniger
als die dauernde Lebensgemeinschaft zweier freier und gleich-
berechtigter Menschen, die sie unter Abschätzung aller Kon-
sequenzen geschlossen haben. Die ganze Bewegung der so-
genannten freien Liebe wäre nicht entstanden, wenn sich nicht
allmählich in den weitesten Schichten die Überzeugung fest-
gesetzt hätte, daß die neuzeitliche konventionelle Ehe einer
freien und selbtbewußten Menschheit nicht mehr genügen
kann. Aber noch deutlicher als das Bekenntnis der modernen
Jugend zu den IForderungen der Emanzipation spricht die
Kriminalstatistik für die bedenkliche Unsittlichkeit, die unserer
Ehe den Charakter gibt. Ehebrüche und Scheidungsklagen
gehören zu keinen Seltenheiten, mehr und recht häufig sind
die Katastrophen, wo der eine oder der andere Gatte sich
seines verhaßten Partners einfach auf gewaltsame Weise ent-
ledigt. Das Kapitel über den Ehebruch gehört unstreitig zu
den interessantesten, weil es in alle Untiefen der monogamen
Ehe, wie sie heute gehandhabt wird, hineinleuchtet. Diese
Untiefen aber sind ungeheuer, grausig und stoßen an die
Abgründe, wo die widerlichsten Leidenschaften der Mensch-
heit, Prostitution und Verbrechen, heimisch sind.
Untersucht man die Ursachen, die das Überhandnehmen
der unglücklichen Ehen verschulden, so muß man in erster
Linie die wirtschaftliche Lage dafür verantwortlich machen, in
der sich die meisten Paare vor und nach der Hochzeit befinden.
Es geht ein Zug von Nüchternheit durch unsere Zeit, ein all-
seits fühlbarer Mangel an Idealen, die es verschulden, daß die
Ehe immer mehr und mehr zu einer bloBen Formsache herab-
sinkt, aus rein kapitalistischen oder egoistischen Motiven an-
gestrebt wird. Das Emanzipationsbedürfnis der Frau hat sich
auch auf die intimsten Vorgänge des Gemeinschaftslebens er-
streckt, und der Instinkt des modernen Weibes geht mehr
denn je nach sexueller Freiheit, gleichwie der Mann im Laufe
88 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
der Zeit das monogame Prinzip immer mehr mißachtet und
seinen polygamen Neigungen freien Lauf läßt. Man betrachte
die Ehe der verschiedenen gesellschaftlichen Klassen und man
wird bemerken, daß es ein richtiges Familienleben eben so
selten im Hause des Kommerzienrates wie in der Mansarde
des Gelegenheitsarbeiters gibt. In den Reihen der oberen
Zehntausend geht man über etwaige Disharmonienstill-
schweigend hinweg (es wäre shocking, wenn eine mondäne
Frau am Ende in einem ehrlichen, hausbackenen Verhältnis
verkümmern sollte), Mann und Frau haben vielmehr ihre
Passionen, die sie vollständig getrennte Wege führen, und
während sich der Gatte mit einem kleinen Chormädel oder
einer Ballettratte tröstet, geht die Frau mit dem Sekretär ihres
Mannes oder einem Freunde des Hauses shopping. Oder
der Mann ist an sein Kontor gefesselt, und die Frau macht
auf eigene Faust Reisen, wobei sie mit eleganter Skrupellosigkeit
die illegitimen, rentablen Herrenbekanntschaften anbahnt. Selbst
im eigenen Hause sind die beiden Ehegatten einander fremd
oder bestenfalls gleichgiltig, da in den meisten Fällen das
Band, das Mann und Weib erst so recht eigentlich zusammen-
führt, die Kinder, gar nicht vorhanden oder dauernd an anderer
Stelle untergebracht sind. Die gesellschaftliche Richtlinie in
ehelichen Dingen ist nämlich augenblicklich der Neomalthu-
sianismus, und in fashionablen wie kleinbürgerlichen Familien
ist das Ein- und Zweikindersystem entgegen der früheren
Geburtenzunahme Trumph. Wenn aber dauernd keine Kinder
angestrebt werden, kann eine Ehe, die nicht als Ergänzung
der gegenseitigen Qualitäten geschlossen wurde, zu keinen
günstigen Resultaten führen. Aus dem Grunde scheint mir
auch die sogenannte Vernunftehe, für die neuerdings einige
Schriftsteller eintreten, und die nur eine geschickt zurecht ge-
machte Variation der üblichen konventionellen Geldehe ist,
nicht die reformatorische Bedeutung zu besitzen, die ihr an-
gedichtet wird. Abgesehen davon, daß ihr das seelische
Moment, die Werbung der Geschlechter umeinander, abgeht,
werden solche Vernunftehen gewöhnlich mit Hilfe eines Ver-
mittlers geschlossen und das Brautpaar lernt sich überhaupt
nicht näher kennen, so daß bereits vor der Hochzeit die ver-
hängnisvolle Entfremdung vorhanden ist. So kommt es, daß
viele Ehen kaum ein Jahr nach der Hochzeit wieder geschieden
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 89
werden, wenn es die Ehepaare nicht vorziehen, einen offenen
Skandal zu vermeiden und ein unwürdiges Dasein stillschwei-
gend weiter zu schleppen. Freilich haftet einer Scheidung
von heute nicht mehr jenes Odium an wie zu Großvaters und
Großmutters Zeiten, ja unter dem Einfluß der modernen Lite-
ratur gewinnt eine Frau, die ein paar Scheidungen hinter sich
hat, gerade darum an Pikanterie und Interesse für die Lebe-
welt und besitzt gleichzeitig einen Freibrief für jenes selb-
ständige Auftreten, das auch zeitlebens das geheime Ideal aller
ehrbaren Frauen bildet. Wo wie in katholischen Ländern die
einmal geschlossene Ehe nur unter den größten Schwierig-
keiten lösbar ist und auch dann der geschiedene Teil bei Leb-
zeiten des anderen nicht wieder heiraten darf, hilft man sich
mit der obligaten Heuchelei aus der Situation, bis etwa ein
Zufall oder ein Verbrechen die Ehe vorzeitig lösen. Für den
Ehebruch der bürgerlichen Gesellschaft ist unter solchen Um-
ständen der Boden glänzend vorbereitet, und man kann sagen,
daß eheliche Untreue auch nirgend verbreiteter ist als in diesen
Kreisen. Damit soll aber keineswegs gesagt werden, daß die
Ehe des Proletariers jenes Ideal darstellt, das man in den
feudalen und bürgerlichen Kreisen vergeblich suchen würde.
Schon der Umstand, daß die Ehe des kleinen Mannes weitaus
in der Mehrzahl der Fälle ein auf animalischen Regungen be-
ruhendes Bündnis darstellt, bei dem die Erwägungen wirt-
schaftlicher Natur nicht so deutlich in den Vordergrund treten,
bürgt für ihre kurze Dauer und den weiteren unglücklichen
Verlauf, der noch durch die schwierige politische Lage, die
mangelnden Löhne, die Teuerung und die vielen Geburten be-
schleunigt wird. Allerdings beginnt auch der sozialistisch auf-
geklärte Arbeiter die Bedingungen, unter denen er eine Ehe
eingeht, immer sorgfältiger zu wägen, und trotz der Verachtung
alles Kapitals häufen sich in dem modernen Proletariat die
Verbindungen, die der kapitalistischen konventionellen Ehe der
Bourgeoisie gleichkommt. Die aufgeklärten Volksmassen haben
sich um so mehr die Moral dieser Kaste zu eigen gemacht,
als sie darin eine bedeutende Handhabe zur Niederringung
ihrer Bevormunder sehen. So hat bereits der Neomalthusia-
nismus Eingang in ihren Kreisen gefunden und es gibt
moderne Arbeiterehen, die gar keine oder höchstens ein bis zwei
Kinder aufweisen. M.E.ist das Bekenntnis der intelligenteren
90 * GESCHLECHT UND OESELLSCHAFT
Arbeitermasse zum Neomalthusianismus mindestens ebenso
berechtigt, wenn nicht von größerer Bedeutung, wie für die
bürgerliche Gesellschaft, denn einerseits ist es ein Akt der
Notwehr gegen die überhandnehmenden Schwierigkeiten des
Daseinskampfes, der unter den gegenwärtigen Bedingungen
zur Aufreibung zahlloser wertvoller Elemente führt, andererseits
beweist es eine steigende Oeistigkeit in den Reihen der Ar-
beiter, die nicht mehr die Verantwortung für ein elendes oder
krüppelhaftes Dasein ihrer Nachkommen auf sich laden wollen.
Daß mit der wünschenswerten Aufklärung andererseits eine
unvermeidliche Unmoral Hand in Hand geht, wird niemand
bestreiten, der die Verhältnisse im modernen Proletariat ob-
jektiv wertet. Eheliche Untreue und ähnliche Vergehen wider
die Gesellschaft knüpfen an das steigende Kulturbedürfnis an
und erfordern zu ihrer Ausübung jenen Grad von Raffinement,
der zur Übertäubung der erkannten ethischen Forderungen ge-
nügt. Aus dem Grunde rechne ich den Ehebruch zu den
Vergehen, die erst auf einer gewissen erreichten kulturellen
und gesellschaftlichen Stufe begangen werden, und glaube
diese Auffassung aus der Geschichte der ehelichen Untreue
belegen zu können. Verbrechen gegen die eheliche Treue in
den Kreisen der gesellschaftlichen Parias, zu denen alle Unbe-
mittelten, Namenlosen, die Kleinen und die Geknechteten ge-
hören, sind nicht anders einzuschätzen als die wahllose Pro-
stitution, bezw. die anderen zahllosen Sittlichkeitsdelikte, die
durch die ökonomische Notlage und den Mangel an ethischen
Hemmungen bedingt sind. Schließlich ist eine Ehe, die unter
den denkbar ungünstigsten Verhältnissen geschlossen wird,
wo das Wohnungselend, die wachsende Kinderzahl und der
nicht ausreichende Lohn Mütter und Töchter auf die Bahn der
Prostitution abdrängen, nicht höher anzuschlagen als die ur-
sprüngliche Promiskuität, die wahllose Hingabe der Geschlechter
aneinander. Erfahrungsgemäß gelangen auch die wenigsten
Fälle von Ehebruch aus dem eigentlichen Proletariat zur An-
zeige und Abstrafung. Den Zugehörigen dieser Kaste fehlt
das Verständnis für die Strafbarkeit ihrer Vergehen gänzlich,
die Frau aus den untersten Schichten prostituiert sich mit
Einverständnis ihres Mannes, weil es beiden wirtschaftliche
Vorteile bringt, und wird fast niemals wie die mondäne Frau
auf Antrag des beleidigten Gatten nach erfolgter Scheidung
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 91
zur Verantwortung gezogen. So und nicht anders liegen auch
die Verhältnisse auf dem Lande; der Ehebruch wird kaum als
ein strafbares Delikt angesehen und im schlimmsten Falle
übernimmt der beleidigte Ehegatte selbst die Vollstreckung der
Strafe, die dann einfach in einer ziemlich derben Tracht Prügel
besteht. Aber das Gesetz wird hier wie dort wenig in An-
spruch genommen. Wozu auch, da doch für eine unkompli-
zierte primitive Weltanschauung dieses künstliche Produkt einer
verfeinerten Ethik, der Ehebruch, gar nicht vorhanden ist?
Häufiger liegen die Verhältnisse auf dem platten Lande so, wie
sie Zola in seinem großartigen Roman „Mutter Erde“ schildert
und das praktische Leben es immer täglich von neuem erweist:
der Mann geht seine eigenen Wege, die Frau die ihren, und
wo sie zusammengehen, leisten sie einander die nötigen
Kuppeldienste, ohne das Unmoralische ihrer Handlung zu
empfinden. Als Buteau in dem genannten Roman seine junge
widerstrebende Schwägerin Franziska vergewaltigt, leistet ihm
deren Schwester Hilfe, indem sie Arme und Beine Franziskas
festhält. Das ist brutal aber wahr, weil es zu den alltäglichen
Vorkommnissen auf dem Lande gehört. Ein Prozeß, der vor
drei Jahren vor einem mecklenburgischen Gericht abgehandelt
wurde, deckte ähnliche Verhältnisse auf. Bauernmädchen hatten
einen jungen, schwachsinnigen Knecht unter Anwendung von
Gewalt ausgekleidet und zum Ehebruch mit der Frau eines
Akrobaten gezwungen. Dieses Kapitel gehört aber schließlich
zur Frage der Prostitution des ländlichen Proletariats, bezw.
den Schilderungen, die sich mit der Beleuchtung der ländlichen
Unsittlichkeit beschäftigen. Die eheliche Untreue ist eine
bürgerliche Krankheit und ausschließlich für die Bourgeoisie
existiert der Paragraph 172 des Strafgesetzbuches, als ein über-
flüssiges Vorhandenes, das, wie wir noch sehen werden, durch
kein politisches oder soziales Raisonnement auf die Dauer zu
halten ist. Die gesetzliche Ahndung der ehelichen Untreue
ist ein Rest mittelalterlicher Weltanschauung, die zu den Zeiten
der kirchlichen und unlösbaren Ehe von wesentlicher Bedeu-
tung sein konnte, die moderne Zeit jedoch hat sich ein anderes
Eheideal geschaffen, das den ominösen Paragraphen überflüssig
macht. Erlischt doch bei Ehebruchvergehen mit erfolgter
Scheidung an und für sich das Recht der Gatten aneinander!
Daß im übrigen der Ehebruch lediglich eine soziale Erschei-
92 GESCHLECHT UND OESELLSCHAFT
nung im Kulturleben der Völker darstellt, und nicht zu den
tatsächlichen Verbrechen zu zählen ist, werden wir bei der
Besprechung der verschiedenen Formen der ehelichen Untreue
sehen. Augenblicklich erübrigt es sich, noch einige Worte über
das neue Eheideal zu sagen, das im Laufe der letzten Jahre an
Stelle der kirchlichen und gesetzlichen Zwangsehe getreten ist.
Die „freie Ehe“ d.i. die dauernde oder vorübergehende
freiwillige Bindung zweier Menschen unter Hintansetzung des
gesetzlichen Zwanges und mit bewußter Einschätzung aller
Konsequenzen, also auch in bezug auf die etwaige Nach-
kommenschaft, ist die letzte und erhabenste Ausgestaltung des
monogamen Prinzips, die allein einer freien, erlesenen Kultur
würdig ist. Wir wollen diesen utopischen Traum gern weiter
träumen und uns überall freuen, wo sich geistig hervorragende
Menschen zu diesem edlen und reinen Bunde zusammenfinden.
Daß die freie Ehe auch in Zukunft nicht Allgemeingut der
Menschheit werden kann, liegt wohl auf der Hand, denn geniale
Institutionen haben immer nur für eine geringe geniale Auslese
Berechtigung. Die Durchschnittsmenschheit wird sich wohl
voraussichtlich nie zu der höheren Form der monogamen
Ehe entwickeln, da sie viel zu schwach ist, um eine so un-
geheure Verantwortung tragen zu können. Die Hindernisse,
die sich der freien Ehe entgegenstellen, sind m.E. für alle
Zeiten unüberwindlich, denn der Geist des Kleinbürgertums,
der doch die Gesetze diktiert, bemüht sich seit Jahrhunderten
erfolgreich, alle genialen Emanationen der Zeit mit der Fliegen-
klappe der Dummheit totzuschlagen. Die bürgerliche Gesell-
schaft wird jede freie Liebesverbindung ewig nach einzelnen
wertlosen Verhältnissen beurteilen, die infolge irgend welcher
Skandalaffairen von sich zu sprechen machen, denn die bürger-
liche Gesellschaft lebt von anrüchigen Sensationen. Es ist
aber eine Tatsache, daß besondere Menschen ihr Glück nur
in der freien ehelichen Verbindung, die durch diesen Umstand
gleichsam die höhere Weihe erwarb, gefunden haben. Goethe,
Richard Wagner, Franz Liszt u. a. haben in solchen verpönten
freien Ehen gelebt und unsterbliche Werke geschaffen. Wenn
man das Liebes- und Eheleben dieser Menschen mit dem anderer
Heroen, die in kirchlich oder gesellschaftlich genehmigter ehe-
licher Verbindung lebten, vergleicht, so wird man leicht ent-
scheiden können, auf welcher Seite die Unmoral liegt. Byron,
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 93
Bürger, Friedrich der Große, Tolstoi, Oskar Wilde, stehen ап
der Spitze der endlosen Reihe, die unter unwürdigen Ehefesseln
geschmachtet hat und deren Tragik in tausend Fällen durch
diesen Umstand mitverschuldet wurde. Selbstverständlich gab
es auch glückliche Ehen, früher wie heute, aber die Statistik
der Ehebrüche und sonstigen Verstöße gegen das sechste
Gebot beweist, daß die glückhaften Bündnisse fürs Leben nur
seltene sonnige Ausblicke in einem öden ewig grauen Land
sind. In unserem Zeitalter der galanten und bureaukratischen
Sitten gibt es nur eine Wahrheit, und das ist die konventionelle
Lüge. Von der Kunst aber, schöne Verhältnisse vorzutäuschen,
die krassesten Disharmonien im ehelichen Zusammenleben als
einen beneidenswerten Einklang herauszustellen und vor allem
die weitestgehende Korruption als den Gipfel aller Moralität
erscheinen zu lassen, von dieser Kunst moderner Menschen
und Ehen habe ich das Nötige bereits eingangs dieser Zeilen
gesagt.
Man muß nun nicht von dem Gifte der roten Weltan-
schauung angefressen sein, noch einer paradoxen Philosophie
huldigen, um zu erkennen, daß aus einer freien Eheverbindung
sich im Laufe der Zeit eine regelrechte, gut bürgerliche, ge-
setzlich sanktionierte Ehe entwickeln kann. Das war bei den
meisten großen Männern der Fall, die derartige Bündnisse
eingingen. Goethe hat seine Christine Vulpius nach elf-
jährigem Konkubinat schließlich doch geheiratet und auch
bei Wagner führte das freie Liebesverhältnis später zu einer
glücklichen und dauernden Ehe. Aber man verlangt ja gar
nicht von unserer lieben Spießbürgerwelt, daß sie auf einmal
ihr wohlkonserviertes Eheideal aufgeben und sich zu den
Grundsätzen der neuen Revolutionäre bekennen soll. Wenn
der Gevatter Schuster oder Schneider nur in eine Ehe willigt,
die der Standesbeamte oder der Pastor eingesegnet hat, so ist
das von ihm sehr löblich und beweist eine schätzenswerte
Anhänglichkeit an den ererbten Ideenkreis, der seit Jahr-
hunderten in diesen Gilden herrscht. Warum aber zetert die
ganze Welt über jene Paare, die ohne die gesetzliche Kopu-
lation sich in selige Einsamkeit flüchten und ihr Glück genau
so nach eigenen Prinzipien ausbauen wollen wie etwa der
vorgenannte Gevatter Schneider oder Schuster? Warum haben
die Sprossen aus einer derartigen Verbindung nicht dieselben
94 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
gesellschaftlichen Rechte wie die Nachkommen legitimer Paare,
obwohl sie doch gleiche oder vielleicht noch wertvollere Exem-
plare der Spezies Mensch darstellen wie die anderen, wert-
voller, weil bei ihrer Zeugung sich zwei Menschen in reiner
Liebe und mit aufrichtigem Willen zum Kinde zusammenfanden?
Das ist noch ein Rätsel, um dessen Lösung sich die bedeu-
tendsten unserer Juristen vergeblich die Köpfe zerbrechen
würden; denn wo Dünkel und Eigennutz ihr Veto aus-
sprechen, da würde selbst ein Solon vergeblich neue Gesetze
erfinden. Juristische Autoren verweisen auf den Umstand, daß
die Gesellschaft freie Geschlechtsverbindungen seit längster
Zeit stillschweigend duldet und nur den Nachkommen die
legitimen Rechte verweigert. Allerdings ist in Deutschland
beispielsweise das Konkubinat nicht mit dem Gesetze bedroht,
doch ist seine Verfolgung und Bestrafung dem polizeilichen
Gutdünken überlassen. Man hat nicht gehört, daß die Polizei
sich auf diesem Gebiet durch eine allzu große Toleranz aus-
gezeichnet hätte. Gesetzt den Fall, es finden sich zwei junge
Leute zusammen, er Beamter in bescheidener Position, sie
Ladenangestellte, zwei junge Leute, die so recht eigentlich zu
einander passen und doch mangels der wirtschaftlichen Not
nicht zusammen kommen können: Diese Leutchen schließen
einen Ehebund ohne Kopulation durch Priester oder Standes-
beamten, gehen aber nach wie vor ihren getrennten Beschäf-
tigungen nach und wohnen selbst, solange ein Zusammen-
ziehen unmöglich ist, bei ihren Eltern bezw. in den Jung-
gesellenwohnungen. Dem jungen Paar ist es überlassen, ob
und wie weit eine Nachkommenschaft wünschenswert ist, im
übrigen werden die Eltern für die standesgemäße Erziehung
ihrer Kinder die entsprechende Sorge tragen. Es ist nicht
einzusehen, was an einem solchen Verhältnis unmoralisch sein
sollte! Schließlich ist die Sittlichkeit identisch mit der Gesund-
heit des Volkes, und hier wäre ein Weg, die allgemeine Volks-
gesundheit nach Tunlichkeit zu fördern und zu festigen.
Soziale Probleme werden eben nicht vom Gefühlsstandpunkt
aus gelöst, sondern nur nackte Tatsachen rechnen mit; nicht
das Schöne, allein das Praktische hat Wert. Die Ehe ist eine
Institution, die für Staat und Familie von einschneidender Be-
deutung ist, und hier gilt es mehr als anderswo, alles auf eine
gesunde Basis zu stellen. Darum muß sie vor allem von dem
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 95
Einfluß der Kirche und der Konvention losgelöst werden; so-
lange die Ehe religiös angefaßt wird, wird sie niemals als
gelöstes Problem aus der Betrachtung ausscheiden. Denn —
wie schon Goethe in seiner Braut von Corinth sagt: „Eurer
Priester summende Gebete und ihr Segen haben kein Gewicht.“
(Fortsetzung folgt.)
(© ©)
(©
DIE MENSTRUATION DER JÜDINNEN.
ur Frage, ob die Menstruation der Jüdinnen sich von der anderer
Rassen unterscheide, schreibt Dr. Maurice Fishberg in seinem neuesten
Buch über „die Rassenmerkmale der Juden“ wie folgt: Man hat mehrfach
gesagt, daß Jüdinnen früher zu menstruieren beginnen als Frauen anderer
Glaubensgemeinschaften und Rassen. So fand Weber in Petersburg, daß
Jüdinnen früher als russische, polnische und deutsche Frauen zu menstruieren
beginnen und hieraus folgerte er, dies sei ein bedeutendes Rassenmerkmal,
Oppenheim pflichtete ihm bei auf Grund seiner Untersuchung bulgarischer,
türkischer, armenischer und jüdischer Mädchen; und Lebrun ermittelte, daß
unter je 100 Mädchen jüdischer und slawischer Herkunft die Mehrheit der
Jüdinnen, aber nur ein slawisches Mädchen zu 13 Jahren menstruierte. Nach
Weißenbergs Statistik beginnt bei den Jüdinnen Südrußlands die Menstruation
durchschnittlich im Alter von 14 Jahren, das ist früher als unter den Christinnen
jener Gegend, und Teilhabers Untersuchungen ergaben, daß die deutsche
Landbevölkerung mit ca. 16 Jahren menstruiert, die Stadtbevölkerung je nach
dem Wohlstand, mit 14 resp. 15 Jahren, die Jüdinnen aber, und zwar sowohl
die des Landes wie die der Stadt, zwischen 12!/, und 14 Jahren. Teilhaber
fand dann auch, daß die Jüdinnen Deutschlands durchschnittlich später als
die sozial gleichstehenden Frauen Deutschlands oder des Durchschnitts deutscher
Frauen überhaupt die Menstruation beenden (menopausieren). Soweit meine
Untersuchungen in Neuyork reichen, besteht zwischen Jüdinnen und Nicht-
jüdinnen kein auffallender Unterschied in dieser Beziehung. Bei 483 Mädchen
betrug das Durchschnittsalter zu Beginn der Menstruation 12 Jahre und
7 Monate; und zwar bei den in Osteuropa geborenen Mädchen 13 Jahre und
2 Monate, bei den in Amerika geborenen nur 12 Jahre und 1 Monat; der
frühere Menstruationsbeginn bei Emigrantentöchtern ist von Engelmann an
Amerika-Einwanderern mehrerer Volksschaften beobachtet worden; darnach
wäre frühe Menstruation keine jüdische Eigentümlichkeit. Die Menstruation
wird durch das soziale und geographische Milieu erheblich beeinflußt.
Stadtbewohnerinnen sind in dieser Beziehung frühreifer als Landbewohnerinnen,
und das nämliche gilt von den wohlhabenden im Vergleich mit den ärmeren
Klassen. In Europa sind die Juden fast ausschließlich Städter; es gibt so
96 GESCHLECHT UND OESELLSCHAFT
gut wie keine Landwirte unter ihnen; danach ist es nichts Auffallendes, daß
die Jüdinnen früher als Nichtjüdinnen, welche letztere doch zu 50°), auf
dem Lande leben, menstruieren. „Rasseneinfluß‘ läßt sich in dieser Funktion
nicht erkennen.
EREKTIONEN NACH DEM TODE.
n der Fortsetzung seiner Abhandlung über „sexuelle Impotenz beim
Manne‘“ im Februarheft des „A. I. of Urol.“ beschreibt Dr. Blum eine be-
sondere Art von Priapismen!), die nicht auf nervöse Ursachen zurückgehen,
sondern durch geschwürige Entzündungen im männlichen Genitalapparat
hervorgerufen werden. Eine Infektion durch Gonococcen kann mitunter
eine hartnäckige, bösartige Entzündung der Harnröhrenschleimhaut im Ge-
folge haben. Die Durchdringung des Corpus spongiosum mit Harn oder
Eiter, brandige Entzündungen des Schwellkörpers führen fast immer zu
chronischen Erektionen, indem es zu mechanischer Füllung des Gewebes
mit der eiterigen Substanz kommt. Eiterungen des Schwellkörpers sind für
gewöhnlich Folgen von entzündlichen Hämatomen (Blutgeschwülsten) und
Thrombosen (Bildung von Blutpropfen) in den Gewebegefäßen. Der Ver-
fasser zitiert den Fall von Rokitansky, wo die Erektion selbst nach dem Tode
des Patienten andauerte und den vorgenannten Brand der corpora cavernosa
(Penisschwellkörper) und des spongiosum zur Ursache hatte. Die Ent-
zündungen, die sich in Geschwüren an der Eichel und dem Präputium an-
zeigen und die dauernden, schmerzhaften Priapismen zur Folge haben, sind
unter allen Umständen bedenklich, da es sich zumeist um hartnäckige
Krebsleiden handelt. In einem Falle Neumanns dauerte die Erektion volle
31 Tage und nahm auch mit dem Tode kein Ende. Die Obduktion ergab
ein Krebsgeschwür, das die Blasenwand durchbrochen und Eitererguß in die
Bauchhöhle verursacht hatte. Die krebsartigen Geschwülste und die Caver-
nitis waren eine Folge hiervon. Auch bei gummösen (syphilitischen) Ge-
schwüren sind derartige Priapismen, die bis nach dem Tode andauerten, be-
obachtet worden. — еї—
t
(© ©)
EI
1) Vgl. G. u. G. VIII. Bd. Heft 1, S. 48.
899.
1
DER KIRCHGANG. Zeichnung von HYP. GIL BLAS.
Zu dem Aufsatz »Die eheliche Untreue..
Seite 86.
NACHTMÄRSCHE. Von ADOLF GUILLAUME. Aus den großen Manövern.
Galante französische Karikatur.
Zu dem Aufsatz -Die eheliche Untreue. Seite 86.
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
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DIE EHELICHE UNTREUE
Von Dr. J. B. SCHNEIDER
II.
n der Geschichte der ehelichen Untreue gibt es — wie in der
Menschheitsgeschichte überhaupt — Stagnationen und Aufstieg,
eine Zu- und Abnahme des Geschehens, die durch den jeweiligen
Kulturstand der Völker bedingt sind. Weil der Ehebruch ein
Verbrechen gegen die Gesellschaft im engsten Sinne des Wortes
bedeutet, also in erster Linie mit der Sittlichkeit der bürgerlichen
Klasse zusammenhängt, ist seine Verbreitung und gesetzliche
Ahndung in den Jahrhunderten je nach dem Einfluß dieser
Klasse verschieden. Primitive Völker und solche, die in den
ersten Stadien ihrer Entwickelung begriffen sind, besitzen
naturgemäß keine oder nur geringfügige Verbote gegen die ehe-
liche Untreue, denn für sie ist die Tradition des Blutes bedeu-
tungslos, so wenig ausschlaggebend wie die Reinheit des ehe-
lichen Bettes, jene beiden Faktoren, deren Verletzung im Ehe-
bruch hauptsächlich geahndet wird. Es wirkt daher nicht
befremdend, daß der Ehebruch im Altertum gerade dort die
härtesten Strafen findet, wo das Rassenbewußtsein und der
Familiensinn am schärfsten ausgeprägt sind, und wo das Pa-
triarchat seine umfassendsten und dauerndsten Triumphe feiert.
Das sind namentlich die Juden mit ihrer streng religiösen,
asketischen Kultur, bei denen an die Verletzung der ehelichen
Treue staatsrechtliche Konsequenzen geknüpft waren, und die
Germanen, die aus ähnlichen Gründen den Ehebruch als ein
Verbrechen ahnden. Nach der mosaischen Gesetzgebung
wurden die Ehebrecher öffentlich gesteinigt, eine Strafe, die
«zweifelsohne nicht jüdischen Ursprungs war, sondern zugleich
mit dem babylonischen Erbe übernommen sein dürfte. Eben-
so belegten die alten Germanen den Ehebruch mit den
härtesten Strafen, weil bei ihnen das Familienleben, die
Herrschaft des Patriarchats, stärker als bei den übrigen Völkern
entwickelt war. Man kann sagen, der Ehebruch als Vergehen
gegen die Familien- und Staatsgesetze datiert überall erst von
Geschlecht und Gesellschaft VIII, 3/4. 7
98 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
dem Augenblick an, da der Mann das unumschränkte Recht
über die Familie an sich gerissen hat und der politische Sinn
in ihm erwacht. Maßgebend für die Art und Häufigkeit der
Strafe blieb allerdings die Auffassung, die im Volke über den
außerehelichen Geschlechtsverkehr herrschte, und vor allem die
Frage, wo, wann und von wem der Ehebruch begangen wurde.
Obwohl das mosaische Gesetz für den Ehebruch die Steinigung
vorsah, erhellt es bereits aus der biblischen Sagengeschichte,
daß Ehebrecher nicht immer in der gleichen Weise zur Ver-
antwortung herangezogen wurden. König Davids Weib Michal
brach mit Wissen und Duldung ihres königlichen Gemahls die
Ehe, und der Psalmist seinerseits beging mit dem schönen Weib
des Hethiterfürsten Uria Ehebruch. In keinem der genannten
Fälle gelangte die durch das Gesetz vorgesehene Todesstrafe
zur Anwendung; und wieviel Mal erst hätte der schöne, rot-
lockige König Salomo, der Liebling der Königin von Saba und
tausend anderer Frauen, gesteinigt werden müssen, wenn es
streng nach den levitischen Vorschriften gegangen wäre! Es
ist eben ein Unterschied, ob ein Bauer, ein Edelmann oder ein
König im Ehebette sündigt. Der Bauer wird geköpft, der
Edelmann bekommt einen Orden und der König schickt den
lästigen Hahnrei einfach in die Verbannung. Die griechische
Weltanschauung der homerischen Epoche ähnelt bedenklich
dem modernen französischen Ideenkreis, der uns als Idealtyp
der modernen Frau die Ehebrecherin hingestellt hat. Die Ehe-
brüche, die in den hellenischen Mythen und Heroenlegenden
straflos begangen wurden, sind Legion. Das hellenische Volk,
dessen Geschichte und Kultur allerdings unter anderen Be-
dingungen entstand als unsere heutige und infolgedessen nur
vergleichsweise aber nicht als vorbildlich herangezogen werden
kann, hat gleichwohl für gewisse Menschheitsfragen ein tiefes
Verständnis besessen. Es hat nicht ein Vergehen bestraft, das
im Grunde genommen niemals sträflich war noch sein kann.
Denn der Ehebruch ist in vielen Fällen ein Vergehen, das unter
dem Zwang der Natur ausgeübt wird, die Auflehnung eines
freien Menschen gegen Hochmut und Konvenienz, und
erst in letzter Linie ein Bruch gegenseitigen ehelichen Ver-
trauens. Aber auch die Römer der Königszeit und der Re-
publik bedrohen die eheliche Untreue mit keiner gesetzlichen
Strafe; das Recht der Ahndung liegt vielmehr in den Händen
7
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 99
des Pater familias, dem die Familie ähnlich wie die Sklaven-
gemeinde hörig war. Wohl konnte ein gewaltsamer Ehebruch
einen Tarquinius Superbus um Thron und Herrschaft bringen,
im übrigen jedoch hat es Frauen vom Schlage einer Lukretia im mo-
narchisch regierten wie republikanischen Rom nur wenigegegeben.
Später machte sich das Volk aus den Ehebrüchen seiner Kon-
suln und Cäsaren ebenso wenig wie diese aus der Untreue
ihrer Gattinnen. Cäsar, dem hinterbracht wurde, daß seine
Frau Pompeja mit dem jungen P. Claudius Ehebruch getrieben
habe, begnügte sich damit, sie zu verstoßen, wohl in der Er-
wägung, daß er selbst in diesem Punkte alles andere als reine
Hände hatte. Berichten ja die Geschichtsschreiber seiner
Epoche einstimmig, daß er keine Frau unbehelligt gelassen
habe, und seinen Legionären wird eine Parole in den Mund
gelegt, die besser als alles andere den genialen Wüstling kenn-
zeichnet: „Romani servate uxores, meochum adducimus cal-
vum!“ (Römer, schließt eure Frauen ein; denn wir bringen den
kahlen Cäsar, den großen Ehebrecher.) Im übrigen wird man
die zahlreichen Ehebrüche Cäsars seiner überentwickelten
Sinnlichkeit zuschreiben müssen, die zusammen mit der geni-
alen Anlage unzweifelhaft eine Äußerung seiner epileptischen
Konstitution war. Es ist bekannt, daß ein anderer genialer
Epileptiker gleichzeitig ein genialer Ehebrecher war — Na-
poleon — der mit dem großen Römer auch sonst viele Züge
gemein hat. Aber auch später, zu einer Zeit, da der Ehebruch
bereits als ein Kapitalverbrechen gestraft wurde, begnügten
sich die römischen Patrizier und Imperatoren einfach mit der
Verstoßung ihrer Frauen, so oft sie sie au flagrant delit er-
tappten. Solches wird von Octavio Cäsar berichtet, der seine
Gemahlin Scribonia ihrer Liederlichkeit wegen verstieß, obwohl
er selbst ein Phänomen an Unsittlichkeit war und Frauen zur
öffentlichen Tafel lud, wobei es unter den Augen der Gatten
zu den wüstesten Orgien kam. Ebenso verfuhren Kaiser Caligula
mit seinen Frauen Livia Hostilia und Tullia Paulina und Claudius,
der Sohn des Drusus Germanicus, mit seiner Gemahlin Plantia
Herkulalina, während er den Ausschweifungen der größten
EhebrecherindesAltertums, derberüchtigtenMessalina,gegenüber,
einemerkwürdige Duldsamkeitbekundete. Derchristliche Justinian
bestimmt für den Ehebrecher das Schwert, für die Ehebrecherin
das Kloster. Selbstverständlich wäre es verfehlt, anzunehmen,
100 GESCHLECHT UND QESELLSCHAFT
daß alle Männer, die damals die Ehe brachen, am Kopf gekürzt
und alle Frauen ins Kloster gesperrt wurden. . Die Geschichts-
schreiber des byzantinischen Kaiserreiches beweisen, daß sich
dieses Imperium von dem römischen durch nichts unterschied
und daß wie in Rom so in Byzanz gekrönte Courtisanen un-
behelligt ihr Handwerk übten.
Um die Zeit, da das christliche Mittelalter seine Ge-
schichte begann, gründete im Orient Mohammed die islami-
tische Lehre und gleichzeitig ein neues Reich, das auf die
höfische Kultur des nachfolgenden Mittelalters einen hervor-
ragenden Einfluß üben sollte Da durch die Berührung mit
dem Islam zur Zeit der Kreuzzüge vielfach neue Auffassungen
über Liebe und Ehe in der alten Welt Eingang fanden, und später
auf die Vorzüge der mohammedanischen Ehe gegenüber der
christlich abendländischen hingewiesen wurde, dürfte es sich
lohnen, bei den Verhältnissen des Islams einen Augenblick
zu verweilen. Bekantlich hat die ba’ahlslehre der Araber, die
als der Grundstock der islamitischen religiösen und ethi-
schen Philosophie betrachtet werden muß, für die Frau eine
andere Stellung vorgesehen als sie in den nachfolgenden
Jahrhunderten und heute im Orient einnimmt. Die moham-
medanische Frau war ursprünglich so frei oder noch freier
als die Okzidentalin, das beweist ihre prominente Stellung,
die sie noch im arabischen Heldenzeitalter und in der hö-
fischen Epoche des spanischen Maurentums eingenommen
hat. Die beiden Fremdlehren, durch die die islamitische
Weltanschauung von Grund auf verändert wurde, waren die
Absperrung der Frau und die Einführung des Eunuchen-
tums, wodurch die Orientalin dauernd auf die Stufe des Skla-
vinnentums herabgedrückt wurde. Sie stammten einerseits aus
Persien, das in dem Absperrungssystem dem Mohammeda-
nismus eine üble Draufgabe zu dem sonstigen großartigen Kul-
turerbe übermittelte, anderseits aus Byzanz, wo das Eunuchen-
tum die letzte Phase eines allseitigen und bedenklichen Verfalls
darstellte. Durch Umdeutungen der Thesen Mohammeds kam es
später zu der von christlicher Seite vielfach gescholtenen, in
moderner Zeit dagegen so hoch gepriesenen Polygamie, die
das Mittelalter hindurch zweifelsohne zahlreich bestanden hat,
im heutigen Orient dagegen so gut wie ausgestorben ist.
Eine Polygamie im strengsten Sinne des Wortes bedeutet
OESCHLECHT UND OESELLSCHAFT 101
auch für den wohlhabenden Türken eine materielle Überlas-
tung, der nur die wenigsten gewachsen waren. Man hatte
aus diesem Grunde einen einfacheren Ausweg in dem Skla-
vinnenkonkubinat gefunden, was zugleich die Stellung des
Mohammedanismus zum Problem der ehelichen Untreue klar
beleuchtet. Nach dem Gesetz wurde nämlich im historischen
Orient der Ehebruch ähnlich wie bei den Babyloniern und
Juden mit Steinigung bestraft. Schon der Umstand, daß die
Ehescheidung von altersher bis heute mit großer Leichtigkeit
vorgenommen werden konnte und daß anderseits die konse-
quente Absperrung der Frau Ehebrüche so gut wie unmög-
lich machte, spricht dafür, daß diese Strafe nur selten zur An-
wendung gelangte. Häufiger konnte von beiden Teilen die
sogenannte i’ langklage angestrebt werden, wo der Mann un-
ter Eidesformel seine Frau des Ehebruches beschuldigte und
die Ehe glatt geschieden war; hierbei hatte die Frau das Recht
auf eine Wiederverheiratung für alle Zeiten verwirkt, wenn
sie nicht ihrerseits ebenfalls unter Eid ihre Unschuld beteuern
konnte. Die moderne Praxis im Orient steht diesen Klagen
ablehnend gegenüber; weit häufiger kommt es vor, daß das
Gesetz auf öffentlich anerkannten Ehebruch das Scheidungsurteil
ausspricht. Für die Sittlichkeit im alten Orient ist ferner der
Brauch des nikahel ästäbda maßgebend. Ein Mann, der mit
seiner Frau in steriler Ehe lebte — Sterilität ist im Orient bis
heute kein triftiger Scheidungsgrund, da nach der Lehre des
Koran der Mann in der Ehe wohl zur Befriedigung seiner
geschlechtlichen Lust, nicht aber unbedingt zur Kinderzeugung
gelangen muß — konnte den Beischlaf mit einem andern so
lange gestatten, bis die Frau geschwängert war. Diese Toleranz,
die sich im übrigen auch im altjüdischen Gesetz findet — nach
der mosaischen Auslegung hatte beispielsweise der Schwager
die Pflicht, seinem verstorbenen Bruder Samen zu erwecken,
wobei die Nachkommenschaft in allen Punkten als legitim galt —
steht in einem merkwürdigen Gegensatz zu den sonstigen schroffen
Bestimmungen in der Ehebruchsfrage und beweist, daß dieses
Verbrechen immer ein gewisses Imponderabile darstellte, das
bei allen Völkern nach dem subjektiven Gefühl eingeschätzt
wurde. Im modernen Orient ist der Ehebruch ähnlich wie das
Prostitutionswesen verbreitet, der Schutz der Abschließung ist
ziemlich illusorisch geworden, die sexuellen Verhältnisse liegen
102 GESCHLECHT UND OESELLSCHAFT
im Harem nicht besser als im Boudoir der mondänen abend-
ländischen Frau. In Algier und Tunis, in Kairo und Alexan-
drien, überall da, wo der Fremdenzustrom ein beträchtlicher
ist, ist der Ehebruch notorisch. Der Mann aus dem Volke
schützt sich einfach durch Verstoßung oder im gelinden Fall
durch eine Auspeitschung seiner Frau, die ihm nach dem Koran
zum Schutze gegen die überhandnehmende Korruption innerhalb
der Familie zusteht. Im großen und ganzen liegen die Verhält-
nisse so, wie sie etwa Raßmussen in seinem ethnographisch
und sozial hochbedeutsamen Roman „Sultana“ geschildert hat.
Die heutige Orientalin kennt die Emanzipation bereits ebenso gut
wie ihre abendländische Schwester, und wenn auch die feinen
fragilen Constantinopler Haremsdamen dem englischen Suff-
ragettenrummel ziemlich verständnislos gegenüberstehen, so sind
sie immerhin von der westlichen Moral genügend beeinflußt,
um ihre Organisationen und ihren erfolgreichen Kampf um
öffentliche Ämter zu haben.
Die mittelalterliche Auffassung von der ehelichen Untreue ist
entsprechend den beiden historischen Phasen dieses Zeitalters,
Christentum und Germanentum, eine doppelte, nach der Inter-
pretation der mittelalterlichen Gemeinschaften jedoch eine so
vielfache und komplizierte, daß allein die diesbezüglichen juri-
dischen Erlässe und die Kasuistik der abgeurteilten Fälle ein
stattliches Kompendium füllen würden. Im germanischen Zeitalter,
das sich noch unabhängig von der Kirche zeigt, wird der
Ehebruch verschiedenartig, zumeist aber als ein strafwürdiges
Verbrechen gewertet. Nach Aventinus waren bei den alten
Germanen das Begraben im Kot und das Nasenabschneiden die
strengsten Strafen, diedieEhebrechertrafen. Siedürften wohl ziem-
lich sporadisch und nur in den Uranfängen gebräuchlich gewesen
sein; denn schon Tacitus berichtet, daß bei den alten Deutschen
Verbrechen gegen die eheliche Treue mit Auspeitschung und
Verstoßung gesühnt wurden. Kompliziert war die altgermanische
Rechtsfrage dadurch, daß der Ehebruch, wie auch das ganze
folgende Mittelalter hindurch bis in die Zeiten desSachsenspiegels,
fast immer nur als ein einseitiges Verbrechen gestraft wurde.
Der bestrafte Teil war natürlich die Frau. Der Gatte, der seine
Frau auf frischer Tat ertappte, konnte die Überraschte einfach
töten, ohne dadurch seine Freiheit oder sein Leben verwirkt
zu haben. Allerdings waren im Gesetz auch Strafen für den
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 103
männlichen Teil vorgesehen und es ist sicher, daß solche gegen
Ehebrecher sporadisch zur Anwendung gelangten. So z. B.
wurde der Mitschuldige bei den Friesen gesteinigt, bei den
Sachsen im Sumpfe ertränkt oder auf einem weithin sichtbaren
Hügel an die Äste eines Baumes geknüpft. Doch besteht zumeist
die mittelalterliche Auffassung zu Recht, daß der Ehebruch des
Mannes als ein geringeres Verbrechen zu bewerten sei als der
der Frau, und eheliche Untreue, die unter gewissen Umständen
begangen wurde, war nach dem Gesetz überhaupt nicht straf-
fähig; so war es nicht nur dem freien, sondern auch dem ver-
heirateten Mann gestattet, straflosen Ehebruch oder gewaltsame
Notzucht an fahrenden Weibern zu begehen. Die Karolina
schrieb im Artikel 120 die Strafe des kaiserlichen Rechts, d. i.
die Todesstrafe, für beide Teile vor, außerdem wurde der
Schuldige zu einer empfindlichen Vermögensbuße verurteilt
Bemerkenswert sind die Bestimmungen, die die einzelnen
deutschen Städte gegen das Verbrechen der ehelichen Untreue
erlassen haben und die fast durchwegs eine humane Auffassung
in der Beurteilung des Ehebruchs bekunden. Während das
Bremer Recht die Ehebrecher einfach in den Schandmantel
steckte und sie mit einer ihrem Vermögen entsprechenden
Geldstrafe belegte, bestimmte das Seeligenstädter Recht und
ebenso das Mannheimer, wie aus der neuerdings erfolgten
Veröffentlichung eines Ratsprotokolls vom 6. März 1703 hervor-
geht, daß der Ehebrecher neben der Schandstrafe noch eine
empfindliche Körperstrafe von Seiten seiner Mitbürger zu erleiden
hatte. Er wurde an zweimal verschiedenen Sonn- und Feiertagen
nach dem vormittägigen Gottesdienst vor die Kirche gestellt,
wobei ihm in die eine Hand eine brennende Kerze, in die
andere eine Rute gegeben wurde, offenbar zum Zwecke der
Züchtigung durch die Passanten. In Mannheim wurden die
Ehebrecher überdies zu Zwangs- bezw. Festungsarbeit
auf die Dauer von drei Monaten verurteilt, konnten jedoch
die Strafe mit 20 Talern ablösen. Ziemlich milde und
selbständig verfuhr die Straßburger Polizeiordnung vom Jahre
1594, die 1628 noch in wesentlichen Punkten ergänzt wurde,
mit den Ehebrechern. Danach mußte das Verbrechen der
ehelichen Untreue öfter, aber mindestens drei Mal begangen
worden sein, bevor auf die Todesstrafe erkannt wurde. Die
härtesten Bestimmungen gab es im Fürstentum Sachsen, wo
104 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
sowohl der doppelte Ehebruch als auch der einfache, wenn
ein Junggeselle mit einer verheirateten Frau in einem unerlaubten
Verhältnis stand, mit dem Tode gesühnt wurde. Für den Fall,
daß der beleidigte Teil dem Beleidiger öffentlich verzieh, wurde
dem Ehebrecher die Todesstrafe erlassen, beide Gatten jedoch
für immer des Landes verwiesen. War der beleidigte Gatte
verstorben, bevor der Ehebruch zur Entdeckung kam, so galt
der Grundsatz „in dubio pro reo“; man nahm an, daß der be-
leidigte Gatte, wenn er am Leben geblieben wäre, dem Ehe-
brecher verziehen hätte.
Obwohl demnach das ganze Mittelalter hindurch und noch
bis ins 18. Jahrhundert hinein für Vergehen gegen eheliche
Treue die härtesten Strafen vorgesehen waren, sind dadurch die
Ehebrüche niemals seltener geworden, noch wurde das Gesetz
in seinem vollen Umfang zur Bestrafung der Schuldigen heran-
gezogen. Es hat Zeitalter gegeben, wo es einfach lächerlich
wäre, von einem Ehebruch zu sprechen, da der außereheliche
Geschlechtsverkehr von Frauen und Mädchen als durchaus
normal, ja mitunter durch die traditionelle Übung geradezu ge-
geboten war. Das gilt für die höfische Epoche, wo die gast-
liche Prostitution auf den Höfen der Fürsten und den Ritter-
burgen, ähnlich wie noch heute bei einzelnen Naturvölkern,
gang und gäbe war, und der Hausherr dem vornehmen Fremd-
ling die eigene Gattin, bezw. die Tochter ins Bett legte. Da das
ganze Mittelalter hindurch Mann und Weib nackt zu Bette gingen,
die ankommenden Ritter aber von der Hausfrau bezw. deren
Töchtern oder sonstigen weiblichen Insassen des Hauses zunächst
ins Bad und dann zu Bett gebracht wurden, ist es selbstver-
ständlich, daß derartige Gelegenheiten nach Tunlichkeit ausge-
nutzt wurden. Auch die öffentlichen Bäder, wo beide Geschlech-
ter völlig nackt nebeneinander badeten, und die Zuschauer sie
überdies von eigens dazu angebrachten Galerien mit Blumen
bewerfen konnten, boten mancherlei Gelegenheit zum Ehebruch,
dessen Andeutung auch als eine pikante Variation jener im
Grunde ziemlich eintönigen Bilder verwendet wurde, die der-
artige Ausschnitte aus dem öffentlichen Badeleben bieten. Dazu
kam das Anschwellen der Prostitution im 14. und 15. Jahr-
hundert, das im Verein mit andern Faktoren jene Katastrophe
der bürgerlichen Gesellschaft nach sich zog, die durch das
Auftreten der Syphilis und den Zusammenbruch des Kapitalismus
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 105
gekennzeichnet ist. Die mittelalterliche Prostitution, die nach
Aussage der Chronisten aus Gründen der öffentlichen Moral
geschaffen wurde, um die Tugend ber Bürgermädchen und
Frauen vor den Pfaffen zu bewahren, hat den Ehebruch in
der mittelalterlichen Gesellschaft zu einer alltäglichen und mit
allen Künsten des Raffinementes ausgestatteten Einrichtung
gemacht. Obzwar nach den Gesetzen Knaben, Ehemännern
- und Pfaffen der Besuch der Bordelle, die seit dem 13. Jahrhundert
in allen Städten wie Pilze nach einem Regen aufschossen, ver-
boten war, waren es gerade die beiden letzteren Elemente, die
zu den hauptsächlichsten Frequentanten und Aushältern der
Prostitution gehörten. Namentlich die Pfaffen wuchsen sich
allmählich zu einer bedenklichen Gefahr aller ehrsamen Bürgers-
frauen aus, so daß sie von der Bevölkerung schließlich ge-
zwungen wurden, eigene Konkubinen zu nehmen, damit das
Laster des Ehebruchs nicht in die weitesten Kreise getragen würde.
Trotzdem scheint dieses Radikalmittel nur sporadisch den er-
wünschten Nutzen nach sich gezogen zu haben; denn in der schrift-
lichen wie bildlichen Satire tritt uns unzählige Male der geile
oder ehebrechende Mönch entgegen, der sein Beichtkind an
den Stufen des Altars oder im Beichtstuhl verführt, und aus
den Aufzeichnungen der Stadtschreiber wissen wir von Scharen
unehelicher Kinder, die irgend einen geweihten Herrn, einen
Domkapitular oder Bischof, zum Vater hatten. So hat Bischof
Heinrich von Basel bei seinem Tode zwanzig vaterlose Kinder
hinterlassen, ein Lütticher Bischof soll es sogar auf 61 gebracht
haben. Die Zahl derer, die in unehelichen Verhältnissen lebten,
wobei weder das Stadtmädchen noch die Bäuerin, ja selbst
nicht die verachtete Jüdin verschont blieben, beläuft sich auf
Hunderte. Man hat die Korruption in der mittelalterlichen Fa-
milie einerseits auf das Zölibat der Kirche und andrerseits auf
die Unlösbarkeit der mittelalterlichen christlichen Ehe zurück-
geführt. Zweifelsohne gehören diese beiden Faktoren zu den
Hauptträgern der Schuld, aber sie allein haben ebenso wenig den
sittlichen wie finanziellen Zusammenbruch der mittelalterlichen
Gesellschaft nach sich gezogen wie etwa das Aufkommen der
verheerenden Volksseuchen und die zahllosen Bürgerkriege der
folgenden Zeiten, die alle Geistigkeit und Kultur in deutschen
Landen auf Jahrhunderte hinaus totgeschlagen hatten. Der
Grund liegt vielmehr darin, daß der mittelalterliche Staat ein
106 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
völlig unsoziales Gebilde war, das sich auf dem schroffen
und ungesunden Gegensatz der vorhandenen Kasten aufbaute.
Der mittelalterliche Mensch präsentiert sich als eine erbärmliche
Kreatur der Junker und der Pfaffen und die Folge dieses ein-
seitigen Systems ist der Zusammenbruch aller bestehenden
Werte, der überdies durch die völlig geänderte Produktions-
weise unheimlich beschleunigt wird. Allerdings geht diesem
Zusammenbruch noch einmal ein grandioses Aufflackern der
Volkskräfte voran, indem an der Schwelle zwischen Mittelalter
und Neuzeit jenes faszinierende Gebilde ersteht, das gleich-
sam Blüte und Abschluß der alten Zeit bedeutet und in seiner
Gänze erst von der jüngsten Generation begriffen wurde: die
Renaissance.
Ohne die vorgeschilderten Zustände, die seitens der Junker
und Pfaffen maßlos ausgeübte Autokratie und ohne die un-
moralische Tendenz des mittelalterlichen Staates wäre eine so
großartige Revolution, wie sie die Renaissance darstellt, nie
möglich geworden. Sie trägt denn auch alle Züge einer all-
seitigen Erhebung der Volkskräfte und flaut wie alle kulturellen
und historischen Tragödien nach einer radikalen Umwandlung
der vorhandenen Welt ab. Aber es haften ihr auch alle je-
nen krisenhaften Erscheinungen an, unter denen sich noch
immer die Geburt einer neuen Kultur vollzogen hat und ge-
rade der gigantische Freiheitsdrang auf allen Gebieten, dieses
Wuchern über alle Maßen hinaus, ist es, woran die Renaissance
schließlich zu Grunde geht, Es ist das Erwachen des Rie-
sen Simson, der von den Philistern geblendet und in Ketten
geschlagen, nun mit einem gewaltsamen Ruck die Fesseln zer-
reißt, dem aber gleichwohl die plötzlich wiedergewonnene
Kraft zum Verhängnis wird. In der Renaissance nimmt
die mittelalterliche Unmoral kein jähes Ende, sondern
steigert sich wie alles, womit diese gigantische
Epoche in Berührung trat, ins Ungeheure, Maßlose,
Grotesk-Übermenschliche, dem die Gesellschaft und ihre
Gesetze aus freiwilliger Initiative machtlos gegenüber stehen.
Das Kennzeichen der Renaissance ist, daß sie unserm
Problem der ehelichen Untreue mit jener großartigen
Naivität entgegentrat, die sie in Dingen der öffentlichen
Sittlichkeit durchwegs bekundete. Die Volksmeinung ist dem
Ehebruch günstig, weil aber die Volksmeinung den Ehebruch
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 107
als ein Verbrechen gegen den Staat und die Gesellschaft nicht
kennt, so wird die eheliche Untreue in diesem Zeitalter eine
typische Massenerscheinung. Über die Psychologie der ehe-
lichen Untreue in der Renaissance geben uns die literarischen
Dokumente aus jener Zeit wertvolle Aufschlüsse, und da tritt
uns zum erstenmal die moderne Interpretation des bedenk-
lichen Problems entgegen: Die Renaissanceliteratur erschöpft
sich in Lobpreisungen der listigen Frau, die es versteht, ihrem
Gatten Hörner aufzusetzen, und verspottet den untauglichen
Ehemann, der den Nachthunger seiner jungen Gattin zu stillen
nicht imstande ist. Der alte Mann ... die junge Frau...
der eifersüchtige Ehegatte... . der physisch bevorzugte Lieb-
haber . . . eine groß vorbereitete Situation, in der womöglich
der eigene Gatte den Kuppler spielt — das sind die eigent-
lichen Motive, von denen das Schriftwesen jener Tage beherrscht
ist. In unzähligen Bildern, Schwänken, Novellen, Fastnacht-
spielen und satirischen Gedichten werden sie nach allen
Seiten hin ausgeschlachtet, und die Derbheit des Inhalts ist
bereits aus den Titelüberschriften erkenntlich. Unter den
Deutschen sind es die Schwankdichter, wie Bebel, Frey,
Lindener, unter den Italienern Poggio, Morlini, Cornazzano,
zu denen später noch Straparola und Sacchetti hinzukommen,
unter den Franzosen Brantöme, Rabelais und deren geistige
Erben wie Faublas oder Choderlos de Laclos — und in England
schließlich die ganze Reihe der Chronisten, die in unzähligen
Satiren das Recht zum Ehebruch mit allen erdenklichen Spitz-
findigkeiten verteidigt haben. Aber auch ernste Schriftsteller
wie der deutsche, schwerblütige Sebastian Brant oder der
sanfte, elegische Italiener Petrarca haben laute Klagen über
das Anschwellen der ehelichen Untreue in allen gesellschaft-
lichen Schichten erhoben. Nach dem einstimmigen Urteil aller
Zeitgenossen ist die eheliche Treue ein Eintagsblümlein, das
Kräutlein „Nimmermehr“, das nur in verborgener Einsamkeit
und wenige Stunden des Jahres blüht. Die Untreue der Frau
ist eine Alltagserscheinung und so offenkundig, daß Sebastian
Brant in der „Geuchmatt“ den Männern den Rat gibt:
Er teile mit ihr (der ehebrechenden Gattin) insgeheim,
Wenn sie den Raub ihr bringe heim,
Und sag ihm: Hänslein halt das Licht,
Einen liebern Mann weiß ich mir nicht.
108 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Oder wie es derb aber originell in einem französischen Vers
aus jener Zeit heißt:
Qui voudroit garder ou une femme
N’aille du tout à l'abandon,
Il faudroit la fermer dans une pipe
Et en jouir par le bondon.
Von den Gründen, die die Renaissance zur Entschuldigung
der ehebrechenden Teile geltend macht, sind es auf Seiten der
Frau der ständige Nachthunger, der von dem greisen impotenten
Ehegatten nicht befriedigt wird, das Recht der Wiedervergeltung,
weil der Gatte auf fremden Fluren pürsche, obwohl sein
Garten daheim (das ist der Leib der Frau) noch wohl bestellt
sei, ferner die häufige und lange Abwesenheit der Männer,
die entweder auf Messen ziehen oder Romfahrten unternehmen
und die arme Frau daheim allen Anfechtungen ihrer Sinne
wehrlos ausgesetzt zurücklassen. Der Effekt sind jene Kata-
strophen, wie sie in einzelnen Sprichwörtern in realistischer
aber treffender Weise charakterisiert sind. „Wenn die Männer
auf der Romfahrt sind, so geben die Mönche den Weibern
daheim 270tägigen Ablaß“ oder „Wenn die Männer ziehn nach
Kompostell, ihre Frauen sich legen auf Pumpernell“. Aber die
Frauen haben auch hunderterlei Ausreden, die sie ihrer Meinung
nach zum Ehebruch berechtigen, und gegen die selbst der
plötzlich zurückkehrende Gatte keinen Einwand vorzubringen
vermag. „Es ist nur wegen des Kummers,“ sagt die unge-
treue Hausfrau, „den sie dem Gatten bereiten würde, wenn er
bei seiner Rückkehr statt des wohlbeleibten Fohlens, so er
zurückgelassen, ein abgehärmt Knochengerüste im Stalle wieder-
finden würde.“ Und dann gibt es in der Renaissance einen
Grund, der für alles gut ist und die sündige Gattin in den
Augen des strengsten Moralfanatikers zu entschuldigen vermag.
Das ist die Überzeugung von der ungewöhnlichen physischen
Kraft des bevorzugten Mannes, von der Allgewalt der Liebe,
die als ein unabwendbares Opfer von beiden Teilen die voll-
ständige körperliche Hingabe fordert. So kommt es, daß ent-
gegen dem Moralkodex anderer Zeiten sich Prinzessinnen mit
Lakaien, vornehme Herren mit Bauerndirnen und umgekehrt
vergnügen. Darin besitzt die Renaissance eine gewisse Ähn-
lichkeit mit der höfischen Kultur des 18. Jahrhunderts, wo
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 109
namentlich Damen der englischen Aristokratie mit Vorliebe Ver-
hältnisse mit ihren Reitknechten oder Kammerdienern unter-
hielten, und wo der Skandal selbst das Bett des königlichen
Hauses nicht verschonte. Darin hat sie auch Berührungspunkte
mit der modernen Zeit, die ein Vermischen der verschiedenen
gesellschaftlichen Stände besonders häufig kennt: die Gräfin
liebt den Jockey, reiche amerikanische Mädchen sind die
Maitressen schmutziger Chinesenkulis und Erzherzöge resig-
nieren um Prostituierter willen auf Rang und Titel; nur mit
dem Unterschied, daß zwischen der Dame, die beispielsweise
in Cornazzanos eindeutiger Novelle „Dem Klugen genügen
wenige Worte“ den Leibmohr ihres Mannes zum Beischlaf
verführt, und der Geheimratstochter aus Berlin W. oder Leipzig,
die sich von einem Hagenbeckschen Abessinier schwängern
läßt, doch ein wesentlicher Gegensatz klaff. Im Falle Cor-
nazzanos ist das ehebrecherische Verhältnis einer vornehmen
Frau mit einem Neger nur der Ausdruck elementarer, gesunder
Sinnlichkeit, die mangels andererKomplemente mit dem hübschen,
kraftstrotzenden Mohren vorlieb nimmt. Dagegen ist die Schwär-
merei moderner Frauen für exotische Rassen ein perverser
Flirt, ein Fetischismus besonderer Art, wobei die Unrein-
lichkeit und geringwertige Herkunft im Verein mit der
exotischen Hautfarbe das besondere sexuelle Stimulanz
bilden. Das erhellt auch daraus, daß diese asiatischen und
afrikanischen Halbwilden, die als Professionels durch die Aus-
stellungen ziehen, nicht einmal einen besonders gesunden und
kräftigen Eindruck machen. Aber in der Gegenwart sind
die Motive, die zur Unsittlichkeit und mithin auch zum Ehe-
bruch führen, andere geworden als in der Renaissance. Noch
im Zeitalter des 30 jährigen Krieges wird der junge Simpli-
zissimus der Geliebte dreier Prinzessinnen, weil sie durch das
Hohelied seiner Kraft und Jugend, das sein jungstarker Körper
verströmt, unwiderstehlich angezogen werden. Felicien Rops’
zynische, ich will nicht sagen pornographische Zeichnung
„Le groom pour tout faire“ beweist unzweideutig, was die
heutigen Lebedamen an der Jugend schätzen. Die Weltan-
schauung der Renaissance ist eben optimistisch, wenn auch
vereinzelt groteske Züge untermischt sind; die psychische
Konstitution der Moderne ist, um ein paradoxes Wort zu
gebrauchen, hysterisch, wenn auch andrerseits nicht ge-
110 OESCHLECHT UND OESELLSCHAFT
leugnet werden darf, daß gerade die moderne Zeit gesünder
und natürlicher sein könnte, als alle vorangegangenen Jahr-
hunderte. Aber woran wir kranken ist die Konvenienz, die
Mode, der gesellschaftliche Cant, die jedes natürliche Emp-
finden umbiegen und die Perversion zur Leidenschaft stempeln.
Über die Wertschätzung der ehelichen Treue seitens des
Mannes geben dieselben mittelalterlichen Texte und die zahl-
reichen Drucke der Renaissance erschöpfende Auskunft. Man
kann sagen, daß weder im Mittelalter noch in der Renaissance
das Gesetz in dem Umfange zur Bestrafung der ehebrechenden
Teile herangezogen wurde wie etwa in den Anfängen des
bürgerlichen Zeitalters, wo die englische Gesellschaft mit ihren
unzähligen schmutzigen Ehescheidungsprozessen an der Spitze
steht, oder in neuerer Zeit, wo eigentlich kein Tag vergeht,
ohne daß eine Scheidungsklage wegen überführten Ehebruchs
zur Verhandlung kommt. Mittelalter und Renaissance haben
vielmehr die Bestrafung der Übeltäter dem beleidigten Gatten
überlassen, und von diesem wurde in der Folge die Justiz
ganz souverän gehandhabt. Die Rache der betrogenen Frau
war allerdings primitiver, wenn nicht gerade im Primitiven das
größere Raffinement liegt; sie tröstete sich einfach mit einem
jungen Freund, einem hübschen Knappen oder einem fahrenden
Mönch, wenn sie es nicht vorzog, sich gleichzeitig mit
mehreren Liebhabern zu vergnügen. Der Gatte seinerseits
drückte in dem Falle, wo es um eine hübsche Frau ging, die
von hochgestellen Persönlichkeiten begehrt wurde, gern beide
Augen zu oder er spielte den wilden Mann, was dann aller-
dings weniger harmlos, ja mitunter sogar recht tragisch ver-
lief. Kleine Textbildchen in den mittelalterlichen Handschriften,
die in ihrer naiven Wiedergabe etwas höchst drastisch Ori-
ginelles an sich haben, zeigen wiederholt derartige Racheakte,
die der betrogene Ehegatte an der ungetreuen Frau und ihrem
Liebhaber vollzieht. Bald überfällt er die beiden im Bade und
striegelt dann den Liebhaber mit dem Badestriegel zu Tode,
bald überrascht er sie im Bette und dann sieht man den Ehe-
brecher in komischer Verzweiflung vor dem Degen des eifer-
süchtigen Hahnreis zurückzucken. Im gelindesten Falle tragen
Frau und Liebhaber eine tüchtige Tracht Prügel davon und
die Tragikomödie endet mit dem Hinauswurf des männlichen
Partners. Das sind Geschichten, die in ihrem Verlauf und dem
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 111
katastrophalen Schlußeffekt bereits ganz modern anmuten, wenn
nicht Menschlichkeiten unberührt von der Mode der Jahr-
hunderte bleiben, immer aktuell und interessant wirken. Aber das
Mittelalter und die Renaissance kannten noch andere Strafen,
die unserer im Grunde genommen toleranten Zeit nicht mehr
geläufig sind. Das war beispielsweise die Kastration des
Liebhabers, die eine fatale Ähnlichkeit mit dem altgermanischen
Brauch des Nasen- und Ohrenabschneidens zeigt und die sich
z. B. auf einem interessanten Holzschnitt eines anonymen
Nürnberger Meisters aus dem 16. Jahrhundert in ihrer rea-
listischen Furchtbarkeit geschildert findet. Von solchen bösen
Ehegatten, die es sich trotz ihres eigenen lockeren Lebens-
wandels nicht gefallen lassen wollten, den gutmütigen Kuppler
oder Hahnrei zu spielen, erzählt auch Brantöme in seinem
Buch „Vom Leben der galanten Damen“. So wurde der be-
rühmte Bussy d’Amboise, Louis de Clermont, am 19. August 1579
bei einem Rendezvous, zu welchem ihn die Komtesse de Mon-
soreau auf Anstiften ihres Gatten bestellt hatte, meuchlings
ermordet. Ein anderer Ehemann, Rene des Villequier, tötete
seine Gemahlin, die schöne und galante Frangoise de le Marck,
vor versammeltem Hofe, nachdem er ihr 15 Jahre hindurch
alle möglichen Freiheiten gestattet hatte.!)
Besonders brutal auf der einen Seite, aber gleichwohl von
einer leisen poetischen Tragik ist das Schicksal der schönen
Donna Maria von Avalon, Prinzessin von Neapel, die mit dem
Prinzen von Venusa verheiratet war und den Grafen Adriano,
einen der schönsten Männer des Königreiches, liebte. Sie
wurde mit ihrem Buhlen von Mördern, die der Prinz gedungen
hatte, im Bette umgebracht. Die beiden schönen Leichen
fand man am nächsten Morgen unbekleidet auf der Straße
vor der Haustür liegen, wo sich die Vorübergehenden weinend
!) In Parenthese sei hier an den Fall Prassalow erinnert, der kürzlich die Petersburger
Gesellschaft in Atem hielt, und wo die Moral des Ehemannes mit der des Comte des Villequier
eine merkwürdige Ähnlichkeit aufweist. Der russische Ingenieur Prassalow hatte mehr als ein
Jahr hindurch die galanten Abenteuer seiner hübschen, wenn auch in den ehelichen Prinzipien
recht lockeren Frau ruhig mit angesehen, zumal da er selbst etwas wie ein Don Juan in der
eleganten Oesellschaft an den Ufern der silbernen Newa war. Eines Tages jedoch erwachte
in ihm das zermürbte und bereits recht abgebrauchte Ehrgefühl, und mitten im Cham-
pagnertrubel, in einer samtausgeschlagenen Loge und im Kreise junger russischer Gardeoffiziere
fällt ein Schuß, den der betrogene Ehemann auf seine nichtsahnende Oattin abgibt. In der
Welt, die sich nicht langweilt, hat dieser moralische Anfall nicht gelinde Aufregung hervor-
gerufen. Für die Psyche des Kupplers und professionellen Hahnreis dagegen ist ein solcher
Schritt mehr als charakteristisch; er beweist, daß in 999 unter 1000 Fällen sich hinter der
glatten Fläche fast immer tiefgehende Anomalien verbergen.
112 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
und klagend um sie scharten. Vielfach galt auch der Ehe-
bruch nur als billiger Vorwand, um sich einer Gattin, deren
man überdrüssig wurde, auf leichte und angenehme Weise zu
entledigen. Heinrich VIII. ließ seine Gemahlin, die schöne
Anna Boleyn, enthaupten, weil es ihn nach Abwechslung
gelüstete; ähnliches wird von Karl IV. behauptet, von König
Ludwig dem Jungen, von Balduin, dem zweiten König von
Jerusalem, und von einer Reihe neuzeitlicher Fürsten bis zu
Napoleon hinauf, mit denen sich die Legende beschäftigt hat,
und die unter dem Vorwande des Ehebruchs ihre Gattinnen
verstießen, um andere vorteilhaftere Heiraten schließen zu
können. Der Rest schließlich, und das gilt besonders von
dem Mann aus dem Volke, hat sich zumeist mit Resignation
und Humor in die einmal geschaffene Situation hineingefunden.
Als charakteristisch für diese vielleicht gesündeste Auffassung
des Ehebruchproblems möchte ich auf die reizende altdeutsche
Novelle vom „Schneekind“ hinweisen, die gleichzeitig typisch
für die ganze Art der altdeutschen Schwänke ist. Ein Kauf-
mann, der sich Jahre hindurch auf einer Geschäftsreise be-
funden hat, kehrt plötzlich in sein Heim zurück und findet
in der Gesellschaft seiner Frau einen kleinen hellhaarigen
Knaben, der sich als sein Sohn herausstellt. „Ach,“ sagt ihm
das Frauchen, „im Winter brach ich einmal einen Eiszapfen
vom Strauch, den schluckte ich herunter und davon wurde
ich schwanger.“ Der kluge Mann pflichtet dem noch klügeren
Weibchen scheinbar zu, und nichts ändert sich an dem ein-
trächtigen Zusammenleben, bis der Kaufmann eines Tages
wiederum auf eine Reise gehen muß, wobei er den jungen
Sohn als seinen Diener mitnimmt. Nach Jahr und Tag kehrt
er wieder in sein Haus zurück, aber der Knabe ist ver-
schwunden. Auf die Frage seiner Frau erklärt der Wackere
bieder: „Ja, wir sind in eine Gegend gekommen, wo die Sonne
sehr heiß geschienen hat, und weil nun doch dein Kind ein
Schneekind ist, ist es daselbst zerflossen, so daß ich betrübt
mich allein heimwärts wenden mußte.“ —
х + *
*
Wie ich bereits in der Einleitung zu diesem Artikel hin-
gewiesen habe, nimmt die Zahl der Ehebrüche in den einzelnen
Zeitaltern mit dem steigenden Luxus und der verfeinerten
Lebensweise zu und erhält sich mit der Prostitution auf einer
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Züricher Fliegendes Blatt. 1560. Zu dem Aufsatz auf $. 97.
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 113
Höhe, zumal da Ehebruch und Prostitution auch in sonstigen
direkten Beziehungen zu einander stehen. Nirgends treten
diese Beziehungen deutlicher zutage als in der historischen
Epoche, die das Erbe der Renaissance übernommen hat, und
man kann ruhig sagen, das hohe Lied der Renaissancekultur
zu einer bedenklichen Farce, die ursprüngliche Idee zur
Karikatur, herabgewürdigt hat. Der Absolutismus mit seiner
konsequenten Scham- und Morallosigkeit hat auch auf dem
Gebiete der ehelichen Untreue den Rekord geschlagen, und
wenn man auch nicht leugnen kann, daß in keiner Zeit stil-
voller und mit mehr Raffinement Ehebruch getrieben wurde
als in der damaligen, so wird man gleichwohl eine solche
Skrupellosigkeit weniger als einen genialen Zug, sondern als
das deutliche Anzeichen eines unvermeidlichen Zusammen-
bruches erkennen müssen. Daß dieser Zusammenbruch in
der Tat erfolgte, ist aus der Geschichte der französischen
Revolution und der ihr vorangehenden Stürme hinlänglich be-
kannt. Man wende nicht ein, daß im ancien regime der Ehe-
bruch nicht häufiger als in der Renaissance war. Denn nicht
die Häufigkeit macht es in diesem Falle, sondern die Motive,
aus denen die Wiederholung derartiger Vergehen resultiert.
Die Motive des Absolutismus aber sind von denen der Re-
naissance grundverschieden. War die Ausartung des Ge-
schlechtsverkehrs im Zeitalter des Humanismus und der Re-
naissance die Äußerung eines eruptiven Freiheitsdranges, die
Wiedergeburt zur Kraft und Individualität, die selbst in der
Sprengung aller Schranken den genialen Instinkt nicht ver-
leugnete, so handelt es sich im Absolutismus lediglich um die
wüste Ausschweifung, um ein trunkenes Bacchanal der Sinne,
in dem der Ehebruch eine - vielleicht die wichtigste — Etappe
bildete. Nirgends zeigt sich der Zusammenhang, der zwischen
kapitalistischer Produktion und öffentlicher Moral besteht, so
deutlich, wie in der genannten Epoche, und nirgends ist das
Proletariat so radikal aus der Betrachtung ausgeschaltet wie
hier. Es ist das ein erneuter Beweis, daß der Ehebruch erst
in der bürgerlichen Gesellschaft als ein Vergehen existent
wird und daß er den Gipfel eines Raffinements bedeutet, das
erst auf einer erreichten wirtschaftlichen und geistigen Ent-
wicklungsstufe denkbar ist. Im ancien régime wird die Ehe
hauptsächlich nach zwei Seiten hin gebrochen: von der feudalen
Oeschlecht und Oesellschaft, VIII. 3/4 8
114 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Gesellschaft untereinander und von den vornehmen adeligen
Herren mit bürgerlichen Mädchen bezw. Frauen, seltener von
den Angehörigen der letzteren gesellschaftlichen Klasse mit
ihresgleichen. Maßgebend für die Häufigkeit der sträflichen
illegitimen Verhältnisse ist die Mißachtung des monogamen
Prinzips innerhalb der Familie und die groteske Verzerrung
aller darauf bezüglichen Institutionen, die notwendigerweise
die geschilderte Korruption im Gefolge haben mußten. Die
Ehe gilt im ancien régime als eine Nebensache, die allenfalls
zur Aufbesserung der augenblicklichen ökonomischen Lage ver-
wendet wird und der im Leben des einzelnen sowie der All-
gemeinheit keine Bedeutung beizumessen ist. Für den Mann
von vornehmer Abkunft und feinen Sitten ist die Ehe ein
Rechenexempel, wobei die Frau als üble Draufgabe auf die
Mitgift betrachtet wird und wo es naturgemäß auf geistige
und physische Qualitäten überhaupt nicht ankommt. Zahllos
sind die Verhältnisse, wo ein vornehmer Aristokrat sich seiner
Gattin, ausgenommen in den ersten Tagen nach der Hochzeit,
das ganze Leben hindurch nicht mehr nähert und sich folge-
richtig noch weniger um ihre sonstigen Passionen bezw. die
Skandale, die ihr Verhalten im Gefolge hat, kümmert. Oft
geht der Edelmann eine Mesalliance ein, indem er sich aus
praktischen Gründen mit einer Bürgerstochter verheiratet,
die ihm um der Ehre willen, von einem Adeligen oder einem
Hofmann einmal geschwängert zu werden, haufenweise sich
anbieten; die feudalen Herren verschmähen es selbst nicht, ähn-
lich wie in unserem Zeitalter, aus Utilitätserwägungen heraus
Verhältnisse mit jungen „Judenschickseln“ anzuknüpfen. Diese
unwürdige Auffassung der Ehe zieht naturgemäß auch eine Ent-
würdigung der Trauungszeremonien nach sich, und so kommt
es, daß in der Epoche des Absolutismus die Ehe mit einer Leicht-
fertigkeit und in einem so frühen Alter geschlossen wird, wie
es heutzutage höchstens noch in Amerika vorkommt. Die
„fleet mariages“, das sind die Hochzeiten, die zur Befriedigung
der gegenseitigen sinnlichen Begierden und nur auf vorüber-
gehende Dauer geschlossen werden, haben für diese Zeit eine
traurige Berühmtheit erlangt und sind zusammen mit den
romantischen Entführungen lange Zeit hindurch das angestaunte
Ideal aller unreifen Paare gewesen. Sie haben sich im übrigen
noch das ganze 18. Jahrhundert hindurch erhalten und in einer
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 115
Schrift aus dieser Zeit, die von „Wiener Galanterien“ handelt,
heißt es bezeichnend für die damaligen Verhältnisse der ge-
nannten Stadt: „Die Ehe ist hier weiter nichts als ein bloßes
Sakrament; sie ist nicht eine Verbindlichkeit des Mannes und
Weibes, einander wechselseitige Hilfe zu leisten, ihre Bedürf-
nisse zu stillen, Kinder zu erzeugen und ihre erzeugten Kinder
zu ernähren und sie dem Staate nützlich zu erziehen; nein,
sie ist eine Freiheit, alles das zu tun, was einem beliebt, sie
ist der Schlüssel zur Verkehrung und der Tausch der Tugend,
der Eingezogenheit mit dem Laster der Freiheit. Hier wird
nur geheiratet, damit der junge Mann die Erlaubnis hat, un-
gestört und ungeahndet einige Wochen mit seinem Weib in
einem Zimmer und in einem Bett schlafen zu können.“ Es
ist selbstverständlich, daß solche Zustände noch von anderen
Übeln begleitet waren, als deren bedeutendstes wohl das
Überhandnehmen der Ehescheidungen im 17. und 18. Jahr-
hundert angesehen werden muß. Man ging ebenso aus-
einander wie man sich gefunden hatte, mitunter waren die
beiden Partner bereits wieder verheiratet, bevor der erste Bund
überhaupt gelöst war. Trotzdem für die Bigamie die Strafe
des Hängens oder Deportation ausgesetzt war, waren solche
Fälle nicht selten, zumal da eine doppelte Heirat eine zweifache
Mitgift zubrachte und überdies der Befriedigung des skrupel-
losen Geschlechtstriebes Vorschub leistete. In diesem Zu-
sammenhang muß auch noch jener besonderen Entartung ge-
dacht werden, die die Mißachtung des monogamen Prinzips
in reinster Blüte zeigt. Das ist der Weiberverkauf, der be-
sonders in England alltäglich war und von dem Fuchs nach
einer Darstellung von Dühren nachfolgende Schilderung gibt:
„Gewöhnlich führte der Mann seine Frau mit einem Strick
um den Hals an einem Markttage auf den Platz, wo das Vieh
verkauft wurde, band sie an einen Pfosten und verkaufte sie
dem Meistbietenden in Gegenwart der nötigen Zeugen. Ein
Amtsbote oder sonst eine niedrige Gerichtsperson, oft auch
der Ehemann selbst, bestimmte die Taxe, die selten einige
Schillinge überstieg; dann band sie der letztere wieder los und
führte sie am Stricke auf dem Marktplatze herum. Diese Art
der Verkäufe nannte das Volk the horn-market (Hornmarkt).
Gewöhnlich waren Witwer und junge Gesellen die Käufer.
Die betreffende Frau wurde durch einen solchen Kauf recht-
8’
116 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
mäßige Gattin des Käufers und ihre mit diesem erzeugten
Kinder wurden als legitim erachtet. Doch ließ der neue Ehe-
mann zuweilen trotzdem die kirchliche Trauung folgen.“
Eine so zynische Auffassung von den Tendenzen und
dem Beruf der Ehe half naturgemäß die Sittenlosigkeit in den
vermögenden Kreisen nach allen Seiten hin zu befestigen,
und so kommt es, daß der Ehebruch im Zeitalter des Abso- .
lutismus das wichtigste, ja man kann sagen, im Verein mit
den sonstigen Praktiken des außerehelichen Geschlechts-
verkehrs das alleinige gesellschaftliche Amüsement wird.
Während aber in der Renaissance der Liebhaber doch nur der
heimlich Begünstigte war, nimmt der galante „Cicisbeo“ im
17. und 18, Jahrhundert eine offizielle Stellung in der Familie
und in der öffentlichen Gesellschaft ein. Die Bezeichnung
Cicisbeo stammt aus dem Italienischen, wo die meisten vor-
nehmen Familien einen derartigen Cavaliere servente besaßen,
der der Signora in hündischer Anhänglichkeit überall auf Schritt
und Tritt nachfolgte und dem auch das Geschäft oblag, jeder-
zeit durch galante, im Flüsterton geführte Gespräche die
Langeweile von seiner Dame fernzuhalten. Die Aufgabe des
Cavaliere servente im Verhältnis zu seiner Dame schildert
Gleichen-Rußwurm (Geselligkeit, p. 51 ff.) wie folgt: „Der Cava-
liere servente, den fast jede Dame des Adels und der besseren
Bürgerschaft verlangte, erschien zwischen 11 bis 12 Uhr vor-
mittags, um seiner Angebeteten während der Toilette die Zeit
zu vertreiben, sah, wie sie ihre Schokolade trank, begleitete
sie zur Messe und zog sich zurück, ehe sie mit ihrem Gatten
zum Mittagessen die Sala di pranzo betrat. Eine Stunde nach
Tisch kam er wieder, nahm an der Trotatta (Wagenfahrt) teil,
führte die Dame vielleicht in ein elegantes Kaffee, einen Sorbett
zu nehmen, saß in der Loge hinter ihr und gab ihr den Arm
bei der Conversazione des Abends. Dann brachte er sie nach
Hause, um sie dem Gatten wohlbeschützt und unversehrt zu
übergeben.“ Man sieht, die Mission des Cavaliere servente
war ursprünglich nur die des harmlosen Freundes oder pla-
tonischen Liebhabers und erst seine Verpflanzung auf den
heißen französischen Boden ließ ihn jene intimen Macht-
befugnisse erlangen, die in der Geschichte jener Tage der
leichtfertige Freund des Hauses vor dem rechtlich angetrauten
Gatten besaß. Eine vornehme Dame, die nicht womöglich
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 117
schon im dritten Monat nach der Hochzeit einen offiziellen
Liebhaber besaß, setzte sich dem Spott und der Mißachtung
ihrer Freundinnen aus, die um so größer waren, wenn die
junge Frau ihrem Gatten in wirklicher Liebe und Ergebenheit
anhing. Mann und Frau gingen eben ihre getrennten Wege,
und der Gatte gestattete seiner Frau jedes Verhältnis, sofern
sie sich nicht mit Leuten unter ihrem Stande abgab. Hatte
man aber ein derartiges Verhältnis angeknüpft, so trachtete
man, daß es nach Tunlichkeit rasch unter die Leute kam; denn
ein Verhältnis mit einem vornehmen Herrn oder mit einer
hochgestellten Dame war der beste Leumund, den man sich
in den high-life-Kreisen erwerben konnte. Der Seladon, der
nach längerem, vergeblichem Schmachten die Gunst seiner
Dame erwarb, ließ von dem Augenblick an, da seine Wünsche
erfüllt waren, tagelang seinen Wagen vor der Tür der Geliebten
stehen, damit alle Welt erführe, daß sie ihm ihre Gunst ge-
schenkt hatte. Die Dame umgekehrt lud nunmehr ihren Lieb-
haber zum Lever ein, sie ließ in der ersten Nacht, in der sie
seinen Wünschen entgegen kam, rings um das Haus Stroh
auffahren und bemühte sich tagelang danach, recht abgespannt
und müde auszusehen. Die ganze Welt (eingeschlossen
den betrogenen Ehegatten) nahm an dem Glück des jungen
Paares lebhaften Anteil, ja man fand die Sache so natürlich,
daß man sich über den törichten Hahnrei, der etwa der Über-
zeugung Ausdruck verliehen hätte, daß eine Frau eigentlich
für ihn und nicht für den Liebhaber da sei, nach allen Regeln
der Kunst mokierte. Allerdings waren solche Fälle nur ver-
einzelt, aber sie kamen dennoch vor, wie aus der Familien-
geschichte des Markgrafen Heinrich von Preußen erhellt, von
dem im Jahre 1751 ein Junker Kleist an den preußischen
Dichter Gleim schrieb: „Sie wissen doch schon die Aventüre
des Markgrafen Heinrich? Der hat seine Gemahlin auf seine
Güter geschickt und will sich von ihr separieren, weil er den
Prinzen von Holstein bei ihr im Bette gefunden hat. Der
Markgraf hätte wohl besser getan, wenn er den Handel ver-
schwiegen hätte, statt daß er jetzt ganz Berlin und die halbe
Welt von sich reden macht.“ (Fuchs, Sittengeschichte II, p. 236.)
An allen fürstlichen Höfen herrschten damals derartige Zu-
stände, die Männer hielten sich neben ihren rechtlich angetrauten
Oattinnen eine Reihe von Maitressen, die oft gleich in dem-
118 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
selben Hause wohnten. Die eheliche Nachsicht ging so weit,
daß die Gatten ihren Frauen die Liebhaber selbst zuführten
und ihre Gattinnen mit deren Einverständnis untereinander
austauschten. Belegfälle nach dieser Richtung hin ergeben
sich aus der Memoirenliteratur und aus den geheimen Polizei-
berichten des 18. Jahrhunderts, die auch eine Reihe vornehmer
Namen aufdecken, die zu den bekanntesten Courtisanen und
Ehebrecherinnen ihrer Zeit gehörten. Die galanten Damen des
ancien régime trieben nicht nur in ihren eigenen Häusern
offenkundigen Ehebruch, sondern die vornehmsten unter ihnen
unterhielten eigene, kostspielige und mit raffiniertem Luxus
ausgestattete Liebestempel, die sogenannten „petites maisons“,
die unter der Oberaufsicht irgend eines alten kupplerischen
Weibes standen und wo immer für genügendes Material zur
Befriedigung der ehebrecherischen Gelüste der eleganten Welt
gesorgt war. Eine der berühmtesten Kupplerinnen des 18. Jahr-
hunderts war die Gourdam, die mit Fürsten, Herzögen, Grafen
und einfachen Edelleuten in Verbindung stand und in deren
Hause neben den obligaten Ehebruchsverhältnissen alle Arten
von Perversitäten gepflegt wurden. Zu der ständigen Kund-
schaft derartiger Kupplerinnen gehörten u. a. die Baronin von
Bourman, die Baronin von Vaxheim, Marquise de Pierrecourt,
Madame de Saint-Julien, de Saint-Formin, de Fresnay, de Beaupré,
de Beauvoisin und eine andere Reihe illustrer Namen, die zu
den Zierden der damaligen Gesellschaft gehörten. Im übrigen
ist die Institution der petites maisons auch in der Folgezeit
keineswegs ausgestorben, sie hat sich in sogenannten maisons
de rendezvous das ganze 18. und 19. Jahrhundert hindurch
erhalten und lebt auch noch heute in den großstädtischen
Absteigequartieren und den feinen Bordellwirtschaften berühmter
Handelsstädte fort. Stern beschreibt in seiner „Geschichte der
öffentlichen Sittlichkeit in Rußland“ die Rendezvoushäuser, die
im 18. Jahrhundert daselbst bestanden, und Talmayer führt den
Nachweis, daß solche Vergnügungsstätten auch im Paris von
1900 zu Hause sind. Rendezvoushäuser, die mit allem mög-
lichen Luxus ausgestattet sind und in denen sich Damen der
besten Gesellschaft mit zahlungskräftigen Kavalieren vergnügen,
finden sich auch meines Wissens in Wien und Budapest und
sind namentlich in der ungarischen Metropole sehr zahl-
reich.
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 119
Da im 17. und 18. Jahrhundert auf die eheliche Treue
kein Gewicht gelegt wird, hört man auch von keinen Strafen,
die von der Gesellschaft über den Verbrecher verhängt worden
wären. Vereinzelt scheint es allerdings auch damals Männer
gegeben zu haben, denen die physische Reinheit ihrer Oattinnen
bis zu einem gewissen Grad am Herzen lag und die zu Oe
waltmitteln griffen, um sich der Treue des weiblichen Teiles
zu versichern. Im Mittelalter und in der Renaissance bedient
man sich des künstlich gefertigten Metallschlosses, das der
Mann bei längerer Abwesenheit seiner Frau umlegte, um sie
auf diese Weise vor jeder freiwilligen oder unfreiwilligen Ver-
führung zu schützen. Wir wissen, daß dieses mechanische
Mittel zur Wahrung der ehelichen Keuschheit wenig oder gar
nichts taugte, und daß der Liebhaber auch in jenen primitiven
Tagen trotz des künstlichen Verschlusses fast immer zu dem
ersehnten Ziel gelangte. Von der Anwendung von Keusch-
heitsgürteln hört man im ancien regime wenig, aber die spo-
radische Erwähnung dieses schmachvollen Apparates genügt,
um den Beweis zu führen, daß sie auch damals von wenigen
Eifersüchtigen erfolglos gebraucht wurden. Einen solchen
Keuschheitsgürtel soll Voltaire vorgefunden haben, als er sich
seiner ersten Maitresse, einer Madame de B.... näherte,
was ihn auch zu seiner Erzählung „Der Keuschheitsgürtel“
veranlaßt haben soll. Ebenso wird in dem 1746 erschienenen
Roman „Der im Irrgarten der Liebe taumelnde Kavalier“ von
Johann Gottfried Schnabel und in dem berühmten „Frauenzimmer-
lexikon“ des 18. Jahrhunderts eines Keuschheitsartikels Er-
wähnung getan. Wir werden im übrigen sehen, daß selbst
die jüngste Zeit dieses wenig fruchtbare Mittel nicht ver-
schmäht hat, und daß unter den Annoncen erotischen Charakters,
die sich in hauptstädtischen Blättern unserer Zeit vorfinden,
auch solche, die den Gebrauch von Keuschheitsgürteln emp-
fehlen, anzutreffen sind.
Die französische Revolution hat wohl dem alten System
ein radikales Ende bereitet, allein die öffentliche Sittlichkeit
hat auch sie nicht oder nur sehr wenig gefördert. Schließlich
haben die Größen der Revolution, ein Robespierre, ein Marat
und Danton, und der ausschweifende Barras, einen nicht minder
anstößigen Lebenswandel wie ihre absolutistischen Vorgänger
geführt, und von dem ersten großen Franzosenkaiser Napoleon
120 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
weiß man, daß er ein ebenso tüchtiger Feldherr wie routinierter
Ehebrecher war. Von den skandalösen Verhältnissen der eng-
lischen und deutschen Könige der nachnapoleonischen Zeit
geben die charakteristischen Aufzeichnungen englischer und
deutscher Herkunft ein beredtes Zeugnis. Für die englische
Gesellschaft ist es typisch, daß der bekannte Lord Hamilton
sich mit dem Admiral Nelson einträchtig in den Besitz der
schönen Emma Gunning, nachträglichen Lady Hamilton, teilte.
Die Königin Karoline von England soll ein obszönes Verhält-
nis mit ihrem Leibkutscher Bergami unterhalten haben, und
bekannt ist das Verhältnis Georgs III. zu der Lady Bakshirsheff,
das der zeitgenössischen Karikatur eine Reihe der dankbarsten
Vorwürfe geliefert hat. Zu den bedeutendsten Dokumenten
des 19. Jahrhunderts, das ein bezeichnendes Bild von den ge-
sellschaftlichen Verhältnissen in den fünfziger und sechziger
Jahren bietet, gehört unstreitig die famose Klageschrift des
berühmten Demagogen und Vaters der Sozialdemokratie
Ferdinand von Lassalle in Sachen der Gräfin Hatzfeld gegen
ihren Gemahl, deren Wortlaut Fuchs in seinem Ergänzungs-
band zum bürgerlichen Zeitalter auf Seite 196 ff. mitteilt. Die
langatmige Aufzählung der zahlreichen Sünden des hoch-
geborenen Grafen findet ihr Pendant höchstens noch in den
obszönen Verhandlungen der englischen Gerichte, vor denen
um die Wende des 18. Jahrhunderts die Ehescheidungsklagen
abgehandelt wurden. Im übrigen war die Massenunzucht im
Zeitalter nach der französischen Revolution und namentlich
im zweiten Kaiserreich gang und gäbe wie in den vorher-
gehenden Jahrhunderten. Das beweisen die Berichte aus den
preußischen Garnisonstädten vor und nach den Befreiungs-
kriegen und später das Aufkommen der galanten Vergnügungen
in aristokratischen und bürgerlichen Kreisen, von denen die
sogenannten Nacktbälle in den sechziger Jahren eine traurige
Berühmtheit erlangten. Eheliche Untreue und außerehelicher
Geschlechtsverkehr sind eben an keine Zeit gebunden und
gehören — lediglich in der Bewertung durch die Gesellschaft
verschieden — zu den großen Invariablen der Kulturgeschichte.
Nicht, daß sie vorhanden sind, macht sie zu einem Phänomen,
sondern daß sie in den einzelnen Zeitaltern zu einem System
ausgebaut wurden, das geeignet war, an den Grundfesten des
Staates und der Familie zu rütteln; und nur von diesem
GESCHLECHT UND OESELLSCHAFT 121
Standpunkt aus ist auch ihre Verfolgung durch die Gesetze
zu verstehen, wenn auch die gesetzliche Fehme fast immer
das Gegenteil von dem erreicht hat,.was die diesbezüglichen
Paragraphen eigentlich bezweckten. Probleme wie das der
ehelichen Untreue sind eben von dem Gesamtcharakter ihrer
Zeit abhängig und lassen sich nur im Verein mit anderen
sozialen und wirtschaftlichen Fragen lösen. Eine trockene
Paragraphenwirtschaft allein hat viel Unfug, aber noch selten
eine vernünftige Reform nach sich gezogen.
(д
ZUR FUNKTION |
DES GESCHLECHTLICHEN SCHAMGEFÜHLS ')
Von Dr. MAX SCHELER, Berlin.
WE die Scham schon bei der Entstehung eines
normalen Geschlechtstriebes beteiligt ist, so hat sie auch
nicht nur für die Frühzeit, sondern während der gesamten
Lebensdauer schon als „libidinöse“ Scham eine eminente Be-
deutung). Auch während des späteren Lebens bleibt sie die
Bedingung dafür, daß der Mensch Freiheit für die Hingabe
seines Geistes und seiner Arbeit an objektive Inhalte und
Werte gewinnt, indem sie die zu große, stets bestehende
Hingabetendenz an die libidinösen Impulse, ja an alle sinn-
lichen Gefühlsempfindungen einschränkt. „Objektivität“
und „Willenskonzentration“, sowie ein durch die Regungen
der stets beweglichen Mannigfaltigkeit von sinnlichen Gefühls-
empfindungen nicht durchbrochener seelischer Ablauf ist also
eine Leistung der Scham, die weit hinausgeht über ihre Funk-
tion im Verhältnis zum anderen Geschlecht. Hierfür ist auch
ein strikter Beweis die Tatsache, daß in Fällen geistiger Er-
krankung bei 50% aller Fälle die Scham mehr als irgend ein
1) Vorstehender Aufsatz ist einem Kapitel aus einem Buche des Verfassers ,, Das Wesen
des Schamgefühls‘‘ entnommen, das als erster Teil eines Werkes, betitelt „Über den Sinn des
emotionalen Lebens" in den kommenden Monaten bei M. Niemeyer in Halle a. S. erscheinen
wird. Der Aufsatz möchte daher weder die Bedeutung des geschlechtlichen Schamgefühls, ge-
schweige des Schamgefühls überhaupt, erschöpfen und gibt nur einige Leitgedanken des Ver-
fassers über die Funktion des geschlechtlichen Schamgefühls wieder, die in dem Buche selbst
eine breitere und konkretere Ausführung gefunden haben.
2) Die „libidinöse'‘ Scham ist diejenige, die schon vor Ausbildung eines Triebes zum
anderen Oeschlecht besteht und durch Unterdrückung und Einschränkung der masturbatorischen
Regungen die Lenkung der Libido auf das andere Oeschlecht erst möglich macht.
122 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
anderes der höheren Gefühle eine starke Einbuße erleidet.
Indem der Zerfall der Einheit des geistigen Lebens, insbesondere
die Lockerung jener Einheit und jenes logischen Zusammen-
hanges, der beim Gesunden schon im automatischen Gang
der psychischen Prozesse herrscht (nicht erst durch Willkür-
tätigkeiten bedingt) stets von einem starken Ausfall des Scham-
gefühls begleitet ist, zeigt sich, welche Rolle die Scham bei
dieser Einheitsstiftung spielt, und daß dies Gefühl die Einheit
der Person als Lebenseinheit gegenüber der Mannigfaltig-
keit ihrer sinnlichen Triebregungen gleichsam vertritt und erhält.
Bei beginnender Paralyse ist oft der Ausfall des Schamgefühls
das erste Kennzeichen der beginnenden Erkrankung. Und
umgekehrt ist ein ausgeprägtes Schamgefühl eine eminente
Mitbestimmung der leiblichen und seelischen Gesundheit.
Der Grundmangel der bisherigen Arbeiten über die Scham
ist darin zu sehen, daß gegenüber ihrer sozialen Bedeutung
(und jener für die Geschlechtswahl) nicht nur ihre physio-
logische Arbeit (die mit der Aufmerksamkeitsvariation,
die sie mitbestimmt, einhergehende Blutverteilung im Orga-
nismus) sondern auch ihre innenpsychische Leistung und
ihre neben, ja vor ihrer Schutzfunktion bestehende Kraft der
Vorbeugung von „Situationen“ übersehen wird, in denen ein
Schutz überhaupt nötig wird. Diese „innenpsychische“
Leistung des Schamgefühls besteht darin, daß die sinnlichen
Gefühlsempfindungen und -Impulse nicht nur dem „Bemerken“
und der zweiten Stufe der Aufmerksamkeit, der „Beachtung“
und dem beachtenden Verweilen bei ihnen, sondern dem
Sonderungsbewußtsein überhaupt, zum mindesten soweit
entzogen bleiben, als sie in den über die einzelnen Moment-
punkte unseres Lebens hinweggreifenden Sinn unseres Lebens-
zusammenhangs nicht hineinpassen und hineingehören. So
reagiert die Scham nicht nur auf vorhandene „Ое-
danken“ und „Vorstellungsbilder“ und „Fantasieinhalte“ (ja
selbst Trauminhalte) genau in derselben Weise, wie sie auf
faktische, die sinnliche Empfindung reizende wirkliche Objekte
(oder die künstlerische Darstellung solcher) reagiert, sondern
sie leistet noch viel mehr: Sie macht, daß die erlebten sinn-
lichen Regungen als gesonderte Tatsachen unseres Bewußtseins-
lebens unterschwellig bleiben und daß sie zu solchen „Ge-
danken“ überhaupt nicht führen, resp. daß die Objekte
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 123
jenen Reiz auch nur in vermindertem Maße auszuüben ver-
mögen. Die beste und tiefste Schamhaftigkeit erweist sich daher
an erster Stelle in der „Reinheit“ des. Fantasielebens und
des Wunschlebens, also da, wo es sich überhaupt noch nicht
um Wollen und Handeln dreht. Und sie kann so wirklich
bis zu einem gewissen Grade machen, daß dem „Reinen alles
rein“ ist! Die „anima candida“ dokumentiert sich nicht an
erster Stelle durch ihre Schamreaktion gegen ihre „Einfälle“,
sondern an erster Stelle darin, daß ihr eben so vieles über-
haupt nicht „einfällt“, was der schamlosen Seele „einfällt“.
Dieser Tatbestand an sich ist auch Herrn Sigmund Freud
nicht entgangen. In allen seinen Schriften sieht er im Scham-
gefühl eine eminente Kraft der „Censur“, worunter er im
Gleichnis zu einer Zensurbehörde, welche die zu lasciven Stellen
in literarischen Werken durchstreicht, eine Reihe von Kräften
versteht, die besonders im Ideenleben, aber auch noch im
Schlafe und im Träumen all jene Ideen und Gefühle vom
Eintritt ins „Oberbewußtsein“ abhalten, die zu einer moralischen
Verwerfung und einem Gefühl moralischer Minderwertigkeit
des Individuums führen würden. Die Schamzensur mache,
daß das Individuum „sich nicht eingesteht“, was es sich doch
tatsächlich wünscht und vorstellt, oder daß es — wie Herr
Freud sagt — solche Erlebnisse „verdrängt“. In diesen Lehren
steckt aber — so sehr gewisse Tatsachen dabei, obzwar ein-
seitig und ungenau, gesehen sind — eine völlig irrige Deutung
der Tatsachen. Herr Freud kann nach seiner gesamten Auf-
fassung des geistigen Lebens in jener innerseelischen, auf die
libidinöse Regung bezogenen Wirksamkeit der Scham näm-
lich nichts anderes finden, als ein stetes Versteckspiel, eine
stete Maskerade, die wir mit unserem faktischen Leben spielen,
und erteilt dem Arzt die — unter dieser Vorraussetzung —
in der Tat auch gebotene Aufgabe, daß er durch die psycho-
analytische Technik diese Masken und inneren Kleider unseres
Lebens entferne, also den Menschen von jener täuschenden
Scham frei mache. Aber diese Deutung der Sache ist nur
eine Folge davon, daß Herr Freud in jenen libidinösen Re-
gungen, welche die Scham verdunkeln, eben die eigentliche Sub-
stanz und Wirklichkeit unseres Lebens sieht, und im ober-
bewußten Leben nur eine fernere und verwickelte Symbolik
für dieses Wirkliche, d. h. ein bloßes „Epiphänomen“. Jeder, der
124 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
so denkt, muß natürlich die Scham als eine organische Form
der Selbstbelügung verdammen und ihr die echte Selbster-
kenntnis gegenüberstellen. Die Sache steht aber genau
umgekehrt! Es ist unser „überbewußtes“ geistiges Selbst,
das wir in der inneren Wahrnehmung stets wahrzunehmen
intendieren, das wir aberfaktisch nur soweit wahrzunehmen und zu
leben vermögen, als es uns der „innere Sinn“ gestattet, d. h.
jene Summe von sinnlichen Leibempfindungen und Impulsen,
die in jedem Augenblick das Ganze unseres Bewußtseins ein-
zunehmen suchen und uns von einem reinen und wahren
Blick auf die Tiefe unseres Seins wegzudrängen streben. Was
wir gemeinhin unser „Bewußtsein“ und seinen Inhalt nennen,
das ist allerdings nur Zeichen, Symptom, Epiphänomen;
aber nicht Zeichen unseres unterbewußten Trieblebens, sondern
ein Zeichen des tiefen fortwährenden Kampfes, den unser
höheres geistiges Selbst, die „überbewußte“ Sphäre unserer
Existenz, mit der „unterbewußten“, dem sinnlichen Empfindungs-
leben, führt. Die „täuschende“, die „verhüllende“ Kraft
liegt also in jener stets wechselnden Mannigfaltigkeit der
sinnlichen Regungen. Indem die Scham eben sie ver-
dunkelt und sie für das gesonderte Bewußtsein fernhält, ver-
mindert sie ihre täuschende Kraft und erhellt dadurch
zugleich unser tieferes Sein und Leben; sie befreit uns also
von der täuschenden Kraft jenes „inneren Sinnes mehr und
mehr, der alles Erleben nach seiner bloßen Bedeutung für den
Sinneskitzel seligiert. Ja schon die individualisierte Leidenschaft
zu einem Weibe ist nur möglich durch die Verdunkelung unseres
von Reiz zu Reiz schwankenden sinnlichen Impulses. Das
ist die Liebe, die — wie sich noch genauer zeigen wird —
von der Scham gegen die Sinne vertreten wird als von einem
schönen und frommen Anwalte, das ist die Einheit des
Lebens, welche die Scham emporhebt und bewahrt gegen all
das, was sie in zerstäubende Empfindungen zu zerbersten
sucht. Sie ist also keine Form der Selbsttäuschung sondern
gerade eine Kraft ihrer Aufhebung; sie ist die Wegbahnerin
zu „uns selbst“. Aber diese prinzipielle nnd philosophische
Bedeutung der Scham schließt nicht aus, daß Herr Freud
faktische Tatsachen und Erscheinungen vor Augen hatte, die
ihm zu jener irrigen Deutung Anlaß gaben. Es ist nämlich
ein sehr wesentlicher Unterschied, ob die Scham durch Ver-
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 125
dunkelung und Hemmung der puren libidinösen Regung schon
das Werden einer ihr entsprechenden Vorstellung, Phantasie
und Wunschbildung zurückhält und ausschließt, oder ob sie
erst gegen eine solche bereits entstandene Vorstellungs-
und Wunschbildung nachträglich reagiert: und der Mensch
sich nun erst „über solche Gedanken und Wünsche schämt,
oder (im dritten Fall) wohl gar erst im Hinblick auf das
mögliche soziale Urteil und seinen Tadel. Es gibt nun In-
dividuen, die das schamloseste Phantasieleben mit dem korrek-
testen, praktischen geschlechtlichen Verhalten aus dem Mo-
tive dieses auch nur „möglichen“ sozialen Tadels heraus ver-
binden. Imersten dieserbeiden Fälle ist nun aber dieScham durch-
aus keine Macht der Verdrängung, als die sie Freud über-
haupt ganz irrig auffaßt. Wirkt sie doch in diesem Falle viel-
mehr in der Richtung, daß es zu einer „Verdrängung“ der
Idee oder des Wunsches schon darum nicht kommen kann,
da die Scham eine solche Ideen- und Wunschbildung schon
im Keime erstickt und hemmt. Auch die Scham ist aber in
ihrer ursprünglicheren und reineren Funktion ebenso wie
andere vitale Grundgefühle nicht das fühlende Reagieren
gegen ein als vorhanden Gegebenes, sondern ein Vor-
gefühl eines Kommenden resp. die Gegenwendung gegen
ein Mögliches. Der schamhafte Mensch hat darum von vorn-
herein nicht oder nur vermindert die Chance, in Situationen
zu gelangen, in denen er sich zu „schämen“ nötig hätte; oder
resp. nicht die Chance, in vorliegenden objektiven Verhältnissen
einer gewissen Art eine solche „Situation“ zu sehen. Nur die
schamlosen Frauen z. B. kommen immer wieder in jene be-
kannten „Situationen“, in denen ihre „Schwäche“ dann nach-
träglich „verzeihlich“ erscheint. Die schamhaften Frauen gehen
ihnen nicht etwa „aus dem Wege“, wie die sogenannte „an-
ständige Frau“ es als ihre Maxime angibt, sondern sie nimmt
sie von vornherein nicht wahr. Was aber andererseits im
zweiten und dritten Falle, den Freud allein kennt, zu einer
faktischen „Verdrängung“ zu führen pflegt (und im Falle,
daß dieses „Verdrängen“ für die Haltung des Individuums
konstitutiv wird, auch zu den von Herrn Freud in einer Fülle
von Fällen aufgewiesenen gesundheitsschädlichen Folgen
der „Verdrängung“), das ist, genau und scharf analysiert, in
keinem Falle die echte Scham, sondern nur eine Furcht
126 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
und Angst vor den möglichen sozialen Folgen, und sei es
auch nur dem „möglichen“ Tadel des Gewissens, oder (Fall III)
der Sozietät. Daß sich hierbei das betreffende Individuum
seine bloß praktische Enthaltung von der seiner Fantasie ent-
sprechenden Handlung als „Scham“ auslegt und eben hierin
einer Selbsttäuschung verfällt, das ist freilich häufig richtig.
Und auch das habe ich häufig gefunden, daß insbesondere
stark hysterische weibliche Individuen sich ihre tiefe, organische
innenpsychische Schamlosigkeit, vermöge der ihr Scham-
gefühl die Vorstellungs- und Wunschbildung, die den libidi-
nösen Regungen entspricht, nicht im Keime zu hemmen ver-
mögen lassen, sondern diese sich breit und parasitär ausbreiten,
diese ihre organische Schwäche als eine besondere „Wahr-
haftigkeit und Ehrlichkeit gegen sich selbst“ auslegen,
indem sie bei Anderen analoge Fantasien und Wünsche vor-
aussetzen; nur seien diese „Anderen“ nicht „ehrlich“ genug,
sie zu sehen. Da dieser Gedanke auch die Theorie von
Herrn Freud ist, so scheint hier Herr Freud selbst einer Art
unbewußter Ansteckung seitens seiner Patienten verfallen zu
sein. Diese Auslegung der Hysteriker trägt aber den Stempel
des „Ressentiment“!) an der Stirne und unterscheidet sich in
nichts Wesentlichem von dem Dirnenressentiment, das die
Scham der schamhaften Frau darauf zurückführt, daß sie
„schlechte Dessous“ anhabe. Freilich ist hier und in allen
Fällen, wo sich diese innenpsychische Schamlosigkeit bei
äußerlich korrektem oder von der Sozietät so gewertetem Ver-
halten ausbildet, und zwar zu einer habituellen Haltung
des Individuums ausbildet, stets eine Reihe eigenartiger Be-
dingungen die Voraussetzung. Diesekönnen z.B. darin gegeben
sein, daß sich eine enge, tradierte und mit bloßem Traditions-
zwang (nicht Gewissensnötigung) empfundene Geschlechts-
moral (z.B. bei Mädchen von „guter Familie“, die in einer
die Sinne stark aufreizenden Großstadtumgebung leben) mit
einer Umgebung verbindet, deren sinnesreizender Kraft
auch ein normales angeborenes Schamgefühl auf die Dauer
nicht gewachsen ist. Dann entsteht durch eine Reihe fort-
gesetzter „Schamverletzungen“ schließlich jene innerpsy-
chische Schamlosigkeit, die sich durch die Schranke jenes
1) Vgl. meine Arbeit: „Über Ressentiment und moralisches Werturteil“. Leipzig, W.
Engelmann 1912,
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 127
Traditionszwangs gleichwohl nicht nach außen entlädt und
sich eben hierdurch auf dem Boden der Phantasie und des
Wunsches noch steigert. Und noch sicherer führt zu diesem
Zustande eine Stauung und Zentralisierung und Vergedank-
lichung derlibidinösen Erregung durcheine bestehende Aversion
gegen die normale Befriedigung, sei es durch vaginale Un-
empfindlichkeit, sei es durch eine früh entstandene Anti-
pathie gegen den Mann, resp. das gegengeschlechtliche
Wesen. Auch in diesem Falle kommen die libidinösen Re-
gungen mit einer Stärke an das Bewußtsein, daß sie auch
eine ursprünglich normale Schamschranke durchbrechen müssen.
Diese und analoge Fälle sind es nun offenbar, die Herrn Freud
innerhalb des Milieus, das er studierte, mit besonderer Häufig-
keit entgegentraten und an denen er sich seine Theorie bildete,
daß die Scham eine Verdrängungsmacht sei. Indem er diese
Beobachtungen aber auch auf den normalen Menschen gene-
ralisierte, entstanden seine Irrungen, die übrigens die medi-
zinische Bedeutung seiner diesbezüglichen Lehren an sich
nicht notwendig tangieren.
Erst auf die genannten organischen und physiolo-
gischen Wirkungen der Scham und auf jene „innerpsychi-
schen“ — beide dem libidinösen Schamgefühl angehörig — bauen
sich nun jene Funktionen derselben auf, die sie im Verhältnis
der Geschlechter und die sie für die Quantität und Qualität
der menschlichen Fortpflanzung besitzt, ihre biologische
Bedeutung; auch diese ist von allen bloß sozialen, historisch
variablen Verhältnissen, z. B. von der Verwendung des
Schamgefühls zur Aufrechthaltung von „Anstand“, „Sitte“ oder
irgendwelchen Herrschaftsverhältnissen von Mann und
Weib wiederum ganz unabhängig. Vor einer Betrachtung der
weitgehenden Verschiedenheit, die hier zwischen der Geschlechts-
scham des Weibes und des Mannes bestehen, ist es notwendig,
diese Funktionen selbst zunächst im allgemeinen zu kennzeichnen.
Die Hauptsache ist hierbei, daf man von richtigen
Vorstellungen über die Zahl und Art der Triebe ausgeht, sowie
von deren Zusammenwirken mit den höheren vitalen und
geistigen Akten, welche die Wahl des Geschlechtsgenossen
und das gesamte Geschäft der Fortpflanzung dauernd regeln.
Diese sind: 1. Die libidinöse Regung, d. h. das auf den
Kitzel der Wollust gerichtete peripher sinnliche Streben, 2. der
` 128 OESCHLECHT UND OESELLSCHAFT
hiervon ganz verschiedene „Geschlechtstrieb“ mit allen
seinen Möglichkeiten der Abirrung (Perversionen); 3. dieser
Trieb ist zwar beiden Geschlechtern eigen, aber in der Weise, daß
er im Weibe dem Fortpflanzungstriebe untergeordnet ist,
und im normalen Falle sich jede Regung des ersteren auf eine
solche des letzteren aufbaut; wogegen der Mann einen so
zentralen Fortpflanzungstrieb überhaupt nicht besitzt, sondern
für ihn die Fortpflanzung erst auf einem besonderen „Wunsche“
und „Willen“ beruht, ein Kind zu haben, die sich überdies
erst auf die vorhergehende Regung seines Geschlechtstriebes
einstellen, 4. der Trieb und Instinkt der Brutpflege, der
im Menschen nur dem Weibe eigen ist und nur eine Modi-
fikation ihres Fortpflanzungstriebes, ein einfaches Weiterwirken
des schon zum Zustandekommen einer Konzeption!) und zur
Durchführung der Schwangerschaft nötigen Fortpflanzungs-
triebes über die Beendigung des Prozesses des Gebärens hin-
aus darstellt, 5. die geschlechtlicheSympathie?), die nur eine
Abart der mit allem Lebendigen gegebenen Fähigkeit ist:
erstens über die Grenze des Eigenlebens hinaus das Leben
anderer Wesen auf unmittelbare Weise zu „verstehen“ und „nach-
zuleben“, und zweitens es mit einer Form der sogenannten
„Teilnahme“ zu begleiten (Mitfreude, Mitleid und ihre
Unterarten), 6. die geschlechtliche Liebe.
Es ist nicht nur für die Erkenntnis der Funktionen des
Schamgefühls, sondern für alle hierher gehörigen Fragen des
menschlichen Geschlechtsverhältnisses, seiner biologischen,
sozialen und geschichtlichen Bedeutung, von äußerster
Wichtigkeit, daß die genannten Faktoren alle anerkannt werden,
und daß sie nicht nur in ihrer Verschiedenheit und Unableit-
barkeit auseinander, sondern auch in ihrer weitgehenden Un-
abhängigkeit in Dasein und Wirksamkeit voll begriffen
werden. Insbesondere ist die Scheidung wichtig von Libido
und Geschlechtstrieb, sowie des Geschlechtstriebes vom
Fortpflanzungstrieb, aller dieser bloßen „Triebe“ aber von der Ge-
schlechtsliebe (bezw. der dem Fortpflanzungstrieb ent-
sprechenden Mutterliebe). Diese „Liebe“ aber ist überhaupt
kein blinder Trieb, sondern eine wertwählende und „in-
tentionale“ Funktion des Gemütes, durch die der „Trieb“,
1) Dieser Satz kann hier nicht erwiesen werden.
2) Vgl. meine Arbeit: Zur Phänomenologie und Theorie der Sympathiegefühle und von
Liebe und Haß. Halle a. S. Max Niemeyer, 1913.
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DAS LEVER. Französischer Kupferstich nach einem Gemälde von BAUDOUIN.
Zu dem Aufsatz -Die eheliche Untreue<. Seite 97.
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 129
der an sich ein nach allen Seiten und weder an Individualität
nochW ert gebundenes „Treiben“ zuirgendwelcher,Befriedigung“
ist, erst positiv wertbestimmte Gegenstände und Ziele
erhält. Liebe ist also auch als Geschlechtsliebe (nicht erst
als „Güte“ etc.) niemals bloß ein „verfeinerter Geschlechtstrieb“
oder gar (wie Freud meint) eine Form der „Libido“ oder wie
andere kaum weniger ungenau sagen, der „individualisierte Ge-
schlechtstrieb“ 1) d. h. ein „hölzernes Eisen“. Die Geschlechtsliebe
ist, unabhängig selbst von der empirischen Kenntnis des Daseins
eines anderen Geschlechts und seiner Beschaffenheit, eine
besondere Art Qualität und Artung der Bewegung der
Liebe selbst, die ein elementarer, unableitbarer Akt unseres
Geistes ist; sie ist nicht wie z.B. die „Liebe zur Kunst“, zum
„Staate“ eine erst durch ihr Objekt, d. h. „Staat“, „Kunst“ u.s.w.
charakterisierte Liebe, sondern eine besondere Art und Qualität
des Liebens selbst, die darum und nur darum durch Per-
sonen gewisser Wertqualitäten auch „erfüllt“ oder „nicht
erfüllt“ werden kann. Wir sagen nicht, daß — soweit die
bloße vitale Geschlechtsliebe, die „Liebesleidenschaft“ in Frage
kommt, — für jedes Individuum nur ein Individuum durch
sie erwählt wird; diese volle Individualisierung ist erst eine
mögliche Leistung einer höheren und geistigeren Form der Liebe,
die von dem Gesamtgebiet der vitalen Liebesregungen —
also auch der Geschlechtsliebe — unabhängig ist. Aber schon
die Wahl einer beliebigen Reihe von Individuen, die z. B.
gewisse Wertqualitäten des Leibes an sich- tragen, Frische,
Jugend, Reiz, Anmut, Kraft, Schönheit (und deren leibliche
Erbwertqualitäten für die Art und Qualität, nicht die
Quantität der Fortpflanzung wünschenswert sind),
beruht auf der von Libido, Geschlechts- und Fort-
pflanzungstrieb ganz unabhängigen wertwählenden Kraft der
Geschlechtsliebe. Denn wie der „Appetit“ in der vor dieser
Sphäre an Bedeutung weit untergeordneten Sphäre der Er-
nährung ein von „Hunger“ ganz unabhängiges Vorgefühl für
den organischen W ert der Speisen und ihrer mit den wechselnden
physiologischen Zuständen des Organismus (z. B. Krankheit)
wechselnden Verdaulichkeit und Unverdaulichkeit ist, nicht aber
eine Reaktion auf die schon gewählte Speise, eine seelische
1) So z. B. Hirschfeld: Gesetze der Liebe; desgl. J. J. Rousseau, dessen Definition auch
Prévost in seinen Briefen an Francoise morie aufnimmt.
Geschlecht und Oesellschaft, VII, 3/4. 9
130 GESCHLECHT UND QESELLSCHAFT
Vorprüfung, also was in den Mund gelangen soll, so ist
die Geschlechtsliebe ein schon die interessierte Wahrnehmung
der Individuen (aus der Menge der empfindungsmäßig „wahr-
nehmbaren“) leitendes Vorfühlen der für die Fortpflanzung
eben dieser Individuen besten und edelsten Qualitäten; dies
gilt, soweit es sich um die Liebe des Weibes zum Manne
handelt; und sie ist Vorgefühl der für die vollste und dauerndste
Befriedigung des Geschlechtstriebes besten weiblichen Qualitäten,
soweit es sich um die Liebe des Mannes zum Weibe handelt;
nicht aber ist die Liebe eine bloße nachträgliche seelische
Reaktion auf einen Gegenstand, der den Geschlechtstrieb und
durch ihn hindurch die Libido bereits erregt hätte oder eine
bloße „Begleiterscheinung“ dieser Erregung, oder Etwas, das
zu dieser bereits bestehenden Erregung „hinzuträte“ und nur
auf die „Seele“ ginge, ganz gleichgültig, ob sie ein männlicher
oder weiblicher Mensch besäße! Wir leugnen nicht etwa
eine solche spezifische „Seelenliebe“ (z. B. Freundschaft); aber
wir unterscheiden sie streng von der Geschlechtsliebe und
leugnen auch, daß diese nur eine „Zusammensetzung“ aus einem
sexuellen Geschlechtstrieb und solcher Seelenliebe (d. h. Freund-
schaft) sei. Auch die Verschiedenheit von geschlechtlicher
Liebe von der geschlechtlichen Sympathie muß scharf her-
vorgehoben werden. Sympathie hat mit Liebe nichts zu
tun und zerfällt in die zwei verschiedenen Funktionen des bloß
nachfühlenden Aufnehmens fremder psychischer Erlebnisse, (die
selbst bei Grausamkeit, Schadenfreude, Neid, Bosheit, Roheit
usw. vorhanden sein muß), und der Reaktion auf dieses im
Nachfühlen Gegebene durch Mitfreude und Mitleid. Und
„geschlechtlich“ ist diese ganz generelle Eigenschaft des
Menschen (und der höheren Tiere) dann, wenn es sich nicht
nur um weibliche und männliche Individuen handelt, sondern
auch um auf den Geschlechtsunterschied aufgebaute
Differenzen der Erlebnisse und ihrer Arten. In diesem Sinne
ist siegar keine Bedingung für die Libido und ihre Erregung, wohl
aber bereits Bedingung für die Bildung eines Geschlechtstriebes;
keineswegs also ist sie die bloße Folge eines solchen Triebes,
wie z.B. Ch. Darwin meinte. Fehlt die geschlechtliche Sym-
pathie wie beim typischen Mysogin, und wird sie besonders
durch frühe Kindheitserlebnisse (z. B. Abstoßung seitens der
Mutter, resp. des Vaters, gemeinhin als des ersten Weibes, das
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 131
dem Knaben, resp. des ersten Mannes, der dem Mädchen
entgegentritt) in ihrer Bildung gehemmt, so gewinnt die
Libido auch im selben Maße keine normale, gegengeschlecht-
liche Richtung und es wird schon die Ausbildung eines
„Geschlechtstriebes“ gehemmt. Perversionen können darum
diesen Ursprung haben. Bedingungen solcher Abstoßung sind
vor allem in mangelhaften Brutpflegeinstinkten der Mutter
gegeben, die durch kein „Pflichtgefühl“ ersetzt werden können;
denn dieses muß stets der organischen mütterlichen „Wärme“
ermangeln. Dieser Mangel aber zeigt dem Kinde gefühlsmäßig,
— da jene Instinkte ja nur die Fortsetzung des Fort-
pflanzungstriebes sind — daß seine Existenz auch nicht
genügend organisch erstrebt wurde, daß es keine „leere Stelle“
im Herzen der Mutter durch seine Existenz erfüllte. Damit ist
eine Einstellung des Mißtrauens und der primären unterschieds-
losen Ablehnung schon des „Verstehens“ des Weiblichen über-
haupt gesäet. So wirkt der mangelhafte Fortpflanzungsinstinkt
der Mutter indirekt auch auf die Einschränkung der Möglich-
keit der Fortpflanzung ihres Blutes zurück. Für die normale
Funktion der Liebe (auch anormale Individuen z. B. Homosexuelle
können natürlich ihr Objekt mehr oder weniger lieben) in der
Geschlechtswahl ist daher die geschlechtliche Sympathie eine
notwendige Bedingung. (Schluß folgt.)
(б
DER MÄDCHENHANDEL IN NEW YORK.
Von Dr. R. FUNKE, New-York.
an weiß nicht, ob wir Amerikaner infolge der Reinlichkeit
des Empfindens über geschlechtliche Dinge und einer
vernünftigen Erziehung als moralisches Vorbild den europäischen
Rassen gelten können. Dem Europäer scheint unsere Moral-
auffassung recht komisch. Er wird es als eine Heuchelei be-
trachten, wenn ein Amerikaner mit einer jungen Dame zu-
sammen badet, nachts mit ihr in einem Zelt schläft, ohne
menschliche Triebe zu verspüren. Für den Europäer ist es
schwer begreiflich, daß bei uns im Lande die schlüpfrigen fran-
zösischen Schwänke von der Bühne ferngehalten werden und der
9*
132 GESCHLECHT UND OESELLSCHAFT
Import von pikanter Lektüre, Pariser Bildern, pornographischen
Werken verboten ist. Doch bewahrt der zwanglose Verkehr der
Geschlechter, verbunden mit den vielen körperlichen Sports-
übungen und dem Fehlen einer schlechten Lektüre à la Nick
Carter, dem Amerikaner, besonders der höheren Klasse, eine
Reinheit der Erotik gegenüber. Auch wird man sich schwer
hüten, durch pikante Witze gesellschaftlichen Ruhm zu erreichen,
selbst in intimer Herrengesellschaft unter dem Einfluß des
Alkohols unter die Säue zu gehen. Der von der europäischen
Damenwelt so begehrte Don Juan existiert Gott sei Dank
in Amerika nicht; und wehe dem jungen Amerikaner, der eine
junge Dame aus seinen Kreisen durch Sitzenlassen kompromittiert,
er verfällt für immer der Mißachtung seiner Standesgenossen.
Ein Mädchen der unteren Kreise jedoch, welche einen vor-
nehmen Amerikaner geheiratet, hat es durchaus nicht schwer,
von der höheren Gesellschaft als „full“ aufgenommen zu werden,
vorausgesetzt, wenn sie sich „ladylike“ zu benehmen weiß.
Die amerikanische junge Dame bezeichnet das „Verhältnis“
des Deutschen als shoking und versteht nicht, wie ein deutsches
junges Mädchen so dumm sein kann, sich selbstlos hin-
zugeben. Die Amerikanerin fordert viel und gewährt wenig.
Aber trotzdem hat der wohlerzogene junge Amerikaner sein
Sweethaart, entweder eine hübsche Typewriterin oder eine char-
mante Chorgirl. Dieses nimmt man ihm durchaus nicht übel;
aber wehe ihm, wenn er von seiner Liebschaft ein großes Ge-
rede macht, oder sie gar in seine Kreise einzuführen versucht.
Ist dies keine reine Moralauffassung? Und es scheint, daß
eine Prostitution in Amerika nicht existiert.
Leider existiert sie nur zu gut, viel mannigfaltiger, als in
der alten Welt. Aber man löst in Amerika diese öffentliche
Frage ohne Schwierigkeit, indem man erklärt, daß die Prostitution
nur „the social evil“ ist, ein Gegenstand, den man, um nicht
unsittlich zu erscheinen, in der Öffentlichkeit nicht erwähnen
darf. Die jungen Amerikanerinnen dürfen nichts von der
Existenz der Prostitution erfahren. Das amerikanische Gesetz
ist auch sehr weise (?) vorangegangen, indem es „the social
evil“ totschweigt. Selbst die Presse, das berufene Organ der
öffentlichen Aufklärung, welche jede Scheidungsgeschichte oder
jeden gesellschaftlichen Skandal bis ins kleinste Detail berichtet,
ist für jene traurigen Wahrheiten der Prostitution nicht zu haben.
GESCHLECHT UND OESELLSCHAFT 133
Dieses Totschweigen gehört zum nationalen Dogma, und das
muß respektiert werden. Aus diesem Grunde wurde auch in
der gesamten nordamerikanischen Tagespresse über die Ent-
deckung des Ehrlich’schen Heilmittels gegen Syphilis keine Er-
wähnung getan.
Die Zahl der freien und kasernierten Prostituierten in den
Vereinigten Staaten ist ungeheuer groß. Und die Polizei wird
verantwortlich gemacht, wenn die Öffentlichkeit Einzelheiten
aus dem intimen Leben dieser Damen erfahren sollte. Die
Kasernen der Prostituierten, sowie die auf der Straße herum-
flanierenden Dirnen stehen wohl unter sehr scharfer Aufsicht.
Viele öffentliche Häuser wieder, die keine polizeilichen Kon-
zessionen erhalten haben, genießen den Schutz der politischen
Bosse, die von den Bordellwirtinnen hohe Summen erhalten.
In den Adreßbüchern werden die Insassinnen dieser Häuser
als Masseusen, Schneiderinnen, Geschäftsmädchen, Lehrerinnen
bezeichnet. Trotz alledem gibt es keine offizielle Kontrolle
der freien Prostitution, denn als echter Demokrat ist der
Amerikaner zu feinfühlig, um Menschen seinesgleichen, freie
Mitbürger, in unwürdige Kontrolle zu tun. Darüber eine recht
bemerkenswerte Stelle aus dem amerikanischen Buche: „The
Social Evil“ (with special reference to conditions existing in the
City of New York. A report prepared under the Direction of
the Commitee of Fifteen. New York 1902 pp 91—92):
„Männer mit politischem Verstande sind der Ansicht, daß
jeder Eingriff in die Freiheit des Individuums ein Übel an sich
ist, und daß er sich nur dadurch rechtfertigen läßt, daß das
daraus entstehende Gute wirklich sehr hoch anzuschlagen ist.
Ein System, das es der Polizei ermöglicht, auf einen Verdacht
hin einen Bürger anzuhalten und ihn einer verletzenden Unter-
suchung zu unterziehen, nur zu dem Zwecke, eine etwa vor-
handene Krankheit zu entdecken, und dann ins Gefängnis zu
stecken, auf den Verdacht hin, daß er unmoralischen Verkehr
haben könnte, wenn man ihn freiließe, kann unmöglich als mit
den Prinzipien der persönlichen Freiheit in Übereinstimmung
bezeichnet werden.“ Die Einkünfte dieser Mädchen weisen
eine erhebliche Höhe auf. Goodchild bemerkt in seinem Buche
„Ihe social evil in Philadelphia“, daß die Mädchen in ge-
wöhnlichen Bordellen eine wöchentliche Rein-Einnahme von
wenigstens zwanzig Dollar (80 Mark) erzielen, d. h. für Phila-
134 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
delphia. Für New York, als teure Stadt an und für sich ver-
dienen solche Damen wöchentlich schon 40—50 Dollar
(160 —200 Mark).
Mit dem Bordellwesen hängt der Mädchenhandel aufs
innigste zusammen. Iwan Bloch sagt mit Recht: „Ohne Bor-
delle kein Mädchenhandel“. Man macht sich in Europa keinen
Begriff, wie in den Vereinigten Staaten, besonders aber in
New York, der weiße Sklavenhandel blüht, üppiger noch als
in den südamerikanischen Staaten. Die Einwanderungskom-
mission in New York ist in den letzten Jahren dahintergekommen,
daß der Mädchenhandel dort ungeheure Dimensionen ange-
nommen hat, sodaß die Einführung der weißen Sklaven von
Europa aus fast ganz aufgehört hat, denn auf den Ozean-
dampfern wachen scharfe Augen über das Benehmen der paar-
weise Reisenden und wer da keinen unzweifelhaft verheirateten
Eindruck macht, kann in Hoboken bei der Landung gewärtig
sein, um seine Trauurkunde ersucht zu werden, und falls er
eine solche nicht aufweist, vor die Alternative gestellt, entweder
sofort auf dem Schiff zu heiraten oder mit dem nächsten Schiff
zurück nach Europa zu dampfen. Nordamerika deckt jetzt
seinen Bedarf an Mädchen ausschließlich in der Weltstadt
New York. Mehr als 50000 Mädchen werden jährlich in der
nordamerikanischen Metropole umgesetzt. Eine derartige hohe
Zahl kann meines Erachtens nur durch die Konnivenz der
New Yorker Polizei erreicht werden. Man weiß bestimmt, daß
die New Yorker Polizisten im allgemeinen nicht von ihrem Gehalt
so rosig fett und robust werden, sondern von den Schmiergeldern,
die sie von den dunkeln Ehrenmännern erhalten, die sich mit
diesem schmutzigen Geschäft befassen. Das weit größte Kon-
tingent dieser armen weißen Sklaven liefert Irland, dann folgen
Schottland, Deutschland mit Oesterreich, schließlich Ungarn
und Rußland. Frankreich und die übrigen europäischen Län-
der kommen kaum in Betracht. Auch Amerika selbst liefert
seinen Teil, besonders der schwer arbeitende Norden mit
seinem rauhen Klima. Die Preise für diese Mädchen sind sehr
verschieden, aber 1000 Dollar (4000 Mk.) ist kein zu hoher
Preis, denn man muß bedenken, daß bei diesen Verkäufen viele
Mittelspersonen verdienen. Die New Yorker Mädchenhändler,
deren stattliche Zahl auf 25000 gestiegen ist, bilden in New
York einen Ring für sich. Sie sind ausschließlich rumänische,
GESCHLECHT UND OESELLSCHAFT 135
ungarische und galizische Juden und haben sehr enge Be-
ziehungen zur New Yorker Polizei, die ihr schmachvolles Tun
und Handeln stets billigt. Sie besitzen in New York ihre eigene
Börse. Zur Anlockung der Mädchen bedienen sie sich junger
hübscher Männer, „Kadetten“ genannt.
Alle Bestrebungen des internationalen Vereins gegen den
Mädchenhandel in den Vereinigten Staaten sind bis jetzt wir-
kungslos geblieben. Das beste Mittel zur Beseitigung des
Mädchenhandels ist erstens der Fortfall aller Bordelle, zweitens
die Beteiligung der New Yorker Polizei am Kampfe gegen
diesen für Amerika so schimpflichen Handel und drittens der
Entwurf eines Gesetzes, welches wenigstens eine zehnjährige
Zuchthaustrafe mit Zwangsarbeit und Vermögenseinziehung
auf den Mädchenhandel setzt. Vor einiger Zeit ist unter dem
Vorsitze von John Rockefeller eine Kommission zusammen-
getreten, die zu dem für die amerikanische Moral so charak-
teristischen Resultate gekommen ist, daß New Vork die reinste
Stadt der Welt sei. Mit anderen Worten, daß in New York
weder Prostitution, noch Mädchenhandel existieren. Ist dies
kein Paradoxon? Ist es diesen Herren nicht bekannt, daß die
25000 New Yorker Mädchenhändler unter dem Schutze der
demokratischen Partei stehen, in deren Parteikasse jährlich
hohe Summen aus den schmachvollen Geschäften fließen? Ist
es diesen Herren tatsächlich nicht bekannt, daß in New York
die Binde vor den Augen der Gerechtigkeit aus lauter zusammen-
gefalteten Dollarnoten besteht? Und was sagt diese Kommission
nun über den vor einiger Zeit erfolgten Selbstmord des
New Yorker Polizeipräsidenten, dem nachgewiesen war, daß
er mit den elenden Mädchenhändlern unter einer Decke steckte
und jährlich dafür Tausende und Abertausende von Dollar ein-
nahm! Ist also New York wirklich die reinste Stadt der Welt?
Das amerikanische Dogma aber schreibt vor, an diesen
schreiendsten Mißständen schweigend vorbeizugehen. Man
muß schweigen, damit nichts in die Öffentlichkeit dringt, da-
mit nicht das große Publikum auf diese unsauberen Dinge
aufmerksam gemacht wird. So läßt man lieber den Politikern,
Polizisten, Advokaten, smarten Geschäftsleuten und raffinierten
Hochstaplern ihr gutes Einkommen.
EI
136 GESCHLECHT UND OESELLSCHAFT
TRAUM UND TRAUMDEUTUNG.
Von Dr. ALFRED ADLER.
E" uraltes Problem, das bis an die Völkerwiege zurückzu-
verfolgen ist. Narren und Weise haben sich daran ver-
sucht, Könige und Bettler wollten die Grenzen ihres Welter-
kennens durch Traumdeutung erweitern. Wie entsteht ein Traum?
Was ist seine Leistung? Wie kann man seine Hieroglyphen
lesen?
Ägypter, Chaldäer, Juden, Griechen, Römer und Germanen
lauschten der Runensprache des Traumes, in ihren Mythen
und Dichtwerken sind vielfach die Spuren ihres angestrengten
Suchens nach einem Verständnis des Traumes, nach seiner
Deutung eingegraben. Immer wieder wie eine bannende Ge-
walt scheint es auf allen Gehirnen zu liegen: der Traum kann
die Zukunft enthüllen! Die berühmten Traumdeutungen der
Bibel, des Talmud, Herodots, Artemidorus, Ciceros, des Nibe-
lungenlieds drücken mit unzweifelhafter Sicherheit die Über-
zeugung aus: der Traum ist ein Blick in die Zukunft! Und
alles Sinnen geht den Weg, wie man es wohl anfinge, den
Traum richtig zu deuten, um Zukünftiges zu erspähen. Selbst
bis auf den heutigen Tag wird der Gedanke, Unwißbares er-
fahren zu wollen, regelmäßig mit dem Nachdenken über einen
Traum in Verbindung gebracht, Daß unsere rationalistisch
denkende Zeit äußerlich ein solches Streben verwarf, die Zu-
kunft entschleiern zu wollen, es verlachte, ist nur zu begreiflich,
machte es auch aus, daß die Beschäftigung mit den Fragen
des Traumes den Forscher .leicht mit dem Fluch der Lächer-
lichkeit behaften konnte.
Nun soll vor allem, um den Kampfplatz abzustecken, her-
vorgehoben werden, daß der Autor keineswegs auf dem Stand-
punkt steht, der Traum sei eine prophetische Eingebung und
könne die Zukunft oder sonst Unwißbares erschließen. Viel-
mehr lehrt ihm seine umfängliche Beschäftigung mit Träumen
nur das eine, daß auch der Traum, wie jede andere Erscheinung
des Seelenlebens, mit den gegebenen Kräften des Individuums
zustande gebracht wird. Aber im gleichen Augenblick taucht
da eine Frage auf, die uns darüber belehrt, daß die Perspektive
auf die Möglichkeit prophetischer Träume gar nicht einfach zu
stellen war, daß sie vielmehr verwirrend als klärend zu wirken
imstande ist. Und diese Frage lautet in ihrer ganzen Schwierig-
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 137
keit: Ist es denn für den menschlichen Geist wirklich aus-
geschlossen, in einer bestimmten Begrenztheit in die Zukunft
zu blicken?
Unbefangene Beobachtung gibt uns da sonderbare Lehren.
Stellt man diese Frage unverblümt, so wird der Mensch sie
in der Regel verneinen. Aber kümmern wir uns einmal nicht
um Worte und Gedanken, die sich sprachlich äußern. Fragen
wir die anderen körperlichen Teile, rufen wir seine Bewegungen,
seine Haltung, seine Handlungen an, dann erhalten wir einen
ganz anderen Eindruck. Obwohl wir es ablehnen, in die Zu-
kunft blicken zu können, ist unsere ganze Lebensführung derart,
daß sie uns verrät, wie wir mit Sicherheit zukünftige Tatsachen
vorauswissen wollen. Unser Handeln weist deutlich darauf
hin, daß wir — right or wrong — unser Wissen von der
Zukunft festhalten. Noch mehr! Es läßt sich leicht beweisen,
daß wir nicht einmal handeln könnten, wenn nicht die zu-
künftige Gestaltung der Dinge — von uns gewollt oder ge-
fürchtet — in uns die Richtung und den Ansporn, die Aus-
weichung und das Hindernis gäbe. Wir handeln ununter-
brochen so, als ob wir die Zukunft sicher voraus
wüßten, obwohl wir verstehen, daß wir nichts wissen
können.
Gehen wir von den Kleinigkeiten des Lebens aus. Wenn
ich mir etwas anschaffe, habe ich das Vorgefühl, den Vorge-
schmack, die Vorfreude. Oft ist es nur dieser feste Glaube
an eine vorausempfundene Situation mit ihren Annehmlichkeiten
oder Leiden, der mich handeln oder stocken läßt. Daß ich
mich irren kann, darf mich nicht behindern. Oder ich lasse
mich abhalten, um im erwachenden Zweifel!) zwei mög-
liche künftige Situationen vorauszuerwägen, ohne zur Ent-
scheidung zu kommen. Wenn ich heute zu Bette gehe, weiß
ich nicht, daß es morgen Tag sein wird, wenn ich erwache —
aber ich richte mich darnach.
Weiß ich es denn wirklich? So etwa, wie ich weiß, daß
ich jetzt vor Ihnen stehe und rede? Nein, es ist ein ganz
anderes Wissen, in meinem bewußten Denken ist es nicht zu
finden, aber in meiner körperlichen Haltung, in meinen An-
i) Die Funktion des Zweifels im Leben wie in der Neurose ist, wie ich zeigen konnte,
immer: eine Aggressionshemmung durchzuführen, einer Entscheidung auszuweichen, und dies
der eigenen Kritik zu verbergen. S. „Zur Rolle des Unbewußten". (Zts. f. Psychol-
analyse 1913, H. 4—5.
138 GESCHLECHT UND OESELLSCHAFT
ordnungen sind seine Spuren deutlich eingegraben. Der rus-
sische Forscher Pawlow konnte zeigen, daß Tiere, wenn sie
eine bestimmte Speise erwarten, im Magen beispielsweise
die entsprechenden, zur Verdauung nötigen Stoffe ausscheiden,
als ob der Magen vorauswüßte, welche Speise er empfangen
wird. Daß heißt aber, daß unser Körper in gleicher Weise
mit einer Art Kenntnis der Zukunft rechnen muß, wenn er ge-
nügen, handeln will, daß er Vorbereitungen trifft, als ob er die
Zukunft vorauswüßte. Auch in letzterem Falle ist diese Be-
rechnung der Zukunft dem bewußten Wissen fremd. Aber über-
legen wir einmal! Kämen wir denn zum Handeln, wenn wir
mit unserem Bewußtsein die Zukunft erfassen sollten? Wäre
nicht die Überlegung, die Kritik, ein fortwährendes Erwägen
des Für und Wider, ein unüberwindlicher Hemmschuh für das,
was wir eigentlich nötig haben, das Handeln? Folglich muß
unser vermeintliches Wissen von der Zukunft im Un-
bewußten gehalten werden. Es gibt einen Zustand krank-
hafter Seelenverfassung — er ist weit verbreitet und kann
sich in den verschiedensten Graden darstellen —, die Zweifel-
sucht, der Grübelzwang, folie de doute, — wo tatsächlich die
innere Not den Patienten antreibt, in allem den einzig
richtigen Weg zur Sicherung seiner Größe, seines Persön-
lichkeitsgefühles zu suchen. Die peinliche Untersuchung des
eigenen zukünftigen Schicksales hebt dessen Unsicherheit so
weit hervor, das Vorausdenken wird soweit bewußt, daß ein
Rückschlag erfolgt: die Unmöglichkeit, die Zukunft bewußt
und sicher zu erfassen, erfüllt den Patienten mit Unsicherheit
und Zweifel, und jede seiner Handlungen wird gestört durch
eine andersgerichtete Erwägung. — Den Gegensatz bildet der
ausbrechende Größenwahn, wo ein heimliches, sonst unbe-
bewußtes Ziel der Zukunft machtvoll hervorsticht und die
Realität vergewaltigt.
Daß das bewußte Denken im Traume eine geringere Rolle
spielt, bedarf keines Beweises. Ebenso schweigt die Kritik der
nunmehr schlafenden Sinnesorgane. Wäre es undenkbar, daß
nun die Erwartungen, Wünsche, Befürchtungen, die sich an die
gegenwätige Situation des Träumenden knüpfen, unverhüllter
im Traume zutage treten?
Ein Patient, der an schwerer Tabes erkrankt war, dessen
Bewegungsfähigkeit und Sensibilität stark eingeschränkt war,
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 139
der ferner durch die Krankheit blind und taub geworden war,
war ins Krankenhaus gebracht worden. Da es keine Möglich-
keit gab, sich mit ihm zu verständigen, muß seine Situation
wohl eine höchst sonderbare gewesen sein. Als ich ihn sah,
schrie er unaufhörlich nach Bier und belegte irgend eine Anna
mit unflätigen Schimpfworten. Sein unmittelbares Streben so-
wie die Art der Durchsetzung desselben war ziemlich unge-
brochen. Denkt man sich aber eines der Sinnesorgane funk-
tionierend, -so ist es klar, daß nicht bloß seine Äußerungen,
sondern auch seine Gedankengänge ganz anders verlaufen
wären. Der Ausfall der Funktion der abtastenden Sinnesorgane
im Schlafe macht sich demnach in mehrfacher Richtung geltend:
in einer Verrückung des Schauplatzes vor allem, ferner auch
in einem hemmungsloseren Hervortreten des Zieles.
Letzteres führt mit Notwendigkeit dem wachen Leben gegen-
über zu Verstärkung und Unterstreichungen des Wollens, zu
analogischen, aber schärferen Ausprägungen und Übertreibungen,
die allerdings wieder infolge der Vorsicht des Träumers von
Einschränkungen oder Hemmungen begleitet sein können.
Auch Havelock Ellis („Die Welt der Träume“, Würzburg,
Kabitzsch, 1911), der andere Erklärungsgründe anführt, hebt
diesen Umstand hervor. — Von anderen Standpunkten aus
kann man im obigen Falle, ebenso wie bei den Träumen
verstehen, daß erst die Einfühlung in die reale Situation zur
„Rationalisierung“ (Nietzsche) und zur „logischen Inter-
pretation“ zwingt.
Immerhin ist die Richtung des Handelns, dievorbauende,
voraussehende Funktion des Traumes immer deutlich
erkennbar;!) sie deutet die Vorbereitungen entsprechend
der Lebenslinie des Träumers einer aktuellenSchwierig-
keit gegenüber an und läßt niemals die Sicherungsabsicht
vermissen. Versuchen wir, diese Linien an einem Beispiele zu
verfolgen. Eine Patientin mit schwerer Platzangst, die an
Bluthusten erkrankt war, träumte, als sie im Bette lag
und ihrem Beruf als Geschäftsfrau nicht nachgehen konnte:
„Ich trete ins Geschäft und sehe, wie die Mädchen Karten
spielen.“
1) Zuerst geschildert im „Aggressionstriebe‘' (Fortschritte der Medizin, Leipzig 1908),
in der „Psychischen Behandlung der Trigeminusneuralgie‘‘ im ‚Beitrag zur Lehre vom Wider-
stand‘, in der „Syphilidophobie'' (Geschl. u. Gesellsch. VIII. Bd. Heft 2, S. 66 ff.) und
im „Nervösen Charakter‘' 1912.
140 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
In allen meinen Fällen von Platzangst fand ich dieses
Symptom als ein vorzüglich geeignetes Mittel, anderen, der
Umgebung, den Verwandten, dem Ehegenossen, den Ange-
stellten Pflichten aufzuerlegen, und ihnen wie ein Kaiser
und Gott Gesetze zu geben. Unter anderem geschieht dies
dadurch, daß die Abwesenheit oder Entfernung gewisser Per-
sonen durch Angstanfälle, aber auch durch Übelkeit oder
Erbrechen verhindert wird.!) Mir taucht jedesmal bei diesen
Fällen die Wesensverwandtheit mit dem gefangenen Papst,
dem Stellvertreter Gottes, auf, der gerade durch den Ver-
zicht auf seine eigene Freiheit die Verehrung der Gläubigen
steigert, ferner auch alle Potentaten zwingt, zu ihm zu kommen
(„Der Gang nach Canossa“), ohne daß sie auf einen Gegen-
besuch rechnen dürfen. Der Traum fällt in eine Zeit, als
dieses Kräftespiel schon offen zutage lag. Seine Interpretation
liegt auf der Hand. Die Träumerin versetzt sich in eine künftige
Situation, in der sie bereits aufstehen kann und auf Gesetzes-
übertretungen fahndet. Ihr ganzes Seelenleben ist durchtränkt
von der: Überzeugung, daß ohne sie nichts in Ordnung ge-
schehen könne. Diese Überzeugung verficht sie auch sonst
immer imLeben, setztjeden herab und bessertmitunheim-
licher Pedanterie alles aus. Ihr immer waches Mißtrauen
sucht stets bei anderen Fehler zu entdecken. Und sie ist derart
mit entsprechenden Erfahrungen in der Richtung des Miß-
trauens gesättigt, daß sie scharfsinniger wie andere manches
von den Fehlern anderer errät. O, sie weiß genau, was An-
gestellte treiben, wenn man sie allein läßt! Sie weiß ja auch,
was die Männer anstellen, sobald sie allein sind. Denn „alle
Männer sind gleich!“
Sie wird ohne Zweifel nach der Art ihrer Vorbereitung,
sobald sie genesen ist, eine große Anzahl von Versäumnissen
im Laden, der an die Wohnung grenzt, entdecken. Vielleicht
auch, daß Kartenspiele gespielt wurden. Am Tag nach dem
Traume aber befahl sie dem Stubenmädchen unter Vorwänden,
ihr die Spielkarten zu bringen, ließ auch die angestellten Mäd-
chen häufig an ihr Bett rufen, um ihnen immer wieder neue
Aufträge zu geben, und um sie zu überwachen. — Um die
1) Vgl. Adler, „Beiträge zum organischen Substrat der Neurosen‘‘, Osterreich. Ärzte-
zeitung 1912, H. 23 und 24 und einen Ausschnit aus der Krankengeschichte der obigen Patientin
in „Zur Rolle des Unbewußten (1. c.).
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 141
dunkle Zukunft zu erhellen, braucht sie bloß im Wissen des
Schlafes, entsprechend ihrem überspannten Ziel nach Über-
legenheit, passende Analogien aufzustöbern, die Fiktion von
der auch in der Einzelerfahrung zutage tretenden Wiederkehr
des Gleichen!) prinzipiell und wörtlich zu nehmen. Und
um schließlich nach ihrer Genesung recht zu behalten, war ja
nur nötig, das Maß ihrer Anforderungen höher zu stellen.
Fehler und Versäumnisse mußten dann wohl offenkundig
werden.
Als ein weiteres Beispiel der Traumdeutung möchte ich
jenen aus dem Altertume von Cicero überlieferten Traum des
Dichters Simonides benützen, an welchem ich schon früher
einmal („Zur Lehre vom Widerstand“ І. с.) еіп Stück meiner
Traumtheorie entwickelt habe. Eines Nachts, kurz vor einer
Reise nach Kleinasien, träumte Simonides, „ein Toter, den er
einst pietätvoll begraben hatte, warne ihn vor dieser Reise“.
Nach diesem Traume brach Simonides seine Reisevorbereitungen
ab und blieb zu Hause. Nach unserer Erfahrung in der Traum-
erkenntnis dürfen wir annehmen, daß Simonides diese Reise
gescheut habe. Und er verwendete den Toten,?) der ihm
verpflichtet schien, um sich mit den Schauern des Grabes,
mit Vorahnungen eines schrecklichen Endes dieser Reise zu
schrecken und zu sichern. Nach der Mitteilung des Er-
zählers soll das Schiff untergegangen sein, ein Ergebnis, das
dem Träumer in Analogie mit anderen Unglücksfällen längere
Zeit vorgeschwebt haben mag. Wäre übrigens das Schiff glück-
lich angelangt, wer hätte abergläubische Gemüter gehindert,
bestimmt anzunehmen, es wäre doch untergegangen, wenn
Simonides der warnenden Stimme kein Gehör geschenkt hätte
und mitgefahren wäre?
1) Die genauere Kenntnis dieser „Fiktion des Gleichen“, einer der wichtigsten Voraus-
setzungen des Denkens überhaupt und des Kausalitätsprinzipes verdanke ich meinem Freunde
und Mitarbeiter A. Häutler. S. „Fiktionen des Denkens‘. (Zts. f. Psychoanalyse. Im
Erscheinen.)
2) Über die Verwendung solcher bereitgestellter, affektauslösender Erinnerumgsbilder,
die eben den Zweck haben, Affekte und deren Folgen, vorsichtige Haltungen, aber auch
Ekel, Übelkeit, Angst, Furcht vor dem geschlechtlichen Partner, Ohnmacht und andere neu-
rotische Symptome hervorzurufen, wird noch ausführlich abzuhandeln sein, Vieles davon habe
ich im „Nervösen Charakter‘' (l.c.) als Gleichnis (z. B. als Inzestgleichnis, als Verbrechens-
gleichnis, als Oottähnlichkeit, als Größen- und Kleinheitswahn) auflösen können oder als
„Junktim‘‘ beschrieben. Soweit mir bekannt, ist nur Herr Professor Hamburger zu an-
nähernd ähnlichen Anschauungen gekommen. Eine ausführliche Schilderung dieser neurotischen
Arrangements erscheint in den „Jahreskursen für ärztl. Fortbildung‘‘, Mai 1913. Verlag von
Lehmann, München (,Individualpsychologische Behandlung der Neurosen‘').
142 GESCHLECHT UND OESELLSCHAFT
Wir sehen demnach zwei Arten von Versuchen, im Traume
vorauszudeuten, ein Problem zu lösen, das anzubahnen, was
der Träumer in einer Situation will. Und er wird es auf
Wegen versuchen, die seiner Persönlichkeit, seinem Wesen
und Charakter angemessen sind. Der Traum kann eine der
іп der Zukunft erwarteten Situationen als bereits gegeben dar-
stellen (Traum der Patientin mit Platzangst), um im Wachen
das Arrangement dieser Situation hinterher heimlich oder
offen durchzuführen. Der Dichter Simonides verwendet ein
altes Erlebnis, offenbar, um nicht zu fahren. Halten Sie hier
fest daran, daß es ein Erlebnis des Träumers ist, seine eigene
Auffassung von der Macht der Toten, seine eigene Situation,
in der ihm ein Entschluß not tut, zu reisen oder zu bleiben, —
erwägen Sie alle Möglichkeiten, dann drängt sich unweigerlich
der Eindruck auf, Simonides träumte diesen Traum, um sich
einen Wink zu geben, um sicher und ohne Schwanken zu
Hause zu bleiben. Wir dürfen wohl annehmen, daß unser
Dichter, auch ohne diesen Traum geträumt zu haben, zu Hause
geblieben wäre. Und unsere Patientin mit der Platzangst?
Warum träumt sie von der Nachlässigkeit und Unordentlich-
keit ihres Personals? Hört man daraus nicht deutlich die
Fortsetzung: „Wenn ich nicht dabei bin, geht alles drunter
und drüber, und wenn ich wieder gesund bin und die Zügel
in die Hand nehme, werde ich schon allen zeigen, daß es
ohne mich nicht geht.“ Wir dürfen demnach erwarten, daß
diese Frau bei ihrem ersten Erscheinen im Geschäfte allerlei
Entdeckungen von Pflichtvergessenheit, von Nachlässigkeiten
machen wird, denn sie wird ja mit Argusaugen zusehen, um
ihrer Idee von ihrer Überlegenheit gerecht zu werden. Sie
wird sicherlich recht behalten — und hat demnach im Traum
die Zukunft vorausgesehen.!)
Ich muß nun eine Erörterung einschalten, um einem Ein-
wand zu begegnen, der gewiß schon vielen auf der Zunge
sitzt. Wie will ich es denn erklären, daß der Traum auf die
zukünftige Gestaltung der Dinge Einfluß zu nehmen sucht, wo
doch die meisten unserer Träume unverständliches, oft albern
ı) Es läßt sich leicht erraten, daß Simonides, der als Dichter nach der Unsterblich-
keit zielte diesem Traum gemäß durch Todesfurcht konstelliert war, während die Patientin
mit t das fiktive Ziel eines Herrschertums, ein Königinnenideal verfolgte. Vgl. für
Individualpsychologische Ergebnisse über Schlaflosigkeit“ (Fortschritte der
913), wo unter anderem die Beziehungen kindlicher Todesfurcht zum ärzt-
rgehoben ist. (Erscheint nächstens.)
GESCHLECHT UND OESELLSCHAFT 143
scheinendes Zeug vorstellen? Die Wichtigkeit dieses Ein-
wandes leuchtet so sehr ein, daß die meisten der Autoren das
Wesentliche des Traumes in diesen bizarren, unorientierten,
unverständlichen Erscheinungen gesucht haben, diese zu er-
klären trachteten, oder, auf die Unverständlichkeit des Traum-
lebens gestützt, dessen Bedeutsamkeit geleugnet haben.
Scherner insbesondere von den neueren Autoren, und Freud
haben das Verdienst, eine Deutung der Rätsel des Traumes
versucht zu haben; letzterer hat, um seine Traumtheorie zu
stützen, nach welcher der Traum sozusagen ein Schwelgen in
kindlichen, unerfüllt gebliebenen, sexuellen Wünschen vor-
stellen sollte, in dieser Unverständlichkeit eine tendenziöse
Entstellung gesucht, als ob der Träumer, ungehindert von
seinen kulturellen Schranken, dennoch verbotene Wünsche in
der Phantasie befriedigen wollte. Diese Auffassung ist heute
ebenso unhaltbar geworden wie die Anschauung von der
sexuellen Grundlage der Nervenkrankheiten oder unseres
Kulturlebens. Die scheinbare Unverständlichkeit des Traumes
erklärt sich vor allem aus dem Umstande, daß der Traum
kein Mittel ist, um die zukünftige Situation zu erhaschen,
sondern bloß eine begleitende Erscheinung, eine Spiegelung
von Kräften, eine Spur und ein Beweis davon, daß Körper
und Geist einen Versuch des Vorausdenkens unternommen
haben, um der Persönlichkeit des Träumenden gerecht zu
werden im Hinblick auf eine bevorstehende Schwierigkeit.
Eine gedankliche Mitbewegung also, in ähnlicher Richtung
verlaufend wie der Charakter und wie das Wesen der Persön-
lichkeit es verlangen, in schwer verständlicher Sprache, die,
wo man sie versteht, nicht deutlich redet, aber andeutet, wohin
der Weg geht. — So notwendig die Verständlichkeit unseres
wachen Denkens und Redens ist, weil sie die Handlung vor-
bereiten, so überflüssig ist sie zumeist im Traume, der etwa
dem Rauch des Feuers zu vergleichen ist und nur zeigt, wo-
hin der Wind geht.
Anderseits kann uns aber der Rauch verraten, daß es
irgendwo Feuer gibt. Und zweitens kann uns die Erfahrung
darüber belehren, an dem Rauch über das Holz Aufschluß zu
gewinnen, das da brennt.
Zerlegt man einen Traum, der unverständlich erscheint,
in seine Bestandteile, und kann man von dem Träumer in Er-
144 GESCHLECHT UND OESELLSCHAFT
fahrung bringen, was diese einzelnen Teile für ihn bedeuten,
so muß sich bei einigem Fleiß und Scharfsinn der Eindruck
ergeben, daß hinter dem Traum Kräfte im Spiel waren, die
nach einer bestimmten Richtung streben. Diese Richtung wird
auch sonst im Leben dieses Menschen festgehalten erscheinen
und ist durch sein Persönlichkeitsideal bestimmt, durch die
von ihm als drückend empfundenen Schwierigkeiten und
Mängel. Man erhält also durch diese Betrachtung, die wir
wohl eine künstlerische nennen dürfen, die Lebenslinie des
Menschen, oder einen Teil derselben, wir sehen seinen un-
bewußten Lebensplan, nach welchem er der Anspannungen
des Lebens und seiner Unsicherheit Herr zu werden strebt.
Wir sehen auch die Umwege, die er macht, um des Gefühles
der Sicherheit wegen, und um einer Niederlage auszuweichen.
Und wir können den Traum ebenso wie jede andere seelische
Erscheinung, wie das Leben eines Menschen selbst dazu be-
nützen, um über seine Stellung in der Welt und zu der an-
derer Menschen Aufschlüsse zu erhalten. — Im Traume er-
folgt die Darstellung aller Durchgangspunkte des
Vorausdenkens mit den Mitteln der persönlichen Er-
fahrung.
Dies führt uns zu einem weiteren Verständnis der an-
fänglich unverständlichen Einzelheiten in dem Aufbau des
Traumes. Der Traum greift selten — und auch dann ist dies
bedingt — zu einer Darstellung, in der letzte Ereignisse, letzte
Bilder auftauchen. Sondern zur Lösung einer schwebenden
Frage klingen einfachere, abstraktere, kindlichere Gleichnisse
an, häufig an ausdrucksvollere, dichterische Bilder gemahnend.
So wird etwa eine drohende Entscheidung durch eine bevor-
stehende Schulprüfung ersetzt, ein starker Gegner durch einen
älteren Bruder, der Gedanke an einen Sieg durch einen Flug
in die Höhe, eine Gefahr durch einen Abgrund. Affekte, die
in den Traum hineinspielen, stammen immer aus der Vorbe-
reitung und aus dem Vorausdenken, aus der Sicherung für
das wirklich bevorstehende Problem.!) Die Einfachheit der
Traumszenen — einfach gegenüber den verwickelten Situa-
tionen des Lebens — entsprechen nur vollkommen den Ver-
suchen des Träumers, unter Ausschaltung der verwirrenden
ı) Verstärken sich aber tendenziös aus dem Traumbild, wern dies erforderlich ist.
L’EPOUSE INDISCRETE. Französischer Kupferstich von N. DE LAUNAY
nach einem Gemälde von P. A. BAUDOUIN. 1771.
Zu dem Aufsatz »Die eheliche Untreue«, Seite 97.
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GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 145
Vielheit der Kräfte, in einer Situation dadurch einen Ausweg
zu finden, daß er es unternimmt, eine Leitlinie zu verfolgen
nach Ähnlichkeit der einfachsten Verhältnisse. So wie etwa ein
Lehrer den Schüler frägt, der einer Frage nicht gewachsen
ist, der sich zum Beispiel keinen Rat weiß, was er bezüglich
der Fortpflanzung der Kraft zu antworten hätte: „Was ge-
schieht, wenn Ihnen jemand einen Stoß gibt?“ Käme zu dieser
letzten Frage ein Fremder ins Zimmer, er würde den fragen-
den Lehrer mit dem gleichen Unverständnis betrachten, wie
wir es tun, wenn man uns einen Traum erzählt.
Drittens aber hängt die Unverständlichkeit des Traumes
mit dem zuerst erörterten Problem zusammen, bei welchem
wir gesehen haben, daß zur Sicherheit des Handelns eine ins
Unbewußte versenkte Anschauung von der Zukunft gehört.
Diese Grundanschauung über das menschliche Denken und
Handeln, derzufolge eine unbewußte Leitlinie zu emem im Un-
bewußten liegenden Persönlichkeitsideal führt, habe ich in
meinem Buch „Über den nervösen Charakter“ (Bergmann,
Wiesbaden, 1912) ausführlich dargelegt. Der Aufbau dieses
Persönlichkeitsideales und der zu ihm hinführenden Leitlinien
enthalten das gleiche Gedanken- und Gefühlsmaterial, wie der
Traum und wie die Vorgänge, die hinter dem Traum stecken.
Der Zwang, der es ausmacht, daß das eine seelische Material
im Unbewußten verbleiben muß, drückt so sehr auf die Ge-
danken, Bilder und Gehörwahrnehmungen des Traumes, daß
diese, um die Einheit der Persönlichkeit nicht zu ge-
fährden, ebenfalls im Unbewußten, besser gesagt: unverständ-
lich bleiben müssen. Denken wir beispielsweise an den Traum
der Patientin mit Platzangst. Was sie eigentlich kraft ihres
unbewußten Persönlichkeitsideales anstrebt, ist die Herrschaft
über ihre Umgebung. Verstünde sie ihre Träume, so würde
ihr herrschsüchtiges Streben und Handeln der Kritik ihres
wachen Denkens weichen müssen. Da aber ihr wirkliches
Streben nach Herrschaft geht, muß der Traum unverständlich
sein. An diesem Punkte kann man auch begreifen, daß
seelische Erkrankungen, alle Formen von Nervosität, unhaltbar
werden und der Heilung entgegengehen, wenn es gelingt, die
überspannten Ziele des Nervösen ins Bewußtsein zu bringen
und dort abzuschleifen.
Geschlecht und Gesellschaft УШ, 3/4. 10
146 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Ich will nun an einem Traume einer Patientin, die wegen
Reizbarkeit und Selbstmordideen in meine Behandlung kam,
auszugsweise zeigen, wie sich die Deutung eines Traumes
durch den Patienten selbst vollzieht. Ich will besonders her-
vorheben, daß wir das Analogische der Traumgedanken jedes-
mal hervortreten sehen in dem „Als-Ob“,!) mit dem die träu-
mende Person die Erzählung beginnt. Die schwierige Situation
der Träumerin bestand darin, daß sie sich in den Mann ihrer
Schwester verliebt hatte. Der Traum lautet:
Ein Napoleon-Traum.?)
„Mir träumte, als ob ich im Tanzsaal wäre, ich hatte ein
hübsches blaues Kleid, war recht nett frisiert und tanzte mit
Napoleon.
Hierzu fällt mir folgendes ein:
Ich habe meinen Schwager zu N. erhoben, denn sonst
lohnte es sich nicht der Mühe, der Schwester ihren Mann
wegzunehmen. (D. h. ihr neurotisches Streben ist gar nicht
auf den Mann gerichtet, sondern darauf, der Schwester über-
legen zu sein) Um über die ganze Geschichte den Mantel
der Gerechtigkeit breiten zu können, ferner, um nicht den
Anschein zu erwecken, als ob mich die Rache, weil ich zu
spät gekommen bin, zu dieser Handlung veranlaßt hätte, muß
ich mich als Prinzessin Luise wähnen, mehr als die Schwester,
so zwar, daß es ganz natürlich erscheint, daß Napoleon sich
von seiner ersten Frau Josefine scheiden läßt, um sich eine
ebenbürtige Frau zu nehmen.
Was den Namen Luise betrifft, so habe ich denselben
längere Zeit hindurch geführt; es hat sich einmal ein junger
Mann nach meinem Vornamen erkundigt, und meine Kollegin,
wissend, daß mir Leopoldine nicht gefällt, sagte kurzweg, ich
heiße Luise.
Daß ich eine Prinzessin bin, träumt mir öfters (Leitlinie),
und zwar ist dies mein kolossaler Ehrgeiz, der mich im Traume
immer eine Brücke über die Kluft, die mich von den Aristo-
kraten trennt, finden läßt. Ferner ist diese Einbildung da-
1) Vgl. Vaihinger, „Die Philosophie des Als-Ob“, Berlin, Reuther u. Reichardt 1911,
dessen erkenntnis-theoretische Anschauungen auf anderen Gebieten mit meinen Auffassungen
in der Neurosenpsychologie vollkommen übereinstimmen.
2) Napoleon, Jesus, die Jungfrau von Orleans, Maria, aber auch der Kaiser, der Vater,
ein Onkel, die Mutter, ein Bruder etc. sind häufige Ersatzideale der aufgepeitschten Oier nach
Überlegenheit und stellen gleichfalls richtunggebende, affektauslösende Bereitschaften im Seelen-
leben des Nervösen dar.
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 147
rauf berechnet, beim Erwachen es um so schmerzlicher zu
empfinden, daß ich in der Fremde aufgewachsen und allein
und verlassen bin; die traurigen Gefühle, die mich dann be-
schleichen, setzen mich in den Stand, hart und grausam
gegen alle Menschen zu sein, die das Glück haben, mit
mir in Verbindung zu stehen.
Was nun N. betrifft, so will ich bloß bemerken, daß, nach-
dem ich nun einmal kein Mann bin, ich mich nur vor jenen
beugen will, die größer und mächtiger als die anderen sind;
übrigens würde mich dies nicht hindern, am Ende zu behaupten,
N. sei ein Einbrecher (Einbrecherträume). Auch würde ich
mich nur beugen, nicht etwa auch unterwerfen, denn ich
möchte den Mann, wie aus einem anderen Traume hervorgeht,
an einem Faden halten, und dann, dann will ich tanzen.
Das Tanzen muß mir gar vieles ersetzen, denn die Musik
hat einen kolossalen Einfluß auf mein Gemüt.
Wie oft hat mich bei irgend einem Konzert das sehnende
Verlangen überkommen, zu meinem Schwager zu eilen und
ihn halbtot küssen zu dürfen.
Um nun diesen Wunsch einem fremden Mann gegenüber
nicht in mir aufkommen zu lassen, muß ich mich mit der
ganzen Leidenschaft dem Tanze hingeben oder, für den Fall,
als ich nicht engagiert bin, mit zusammengepreßten Lippen
sitzen und finster vor mich hinblicken, um jede Annäherung
eines anderen unmöglich zu machen.
Ich wollte der Liebe nicht unterliegen, und meines Er-
achtens gehören Ball und Liebe zusammen.
Die blaue Farbe habe ich gewählt, weil sie mich am
besten kleidet, und ich von dem Wunsche beseelt war, einen
günstigen Eindruck auf N. zu machen; jetzt habe ich doch
schon das Bestreben, zu tanzen, was ich früher auch nicht
konnte.“
Von hier aus würde die Deutung noch viel weiter gehen,
um schließlich zu zeigen, daß der unbewußte Plan dieses
Mädchens bloß auf Herrschaft ausging, derzeit aber so weit
geändert und abgeschwächt ist, daß sie im Tanzen nicht mehr
eine persönliche Demütigung erblickt.
Ich bin am Schlusse angelangt. Wir haben gesehen, daß
der Traum eine für das Handeln wohl nebensächliche seelische
Erscheinung vorstellt, daß er aber wie in einer Spiegelung
10°
148 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Vorgänge und körperliche Attituden verraten kann, die
auf das spätere Handeln abzielen. Ist es demnach verwunder-
lich, daß die Volksseele aller Zeiten mit der Untrüglichkeit
eines allgemeinen Empfindens den Traum als ein auf die
Zukunft weisendes Gebilde aufnahm? Ein ganz Großer, der
wie in einem Brennpunkt alle Empfindungen der Menschen-
seele in sich vereinigte, Goethe, hat dieses „In-die-Zukunft-
schauen“ des Traumes und die darin verströmende vorbereitende
Kraft in einer Ballade herrlich gestaltet. Der Graf, der vom
heiligen Land in seine Burg heimkehrt, findet diese verwüstet
und leer. In der Nacht träumt er von einer Zwergenhochzeit.
Und der Schluß des Gedichtes lautet:
Und sollen wir singen, was weiter gescheh’n,
So schweige das Toben und Tosen.
Denn, was er, so artig, im kleinen geseh’n,
Erfuhr er, genoß er im großen.
Trompeten und klingender, singender Schall,
Und Wagen und Reiter und bräutlicher Schwall,
Sie kommen und zeigen und neigen sich all’,
Unzählige, selige Leute.
So ging es und geht es noch heute.
Der Eindruck, daß dieses Gedicht des Träumers Gedanken
auf Hochzeit und Kindersegen gerichtet zeigt, wird von dem
Dichter laut genug hervorgehoben.
(©
KÜNSTLER UND PROSTITUIERTE
Von LOTHAR EISEN.
ps ФАигёуШу hat eine grausame Geschichte ge-
schrieben: Die junge, köstlich schöne Frau eines spanischen
Granden ergibt sich der Prostitution, weil ihr Gatte einen
ihrer Anbeter, den sie leidenschaftlich liebte, meuchlings er-
mordet hat. Nun nimmt das junge Weib auf eine bizarre,
beinahe möchte man sagen ekelerregende Weise Rache an
dem Mörder; sie geht in einer schmutzigen Pariser Vorstadt-
gasse so lange der gewerbsmäßigen Unzucht nach, bis sie
mit einer fürchterlichen Krankheit behaftet wird und in einem
Vorstadtspital zu Grunde geht. Dieses Motiv von der Rache
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 149
der liebenden Frau, das bereits an und für sich typisch
ist und in die heimlichsten Abgründe der Frauenpsyche
hineinleuchtet, ist mit einem anderen nicht minder interessanten
“Problem verbunden, das durch den männlichen Partner des
Faubourgdramas, den Träumer einer Nacht, der aus dem
Munde der Prostituierten ihr grausames Erlebnis erfährt, in
den Sinn der Erzählung hinein getragen wird. Dieser Mann
ist nämlich ein Künstler, wenn auch weder Dichter noch
Maler, aber ein Künstler vom Schlage des Gautier'schen For-
tunio, der auch die ganze Kraft und Schönheit seiner Seele in
Träumereien und in einem originell stilisierten Alltagsleben
anwandte. Er hat allerdings etwas Ungesundes an sich, dieser
Dekadent aus der Schule Mussets und der Sataniker,
der in der phantastischen Novelle halb als Roman-
tiker, halb als Epikuräer sein Dasein führt. Aber er ist der
Typus einer interessanten Gruppe moderner Halbgenies: jener
jungen Künstler, die noch in irgend einer Mansarde ihr Atelier
aufgeschlagen haben, die aber bereits anspruchsvoller als die
ganz Großen träumen, sinnen, komponieren und die größte
Virtuosität im Verwerfen fremder Stile erlangt haben. Diese
etwas zahlreiche Jugend gefällt sich noch immer in der Pose
des Künstlers, der keinen anderen Zwecken als denen der
Stimmung und des Erlebnisses dient. Zur letzten Vollendung
fehlt ihnen nur der Balzac’sche Esprit und die Wilde’sche
Eleganz, denn das ist die Tragik alles Anfängertums: es hat
meist ein unverwüstliches Kapital an Luftschlössern und ein
bedauerliches Wenig an realen Gütern. Nur eines haben
sie, was sie ihren. Vorbildern aus der Schule der Heine, Musset,
Beaudelaire, Hille, Altenberg u. a. gleichkommen läßt, sie haben
zumeist ein merkwürdiges und unplatonisches Verhältnis mit
— Prostituierten,
In der Geschichte Barbey d’Aurevilly’s, deren Inhalt ich
oben zitiert habe, sucht der junge Elegant etwas, was man
allerdings in den Vorstadtstraßen besser findet als auf dem
glänzenden Asphaltpflaster der Avenuen, nämlich: die Massen-
psyche, die Seele des Proletariats. Man sieht, es ist ein
Künstler, der auf solchen Wegen wandelt; denn einem Durch-
schnittsmenschen würden so extreme Gedanken nicht kommen,
vielleicht auch keinem Mann, der das Leben aus künstlerischer
aber keiner so individualistisch ästhetischen Perspektive wertet
150 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
wie dieser Vertreter der modernsten Generation. Er sucht
also auf der Straße nach dem reinsten Ausdruck des
menschlichen Empfindens und findet es verkörpert in
einer Prostituierten. Ob diese These in Wirklichkeit doch nicht
etwas mehr bedeutet als die geistreiche Laune eines dämonischen
Schriftstellers bezw. die Ausgeburt eines genialen aber krank-
haften Künstlerhirnes? Warum lieben gerade die talentiertesten
und die empfindsamsten unserer Künstler vielfach diese Ver-
bindung mit einem Weibe aus der Hefe des Volkes, dessen
Lebenswandel auf die romantischen Vorstellungen und das
krankhafte Reinlichkeitsempfinden jedes Aestheten geradezu
Hohn spricht?! Und haben vice versa große Künstler, die
nicht Aestheten waren, weil ihre Künstlerschaft stärker als ihre
Eigenliebe war, jenen normalen — ich will absolut nicht
sagen gesunden — Abscheu vor dem bezahlten Mädchen der
Liebe empfunden, der etwa den braven, phantasielosen Gegen-
wartsbürger auszeichnet?
Bevor ich diese Frage beantworte, möchte ich auf eine
andere Geschichte hinweisen, die sich in dem herrlichsten
Gedichtbuch aller Zeiten, in der unsäglich feinen und menschlich
tiefen Philosophie der Bibel wie ein leuchtender Juwel einge-
fügt findet und die eigentlich den Beweis erbringt, daß auch
dem ganz großen und genialen Künstler die verworfene und
mißachtete Prostituierte immer ein inniges und bedeutsames
Problem war. Das ist die Erzählung von dem Nazarener
Christus und der Büßerin Maria Magdalena, die auf einer aus-
gezeichneten Seite des neuen Testamentes steht und für die
u. a. noch ein so feinsinniger Epigone wie Paul Heyse nach
einem bezeichnenden Ausdruck gesucht hat. Wer möchte den
Mann aus Bethlehem, der die Prostituierte Magdalena so tief
und schmerzvoll geliebt hat, einen Sataniker oder Aestheten
nennen? Wer möchte andererseits in ihm einen jener modernen
Globetrotter sehen, die die Quartiere des Elends aufsuchen,
um die Massenpsyche zu studieren, wie es die erzählenden
Franzosen mit Vorliebe ihre Helden tun lassen! Diese Ge-
schichte ist von einer erhabenen Tragik und sie muß irgend
eine Wahrheit, eine Menschlichkeit versinnbildlichen, denn sonst
stände sie nicht in dem tiefsinnigen Buch der Bücher. Frage:
fühlt sich demnach der wahrhaft geniale und künstlerische
Mensch zu einer Prostituierten mehr hingezogen als der nor-
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 151
male Durchschnittsmann, und wenn dem so ist, ist diese Vor-
liebe ein Symptom krankhafter Belastung, eine Aeußerung
pathologischer Instinkte, wie sie dem Künstler in der wissen-
schaftlichen Literatur in letzter Zeit wiederholt zugesprochen
wurden? Besondere feinere Instinkte ringen zweifelsohne
in dieser Hinneigung zu Frauen, deren Phantasie und Gefühls-
leben dem des Künstlers diametral entgegengesetzt ist, nach
Ausdruck. Das bedeutet aber keineswegs, daß das Genie, das
sich mit Vorliebe an eine Prostituierte hängt, femininer und
masochistischer veranlagt ist als der unbegabte Einzelne, noch
weniger, daß die Verbindung mit prostituierten Frauen dem
Künstler zur Aufpeitschung seiner Sinne und zur Befriedigung
zahlreicher perverser Gelüste dient. Diese Theorie nämlich
wird auch verfochten und eigentlich bildet sie die heimliche
Ueberzeugung jedes Philisters, der mit Augenzwinkern und
einem vielsagenden Lächeln von der derzeitigen Verworfenheit
der Kunst und Literatur spricht. Künstler suchen nur deswegen
die Annäherung an Prostituierte, sagt der moraltüchtige Laie,
weil sie keine Sittlichkeit und keine Religion anerkennen und
demnach in den Grundzügen ihrer Psyche den gewerbsmäßigen
unsittlichen Freudenmädchen verwandt sind. Hans Naivus
aber, der noch nicht die Erfahrung des Alters hat, denkt, daß
die Künstler Sendlinge der Barmherzigkeit sind, Leute, die eine
große wirkungsvolle Propaganda unter den Gefallenen anstiften
wollen, oder daß sie, motivhungrig wie jeder Ausdrucksbegabte,
nach Stoffen in den Tempeln der Liebe suchen. Denn: was
erlebt nicht eine Prostituierte in der Vorstellung des biederen
Bourgeois, welchen Zynismus’ und welcher Verworfenheit ist
sie nicht fähig, wenn sie doch die Liebe, die nur in ein kirchlich
und staatlich konzessioniertes Bett gehört, auf die Straße trägt!
Was erlebt nicht alles eine Prostituierte, die den Abschaum
der Menschheit zum täglichen Gast an ihrem Körper lädt und
die mit Hochstaplern, Erpressern, Dieben und Mördern ein
einträchtiges Bündnis geschlossen hat! Aber das ist das Ge-
heimnis des Künstlers, daß er gerade dann keine Stoffe sammelt,
wenn er mit dem Objekt seiner Wahl zusammen ist, denn
jeder Künstler ruht in der Liebe aus oder hat wenigstens das
Verlangen danach, auch dann noch, wenn das Weib, das sich
ihm schenkt, sensationelle Erlebnisse hat und eine Prostituierte
ist. Das Wieso werde ich begründen, wenn ich von den ge-
152 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
heimen Ursachen spreche, die den Künstler und die Prosti-
tuierte vorübergehend mit einander verketten können. Die
Bekehrungsversuche, von denen jedes Mädchen, das die ge-
werbliche Unzucht eine Zeit lang ausgeübt hat, erzählen kann,
gehen zumeist von jenen Jünglingen aus, die noch nicht wissen,
daß die Prostituierten vielleicht die einzige Kaste sind, aus der
die wenigsten Proselyten hervorgehen. Keine Prostituierte,
die einmal in diesem Milieu untergegangen ist, läßt sich voll-
ständig zu einem sittlichen Lebenswandel wieder bekehren,
auch nicht durch das Radikalmittel einer Ehe, wie die zahlreichen
Fälle aus letzter Zeit, u. a. der der Gräfin Strachwitz und der
Frau Wölfling beweisen. Daß ein echter Künstler an solche Un-
sinnigkeiten nicht denkt, beweist die „Maria Magdalena“ des
berühmten slavischen Dichters Johann Swatopluk Machar,
dessen Heldin sich von einem Phantasten bekehren läßt, und
die solange keusch bleibt, bis das Getuschel und die Nach-
rede der Umgebung den verflossenen, anrüchigen Stand ins
Gedächtnis zurückrufen. Das Ende ist, daß Machars Mag-
dalena, deren Seele keuscher und reiner als die zahlloser Halb-
jungfrauen der bürgerlichen Gesellschaft ist, in einer weichen
Frühlingsnacht in ihr früheres Bordell zurückkehrt.
Hetärismus, Prostitution und Askese vertragen sich eben
nur in dem Sinn, als die Askese ein potenziertes, sexuelles
Raffinement darstellt und die Selbsterniedrigung, die in jeder
Buße liegt, eines jener masochistischen Reizmittel darstellt, von
denen das ganze Gefühlsleben der Dirne durchzogen wird,
In Parenthese möchte ich übrigens bemerken, daß die Frömmig-
keit unter den Dirnen viel größer ist als wie man allgemein
annimmt, und daß. die gewöhnlichsten Prostituierten mitunter
in religiösen Dingen sich eine rührende Naivität erhalten
haben, die seltsam mit ihrer sonstigen Morallosigkeit kontrastiert.
Eine Prostituierte hatte über dem Bett, in dem sie ihre Gäste
empfing, ein Marienbild mit einer ewigen Lampe darunter
hängen, vor dem sie täglich ihre Andacht verrichtete. Eine
andere hatte unter den vielen Toilettegegenständen und den
Utensilien, die zur Ausübung ihres Berufes dienten, auf dem
Nachttischchen ein silbernes Kreuz stehen. Dirnen, die des
Morgens zum Abendmahl und in der Nacht darauf bereits
wiederum ihrem Gewerbe nachgehen, gehören zu keinen
Seltenheiten. Im großen und ganzen ist freilich so ein
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 153
Mädchen, das dem Moloch der Prostitution. anheim gefallen
ist, nie wieder bußfertig zu machen und alle derartigen Be-
richte, mögen sie sich nun in Büchern moderner Roman-
autoren und Dramatiker finden oder der Phantasie gewisser
Idealisten entsprungen sein, gehören in das Reich der Fabel.
Auch das Mittelalter dachte, jede Prostituierte müßte sich durch
die Segnungen der christlichen Kultur in eine Heilige um-
wandeln lassen. Das beweisen die Gründung zahlreicher
Beghinenhöfe und das Heer der „Reuerinnen“, das sich aus
bekehrten Dirnen rekrutierte. In Wirklichkeit und obwohl
ein Rückfall in das Schandgewerbe mit Auspeitschung und
Todesstrafe bedroht war, waren die Beghinenklöster die rich-
tigen Stätten der Unzucht und gaben der Obrigkeit, da sie
unter dem gewaltigen Schutz der Kirche standen, so manche
harte Nuß zu knacken. Davon sprechen die Fiugschriften
und die satirischen Gedichte aus jener Zeit Bände. In der
sozialen und Menschheitsgeschichte der Völker spielt die Dirne
eine große Rolle und gehört, weil zu den angefeindetsten,
gleichzeitig zu den unentbehrlichsten Objekten der privaten
und öffentlichen Wohlfahrt. Würde man eine Definition für
den Charakter der Dirne suchen, irgend ein Symbol, unter
dem ihre Erscheinung am besten zu fassen wäre, so müßte
man sie als die Verkörperung der Brautschaftsidee
unter der Menschheit aller Zeiten bezeichnen. Sie ist
dasselbe, was in einer anderen idealisierteren Einkleidung in
der christlichen Madonna angebetet wird: Die Inkarnation der
Liebe, der Schönheit, der Besinnlichkeit, der naturgewollten
Sexualität, von der sich ein Mensch nur dann lossagt, wenn
in ihm alle heiligen Feuer erloschen sind oder der gesunde
Instinkt von einem ungeheuren Gespinnst konventioneller
Lügen gefesselt ist.
Man müßte die Dirne mehr achten als bisher; denn sie
ist vielfach der einzige Lichtblick im Leben ungezählter Armer,
der Traum von Schönheit und Liebe, den auch der von der
bürgerlichen Gesellschaft Mißachtete und von der Natur stief-
mütterlich Bedachte träumen darf. Sie ist aber noch mehr
als das, eine Einrichtung von weittragender Bedeutung für die
öffentliche Wohlfahrt und Sicherheit, eine Schranke gegen das
Überhandnehmen des Verbrechens, indem sie viele Kräfte,
die sich sonst ungezügelt austoben würden, in andere vielleicht
154 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
gesündere Bahnen lenkt. Das ist ein Paradoxon und steht
in direktem Widerspruch zu dem, was man sonst über
Charakter und Schäden der Prostitution zu lesen und zu hören
gewöhnt ist. Aber es ist trotzdem wahr, wenn auch die
philiströse Moral unserer gegenwärtigen flachen Zeit durch
solche nachdenksamen Bonmots einen argen Stoß erfährt.
Wo soll denn die Jugend ihre gesunden und natürlichen
Kräfte spielen lassen, wenn nicht in dem gottgegebenen
Verhältnis zum Weibe, das seit Menschengedenken jenen
fruchtbaren Boden vorbereitet hat, aus dem später die Kulturen
hervorgegangen sind? Es ist aber eine alte Erfahrungstatsache,
daß der Geschlechtstrieb wie alles Große, das sich eruptiv
äußert, seine umwandelbare Kraft daraus schöpft, daß er
gleichzeitig auf der anderen Seite niederreißt, daß er also dort
destruktiv ist, wo die neuen, ungeahnten Möglichkeiten zu
Tage treten. Im Kleinen offenbart sich das in dem einfachen
Verhältnis zwischen Mann und Weib, sofern die höchste Be-
tätigung des Liebesempfindens gleichzeitig mit der Zerstörung
gewisser physischer Qualitäten Hand in Hand geht: Die
heimliche Stunde, in der sich zwei Liebende, die sich Monde
und Jahre hindurch vielleicht mit der ganzen Kraft ihrer Sehn-
sucht nach einander gesehnt haben, zur körperlichen Hingabe
aneinander zusammenfinden, bringt gleichzeitig den Gewaltakt
des Mannes auf die bis dahin unberührte Jungfräulichkeit des
Weibes mit sich, und dieser Akt ist brutal, schmerzhaft, die
Vernichtung eines natürlichen Zustandes, aber von weittragender
Bedeutung für den höheren, unendlich wichtigeren Beruf der
Frau. Würden nun die destruktiven Tendenzen des Geschlechts-
triebes, die in ihm tatsächlich vorhanden sind, nicht durch die
Freiheit der Liebe behoben, so würde die überschäumende
Kraft sich ein anderes Betätigungsfeld suchen, und es ist wohl
vorauszusehen, daß sie sich mit dem Verbrechen assoziieren
würde. Wäre die Prostitution nicht vorhanden, die bei dem
heutigen gesellschaftlichen Cant und bei der ungeheuren
Schwierigkeit, mit der sich Ehen anbahnen und vollziehen,
dem Manne die notwendigen Surrogate im Liebesleben bietet,
dann gäbe es soundsoviel Unglück mehr in der Welt,
würden soundsoviel Selbstmorde und Verbrechen mehr an
einem Tage begangen werden und das Ende wäre eine Kata-
strophe der Menschheit. Man muß es den Fanatikern, die
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 155
die Prostitution abschaffen möchten, rechtzeitig vor Augen
führen, daß wir ohne sie, wenigstens bei dem augenblicklichen
Stand der Dinge, unmöglich bestehen können, wenn wir
auch nicht mehr den mittelalterlichen Grundsatz vorschützen,
daß die Prostitution zur Abwehr der Angriffe auf ehrbare
Frauen bestehen müßte. Im übrigen mochte der Mann, der
zuerst den vorgenannten Grundsatz ausgesprochen hat, schon
damals eine Ahnung besessen haben, zu welcher wichtigen
Rolle die Prostitution in einer Kultur der Passivität und
dauernder Konvenienz berufen ist.
Ich habe diese geringe Abschweifung von dem ursprüng-
lichen Thema für nötig befunden, um vor allem den Einwurf
zu entkräftigen, daß die vorübergehende Verbindung Irgend-
jemands mit der Prostituierten, wenn sie nicht zu Zwecken der
Kuppelei und des Zuhältertums geschieht, anders als natürlich
zu werten sei. Die obige Definition der Prostitution wirft
ferner ein Streiflicht auf das Verhältnis des Künstlers zur Dirne
und läßt uns ahnen, warum Menschen von einer erlesenen
Geistigkeit und einem uferlosen Empfinden an Geschöpfen
einen Gefallen finden können, die von der Gesellschaft als
Parias und Schädlinge geachtet sind. Ich glaube die Tatsache,
daß es solche geniale Potenzen, die mit Prostituierten verkehrt
haben, gegeben hat, nicht aus der Geschichte belegen zu
müssen. Dichter, Philosophen, Staatsmänner, Gelehrte, Feld-
herren u. а., die im öffentlichen Leben eine prominente Stellung
eingenommen haben, haben wiederholt sich solchen Frauen
in die Arme geworfen, und was mit Rücksicht auf den Moral-
banausen gerade als tragikomisch bezeichnet werden muß,
man hört von den wenigsten, daß sie in diesen Verbindungen
wahrhaft unglücklich gewesen wären. Im Gegenteil haftet den
Verhältnissen genialer Männer mit Prostituierten nachträglich
ein romantisch poetischer Schimmer an, wie etwa der be-
rühmten und berüchtigten Freundschaft des genialen
Perikles mit der Hetäre Aspasia, den Liebschaften des
großen Alexander mit den drei schönsten der athenischen
Kourtisanen Thais, Chloë und Aspasia; der Maitressenwirtschaft
zahlreicher mittelalterlicher und neuzeitlicher Könige, der Liebe
des Admiral Nelson zu der Eva Gunning, die eine gewöhnliche
Hafenprostituierte war, Napoleons glühender Liebe zu der
skrupellosen Josefine Bauharnais — die nicht anders als eine
156 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
der größten Dirnen ihrer Zeit gewertet werden kann, wenn-
gleich sie offiziell dem Schandgewerbe nicht nachging — und
endlich Goethes zweideutigen, pikanten Abenteuern, von denen
man nicht weiß, wieviel darunter er mit Dienerinnen der Venus
vulgivaga erlebt hat. Blättert man in dem Liebes- und Ehe-
leben großer Männer nach, so findet man sehr viele, die Be-
friedigung außerhalb einer unglücklichen Ehe suchten und nur
ganz wenige, die vom Schlage des neuzeitlichen Giganten
Bismarck waren und ihr Glück in einem lebenslänglichen, ge-
setzlich unanfechtbaren Verhältnis zu Zweien fanden. Was
ist nun das Geheimnis, das den Künstler an die Prostituierte
bindet, und ihn ihre sonstigen zweifelsohne nicht immer ein-
wandfreien Qualitäten, vor allem die dauernde Unreinlichkeit,
mißachten läßt?
Jene Gruppe von Dekadents, die wie die französischen
Sataniker und die modernen Aestheten aus der Verbindung
mit Prostituierten einen koketten Spleen machen, möchte ich
nur bedingt heranziehen, sie sind für die Definition einer so
ernsten Erscheinung wie dieser nicht normgebend. Gerad de
Nerval trieb sich die längste Zeit mit Prostituierten herum,
bevor er sich in einer absinthtollen Nacht an den Laternenpfahl
einer Pariser Straße hängte. Er gefiel sich in dieser Pose,
weil sie zu seinem abgründigen Pessimismus wunderbar paßte
und ihm dauernd zu dem poetisch fruchtbaren Katzenjammer
verhalf. Die Jüngsten der Moderne finden es apart und
amüsant, mit Prostituierten intim zu verkehren, zum Teil auch,
weil bei ihnen wie bei dem hochbegabten und feinsinnigen
Wiener Peter Altenberg etwas in der Psyche tatsächlich nicht
in Ordnung ist. Aber abgesehen von den Melancholikern,
Wahnsinnigen und Absinthadepten ist die Vorliebe der Halb-
genies für Prostituiertenverhältnisse doch nur eine dämonische
Pose, wenn nicht — und das halte ich für das Primäre —
die Aeußerung eines unfruchtbaren Autoerotismus. Die
jungen Russen, bei denen Verhältnisse mit Prostituierten noch
häufiger als anderswo sind, zeigen untrüglich diese ungesunde,
autoerotische Konstitution. Gelegentlich meines letzten Aufent-
haltes in Prag lernte ich auch die bedeutendsten Köpfe der
hochmodernen tschechischen Dekadenz kennen, die eine Reihe
ernstzunehmender Künstler, wie den bizarren Georg Karasek
von Lwowic und den hochbegabten Arthur Breisky, einen
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 157
Essayisten vom vornehmen Geiste Wildes, hervorgebracht
hat. Autoerotiker, mehr kann man auch von dieser talentierten
Gruppe nicht sagen. Bezeichnend für sie ist das Anhängen
an die Prostitution und eine selbstgefällige Gefühlsvergeudung,
die mit Mysticismus und allerhand Perversitäten liebäugelt.
Von den Motiven dieser Handvoll von Kulturästheten,
die sich in allen Nationen finden, unterscheiden sich beträchtlich
die des wahren Künstlers, des wahrhaft genialen Menschen,
der mitunter für die Prostituierte eine seltsame, scheinbar
unerforschliche Passion fassen kann. Woher kommt sie, was
sucht sie? Beantworten wir diese Frage mit einem kurzen
vielbedeutenden Satz: sie kommt aus der Tiefe des Empfindens
und sucht — das Weib. Nicht die Frau, die sich mit ihrem
weiten geistigen Horizont brüstet, oder das Mädchen, dessen
gesunde Sinnlichkeit durch eine verschrobene und lügenhafte
Erziehung vorzeitig erstickt wurde; sondern das Weib, das
nichts anderes als ein solches ist, gleichsam die mensch-
gewordene Sexualität, die sich trotz gesellschaftlichem Firnis
und Moralkodex ihr unverfälschtes natürliches Gesicht erhalten
hat. Den ehrbaren Frauen wird es ungeheuerlich erscheinen,
wenn ich sage, daß die Prostituierte mehr Weib ist als sie,
und daß das Liebesleben der Dirnen natürlicher und frucht-
barer ist als wir in unserer Voreingenommenheit annehmen
möchten. Es ist aber tatsächlich so und der Künstler hat das Vor-
recht vor dem Durchschnittsmenschen, daß er das intensiver fühlt
und klarer sieht, weil er — auch das ein Vorzug und kein
Kennzeichen etwaiger Degeneration — sinnlicher als der
normal Veranlagte ist. Diese Sinnlichkeit sucht nach einem
entsprechenden Komplement, das er in der Prostituierten leichter
als in dem ehrbaren bürgerlichen Verhältnis findet. Denn die
Prostituierte ist nichts als Weib, beinahe der Sexus selbst,
und mithin eine Idee von höchster, faszinierender Bedeutung.
Der Künstler, der die Schönheit des Gedankens restlos zu
genießen vermag, muß auch das Leben ebenso restlos ge-
nießen dürfen, um ausruhen zu können. Es ist das Bekenntnis
zu dem eigentlichen Beruf des Weibes, das sich in dem
Gebahren der Prostitutierten uneingeschränkt manifestiert und
das infolgedessen den feinfühligen, genialen Mann unwider-
stehlich anzieht. Weil die Sinnlichkeit des Künstlers wie alle
seine Fähigkeiten intensiver als die anderer Menschen ist,
158 OE£SCHLECHT UND OESELLSCHAFT
leidet er unter den Fesseln, die dem Liebesleben der ehrbaren
Frau von der Gesellschaft auferlegt wurden, und sein mimosen-
haftes Empfinden fühlt in einem Verhältnis mit einer ehrbaren
Frau leicht ein Manko, das ihm selbst zum Verhängnis werden
kann. Es ist dann eine solche Verbindung zwischen dem
Künstler und dem von ihm geliebten Weibe eine Qual für
beide Teile, mehr aber noch für den Mann, weil ein unglück-
liches Liebesleben seine Emotivität und Feinhörigkeit allmählich
verhängnisvoll abstumpfen kann. Vielleicht ist es auch
die Erkenntnis von der wichtigen Mission, die die
Prostituierte im Liebes- und Kulturleben der Mensch-
heit erfüllt, die den Künstler zu ihr hintreibt und
vorübergehend in ihren Armen zu fesseln vermag.
Ganz sicher aber spielt sein ungebändigtes Freiheitsgefühl
hier mit, das durch das Verhältnis mit einer Prostituierten
zweifelsohne am wenigsten beeinträchtigt wird. Als Herren-
mensch verlangt der Künstler absolute Freiheit, um zur vollen
Entfaltung seiner Kräfte gelangen zu können. Er darf folglich
auch durch keine Liebe zu einem Weibe, die ihn zum Sklaven
herabdrücken könnte, in dieser Freiheit gehindert werden.
Dieser Gefahr ist er in einem Verhältnis zu einem käuflichen
Mädchen viel weniger als unter anderen Umständen und
namentlich in der Ehe ausgesetzt, denn die Prostituierte läßt
ihm seine unbedingte Freiheit, weil sie selbst von ihm eine
solche fordert. Dem normalen Menschen ist es unverständlich,
daß er ein Weib, das ihm angehört, gleichzeitig mit noch
anderen gleichgültigen, vielleicht unsympathischen Personen,
teilen soll. Aber die Toleranz des Künstlers gegen die Untreue
seines Verhältnisses ist gleichzeitig das Mittel, durch das er
sich gegen jede möglicherweise durch das Weib erhobene
Ansprüche auf seine persönliche Freiheit schützt. Das Be-
wußtsein der dauernden Untreue des Weibes läßt Sentimen-
talitäten nicht aufkommen; deshalb vermag der Künstler das
Weib in seiner Gänze und unabhängig von allen nachfolgenden
Konsequenzen zu genießen ....
Eine Ethik, die zweifelsohne eine hohe, Menschlichkeiten
wägende Urteilskraft bekundet, meldet sich in einer so gearteten
Praxis zu Worte. Der Künstler weiß, daß es im Charakter
jedes Weibes liegt, untreu zu sein, und daß die Treue
unter Umständen die Eigenschaft eines Mannes sein kann,
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 159
dagegen dem gesunden unverbildeten Weibe immer mangelt.
Der Beweis dieser These liegt in dem Umstand, daß eine Frau
einen Mann leidenschaftlich lieben kann, ihn aber gleichwohl
mit einem anderen hintergeht, ohne sich schuldig zu fühlen,
wie es so hübsch in der mittelalterlichen Legende vom
„Sperber“ erzählt ist. Die junge Frau, die ihren Ehegatten über
alle Maßen liebt, gibt sich dennoch um dreier kostbarer Gegen-
stände, eines Sperbers, eines Gürtels und eines Reitpferdes
willen, deren Besitz sie reizen, einem fremden Mann hin.
Man denkt, der Ehemann wird nun diese ungetreue Frau aus
dem Hause jagen? O nein; wohl unternimmt er in der
Bitterkeit seines Herzens eine Tournierfahrt, aber nach Jahr
und Tag findet er sich mit der ungetreuen Gattin wieder zu-
sammen und seine Liebe brennt heißer denn zuvor auf.
Ebenso hübsch, aber mit tieferen menschlichen Perspektiven
ist der gleiche Gedanke in der Erzählung vom Ritter und
König herausgestellt, die von der Tragödie der betrogenen
Ehemänner handelt, einer Tragödie, die im Grunde genommen,
eine banale Selbstverständlichkeit ist. Ein Ritter, der seine
Frau auf einer Untreue ertappt, trägt sein Herzeleid in die
Welt hinaus und trifft auf der Flucht vor seinem Unglück
einen König, dem dasselbe Leid widerfahren, und der infolge-
dessen ebenfalls auf die Wanderschaft gegangen war. Beide
ziehen nun durch die weite Welt, begleitet nur von einer
Freundin, in deren Besitz sie sich einträchtig teilen. Von der
Treue dieses Weibes sind beide felsenfest überzeugt, und um
sie vor Anfechtungen zu schützen, lassen sie sie des Nachts
in der Mitte ihres Bettes schlafen. Gerade aber dadurch ver-
mag die Ungetreue die vertrauensseligen Männer zu täuschen
und einen Dritten in dem eigenen Bette mit ihrer Gunst zu
beschenken, da jeder der beiden Schläfer immer denkt, es sei
der andere. Das Ende dieser Komödie menschlicher Irrungen
ist die Rückkehr der betrogenen Ehegatten zu ihren ungetreuen
Frauen und die versöhnende Moral, die sich am besten in
einer knappen Sentenz wiedergeben läßt: Männer sind
unter Umständen bedingt treu, aber es liegt im Wesen des
Weibes, daß es immer unbedingt untreu sein muß. Man sieht,
die mittelalterliche Weltanschauung war in gewissem Grade
fortschrittlicher als unsere vielgepriesene moderne Kultur, die
über das Problem der ehelichen Untreue ein Meer von Tinte
160 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
verschwendet hat und die ungetreuen Frauen mit Paragraphen
hetzt, die bereits vor 500 und mehr Jahren als lächerlich em-
pfunden und infolgedessen auch nicht angewandt wurden.
Und gerade um dieser Untreue willen, die ein wesentlicher
Charakterzug weiblichen Liebeslebens ist und die sich in den
Jahrtausenden nicht gewandelt hat, liebt der Künstler das
Weib und dessen eigentlichste Inkarnation die — Prostituierte,
in deren unreinen Hülle er reiner als in anderen Frauen die
gnadenreiche, natürliche, befreiende Sinnlichkeit wittert ....
(б
LEBEN, TOD UND DEGENERATION
IM VERHÄLTNIS ZUR GESCHLECHTLICHEN
FORTPFLANZUNG.
Von Prof. Dr. K. F. JORDAN (MAX KATTE).
D" ganze Welt des Lebenden muß ihren Ausgang von
gewissen einfachsten Urformen genommen haben, deren
heutige Repräsentanten wir im Protistenreich Haeckels zu
suchen haben, wenn sie nicht — in Gestalt eines Urplasmas
einst vorhanden — den Schauplatz der Erde verlassen haben,
also dem Tode anheimgefallen sind.
Dem Tode! Geheimnisvolles Wort; ebenso wie das Leben.
Zwei Gegensätze, die, sich gegenseitig ausschließend, doch
eng zusammen gehören; denn jedes Wesen, das ins Leben
getreten ist, verfällt — so scheint es — früher oder später dem
Untergang — es stirbt. Und es soll hier in erster Linie nicht
an den Tod durch Zufall (dieses Wort ohne philosophische
Hintergedanken verstanden, an den accidentellen oder
künstlichen Tod gedacht werden, wie er durch äußere Ur-
sachen bewirkt wird, die nicht in der Organisation des Individu-
ums und der Art gelegen sind, wie mechanische Vernichtung und
Krankheit, sondern an den natürlichen oder Alters-Tod; der
Tod durch Verhungern aus natürlichem Mangel an Nahrung
möchte — physiologisch — einen Übergang zwischen beiden
Arten des Sterbens darstellen.
Worin besteht der Tod? Und worin besteht das Leben? —
Wenn Emil Dubois-Reymond gesagt hat, daß das Leben eine
CERVIX-KARZINOM MIT SUBSERÖSEM MYOM DES
UTERUS. Nach Fehling. Lehrbuch der Frauenkrank-
heiten. Zu dem Aufsatz »Der Gebärmutterkrebs«, Seite 172.
BLUMENKOHLARTIGES KARZINOM DER PORTIO
VAGINALIS. (Nach Martin).
Zu dem Aufsatz Der Gebärmutterkrebs , Seite 172.
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 161
dynamische Erscheinung sei, dadurch charakterisiert, daß ein
Strom von Materie durch den Körper des Lebewesens hindurch-
gehe, so ist diese Definition doch zu allgemein gehalten und
faßt das Problem nicht tief genug. Denn es müßte weiter
gefragt werden, welche Ursachen diesen Strom zum Fließen
bringen und welche ihn hemmen oder ihn versiegen
lassen.
Angenommen, das Leben ist auf irgend eine Weise auf
der Erde erschienen: Warum war es nicht ewig? Oder ist
es ewig in der Gesamtheit der Lebewelt und führt es in deren
Teilen, den Individuen, zum Tode? Aber warum stellte sich
der Tod— wohlgemerkt: der natürliche oder Alters-Tod —
in den Individuen ein? Oder war er hier immer vorhanden?
Liegt es von Anfang an in der Organisation und dem physio-
logischen Gesamtprozeß eines jeden Lebewesens — in seinem
Vitalismus — begründet, daß das Leben ein endlich begrenztes
ist? Und welcher Art ist die Wirkung dieser Anlage?
Diese Fragen haben die Bedeutung, die ihnen von jeher
zukam, im Unterschied von jener anfangs aufgeworfenen Frage
nicht verloren. Und es stehen sich wichtige Ansichten hin-
sichtlich derselben gegenüber, über welche die Entscheidung
nicht leicht ist. Vor allem sind hier die beiden Forscher
August Weismann und Götte in Gegensatz zueinander ge-
treten, indem ersterer die Kontinuität des Lebens, die auf der
Kontinuität des Keimplasmas basiert sein soll, behauptete und
den natürlichen Tod als eine Anpassungserscheinung nach dem
Prinzip der Nützlichkeit, auf dem Wege der Selektion entstanden,
auffaßte; während Götte den Tod als eine im Wesen des
Lebens von vornherein gelegene Notwendigkeit erklärte, die
mit der Fortpflanzung verbunden, genauer: als eine Wirkung
derselben anzusehen sei.!) Die Fortpflanzung selbst faßt Götte
als einen Verjüngungsprozeß auf, bei dem das Plasma — sei
es durch eigene innere Umgestaltung (bei den durch Teilung
sich fortpflanzenden Lebewesen) oder durch Mischung der
Keimplasmen zweier verschiedener Wesen, wie sie bei der
geschlechtlichen Vereinigung stattfindet — von neuem lebens-
fähig wird; so daß also eine durch alle Generationen hindurch
andauernde Erneuerung des Lebens und damit gewissermaßen
1) Vergl. A. Weismann, Über Leben und Tod. 2. Aufl. Jena, 1892.
Geschlecht und Gesellschaft, VIII, 34. 11
162 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
der Schöpfung die Natur beherrscht — ein Gedanke, der von
vornherein etwas Sympathisches an sich hat, weil er das Ge-
triebe des Lebens nicht wie einen abrollenden Mechanismus
sich selbst überläßt. Es fragt sich indessen, ob er angesichts
der Erscheinungen im einzelnen Stich hält und sie ausreichend
erklärt.
Auf alle Fälle ist ersichtlich, daß Leben und Tod im Zu-
sammenhange mit der Fortpflanzung aufgefaßt werden müssen,
wenn man zu einer befriedigenden Ansicht über sie ge-
langen will.
Aber noch eine dritte Anschauung könnte neben denen
von Weismann und Götte geltend gemacht werden; nämlich
die, daß überhaupt nicht die Fortpflanzung das Erste, also
dem Tode Vorhergehende war, sondern daß sie — im Verlaufe
des Kampfes ums Dasein — erst mit dem Tode eingeführt
wurde, und zwar in der Weise, daß sie denjenigen Lebewesen
die Weiterexistenz (als Typen, nicht als Individuen) sicherte,
bei denen sie — zuerst durch Teilung und später durch ge-
schlechtliche Vermischung — zufällig auftrat. So hätten sich
Arten bilden können, denen die Fortpflanzung konstitutionell
innewohnte und die sich daher nicht nur selbst erhielten,
sondern auch die Entstehung neuer Arten ermöglichten,
indem erworbene Eigenschaften bei ihnen erblich wurden.
Diese dritte denkbare Ansicht setzt aber gleichfalls vor-
aus, daß in der lebenden Substanz von Anfang an die Ursache
des Todes gelegen ist.
Wollen wir zu naturwissenschaftlich befriedigender Klärung
unserer Fragen kommen, so müssen wir vielmehr noch ein-
mal an diejenige von ihnen speziell anknüpfen, die im Mittel-
punkte aller übrigen steht: was ist das Leben?
Wir sehen unzweifelhaft einen Unterschied zwischen der
leblosen und der belebten Schöpfung. Und wenn auch die
neuere Chemie seit Wöhler (1828) gezeigt hat, daß die organi-
schen Substanzen, die früher nur als innerhalb lebender Wesen
und durch den Lebensprozeß erzeugt galten, mehr und mehr auch
außerhalb der Organismen aus organischen Stoffen synthetisch
aufgebaut werden können, so gilt dies doch nur von diesen
organischen Substanzen, nicht von dem Leben oder den
Lebensvorgängen der Organismen selbst, nicht von solchen
Substanzen im lebenden Zustand.
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 163
Der gesamte Vitalismus geht von einer Grundsubstanz:
dem Protoplasma oder Plasma aus; und es ist, wenn auch
nicht in chemischer, so doch physiologischer Hinsicht ein
gewaltiger Unterschied zwischen dem lebenden und dem toten
Plasma. Andererseits wissen wir, daß Leben irgend welcher
Art oder alle Lebenserscheinungen als Bewegung aufzufassen
sind. Folglich müssen wir schließen, daß vom lebenden Plasma
Bewegung verursacht wird. Diese kann aber nur auf be-
wegten Massenteilchen beruhen. Es ergibt sich somit, daß
das Plasma die Eigenschaft besitzt, Massenteilchen abzusondern,
die in Bewegung begriffen sind, also lebendige Kraft repräsen-
tieren und daher im Stande sind, weitere Bewegungserschei-
nungen zu bewirken. Mit der Frage: wie und warum das
Plasma dies fertig bringt, sind wir allerdings an der Grenze
unseres Erkennens angelangt. Aber ein Blick auf die Summe
neuerer Ergebnisse im Gebiete der physikalischen Forschung
gibt uns, wenn auch nicht eine Erklärung unseres Problems,
so doch eine Stütze für die Stichhaltigkeit unserer auf den
Tatsachen fußenden Deduktionen: ich meine die Untersuchungen
über die Radioaktivität. Halten wir uns nur an die Beobach-
tungen über das Radium selbst, so steht fest, daß die von
diesem ausgehenden und unabsehbare Zeit andauernden
Wirkungen auf die Absonderung kleinster Stoffteilchen — die
sogen. Emanationen — zurückzuführen sind. Manche Forscher
fürchteten schon, daß die Erscheinungen am Radium das
Gesetz von der Erhaltung der Energie ins Wanken zu bringen
geeignet wären; indessen scheint es nach den Experimenten und
ist außerdem naheliegend anzunehmen, daß dieRadium-Emanatio-
nen zwar außerordentlich lange, aber nicht unbegrenzt vor
sich gehen können, so daß schließlich doch einmal eine
Art physikalischen Todes einer bestimmten Radium-Menge
eintreten muß — möglicherweise dann erst, wenn diese selbst
(durch Stoffverlust) völlig zerstört ist.
Das Wichtige und Wesentliche bei dem Prozesse des
Lebens bilden nach unseren Ausführungen die Absonderungen
des Plasmas. Daß solche Absonderungen, denen eine mehr
oder weniger weitgehende Zersetzung des Gesamtplasmas
vorhergehen muß, tatsächlich stattfinden, erhält dadurch seine
Bestätigung, daß das Plasma durch die Lebensvorgänge ver-
braucht wird. Die Absonderungen nehmen ihren Weg nach
11°
164 GESCHLECHT UND QESELLSCHAFT
außen, da sie in keinem Zusammenhange mehr mit dem übrigen
Plasma stehen, und dieses ist schließlich nicht mehr fähig,
weitere Lebenserscheinungen auszulösen. Es muß daher aus
dem Organismus fortgeschafft werden, was dadurch geschieht,
daß das Lebewesen atmet, d.h. Sauerstoff aus der Luft in
sich aufnimmt, der eine Oxydation — eine Art Verbrennung —
mit dem lebensunfähigen Plasma-Reste vornimmt. Hierbei
entsteht Wärme und somit neue Energie für die Bewegung
weiterer Plasma-Absonderungen. Der Ersatz des verbrauchten
Plasmas erfolgt auf dem Wege der Nahrungsaufnahme. Die
Nahrungsstoffe werden durch die Wirksamkeit des noch im
Organismus vorhandenen lebenden Plasmas assimiliert d. h.
selbst in Plasma-Substanz (sowie die anderweitigen Stoffe
des Körpers) umgewandelt; wie dies geschieht, ist nur im
Gröberen bekannt als Verdauung; die genaueren cellularen
und molekularen Vorgänge sind uns verschleiert.
Die Assimilation ist nun bei den verschiedenen Lebewesen
voneinander abweichend, und hierdurch kompliziert sich das
Phänomen noch mehr und setzt unserm Verständnis erhöhte
Schwierigkeit entgegen; denn wir sehen das Reich des Lebenden
in zahlreiche Gruppen: Klassen, Ordnungen, Familien, Gat-
tungen, Arten und Individuen getrennt; und das Plasma jedes
Wesens und jeder Wesensgruppe baut den Organismus in
eigenartiger — spezifischer — Weise auf. Somit müssen äußerst
mannigfaltige Unterschiede in der Beschaffenheit oder der
Zusammensetzung der Plasmen sämtlicher Lebewesen vor-
handen sein, und da dem Chemiker dieselben unbekannt sind,
ist anzunehmen, daß sie nicht im Molekül des Plasmas, sondern
in den als Anhänge desselben zu denkenden, unendlich feinen
und flüchtigen Plasma-Absonderungen liegen, während der
Plasma-Rest durchweg den gleichen oder nahezu gleichen
Stoff repräsentiert.
Durch unsere Betrachtungen sind wir auf eine Hypothese
geführt worden, die vor ungefähr 35 Jahren Gustav Jäger іп
seinem „Lehrbuch der allgemeinen Zoologie“ (2. u. 3. Abteilung)
entwickelt hat. Er unterscheidet den Plasma-Kern von den
Plasma-Anhängen und bezeichnet die letzteren als Lebensstoffe
oder Lebensagens; ihnen schreibt er insbesondere die vis
formativa, die gestaltbildende Kraft des Organismus, zu. Daß
er auf sie den spezifischen Geruch der Lebewesen, den Klas-
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 165
sen- und Individualgeruch zurückführt, ändert den entwickelten
Hauptinhalt der Hypothese nicht.
Auch August Weismanns Keimplasma-Theorie steht diesen
Anschauungen nicht fern, wenngleich er Plasma-Kern und
-Anhänge nicht auseinanderhält. Er nimmt eine Zusammen-
setzung des Plasmas und zwar speziell des Kernplasmas d. h.
des Plasmas des Zellkerns, nicht zu verwechseln mit dem
zuvor genannten Plasma-Kern aus elementaren Bestandteilen
an, welche er als die Fakoren der Vererbung betrachtet. Der
plasmatische Inhalt einer Zelle gliedert sich bekanntlich in
den Zellkern und den übrigen Zellinhalt. In dem Zellkern
beobachtete man ein oder mehrere Kernkörperchen oder Nuc-
leoli, denen aber nach neueren Forschungen nicht die ihnen
früher zugeschriebene hohe Bedeutung innewohnt, sondern
die vergängliche Gebilde, bloße Ansammlung organischen
Stoffes — „Zwischenprodukte des Stoffwechsels“ sind. Wohl
aber spielt nach Weismann!) die wichtigste Rolle bei der
Vererbung das Chromatin, jener aus feinen Körnchen besteh-
ende, in das zarte Netzwerk des Zellkerns eingebettete Stoff,
der sich durch Zusatz von Farbstoffen (Karmin, Hämatoxylin,
Anilinfarben usw.) tief färbt und daher seinen Namen hat.
Es ist derselbe Stoff, dessen Existenz Nägeli vorahnte und
theoretisch annahm und dem er den Namen Idioplasma gab.?)
Die Chromatinkörnchen treten, was bei der Kern- und Zell-
teilung zu beobachten ist, zu einem langen, knäuelförmig ge-
wundenen Faden zusammen, der dann in eine Anzahl gleich-
langer Stücke zerfällt: Chromosomen genannt. Die Chromo-
somen der Keimzelle eines Individuums sind nun nach
Weismann entweder ganz oder in ihren Teilen die Anlagen-
komplexe für das zukünftige Lebewesen — biologische Ein-
heiten also, die er Ide nennt. Jedes Id enthält alle Teile zu
dem werdenden Lebewesen als einzelne Anlagen in sich. Diese
Anlagen heißen Determinanten, Bestimmungsstücke des
sich entwickelnden Organismus. Sie sind wiederum zusammen-
gesetzt aus den Biophoren oder Lebensträgern — Gemengen
von chemischen Molekülen, die organisiert sind, d. h. nicht
wie tote Körpermaterie vom Stoffwechsel zersetzt und zerstört
ı) „Vorträge über Descendenztheorie'. 2. Aufl. Jena, 1904. Bd. 1, S. 234 u. f.
2) Idioplasma — eine das Wesen (die Gestalt, &ıdog) bestimmende Lebenssubstanz.
166 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
werden, sondern den Stoffwechsel beherrschen: assimilieren
und wachsen.
Die Entwicklung eines einzelnen Lebewesens (die On-
togenese) denkt sich nun Weismann in der Weise, daß nach
und nach eine Anzahl Determinanten aktiv werden, indem
sie sich in die sie zusammensetzenden Biophoren auf-
lösen, welche durch die Kernmembran hindurch in den Zell-
körper auswandern. Dort tritt dann zwischen ihnen und den
schon vorhandenen Elementen des Protoplasmas ein Kampf
um Raum und Nahrung ein, der zu einer schwächeren oder
stärkeren Umgestaltung des Zellenbaues führt.!) — Nur solche
Eigenschaften eines Individuums werden vererbt, welchen be-
stimmte Determinanten im Keimplasma entsprechen. So wird
also z. B. das Junge eines männlichen und eines weiblichen
Hundes, denen die Schwänze abgehauen worden, nicht schwanz-
los, sondern normal geschwänzt geboren, da die Summe der
Determinanten in dem von den elterlichen Tieren erzeugten
Keimplasma, aus dem das Junge entsteht, durch jene äußer-
liche Körperveränderung keine Modifikation erfahren hat.
Auf den Zerfall und das Aktivwerden der Determinanten
muß auch der übrige Lebensprozeß zurückgeführt werden, denn
die Gestaltbildung bei der Ontogenese ist nur eine Seite des
Wachstums und dieses ein Teil des Lebensprozesses, da fort-
gesetzt, auch wenn das Individuum „ausgewachsen“ ist, ein
Ersatz der verbrauchten Bestandteile des Körpers durch Neu-
bildungen, also ein Nachwachsen stattfindet.
Mögen wir uns nun die vorstehend im Umriß wieder-
gegebene, spezialisierte Lehre Weismanns zu eigen machen
oder die allgemeiner gehaltene Gustav Jägersche Theorie oder
endlich eine Kombination beider: immer haben wir es mit der
Annahme zu tun, daß das eigentliche Leben auf einer Auf-
lösung, einer Zersetzung lebenerzeugender Substanz beruht.
Durch das dieser Substanz innewohnende Vermögen der Assimi-
lation, also der Umgestaltung der aufgenommenen Nahrungs-
stoffe zu ähnlicher Substanz, vollzieht sich ein andauernder
Ersatz der verbrauchten Substanz, mit anderen Worten: des
zersetzten Plasmas, mag es nun nur Kernplasma oder auch
übriges Zellplasma sein. Hierbei aber liegt die Annahme nahe,
daß dieser Ersatz nicht bis in alle Ewigkeit der gleiche, voll-
1) A. Weismann, Vorträge über Descendenztheorie. Bd. 1. S. 310.
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 167
ständige ist. Im Anfange des Lebens, wo die Eizelle von dem
frisch gebildeten Plasma erfüllt ist und dessen Zersetzung
erst beginnt, steigt der Ersatz über das Maß des Verbrauches
hinaus, und das Individuum nimmt an Größe und Differenzierung
seiner Formbeschaffenheit zu. Auch nach dem embryonalen
Zustand vollzieht sich noch ein weiteres Wachstum, bis ein
Höhepunkt erreicht ist. Das Leben läuft nun eine Zeitlang
auf gleichbleibendem Niveau, bis der Ersatz geringer wird.
Wieso kann das geschehen? — Wir müssen immer bedenken,
daß dasjenige, was von dem lebenden Plasma assimiliert wird,
toter, ja sogar durch die Verdauung wesentlich vereinfachter
Stoff ist, aus dem das Lebensagens (bestehe es nun aus
Jägers „Protoplasma-Anhängen“ oder Weismanns „Determinan-
ten“ bezw. „Biophoren“) neues lebendes Plasma schaffen soll.
Weil also die Stoffmenge zunimmt und das Leben sich auf
die Gesamtheit derselben übertragen soll, so kann dies, da
ferner ein Teil des Lebensagens in die Umgebung entweiche,
nach den Gesetzen von der Erhaltung des Stoffes und der
Erhaltung der Energie nicht ohne allmählichen Verlust an
Lebensagens und Lebensenergie pro Stoffeinheit geschehen
und das schließliche Ergebnis muß der Tod sein.
Es ist dies eine Folgerung, die sich weder mit der Weis-
mannschen noch mit der Götteschen Ansicht vom Tode völ-
lig deckt. Fragen wir, ob sie beiden gegenüber Stich hält.
Weismann betont, wie angegeben, die Kontinuität des
Lebens, und er sucht dies in seinen Schriften „Über die Dauer
des Lebens“!) und „Über Leben und Tod“2) sowohl für die
Protozoen wie die Metazoen nachzuweisen. Zu den Proto-
zoen stellt er die Monoplastiden oder Einzelligen und dieje-
nigen Polyplastiden (Vielzelligen), bei denen gesonderte Keim-
zellen fehlen und die daher als Homoplastiden (Gleichzellige)
zu bezeichnen sind; die Metazoen sind die Poliplastiden mit
Keimzellen, auch Heteroplastiden (oder Verschiedenzellige)
genannt.
Bei den Monoplastiden, die sich durch Teilung fortpflanzen,
und den Homoplastiden, deren Fortpflanzung durch Zerfall
des Zellkomplexes, aus dem sie bestehen, geschieht, schreibt
Weismann dem Plasma ohne weiteres ewige Dauer zu. Götte
weist demgegenüber auf den Prozeß der Encystierung (oder
~ i) Jena, 1882. 2) Jena, 1883; 2. Aufl. 1892.
168 GESCHLECHT UND OESELLSCHAFT
Verkapselung) bei den Monoplastiden hin, den er als das
Aufhören des Daseins, also als Tod, und zugleich als Fort-
pflanzungsakt ansieht. Das encystierte Individuum sterbe, in-
dem das Plasma seine spezifische Struktur und Organisation
verliere und zu einer homogenen Masse werde; es finde nun
innerhalb der Cyste ein Verjüngungsprozeß statt, der ein
neues Individuum schaffe, das sich später wieder durch Tei-
Jung vermehren kann. Dieser Verjüngungsprozeß entspreche
der Keimbildung der höheren Organismen, und das in ihm
enthaltene Todes-Moment werde durch Vererbung auf die Meta-
zoen übertragen.
Weismann bestreitet die Richtigkeit dieser Anschauung,
indem er der Encystierung lediglich die Bedeutung einer Schutz-
einrichtung gegen äußere schädliche Einflüsse, wie Austrock-
nung oder faulige Verderbnis des Wassers, beilegt und die
Fortpflanzung einzig und allein in der Teilung erblickt. In
etzterer Hinsicht muß ihm unzweifelhaft Recht gegeben werden,
denn neue Individuen gehen immer aus Teilen des elterlichen
Organismus hervor, wieesja auch bei der geschlechtlichen
Fortpflanzung der Fall ist. Sonst müßte man auch (nach Götte)
den Schmetterling als ein Fortpflanzungsprodukt der Raupe
ansehen, da in dem Zwischenstadium der Puppe ebenfalls
eine völlige Auflösung und Neugestaltung des Körpers vor sich
geht. In Wahrheit ist der Schmetterling, wie niemand bestreiten
wird, dasselbe Individuum wie die Raupe, und es hat nur eine
Metamorphose im Puppenzustand stattgefunden.
Anders verhält es sich mit der Götteschen Ansicht über
die Verjüngung während der Encystierung. Nach meinen Aus-
führungen über die Zersetzung des Plasmas durch den Lebens-
prozeß, die schließlich zu einem Absterben desselben — zum
Tode — führen muß, kann nur eine Erneuerung des Plasmas
die Erhaltung des Lebens im Verlaufe der Generationen bewirken.
Diese erfolgt während der Encystierung; denn innerhalb der
Cyste ist die Plasma-Substanz sowohl vor äußeren Reizen wie
vor der Aufnahme von Sauerstoff geschützt, so daß sie — bereits
eines großen Teils ihrer Anhänge beraubt und also nahezu auf
den Plasma-Kern (nicht zu verwechseln mit dem Zellkern)
reduziert — mit der zuvor reichlich aufgenommenen Nahrung
sich chemisch derartig umsetzen kann, daß sich ein neues
lebensfähiges Plasma bildet.
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 169
Hiernach ist also der Tod nicht ursächlich mit der Fort-
pflanzung verbunden, wie Götte meint; aber auch eine ewige
Dauer des Lebens kann an sich nicht angenommen werden, wie
es Weismanns Ansicht ist, sondern nur durch die geschilderte
Art der Verjüngung ist der Fortbestand des Lebens gesichert,
Es fragt sich nun, ob — wie es im Anfange dieser Dar-
stellung als denkbar hingestellt wurde — die Fortpflanzung
im Verlaufe des Kampfes ums Dasein eingeführt wurde, indem
sich diejenigen Arten unter den Lebewesen erhielten, bei denen
sie zufällig auftrat.
Diese Ansicht kann nicht als wahrscheinlich gelten; denn die
Fortpflanzung ist eine besondere Form des Wachstums, nämlich
das Wachstum über eine gewisse Grenze hinaus. Bei den
Monoplastiden ist diese Grenze dadurch gegeben, daß der Körper
bei einer zu bedeutenden Größe die aufgenommene vom Zell-
kern aus nicht mehr gleichmäßig zu verteilen und verarbeiten
imstande ist, so daß seine Trennung erfolgen muß. Bei den
Polyplastiden muß der Kern der Keimzelle, zumal im Falle der
geschlechtlichen Fortpflanzung infolge der Vermischung der
männlichen und weiblichen Zeugungselemente, als zu kompliziert
betrachtet werden, als daß er sich noch in die Gesamtfunktionen
des mütterlichen Organismus einfügen könnte. Er vermag
vielmehr, mit allen ursprünglichen Plasma-Anhängen ausgestattet,
ein selbständiges Leben zu beginnen, d. h. die Entstehung eines
neuen Individuums einzuleiten.
Nach dieser Auffassung erscheint die geschlechtliche Fort-
pflanzung als ein besonderer Akt der Verjüngung, und zwar
als eine — wenn man so sagen darf — gesteigerte oderpoten-
zierte Verjüngung. Dadurch nämlich, daß eine Vermischung
zweier verschiedenartiger Keimplasmen nebst ihren Anhängen —
eine sogenannte Amphimixis — erfolgt, wird ein an Plasma-
Anhängen oder Lebensagens (nach Gustav Jäger) besonders
reiches Plasma geschaffen, und eine bald eintretende, weitgehende
Zersetzung desselben, mit anderen Worten: eine Degeneration
des Plasmas und damit der daraus aufgebauten Lebewesen ist
nicht zu befürchten.
Hiermit komme ich auf einen Gedanken zurück, den ich in
meinem Artikel „Merkwürdigkeiten im Sexualleben der Pflanzen“
(vergl. Geschl. u. Ges. 7. Band. 10. Heft. S. 431 ff.) ausgesprochen
habe: daß die Natur mit der Sexualität nicht den alleinigen
170 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Zweck der Erhaltung der Lebewelt verfolgt haben könne, sondern
durch die Vermischung nicht zu ähnlicher Keimstoffe der Ge-
fahr eines Niederganges der Entwicklung vorgebeugt, ja gerade
die Fortbildung der Lebewelt zu höheren Formen ermöglicht
habe; durch die Keimmischung bei der geschlechtlichen Fort-
pflanzung trete eine Erneuerung des Plasmas ein — ein
Vorgang, den ich in den obigen Erörterungen mit Götte als
Verjüngung bezeichnet habe.
Die Verjüngung ist etwas Notwendiges für den Fortbestand
der lebendigen Schöpfung. Bei den Monoplastiden vollzieht sie
sich während der Encystierung, bei den Polyplastiden ganz über-
wiegend auf dem Wege der geschlechtlichen Fortpflanzung durch
die Amphimixis. In dieser ist die Möglichkeit mannigfachster
Kombination von Plasma-Anhängen oder nach Weismannscher
Auffassung von Determinanten bezw. Biophoren gegeben, d. h.
also der Entstehung immer neuer Variationen des Keimplasmas
und der daraus sich entwickelnden Lebewesen. Diese Variabilität
aber gestattet unter Hinzutritt der durch den Kampf ums Dasein
geregelten Selektion die Heranbildung vollkommenerer Arten,
Bei der mit der Entstehung eines neuen Lebewesens ver-
bundenen Verjüngung kommt es nicht in erster Linie auf die
Quantität der Plasma-Anhänge oder des Lebensagens, sondern
auf dessen Qualität, genauer auf die Reichhaltigkeit seiner Struk-
tur, seiner molekularen Zusammensetzung an. Dadurch
erklärt es sich denn auch, daß mitInzucht oder gar Inzest, die
auf der Vereinigung all zu gleichartiger Keimplasmen beruhen,
trotzdem auch sie eine Art der geschlechtlichen Fortpflanzung
darstellen, doch eine Degeneration verbunden ist. Daß anderer-
seits zu weit voneinander abstehende Arten von Lebewesen
sich nicht zu befruchten und Bastardezu erzeugen vermögen,
kommt daher, daß ihre Keimplasmen zu unähnlich sind, als
daß eine haltbare Kombination eintreten könnte,
Eine Stütze der vorstehend entwickelten Ansicht von der
Bedeutung der Amphimixis bieten die bewundernswerten Unter-
suchungen von Maupas, der Kolonien von lufusorien künstlich
(und zwar besonders durch üppige Ernährung) an der Konjugation
verhinderte, wodurch allmählich (wenn auch oft nach Hunderten
von Generationen) eine Entartung eintrat, die Maupas als senile
Degeneration bezeichnet und die schließlich — nach Monaten
und Jahren — zu einem völligen Aussterben der Tiere führte.!)
лу Меге]. А. Weismann, Vorträge über Descendenztheorie. Bd. I. S. 269.
OESCHLECHT UND OESELLSCHAFT 171
Mir scheint, daß die vorgetragene Anschauung, solcher-
maßen auch durch das Experiment erhärtet, klarer und wissen-
schaftlich eindringender ist als die Ansicht Göttes, der nur im
allgemeinen von einer mit der Encystierung und der Keimbildung
verbundenen Verjüngung spricht, die er eine „Umprägung des
spezifischen Protoplasmas“ nennt,!) und daß anderseits Weis-
mann die Entstehung des Todes zu äußerlich faßt und zu sehr
dem Zufall überläßt. Wenn wirklich der Tod, der den Mono-
plastiden (nach Weismann) noch fehlen soll, bei den Poly-
plastiden mit Keimzellen, also den Heteroplastiden oder Meta-
zoen, sich nur dadurch eingestellt hätte, daß eine Abnutzung
im Laufe des Lebens stattfand, welche die Individuen unvoll-
kommener und krüppelhafter und daher weniger widerstands-
fähig im Kampfe ums Dasein machte,?) und wenn dieser Tod
auf die somatischen oder körperlichen Zellen (im Unterschiede
von den Fortpflanzungszellen) sich beschränkt hätte, wie es
Weismann betont,?) so wäre nicht abzusehen, wieso die Anlage
des Todes sich auf das Keimplasma hätte übertragen und somit
erblich werden sollen. (Vergl. umgekehrt die untenstehende
Anmerkung 4.)
Es erübrigt noch, mit einigen Worten auf die Natur des
künstlichen Todes im Verhältnis zu dem bisher beleuchteten
natürlichen Tode einzugehen. Der künstliche Tod stellt sich
durch eine mehr oder weniger gewaltsame und plötzliche Unter-
brechung der Lebensfunktionen des Individuums ein. Möge
diese nun eine Vergiftung durch mineralische Stoffe oder Bak-
terien, eine Erstickung durch irgendeine Art der Hemmung des
Atmens oder der Sauerstoff-Zufuhr, eine übermäßige Blutent-
ziehung oder eine Form des Nervenchoks sein: immer kann
man hierbei eine verhältnismäßig weitgehende Zersetzung des
Plasmas und eine Anhäufung der vom Plasma-Kern gelösten
Plasma-Anhänge annehmen; diese bewirken nach Gustav Jäger
in ihrer Konzentration, ihrem Maximum ebenso die Hemmung
der Lebensprozesse, wie ein Minimum ihr Erlöschen herbeiführt;
das Normale ist eine gewisse mittlere Menge oder ein Opti-
mum derselben. Werden nun diese Plasma-Anhänge und der
1) Vergl. A. Weismann, Über Leben und Tod. S. 33.
2) A. Weismann, Über Leben und Tod. S. 36.
3) Ebenda. S. 43, 46, 67. — 5.46 nennt Weismann die Fortpflanzungszellen direkt unsterb-
lich. Wie konnte aber dann von ihnen auf die in der Ontogenese aus ihnen entstehenden soma-
tischen Zellen der Sterblichkeit übertragen werden?
172 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Plasma-Kern durch den Lebensprozeß, speziell die Atmung (= Ver-
brennung), nicht in ausreichendem Maße fortgeschafft, so tritt
der Tod ein, weil die weitere Plasma-Zersetzung und die freie
Bewegung der Plasma-Anhänge oder des Lebensagens unter-
bleibt.
Ich stelle zum Schluß noch einmal die drei Ansichten, um
die es sich hier handelt, kurz und scharf nebeneinander:
Nach Weismann ist das Keimplasma seiner Natur, seiner
inneren wesentlichen Beschaffenheit nach ewig. Woher? und
wie ist das möglich?
Nach Götte ist jede Entstehung eines Lebewesens mit dem
völligen Tode des Mutterwesens oder eines Teils desselben
(des Eies) verknüpft. Durch einen Verjüngungsprozeß geht
in der toten Masse eine vollkommene Neuschöpfung belebter
Materie vor sich. Wie ist eine solche möglich? welche Kräfte
sollten sie bewirken?
Meine eigene Ansicht geht dahin, daß alle lebende Sub-
stanz durch Stoffzersetzung und Kräfteverlust an sich früher
oder später dem Tode geweiht ist. Tatsächlich aber stirbt
das Keimplasma nicht ab, weil dem Tode bei jeder Entstehung
eines Lebewesens vorgebeugt wird durch einen Verjüngungs-
prozeß, beidem dienoch nicht gänzlich erloschene Lebens.
fähigkeit des Plasmas gesteigert wird.
(©
DER GEBÄRMUTTERKREBS’).
Von Dr. PAUL ZIMMERMANN.
ine Reihe der bösartigsten Erkrankungen, die den weiblichen
Organismus treffen, äußern sich in hervoragender Weise erst
in dem Alter, wo die Frau ihren weiblichen Beruf bereits er-
füllt hat und nunmehr in das Stadium des Ausruhens treten sollte.
Aber gerade um diese Zeit, wenn die Ovarien ihre Tätigkeit ein-
stellen und die Konzeptionsfähigkeit unter normalen Umständen
ihr Ende nimmt, ist der ganze Geschlechtsapparat des Weibes
infolge der organischen Veränderungen einer Reihe von krank-
haften Zufällen ausgesetzt, die leider in ihrer ganzen Schwere
*) Wir kommen den Wünschen einer Anzahl unserer Leser entgegen und geben in dem nach-
u
folgenden Zusammenhang eine Beschreibung des Uteruscarzinoms. Die diesbezügl. Antworten
im Briefkasten erledigen sich hiermit. (Anm. d. Red.)
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 173
nur selten erkannt werden und bei einem großen Prozentsatz
zum Tode führen, Hierher gehören in erster Linie die malignen
Neoplasmen des Uterus und seiner Adnexe, die beinahe typisch
für die menopausierenden Frauen geworden sind und die schlecht-
weg unter die Bezeichnung „Gebärmutterkrebs“ gefaßt werden,
Über das Wesen des Gebärmutterkrebses läßt sich an dieser
Stelle nichts Neues sagen, da die derzeitige Krebsforschung über
die Erfahrungen des letzten Jahrzehntes nicht hinausgekommen
ist und neue Resultate lediglich nach der experimentellen
Seite hin durch Erschließung der Radiumtheraphie gewonnen
sind. Eine definitive Erklärung der Ursachen und der Infek-
tionsquelle des Gebärmutterkrebses läßt sich indessen eben-
sowenig wie für die anderen carzinomatösen Wucherungen
geben. Es handelt sich auch hier, wie bei allen Krebsschäden
um eine das Gebärmutterorgan zerstörende, nach der Aus-
schneidung fast immer rezidivierende, atypische Neubildung, die
vondem epithelialen Mutterboden ausgeht und in ihrem gesamten
Charakter als durchaus bösartig zu bezeichnen ist. Je nach dem
Sitz der Krebsgeschwulst und nach der Art der Ausdehnung
unterscheiden wir: das oberflächliche Cancroid der Portio vagi-
nalis, das in den seltensten Fällen auf die Cervixschleimhaut
übergeht, sondern sich zumeist auf die Scheide und das para-
zervikale Bindegewebe fortsetzt; das nicht minder häufige Car-
zinom der Cervixschleimhaut, das sich auf die Schleimhaut des
Gebärmutterkörpers ausdehnen kann, und schließlich das Car-
nizom des Cervix selbst. Diese Dreiteilung des Gebärmutter-
krebses ist allerdings sofern eine akademische, als sie für die
Behandlung unmaßgebend ist. Wenn das Krebsgeschwür nicht
bereits in ein inoperables Stadium getreten ist, wird in allen drei
Fällen für gewöhnlich die Gebärmutter exstirpiert.
Die Kenntnis der unterscheidenden Symptome ist nur
für den Arzt von Wichtigkeit, der auf Grund der in Narkose
vorgenommenen Untersuchung die Art und den Umfang der
vorzunehmenden Operation festlegen muß. Im Allgemeinen
gilt heute, daß eine Exstirpation des Uterus nur dann vorge-
nommen wird, wenn die Neubildung sich noch nicht auf die
Ligamenta des Uterus und die Drüsen des Beckens verbreitet
hat. Ist die Infektion der Beckendrüsen und des Becken-
bindegewebes soweit vorgeschritten, daß sie sich durch das
bald nach der Operation eintretende Rezidiv dokumentiert,
174 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
so bringt auch die Entfernung des Uterus den Kranken in
allen Fällen nur eine vorübergehende Erleichterung. Jede
vernünftige Therapie kann hier nur darauf bedacht sein, das
Leiden zu mildern und das Dasein der Kranken nach Mög-
lichkeit zu verlängern. Freilich sind die Erfolge in zwei
Dritteln aller inoperablen Fälle nur vorübergehender Natur
und werden es solange bleiben, als es der neuzeitlichen
Medizin nicht gelungen ist, ein wirklich erfolgreiches Palliativ-
mittel gegen die Krebsinfektion zu finden.
Daß das Uteruscarzinom allein an das Eintreten der
Menopause gebunden ist, wird durch die Erfahrung nicht be-
stätigt. Uterustumoren und krebsartige Neubildungen sind
in allen Lebensaltern beobachtet worden, und erst kürzlich
hat Paul Hoffmann in seiner instruktiven Dissertation „Über
maligne Tumoren im Kindesalter“ (gemeint sind die Jahre
zwischen 2—12), gehandelt. Statistiken, wie sie Gusserow,
Tanchon, Sibley, Lebert, Chiari u. a. bieten, verzeichnen das
Auftreten von carzinomatösen Neoplasmen bei Frauen von
20—70 Jahren, wobei allerdings die meisten Erkrankungen
auf die Jahre zwischen 40 und 50 fallen. Es liegt mithin auf
der Hand, daß in der Menopause die Frau in hervorragender
Weise für die Erwerbung des Gebärmutterkrebses disponiert
ist bezw. daß gewisse Krankheiten dem Ausbrechen des Uterus-
carzinoms im Klimakterium den Boden vorbereiten. So soll
nach Baer und Leopold eine präklimakterisch oder im Klimak-
terium auftretende Endometritis fungosa den Übergang zum
Gebärmutterkrebs bilden. Kisch findet den Grund für das
häufige Auftreten des Uteruscarzinoms in dieser Periode in den
anatomischen Veränderungen des Genitale, die zur Zeit der
Involution für bösartige Wucherungen einen vortrefflichen Nähr-
boden abgeben, bezw. in dem Verlust der sauren, bakterien-
tötenden Beschaffenheit des Sekretes der Vagina, wodurch
gewissen Mikroorganismen die Eingangspforte geöffnet ist.
Soviel steht fest, daß von allen Frauen, die mit einem
Uteruscarzinom behaftet, sich der ärztlichen Behandlung dar-
bieten, die meisten die ersten Symptome erst geraume Zeit
nach dem Aufhören der Menses und in einem Stadium wahr-
nehmen, wo eine radikale Ausheilung oder eine örtliche Be-
schränkung des Wucherungsherdes leider nicht mehr möglich
ist. Die Sympiome, die das Uteruscarzinom anzeigen, nehmen
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 175
erst, wenn das Krebsgeschwür bereits lange besteht, einen
eindeutigen Charakter an. Solange die Neubildung nicht zer-
fallen ist, zeigen sich überhaupt keine, oder nur ganz gering-
fügige Beschwerden, die meist auf andere Gründe zurück-
geführt werden. Das erste typische Symptom ist die Blutung
aus den Genitalien, die jedoch von den meisten Frauen mit
Vorliebe als verspätete Regel gedeutet wird. Atypische Blutungen
in der Menopause jedoch lassen fast immer mit Bestimmtheit
auf das Vorhandensein geschwüriger Wucherungen schließen.
Dem blutigen Ausfluß gesellt sich im Laufe der Zeit
ein fleischwasserähnlicher hinzu, der immer nach dem
ersteren zu konstatieren ist, und ursprünglich keinen oder
nur einen ganz geringen Geruch aufweist. Von dem Moment
an, wo das Krebsgeschwür zu zerfallen beginnt, wird dieser
fleischwasserähnliche Ausfluß widerlich stinkend, bräunlich
mißfarben, und ist von schwärzlichen Gewebsbröckeln unter-
mischt. Während der anfänglichen Blutungen, welche fast
immer nach stattgehabtem Coitus auftreten und wenig oder
garnicht beachtet werden, führen das Auftreten des übelriechenden
fleischwasserähnlichen Ausflusses und die damit verbundenen
heftigen Schmerzen in Kreuz- und Leistengegend die Patientin
zum Arzt. Hierbei ist in erster Linie der Schmerz merkwürdig,
über den die Patientin klagt, obwohl er durchaus kein kon-
stantes Symptom der Gebärmutterkrebserkrankungen bildet.
Er kommt durch krebsige Infiltration des Beckenbindegewebes
zu Stande und nimmt, je nach Verbreitung der Krebsinfiltration,
an Intensität zu. Vielfach ist er auch garnicht vorhanden.
Das sind namentlich die Fälle, wo Blutung und Jauchung ohne
Rücksicht auf therapeutische Maßnahmen fortbestehen und in
denen nur eine geringe Infiltration des Beckenbindegewebes
nachweisbar ist. Häufig zeigt er auch eine entstehende Peri-
tonitis an, die durch das Heranrücken der Krebserkrankung
an das Peritoneum hervorgerufen wird. Bei Ausbreitung des
Carzinoms über die Umgebung des ursprünglichen Herdes
hinaus, kann es ferner zu Blasenentzündungen und Blasen-
scheidenfisteln, zu Hydronephrose und Urämie kommen.
Auch Bildung von Blutknoten und Schwellungen an den Füßen
können mitunter auf den Druck zurückgehen, den die wuchernden
Krebsmassen auf gewisse Venen ausüben. Nicht selten stellt
sich ein chronischer Magenkatarrh ein, der von einem heftigen
176 GESCHLECHT UND OESELLSCHAFT
Ekelgefühl und Erbrechen der genossenen Speisen begleitet ist.
Die Folgen der Blutungen, des Ausflusses, der Schmerzen,
des Katarrhıs und der ungenügenden Speisenaufnahme sind das
Zusammenfallen des ganzen körperlichen Organismus, die be-
stimmte Mißfarbe und Schrumpfung der Haut und die sonstigen
Beschwerden, die ein anschauliches Bild der fortschreitenden
Krebskachexie bieten. Der Ausgang ist in allen schwierigeren
Fällen ein tödlicher.
Häufig vergehen von dem Beginn der ärztlichen Behand-
lung bis zum Tode der Patientin nur wenige Monate, für
gewöhnlich stellt sich der Tod ein bis anderthalb Jahre nach
dem Auftreten der ersten Symptome ein. In der Therapie kommt
es hauptsächlich darauf an, daß der Arzt die beginnende krebsige
Neubildung rechtzeitig erkennt und den Krankheitsherd nach
Tunlichkeit zu beschränken sucht. Jede Frau, die eine ent-
sprechend lange Zeit nach dem Ausbleiben der letzten Regel
wieder zu bluten anfängt, ist des Carzinoms verdächtig und
verlangt eine gründliche Untersuchung in der Narkose, der
eine entsprehend umfassende operative Behandlung folgen muß.
Während die ältere Schule inoperable Fälle auf die bekannte
Weise oder höchstens durch eine Exstirpation des Uterus zu
korrigieren trachtete, legen jüngere Gynäkologen den Haupt-
akzent auf eine Therapie, die das Ende nach Tunlichkeit lange
hinausschiebt und der Patientin die Ertragung der Schmerzen
leichter macht. Über diesen Gegenstand hat kürzlich Czempin
im „Ärztlichen Praktiker“ ausführlich gehandelt und eine
Reihe praktischer, diesbezüglicher Maßnahmen empfohlen.
Pflicht des Arztes ist nicht, den Kranken über die Unheilbar-
keit seines Leidens zu belehren, bezw. ihn in die Sicherheit
zu wiegen, daß ein zeitweise verschwundenes Carzinom nicht
wieder rezidiert, sondern ihm zu helfen, und alles, was seinen
Zustand dauernd erträglich schaffen kann, anzubahnen. Denn
das Gewissen des Arztes ist auch der Maßstab für seine
Tüchtigkeit und seine Erfolge. Dr. J. S.
H 8
EI
KARZINOM DER PORTIO UTERI. Von der Oberfläche (0)
GE dringen zahlreiche solide Krebsstränge
in die Tiefe.
BLUMENKOHLGESCHWULST DES UTERUSHALSES.
(Spiegelbild). Nach Fehling, Lehrbuch der Frauenkrankheiten.
Zu dem Aufsatz »Der Gebärmutterkrebs-, Seite 172.
DIE JAGD NACH DEM MANN. Von F. von REZNICEK. („Миг {ев
spritzen, Mama! Mit der Witterung kriegen wir jeden Fuchs ins Eisen“).
Aus „Verliebte Leute“, Verlag von Albert Langen, München.
Zu dem Aufsatz »Die Jagd nach dem Mann«, Seite 210.
ZUR FUNKTION
DES GESCHLECHTLICHEN SCHAMGEFÜHLS.
Von Dr. MAX SCHELER, Berlin.
(Schluß.)
Mis ordnet sich nun das Schamgefühl dem Spiel dieser
so verschiedenen Triebkräfte und Akte ein? Daß es schon
bei der Ausbildung des Geschlechtstriebes und zwar der
Richtung und Konzentration der libidinösen Regung auf
1. andere Wesen überhaupt durch Erlösung vom Autoerotismus
(altruistische Wirkung des Schamgefühls), 2. auf gegen-
geschlechtliche Wesen (durch Freisetzung geschlechtlicher
Sympathie) eine unumgängliche Rolle spielt, hatten wir schon
oben gezeigt. Nennen wir diese seine Leistung seine
Primärleistung. Sie setzt sich das ganze Leben fort und
ist an die Phase der Geschlechtsreife so wenig gebunden, als
sie mit der Beendigung durch Potenzverlust und Verlust der
Gebärfähigkeit erlischt. Denn die Libido ist von Geburt bis
Tod vorhanden und nur ihr jeweiliges Maß, die Erregbarkeit
gegen Wollustreize, schwankt mit diesen Phasen quantitativ
und örtlich in typischen Grenzen. Die Männer verlieren darum
mit Eintritt der Altersimpotenz so wenig das sexuelle Scham-
gefühl wie die Frauen nach Eintritt des Klimakteriums. Dieser
„Primärleistung“ schließt sich als Sekundärleistung
zunächst an die Verschiebung des Zeitpunktes der
normalen erstmaligen Befriedigung des schon gebildeten
Geschlechtstriebes in die Zeit genügender Geschlechtsreife
und die zeitliche und zahlenmäßige Regelung der Geschlechts-
akte (Unterschied der „jungfräulichen“ Scham und der Scham
der Frau, bezw. des Mannes). Auf die Analyse der jungfräu-
lichen Scham ist bisher, relativ zu den anderen Arten der
Scham, eher ein übertriebener als ein zu geringer Wert gelegt
worden. Viele Forscher sprechen so, als ob die Scham die
einzige oder doch primärste Funktion habe, die (materielle)
„weibliche Unschuld“ möglichst lange zu erhalten. Mit dieser
Oeschlecht und Gesellschaft, VIII, 5. 12
178 OESCHLECHT UND OESELLSCHAFT
Übertreibung verfielen sie aber nur einer zum Teil sozial-
utilistischen Wertung der Scham, die wieder auf die hohe
Wertung zurückgeht, die der Mann bisher im allgemeinen der
Unberührtheit bei der Wahl der Ehegenossin beilegte. Denn
gerade jene besondere „Herbe und Sprödigkeit“, die man der
jungfräulichen Scham mit Recht beilegt, ist meines Erachtens
keine Eigenschaft dessen, was die reine Scham bei dem jung-
fräulichen Verhalten bewirkt, sondern ergibt sich durch die
stets vorhandene Beimischung von Angst-, Furcht- und Ekel-
gefühlen zur Scham (im jungfräulichen „Wehren“); dazu
tritt der natürliche Rhythmus der Koketterie, des automatischen
rhythmischen Spielens von Hingabe und Entziehung, das, wie
wir früher sahen, nur makroskopisch den Rhythmus des Kitzel-
gefühls und der ihm angemessenen Reizart (der rhythmischen
Bewegung) wiederholt, und im Falle der Jungfrau noch
gesteigert ist (man beachte hier den Ausdruck des „Scham-
gelächters“ und „Kicherns“, das weit mehr auf die Koketterie als
auf die Scham fällt, und den Ausdruck es oft mit ihm ab-
wechselnden Weinens und Zitterns bis zum Frostgefühl und
Zähneklappern, die wieder auf die Furcht und Angst-Kompo-
nente des Gesamtzustandes fallen). Soweit dieser jungfräu-
lichen Abwehr, Furcht und Angst vor dem „Unbekannten“
dessen, was geschehen soll, häufig gesteigert von Furcht vor
den mit dem Verlust der materiellen Unschuld verbundenen
Schmerzen und den Resten des vor dem Eintritt der vaginalen
Empfindung aus der Phase bloßer Clitoriserregbarkeit typisch
vorhandenen Ekels vor dem Geschlechtsorgan zugrunde
liegen, ist denn auch charakteristischerr Weise — wo
über das Vorhandensein der Geschlechtsliebe völlige Klarheit
besteht — dieses „Wehren“ immer von dem stillen Wunsche
begleitet, daß es der Mann besiege; und der Mann erfüllt nur den
tieferen Willen des Weibes, wenn er es auch mit Anwendung
von einiger Gewalt tut. Dagegen kann ich nur einen tiefen
Irrtum vieler Forscher darin sehen, wenn sie sagen, es läge
im Wesen auch des Schamgefühls und seines Ausdrucks, daß
das jungfräuliche Individuum seine Überwindung wolle. Was
in solchen Fällen wirkliches Schamgefühl ist, das wird durch
Gewalt nur und allein — oft unheilbar verletzt. Auch dies
muß zurückgewiesen werden, daß es den Trieb nach Über-
wältigung seitens des Mannes steigere (wenigstens innerhalb
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 179
der normalen Breite); wird das Schamgefühl und sein Aus-
druck überhaupt „verstanden und nachgefühlt“, so fehlt ihm
jede Spur dieser Wirkung, deren Ursache vielmehr durchaus
die natürliche Koketterie der momentanen Entziehung ist.
Wirkliches und echtes Schamgefühl wirkt zwar — wie
schon früher gesagt — liebreizend (und wird auch nur durch
gesteigerte Liebe und sie bedingende Gegenliebe überwunden,
ohne verletzt zu werden), nie aber trieb- und sinnesreizend;
und auch diese liebreizende Wirkung hat es nur, soweit ent-
schiedene Gegenliebe noch nicht zu entschiedenem Ausdruck
und zur Feststellung gelangte. Ist hingegen diese Feststellung
erfolgt, so kann zwar jener obengenannte Komplex von Furcht,
Angst und leisen Ekelgefühlen immer noch da sein, und dies
in beliebig hohem Grade; und auch bei beliebig starkem
Wehren wird auch der schamhafteste Mann jenes Wehren mit
Gewalt besiegen dürfen. Ist hingegen bei also festgestellter
und geglaubter Gegenliebe faktisch Scham und pure Scham
im weiblichen Verhalten, so wirkt diese weit eher beleidigend
als anreizend, da sie als gefühlsmäßig erfaßtes Zeichen der
Unentschiedenheit und Unsicherheit der Liebe selbst jene
frühere Feststellung und den Ausdruck, auf dem sie beruhte,
in berechtigten Zweifel setzt. Es ist aber ein großer Irrtum,
daß alles jungfräuliche Wehren auf Scham beruhe. Der Jüng-
ling empfindet das, was dabei faktisch auf Scham beruht, nicht
minder, ohne doch (abgesehen von der Angst vor dem Neuen
und Unbekannten) die anderen Gefühlskomponenten zu erleben,
die im jungfräulichen „Wehren“ liegen. Es ist freilich, wie
sich z. B. im Vergewaltigungsverbrechen, besonders gegen
unberührte Individuen, und seiner richterlichen Konstatierung
zeigt, im konkreten Falle äußerst schwierig, zu entscheiden,
was bei dem Widerstreben auf Kosten eines kühlen zentralen
„Nichtwollens“, was auf Kosten jener auch die liebevollste
Einwilligung der Frau begleitenden Angst, Furcht und leisen
Ekelreaktionen, und was auf Kosten der eigentlichen Scham
kommt. Aber es ist auch hier die oft geäußerte Meinung
abzuweisen, daß bloßes „Schamwehren“ (im Unterschied zu
entschiedener Ablehnung und kühlem „Ich will nicht“) den
Tatbestand der Vergewaltigung ausschließe; denn — meint
man — da Scham eine Regung des Geschlechtstriebes ein-
schließe und der sich schamhaft Wehrenden nur geschähe,
12*
180 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
was sie im geheimen ja doch selbst wolle, gälte hier: Volenti
non fit injuria. Dies ist irrig. Denn Schamablehnung ist da,
wo die Scham echt ist und nicht nur Koketterie oder jenes
auf die Person gar nicht abzielende Furchtwehren stattfindet,
durchaus auch für das Wollen bestimmend. Darum ist auch
bei starkem Schamwehren der Tatbestand der Vergewaltigung
gegeben. Aus diesem Grunde hat das Schamgefühl denn
auch in seiner Sekundärleistung durchaus nicht bloß für die
Jungfrau und den Jüngling jene wesentliche Rolle, die ihm
eine bloß utilitarische Verwendung seiner für eine gute
Versorgung seitens der Älteren zuzuschreiben pflegt. Wenn
insbesondere die jungfräuliche Scham in den modernen
Gesellschaften so viel höher gewertet wird als die Scham des
Jünglings, so ist dies nur insofern berechtigt, als die Scham
des Weibes (aus später anzugebenden Gründen) in der Tat
eine höhere Schätzung darum verdient, da ihre viel wesent-
lichere und darum auch natürlich verantwortlichere Rolle bei
der Fortpflanzung (gegenüber jener des Mannes) ihrer Scham
noch einen Wert hinzufügt, der über den Wert der sinnvollen
Einschränkung des Geschlechtstriebes noch weit hinausgeht
(ein Wert, der ihrer Scham ja gleichfalls zufällt); durchaus
nicht aber darum, weil das Mädchen eine feststellbare
„Unschuld“ zu verlieren hat, die beim Knaben fehlt. Ja man
muß im Gegenteil sagen, daß diejenige „Scham“, die mit der
materiellen Unschuld verschwindet, bestimmt auch vorher keine
echte Scham, sondern nur jene „Furcht“ und jener „Ekel“
war; und daß die Scham der Frau von vornherein das
Zutrauen verdient, daß sie weit reiner ist als die des Mädchens,
das sich nur zu oft Furcht, Angst und jene Aversionsreste
der Zeit vor der Pubertät als „Scham“ auslegt, wenn nicht
gar bloß utilitarische Berechnung auf den puren Kapital- und
Nutzwert ihrer Jungfrauschaft Scham vortäuscht.') Nichts
ist ja klarer, als daß das Mädchen, dessen Herz noch „frei“ ist,
nach der ernsten und in den Tatsachen gegründeten Moral
auch eine größere Freiheit verdient, als die Frau, deren Liebe
1) Es gibt aus diesem Grunde in Paris z. B. sogar „unschuldige‘‘ Kokotten, die bis auf
all das, was sie jenes Kapitales beraubte, alles nur Gewünschte an sich geschehen lassen und
dies auch darum vermögen, da sie meist mit impotenten Lebemännern verkehren. Ja, vielleicht
ist dieser Typ, der schon der ersten Möglichkeit, Mutter zu werden, prinzipiell aus dem Wege
geht, der reinste Fall der Dirne überhaupt. Der Typ der „demivierge‘‘' bildet dazu einen
Übergang, der sich meist mehr durch die Größe des Vermögens als durch das Sein des
Menschen von jenem Typ unterscheidet.
GESCHLECHT UND OESELLSCHAFT 181
entschieden is. Wenn und soweit unsere Sozietät anders
urteilt und z.B. der verheirateten Frau größere Freiheiten
zuweist als dem Mädchen, so daß die Ehe, die doch —
wesenhaft — eine auf Liebe gegründete Bindung darstellt,
häufig gerade umgekehrt als ein Hort größerer Freiheit ge-
sucht wird, sind die Gründe hierzu natürlich solche der denkbar
niedrigsten utilitarischen Natur, die mit echtem Scham-
gefühl auch nicht das mindeste zu tun haben; so sehr häufig
sie sich in einer höheren Scheinschätzung der jungfräu-
lichen Scham vor der Scham der Frau auch zu verstecken
suchen. Das Prinzip, das zu diesem Urteil führt, ist vielmehr
ein Prinzip der Schamlosigkeit, da es die Scham wie ein
Etwas darstellt, das man mit seinen Brautkleidern ablegt. Die
echte Scham dokumentiert aber ihre Echtheit eben darin, daß sie in
der Ehenicht nur anderen männlichen Personen gegenüberbeharrt,
— ja sogar sich reinigt —, sondern auch dem geliebten Ehege-
nossen gegenüber für jede libidinöse Regung, die aus einer gestei-
gerten Liebesregung herausfällt, verharrt. Denn das innere Ge-
setz der Scham läßt jede Hingabe ohne momentaneLiebesregung,
ohne Verlorensein in den Anderen, auch noch dem entschieden
Geliebten gegenüber als „Schuld“ aufs Gewissen fallen.
Dies Alles zeigt aber, daß jene der Scham zugeschriebene
Sekundärleistung, den Termin des Verlustes der Jungfräu-
lichkeit hinauszuschieben und weiterhin ddeZahl der Geschlechts-
akte in einer Zeiteinheit zu vermindern, zwar statistisch
existiert, daß es sich aber hierbei durchaus nicht um eine unmittel-
bare, kausale Leistung der Scham handelt, sondern nur um
eine mittelbare, wogegen die wahre Sekundärleistung der
Scham in etwas Anderem besteht: in der Hemmwirkung,
den Regungen des Geschlechtstriebes und des Fortpflanzungs-
triebes nicht ohne vorangehende entschiedene Liebe
(und momentane Liebesregung) zu folgen. Und nur darum,
weil die entschiedene Liebe gegenüber einem Menschen so
viel seltener und unwahrscheinlicher ist, als die Reizung der
geschlechtlichen Neigung durch einen Menschen, und auch die
jeweilige Regung der Liebe gegenüber einem entschieden
geliebten Menschen so viel seltener und unwahrscheinlicher
ist als die momentane Erregung des Triebes durch ihn, ergibt
sich für den Durchschnitt der Fälle die Folge, daß das echte
Schamgefühl einerseits die Jungfräulichkeit länger zu erhalten,
182 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
andererseits die Zahl der Geschlechtsakte zu vermindern die
Tendenz hat.
Damit aber stehen wir erst vor der wahren, großen
und kaum zu überschätzenden Sekundärleistung des
Schamgefühls. Mit einem Worte: die Scham ist in dieser
Richtung das „Gewissen der Liebe!“ Sie ist damit zugleich
die große und einzige Einheitsstifterin zwischen unseren
geschlechtlichen Trieben (Geschlechtstrieb und Fortpflanzungs-
trieb) und aller höheren und höchsten Funktion unseres
Geistes; das, was — sozusagen — die ungeheure Leere aus-
füllt, die zwischen Geist und Sinnen gähnt: als habe sie vom
Geist ihre Hoheit und ihren Ernst; von jener ihre Anmut
und ihre einladende und zur Liebe verlockende Schönheit!
Und je größer die Kluft in einem Menschen ist zwischen den
Aspirationen seines Geistes und der Kraft seines Lebens und
seiner Sinne, desto größer muß die Scham sein, um das
Zerbersten der Person zu hemmen. Darum zeugt sie, wo sie
sich ausgeprägt findet, immer im gleichen Maße von „Geist
wie von Leidenschaft“. Und eben darin ist sie die reizendste
und anmutigste Verräterin für die Spannweite der Naturen.
Naturen von jener großen „Spannweite“ suchen sich vielleicht
zuerst auf das Zeichen einer großen Scham hin!
Die volle Bedeutung des Schamgefühls verstehen wir also
erst dann, wenn wir in der Geschlechtsliebe die allem höheren
Leben eigene Kraft erblicken, auf Grund der beiden großen
Triebe (dem wesentlich weiblichen Trieb zur Fortpflanzung und
dem wesentlich männlichen Geschlechtstrieb) und hindurch
durch das vermittelnde Medium der geschlechtlichen Sympathie
die für die Wertsteigerung des Lebens (im Gegensatz
zubloßerErhaltung und zwar zur Individual- und Arterhaltung)
geeignetsten Exemplare unter den Geschlechtspersonen aus-
zuwählen! Geschlechts- und Fortpflanzungstrieb (isoliert
und rein gedacht), als solche, würden zwar genügen, den
menschlichen Typus fortzupflanzen. Aber da sie — sofern
sie in Gedanken von der sie de fakto allerdings immer
mehr oder weniger, wenn auch in noch so geringem Maße
begleitenden Liebe streng geschieden werden — wahllos
fungieren, so wäre in ihnen allein auch niemals eine Garantie
für Steigerung des Lebens und für Steigerung seiner Macht-
fülle und seiner Form gegeben. Das Stattfinden einer solchen
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 183
wäre purer Zufall! Erst die Geschlechtsliebe ist es, die im
Maße, als sie unvermischt mit anderen motivierenden Fak-
toren erfüllt wird, und also z. B. keine Verwechslung ihrer
mit einer vorhandenen bloß stark libidinösen Regung, mit
allen Arten von utilitarischen Regungen (Geldehe, Klassenehe),
mit intellektualer, moralischer und ästhetischer „Schätzung“, mit
Ehrgeiz, Mitleid usw. stattfindet — und im Maße, als sie klar
und entschieden auftritt, die — sage ich — aus all den-
jenigen geschlechtlichen Verbindungen, die auf Grund jener
beiden großen Triebe und der geschlechtlichen Sympathie
„mögliche Verbindungen“ wären, jene Fälle unter ihnen
auswählt und verwirklicht, welche die maximale Summe
der Kombinationen der edelsten Lebensqualitäten zu neuen
Ansatzpunkten für die Vererbung durch Fortpflanzung machen.
D. h. erst die Geschlechtsliebe führt zur Hinaufpflanzung
und zur biologischen Veredlung des Menschentypus.
Nicht der Geschlechts- und Fortpflanzungstrieb! Die Geschlechts-
liebe ist nicht wie die bloße „Geschlechtsmoral“ als indivi-
duale, soziale und Rassenmoral (z. B. das moralische Verbot,
Individuen mit erblichen Krankheiten, Syphilis, Tuberkulose
usw. zu heiraten) eine Kraft, welche die individuale, soziale
und Rassen,„gesundheit“ schafft und zu ihrer Erhaltung bei-
trägt. Denn „Gesundheit“ ist auch noch als Rassengesundheit
(die selbst wieder von „Volksgesundheit“ ganz verschieden ist, ja
oft durch Maßnahmen, die der letzteren dienen und sie fördern,
gehemmt wird) immer ihrem Wesen nach ein bloßer vitaler
Erhaltungswert, nicht aber ein Steigerungswert. Ge-
schlechtsliebe aber ist das, was uns die möglichen
Steigerungswerteineinem organisations- undartmäßig
abgegrenzten Lebensspielraum nicht etwa nach objek-
tiven Merkmalen und „Gründen“ „beurteilen“, sondern
anticipatorisch vorausschauen und vorausfühlen läßt!
Darum sind alle sexuelle Moral und Hygiene — so eminent
wichtig sie sind — doch ihrem Wesen nach negativ, ein
System, das auch in idealer Vollkommenheit festgestellt und
praktiziert nur ein System von Verboten wäre, deren ge-
horsame und gewissenhafteste Ausführung nie mehr gewähr-
leisten könnte, als die Erhaltung bereits vorhandener
Erbwerte; niemals aber die Steigerung möglicher Erbwerte
und die Erwerbung neuer Erbwerte. Alle Moral und Hygiene
184 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
sagt uns nur, mit wem und wie wir uns nicht vermischen
dürfen, sollen die gegebenen vitalen Werte unserer Art
(die Individual-, Sozial- und Erbwerte) nicht vermindert
werden; aber sie sagt uns nicht und kann uns nie sagen,
mit wem wir uns vermischen sollen, innerhalb jenes Spielraums,
der auch bei striktestem Gehorsam und bei ideal richtiger
Feststellung ihrer Normen noch übrig bleibt, und welche Wahl
die für die Erhöhung und Veredlung des Menschentypus
positiv beste sei. Denn eben für diese Wahl gibt es keine
„moralische“ und „hygienische“ oder auf wissenschaftliche Be-
trachtung der objektiven Merkmale der Individuen aufgebaute
Instanz mehr, sondern nur noch die Geschlechtsliebe
selbst, die den Plan für die besten und schönsten möglichen
Exemplare des Menschentypus gleichsam vorher entwirft,
und damit allein das verwirklicht, was noch nie „erfahren“
werden konnte, da die Geschlechtsliebe für die bloße Möglich-
keit solcher Erfahrung die ewige konstitutive Bedingung
bildet. Wenn die Geschlechtsmoral die Taktik des Lebens-
prozesses, der sich durch die Individuen hindurch zu immer
neuen Formen und Gebilden hin bewegt, ist und sein sollte,
so ist die Geschlechtsliebe sein strategischer Genius! Wenn
jene eine moralische und hygienische Funktion ausüben, so
ist es erst diese, die eine eugenetische ausübt. „Nicht die Zu-
sammensetzung der künftigen Generation“ (wie z. B. Schopen-
hauer sagt) entscheidet sich in den Regungen der Geschlechts-
liebe; denn wenn deren Dasein schon durch Geschlechtstrieb
und Fortpflanzungstrieb garantiert ist, so ist ihre „Zusammen-
setzung“ überhaupt durch eine ungeheure Menge ganz ver-
schiedenartiger Motive bestimmt, all jener eben, die über-
hauptzu außerehelichen und ehelichen Geschlechtsverbindungen
führen, z. B. auch durch ökonomische, der Sphäre der Eitelkeit,
des Ehrgeizes usw. usw. angehörige Motive und Kräfte. Was
die Geschlechtsliebe vielmehr allein in der Zusammen-
setzung der künftigen Generation entscheidet, das ist deren
möglicher biologischer Mehrwert über die gegebene
Generation hinaus oder deren möglicher Steigerungswert
dieser Generation! Mäße man die Geschlechtsliebe bloß
im Sinne positiv-wissenschaftlicher Biologie von der Erhal-
tung der Art als Grundwert, so müßte sie dagegen im
höchsten Maße als unzweckmäßig erscheinen. Aber die
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 185
Wissenschaft hat es auch hier immer nur mit dem „Gewordenen“
zu tun und das „Werden“ ist für sie nur die künstliche hypo-
thetische Ergänzung der unterscheidbaren Phasen innerhalb
einer Strecke des „Gewordenen“. Erst die philosophische
Biologie lenkt den Blick auf das Werden, auf Form und
Art des Werdens jedes Gewordenen selbst (auch auf die
Werdensart des im Reiche der Vergangenheit Gewordenen)!
Vom Standort dieser Gebanntheit der Wissenschaft auf das
„Gewordene“ ist es aber klar, daß die Geschlechtsliebe geradezu
artschädlich erscheinen muß! Ganz abgesehen davon, daß sie
gerade in ihren reinsten Typen so häufig zum Tode führt
(wie tief ist von Wagner im Tristan dieses ihr immanente
tragische Verhängnis dargestellt!) und auch nach den nüchternen
Zahlen der Statistik gerade die blühendste Jugend vor einem
Fortpflanzungseffekt dahinrafft, das schöne Bild eines schöneren
reicheren Lebens, das jene in ihrer Liebe und Not erblickten,
vor seiner Verwirklichung also — vernichtet, bewirkt sie jaschon
durch ihr Dasein überhaupt und im Maße als sie vorhanden
mit der Individualisierung auch eine Ausschließlichkeit
des geschlechtlichen Anhangens, das die Größe der Menge mög-
licher Variationen der ohne sie Gezeugten oder derer, die ohne
Liebe von den betreffenden Individuen zeugbar gewesen wären,
gewaltig vermindert; eben damit aber auch die artsteigernde
Kraft der „Selektion des Passenden“ notwendig einschränkt,
indem sie die Zahl der zufälligen Variationen (der Keim-
variationen und ÖOrganvariationen) als das Material für die
Selektion ungemein vermindert. D. h. vom Standpunkt des
puren Selektionismus ist die Liebe der Geschlechter bis zum
äußersten dysteleologisch und schädlich.
Solange man sie daher nur im Dienste der Lebens-
erhaltung befindlich ansieht, und in der Theorie
der Lebensentwicklung alle Entfaltungswerte auf Epiphä-
nomene zu Erhaltungs werten, allequalitative Wertsteigerung
des Lebens nur auf Erhaltung der „zufällig“ bestangepaßten
Variationen zurückführt und so die Qualität des Fortschrittes
(und Rückschrittes) zu einer bloßen Funktion der Quantität
der Keime und der Erzeugten macht, muß die Geschlechtsliebe
nur wieeine ganz sinnlose,absurde, zufällige Fixierung des
Geschlechtstriebes (bezw. Fortpflanzungstriebes) erscheinen —,
im höchsten Maße abträglich dem biologischen Prozesse
186 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
der Entwicklung. Faktisch aber ist die Geschlechts-
liebe nicht eine Funktion des Lebens unter anderen Funk-
tionen, sondern das Leben selbst in seiner höchsten Po-
tenzierung und Verdichtung, zu dessen Dienstleistung
alles andere vitale Tun und Treiben des Individuums da ist;
nicht also ist sie Mittel für anderweitige vitale Zwecke,
sondern der tiefste Sinn und höchste Wert des vitalen Pro-
zesses selbst, gleichzeitig aber auch „Mittel“, — sofern sie
nämlich nicht auf gegebene Zwecke, sondern auf die mögliche
Steigerung des Lebens über die Werteigenschaften aller seiner
bisherigen Träger hinaus bezogen wird. Und faktisch ist Entfal-
tung und Entwicklung nicht ein „Epiphänomen“ zu bloßen Er-
haltungsprozessen, sondern alle bloße „Erhaltung“ ist schon
ein Phänomen des Absterbens, der Entspannung der Lebens-
energie durch eine lebenfixierende Anpassung an die Welt
des Toten!!) Daher erscheint unter richtigen Grundauffassungen
des Lebens und seiner Entwicklung die Geschlechtsliebe ge-
gerade als die eigentliche Kraft des Vorstoßes zum höheren
und wertvolleren Rassentypus, als ein Vorstoß, der neue
Menschenwerte produziert, während Geschlechtstrieb und
Fortpflanzungstrieb auch im besten Falle nur die vorhandenen
Menschenwerte zu reproduzieren vermögen. Die Geschlechts-
liebe istalso das dynamische Prinzip in der Lebenserneuerung,
wogegen jene Triebe nur deren statische Prinzipien dar-
stellen! Gewiß ist die entschiedene Geschlechtsliebe wenigstens
in ihren reinsten und großartigsten Erscheinungen eine über-
aus seltene Sache, ja im Grunde nur die Sache einer kleinen
Aristokratie von Menschen, von der außerdem noch ein gut
Teil an der Verwirklichung des in der Liebe vorgefühlten
neuen Werttypus scheitert und bei der bestehenden Deckung
der jeweilig niedrigeren Systeme von Werten mit den jeweilig
am allgemeinsten verbreiteten auch scheitern muß (worin
der dauernde Ursprung der ihr immanenten Tragik liegt)
Und doch ist diese kleine „Aristokratie“ jeweilig der Vormarsch
innerhalb des Zuges der Rassen und Völker zu höherwertigen
Arttypen! Und auch alle übrigen Menschen zehren schließ-
lich vonden(indirektauch dieGeisteskulturfördernden)Leistungen,
die dieser höherwertige Arttypus vollbringt. Denn schließlich
1) Viel Richtiges enthält in diesen Grundfragen der Biologie das Buch Henri Bergsons
„L'’Evolution Creatrice“ (Paris, Felix Alcan).
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 187
sind alle Kräfte, welche die Umwelt des Menschen aktiv
formen und erweitern im Unterschiede von jenem In-
begriff anderer Kräfte, die nur reaktiv sich an gegebene und
schon von jenen Kräften abgesteckte und geformte „Um-
welten“ anpassen, Tradirtes bewahren und ausnutzen — d. h.: sind
die Tüchtigkeiten der „Eden“ und „Herrn“ im Unterschied von
der Tüchtigkeit der „Gemeinen“ und der „Sklaven“ oder — wie
ich sie anderen Orts nannte —, die „edlen“ Fähigkeiten gegen-
über den „gemeinen“, auch die Kräfte und Eigenschaften
jenes höherwertigen Arttypus, der durch die auf der Geschlechts-
liebe beruhende Blutmischung erzeugt wird!). Andererseits
aber darf über jene ausgeprägten und in die geschichtliche
Erinnerung eingegangenen reinen Beispiele der edlen, groß-
zügigen, leidenschaftlich bewegten Geschlechtsliebe („amour
passion“) nicht vergessen werden, was dieselbe Kraft (die ja
ihrer Natur nach jenseits aller Öffentlichkeit und jenseits des
kleinen Winkels des Menschenlebens arbeitet, der noch in den
Kreis der historischen Erinnerung intensiv und extensiv fällt)
in geringerem Maße — und ohne den ganzen Lebensgang der
Beteiligten sichtbar zu bestimmen —, immerfort und stündlich
bewirkt. Die mangelhafte sprachliche Scheidung von Ge-
schlechtsliebe und Geschlechtstrieb (resp. Fortpflanzungstrieb),
nach der wir bald „Geschlechtsliebe“ jede stärkere Regung
des Geschlechtstriebes (ohne ausgesprochenes Fehlen der ge-
schlechtlichen Sympathie) nennen, wenn nicht gar schon jede
libidinöse Regung, die als solche doch stets objektlos ist —
andererseits aber auch schon die — wenigstens — primitiveren
Wahlfunktionen im Geschlechtsleben dem puren „Triebe“ auf-
bürden, bringt eine Reihe schwerer Irrtümer mit sich: Einmal
den von vielen Rassepolitikern ausgesprochenen Gedanken, die
Geschlechtsliebe könneeinepositivwertige Fortpflanzung nicht
garantieren, da sie von ganz „unberechenbaren“ Faktoren ge-
leitet sei, z.B. zwischen ‘gesunden und kranken Individuen
nicht scheide, einseitig auf sinnliche Reize reagiere usw.; so
daß man sie weit besser durch eine nach objektiven wissen-
schaftlich faßbaren Merkmalen ausweitende Politik ersetze. Wo
1) Mit Recht führt J. Marley die Überlegenheit des angloamerikanischen Typus auf
den Ausschluß von Geldheiraten zurück. Die Verbreitung der Oeldheirat einerseits, das Über-
wiegen bloß sinnlicher Genußmotive andererseits bei Blutmischungen ist auch die tiefste Ur-
sache des langsamen Zusammenbruchs des europäischen Adels und der ihm zugehörigen Werte
und damit des steigenden Sieges der Werte der Gemeinen. Siehe hierzu mein Buch: „Ressenti-
ment und moralisches Werturteil“. »
188 “ GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
aber die Geschlechtsliebe — wie man sagt — „auf sinnliche
Reize äußerlich reagieren“ soll, da ist es eben faktisch nicht die
Geschlechtsliebe, die reagiert, sondern die bloße libido —
auch wenn das Individuum durch eine Selbsttäuschung das
Gegenteil meint — oder es sind jene „sinnlichen Reize“ gleich-
zeitig auch Symbolwerte für auch objektiv bestehende posi-
tive Lebenswerte! Daß es auf individuelle, biologische
Werte — nicht vererbbare Krankheit — aber der Ge-
schlechtsliebe nicht ankommt, das liegt — in den Grenzen,
in denen dies zu sagen berechtigt ist — daran, daß diese als
solche für die Gestaltung der künftigen Generation so wenig
Bedeutung hat, wie z.B. auch die „Volksgesundheit“, die von
der Rassengesundheit ja streng zu scheiden ist, für die Rassen-
gesundheit hat. Rassenerkrankung oder Degeneration aber
pflegt in ihren äußeren Symptomen auch für die normale Ge-
schlechtsliebe schon ein weit sehr starkes Moment der Ab-
stoßung zu sein; andererseits aber ist sie selbst erst eine Folge
von Ehen nnd Geschlechtsverbindungen der Vorfahren, in
denen die Geschlechtsliebe keine genügende motivierende
Rolle spielte!). Wenn schließlich die Geschlechtsliebe des aus-
gesprochen kranken Lebens im Individuum (nicht des kranken
Individuums, das ja auch Träger eines an sich gesunden
Lebens sein kann) ihrerseits auch wiederum das Kranke sucht
(nach Charkots „Les nerveuses se cherchent“, das besonders
für die Geschlechtsverbindung gilt), so ist die Geschlechtsliebe
auch in diesem Falle eine von der Selektion sehr unter-
schiedene positive und gleichsam potenzierte Kraft, krankes
Leben aus der steten Lebenserneuerung auszuscheiden, und
darum gleichfalls im höchsten Maße biologisch sinnvoll und
zweckmäßig.
Will man aber andererseits die ganze positive Leistung
der Geschlechtsliebe beurteilen, so muß man auch schon ihre
ganz rohen, einfachsten Leistungen und die Leistungen, die
schon ihre primitivsten Regungen über die bloßen Triebe
hinaus besitzen, ihr aufs Konto schreiben. Denn nicht erst
in der Liebe des Romeo zur Julia, sondern schon in dem
primitivsten Vorzug, den die Jugend vor dem Alter, die
Frische vor der Mattheit, die leibliche Schönheit vor der Häß-
ı) Daß auch der letzte von aller Sitte und wechselnden Rechtsinstitutionen ganz unab-
hängige natürliche Grund und die natürliche Sanktion der Inzestschranke die Oeschlechtsliebe
ist, kann hier nicht gezeigt werden.
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 189
lichkeit, die Eigenrasse vor der Fremdrasse etc. in der
Geschlechtswahl genießen, liegen Leistungen nicht des
Geschlechtstriebes oder gar der ihn mitbedingenden Libido
vor, sondern bereits die einfachsten und primitivsten
Leistungen der Geschlechtsliebe. Man denke oder versuche
sich doch nur zu denken eine Menschengruppe, die sich ohne
diese unmittelbaren Führungskräfte bei auch noch so gesteigertem
Geschlechts- und Fortpflanzungstrieb auf Grund bloß „wissen-
schaftlich“ gegründeter Werturteile über den biologischen Wert
der betreffenden Menschenexemplare; zu behelfen hätte!
Welcher Abgrund von Komik und Absurdität! Faktisch also
ist in allen konkreten geschlechtlichen Erlebnissen immer Trieb
und Liebe (sowie Libido und Sympathie etc.) inirgend welchen
Maßen gleichzeitig vorhanden und die Erscheinung eines puren
Geschlechtstriebes, der sich ganz wahllos alles Anders-
geschlechtlichen zu bemächtigen suchte oder erst vor Motiven
der Moral, der Gesundheit, der Nahrung usw. eingeschränkt
wäre, ist eine ebenso seltene und auch dann nur nie ganz
reine Erscheinung wie die ausschließliche „grande amour“
eines Mannes zu einem Weibe, die ihrerseits wieder vom Grade
der libidinösen Empfindlichkeit, vom Grade des Triebes und
selbst von dem der geschlechtlichen Sympathie weitgehende
Unabhängigkeit zeigt.
Nun aber erst wird die Sekundärleistung des geschlecht-
lichen Schamgefühls voll verständlich. Sie besteht darin, daß
das Schamgefühl nur insoweit und solange Ausdruck und
Auswirkung des Triebes (des Geschlechtstriebes und Fort-
pflanzungstriebes) zurückhält, als die Geschlechtsliebe diese
ihre entscheidende Wahl noch nicht eindeutig vollzogen hat.
So ist die Scham gleichsam die Puppenhülle, in der die
Geschlechtsliebe bis zu jener Reife wächst, in der sie die
Scham durchbricht! Und als diese zurückhaltende Kraft nicht
des Triebes selbst, den sie voraussetzt, sondern der Regung
des Triebes ist sie die bedeutsamste Hilfskraft für die Er-
zeugung der edelsten möglichen menschlichen Typen!
Darum ist die hohe Wertschätzung des Schamgefühls und
jede Bewahrung seiner vor Verletzung eine eminente sittliche
Forderung und es ist bis zum äußersten beklagenswert, daß
die Einsicht in diesen inneren Zusammenhang noch so wenig
verbreitet ist. Es ist das Schamgefühl an erster Stelle, das
190 GESCHLECHT UND OESELLSCHAFT
die Vermischung des edlen Lebens mit dem gemeinen abhält
und ausschließt und damit erst den Geschlechtstrieb und Fort-
pflanzungstrieb indirekt für seine möglichen biologischen
Höchstleistungen „bewahrt“. jeder Verlust und jede Ver-
minderung des Schamgefühls kommt also einer Rück-
bildung des menschlichen Typus im Effekte gleich!
Denn jede solche Verminderung macht, daß die Summe der
geschlechtlichen Vermischungen biologisch ungleichwertiger
Individuen anwächst, indem der durch die Scham nicht mehr
eingeschränkte Trieb sich immer wahlloser und wahlloser reali-
siert oder anstelle der Liebeswahl eine Wahl nach utilitarischen
Gesichtspunkten tritt. Die Scham ist also nicht ein bloßer
Selbstschutz des Lebens des ganzen Organismus gegen
eine zu große Inanspruchnahme von Libido und Trieb, sondern
sie ist an erster Stelle ein Selbstschutz des edlen Lebens
gegen das gemeine. Es gilt daher die strenge Regel, daß
je edler eine Rasse oder ein generativer Zusammenhang inner-
halb einer Rasse ist, deren Schamgefühl um so stärker und
feiner ausgebildet ist und zwar ebenso beim Manne als beim
Weibe. Von den ritterlichen germanischen Helden werden
uns fast noch rührendere Züge der Feinheit ihres Schamgefühls
berichtet wie von den Frauen, bei denen Scham und Züchtig-
keit den höchsten Preis der Dichter gewannen.
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VENEZIANISCHE KURTISANEN
UND DER DICHTER PIETRO ARETINO.
Von Dr. VALERIAN TORNIUS.
tendhalerzähltin seiner ‚italienischenReise“ eineamüsantekleine
Geschichte, die sich in Venedig zugetragen haben soll. In dem
Teatro San Mos€ wurde eine Tragödie gespielt, und in dieser
Tragödie kam eine Szene vor, in welcher der Tyranıı seinem
Sohne das Schwert reicht mit dem Befehl, seine Schwieger-
tochter zu töten. Über die Wucht dieses finsteren Bildes ge-
riet das Publikum so sehr in Empörung, daß es von dem
GESCHLECHT UND OESELLSCHAFT 191
Tyrannen stürmisch verlangte, er solle sein Schwert zurück-
nehmen. Darauf trat der junge Fürst vor die Rampe und es
gelang ihm, allerdings mit großer Mühe, das aufgeregte Parterre
zu beschwichtigen. Er versicherte nämlich, daß ihm nichts
ferner läge, als die Gefühle seines Vaters zu teilen, und er gab
sein Wort darauf, daß die verehrten Zuschauer, wenn sie sich
nur zehn Minuten gedulden wollten, schließlich sehen würden,
daß er sein Weib retten werde.
Diese Anekdote ist sehr bezeichnend für das Empfinden
der Venezianer. Es gibt vielleicht nirgends auf dem Erdenrund
einen Ort, wo das Verbrechen mehr auf Schleichwegen
wandelt, als hier in der Stadt der Lagunen, allein gegen
einen offenen Mord, und dazu noch den Mord einer schönen
Dame, und wäre es nur auf der Bühne, empörte sich das
lebensfrohe Gemüt dieser Inselbewohner. Und so, wie zu
Stendhals Zeiten, so war es auch zwei oder drei Jahrhunderte
vor ihm — alles andere durfte man dem Venezianer nehmen,
nur nicht seine Heiterkeit, seine Sinnenfreude.
Es liegt eine sinnliche Schwüle über dieser Stadt, die man
sonst nirgends finde. Wandert man auf den schmalen, irr-
gartenähnlichen Fußstegen, die sich fortwährend in Sackgäßchen
verlieren, so glaubt man in das Bereich irgendeiner Kirke ver-
setzt zu sein und erwartet jeden Augenblick das Auftauchen
ihres Zauberstabes; gleitet marı in der Gondel auf dem dunklen
Wasser dahin, scheint es, als ob Nixen aus der Tiefe sängen
und begehrlich die Arme einem entgegenstreckten; überall sind
Liebesgötter tätig, das Gefühl des armen Fremdlings zu ver-
wirren. Ja, es kommt einem immer deutlicher zu Bewußtsein,
daß diese aus der Adria aufsteigende Märchenstadt mit ihren
bizarren, architektonischen Formen, mit ihren schimmernden
Palästen und majestätischen Türmen, mit ihren labyrinthischen
Kanälen und verschwiegenen Winkeln, mit ihrem Fehlen alles
Wagengerassels, mit ihren singenden Gondolieren und be-
rückend schönen Frauen vom Schicksal dazu bestimmt scheint,
dem Liebestaumel ein Asyl zu bieten. Selbst aus der
venezianischen Malerei, aus Tizian, Giorgione, Paolo Veronese
leuchtet dieses Schwelgen in Schönheit, diese Bewunderung
des Körperlichen, diese Freude an der Farbe und die All-
gewalt der Liebe hervor, die in dem berühmten „Amor sacro
e profano“ des Tizian ihre höchste Vollkommenheit erreicht,
192 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
wobei bezeichnenderweise die nackte Gestalt gerade die gött-
Hiche Liebe darstellt, also mit anderen Worten das Körperliche,
das Sinnenfreudige sakrifiziertt wir. Und an Venedig knüpft
sich auch die Erinnerung an jenen Mann, der — freilich erst
durch Feuerbachs Gemälde — zu dem Typus eines Wollüst-
lings und Genießers geworden ist: Pietro Aretino.
Welche Rolle die käufliche Liebe in Venedig spielte, geht
aus den Notizen des Chronisten Santo hervor, dem
wir die Feststellung verdanken, daß im Jahre 1509 bei einer
Einwohnerzahl von 300000 Seelen nicht weniger als 11654
Demimondänen hier ansässig waren. Allein der Senat muß sie
doch besonders geschützt haben, denn in seinen Akten heißen
sie „le nostre benemerite mecretrici“. Venedig war im XVI.
Jahrhundert das Dorado aller Kurtisanen. Hier strömten sie
aus allen Windrichtungen zusammen, selbst aus Rom, wenn sie
sich dort durch irgendein Verbrechen die Gunst der eleganten
Herrenwelt verscherzt hatten, wie zum Beispiel die schöne
Tullia d’Aragona, der man es nicht verzeihen wollte, daß sie
einen Deutschen in ihrem Boudoir empfangen hatte. Sehr
verlockend schildert der Dichter Andrea Calmo einer römischen
Kurtisane, die er gern nach Venedig gezogen hätte, den dor-
tigen Aufenthalt. Er schreibt: „Ich hätte Euch gezeigt, wo man in
der Gondel spazieren fährt oder in einem Wagen auf dem
Festlande. Ich hätte Euch auch zu heimlichen Gelagen und
Essen geladen, und Ihr wäret Euch dort wie eine Königin
vorgekommen, wie eine Penthesilea. Hättet Ihr Lust gehabt,
in geschäftliche Verbindung zu einigen Monsignore zu treten,
so würde ich Euch nicht im Stiche gelassen haben. Ich kann
Euch nur dringend raten, hierher nach Venedig zu kommen,
denn kaum erscheint hier eine Fremde, so ist jeder Mann
hinter ihr her. Ihr habt eine so gewählte Sprache, so artige
Bewegungen und einen so züchtigen Gang, daß selbst ein
eisernes, grausames, hochmütiges Herz vor Liebe umkommt.
Es wird Euch je nach den Jahreszeiten unter Euren Fenstern
ein gesungenes oder ein gespieltes Ständchen dargebracht
werden, Narrenunterhaltungen, Sendungen von Süßigkeiten und
Trefflichkeiten werden Euch geboten werden, daß Eure Lungen
vor Freude nur so jauchzen sollen. Und alle werden zur
Verfügung der Ehre der Herrin stehen, im Namen ihrer Schön-
heit und zum Nutzen ihres Ansehens usw.“ —
DER LIEBESMARKT. Von FÉLICIEN ROPS.
Zu dem Aufsatz »Die Jagd nach dem Mann , Seite 210.
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AUF DEM MÄNNERFANG. Von HANS HOLBEIN (?). Deutsche Karikatur aus dem 16. Jahrhundert,
Zu dem Aufsatz »Die Jagd nach dem Mann«, Seite 210.
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 193
Nun muß man sich allerdings unter einer Kurtisane nicht
das vorstellen, was man heutzutage unter einer Halbweltdame
versteht. Sie entstammten meist gut bürgerlichen Familien und
waren häufig gebildeter als manche hochgestellte Damen. Der
Novellendichter Bandello weiß von einer ganzen Reihe solcher
Frauen zu berichten, die tagsüber mit Wissenschaft und Lite-
ratur sich beschäftigten und nachts Gott Eros sich verkauften.
Pietro Aretino, der in die Geheimnisse der Kurtisanen wie
kein anderer seiner Zeitgenossen Eingeweihte, berichtet von
Madrenna, einer vielgefeierten Halbweltdame, um deren Gunst
Herzöge, Diplomaten und Kardinäle warben, daß sie Petrarca,
Boccaccio und eine Unmenge schöner lateinischer Verse von
Virgil, Horaz, Ovid und anderen Autoren auswendig gewußt
hätte. Ebenso war die reizende Imperia ein Weib von Geist
undBildung, die berühmteste jedoch gewiß Tullia, die Tochter des
Kardinals d’Aragona und der hübschen Giulia Farnese, die
durch ihren Gesang alle Herzen in ihren Bann zwang. Nicht
alle von den 11654 Venuspriesterinnen waren so liebreizend
und so klug wie diese Kardinalstochter, aber in Venedig gab
es trotzdem eine ganze Anzahl gebildeter Kurtisanen, die so-
gar eine tonangebende Rolle in der Gesellschaft spielten.
Die einflußreichste unter ihnen war zweifellos Veronica
Franco. Daß sie unter Numero 204 in den „Katalog der
ersten und sehr ehrenwerten Kurtisanen Venedigs“ eingetragen .
war, hinderte sie nicht, ein großes Haus zu führen, in dem
Venedigs Literaten und Künstler rege verkehrten. Es ist nicht
zu begreifen, wie sie trotz der sehr bescheidenen Honorare,
die sie für ihre Gunst verlangte — sie verkaufte sich für
2 Scudi — in solchem Luxus und auf so großem Fuße leben
konnte. Vielleicht hatte dieser niedrige Preis auch nur für ihre
literarischen Freunde Gültigkeit, während höhere Persönlich-
keiten um so tiefer in die Geldkatze greifen mußten. Jeden-
falls wird der dreiundzwanzigjährige dritte Heinrich von Frank-
reich, als er der Lagunenstadt seinen Besuch abstattete, für die
Schäferstündchen in Veronica Francos Boudoir reichlichen Tribut
entrichtet haben, denn es wurde erzählt, er habe während seines
achttägigen Aufenthalts in Venedig keine Nacht im Palast ver-
bracht, sondern sich immer durch irgendein Hintergäßchen in
die Gegend von Gan Giorgio Grisostimo, wo die viel um-
schwärmte Kurtisane lebte, fortgeschlichen.
Geschlecht und Gesellschaft, VII, 5. 13
194 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Über die Pracht, die in einem Kurtisanensalon herrschte,
kann man sich heute noch auf Grund von zeitgenössischen
Berichten eine annähernde Vorstellung machen. Jene sinnliche
Schwüle, die schon äußerlich Venedig kennzeichnet, kam in
diesen Räumlichkeiten noch in verstärktem Maße zur Wirkung.
Die Zimmer wurden natürlich im Hinblick auf die Stimmung,
welche die Sinne gefangen nehmen sollte, mit dem erdenk-
lichsten Raffinement ausgestattet. Die Wände waren mit schwerem
Samt und Seidenstoffen bekleidet, auf dem Fußboden lagen
kostbare Teppiche. Vasen aus Alabaster, Porphyr und Serpentin
zierten die geschnitzten Tische. Majoliken und Kunstgegen-
stände jeder Art prunkten an den Wänden und in allen Ecken
der Räume. In dem Salon der Imperia wurde die Pracht
sogar so weit getrieben, daß ein spanischer Gesandter in Er-
mangelung einer Stelle zum Ausspucken einem Diener ins
Gesicht spie und mit folgenden Worten sich entschuldigte;
„Verzeih, aber hier gibt es nichts Häßlicheres als dein Gesicht.“
Veronica Franco soll eine sehr schöne Frau gewesen sein.
Einer ihrer Bewunderer rühmt ihr goldgelbes Haar, ihre gött-
lichen Augen und ihren herrlichen Teint. Tintoretto hat sie
porträtiert, aber das Bild ist leider verschollen. Der berühmte
Maler war einer ihrer glühendsten Verehrer. Von ihm eignete
sie sich ihr kunstkritisches Wissen an, von dem auch ihre
Briefe einiges Zeugnis ablegen. Unter den Literaten war es
besonders Bernardo, der Vater Torquato Tassos, der ihr nahe
stand. Er ist wohl derjenige gewesen, dessen Urteil sie ihre
eigenen dichterischen Erzeugnisse — auch sie war der Mode-
krankheit „Sonette zu dichten“ verfallen — zuerst unterbreitete.
Aber immerhin erweisen ihre Sonette mehr Befähigung als die
so vieler anderer Dichterinnen jener Zeit. Veronica war stets
darauf bedacht, in den freien Künsten etwas zu lernen, wie sie
überhaupt dem Schöngeist vor allen anderen Männern den
Vorzug gab. „Ihr wißt sehr wohl“, schreibt sie einmal an
einen ihrer jungen Verehrer, „daß unter allen denen, die sich
in mein Herz einzuschmeicheln verstanden, mir die besonders
teuer sind, welche sich um die Übung der Disziplinen und
der freien Künste bemühen, für die ich, obwohl nur ein Weib
von geringem Wissen, nach Wunsch und Neigung so sehr
schwärme. Und jene, denen es bekannt ist, daß ich, wo nur
immer sich Gelegenheit bietet, noch zu lernen, es mein ganzes
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 195
Leben lang tun würde und daß ich, wenn meine Lage es mir
gestattete, alle meine Zeit in den Schulen wertvoller Männer
zubringen möchte.“
Daraus erklärt sich auch Veronicas Neigung zum geselligen
Verkehr mit hervorragenden Persönlichkeiten. Jeden Dichter,
der die Stadt der Lagunen aufsuchte, lud sie in ihr Haus ein.
War es nicht zu einer größeren Gesellschaft, die dann ge-
wöhnlich an Disputationen über Literatur und Philosophie
sich ergötzte und von der holden Gastgeberin in den Pausen
sich mit Gesang erfreuen ließ, so wenigstens zu einem intimen
Abendessen. Und der Gast bereute es nicht, mit Ausnahme
von Montaigne, der sich von einem solchen Souper einen
gründlich verdorbenen Magen geholt hatte, was allerdings mehr
dem Küchenmeister als der Gastgeberin zum Vorwurf dient.
Als dieser illustre französische Essayist die Franco be-
suchte — es war im Jahre 1580 — stand sie schon nicht mehr
in der Blüte ihres Lebens. Wie bei vielen schönen Sünderinnen
jener Zeit, hatte sich schon in ihrer Seele der Wurm der Reue
eingenistet, der ihr alle bestrickende, süße Anmut nahm. Da-
mals gründete sie gerade ihr Asyl für Frauen mit lockerem
Lebenswandel. Sie selbst hat sich ihrer Stiftung nicht lange
freuen können. Der Tod raffte sie bald darauf hinweg.
* *
*
Als Tullia d’Aragona, wie schon erwähnt, sich durch ihren
Leichtsinn in Rom unmöglich gemacht hatte, kam sie, nach-
dem sie einen kurzen Aufenthalt in Ferrara genommen, nach
Venedig. Die entzückende Blondine mit ihren heißen, flammen-
sprühenden Augen, mit ihrem graziösen, liebenswürdigen
Benehmen, die den Römern schon als Verkörperung des weib-
lichen Schönheitsideals galt, wurde merkwürdigerweise hier
nicht mit jener überschwenglichen Begeisterung empfangen,
die man sonst neu ankommenden Kurtisanen entgegenbrachte.
Obwohl der paduanische Universitätsprofessor Sperone Speroni
sich für sie in die Schanzen schlug und in einem „Dialog
über die Liebe“ sie mit einer Heldin des Altertums verglich
und einer Sappho an die Seite stellte, fand sie doch in Venedig
keinen Anhang. Die Hauptursache dieses Mißerfolges ist
Pietro Aretino zuzuschreiben. Dieser gefürchtete Condottiere
der Feder war nicht nur ein Protektor der Obdachlosen, der
13°
196 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Wöchnerinnen, zahlungsunfähiger Schuldner, ruinierter Kauf-
leute, entlassener Sträflinge, ‘heruntergekommener Edelleute,
hungernder Poeten, sondern auch der allmächtige Patron vieler
Kurtisanen. Tullia hatte nicht das Glück, ihm zu gefallen,
und so konnte sie in Venedig auf keine Karriere hoffen. Sie
tat deswegen am besten, daß sie kurz entschlossen den Staub
dieser undankbaren Stadt von ihren Schuhen schüttelte und
nach Siena reiste. Hier heiratete sie einen biederen Ferraresen
niederer Herkunft, um unter dem Deckmantel einer verheirateten
Frau ungestörter ihrem Gewerbe nachzugehen.
Das eine scheint nur bei dieser ganzen Affaire verwunder-
lich — der große Einfluß des Aretino. Wenn man sich aber
vergegenwäfrtigt, welche literarische Machtstellung der Schuster-
sohn aus Arezzo und ehemalige Buchbindergeselle in der
damaligen Welt behauptete, eine Machtstellung, die er der
Bosheit und Schärfe seines Spottes zu verdanken hatte, so
wird einem dieses leicht erklärlich. Nie ist ein Literat so ver-
göttert und zugleich so gefürchtet worden. Fürsten, Würden-
träger, hohe Geistliche, Literaten und Künstler haben um seine
Freundschaft gebuhlt, nicht etwa um von ihm verherrlicht
zu werden, sondern mehr aus Furcht, daß er sie zum Ziel
seiner Invectiven machen könnte oder auch in der Absicht,
ihn gegen ihre Feinde aufzureizen. „Ich komme mir vor wie
das Orakel der Wahrheit“, schreibt er einmal, „denn jeder er-
zählt mir das ihm von dem und dem Fürsten, von dem und
dem Prälaten widerfahrene Unrecht; ich bin der Sekretär der
ganzen Welt“ Von allen Seiten flossen ihm die Geschenke
zu, Geldsummen, Goldstoffe, Gemälde, Kunstgegenstände, so
daß seine fürstliche Wohnung im Hause des Domenico Bolia,
in der Nähe des Rialto, die vielen Schätze bald garnicht zu
fassen vermochte. Maßlose Selbstüberhebung war die Folge
dieser zweifelhaften Ehrungen. „Mein Bild ist über dem Ein-
gang der Paläste zu sehen“, rühmt er sich in einem Briefe.
„Mein Kopf ist auf Kannen, auf Tellern, auf Spiegelrahmen,
wie die Köpfe Alexanders, Cäsars, Scipios. Einige Kristall-
gläser, die in Murano fabriziert werden, nennt man aretinische
Vasen. Eine bestimmte Pferderasse hat den Namen bekommen,
weil mir Papst Clemens VII. ein solches Pferd geschenkt hat
und ich es meinerseits an den Herzog Federico weiterverschenkt
habe. Das Wasser, welches einen Teil dieses meines Hauses
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 197
umspült, heißt man das aretinische. Meine Weiber wollen
Aretinerinnen genannt werden. Man spricht sogar von einem
aretinischen Stil. Die Pedanten können vor Wut sterben, ehe
sie zu solcher Ehre gelangen.“
Aretinos Reichtum, den er sich durch sein literarisches
Piratentum zusammengeschleppt hat, strömt auf alle Bedürf-
tigen eine Anziehungskraft aus, denn man weiß, daß er frei-
gebig bis zur Verschwendung ist. Seine Freunde kommen
und nehmen viele Kunstgegenstände und kostbare Kleider;
wenn er in seiner Gondel fährt, drängen sich auf den Brük-
ken und Stegen Knaben und Mädchen, die um Geld betteln;
wenn eine Frau in die Wochen kommt, wendet sie sich an
ihn mit der Bitte um Unterkunft und erhält sie; wenn ein
Dichter oder Maler nichts mehr zu beißen und zu brechen
hat, wer istes, der sich dann seiner erinnert? — Pietro Aretino —
„Wahrlich, mein Lieber”, schreibt er an einen seiner Freunde
„von den fünfundzwanzigtausend Scudi, die ich frisch aus
den Eingeweiden der Fürsten durch das Geheimnis meiner
Feder herausgezogen habe, habe ich nicht einen einzigen,
wie ihr behauptet, auf die Straße geworfen. Was soll ich
denn damit machen? Bin ich einmal geschaffen, so zu leben,
wer kann mich daran hindern?”
Die „casa Aretino“ glich einem Taubenschlag. Von den
vielen Besuchern sollen schon die Marmorstufen völlig abge-
nutzt worden sein. So behauptet wenigstens Areno. Zwei-
undzwanzig Frauen, darunter Kurtisanen, auch ehrbare Mädchen,
Mütter mit Säuglingen an der Brust, beherbergt er in seinem
Palazzo. Und er zeigt sich ihnen gegenüber genau so freigebig
und gastlich, wie im Verkehr mit seinen intimsten Freunden
und Freundinnen, zu denen er hin und wieder flüchtet, wenn
es ihm daheim allzu toll wurde.
Jeder, der in Venedig war, kennt den stolzen Palazzo
Loredon am Canale grande schräg gegenüber der Kirche
San Silvestro. Es ist ein Bau, in dem die Vermengung
mannigfaltiger Stile besonders auffällig hervortritt. Traditionelle
byzantinische Formen treten auf vermischt mit lombardischen
Motiven, ja sogar maurische Elemente machen sich in der
Schlankheit und Dichtheit der kleinen Säulen und der Höhe
der Pilaster bemerkbar. In diesem Palazzo residierte damals
die „schönste, liebenswürdigste Frau in Cupidos Hofstaat“,
198 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
die Kurtisane Angela Zaffetta. Ihr Salon war ebenfalls
wie der der Imperia wahrhaft königlich eingerichtet mit fland-
rischen und türkischen Teppichen, Brokat- und Ledertapeten,
geschnitzten Möbeln, goldgestickten Samtdecken, Bildern, Vasen
und schöngebundenen Büchern, die überall auf den Tischen
lagen. Zaffetta hatte ebenso wie später die Herzogin von
Mazarin die Angewohnheit, allerlei Tiere, Vögel und Affen
zu halten. Aber hier kletterten sie nicht so frei herum wie
in dem Sommerpalast der Mazarin zu St. James. In den
Salon der Zaffetta zu gelangen war durchaus nicht leicht.
Nur Kavaliere von höchstem Stande, oder Prälaten und Ge-
lehrte von ganz besonderer Bedeutung fanden Einlaß. Und
auch dann mußten sie noch in dem Vorzimmer, wie bei
einer königlichen Audienz, geduldig warten, bis die Herrliche
erschien.
Der einzige vielleicht, der jederzeit eine offene Tür fand,
war Pietro Aretino. Er blieb bis ins Alter eng mit ihr be-
freundet. Auch als sie mittlerweile den Zenith ihres Lebens
überschritten hatte. Aretino kehrte aber auch dann gern bei
ihr ein und verzehrte mit seinem Freunde Tizian bei ihr hin
und wieder das Abendessen. Aus dem alten Wüstling war
jetzt ein Schlemmer geworden, dem nur noch eine gute Tafel
wahrhaften Genuß bereitete. Bei einem Becher auserlesen
guten Weines disputierten die drei Alten, zwar nicht mehr
über Liebe und Frauenschönheit, wohl aber über die Predigten
des heiligen Markus. ....
DIE SCHLIMMSTEN.
Das sind die schlimmsten von allen Tollen
Hier im menschlichen Narrenstaat,
Die uns das Leben verleiden wollen,
Weil’s ihnen selbst nichts zu bieten hat.
(О. Е. №.)
Aus Bebheim -Schearzbach, ,, Liebe",
EI
DIE EHELICHE UNTREUE.
Von Dr. I. B. SCHNEIDER.
Ш.
Н" Eulenberg, der bekannte Dramatiker, hat im Jahre
1909 ein kleines Schriftchen unter dem Titel: “Du darfst
ehebrechen!“ erscheinen lassen. In belletristischer Form hat er
sich hier mit dem Ehebruchsproblem auseinandergesetzt, indem
er an Hand einer „Moralischen Geschichte“ den Widersinn
des Paragraph 172 des Deutschen Reichs-Strafgesetzbuches zu
brandmarken versuchte. Dieser Paragraph lautet folgender-
maßen:
„Der Ehebruch wird, wenn wegen desselben die Ehe ge-
schieden ist, an dem schuldigen Ehegatten, sowie seinen Mit-
schuldigen mit Gefängnis bis zu 6 Monaten: bestraft. Die
Verfolgung tritt nur auf Antrag ein.“
Die Eulenbergsche Polemik gegen diesen Paragraphen
kennzeichnet sich nun dadurch, daß die Lösung dieses so un-
gemein komplizierten Problems auf rein menschlichem Wege,
ohne Hinzutreten des rächenden Gesetzes angestrebt und auch
gefunden wird. Das Vergehen gegen die Reinheit der ehelichen
Sitten, sagt der Autor, ist eine Angelegenheit, die keinen Staat
und keine Gesellschaft etwas angeht, sofern kein öffentliches
Interesse dadurch geschädigt wird. Wenn der Staat oder die
Gesellschaft derartig intime Vorgänge des Ehelebens mit ihrem
Eingreifen bedrohen, so ist das gleichbedeutend mit der Bekun-
dung eines rein egoistischen Interesses und in politischer Hin-
sicht ein reaktionäres Bekenntnis, ein Versuch im Jahrhundert
der Freiheit und Toleranz eine mittelalterliche Autokratie aus-
zuüben. In einer paradoxen Umdeutung des mosaischen De-
kalogs sagt der Verfasser zu allen, die unter dem Joch einer
unerträglichen, moralisch längst in Brüche gegangenen Ehe
seufzen: “Du darfst ehebrechen!“ Und das soll nach Eulen-
bergs Meinung auch in Zukunft der Leitspruch einer sittlich
und kulturell reifen Menschheit sein, der selbst durch den augen-
blicklichen Bestanddes Paragraph 172nicht widerlegt werden kann.
200 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Eine Diskussion der Machtbefugnis, die den gesetzlichen
Instanzen innerhalb dieses Paragraphen zugesprochen werden,
umfaßt auch die Motive und Folgen des Ehebruchs in moderner
Zeit überhaupt. Er ist eine Schöpfung der Tradition und ein
Kompliment vor dem zähen Geist des kirchlichen Dogmatismus,
der auch in der gegenwärtigen Kultur ein System der Bevor-
mundung und Unduldsamkeit aufgerichtet hat. Entgegen den
biologischen Tatsachen und einem vernünftigen menschlichen
Standpunkt, betrachtet nämlich die Kirche den Beischlaf und
mithin alles, was mit ihm zusammenhängt, noch immer als un-
sittlich, und stellt sich so in schroffen Gegensatz zu den ethischen,
natürlichen Prinzipien, die dem Menschen eingeboren sind. Allein
jedes Gesetz, das mit den Forderungen dieser natürlichen Ethik
nicht übereinstimmt, ist im Grundeschlechtunderstrebt das Gegen-
teil dessen, was es schützen, vervollkommnen, reinigen soll. In das
Ehebruchsgesetz ist durch die traditionelle Allianz des Gesetz-
gebers mit dem Theologen ein Moment der Lüge und der Un-
vollkommenheit hineingetragen worden, dem zufolge die Ver-
gehen wider die eheliche Treue nicht behoben, sondern vielfach
noch in einem größeren Stile gezüchtet werden.
Das Grundmotiv, um dessentwillen der Ehebruch in histo-
rischer und in moderner Zeit mit Strafen belegt wurde, ist die
Vorstellung von dem Unerlaubten, die sich an den Beischlaf
als solchen knüpft. Ich habe bereits im einleitenden Kapitel
dieses Aufsatzes bemerkt, daß eine Verfolgung und Bestrafung
des Ehebruchs nur in kulturell aufsteigenden Epochen möglich
ist, da im Seelenleben der Völker erst eine Reihe bestimmter
Vorstellungen und Assoziationen vorhanden sein müssen, be-
vor Schamgefühl und Sittengesetz sich entwickeln können. Auf
primitiven Stufen gelten Prostitution und außerehelicher
Geschlechtsverkehr nicht anders, als die Nutzung anderer zu
natürlichen Zwecken bestimmter Körperorgane. In jenem Au-
genblick, da der Mensch erkennt, daß er aus den beiden vor-
genannten Faktoren Nutzen oder Schaden ziehen kann, zieht
er sie in den Bereich seiner philosophischen Spekulation und
legt in ihnen bestimmte Gegensätze — gut oder böse — fest.
Anders ausgedrückt: Prostitution und außerehelicher Geschlechts-
verkehr waren im Grunde gut und sind erst durch die philo-
sophische Spekulation schlecht geworden. Daraus ergibt sich
als nächste Konsequenz, daß es auch ein Ehebruchsvergehen
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 201
nicht gibt, solange der Mensch nichtIndividualist undPoli-
tiker geworden ist. j
Die erste Regung des erwachenden politischen Sinnes
ist die Erfindung eines imaginären obersten Prinzipes und
der Mißbrauch der Gottesidee zur raffinierten Befriedigung
selbstischer Gelüste. Der nächste Schritt ist die Mißachtung
der natürlichen Instinkte und die Schaffung der moralschützenden
Paragraphen. Die Bestrafung der ehelichen Untreue ist eine
Herabwürdigung der Liebe, — deren Wesen in der restlosen
Hingabe zweier Menschen an einander besteht, — zu einer poli-
tischen Machtfrage, und mithin eine unmoralische und eine
inhumane Tat. Ein Gesetz aber, das gegen die vitalen Interessen
der Menschheit gerichtet ist, hat nicht nur keine Berechtigung,
sondern bedarf einer schleunigen Korrektur, das ist: seiner
endgültigen, restlosen Entfernung.
Noch ein anderer Umstand, der nicht minder als unsitt-
lich bezeichnet werden muß, hat zur Gestaltung des Ehebruchs-
problems beigetragen. Die Verfolgung der ehelichen Untreue
durch schamlose Enthüllung und Strafandrohung stellt sich
alseine rein sexuelle, exhibitionistische Regung dar. In
allen Fällen, wo das intime Verhältnis zweier Menschen vor
die breite Öffentlichkeit gezerrt wird und Geheimnisse des
Alkovens vor dem Gerichtsstuhle breitgetreten werden, handelt
es sich um Schergendienste, die von der Gesellschaft an dem
Einzelnen begangen werden, Unzüchtigkeit seitens des Publi-
kums und mancher gerichtsbefugten Herren und um die ideelle
Befriedigung eines Gelüstes, das zur Begehung des gleichen
Deliktes — des Ehebruchs — treibt. Diese erotische Wurzel
ist ersichtlich aus der Art und dem Ausmaß der Strafen, die
in historischer Zeit für den Ehebruch aufgewendet wurden,
aus dem Umfang, zu dem solche Prozesse gediehen, und aus
der Bereitwilligkeit, mit der alle Details früher und heute vom
Publikum aufgenommen wurden. Ein erotisches Empfinden
an und für sich enthält nun allerdings nichts Unsittliches in
sich, denn Erotik ist gleichbedeutend mit Kraft und Gesund-
heit. Unsittlich wirkt das Sexuelle nur dann, wenn es zum .-
Schaden anderer und zur Verletzung der Menschheitswürde
beiträgt, ferner, wenn dadurch verkehrten Instinkten, die
rudimentär in jedem Menschen vorhanden sind, zum Durch-
bruch verholfen und folglich eine Dekadenz der Masse vor-
202 GESCHLECHT UND OESELLSCHAFT
bereitet wird. Durch die öffentliche Verhandlung der Ehe-
bruchsprozesse vor den Gerichten und in der Presse wird
dieMasse mit sadistischen und exhibitionistischen Empfindungen
durchseucht, beziehungsweise jenes verhängnisvolle Ressen-
timent in ihr verbreitet, das dann zur Verübung der gewalt-
samen Unzuchtsverbrechen und dem Anschwellen der Prosti-
tution führt.
Wenn wir uns im übrigen der modernen Gesetzgebung kri-
tisch gegenüberstellen, so fällt uns auf, wie einseitig der Gesetz-
geber den Begriff des Ehebruchsvergehens interpretiert. Die
Handlung, die durch den Paragraph 172 des D. R. Str. G. B.
getroffen wird, ist allein der zwischen zwei Personen ver-
schiedenen Geschlechtes, von denen wenigstens die eine
verheiratet ist, vollzogene Beischlaf. Der eheliche Partner, der
Beweise zu besitzen glaubt, daß der andere Teil die Ehe
in der vorgenannten Weise gebrochen habe, ist berechtigt,
die Ehescheidungsklage einzureichen und binnen einer Frist
von 3 Monaten von dem Zeitpunkt an, der zur Kenntnis des
Urteils gelangte, den Strafantrag zu stellen. Zur Begehung
des Ehebruchs ist demnach der vollzogene Beischlaf un-
bedingt notwendig und nur dieser wird an beiden schuldigen
Teilen bis zu 6 Monaten bestraft. Schon für den unkritischen
Laien ergibt sich hier auf den ersten Blick eine ungeheure
Lüge, die die Kraft und Moral dieses ganzen Gesetzes um-
stoßen muß. Eine Frau, die unter Hintansetzung des ehelichen
Treuversprechens ein Verhältnis hinter dem Rücken ihres
Mannes anknüpft, darf alles tun; sie darf ihre Seele und ihren
Körper in jeglicher Weise prostituieren, sie bleibt straflos, so-
lange sie nicht den Beischlaf mit einem anderen Manne als
ihrem Gatten vollzieht. Eine Frau kann tausendfach Schmutz
in eine Ehe hineintragen und kann offenkundig Ehebruch be-
gehen, ohne sich im Sinne des Gesetzes schuldig zu machen.
Ein Gleiches trifft von dem Manne zu, der sich allen Arten
von Perversitäten, Unzüchtigkeiten und Weiberjagd hingeben
kann, ohne die Schuld, die in dem Paragraphen 172 indiziert
ist, auf sich zu laden. Es ist eine Argumentation von ge-
ringer Gegenbeweiskraft, und nicht mehr als ein Zugeständnis
der eigenen Mangelhaftigkeit, wenn das Gesetz bestimmt, daß
strafbare Handlungen nach Paragraph 171 und 175 des R. Str
G. B. zwar nicht als Ehebruch zu betrachten sind, ihre Ver-
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 203
übung jedoch den anderen Teil ebenfalls berechtigt, die
Scheidung der Ehe zu verlangen. Aber der Ehebruch kann
noch nach erfolgter Scheidung mit 6 Monaten Gefängnis be-
straft werden! Es ist nicht einzusehen, was für ein Unter,
schied zwischen dem normalen Coitus, und sagen wir,
— mutueller Onanie bezüglich der Strafbarkeit besteht!
Von den Verfechtern des $ 172 werden namentlich zwei
Gründe ins Treffen geführt, die gegen die Abschaffung der
Ehebruchsstrafen sprächen: Einerseits bringe der Mann durch
den außerehelichen Geschlechtsverkehr die Ansteckungsgefahr
ins Ehebett und gefährde die wirtschaftliche Lage der Familie.
Allein gegen diese Möglichkeit gäbe es einen Schutz, wenn
die Forderung weiter Kreise nach einer gesetzlichen Bestim-
mung zum Schutze gegen Infektionsübertragung in einem
Reformentwurf des Str. G. B. Berücksichtigung fände. Ein
Gesetz, das die Anzeigepflicht für Geschlechts-
krankheiten vorschreibt, wäre ein wirksamerer Schutz als
die Existenz eines Paragraphen, dessen Anwendung doch nur
im bedingten Maße möglich ist. Andererseits wiege der Ehe-
bruch bei der Frau doppelt schwer, weil die Nachkommen-
schaft dadurch unsicher werde und sie die Familie völlig
aufopfere, während der Mann der Familie trotzdem häufig er-
geben bleibe. Dieser Einwand ist zweifelsohne berechtigter
und auch aus wirtschaftlichen Gründen zutreffend. Man kann
es keinem Mann zumuten, für eine Nachkommenschaft zu
sorgen, die ohne seine Zustimmung und gegen seinen Willen
in die Welt gesetzt worden ist. Aber da ein so offener Ehe-
bruch einen hinlänglich triftigen Ehescheidungsgrund abgibt,
so ist nicht einzusehen, warum die Frau noch in anderer
Weise zur Verantwortung gezogen werden soll, zumal vielleicht
das illegitime Kind ein weit wertvollerer Sproß ist, als wenn
es im Ehebett gezeugt worden wäre? Mit der vollzogenen
Scheidung durch Verschulden der Frau erlöschen an und für
sich ihre Alimentationsansprüche an den Mann, mithin ist eine
besondere Strafandrohung unsinnig und auch von geringem
nachträglichen Wert. Ich möchte übrigens bemerken, daß
sich meine Polemik nicht gegen die Ehescheidung wegen
Ehebruchs richtet — ich halte offenkundigen Ehebruch für
einen hinlänglich triftigen Ehescheidungsgrund; ich meine aber,
daß mit vollzogener Scheidung auch das Recht der Gesell-
204 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
schaft auf Verfolgung der Schuldigen erlischt. Ist schon die Form,
wie derartige Prozesse verhandelt werden, die nur dem Bestehen
des § 172 zufolge möglich ist bedenklich genug, umso bedenk-
licher sind die Folgen, die eine eventuelle nachträgliche Straf-
verhängung für sonst vielleicht gänzlich unbescholtene und an-
gesehene Personen nach sich ziehen kann. In diesem Sinne kann
sich der § 172 zu einer bedeutenden sozialen Gefahr auswachsen,
und es wäre dankenswert nachzuweisen, ob und wieviel
wirtschaftliche und soziale Krisen er in Wirklichkeit bereits ver-
schuldet hat. Hauptsächlich darum aber besteht der $ 172
zu Unrecht, weil er eine Tendenz offenbart, die wie gesagt
auf Entwertung der natürlichen erotischen Anlagen abzielt,
indem er in einem bei Würdigung der Motive vielleicht durch-
aus moralischen Verhältnis zwischen einem verheirateten Mann
und einer ledigen Frau — oder umgekehrt — einen strafbaren
Tatbestand indiziert. Es ist dasselbe, wie die Strafandrohung
gegen Verfehlungen im Sinne des $ 175, die noch viel mehr
beweist, daß nicht die eventuellen Schäden an der Gesellschaft
bestraft werden, sondern allein die festgesetzte, sexuelle
Handlung. Und da liegt es auf der Hand, daß durch das
Bestehen solcher und ähnlicher Paragraphen die Sittlichkeit
der Gesellschaft weit mehr gefährdet ist, als wenn sie fort-
fielen: einmal weil sie die bekannten Rattenkönige von Schmutz-
prozessen nach sich ziehen, dann aber besonders, weil sie
allerlei Erpressergesindel die nötigen Handhaben zur Ausübung
ihres zweideutigen Gewerbes bieten. So ist auch das Ehe-
bruchsgesetz eine kostbare Waffe, die im Dienste der Kuppler
und Erpresser steht, und es genügt eine genaue Kenntnis-
nahme der bezüglichen Paragraphen, um die verirrten Leiden-
schaften der Schwachen und vom Glück Verstoßenen zu
schmutzigen Geschäften auszubeuten. Hier müßten sich doch
die Menschen einmütig erheben und einen flammenden Protest
anstimmen gegen Konvenienz und Dogmatismus, unter deren
Deckmantel der freie Bürger täglich von neuem vergewaltigt
wird. Eine Freiheit, die aus trockenem Paragraphengeiste ge-
boren ist, bedeutet den Niedergang der Kultur und das Ende
der Humanität. Fromme Gemüter, die Vergnügen an geheim
geübten Unzüchtigkeiten sammeln, haben zu ihrem Trost das
Schlüsselloch erfunden, durch das sie die Vorgänge des
Alkovens und der Toilette beobachten können. Das Ehe-
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 205
bruchsgesetz ist das Schlüsselloch bureaukratisch gezähmter
Geister, durch das sie sich an allen den Pikanterien des Lebens
ergötzen, die sie selbst nicht kultivieren dürfen.
Aber die Gesellschaft, das ist der Staat, wirkt doch durch
die Strafandrohung läuternd, abschreckend, die ethischen Hemm-
nisse unterstützend?! Gäbe es keinen Ehebruchsparagraphen,
so würden die Ehebrüche ins Unermessene steigen, eine un-
gedämmte Prostitution den Verkehr der Geschlechter kenn-
zeichnen, und die öffentliche Moral dadurch kaum mehr als
eine Farce bedeuten! Ist dem wirklich so? Übt das Gesetz
tatsächlich eine Wirkung aus und ist diese Wirkung läuternd,
abschreckend, die ethischen Hemmungen unterstützend? Die
Antwort läßt sich am besten aus der Kasuistik der Ehebruchs-
prozesse geben; sie besagt das Oegenteil von dem, was die
juristischen Interpreten des Paragraph 172 vorschützen. Wo
ein Ehebruch begangen wird, geschieht es auch auf die Oe-
fahr hin, daß der beleidigte Gatte eine Ehescheidung und im
Anschluß daran Strafverfolgung der schuldigen Teile anstreben
könnte. Ausschlaggebend für das Zustandekommen des Ehe-
bruchs sind allein die Motive, die in den meisten Fällen von
so zwingender Natur sind, daß sie sich auch durch das Ein-
greifen dieses gewaltsam sittigenden Prinzipes nicht zurück-
dämmen lassen. Häufiger führt diese positive Einflußnahme
zu Katastrophen der öffentlichen Moral, formt Ehetragödien
und züchtet, wovon ich schon eingangs dieser Zeilen ge-
sprochen habe, das skrupellose Verbrechen. So hat sich vor
kurzem im Mecklenburgischen die Frau eines angesehenen
Rechtsanwaltes erschossen, weil unsaubere Elemente von ihrem
Verhältnis zu einem jungen Beamten Kenntnis genommen
hatten und unter Drohung mit einem öffentlichen Skandal
erpresserische Versuche an ihr unternahmen. Derartige Vor-
kommnisse wären unmöglich, wenn eben nicht eine egoistische
Spekulation das Verbrechen des Ehebruchs, resp. den dazu
gehörigen Paragraphen konstruiert hätte. Will die Gesellschaft
tatsächlich die Reinheit des ehelichen Bettes mit ihrer Autori-
tät schützen, dann muß sie zunächst das Wesen der Ehe re-
formieren, und es nicht dulden, daß soviel fehlerhafte und a
priori unsittliche Ehen geschlossen werden. Das tut die Ge-
sellschaft nicht, denn sie prüft die Bedingungen nicht, unter
denen sich zwei Menschen zur Ehe zusammenschließen, weil
206 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
sie ein Interesse daran hat, daß soviel Ehen als möglich ge-
schlossen werden. Die Gesellschaft hat kein Recht, in das
Eheleben des Einzelnen einzugreifen, weil sie selbst durch die
Überschätzung einer legitimen Nachkommenschaft augenblick-
lich den Boden für die unglücklichen und zerrütteten Ehen
vorbereitet. Sie ist ferner darum verantwortlich, weil sie durch
die Art und Weise, mit der sie Ehescheidung und den Ehebruch
anfaßt, die Schamhaftigkeit der betroffenen Teile untergräbt,
und auf diese Weise aus einem natürlichen Vorgang ein tat-
sächliches Verbrechen gegen Anstand und Sitte macht. Es
ist klar, daß die Fehme, mit der Vergehen wie die eheliche
Untreue von der Gesellschaft belegt werden, und die im Ge-
setz vorgesehene Strafandrohung in dem schuldigen Teil
schließlich Gleichgültigkeit und Cynismus aufkommen lassen
können: „Ich kann es nicht ändern, daß mich die Welt und
das Gesetz zum Verbrecher stempeln, weil ich vielleicht einem
unstillbaren Sehnen in mir Gehör und Erfüllung verliehen
habe; also ist es mir gleichgültig, ob noch ein wenig mehr
oder weniger hinzukommt, und ich tue nun offenkundig das,
was ich früher im geheimen geübt habe“ Im Übrigen maßt
sich die Gesellschaft ein Verdammungsurteil an, wo ihr die
ursprünglichen Gründe des Handelns unbekannt geblieben
sind, die sich letzten Endes doch als durchaus mensch-
lich und den ethischen Prinzipien konform darstellen
können. Es gibt unendlich viel Umstände, die zur Verletzung
der ehelichen Treue führen, die nur im Zusammenhang mit
der vorhandenen kapitalistischen Kultur und dem daraus re-
sultierenden heuchlerischen Moralkodex zu werten sind, so
z. B. wenn der Mann, aufgepeitscht durch die Jagd nach
Macht und Kapital, in der fressenden Unrast des Alltags, vor-
zeitig seine besten Nervenkräfte vergeudet und in seinen besten
Jahren sich zu einem verbrauchten Impotent entwickelt; wenn
ferner die wirtschaftliche Not den Mann davon abhält, dem
Willen seiner Frau entgegenzukommen und ihren Wunsch
nach entsprechender Nachkommenschaft zu erfüllen, resp.
wenn er sich aus ökonomischen Gründen im Eheleben mit
dem Coitus reservatus und condomatus begnügt. Ich möchte
behaupten, daß der präventive Geschlechtsverkehr den
brutalsten Angriff auf das Gefühlsleben der Frau
bedeutet und mit zu den Ursachen zu zählen ist, die Ehe-
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 207
brüche und zahlreiche Verbrechen aus unbefriedigter Sexualität
verschulden. So führt auch Ferdy ganz bestimmt die meisten
Ehescheidungsklagen wegen Ehebruchs in Frankreich auf den
im Übermaß geübten Coitus interruptus zurück. Die kapi-
talistische Kultur bringt es auch mit sich, daß die Altersgrenze
für die Eheschließung bei beiden Teilen immer mehr hinauf-
gerückt wird, beziehungsweise, daß es aus opportunistischen
Gründen zu Ehen zwischen auffallend ungleichaltrigen Per-
sonen kommt. Ein Ehebruch, begangen von einem jungen
Mann, der eine alternde unliebenswürdige Frau besitzt, eine
Frau, die ihm psychisch und physisch widerstrebt, ist kein
Ehebruch. Es gibt Verhältnisse —, und das gilt namentlich von
geistig hochstehenden Männern — wo der Mann gezwungen ist,
mit einem Objekt seiner Wahl in fortgesetztem Ehebruch zu
leben, weil er sonst in der Ehe langsam aber sicher seinen
geistigen Tod erleiden müßte. Ein Ehebruch, unter solchen
Bedingungen begangen, bedeutet im Gegenteil eine Katharrsis,
eine rein moralische Tat, seine Verfolgung durch Aus-
breitung der ehelichen Geheimnisse vor der Öffentlichkeit und
durch Strafen dagegen eine unzüchtige, aller moralischen und
humanen Perspektiven entbehrende Handlung. Die Gesell-
schaft, die an jede Scheidung einen öffentlichen Skandal durch
die nachfolgende peinliche Untersuchung vor den Gerichts-
schranken knüpft, kann unter keinen Umständen verlangen,
daß jeder erst sein ganzes Eheunglück vor einer sensations-
lüsternen Presse und einem ebenso gestimmten Publikum
preis gibt, bevor er sich zur Abstreifung der Ehefesseln ent-
schließt. Es gibt eben mimosenhafte Naturen, deren ästhe-
tisches Empfinden so kategorisch ist, daß sie lieber in fort-
gesetztem Ehebruch — den sie normalerweise nicht als solchen
empfinden können — leben, bevor sie den Schmutz eines
kurzen Ehescheidungsprozesses auf sich nehmen.
In Amerika ist kürzlich der Brauch aufgekommen, Probe-
ehen auf eine bestimmte Dauer zuzulassen, in denen sich
Braut und Bräutigam gegenseitig auf Herz und Nieren prüfen,
und die erst nach Ablauf der vorbestimmten Frist als giltig
geschlossen zu betrachten sind. Der Gedanke ist frappant,
tiefsinnig, voll gesunder Wahrheit, aber nicht neu, denn schon
Jahrzehnte früher hat Schleiermacher in seinen philosophischen
und vermischten Schriften etwas ganz Ähnliches ausgesprochen:
208 GESCHLECHT UND OESELLSCHAFT
„Warum, sagt er, soll es mit der Liebe anders sein, als mit
allem übrigen? Soll etwa sie, die das höchste im Menschen
ist, gleich bei dem ersten Versuch von den leisen Regungen
bis zur bestimmtesten Vollendung in einem einzigen Tage
gedeihen können? Sollte sie leichter sein, als die einfache
Kunst zu essen und zu trinken, die das Kind lange erst mit
ungeschickten Objekten und rohen Versuchen ausübt, die
ganz ohne sein Verdienst nicht übel ablaufen? Auch in der
Liebe muß es vorläufige Versuche geben, aus denen nichts
Bleibendes entsteht, von denen aber jeder etwas beiträgt, um
das Gefühl bestimmter und die Aussicht auf die Liebe größer
und herrlicher zu machen.“ Dieser mystische Drang, im
anderen immer das eigene vollkommenere „Ich“ zu suchen, liegt
auch unzähligen Ehebruchstragödien zu Grunde. Wer kann
die Frau schuld heißen, die eines Tages aus der Erkenntnis,
einen wertvolleren Partner gefunden zu haben, sich hingibt?
Das Gleiche trifft aber in einem noch weit höheren Maße
für den Mann zu, der Zeit seines Lebens auf der Suche nach
dem Weibe begriffen ist. Eine alte Volksweisheit sagt, daß
das Herz des Menschen erst dann erwache, wenn es zum
ersten Mal das Heimweh fühle. Aber das letzte Heimweh
des Mannes wurzelt im Weibe. Wie kann die Gesell-
schaft den Stab über ein Vergehen brechen, das in seinem
Urgrund einem so großen und erhabenen Gefühl entspringt?
Freilich, die Gesellschaft hat auch gegen den außerehelichen
Geschlechtsverkehr und alle Emanationen des Geschlechts-
triebes überhaupt selbstgefälligen Einspruch erhoben und hat
als heuchlerische Maske das Prinzip der Keuschheit vor-
genommen. Aber, ein Weib, das sich 10 Männern hingegeben
hat, und ein Mann, der dauernd die Ehe bricht, kann noch
immer keuscher sein, als mancher Vorsitzende eines Sittlichkeits-
vereins oder mancher jener Landpastoren, die die Sittlichkeit
behördlich gepachtet haben. Das stärkste Prinzip der Gesell-
schaft ist ihre absolute Prinzipienlosigkeit, und von diesem
Standpunkt aus wertet sie alles, was sie nichts angeht. Die
eheliche Treue ist — ebenso wie die persönliche Keuschheit
— etwas so Intimes, durch fremde Einflußnahme so leicht
zu Entweihendes, daß beide immer das brennendste Interesse
der Moralphilister bilden werden, und wie in den Tagen des
Zimmermannssohnes aus Nazareth werden sich noch heute
Re
ЖӨ, М; Er Se
WE Ж. у: gi E
IC ABEVNT, REDEVNTQ ALIAE DE MORE COLVMBAE-
MÄNNERFANG. Symbolischer Kupferstich von DE BRY.
Zu dem Aufsatz »Die Jagd nach dem Mann«, Seite 210.
URIEUSER
Da [ehzrache Piber Polek. dar nur dar Schwerd im Munde. wann fiten Фе” fish um ein paar hoßen [Magen
nicht- ın den Јаше har dar Jerit um hopen hier f Sehlugen 100 fit IAR um emen Mann:
und гт fich darum ame um em bein he hunde dafft-Ihnen Af fud! nur af Sredie nıcht- fragen.
Jamit ja Leine тое Әт от Schar, verdier жал ‚Ann. verbergen „Р. füeht jřnen toffer an.
реб уч foam? heme gpd rn SP A ` Aë
DER KAMPF UM DIE HOSEN. Deutsche Karikatur aus dem 17. Jahrhundert.
Zu dem Aufsatz »Die Jagd nach dem Mann«, Seite 210.
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 209
und später solche finden, die bereitwillig jeden Ehebrecher
steinigen. Und entgegen dem Wort in den Evangelien tun
es alle gerade darum, weil sie sich selbst schuldig fühlen.
Praktisch genommen wird auch der Zweck, der den
meisten Ehebruchsprozessen zu Grunde liegt: Bestrafung und
Läuterung des schuldigen Teiles, überhaupt nicht oder nur in
geringem Umfange erfüllt. In den seltensten Fällen sind die
Richter, die in einem der kompliziertesten Probleme die
Lösung finden sollen, auch gleichzeitig objektive Psychologen.
Und doch dürften in solchen Prozessen nur ganz erfahrene
und ergraute Männer, die vor allen Dingen mit den geheimsten
Tiefen des Seelenlebens vertraut sind, Recht sprechen, nach-
dem sie das Maß der Verschuldung auf beiden Seiten in pein-
licher und gleich gerechter Weise abgewogen haben. Kommt
aber ein Ehebruchsprozeß zur Verhandlung, so werden der
angeklagte Teil und seine Mitangeklagten durch alle Untiefen
des Schmutzes geschleift, während der Kläger nur bedingt
zur Schuld herangezogen wird und sich bei weitem nicht
jene demütigende Verspottung seines Seelenlebens gefallen
lassen muß. Für Gründe, wie ich sie eben angeführt habe,
und die von weittragendem Gewicht in der richtigen Beur-
teilung des Ehebruchsvergehens sind, darf der Richter schon
aus Berufspflicht und als Mandant der Gesellschaft kein Ohr
haben. Alles andere aber: in welcher Weise, wie oft und an
welchen Orten die eheliche Treue verletzt wurde, ist be-
deutungslos im Verhältnis zu den Ursachen, aus denen der
Ehebruch geflossen ist. Wären unsere Richter in erster Linie
Psychologen und erst an zweiter Stelle Juristen, dann gäbe es
kein Ehebruchsproblem und auch keinen Paragraph 172, weil
er sich als überflüssig herausstellen müßte. Denn, wo kein
Vergehen ist, da gibt es auch keine Rechtsprechung und kein
Urteil. Freilich, das Gesetz steht heute und noch auf lange
Zeit hinaus im Dienste der Sensation, denn das Gesetz ist
die einzige Form, in der die Masse ihre souveränen und bru-
talen Instinkte ausströmen lassen kann. Und aus dem Grunde
können nur durch eine Regeneration der Masseninstinkte
Probleme, wie das der ehelichen Untreue, zum Schwinden
gebracht werden. O 9
EI
Geschlecht und Gesellschaft, VIII, 5. 14
EES EES
DIE JAGD NACH DEM MANNE.
Von JOHANNES MARR.
ein mit Witz und Geist Begabter, wohl aber ein Pessimist
mit scharfen, das Leben durchdringenden Augen hat zu-
erst das Bild der alten Jungfer gezeichnet; einer, der vielleicht
allein unter Vielen die Tragödie erfaßt hat, von der jedes Weib
bedroht ist, wenn die Werbekraft seiner Jugend und Schön-
heit erloschen ist und die ‘entsetzlichste Krankheit, die den
Organismus befallen kann, das Alter, sich unerbittlich meldet. .
Denn das Alter ist härter als alle übrigen Krankheiten, weil
es kein Mittel gibt, dem physischen Niedergang zu steuern
und das schmerzlose Verdämmern aller Schönheit und Geistig-
keit hintanzuhalten. Darum die Sehnsucht aller Völker und
Zeiten nach Verjüngung, die Idee von der Wiedergeburt zu
einem ewigen, jugendverklärten Leben im Jenseits, die Philo-
sophie von der Metempsychose und die Legenden vom Jung-
brunnen, die im Mittelalter dem ganzen Orient und Occident
geläufig waren. Aus diesem Haß, dem Abscheu vor dem
Altern, das beim Weibe noch verhängnisvoller, offenkundiger
einsetzt, als beim Manne, erklärt sich auch die Satire auf den
alten Mann und das alte Weib und die grausame, aller Be-
rechtigung und Menschlichkeit bare Verspottung der alten
Jungfer.
Das Weib hat trotz aller schönfärbenden Maximen der
Emanzipation und der begeisterten Verherrlichung verliebter
Jugend nur solange positiven Wert für den Mann, als es ihn
sexuell anzieht und ergänzt. Die ganze Bedeutung und
Mission der Frau liegt in ihrer hochgespannten Sexualität, in
ihren erotischen Qualitäten, die den nach dieser Seite stark
unvollkommenen Mann entscheidend beeinflussen. Das Weib,
sei es naiv oder emanzipiert, mittellos oder in seiner sozialen
Position vom Manne unabhängig, erkennt diesen elementaren
Grundzug seines Charakters und gleichzeitig die Macht, die
ihm dadurch über den Mann gegeben ist. So kommt es, daß,
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 211
wo zwei Menschen verschiedenen Geschlechts einander be-
gegnen, augenblicklich jenes geheime, tiefsinnige Spiel beginnt,
das als ein Vorpostengefecht der Liebe, das erste vielleicht
unbewußte Stadium der Liebe bezeichnet werden muß.
Es gibt keinen Mann, der in Wirklichkeit irgend einem Weibe,
und wäre es selbst die, die ihn empfangen und geboren hat,
indifferent gegenüberstände, und umgekehrt fühlt sich jedes
Weib, selbst dem ärmsten und häßlichsten Manne gegenüber
als die Gewährende, Umworbene, eine sexuelle Superiorität
Ausübende Paradox ausgedrückt, befinden sich die Ge-
schlechter von der Kindheit an bis ins späte Alter hinein in
einem Zustande dauernder Werbung um einander. Und diese
Werbung ist es, die dem Leben des Einzelnen Inhalt, Form
und Bedeutung gibt. Das Weib ist von Natur aus der
passive Teil, und zweifelsohne ist ihre Passivität die beste
und erfolgreichste Waffe, mit der es den Mann seinen
Wünschen gefügig machen kann. Es ist eine erwiesene Tat-
sache, daß im Leben gerade die Frauen auf die meisten
Triumphe zurückblicken können, die entweder von ihrer Sexua-
lität scheinbar sich völlig losgelöst haben, oder der skrupel-
losen Werbung seitens des Mannes überhaupt keinen Wider-
stand entgegensetzen. Mit anderen Worten: die vornehmen,
an Geist und Schönheit hoch über das Niveau emporragenden
Frauen, deren Kennzeichen zeitlebens eine bewunderungs-
würdige Kühle war, und die Parias in den Niederungen und
Sümpfen des Lebens — die Dirnen. In der Werbung der
Geschlechter um einander siegen nur die Extreme, denn das
sexuelle Wunschempfinden reagiert letzten Endes doch nur
auf Perversitäten und Brutalitäten. Allerdings entpuppt sich
nachträglich Vieles, was als unnatürlich oder häßlich bezeichnet
wurde, als das direkte Gegenteil davon und man erkennt bei
näherem Zusehen, daß dieser unüberbrückbare Unterschied
zwischen Dirne und Madonna garnicht vorhanden ist.
Wenn im Laufe der Jahrhunderte die Werbung der Ge-
schlechter umeinander einen anderen Charakter gewonnen hat,
indem das Weib aus seiner passiven Rolle herausgetreten ist,
und sich immer mehr als die Angreifende dem Manne nähert,
so geschieht es darum, weil es an Schamhaftigkeit eingebüßt
und sich in dem weiblichen Geschlechte eine allseitige Dege-
neration zur Dirne vollzogen hat. Die geänderten ökono-
14°
212 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
mischen Bedingungen, unter denen allein die vorhandene Kul-
tur lebensfähig ist, und die damit unvermeidliche Umwandlung
der moralischen Anschauungen haben systematisch und kon-
sequent das Weib zu einem reinen Handelsobjekt herab-
gewürdigt und seinen Wert von einer mehr oder weniger ge-
schickten Reklame abhängig gemacht. Da der Mann nun
einmal im Weibe immer nur das Instrument zur Befriedigung
seines Sexualempfindens sucht, finden unter den heutigen Be-
dingungen jene Frauen die größten Chancen, die sich als
reine Kaufartikel anbieten und sich demgemäß herausstellen.
Diese Anschauung ist unserer Generation derartig ins Blut
übergegangen, daß die Mütter bereits ihre ganz jugendlichen
und halbmündigen Kinder zum Zwecke der sexuellen An-
ziehung kleiden, eine verhängnisvolle Eitelkeit in ihnen erziehen
und mit den kindlichen Leibern schamlose Exhibition treiben.
Jedes halbreife Mädchen ist heute in der Großstadt eine ganze,
auf dem Lande, wo noch die vielgepriesene Sittlichkeit herrscht,
bereits eine halbe Kokotte geworden. Wer das nicht glaubt,
der mache doch einmal einen Nachmittagsbummel durch irgend
eine großstädtische Hauptstraße und halte nach rechts und
nach links fleißig nach den kleinen Mädchen Ausschau. Was
die Mütter noch an Händen führen, ist so unnatürlich und
selbstgefällig herausgeputzt, daß man es den kleinen Zier-
puppen auf den ersten Blick ansieht, in welcher Absicht es
die junge Mutter so herausstaffiert hat und das eckige Kör-
perchen in so skrupelloser und unhygienischer Weise blos-
stellt. Diese Mütter schmücken ihre Kinder nur aus rein
sexuellen Motiven, einmal, weil das Schmücken und Ankleiden
für die Frau einen sexuellen Wert bedeutet, zum anderen,
weil man dadurch vielleicht unbewußt die vorübergehenden
Männer auf die eigene Persönlichkeit hinlenken möchte.
Man spricht soviel von der Kultur der Jugend, bildet Ver-
einigungen für Sport und Jugendspiele, aber das alles ist ein-
seitig und hat für die Jüngsten unter unseren Mädchen keinen
praktischen Wert. Man müßte die kleinen Mädchen ihren
Müttern entreißen und sie wie das Jungholz im Walde frei
aufwachsen lassen. Vor Allem müßte den Müttern ein Pri-
vatissimum der Kindererziehung gelesen werden, damit sie
selbst über den gefährlichen Charakter ihrer Affenliebe zu
den Sprößlingen aufgeklärt werden; vielleicht, daß wir dann
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 213
über eine gesündere, spartanisch erzogene Jugend verfügen
würden. Freilich, das liegt noch in weiter Ferne.
Ist so ein junges Ding erst einmal konfirmiert, dann be-
ginnt es sich nach allen Regeln der Kunst mit dem Mann zu
beschäftigen, kurz, es versucht die ersten tastenden und zu-
meist von Erfolg begleiteten Schritte in der Jagd auf den
Mann. Die heranwachsenden Mädchen sind weit gefähr-
licher als die ganz reifen und aufgeblühten, weil sich ihre Be-
gehrlichkeit mit einer reizenden Dosis Unschuld, ihre Ver-
derbtheit mit ebensoviel anmutiger Schamlosigkeit verbindet.
Was könnte man über dieses Kapitel Neues sagen, das doch
die Prevöst, Kahlenberg, Tovote, Wedekind, Rideamus u. a. in
so erschöpfender Weise beschrieben haben? Die Werbung
geht in diesem Alter in den seltensten Fällen aufs Ganze, —
das Ganze in dem Sinne verstanden, daß das betreffende
Mädchen den Mann für sein ganzes Leben an sich fesseln
will, — sondern allein auf den Flirt. Schließlich ist es auch
nichts anderes als Flirt, wenn es dann zu Vorfällen kommt,
die zu den Tragödien des Lebens gezählt werden müssen:
wenn zum Beispiel ein dreizehnjähriges Mädchen ein Schick-
sal durchlebt, wie die Wedekind’sche Wendla Bergmann, oder
zwei halbwüchsige Geheimratstöchter sich von ihrem Chauffeur
verführen und gleichzeitig mit Syphilis infizieren lassen. Das
eine ist vor nicht allzu langer Zeit in Prag, das andere in
Leipzig geschehen. Auch das bedeutet nichts anderes als
Flirt, allerdings bereits von einer bedenklicheren Form, aber
charakteristisch für eine Zeit, die eine Reinigung der ethischen
Prinzipien und eine Reform der sexuellen Sitten anstrebt.
Geschieht solches am grünen Baum, wie sollte man sich
darüber wundern, was auf dürrem Holze gedeiht! Die Jagd
nach dem Manne, d. h. der Versuch, das am meisten taugliche
männliche Objekt in das Ehejoch zu spannen, wird heute mit
ganz anderen Mitteln angegangen, wie vielleicht vor einem
Jahrhundert und noch früher. Ich meine: bestanden hat das
Werben um den Mann seit vordenklichen Zeiten und die Mo-
tive sind durch die Zeiten die gleichen geblieben, geändert
haben sich nur die Mittel. Oder, wenn man will, sind auch
diese die gleichen geblieben, nur werden sie offenkundiger,
skrupelloser angewendet als früher. Als der junge Parthenopier
in der Burg seines Gastfreundes übernachtete, da kam Meliur
214 GESCHLECHT UND QESELLSCHAFT
zu ihm ins Bett geschlichen und wurde auf diese Weise sein
Weib. Die mittelalterlichen Zeichner und Satiriker haben mit
Vergnügen eine Schar Weiber gemalt, die sich um irgend eine
Männerhose in den Haaren liegen. Variiert findet sich das
gleiche Thema in der Satire von der Männerfalle, wo schöne
Frauen ihre Netze auf allerlei vorüberflüchtendes Männervolk
erfolgreich aufstellen. Geistreicher, mit grotesk unheimlichen
Perspektiven behandelt der moderne Satiriker Felicien Rops
den gleichen Gegenstand, wenn er ein nacktes junges Weib
auf einem Käfig sitzen läßt, in dem ein Dutzend gefangener
Männer zappeln. Das Fatum, die immer bereitwillige Kupp-
lerin, steht daneben und winkt den neuen Scharen zu, die
sich unsichtbar im Hintergrunde drängen. In einer gewissen
Umdeutung lassen sich selbst die gewagten Bilder, die von
den „Liebesgöttern“ handeln, und an die Meister wie Ramberg,
Kaulbach u. a, ihre Kunst gewandt haben, als Illustration zu
dem gleichen Thema bezeichnen. Der Mann hat seit Jahr-
tausenden immer ein Objekt besonders hochgeschätzt und
unter Umständen mit seiner persönlichen Freiheit bezahlt: das
ist die physische Jungfräulichkeit am Weibe. Aus dem
Grunde ist der intakte Hymen eines der geschätztesten
Agitationsmittel für die heiratslustige Frau geworden. Wir
wollen hier die Frage nicht untersuchen, inwieweit die Über-
schätzung der Jungfräulichkeit mit zu den Ursachen einer
späteren unglücklichen Ehe gehören kann. Ebensowenig
wollen wir uns hier mit dem Problem des Donjuanismus
auseinandersetzen, der unseres Erachtens alles andere als ein
Beweis von erotischer Genialität, von starkem, exzeptionellem
Persönlichkeitswerte ist. Schon der Umstand, daß der Mann
seine Liebe auf mehrere Frauen gleichzeitig erstrecken kann,
macht ihn im Sinne des echten, sublimen Erlebnisses unfähig.
Die ganze Neurasthenie des modernen Zeitalters geht in ihrem
Ursprung darauf zurück, daß es unter den modernen Männern
viel Don Juans aber wenig Charaktere gibt, Charaktere, die
sich auch in der Liebe als solche offenbaren.
Der Donjuanismus des modernen Mannes hat es ver-
schuldet, daß die Frau ihrerseits sich mit Vorliebe auf das
Niveau einer Kokotte herabfühlt — ich bemerke ausdrücklich,
einer Kokotte, nicht einer Dirne, denn eine Dirne ist etwas,
was unter Umständen turmhoch über eine anständige Frau
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 215
emporragt; aber eine Kokotte ist das stilgerechte und not-
wendige Komplement zum Don Juan. Unsere jungen Mäd-
chen, die sich abmühen, unter allen Umständen einen Mann
zu kapern, haben dieses „Je ne sais quoi“, das sie zur Kokotte
macht, überraschend schnell herausgefunden. Man braucht
sich nur in einem Salon, wo man beispielsweise zum Fünf-
Uhr-Tee geladen ist, mit offenen Augen umzusehen, und man
wird in jeder Ecke ein solches Kokottchen entdecken. Die
eine schwärmt von Chopin und läßt sich dabei von ihrem
Kavalier mit den Knien drücken und pressen, was erfahrungs-
gemäß in einem Tingel-Tangel selbst die ausgepichte Dirne
sich nur ungern gefallen läßt. In einer anderen Ecke sitzt
eine junge Dame, raucht Zigaretten wie ein preußischer Leut-
nant und liest ihren Zuhörern einen medizinischen Kolleg,
mit einer Geste, die eine einzige ununterbrochene schamlose
Enthüllung der Seele bedeutet. Eine dritte weiß pikant von
ihren Träumen zu schwatzen und flicht dabei ihre eigenen
Wünsche in Form schwüler geträumter Erlebnisse ein, unge-
fähr so, wie es Rideamus in seiner entzückenden Erzählung
„Das Mädchen mit dem schlechten Ruf“ beschreibt:
Im Wintergarten ist es kühl,
Ein wunderbares Farbenspiel.
„Lieber Richard, sagt Annemarie,
Nicht wahr, Sie verstehn sich auf Psychologie?“
Dann flüstert sie leise, man hört es kaum:
„Ich hatte heut’ Nacht einen Traum.
Ich stand vor einem hohen Altar,
Mit weißen Orangenblüten im Haar,
Mir war so feierlich zu Mut,
Ich fühlte mich so sanft und gut,
So rein und glücklich wie nie im Leben. —
Können Sie mir eine Deutung geben?
Glauben Sie, daß ich mit einem Mann
In der Ehe glücklich werden kann?“
Und dabei sieht sie den schweigsamen Mann
Mit Thumannschen Märchenaugen an.
Aber das sind noch die harmlosen Methoden, mit denen
das moderne Weib den Mann an sich zu fesseln trachtet,
gewöhnlicher sind die Fälle, wo das Mädchen dem Manne
nichts, auch nicht die letzte Gunst verwehrt, sofern sich ihm
die Aussicht bietet, dadurch unter die Haube zu kommen.
In frühern Zeiten kam die Frau dem Werben des Mannes
216 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
entgegen, weil sie es hoch schätzte, um ihrer Jugend und
Schönheit willen begehrt zu werden. Heute tragen die Frauen
Jugend und Schönheit auf den Markt, weil mit ihnen unter
Umständen ein billiges Geschäft, d. i. die Ehe zu machen ist.
Noch Henri Murger oder der ihm kongeniale Otto Julius
Bierbaum konnten so entzückend verlogene Sachen wie die
„Scenes de la vie boh&me“ oder die „Waschermadelhistorie“
dichten, wo junge Mädchen Verhältnisse lediglich um der
Liebe und Torheit willen anknüpfen. Das Verhältnis ist im
Gegenteil heute der gangbarste Weg, auf dem ein halbwegs
raffiniertes Mädchen zu dem Endziel ihrer Wünsche, und das
ist immer die Verheiratung, gelangen kann. Darum suchen
die meisten Mädchen irgend ein Verhältnis und scheuen kein
Experiment, wenn es um die Anknüpfung eines solchen geht.
Ein junger Mann, der eine Zeitungsannonce an eine ihm
befreundete, persönlich jedoch nicht erreichbare Dame auf-
gegeben hatte, worin er um ein Rendezvous bat, erhielt auf
die gleiche Annonce noch 17 andere Briefe, in denen ihm
ganz unbekannte junge Mädchen unverhohlen ihre Freund-
schaft antrugen. Überhaupt hat sich der Spieß jetzt umge-
dreht und der Mann ist das kostbare, umworbene Wild, das
von der kühnen, keinen Skandal und keine Nachrede scheuenden
Jägerin erlegt zu werden trachtet. Die einen versuchen es
auf Bällen, in Konzerten oder im Theater, andere auf einem
Picknick, beim Rodeln, oder auf einer Landpartie, die dritten
durch eine geschickt stilisierte Annonce, wieder andere da-
durch, daß sie sich den Chik, die Eleganz und das sichere
Auftreten der Halbwelt zu eigen machen suchen; die meisten
jedoch, indem sie recht freigebig ihre letzte Gunst verschenken
und sich den Bedürfnissen des Mannes anpassen, der immer
mehr und mehr in jedem Weibe das Dirnenhafte, die
Niedrigkeit der Gesinnung und des Empfindens
sucht. Denn der moderne Dekadent braucht das, um sich
eine Superiorität über das Weib, irgend einen Persönlichkeits-
wert vorzutäuschen. Und weil die Frauen seinem Verlangen
bereitwillig entgegenkommen, schwillt das Heer der Prostitution
dauernd an, auf der anderen Seite aber glückt es auch so
manchem Mädchen, zur Ehe zu gelangen.
ANWENDUNG DER KRAFTPHILOSOPHIE
AUF DIE SEXUALPROBLEME.
Von Dr. ROBERT HESSEN’).
in Volk, das leben will, muß sich fortpflanzen; dies ist
die oberste aller Existenzfragen.
Fortpflanzen kann es sich nur durch die Zeugungskraft;
Verständnis für die Pflege dieser Kraft ist also eine heilige
Pflicht.
Es ist unmöglich, daß ein Volk aus kräftigen, lebhaften,
leistungsfähigen, begabten Vollmenschen besteht, während
gleichzeitig die Zeugungskraft in Verruf getan wird.
Ebenso schädlich und unwissenschaftlich ist es, die
Zeugungskraft halbieren zu wollen in eine eheliche und
außereheliche, die eheliche zu gestatten, die außereheliche mit
dem Makel des Lasters zu behaften, sie auf jede Weise zu
verfolgen oder gar ausrotten zu wollen. Denn aus einem
solchen Kampf gegen das Notwendigste, das einer Nation
eignet, wird sich nicht etwa der eheliche Teil desto besser
abheben, sondern gleichfalls in Verruf geraten.
Diesem traurigen Tiefpunkt haben wir uns in Deutsch-
land genähert. Ich spreche dabei nicht vom dritten Orden
des heiligen Franziskus, der aus Ehepaaren besteht, die das
Gelübde abgelegt haben, sexuell einander nicht zu berühren,
und auf Nachwuchs verzichten. Was nicht etwa irgendein
Prinzip auf die Spitze treibt, sondern lediglich in selbstüber-
windender Weise das nachahmt, was Christus lebte und
Paulus mindestens als dasBessere empfahl. Nun wird man, sobald
sich ein vollsäftiges blühendes Mädchen von Priestern, die gerne
Kraftproben ihres Einflusses ablegen, bereden läßt eine solche
Ehe einzugehn, nicht behaupten können, daß es staats freund-
lich sei, wenn zur Fortpflanzung gut geeignete Personen
diese nationale Pflicht abweisen. Folgten alle Ehepaare diesem
„frommen“ Beispiel, so könnten die Nationen abdanken und
ihr Feld wiederum dem Vieh überlassen. Da dies nicht
- *) Aus „Philosophie der Kraft‘‘. Sutttgart. Julius Hoffmann.
218 GESCHLECHT UND OESELLSCHAFT
wahrscheinlich ist, begnügt man sich wenigstens ideell mit
Quellenverschüttung, und selbst innerhalb der protestantischen
Bevölkerung steht inbetreff der Fortpflanzung weitaus die
Mehrzahl auf dem Standpunkt jenes Bauern, der den mit
einem Ekelnamen belegten Zeugungsakt nur noch der christ-
lichen Ehe vorbehalten wünschte. Dagegen sprechen Jung-
darwinisten mit Fug und Recht von der „generativen Ver-
sumpfung“, in die wir durch Verherrlichung des kirchlichen,
will sagen kränklichen, lebenswidrigen Tugendbegriffs hin-
eingeraten seien, und Schallmeyer (in „Vererbung und Auslese”)
denkt hierin genau so wie Nietzsche.
Wirklich ist es ein merkwürdiger Mangel an Logik bei
unsern Führenden: Nationale Macht anzustreben und gleich-
wohl die Zeugung als bestenfalls geduldet zu empfinden.
Um von dem Grade der hier vorwaltenden Unzweck-
mäßigkeit einen Begriff zu geben, seien noch einige Zahlen
mitgeteilt. Nach dem Familienstand- und Altersregister von
1900 — dem jüngsten, dessen Tabellen vorliegen, da das
„Statistische Jahrbuch des deutschen Reiches” diese wichtige
Rubrik neuerdings nicht mehr führt, — gab es im Reich
rund 6,4 Millionen reifer, doch unversorgter Männer (im
Alter von 18—70 Jahren); es kamen auf rund 9,8 Millionen
Ehefrauen rund 6,5 Millionen reifer, unversorgter Mädchen
(von 16—50 Jahren) und jüngerer Witwen. Es standen
also gegen 19!/, Millionen, die ihre landläufige sexuelle Be-
stimmung gefunden hatten, 13 Millionen nicht minder be-
rechtigter unversorgt.
Da man es nun weder einem Säugling, noch einem
Heranwachsenden ansehn kann, ob er eines Tages zum
inneren 'versorgten Zirkel oder zum darbenden Kreise der
unversorgten gehören soll, werden vorläufig Kinder noch so
aufgezogen, als ob sie durch die Zugehörigkeit zu einem
der beiden Geschlechter nicht geradezu geschändet würden.
Sobald aber die sexuelle Reife sich ankündigt und natürlich
auch ihre beunruhigenden Forderungen erhebt, pflegt in
Deutschland jedes Verständnis, jede Duldung aufzuhören,
und eine rigorose „Moral” mit ihren öden Predigten tritt an
die Stelle hygienischer Vorsorge. Sind die Folgen elterlicher
Nachlässigkeit heraufbeschworen, so lautet die Formel: „Das
Kind macht uns solchen Kummer” Von dem Kummer, den
GESCHLECHT UND QESELLSCHAFT 219
moralinsaure Eltern durch Nichthygiene ihren Kindern ver-
ursachen, wird nicht gesprochen. Daher wünschen die
Hygieniker, daß anstatt „sexueller Aufklärung” der Kinder
lieber endlich einmal mit der Aufklärung der Eltern ange-
fangen werde.
Es liegt auf der Hand, daß strenge Forderungen der
Enthaltsamkeit nur dort einen Sinn haben, wo die Sättigung
der Reifgewordenen in absehbarer Nähe steht. Dies war der
Fall bei den alten Germanen, wo der Schwertfähige bald
auch hufenberechtigt wurde und zu dieser Vollnahrung ein
Weib nahm. Unter solchen Umständen konnte die Zahl
der unbefriedigten Reifen niemals bedenklich ansteigen wie
bei uns, deren Zivilisation in diesem Punkte ein grausiges
Fiasko macht. Beflissen dienen Statistiker, die leider nicht
statistisch zu denken verstehn, der allgemeinen Verblendung
und Gewissenshärte. Die Vorspiegelung, daß von sämtlichen
deutschen Mädchen 90 Prozent nach "und nach unter die
Haube kämen, ist ein haasträubender Unsinn. Niemals kann
die Heiratsquote in irgend einem fernen Jahrgang den augen-
blicklichen Status aufbessern. Alljährlich kommt von den
etwa 6!/, Millionen unversorgt dastehenden nur eine halbe
Million zur Wahl; dafür rückt in gleichem Tempo der Nach-
schub in die Lücken, um die Aussichten der Übriggebliebenen
wieder zu verschlechtern. Gleich im ersten Rechnungsjahr
aber sterben von den Unversorgten (im Alter von 16 bis 50)
an 35000 hinweg; diese Sterbequote steigt in späteren Jahren,
während sich die Ehequote schon vom 23. Jahr ab ver-
schlechtert und zuletzt ganz rapide sinkt. Allein diese Milli-
onen, die unbefriedigt warten mußten und unbefriedigt ins
Grab sanken, tauchen in jenen geistvollen Statistiken nicht
auf, sondern werden einfach unterschlagen. Kurz, von den
deutschen Frauen sind ein für allemal nicht ein Zehntel, sondern
vier Zehntel dazu verurteilt, ehelich unversorgt zu bleiben,
während sie doch gleichfalls von der Natur zur Paarung be-
stimmt und reif gemacht werden.
Es ist pharisäisch, nach solchen Mädchen, die unter
diesen ungünstigen Umständen in Versuchung 'geraten und
straucheln, mit Steinen zu werfen und ihren Nachwuchs
unter einen derartigen gesellschaftlichen Druck zu setzen, daß
er daran erstickt. Dieser Massenmord wird nun in Deutsch-
220 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
land alljährlich in den Reihen von rund 170000 unehelichen
Säuglingen verübt und rafft fast ein Drittel von ihnen schon
im ersten Lebensjahr hinweg.
Zu solcher Gehässigkeit ist überhaupt keine Gesellschaft
berechtigt; am allerwenigsten aber die deutsche, die sich
doch so unfähig zeigt, eine ausreichende Zahl Eheschließun-
gen zu erzielen. Der Hochmut dieser Satten vom inneren
Zirkel wird leider bis zur Unerträglichkeit gereizt durch be-
amtete und freiwillige Tugendwächter. Doch wie Baco von
Verulam einst Metaphysik und Theologie aus der Wissen-
schaft hinauswarf, gehört es zu den dringendsten Pflichten
der Hygiene, endlich die „Sittlichkeit” in allen ihren kraft-
mörderischen Gewohnheiten zu entlarven und sie aus der
nationalen Gesundheitspflege zu entfernen.
Das Ideal, das die Hygiene für nationale Kraft auf sexu-
ellem Gebiet aufstellt, fordert als ersten Punkt: daß eine
möglichst große Zahl von Mädchen und Knaben zu makel-
loser Geschlechtsreife heranwächst; als zweiten: daß ver-
ständige Vorsorge getroffen wird, um gegen den durchaus
physiologischen Anreiz der Natur Widerstandskräfte zu ent-
wickeln, die durch bekömmliche Ableitung vorzeitigen Ge-
brauch verhüten; als dritten: daß eine möglichst große Zahl
von Mädchen und Männern in der Vollblust ihrer Jugend-
kraft zur Paarung schreiten kann, während Ehen von Abge-
welkten, Kranken und Müden für die nationale Arterhaltung
unerwünscht sind.
Hier entsteht nun die große. Schwierigkeit: was wird
aus den Reifen, die nicht sogleich zur Ehe gelangen, sondern
auf lange Wartezeit gesetzt sind? Auf die Forderung völliger
Enthaltung als leitendes Prinzip wird hier wegen ihrer be-
quemen Gedankenlosigkeit garnicht erst eingegangen. Ihre
Erfüllung mag vorkommen; und sie mag in sehr seltenen
Fällen sogar ohne Dauerschaden bleiben. Die Erfahrung
lehrt aber, daß die menschliche Natur bei der ganz über-
wiegenden Mehrzahl sosehr jener Forderung widerspricht,
daß sie unpraktisch wird. Zur Widerlegung derer, die dies
Problem überhaupt garnicht ernst ins Auge fassen, sondern
sich immer nur mit Redensarten brüsten, seien wiederum
einige Ziffern angeführt.
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 221
Wie groß ist z. B. im Deutschen Reich die Zahl der all-
jährlichen Vermischungen überhaupt?
Anhaltspunkte gewährt für den ehelichen Zirkel die
Statistik der Neugeborenen. Ich glaube mich in sehr be-
scheidenen Grenzen zu halten, wenn ich für jedes Neugeborene
hundert Vermischungsakte rechne, das bedeutet 100 x 1,8
Millionen oder 180 Millionen. Denn bei Jungverheirateten
ist die Ziffer ganz gewiß doppelt und dreifach so groß, ja
recht häufig noch weit größer, wodurch ein Ausgleich mit
den Trägeren und Älteren zustandekommt. Da sich in jedem
Jahre nur ein knappes Fünftel der Verheirateten an der Fort-
pflanzung beteiligt, und in der Ehe der Trieb, weil die meisten
Frauen so früh zusammenbrechen, reizlos werden und ab-
stoßend wirken, vorzeitig erlischt, mag man auf diese vier
Fünftel, in denen auch die Greisenpaare enthalten sind, nicht
das vierfache, sondern wenig mehr als ebensoviel berechnen.
Das gäbe zusammen etwa 400 Millionen ehelicher Vermisch-
ungsakte im Jahr; es können aber auch weit mehr sein.
Für den außerehelichen Zirkel der käuflichen und „freien“
Liebe habe ich an anderer Stelle!) mit bescheidensten Ansätzen
die Zahl von 156 Millionen Zusammenkünften im Jahre heraus-
gerechnet, während der doppelte oder gar mehrfache Betrag
wahrscheinlicher ist, und hinzugefügt: Wie blind und ver-
nagelt muß jemand sein, um angesichts einer so enormen
Zahl, neben der die winzigen Eigentumsdelikte völlig ver-
schwinden, das tiefe elementare Bedürfnis nicht zu bemerken?
Wie boshaft, um es zwar zu bemerken, aber zu bestreiten?
Wie weltfremd, um sich einzubilden, hier mit Phrasen und
weißer Salbe, mit dünkelhafter Predigt und sonstigem Wort-
gepränge, mit Verbot und vollends mit Strafen das allermindeste
auszurichten? Wenn in Deutschland alljährlich 156 Millionen
Handlungen vorkämen, die von einer kleinen, aber mächtigen
und tyrannischen Partei hartnäckig Diebstahl gescholten würden,
sollte es da wirklich noch rationell sein, Gefängnisse zu bauen?
Wer sollte sie bauen und bewachen, wenn nicht die Ge-
scholtenen und Verklagten selbst? Aber würden die nicht
eines Tages hinter die Wahrheit kommen, aufstehn und rufen:
„Wir sind die Norm, und nun mit euch, die ihr uns belauert
und quält, die ihr über uns zu Gericht sitzt und heimlich
selber stehlt, hinein mit euch ins Loch?”
1) „„Die Prostitution in Deutschland‘ München bei Albert Langen 1910), S. 28 ff.
222 GESCHLECHT UND OESELLSCHAFT
Innerhalb einer sozialen Verfassung, die das Eingehn der
Ehe zumal für die gebildeten Stände immer weiter hinaus-
schiebt, ist käuflicher und freier Umgang unvermeidbar, not-
wendig und, wie ich oben nachgewiesen, wirklich, um nicht zu
sagen alltäglich. Etwas Notwendiges und Wirkliches hat
aber niemals, wie das unsre Moralisten behaupten, nur Schatten-
seiten. Auch die Prostitution, sofern sie unvergiftet ist, nützt,
indem sie sexuell Hungrige sättigt und bei der Natürlichkeit fest-
hält. Denn ein Volk, das seinen Reifgewordenen weder
Ehe, noch außerehelichen Umgang bewilligt, stößt sie zur
Widernatürlichkeit und schaufelt sich damit selber das
Grab.
Dies würde, man muß es mit Bedauern aussprechen,
unsern Sittlichkeitswächtern ganz nebensächlich sein. Deutsch-
land, so denken sie, mag zugrundegehn, und wenn die Männer
nur „sittlich” bleiben, mögen alle Ehen unfruchtbar werden!
Sind Fruchtbarkeit und Kraft schuld daran, daß eine Prostitution
besteht, so muß man die Kraft schwächen, Perversität und
Impotenz als das bessere Teil erwählen. So tritt an Stelle
der gänzlichen Enthaltung das tatsächliche und gelegentlich
schon unverhohlen in der ‘Öffentlichkeit verkündete Ziel der
Sittlichen: die 156 Millionen außerehelichen Vermischungen
jährlich umzuwandeln in ebensoviel Akte der Masturbation
oder Päderastie.
Umgekehrt erhebt |die Biologie hier ihre vierte Forderung:
daß, da die käufliche Liebe unter den heutigen Verhältnissen
unvermeidbar ist, sie nicht sowohl moralisch angefeindet, als
vielmehr hygienisch reguliert werden müßte, damit junge
Männer, wenn sie mit ihr in Berührung kommen, sich nicht
infizieren, dieses Gift nachher in ihre Ehe schleppen und Frau
und Kind anstecken. Denn daß die Ehe an sich einen Hafen
der Sicherheit, eine Gesundheitsgarantie bedeute, ist eine hohle
Lüge.
Die nationale Fortpflanzung mit vergiftetem Keim aber
mißlingt und züchtet nur herab. Das einzige Mittel, diese
Quelle zum Versiegen zu bringen, heißt Reinlichkeit. Wes-
halb auch Reinlichkeit im sexuellen Verkehr unsern Sittlichen
so zuwider zu sein pflegt wie schmutzigen Buben, die sich
nicht waschen wollen.
Handelt es sich hier um Vorbeugungen und Sicherheits-
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 223
maßregeln, die bei etwas mehr hygienischemVerstand und gutem
Willen ohne große Mühe wohl erzielbar wären, so erfordern
jene Abteilungen, durch die heranreifende Knaben oder Mädchen
makellos und rein bis zur Geschlechtsreife und über sie hinaus
‚erhalten werden sollen, nicht nur eine weit sorgerlichere Mit-
wirkung vonseiten der Eltern oder deren Stellvertreter, sondern
auch Organisationen auf breitester Basis.
Es gibtnichts, was dernationalenKraftso zuwider-
läuft, wie dieMasturbation derHalbreifen. Die Gefähr-
dung ist weit ausgedehnter, als der Schlendrian wahr haben
will, betrifft unsre Schulmädchen schon vom zehnten Jahr ab
und in den Knabenscharen leider zumeist die begabteren, auf-
geweckteren mit empfänglichen Sinnen und künstlerischer
Phantasie.
Auf die Einrede, daß hier stets entweder tuberkulöse Dispo-
sition oderschlummernde Psychopathie die wahre Ursache bilden
und nur auf irgend eine zufällige Auslösung warten, ist nichts
zu geben. In Wahrheit hat dieNatur den Menschen ein zwei-
deutiges Geschenk damit gemacht, daß sie die fakultative Ge-
schlechtsreife (das Unwohlsein bei den Mädchen, die Samen-
bildung beim Jüngling) oft Jonge Jahre vor Erlangung der
körperlichen Vollreife schon eintreten läßt. Esliegt hierin wohl
eine Mahnung zu den hygienischen Pflichten der Schonung,
Hütung, Mäßigung und Selbstbeherrschung, aber es lauern
auch im Stande hoher Zivilisation auf die heranblühenden Ge-
schlechter schwere, durchaus unverschuldete Gefahren. Diese
Gefahren heißen gewürzte Fleischkost, unbekömmliche Ein-
drücke durch Lektüre und künstlerische Darbietungen, Ver-
führung durch schlechte Kameraden, Mangel an frischer Luft
und alltäglicher muskulöser Ermüdung. Weniger gefährdet
sind phantasielose, derbe Knaben ohne reges Innenleben, aber
die sind gerad auch wieder die Minderbegabten. Der Hygieniker
führt, wie die sinkende Lebenskraft der deutschen Mädchen-
und Frauenwelt auf Masturbation, so auch den heut auffallenden
Mangel an Originalität und männlicher Schöpfungskraft, die aus
einem Volk von 65 Milionen, falls die alte gesunde Begabung
noch vorhanden wäre, in Lichtgarben hervorschießen müßte,
‚hauptsächlich auf die dem Nationalkörper in der Jugend bei-
gebrachten Verluste an Saft und Nervenkraft zurück.
Die Rettung heißt: frühes Erwecken, Dulden und Er-
224 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
muntern körperlichen Ergeizes, der aber den Stachel der Sieges-
möglichkeiten, der Auszeichnung nicht entbehren kann; daher
Freiluft, Sport und Athletik jeder Art für Knaben wie für Mädchen;
dazu eine reizlosere Nahrung als bisher. Bei den Knaben, die
schon einsam vor sich hinzubrüten angefangen haben, bei den
Mädchen, die schon an den Sofalehnen stehn und sich scheuern,
oder auf den verruchten kinderverderbenden Schaukeln, deren
Sitz nicht aus einem Brett, sondern aus einem rundem Knüppel
besteht, stundenlang sich herumsielen, können häufig auch
milde Kaltwasserprozeduren und schroffer Übergang zu reiner
Pfanzenkost nicht mehr helfen, zumal wenn das Hauptübel,
die Schule, fortdauert und Freiluft-Beschäftigung unmöglich ist.
Ganz töricht und unnütz bleiben die leider allgemein üblichen
Anwendungen von Prügel und Strafpredigt. Ebenso hilft
„Aufklärung“ rein garnichts. Jedes Kind weiß von selber, daß
es das, was es da tut, nicht tun soll; es kann aber den in der
Tiefe wirkenden, ihm von seinen Eltern angezüchteten Ursachen
nicht entfliehen.
Auch gegenüber schädigenden Sinneseindrücken glauben
die Moralprediger durch Anwendung der beiden Worte „sittlich“
und „unsittlich“ alles erschöpft und erledigt zu haben. Doch
sind besonders Kunstgegenstände auf diese Weise nicht zu
fassen. Es gibt eine große Zahl herrlichster, edelster Bildwerke,
die dennoch auf halbwüchsige Knaben ungünstig wirken und
sexuelle Regungen erzeugen, die besser unterblieben wären.
Künstler nun durch ein ewiges Belauern und einen tosenden
Kampf „gegen Schmutz in Wort und Bild“ dazu zwingen zu
wollen, ihr ganzes Schaffen nur noch für die Kinderwelt ein-
zurichten, ist unmöglich. Daher sollten die Eltern lieber ihre
heutige Nachlässigkeit aufgeben und Bildwerke, die geeignet
sind, in die Phantasie von Halbwüchsigen den Feuerbrand zu
werfen, der die Säfte austrocknet, wegschließen oder sonstwie
fernhalten.
(Schluß folgt.)
EI EI
EI
Miütterlicher Nath.
MUTTERLICHER RAT. (,„Luise, mach’ dich interessant“). Aus den „Fliegenden Blättern“.
Zu dem Aufsatz »Die Jagd nach dem Mann:, Seite 210.
r 5: — —— pa
ROBES
NIANTEAUKX
| Part Wan КУ
19 Genthinerstr.
REKLAMEKARTE von MARQUIS DE BAYROS,
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КОЛЕП ЕЗ.
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(Zu dem Aufsatz ‚Die erotische Bildreklame‘', Seite 236.)
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MASTURBATION UND VERBRECHEN.
Von Dr. PAUL ZIMMERMANN.
weck der vorliegenden Studie ist die Darstellung der Mastur-
bation und ihrer Folgen, soweit sie das Gebiet der Krimi-
nalität berühren, obwohl ich gleich vorweg bedeuten möchte,
daß meines Erachtens kriminelle Handlungen nie eine direkte
Folge kurz oder lang geübter Masturbation sein können, sondern
daß es sich hier zumeist um andere Prämissen handelt, die im
Verlauf dieser Darstellung noch des näheren zu erörtern sein
werden. Der Titel, der die Masturbation in ein direktes Ver-
hältnis zum Verbrechen bringt, ist nur insofern berechtigt, als
ег ein Problem schafft, das von der Sexualpsychologie noch’
unzureichend diskutiert erscheint und gerade darum allerhand
Theorien und unkritischen Kombinationen Spielraum läßt.
Von einer ursächlichen Beeinflussung der Verbrechens-
verübung durch die Masturbation findet sich eine zusammen-
hängende Darstellung außer bei Wulffen (Der Sexualverbrecher,
Seite 183) an keiner anderen Stelle. Lombroso hat in seinem
Werk über „Das Weib als Verbrecherin und Prostituierte“
tabellarische Darstellungen der Masturbation an den von ihm
beobachteten Individuen gegeben, und Rohleder begnügt sich
in seiner ausgezeichneten Monographie über die Masturbation
mit dem Hinweis auf die Möglichkeit einer solchen Beein-
flussung, sofern die Onanie eine krankhafte Inanspruchnahme
der Phantasietätigkeit überhaupt und eine Herabsetzung der
Energie zur Folge hat. Demgegenüber möchte ich allerdings
betonen, daß ich die überwuchernde Einbildungskraft, sowie die
geschwächte Willenstätigkeit nicht auf anhaltende Masturbation
zurückführen möchte, sondern die Masturbation, wie alle Äuße-
rungen des Autoerotismus, den Bekundungen intensiven Phantasie-
lebens und einem Minus an Energie als coordiniert betrachten
möchte.. Mir scheint die Masturbation von der Einbildungskraft
als solcher auszugehen und nur dann möglich zu sein, wenn die
Summe erworbener oder latenter Prinzipien durch sie in ge-
nügender Weise gelockert worden ist. Dem widerspricht weder
Geschlecht und Gesellschaft VIII, 6. 15
226 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
die Tatsache, daß die Masturbation zumeist in einem Alter
auftritt, wo das Seelenleben noch einem Chaos unbestimmter
und zielloser Empfindungen vergleichbar ist, noch die Häufigkeit,
mit der sie bei beiden Geschlechtern, scheinbar ohne alle
Zwecke, einzig dem Nachahmungstrieb entspringend, oder als
üble Gewohnheit geübt wird.
Bekanntlich hat Freud und mit ihm eine ganze Gruppe
neuzeitlicher Sexualforscher bereits das Vorhandensein mastur-
batorischer Gewohnheiten im zarten Säuglingsalter konstatiert,
womit auch die Erfahrungen des Verfassers dieses überein-
stimmen. Sie betrafen u.a. ein dreizehnmonatliches Kind, das
unzweideutig masturbatorische Gewohnheiten pflog und sie bis
in das siebente Lebensjahr fortsetzte, wo es, ähnlich dem Falle
von Fournier, an vorzeitigem Marasmus zu Grunde ging. Zu
bemerken wäre, daß es sich um das Kind einer Prostituierten
und eines Trunkenboldes gehandelt hat, wo die hereditäre
Veranlagung eindeutig erkenntlich war.
Fälle dieser Art scheiden ganz aus unserer Betrachtung aus,
weil es sich hier um instinktive Vorgänge handelt und die krank-
hafte Basis nicht immer ohne weiteres nachweisbar ist. Generell
kommt ihnen, entgegen den Theorien Freuds, keine Bedeutung
zu, da das gesamte Beobachtungsmaterial an Säuglingen und
Jugendlichen für den Umstand spricht, daß es unter normalen
Bedingungen Masturbation im Säuglingsalter nicht gibt.
Rohleder hat eine Reihe äußerer und innerer Gründe als
ursächlich für die Masturbation angegeben, unter denen mir
namentlich der letzte von Bedeutung scheint, der von der
moralischen Schwäche, der Willensschwäche, als Ursache der
Onanie handelt. Soweit es überhaupt der erste und bedeutendste
aller Gründe ist, zu dem sich alle Einflüsse von innen und
außen in ein sekundäres Verhältnis stellen, bedarf er einer
weiter fassenden Beleuchtung, als es der genannte Autor in
den wenigen, allerdings prägnanten Sätzen seiner Studie getan
hat. Die moralische Schwäche, das ist die Lähmung und
Herabsetzung des vernünftigen Wollens und Handelns, liegt
allen Handlungen des Masturbanten zu Grunde, der das Laster
nicht mehr sporadisch, sondern dauernd und als eine bewußt
widervernünftige Handlung übt. Da die Masturbation in einem
Zeitpunkt begonnen wird, der fast immer knapp in die Pubertät
oder nach der kaum vollzogenen Geschlechtsreife fällt, wird
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 227
man häufiger den Einfluß eines unwillkürlichen, nur auf eine
Auslösung des Reizes gerichteten Triebes annehmen müssen,
auch dann, wenn mechanische Vorgänge mit Bestimmtheit als
Ursache der masturbatorischen Handlungen angegeben werden.
Zur Beurteilung des Materials, das in der ärztlichen Sprech-
stunde sich der Beobachtung darbietet, sei auf die größtenteils
recht mangelhaften Ergebnisse hingewiesen, die der Arzt inner-
halb einer langjährigen Tätigkeit zu sammeln im Stande ist.
Krankengeschichten und Епдиёќеп hätten nur dann unbedingten
Wert, wenn nicht die Patienten aus Scham oder infolge Selbst-
täuschung in der Mehrzahl der Fälle falsche Angaben machen
würden. Zu den häufigsten Handlungen, die von den Mastur-
banten als ursächlich für den Beginn der üblen Gewohnheit an-
geführt werden, gehört neben nervösen Störungen und körper-
lichen Gebrechen die Verführung in jugendlichem Alter, zumeist
in der Pubertät. Allein in Wirklichkeit gelangt der größere Teil
der Patienten durch Selbstbeobachtung unter dem Ansturm früh-
linghafter Triebe zur Selbstbefleckung, noch ein anderer Teil, der
masturbatorische Neigungen überhaupt leugnet, hat im Gegenteil
mit dem Laster sehr frühzeitig begonnen, jedoch vielleicht unter
Umständen, die ihm gar nicht zum Bewußtsein brachten, daß ein Akt
von Masturbation vorlag. (In Parenthese möchte ich an dieser
Stelle darauf hinweisen, daß der erfahrene Arzt den Fällen von
sogenannter absoluter Keuschheit bis zu einem gewissen Grade
mit Mißtrauen begegnet, da es eine solche absolute Keuschheit
unter normalen Umständen nur schwerlich geben dürfte. Ich
bezeichne jede lebhafte Tätigkeit der Phantasie, die auch un-
bewußt auf Erregung der geschlechtlichen Sphäre abzielt und
zum vollständigen Orgasmus führt, als Onanie, deren ursäch-
liches Auftreten und Häufigkeit leider in den Enquäten noch
nicht berücksichtigt wurde. Wenn man aber bedenkt, daß
diese Form der Masturbation die beliebteste und fast nie als
solche empfunden ist, wenn man ferner die verschiedenen
Masken der Masturbation und die Selbstbefleckung im somnam-
bulischen Zustande hinzunimmt, so wird man leicht erkennen,
daß es eine absolute Keuschheit nie gegeben hat und auch
niemals geben wird.)
Die Ausschaltung des vernünftigen Wollens und Handelns
resp. deren teilweise Herabsetzung sind vor allen Dingen ver-
antwortlich für das Auftreten und die Fortdauer der Mastur-
15°
228 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
bation. Das Einsetzen mechanischer Einflüsse und krankhafter
Prozesse im Organismus können das vernünftige Wollen so-
weit schwächen, daß es zur ersten Vornahme der masturba-
torischen Handlung kommt. In der Pubertätszeit sind an und
für sich alle Hemmungen vernünftiger Art geschwächt, die
Handlungen präsentieren sich als instinktmäßige Reaktionen
auf den Befriedigung suchenden Geschlechtstrieb. Ergibt sich
die Masturbation als Folge eines Gehirn- oder Nervenprozesses,
einer Hautkrankheit, der Menstruation, parasitärer Erkrankungen,
Faulheit oder Müßiggang, dann liegt a priori eine Schwächung
des Widerstandsgefühles vor, die mit einer Äußerung unbewußten
Ressentiments gegen das eigene Ich verbunden ist. Ohne eine
vorhergehende Verminderung dieses Widerstandsgefühles je-
doch, ohne eine Zielumwertung des vernünftigen Handelns ist
Masturbation nicht möglich. Onanie ist demnach niemals eine
Ursache der soeben geschilderten Ausschaltung des vernünftigen
Wollens, sondern gerade das Umgekehrte trifft hier zu: Auf dem
Umweg einer ins Abnorme gesteigerten Einbildungsfähigkeit,
aus einer Schwächung der psychischen Urteilskraft unter dem
Einfluß äußerer und innerer Vorgänge, ergibt sich der erste
Anstoß und in der Folge der dauernde Hang zur Masturbation.
Die Deduktion, die bei konsequenter logischer Denkweise
unumgänglich scheint, führt uns aber auf andere Wege, als
Wulffen zur Erklärung des Zusammenhanges zwischen Mastur-
bation und Verbrechen beschritten hat.
Die Frage, ob ein Zusammenhang zwischen den beiden
zuletztgenannten Faktoren in Wirklichkeit besteht, wäre nun
am besten aus den kriminalpsychologischen Akten der Straf-
anstalten und aus der Geschichte berühmter Verbrecher zu be-
antworten. Allerdings ist das Sexualleben der Verbrecher in
neuerer Zeit zum Gegenstande eingehender Erörterungen ge-
worden, und die psychiatrische Anamnese bildet den inter-
essantesten und mitunter bedeutungsvollsten Teil der krimina-
listischen Voruntersuchung. Für das Verhältnis jedoch zwischen
Masturbation und Verbrechen ergibt sie nur ganz sporadisches
Material. Positive Anhaltspunkte bietet auch die Geschichte nam-
hafter Verbrecher nicht, obwohl sie lückenlose Argumente für das
intime und fruchtbare Verhältnis zwischen Sexualleben und Ver-
brechen erbrachthat. Lombroso hat in seiner Aufzählung berühmter
Prostituierter auf die Häufigkeit von ihnen geübter Masturbation
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 229
hingewiesen, ebenso fand Marro, daß von 458 erwachsenen
männlichen Verbrechern 386 masturbierten, wovon 140 die
üble Gewohnheit schon vor dem 13. Lebensjahre kannten.
Einen ähnlich hohen Prozentsatz konnte Moraglia bei weiblichen
Verbrecherinnen konstatieren. Für den Umstand jedoch, daß
Masturbation direkt Verbrechen verschuldet hat, genügen
diese wenigen Angaben von allgemeiner Bedeutung nicht. Auf
welchem Wege gelangen überhaupt die Masturbanten zur Ver-
übung des Verbrechens, von Verfehlungen ähnlicher und
anderer Art gegen das legale Prinzip?
»Zu den sexuellen Perversionen«, schreibt Wulffen loc. сії,
»führt die Onanie deshalb leicht, weil der Onanist, wie schon
angedeutet wurde, bei langgeübter Masturbation zur Erreichung
der Ejakulation die Phantasie zu Hilfe nehmen und sich als
sexuelle Anreize absonderliche Variationen vorstellen muß.
So gelangen die Masturbanten zur latenten Verbrechens-
verübung, indem sie sich vorstellen, die Scham eines kleinen
Mädchens zu betrachten oder zu betasten, des weiteren, daß
sie das Kind verlocken, mit sich nehmen, es einschließen,
vergewaltigen, schließlich töten, im Keller — alles in der
Phantasie — vergraben, endlich sogar weiblichen Leichen den
Bauch aufschlitzen, mit Tieren den Beischlaf vollziehen, nackte
weibliche Statuen zerschlagen usw. Auch vorhandene latente
homosexuelle Veranlagung kann auf solche Weise ans Licht
gezogen, ebenso können einzelne homosexuelle Akte in die
Vorstellung aufgenommen werden. Es ist klar, daß von der
oft wiederholten Vorstellung einer solchen perversen und ver-
brecherischen Handlung bis zur wirklichen Verbrechensverübung
und Betätigung der Perversion kein zu großer Schritt ist.
Auch hier tritt also wieder der Zusammenhang zwischen Onanie
und Verbrechen deutlich hervor.«
Der Gedankengang des Autors in den obigen Zeilen stellt
sich demnach folgendermaßen dar: Masturbation als Ursache
erhöhter nervöser Reizzustände, einer ins Abnormale gesteigerten
Phantasietätigkeit, — Ausschaltung aller hemmenden Asso-
ziationen auf diesem Wege, — Verbrechensverübung als äußerste
Variation eines sich dauernd wiederholenden, einseitig be-
stimmten Empfindungskomplexes.
An einem Beispiel ausgeführt, präsentiert sich der Vorgang
folgendermaßen: durch andauernde und heftige Masturbation
/
230 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
wird bei X. eine allgemeine Neurasthenie hervorgerufen, die
unter Einsetzung einer lebhaften Phantasietätigkeit nach
raffinierten Steigerungen des Masturbationseffektes verlangt.
X. masturbiert unter der Vorstellung sodomitischer und in-
cestuoser Handlungen, die allmählich bei ihm einen zwangs-
förmigen Charakter annehmen. Schließlich begeht X. ein Ver-
brechen der eben geschilderten Art, zu dem er zweifelsohne
nicht gelangt wäre, wenn die konsequente Masturbation eine
Umbiegung seines normalen Empfindens nicht nach sich ge-
zogen hätte. Demgegenüber möchte ich zunächst betonen, daß
m.E. X. nur deshalb die Masturbation begonnen und sie so
intensiv fortgesetzt hat, weil die psychische Disposition hierzu
von Haus aus bereits vorhanden war. Bei normaler psychischer
Konstitution hätte X. die Wiederholung des Aktes nicht häufiger
angestrebt, als die üibrigen 99°/, verschiedenaltriger Individuen,
die nach meinen Erfahrungen sich der Masturbation tatsächlich
hingeben. Aber die Konstitution des X. war infolge erblicher
Belastung, einer allgemeinen degenerativen Anlage, dem exzessiv
betriebenen Laster besonders günstig und das übermäßige
Gefühlsleben, verbunden mit einer ausschweifenden Phantasie-
tätigkeit, war ein Symptom, das sich bereits im Knabenalter
bemerkbar machte und mit anderen Erscheinungen psychischer
Art, beispielsweise epileptischen Anfällen, verbunden war. Nun
beginnt X. zu masturbieren unter Vorstellungen, die einen
verbrecherischen Charakter an sich tragen, deren Auftauchen
jedoch auch ohne das Hinzutreten der Masturbation denkbar
wäre. Es ist zu erwarten, daß X. auch wenn er nicht
masturbiert hätte, zur Verbrechensverübung gelangt wäre.
Der Umstand, daß er gleichwohl Masturbant war, hat nur die
Tat an einen anderen Zeitpunkt und in eine andere
Beleuchtung gerückt. Mithin ist die Onanie weder für die
ausschweifende Phantasietätigkeit des X. noch für das be-
gangene Verbrechen selbst verantwortlich zu machen. Von den
gleichen Vorstellungen ist der größte Teil nicht minder exces-
siver Masturbanten und Neurastheniker beherrscht. Bis zu
einem gewissen Grade ist jede Masturbation, die mit der
Vorstellung eines gewaltsamen oder freiwillig ge-
statteten Koitus verbunden ist, als Verbrechen zu be-
trachten, solange der außereheliche Geschlechts-
verkehr unter die Fehme des Gesetzes und der Ge-
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 231
sellschaft fällt. Jeder Masturbant, der nicht ohne Mittätig-
keit seiner Phantasie sich der üblen Gewohnheit hingibt, muß
aus vernünftigen Gründen dem X. gleichgestellt werden. Will
man deswegen ein Geschrei über den Niedergang der gegen-
wärtigen Kultur erheben und die Menschheit in ihren vitalen
Interessen bedroht sehen, weil die allgemein gültigen Prinzipien
der Öffentlichkeit dem ethischen Prinzip im Individuum wider-
sprechen? — Die Tausende, die da masturbieren, befreien sich
von einer Spannung, die bei peinlicher Beobachtung der gesetz-
lichen Vorschriften und des gesellschaftlichen Cants sich zu
einem drückenden Alp für den Einzelnen ausbilden müßte. Der
Egoismus des Staats und der Gesellschaft, — der ja im Prinzip
nicht unberechtigt ist, — läßt außerehelichen Geschlechtsverkehr
nicht zu. Aber die Masturbation hat er gleicherweise zu einem
antisozialen Akt gestempelt. Ist nicht vielmehr dieses Laster, —
wenn man von seiner unästhetischen Seite und der zwecklosen
Vergeudung edler Gefühle, die damit verbunden ist, absieht, —
ebenso sozial, wie die Arbeit im Betriebe des Tagewerks, weil sie
die gesunde und drängende Kraft vom Müßiggang und einer un-
gesunden Betätigung ablenkt? Den gleichen Gedanken hat bereits
Steckel in einem neueren Hefte derSexualprobleme ausgesprochen,
‘wo er über die Berechtigung der Onanie geschrieben und an Hand
von Krankengeschichten den nach Umständen sogar nützlichen
Einfluß der Masturbation auf den Organismus nachgewiesen hat.
Auch Naecke, Löwenfeld, Forel, Bloch, Svenson u. a. haben die
Schädlichkeit der Onanie nur dann betont, wenn sie andauernd
und bei vorheriger abnormaler Konstitution betrieben wird. So
schreibt Bloch in seinem Buch »Sexualleben unserer Zeit« in
dem Kapitel über Autoerotismus wie folgt: »Nunmehr sind alle
erfahrenen Ärzte, die sich mit dem Studium der Onanie und
ihrer Folgen beschäftigen, der Ansicht, daß mäßige Onanie bei
gesunden Individuen keine schädlichen Folgen zeitigt, nur
Unmäßigkeit schadet, denn es ist nicht die »Onanie«, welche
schädlich ist, sondern der »Onanismus«, d. h. jahrelang und
unmäßig betriebene Gewohnheitsonanie schädigt die Gesundheit
ganz entschieden.«
Im weiteren Verlauf seiner Darstellung fügt dann Bloch
hinzu, daß allerdings die Wirkungen in der Onanie verschieden
sind, und daß die Grenze, wo die ungefährliche Onanie auf-
hört und der schädliche Onanismus beginnt, im Allgemeinen
232 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
sich nicht bestimmen lasse. Diese Forscher sind in ihren ein-
seitigen Diskussionen des gleichen Themas von Nyström als
Onanieadvokaten bezeichnet worden. Bedeutet jedoch die
Onanieadvokatur nichts anderes, als die Entschleierung so
eminenter, für die Beurteilung der individuellen Psyche folgen-
schwerer Erkenntnisse, dann ist sie berechtigter als die platten
Wahrheiten, denen Herr Nyström in seinem Kapitel über die
Onanie Ausdruck gibt.
An ihrer Häufigkeit und dem verschwindenden Bruchteil
der schädlichen Folgen gemessen, übt die Masturbation nicht
anders einen fördernden Einfluß auf die Zahl der begangenen
Verbrechen, als die anderen sozialen und ökonomischen Be-
dingungen, unter welchen das Individuum zur Begehung der
widergesetzlichen Tat heranreif. Charakter und Milieu, Er-
ziehung und Lebensweise, das mangelnde Verständnis für die
ethischen Forderungen der Gesellschaft und die zufällig günstige
Situation sind die zahlreichen Komponenten, die einer ver-
brecherischen Anlage zum Durchbruch verhelfen. Primär ist
nur die ererbte Disposition, die latente moralische Schwäche,
die einer unter Umständen nur ganz unscheinbaren Anregung
bedarf, um als verhängnisschaffender Faktor ins Leben des
Einzelnen zu treten.
Aus den Statistiken, die sich mit dem Überhandnehmen
der Masturbation im Gefängnis und den Verbrecherkreisen be-
schäftigen, geht somit dieser intime Konnex zwischen Mastur-
bation und Verbrechen nicht hervor. Die Beobachtungen der
Praxis ergeben gleichfalls keine positiven Anhaltspunkte dafür,
daß die ausschweifende Phantasie, beziehungsweise der ver-
brecherische Akt, auf eine zügellose und dauernd geübte
Masturbation zurückzuführen wären. Immerhin könnte ein
Verbrechen als Tat eines excessiven Masturbanten vorkommen,
Dann aber handelt es sich m. E. gerade um das Gegenteil
dessen, was Wulffen in seiner Ausführung über den Zusammen-
hang von Masturbation und Verbrechen sagt. Die Masturbation
stellt das letzte Moment in dieser Verquickung von verbrecher-
ischem Trieb und moralischer Schwäche dar und ist der be-
freiende Akkord, in dem diese im Unheimlichen brauenden
Kräfte abklingen. Die Masturbation schafft nicht das
Verbrechen, sondern sie ist dafür im Sinne der Pro-
phylaxe tätig, sie verlegt die Entspannung auf ein
A
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 233
natürliches. Gebiet und lenkt so den destruktiven
Hang von der Allgemeinheit auf das eigene Ich ab,
In diesem Sinne präsentiert sich der masturbatorische Akt als
eine Tat des Ressentiments gegen das eigene Ich und zeigt,
daß ein Heraustreten des Masturbanten aus der Sphäre des
eigenen Ichs weder gewollt, noch im logischen Sinne vorhanden
ist. Wenn ein Masturbant trotzdem ein Verbrechen begeht,
das sich in einen Zusammenhang mit seiner heimlichen sexuellen
Gewohnheit bringen läßt, dann ist es sicherlich nicht eine
Folge der übereifrig betriebenen Masturbation, sondern einfach
ein verdrängter masturbatorischer Akt, also das reine Gegenteil
davon. Die Begehung des Verbrechens setzt in diesem Falle ein
‘vorheriges Aufhören der masturbatorischen Gewohn-
heit voraus, womit natürlich nicht gesagt ist, daß dieses Aufhören
mehr als ein intermittierendes oder nur eine Verminderung des
excessiven Charakters sein muß. Ich halte es, wie gesagt, für
fraglich, ob tatsächlich Verbrechen aus Gründen übertriebener
Masturbation begangen werden, bin jedoch überzeugt, daß sie
unter keinen anderen, als den oben angeführten Umständen
möglich wären. Dafür scheint mir auch die Beobachtung zu
sprechen, daß für gewöhnlich eingefleischte Masturbanten nicht
die üblen Seiten ihres Charakters zeigen, solange die mastur-
bieren, sondern erst dann, wenn sie sich mit Skrupeln über
ihre Gewohnheit abgeben und aus Angst vor etwaigen Folgen
die Häufigkeit der Akte reduzieren. Dem Psychiater und dem
erfahrenen Hausarzt sind diese Symptome, die namentlich in
der Pubertätszeit deutlich zu Tage treten, bekannt; sie werden
jedoch zumeist auf andere als die eben angeführten Gründe
zurückgeführt.
Ich möchte den ganzen Komplex von Erscheinungen, die
aus der Verdrängung masturbatorischer Triebe resultieren, als
»masturbatorische Hysterie« bezeichnen. Das Verbrechen, so-
fern es von exzessiven Masturbanten tatsächlich begangen
wurde, ist ebenfalls nur eine Erscheinungsform dieser Hysterie
und ein Symbol des masturbatorischen Aktes. Die Be-
stätigung meiner Ansicht ergibt sich mir aus der Kranken-
geschichte eines jungen Mannes, den zu beobachten ich Ge-
legenheit hatte. Ich teile sie nachstehend in der Hauptsache mit:
L., 29 Jahre alt, Sohn eines deutschen Gymnasialdirektors, erblich be-
lastet, Student der Jurisprudenz, ist seit ungefähr dem 10. Lebensjahr der
234 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Masturbation ergeben. Im Alter zwischen 14 und 17 onaniert er durchschnitt-
lich täglich einmal, mitunter auch zwei- und dreimal, gegen Schluß noch
häufiger, derart, daß er körperlich auffallend verfällt und dauernde Er-
schöpfungskrisen sich bei ihm einstellen. Er wird in einem Sanatorium unter-
gebracht, wo mit Hilfe radikaler Kuren (Kaltwasserbehandlung, Suggestions-
therapie) versucht wird, ihm die üble Angewohnheit abzugewöhnen. Tat-
sächlich gelingt es, ihn für längere Zeit von Masturbation freizuhalten. In
dieser Periode zeigen sich zum erstenmal Merkmale von Kleptomanie, in-
cestuose Delirien, Versuche von sodomitischen Akten an den dem Arzte der
Anstalt gehörigen Haustieren. L. wird darauf entlassen und kehrt wieder zu
seiner Familie zurück. Mit 20 Jahren Abiturium, hierauf Inskription an einer
reichsländischen Universität, der jedoch kein Besuch der Kollegien nach-
folgt. Wiederaufnahme der masturbatorischen Handlungen, die solange
andauern, bis L. die Bekanntschaft einer Prostituierten macht. Er knüpft
jetzt ein Verhältnis mit ihr an, das zur Lösung aller Beziehungen zu seiner
Familie führt, und zieht mit dem Weibe zusammen unter gleichzeitiger
Übersiedelung in eine andere größere Universitätsstadt. Während der
Dauer des geregelten Geschlechtsverkehrs sucht L. Beschäftigung in kauf-
männischen Betrieben und findet nacheinander Stellung bei einer Auto-
mobilfabrik und in einer Druckerei, die er zur leidlichen Zufriedenheit
seiner Vorgesetzten ausfüllt. Der kriminelle Charakter offenbart sich
jedoch dauernd darin, daß die Frau die ganze Zeit über mit seinem
Wissen und Willen der heimlichen Prostitution ergeben ist. Nach ein-
jährigem Zusammenleben stirbt das Weib an einer Peritonitis, L. verliert
seine Stellung infolge plötzlich auftretender Händelsucht und kehrt reumütig
zu seinen Eltern zurück, die ihn in einer Korrektionsanstalt unterbringen.
Während dieser ganzen Zeit abermals exzessive Masturbation, die in der
Anstalt infolge der Einflußnahme des Hausarztes aussetzt. Von diesem
Zeitpunkt an wiederholte Diebstähle, Brandstiftungsversuche, unzüchtige
Angriffe auf Anstaltsgenossen. Schließlich Flucht und abermaliges Unter-
tauchen in der Hefe der großstädtischen Bevölkerung. Im Februar dieses
Jahres hat ihn Verfasser gelegentlich eines Besuches zu Studienzwecken
in einem Asyl für Obdachlose wiedergefunden. Er ist seiner üblen Ge-
wohnheit wieder wie früher ergeben und nebenbei dem Alkohol verfallen,
Im Übrigen empfindet er Reue über sein verfehltes Dasein und sucht
eine Möglichkeit, auf anständige Weise in die Gesellschaft wieder ein-
zutreten.
Aus der vorliegenden Lebensbeschreibung eines exzessiven
Masturbanten erhellt die Wechselbeziehung, die zwischen Mastur-
bation und Verbrechen besteht. Primär ist die degenerative An-
lage, die sich in moralischer Willensschwäche und einem daraus
resultierenden Hang zum Verbrechen äußert; eine Folge dieser
hereditären Belastung ist die frühzeitig einsetzende Masturbation,
die mit der üblichen ausschweifenden Phantasie einhergeht.
Während der Dauer der Masturbation bleiben die verbrecher-
ischen Triebe verborgen, gelangen aber sofort zum Durchbruch,
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT Н 235
sobald die gewohnte Entspannung teilweise oder vollständig
aussetzt. Die erotische Basis der wiederholten Verbrechens-
verübung liegt hier unzweideutig zu Tage. Die Handlungen
des L. haben einen symbolischen Charakter, der um so deut-
licher zu Tage tritt, je intensiver die gewollte oder unfreiwillige
Enthaltsamkeit von masturbatorischen Manipulationen anhält.
L. ist im gewöhnlichen Verkehr von einem schüchternen, ständig
bedrückten Wesen und würde es zu normalen Zeiten nicht wagen,
fremdes Gut zu berühren oder einem Unbekannten näherzu-
treten. Die autoerotische Gefühlsrichtung offenbart sich ferner
in seiner Vorliebe für sexuelles Tagträumen, seinem über-
spannten Persönlichkeitsbewußtsein, seiner Vorliebe für Mystizis-
mus und verschwommene, Iyrische Situationen, endlich in seiner
Hinneigung zu literarischer und künstlerischer Betätigung, wo-
bei er von seiner exzeptionellen Begabung überzeugt ist. Die
gleichen Symptome treten nach Ellis an allen typischen
Masturbanten zu Tage, und gerade um dieser Eigenschaften
willen ist nicht anzunehmen, daß ein Masturbant ohne die
von Haus aus kriminelle oder pathologische Veranlagung gegen
die Bedingungen des sozialen Prinzips verstoßen würde. Der
typische Masturbant hat kein Verlangen, mit der Gesellschaft
in irgendeine direkte Beziehung zu treten, aus dem Grunde
sind auch die Bedingungen, die dem Verhältnis der Gesellschaft
zum Einzelnen Grund und Farbe geben, Liebe und Haß, für ihn
sub specie sui ipsius umgewertet. Erst, wenn der monosexuelle
Trieb infolge irgendwelcher Phobien unterbrochen ist, kann sich die
aufgestapelte Energie, die nach einer entsprechenden Entladung
sucht, gegen die Gesellschaft wenden, aber auch dann noch
ist die Tat nicht anders als ein monosexueller Akt zu be-
werten, der im letzten Grunde immer gegen das eigene Ich
gerichtet ist.
Ich möchte zum Schluß noch auf einen Umstand hinweisen,
der mir für den Selbstmord gewisser Liebespaare typisch er-
scheint und in einer Studie über den Zusammenhang zwischen
Autoerotismus und Verbrechen nicht unerwähnt bleiben mag:
In den meisten Fällen, wo es sich um den Selbstmord zweier
Liebenden handelt, pflegt einer der Partner autoerotisch
veranlagt, resp. Masturbant zu sein, der in einem Verhältnis
zu zweien instinktiv Abwehr gegen seine monosexuellen Triebe
sucht. Ich glaube, daß ein Teil der Selbstmorde unglück-
236 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
lich Liebender bestimmt darauf zurückzuführen ist, daß dann
der -monosexuelle Partner seine autoerotischen Neigungen
zurückdämmt, weil er ihre Betätigung mit Rücksicht auf
den anderen Teil für unwürdig und ungesund hält. Da-
durch aber bereitet er jenen Zustand vor, der allein den
Autoerotiker und Masturbanten zur Verbrechensverübung hin-
zuleiten scheint. Der unglücklich Liebende, der sich selbst
tötet und andere zum Selbstmord bestimmt, handelt aus den-
selben Motiven heraus wie der pathologische Masturbant, der
zufolge Unterdrückung seiner Leidenschaft zu kriminellen
Taten gelangt. Die meisten Doppelselbstmorde unglücklich
Liebender sind mithin autoerotische Akte und es ist vielleicht
im Sinne einer gesunden Rassengenese vorteilhaft, daß die
Natur einer Fortpflanzung krimineller Triebe auf diese Weise
entgegenarbeitet.
Ө E
DIE EROTISCHE BILDREKLAME.
Von Dr. ERNST BERNHARD.
Va den reichsländischen Gerichten stand kürzlich ein
Redakteur aus Hannover unter der Anklage, unzüchtige
Heiratsannoncen im Inseratenteil veröffentlicht zu haben. Das
immerhin strenge Urteil, das trotz aller Einwände über den
Beschuldigten verhängt wurde und auf 400 Mark Geldstrafe
lautete, beweist, daß die Staatsanwaltschaft jederzeit geneigt ist,
die Öffentlichkeit vor der Korruption gewisser Presseerzeugnisse,
zu denen die Kuppelannonce zweifelsohne zu rechnen ist, nach
Tunlichkeit zu schützen. Allerdings ist dieser Schutz ein ganz
relativer, da es sich nicht immer leicht feststellen läßt, wie
weit eine Annonce als harmlos, zweideutig oder direkt porno-
graphisch angesehen werden muß. In der Mehrzahl der Fälle
entscheidet der Richter nach seinem subjektiven Empfinden,
und soviel steht fest, daß in jeder Nummer der hauptstädtischen
Tageszeitungen eine Reihe von Annoncen passiert, die keinen
anderen Zwecken als der Anbahnung außerehelichen Geschlechts-
verkehrs dienen. Noch deutlicher zeigt sich das Unvermögen
der Zensur gegenüber der Bild-Annonce und dem Reklame-
plakat, bei denen es viel schwerer fällt, die Grenze zu be-
stimmen, wo die künstlerischen Qualitäten aufhören und sich
Die beilebteste Marke des 047, fi 1 Fülle, Kraft, Frische und
vornehmen Geschmacks köstlich diskretes Aroma sind
In Qualität unübertroffen бай de Cologne ihre anerkannten Vorsüge
REKLAMEZEICHNUNG FÜR EIN PARFÜM-INSERAT.
Von MARQUIS DE BAYROS. _
238 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
die nackte, erotische Spekulation kenntlich macht. Die erotische
Bildreklame bildet heutzutage den wertvollsten Bestandteil des
Presse- und Anzeigenwesens und der geschäftliche Aufschwung
der Gegenwart hängt mit ihr auf das engste zusammen. Be-
trachtet man beispielsweise die Litfassäulen an den einzelnen
Straßenecken, die illustrierten Journale, Prospekte und Rück-
seiten der täglich erscheinenden Bücher, so findet man, daß
das gesamte Anzeigenwesen eine großzügige Spekulation auf
die erotischen Instinkte im Publikum bedeutet. Die meisten
Reklameplakate, die sich nicht mit der Wiedergabe des Textes,
der zumeist in auffallenden Buchstaben gedruckt ist, begnügen,
weisen, wenn nichts anderes, eine allegorische Frauengestalt,
irgend einen Mädchenkopf oder bei raffinierterer Ausgestaltung
eine Situation auf, deren erotische Tendenz unverkennbar zutage
tritt. Eine zeitlang kam es namentlich in Paris und Wien zu
den größten Gewagtheiten auf diesem Gebiet und es ist
wiederholt vorgekommen, daß das Publikum sich durch
die schreiende Straßenreklame auf das Gröblichste beleidigt
fühlte. Der Polizei steht in Fällen, die das Reklameplakat
betreffen, keine direkte Initiative zu, da Reklameplakate als
Presseerzeugnisse im Sinne des $ 2 des Reichs-Pressegesetzes
der polizeilichen Präventive entzogen sind. Trotzdem kommt
es häufig genug zu Konfiskationen, die auf Antrag Einzelner
erfolgen und die der Schwierigkeit des Gegenstandes halber
mitunter neben dem Richtigen auch das Harmlose und rein
Künstlerische treffen. So wurde im verflossenen Winter die
Polizeibehörde gegen ein Plakat der Grete Wiesenthal mobil
gemacht, das die Künstlerin in der Stellung der Creuzeschen
Madonnen zeigte und wo die feine Sinnlichkeit des Gesichts-
ausdruckes zwar fesselnd, aber durchaus nicht beleidigend
wirken konnte. In ähnlicher Weise machten seinerzeit einige
konfessionelle Schreier in Wien die Polizei gegen ein Plakat
von Kokoschka mobil, das eine nackte, stilisierte Frauengestalt
aufwies und in seinen ungeheuerlichen Verkürzungen und der
aparten Tongebung eher grotesk als aufreizend wirkte. Zwei
Gesichtspunkte gibt es, die das Einschreiten der Behörde in
gewissen Fällen den Reklameplakaten gegenüber rechtfertigen.
Zunächst da, wo es sich um eine grobe Verletzung des
ästhetischen Empfindens handelt, und dann überall dort, wo
mit den Reklameplakaten zu politischen Zwecken Mißbrauch
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 239
Desondens Бетта бгу
gepen Haarausfall,
Shuppenbildung
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REKLAMEZEICHNUNG FÜR EIN HAARWASSER-INSERAT.
Von MARQUIS DE BAYROS.
getrieben wird. Das ästhetische Empfinden der Allgemeinheit
wird durch alles verletzt, was einen Mangel an künstlerischen
Qualitäten und einen Überfluß an erotischen Details aufweist.
Es ist ebenso unangebracht, wenn im Straßenbild ein großes,
in indiskreten Farben gehaltenes Plakat auftaucht, das durch
eine pikante erotische Szene die unübertreffliche Güte eines
Korsetts, einer bestimmten Matratzenart oder eines kosmetischen
Mittels anpreist, wie die Ausbeutung namhafter Künstler im
Dienste einer erwerbsbeflissenen Industrie, die mitunter Bild-
nisse großer Meister zu einer profitsicheren, auffallenden
Karikatur herabwürdig. So hat kürzlich irgendeine groß-
240 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
städtische Firma Tizians »Irdische und himmlische Liebe« als
Klischee für ein Plakat benutzt, das irgendein indifferentes
Bekleidungsstück anpries. Ich habe Plakate und Annoncen
gesehen, die Hodlersche, Klingersche, Hoffmannsche und Klimt-
sche Motive in einer grotesken Verballhornung zeigten und die
im Straßenbild nicht nur unästhetisch, sondern direkt abstoßend
wirkten. Der Passant hat hier mindestens das Recht, daß
seine Sinne, die in der Großstadt einer dauernden Ver-
kümmerung ausgesetzt sind, nicht noch durch Reklameunfug in
grober Weise beleidigt werden. Die Behörde bemüht sich ja,
die öffentlichen Plätze und Straßen nach Tunlichkeit zu ver-
schönern, eine großzügige Gartenstadtbewegung kennzeichnet
die Kultur der neueren Hauptstädte, man trägt, wie in Brüssel
und anderswo, Blumen in die Mansarden der armen Mädchen,
aber die Reklame ist bis auf den heutigen Tag so häßlich und
charakterlos wie früher geblieben. Wäre es nicht an der Zeit,
daß die städtische Behörde sich um das Reklamewesen ein
wenig mehr bekümmert und vor allem das Treiben der Plakat-
institute sowie verwandter Unternehmungen auf das Schärfste
beobachtet? Wenn die städtischen Behörden überall dort, wo
es sich um größere behördliche Ankündigungen handelt, ähn-
lich wie bei Ausstellungs- oder Theaterbauten, auch eine nach
Möglichkeit ausgedehnte Konkurrenz unter namhaften Künstlern
veranstalten würden, würden die Industrie- und Privatunter-
nehmungen ebenfalls für eine mehr künstlerische Reklame
sorgen als es bis jetzt geschieht.
Ein Schuß Erotik ist für das Reklameplakat und die
illustrierte Annonce nicht unwesentlich. Das farbige Reklame-
plakat soll stärkere Assoziationen ermöglichen, als es die
Lektüre des einfachen begleitenden Textes imstande ist. Wenn
die österreichische k. k. Tabak-Regie als staatliche Behörde
ihren Tabak, das sind die Erzeugnisse ihrer Industrie, auf
einem Plakat anzeigt, das mit einem hübschen, blondlockigen
Mädchenkopf geschmückt ist, so gibt sie indirekt zu, daß eine
gewisse Erotik im Bilde wirksamer als das glänzendste Urteil
von einem Dutzend Fachgelehrten ist. Der Name einer Sekt-
marke prägt sich viel leichter ein, wenn sich gleich daran die
Erinnerung an ein Bild knüpft, das mit der Pikanterie eines
Reznicek die Freuden einer Ballnacht illustriert. Die Mehrzahl
der Kunden kauft einen Reform-Büstenhalter nur darum, weil
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REKLAMEZEICHNUNG FÜR EIN SEKT-INSERAT.
Steckenpferd Lilienmilch-Seife
erzeugt weisse sammetweiche Haut und zarten.blendend schönen Teint - 5 sTuck sopr
REKLAMEZEICHNUNG FÜR EIN SEIFEN-INSERAT.
(Zu dem Aufsatz „Die erotische Bildreklame‘', Seite 236.)
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 241
REKLAMEZEICHNUNG FÜR EIN CIGARETTEN-INSERAT.
sie die üppige Frauengestalt gereizt hat, die der betreffenden
Annonce ihre wirksame erotische Note verliehen hat. Die Er-
folge der Ullsteinbücher beruhen auf der unübertrefflichen
Findigkeit und Eleganz, mit der die betreffende Firma die
Reklame in Szene setzt. Die feinen, erotischen Zeichnungen
dekadenter Künstler, wie Heilemann, Gestwicki, Bayros, Koch-
Gotha u. a. sind wirksamer als spaltenlange Feuilletons, in
denen der Wert und Unwert einer solchen Sammlung erörtert
wird. Im übrigen ist die vorbesprochene Art der Reklame
typisch für den Gesamt-Charakter, in welchem sich das
moderne Anzeigenwesen bewegt. Es ist ein gewaltiger Unter-
schied in den illustrierten Annoncen der modernen Künstler
und beispielsweise denen der 80er bis 90er Jahre des ver-
flossenen Jahrhunderts. Was hier grobe, auf Effekte berechnete
Technik war, steigert sich dort zu einer raffinierten und auf
subtile Details ausgehenden Kunst, wo der Erfolg nicht allein
durch die gröbliche Ausbreitung von Obszönitäten angestrebt
wird. Noch Aubrey Beardsley hat im Jahre 1894 ein Buch-
händlerplakat, in dem Kinderbücher empfohlen wurden, ge-
zeichnet, das trotz der Feinheit der Komposition und der
Geschlecht und Gesellschaft VIII, 6. 16
242 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
merkwürdigen Farbentöne eine höchst ungesunde, hyper-
ästhetische Sinnlichkeit offenbart. Dieses Plakat ist damals in
dem prüden England unbeanstandet geblieben. 2 Jahrzehnte
später hat Berlin das harmlose Porträt der Grete Wiesenthal,
das an den Litfassäulen auftauchte, konfiszier. Prospekte und
Umschläge, wie die gewisser Berliner Warenhäuser, bei denen
sich in den 90er Jahren die Afterkunst einer obszönen
Illustration breit machte, wären heutzutage unmöglich. Anderer-
seits freilich ist gerade der Buchhändlerprospekt und die
Umschlagseite der illustrierten Zeitungen, die ebenfalls in
die Bildreklame einbegriffen werden müssen, heute erotischer
denn je und was hier an Intimitäten enthüllt wird, unter-
scheidet sich von der Praxis früherer Zeiten nur dadurch, daß
die Grenze des Erlaubten nicht läppisch überschritten, sondern
genial umgangen wird. Man braucht daraufhin nur die be-
deutendsten deutschen Witzblätter zu untersuchen und man
wird staunen, wieviel Schmutz sich hier in einem ehrbaren
Mäntelchen breit macht. Ich meine nicht Kunstblätter vom
Schlage der »Jugend« und des »Simplizissimus«, gegen die
erst im letzten Karneval die puritanische »Staatsbürgerzeitung«
eine geharnischte Buß- und Schimpfpredigt losgelassen hat;
obzwar namentlich im »Simplizissimus« die Variationen der
erotischen Motive mir immer monotoner und eindeutiger zu
werden scheinen. Aber die ganze Reihe der aus Wien
importierten Witzblätter, die »Bombe«, die »Wiener Karika-
turen«, der »Sekt«, die »Pschütt-Karikaturen«, bedeuten nichts
anderes als die Ausbreitung pornographischer Instinkte im
Leserpublikum. Was hier auf den Bildseiten sich abgelagert
findet, sind wüste Orgien unbedeckten weiblichen Fleisches,
und die geistreichsten Witze drehen sich einzig um die weib-
liche Unterwäsche.
Vor den Berliner Gerichten fand im April 1912 ein objek-
tives Verfahren gegen eine Anzahl wegen Unzucht verdächtigter
Nummern der Wiener humoristischen Wochenschrift »Wiener
Karikaturen« statt, das mit Unbrauchbarmachung und Ver-
breitungsverbot dieser Zeitschrift endigte. Es ist unfaßlich, daß
gewisse Kreise sich gegen das Urteil auflehnten und die
»Wiener Karikaturen« sogar in ernsten und angesehenen
Berliner Zeitungen ihre Verteidiger fanden. Für den Wert
dieser Blätter spricht schon der Umstand, daß sie in der
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 243
Donau-Metropole von niemandem außer der Gymnasialjugend
und dem Stammpublikum der Prostituierten-Caf&s geschätzt
werden. Für die Berliner Blätter ist es bezeichnend, daß sie
den Witz, der in den Spalten der »Wiener Karikaturen«, der
»Bombe« und ähnlichen kulturellen Unternehmungen vergeudet
wird, für den Wiener Witz überhaupt nehmen und danach ihr
Urteil über den Charakter des leichtlebigen Völkchens da unten
formulieren. Aber der volkstümliche Wiener Witz hat ein
Charakteristisches, das ihn vollständig von einer anerzogenen
Dekadenz unterscheidet. Er ist unpolitisch und in hohem Maße
Damen-Strümpfe
Trama-Seide = 1.95
Seidenllor Jacauard
6 Paar 290 45.»
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Herren-Oberhemden
7 Det Werba um wa 2.65
M.BUNEPT., |
6 BERLIN ми. $
UNKSTO 9
ILLUSTRIERTES-INSERAT EINES BERLINER
STRUMPFGESCHÄFTES.
16*
244 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
unerotisch, es ist der zahme, behäbige Situationswitz des
Philisters, der sich mehr in der gesamten Persönlichkeit des
Sprechers als in einzelnen Ausdrücken markiert. Mit dem
Wiener Witz ist es so wie mit dem Wiener Halbweltleben und
der Moral da unten überhaupt. Wien ist im großen und ganzen
eine recht harmlose, ins Großstädtische umgedeutete Provinz-
stadt, banausisch und moraltüchtig, die zeitlebens eine große
Sehnsucht kennt, d. i ein zweites Paris an Eleganz und Laster-
haftigkeit zu werden. Eine Halbwelt, wie sie der Pariser oder
Berliner kennt, gibt es da unten überhaupt nicht und wird es
auch, solange die Stadt ihren spezifisch österreichischen
Charakter bewahrt, überhaupt nicht geben. Die Wiener Halb-
welt spukt nur in den Köpfen der Dörrmann, Schnitzler und
Auernheimer herum und in Wirklichkeit konzentriert sie sich
in den drei Bordellstraßen des VI. Bezirks, der Kirchberg-,
Gutenberg- und Spittelberggasse. Man muß diese Gassen ge-
sehen haben, um zu erkennen, daß Wien im Grunde genommen
urgesund ist und daß es eine so elegante Prostitution wie
in Berlin und anderswo in absehbarer Zeit unten nicht geben
wird. —
Die Bildreklame mit ihren Auswüchsen und dem Über-
wuchern des phantastisch-erotischen Elements ist eine notwendige
Folgeerscheinung des gegenwärtigen Industrialismus aller
Unternehmungen und des dauernden Konkurrenztaumels, der
sich in der geschäftlichen Welt überall bemerkbar macht. In
dem Sinne repräsentiert sie sich als ein reines Produkt der
Neuzeit, obzwar sie bis zu einem gewissen Grade bereits im
früheren Jahrhundert wirksam bestanden hat. Das Reklame-
plakat ist eine direkte Fortsetzung der satirischen Flugblätter
und Holzschnitte des 16. und 17. Jahrhunderts und dient in
einer gewissen Umdeutung denselben Zwecken, die von der
gesamten pamphletischen Literatur jener Zeit verfolgt wurden.
Neben der Ausbreitung neuer Ideen, die sich auf kulturelle
Vorgänge oder einfach nur Gebrauchsgegenstände beziehen,
offenbart sich auch eine politische Absicht in ihnen, sofern
durch sie die Revolutionierung der Masse angestrebt wird.
Soll die Masse für eine neue Idee gewonnen werden, so muß
ihr erst die Einsicht von der Nützlichkeit des Neuen geschickt
suggeriert werden. Es ist begreiflich, daß die stärkste Waffe
zur Zerstörung eines eingewurzelten Konservativismus die
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 245
Verquickung der Politik mit der Erotik ist. Nur dann, wenn
das Neue mit einer entsprechend lebhaften Erweckung lust-
betonter Instinkte einher geht, vermag es sich mit Bestimmtheit
durchzusetzen. Man wird aus diesen Gründen die Erotik aus
dem Reklameplakat und der illustrierten Annonce, vornehmlich
aber aus den illustrierten Zeitungen nicht ohne einen beträcht-
lichen Schaden für die gesamte Entwicklung des geistigen und
technischen Fortschrittes entfernen können. Eine Dosis Erotik
in der öffentlichen Propaganda ist auch vom ästhetischen
Standpunkt aus niemals anfechtbar, solange nicht das erotische
Element zum Zynismus und zur Pornographie herabsinkt. Man
kann sagen, die moderne Plakatkunst hat sich bis auf die
allerdings schauderhafte Kinoreklame von dem letzteren Element
zu reinigen gewußt. Daß es im übrigen schädliche und häß-
liche Auswüchse auch auf diesem Gebiete gibt, liegt nicht an
einer Dekadenz der künstlerischen Sitten bezw. an Geschmacks-
verderbtheit unserer Zeit, sondern an der rohen Spekulation
einzelner Unternehmer. Dem Treiben dieser Leute müßte die
Behörde allerdings von Zeit zu Zeit im Interesse der Volks-
gesundheit einen recht derben Riegel vorschieben.
8 E
ANWENDUNG DER KRAFTPHILOSOPHIE AUF
DIE SEXUALPROBLEME.
Von Dr. ROBERT HESSEN.
(Schluß).
ңе Aufmerksamkeit erfordert auch die Lektüre. Es
ist eine der schändlichsten Roheiten, Tertianern oder gar
Quartanern schon das Alte Testament in die Hand zu geben
mit seinen zumteil entsetzlichen Schmutzereien. Was brauchen
halbreife Jungen denn zu wissen, wie es der lüsterne König
David mit Bathseba trieb, oder die Töchter Loths mit dem
eigenen Vater? Knaben finden diese Stellen, nicht weil sie
verworfen, sondern weil sie lebhaft sind. Es ist manches
gegen die Gründe zu sagen, aus denen der Katholizismus dem
Laientum die Bibel heute noch vorenthält, allein in diesem einen
Punkt ist er hygienischer als die Protestanten.
246 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Leider gibt es nun aber sehr formvollendete Bilder und
Statuen, die nicht einer naiven Freude an der Schönheit ent-
sprungen sind, sondern zweideutig auf die Phantasie wirken
wollen, um schlüpfrige Situationen auszuspinnen. So sah man
vor etlichen Jahren auf der Berliner Kunstausstellung die Marmor-
figur eines hübschen Mädchens, das nicht sowohl einen nackten,
als vielmehr einen entblößten Eindruck machte. Sie saß, mit
einem Opernglas in der Hand, und blickte, während ihr Mund
zu plaudern schien, lächelnd empor. Doch zu wem? Zu einer
Kameradin? Oder zu einem Herrn? Im Freien? Selten war
der Unterschied zwischen naiver Nacktheit und absichtlicher
Enthüllung so deutlich abzulesen. Derartige Bildwerke, mag
ihre Technik noch so glänzend sein, eignen sich nicht für die
Öffentlichkeit und am wenigsten für Halbwüchsige.
Wie stellt sich der Feminismus zur deutschen Kraft?
Wir haben diesen bösen Debetposten an anderer Stelle schon
berührt. Erfreut sich selbst beim deutschen Spießbürger noch
die Kraft einer gewissen Beliebtheit, die »bewegte« Frau ist
deren wenn auch stille, so doch abgesagte Feindin. Ich rechne,
daß von der heutigen deutschen Weiblichkeit ein Fünftel noch
Kraft hat und sie auch liebt; ein zweites Fünftel zwar Kraft
hat, aber es nicht weiß und nichts von ihr versteht, weder von
ihren Vorzügen, noch von ihren Bedürfnissen der Instandhaltung.
Drei Fünftel sind kraftlos und gleich der ebengenannten Kate-
gorie durch ihr Kleidertum für alles Natürliche abgestumpft.
Sie empfinden den Leib garnicht mehr und pendeln, soweit
sie wohlhabend sind, in ihren biologischen Gedanken zwischen
der Modistin und der »Sittlichkeit«, mit der bekannten Schattierung
zur Prüderie.
Die bewegten Frauen aber wittern hinter der Kraft eine
nationale Anforderung, also genau das, was sie sich abzuschaffen
wünschten. Die Frauenbewegung hat keine nationalen Ziele,
sondern individuelle; sie strebt nach Vermehrung der weiblichen
Rechte, Verminderung der weiblichen Pflichten, somit nach
Freiheit von Leistung. In der Arterhaltung verabscheut sie die
zeitweilige Minderung der Ungebundenheit; denn Kinder sind
lästig. Man spricht wohl von freier Liebe, doch ebenso gelehrt
von Prävention und Abortion, um sich den Pflichten der Art-
erhaltung zu entziehen. Kräfte, den Mann zu fesseln und zu
ihrem Unterhalt zu zwingen, wären den Frauen schon recht.
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 247
Aber die haben wenig zu tun mit jener Kraft, die der Hygie-
niker meint.
Es gibt ein paar bewegte Frauen, die hiermit nicht einver-
standen sind und nichts gegen wirkliche Kraft haben. Die
bilden dann, wenn drei zusammenkommen, einen «Flügel» der
Frauenbewegung und füllen lange Spalten mit dem, was sie
alles wollen. Von dem, was sie tatsächlich können, pflegen
sie keine Vorstellung zu haben.
Bei aller Sympathie, die jeder gesund empfindende Mann
in dem aufgezwungenen ökonomischen Ringen um eine selb-
ständige Existenz alleinstehenden Mädchen und Frauen entgegen-
bringt, wird er doch auf die Dauer stutzig vor der systematischen
Verlogenheit in majorem feminae gloriam. Kein gegen alle
Wirklichkeit verbarrikadierter Marxist alten Schlages kann z. B.
‚so hartnäckig — bei 17 bis 18 Milliarden Spareinlagen — von
der zunehmenden »Verelendung« deutscher Arbeiter sprechen
wie eine bewegte Frau von der »doppelten Moral«. Obwohl
es feststeht, daß der abgebende Mann, bei Gesundheit der
Beteiligten, auch nach einem «Fehltritt» derselbe bleibt, der er
vorher gewesen war, dagegen die aufnehmende, empfangende
Frau durch Zulassung fremden Gewebes und fremder, ent-
wickelungsfähiger Keime stets die eigne Ehe besudelt; obwohl
es ferner feststeht, daß die sexuellen Bedürfnisse zwischen
Mann und Weib ungleich verteilt sind und der Mann zeitlebens
durch seine Natur. in einer viel schärferen Versuchung steht,
fordern die hundertmal widerlegten Frauen dennoch im Punkte
der Untreue «völlige Gleichheit». Und zwar mit weiblicher
Logik in dem Sinne, daß der Mann im Fall der Untreue künftig
ebenso streng wie bisher die Frau beurteilt werden soll, die
untreue Frau dagegen künftig ebenso milde wie bisher der Mann.
Denn das Volksgewissen entschuldigt jeden gesunden und
kräftigen Ehemann, der seinen natürlichen und an sich durch-
aus ehrenvollen, weil arterhaltenden Trieben nachgibt, nachdem
seine Gattin reizlos und untauglich wurde. Die bewegten
Frauen ganz im Gegenteil, da sie längst gemerkt haben, wie
sehr es mit Schönheit und Reiz bei ihren Geschlechts-
genossinnen bergab ging, haben einen zielbewußten Feldzug
eröffnet, um dem deutschen Mann »die Sinnlichkeit aus-
zutreiben«. Nur die Ehen, wo die Gatten einander kalt lassen und
ohne Wunsch beisammen leben, sollen die Vollendung bedeuten.
248 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Es war dies die zweite schwere Versündigung der Frauen
an der deutschen Arterhaltung. Die erste geschah, als durch
das Schlagwort »Muttertier« Fruchtbarkeit und natürliche Auf-
zucht im Volk verächtlich gemacht wurden. Dieser Schlag
gegen unsere politische Gesamtexistenz ist, man muß es mit
Schmerzen zugeben, in weitestem Umfang von zerstörender
Wirkung gewesen, die biologische Vollwertigkeit des deutschen
Menschenmaterials hat sich in reißendem Tempo verschlechtert,
seit schon in der Wiege damit angefangen wird. Das Ver-
hältnis von Mutter und Kind lockerte sich; auch die Mütter,
die hätten stillen können, empfanden diese Pflicht nunmehr
als lästig. Damit veränderte sich die ganze Haltung der Säug-
linge, nicht nur für die Kost, zum Nachteil. Kinder, die regel-
mäßig an die Brust genommen werden, sind immer nur lose
bedeckt, da es jeder Mutter Freude macht, das glatte Leibchen
ihres Kleinen zu streicheln und an ihre Mutterwärme zu
drücken. Dabei genießen die Säuglinge die bekömmlichen
Luftbäder, die durch gute Ausdünstung eine reine Haut schaffen.
Verpuppte Wiegenkinder, denen man die Flasche reicht, ent-
behren auch dieser Vorteile.
Besonders machten sich die Hebammen zu Verkünderinnen
des neuen, modernen Prinzipes, das bis in die kleinsten Dörfer,
die fernsten Hütten eindrang. Sie rissen den Müttern die
Kinder von der Brust mit der Belehrung, das sei jetzt nicht
mehr. Ein geschäftliches Kalkül spielte mit: eine stillende
Frau empfängt nicht so leicht wieder, liegt also für die Hebamme
gewissermaßen brach. Eine Frau dagegen, die ihr Kind mit
der Flasche aufzieht, kann schon nach zehn Monaten aufs
Neue niederkommen. Und je mehr Entbindungen, desto mehr
Einnahmen für die Wehmutter.
Seither diese Lieblosigkeit gegen Säuglinge in Fabrik-
arbeiterkreisen. In manchen Ehen ist es, als ob die Kinder
gegen die Wand geworfen würden. Zwei-, drei-, viermal
hintereinander dieselbe Geschichte: das Kind wird geboren,
in Kost gegeben, begraben. Die Frau rennt, kaum daß sie
stehen kann, auch schon in die Fabrik, wegen des »Verdienstes«,
d.h. wegen der Sparkasse. Oft verschlingen zwar Kost, ärzt-
liche Behandlung, Apothekerrechnung, Begräbnis die ganzen
Spargroschen; doch es bleibt eben ein »modernes Prinzip«.
Erst neuerdings haben die Ärzte begonnen, solchen exa-
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 249
minierten und mit Gewerbeschein ausgerüsteten Kindsmörder-
innen aufs Handwerk zu passen. Meistens, nachdem sie
wiederholt in ihrer Praxis folgende Erfahrung gemacht hatten:
das Erstgeborene einer Frau, die, obwohl sie hätte stillen können,
sich doch durch ihre Hebamme davon abbringen ließ, rhachitisch,
drüsig, kurzatmig, bleichsüchtig, bresthaft, ewig krank; das
zweite Kindchen, das die Mutter gegen den Rat jener »Bewegten«
an die Brust nahm, glatt, fest, mit gesunden Knochen und
feinen Gelenken, frisch und rosig wie ein Engel von Murillo. -
Doch die hygienische Stupidität geht ja mitunter so weit,
daß nach fünfundzwanzigjähriger Tätigkeit zur Verschlechterung
der deutschen Rasse solche Sünderinnen auf dem Stadthause
öffentlich für ihre treuen Dienste belobt werden.
Kenner behaupten, daß höchstens noch zehn Prozent
deutscher Säuglinge ganz frei von Rhachitis bleiben. Es werden
diejenigen sein, die als reine Brustkinder auf dem Lande auf-
wachsen. Alle »Flaschenkinder« sind gefährdet, zumal in der
Stadt. Hier haben manche Frauen wohl noch Milch, aber sie
taugt nichts; weshalb nennenswerte Besserungen auf diesem
Gebiet auch nicht mehr zu erzielen sind. Der Deutsche hat
sich eben etwas Übles eingebrockt mit seiner Hochzivilisation. —
War die erste Versündigung der bewegten Frauen gegen
die Volksgesundheit roher, so war die zweite abgefeimter, doch
gerade wegen der Einstellung der modernen deutschen Psyche
gegen alles Natürliche nicht minder wirksam. Denn wenn man
deutschen Mädchen einredet, sie brauchten gar nicht stark und
gesund sein; die Männer würden jetzt bald zwischen schön und
häßlich keinen Unterschied mehr kennen, nur »der Geist«
würde von ihnen noch geschätzt, so untergräbt das natürlich
den letzten Rest gediegenen Pflichtgefühls zur körperlichen
Instandhaltung. Die Frauenrechtlerinnen aber, sobald sie die
Worte »hübsch und stark« vernehmen, murren: »Wozu? Das
könnte ja höchstens die Sinnlichkeit anfachen, die wir doch
ausrotten wollen«.
Sinnlichkeit bedeutet das Gefallen des einen Geschlechtes
am andern. Sie ist somit die Wurzel der Arterhaltung, da es
nicht einleuchtet, weshalb jemand überhaupt zur Fortpflanzung
schreiten wollte, wenn bei diesem Akt ein Widerwille zu über-
winden wäre. Weil ruinierten und perversen Frauen dieser
Verkehr in der Tat lästig ist, sollte die Nation nicht gleich
250 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
eine der wichtigsten Voraussetzungen ihres Weiterbestehens in
Verruf tun.
Es gab eine Zeit, als deutsche Mädchen fast durchweg
schön und warmsinnlich waren. Unser größter Dichter hat
ein solches Geschöpfchen in seinem berühmten Nationaldrama
mit unvergänglichen Zügen gezeichnet.
»Seh’ ich dich, bester Mann, nur an,
Weiß nicht, was mich nach deinem Willen treibt« ...
Diese Zeiten sind vorüber. Schöne Mädchen fallen heute so
sehr auf wie früher häßliche. Giftkatzen vom Typ des be-
rüchtigten »Nixchens« bezeugen in gebildeten Kreisen die Art-
verschlechterung. Und in den sogenannten niederen Schichten
geht es ebenfalls bergab, wenn auch langsamer.
Sind Häßlichkeit und kleinlicher Egoismus das Erbteil
schwächlicher Verkömmlinge, Güte dagegen, die gern auch für
andere sorgt, fast immer ein Zeichen von Überschuß an Kraft,
so werden wir gewisse sehr schmerzliche Warnsignale natio-
nalen Verfalles beherzigen, wie z.B. den in letzter Zeit viel-
genannten Geburtenrückgang. Es ist ganz klar, daß eine Nation
ärmer an Nachwuchs werden muß, wenn hunderttausende ihrer
jungen Mädchen, gemütsleer, saftlos und verdorben, unver-
hohlen äußern, daß sie Kinder verabscheuen, und über das alte
heilige Verhältnis der Mutterschaft die Nase rümpfen.
Der Geburtenrückgang selbst begann schon 1898, d. h. in
dem nämlichen Jahr, da zum erstenmal die absolute Geburten-
ziffer die Zahl von 2 Millionen um ein weniges überstieg. Sie
hat sich durch die nächsten zwölf Rechnungsjahre mit kaum
nennenswerten Schwankungen auf dieser Höhe gehalten, während
sie bei wachsender Bevölkerung doch stetig hätte ansteigen
müssen. Das Publikum begann sich aber im Jahre des Heils
1912 nicht etwa darüber aufzuregen, daß die Geburtenzahl so
viel weniger betrug, wie sie eigentlich hätte betragen müssen,
falls die alte Fruchtbarkeit der Nation treu geblieben wäre;
sondern darüber, daß die absolute Geburtenzahl im Jahre 1910
dicht unter zwei Millionen gesunken war, nämlich auf 1 982 836,
nachdem sie (1902) mit 2089414 den absoluten Höchststand
erreicht hatte.
Die Gründe für diese Erscheinung sind freilich nicht rein bio-
logisch, sondern auch wirtschaftlich und nicht selten eigenwillig.
Es gewährt beiden Geschlechtern heut augenscheinlich
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 51
eine Art von Genugtuung, ein früher für unabwendbar geltendes
Verhängnis in die Gewalt zu bekommen, zu regulieren oder
ganz auszuschalten. Elementarbildung, sagt Julius Wolf, reicht
hin, um die Kinderzahl zu beschränken; und, so muß man hinzu-
fügen, ein Mindestmaß von Aufgewecktheit und Entschlußkraft.
Bei den Frauen aber wirkt ganz in der Tiefe wohl noch
eine Art von Trotz. Sie sind früher in rücksichtslosester Weise
ausgenützt worden, haben ihr Letztes drangeben müssen, um
die Torheiten männlicher Politik, unglücklicher Kriege mit
Fremdherrschaft und Seuchen, dazu die Folgen wirtschaftlicher
Entvölkerung wettzumachen durch Hinstellung immer neuen
Menschenmaterials. Niemand hat ihnen dafür gedankt; immer
sollten es männliche Leistungen gewesen sein, durch die die
Nation schließlich wieder hochkam. Was ist allein in den
napoleonischen Kriegen der deutsche Mutterschoß bemüht
worden für französisches Kanonenfutter! Hunderttausende
mußten geboren werden, um andere Deutsche zu fällen oder
von ihnen gefällt zu werden. Wär es ein Wunder, wenn viele
Frauen heut im Іппегѕіеп dächten: »Wozu das? ... Wir
wollen uns nicht länger so verbrauchen lassen, wir wollen uns
selbst bestimmen?«
Eine sehr gefährliche Politik freilich; denn sie muß eines
Tages den Männern die Gegenfrage auf die Lippen legen:
»Wozu sorgen für solche schlechte Kameradinnen, die die Arter-
haltung ablehnen? Ist ihnen der Begriff Nation eine Null?«
Aber verstehn läßt es sich unter diesem Gesichtswinkel, wenn
zur Zeit etwa 800000 Frauen alljährlich sich an der nationalen
Fortpflanzung nicht mehr beteiligen, obwohl sie es tun könnten
und müßten, falls wir die Fruchtbarkeit der siebziger Jahre
noch besäßen. 1875 und 76 buchten wir im Reichsdurchschnitt
42 Geburten auf 1000 Einwohner; 1910 noch 30. Heut sind
es mit Sicherheit nur noch 28 oder weniger, denn gerad in den
letzten Jahren ist es reißend bergab gegangen. Die Ziffer mag
bis zum nächsten Jahrzehnt auf 20 und noch tiefer herunter ge-
gangen sein. Auch die Sterbeziffer sinkt andauernd, es ist
richtig; aber sie hat eine Grenze, jenseits derer die verminderte
Auslese durch den Tod in Herabzüchtung umschlägt. Es star-
ben 1910 nur noch 17 auf 1000 im Reichsdurchschnitt; die
Ziffer kann erwünschter Weise bis höchstens auf 13 sinken,
und sank die Geburtsziffer gleichzeitig bis auf 14, um hier Halt
252 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
zu machen, so wären uns Wachstum und Zukunft immer noch
gesichert. Allein es ist sehr fraglich, ob dieser Ausblick die
Dinge nicht zu rosig nimmt, schon weil biologische Verküm-
merung die Vorteile der Zahl aufheben kann.
Daß hohe Zivilisation mit ihren Verfeinerungen allem Ro-
busten, Säugetierischen abträglich ist, steht seit Jahrhunderten
fest; schon Adam Smith wies darauf hin, wie eine hagere,
hungernde, «abgerackerte» schottische Bäuerin ihre zwanzig Kin-
der zur Welt bringe, während eine Herzogin mitten im Luxus
zwei oder drei habe. So herrscht auch innerhalb der deutschen
Grenzen der größte Kindersegen beim polnischen Element allein
deshalb, weil hier Verfeinerung und Kapitalreichtum noch auf
niedriger Stufe stehen. Der Kreis Münster zwar hat zur Zeit
mit 45 auf tausend Einwohner den höchsten deutschen Geburten-
stand. Aber die in den westfälischen Kohlendistrikten zutage
tretende Fruchtbarkeit ist keine Eigenschaft der «roten Erde»
mehr, sondern kommt auf das Konto der in die Bergwerke zu-
gewanderten Polen.
Umgekehrt wirkt größere wirtschaftliche Reife, wirken Besitz
und Verständnis für sein Risiko hemmend auf die früher ein-
mal unbekümmerte Fortpflanzung ein. Noch ist der deutsche
Bauer dem französischen hierin nicht überall gefolgt; aber er
hat langsam damit angefangen. Wozu viele Kinder auf einem
Hof ansammeln, den doch nur Einer erben und bewirtschaften
kann? Parzellierung des Bodens in lauter Zwergbetriebe lie-
fert auch nichts weiter als ein verkümmertes Proletariat. Hier
sind zumal im Westen, wo der bäuerliche Acker vorherrscht,
die aufnahmefähigen Industriestädte zu Hilfe gekommen. Sie
haben an Stelle der einst riesenhaften Auswanderung das An-
wachsen der deutschen Kopfzahl im Lande überhaupt erst er-
möglicht. Früher exportierten wir Menschen, heute exportieren
wir Waren.
Nur daß diese industrielle Lösung des Problemes nicht
einwandfrei blieb. Gerade die großen Städte machen unfrucht-
bar und verschlechtern die Rasse. Berlin hat heute die nied-
rigste Geburtenquote im ganzen Reich, nämlich 20,83 Lebend-
geborene auf tausend Einwohner, gegen 46,9 Lebendgeborene
im Jahre 1876.
Freilich muß man sagen: »sämtliche heutigen Großstädte
belegen Kindersegen mit Strafe«. Mieter mit mehr als zwei
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 253
Kindern sind bei den Hauswirten unbeliebt, finden schwer Woh-
nung und noch schwerer in guten, gesunden Quartieren. So will
man beobachtet haben, daß kinderreiche Arbeiterfamilien in
größeren Städten fast immer heruntergekommen seien. Die
arme Frau muß sich zu Schanden plagen, ohne es recht machen
zu können; der Mann, der seine Hoffnung auf »Selbständigkeit«
für immer abgeknickt sieht, wird unwirsch und roh, beginnt zu
trinken oder zieht heimlich davon. Gerade die ärmsten Weiber,
die ehrlich niederkommen, haben die Hölle auf Erden, und herz-
brechende Szenen spielen sich ab wie die folgende. Mutter
liegt im sechsten Wochenbett. Eine kleine Tochter von acht
Jahren tritt zu ihr. »Elschen«, sagt Mutter, »du hast ein
Brüderchen bekommen.“ Worauf die Kleine bitterlich zu
weinen anfängt und klagt: „Ach, Muttchen, jetzt mußt du ja
immer noch mehr für uns arbeiten .. . Na warte man, vielleicht
stirbt eins von uns diesen Winter.“ Denn hier kommen die
Kinder als ökonomischer Fluch, der Tod als ein Segen.
Wirkt nun bei den Frauen der sogenannten niederen Klassen
größere Verständigkeit zur Niederhaltung der Geburten, so bei
den Frauen der sogenannten höheren doch eben körperliche
Unlust bis zur absoluten Unfähigkeit, Nachwuchs zu haben.
Ehen mit vier bis sechs Kindern sind hier längst zur Selten-
heit geworden, Ehen mit ein bis zwei Kindern zur Norm, weil
der Zusammenbruch der weiblichen Konstitution mit dem Ab-
scheu vor der Mutterschaft an sich kulminiert. Die gebildeten
Mädchen, wenn sie heiraten, fürchten Schwangerschaft. Sie
machen dem Mann zuliebe, der einen Stammhalter und Erben
haben will, einen Versuch, behalten aber meistens von ihm
einen derartig bittern Nachgeschmack, auch einen so peinlichen
Abbruch an Kraft und Frische, daß sie erfolgreich auf fernere
Verhütung der Empfängnis hindrängen. Es ist auch ganz klar,
daß bei Mädchen, die auf der Schule vom zehnten oder elften
Jahr ab masturbiert und es bis zur Einleitung geschlechtlichen
Verkehres fortgesetzt hatten, die Sexualkraft sich für so frühe
Anleihen rächt und bei den ersten ernsthaften Anforderungen
Erschöpfungszeichen gibt.
Um so seltsamer berührt hiernach die unter der Aegide
prüder hoher Betschwestern und ihres Anhanges niedergelegte,
von der Öffentlichkeit im allgemeinen gutgeheißene und auf-
genommene Politik: die Sinnlichkeit da, wo sie hingehört, näm-
254 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
lich im Verkehr der Erwachsenen, zu »bekämpfen« und womög-
lich durch einen kleinlichen gehässigen Neid auf die Geschlechts-
empfindungen anderer Menschen zu ersetzen; dagegen Sinnlich-
keit bei Halbwüchsigen, die sie nicht brauchen können, durch
falsche Kost, verkehrte Lebenshaltung, mangelnde Aktivhygiene
gedankenlos und rücksichtslos zu fördern, bis sie vor der Zeit
wach ist und ihre Schäden anrichtet.
8 8
BRIEFE EINES HOMOSEXUELLEN.
Mitgeteilt von Dr. J. B. SCHNEIDER.
D! nachstehenden Briefe eines Homosexuellen sind mir im
Herbst des Vorjahres von dem Adressaten übergeben
worden mit der Erlaubnis, sie durchzusehen und das, was für
wissenschaftliche Zwecke passend scheint, evtl. im Rahmen
dieser Zeitschrift zu veröffentlichen. Ich hatte nach der Lektüre
der ersten Bogen die Empfindung, daß sich hier eine so starke
und originelle Persönlichkeit zu Worte meldet, daß ich mich
entschlossen habe, einen Bruchteil der Briefe ungekürzt, auch
mit seinem unsachlichen und intimen Wortlaut der Öffentlich-
keit bekannt zu geben. Dokumente dieser Art tragen meines
Erachtens mehr zur Aufklärung der homosexuellen Psyche bei
als dickleibige Schriften über den gleichen Gegenstand und
decken gleichzeitig den ganzen Mangel unseres bestehenden
Strafgesetzes mit Rücksicht auf diesen Gegenstand auf. Die
landläufige Ansicht, daß Homosexualität identisch mit Unsitt-
lichkeit und Erpressertum sei, kann auf keine Weise radikaler
widerlegt werden als durch das persönliche Bekenntnis eines
konträr Veranlagten, der sich der ganzen Wucht eines homo-
sexuellen Triebes und der Tragweite seiner Handlungen mit
erschütternder Klarheit bewußt wurde. Leider werden gerade
so wichtige Argumente von den Gegnern der Abschaffung des
8 175 geflissentlich übersehen. Erst kürzlich hat einer der
feinsten Köpfe Frankreichs, Camille Mauclair, in seinem Werk
»De P’amour physique« einen merkwürdig engherzigen Stand-
punkt in der Beurteilung der männlichen Homosexualität be-
kannt. Man ist eine so krasse Ignoranz nur von seiten der
Revolverpresse gewöhnt, die homosexuelle Affären mit Vorliebe
256 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
und Äußerungen allenfalls — ein ironisches Lächeln bei Dir erzielen
konnte — — —?!
Dir hat das Schicksal alles gegeben, Dich hat es zum Stämmling
einer großen und mächtigen Nation gemacht, einer siegreichen und stolzen,
hat Dich in eine intelligente Familie und vor allem in den Kreis normal
empfindender Menschen gesetzt und Dir in einem talentierten Haupt zwei
kluge, alles verstehende Augen geborgt. Und warum hat in einer gro-
tesken Laune dieses gleiche Schicksal mich neben Dich gestellt, warum
mich, der ich in aller Hinsicht so unaussprechlich elend bin? Wollte
dieses boshafte Unbekannte eine Karikatur zu Dir schaffen, damit auf so
dunklem Untergrunde Dein helleuchtendes Bild noch deutlicher und nieder-
schmetternder zutage träte?
Ach, Du kannst Dir nicht vorstellen, wie sehr ich leide! Ich weiß
nicht, wie so überfließende und intime Worte in meinen Brief kamen,
aber ich sehe schon, dieses ganze Schreiben will sich zu einer aufrichtigen
Beichte meines banalen, groben Herzens auswachsen. — Nun denn, es
möge so sein! Die Zeilen werden Dir wenig oder garnichts Neues be-
richten. Eine unaussprechliche und zugleich schmerzende und verzehrende
Leidenschaft hat sich meiner bemächtigt als ich das Seminar verließ. Ich
kann und will nicht behaupten, daß diese Leidenschaft neu, in meinem
Herzen vorher nicht vorhanden gewesen wäre, ich glaube vielmehr — und
das scheinen meine Erlebnisse in frühen Jugendjahren zu bestätigen —
daß nur eine alte Neigung, durch äußere Umstände begünstigt, sich in
ein unauslöschliches, qualvolles Feuer verwandelt hat. Ich meine hier die
leidenschaftliche Neigung zum männlichen Geschlecht, zu jungen Knaben
und Männern, von der ich nicht weiß, was sie stillen oder mäßigen
könnte. Ich binde mich überhaupt nicht an einen bestimmten Menschen,
sondern ich wandere ruhelos durch die Gassen der unfreundlichen Stadt
und leide darunter, daß ich einen schönen Knaben nicht gleichgültig an-
sehen kann. Ich kann überhaupt nicht mehr an ganz gewöhnlichen, viel-
leicht sogar häßlichen Burschen ruhig vorübergehen. Durstig betrachte
ich die schlanken Gestalten, ich muß die ganze Energie meines Willens
aufbieten, um nicht den Einen oder Anderen in meine Arme zu fassen
und zu küssen. O, wie sehne ich mich nach einer Liebkosung, wie wollte
ich die Ursache meines Elends umarmen, streicheln und ihnen ungezählte
liebe Worte zuflüstern. Und das dauert schon so lange, daß es mich
schier endlos anmutet und oft frage ich mich; wohin soll denn eigentlich
dieser Zustand führen? Aber dafür gibt es keine Antwort sondern nur
Trauer und einen schrankenlosen Schmerz in der Brust. Das ist mein
Konfiteor — unendlich traurig, aber nichts neues für Dich!
O glaube es nicht, was ich Dir schreibe; glaube es nicht, zerreiße
den Brief und vergiß den Menschen, so wie ich meinen Namen und meine
Existenz vergessen wollte! Manchmal, wenn ich mir das alles recht klar
vorstelle und auseinandersetze, bin ich der Verzweiflung nahe, aber auch
dieses glaube mir nicht!
Ich grüße Dich vielmals. Ich wollte Dir viel Zärtlichkeiten sagen —
ich weiß sie nicht auf deutsch. Du mußt mit den wenigen, gewöhnlichen
Worten fürlieb nehmen.
Ulfteinbücher, die beliebiefte Leftüre in Bädern
Neucfte Bände
Ludrorg Ganghofer, Rachele Scarpa
Хаи 2 фопрегс, Tiroler Auauerntdmänfe
Rudolf Hans Bartih, Der legte ырс
REKLAMEZEICHNUNG für den Verlag Ullstein.
(Zu dem Aufsatz „Die erotische Bildreklame‘‘, Seite 236.)
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REKLAMEZEICHNUNG FÜR EIN WEIN-INSERAT.
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(Zu dem Aufsatz „Die erotische Bildreklame‘‘, Scite 236.)
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GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 257
Prag, den 8, Mai 1907.
Entschuldige, daß ich erst jetzt schreibe. Ich hatte nämlich in der
letzten Zeit eine Periode, die auch Dir nicht unbekannt sein wird, eine
Zeit, wo man eine Feder und überhaupt das Schreibzeug nur mit Wider-
willen ansehen mag. Man liest wenig, bekommt keine Briefe, schreibt
auch nichts, kurz, man lebt während dieser Zeit fast wie ein vernunftloses
Wesen. Und dann hielt mich von dem Brief an Dich eine gewisse Angst
ab, als könntest Du die Menschlichkeiten, die sich darin hüllenlos aus-
breiten, mißdeuten, ja, was mir zur Qual und Schande wäre, als unan-
genehm empfinden. Aber ich kann nicht nach einer bestimmten Schablone,
in korrekter, gesellschaftlicher Manier mich ausdrücken und kann es noch
viel weniger in einem Brief als Auge in Auge. Wohl vermag ich mich
mitunter vollständig zu beherrschen, aber dann wirbelt etwas in mir auf,
und der nächste Effekt ist einer von den vulkanartigen Ausbrüchen,
die Dir so unendlich verhaßt sind.
Übrigens habe ich mir ernst vorgenommen, ich werde Dir von nun
an keine leidenschaftlichen Regungen mehr melden, denn ich habe mich
überzeugt, was Ihr normal empfindenden Menschen von uns Ausgestoßenen
haltet, und ich werde mich nicht anstrengen, jemandem — und wäre er
mir lieber als mein Leben — diese Auffassung korrigieren zu wollen.
Ihr Weibliebenden habt für die Homosexuellen sehr viel vernünftige Worte
übrig, aber trotzdem schaut Ihr mit einem gewissen permanenten Despekt
auf sie herab. Menschen, die durch ein Versehen in die Welt gekommen
sind, mit denen man aus Mitleid über alltägliche Dinge, schönes Wetter
und gutes Essen plaudern kann, aber sie für vollwertig zu nehmen, das
kommt keinem von Euch in den Sinn! Ihr müßtet das den Herren sagen,
damit sie sich nicht länger über Euch täuschen. Ich für meinen Teil
danke für eine so Ekel erregende Liebenswürdigkeit und Unterschätzung.
Deshalb werde ich Dir behaglich schreiben, daß ich sehr froh bin, daß
das abscheuliche Wetter nachgelassen hat und der „wunderschöne Monat
Mai“ mit all seiner oft besungenen Banalität wieder hereingebrochen ist.
Ich möchte dem lieben Herrgott beide Hände für diese Gnade küssen
und es wirbelt eine solche Ausgelassenheit in meinem Blut auf, daß ich
mich nur mit Mühe bezwingen kann, nicht mit den Lauskerlen auf die
Schanzen zu springen und mit ihnen durcheinander zu raufen; und wenn
mich gerade niemand sieht, so breite ich meine Arme aus und laß ein
Paar Tränen aus den Augen fallen. Mitten hinein in die grünenden
Saaten, wo ich stehe. Denke aber nicht, daß etwas anderes daran Schuld
sei als dieser frischgrüne, lächelnde Mai, von dem ich Dir eben geschrieben
habe! Oder sind Sentimentalitäten nur den Dichtern gestattet und nicht
eineyı jeden, der tausend geknebelte Leidenschaften, Regungen, Wünsche
und Hoffnungen in der Brust trägt? Aber nichts von diesen Dingen, wir
wollten doch nur vom schönen Wetter plaudern.
Und so melde ich Dir weiter gehorsamst, daß ich heute viel spazieren
gegangen bin und nun ist es Abend und ich sitze an meinem Schreibtisch,
bin sehr müde, doch der rege Geist diktiert mir das Schreiben. Ja, willst
Du ein Werk wirklich christlicher Barmherzigkeit üben, so schicke mir,
ich bitte Dich darum, die Gedichte von Kitir oder von Ad. Brandt, deren
Geschlecht und Gesellschaft 6, VIII. 17
258 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
beider Du letzthin Erwähnung in Deinem Briefe getan hast! Kannst Du
sie gedruckt nicht abgeben, dann sende sie mir auf geschmackvollem
Format schön abgeschrieben, damit der Genuß vollständig sei. Ich finde
zwar, auch das ist eine Sentimentalität, die Dich als impertinent und ge-
schmacklos anmuten wird, aber tue es vielleicht aus dem Gedanken heraus,
daß Gedichte die Leute bilden. Ich habe ja die Hoffnung noch nicht
aufgegeben, daß ich es im Laufe der Zeit zu einem zivilisierten Menschen
bringen werde.
Genug! Mit vielen und tiefinnigen Grüßen aus dem blühenden,
sonnüberglasteten, duftigen, ratternden, schmutzigen, boshaften und doch
am Ende so unsäglich lieblichen Prag.
Königl. Weinberge, im September 1907.
Was Du mir in deinem verflossenen Brief von meinen Bekannten
geschrieben hast, dafür sei Dir gedankt, denn es ist sicher in guter Ab-
sicht geschehen. Es wäre jedoch besser gewesen, Du hättest es unterlassen.
Denn ich stehe mit keinem von ihnen mehr in brieflichem Verkehr, wünsche
es auch nicht und will überhaupt von ihnen nichts mehr wissen. Ich habe
an einem Bußtag,*) den ich mir setzte, Gericht mit meiner Vergangenheit
gehalten und mit allem, was mir nahe stand, abgerechnet. Nur mit H.
war mir die Trennung schmerzlich, ja, im ersten Moment habe ich geglaubt,
ich würde es nicht ertragen können. Nun, da es vorüber ist, weiß ich es
ganz genau: Ich habe den Menschen geliebt. — Es war in seinem Wesen
ein Reiz von Jugend, der mich unwiderstehlich zu ihm hinzog und mich
gleichzeitig nervös machte. Dieser Zauber wirkte auf mein Gemüt desto
stärker, je mehr der Junge von schlechten Gesellen verlockt und von
eigenen Leidenschaften verführt, niederging. Degeneration hat immer mein
Blut leidenschaftlich erregt und ein verkommener Mensch, dessen Glieder
welk und schlaff waren, dessen Züge aber noch Überreste eines schönen
und reinen Frühlings andeuteten, erregte mich mitunter mehr und war
meiner Willensstärke gefährlicher als eine junge, unberührte Blüte. Nun
ist es, glaube ich, zwischen mir und H. endgültig aus und ich konstatiere
das mit einem traurigen Siegesstolze. Ein Pyrrhus-Sieg! Und da ich nun
doch schon einmal darüber spreche, so will ich noch ein Wort über die
mir geläufigen Begriffe, Liebe und Freundschaft verlauten lassen. Ich
brauche Dir den Unterschied wohl nicht auseinander zu setzen, den ich
zwischen den beiden mache, weil Du es bist, dem ich meine Definition
verdanke. H. und andere habe ich geliebt und liebe sie bis jetzt noch!
In einem solchen Verhältnis ist von einem Höherstellen und Überschätzen
keine Rede, eben weil ich die Knaben liebe; die Liebe macht blind. Es
sind meine Götter, einen Gott kann man nicht kritisieren, zu den Göttern
kann man nur beten, kann sich nach einer Gemeinschaft mit ihnen sehnen,
kann ihnen Altäre bauen und Opfer darbringen, kann um die Götter, die
hart wie Marmor sind, vor Sehnsucht verbrennen, aber sie anders wollen,
— und das liegt doch in jeder Kritik, — hieße das Gleiche, wie Eulen
nach Athen tragen. — Ich bin unglücklich, weil es mir nicht vergönnt ist,
*) Im Original steht »Allerseelentag«, ich habe es des leichteren Verständnisses
halber durch das deutsche »Bußtag« ersetzt.
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 259
mich in Leidenschaft zu vernichten. — Ich hatte seit jeher eine bedeutende
Willenskraft, ich war imstande, mein Inneres zu bändigen, obwohl manch-
mal das Herz arg blutete und die Sinne vor Schmerz mir fast vergingen.
Ich habe mich beherrscht! Nie habe ich in die Welt geschrieben: ich bin
homosexuell. Nicht, weil ich das Lachen der Menge fürchtete oder mich
des »Homo« schämte; nein, weil ich überhaupt den Geschlechtstrieb, mag
er auf das eigene oder andere Geschlecht gerichtet sein, für die schwächste
Seite des menschlichen Lebens halte. Der Geschlechtstrieb ist die gefähr-
lichste und ich glaube die einzige Waffe, welche die Götter gegen die
Menschen haben — und allein er ist geeignet, auch den größten Menschen
in den Kot der Niederträchtigkeit und Gemeinheit herabzuziehen. Sich
vom Geschlechtstrieb zu emanzipieren, wäre die genialste Tat, die in
Äonen Einer zustande brächte; aber es hat keinen Menschen gegeben, der
nicht tausendmal lieber mit seinen starken Trieben geprahlt als sie unter-
drückt hätte. Und weil ich den Oeschlechtstrieb hasse, bin ich nie mit
meiner Homosexualität herausgerückt. Ja, manchmal konnte ich es nicht
ertragen, ich mußte mit einem Liebesbrief mein Leben retten, denn sonst
wäre ich wahnsinnig geworden. Das aber gehört zu meinen Privat-
angelegenheiten und wenn von solchen Briefen im Umkreis meiner Freunde
die Rede war, dann lag es daran, daß sie nur den pikanten Reiz, nicht
aber die Menschlichkeiten darin erkannt hatten. Das ist die Tragödie
meines Lebens, daß die Menschen, die mir am nächsten standen, sich nur
darum unter der Maske wärmster Anteilnahme in meine Geheimnisse ein-
geschlichen haben, um meine heiligsten Gefühle zu mißdeuten, sie zu
profanieren, ja sogar dreist als alltägliches Unterhaltungsfutter zu benutzen.
Wer hat solche Leute angestellt, daß sie über mich urteilen? Solche Indi-
viduen, die nur ein animalisches Dasein führen, die überall das nackte
Fleisch sehen und sich nur mit Dingen befassen, die sich um die Ge-
schlechtsorgane drehen! Diesen geschlechtskranken Monstren würde ich,
der Ausgestoßene, nur mit Widerwillen meine reine Rechte reichen, weil
ich fürchte, sie könnten mich anstecken! Ist es von Bedeutung, wenn
solche Leute keinen Sinn für das geistige Ringen und Kämpfen eines aus-
geprägten Charakters aufbringen und wenn sie mich nach ihrem kurzsich-
tigen Katechismus einfach verdammen? Wie könnte mich so etwas ver-
stimmt machen? Es ist, als wollte eine Meute kläffender Köter an mir
emporspringen, aber dann streckt man die Hände aus und die eine Geste
genügt, um sich die feige Schar vom Leibe zu halten. Ich glaube mich
nicht zu überheben, wenn ich sage, daß ich hoch über dem moralischen
Niveau dieser Durchschnittsmenschen stehe und daß ich sie verachte.
Sapienti sat!
O Freund, es schmerzt mich unendlich und scheint mir ein dämo-
nisches Spiel der Natur, daß im Verhältnis zum Weibe alles erlaubt ist,
jede wirkliche Schweinerei ganz ruhig geduldet wird, ja, daß es als etwas
ausgesucht Ritterliches und Geniales gilt, die Weiber recht zynisch zu be-
handeln — bei Unglücklichen von meinem Schlage jedoch die gleichen
Dinge einem schändlichen Frevel gleichkommen. Ich habe heiß geliebt,
aber — Christus oder Satan können meine Zeugen sein! — ich habe mich
nie nach geschlechtlichem Umgang mit meinen Lieblingen gesehnt, ich
17°
260 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
hätte es für die größte Sünde gehalten, ihnen nur ein zweideutiges Wort
zu sagen, um ja nur nicht ihre reinen Seelen zu beflecken, obwohl Du
weißt, daß sie häufig alles andere nur nicht so ideal waren; und da will
jemand kommen und mir Schamlosigkeit vorwerfen! Wie elend, wie un-
glücklich macht mich dieses Bewußtsein!
Du schreibst mir von Deinen stolzen Plänen, von dem Evangelium
des Wollens und von der göttlichen Gnade der selbstgeschaffenen Kraft,
die Du in Dir fühlst und nun auch von mir verlangst. Ich lese das alles,
denke darüber nach und aufrichtige Bewunderung bemächtigt sich meiner.
Du bist wie Narziß, der sich an seinem eigenen Bilde berauscht, aber
nicht wie der Unglückliche in dem althellenischen Mythos. Mit fester
Hand lenkst Du das Gespann Deiner Gedanken, stolz bewußt des lorbeer-
geschmückten Zieles, auf sicheren Wegen in das sonnumlächelte Reich der
Märchen und, gütig wie Du bist, wirfst Du von den wärmenden Sonnen-
strahlen einige in mein Herz, das am Wegrand verdorrt. Ich danke Dir!
Entschuldige, daß ich Deine Worte hier ein bischen paraphrasiere, aber
treffender konnte ich Dich und Deine Zukunft nicht charakterisieren. Viel-
leicht wirst Du Dich meiner Worte erinnern, wenn Du und andere mich
suchen werden und ich nicht mehr zu finden bin. Denn wie Dein Weg
ein Aufstieg ohnegleichen, so bedeutet der meine einen stillen langsamen
Niedergang in namenlose Einsamkeit. Ich habe diese Beichte vor Dir
abgelegt, damit auch Du nicht einmal leichtfertig über mich urteilst. Was
auch geschehen mag, laß die Leute reden, Du kennst mich! Und wenn
ich in Situationen kommen sollte — die Leidenschaft ist mächtig! — der-
art, daß mich alle beschimpfen und verfluchen, sei Du überzeugt, daß ich
einen ehrlichen Kampf gekämpft habe und zürne mir nicht. Lebe wohl!
Kgl. Weinberge, im November 1907.
Solch ein Brief! Früher hätte ich im Herbst alles andere erwartet
als lächelnde warme Sonnenstrahlen, aber sieh’, manchmal ist auch der
Herbst barmherzig! Oder war es noch ein Nachklang vom Mai? Gott
im Himmel, wie bin ich froh! Denn die Vorahnung, daß die rückhaltlose
Enthüllung meiner kummervollen Seele Dich, den Weibliebenden, ein für
alle Male abstoßen würde, war natürlich falsch und der graue, dämmernde
Herbst hat sich plötzlich zu einem lachenden, hellen Frühling gewandelt.
Die Zeit, da ich auf Deine Antwort wartete, war schrecklich und manchmal
schlich etwas an mich heran, das wollte die Hände um meinen Hals
krampfen und mir für immer den Atem benehmen. Hättest Du mir nicht
geschrieben, dann hätte ich mir zuvor einen endlosen Rausch angetrunken
und vielleicht wäre ich dann in die Moldau gegangen. Ach, wie bedaure
ich, daß ich kein Alkoholiker bin, wie dumm ist das! Ein intelligenter
Mensch und kein Alkoholiker! — Das heißt — intelligent?! Ach nein,
das bin ich nicht, denn diese begnadete Kaste der Menschen verfügt über
eine bedeutende Willenskraft, ich aber bin einer von den Törichten, die
vergebens nach Kraft und Verschwiegenheit beben ...
Solch ein Brief! Wofür? Dafür, daß ich mich gedrängt habe zu
dem Weg, auf welchem Du wandelst, zu dem beneidenswerten, stolzen
Weg, und weil ich wie ein verwundetes Tier aufschrie: »Erbarmen!!
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 261
Erbarme Dich meiner, Du!? . ...« Aber nicht wahr, das magst Du nicht
hören, denn das hat einen fatalen Geschmack nach dem Psalmisten ...
Nicht mehr aus dem Herzen schreiben, sondern ruhig und gefaßt
von Dingen, die täglich geschehen, erzählen! — Kann ich das wirklich
nicht? Ich will es versuchen, ich möchte einmal wirklich vernünftig sein
und das Maß, das Knigge vorschreibt, einhalten. Mein Herr, Sie wissen,
wie mir scheint, nicht, was das Wort Elegantia heißt? Elegant sein heißt:
Tut Ihnen das Herz weh, so halten Sie gefälligst Ihr Maul oder reden Sie
banal; noch besser, Sie haben irgend ein paar obszöne Witzchen am
Lager! Steigert sich aber Ihr Schmerz, dann lachen Sie so tüchtig aus
Herzensgrunde und können Sie es nicht mehr aushalten, derart, daß Ihre
Umgebung Witterung bekommt, dann gehen Sie, mein Lieber, und hängen
Sie sich schleunigst auf! Seien Sie unbesorgt, es wird Sie kein guter
Freund hindern! Nur — möchte ich bitten — tun Sie das irgendwo in
der Einsamkeit, damit Ihr geehrter Leichnam nicht den Übrigen die Luft
verpestet. Oder noch besser, gehen Sie in die Dolomiten! So eine Reise
-ist amüsant und hinterläßt einen guten Geschmack bei allen, die von
Ihnen wissen — und stürzen Sie dort zufällig in irgend einen Abgrund!
In den Dolomiten verschwinden ja viele Menschen, und dort sind Sie
sicher, daß Sie niemandem Unannehmlichkeiten bereiten. Nur wenn Sie
nicht mehr existieren, sind Sie ein vollkommener und liebenswürdiger
Mensch, über den jedermann ein gutes Wort im Munde führt. —
Lieber Freund, Du sandtest mir einige Gedichte in dem letzten Brief.
Zwar nicht die, welche ich gewünscht hatte, aber um so wertvollere, weil
sie aus Deiner eigenen Feder stammen. Sie sind herrlich, prächtig, wunder-
sam! Aber das sind alles nicht die richtigen Worte dafür — wenigstens
für mich nicht. Für mich sind sie so etwas wie das Solo eines gewissen
Instruments im Orchester — (ich weiß nicht, wie dieses Instrument heißt,
ich bin ein Barbar),*) — wie es im Orchester gewöhnlich vor der Kata-
strophe zu weinen beginnt. Zuerst seufzt das Eine auf, dann antwortet
das Zweite und Dritte, und dann hebt im Orchester ein Schluchzen an,
so still, so wehmütig, so seltsam und tieftraurig. — Aber nichts mehr von
solchen Stimmungen, sie sind lyrisch geschraubt und das verstößt gegen
den Charakter eines normalen Briefes, Ich danke Dir tausendmal für
Deinen prächtigen Brief und Deine anmutigen Verse.
Kgl. Weinberge, im November 1907.
Ich weiß nicht, warum ich Dir schreibe. Ich fühle zwar, ich bin so-
gar überzeugt, daß ich Dir schreiben muß, aber von welch möglichen und
unmöglichen Dingen wollte man nicht überzeugt sein?! Du hast wohl von
den skandalösen Affären in Berlin gelesen?**) Gott im Himmel, so ekelhaft
ist das alles, daß man fluchen und schimpfen möchte, wie nur ein Barbar
fluchen und schimpfen kann. Denn was bleibt einem anderes übrig, will
man nicht gerade verrückt werden, lachen und an den Wänden empor-
klettern? Immer vorausgesetzt, daß man das Letztere auch wirklich kann.
*) Der Schreiber meint zweifelsohne die Viola.
**) Gemeint ist die Affäre des Fürsten Eulenburg und die darauf bezüglichen
Artikel Maximilian Hardens.
262 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Und das Niederträchtigste ist, daß man als Journalist selbst über diese
Sache berichten muß, und ich habe doch seit der Zeit, da ich Journalist
geworden bin, einen so unsäglichen Abscheu vor jeder Infamie und
Niedertracht. Ich glaube das datiert daher, daß meine Leidensgenossen
vor Gott und der Feder durch die Bank so infame und anrüchige Kerle
sind. Die Journalistik, das ist noch immer ein ungelöstes Problem! Im
übrigen, was kümmert mich der Schmutz, der in Berlin auf allen Seiten
breitgetreten wird? Ich esse ja wie gewöhnlich, trinke auch — zumeist
Wasser, wenn ich Geld habe auch Bier — (Du wirst nicht glauben, ein
wie ausgezeichnetes Bier wir hier in Prag haben) — ja, also ich esse und
trinke und daneben schreibe ich Referate und Artikel, wie man das so zum
Zeitvertreib und des Geldes halber tut. Ich führe jetzt eine sehr scharfe
Feder, das tue ich immer, wenn ich über Alltägliches schwätze, denn ich
schreibe ja für die breite Masse und es erfüllt mich mit Wut für Leute
zu schreiben, die sich für unendlich klug halten und in Wirklichkeit doch
die Dümmeren von uns beiden sind.
Ich möchte überhaupt nichts mehr schreiben, ich möchte auch keine
Zeitungsberichte mehr lesen, mögen sie nun aus Berlin, Wien oder Peters-
burg kommen. Ich möchte einfach sterben und ich glaube, das wäre das
witzigste Bonmot, das ich mir in meinem Dasein geleistet hätte. Aber
wenn ich sage, ich möchte sterben, so wollen mir das die Leute auch
nicht glauben, ebenso wie ich es selbst mir nicht glaube, denn in Wirklich-
keit fürchte ich den Tod und hasse ihn, weil ich weiß, daß ich so un-
säglich banal, so plebejisch aus diesem Leben scheiden werde. Du gibst
mir den Rat, ich möchte meine grauen Oedanken beschwichtigen und die
Natur in ihrer befriedigenden Ruhe und erlösenden Schönheit aufsuchen.
Erteile mir nie mehr einen Rat, Ratschläge sind so zweideutig und traurig!
Stirbt jemand, so raten ihm noch in dem Augenblick, wo er die Seele
schon auf der Zungenspitze hat, die Ärzte zu einer neuen Medizin und
die umstehenden Freunde trösten ihn und weinen. Bei meinem Sterbebett
dürfte niemand weinen oder auch nur ein besorgtes Gesicht machen. Ich
stelle mir vor, daß ich in jungen Jahren sterben werde. An meinem Sterbe-
bett stehen meine Freunde — Frauen haben keinen Zutritt, Frauen sind
zu neugierig und dann reden sie einem gern Übles nach — also, meine
Freunde stehen an meinem Bett, sind mit Rosen bekränzt, trinken guten
Wein und singen. Und dann möchte ich ihnen so gern die heißen Hände
küssen, aber ich würde wohl kaum noch Kraft dazu haben und überdies
ließen sie sich gewiß auch von einem Sterbenden nicht küssen. Denkst
Du, solche Träume lassen sich nicht durchführen? Du irrst Dich, die
Herren im Altertum haben das alles schon gekannt. Freilich, die Herren
im Altertum waren bei allem Zynismus geniale Kerle. Ich bin trotz aller
genialen Träume nicht Zyniker genug!
Nein, meine Sehnsucht hat sich anders entschlossen. Ich möchte gern
in ein Kloster gehen und dort, unberührt von dem Schmutz verschiedener
Hardens, mit gebrochenem Herzen, aber mit ruhigem Sinn die heiligen
Väter lesen, aber nur die älteren! .....
Entschuldige, ich bin schon zu Ende und die Uhr zeigt 2 nach Mitternacht.
Sieh’, wir haben miteinander in tiefer Nacht gesprochen und niemand war da!
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 263
Kgl. Weinberge, im Januar 1908.
War man abends lustig, so erwacht man gewöhnlich am nächsten
Morgen mit wüstem Kopf. — Du, ich will nicht, daß Du mein Bruder bist!
Willst Du mein bester Bekannter sein? Nicht Freund, denn das Wort hat
einen anrüchigen Klang für Dich; also sagen wir mein bester Bekannter,
dann will ich es gern von Dir annehmen. Aber nenne Dich nicht meinen
Bruder. Weißt Du warum? Es ist mir unerträglich, wenn Leute, die ich
hochschätze, zu mir sprechen und mich behandeln wie ihresgleichen, wie
einen gereiften, in sich gefestigten Mann. Denn sie fordern von mir dann
auch, daß ich mich ebenso wie ein gereifter, erwachsener, charaktervoller
Mensch benehme. Erwachsen bin ich ja, aber vernünftig?! — Nein! Das
ist mir schier unbegreiflich, wie jemand bei einem, der 18 Jahre Schulbank
gedrückt hat, noch Vernunft suchen kann. Das letzte Quäntchen Vernunft,
das ich hatte, ging mir bei meinem theologischen Examen verloren. Nein,
ich will lieber unvernünftig lachen über alles, was mir in den Weg kommt
und will mich von meinem Dämon böse zurichten lassen. Ich will in den
Kaschemmen der Vorstadt sitzen und Alkohol trinken, denn das ist das
Geistreichste, was der Prager Journalistenklüngel augenblicklich ausfindig
gemacht hat. Geist und Temperament liegen zweifelsohne in dem Protest
der Intellektualen gegen die Bestie der Abstinenz, die beinahe die ganze
Welt mit ihren abscheulichen, moralischen Krallen zu umschlingen droht.
Die Kritik findet, daß ich stark, interessant und unterhaltend geworden
bin, aber ich lebe wie ein Komödiant in einer ständigen Verstellung und
allmählich werden selbst die Worte, die ich hier schreibe zu einer reinen
Lüge, denn ich glaube, ich bin nicht mehr imstande, die Maske der Ver-
stellung vor jemandem abzulegen. Dadurch, daß Du Dich meinen Bruder
nennst, stellst Du Dich auf das gleiche Niveau mit mir und sprichst zu
mir wie zu Deinesgleichen und verlangsi aber auch von mir wie von
Deinesgleichen frohen Mut, Witz, Selbstbeherrschung usw. Und siehst
Du, das gerade kann ich nur, wenn ich mich verstelle. Darum verlange
ich auch von Dir, nicht mehr als das, was man von guten Bekannten ver-
Jangt: ein bischen Geduld, Nachsicht, Sanftmut und wie sonst derartige
liebe Worte noch heißen. Heilsame Winke, Ratschläge usw. brauche ich
nicht. Ich teile mir die Menschen der ganzen Welt in drei Kategorien
ein, solche, die mir fremd und gleichgültig sind und zu denen man am
freundlichsten und entgegenkommendsten ist. »Wie geht es Dir«, »Das
ist heute ein abscheuliches Wetter< usw. Diese Menschen raten Dir mit
Vorliebe, warnen Dich sorgfältig, indem sie Dein Herz durch diplomatische
Worte tödlich verwunden, sie wachen über Deinem Benehmen, um Dich beim
ersten falschen Tritt zu kompromittieren und unmöglich zu machen. Leute
- dieses Schlages freuen sich scheinbar mit Dir über Deine Erfolge, trauern
mit Dir, wenn Du traurig bist und helfen Dir mit tausend Vergnügen in
die Hölle. Diese Leute habe ich eigentlich am liebsten, weil ich ihnen
gegenüber das für das Leben so notwendige Quantum Haß aufzubringen
vermag.
Nicht so lieb sind mir meine Freunde, denn sie kennen meine
Schwächen, vor ihnen stehe ich ganz entblößt und gegen sie habe ich
nicht die Waffe meines Hasses. Darum bin ich gegen meine Freunde
264 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
grob, launisch, stelle an sie harte Forderungen, die unerfüllt bleiben müssen,
und sehe ihre Fehler tausendmal vergrößert, kritisiere sie unbarmherzig —
und im Grunde sind es die einzigen, die ich schätze und für die ich
Gott danke.
Und nun die Einzigen, die mir überall in der Welt zu süßer Last
sind, meine Lieblinge, meine bösen Geister oder Dämone, meine Fata und
— wie ich Dir schon einmal schrieb — wenn ich richtig voraus sehe,
mein Verderben. An ihnen erblicke ich keine Gebrechen, alle Kritik ist
ihnen gegenüber machtlos und unfaßbar, sie scheinen mir wie dem
Wanderer in der alten Sage das Gorgonenhaupt, erhaben, faszinierend schön
und schrecklich. Vor ihnen allein möchte ich mir das Dekorum eines
makellosen Menschen wahren, aber mehr und mehr finde ich, daß sie
mich von meinem Piedestal hinabstoßen und in den Kot der Gemeinheit
schleppen werden. Aber das Eine habe ich mir fest vorgenommen: ich
werde nicht allein zugrunde gehen, sondern wenn es sein muß, will ich
unbedingt ein Opfer mit mir nehmen. In meinem Herzen lodern für
meine Lieblinge Flammen des Opfers; ich bin jedoch bereit, unverzagt
sie selbst, die Altarbilder, für welche das Opferfeuer brennt, in das Feuer
des Untergangs mit hinein zu reißen, sie zu versengen, ohne eine einzige
Träne im Auge und ohne Gewissensbisse.
Sieh, gestern Abend war ich so lustig, ich sang und sprang und
jemand sagte mir, ich sei von Küssen vergiftet, wie man sie nur bei
prostituierten Frauen erlebt. Aber das ist nicht wahr. Warum dürfte
nicht auch ein Paria unter den mit normalem Geschlechtsbetrieb Beglückten
für Augenblicke unbändig lustig und froh sein? Die Wahnsinnigen
im Irrenhause dürfen auch ungestraft lärmen, und wo ist die Grenze, die
zwischen denen und unsereinem verläuft? ..... Wärst Du jetzt in Prag,
so wollte ich Dich jeden Tag sehen; sprechen brauchtest Du nicht, nur
eine Weile mir Deine Hand auf die Stirne halten, und dann möchte ich
zum Dank dafür Deine Hand küssen. Sei nicht böse! Die Freundschaft
erlaubt es, Freunden küßt man die Hände, Liebe küßt man auf den Mund.
Das alles wollte ich Dir nicht schreiben, aber es wird, glaube ich,
ebenso wie ein unwandelbares Motiv in einer tieftraurigen Symphonie in
meinen Briefen wiederkehren, solange ich noch eine Feder zu halten ver-
mag. Eigentlich wollte ich Dir schreiben, daß ich vorgestern im Deutschen
Theater war und Kainz auftreten sah. Er hat mir ganz gut gefallen, in
jedem Zug sieht man einen genialen Künstler. Schließlich kam ich aber
doch zu der Ansicht, daß er ein großer Komödiant ist. Er tritt zunächst
in einem Stückchen »Der goldene Schlüssel« von M. Bernstein auf, wo er
alle Phasen der Schauspielkunst vom höchsten Pathos und Iyrischem
Schwung bis zur Groteske und zur possenhaften Situation durchzuleben
hat. Das Stückchen ist mehr harmlos als geistreich, aber die Sprache
hört sich in Kainz’ Mund ganz merkwürdig blühend, voll reifen klingenden
Goldes an. Aber nun kommt das, worüber ich mich empört habe und
das mich zu dem ungünstigen Urteil über ihn verleitet: daß er sich nicht
schämt, so offenkundig vor dem stumpfsinnigen Publikum Komödie zu
spielen. Er selbst muß es wohl genau gewußt haben, daß er nichts als
Komödie gab, denn er hat etwas an sich, was fast unwillkürlich erscheint.
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 265
Er ist todgezeichnet, das habe ich am meisten empfunden in dem Bahr-
schen Einakter »Der arme Narr«, wo er Momente hatte, in denen er mich
fast wie Hamlets Geist anmutete, und das gefällt mir nicht. — Przybys-
zweski war bei der Premiere seines Stückes »Das goldene Vließ« am
neuen Weinberger Theater zugegen. Aber es wurde so entsetzlich gespielt,
daß ich keinen Grund hatte auszuharren, obwohl ich die ungebändigten
Leidenschaften dieses Autors sehr liebe und ihn unter die Besten der
Gegenwart zähle. Genug, lebe wohl!
Von den weiteren Briefen, deren noch eine ganze Anzahl
vorliegt, vermag ich der allzu intimen Details wegen und mit
Rücksicht darauf, daß sie einzelne sehr scharfe Kritiken über
Politiker und Künstler des gegenwärtigen Österreich enthalten,
augenblicklich nichts Passendes mehr herauszufinden. Die
knappe Auswahl dürfte jedoch genügen und den Zwecken, die
ich damit verfolgte, einen interessanten Einblick in die Psyche
eines hoch kultivierten und seiner konträren Anlage wohl be-
wußten Homosexuellen zu bieten, vollauf dienlich sein.
8 E
DAS CHRISTENTUM
UND DIE UNEHELICHEN KINDER.
Von JOSEF LEUTE.
р“ nun endgiltig feststehende Tatsache des Geburtenrück-
ganges in Deutschland hat unter den Hütern deutscher
Zucht und Sitte eine nicht geringe Panik hervorgerufen. Während
man bisher nur drohende Rufe vernehmen konnte: »Wir treiben
französischen Zuständen entgegen«, hört man jetzt die resig-
nierte Klage: »Wir stehen mitten darin, Vor wenigen Jahren
tat der bekannte Reichstagsabgeordnete Roeren den Ausspruch,
daß Deutschland durch und durch verseucht sei. Man hat
den Ausspruch damals allgemein als Übertreibung zurück-
gewiesen, zumal da Roeren in der Verfechtung der Sittlichkeits-
fragen Wege ging, die nicht nach Jedermanns Geschmack waren.
Den berufenen Vertretern des Christentums, insbesondere
den Geistlichen der verschiedenen Konfessionen wird nicht das
Recht bestritten, sich der Sittlichkeit des Volkes anzunehmen.
Im Gegenteil, das gehört zu ihren beruflichen Pflichten. Es
läßt sich aber trotz aller wohlwollenden Bestrebungen nach
Anerkennung dieser Tätigkeit die Tatsache nicht leugnen, daß
es mit der Sittlichkeit weiter Kreise doch nicht am besten
266 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
bestellt ist. Da legt man sich die Frage vor: ist das Christen-
tum wirklich nicht imstande, die Sittlichkeit unseres Volkes
auf ein höheres Niveau zu bringen?
Seitens der Vertreter des Christentums macht man sich
die Beantwortung der Frage mitunter recht leicht. Sie sagen
einfach: Die mindere Sittlichkeit herrscht in jenen Kreisen,
welche der Kirche und dem Christentum fremd geworden sind,
oder ihr gar den Rücken gekehrt haben. Für die kirchlich
gutgesinnten Kreise wird auch eine höhere Sittlichkeitsstufe
reklamiert.
Wir vermögen die Logik dieser Beweisführung nicht recht
anzuerkennen. Das sittliche Leben des einzelnen Menschen
ist etwas derartig Persönliches, daß es gar nicht möglich ist,
darüber etwa eine Statistik aufzustellen und Folgerungen aus
ihr zu ziehen. Es bleiben nur die in die Öffentlichkeit tretenden
Folgeerscheinungen zur Beurteilung möglich, so etwa eine
Statistik über Sittlichkeitsverbrechen, über die geschlechtlichen
Erkrankungen, über uneheliche Kinder, Ehescheidungen usw.
Aber auch hier heißt es vorsichtig urteilen, um keine
falschen Schlüsse zu ziehen. Es genügen z. B. zur Beurteilung
der Sittlichkeit einer Stadt nicht bloße Feststellungen über die
Zahl der unehelichen Geburten, man muß auch deren Ursachen
nachgehen, um ein Verständnis für diese üble Erscheinung des
Lebens zu haben. Und darin lassen es die Vertreter der Kirche
vielfach fehlen. Sie begnügen sich mit der äußeren Konsta-
tierung einer Ziffer und das Urteil ist fertig.
Es leuchtet aber jedem vorurteilsfreien Forscher ein, daß
sexuelle Fragen nicht etwa mit Nasenrümpfen von oben herab
behandelt werden dürfen. Und daran hat es bisher vielfach
gefehlt. Die selbstbewußte Tugendwächtermiene war bisher
kein wirksamer Faktor auf dem Gebiet der Hebung der sexu-
ellen Sittlichkeit des Volkes. Gerade sie ist es, die von
unserem Volke abgelehnt wird. Unser Volk fühlt sich mündig
und frei und will auch in Fragen der Sittlichkeit sich nicht
von der Geistlichkeit bevormunden lassen. Das ist einfach
eine Tatsache, deren Verkennung dann die Überraschung bietet,
daß alles Bemühen doch keinen Erfolg hat.
Die christliche Kirche ist nun an die zweitausend Jahre
alt, sie vermochte aber sexuelle Probleme, wie die Frage der
Prostitution, der unehelichen Kinder, bis heute nicht aus der
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 267
Welt zu schaffen. Es wird ihr das überhaupt nie gelingen,
weil ihre Einflußsphäre nicht soweit reicht, daß sich die Völker
ihr darin unterwerfen. Auf dem Lande, in kleineren Ortschaften,
mag es möglich sein, daß der Geistliche das sittliche Leben
seiner Gemeinde zum Guten leiten kann, weithin aber, namentlich
in den Städten, ist jeder Einfluß und jede Kontrolle unmöglich.
Das sexuelle Leben des Einzelnen ist an eine solche Fein-
fühligkeit gebunden, daß ein barsches Eingreifen von geistlicher
Seite, zumal wenn es in täppischer Art geschieht, nur von
Schaden sein kann. Die Betonung mittelalterlicher Gehorsams-
pflicht ist aber heute z. B. in der katholischen Kirche noch
üblich. Dort stehen dem Geistlichen noch ganz vorsintflutliche
Zwangsmaßregeln zur Seite, um die. Sittlichkeit seiner Ge-
meinde zu bessern. Mit welchem Erfolg, mag manchmal
dahingestellt bleiben.
Wir wollen das an dem Verhältnis der christlichen Kirchen
zu der Frage der unehelichen Kinder erörtern. Ganz besonders
charakteristisch ist das Verhalten des katholischen Klerus.
Der Prozentsatz der unehelichen Geburten ist in den
einzelnen Ländern ein äußerst verschiedener.
Österreich hat den höchsten Prozentsatz (14,7); dann folgt
Schweden mit 10,6, Dänemark hat 9,5, Ungarn 9,4, Deutsch-
land 9,3, Belgien 9, Frankreich 8,9, Schottland 7,3, Norwegen
72, Italien 6,8, Finnland 6,4, Rumänien 6,1, Schweiz 4,7,
England 4,3, Holland 3,1, Irland 2,7, Serbien 1,1.
Daß aber z.B. Serbien das sittlichste Land der Welt sei,
wird man nicht behaupten wollen. Die Greuel der letzten
Balkankriege haben uns eines andern belehrt. Vielleicht ist
diese statistische Angabe auch nur deswegen so günstig
gehalten, um dieses Land in die Reihe „erster“ Kulturstaaten
zählen zu können.
Österreich steht obenan. Doch sind in seinen Landesteilen
die Ziffern verschieden. Während in Istrien der Prozentsatz
auf 2,6 fällt, steigt er in Kärnten auf 44°|,.
Unter den deutschen Bundesstaaten steht obenan Sachsen
mit 14°), dann folgt Bayern, das 12,2 aufweist; Mecklenburg
hat 12, Schwarzburg - Rudolstadt 11,7, Braunschweig und
Sachsen-Altenburg 11,3, Sachsen-Meiningen und Anhalt 11,2,
Sachsen-Koburg-Gotha und Reuß 10,3, Schwarzburg-Sonders-
hausen 9,5, Württemberg 8,2, Preußen 7,5, Baden 7,3, Hessen
268 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
7,1, Elsaß-Lothringen 7,1, Oldenburg 5,4, Waldeck 5,3, Lippe
4,7, Schaumburg-Lippe 4,1°/,.
Unter den preußischen Provinzen hat Ostpreußen 9,5,
Westpreußen 6,7, Berlin 186, Provinz Brandenburg 10,4,
Pommern 10,2, Posen 5, Schlesien 9, Sachsen 11,3, Schleswig-
Holstein 9,3, Hannover 6,9, Westfalen 2,9, Hessen-Nassau 6,3,
Rheinland 4, Hohenzollern 4,1°],.
Während das rechtsrheinische Bayern 12,2°/, aufweist,
zeigt das linksrheinische nur 5,7.
Wenn wir auch zugeben müssen, daß die statistischen
Angaben alle Jahre andere Ziffern aufweisen, so ist der Durch-
schnitt im großen Ganzen wohl immer derselbe. An der Spitze
stehen, abgesehen von dem klerikalen Österreich, in Deutsch-
land das orthodoxe Sachsen und das klerikale Bayern. Da-
gegen hat, obwohl aus französischen Zuständen erworben, Elsaß-
Lothringen eine verhältnismäßig günstige Ziffer aufzuweisen.
Das eine läßt sich aus den Zahlen der Statistik ohne Vor-
urteil folgern: in den Ländern, in denen die Vertreter der Kirche
sozusagen das Regiment im Lande haben, ist der Prozentsatz
der unehelichen Geburten ein hoher, also ist der Einfluß der
christlichen Kirche kein Schutzmittel gegen uneheliche Geburten.
Die Vertreter der Kirche stellen sich nun auf den Stand-
punkt, als wären religiöse Maßnahmen das einzig Richtige. Be-
sonders in der katholischen Kirche ist das ganze Sexualleben
des Menschen der Aufsicht des Geistlichen unterstellt. Die
Kontrolle wird im Beichtstuhl ausgeübt. Insoweit aber das
Sexualleben in ungehörigen Folgeerscheinungen den Unwillen
der Kirche erregt, und dahin gehören die unehelichen Geburten,
sind auch Öffentliche Maßnahmen vorgesehen.
Hierbei ist aber der persönlichen Willkür des einzelnen
Geistlichen mitunter ein sehr weiter Spielraum gelassen.
Die katholischen Geistlichen müssen alle Jahre in der
kirchlichen Statistik an den Bischof berichten, wieviele unehelich
Geborene das Jahr aufzuweisen habe. Da ist es das erklärliche
Bestreben der Einzelnen, ihre Unehelichenziffer möglichst nieder-
zuhalten, im Interesse des sittlichen Ansehens ihrer Gemeinden.
Da erinnere ich mich der Erzählung eines alten Pfarrers, der
untröstlich darüber war, daß noch im letzten Monat des Jahres
in seiner Gemeinde eine uneheliche Geburt treffen sollte. Er
wußte sich aber dadurch zu helfen, daß er die außereheliche
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 269
Mutter, ein Dienstmädchen, so drangsalierte, bis sie ihre Stelle
aufgab und in eine Nachbargemeinde übersiedelte. Über diese
unwillkommene Seelenvermehrung war aber der dortige Pfarrer
noch weniger erbaut und er dachte an Vergeltung. Der Zufall
stand ihm zur Seite, daß es glückte, dem ersteren Kollegen
noch kurz vor Jahresschluß zwei uneheliche Mütter zur Ent-
bindung in die Gemeinde einzuschmuggeln, so daß jener der
bösen Einträge in sein Kirchenbuch gar zwei bekam.
Wieviele derartige persönliche Motive, die sich der Be-
urteilung der Öffentlichkeit entziehen, mögen nicht das Leben
unehelicher Mütter verbittern! Gerade der Geistliche, der nach
dem Vorbild Jesu sich der Sünderinnen in Liebe annehmen
sollte, ist in Wirklichkeit ihr geschworener Feind. Wenn in
kleinen Gemeinden Mädchen ihre Schwangerschaft nicht länger
mehr verbergen können, ist es für sie oft die einzige Rettung
vor den Plackereien der Geistlichen, daß sie einen anderen
Ort aufsuchen oder etwa im Gewühl der Großstadt verschwinden,
wo sich niemand um sie kümmert. Dadurch wird ja auch das
erwünschte Ziel erreicht, die kleinen Gemeinden bleiben ohne
uneheliche Geburten, deren Ziffern nun der sittenlosen Groß-
stadt angekreidet werden.
Manche Geistliche sind schon ganz außer sich, wenn ihnen
die Geburt eines unehelichen Kindes gemeldet wird, das sie
taufen sollen. In Bayern wurde ein Pfarrer zu acht Tagen
Gefängnis verurteilt, da er dem Vater, der meldete, daß seine
Tochter unehelich geboren habe, vor Zorn die Worte ins
Gesicht schleuderte: »Von Euren Töchtern katzelt aber auch
alle Jahre eine andere, Das wurde vom Gericht als Be-
leidigung erklärt.
Die Geistlichen rächen sich für die »Schande« der unehe-
lichen Geburt bei der Taufe des Kindes. Sie lassen nicht,
wie sonst üblich, bei der Taufe ein Glockenzeichen geben,
taufen auch uneheliche Kinder an keinem Sonntag. Lange Zeit
hindurch war es üblich, den unehelichen Kindern ganz auf-
fallende Namen aus dem Alten Testamente beizulegen, sodaß
diese zeitlebens gekennzeichnet waren. Neuerdings ist dieser
Brauch aber untersagt.
Eines komischen Beigeschmackes entbehrt nicht eine
Geschichte, die sich in dem oberelsässischen Dörfchen Wün-
heim zutrug. Dort sollte auch ein uneheliches Kind zum
270 GESCHLECHT UND [GESELLSCHAFT
Verdruß des Seelsorgers getauft werden. Der aber ließ des
Abends, als man das Kind zur Taufe in die Kirche trug, in
den anliegenden Straßen die Beleuchtung abstellen. Das Kind
wurde von der Hebamme unter dem Mantel verborgen getragen;
so war es als Kind der Finsternis und der Sünde gekennzeichnet.
Während sonst die katholische Mutter nach der Geburt
eines Kindes in der Kirche »hervorgesegnet« wird, indem der
Geistliche sie mit Gebeten wieder in die Kirche einführt, ist
dieser Segen der unehelichen Mutter verwehrt. Sie darf nicht
zur Kirche kommen und Gottes Segen für sich und ihr Kind
begehren. Gestorbene uneheliche Kinder werden daher gerne
in der Ecke des Friedhofs bei den Selbstmördern begraben,
als ob der Fluch Gottes auf ihnen lastete.
Bei dem jährlichen Bericht über den Bevölkerungsstand
ist es (in katholischen Gemeinden zum Oster-, in evangelischen
zum Neujahrstermin) vielfachSitte, dieNamen der »Gefallenen« von
der Kanzel bekanntzugeben. Das soll für die übrigen Gemeinde-
glieder ein Abschreckungsmittel sein. Es ist aber eher wahr-
scheinlich, daß dieser Brauch im Falle gerichtlichen Belangens
als Beleidigung erfunden würde.
An Ostern müssen die »ledigen Mütter«, wie eigens ver-
kündet wird, an besonderen Tagen zur Beichte gehen, sie
dürfen sich weder unter die Mütter noch unter die Jungfrauen
mischen. Mitunter haben die »Gefallenen« in der Kirche einen
eigenen Stuhl und sie dürfen keinen anderen Platz einnehmen.
Dieses An-den-Pranger-stellen ist noch ein echt mittelalterliches
Überbleibsel.
Die Proklamation von Eheversprechen lautet für gewöhn-
lich: »Zum heiligen Sakrament der Ehe haben sich versprochen
der ehr- und tugendsame Jüngling N. N. und die ehr- und
tugendsame Jungfrau N. N.« Bei unehelichen Müttern heißt
es einfach »die ledige N. N.« Da auch stets der Stand der
Eltern mitverkündet wird, so fällt es der Gemeinde sofort auf,
wenn in dieser Verkündigung die uneheliche Abstammung der
ganzen Welt geoffenbart wird. Dieses brutale Eingreifen in
die Achtung bei den Mitbürgern soll eben ein Hinderungs- und
Strafmittel zur Abschreckung für andere sein.
Bei der Trauung der unehelichen Mutter ist der Ritus der
Zeremonien viel einfacher. Auch hier wird der »Segen« — ein
GESCHLECHT UND "GESELLSCHAFT 271
Gebet, in welchem der besondere Schutz Gottes auf die junge
Ehefrau herabgerufen wird — einfach gestrichen.
Das uneheliche Kind ist der römischen Kirche zeitlebens
ein Dorn im Auge. Daher lastet auf den unehelich geborenen
Knaben das kirchenrechtliche Hindernis, daß sie nie zur Priester-
weihe zugelassen werden dürfen. Das kirchliche Recht nimmt
an, daß ein Knabe unehelicher Abstammung auch in seinem
späteren Leben dem »unenthaltsamen« Beispiel der Mutter
folgen würde und sich daher für den Stand des Cölibates
nicht eigne.
Manche bischöfliche Behörden, zumal in Bayern, haben
Instruktionen erlassen, wie sich die Pfarrer unehelichen Müttern
gegenüber zu verhalten haben. So erließ das Bischöfliche
Ordinariat Regensburg am 23. November 1907 eine Verordnung,
derzufolge der Pfarrer eine ledige Mutter vorzuladen und zu
vermahnen hat. Über das gegebene Versprechen der Besserung
hat der Pfarrer ein kurzes Protokoll aufzunehmen und in einen
eigens hierfür dienenden Akt einzulegen. Diesen Vermerk hat
die vermahnte Person zu unterschreiben. Kommt die Vermahnte
zum zweiten Mal zu Fall, so wird das Verfahren wiederholt.
Beim dritten Mal muß an die oberhirtliche Stelle berichtet
werden. Alsdann kommen die üblichen Kirchenstrafen zur
Anwendung, zuerst die Androhung, dann der tatsächliche Aus-
schluß vom Empfang der Sakramente, im Falle eines »besonders
schweren Ärgernisses« sogar die Öffentliche Bekanntmachung
dieser Strafe von der Kanzel.
Ob ein derartiges Strafverfahren geeignet ist, die unehelichen
Geburten zu vermindern, wollen wir nicht untersuchen. Eine
vielleicht ungewollte Folge dürfte eher die Verbitterung einer
solchen Person sein, die durch ein derartiges Verfahren kirch-
lichem Einfluß erst recht entzogen wird. Ist eine solche Person
einmal in den Augen der Mitmenschen degradiert, gilt sie bei
den übrigen Gemeindebewohnern als minderwertig, so wird es
auch vergeblich sein, sie in ihren Auffassungen von Sitte und
Sittlichkeit zu fördern. Nicht die strafende und rächende, viel
eher die helfende Hand des Geistlichen wäre in der Lage,
unehelichen Müttern aufzuhelfen und sie, die oft genug ein
erbarmungswürdiges Schicksal vor sich haben, der Gesellschaft
als nützliche, brauchbare Glieder zu erhalten. Das wäre eine
Aufgabe, die so ganz dem Charakter des geistlichen Amtes
272 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
entspräche, wie auch der Auffassung, die Jesus von der Be-
handlung der sexuellen »Vergehen« hatte.
Der Widerspruch dieser gekünstelten Auffassung trat in
charakteristischer Weise an einem Falle hervor, der sich im
Juni 1912 in Bayern zutrug. Für das uneheliche Kind einer
Frau in Mannheim war der in Bayern wohnende Großvater
als Vormund bestellt worden. Das Kind war bei ihm unter-
gebracht. Später verheiratete sich die Mutter mit einem
Protestanten und verlangte nun ihr Kind zurück. Das Amts-
gericht Dachau wies sie ab. Die Mutter holte sich nun selbst
ihr Kind und richtete eine neue Eingabe an das Amtsgericht
Dachau. Auf Antrag des Vormundes verlangte das Gericht
die Zurückbringung des Kindes und drohte seine Forderung
eventuell mit polizeilicher Hilfe durchzusetzen.
Aus diesem Gerichtsbeschluß sind folgende Sätze interessant:
Es hieß darin, es bestehe für das Vormundschaftsgericht zurzeit
kein Anlaß, von den getroffenen Anordnungen abzugehen, schon
mit Rücksicht auf die tief verletzten religiösen Gefühle des für
das katholische Kind bestellten katholischen Vormundes, welcher
nach eigenem Vorbringen und nach Brief der Kindsmutter diese
immer noch auffordere, ihren Ehemann zu verlassen. Die
gesetzlich giltige Ehe der Kindsmutter sei nach den durch
§ 1588 B.-G.-B. gedeckten kirchlichen Anschauungen des Vor-
mundes ein Konkubinat und ehebrecherisches Verhältnis, wes-
halb der Vormund im Zusammenhalt mit früher geltend
gemachten Anschauungen auf der Zurückführung des Kindes
bestehe.
Auf die in der Öffentlichkeit entstandene Empörung über
eine solche Auffassung der Eheschließung sah sich die
Berufungsinstanz doch veranlaßt, den Beschluß des Amtsgerichts
aufzuheben und es ließ die »kirchlichen« Anschauungen des
katholischen Vormundes nicht mehr gelten, der in seiner Naivität
übersehen hatte, daß wir nicht in einem mittelalterlichen Kirchen-
staat leben. Aber die Geschichte zeigt, mit welchen Vorurteilen
man auf dem Gebiet sittlicher Bestrebungen noch operiert.
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(Zu dem Aufsatz ‚Die erotische Bildreklame‘', Seite 236.)
TITELSEITE DER PARISER ZEITSCHRIFT „L’AMOUR“.
(Zu dem Aufsatz „Die erotische Bildreklame‘‘, Seite 236).
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
ҰШ, 7.
internum, oe = Ostium externum.
ж б 2
NORMALE FORM DER KONOIDE FORM DER
PORTIO VAGINALIS PORTIO VAGINALIS
(Nach Kisch). (Nach Kisch).
Zu dem Aufsatz „Die Unfruchtbarkeit des Weibes‘‘, Seite 273.
DIE UNFRUCHTBARKEIT DES WEIBES.
Von Dr. JOHANNES MARR.
rl den populär medizinischen und pseudo-wissenschaftlichen
Schriften wurde in neuerer Zeit wiederholt die Behauptung
aufgestellt, daß die Unfruchtbarkeit des Weibes eine typische
Krankheit des letzten Jahrhunderts wäre. Obwohl in der gegen-
wärtigen Periode die Vorbedingungen für einen Geburtenrück-
gang die denkbar günstigsten sind, und die Bevölkerungszahl
auf dem europäischen Kontinent tatsächlich dauernd abnimmt,
so wirken doch hier eine ganze Reihe verschiedener Faktoren
mit, zu denen allerdings auch die Sterilität unserer Frauen ge-
rechnet werden muß. Allein, wie wir aus den gynäkologischen
Statistiken ersehen können, ist der Prozentsatz steriler Frauen im
Verhältnis zu den Empfangenden, wenn auch groß genug, so doch
bei Weitem nicht so übertrieben hoch, wie er von mancher
Seite angegeben wird, und er hält sich auch dauernd so ziem-
lich auf der gleichen Höhe. Die genaue Kenntnis der Ursachen
der Sterilität und die damit verbundene umfassende Therapie,
die erst der jüngsten Gegenwart angehören, haben es auch
mit sich gebracht, daß die Zahl der absolut sterilen Frauen
immer mehr zusammenschmilzt. Die größere Gefahr liegt im
Gegenteil in der künstlichen Verhütung der Schwangerschaft,
die aus ökonomischen Gründen von vielen jungen Ehepaaren
angestrebt wird. Trotzdem möchte ich behaupten, daß das ganze
Geschrei von einer bedrohlichen Abnahme der Bevölkerungs-
dichte zufolge der Beschränkung der Geburtenzahl höchst über-
flüssig ist, und daß der konstatierte Geburtenrückgang noch
nicht im Stande ist, die Wehrkraft und Expansionsfähigkeit der
Deutschen auf die Dauer zu beeinträchtigen. Ein gut Teil des
ganzen Geburtenrückgangrummels ist auf das Konto der egois-
tisch-politischen Propaganda zu buchen. Unzweifelhaft hat sich
für gewisse Kreise durch die Feststellung der Tatsache, daß
innerhalb des letzten Jahrzehntes die Geburten abgenommen
haben, die erwünschte Gelegenheit ergeben, der gegenwärtigen
Kultur und namentlich der ganzen liberal-aufklärerischen Be-
Geschlecht und Gesellschaft VIII, 7. 18
274 . GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
wegung etwas am Zeuge zu flicken. Würde man aber die Be-
völkerung auf ihre Nachwuchsdichtigkeit untersuchen, dann käme
man wohl zu dem überraschenden Resultat, daß die geringere
Kinderzahl nicht in den Großstädten und in den Kreisen des
Proletariats zu finden ist, sondern, daß sie vornehmlich den
wohlhabenden und agrarischen Kreisen zur Last gelegt werden
muß. Ich habe in Hunderten von Fällen aus dem Munde von
Bauern gehört, daß man wohl darauf achten müsse, den Kinder-
reichtum nach Tunlichkeit zu beschränken, weil dadurch eine
Teilung des Familiengutes hintangehalten würde. Da der Bauer
zumeist seine Söhne, wenn sie die Volksschule absolviert haben,
auf seinem Grundstücke als billige Arbeitskräfte behält, muß
später, wenn die Söhne herangewachsen sind, das Erbgut ge-
teilt werden. Selbstverständlich vermindert sich auf solche
Weise der Besitz und darum hat der Bauer ein Interesse daran,
nicht überflüssig viel Kinder in die Welt zu setzen. Der Prä-
ventivverkehr wird auf dem Lande viel häufiger geübt, als es
die Verteidiger der ländlichen Sittlichkeit annehmen möchten,
und noch häufiger kommt es vor, daß der Bauernsohn eine
Städtische heiratet, die bereits die nötige Erfahrung in die Ehe
mitbringt. Was aber für den Bauer und Pächter Regel ist, das
ist für den Großgrundbesitzer und souveränen Gutsherrn keine
Ausnahme. Es wäre interessant, aus der Statistik festzustellen,
wie viel die feudalen und groß-agrarischen Herren zurRegeneration
des Volkstums und der Wehrkraft beitragen. Man schiebt die
ganze Verantwortung nur zu gern auf die Schultern der Bürger-
lichen und des minderbemittelten Proletariats ab, aber die
Korruption hält sich auf beiden Seiten so ziemlich die Wage,
Damit soll jedoch nicht gesagt werden, daß die ländlichen
und Grundbesitzerkreise an unserem Problem, an der Un-
fruchtbarkeit des Weibes, mehr beteiligt wären, als andere Be-
völkerungsschichten, wenn auch nicht geleugnet werden kann,
daß die Sterilität bei den Frauen des Landadels und Groß-
grundbesitzes überaus häufig, ja, im Verhältnis häufiger als bei
der städtischen Bourgeoisie, angetroffen wird. Von sieben
Grundherren im Umkreise einer ostpreußischen Kreisstadt habe
ich fünf angetroffen, die in steriler Ehe lebten, wobei es sich
in drei Fällen um primär-sterile Frauen handelte. Der Rest
hatte vor Jahren einfache Schwangerschaft durchgemacht. Se-
kundäre Sterilität ist überhaupt eine Erscheinung, die man am
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 275
Lande ebenso häufig antrifft, wie in der Stadt, da das länd-
liche, unrationelle Leben zahlreiche Prämissen schafft, aus denen
die sekundär-sterile Veranlagung erfolgt. Überhaupt wäre es
interessant, einmal festzustellen, in welcher Weise sich die Ur-
sachen, die Sterilität verschulden, in städtischen und in länd-
lichenKreisen differenzieren; denn daß dieBeschäftigung, Lebens-
weise und Umgebung für die Erwerbung der Sterilität nicht
unwesentlich sind, liegt wohl klar zu Tage. Die Statistiken,
die die Schwankungen in dem Prozentsatz steriler Frauen in
den einzelnen Jahren tabellarisch verzeichnen, liefern den Be-
weis dafür, daß die Sterilität in ?/, aller Fälle erworben ist.
Eine Beschränkung dieses Zustandes läßt sich auf die Dauer
durch die Ausbreitung der sexuellen Aufklärung und Hygiene
erzielen. Vor allem muß in Laienkreisen der Erkenntnis Raum
geschaffen werden, daß eine Ehe, selbst, wenn sie jahrelang
steril geblieben ist, dennoch fruchtbar werden kann, wenn eine
Konzeptionsfähigkeit durch mangelhafte Bildung oder sonstige
Atrophie des weiblichen Geschlechtsapparates nicht von vorn-
herein ausgeschlossen ist. Aber häufig findet sich eine Frau,
die in den ersten drei, vier Jahren nicht geboren hat, mit dem
Gedanken ab, überhaupt nicht mehr zu konzipieren, und ver-
zichtet demzufolge auf eine peinliche ärztliche Untersuchung,
die vielleicht gerade das Gegenteil der Annahme bestätigen
würde. Noch häufiger wird von den Frauen die gynäkologische
Untersuchung verabscheut, oder zum Mindesten gefürchtet, und
sie geben sich lieber allerlei Aberglauben hin, operieren mit
Gebeten, Beschwörungen und natürlichen Medikamenten, die
selbstverständlich an der Sache nichts ändern können. Es gibt
Frauen, die in eine Wallfahrt nach Mariazell oder Lourdes weit
mehr Hoffnung setzen, als in eine ärztliche Konsultation, und
die dann, selbst wenn eine solche stattfand, sich den Anord-
nungen des Arztes nur ungern oder gar nicht fügen. Der weit
verbreitete Glaube ist, daß die Unfruchtbarkeit der Frauen einen
Zustand bedeutet, der von selbst kommt und nur aus sich selbst
wieder behoben wird.
Trotzdem empfindet eine jede Frau, heute wie früher, die
Unfruchtbarkeit als eine Plage, ja noch mehr als das. Viele
an sich glückliche Ehen sind für längere Zeit durch das Aus-
bleiben des Nachwuchses in ihrem Glück bedroht. Die Mission
des Weibes beruht in ihrem Mutterschaftsberuf und ihr eigent-
18*
276 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
licher Wert ist erst in ihrer Fruchtbarkeit gegeben. Durchläuft
man die Sitten- und die Kulturgeschichte verflossener Völker
und Jahrhunderte, so bemerkt man, daß das Leben der sterilen
Frauen im großen und ganzen immer einer Tragödie geglichen hat.
Bereits bei den alten Juden stand dem Manne, der eine unfrucht-
bare Frau besaß, das Recht zu, sich ein Nebenweib zu halten
und mit ihm erbberechtigte Kinder zu zeugen. Da die weib-
liche Unfruchtbarkeit als ein unehrenhafter Zustand angesehen
wurde, suchte man dem durch allerlei Mittel abzuhelfen, und
die spätere rabbinische Literatur schreibt eine ganze Reihe
diesbezüglicher Pflanzen und Medikamente vor. Das alt-
deutsche Recht ermächtigte den Mann, die unfruchtbare Frau
zu verstoßen, und die Justinianische Gesetzesordnung sah eine
Ehe als ungeschlossen an, wenn der Gatte nicht innerhalb zweier
Jahre Nachwuchs erzeugt hatte. Auch die Römer sahen in der
Sterilität ein Verschulden der Frau. Eine Frau, die bis zum
zwanzigsten Lebensjahre nicht konzipiert hatte, durfte nach
römischem Recht sogar am Leibe bestraft werden. Ebenso
stand das ganze Mittelalter unter der Anschauung, daß bei
einer unfruchtbaren Ehe die Schuld in erster Linie die Frau
träfe, der Mann dagegen nur bedingt herangezogen werden
dürfte. Der Grundirrtum dieser Anschauung bestand darin,
daß allgemein ein Mann, der begattungsfähig war, auch gleich-
zeitig als fruchtbar angesehen wurde. War eine augenschein-
liche Impotenz nicht vorhanden, dann konnte die Kinderlosigkeit
nur durch die Frau verschuldet sein. Wie hartnäckig dieser
Trugschluß sich behauptete, geht aus der Einrichtung des
öffentlichen Beischlafes hervor, der noch im 17. Jahrhundert
vorgeschrieben wurde, wenn eine Ehe wegen Unvermögen des
Mannes geschieden werden sollte. Erst am 18. Februar 1677
wurde zuletzt in Frankreich die Probe des öffentlichen Bei-
schlafes verboten. Auch die meisten neuzeitlichen Völker be-
trachten Sterilität als triftigen Scheidungsgrund, und die Mittel,
die von unfruchtbaren Frauen zur Wiederherstellung ihrer
Konzeptionsfähigkeit angewandt werden, entbehren manchmal
nicht des grotesken und lächerlichen Beigeschmacks. Die
Chinesen, Japaner, Perser und ein Teil der indischen Stämme
setzen die unfruchtbare Frau nicht nur einer Reihe von
Demütigungen aus, sondern nach dem Gesetz ist der Mann
berechtigt, die Frau zu verstoßen. Dasselbe gilt von der
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 277
mohammedanischen Lehre, wo die Unfruchtbarkeit als eine
harte Fügung Allahs angesehen wird und der Mann nach
Ablauf einer gewissen Frist die Ehescheidung aussprechen
kann. In den slavischen Ländern, namentlich in Istrien,
Bosnien, in der Herzegowina, in Rußland und Bulgarien wird
die Unfruchtbarkeit der Frauen auf geschlechtlichen Verkehr
mit dem Bösen oder auf einen Zauber seitens feindlich ge-
sinnter Nachbarn zurückgeführt. Zahlreiche Naturvölker sehen
auch die Unfruchtbarkeit als eine Folge ehelicher Untreue an
und bestimmen ihre Strafen darnach, die zumeist recht grau-
samer Natur sind. Entsprechend dem Aberglauben sind auch
die Mittel, die von den einzelnen Völkern gegen die Unfrucht-
barkeit angewendet werden, verschiedenster Art. Neben Stoffen
aus dem Tier- und dem Pflanzenreich bildet der Gebrauch von
Brunnen- und Badekuren eines der wichtigsten Mittel zur Be-
seitigung der Sterilität der Frau. Schon die Hulda der alten
Deutschen hatte in einem wunderkräftigen Brunnen ihren Wohn-
sitz, ebenso galten im alten Griechenland der Fluß Elatus in
Arkadien und der Thespische Quell am Helikon als heilsame
Quellen zur Behebung der Unfruchtbarkeit. Die vornehmen
Römerinnen, die sich nach einem Kinde sehnten, verbrachten
eine Zeit des Jahres in Bajä, ähnlich wie die modernen Frauen
Reisen in mondaine Bäder unternehmen, die oft von dem ge-
wünschten Erfolge begleitet sind. Aber auch göttliche Hilfe
wurde gegen die Unfruchtbarkeit in Anspruch genommen und
zahlreiche Feste der Antike, wie die Luperkalien bei den Römern
und die Mysterien zu Ehren der Demeter bei den Griechen,
hatten einzig den Zweck, unfruchtbaren Frauen das Familien-
glück zu verschaffen. Ploß-Bartels bezeichnet das Aufpeitschen,
das die jungen Burschen im Vogtlande und in anderen Teilen
Deutschlands am ersten Osterfeiertage in der Frühe vornehmen,
indem sie mit frischen grünen Reisern die Mädchen aus dem
Bette jagen, sowie das Niederlausitzer »Zempern« und das
Budissiner »Semperlaufen« als eine Art der ins Deutsche über-
tragenen antiken Luperkalienfeste. Auch einzelne Götter, wie
Hermes, der namentlich seiner starken Männlichkeit wegen als
der befruchtende Gott bei den Griechen galt, oder die Wasser-
götter der Dajaken, der Gott Hännuman der Inder, die Göttin
Kuan Yin der Chinesen konnten nach dem Glauben der be-
sagten Völker Fruchtbarkeit bewirken. Eine ähnliche Tendenz
278 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
offenbart sich in der Verehrung der Madonna, die namentlich
der katholischen Landbevölkerung sehr geläufig ist; auch in
der Kirche wird die Heilandmutter als ein Symbol der Mutter-
schaft und Fruchtbarkeit offenkundig verehrt. Neben der
Heiligen- und Götterverehrung spielt auch der Fetisch oder
das zauberkräftige Amulett in der naiven Therapie des Volkes
gegen die Unfruchtbarkeit eine wichtige Rolle. Schon das
Altertum hat in dem aufgereckten männlichen Phallus die
zeugende und mithin befruchtende Kraft erblickt, und der
gesamte Phalluskult orientalischer und abendländischer Völker
zeugt von der eminenten Bedeutung, die man dem Zeugungs-
und Befruchtungsvorgang zugeschrieben hat. In den slavischen
Gegenden tragen die Bäuerinnen, die unfruchtbar sind, ständig
kleine Amulette in Form des männlichen Gliedes mit sich
herum. In Tirol werden nach Zingerle Mirakelbildern,
die in Form von kleinen Kröten aus Wachs gebildet sind
und »Muettern« heißen, übernatürliche Kräfte zugeschrieben.
Ein moderner Phalluskult ist auch die Anbetung des heiligen
Francesco di Paolo, die namentlich in der süditalienischen
Provinz Bari häufig ist, und die des heiligen Cosimo,
der in der Gegend von Neapel in großem Ansehen
steht. Bei den Prozessionen zu seinen Ehren verkaufen die
Händler unterwegs an die sich beteiligenden Mädchen und
Frauen phallische Wachsfiguren, die dann als Liebesgabe dem
heiligen Cosimo dargebracht werden. Die Gegenleistungen,
die von ihm erfleht werden, sind neben der Befreiung von
Sterilität die wiederkehrende oder noch stärkere Potenz ihrer
Liebhaber und Männer. Wie in den katholischen Ländern die
Pilgerstätten der wundertätigen Madonna, so gibt es in China
Tempel der Fruchtbarkeit, ebenso in Indien, wo in der heiligen
Stadt Benares zu dem Zwecke jährlich Tausende von Pilgern
zusammenströmen. Eine anschauliche Schilderung dieser Pro-
zessionen hat erst kürzlich Ewers in seinem Reiseskizzenbuch
»Indien und Ich« geboten. Auch viel abergläubische Manipu-
lationen gehören hierher; so erwähnt Ploß eine alte holländische
Kanone, die bei Batavia auf freiem Felde liegt, auf der die
unfruchtbaren Weiber in ihren besten Kleidern, mit Blumen
geschmückt, zu sitzen pflegen. Daß die Kanone in den Ruf
der Fruchtbarkeitsbringerin gekommen ist, geht darauf zurück,
daß der nach hinten den Abschluß des Laufes bildende Kopf
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 279
die Form einer menschlichen Hand hat, deren Finger die
sogenannte »Fica« bilden, d. h. sie sind zur Faust geballt und
der Daumen ist dabei zwischen dem Zeigefinger und Mittel-
finger vorgestreckt. Bekanntlich bildet aber diese Daumen-
stellung die Allegorie für den Coitus, daher wohl die über-
natürliche Kraft, die dem Kanonenrohr zugeschrieben wird.
Auch die Beschwörung der Toten, die Seelen der Bäume,
Feuerfunken, Frühlingsregen u. a. werden bei einzelnen Völkern
als gegen die Unfruchtbarkeit wirksam betrachtet.
In der alten medizinischen Literatur findet die Unfruchtbar-
keit des Weibes eine eingehende Erörterung, und sowohl bei
Hyppokrates als bei Plinius und Aristoteles sind die Ursachen
und die Mittel zur Verhütung der Sterilität genau beschrieben.
Begreiflicherweise wird das Hauptgewicht nach der ethischen
Seite hin verlegt, und nur bei Hyppokrates sind eine Reihe
mechanischer Ursachen, die auch von der neueren Medizin
als richtig anerkannt wurden, angegeben. Eine Zusammen-
stellung der diesbezüglichen Sentenzen findet sich in der noch
immer unübertroffenen Darstellung der weiblichen Sterilität
von Professor Kisch-Prag, der wir auch in der nachfolgenden
Skizze über die Ursachen der Sterilität in den Hauptzügen
folgen. Professor Kisch unterscheidet zunächst zwischen
kongenitaler oder absoluter und aquisiter oder auch relativer
Sterilität, und versteht unter ersterer das Ausbleiben einer
Schwangerschaft trotz längerer, mindestens seit drei Jahren
stattgehabter Kohabitation. Aquisit steril sind nach Professor
Kisch jene Frauen, die nach ein- oder zweimaliger normaler
Schwangerschaft im Verlauf von mehreren Jahren, trotzdem sie
noch in geschlechtsreifem Alter stehen, nicht mehr konzipieren.
Eine Unterabteilung der aquisiten Sterilität ist die so häufige
»Ein-Kinder-Sterilität«, die von englischen Ärzten zuerst als
solche bezeichnet wurde, und deren Ursachen parallel denen
der erworbenen Sterilität verlaufen. Fränkel-Breslau verwirft
die Bezeichnungen »kongenital«e und »aquisit« und schlägt
dafür die zutreffenderen Unterscheidungen » primär« und
»sekundär« vor, wobei er unter primär-sterilen Frauen solche
bezeichnet, bei denen trotz längerer Ehezeit eine Empfängnis
noch nicht eingetreten, aber immerhin in Zukunft doch nicht
unmöglich ist. Sekundär-steril dagegen scheint ihm eine Frau,
die nach ein- oder mehrmaliger Empfängnis ihre Konzeptions-
280 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
fähigkeit durch eine puerperale oder extrapuerperale Erkrankung
eingebüßt hat. Demzufolge steht auch Fränkel auf dem Grund-
satz, daß für die sekundäre Sterilität ein viel längerer Zeitraum
als von drei Jahren, zum mindesten aber fünf Jahre nach der
letzten Schwangerschaft angesetzt werden müßten, bevor über-
haupt von einer sekundären Sterilität die Rede sein könne.
Was die Häufigkeitsverhältnisse der einzelnen Sterilitätsformen
anbelangt, so hat Bumm in einer einsichtigen und auf Grund
langjähriger tabellarischer Vergleiche authentischen Studie über
Behandlungs- und Heilungsaussichten der Sterilität bei der
Frau festgestellt, daß die Sterilität der Ehen, welche in krank-
haften Zuständen der Frau ihren Grund hat, in zwei Dritteln
aller Fälle auf angeborener mangelhafter Entwicklung der Genita-
lien beruht, im übrigen Drittel, die erworbene Sterilität umfassend,
sehr oft durch Gonorrhoe bedingt ist. Dieser Grundsatz deckt
sich trotz verschiedener Einwände, die von anderer Seite gegen
ihn erhoben wurden, auch mit den Erfahrungen anderer be-
deutender Kliniker auf diesem Gebiete, und es spricht nicht
dagegen, wenn beispielsweise Fränkel bei einem durchaus be-
schränkten und artgleichen Material Abweichungen von dieser
Regel konstatiert hat. Der zweite Teil der Bumm’schen These,
der Gonorrhoe in der Mehrzahl der Fälle für Sterilität verant-
wortlich macht, wird durch die Erfahrungen von Grünewald,
Bockelmann, Kisch, Fränkel und anderen bestätigt. Des leichteren
Verständnisses halber möchte ich die Einteilung der Ursachen
der Sterilität, so wie sie Kisch zum Zwecke der aetiologischen
Erörterung in drei Hauptgruppen vereinigt, beibehalten. Dem-
nach sind die drei Hauptbedingungen der weiblichen Un-
fruchtbarkeit:
a) Die Unfähigkeit zur Keimbildung.
b) Die Behinderung des Kontaktes von normalem Sperma
und Ovulum.
c) Die Unfähigkeit zur Bebrütung des Eies.
In der ersten Gruppe kann es sich um einen vollkommenen
Defekt der Ovarien, um angeborene oder vorzeitige Verkümme-
rung der Eierstöcke, letzteres infolge schwerer Erkrankungen
oder auch toxischer Einwirkungen, um Neubildungen im Eier-
stock und in der Follikelanlage handeln. Fälle dieser Art sind
unheilbar und schlieĝen eine Konzeption von vorneherein aus.
Dagegen kann die Sterilität nur eine vorübergehende sein, wenn
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 281
es sich um ungenügende Entwicklung der Ovarien, um eine
teilweise Vernichtung der Eierstöcke durch Tumoren, durch syphi-
litische Infektion handelt, oder wenn eine übermäßige Fettbildung,
Anämie, Skrophulose, vorhanden sind. Daß auch Alter, Klima und
Ernährung für die Fruchtbarkeit nicht unmaßgebend sind, be-
weist die Tatsache, daß sich die Ehen zwischen allzu ungleich-
altrigen Personen, bezw. zwischen allzu Jugendlichen wiederholt
als unfruchtbar erwiesen haben. Das beste Konzeptionsalter der
Frau ist das zwischen dem 20. und 24. Lebensjahr. Ehen, die
vor dem 20. Lebensjahre geschlossen werden, erweisen sich zum
größten Teil als vorübergehend steril, obgleich, je nach der
physischen Konstitution der Gatten, Schwängerungen bereits
knapp nach vollendeter Pubertät vorgekommen sind. Hier spielt
namentlich das Klima und die Rassenzugehörigkeit eine große
Rolle. Frauen, die leicht und frühzeitig menstruieren und auch sonst
alle Symptome der Geschlechtsreife zeigen, haben mehr Aussicht,
auch in jugendlichem Alter zu konzipieren, als solche, bei denen
die Menstruation spät, spärlich und unter erschwerenden Um-
ständen eintritt. Immerhin gibt das spärliche und unregelmäßige
Erscheinen oder völlige Ausbleiben der Menstruation noch keinen
Grund für Sterilität ab. Während eine Reihe von Frauen, die
niemals menstruiert waren, sich als sekundärsteril erwies, haben
andere nacheinander bis zum Eintritt der Menopause ganz nor-
male Schwangerschaften und Geburten durchgemacht. Anderer-
seits ist oft trotz ausgiebiger Monatsreinigung die Schwanger-
schaft dauernd unterblieben, wenn es sich um gewisse infektiöse
Erkrankungen des inneren Geschlechtsapparates beim Weibe
gehandelt hat. Die Befruchtung ungünstig beeinflussende
Momente ergeben sich ferner aus der Lebensweise, dem Genuß
von Alkohol und chemischen Stimulanzien, häufigen Gemüts-
affekten, Inzucht und hereditärer Veranlagung. Allgemein ver-
breitet ist die Meinung, daß Fettsucht dauernde Sterilität ver-
ursachen kann. Die Therapie dieses krankhaften Zustandes hat
jedoch das Gegenteil zu Tage gefördert, indem Frauen nach
einer erfolgreichen Abmagerungskur leicht und wiederholt
geboren haben. Ein weiteres Kapitel, das noch einer Erwähnung
bedarf, ist die Zerstörung der Keimanlage durch allzu häufig
geübten Coitus, ein Zustand, der namentlich bei jung verheirateten
Eheleuten sehr häufig angetroffen wird. Bockelmann hat auf
die Gefahr des Flitterwochenabortes hingewiesen und sie aus
282 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
dem Überhandnehmen gewisser endometritischer Wucherungen
zufolge der dauernden Aufregungszustände erklärt. Auch eine
sekundäre Sterilität kann auf diese Weise verschuldet werden.
In die zweite Gruppe, die die organischen Veränderungen
umfaßt, durch die der Kontakt von normalem Sperma und Ovulum
verhindert wird, gehören namentlich Bildungsfehler oder der
gänzliche Mangel der Tuben, auch das Fehlen oder die nur
rudimentäre Entwicklung des Uterus (angeborene Atresie), ent-
zündliche Zustände der Tuben, durch die es zur Schwellung
der Schleimhaut und zur übermäßigen Absonderung von Sekreten
kommt, wodurch das Vordringen des Spermas auf unüberwind-
liche Schwierigkeiten stößt. Dieses gilt vor allem von Er-
krankungen, die sich entweder auf tuberkulöser Basis oder durch
gonorrhoische Infektion entwickeln. Die Krankheiten des Uterus
sind sehr zahlreicher Natur und können sich auf eine Reihe von
Erscheinungen ausdehnen, von denen namentlich die Lage-
veränderung und die pathologischen Strukturveränderungen die
Einpflanzung und Entwicklung des in die uterine Höhle ge-
langten befruchteten Eichens beeinträchtigen. Ebenso kann der
Uterus häufig vollkommen fehlen, die Vagina überhaupt nicht
oder nur als ein kurzer Blindsack vorhanden sein, während die
Tuben entwickelt oder ebenfalls nur rudimentär sind. Die
Mehrzahl der angeführten Fälle, darunter auch die angeborene
oder durch Rachitis und Skrophulose erworbene Becken-
verengerung, schließen naturgemäß eine Befruchtung und
Schwangerschaft unbedingt aus. Reinhold Gerling hat in seinem
„Goldenen Buch der Frau“ auf die konträr-sexuelle Veranlagung
der Frau hingewiesen, die nach seiner Meinung in vielen Fällen
primäre Sterilität verschuldet. Soweit es sich um die psychische
Veranlagung handelt, kann die Homosexualität nur bedingt
herangezogen werden, wenn auch die infolge des konträren
Geschlechtstriebes verursachte Dyspareunie die Konzeption
zweifelsohne erschwert. Dyspareunie als solche, auf welche
Gründe sie immer zurückzuführen sei, schließt eine Konzeption,
wenn nicht andere organische Fehler vorliegen, keineswegs aus,
und es ist nachgewiesen, daß eine große Zahl von Frauen, die
nicht eine Spur von Libido in actu aufwiesen, trotzdem schwanger
wurden und vollständig normale Kinder zur Welt brachten.
Daß im Übrigen die geschlechtliche Erregung des Weibes
bei der Konzeption eine wesentliche Rolle spielt, ist von der
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 283
neuzeitlichen Medizin niemals bestritten worden. Instinktiv ist
auch das Volk von derselben Meinung beherrscht, wenn es
beispielsweise durch die in manchen Gegenden üblichen Probe-
ehen, wie sie auch neuerdings in amerikanischen Gesellschafts-
kreisen eingeführt wurden, eine vorherige genaue Kenntnis-
nahme der Verlobten fordert. Auch das „FensterIn“ und die
Probenächte der deutschen Bauernmägde verfolgen denselben
Zweck. Daß sexuelle Anästhesie oder zum Mindesten
eine nicht genügend stark entwickelte Libido die Konzeption
beeinträchtigen, beweisen zahlreiche historische Fälle, unter
anderen der der Kaiserin Maria Theresia, die anfänglich nicht
konzipierte, dann aber ihrem Mann in rascher Aufeinanderfolge
16 Kinder gebar. Bekannt ist hierbei die treffende Diagnose
des Leibarztes van Swieten, der nach den anfänglichen frucht-
losen Versuchen das Catonische: „ceterum censeo vaginam
sanctissimae majestatis magis esse titillandam“ aussprach. Hier-
her gehört auch der Mangel einer seelischen Harmonie zwischen
den Ehegatten, der ebenfalls unter Umständen eine relative
Sterilität verursacht. So blieb die Ehe Napoleons I. mit der
schönen Josephine Beauharnais kinderlos, obwohl Josephine aus
ihrer ersten Ehe Kinder besaß und auch Napoleon in seiner
zweiten Ehe mit Maria Luise von Österreich einen Sohn zeugte.
Ein absichtlich passives Verhalten seitens des Weibes führt zur
Zurückhaltung gewisser Sekrete, die für die Fortbewegung der
Spermatozoen wichtig sind, und läßt es zum Eindringen des Sper-
mas in die Gebärmutter nicht so leicht kommen, weil der Samen
post actum sofort abfließt. Die Kenntnis dieses Umstandes soll
von einzelnen Naturvölkern zur Verhinderung der Empfängnis
verwendet werden. Auch die Tatsache, daß Dirnen und solche,
die sich aus gewerbsmäßigen Gründen prostituieren, nicht so
leicht konzipieren, dürfte zum Teil auf ihr passives Verhalten
während der Dauer des Geschlechtsaktes zurückzuführen sein.
Geht die konträr sexuelle Anlage Hand in Hand mit einem
ausgeprägten physischen Hermaphroditismus, dann ist allerdings
eine Befruchtung ausgeschlossen. Fälle jedoch, wo neben rudimen-
tär vorhandenen männlichen Geschlechtsorganen gleichzeitig ein
vollständig entwickelter Uterus vorhanden wäre, derart, daß
eine Schwangerschaft möglich wäre, sind bislang in der medi-
zinischen Literatur nicht nachgewiesen.
Die Zahl der Kraffkheiten des weiblichen Geschlechts- und
284 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Gebärapparates, dievorübergehende Sterilität erzeugen, ist eine
überaus große. Wir nennen neben entzündlichen Prozessen
der Ovarien und der Tuben, die zur Verengung und Verlötung
an den Ostien führen können, die Neubildungen im Gebär-
mutterinneren, Verhärtung und Gebärmutterschwund, alle Arten
infektiöser Prozesse, die nach dem Puerperium zurückbleiben,
Dysmenorrhoe, d. i. der schmerzliche Menstrualfluß, der selbst
Erkrankungen des Genitalapparates zur Ursache hat, die über-
aus häufigen Lageveränderungen der Gebärmutter, die soge-
nannten Versionen und Flexionen, abnorme Windungen der
Vagina, Harn- und Mastdarmfisteln, sowie Hyperthrophie und
Tumoren an den äußeren und inneren Schamlippen und an der
Vulva. Eine andere überaus häufige Erscheinung, die vorüber-
gehende Unfruchtbarkeit bewirkt, ist die abnorme Beschaffen-
heit des Hymens, der oft erst nach einem operativen Eingriff
die normale Vollziehung des Coitus und die damit verbundene
Schwängerung zuläßt. So gelang es einem Ehemann erst nach
zweijähriger Kohabitation den Hymen seiner Gattin zu perforieren,
worauf sofort Schwängerung erfolgte. Durch eine allzu skrupellos
ausgeführte Defloration in der Hochzeitsnacht kommt es bei
jungen Frauen in zahlreichen Fällen zu den als Vaginismus ge-
fürchteten krampfartigen Zusammenschließungen der Vagina,
die oft erst durch eine monatelange örtliche und psychische
Behandlung sich beseitigen lassen. Schließlich kann es auch
zu pathologischen Veränderungen der Genitalsekrete kommen,
wobei vorzeitige Abtötung der befruchtungsfähigen Spermatozoen
die Folge ist. Auch Unreinlichkeit, die zur Zersetzung der
Scheidenprodukte und zur Ansammlung der für die Sperma-
tozoen so gefährlichen Säuren führt, muß vielfach für eine
erschwerte Konzeption verantwortlich gemacht werden; gilt es
ja heute noch in den niederen Ständen als unhygienisch, eine
häufige Spülung der Genitialen vorzunehmen. In manchen
slavischen Gegenden herrscht der Aberglaube, daß eine Wasch-
ung der Geschlechtsteile die Anziehungskraft des Mädchens auf
den Burschen herabsetze. Gonorrhoe und krankhafte Ausflüsse,
die namentlich bei dem durch Tripperinfektionen so häufig
verursachten Cervical-Katarrh auftreten, können die Befruchtungs-
möglichkeit auf eine geraume Zeitlang hinaus unterbinden.
Will man von allen den Umständen absehen, die auf Seiten
des Mannes ausschlaggebend für ein Ausbleiben der normalen
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 285
Schwangerschaft der Frau sein können, zu denen neben den
verschiedenen Formen der Impotenz namentlich die Atrophie
der Hoden, teilweiser oder vollständiger Mangel an lebenden
Spermatozoen, gonorrhoische und syphilitische Infektion gehören,
so bleibt noch die Besprechung der Gründe übrig, die Sterilität
durch Unfähigkeit zur Bebrütung des Eies nach sich ziehen.
Hierher gehören alle Hemmungsbildungen des Uterus, voll-
ständige Entartung der Uterusschleimhaut, die bei primär
sterilen Frauen sich zu einem hohen Prozentsatz konstatieren
lassen. Ferner verursachen alle Arten metritischer Wucherungen,
sowie Geschwulstbildungen der Gebärmutter und die bereits
erwähnten Lageveränderungen eine mehr oder minder lang
andauernde Unfähigkeit zur Bebrütung des Ovulums. An-
schließend an diese Feststellungen möchte ich auch des
Carzinoms der Gebärmutter gedenken, das irrtümlich für viele
ausgebliebene Schwangerschaften verantwortlich gemacht wird.
Eine krebsige Entartung der Gebärmutter läßt nicht nur im
Anfangsstadium, sondern auch noch dann, wenn es bereits zur
Eiterung und zum jauchigen Zerfall der krebsigen Masse ge-
kommen ist, noch immer die Konzeption zu, so lange überhaupt
ein Geschlechtsverkehr stattfinden kann und der Kontakt
zwischen Ei und Samen nicht von vornherein verhindert ist.
Winkel hat diese Erfahrungen über den Einfluß von Gebär-
mutterkrebs auf die Empfängnis folgendermaßen fixiert: „Der
weitaus größte Teil der an Uteruskarzinom leidenden Frauen
ist verheiratet, dieselben leben nur sehr selten in steriler Ehe
und haben sich meist als ungewöhnlich fruchtbar erwiesen.“
Zum Schluß wollen wir noch der operativen Verfahren
gedenken, die sich in manchen Fällen als notwendig erweisen,
und soweit sie sich auf die Tuben und auf die Eierstöcke
ausdehnen, notwendigerweise die Sterilisation der Frau nach
sich ziehen. Man bezeichnet die zufolge von Ovariotomie,
Kastration und Entfernung der Adnexe eintretende Unfruchtbar-
keit als operative Sterilität. Unfruchtbarkeit ist überall da eine
vollständige, wo es sich um gänzliche Entfernung der Eierstöcke,
beziehungsweise wo es sich um eine Amputation der Vaginal-
portion handelt, wenn bei letzterer die nach der Operation
eintretende Vernarbung eine vollständige Stenosierung (Ver-
engung) des Orificium externum (äußerer Gebärmuttermund)
zur Folge hat. Die Ausschneidung der Eierstöcke zum Zwecke
286 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
der Entfernung von Eierstockgeschwülsten wurde zum ersten
Mal im Jahre 1809 in England vorgenommen. Die Kastration,
d. i. die Extirpation gesunder oder wenigstens nicht bedeutend
affizierter Eierstöcke, zu therapeutischen Zwecken datiert seit
dem Jahre 1869 und hatte eine Zeit lang besonders in Amerika
sich zu einer wahren Epidemie herausgebilde. Den amerika-
nischen Ärzten genügte bereits die Konstatierung von Migräne,
die nach den neueren Forschungen auf gewisse sekretorische
Vorgänge in den Eierstöcken zurückgeht, um den Patientinnen
die Kastration anzuempfehlen. Selbstverständlich ist nach einer
restlosen Entfernung der Eierstöcke eine Konzeption für immer
ausgeschlossen und manche junge Ehefrau, die sich zu einem
früheren Zeitpunkt leichtsinnig zu dieser Operation bewegen
ließ, hat es nachträglich in einer unglücklichen Ehe schwer
gebüßt. In jüngster Zeit ist die Kastration in den Hintergrund
getreten, und die Paare, die eine Schwängerung verhindern
wollen, bedienen sich der weit harmloseren Präventivmittel, die
allerdings nicht in allen Fällen unbedingten Erfolg verbürgen.
Man kann sagen: der größere Teil sekundär steriler Frauen
wird in dem Moment schwanger, wo der Präventivverkehr
nicht mehr nötig scheint und eine Schwängerung unter normalen
Bedingungen möglich ist. Gerade die fakultative, d. i. die mit
Wissen und Willen beider Gatten bewirkte Sterilität der Frau
bedeutet die größere Gefahr für die Rassengenese und die
Produktionsfähigkeit der künftigen Generation, und wenn auf
irgend eine Weise dem drohenden Geburtenrückgang gesteuert
werden soll, dann ist dies nur durch eine Verbesserung der
sittlichen und ökonomischen Grundlagen der modernen Ehe
möglich, die den Präventivverkehr als überflüssig und gesell-
schaftsfeindlich auf ein Minimum reduziert. —
8 E
9
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 287
SEXUELLE DIÄTETIK.
Von Geheimrat Prof. Dr. ALBERT EULENBURG.
е Diätetik ist in diesem Zusammenhange selbstverständlich
nicht bloß die wissenschaftliche Ernährungslehre, sondern
der Inbegriff aller auf die gesamte Lebenshaltung und Lebens-
führung bezüglichen gesundheitlichen Lehren und Vorschriften
zu verstehen. Unter sexueller Diätetik also der Inbegriff dieser
Lehren und Vorschriften, soweit sie der gesunden, normalen
Entwicklung des Geschlechtslebens im kindlich-jugendlichen
Alter zu dienen, einer verfrühten Ausbildung oder abnormen
und krankhaften Triebrichtung vorzubeugen und schädigenden
Auswüchsen und Ausartungen entgegenzuwirken bestimmt sind.
Es erwachsen auf diesem Gebiete für den Arzt, den Hygie-
niker und Pädagogen gleich bedeutsame und schwer zu erfüllende
Aufgaben. Als Arzt und Nervenarzt möchte ich nur darauf
hindeuten, wie wir es hier mit einem für die Verhütung schwerer
Erkrankung und Zerrüttung des Nerven- und Seelenlebens über-
aus wichtigen, oft geradezu entscheidenden Faktor zu tun haben.
Ich erinnere nur an die zumal bei nervös veranlagten Kindern
oft schon lange vor der eigentlichen Pubertät einsetzende Ent-
faltung des geschlechtlichen Triebes, mit ihren gefürchteten
Äußerungen und Begleiterscheinungen des gesteigerten ona-
nistischen Dranges, von dessen wirklichen und durch die Vox
publica wissentlich oder unwissentlich übertriebenen Gefahren
noch weiter die Rede sein wird. Aber auch für andere auf
sexuellem Gebiete liegende Verirrungen, namentlich für die
gleichgeschlechtige (homosexuelle) Triebrichtung, ebenso für die
sadistische, masochistische und fetischistische Neigung werden
in diesem Alter zumeist die Keime gelegt, bei vorbestehender
Anlage mindestens die letzten entscheidenden Gelegenheitsanstöße
geboten; hier sind daher noch Vorbeugungs- und Schutzmaß-
regeln am Platze, die in späteren Lebensabschnitten bekannter-
maßen nur zu oft vollständig versagen.
Als Ausgangspunkt unserer Betrachtungen muß die Erfah-
rungstatsache gelten, daß wir es unter dem Einflusse der Kultur-
bedingungen und Kulturformen der Gegenwart, und zumal unter
den eigenartigen großstädtischen Lebensverhältnissen, bei der
heranwachsenden Jugend vielfach schon von vornherein nicht
mehr mit einer normalen, gesunden und natürlichen, sondern
288 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
mit einer in anormaler Weise überreizten, überhasteten und
verfrühten geschlechtlichen Entwicklung, einer demnach künst-
lich gezüchteten Steigerung des sexuellen Trieblebens zu tun
haben. Mit dieser Tatsache, so schmerzlich sie sein mag,
müssen wir ein für allemal rechnen. Was wir demgegenüber
wollen und anstreben, kann und darf selbstverständlich nicht
etwa Bekämpfung des gewaltigsten und berechtigsten aller
Naturtriebe in seiner als normal und typisch anzusehenden
Entwicklungsform sein — sondern ganz im Gegenteil nur die
Herstellung und Geltendmachung dieser natürlichen Entwicklung
gegenüber ihrer durch das heutige Kulturleben vielfach aufge-
drungenen Entstellung und Fälschung. Nicht die Natur zu er-
sticken, sondern ihr zu Hilfe zu kommen und einem gewalt-
samen Ein- und Vorgreifen in ihre Rechte zu wehren — das
muß auch hier, wie allenthalben in hygienisch-ärztlichen Dingen,
unser Programm bilden.
Hier ist nun freilich die schwierige Frage nicht zu um-
gehen, was denn eigentlich auf diesem Gebiete als „natürlich“
und „normal“ gelten soll — worin die ersten, unzweifelhaften
Äußerungen des geschlechtlichen Trieblebens zu erkennen und
mit welchem Lebensalter sie in naturgemäßer Weise verknüpft
sind. Auf diese Fragen lautet die Antwort nichts weniger als
übereinstimmend. Es gibt ja eine Richtung heutzutage — und
sie ist sogar durch bedeutende Namen vertreten — die über-
all nichts als erotische Probleme und sexuelle Lebensäußer-
ungen wittert, und die folgerichtig schon den noch halb oder
ganz unbewußten Betätigungen des frühesten kindlichen Alters,
sogar der Säuglingszeit, den Ausdruck erotischer, wenn auch
dunkler Gefühle und Antriebe ein- und beigemischt findet. Es
handelt sich hier um teilweise recht verwickelte und zurzeit
wohl kaum entscheidungsreife Fragen — auf die ein näheres
Eingehen von dem eigentlichen Gegenstande zu weit abführen
dürfte. Uns kann vorzugsweise nur der seiner selbst sich be-
wußt werdende und dadurch in Zwiespalt mit anderen Momenten
der Persönlichkeit und mit den äußeren Lebensverhältnissen
geratende Trieb der kindlich-jugendlichen Übergangsperiode
an dieser Stelle beschäftigen. Auch dafür ist der Versuch
einer genaueren zeitlichen Fixierung sehr schwierig; Rasse und
Klima, Geschlecht und Individualität führen für sich allein,
ganz abgesehen von den durch die Umgebung, durch die äußeren
SCHNABELFÖRMIGE
VAGINAL - PORTION
(Hintere Ansicht).
Zu dem
Aufsatz
„Die
Unfrucht-
barkeit des
Weibes‘‘
Seite 273
REINE HYPERTROPHIE
DER AUS DER VULVA
HERVORRAGENDEN
VAGINALPORTION.
SCHURZENFORMIGE
VAGINAL - PORTION.
(a die längere, b die
kürzere Muttermundslippe).
AUFWARTSKRUMMUNG
DES ELONGIERTEN
CERVIX.
-|(Nach Kisch).
Zu dem
Aufsatz
„Die
Unfrucht-
barkeit des
Weibes‘‘
Seite 273
VORBEUGUNG DER:GEBÄRMUTTER. RÜCKWÄRTSBEUGUNG DER GEBÄRMUTTER.
(Nach A. Martin). (Nach A. Martin).
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 289
Reizquellen künstlich geschaffenen Veränderungen, schon zu
weitgehenden Unterschieden des natürlichen Verhaltens. Aber
im allgemeinen scheint das Aktivwerden und deutliche, zielbe-
wußte Hervortreten des geschlechtlichen Triebes unter normalen
Umständen einer nicht unerheblichen späteren Jugendperiode
anzugehören, als von der herrschenden Meinung vielfach an-
genommen und von ihren literarischen Wortführern in zornigem
Prophetentone als unfehlbare Offenbarung mystischen Natur-
willens verkündet wird. Die 14jährige Wendla Bergmann
und ihr nicht viel älterer Genosse aus Wedekinds zu so
zweifelhafter Berühmtheit gelangtem „Frühlings-Erwachen“
und ihre zahlreichen Vor- und Nachbilder in Romanen und
Dramen sind doch, so individuell wahr sie immerhin sein
mögen, glücklicherweise nicht als typische Normalgeschöpfe,
sondern als krankhafte Ausnahmeerscheinungen zu betrachten,
deren überreife Erotik ihrem natürlichen Entwicklungsgange
mindestens um fünf, vielleicht auch noch mehr Jahre vorauf-
geeilt ist. Wenn man von der eigentlich am nächsten liegenden
Annahme ausgeht, die vollendete Entwicklung auch in psycho-
sexualer Hinsicht mit der vollen Ausbildung der Geschlechts-
reife zeitlich zusammenfallen zu lassen — so gelangt man
zu einer für beide wesentlich späteren Grenzbestimmung.
Die zusammengefaßten Ergebnisse der Statistik und der
ärztlichen Erfahrung sprechen im allgemeinen dafür, wenig-
stens innerhalb unserer klimatischen und Rassenverhältnisse
die volle Geschlechtsreife im Durchschnitt beim weiblichen
Geschlecht nicht vor vollendetem 20., beim männlichen sogar
nicht wesentlich vor dem 25. Lebensjahr anzusetzen. Dies wird
manchem überraschend erscheinen; es ist aber der sich auf-
drängende Schluß aus großen und wichtigen Tatsachenreihen,
wie z.B. der bedeutend größeren Lebensfähigkeit der Kinder,
die von Müttern nach dem 20. und von Vätern nach dem
25. Lebensjahre erzeugt werden. Hiernach dürfte also auch
der Abschluß der natürlichen Entwicklung des geschlechtlichen
Trieblebens im allgemeinen kaum vor Ende des zweiten und
Beginn des dritten Lebensdezenniums anzusetzen sein. Dem
entspricht die »Sera juvenum Venus«, die bekanntlich Tacitus
unseren germanischen Vorfahren — wohl in bewußtem Gegen-
satz zu dem dekadenten Römertum seiner Zeit — nachrühmt.
Nun ist es in einem Teile unserer, den sexuellen Problemen
Geschlecht und Gesellschaft VIII, 7. 19
290 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
überhaupt mit allzueinseitigem Eifernachspürenden Tagesliteratur
leider üblich geworden, die unklaren und unfertigen Gefühle
und unbestimmt sehnsüchtigen Dränge der einsetzenden Pubertät
mit den bewußt erkannten und erstrebten Geschlechtszielen
späterer Jahre unterschiedlos zu konfundieren. Unter dem Banne
solcher Modeströmungen hat sich auch bei einem großen Teile
unseres lesenden und Theater besuchenden Publikums die
schlaffe und weichlich sentimentale Auffassung Bahn gebrochen,
die männlichen und weiblichen Angehörigen dieses Lebensalters
als prädestiniert unglückliche und beklagenswerte Opfer ihres
naturberechtigten, aber unter den obwaltenden Verhältnissen in
unlösbare Konflikte hineintreibenden Sinnendrangeszu betrachten.
Einer solchen Auffassung muß doch auf das Entschiedenste
widersprochen werden. Im großen und ganzen gilt glücklicher-
weise für dieses Frühalter immer noch das Schillersche »Vom
Mädchen reißt sich stolz der Knabe« — die Geschlechter fliehen
sich in dieser Zeit eher als daß sie sich suchen — und in
weitaus überwiegendem Maße haben wohl auch unsere Unter-
und Obersekundaner und selbst unsere Primaner doch den
Kopf voll von anderen Interessen als den ihnen in modernen
Kinderstuben- und Kinderseelendramen, »Kindertragödien«,
»Gymnasiastentragödien« und »Kindheitsuntergängen« aus-
schließlich zugeschriebenen, und sind die in unstillbarem
erotischen Drang vorgehenden Hänschen Rielows, Melchior
Gabors und Moritz Stiefels einstweilen immerhin aus ungünstigen
Anlagen und traurigen Erziehungsverhältnissen hervorgegangene
Abnormitäten. Aber freilich — sie sind; darüber sollen und
können wir uns nicht hinwegtäuschen — das Leben drängt sie
uns immer und immer wieder vor Augen — die tägliche Unglücks-
chronik meldet von ihnen — ich selbst habe in der von mir
nach amtlichen Quellen bearbeiteten Statistik der Schülerselbst-
morde im preußischen Staate (von 1880—1903) nur allzu reich-
liche Gelegenheit gehabt, betrübende Beispiele in solcher Weise
verunglückter und zerstörter jugendlicher Existenzen aus den
verschiedensten Lebenskreisen in reicher Fülle zu sammeln.
Nur das also muß festgehalten und nachdrücklich betont
werden: Nicht um naturgemäße, gesunde und normale Trieb-
äußerungen handelt es sich in derartigen Fällen, sondern um
ungesunde,unnatürliche und künstlich verrohte — um die traurigen
Endprodukte einer namentlich durch die ungeheure Anhäufung
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 291
von Sinnesreizen in Großstädten erzeugten und unterhaltenen
geschlechtlichen Überreizung. Mit diesen Endprodukten einer
künstlich geschaffenen und aus mannigfaltigen Reizquellen ständig
genährten geschlechtlichen Überreizung haben wir es als Körper-
und Seelenärzte vielfach zu tun; hier vorbeugend und abhelfend
einzugreifen ist die damit von selbst sich ergebende, dringlichste
sexual-diätetische Aufgabe. Natürlich darf diese Aufgabe nicht
bloß dahin verstanden werden, alles, was verfrühter sinn-
licher Erregung dienen kann, der heranwachsenden Jugend nach
Möglichkeit fern zu halten. Damit würden wir wohl nicht allzu-
weit kommen; vielmehr muß der wichtigere und schwierigere
Teil unserer Aufgabe darin gipfeln, die Jugend gegen die unter
den heutigen Lebensverhältnissen in so verstärktem Maße heran-
drängenden Sinnesreize und die daraus erwachsenden Gefahren
in höherem Grade zu festigen und wehrhaft zu machen.
Zu diesem Zweck bedarf es auf allen Stufen des kindlich-
jugendlichen Alters einer die klar erkannten Anforderungen von
Hygiene und Sittlichkeit fest im Auge behaltenden, ihrem Ziele
unverwandt zustrebenden, klugen und energischen Leitung des
Sexualwillens. Die individuellen Triebe, Teperamentäußerungen
und Affekte dürfen und sollen weder künstlich ausgeschaltet,
noch in kurzsichtiger Feindschaft bekämpft oder unberechtigter-
weise verkürzt werden; aber sie sollen und müssen von Anfang
an zielbewußt derartig gelenkt werden, daß sie den in höherem
Interesse zu erhebenden sozialhygienischen und sittlichen
Anforderungen sich widerspruchlos einzuordnen und ihnen frei-
willig unterzuordnen vermögen. Das betrifft also einen wesent-
lichen Teil der gesamten Charakterbildung — und auch auf
diesem Gebiete fallen, wie wohl überall sonst, die klar erkannten
pädagogisch-ethischen und hygienisch-ärztlichen Ziele durch-
weg zusammen — ja sie können dieser Erkenntnis entsprechend
nur in engstem Zusammenschluß pädagogisch- und hygienisch-
ärztlicher Bestrebungen überhaupt in befriedigender Weise
erreicht werden.
Wenn dabei gerade in sexualdiätetischer Hinsicht auf
Charakter- und Willensstärkung der Hauptnachdruck gelegt wird,
so soll damit, ich wiederhole es, nicht im geringsten einer
asketischen Form der Selbstüberwindung das Wort geredet
werden, die etwa in letzter Instanz auf eine sittlich unfruchtbare
und auch physisch unvollziehbare Willensabtötung hinauslaufen
19*
292 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
würde — sondern im Gegenteil einer tatkräftigen und tatfreudigen
Willensbejahung im Sinne eines durch Erziehung und Lebens-
führung erstarkten und befestigten sittlich-hygienischen Wollens.
Allerdings müssen zur Erreichung dieses Zieles auch Opfer ver-
langt und bereitwillig gebracht werden können — Opfer des
Wohlbehagens, der Bequemlichkeit, Opfer nicht bloß des unzu-
lässigen, sondern selbst des an sich erlaubten und berechtigten
individuellen Genusses; und die Willenserziehung gestaltet sich
gerade durch diese zu vernünftigen Zwecken in Anspruch ge-
nommenen und willig gebrachten Opfer erst zu einer plan-
mäßigen, ethisch-hygienischen Willenstrainierung. Diese Genuß-
opfer, die von der Jugend im wohlverstandenen individual- und
sozialhygienischen Interesse gefordert werden müssen, liegen
nun u. a. einerseits auf dem Gebiete der sogenannten Genuß-
mittel, vor allem des Alkohols — andererseits in der damit so
eng zusammenhängenden Sphäre verfrühten erotischen Genießens.
Um die Jugend zum freudigen Darbringen dieser Opfer, zu er-
höhter Selbstdisziplin und zum Widerstande gegen immer er-
neute Versuchungen methodisch zu erziehen, muß ihr für das
Vorenthaltene freilich ein vollwichtiger, von ihr selbst begierig
und sogar enthusiastisch und leidenschaftlich ergriffener Ersatz
geboten werden. Denn das schöne, um keinen Preis zu ver-
kümmernde Anrecht der Jugend ist es, in Enthusiasmus zu
schwelgen und ein mit Begeisterung erfaßtes Ziel leidenschaftlich
zu verfolgen — sei dieses Ziel nun ein echtes Ideal, oder nur
ein verlockendes Idol, und selbst nur ein dürftiger Fetisch. Mit
mageren Vernunftgründen wird man weder den Lockungen des
verstohlenen Kneip- und Verbindungstreibens mit ihren Alkohol-
und Tabakgenüssen, noch dem künstlich aufgestachelten Erotis-
mus Terrain abgewinnen — sondern nur indem man diesen
Objekten gierig ersehnter Befriedigung andere, sie ausschließende
aber nicht minder begehrenswerte, in hygienischer und sitt-
licher Beziehung einwandfreie Leidenschaftsziele entgegenstellt.
Solche der heranwachsenden Jugend als erstrebenswert er-
scheinende Ziele sind, wie unsere Kultur- und Lebensverhält-
nisse sich heutzutage gestaltet haben, vor allem auf dem
unermeßlichen Arbeitsfelde wetteifernder Spiel- und Sport-
ausübung zu suchen und zu finden. In dem Körper und
Geist stählenden, den Ehrgeiz beflügelnden Spiel- und Sportbe-
trieb der Jugend haben wir noch jetzt wie zu allen Zeiten die
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 293
besten und zuverlässigsten Waffen gegen alle verderblichen
und schädigenden Einflüsse, namentlich gegen Alkohol und ver-
frühten und krankhaften Erotismus. Schon auf der Schulbank
lernen wir ja aus dem alten Horaz, daß auch zu dessen Zeit,
wer es im Sport zu hervorragender Leistung bringen wollte,
sich nicht nur in jeder Weise körperlich abhärtete, sondern auch
auf Alkohol und Geschlechtsgenuß verzichtete: » Abstinuit
venere et vino«. Freilich müßten sich Spiel- und Sportbetrieb,
um die erwünschte Wirkung in größerem Maßstabe zu erreichen,
dem Gesamtplan der Jugendbildung harmonisch eingliedern.
Sie dürfen nicht als bloßer Zeitvertreib betrachtet, nicht ver-
einzelt und gelegentlich nach individuellem Ermessen geübt,
sondern müßten als wichtiger, unentbehrlicher Bestandteil des
Unterrichtes anerkannt und auf allen seinen Stufen methodisch
gepflegt werden. Ich denke hierbei namentlich und in erster
Reihe an die Volksschule und wage zu hoffen, daß einsichts-
volle Kommunen sich durch die Hergabe von größeren Spiel-
plätzen, von Lehrkräften und Materialien mehr und mehr in
dieser Richtung verdient machen und den Vorbildern nach-
eifern werden, mit denen einzelne Großstädte, wie z. B.
Hamburg, Berlin und Düsseldorf schon jetzt in erfreulicher
Weise vorangehen. Auch der, Gott sei Dank, immer noch
nicht ganz erloschene, echt deutsche Wandertrieb*) unserer
Jugend ließe sich wohl in noch ausgiebigerer Weise als bisher
nutzbar machen; die zugleich den Sinn für Naturgenuß, für
Natur- und Heimatskunde so mächtig anregenden Ausflüge,
Ferienheime und Ferienreisen zumal bedürfen zu diesem Zweck
nur einer den heutigen gesteigerten Verkehrsmitteln entsprechen-
den weiteren Ausgestaltung und Förderung. Ein viel größeres
und höheres, vorläufig freilich noch in unerreichbarer Ferne
winkendes Ziel bestände darin, mit der Zeit und allmählich
unsere bisher fast ganz einseitigen Unterrichtsschulen zu wirk-
lichen Erziehungsschulen umzuwandeln — wozu von den neuer-
dings hier und da angeregten oder ins Leben gerufenen »freien
Schulgemeinden« mit ihren entsprechend gemischten Lehrplänen
die allerersten schüchternen Vorversuche gewagt werden! —
*) Trotz aller Angriffe, die gerade die Wandervogelbewegung in
ihrer Bedeutung als erotisches Phänomen in letzter Zeit erfahren hat,
halten wir sie nach wie vor für eines der wertvollsten Erziehungsmittel
unserer Jugend. Anm. d. Red.
294 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Aber nicht bloß für die schulbesuchende, sondern auch für die
schulentlassene Jugend unserer Volksschulen bleibt in dieser
Richtung noch viel zu tun übrig, und es wird geboten sein,
alle die hier zwar bereits in ansehnlicher Zahl, aber vereinzelt
und getrennt zutage tretenden Bestrebungen — ich erinnere
nur an die Einrichtungen der Jünglingsvereine, des Jugend-
schutzes usw. — in ihrem verdienstlichen, sozialen Wirken
nicht bloß zu unterstützen, sondern auch auf ihre Vereinigung
und zu gesteigerter Leistungsfähigkeit erforderliche Fortent-
wicklung mit Nachdruck hinzuarbeiten.
Der weitaus größere und schwierigere Teil der Aufgaben
auf dem uns hier beschäftigenden Gebiet muß der häuslichen
Erziehung anheimfallen, und dieser bietet sich hier ein fast
unabsehbares Arbeitsfeld — denn mehr oder weniger gehört
fast alles hierher, was einer rationellen Hygiene der Wohn-
räume, der Ernährung, der Kleidung, der Hautpflege, der Ruhe
und Bewegung, des Schlafes und der Arbeit in Anpassung an
das Wohl der heranwachsenden Jugend zu dienen bestimmt
ist. Ich kann auf die Fülle der sich hier eröffnenden Aus-
blicke unmöglich eingehen; nur einzelnes, das besonders
wichtig erscheint, möchte ich wenigstens kurz andeuten. Da-
hin gehört in erster Reihe das Kapitel der Ernährung, also
gerade die »Diätetik« im engeren Wortsinne — wobei leider
meist noch recht fahrlässig und gedankenlos verfahren und
vielfach in geradezu sträflicher Weise gesündigt wird. Über
die Verwerflichkeit der sogenannten Genußmittel — nicht bloß
des Alkohols in jeder, auch der scheinbar erträglichsten Form,
sondern fast ebenso sehr der koffeinhaltigen Getränke (Kaffee
und Tee) und des Tabaks für das kindlich jugendliche Alter
sollte nachgerade, nach allem was schon darüber von ärztlich-
hygienischer Seite geredet und geschrieben worden ist, jeder
vollständig im klaren sein; leider fehlt aber, wie die tägliche
Erfahrung lehrt, auch hier noch sehr viel an ausreichender
»Aufklärung« des Publikums, und es muß unverdrossen noch
weiter aufgeklärt und gewarnt werden.
Das gleiche wie für diese „Genußgifte“ gilt aber auch für
die Verwendung der sogenannten Würzstoffe und schließlich
für die heutigentags vielfach übertriebene Fleischdiät überhaupt;
es ist daher einer gewissen Einschränkung der allzu eiweiß-
reichen und üppigen Kost und speziell der überwiegenden
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 295
Fleischnahrung zugunsten einer mehr vegetabilischen Ernährungs-
weise im allgemein-hygienischen und namentlich gerade im
sexualhygienischen Interesse besonders bei den besser situierten
Klassen das Wort zu reden. — In der Kleidung ist jeder be-
engende und schädigende Zwang, jede Verwendung hautreibender
und reizender Stoffe nach Möglichkeit zu vermeiden. Das gilt
auch von der Nachtkleidung und von den Bettstücken, die ja
im Grunde nur eine erweiterte Nachtkleidung darstellen; Lassar
hat mit Recht die Forderung aufgestellt, daß der Körper während
der Nacht ganz und gar nur mit Leinen in Berührung kommen
dürfte. Der Schlaf muß ausreichend, dem wirklichen Bedürfnisse
entsprechend, aber nicht übertrieben lang sein, je nach Alters-
stufe und Individualität, also 10 bis 9, mindestens bis 8 Stunden;
von besonderer Wichtigkeit ist die Gewöhnung an regelmäßige
Einhaltung der Schlafzeit, an sofortiges Einschlafen, sowie an
regelmäßiges Erwachen und sofortiges Erheben. Sorgfältige
Hautpflege durch Luft- und Wasserbäder und häufige Wasch-
ungen, rationell von früh auf betriebene und zur Gewohnheit
gewordene Körperpflege überhaupt sind natürlich unerläßlich.
Die gar nicht hoch genug zu veranschlagende sittlich-hygienische
Bedeutung der Wohnungsfrage, namentlich in den wirtschaftlich
schwächeren Bevölkerungsklassen, ist in unserer Gesellschaft
gerade mit Rücksicht auf die heranwachsende Generation so
häufig und in so beredter Weise geschildert worden, daß ich
es mir wohl ersparen darf, oft Gesagtes an dieser Stelle noch-
mals zu wiederholen. — Aber der Kreis der dem Hause ob-
liegenden prophylaktischen Pflichten und Aufgaben ist damit
noch nicht geschlossen; er umfaßt, um nur zwei wichtige
Einzelpunkte hervorzuheben, insbesondere auch die Behütung
vor gefährlicher Lektüre, sowie vor den Gefahren und Ver-
lockungen öffentlich in den verschiedensten Formen zur Schau
stehender Unsittlichkeit, zumal im großstädtischen Verkehrs-
- leben. Der Lektüre ist, in positivem wie in negativem Sinn,
die ernsteste Beachtung zu schenken; gerade damit können
wir auf die Entwicklung eines sittlich gefesteten Sexualwillens
und auf die Verhütung krankhafter Abirrungen am nachhaltigsten
hinwirken. Bei Beurteilung der zu wählenden oder zu bevor-
zugenden Jugendlektüre werden wir im allgemeinen davon
ausgehen dürfen, daß sie imstande sein müsse, neue und im
besten Sinne bildende, ethisch und ästhetisch wertvolle Vor-
296 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
stellungselemente in den Kreis der schon vorhandenen ein-
zufügen — daß sie somit den Charakter der heranreifenden
Persönlichkeit zu entwickeln und zu vervollkommnen beitrage —
jedenfalls aber in dieser Hinsicht Gefährdendes und unmittelbar
Schädigendes nach Möglichkeit ausschließe. Innerhalb der so
grundsätzlich festzulegenden Grenzen wird sie immerhin der
Eigenart des Kindes, seinen besonderen Liebhabereien, Neig-
ungen, Fähigkeiten, Instinkten in weitestem Umfange gerecht
werden dürfen. Diese Anforderungen müssen für die Lektüre
bei beiden Geschlechtern in gleicher Weise maßgebend sein;
während bei der Knabenlektüre vielfach durch zu weitherzige,
leicht zur Zügellosigkeit ausartende Liberalität gefehlt wird, so
bei der Mädchenlektüre umgekehrt durch zu strenge Gebunden-
heit, durch die geflissentlich festgehaltene Enge des Gesichts-
kreises, durch die oft verweichlichende und verdummende, ein
völlig verzerrtes Bild der Wirklichkeit gebende Schilderung,
wie sie gerade die speziell für die „weibliche Jugend“ ge-
schriebenen Sachen und Sächelchen meist mit Vorliebe bieten.
Auch die Bekämpfung der aus den zahlreichen Schau-
stellungen öffentlicher Unsittlichkeit sich ergebenden Schwierig-
keiten ist für alle bei der Jugenderziehung beteiligten Faktoren,
namentlich unter Großstadtverhältnissen, eine nicht leicht zu
nehmende Sache. Ich will in der Ausmalung der heutigen
Großstadtgefahren nicht so viel Schwarz verbrauchen, wie vor
längerer Zeit ein von den Witzblättern vielfach mitgenommener
Redner des preußischen Abgeordnetenhauses, in dessen speziell
dem „Berliner Nachtleben“ geltenden Ausführungen aber doch
ein nur allzu berechtigter Kern keineswegs zu verkennen war.
In seiner diesen Ausführungen gewidmeten Replik hat der
damalige preußische Minister und jetzige Reichskanzler Herr
von Bethmann Hollweg u. a. in dankenswerter Weise auf
die Möglichkeit gesetzgeberischer Maßregeln hingewiesen nach
dem Muster der in Dänemark (besonders durch das Gesetz
vom 30. März 1906) geschaffenen, die sich dort auch gerade
im Interesse des Jugendschutzes als recht wirksam bewährt
zu haben scheinen. Das Beste und Wichtigste wird aber wohl
auch in dieser Beziehung vorbeugend im engeren Kreise des
Hauses, der Familie, geleistet werden müssen. Dabei werden
die entgegenstehenden Schwierigkeiten natürlich je nach Anlage
und Temperament der Kinder außerordentlich verschieden, bei
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 297
bestehender krankhafter Disposition und Belastung fast unüber-
windbar sein können. Sie erfahren u. a. eine besondere
Steigerung, wo es sich um das isolierte Aufwachsen einzelner
Kinder im Hause handelt, weil bei solchen Kindern, denen der
nivellierende Einfluß eines Geschwisterkreises fehlt, Charakter-
schäden und antisoziale Eigenschaften überhaupt leichter Wurzel
fassen und die in früher Jugend aufgenommenen Eindrücke
daher weit stärkere Bedeutung gewinnen, auch in sexueller
Hinsicht mehr bestimmend wirken. Einen ähnlichen relativen
Schutz, wie ihn somit das Aufwachsen und Erzogenwerden
innerhalb eines Geschwisterkreises bietet, scheint auch die
neuerdings so viel erörterte Ko@dukation, d.h die gemeinsame
schulmäßige Unterweisung und Ausbildung der beiden Ge-
schlechter, in gewissem Grade zu gewährleisten. Es sind mit
deren allgemeiner Durchführung bekanntlich seit mehr als
30 Jahren in den nordamerikanischen Unionstaaten im ganzen
recht günstige, wenn auch neuerdings nicht unbestrittene Er-
gebnisse erzielt worden, und nachahmende und nachprüfende
Versuche haben in England, in den skandinavischen Ländern,
in Holland, in der Schweiz zur Zufriedenheit stattgefunden.
Bescheidene Anfänge, wenigstens auf der untersten Stufe, liegen
ja auch in einem Teile unseres Schulwesens bereits vor. Es
scheint denn doch nach allen, selbst von den Gegnern der
„Koödukation“ nicht geleugneten Erfahrungen, daß dieses
System gemeinsamer Erziehung so wie nichts anderes imstande
ist, die gleichalterigen Angehörigen beider Geschlechter an-
einander, an gegenseitige Achtung und Duldung, an ein so
wünschenswertes freundschaftlich-kameradschaftliches Verhält-
nis im besten Sinne zu gewöhnen, und eben dadurch erotischen
Reizungen und Verirrungen kräftig entgegenzuwirken. Daß
andererseits aus psychologischen und pädagogischen Gründen
eine allgemeine Durchführung des Prinzips der Koödukation
bei uns zunächst auf manche Schwierigkeiten und Bedenken
stoßen würde, soll natürlich in keiner Weise verkannt werden.
Bei einer Erörterung der sexuellen. Diätetik können wir
unmöglich an der Onaniefrage, diesem alten Kreuz der Eltern,
Erzieher und Ärzte vorbeigehen — ebensowenig aber auch
diese Frage ihrem ganzen Umfange nach aufrollen. Uns
interessiert hier vorzugsweise die praktische Seite der Ver-
hütung dieser durch den Ausdruck genügend gekennzeichneten
298 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
»Jugendsünden« und ihrer mit Recht oder Unrecht befürchteten
körperlich und seelisch schädigenden Folgen. Den Begriff der
Onanie und die verschiedenen Arten und Formen ihrer Aus-
übung, sowie ihre Erkennung muß ich als bekannt voraus-
setzen, so wenig sie es im Grunde auch wirklich sind; denn
man trifft in dieser Beziehung oft eine ganz unvermutete und
überraschende Unkenntnis, keineswegs ‚bloß in Laienkreisen,
sondern nicht selten (speziell was die Onanie beim weiblichen
Geschlecht anbetrifft) selbst unter Ärzten. Wieviele Kinder
unter den heutigentags gegebenen Verhältnissen ganz von
onanistischen Versuchungen und Antrieben verschont bleiben,
entzieht sich unserer Feststellung; ein sehr großer Prozentsatz
dürfte es aber leider wohl schwerlich sein. Im allgemeinen
muß man unbedingt mit der Tatsache rechnen, daß die weit-
aus liberwiegende Mehrzahl der Kinder mindestens eine Zeit
lang dieser Versuchung anheimfällt; und zwar entwickelt sich
der Hang dazu in verschiedenen Altersstufen, zum Teil schon
außerordentlich früh und anscheinend ganz spontan, zum Teil
erst in den Jahren der Pubertätsgrenze oder noch später unter
dem Einflusse fremder Anleitungen und Beispiele, also auf dem
Wege psychischer Infektion, direkter Verführung und Nach-
ahmung. Eine solche muß natürlich ganz besonders in größeren
gemeinsamen Unterrichts- und Erziehungsanstalten, in Schulen
und Pensionaten wirksam werden, die sich daher in dieser
Beziehung — ich erinnere nur an die Kadettenanstalten und
Konvikte — als Brutstätten mutueller Onanie von jeher eines
besonders ungünstigen Rufes erfreuen. Gewiß in diesem Sinne
nicht mit Unrecht, nur darf eben nicht übersehen werden, daß,
wenn diese Anstalten auch naturgemäß einen hervorragend
günstigen Nährboden für Züchtung der Onanie abgeben, sie
diese doch nicht autochthon bei sich erzeugen, vielmehr immer
nur den schon irgendwoher von außen eingeschleppten Keim
durch Übertragung verbreiten. Also das Haus bleibt immerhin
doch die erste und ursprüngliche Pflanzstätte der Onanie, und
hier müssen die auf ihre Verhütung abzielenden Bestrebungeu
sich in erster Linie von Anfang an konzentrieren. Es soll
damit nicht gesagt sein, daß nicht auch die Schule zur Ver-
hütung des Eindringens und der Weiterverbreitung dieses
Pestkeimes manches tun könne. Was in dieser Beziehung
von der Schule gefordert werden kann, hat bekanntlich schon
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 299
vor einer Reihe von Jahren der verstorbene Breslauer Augen-
arzt und Schulhygieniker Hermann Cohn*) in seiner verdienst-
vollen Monographie dieses Gegenstandes zusammengefaßt, und
er ist in seinen als »Thesen« formulierten Wünschen und An-
forderungen sogar ziemlich weit gegangen, weiter als man
ihm vielleicht durchweg zu folgen vermag (wenn er z. B. die
Schüler unter dem ausdrücklichen Versprechen der Straflosig-
keit zur Anzeige mutueller Onanie angeregt wissen will).
Immerhin ist das, was seitens der Schule auf diesem Gebiete
füglich erwartet und geleistet werden kann, nur ein verhältnis-
mäßig kleiner Bruchteil der dem Hause und der Familie zu-
fallenden pädagogisch-hygienischen Aufgabe. Die Arbeit an
dieser Aufgabe ist freilich unendlich mühsam, stellt aber auch
lohnenden Ertrag in Aussicht. So schwer es bekanntlich ist
und so selten es gelingt, die schon zur eingewurzelten Gewohn-
heit gewordene Onanie ärztlich zu »heilen«, so viel läßt sich
doch in vorbeugender Hinsicht durch ernste, zielbewußte Sorg-
falt und durch unermüdliches Wachrufen der Einsicht und des
festen sittlichen Wollens neben entsprechenden hygienischen
Maßregeln in immerhin zahlreichen Fällen erreichen. Von
noch größerer Bedeutung erscheint mir aber ein anderes, immer
noch viel zu wenig gewürdigtes Moment — die Notwendigkeit
nämlich, bei Bekämpfung der Onanie von einer richtigen Er-
kennung und Abschätzung ihrer wirklichen Gefahren auszugehen,
nicht aber diese sich und anderen (in welcher Absicht oder wie
absichtslos es immer sei) chimärisch zu übertreiben! Man muß
leider bekennen, daß durch eine ganz unvernünftige, phantastische
Darstellung der vermeintlichen Onaniefolgen in Wort und Schrift
mindestens eben so viel, wenn nicht mehr Unheil angerichtet
wird als durch die Onanie selbst. Der Nervenarzt hat wohl
mehr als andere Gelegenheit, sich davon zu überzeugen. Es
vergeht kaum ein Tag, an dem nicht jüngere oder ältere Leute
zu mir kommen, halb wahnsinnig vor Angst, durch mehr oder
weniger weit zurückliegende „Jugendsünden“ ihr ganzes Leben
zerstört ‘und zerrüttet zu haben und unheilbarem Siechtum,
schwerster Rückenmarks- und Gehirnkrankheit schon verfallen
zu sein oder künftighin zu verfallen. Derartige Phantasmen
*) Hermann Cohn: Was kann die Schule gegen die Masturbation
der Schulkinder tun? Berlin 1894.
200 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
herrschten bekanntlich vor 60—70 Jahren noch in der ärztlichen
Welt, wie u. a. Lallemands seinerzeit berühmtes und vielüber-
setztes Buch „des pertes séminales involontaires“ genügend
beweist; die wissenschaftliche Diagnostik war damals noch nicht
weit genug fortgeschritten, um rein funktionelle Störungen der
Nerventätigkeit von schweren degenerativ-organischen Formen
der Gehirn- und Rückenmarkserkrankung, so wie wir es jetzt
tun, mit Sicherheit zu unterscheiden. Aber diese alten und ver-
alteten Vorstellungen spuken mit der Zählebigkeit, die so vielen
wissenschaftlichen und unwissenschaftlichen Irrtümern eigen zu
sein pflegt, in weiten Kreisen noch fort — und sie werden, was
sie besonders gefährlich macht, fortwährend auf das Schamloseste
und Raffinierteste industriell ausgebeutet, mit den Mitteln einer
pseudopopularisierenden Schundliteratur, die kaum auf einem
zweiten Gebiete so üppig und so verderblich emporwuchert.
Das wenig verhüllte Ziel dieser Bestrebungen ist, die armen
Opfer früherer „Jugendsünden“ durch die fürchterlichste, grellste
Ausmalung der davon für Körper und Seele zu gewärtigenden
Folgen erst in tiefste Verzweiflung zu stürzen, um sie dann für
eine, meist ganz absurde und zwecklose, stets aber mit be-
deutendem Aufwande von Geld und Zeit verbundene Scheinkur
unter den unsinnigsten Vorspiegelungen widerstandslos einzu-
fangen. Es genügt, als allbekannte literarische Musterbeispiele
die Namen Laurentius, Bernhardi, Retau und Damm hier fest-
zunageln. Demgegenüber erscheint vor allem eine unbefangene
Feststellung und Würdigung des wirklichen Sachverhaltes un-
umgänglich geboten. Und da muß man doch sagen, daß etwas
robuster angelegte Naturen die Nachwirkungen selbst lange
betriebener „Jugendsünden“ oft anscheinend fast spurlos über-
stehen — während in anderen Fällen allerdings nervöse und
„neurasthenische* Folgezustände von sehr verschiedener Art
und Schwere sich ausbilden, oder, wohl richtiger, bei schon
vorhandener Anlage durch den gewohnheitsmäßigen Onanie-
betrieb und die daran geknüpften Befürchtungen erst evident
werden. Was die Onanie im Gegensatz zur „normalen“ Ge-
schlechtsbefriedigung in der Tat so bedenklich erscheinen läßt,
ist ja wesentlich zweierlei; einmal der verfrühte Beginn und die
oft unmäßige Ausführung, infolge der fast schrankenlos sich
darbietenden Gelegenheit und entsprechend vermehrten An-
reizung zu Exzessen — sodann die, besonders mit gewissen
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 301
Betriebsformen der Auto-Onanie verbundene maßlose Erregung
der Phantasie, deren einseitiges Arbeiten und Hineindrängen in
erotische Bahnen, wodurch anderen Dingen, ernsthafteren Be-
schäftigungszielen vielfach der Boden entzogen wird. Ich möchte
dabei an den sehr charakteristischen, bei den Aufführungen
wegbleibenden Monolog des Hänschen Rielow in „Frühlings
Erwachen“ erinnern. Dazu gesellen sich dann weiter die
seelischen Verwüstungen, die — meist unter dem Einflusse der
eben geschilderten Literatur — durch quälende Selbstvorwürfe,
Reue und Gewissensnot herbeigeführt werden und sich bei
minder widerstandsfähigen Naturen bis zu hilfloser Angst, zu
schwer melancholischer Gemütsdepression steigern. Ein Unter-
schied im Verhalten der Geschlechter tritt dabei auffällig zutage.
Wenn Mädchen, die aller Wahrscheinlichkeit nach ebensoviel
und in mindestens eben so schlimmer Weise „sündigen“ wie
Knaben, dennoch unter den Folgen der Onanie anscheinend so
viel weniger zu leiden haben, so mag das wohl zum nicht ganz
geringen Teile darauf beruhen, daß man davon weniger Auf-
hebens macht, daß sie speziell Bücher der vorbeschriebenen
Art nicht so leicht in die Hände bekommen, die übrigens auch
kaum zu ihrer Benutzung, sondern für das männliche Geschlecht
fast ausschließlich geschrieben werden, und daß sie daher vor
den hieraus erwachsenden seelischen Erschütterungen in der
Regel bewahrt bleiben. Freilich gibt es auch darin Ausnahmen;
und daß bei Mädchen anderweitige, oft recht unerquickliche
Folgeerscheinungen auftreten, daß zumal während der Pubertät
das Seelenleben in recht bedenkliche, abschüssige Bahnen
gerissen werden kann, ist unbestreitbar und auch von mir bei
anderen Anlässen nachdrücklich hervorgehoben worden.
Bezüglich der männlichen Jugend dürfen und können wir
trotz noch so hoher Bewertung der nachteiligen Folgen onanisti-
scher Betätigung des Sexualtriebes füglich nicht außer acht
lassen, daß alle diese Dinge denn doch immer noch verhältnis-
mäßig leicht wiegen gegenüber den ungeheuren Gefahren der
Prostitution und der auf diesem Wege vorzugsweise vermittelten
Übertragung von Geschlechtskrankheiten, deren zunehmende
Häufigkeit ja uns hier als nationale und soziale Kalamität in
erster Reihe beschäftigt. Gedenken wir der hieraus für Individuen,
Staat und Gesellschaft erwachsenden furchtbaren Übel, so möchten
wir fast in Versuchung kommen, im Vergleiche damit die Onanie
302 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
als ein unter den Bedingungen des heutigen Kulturlebens un-
vermeidbares, notwendiges Übel, als ein freilich unerwünschtes
Schutzmittel und natürliches Ventil des in allzu starker Spannung
niedergehaltenen Triebes zu betrachten. Eine solche, schon
hier und da laut gewordene und wohl öfter noch stillschweigend
geteilte Auffassung kann freilich aus den dargelegten Gründen
nicht unsere Billigung finden; wir sind hier einstweilen noch
in der mißlichen Lage, den Kampf nach beiden Fronten hin
aufnehmen und durchführen zu müssen.
Zum Abschluß dieser notgedrungen in so viel Kleines und
Unerfreuliches, in die trüben Nachtseiten des Lebens aus-
laufenden Betrachtungen sei es mir vergönnt, auf einen freieren
und höheren, die Dinge etwas mehr sub specie aeterni er-
fassenden Standpunkt wenigstens hinzudeuten.
Durch das geistige Leben der Gegenwart geht — wie wir
das alle wohl schon oft und schmerzlich empfunden haben —
ein weitklaffender Riß, ein unlösbar scheinender Widerspruch,
unter dessen Schärfe und Härte vor allem die heranwachsende
Jugend. in ihren inneren und äußeren Entwicklungskämpfen
schwer zu leiden hat. Auf der einen Seite die alte, noch lange
nicht überwundene religiöse und poetisch-phantastische Welt-
anschauung mit ihren allmählich erbleichenden Kulturidealen,
womit die Jugend herkömmlich in einseitiger Weise aufgezogen
und geistig genährt wird. Auf der anderen Seite die in diesen
abgesperrten Erziehungsraum doch gleich der Luft unaufhaltsam
von allen Seiten zuströmende wissenschaftliche Erfassung der
Wirklichkeit, und die dem Wesen des modernen Geistes ent-
sprechende schrankenlose Entfesselung der Individualität, mit
ihren sich immer weiter ausbreitenden Folgewirkungen im staat-
lichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben, in Wissen
und Kunst, in Philosophie und Moral. Diese dem Anschein
nach unausgleichbaren Gegensätze hat wohl keiner tiefer erfaßt
und berufener geschildert als der Heidelberger Theologe Ernst
Troeltsch („Das Wesen des modernen Geistes“. Preußische
Jahrbücher, Band 81, Heft 1, April 1907). Aber dieser Wider-
spruch, mit dem wir Erwachsenen uns abfinden, in dem wir
uns irgendwie unsern Weg suchend zurechtfinden müssen —
dieser Widerspruch geht, wie Paulsen mit Recht sagt „vor
allem verwüstend durch das Herz unserer Jugend; er läßt sie
nicht zu festen Überzeugungen kommen, so daß die meisten
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 303
lange Zeit und viele ihr Leben lang an den Klippen nichtiger
Negationen hängen bleiben“. — Und in diesem trostlos öden,
hoffnungsleeren Zustande des versunkenen Glaubens und des
immer vergeblichen Ringens nach einem ausfüllenden und be-
friedigenden Ersatz gehen so viele Jugendseelen verloren, die
den Sirenenlockungen der Sinnlichkeit, den Verführungskünsten
eines mit frivolen Nichtigkeiten oder mit gefährlichen Lüsten
aufgeputzten selbstzerstörerischen Genußlebens zum Opfer fallen.
Hier vor allem werden noch auf lange hinaus die Hebel anzu-
setzen sein; hier werden die um Volks- und Jugendgesundung
ernstlich bekümmerten Mächte vereint Hand anlegen müssen,
um im Wirbel dieser sich wild durchkreuzenden und befehlenden
Kulturströmungen das noch Rettbare und Erhaltungsfähige
wenigstens zu retten und zu erhalten. Hier gilt es, soweit
unsere Epigonenkraft das vermag, diesen Widerspruch für die
Bedürfnisse der Jugenderziehung aufzuheben und in einer höheren
Einheit zusammenzufassen — jenes unverwelkbare klassische
Bildungsideal der Harmonie von Geist und Körper, von Pflicht
und frohem Genießen, von „Sinnenglück und Seelenfrieden“ in
einer der heutigen Welt erfaßbaren Gestalt neu herauf zu be-
schwören, oder doch als erreichbares schönes Zukunftsziel
nachwachsenden Generationen fern aufleuchten zu lassen.
PRÜDERIE.
Wi die Unbefangenheit geschwunden, wer Natürliches nicht natürlich
anschauen oder besprechen kann, der ist unfähig, in Dingen des
Geschlechtslebens zu urteilen. Nur die Prüderie ist es, die es seiner
Reinheit beraubt und ihm erst den pikanten Anschein gibt, den es — mit
dem Ernste betrachtet, den wir jeder großen Gabe der Natur schulden —
gar nicht hat, und den es sofort verliert, sobald man den wahren Charakter
jener Verhüllung erkannt hat. — Pflicht jedes sittlich rein denkenden
Menschen ist es daher, der Prüderie, dieser Säugamme der Unsittlichkeit
und all ihrer verheerenden Folgen, aufs schärfste entgegenzutreten und
ihr die wahre Reinheit gegenüberzustellen, deren häßliches Zerrbild sie ist.
BRUNO BEHEIM-SCHWARZBACH.
(Aus „Liebe und was drum und dran ist.*“)
© B
204 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
DER URSPRUNG DER PORNOGRAPHIE.
Von Dr. PAUL ZIMMERMANN.
ürde man irgend einen namhaften Kunstkritiker darnach
fragen, wo die Grenze zwischen ernster Kunst und por-
nographischen Darstellungen verläuft, so bekäme man zweifels-
ohne je nach der Parteizugehörigkeit des Betreffenden eine
grundverschiedene Antwort, die imstande wäre, das Problem
statt zu lösen nur noch weiter zu verwirren. Der bekannte
Berliner Zensor Dr. Brunner, dessen politische Gesinnung aller-
dings auch für seine Kunstauffassung maßgebend ist, hat sich
einmal bemüht, den Begriff der pornographischen und Schund-
literatur scharf zu umgrenzen. Aber es ist ihm ebensowenig
gelungen, wie etwa den Verteidigern des Hyan’schen Romans
»Die Verführten« oder allen denen, die gegen die jüngste Be-
schlagnahme zweier Bilder von Otto Greiner und W. Müller-
Schönefeld so lebhaften Protest erhoben haben. Die einen er-
blicken selbst in der realistischen Darstellung des Nackten, in
der öffentlichen Behandlung geschlechtlicher Probleme kein
anstößiges Moment — das sind die Klügeren, die erkannt
haben, daß ein Kunstwerk bei genauer Betrachtung un-
möglich von Geschlechtlichem völlig losgelöst werden kann.
Aber anderseits gibt es auch in jenen Kreisen, die gleich den
biederen Züricher Stadtvätern schon ein unbekleidetes Bübchen
für öffentliches Ärgernis gebend erachten, Kunstkritiker von
Rang, die in der Darstellung des Nackten ein Kunst und
öffentliche Kunstauffassung gefährdendes Moment erblicken
können. So schrieb kürzlich Carl Neumann, der berühmte
Heidelberger Kunsthistoriker, im Kunstwart: »Unsere Plastik
ist Darstellung des Nackten, so wollen es die Gesetze der
Antike, die die Akademie und eine überlebte Ästhetik galvani-
siert hat. »Das Nackte, Hauptaufgabe der Kunst!« Haben
wir nicht diese Trivialität vor der Reichstagstribüne aus verkünden
hören? Unsere nackte Plastik ist aber Arbeit nach abgerichteten
Modellen, denn ein natürlich Nacktes bietet das moderne Leben
nicht. Dieses moderne Leben zeigt nur die bekleidete Figur,
das Nackte ist Schulaufgabe, Drill, Mittel und nicht Selbstzweck.
Die Monumental-Aufgaben sind das Unglück unserer Plastik,
sie verderben ihr Gesundwerden und ihre Zukunft. Wohin wir
auf unsere Straßen und Plätze sehen, was da auf hohen Sockeln
"ELZ IPS SAPA Sp Uaiponun a" rain шәр пу
"цәцәийпуү ш ңәцуоўаАугу ләр ш уәцәч Uagngzeiatu gn) LUNA NITIA NON"
ALTES HOLLÄNDISCHES KANONENROHR BEI BATAVIA, das 'den ‚Weibern
Kindersegen bringt. (Nach Ploss-Bartels, Das Weib).
VOTIVKRÖTE AUS WACHS
(Salzburg).
Zu dem Aufsatz ‚Die Unfrucht-
barkeit des Weibes‘‘ Seite 273.
MENSCHLICHE HOLZFIGUREN, von un-
fruchtbaren Weibern auf dem Rücken getragen
(Sumatra).
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 305
sich streckt, es ist geliehene Kunst, Kunst einer fremden Formen-
sprache, die aus den ernsten Menschen die elendsten Probleme
macht. Man mag sich fragen, ob das nicht anfängt gemein-
gefährlich zu werden, diese Fälschung und Verbildung des
natürlichen Urteils, der gesunden Anschauung. Bestenfalls wird
man gleichgültig und verlernt es, sich aufzuregen, ob nun die
gesammelten Millionen für brüllende Löwen und halbnackte
Allegorien oder für mäßige Architekturen, an die sich die Plastik
nur eben annistet, verschwendet werden. Die Künstler, die
heute nur die Nacktsprache reden, und die Laien, die vielleicht
zum Teil aus hygienisch-reformerischen Rücksichten eine Nackt-
kultur fordern, fordern, weil sie eben nicht da ist und in der
modernen Welt außer in Bereichen, die mit Kunst schlechter-
dings nichts zu tun haben, nicht da sein kann, halten die Kunst
auf ausgefahrenen Geleisen fest, die von dem modernen Leben
weit weg führen«. Man sieht, selbst von der hohen Warte der
Universitätskanzel herab vermag ein staatlich angestellter Pro-
fessor der Kunstgeschichte viel Unsinn zu reden und eine be-
trübliche Mißachtung moderner Kunstbestrebungen aufzudecken.
Es ist selbstverständlich, daß eine Bewegung, die so viel
Liberales und Demokratisches an sich hat wie die nach neuen
Kunstidealen, in ultramontanen und konservativen Kreisen schon
aus politischen Gründen keinen Anklang finden wird. Es ist
genug, daß der liebenswürdige Herr Professor nicht noch von
der Verjudung der modernen Kunst gesprochen hat und die
Nacktkultur den Nachkommen Sem’s wie manches andere in
die Schuhe geschoben hat. Wenn irgend eine Kunstrichtung
oder eine Partei in künstlerischen Dingen mit Erfolg totgeschlagen
werden soll, dann ist es am leichtesten, wenn irgend ein Kunst-
historiker oder Universitätsprofessor die semitische Wurzel
darinnen nachweist. Man braucht aber weder Sozialdemokrat
noch Antisemit zu sein, um Dinge der Kunst mit objektiven
Augen zu betrachten und nach wie vor die Darstellung des
Nackten als ein wichtiges kunstästethisches Mittel zu betrachten.
Das geistige Eunuchentum, das bereits vor Zelluloidpuppen die
Augen verschließt, weil die Farbe an die nackte Menschenhaut
erinnert, und an den Kniehosen der bayerischen Gebirgsvereinler
Anstoß nimmt, weil ein Stück des nackten Fußes sichtbar wird,
hat letzten Endes vollständig recht, wenn es Giorgiones schla-
fende Venus oder Tizians Danaë als ein Werk der unzüchtigen
Geschlecht und Gesellschaft VII, 7. 20
306 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Kunst brandmarkt. Ist Erotik gleichbedeutend mit Pornographie,
dann waren die alten Meister, die leidenschaftdurchschütterten
Renaissancebildner, vollendete Pornographen. Wer demnach
künftig eine Venus darstellen will, die dem Schönheitskanon der
Dunkelmänner entsprechen soll, darf nicht vergessen, ihr ein
paar dicke, lederne Hosen anzuziehen.
Wollte man sich selbst ein Urteil darüber fällen, was künst-
lerisch und was pornographisch ist, so genügt es nicht, nach
den Motiven zu sehen, aus denen eine bildliche Darstellung
oder ein geschriebenes Wort geflossen sind, sondern maßgebend
allein sind die Mittel, mit denen der Effekt erzielt wird und die
vornehme, menschlich hochbedeutsame Idee, die sich verbild-
licht findet. Denn die Motive der ernstesten Kunst und der
Pornographie sind im Grunde genommen dieselben. Jede
plastische Darstellung, das Drama und die feinsinnige epische
Dichtung hängen mit dem Erotischen im Künstler auf das
innigste zusammen. Kunst ist immer ein Akt von Selbstdar-
stellung und dieser liegt eine erotische Empfindung zu Grunde.
Über den engen Zusammenhang zwischen schöpferischer Kraft
und erotischem Erleben orientieren uns die Art und Weise, wie
eine künstlerische Inspiration zu Stande kommt, sowie die
Form des Erlebnisses, das ein wuchtiges Kunstwerk im Be-
schauer zu hinterlassen vermag. Kunst ist ideale Exhibition,
die Künstler sind Autoerotiker und die kritischen Laien Feti-
schisten. Das ist in dürren, widerspruchsvollen Worten die
Lösung des ganzen, eminenten Problems, das seit Jahrtausenden
zur Diskussion steht. Die Antike und die Renaissance haben
diesen Grundsatz unverhüllt vertreten und den erotischen Ursprung
ihrer Kunst absolut nicht zu bemänteln versucht. Es ist ein
Bacchanal der Lebensfreude und des kraftvollen Sinnesgenusses,
was sich in den Werken dieser beiden, künstlerisch vielleicht
bedeutsamsten Epochen aller Zeiten ausspricht. Gleichwohl
liegt so viel Unschuld und Naivetät in der Anbetung des nackten,
menschlichen Körpers, ja selbst in der gröberen Verherrlichung
der Sexualität, die man bei den Mantegna, Aldengrever, Rem-
brandt, Giulio Romano u. a. wiederholt in den schönsten Plastiken
und Gemälden findet. Es ist typisch, daß diese gesunde Erotik
für uns Epigonen gleichbedeutend mit Pornographie ist, weil
wir sie mit unserer verkümmerten Ethik und unserer nüchternen,
ins Alltäglich-Kleinliche umgemünzten Weltanschauung nicht mehr
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 307
begreifen können. Für den Geist jener und unserer Zeit ist
es bezeichnend, wenn das Ministerium in Bayern dem Herrn
Joseph August Lux einen Auftrag für ein patriotisches Festspiel
erteilt und wiederum entzieht, weil es sich herausstellte, daß
der Betreffende früher einmal einen »Lola Montez-«Roman ver-
brochen hat. Die Päpste der Renaissance stellten Giganten und
Erotiker vom Schlage der Michel Angelo und Raphael in ihre
Dienste, und Kardinäle, wie der berühmte Bibiena (+ 1520)
verfaßten tolle, übermütige Lustspiele, die in den vatikanischen
Gemächern aufgeführt wurden. Es ist kaum anzunehmen, daß
in der Zeit, wo schon harmlose Dinge wie das »Korallen-
kettlin« das Gemüt des deutschen Zensors bedräuen, eine über-
mütige Farce wie z.B. die »Calandria« über die Bretter gehen
könnte. Auf dem Wege, den die neuzeitliche Kunst unter der
Herrschaft des Puritanertums und der konventionellen Lüge
beschritten hat, müßten wir eigentlich allerdings sehr bald bei
der nackten Pornographie landen, und die Entwickelung
des modernen Witzblattwesens zeigt, daß wir dieser Periode
des Niederganges tatsächlich nicht mehr allzu entfernt sind.
Aber wenn die Karikaturisten der illustrierten Wochenblätter
immer mehr die bekleidete Unzüchtigkeit pflegen und der
gemeinen Spekulation auf die animalischen Instinkte Raum
geben, so sind nur jene Kreise daran schuld, die bei einer
noch so harmlosen Darstellung des Nackten ein zeterndes Ge-
schrei zu erheben pflegen; denn dadurch kennzeichnet sich die
reine Pornographie, daß sie eine Verzerrung des erotischen Ur-
elements in der Kunst darstellt, und zu einer Kunst wird, die nicht
mehr den gesunden, erotischen Überschwang und ideale Sinnlich-
keit, sondern ein anormales, tierisches Triebleben symbolisiert.
Die medizinisch-psychiatrische Forschung der Neuzeit hat
nachgewiesen, daß die Wurzel der Pornographie im Sadismus
zu suchen sei und daß der Pornograph auf eine gewaltsame
Aufpeitschung der Geschlechtslust beim Leser oder Beschauer
abziele. Meines Erachtens spielt hier nicht nur allein der
Sadismus eine wichtige Rolle, sondern es verschmilzt eine
Reihe perverser Triebe zu einem einheitlichen Akkord. Zu-
mindest scheinen der pollutionistische Trieb und ein maso-
chistisches Empfinden ebenso stark wie die sadistische Anlage
ausgeprägt zu sein. In der obscönen Bilder-Fabrikation, wie
sie namentlich von Paris herüberflutet, finde ich dieselben
20*
308 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Motive tätig, die beispielsweise gewisse intellektual tiefstehende
Elemente veranlassen, die Wände der öffentlichen Bedürfnis-
anstalten zu beschreiben, bezw. Briefe schmutzigen Inhalts an
Personen der Gesellschaft abzusenden. Auch der Pollutionist
zielt auf die geschlechtliche Aufregung der nach ihm die öffent-
lichen Orte betretenden Personen ab, aber gleichzeitig bietet
ihm die Beschäftigung mit dem Schmutz die zur Befriedigung
seines Trieblebens nötigen Aequivalente.e Noch häufiger ist
eine masochistische Anlage bei den Pornographen nachweis-
bar, die sich in schwereren Fällen auch mit sonstigen ver-
brecherischen Instinkten verbinden kann, sodaß die Minder-
wertigkeit des betreffenden Individuums sofort erkenntlich ist.
Gerade bei dieser Gruppe von Pornographen halte ich die
Produktion des Schmutzes in Wort und Bild für ungemein
charakteristisch und für eine Handlung, durch die sich andere
gewaltsame Vergehen wider das Strafgesetz kompensieren. Es
ist dasselbe, was ich in meinem Aufsatz über Masturbation und
Verbrechen ausgeführt habe. Die angeborene verbrecherische
Anlage schützt sich durch diese Art geistiger Selbstbefleckung
vor sich. selbst und gelangt dennoch zur vollen Befriedigung.
Der Pornograph kostet in den seitenlangen Schilderungen
schmutzigster Situationen ein Gefühl von extremer Demütigung
und Selbsterniedrigung, verbunden mit dem eines vollendeten
erotischen Erlebnisses aus. Ich stehe nicht auf dem Stand-
punkt, daß dasjenige, was den Pornographen reizt, in erster Linie
die sexuelle Wirkung auf seine Umgebung ist, sondern es ist
vielmehr die Befriedigung der eigenen, masochistischen, bezw.
autoerotischen Triebrichtung. Eine Analogie dazu finde ich
in der Praxis der studentischen Jugend, die mit Vorliebe sich
zeichnerisch und textlich auf dem Gebiete der Pornographie
betätigt. Diese pornographischen Produkte der Sechzehn- und
Siebzehnjährigen sind nichts anderes als erotische Fantasieen,
wodurch die in der Pubertät stehenden Knaben ihren erotischen
Gelüsten die Zügel schießen lassen, also eine larvierte, psychische
Onanie. Der Grundcharakter jeder Onanie aber ist, schon mit
Rücksicht auf die sie begleitenden Umstände von Ekel, Scham,
Reue und physischem Unbehagen, ein masochistischer. Ein
siebzehnjähriger Untersekundaner schrieb vollendete porno-
graphische Verse, in denen sich eine ganz ungeheuerliche, zügel-
lose Fantasie bekundete. Die Verse trug er mit sich herum
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 309
und las sie immer und immer wieder von neuem, um sich
selbst an ihnen aufzuregen. Selbstverständlich las mitunter die
ganze Klasse mit und die Pamphlete wanderten sehr bald von
Hand zu Hand. Aus meiner Gymnasiastenzeit erinnere ich
mich an 2 Klassendichter, die massenhaft solchen Schund
fabrizierten und auch im Inland bei gewissen Blättern von
Zeit zu Zeit absetzten. Es ist typisch, daß beide Jungen neben-
bei auch exessive Onanisten waren und die Gedichte schrieben,
um uns anderen die Ueberzeugung von ihrem sexuellen
Athletentum aufzudrängen. Und da kommt der dritte Punkt
hinzu, der mir sowohl für den berufsmäßigen Pornographen als
auch für den Künstler, der sich mit gemeinen, obscönen Motiven
abgibt, maßgebend zu sein scheint. Es steckt viel von sexu-
eller Renommiererei in diesen Zeichnungen, Gedichten und
Erzählungen, die sich mit platten Verherrlichungen der Venus
vulgivaga abgeben. Der normale Gedankengang des Porno-
graphen ist der: Den Leuten gelangt mein Blatt oder meine
Zeichnung in die Hände, sie sehen die Gewagtheit des Vor-
wurfs und werden denken „Was ist das für ein Kerl, der solche
Sachen macht, was alles muß der Mann erlebt haben, wie
genußfähig muß er sein!“ Ein Künstler, der in seinem Kreise
allgemein als sehr genußsüchtig und als Lebemann galt, malte
im Kaffeehaus und bei jeder Gelegenheit obscöne Karikaturen
auf die Marmortische. Etwas von dieser sexuellen Renommiererei
steckt auch in der Literatur der modernen Sataniker und Deka-
denten, die ja bekanntlich mit Vorliebe Motive wählen, die auf
der Schneide zwischen wahrer Kunst und Pornographie balan-
zieren. Sexuelle Renommiererei steckt in vielen Produkten der
galanten Epochen, in den Gedichten der ersten Schlesier, der
verskundigen Hofdichter des 17. und 18. Jahrhunderts und in den
Bildern der galanten Maler, mit denen französische und deutsche
Fürsten ihre Privatgemächer schmückten. Von den Logau,
Hoffmannswaldau, Besser, König und wie sie alle hießen, weiß
man, daß sie in Wirklichkeit recht ehrbare, zopfige Philister
waren, die mit den Ausschweifungen, die sie in ihren Liedern
besangen, auch nicht das geringste zu tun hatten. Die sexuelle
Renommiererei ist im Grunde genommen nur die Bekundung
einer psychischen und teilweise auch physischen Im-
potenz und wird um so krasser, je mehr sich die Kurve der
Geschlechtsempfindung herabneigt und unter den Nullpunkt zu
210 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
verlaufen droht. Dieser Umstand trägt vielleicht zu der Er-
klärung bei, warum die Pornographie ihre treuesten Anhänger
in Kreisen Jugendlicher oder ganz alter Personen findet, und
warum der ganze Sturm, der gegen ernste Werke der bilden-
den und Schriftkunst gelaufen wird, vielfach von senilen oder
zu einer unfreiwilligen Geschlechtsabstinenz verdammten Per-
sonen vertreten wird.
Echte Pornographie unterscheidet sich ferner von wahrer
Kunst durch die grobe, jeglicher ästhetischen Qualitäten ent-
behrende Technik und durch den Mangel einer tieferen,
Menschlichkeiten wägenden Idee. Ich sprach schon davon,
daß die Künstler der Renaissance die gewagtesten Probleme
mit einer Großartigkeit behandeln, daß neben dem Staunen
über die hier bis in die Details verschwendete Kunst ein
direkt unlauteres Gefühl nicht aufzukommen vermag. Auch
moderne Künstler haben erotische Probleme, die zu den
intimsten gehören, mit großer Kunst und Genialität behandelt.
Ich erinnere nur an Felicien Rops’ »Calvaire«, seine Illustrationen
aus »Les Sataniques«, Aubrey Beardsley’s Illustrationen zur
Lysistrata, Otto Greiners Zyklus »Vom Weibe«, sowie seine
überwältigende Zeichnung »Der Mörser«, die Zeichnungen
der Berneis, Kubin, Klinger, Willy Geiger usf. Es ist selbst-
verständlich, daß solche Werke nicht der Allgemeinheit zu-
gänglich gemacht werden können, da sie eine gewisse Reife
des Intellekts und der Empfindung voraussetzen. In allen diesen
Werken sind ideenreiche Karikaturen auf das Geschlechts- und
Kulturleben der vorhandenen Menschheit enthalten. Mit un-
heimlicher Virtuosität werden hier die Abgründe der mensch-
lichen Seele und das darin brodelnde Durcheinander aufgedeckt.
Solche Werke haben nichts zu tun mit den Erzeugnissen
der Kolportage-Literatur, der Filmdramatik und der Bordell-
bilderkunst, in denen sich die ganze pornographische Produktion
erschöpft. Pornographisch im engsten Sinne des Wortes ist
auch das gewagteste Erzeugnis irgendeines wirklich genialen
Künstlers nie gewesen. Selbst in den berühmten Bildern des
berüchtigten Giulio Romano, die als Illustrationen zu den woll-
lüstigen Sonetten des Aretino gedacht waren, in der Literatur
eines Boccaccio und Casanova findet sich so viel Kunst, daß
der pornographische Nebencharakter dieser Blätter vollständig
verloren geht. Daß es sich hier um hochstehende und geistig
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 311
übernormal entwickelte Männer handelt, beweisen die vielen
Interessen, denen die Genannten neben ihren erotischen Pro-
duktionen dienten. Ich hatte diesen Sommer Gelegenheit, den
gesamten handschriftlichen Nachlaß von Casanova bei Herrn
Bernhard Marr in Dux einsehen zu dürfen, und es ist einfach
staunenswert, überwältigend, womit sich dieser glatte Hofmann
beschäftigt hat. Die schwierigsten Probleme aller Zeiten auf
dem Gebiete der Mathematik, Philosophie und Naturwissen-
schaften sind hier angeschnitten und für jedes wird eine eigen-
willige, interessante Lösung versucht. Aus dem noch un-
erschöpften Material dieses Nachlasses könnte ein Dutzend
nachgeborener Dichter schöpfen und ein jeder von ihnen
würde gleichwohl zu internationaler Berühmtheit gelangen.
Allerdings hat es ja auch Skribenten gegeben, die eine
Zeit lang Anspruch auf Öffentliche Beachtung erhoben haben
und dank der Reklame, die von politischen Parteien für sie
getrieben wurde, auch die längste Zeit für vollwertig erachtet
wurden. Der krasseste Fall dieser Richtung ist wohl der des
Jugendschriftstellers Karl May, über den eine vom Staatsanwalt
verbotene Monographie aus der Feder des gelben Arbeiter-'
führers Rudolf Lebius existiert. Diese Broschüre ist ein
Dokument von ernster, auch nach der sexuell-psychologischen
Seite hin interessanter Bedeutung. Auf Karl May, der zu
gleicher Zeit pornographische Romane, wie »Die Liebe des
Ulanen«, »Waldröslein« u. a, und eine Reihe widerlicher, von
frömmelnder Tendenz getragener Jugendschriften verfaßte, paßt
genau die Definition, die ich für den masochistisch veranlagten
Pornographen gegeben habe. Bei May äußert sich neben der
masochistischen Triebrichtung noch ein auffallend stark aus-
geprägter Hang zum Mystizismus, der im übrigen bei einer
großen Anzahl geborener Verbrecher merkwürdig häufig ge-
funden wird. Über die Verquickung von Mystik und Erotik
einerseits und Mystik und Verbrechen andererseits ist an dieser
Stelle wiederholt gehandelt worden. Kürzlich erst in einem
Aufsatz »Künstler und Prostituierte«, in dem vom Verfasser
auf die häufig zu beobachtende Frömmigkeit bei notorischen
Prostituierten hingewiesen wurde. Für das Kapitel Mystik und
Verbrechen scheint mir May eines der interessantesten Objekte
abzugeben und es würde sich gewiß noch lohnen, seine Bio-
graphie nach dieser Seite hin genauer durchzuforschen. Daß
312 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
im übrigen May eine stark masochistisch veranlagte Persönlich-
keit war, erklärt auch den ungeheuren Einfluß, den seine
zweite Frau und ehemalige Wirtschafterin, Emma Pollmer, auf
ihn übte. Seine pornographischen Erzählungen waren Be-
kundungen derselben Triebverirrung, die ihn in anderen Fällen
zum Diebstahl, zum Betrug und zu dem romantischen Räuber-
leben verleitete, das durch das Zuchthaus vorübergehend unter-
brochen wurde. Die gleiche Tendenz macht sich auch in
seinen späteren Reiseromanen bemerkbar, nur daß der porno-
graphische Charakter diesmal maskiert auftritt und die Wenigsten
unter der May’schen Kraftgenialität die erotische Anomalie wittern.
Ich möchte zum Schluß noch auf den Umstand hinweisen,
daß die Pornographie weit häufiger dort zu suchen ist, wo sie
am wenigsten vermutet wird, nämlich in den Produkten einer
überspannten patriotischen oder politischen Literatur, die his-
torische Ereignisse und solche politischer Natur zu demagogischen
Zwecken ausnutzt. In der Revolutionierung der Massen, sei
es im staatsfördernden oder staats-feindlichen Sinne, machen
sich immer versteckte erotische Gelüste breit, und je skrupel-
loser eine solche Literatur vorgeht, desto größer sind die Ge-
fahren. Derartigen Schriften, die sich absolut nicht immer mit
sexuellen Problemen beschäftigen müssen, liegen gleichwohl
ausgesprochene sexuelle Motive zu Grunde. Denn daß in der
Absicht, Einfluß zu üben durch brutales Eingreifen in das In-
stinktleben des Einzelnen, in der Verhöhnung politischer Gegen-
parteien, in der Entwürdigung eines vielleicht ebenso berech-
tigten Ideals Andermanns — immer vorausgesetzt, daß diese
Art des Kampfes über die normale Grenze hinausgeht — ver-
brecherische und erotische Gelüste nach der gleichen fraglichen
Befriedigung suchen, wie in der nackten, grobschlächtigen Porno-
graphie, liegt unzweideutig zu Tage.
Kä E
EI
DIE BEMÄKELUNG DER GESCHLECHTSLUST.
Von JOHANNES GUTTZEIT.
$ lächerlich auch manchem die Frage erscheinen mag, ob
die mit der Geschlechtstätigkeit verbundene Lust an und
für sich einen Makel enthalte, so ist es doch keineswegs über-
flüssig, sie aufzuwerfen. Denn würde die Verneinung dieser
Frage allgemein als selbstverständlich betrachtet, dann wäre
die häufig gehörte Mahnung unverständlich, daß die Geschiechts-
tätigkeit nur zum Zwecke der Fortpflanzung ausgeübt werden
dürfe, Dieser allein gestattete Zweck muß in den Augen derer,
die sie mit einem Makel belegen, ihre Ausübung wohl oder
übel rechtfertigen — bis auf die ganz Folgerechten, welche
(mit Tolstoi) lieber die Menschheit aussterben lassen als die
verhaßte Geschlechtstätigkeit fortgesetzt sehen wollen.
Worin liegt nun der Grund, warum außerhalb des Fort-
pflanzungszweckes die Ausübung des Geschlechtstriebes, soweit
ein gesundheitlicher Nachteil sich nicht nachweisen läßt, dennoch
vielfach gemißbilligt wird? Mit dem gesundheitlichen Nach-
teil meine ich einen solchen gleichviel auf welcher der beiden
Seiten, womit auch ein sehr großer Teil der »Prostitution« be-
zeichnet ist. Woher also käme der Makel, wenn dieser Nachteil
wegfällt?
Wäre die Geschlechtstätigkeit nicht mit einer besonderen
Lust verknüpft, so würde es gewiß Niemandem einfallen, ihr
diesen Makel beizulegen.
Im Berliner Museum, in dem Gange, der das alte mit dem
neuen verbindet, findest du den Kopf eines Mannes, der dir
mit seinen strengen, mißgünstigen Zügen, seiner schmalen Stirn
und Nase, gleichsam sich selbst zusammenkneifend, als der-
jenige eines Büßermönches erscheint. Es ist Zeno, der Be-
gründer der stoischen Schule, deren strenger, der Natur ent-
gegentretender Geist dann unter anderen Namen durch Paulus,
Augustin und — um die vielen sonstigen Vertreter zu übergehen —
auch namentlich durch Kant weiter gepflegt worden ist. Sie
hat Großes geleistet, diese Beherrschung der Natur. Allein
314 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Beherrschung ist nicht ohne Abtötung möglich. Darum werden
durch die Beherrschung, in je strengerem Sinne sie dies ist,
um so mehr Kräfte des Beherrschten an ihrer freien, natur-
gemäßen Wirksamkeit gehindert. Und da sich in der Natur
keine Kräfte — so wenig wie Stoffe — vernichten lassen, so
läuft die »Beherrschung« darauf hinaus, daß die vorhandenen
Kräfte aus der gesunden und im Ganzen genommen nützlichsten
Bahn in eine krankhafte gezwängt werden, die zwar mitunter
einesteils nützlich, immer jedoch mehrenteils schädlich sein wird.
Das ist der Irrweg Zeno’s und seiner geistigen Nachfahren.
Nicht weit von dem seinigen findest du einen anderen Kopf.
Da ist ein in sich selbst ruhendes Wesen, ein Mensch, der
mit seiner ganzen Natur, keinen Trieb ausgeschlossen, im Ein-
klange steht. Er atmet gesundes Wohlbehagen, das auf Andere,
die ebensowenig wie er mißgünstig sind, wohltuend wirken muß.
Es ist Epikur, den man wohl mit Unrecht durch die Bedeutung,
die man dem Worte Epikuräer beilegte, zum Genießlinge
stempelte. Sein Lebensalter von über siebzig Jahren spricht
ebenfalls gegen eine solche Darstellung seiner Lehre; denn wer
sie so darstellt, der scheint einen Lebensgenuß, der sich auf
weises Maßhalten gründet und schon hierdurch ein mehr ver-
geistigter ist, beinah’ für unmöglich zu halten. Nein, das dem
Selbstpeiniger gegenüberstehende Extrem des grobsinnlichen
GenießBlings vertritt Epikur nicht, sondern zwischen beiden die
natürliche Mitte. Aber wenn auch Plutarch, der ihm an mehreren
Stellen jenen Charakter beilegen möchte, darin Recht hätte, was
liegt daran? Zufällige Geschichtswahrheiten können, wie Lessing
bemerkt, niemals den Beweis notwendiger Vernunftwahrheiten
abgeben. Genug, daß es zwischen dem Selbstpeiniger, der
gewisse zur Lust führende Triebe im Menschen unterdrücken
will, und dem Genießlinge, der sie aus einem krankhaften Hange
nach Lust möglichst ausbeuten will, einen Mittelstandpunkt gibt
und daß dieser der im höheren Sinne gesündeste und menschen-
würdigste ist.
Wenn selbst dieser Standpunkt von den Vertretern der
erstbezeichneten Schule als genußsüchtig gebrandmarkt wird,
so hat das einen leicht ersichtlichen Grund. Denn diese müssen,
um den Ausfall, den sie sich selbst verursachen, zu decken, sich
eine konventionelle Ehre sichern, eine Ehre, die denen aberkannt
wird, welche sich der Lust eingestandenermaßen hingeben.
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 315
So ist die Lust, die heilige Lust in Verruf gekommen, und
wer sich in einer von jener Lustbemäkelung angekränkelten
Gesellschaft der Lust überläßt, der glaubt das verbergen, ver-
leugnen oder sich als leichtfertig vorkommen zu sollen. Viele
tadeln sich darum noch keineswegs, aber sie haben doch das
Gefühl, als täten sie Unrecht. Ihr Gewissen ist verfälscht, sie
haben die Grenzlinie zwischen Recht und Unrecht, zwischen
Unschuld und Sünde verschieben lassen: denn während diese
dort gesehen werden sollte, wo die Vergeudung der Kraft, die
Schädigung seiner selbst oder Andrer beginnt, wird sie nun
dort gesehen, wo die Lust beginnt, wenn sich dies nicht etwa
durch einen Zweck wie »Sorge um den Fortbestand der Gattung«
entschuldigen läßt!
Daß aber die Natur die Lust an sich will, geht schon aus
der Notwendigkeit von Reizen zur Erhaltung unseres Daseins
hervor, z. B. der Gaumenreize, um die Speicheldrüsen zur Her-
gabe des für die Verdauung erforderlichen Speichels zu ver-
anlassen. Und wer nicht die Kultur in Pausch und Bogen für
unberechtigt erklären will, der wird ihr das Recht nicht ver-
sagen dürfen, hinsichtlich der Reize die Natur zu verfeinern.
Nur die Irrtümer und Unsitten gilt es zu beseitigen, wo-
durch die Menschen und Völker unglücklich, schwach, krank
und einem verfrühten Untergange entgegengetrieben werden.
Aber der wahre, reine, unschädliche Lebensgenuß .wird nur von
einer Genußunfähigkeit bekämpft, welche durch Übermaß ent-
standen und nun mißgünstig ist. Und am liebsten geschieht
die Bekämpfung unter der Maske der Frömmigkeit.
Hier spielt uns nun die von der Kirche so lange gepflegte
stoisch-mönchische Auffassung, wonach die Lust nicht an sich,
sondern allein als unumgängliches Mittel zur »Pflicht-Erfüllung«
Berechtigung hat, einen Streich, indem sie uns den Blick zur
Erkennung der einfachsten Natur-Erscheinungen trüben will.
Es ist eine Auffassung, die sich nicht ohne Selbstbetrug und
Heuchelei aufrecht erhalten läßt.
Oder wäre sonst wirklich die Fortpflanzung, d. h. die
Schaffung immer neuer Formen des Lebens, in denen die unsre
sich fortsetzen soll, der einzige vernünftige Zweck eines so
häufig hervortretenden Triebes? Was hätte denn die beständige
Schaffung neuer Formen des Lebens für einen Zweck, wenn
der Inhalt des Lebens nicht einen entschiedenen Wert hätte?
316 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Diesen Wert gibt ihm aber schließlich doch nur die Lust. Daß
die Lust an sich in Verruf gekommen — es begann schon mit
Manu, das Griechentum war eine Oase in dieser Wüste — daß
die Lust in Verruf gekommen, ist nur ein Beweis für den ein-
gerissenen Hang zum Übermaße. Aber es bleibt doch wahr,
daß das Dasein, gemäß dem jedem Geschöpf in andrer Gestalt
zur Leitung mitgegebenen Gesetzen, eine Lust ist, und insofern
man überhaupt in der Natur Zwecke annehmen darf, muß diese
Lust als Zweck des Daseins betrachtet werden.
Die Lehre von der Fortpflanzung als dem alleinigen Zwecke
der Geschlechtslust hat zur Voraussetzung die Annahme, daß
zur Fortpflanzung die Teilung in Geschlechter und der Ge-
schlechtsverkehr zwischen den beiden notwendig sei. Daß
diese Notwendigkeit jedoch nicht besteht, zeigt die Natur in
verschiedenen Tier- und Pflanzenarten, wo Fortpflanzung ohne
jede Art von Zeugung, durch »Parthenogenesis« erfolg. Zum
Zwecke der Fortpflanzung braucht also eine Spaltung in zwei
Geschlechter keineswegs zu erfolgen. Der Zweck einer Er-
höhung der Daseinslust hat mehr für sich. Sind beide Zwecke
anzunehmen, so doch, aus beregtem Grunde, der letztgenannte
als der vorwiegende. Und zwar könnte er in dem Verhältnisse
vorwiegen, wie der vor der Fortpflanzung unmittelbar be-
anspruchte Teil der Geschlechtskraft überwogen wird durch den
Rest, den sie nicht beansprucht und der, wenn er ihr dennoch
(unmittelbar) gewidmet wird, zur »Übervölkerung« führen müßte.
Die naturwidrige Teilungssucht trat noch der (durch Hang
zum Unmaß erklärten) Lustbemäkelung hinzu und verschuldete,
daß der Geschlechtstrieb abgesondert von den übrigen Trieben
des Lebewesens, und so insbesondere des Menschen beurteilt
wurde. Man hat es so dargestellt, als ruhe er für gewöhnlich
ganz und trete nur zu Zeiten, bei besonderen äußeren Eindrücken
und auch wohl inneren Zuständen, mit Macht hervor, wo ihm
dann, je nach der Sitte, entweder willfahrt oder widerstanden
werden müsse. Aber man übersah völlig, daß er in der hierbei
ins Auge gefaßten Form nur eine Steigerung der gegenseitigen
Anziehung bedeutet, welche die körperliche Unterlage der Ge-
selligkeit ganz allgemein ist. Und so kann er als Potenzierung
einer Kraft angesehen werden, die, sei es in ihrer Latenz (als
Energie), sei es in unmittelbarer Wirkung, der Geselligkeit oder
wohl genauer der Verbindung der Seelen dient.
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 317
Ja, das ist sein hoher natur- und kulturgemäßer Zweck, wie
es derjenige aller Lust und alles Verlangens nach Lust ist. Denn
freilich gibt es zwei Arten von Lust — und hier trennen sich
die Wege des mit seinen Empfindungen über die engen
Schranken des Einzelwesens Hinausgehenden und des Selb-
süchtlings, der nur nehmen, aber nicht geben möchte, der nur
gibt, um, wie er meint, desto mehr für sich allein zu erraffen.
Hier handelt sich’s nicht um den Unterschied zwischen roher
Natur und edler Kultur, sondern zwischen dem Edeln (in Natur
und Kultur) und dem Gemeinen, Selbstsüchtigen. Der edlere
Mensch, wenn er sich herzlich über etwas freut, wünscht diese
Freude mit seinen Lieben zu teilen. Hat er sie nicht um sich,
so zieht er sie im Geiste heran, und steht er vereinsamt, so
zieht er gleichfühlende Geister an; denn im Charakter seiner
Freude liegt das Gefühl der Gemeinsamkeit, ja mehr, die
zeugende Verbindung mit einem Zweiten zur Hervorbringung
eines Dritten, das aber keineswegs körperlich zu sein braucht.
(Vgl. meine »Unsterblichkeit auf Erden.« 2. Aufl., S. 18 f.). Der
Selbstsüchtling dagegen will nur für sich genießen; geteilte Freude
ist ihm nicht doppelte, sondern verminderte Freude, und wenn
er auch, um seine Freude gespiegelt zu sehen, im Augenblick
Mitgenießer heranzieht, sein Anteil geht nicht tief, ist nicht an-
dauernd. Die Selbstsucht aber beherrscht unsere Gesellschaft
in ihren wirtschaftlichen, staatlichen, ehelichen Verhältnissen.
Hier liegt der andauernde, nicht wegzutäuschende Mißklang
zwischen dem natürlichen Menschenadel, auf den sich auch
eine wahre Kultur zu stützen hat, und unserer Scheinkultur, bei
welcher der erkünstelte Schein des Edlen jederzeit und überall
von der herkömmlich gezüchteten Selbstsucht niedergerissen
zu werden droht. |
318 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
DIE ÄSTHETIK DES BRAUTGEMACHS.
Von ALFRED SCHLEYER.
Е verlohnt es sich nicht, zu diesem Thema, das so-
wohl vom kulturhistorischen als auch sexuell-ästhetischen
Standpunkt aus wiederholt besprochen wurde, neue Gedanken
zu äußern. Das Brautgemach ist genau so wie die Hochzeits-
reise etwas, was in die intimste Sphäre der Persönlichkeit
hineingehört und zu dem ein jeder nach seinem Gutdünken
verschiedene Stellung nimmt. Die einen verwerfen die alther-
gebrachte Form der Eheschließung mit Hochzeitsreise und der
geheimnisvollen Feierlichkeit des ersten Beilagers, die anderen
möchten das erstere nicht missen und können das letztere
nicht lassen. So lange im übrigen Eheschließung und Hoch-
zeitsfeierlichkeiten von der Tradition beherrscht sind, wird ein
junger Bund immer von dem derben, philiströsen Polterabend,
dem unästhetischen und auch unhygienischen Hochzeitsschmaus
begleitet sein und mit der unökonomischen und überflüssigen
Hochzeitsreise abgeschlossen werden. Von einer Ästhetik des
Brautgemachs kann man unter solchen Umständen nicht sprechen,
es wäre denn, unsere im Zeitalter des Dampfes und des
nervösen Vorwärtsstürmens lebende Jugend zöge die Braut-
nacht im dahinratternden Eisenbahnzuge oder in dem übel
berüchtigten Zweibettenzimmer irgend eines Hotels dem innigen,
poetischen Beisammensein im selbstgeschmückten und ge-
schaffenen Heim vor. Wenn Dr. Gustav Adolf Müller in seiner
kritisch-ästhetischen Schrift »Über Liebe, Ehe und Schlaf-
gemach«*) auf dem Wege des vorgeschilderten Gedankenganges
schließlich auch zu den gleichen Resultaten wie oben gelangt,
so ist entschieden nichts dagegen einzuwenden. Gewiß leidet
die Poesie des Brautgemachs ganz erheblich unter der Emp-
findung des »auf dem Wege Seins«, deren sich junge Hoch-
zeitsreisende niemals werden entschlagen können, und der
ersten Hingabe des Weibes an den Mann in irgend einem
Absteigequartier wird immer etwas vom »Verhältnis« oder gar
von »erwerbsmäßig erkaufter Liebe« anhaften. Im Übrigen
jedoch identifizieren wir uns garnicht mit den Ausführungen
*) Liebe — Ehe — Schlafgemach. Sexualästhetische Gedanken und Rat-
schläge von Dr. Gust. Ad. Müller. Verlag Dr. Basch u. Co., G. m. b. H.,
Berlin.
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 319
Müllers, der nach schönem, altgeübtem Brauch für die Ästhetik
der Hochzeitsreise und des Brautgemachs die geschlechtliche
Unberührtheit der jungen Frau als selbstverständlich voraus-
setzt. Also, die Brautleute müssen vollständig keusch in den
Stand der Ehe treten, um Anspruch auf ein ideales, ästhetisch
einwandfreies Brautgemach zu haben. Dem gegenüber muß
doch gesagt werden, daß nach unserem Ermessen das Braut-
gemach nicht nur allein einen konkreten Raum, sondern auch
einen abstrakten Begriff umfaßt. Die Ästhetik des Brautgemachs
besteht darin, daß sich zwei Menschen zur gegenseitigen Hin-
gabe an einander zusammen finden, deren Seelen vollständig
harmonisch aufeinander abgestimmt sind, und die kraft dieses
innigen Zusammenstrebens auch ihre Umgebung als harmonisch
und demzufolge ästhetisch empfinden. Es ist selbstverständlich,
daß dieser harmonische Eindruck innerhalb der vier Mauern,
die man bereits lange vorher einträchtig für die Brautnacht
geschmückt hat, intensiver sein wird, als in irgend einem in-
differenten Raume auf der Reise, aber dazu ist weder die
obligate, jungfräuliche Scham seitens des Weibes, noch der
naive, sentimentale Don Juanismus beim Manne notwendig,
mit dem die so beliebten Hochzeits- und Brautnachtnovellen
das junge Paar auszustatten pflegen. Dazu ist es auch ganz
und gar nicht notwendig, daß beide Teile keusch in die Ehe
treten, um jene Sensation erleben zu dürfen, die die erste Hin-
gabe zweier Liebender aneinander unzweifelhaft bedeutet. Es
kommt nicht darauf an, ob das Brautbett wie im Mittelalter
zur Zeit des Öffentlichen Beilagers mit Blumen geschmückt
ist und das Brautgemach in den erlesensten, einträchtig zu-
sammenklingenden Farben prangt; die Kunst besteht vielmehr
darin, daß Mann und Weib in dem Heim, das sie sich ge-
schaffen haben, sich auch dauernd als Brautleute fühlen und
der Geschlechtsverkehr noch nach Jahren an Wirkung jenem
mystischen Opfer der ersten Nacht gleichkommt; mit anderen
Worten, daß der Geschlechtsverkehr nicht als ein Mittel zur
krampfhaften Zusammenkittung einer innerlich zer-
rütteten Ehe dient, sondern, daß die Ehe die gegenseitige
geschlechtliche Hingabe als einen natürlichen, edlen und zweck-
mäßigen Tribut fordert. Unter solchen Umständen wird das
Schlafgemach auch noch nach Jahren als Brautgemach und
durchaus ästhetisch wirken, mag es so oder so beschaffen sein,
230 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
und Eltern, die es von dieser Seite kennen gelernt haben,
werden sicher ihre Kinder nicht, damit. sie sich finden, auf
eine Hochzeitsreise schicken. Was aber die Forderung der
physischen Jungfräulichkeit anlangt, die unser Autor zwar nicht
ausspricht, aber für das bräutliche Weib stillschweigend als
selbstverständlich voraussetzt, so scheint uns hier noch die
traditionelle Vorstellung zu walten, daß Ehe und Beilager
eigentlich ein und dasselbe seien. Hat demnach ein Mädchen
bereits vor der Ehe mit einem Manne sich einem anderen
hingegeben, so ist sie nach kirchlicher und nach der Moral-
auffassung bürgerlicher Kreise zur Ehe eigentlich untauglich
geworden. Heiratet ein solches Mädchen dennoch, dann fällt
bei ihr die Poesie der Brautnacht, des Brautgemachs zusammen.
Man sieht, daß diese beiden Begriffe Brautnacht und Braut-
gemach im großen ganzen nur einen relativen Gefühlswert be-
sitzen, denn, daß ein Mädchen, das den geschlechtlichen Ver-
kehr bereits vor der Ehe kennen gelernt hat, nichtsdestoweniger
sich voll und ganz als Braut fühlen kann, und ihrem An-
getrauten in der Brautnacht mehr bieten kann, auch ethisch
genommen, als manches naive »unschuldige« Gänschen, wird
wohl niemand, der einsichtig genug ist, bestreiten. Im Übrigen
setzen wir einmal, ehe wir über dieses Thema zur Tages-
ordnung übergehen, ein großes Fragezeichen an den Schluß
unserer Folgerungen: wieviel Mädchen, die noch ihren intakten
Hymen besitzen, treten wirklich rein und keusch in die Ehe,
und wie vielen von ihnen ist die Brautnacht ein tatsächliches
ideales Erlebnis und nicht bloß eine pikante Sensation, deren
Reiz durch die ganze, weitläufige Ehezeremonie entsprechend
erhöht erscheint? Wie vielen von den jungen Bräuten tritt
es ins Bewußtsein, daß sie hier in Gemeinschaft mit ihrem
Auserwählten den Beginn eines neuen, großartigen Lebens und
nicht den banalen Abschluß irgend einer erfolgreichen Liebes-
episode durchkosten? Vielleicht sind gerade viele der Mädchen,
die bereits physisch geliebt haben, wertvoller, weil sie gereift
und wissend in die Ehe treten, und vielleicht ist das Glück,
das sich auf Scherben aufbaut — gerade der vorhergegangenen
Bitterkeit wegen — ein viel dauernderes und intensiveres.
о E
CHINESISCHE ZAUBERPRIESTERIN, welche den Weibern Kindersegen verschafft.
(Nach ‚einem chinesischen Holzschnitt).
Zu dem Aufsatz „Die Unfruchtbarkeit des Weibes‘‘ Seite 273.
EINE FRAU, WELCHE KEINE KINDERERZEUGEN
WIRD. (Aus einer japanischen Encyclopädie).
Zu dem
Aufsatz
„Die
Unfrucht-
barkeit des
Weibes‘‘
Seite 273,
EINE FRAU, WELCHE KINDERERZEUGEN WIRD.
(Aus einer japanischen Encyclopädie).
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
VIII, 8.
DIE NEUVERMÄHLTE. Von GIOV. DA S. GIOVANNI.
(Zu dem Aufsatz ‚Das öffentliche Beilager‘‘ Seite 342)
(Florenz, Uffizien).
Phot. Brogi.
В ГИ ЫИ ГИ ГИЙ Е
SEXUELLE ENTWERTUNG.
Von Dr. J. B. SCHNEIDER.
М" spricht in der neueren Literatur viel von der Sterilität
des Liebesempfindens, die neben der Behinderung der
Fortpflanzung einen erschreckenden Mangel von Lebenskraft
und Produktivität verschuldet haben soll. Bei der Erörterung
der Gründe, die zu dem Niedergang der gegenwärtigen Mensch-
heit beigetragen haben sollen, ist man unter anderem auch auf
den durch die entwickelte Kultur gesteigerten Luxus gestoßen
und hat die schrankenlose Genußsucht, sowie den Mangel
an Energie in der heutigen Männerwelt zu den Hauptstützen
der Anklage gemacht. Zweifelsohne hat das zwanzigste Jahr-
hundert infolge seiner überraschenden Entdeckungen und Er-
folge auf dem Gebiete der Technik, seines riesenhaften Auf-
schwunges der Industrie und des Handels auch eine Reihe von
Umständen gezeitigt, die nicht überall zur Beglückung der Mensch-
heit beigetragen haben. Vor allem hat sich im Anschluß an die
kulturelle Verfeinerung eine gewisse Trägheit der Sitten und eine
Erschlaffung des Empfindens in der Mehrheit, insonderheit in
den wirtschaftlich besser gestellten Schichten, ausgebildet. Diese
Effemination des modernen Zeitalters, das ich an dieser Stelle
in einem anderen Aufsatz als auffallend masochistisch gekenn-
zeichnet habe, hat gleichzeitig mit dem Mangel an Idealen eine
unzweideutige Hinabentwicklung in Dingen der Liebeserlebnisse
gezeitigt. Es wäre vielleicht jetzt der richtige Augenblick, der
männlichen Jugend ihre allgemeine Flachheit und Unintelligenz
vorzuhalten, der allein sie es zu verdanken hat, wenn die Frau
in einer ungesunden Bewegung sich von ihr zu emanzipieren
beginnt und in Zustände hineingedrängt wird, die für sie eine ver-
hängnisvolle sexuelle Entwertung zur Folge haben. Ich meine
nicht Unintelligenz in dem Sinne, als bestände die Mehrzahl der
jungen Männer aus Analphabeten, aus Outsidern an Bildung und
Geschmack; das ist ja seit dem Augenblick, wo sich die groß-
städtische Straße als die wirksamste Lehrerin unserer Jugend
Geschlecht und Gesellschaft VIII, 8. 21
322 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
erwiesen hat, nicht mehr so leicht möglich; aber es gibt auch
eine natürliche Intelligenz, die sich von der erworbenen streng
unterscheidet und namentlich in der Kunst, eine Persönlichkeit
zu besitzen, sich äußert. Diese natürliche Persönlichkeitsbegabung,
die sich gleichzeitig mit einem ausgeprägten Charakter ver-
schwistert, fehlt dem Nachwuchs von heute, er ist wie die moderne
Baukunst, wie der durch Industrialismus und die Hegemonie des
Kapitals geschaffene Stil der neuen Zeit, im höchsten Grade
unpersönlich und charakterlos. Das zeigt sich in erster Linie
an dem Mangel einer einheitlichen Weltanschauung, der sich
überall fühlbar macht und der sich nirgends so deutlich wie
in dem Verhalten des Mannes zum Weibe, ausprägt. Das
Verhältnis vom Manne zum Weibe ist mehr denn je auf
das des Zuhälters zur Kokotte gestellt. Der Mann ist mit
Erfolg durch die aretinische Schule gegangen, —- worunter ich
nicht unbedingt den graziösen Wollüstling aus dem Renaissance-
zeitalter verstanden haben möchte, sondern aretinisch ist mir
nur die Bezeichnung einer Gefühlsrichtung, nach der sich der
neuzeitliche Ästhet entwickelt hat — ohne jedoch mit der un-
mäßigen Gefühlsvergeudung gleichzeitig jene Erneuung der Kräfte
zu erzielen, die der Renaissancemensch überall gesammelt hat.
Der Lebenskünstler des zwanzigsten Jahrhunderts ist im Grunde
genommen ein Lebensversager, die Karrikatur des Genies, als
das er sich mit Vorliebe fühlen möchte. Das zeigt sich zu-
nächst in seiner Unfähigkeit zu lieben und Liebe zu erwecken,
dann in seinem daraus resultierenden Abscheu ‚vor dem mono-
gamen Verhältnis und in seiner konsequenten Mißachtung der
Frau; denn daß ein Zeitalter, das einen so perversen Kultus
mit der Frau treibt, wie das gegenwärtige, sie im Grunde miß-
achtet und als inferior ansieht, steht wohl fest. Diesem Kultus
ist es auch zu verdanken, daß die Frau eine Entwicklung ge-
nommen hat, die für sie im höchsten Grade ungesund ist und
die zur sexuellen Entwertung des größten Teiles der weiblichen
Jugend geführt hat.
Die Tatsache ist nicht aus der Welt zu schaffen: die sexuell
vollwertigen Frauen werden immer weniger, es vollzieht
sich auch in ihren Reihen allmählich der gleiche Degenerations-
prozeß, der zur augenblicklichen Minderwertigkeit und Un-
produktivität der Männerwelt geführt hat. Eine solche ist un-
streitig vorhanden, auch wenn man tausendmal die Errungen-
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 323
schaften der modernen Kultur dagegen hält. Degeneration ist
immer vorhanden, wo das Kapital in den Händen einzelner,
sozial hochgestellter, aber geistig minderwertiger Elemente zu-
sammenfließt, während die Masse, in der die eigentliche Quelle
der Volkskraft zu suchen ist, zum belanglosen Objekt herab-
gedrückt wird. Auf dieser Basis entwickeln sich dann jene Er-
scheinungen, die sich im Verlauf als ungeheure soziale Schäden
darstellen, das proletarische Elend, die Tuberkulose, die Pro-
stitution, die venerischen Krankheiten und das Verbrechen,
die den wertvollsten Kräftebestand einer Nation mit Leichtigkeit
dahinraffen können. Man hat das letzte Jahrhundert als das
einer dauernden sozialen Krise bezeichnet, hervorgerufen durch
die ökonomischen Bedingungen, das ist die einseitige wirt-
schaftliche Tendenz des bestehenden Staates. Die soziale Krise
wird noch durch andere Umstände verschuldet, die jenseits der
kapitalistischen Entwicklung zu suchen sind. Abgesehen von
den politischen Gründen, wirkt der allgemein fühlbare Mangel
an Religiosität und die damit verbundene Umbiegung der Ideale
im Volke verhängnisvoil. Die Reinheit der ethischen Prinzipien
eines Volkes ist maßgebend für den Grad und die Grenze seiner
schöpferischen Leistungsfähigkeit. Das zwanzigste Jahrhundert
ist darum so auffallend steril, weil es ein empfindliches Manko
an Charakter und Weltanschauung aufdeckt*).
Parallel der moralischen Entwertung der Männerwelt
geht die sexuelle der weiblichen Jugend, die für den Fort-
bestand einer gesunden Rasse noch weit verhängnisvoller ist
als Korruption zufolge ungünstiger, wirtschaftlicher Bedingungen.
Unter sexueller Entwertung verstehe ich die Abnahme der
Liebes- und Mutterschaftssehnsucht in den Kreisen der Weib-
*) Ich möchte hier gleich vorweg bedeuten, daß der obige Satz, wo
ich den Mangel an Religiosität konstatiert habe, nicht so gemeint ist, daß
ich es für die moderne Menschheit als außerordentlich wünschenswert er-
achte, daß sie die fortschreitende Emanzipation von dem kirchlichen
Dogmatismus mit einem Schlage aufgibt und wieder so reaktionär wird,
wie es gewisse Kreise vielleicht wünschen möchten. Ich bin dazu weder
kurzsichtig noch intolerant genug. Aber es gibt eine Religiosität, die un-
abhängig von dem Zeremonien- und Formenkram der konfessionellen
Kirche besteht und die ich als eine Summe ganz bestimmter, ethisch wert-
voller Prinzipien bezeichnen möchte. In diesem Sinne stehe ich nicht an,
selbst die Existenz eines normgebenden obersten Guten anzuerkennen, in
das sich mir der überlieferte Gottesbegriff vorteilhaft aufzulösen scheint.
21°
324 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
lichkeit, verbunden mit einer verminderten Anziehungskraft und
Reizvortäuschung auf den Mann. Das Schwergewicht der
weiblichen Intelligenz ruht — wie auf Seiten des Mannes in
der geistigen Energie — in dem Überwiegen ihrer sexuellen
Werte. Damit ist nicht gesagt, daß die Frau lediglich Sexual-
objekt ist. Mit diesem Grundsatz hat die zum Teil berechtigte
Emanzipation der modernen Frau radikal gebrochen, allein die
Sexualität der Frau muß trotzdem unter einem ganz anderen
Gesichtswinkel betrachtet werden, als die des Mannes. Der
Mann vermag sein Geschlechtsempfinden seiner Persönlichkeit
unterzuordnen; die Persönlichkeit der Frau dagegen besteht
in ihrem mehr oder minder ausgeprägten Geschlechtsgefühl.
Die Sexualität des Mannes ist peripher, die der Frau hingegen
zentral, derart, daß allem, was neben den Bekundungen ihrer
Geschlechtsempfindung einherläuft, mag es nun künstlerische,
wissenschaftliche oder rein mechanische Beschäftigung sein,
eine sekundäre Bedeutung zukommt. Der grandiose Prozeß,
als der sich die weibliche Geschlechtsreife bekundet, die Art
und Weise, in der sich bei einer Frau die erwachenden Sinne
äußern, bis zu dem Moment hinauf, der den Höhepunkt im
Leben jedes einzelnen Weibes bedeutet, der Mutterschaft, deuten
auf eine ganz andere psychische und auch körperliche Kon-
stitution, wie sie beim Manne vorliegt, und geben bündig
darüber Aufschluß, auf welcher Seite die größte Wertkomponente
der Frau zu suchen ist. Obwohl diese Tatsachen unumstöß-
lich feststehen, hat der männliche Geist der letzten Epoche die
natürliche Begabung der Frau, ihre angeborene geschlechtliche
Intelligenz, zu Gunsten einer fremden, erworbenen, die männ-
lichen Qualitäten nachformenden Anlage zurückgedrängt. Es
ist ganz falsch, den Frauen vorzuhalten, sie hätten ihre sexuelle
Entwertung selbst verschuldet. Die Schuld liegt vielmehr auf
Seiten des Mannes, der so verweichlicht und effeminiert ge-
worden ist, daß er nicht mehr das gesunde und sexuell voll-
wertige Weib, sondern den halbfertigen Typus der Androgyne,
oder das andere Extrem, die Dirne, zu seiner Ergänzung braucht.
Ich habe seiner Zeit in einem Aufsatz über die »problematische
Frau: den Ausspruch getan, daß das Programm der Moderne
in der Erziehung des Weibes zum Mannweib oder Halbweib
gipfelt. Es ist leicht begreiflich, daß die Frau, deren Energie
in allen Fällen eine unselbständige, erworbene ist, die Tendenz
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 325
zu einer solchen Erziehung zeigt, und daß die äußeren Um-
stände die sexuelle Entwertung nach Tunlichkeit begünstigen.
Zufolge der schwierigen wirtschaftlichen Lage ist eine große
Anzahl von Mädchen, die keinerlei pathologische Anlagen in
sich vereinigen müssen, genötigt, sich dem Berufsleben zu
widmen und dadurch indirekt eine vorzeitige Entwicklung in
körperlicher, besonders aber in sexueller Hinsicht, herbeizu-
führen. Das Berufsleben der Frau hat neben den vielen Vor-
teilen, die es hauptsächlich den minderbemittelten Schichten
zubringt, eine partielle Zerstörung des wertvollsten Bestandes
weiblichen Empfindungslebens nach sich gezogen. Durch das
Berufsleben und die damit verbundene Berührung der jungen
Mädchen mit dem nackten, brutalen Tatsachenleben ist vielfach
das weibliche Schamgefühl und die daraus resultierende sexu-
elle Bescheidenheit verloren gegangen. Die Zertrümmerung
des weiblichen Schamgefühls aber ist das erste und wichtigste
Moment der sexuellen Entwertung, denn alles Übrige, der
Zynismus dem werbenden Manne gegenüber, die Ausbeutung
der eigenen sexuellen Talente zu wirtschaftlichen Zwecken und
schließlich die Mißachtung der Mutterschaft, ergeben sich nur
als Folgezustände der mangelnden weiblichen Scham. Damit
ist jedoch nicht gesagt, daß die Frau nicht im Berufsleben
stehen dürfte, denn dessen bin ich mir wohlbewußt, ohne die
berufstüchtige Frau ist eine Entwicklung zukünftiger Kultur nur
schwer oder überhaupt nicht zu denken. Um was es sich hier
handelt, sind die Umstände, die den Beruf für die Frau augen-
blicklich zu einer Kalamität machen und die allein einer durch-
greifenden Reform bedürftig erscheinen. Gegenwärtig liegen
die Dinge so, daß der im öffentlichen Erwerbsleben stehenden
Frau als ein Überbleibsel einer rückschrittlichen Periode ein
gewisses Odium anhaftet, wenn man nicht gerade den Lehr-
stand als den einzigen von dieser allgemeinen Mißachtung aus-
nehmen will. Aber das Geschäftsmädchen ist in bürgerlichen
Kreisen ebensowenig geachtet, wie die gewerblich tätigen un-
verheirateten Mädchen oder die Angehörigen der dienenden
Klasse. Man setzt es hier als selbstverständlich voraus, daß
Gewerbstüchtigkeit identisch mit teilweiser Moraluntüchtigkeit
ist, und in der bürgerlichen Rangeinteilung stehen die im kauf-
männischen und in gewerblichen Berufen angestellten Mädchen
gleich hinter den Schauspielerinnen, Künstlerinnen, Tänzerinnen,
326 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
die selbst wiederum nur als die Übergangsstufe zur Prostitution
angesehen werden. Eine Heirat zwischen einem Manne aus
wohlhabender bürgerlicher Familie und so einem kleinen
Kontormädchen wird heute genau so als Mesallianz empfunden,
wie in höher gestellten Kreisen die Verbindung eines Aristo-
kraten mit einer Bürgerlichen. Mädchen, die im Berufsleben
stehen, sind demzufolge Freiwild und werden auch als solches
von der männlichen Lebewelt betrachtet. Man liebt sie für
Verhältnisse, man bemüht sich, ihnen nach allen Regeln der
Kunst die immerhin vorhandene Scham zu zerstören, und man
läßt sie, wenn sie durch eine Reihe von Händen gegangen
sind, vorzeitig verblühen und verwelken oder schlimmstenfalls
der Prostitution anheimfallen. Im Kampfe gegen eine solche
Behandlung entwickelt sich das vernunftbegabte Weib leicht
über die ihr gesteckten Grenzen und männliche Instinkte ent-
falten sich auf Kosten anderer, die die Natur als für das Weib
geeigneter vorgesehen hat. Die Frauenemanzipation ist eine
naturnotwendige Folge überlebter, bürgerlicher Vorurteile und
männlicher Minderwertigkeit, die das sexuell vollwertige Weib
nicht begreift und an der sexuell Halbfertigen ein perverses
Wohlgefallen findet. So ist es leicht verständlich, daß die Frau
in Kenntnis der Bedingungen, die ihm beim männlichen Ge-
schlecht die meisten Chancen geben, sich immer mehr und
mehr von ihrer Passivität loslöst und dem Ideal des Mannes,
das androgynisch ist, sich nach Tunlichkeit zu nähern sucht
Das moderne männliche Geschlecht ist autoerotischer
als zu früheren Zeiten veranlagt und daraus erklärt sich wohl
auch seine erschreckende Energielosigkeit, seine Unproduktivität
und sein Hang zu sexuellen Tagträumen, der sich namentlich
in der Literatur der jüngsten Periode so deutlich ausspricht.
Auch darin bekundet sich wiederum der feminine masochis-
tische Zug unserer Zeit, sofern Autoerotismus immer mit einer
masochistischen Konstitution Hand in Hand geht. Dieser all-
gemeine Autoerotismus erklärt den vorerwähnten Abscheu vor
dem monogamen Verhältnis und das Hinneigen zur Prostitution
bezw. zu Umständen, die einer solchen in verschleierter Form
entsprechen. Er ist eine Umkehrung der Eigenschaften, die das
Genie der Prostitution in die Arme treiben und es, zum großen
Teil wenigstens, unfähig für eine dauernde legitime Ehe machen.
Das künstlerische Genie heftet sich an die Prostitution, weil
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 327
es seine Energie auf anderem Gebiete festlegt und das Liebes-
verhältnis nur als eine erholungsreiche Pause empfindet. Der
Autoerotiker haßt das monogame Verhältnis, weil er seine
Kräfte dafür nicht ausreichend fühlt und weil jedes Verhältnis
zu einer Frau nur einem Fluchtversuch vor dem eigenen »Ich«
gleichkommt. Dieses Versteckspielen vor dem eigenen Ich
wiederholt sich aber notgedrungen immer bei einem anderen
Weibe, weil sich der Autoerotiker nirgends vor seinen Phobien
sicher fühlt. Polygamie ist also im Grunde nichts anderes
als die Suche nach Lösung eines schwerwiegenden monosexu-
ellen Konfliktes und beweist, wo es sich nicht um das Gefühls-
leben eines über den Durchschnitt begabten Menschen handelt,
Mangel an innerer Harmonie, ein ungesundes, entartetes Trieb-
leben. Der harmonische Mensch kann nicht anders als
ineinem monogamen Verhältnis leben. Weil die Sexualität
des Mannes eine periphere ist, braucht er die weit stärkere
richtunggebende des Weibes als notwendiges Komplement
und kann sich unter normalen Bedingungen nur von einem
sexuell vollwertigen Weib dauernd angezogen fühlen. Das
offenbart sich schon in dem bloßen Geschlechtsverkehr, wo
die starke Sexualität des Weibes gleichsam die Bedingung für
die produktive und längere Zeiträume überdauernde Liebe des
Mannes ist. Der Mann, der selbst ein Rassemensch ist, wird
vielleicht zu zwanzig Prostituierten gehen, aber nur ein einziges
Weib für Jahre hinaus lieben; und er wird auch den Wunsch
haben, nur in diesem einen Weibe sich fortzupflanzen. Denn
der Rassemensch hat ein instinktives Gefühl für sexuelle Voll-
wertigkeit und vor allem für die Umstände, die einer Fort-
pflanzung seines Wesens und seiner Persönlichkeit günstig
erscheinen. Daß die Männer von heute auf die echt weib-
liche Frau mit zu wenig Achtung herabblicken und sich
lieber für die Halbwelt und die Mannweiber begeistern, liegt
darin, daß die moderne Kultur Vollmenschen nicht in ge-
nügender Anzahl aufbringt.
Ich habe hier versucht, auf die verhängnisvollen Folgen
des Berufslebens für die Entwertung des Weibes in sexueller
Hinsicht hinzudeuten, und möchte mich nun noch ein wenig
mit der sexuellen Entwertung der verheirateten Frau
beschäftigen, die ebenfalls in nicht geringerem Maße als bei
dem ledigen Mädchen vorhanden ist. Der Höhepunkt, den die
328 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Frau in ihrem Geschlechtsleben erreicht, liegt in unmittelbarer
Nähe ihrer ersten Mutterschaft, und die Zeit, die dieser voran-
geht, ist, wenn es sich um die Abwicklung des Mutterschafts-
aktes unter normalen Bedingungen handelt, die glücklichste im
Leben des Weibes. Das Weib muß also sich aus Liebe und
mit vollem Bewußtsein der Konsequenzen, ja noch viel mehr,
mit direkter Anstrebung des Kindes hingegeben haben.
Selbstverständlich werden alle diese Bedingungen nur bei einem
intelligenten, körperlich und geistig ausgereiften Weibe in vollem
Umfange erfüllt werden können. Der Wille zur Mutterschaft
kann hierbei auch unabhängig von einem ehelichen Verhältnis
einhergehen. Er kann so stark ausgeprägt sein, daß ein Weib
selbst die Schwierigkeiten der außerehelichen Schwangerschaft
auf sich nimmt, nur um dem in ihr lauten Naturgesetz Genüge
zu leisten. Adele Schreiber, die bekannte Vorkämpferin der
Frauenrechte, hat neulich in einem Aufsatze ihres großen
Sammelwerkes »Mutterschaft« auf den hohen Prozentsatz hin-
gewiesen, den gerade die intelligente weibliche Bevölkerung
zum Kontingent der unehelichen Mütter stellt. Eine vernünftige
Konsequenz, die wir im Verein mit der Autorin dieser Fest-
stellung angliedern möchten, ist das Verlangen nach einer
Statistik, in der der Grad der Intelligenz und der körperlichen
Leistungsfähigkeit unehelicher Kinder, die von intelligenten
Eltern stammen, zahlenmäßig ersichtlich ist. Wir glauben, daß
sich dadurch mancherlei in den Anschauungen zu Gunsten der
unehelichen Kinder verschieben würde. Uneheliche Mutterschaft
ist nicht selten ebenso eine Bekundung sexueller Vollwertigkeit,
wie das Überhandnehmen der sterilen Verhältnisse der ge-
werbsmäßigen Prostitution für eine viel umfangreichere sexuelle
Entwertung. Die unehelichen Mütter stehen aber unter Um-
ständen auch viel höher als viele andere, die in einem legitimen
Verhältnis leben und dennoch, oder vielleicht gerade darum,
es scheinbar nicht mehr für nötig halten, ihre wertvollen sexu-
ellen Anlagen wie früher zu pflegen. Die sexuelle Entwertung
der Frauen in der Ehe gehört mit zu den häufigsten geheimen
Gründen, warum ein solches Verhältnis unverhofft rasch in
Brüche geht, und warum die meisten Ehemänner nach mehr-
jähriger Ehe wiederum geschworene Anhänger des Junggesellen-
lebens werden. Man hat in neuerer Zeit dafür plädiert, daß
die Männer in jungen Jahren heiraten und zum Mindesten eine
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 329
gleichaltrige oder noch besser eine ältere Genossin nehmen
sollen, weil aus solcher Verbindung die besten, mit ausnehmender
Lebenskraft und Intelligenz begabten Kinder hervorgingen.
Ohne diese Hypothese auf ihre Berechtigung, bezw. Leicht-
fertigkeit untersuchen zu wollen, scheint der Mann wertvoll erst
nach Vollendung seiner geistigen und körperlichen Reife, also
nicht vor dem sechsundzwanzigsten Lebensjahre zu sein. Die
sexuelle Reife, als vollendeter Zustand genommen, tritt aber in
der Regel viel später als um das sechsundzwanzigste Jahr
еіп. Sie fällt am häufigsten zu Beginn des vierten
Decenniums des männlichen Lebensalters. Verhältnisse, die
sich in dieser Zeit anbahnen, sind infolgedessen von ungleich
längerer Dauer und von einer viel fruchtbareren Intimität
für beide Teile, weil sie schwerer geschlossen werden
und zufolge des gesteigerten Verantwortlichkeitsgefühls sich
auch schwer lösen. Ist aber die Ehe in einem Zeitpunkt
vor der vollendeten sexuellen Reife des Mannes (ich be-
merke hier noch einmal zur Vermeidung aller Mißver-
ständnisse, daß ich darunter nicht die bereits in ein früheres
Stadium fallende Pubertät verstehe), geschlossen worden,
dann nimmt die Frau eine schwierige Aufgabe auf sich, der
sie, wenn sie sexuell über- oder nur halbwertig ist, nicht ge-
wachsen sein wird. Dasselbe Unfertige, halb Kindliche, halb
Dirnenhafte, die Bekundung männlichen Geistes, die den
gährenden Jüngling begeistern konnten, werden in einer leicht-
fertig geschlossenen Ehe früher oder später zur Qual des reifen
Mannes. Ich habe eine große Anzahl derartiger Ehen gesehen,
die überspannte Jünglinge mit Überweibern geschlossen haben.
Sie sind nach kurzem Bestand in Brüche gegangen. Das Weib
muß den Mann in der Ehe fesseln, sie muß ihm alles bieten
können, worauf er in seinem sexuellen Leben durch die Ent-
schließung zu einem monogamen Verhältnis verzichtet. Daß,
um bildlich zu sprechen, eine Frau, die dem Manne im Ehe-
bett ein Kapitel über die Simmelsche Philosophie liest, oder
ihm an ihrem eigenen Geschlechtsleben das Wesen des Hirsch-
feldschen Hermaphroditismus erklärt, zur Qual werden kann,
darüber dürfen sich auch die Anhänger der Emanzipation nicht
im Unklaren sein. Aber das sind ja Extreme, mit denen wir,
Gott sei Dank, nicht immer zu rechnen haben, und selbst in
der heutigen Zeit, soviel an ihr auszusetzen ist, gehören sie
330 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
noch immer zu den Ausnahmeerscheinungen, denn die Ange-
hörigen dieser „intellektualen“ Kaste begeistern sich lieber für
das freie Eheideal und verabscheuen die monogame Ehe.
Aber selbst die Ehe zwischen einer sexuell vollwertigen
Frau und einem ebensolchen Manne kann durch die allmählich
eintretende sexuelle Entwertung der Frau in Brüche gehen. Die
Frau streift in der Ehe nach und nach alle Scheu vor dem
Manne ab. Sie entwickelt sich eben auf der einen Seite zu
seiner reinen Maitresse und suggeriert ihm auf diese Art und
Weise ein Zusammenleben, das sich schließlich in Nichts von
einem Aufenthalt im Bordell unterscheidet; oder sie wird zu
einer so nüchternen und hausbackenen Gefährtin, daß der
ganze Reiz aus früheren Tagen verblaßt und das Gegenteil
der Liebe, die Gleichgültigkeit, sich entwickelt. Diese Art der
sexuellen Entwertung nach der einen oder anderen ‚vorge-
schilderten Seite hin, ist nicht durch die Verfeinerung der
Kultur, durch die Bekundung männlicher Sitten bewirkt, sondern
sie wird allein vom Weibe verschuldet und ist wohl im Inte-
resse der Erhaltung der Monogamie auf das tiefste zu beklagen.
Frauen, die vor der Ehe und bis zu ihrer ersten Mutterschaft
in jeglicher Beziehung als wertig angesprochen werden mußten,
entwerten nach glücklich verlaufener Schwangerschaft auffallend
rasch, lassen ihr eigenes Sexualleben zufolge der allgemeinen
Trägheit verdämmern, werden nachlässig und unrein und er-
sticken den Mann durch die ständigen Vorstellungen ihrer
kleinlichen Sorgen und Launen. Die Tragödie der Jungfrau ist
ihre Verkümmerung zur alten Jungfer, was umsomehr zu be-
klagen ist, wenn es sich um Mädchen handelt, die junge,
kräftige und gesunde Frauen und Mütter hätten abgeben können.
Die Tragik der verheirateten Frau liegt sehr oft in ihrer Selbst-
erniedrigung zur Kokotte oder zu einer lästigen Ehebürde und
„Nur-Gebärmaschine“. Eine solche Frau altert wider die
natürlichen Bedingungen auffallend rasch, die nachfolgenden
Schwangerschaften haben nicht immer die besten Kinder zur
Folge, und der Mann, der bei ihr nichts mehr findet, löst sich
von ihr, um seine sexuellen Bedürfnisse außerhalb des Hauses
zu tragen. Dadurch kommt es zur bekannten, im obszönen
Volkswitz am treffendsten charakterisierten moralischen Ent-
wertung der Ehemänner, zur Einschleppung der Geschlechts-
krankheiten ins Ehebett und vielfach zur völligen Zerrüttung
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 331
der Ehe und häuslichen Katastrophen, die nur zu oft selbst
für die unschuldigen Kinder verhängnisvoll werden. Dieser
sexuellen Entwertung der Frauen durch eigenes Verschulden
in der Ehe ist von außen nicht abzuhelfen. Auch der tüchtigste
Hausarzt vermag hier nichts auszurichten, die Ehegatten müssen
eben das Joch weiter schleppen. Deshalb ist die Institution
der Probeehen, die in Amerika eingeführt wurde, und von der
wir noch nicht vernommen haben, ob und wie sie sich bewährt
hat, im Prinzip durchaus nicht verwerflich. Hat ein Mann ein
Mädchen gefunden, das ihn als sexuell vollwertig anzieht,
dann wird eine solche Probeehe am leichtesten ergeben können,
ob ein Bund fürs Leben wünschenswert und auch im Sinne
der Nachkommenschaft förderlich wäre. Der Mann müßte ein
Recht besitzen, vor allem abzuwarten, von welcher Art die tief-
greifenden Veränderungen im Gefühlsleben der Frau unter dem
Einfluß der Schwangerschaft sein würden, und ob sich aus
ihnen eine Gefährdung des günstigen Zusammenlebens auch
auf sexueller Basis ergibt. Instinktiv üben das bereits jene
Paare, die freiwillig ihrem Liebesverhältnis ein Kind ent-
sprossen lassen, das sie dann in die spätere Ehe mitnehmen.
Die Erfahrung hat auch bestätigt, daß gerade diejenigen Ehen,
die trotz oder neben dem Vorhandensein eines Kindes ge-
schlossen wurden, sich in der Mehrzahl als die glücklichsten
erwiesen haben. Leider finden jedoch heute die meisten Ver-
hältnisse, wo bereits ein Kind auf dem Wege ist, einen gewalt-
samen Abschluß dadurch, daß das junge Paar mit Hinblick
auf die gesellschaftliche Moral gezwungen wird zu heiraten,
bevor noch das Kind zur Welt kam und die Folgen der über-
dauerten Schwangerschaft an dem Mädchen sich beobachten
lassen. Gerade das bereitet in vielen Fällen die unglücklichen
Ehen vor, indem minder wertvolle weibliche Elemente es direkt
darauf anlegen, sich schwängern zu lassen, um auf diese Weise
an den Mann zu kommen. Das Gesetz zum Schutze der un-
ehelichen Mutterschaft müßte so gehalten sein, daß bei Wahrung
aller Interessen des Kindes der Mann trotzdem nicht empfind-
lich an Ehre und Vermögen geschädigt wird. Würde das
Gesetz es vorsehen, daß das Kind eo ipso, von dem ersten
Momente seiner Geburt an, nicht den Namen der Mutter,
sondern den des Schwängerers führt, wodurch selbstverständ-
lich auch die Pflichten der Alimentation festgestellt werden,
332 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
dann würden manche Mädchen und die Eltern dieser Mädchen
darauf verzichten, das Paar in eine Ehe hineinzutreiben, die
sich von vorneherein als unglücklich erweisen muß. Dieser
Vorschlag der Namensnennung des Kindes nach dem Schwängerer
ließe sich im Übrigen auch dann noch durchführen, wenn man
bedenkt, daß ein großer Teil der Geschwängerten den Vater
garnicht anzugeben weiß. Für solche Fälle würde dem Kinde
von behördlicher Seite ein anderer als der Name der Mutter
zugelegt werden, der dem Kinde gleichzeitig eine selbständige
Existenz verbürgen und der unehelichen Mutter es ermöglichen
würde, besonders wenn sie im Öffentlichen Berufsleben steht,
leichter ihre sogenannte Verfehlung zu verbergen. Diese Ver-
fügung könnte unbeschadet den sonstigen Verhältnissen zwischen
Mann und Weib bestehen, denn in Fällen, wo es sich um
wahre Zuneigung zwischen zwei Menschen, die auch sonst
zueinander passen, handelt, würde der Mann nachträglich das
Verhältnis und mithin auch das Kind trotzdem legitimieren.
Zum Schluß möchte ich bemerken, daß den in dem obigen
Aufsatz ausgesprochenen Gedanken lediglich ein Konstatierungs-
wert zukommt. Ich möchte nicht die Notwendigkeit eines
„Revirement social“ betonen, ohne unsere Kultur als genügend
stark zu bezeichnen, alle diese Schäden aus sich selbst zu
beheben. Auch die so beklagte sexuelle Entwertung der Frau
gehört im Grunde genommen nicht zu den generellen Er-
scheinungen unseres Zeitalters, aber der Hinweis auf sie ist
berechtigt zur Verhütung, daß sie typische Bedeutung gewinnen
könnte. Denn, wenn es einmal soweit ist, daß wir uns sagen
müssen, unsere Frauen und Mädchen sind tatsächlich sexuell
entwertet, dann haben wir von einem gegenwärtigen und zu-
künftigen Geschlechte mit Hinsicht auf Kultur und Geistigkeit
auch nichts mehr zu hoffen. Wir aber befinden uns trotz der
Sterilität an Lebenskraft und Produktivität immerhin noch nicht
jenseits der Grenze unseres nationalen Aufstieges.
8 8
EI
DER KAMPF DER GESCHLECHTER.
Von Dr. WILHELM STEKEL, Nervenarzt in Wien.*)
р“ Liebe ist die Poesie der Poesielosen. Wo erotische
Untertöne mitschwingen, da stellt sich leicht jene Stim-
mung ein, die wir poetisch zu nennen pflegen. Und verliebte
Leute sind immer poetisch. Sie wandeln entzückt in den
rosigen Dämmerungen eines Traumlandes, dem alle Realität so
fern und unmöglich erscheint, weil der Traum für sie Wirk-
lichkeit ist. Der echte Poet kann, auch ohne verliebt zu sein,
aus den kleinsten Erlebnissen des Alltags Stimmungen destil-
lieren. Er sieht überall Probleme und Konflikte, wo die anderen
Sterblichen graue Nüchternheit konstatieren. Die Liebe sieht
keine Probleme und nährt sich von den Stimmungen der un-
befriedigten Sehnsucht.
Am Anfange einer glücklichen Ehe steht die Liebe. Glück
heißt fremde Interessen zu den seinigen machen. Das kann
eigentlich nur der Verliebte, nicht mehr der nur Liebende. Der
Verliebte identifiziert sich mit dem Objekt seiner Liebe. Der
Liebende hat noch einen Rest seines Ich gewahrt. Er hat
noch eigene Interessen. Jede Ehe gründet sich auf irgendeine
Interessengemeinschaft. Wenn es auch die erotische Beziehung
ist. Sie ist ja auch eine Interessengemeinschaft — und nicht
die unwichtigste.
Es ist schon vielen Beobachtern aufgefallen, daß die
Liebesehen gerade nicht die glücklichsten sind. Oder nur in
den seltensten Fällen. Woher mag das kommen? Man sollte
glauben, daß der Instinkt der sicherste Führer für die Liebe
ist. Ja — für die Liebe ist er der beste Führer. Aber Liebe
und Ehe sind eben nicht identisch. Wir müßten erst das
Rätsel der Liebe erklärt haben. Man lächle nicht. Es gibt
noch mehr Rätsel in der Alltagswelt als wir glauben. Schon
*) Aus »Das liebe Ich.< Berlin 1913. Verlag Otto Salle
334 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
das Thema der Liebeswahl fordert den Scharfsinn aller Psycho-
logen heraus. Erst das ganze Problem der Liebe.
Was für sonderbare schematische Vorstellungen haben wir
bisher von der Liebe gehabt! Sie trug zwar immer etwas
Rätselhaftes und Unerklärliches an sich. Sie trifft den Menschen
wie ein Blitzschlag; sie macht ihn blind für alle Strahlen der
Erkenntnis und taub für alle Stimmen der Vernunft. Ja, Lieben
heißt Fühlen — und wo Gefühle herrschen, wird der Intellekt
ein hilfloser Sklave. Nun sind wir Menschen derart geartet,
daß wir nicht zugeben wollen, daß wir diese oder jene Hand-
lung aus einem dunklen und unverständlichen Gefühl heraus
begehen. Wir suchen immer intellektuelle Gründe, »Ratio-
nalisierungen« für unser Gefühlsleben. Wir durchsetzen unsere
Gefühle mit Denkvorgängen. So entdeckt der Liebende an
dem geliebten Objekt alle möglichen und unmöglichen Vor-
züge, um seine Liebe vor sich selbst zu entschuldigen. Diese
Vorzüge brechen in sich wie ein Kartenhaus zusammen, wenn
der Affekt der Liebe schwindet und das geschärfte Auge des
Hasses die Fehler vergrößert, die bisher so leicht und so gern
übersehen wurden.
Ich spreche schon von Haß und habe erst von Liebe
gesprochen. Gibt es überhaupt eine Liebe, die zugleich hassen
kann?
Es gibt im menschlichen Leben keinen Affekt, der nicht
durch einen Gegenaffekt, keinen Trieb, der nicht durch einen
Gegentrieb gebunden und im Gleichgewichte gehalten wird.
Am schönsten läßt sich diese Erscheinung an einem Beispiele
aus der organischen Welt erklären. Unsere Gesundheit wird
garantiert durch ein System von Blutdrüsen, von denen mehrere
die Rolle von Antagonisten spielen. Die eine Drüse sondert
einen Stoff ab, der zum Gift würde, könnte er nicht vom Stoffe
einer anderen Drüse unschädlich gemacht werden. Entfernt
man eine der Drüsen, so entsteht infolge der übermäßigen
Absonderung des einen Stoffes ausnahmslos eine Erkrankung,
es sei denn, daß eine dritte Drüse hilfreich beispringt und die
Rolle des Antagonisten übernimmt. Ähnlich ergeht es uns
auch mit unseren Trieben. Wie ein Uhrwerk greifen die ver-
schiedenen Triebe ineinander. Jedem Trieb entspricht ein
Gegentrieb, der ihn in: Schranken hält. Es ist ein ewiges
Auf- und Niederwogen, wobei bald die einen, bald die anderen
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 335
Triebe die Oberhand erhalten. Alles im menschlichen Leben
ist »bipolar«*).
Es gibt also keine Liebe ohne Haß, und es gibt keinen
Haß ohne Liebe. Der Gegensatz von Liebe ist nicht Haß,
sondern Gleichgültigkeit; der Gegensatz eines Gefühls kann
nur die Gefühllosigkeit sein. Die Abneigung, die affektativ
gefärbt ist, dient häufig nur dazu, eine Neigung zu verbergen
und sich gegen eine Neigung zu schützen. Liebe und Haß
müssen Hand in Hand gehen und wir müssen den Menschen,
den wir lieben, zugleich hassen, weil dieser Haß schon in der
Natur der Liebe begründet ist. »Plus on aime une maitresse,
plus on est pres de la hair« — sagt Rochefoucauld.
Freilich ist dabei eines zu bedenken. Dieser Haß wird
sich nie offen zeigen. Er wird unterirdisch sein Wesen treiben,
sich anstauen, sich in Träumen austoben, bis er bei irgend-
einer Gelegenheit riesengroß und übermächtig hervorbricht, so
daß wir fassungslos und überwältigt diesem Phänomen gegen-
überstehen, und alle unsere intellektuellen Erkenntnisse der
tosenden Urgewalt des Affektes gegenüber vollkommen versagen.
Man wird nach diesen Ausführungen besser verstehen,
wenn ich betone, daß zwischen beiden Geschlechtern ein un-
aufhörlicher Kampf besteht, den ich den »Liebeskampf« nenne.
Die stärkste Tendenz des Menschen ist, wie Nietzsche es sehr
treffend betont, sein Wille zur Macht. Jeder Mensch will
herrschen, jeder will König sein, wenigstens in seiner Jugend,
ehe die unbarmherzige Zeit seinen Rücken gebeugt und ihn
ans Dienen gewöhnt hat. Diese Herrschsucht der Menschen
zeigt sich nirgend so deutlich, als im kleinen Kreise. Man
betrachte einmal, welch erbitterter und lächerlicher Kampf in
kleinen Verbänden um die Herrschaft geführt wird. Wer nicht
daheim herrschen kann, versucht es draußen in der Welt, er
wird Obmann eines Vereines und erliegt schließlich der
Herrschsucht seiner Freunde.
Ich habe Familientragödien gesehen, die ihre Wurzeln in
diesem Willen zur Macht haben. Und welche kleinliche An-
lässe! Ich erinnere mich besonders eines Falles, in dem eine
*) Ich habe dies Gesetz der Bipolarität in meinem Buche »Die
Sprache des Traumes« (Verlag J. F. Bergmann, Wiesbaden, 1911) eingehend
begründet.
336 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Schwiegermutter und eine Schwiegertochter gemeinsam den
Haushalt führen sollten. Ein erbitterter Kampf hatte sich
zwischen den beiden Frauen entsponnen, wer dem Dienst-
mädchen etwas »anzuschaffen« hätte. Ein banales Beispiel.
Aber es illustriert besser meine Behauptungen, als das Er-
habenste, was ich finden könnte. Hatte die junge Frau be-
stimmt, der Waschtag werde am Dienstag stattfinden, sah die
alte Frau darin eine Umgehung ihrer Herrscherrechte und setzte
den Freitag fest. Hatte die alte Frau bestimmt, daß morgen
Erdäpfelsuppe und Nierenbraten zu Tische kommen sollte, so
empörte sich die junge dagegen und versuchte eine Nudel-
suppe und ein Rindfleisch durchzusetzen. Beide Aufträge
prasselten auf das Haupt des Dienstmädchens, und der Sohn,
der zugleich Gatte war, sollte die oberste Instanz spielen.
Man wäre versucht, über diese kleinen Komödien zu lächeln,
wenn sie sich nicht so häufig in Tragödien verwandeln würden.
Die Junge ging an diesen Kleinigkeiten zugrunde. Sie ver-
blutete innerlich, als sie aufhörte, ihrem Mann davon Mitteilung
zu machen. Sie wollte ihn nicht kränken. Warum suchen wir
immer für die Tragödien des Lebens große heroische Motive?
Oft führen große Motive zu kleinen Handlungen, und kleine
Anlässe haben schon die größten Ereignisse herbeigeführt.
Solchen kleinen Kämpfen opfern edle Herzen ihre besten Kräfte.
Aber der Kampf ist uns Bedürfnis. Ohne Kampf ist das Dasein
unmöglich. Wo die Gelegenheit fehlt, kommt es zum Kampfe
gegen das eigene Ich. Der Wille zur Macht zerschellt meistens
an diesem steinharten Ich. Selbstbeherrschung lernen die
Menschen am schwersten.
Doch kehren wir zu unserem Thema zurück. Der Wille
zur Macht verläßt den Menschen niemals. Und da er ihn in
großen Verhältnissen da draußen nicht anwenden kann, so übt
er ihn im kleinen. Und wenn es nur ein Hund oder Pikkolo
ist, etwas zum Beherrschen muß jeder Mensch haben. Leider
werden meistens die Kinder unter dem Vorwande einer guten
Erziehung die Opfer dieser unausbleiblichen Herrschergelüste.
Die »gute Erziehung« ist oft genug ein Vorwand, Macht zu zeigen.
Doch wie weit bin ich von der Liebe abgekommen? Und
doch, ich war auf dem rechten Wege. Ich wollte nur den Be-
weis liefern, daß der Mensch, der sich in einen zweiten ver-
liebt, so verliebt, daß er allen seinen Fehlern gegenüber blind
ÖFFENTLICHES BEILAGER UND EINSEGNUNG DES EHEBETTES
(Holzschnitt aus dem Jahre 1483)
(Zu dem Aufsatz ‚Das öffentliche Beilager‘‘ Seite 342)
PD L G
WE e
Й
KT E NERA
HOCHZEIT AUF MAGINDANO (einer der Philippineninseln) im Jahre 1792.
(Nach,einem auf Grund der Originalzeichnung entworfenen älteren Kupferstich.)
ÖFFENTLICHES BEILAGER. Kupferstich von PICART. (Um 1720).
(Zu dem Aufsatz ‚Das öffentliche Beilagrer‘' Seite 342)
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 337
wird und seine Vorzüge vergrößert, diesen zweiten Menschen
als seinen Herrscher anerkennt, als einen unbeschränkten Herr-
scher über seine Gefühle und ihm zuliebe den Willen zur Macht
aufgibt. Der Liebende unterwirft sich seinem geliebten Objekte.
Damit ist aber der Wille zur Macht nicht gebrochen, sondern
nur zurückgedrängt. Der Haß, der sich an diese Unterdrückung
der Individualität knüpft, wird unter die Schwelle des Bewußt-
seins gestoßen und dem Lichte des Tages fern gehalten. Aber
diese Unterwerfung unter den Willen eines zweiten Menschen
trägt in sich schon den Keim der Empörung. Der Haß nährt
sich von den kleinen Abfällen der Erkenntnis der Fehler des
anderen und wird immer feister und stärker, und droht, bald
die Riegel seines Gefängnisses zu sprengen. Er sucht nach
Entladung. Und er verbündet sich mit der Herrschsucht und
führt einen stummen, aber desto erbitterteren Kampf gegen die
Liebe. Das ist der Grund, daß das Verliebtsein, dieser patho-
logische Rauschzustand, ein Ende nehmen muß. Wir sind nicht
geschaffen, immer auf den Höhen der Ekstase zu wandeln.
Wir brauchen die Tiefen ebenso, wie wir die Höhe nicht ent-
behren können. Dem Rausche muß die Ernüchterung folgen
und der Ernüchterung ein neuer Rausch. Ein ewiges Auf und
Nieder ist das Spiel der Seele und ihrer Kräfte.
Und nun setzt in der Liebe, mag sie nun zur Ehe führen
oder nicht, der stille Kampf der Geschlechter um die Herrschaft
ein. Hier gibt es keine Kompromisse. Es gibt nur ein Ent-
weder-Oder. Hammer oder Amboß, das ist die Frage einer
jeden Ehe. In der Ehe findet der Haß neue Nahrung, weil
der stärkste Hang des Menschen, sein Wille zur Macht, eigent-
lich der Trieb zur Unabhängigkeit ist. Nicht ohne Grund
sprechen die Menschen so viel von der Freiheit und bringen
ihr die schwersten Opfer. Die persönliche Freiheit ist und
bleibt unser größtes Ideal. Sie ist nur der Ausdruck eines
Triebes, den man den Unabhängigkeitstrieb bezeichnen könnte.
Eigentlich ist im Grunde seiner Natur jeder Mensch Anarchist,
und Stirner hat ein Recht, wenn er vom »Einzigen« spricht.
Jeder Mensch ist sich der einzige Mensch. Und all die Unter-
werfung, die die Kultur von uns fordert, das Aufgeben des
Persönlichen und Unabhängigen, das Einfügen in eine Gemein-
schaft, all das ist ein Opfer. So ein Opfer ist auch die Ehe!
Wir opfern unsere polygamen Instinkte zu Ruhm und Frommen
Geschlecht und Gesellschaft VIII, 8. 22
338 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
eines Wesens. Wir opfern gern, so glauben wir, aber im
Innern des Menschen, wo die bösen Triebe (oder wollen wir
sie nicht lieber die uralten, vielleicht sogar heiligen Urtriebe
des Menschen nennen?) schlummern, da empört sich ein ge-
heimes Etwas gegen dieses Opfern der Persönlichkeit, beginnt
sich des Hasses zu bedienen und bohrt in dunklen, geheimnis-
vollen Gängen gegen die Oberfläche.
Und so ist jede Ehe ein geheimer Kampf zwischen Mann
und Frau. Ein Kampf, der nie an den Stellen ausgefochten
wird, wo die Gegensätze aufeinanderprallen sollten. Es sind
Kleinigkeiten, die als symbolischer Ersatz viel wichtigerer
Kräfte den Sieg bedeuten sollen. Eine glückliche Ehe ist wohl
diejenige, wo der Kampf mit der völligen Unterwerfung des
einen Teiles geendet hat. Oder es wird nach vielen müh-
seligen Kämpfen das Reich des Herrschens für beide Teile
festgestellt, und so ein Kompromiß geschaffen, eine Art Aus-
gleich, gegen den aber immer unzufriedene oppositionelle Re-
gungen revoltieren. In keiner Ehe ruht dieser Kampf gänzlich.
Die friedlichste Ehe gleicht dem modernen Weltfrieden: sie ist
ein bewaffneter Friede. Dieser Liebeskampf erklärt uns manche
rätselhafte Erscheinungen des Daseins. Wir werden sehr
häufig Frauen bedeutender Männer begegnen, die die Größe
ihres Mannes nicht anerkennen. wollen und seine schärfsten
Kritiker sind. Wir werden Männer finden, die eine von aller
Welt vergötterte Frau, welche gerade die ihre ist, niemals
schön finden wollen; wir werden sehen, daß Ehen in die
Brüche gehen, weil sich die Menschen zu viel lieben und
keiner sich dem andern unterwerfen will.
Auch auf das soziale Leben überträgt sich dieser Kampf
der Geschlechter und tobt heute wohl stärker denn je. Wie
wußte sich die ganze Männerwelt zu empören, als sich die
Frauen das heilige Symbol der Männlichkeit, die Hose, an-
maßen wollten! Und wie erbittert kämpfen die Suffragetten
Londons um das bißchen Macht, das ihnen das Stimmrecht
verleiht! Der Kampf der Geschlechter hat groteske Formen
angenommen, seit er sich von der Liebe auf das soziale Gebiet
übertragen hat.
Noch wissen wir nicht, was uns die Zukunft bringen wird.
Das Weib war viel zu lange unterdrückt und mußte gehorchen,
nun hat sich ein Haß im Laufe der Jahrtausende angesammelt,
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 339
der mit explosiver Gewalt hervorbricht und alles zerstören will,
was sich ihm in den Weg stellt. Die Kraft, welche jetzt eine
Fensterscheibe zertrümmert und einen Policeman vom Pferde
reißt, ist die angesammelte Kraft von ruhmlosen Vergangen-
heiten, die nichts als das Märchen eines Amazonenreiches
überliefert haben. Wie groß müssen diese Frauen im Lieben
sein, wenn sie so hassen können! Und wie weit sind sie von
der Erkenntnis, die wir aus unseren Betrachtungen gewonnen
haben: »Ich hasse dich, weil ich dich so liebe, und ich liebe
dich, weil ich dich so hasse!«
Es erhellt aus dem Wesen der Bipolarität, daß dieser
Kampf niemals enden wird. In diesem Streite kann es weder
Sieger noch Besiegte geben. Jede Niederlage ist zugleich ein
Sieg, der den Unterlegenen mit roten Rosen kränzt. Und jeder
Sieg zahlt sich mit bitteren Tränen. Das ist das uralte Märchen
von dem Kampf der Götter mit den Riesen. Es ist die Er-
kenntnis, die mit den Trieben ringt. Und leider hat jeder
Mensch seine Stunde, da er die Götterdämmerung erleben muß.
Jeder Liebe, und sei sie noch so groß — ist ein Ende be-
schieden. Es ist das Zeichen großer Menschen, daß sie sich
dazu bekennen, große Gefühle in Schönheit sterben zu lassen.
Es wäre also eine Bedingung für das Glück der Ehe, mit einer
gewissen Resignation an sie heranzutreten. Oder sollte man
sich gründlicher für diesen Kampf vorbereiten und sich beizeiten
gegen sein eigenes Kämpfer-Ich zur Wehr setzen? Seine An-
sprüche zu einem ehrenvollen Frieden herabstimmen, in dem
es wahrhaft weder Sieger noch Besiegte gibt?
Es spielen ja so viele Momente in dieser Frage eine Rolle,
die ich aus leicht begreiflichen Gründen hier nicht ausführen
konnte. Daß die erotische Gemeinschaft auch eine Überein-
stimmung der erotischen Tendenzen verlangt, wäre schon fast
ein Gemeinplatz, würde er nicht so leicht bei der Frage der
Ehe vergessen werden. Aber je höher die erotische Kraft sich
ausdrückt, je stärker ihre Beteiligung in der Ehe ist, desto
leichter kommt es zu jenem verderblichen Kampfe, den ich zu
schildern mich bemüht habe. Gerade in den sexuellen Be-
ziehungen spielt der geheime Kampf der Geschlechter eine
große Rolle. Ich kenne viele Menschen, welche die Erfüllung
ihrer Liebe fliehen, weil sie für sie eine vollständige Unter-
werfung und ein Aufgehen ihrer Individualität bedeuten würde.
22°
340 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Hebbel, der geniale Dichter und unübertroffene Psychologe, hat
das in seinem Erstlingsdrama »Judith« trefflich ausgedrückt.
Judith, die Holofernes ebenso liebte als sie ihn haßte, sagt
zu Mirza:
»Daß er mich mit sich fortzerrte, daß er mich zu sich riß
auf sein schändliches Lager, daß er meine Seele erstickte, alles
dies duldetest du? Und nun ich mich bezahlt machen will
für die Vernichtung, die ich in seinen Armen empfand, nun ich
mich rächen will für rohen Griff in meine Menschheit hinein,
nun ich mit seinem Herzblut die entehrenden Küsse, die noch
auf meinen Lippen brennen, abwaschen will, nun errötest du
nicht, mich fortzuziehen?« Sie muß Holofernes töten, um ihre
Schmach zu tilgen. Sie empfindet ihre sexuelle Hingabe als
Niederlage ihrer Persönlichkeit, sie denkt nur an sich und
sieht sich »kleiner und kleiner werden, bis sie in Nichts ver-
„schwindet.«e — —
Wir werden eine ganze Zeitkrankheit begreiflich finden.
Wir werden verstehen, daß es Neurotiker gibt, die vor jeder
Liebe als einer sie bindenden Liebe zurückscheuen, weil sie
das fremde Imperium fürchten. Die tiefste Ursache vieler
Störungen der Liebesfähigkeit!
Sich einem ganz geben, heißt sich aufgeben und sich ver-
lieren. Ich kenne eine geistig sehr hochstehende Frau, die
zwei Männern gehört. Der eine läßt sie alle Wonnen der
Sexualität empfinden. In seinen Armen wird sie zu »Nichts«
und zerfließt vollkommen. Und sie badet sich — nach ihrem
Ausspruche — wie in einem Jungbrunnen für Wochen gesund.
Aber diesen Mann haßt sie und flieht seine Nähe, weil sie
jede Umarmung als eine Niederlage wertet. Dagegen liebt sie
schwärmerisch einen Künstler, in dessen Umarmungen sie
vollkommen kalt bleibt. Da ist sie die Herrscherin und fühlt
nur die Ekstasen des Herrschens ...
Dieser Kampf zwischen Erotik und Sexualität, zwischen
sinnlichem Begehren und geistigem Durchdringem, ist eine
Zeitkrankheit. Emil Lucka spricht in seinem geistreichen Werke
von den »drei Stufen der Erotik«: Von der ersten, der rein
sinnlichen Liebe, der zweiten, der rein geistigen Liebe und der
dritten Stufe, der Verschmelzung von Sinnlichkeit und ver-
geistigter Liebe. Dieses dritte Stadium ist die Sehnsucht aller
höher differenzierten Kulturmenschen. Aber wie wenigen Aus-
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 341
erwählten ist es beschieden, dies Ideal zu erreichen? Der
Kulturmensch müßte sich durch eine unendliche Reihe von
Enttäuschungen zur Erfüllung dieser Sehnsucht durchlieben.
Es ist wohl der seltenste Zufall, daß eine Ehe diese Erfüllung
bedeutet. Wo sie es ist, da kann der Kampf schweigen und
der Haß sich für alle Zeiten zurückziehen.
Man begreift die Liebestragödien unglücklicher Menschen,
welche dies Ideal gefunden haben und es nicht besitzen können.
Man begreift den Liebestod, da das grausame Leben das
höchste Liebesleben versagt.
Doch die meisten Menschen müssen ihre Forderungen auf
ein bescheidenes Maß reduzieren. Sie müssen sich entweder
mit der erfüllten Sexualität oder mit dem geistigen Bande be-
gnügen. Sexualität oder Erotik, das ist das Ende unserer
Irrfahrten nach dem dritten Stadium der Liebe.
Wie aber in einem solchen Falle über die Schwierigkeiten
hinwegkommen, wie die gefährlichen Klippen umschiffen, wenn
der Geist sich gegen den Körper empört, wenn der Körper
dem Geiste den Gehorsam kündigt? Wie kann in solchen
Kompromißehen ein Zustand des Friedens zu stande kommen,
in dem der Kampf der Geschlechter wenigstens scheinbar
ruht? Hier helfen nur die Selbsterkenntnis und ein reiches
gemeinsames Feld großer Interessen. Wir ersticken alle in
einem Sandmeer von Nichtigkeiten. Wir leiden unter Kleinig-
keiten und verlieren dabei die Fähigkeit, uns über das Große
zu freuen und es in seiner vollen Größe zu erfassen.
Das Glück der Ehe beruht auf der Fähigkeit, die klein-
lichen Objekte beharrlich zu übersehen und seine Kampflust
auf die Welt einzustellen. Große Ziele machen große Menschen.
Man verlange nicht alles von der Liebe, man überschätze seine
Liebe nicht. Die Liebe kann nicht alles leisten, wenn man
auch geglaubt hat, sie versetze Berge. Eine solche Liebe ist
sehr selten. Wir sind heroischer Gefühle nicht mehr fähig.
Die Zeit des Heldentums ist vorüber. Kleine Menschen haben
auch kleine Gefühle. Allein man kann auch bei kleinen Ge-
fühlen glücklich sein, wenn man sich bescheidet. Manche
Ehesuppe wird nicht warm, weil man für ein kleines Feuer zu
große Töpfe verwendet.
Den Glücklichen aber, die ihre körperliche und geistige
Ergänzung gefunden haben, blüht das Leben in seinen reichsten
342 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Farben. Sie kennen nicht die Demütigungen der Unterwerfung
und nicht die Triumphe des Herrschens. Sie haben das große
Wunder vollbracht, zu siegen und zu unterliegen, zu gehorchen
und zu befehlen. Aus zwei Menschen wurde ein Doppelwesen,
das alle Möglichkeiten der Zukunft in sich schließt ......
8 8
DAS ÖFFENTLICHE BEILAGER.
Von Dr. JOHANNES MARR.
ürde man den volkstümlichen Büchern, die sich mit der
Schilderung des Mittelalters beschäftigen, glauben, dann
waren die sittlichen Zustände auf der Frühstufe unserer
Kultur weit besser, als in unserem Zeitalter, das durch den
ungeheuren Aufschwung von Wissenschaft und Technik eine
der größten Epochen in aller Zukunft wohl bleiben wird.
Namentlich in den Beschreibungen deutscher Sitte und Zucht
können sich die Verherrlicher des Mittelalters nicht genug tun,
und heute, hundert Jahre nach der Romantik, erleben wir bei-
nahe eine ebenso kritiklose Überschätzung der guten, alten
Zeit wie damals, wo es noch keinen Dampf und keine Elek-
trizität gab und Deutschland ein uneiniger, zerrissener, von
tausendfältigen fremden Einflüssen beherrschter Staat war, in
dem neben Gott und Papst der Korse die wichtigste und aus-
schlaggebende Rolle spielte. In Wirklichkeit läßt sich die
Sittlichkeit so grundverschiedener Epochen wie des Mittelalters
und der Neuzeit miteinander nicht nur nicht vergleichen, sondern
es ist geradezu lächerlich, Zustände zu preisen, die aus ganz
anderen wirtschaftlichen und geistigen Bedingungen flossen,
und die der Ausdruck nicht nur einer anderen Weltanschauung,
sondern auch einer ganz verschiedenen Rasse waren. Das
germanische Mittelalter, als ein Gebilde der Junker und Pfaffen,
hatte die unverdauten Reste antiker Kultur mit heimischer
Barbarei zu einem Ganzen verschmolzen und seine geringe
Geistigkeit, sein politischer Krämersinn und seine ethische
Unzulänglichkeit erklären sich aus diesem chaotischen Durch-
einander. Mit der Sitte des Mittelalters ist es so wie mit der
politischen Überzeugung der Neuzeit. Ihr Antlitz ist charakter-
los, weil zuviel fremde Spuren darinnen herumgewischt haben.
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 343
Das Leben und Treiben sowohl auf den junkerlichen Burgen,
als auch in den Robot treibenden Schichten des Landes ist
ein unsäglich primitives und entbehrt jeder geistigen Perspek-
tive. Einzig die erotische Gefühlsseite erfährt eine stärkere,
individuelle Betonung. Aber auch die vereinzelten Äußerungen
von Persönlichkeitsbewußtsein tragen unendlich rohe Züge,
indem nämlich alles, was mit der Erotik zusammenhängt, ins
Hanebüchen-Handgreifliche umgedeutet wird und Sinnlichkeit
in diesem Zeitalter nichts anderes als einen Triumph der
nackten Sexualität bedeute. Wenn man sich diese Tatsachen
vor Augen hält, dann vermag man sich schließlich über gewisse
Bräuche und sexuelle Gewohnheiten des Mittelalters nicht zu
wundern, auch wenn sie dem normalen Empfinden des im
20. Jahrhundert lebenden Menschen widerstreben oder von ihm
als lächerlich befunden werden, weil ihnen in unserer Vor-
stellung etwas Unsauberes апһайе Der Grundirrtum aller
nachträglichen Wertung des Mittelalters liegt darin, daß Men-
schen mit anderer Bildung und mit einem, bis zur sublimen
Höhe verfeinerten Geschmack und Reinlichkeitsgefühl Be-
rührungspunkte mit einer Kultur suchen, in der nach unseren
Begriffen auch der Stämmling eines uradeligen Geschlechts
noch ein derber, grobschlächtiger und zynischer Knecht war. Heine
hat auf diesen Widerspruch in seiner geistreich-boshaften
„Geschichte der Romantik“ hingewiesen, wenn er dem liebens-
würdig-sentimentalen Herrn Fouque in seiner naiven Spötterart
zu verstehen gibt, daß seine eisengepanzerten, von Tapferkeit
und Edelmut triefenden Ritter in Wirklichkeit recht unangenehme
und übelriechende Lederhosen unter ihrem Harnisch getragen
hätten. Die Romantiker alten Schlages und die Romantiker
des letzten Jahrhunderts, die die mittelalterliche »Großzügigkeit
der Sitten« neu beleben wollten, waren und sind noch heute
Operettengestalten.. Es ist dasselbe, wie wenn ein anderer
geistreicher Epigone die Kultur der Papuas oder der Südsee-
insulaner für den westlichen Kontinent adoptieren wollte,
So ein vielbesprochenes Kapitel aus der mittelalterlichen
Sittengeschichte ist die Eheschließung unserer Vorfahren mit
allen den Zeremonien, die zum Teil sehr merkwürdig und zum
Teil nach unseren Begriffen recht abstoßend waren. Dazu
gehört unter anderem die Sitte des öffentlichen Beilagers, der
symbolischen Vollziehung des intimsten Liebesaktes vor den
344 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Augen der umstehenden Verwandten und womöglich eines noch
recht zahlreich zusammengeströmten Hochzeitspublikums. Dieser
Brauch hat das ganze Mittelalter hindurch bestanden, und seine
Abschaffung fällt erst in das siebzehnte Jahrhundert, als
die Sitten sich im allgemeinen zu ändern und zu verfeinern
begannen. Gänzlich ist ja der Brauch des öffentlichen Bei-
lagers bis auf den heutigen Tag noch nicht erloschen, und
manche Hochzeitsscherze auf dem platten Lande deuten, wie
wir noch sehen werden, auch heute noch auf die »glorreiche«,
alte Zeit zurück. Im Mittelalter jedoch war das öffentliche
Beilager ein Teil der Hochzeitszeremonien überhaupt und
selbstverständlich ist es keinem Menschen eingefallen, irgend
etwas Besonderes oder gar Anstößiges darin zu finden. Geht
man dieser zweideutigen Sitte auf den Grund, so entdeckt
man hier eine zweifache Wurzel. Zunächst die lose Form der
mittelalterlichen Eheschließung an und für sich und dann das
Beispiel der hochadeligen und fürstlichen Kreise, bei denen
das öffentliche Beilager erst seine historisch interessante und
ausgedehnte Bedeutung gewann. Die mittelalterliche Form der
Eheschließung war eigentlich sehr einfach. Mann und Weib
verlobten sich und räumten von dem gleichen Moment an
einander alle wünschenswerten Gattenrechte ein. Staat und
Kirche hatten ursprünglich sehr wenig mitzureden. Das Treu-
versprechen, das sich das junge Paar gab, galt als das richtige
Band, dem die Kopulierung in der Kirche oft erst nach Monaten
oder Jahren nachfolgte. Für das mittelalterliche Eherecht be-
standen keine bestimmten Formen und so kam es, daß sich
hier mitunter die größten Schwierigkeiten und Übelstände
geltend machten. So wurden Winkelehen, Doppelehen, Ehen
zwischen Blutsverwandten, unmündigen Kindern und was
dergleichen mehr ist, geschlossen, und die Kirche hatte dann
unter Umständen eine recht schwierige Entscheidung bezüglich
der Gültigkeit solcher Ehen zu fällen. Bekannt ist ja die
Stelle aus den Tischreden Luthers, wo er die Skrupel eines
derartigen Bigamisten, der sich mit zwei Weibern auf ganz
richtige Weise verlobt hatte, wiedergibt, um eine seiner gehar-
nischten Bußpredigten daran zu knüpfen. Man sieht, noch zu
Zeiten des Eislebener Mönches, also an der Schwelle des
16. Jahrhunderts, steht es mit der Ehereform im geheiligten
römischen Reich deutscher Nation oberfaul. Diese Mißstände
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 345
haben auch die katholische Kirche bewogen, auf dem Triden-
tinum das dreimalige Aufgebot mit der daranschließenden
kirchlichen Trauung als Bedingung für eine gültige Ehe auf-
zustellen. Gleichzeitig wurde die Sitte des öffentlichen Bei-
lagers nach Möglichkeit eingeschränkt, ohne selbstverständlich
zum Schwinden gebracht zu werden, denn dem stand, wie gesagt,
die Praxis der junkerlichen und hochadeligen Kreise entgegen.
Das Wesen des öffentlichen Beilagers ist eigentlich mit
wenigen Worten zu kennzeichnen. Das Paar, das sich gegen-
seitig fürs Leben versprochen hatte, wurde von seinen Eltern,
Verwandten und Bekannten in die Brautkammer geleitet, hierauf
gingen Bräutigam und Braut gemeinschaftlich zu Bette, während
die Verwandten die Bettdecke über sie legten, Hochzeitslieder
sangen und ein Priester, wenn ein solcher vorhanden war, über
dem ehelichen Lager den Segen sprach. Der ganze Vorgang
ist uns auf einzelnen Holzschnitten und Miniaturzeichnungen
in handschriftlichen Liedersammlungen überliefert. Daß es
hiebei nicht gerade sehr keusch zugegangen sein mag, dürfte
schon daraus ersichtlich sein, daß im Mittelalter Männlein und
Weiblein splitternackt durcheinander schliefen, und selbst in den
vornehmsten Familien die wohltätige Einrichtung eines Nacht-
hemdes nicht bekannt war. Da mag denn die symbolische
Handlung, die in dem gemeinschaftlichen Zubettegehen der
Neuvermählten gipfelte, mitunter zu einer recht realistischen Posse
ausgeartet sein, an der das Brautpaar sowohl als auch die Zu-
schauer, ein weidliches Vergnügen gehabt haben dürften. Von
derartigen Hochzeitsfeierlichkeiten, die mit einem Öffentlichen
Beilager abschließen, erzählen uns die höfischen Epen und
zahlreiche Minnelieder das Nähere. Eine Beschreibung finden
wir beispielsweise in Frischlins »Drey schöne vnd lustige
Bücher«, wo die Hohe Zollerische Hochzeyt im Jahre 1599 mit
einem großen Aufwand von Details geschildert wird:
Rheingraff Ottho führt sie (die Braut) hinauf mit fleys
Jn jr gezimmer hüpsch und weyss.
Da wartet sie biss zu jr kam
Der junge Herr und Bräutigam
Mit allen Fürsten, Graffen, Herren,
So folgen theten willig geren.
Vor jnen her Trommeter bliesen,
Die stark in jre Pfeiffen stiessen.
Als nun der Hochborn Bräutigam
346 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Hinauff in sein Schlaffzimmer kam,
Sein Mantel und Kranz legt von sich,
Sein Wöhr und Ketten und gabs gleich
Seim Hofmaister, solches zu bewaren;
Derselbig thet den Fleys nicht sparen.
Als nun die Fürsten, Herren, Frawen
Stunden in diesem Gemach zu schawen,
Die zween Brautführer tratten her,
Die Gespons sie brachten höflich hehr
Und legten sie hinein inns Betth,
Jr weysse Kleider noch an hett.
Dann legten sie den Bräutigam
Zu seiner Gesponns also zusam,
Die Döcken überschlagen theten,
Biss sie ein Weyl gelegen hetten.
Gar bald sie wieder auffgestanden,
Die Fürsten, Herren seind vorhanden,
Wünscht jeder da für seinen theyl
Dem Bräutigam und Braut vil heyl
Viel glücks und guten segen reich;
Darnach lugt jeder, das er weich
Und selber in sein Kammer kumb,
An seinem Schlaff auch nichts versumb,
Der Brauch des öffentlichen Beilagers ist zweifelsohne ein
rein germanischer, wenn sich auch darüber in den Berichten
des Tacitus nichts findet. Er dürfte sich aber auf germanischem
Boden als ein echt volkstümliches Element entwickelt haben und
scheint von den Fürsten und Adeligen für ihre Zwecke über-
nommen worden zu sein. In dem Gedicht »Lohengrin«, das
bereits ziemlich früh anzusetzen ist, wird des Langen und
Breiten von der Vermählung Frau Elsas von Brabant mit dem
Schwanenritter erzählt, und die Hauptpunkte bildet die Be-
schreibung des öffentlichen Beilagers, das der Gralsritter mit
der schönen brabantinischen Herzogstochter hielt. Auch in
anderen höfischen Epen findet sich eine Erwähnung dieser
Sitte. So in dem Nibelungenlied, wo Siegfried das Beilager
mit der züchtigen Krimhilde abhält, und in Konrad von Würz-
burgs sentimental-breitspuriger Erzählung »Engelhart und Engel-
trut«, wo ebenfalls dieser Sitte Erwähnung getan wird.
Wie tief eingewurzelt im Volke die Anschauung von der
Gültigkeit des Beilagers war, beweist der Umstand, daß sich
die Kirche wiederholt gegen den Unfug wenden mußte, der
mit dieser Einrichtung getrieben wurde. Bräute, deren Ver-
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 347
lobter noch vor oder knapp nach der Hochzeit gestorben war,
legten sich zu seinem Leichnam unter eine gemeinschaftliche
Decke und betrachteten sich von diesem Moment an als recht-
mäßig getraute Frauen. Nicht Vollziehung des Beischlafs
war nach mittelalterlicher Anschauung das Ausschlag-
gebende, sondern es genügte schon das gemeinschaftliche
Schlafen mit dem Geliebten unter einer Decke. Diese An-
schauung mag, wie schon Christoph F. Fischer im 18. Jahr-
hundert nachgewiesen hat, sich aus der Sitte der Probenächte,
die im Mittelalter im ganzen deutschen Volke verbreitet war,
entwickelt haben. Die Probenächte bestanden darin, daß die
Mädchen nach Ablauf einer Vorbereitungsfrist den Geliebten
zu sich ins Bett ließen, ohne daß es jedoch zu einem tatsäch-
lichen geschlechtlichen Verkehr kommen mußte. Zur rechts-
gültigen Verlobung genügte allein der Umstand, daß die Magd
mit dem Jüngling in einem Bette zusammen schlief. »Ist das
Bett beschritten, so ist das Recht erstritten. Die Decke über
dem Kopf, so sind die Eheleute gleich reich.« Hatte einmal
das Mädchen den Burschen so weit kommen lassen, dann
galten sie so gut wie verlobt, das Verhältnis konnte oft nur
unter erheblichen Schwierigkeiten rückgängig gemacht werden.
Ein Dokument, das sich mit einem solchen Verlöbnis be-
schäftigt, ist der Prozeß des Sigmund Stromer gegen Barbara
Löffelholz, die Mutter des nachträglich so berühmt gewordenen
Willibald Pirkheimer.
Sigmund Stromer klagt in dem Prozeß gegen die schöne
Barbara Löffelholz, daß sie ihm trotz der bewilligten Probe-
nächte nicht das gegebene Eheversprechen gehalten habe.
Wie weit die Intimitäten dieser beiden gegangen waren, erhellt
aus den Einzelheiten des Prozesses, wo die Art des »Probiers«
und die Teilnahme der Hausgenossen der Barbara Löffelholz
von dem jungen Paar eingehend geschildert werden.
Im übrigen waren die Probenächte nicht nur in den
unteren Volksschichten beliebt, sondern sie fanden auch bei
den Angehörigen der Patrizierfamilien, bis in die fürstlichen
und königlichen Häuser hinauf reichen Anklang. So kommt
im Parzival die jungfräuliche Königin Kondwiramur zu dem
schlafenden Helden und teilt mit ihm sein Lager. »Doch ist
dies bedungen, dass nicht berühren darf der eine des anderen
Bauch, Aus dem Jahre 1378 ist ein Dokument überliefert,
348 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
das auch Fischer in seinen »Probenächten der deutschen
Bauernmädchen« im Wortlaut mitteilt. Darin wird erzählt, das
Kaiser Friedrich III, als er sich mit der Prinzessin Leonore
von Portugal durch seine Verwandten verlobt hatte, jedoch mit
der Vollziehung der Ehe zauderte, von dem Onkel der Braut,
dem König Alfons von Neapel, ein Schreiben folgenden Wort-
lautes erhielt: »Du wirst also meine Nichte nach Deutschland
führen und wenn sie Dir dort nach der ersten Nacht nicht
gefällt, mir wieder zurücksenden oder vernachlässigen und
Dich mit einer anderen vermählen. Halte die Brautnacht mit
ihr deshalb hier, damit Du sie, wenn sie gefällt, als angenehme
Ware mit Dir nehmen, oder wenn nicht, die Bürde uns zurück-
lassen kannst.« Das Dokument ist auch nach einer anderen
Seite hin bemerkenswert, weil sich die lateinische Wiedergabe
einer Stelle aus dem Memoirenwerk des Papstes Pius II. daran
knüpft, in der erzählt wird, wie der Kaiser darauf hin mit der
Prinzessin von Portugal das öffentliche Beilager vollzog. »Es
hat sich zwar«, heißt es in dieser Niederschrift, »nichts anderes
zugetragen, außer daß sich das Paar küßte. Sie waren beide
bekleidet, und ‘gleich nach Vollzug der Ceremonie erhoben sie
sich vom Lager. So ist es bei den Deutschen Brauch, wenn
die Fürsten eine erste Ehe eingehen. Die spanischen Frauen,
die zugegen waren, dachten, daß es aufs Ganze ginge, als sie
sahen, daß sich der Zug nach dem Brautlager hin bewegte,
und brachen in ein Geschrei aus, daß sich hier eine schänd-
liche Tat vorbereite und schalten den König, der derartiges
zuließ. Dieser jedoch betrachtete nicht ohne Gelächter und
Vergnügen den fremdländischen Brauch.« In der Nacht darauf
wurde dann das Beilager tatsächlich in Gegenwart des ganzen
Hofstaates von Portugal und des Königs vollzogen, worauf
dann Friedrich III. seine junge Gemahlin nach Deutschland
führte.
Eine andere historische »Probier« ist die Johanns IV. von
Habsburg mit Herzlaude von Rappoltstein, die im Übrigen
nicht so harmlos verlief, wie andere fürstliiche Verlobungen
jener Zeit. Der Graf holte sich nach halbjährigem Verkehr
mit der temperamentvollen Herzlaude einen Korb, weil es sich
angeblich herausgestellt hatte, daß ihm alle zur Ehe tauglichen
Qualitäten abgingen. Ebenso hielt Herzog Albrecht IV. von
Bayern mit der Tochter Friedrichs Ill. bereits in Innsbruck das
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 349
öffentliche Beilager ab, während die Hochzeit erst später in
München erfolgte.
Bei den fürstlichen Hochzeiten hatten sich im Laufe der
Zeit eine Reihe von erstarrten Formen ausgebildet, die in der Ein-
holung der Braut aus der Ferne und in der Hochzeit per procura
gipfelten. Diplomatische Gründe bewogen die mittelalterlichen
Fürsten in der Mehrzahl der Fälle Ehen einzugehen, wo beide
Teile noch gar nicht im mündigen Alter waren oder einander
völlig fremd gegenüber standen. Da der Fürst auch selten auf
eine Herzensneigung Gewicht legte, sondern nur die Ver-
mehrung des Reiches vor Augen hatte, andererseits die Staats-
geschäfte häufig seine persönliche Abwesenheit auf die Dauer
nicht zuließen, so betraute er irgend einen Höfling oder Diplo-
maten mit seiner Stellvertretung, der dann um die Braut warb
und nach erhaltenem Jawort die Hochzeit mit ihr gleich auf
der Stelle vollzog. Die Vermählung wurde gewöhnlich mit
großem Pomp gefeiert und das Beilager mit dem Spezial-
gesandten, der in eine schwere Prunkrüstung gehüllt war,
öffentlich vollzogen, wobei zum Zeichen der bewahrten Keusch-
heit das scharfe Schwert zwischen ihn und die Herrin gelegt
wurde. Der österreichische Chronist Jacob Unrest beschreibt
ein solches Beilager, das anläßlich der Vermählung Maximilians I.
mit der Prinzessin Anna von Bretagne stattfand: »Kunig
Maximilian schickt seiner Diener einen genannt Herbolo von
Polhaim gen Britannia zu empfahen die Kunigliche Braut; der
war in Stat Remis (Reims) erlichen empfangen, und daselbs
beshluff der von Polhaim die Kunigliche Brauet mit ein gewapte
Man mit den rechte Arm und mit dem rechten fus blos und
ein blos schwert dazwischen gelegt, beschlaffen. Also haben
die alten Fürsten gethan, und ist noch die Gewonhait. Da das
alles geschehen war, war der Kirchgang mit dem Gottesdienst
nach Ordnung der heiligen Kahnschafft mit gutem fleiss vollpracht.«
Daß die bürgerliche Gesellschaft die Beilagersitte des
Hochadels nachäffte, beweist eine Dresdener Hochzeitsordnung,
die aus dem letzten Viertel des 15. Jahrhunderts stammt. Nach
dem Wortlaut des genannten Schriftstückes durften die Hoch-
zeitsgäste das neuvermählte Paar zu Bett bringen, mußten aber
dann das Gemach verlassen, während das Brautpaar dann auf-
stand und mit den Gästen weitertafelte.
Obwohl das öffentliche Beilager in der »Probier« eine
350 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
verwandte Institution besitzt und bei dem offiziellen Zubettgehen
der Neuvermählten die nächsten Verwandten und Gäste genau
so zugegen waren, wie bei dem Besuch des Bräutigams in der
Kammer der Braut, so ist doch ein wesentlicher Unterschied
zwischen diesen beiden Bräuchen schon deshalb vorhanden,
weil bei dem öffentlichen Beilager, abgesehen von den bäuer-
lichen Kreisen, es immerhin ganz züchtig zuging. Das Be-
schlafen auf Treu und Glauben dagegen war, wie noch heute
in den Alpenländern und auch in den slavischen Gegenden,
durchaus nicht immer eine symbolische Handlung, und sehr
oft gewährte das Mädchen dem Burschen alles, ohne dadurch
bei etwaigen Nachfolgern an Wert zu verlieren. Allerdings
durften sich beide Teile nicht ungeschickt benehmen, derart,
daß vorzeitig eine Schwängerung erfolgte, oder das Mädchen
durfte nicht mehrere Probenächte mit mehreren Burschen er-
folglos abgehalten haben. Daß jedoch auch der Beischlaf
mitunter coram publico vollzogen wurde, ja nach dem Gesetz
sogar befohlen war, ist bis in das 17. Jahrhundert hinein er-
wiesen. Das Mittelalter und die Renaissance kannten nur eine
Eigenschaft, die dem Knecht vor dem Ritter eine Sonderstellung
verlieh: die geschlechtliche Aktivität. Dementsprechend galt in
der Ehe allein derjenige Partner als vollwertig, der die Ansprüche
des anderen Teiles voll und ganz befriedigen konnte. Ein
Ehebruch, der wegen Impotenz des Gatten begangen wurde,
galt nicht als solcher, und auch die Richter, die über einen
derartigen Fall zu urteilen hatten, ließen hier für gewöhnlich
größere Milde als nötig walten. Nur eine Zeit, die das Ver-
sagen der männlichen Potenz im Ehebette als die größte
Schande empfand, konnte auf den Gedanken verfallen, das
Gegenteil durch ein öffentliches Beilager zu beweisen. Tat-
sächlich wurde diese schändliche Gewohnheit, in der sich alle
möglichen perversen Eigenschaften Raum und Augenweide
schufen, geübt, wenn der Gatte den Vorwurf der Impotenz
dadurch zu entkräften suchte und die Berechtigung der Frau
zum Ehebruch durch den öffentlich vollzogenen Beischlaf
widerlegt werden sollte, Noch am 18. Februar 1677 wurde
in Frankreich zuletzt das öffentliche Beilager aus dem vor-
genannten Grunde vollzogen. Der Ausklang des 17. Jahr-
hunderts hat auch ein Ende der unnatürlichen Institution ge-
bracht, wenngleich er die Neugier nicht abschaffen konnte, mit
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 351
der immer der Liebesakt der Neuvermählten von ihrer Umgebung
verfolgt wurde. Öffentliches Beilager waren schließlich auch
die Orgien, die der Papst Alexander VILL. der Vater Cäsars
und Lucretia Borgias, in den vatikanischen Gemächern ver-
anstaltete, wobei, wie in Rom zu den Zeiten Neros oder des
ausschweifenden Heliogabal unbekleidete Männer und Frauen
rasende Liebeskämpfe aufführten. Öffentliches Beilager war es
ferner, wenn im Paris des Louis XIV. vor einem Parkett von
Wüstlingen das große Mysterium der Liebesvereinigung von
gemieteten Dirnen und ihren Zuhältern entweiht wurde. Die
Offenheit, mit der sich überhaupt der geschlechtliche Verkehr
in der absolutistischen Periode vollzog, ist noch viel roher
und eindeutiger als die mittelalterliche Sitte, bei der doch im
Großen und Ganzen wenigstens der äußere Anstand gewahrt
wurde. Auf dem flachen Lande hat sich, wie gesagt, der
Brauch des öffentlichen Beilagers in einer symbolischen Form
bis auf den heutigen Tag erhalten. Rudeck (»Geschichte der
öffentlichen Sittlichkeit in Deutschland«) weist auf gewisse
Hochzeitssitten in einigen Gegenden Deutschlands hin, in denen
er einen Rest der urgermanischen Eheschließung erblickt. In
der Oberpfalz wirft beispielsweise der Bräutigam bei dem
Umzug die Braut vor aller Augen auf das zweischläfrige Bett
und gibt ihr einen Kuß. Ähnliche Bräuche herrschen in der
Altmark und Schwaben vor, wo der Vater der Braut oder sein
Stellvertreter die Braut in des Bräutigams Kammer führt, sie
zu ihm hinlegt und spricht: »Ich befehle Euch meine Tochter,
daß Ihr mit ihr tut, wie Gott mit Eurer Seele«. In dem »Ehe-
spiegel oder den siebzig Brautnächten« des Cyriakus Spangen-
berg aus dem Jahre 1778 heißt es unter anderem: »So ist auch
an etlichen Orten Brauch, daß man nach vollbrachter Freude
Braut und Bräutigam zu Bette bringt. Da ist unnötig, daß man
mit Trommeln und Pfeifen groß Wesen mache und alle Voll-
zapfen mit laufen und ihren Unfug treiben. Ja, wenn nun die
guten jungen Leute einmal aus dem Gewühl zur Ruhe kommen,
so findet man solche unbändige Leute, welche rottenweise vor
die Kammer ziehen, daselbst wüste und grobe Lieder singen,
bisweilen gar die Kammer aufbrechen, sie wieder aufheben
und zum Trunk mit Gewalt führen. Das sind nicht Menschen,
sondern Teufel.«e Rudeck bemerkt hierzu, daß es auffallend
sei, daß die Schärfe des Predigers sich nicht gegen das Zu-
352 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
bettbringen, sondern gegen den dabei verübten Unfug richtete.
— Ähnliche Sitten herrschten noch im 18. Jahrhundert bei den
Kurländern und Livländern. Auch auf den Philippinen und
den Malebaren soll lange Zeit hindurch das öffentliche Beilager
üblich gewesen sein und Stern erzählt in seinem Buch »Medizin,
Aberglaube und Geschlechtsleben in der Türkei« von gewissen
Entjungferungsbräuchen bei den Fellachen in Ägypten, die eine
große Ähnlichkeit mit der mittelalterlichen Beischlafssitte auf-
decken. Der Zweck der öffentlichen Entjungferung ist nach
Stern die Konstatierung der Virginität, da anderenfalls der
Bräutigam berechtigt ist, die Braut ihren Eltern zurückzugeben.
8 8
DER GESCHLECHTSTRIEB.
Von EMIL LUCKA.*)
Us Generationen, die aus dem namenlosen Dunkel der Zeiten
langsam zum Dämmerlicht des Mythos aufsteigen, hat sich
unter allen Bedürfnissen und Trieben der Geschlechtstrieb am
leichtesten erfüllt. Mit jeder unvorbedacht und rasch voll-
zogenen Vereinigung war der Trieb auch schon wieder aus dem
Bewußtsein geschwunden, das sich sogleich anderen, mühsamer
zu stillenden Bedürfnissen zuwenden konnte. Der primitive vor-
historische Mensch dachte nicht über den Augenblick hinaus;
gewann er eine reiche Mahlzeit, so praßte er bis zum dumpfen
Hinsinken und sorgte nicht für den Hunger von morgen und
übermorgen. Daß eine jähe und gleich vergessene Umarmung
in irgendeinem Zusammenhang damit stehen könnte, wenn eine
Frau der Horde nach unermeßlich langer Zeit ein Kind ans
Licht brachte — solch ein überschauender Gedanke hat ganz
andere, reichere Voraussetzungen, als beim primitiven Menschen
erfüllt gewesen sind. Irgendein Zauberer befaßte sich wohl
damit, den Mädchen Jahr für Jahr ein kleines Kind in den Leib
zu hexen; noch heute kennen die Bewohner von Zentral- und
Nordaustralien den Zusammenhang von Zeugung und Geburt
nicht. Man wußte auch nachher in der Regel, daß dieses Kind
von jener Frau zur Welt gebracht worden war, denn sie trug
*) Aus »Die drei Stufen der Erotik<. Berlin, Verlag Emil Schuster
& Loeffler.
DIE EINSEGNUNG DES EHEBETTS. Von B. PICART.
(Zu dem Aufsatz „Das öffentliche Beilager‘‘ Seite 342).
E GE
LES PLAISIRS DE LHIMEN
Bee Je.
Au tendre empressement pion ont en ct Epua En efrt.ılest tms retirons naus sans bruit ,
4 Uar mguiet de Sime Lwrons ce jeune homme a sa flamme,
On juge диш, sont pres du moment le plus агиғ Тоу qa prens cc ruban, depeche, il est minuit ,
Quon puäste trouwer dans la тте Cette fille doit ĉtre femme
A Paw ha Damat ros de la Lavoe .
DAS ZUBETTGEHEN DER NEUVERMÄHLTEN.
Französischer Kupferstich aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts.
(Zu dem Aufsatz „Das öffentliche Beilager‘' Seite 342).
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 353
es lange mit sich herum und säugte es. Bei anderen Kindern
war wohl die Mutter in Vergessenheit geraten; vielleicht war
sie schon gestorben, vielleicht kannte sie dieses Kind unter
so vielen anderen selbst nicht mehr heraus, wenn es sich für
ein paar Tage verloren hatte. Eine »Mutter« gab es immer-
hin zu jedem Kinde, das wurde nicht in Zweifel gezogen. Die
Vorstellung des »Vaters« aber war noch nicht gebildet worden.
»Frauen gebären Kinder« und »jeder Mensch hat eine Mutter«
— diese Erfahrungen hatten sich gefestigt, andere gab es über
den Gegenstand nicht.
Man muß annehmen, daß das Geschlechtsleben der Menschen
bis in geschichtliche Zeiten hinauf ungeordnet und wahllos ge-
wesen ist. Jede Frau — wahrscheinlich innerhalb eines Stammes
— gehörte jedem Manne an. Ob solche Verhältnisse auf der
ganzen Erde bestanden haben, ist zweifelhaft und wird von
neueren Ethnologen, besonders von Westermarck, bestritten, weil
sie bei den unzivilisierten Völkern der Gegenwart nicht durch-
aus nachzuweisen sind. Herodot berichtet von Männer- und
Weibergemeinschaft noch aus historischer Zeit, zumindest bei
einigen weit von einander lebenden Völkern, wie Massageten
und Äthiopiern. Über jeden Zweifel ist erhaben, daß geschlecht-
liche Vermischung in irgendwelchen, sei es auch eingeschränkten
Formen, wie der Gruppenehe, dem Tauschen und Verleihen der
Frauen oder sonstwie bestanden habe. |
Da die Verwandtschaft der Mutter mit ihren Kindern von
Natur gegeben war, mußte die erste menschliche Familie um
die Mutter geschart sein, die Mutter als das natürliche Ober-
haupt anerkennen. Und auch später, als schon der ursächliche
Zusammenhang der väterlichen Zeugung mit der Geburt er-
kannt war, ist es lange so geblieben. In allen Ländern der Mittel-
meerkultur, besonders in Lykien, Kreta und Ägypten, ist die
Vorherrschaft des Mütterlich-Weiblichen vor dem Männlichen in
Familie und Staat gut bezeugt, sie hat ihre Abspiegelung in
den orientalischen Naturreligionen sowohl bei Semiten als auch
bei Indogermanen gefunden und ist in die griechische Götter-
lehre mit aufgenommen worden. Es ist das Verdienst Bach-
ofens, dieses wichtige Stadium im Geschlechtsverhältnis der
Menschen erkannt und nachgewiesen zu haben. »Ausgehend
von dem gebärenden Muttertum, dargestellt durch ihr physisches
Bild, steht die Gynäkokratie ganz unter dem Stoff und den
Geschlecht und Gesellschaft VIII, 8. 23
354 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Erscheinungen des Naturlebens, denen sie das Gesetz ihres
inneren und äußeren Daseins entnimmt, fühlt sie lebendiger als
spätere Geschlechter die Unität alles Lebens, die Harmonie des
Alls, welcher sie noch nicht entwachsen ist... . In allen den
Gesetzen des physischen Seins gehorsam, wendet sie ihren Blick
vorzugsweise der Erde zu, stellt die chthonischen Mächte über
die des uranischen Lichts«. — Die Kinder sind der Mutter
entsprossen wie die Pflanzen der Erde, und die mütterlichen
Gottheiten, die Mächte der unerschöpflichen Fruchtbarkeit, Gäa,
Demeter und Isis, werden verehrt. Diese Menschen fühlen
sich noch durchaus als Teile der Natur, sie haben den Gedanken,
aus der Natur herauszutreten und selbständig etwas gegen sie
zu erschaffen, noch nicht gefaßt, sie neigen sich gehorsam dem
allgemeinen Kreislauf, denn sie empfinden sich selbst nicht als
einzelne, ringsum abgeschlossene Individuen, sie sind Glieder
des Stammes, vor dessen Leben das fragmentarische Leben des
einzelnen nichts bedeutet, die Familie, die um die Mutter auf-
wächst, und der Stammesverband sind die eigentliche Einheit —
wie der Bienenschwarm und nicht die einzelne Biene erst ein
Ganzes ausmacht. Ihre Gemeinschaften stehen noch durch-
aus innerhalb der Natur, sie haben kein geistiges Leben und
keine Geschichte; denn geistige Wertschöpfung und Kultur, die
das historische Leben erst begründen, sind an die Überwindung
des naturhaften Daseins geknüpft. Die Differenzierung der
Menschen voneinander hat noch kaum eingesetzt, einer gleicht
dem andern in seinem Aussehen, aber auch in seinem Fühlen
und Tun (vergleichbar den heutigen zivilisierten Ostasiaten).
In den Mittelmeerländern (ebenso wie in Indien und Baby-
lonien) findet das erste Stadium des sexuellen Verhaltens, die
regellose, unpersönliche Vermischung, ihren durch die Religion
geheiligten Ausdruck in den jährlich wiederkehrenden Frühlings-
festen des Adonis und Dionysos, der Mylitta, Astarte und
Aphrodite. Die absolute geschlechtliche Zügellosigkeit, die sich
wahllos ergießende Fruchtbarkeit wurde gefeiert. Jede Frau
mußte sich dem Manne hingeben, der Mensch beging die
wiedererwachende Zeugungskraft der Erde, als Geschöpf der
Natur in hemmungsloser Brunst. Er wollte nichts anderes sein
als die Pflanzen, die ihren Samen in die Winde streuen — wo
neues Leben, entstand, wurde nicht gefragt, durfte nicht gefragt
werden. Je intensiver die allgemeine Vermischung stattfand,
GESCHLECHT UND (GESELLSCHAFT 355
desto vollkommener wurde der Sinn dieser unpersönlichen
Geschlechtlichkeit erfüllt. Die gestaltlosen Mächte der Lust
und der wuchernden Vegetation hätten die Individualisierung
des Triebes nimmer geduldet. Nicht das Verhältnis eines Mannes
zu einer Frau, die an Individuen gebundene, von Individuen
beherrschte Geschlechtlichkeit wird bei diesen Orgien begangen,
sondern die möglichst vollständige Vereinigung des Männlichen
und des Weiblichen, das sich im Menschen wie in der Natur
offenbart. Und diese Entfesselung des Triebes wird nicht etwa
symbolisch empfunden; dazu hätte der Mensch als geistiges
Wesen der Natur gegenüber treten müssen und ihr Walten
durch sein eignes Tun bildlich und umformend widerspiegeln:
er will vielmehr die Natur in sich selbst erfüllen. Vor der
Majestät des Geschlechts, das in den gestaltlosen Urmüttern
Rhea, Demeter, Kybele und ihren menschlichen Sprößlingen,
dem phallischen Dionysos und der hundertbrüstigen ephesischen
Göttin angebetet wird, verschwindet der einzelne Mensch in
seiner jämmerlichen, hinfälligen Begrenztheit — das Geschlecht
ist unsterblich, das Geschlecht und der Urstoff, die #27, die
Aristoteles dem eidos, der Gestalt, entgegensetzt. »Der Körper
stammt vom Weiblichen her, die Seele vom Männlichen.« —
Entstehen und wieder Vergehen, ohne Sinn, ja ohne bestimmte
Richtung, das ist der Inhalt dieser alten Kulte, unermüdliche
Vereinigung der Geschlechter ihr Gottesdienst. Zwischen den
Generationen aber gibt es nur das natürliche Band der Mutter-
schaft, das erste, das die Menschheit kennt und das sie nicht
als konkrete Beziehung zwischen einzelnen Individuen, sondern
als allgemeine mütterliche Naturkraft fühl. Die Herrinnen
dieses Kultes, das sind die Mütter im Faust, die grenzenlosen,
formlosen, außer Zeit und Raum thronenden und daher un-
sterblichen Gebärerinnen und Hüterinnen alles Menschenseins,
Vor ihrer schweigenden Größe wird der Wunsch des Mannes,
seine Grenzen zu finden und zu wahren, Form und Individualität
zu gewinnen, Frevel; sie gewähren Unsterblichkeit im Geschlecht
— über das persönliche Eigenleben haben sie den Fluch des
Todes verhängt.
Diesem Stadium der vaterlosen Naturzeugung entsprechen
die philosophischen Lehren, die alles Geschaffene aus den
Elementen, aus Erde oder Wasser, hervorgehen lassen. Die
spätere Zeit findet ein geistiges Prinzip, ein Werden oder ein
23*
356 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
unveränderliches Sein, endlich den Widerstreit zwischen Geist
und Materie.
Jeder Versuch, die allgemeine Sexualität einzuschränken,
mußte in diesem Stadium als verbrecherisch und irreligiös
empfunden werden. Jungfräulichkeit wurde von den Göttern
der Lust und der Zeugung nicht geduldet, ihr Opfer war —
besonders bei den semitischen Völkern und den Indern — Pflicht,
der Gott selbst nahm in Gestalt seines ehernen männlichen
Bildnisses den Erstling der Mädchen in Empfang. Sein Amt
wurde später von den Priestern übernommen und lange ausgeübt.
Gegen die Sexualität, die nicht auf dem Verhältnisse zwischen
Mann und Frau, sondern auf der Vereinigung von Männlich-
keit und Weiblichkeit beruhte, erhoben sich in dem Augenblick
Widerstände, als es Menschen gab, die anfingen, sich als ab-
geschlossene Individuen zu fühlen. Solange die Ähnlichkeit
zwischen den Stammesgenossen so groß war, daß sie alle in-
dividuellen Unterschiede bis zur Gleichförmigkeit überdeckte,
lag kein Grund vor, beim Geschlechtsverkehr zu wählen. Jede
Frau war jedem Manne recht, wobei eine gewisse, physiologisch
begründete Auswahl wirksam gewesen sein wird, die gesunden,
jugendlichen und kräftigen Individuen werden immer bevorzugt
worden sein. Doch hiervon abgesehen muß der Instinkt, sich
nicht mit jedem Partner zufrieden zu geben und unter mehreren
auszuwählen, historisch mit der äußeren und dann mit der
inneren Differenzierung der Menschen zusammengefallen sein.
Ich kann dies nicht aus antiken Schriftstellern belegen, aber es
leuchtet wohl ein, daß erst dann das Gefühl entstehen wird:
diese ist mir lieber als jene, wenn sich diese von jener merk-
lich unterscheidet. So tritt also zugleich mit der wachsenden
Differenzierung der Menschen ein, wenn auch in sehr beschei-
denen Grenzen stehendes, auswählendes Moment ins Geschlechts-
leben. Mit dieser allmählichen Bildung der Individualität ist
aber auch schon das neue Motiv gegeben, das sich wie gegen
die allgemeine sexuelle Vermischung, so auch gegen die Gynäko-
kratie überhaupt auflehnt. Männer kamen, die sich ihre Welt
selber schaffen wollten; waren sie doch von der Unsterblich-
keit des mütterlichen Lebens ausgeschlossen, als (relativ) Ver-
einzelte standen sie dem stofflichen Zusammenhang der in der
Kette der Mütter lebenden Generationen gegenüber. Halbgöttern,
Söhnen von Lichtgottheiten und irdischen Müttern, wird die
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 357
Erhebung der Menschheit aus chaotischem, unpersönlichem Da-
sein zu der neuen Existenzform zugeschrieben, die nicht mehr
auf dem Naturleben, sondern auf der gestaltenden Kraft des
Menschen beruht. An Herakles, Theseus, Perseus hat der
Mythos die Überwindung der alten Mächte geknüpft, sie haben
die Tat des Menschen, die Kultur, gegründet und zuerst den
Lichtgottheiten geopfert. »Sie werden dadurch für die ganze
Menschheit Befreier von der ausschließlichen Stofflichkeit, der
sie bisher verfallen war, Begründer einer geistigen Existenz,
die höher ist als die körperliche, inkorruptibel wie die Sonne,
aus der sie stammen, Heroen einer durch Milde und höheres
Streben ausgezeichneten Gesittung, eines ganz neuen Rechtes.«
(Bachofen). Die Lehren des Pythagoras und des Platon von
der Seelenunsterblichkeit und der Seelenwanderung sind die
späte philosophische Vollendung dieses veränderten Grund-
gefühles, das den Mittelpunkt des Daseins in die Seele hinein-
verlegt und die Grundlage des europäischen Kulturgeistes
werden sollte.
Heinrich Schurtz hat — nicht im Hinblick auf das Mutter-
recht — gezeigt, daß sich frühzeitig und an sehr vielen Stellen
der Erde nachweisbar neben der Familie Bünde unverheirateter
Männer bildeten, die gegenüber dem in der Mutterfamilie ver-
tretenen Blutsverband einen freieren und leichter beweglichen
Geselligkeitsverband darstellten. Da die Knaben, die der mütter-
lichen Pflege entwachsen waren, sich zu Spiel- und später zu
Jagd- und Kriegszwecken zusammentun mußten, beruhte die
Bildung solcher Männerverbände auf notwendigen Lebens-
bedingungen; und es ist ebenso einleuchtend, daß vom Männer-
haus Neuerungen und Erfindungen aller Art gegenüber den stets
konservativen Frauen ausgegangen sind, daß hier der Keim zu
allen geistigen und kulturellen Entfaltungen gelegt werden mußte.
Dieses Sichzusammentun der Männer, die Bildung von Ver-
bänden, die nicht auf natürlicher, auf Blutsgemeinschaft beruhen,
sondern auf dem Gefühl der Kameradschaft oder Freundschaft,
sieht aus wie gegen das natürliche Gebundensein in der Fa-
milie gerichtet, vielleicht wie Feindschaft gegen die Frau, Ver-
achtung der Frau; es dürfte sicherlich mit der so verbreiteten
Männerliebe der alten Welt zusammenhängen.
Von Männerverbänden — sie mögen nun in alter Zeit so
gewesen sein, wie sie Schurtz beschreibt, oder anders — ist
358 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
der Kampf gegen die Mutterfamilie ausgegangen und hat endlich
zum definitiven Sieg des männlichen Prinzipes geführt, zur Er-
richtung der väterlichen Familienhoheit, des antiken Männer-
staates, in dem die Frauen rechtlos gewesen sind, und endlich
zur Herrschaft des Geistigen, zum Sieg der Lichtgottheiten über
die irdischen Mächte der Fruchtbarkeit. Diese Umwälzung ist
eine überaus prinzipielle, vielleicht die prinzipiellste aller mensch-
lichen Umwälzungen. Bevor jedoch die Einehe hergestellt war
— neben der es immer noch eine freie Prostitution gegeben hat
— sind verschiedene Kompromißformen zwischen ihr und der
regellosen Vermischung sanktioniert gewesen, Einschränkungen
und Regeln, die alle die Absicht verfolgten, den von den Göttern
geheiligten allgemeinen Geschlechtsverkehr eine Zeitlang frei
zu geben und durch dieses Opfer die alte Sitte mit der neuen
zu versöhnen. Hierher gehört vor allem die Tempelprostitution,
die bei vielen Völkern Kleinasiens, der griechischen Inseln, Ba-
byloniens und Indiens bezeugt ist. Sie bestand darin, daß sich
an dem großen Frühlingsfest der Liebesgöttin jedes Mädchen im
Tempel darbot und sich jedem Manne gegen ein Geldgeschenk
hingeben mußte. Manche gewann auf diese Weise die Mitgift
für ihre später strenge gewahrte Ehe mit einem einzigen Manne.
So war der religiösen Forderung Genüge getan, zuerst jedes
Jahr aufs neue, später einmal für alle Male. »Die jährlich
wiederholte Darbietung wich der einmaligen Leistung, auf den
Hetärismus der Matronen folgte jener der Mädchen, auf die Aus-
übung während der Ehe die vor derselben, auf die wahllose
Überlassung an alle die an gewisse Persönlichkeiten« (Priester).
— »Dem Naturgesetz des Stoffes ist eheliche Verbindung fremd
und geradezu feindlich. Die eheliche Ausschließlichkeit beein-
trächtigt das Recht der Mutterliebe — darum muß das Weib,
das in die Ehe tritt, durch eine Periode des freien Hetärismus
die verletzte Naturmutter versöhnen und die Keuschheit des
Matrimoniums durch vorgängige Unkeuschheit erkaufen. Der
Hetärismus der Brautnacht beruht auf dieser Idee. Er ist ein
Opfer an die stoffliche Naturmutter, um diese mit der späteren
ehelichen Keuschheit zu versöhnen. Darum wird dem Bräutigam
erst zuletzt die Ehre zuteil. Um das Weib dauernd zu besitzen,
muß es der Mann erst anderen überlassen«. (Bachofen.) — Später
wurden an Stelle aller Mädchen nur einige als Hierodulen
geweiht und dadurch alle anderen vom Jungfrauenopfer losgekauft.
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 359
Nicht auf erotischem Gebiet, sondern auf politischem und
sozialem liegen die eigentlichen Gründe für die Einführung und
Sanktionierung der Monogamie, der Voraussetzung des grie-
chischen Staates. Das Bedürfnis des Mannes, sicher bezeugte
Kinder zu haben, damit er ihnen sein Gut hinterlassen könne,
war das entscheidendste; die Erbfolge von Vater zu Sohn ent-
stand, die im römischen Recht ihre klassische Vollendung ge-
funden hat. Das andere Motiv, daß jeder Mann einen Sohn
wünschte, war in der religiösen Vorstellung begründet, daß der
Schatten nach dem Tode des Körpers Opfernahrung braucht,
die ihm von den leiblichen Nachkommen gespendet werden muß.
(Ebenso bei den Indern und Ostasiaten.) In mehreren grie-
chischen Staaten ist die Ehe gesetzlicher Zwang gewesen, Ehe-
lose verfielen der Strafe. Irgendeine innere oder äußere Ge-
bundenheit war damit für den Mann nicht gegeben, er konnte
bei den gebildeten Hetären geistige Anregung finden (wenn er
nicht Männerfreundschaft vorzog), bei den Sklavinnen sinnlichen
Genuß; die Frau aber war als Hüterin des Herdfeuers und der
Nachkommenschaft geehrt, wenn auch nicht frei. Für die Ehe-
scheidung gab es nur einen gesetzlichen Grund: Unfruchtbar-
keit, weil ja so der einzige Zweck der Ehe verfehlt worden wäre,
Von ehelicher Liebe in unserem Sinn war nicht die Rede —
wie dieses Gefühl ja überhaupt dem Altertum unbekannt gewesen
ist. — Alles das hat sich bis zum Ausgang der Antike nicht
geändert, nur die religiösen Vorstellungen büßten im späteren
Rom ihre Macht ein. Hierüber sagt Otto Seeck: »Die Frau er-
füllte also wirklich gar keinen anderen Zweck, als dem Haus
ebenbürtige Nachkommen zu verschaffen; und dabei stellte sie
Prätensionen und machte dem Manne mit Eifersucht und böser
Laune das Leben sauer, oder sie brachte ihn gar durch Un-
treue in der Leute Mäuler. Daß man da die Ehe nur als eine
Pflicht gegen den Staat betrachtete, der man sich seufzend unter-
zog, ist wohl begreiflich; und begreiflicher, daß so viele nicht
patriotisch genug waren, um diese Last auf sich zu nehmen«.
Daneben gab es »eine Prostitution von größter Verbreitung und
unglaublicher Wohlfeilheit«.
So folgt der unpersönlichen, allgemeinen geschlechtlichen Ver-
mischung durch den Sieg des männlichen Geistprinzipes über
das naturhafte weibliche das zweite Stadium, das den Ge-
schlechtstrieb auf einzelne Individuen einschränkt (was mit
360 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
»Liebe« nichts zu schaffen hat). Die Vermischung wird, wenig-
stens prinzipiell und als Desiderat, durch die Einehe ersetzt.
Die mächtigste der auf uns gekommenen griechischen Tragödien,
die Orestie des Äschylos, birgt als tiefen mythischen Kern den
Sieg der neuen Gottheiten des Lichtes über die alten mütter-
lichen Mächte. Orest hat sich gegen das alte Recht vergangen
und durch Muttermord den Mord am Vater zu sühnen gewagt.
Um das Recht dieser Tat entbrennt der Kampf zwischen den
Erinnyen, den Vertreterinnen des alten mütterlichen Rechtes, und
dem Sonnengott Apollon. Den namenlosen nächtigen Erin-
nyen gilt als schwerstes aller Verbrechen der Muttermord, weil
das Kind mit der Mutter am innigsten verwandt sei. Apollon
aber hat Orest die Tat geboten, damit der Mord am Vater
nicht ungerächt bleibe. Er verkündet:
»Nicht ist die Mutter ihres Kindes Zeugerin,
Sie hegt und trägt das auferweckte Leben nur;
Der Vater zeugt, sie aber wahrt ihm nur das Pfand«.
Und die Erinnyen klagen:
»So stürzest du die Götter alter Zeit hinab !«
Athene aber, die jungfräuliche Göttin, tritt als Versöhnerin
zwischen die Parteien, sie, die mutterlos aus dem Haupte des Zeus
Geborene, entscheidet zugunsten derneuen Ordnung, die den Vater
über die Mutter stellt. Orest geht frei aus, seine Tat ist gut
nach dem neuen Recht. — Mit dieser Tragödie ist der Sieg
des männlichen Prinzipes in Griechenland symbolisch verewigt.
In Athene aber verkörpert sich das neue hermaphroditische
Ideal der Griechen, das mit ihrer Homosexualität zusammenhängt.
Es ist ein Gesetz des Seelenlebens: was jemals im Gefühl
der Menschheit lebendig gewesen ist, kann nicht ganz verloren
gehen. Aller zunehmende Reichtum der Seele beruht auf dieser
Wahrheit. Neues wird erschaffen, aber das Alte bleibt bestehen;
es wird meistens in eine niedrige Sphäre des Wertes verwiesen,
sinkt in tiefere soziale Schichten, aber es lebt fort und geht
mannigfache Verbindung mit dem Neuen ein. Für das Ver-
hältnis der Geschlechter gilt dieses Gesetz ausnahmslos. In
der zweiten Periode, welche durch die dem Altertum fremde
seelische Liebe charakterisiert ist, lebt die bloße Geschlecht-
lichkeit als ungebrochene Macht weiter fort; aber sie hat ihre
maßgebende Stellung verloren und wird nicht nur als unedel
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 361
und niedrig entwertet, sondern auch als sündhaft und dämonisch
stigmatisiert, weil die Zeit von einem Neuen bewegt ist.
Ein ähnliches, wenn auch nicht so schroffes Verhalten — ent-
sprechend der geringen Schroffheit der Gegensätze — bestand
im klassischen Griechentum. Das höhere, bewußte Geistesleben
hatte sich von der chaotischen Geschlechtlichkeit abgewendet,
es hatte den Trieb in geregelte Bahnen gelenkt und im plato-
nischen Eros — der gleich zu besprechen sein wird — sogar
eine neue Erotik geschaffen. Aber unter dieser Schichte bestand
die naturhaft wuchernde Sexualität weiter fort, und es entsprach
durchaus der Weisheit des Griechengeistes, daß sie nicht über-
sehen und hysterisch versteckt wurde, sondern ihre Stelle inner-
halb des neuen Systems erhielt. Die unpersönliche Sexualität
wurde in das Dunkel der Mysterien zurückgedrängt, wo sie, dem
Auge der neuen Lichtgottheiten entzogen, ihren unlöschbaren
Durst zu büßen suchte. Die Mysterien waren der Tribut, den
das apollinisch gewordene Griechentum dem chaotischen Asien
Jahr für Jahr darbrachte, um sich für seine höheren geistig-
seelischen Zwecke loszukaufen. Die Lichtkultur Athens ruht auf
dem Nachtkult der sexuellen Mysterien. An den Festen des
doppelgeschlechtigen Dionysos und der Demeter, die als Fort-
setzungen des Adonis- und Mylittakultes zu betrachten sind,
wurde das unpersönliche zeugende Element, der Phallus, und
der blind empfangende Schoß verehrt. Hier, unter der Ober-
fläche des nach männlichen Werten geordneten Griechenstaates,
dessen Ideal Platon aufgestellt hatte, und der den Geschlechts-
trieb im Dienst einer geregelten Fortpflanzung einzudämmen
bestrebt war — hier lebte wie ein wilder Protest der orgiastische
Kult der alten asiatischen Gottheiten fort, die dem Sterblichen
in der brünstigen Lust der Zeugung und Empfängnis etwas vom
Urgeheimnis alles Lebens übergeben hatten. Frauen hatten den
Kult der nicht über sich hinaus wollenden Lust bewahrt, Bacchan-
tinnen, Männer in Weiberkleidern und Kastratenpriester opferten
den wahllos spendenden gnädigen Göttern. Soll doch Diony-
sos selbst die Amazonen, die wilden Feindinnen der Männer,
bezwungen und zu seinem Dienst bekehrt haben. Am Anfang
der Euripideischen »Bacchen«, die den Kampf zwischen der
wilden Naturgeschlechtlichkeit und der neuen Ordnung zum
Gegenstand haben, schildert Dionysos, wie er über ganz Asien
hingezogen und endlich nach Griechenland gekommen ist, von
302 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
einem wilden Frauenschwarm gefolgt. Sein Kult war aber nicht
nur ein Kult der Sinnlichkeit und der Rausches, sondern auch
ein milder Naturdienst, der die Schranken zwischen Mensch und
Tier aufhob — die für den Kulturgeist unüberschreitbar sind —,
der alles Lebendige liebevoll einschloß. In den »Bacchen«
heißt es, daß die Frauen, die aus der Stadt entflohen sind, um
dem bezaubernden Fremdling Dionysos zu folgen, nun auf
Bergen hausen, sie haben sich zahme Nattern ins Haar gefloch-
ten, tragen die Brut der Wölfe und Rehe in den Armen und
nähren sie an der eigenen Brust, Wein und Milch fließt, wenn
sie mit dem Thyrsos an die Erde schlagen, usf. — Dionysos
warnt den Pentheus, den Vertreter der hellenischen Männerord-
nung, sich in männlicher Kleidung unter die Mänaden zu wagen.
»Du wirst ermordet, wenn du dort als Mann erscheinst!«
Und der Gott weiß das Geheimnis der männlichen und der
weiblichen Art:
»Erst verrücke
Ein leichter Wahnsinn sein Gemüt; denn ist er sein
Bewußt, so legt er’s nimmer an, das Frauenkleid;
Doch ist er wirr im Geiste, legt er’s sicher an.«
Pentheus erkennt in Dionysos, dem »weibischen Fremdling«,
der die Frauen zur Raserei hinreißt, den Feind der höheren
Gesetzlichkeit — und er wird von den Schwärmen der Bacchen,
zuerst von seiner eigenen Mutter Agave in Stücke gerissen und
dem »Stiergott« Dionysos als Opfer dargebracht. Am Schluß
dieser merkwürdigen und tiefen Dichtung weicht der Wahn von
Agave, sie verflucht alles, was sie in ihrer Besessenheit getan
hat — das Weib unterwirft sich der neuen geistigen Ordnung
der Dinge. — Wir verstehen nun auch, warum Hera, die
Schützerin der neugeordneten Einehe, den Dionysos haßt und
schon ungeboren zu töten trachtet. —
Die schöne Sage von Orpheus hat das Verhältnis zwischen
dem primitiven unpersönlichen Geschlechtstrieb und seiner
Individualisierung auf einen einzigen Menschen zum Gegenstand.
Orpheus klagt sieben Monate lang um den Tod der Euridike
und wendet sich feindlich von allen anderen Geschöpfen der
Erde. Diese Treue beleidigt und empört die thrakischen Weiber,
sie sehen hier etwas Neues, dem naturhaften Dasein Verderb-
liches, und bei einer nächtigen Dionysosfeier stürzen sie sich
auf den Sänger — den Vertreter höherer hellenisch-musischer
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 363
Werte — und zerreißen ihn in Stücke. Aber noch sein totes
Haupt schwimmt die Fluten hinab und spricht: Euridike! —
Es ist gewiß, daß zu jener mythischen Zeit solch eine Liebe
nicht bestanden hat. Aber der griechische Genius hat vorahnend
dieLiebe zu einer einzigen Frau gegen die allgemeine Geschlechter-
vermischung gestellt.
Wir haben bisher einen allgemeinen, nicht auf eine bestimmte
Person gerichteten Geschlechtstrieb vorgefunden, gegen den
sich die Tendenz zur Individualisierung, wenigstens in ein-
geschränktem Maße, durchzusetzen trachtet. Aber auch bei
dieser Individualisierung handelt es sich nur um den Geschlechts-
trieb und nicht etwa um »Liebe«. Sie ist in der alten Welt
noch nicht vorhanden, und wenn auch die Mythe von Orpheus
ein Gefühl birgt, das an die moderne Liebe anklingt, so bleibt
dieser Fall meines Wissens im griechischen Altertum vereinzelt
— und mag immerhin als Vorahnung von etwas Neuem an-
gesehen werden, wie sich ja auch deutliche Antezipationen des
Christentumes bei Platon finden. Solche Erscheinungen —
deren Existenz ich auf meinem Gebiete dahingestellt sein lasse,
aber im ganzen doch für unwahrscheinlich halte — begegnen,
wie man weiß, im Lauf der Geschichte nicht selten, bleiben
aber kulturhistorisch betrachtet wirkungslos, Vorausahnungen
der Zukunft, die in ihrer Zeit nicht verstanden und vielleicht
als Kuriositäten aufbewahrt werden.
Wenn auch das Altertum die seelische Liebe des Mannes
zur Frau noch nicht kennt, so wird doch bei Platon mit
vollem Bewußtsein der Sexualität, dem »niedrigen und gemeinen
Eros«, ein »himmlischer Eros«, eine seelische Liebe entgegen-
gestellt. Pausanias sagt im »Gastmahl«: »Die gemein Liebenden
lieben Weiber nicht weniger als Knaben. Ferner sind sie mehr
verliebt in die Leiber als in die Seelen ... Sie streben nur,
das Ziel ihres Verlangens zu erreichen, ohne Sorge, ob es schön
sei oder nicht. Ihr Eros ist ein Gespiele jener jüngeren Göttin,
deren das weibliche und das männliche Geschlecht teilhaft
war. Der andere Eros aber ist der himmlischen Göttin (Aphro-
dite Urania) Genoß; sie ist nicht aus der Vermischung des
Männlichen mit dem Weiblichen, sondern aus dem Männlichen
allein entstanden, sie ist die Ältere und nicht mit Wollust Be-
fleckte . . . Schlecht ist jener gemeine Liebhaber, welcher den
Leib mehr als die Seele liebt. Auch hat seine Liebe sehr wenig
364 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Bestand, wie der Gegenstand seiner Liebe. Dieser Eros, der
himmlischen Göttin Genoß, ist es, welcher dem Liebenden und
dem Geliebten das Streben nach Tugend mit Gewalt ans Herz
legt. Jeder andere Eros ist der anderen Göttin, der gemeinen
Aphrodite, Gespiele. — Und ein anderer Teilnehmer am Gast-
mahl, Aristophanes: »Dieses Sehnen scheint nicht ein Verlangen
nach sinnlicher Lust zu sein, als ob darum der eine sich des
Umgangs mit dem andern so inbrünstig erfreute; nein, es ist
offenbar, daß jede dieser beiden Seelen etwas will, was sie
nicht aussprechen, sondern nur ahnen und andeuten kann«.
— Und die geheimnisvolle Diotima hat den Sokrates das ge-
lehrt, was über den gewöhnlichen Sinnentrieb hinausführt und
zu etwas Seelischem, Göttlichem durch die Liebe hinleitet —
ein ganz neues Element im erotischen Leben. »Die nun frucht-
bar am Leibe sind, gehen vorzüglich den Weibern nach; die
aber in der Seele lieben und unsterblich werden wollen durch
Weisheit und Tugend, die suchen eine schöne, edle und reiche
Seele, sich ihr ganz hinzugeben«. — Die edle Seele aber war
nach der Auffassung des klassischen Griechentumes nur den
Männern eigen. Die Frau gehörte den niedrigen animalischen
Kreisen an und war zur Wollust und zur Fortpflanzung bestimmt.
Bedeutet doch die platonische Ideenlehre den philosophischen
Sieg des männlich-geistigen Prinzipes über die Natur, die Materie
und ihre Hüterin, die Frau (vielleicht sogar die Rache des
Griechengeistes an der ursprünglichen naturhaften Gebundenheit
des Menschen). »Daher hat sie (die Männerliebe) einen engeren
Bund, als die Gemeinschaft der Kinder geben kann, und festere
Freundschaft, weil sie an schöneren und unsterblichen Kindern
gemeinsamen Anteil hat«, fährt die Seherin fort. Und sie lehrt
den Sokrates weiter, daß die herrlichsten Erzeugnisse des Geistes
aus solcher hohen Liebe entstehen wie aus der niedrigen Liebe
Kinder. Man muß zuerst einen einzigen Leib recht lieben, bis
man gewahr wird, »daß jedes Leibes Schönheit mit der Schön-
heit jedes anderen Leibes verschwistert ist. Denn woferne man
der Schönheit im allgemeinen nachjagen will, ist es eine große
Albernheit, die Schönheit aller Leiber nicht für eine und dieselbe
zu halten. Hat er dies einmal wahrgenommen, so muß er Lieb-
haber aller schönen Leiber werden und in der heftigen An-
hänglichkeit an einen einzigen nachlassen, das einzelne ver-
schmähend und für klein achtend«.
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 365
Wir sehen, wie durch die griechische Knabenliebe ein neues,
der ursprünglichen und natürlichen zweigeschlechtigen Sinnlich-
keit vollkommen fremdes und sogar feindliches Moment ins
erotische Leben der Menschheit tritt; es hat in den plato-
nischen Dialogen »Gastmahl« und »Phädros« seine klassische
Darstellung und Deutung gefunden. In bewußter Gegnerschaft
zu aller Sexualität wendet sich die platonische Liebe — was
gewöhnlich so genannt wird, beruht ja nur auf einem hart-
näckigen Mißverständnis — einem Reingeistigen zu, nämlich
den Ideen des Schönen, Wahren und Guten, sie begehrt Über-
irdisches und erkennt sich als den Weg zu ihm. In der Liebe
der edlen Seelen zueinander liegt der Keim alles Höheren, der
Weg zu den Lichtgottheiten, die hier philosophisch als Ideen,
aber doch immerhin hellenisch als anschaubare Ideen, Urbilder
und Gipfelpunkte alles Menschlichen, gedacht werden. Zum Ver-
ständnis dieser platonischen Liebe ist es außerordentlich wichtig,
daß sie nicht (wie die seelische Frauenliebe des Mittelalters)
auf einen Menschen gerichtet ist, von ihm ausgeht und in ihm
endet; die Liebe zum einzelnen Persönlichen ist vielmehr echt
platonisch nur ein Anfangsstadium, der Weg zu der Liebe, die
sich auf das „Schöne überhaupt“, auf die ewigen Ideen bezieht.
Diese metaphysische Erotik Platons, die erste, die es ge-
geben hat, besteht also in der Liebe zu etwas Allgemeinem,
nicht in der Liebe zu einem Menschen; letztere wird uns
später als das eigentliche Charakteristikum der wahren — oder
sagen wir bescheidener, der spezifisch europäischen — Liebe
erscheinen. Die platonische Liebe ist schließlich Erkenntnis
des Vollkommenen, das sokratische Wissen, sie ist nicht wie
die Liebe des Mystikers und des wahren Erotikers im Elan
und in der Dynamik des Liebens selbst, in der eigenen Fülle
und Wesenheit beschlossen. Sie hat ein fremdes Ziel, nämlich
Erkenntnis, allerdings Erkenntnis der himmlischen Dinge, was in
der späteren christianisierten Platonik als Anschauung der gött-
lichen Geheimnisse aufgefaßt wird. Für Platon, den Höhepunkt
und Extrakt aller antiken und vorchristlichen Kultur, darf alles
einzelne, auch der Geliebte, nur Vorbereitung, Mittel für die
höchste Erkenntnis des Urschönen sein. Aus der höchsten
Einsicht entspringt die wahre Tugend, sie macht die Menschen
den Göttern gleich. Diese Sehnsucht, durch die Liebe zu einem
einzelnen Menschen gut und vollkommen zu werden, wird uns
366 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
wieder in der rein-seelischen Frauenliebe begegnen. Es sei
festgehalten, daß sie schon im platonischen Eros vollkommen
ausgeprägt ist und mit Bewußtsein angestrebt wird. —
In der Nachterotik der Mysterien war die Schönheit des
menschlichen Leibes bedeutungslos, Wollust und Taumel herrsch-
ten. Denn wie hätte in den asiatischen Geschlechtskulten Schön-
heit, ein Moment der Auswahl des einen vor dem andern, eine
Stelle finden sollen? Die Griechen haben als erste die mensch-
liche Schönheit bewußt entdeckt. Ihre Tageserotik ist eine Erotik
des wohlgestalteten menschlichen Leibes, die Schönheit weckte
ihre Liebe, sie war das Prinzip, wonach sie erotisch werteten.
Ein Schöner an Leib und Seele, ein Kalokagathos, das ist ihr
Ideal gewesen. Noch viel schroffer als im »Gastmahl« stellt
Sokrates im »Phädros« dem, »der gleich den Tieren lüstern nach
sinnlichem Genuß ist«, den andern gegenüber, der Vollkommen-
heit und Schönheit erringen will. »Ihm ist das Antlitz des Ge-
liebten das treue Nachbild des Urschönen«. Ja, er mochte
dem Geliebten opfern, wie den unsterblichen Göttern. Denn für
Platon löste sich von allen schönen Leibern mehr und mehr
die Idee der formalen Schönheit ab, der wieder die Idee der
Seelenschönheit übergeordnet ist. Sie leitet zur metaphysischen
Schönheit, zur ewigen und unvergänglichen Idee des Menschen
hin. Sokrates durfte die Schönheit des einzelnen Leibes sogar
verachten, weil er in ihr doch nur ein mangelhaftes Abbild der
vollendeten Idee der Schönheit erkannt hatte Und so ist im
tiefsten Sinn der platonische Eros unpersönlich, er ist nicht
wahre Seelenliebe zu einem Menschen, sondern eine besondere
Art des griechischen Schönheitskultes. Dieses Motiv der Schön-
heitsanbetung wird uns in der echten metaphysischen Liebe, in
der Verehrung der Frau wieder begegnen, es ist durch Platon
dem höchsten Schatz des menschlichen Gefühles für immer ein-
verleibt worden, und auch das Streben über alles einzelne hin-
aus findet später seine Wiederbelebung. Aber den Mittelpunkt
bildet dort immer die Liebe zu der einen Geliebten, das modern-
europäische Grundmotiv gegenüber dem antik-platonischen Ideen-
kult. So ist auch noch Platon ein Bürger der alten Welt: an
ihrem Anfang steht die allgemeine sexuelle Vermischung, die
kein Individuelles duldet, die keine einzelnen Menschen kennt,
sondern nur den wild wuchernden Trieb; ihr Ende wird durch
die wieder völlig unpersönlich gewordenen Ideen bezeichnet.
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 367
Und die alte Zeit hat den Weg alles Menschenseins in einem
großen Kreis durchmessen: Vom unbewußten Leben der Natur
durch den persönlich gewordenen Menschen zur höchsten
geistigen Unpersönlichkeit der Ideenwelt. —
Was ist aber der Grund, daß die Schönheit fast durchweg
nur im männlichen Körper gefühlt wird? Man muß hier an
den eigentümlichen Hermaphroditismus der antiken Plastik
denken, der uns trotz aller Begeisterung für diese Kunst doch
innerlich fremd ist. Sowohl Dionysos als auch Apollon sind
Wesen zwischen Mann und Weib, die Frauengestalten dagegen
erscheinen in den Proportionen des Körpers, wie auch im
Schnitt des Gesichtes dem Männlichen angenähert. Und die
Griechen haben gern das Mannweib, den Hermaphroditen, ge-
bildet, ein Wesen, das ihrem Ideal des mittleren Menschen am
nächsten gekommen ist. Dieses Ideal tritt aber stets — auch
in der Renaissance und in der Gegenwart — mit Knabenliebe
zusammen auf. Denn nur der heranwachsende Knabe vereinigt
in seinem Körper männliche und weibliche Linien, und die
Durchdringung beider zu einem einzigen Geschlecht ist der
Traum des klassischen Griechenlands gewesen. Alles Extreme
war diesen Menschen verhaßt und galt ihnen, nicht nur auf
geschlechtlichem und körperlichem Gebiete, als barbarisch, die
ueoörns, das edle Maß, wurde einzig gewertet. Und hierzu ist
die reichere geistige Veranlagung der Knaben gekommen, die
ein vernünftiges Gespräch, das Ideal der Athener, möglich
machte, wo man mit Mädchen nur hätte scherzen können. Die
Griechen klassischer Zeit verachteten die Frau, sie verbanden
mit ihr den Gedanken der niedrigen Sinnlichkeit, die zur Fort-
pflanzung führt, auch wo diese unerwünscht ist; aber in ihrer
Geringschätzung der Frauen lag wohl auch ein Gefühl des
Grauenhaften, die Zeiten der Mutterherrschaft waren noch allzu
nahe, sie lebten in vielen Nationalsagen und wohl auch in der
Seele der Männer fort, die Nachtseite des Erotischen ist für
sie in der Frau verkörpert gewesen — und es war nur die
konsequente Vollendung dieser Gefühlsweise, wenn später die
Frau als Werkzeug des Teufels angesehen worden ist. Der
Keim hierzu hat sicherlich schon in den Griechen der platonischen
. Zeit gelegen, sie ahnten in der Frau das dumpf naturhafte Da-
sein, dem sie selber unter Kämpfen entwachsen waren, und sie
flüchteten nicht nur gesellig, sondern auch erotisch zu den ver-
368 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
trauteren Geschlechtsgenossen. Mußte die Liebe zu Männern
nicht vom Niedrigsinnlichen losreißen und seelisch machen, ja
zu den Göttern hinaufführen? In diesem Sinne wird Zeus im
Phädros giAıos, der Freundschaftsstifter, genannt. Platon hat
es gelehrt und er hat damit die radikalste Konsequenz des
neuen, scheinbar männlichen, aber im tiefsten doch herma-
phroditischen Kulturideales gezogen, das im Heroenzeitalter an-
gebahnt worden war und von den Griechen der klassischen
Zeit vollendet wurde. Die Knabenliebe der Griechen ist ein
Sieg des geistig-seelischen Prinzipes über gestaltlose Sexualität
und erdenhafte Fortpflanzung, und ganz im Geiste des Griechen-
tumes wurde sie wieder auf den Körper zurückbezogen. Ich
glaube, daß diese beiden Momente — angeborenes herma-
phroditisches Fühlen und kulturelle Verachtung der Frauen —
die wichtigsten Ursachen der so auffallenden griechischen Homo-
sexualität sind; sie entstammt jedenfalls einer ganz anderen
Gefühlssphäre als die weit verbreitete der Orientalen und die
sporadische moderne. Die Knabenliebe der platonischen Griethen
entspricht so ihrer Idee nach vollkommen der rein seelischen
Frauenanbetung des späten Mittelalters — beide sind ein Weg
aus dem dumpfen Sinnenleben in die Freiheit des Seelischen. —
Weil die Alten keine individuelle Liebe kannten, sondern
nur den ewig unveränderlichen Trieb, darum haben sie ihre
Sarkophage mit Symbolen des ekstatisch flammenden Lebens,
mit Mänaden und Faunen in Tanz und Umarmung, geziert. Die
Generationen vergehen, aber neue sind da und umfangen und
zeugen — das Leben ist unsterblich. Im Taumel der Namen-
losen ist der Tod wahrhaft überwunden, denn nicht in der ein-
zelnen Seele, sondern in der Gattung liegt der eigentliche, der
wahre Sinn. Der Mittelpunkt und höchste Wert mußte erst
in die Seele versetzt werden, damit der Tod des einzelnen eine
tiefe und entscheidende Bedeutung gewinne. Ein Mensch ist
dahin für immer, keine Zeugung kann ihn wiederbringen. Der
Tod wird das Endgültige und Schreckliche, weil er das Höchste
fällt, den in sich selbst ruhenden Menschen. Aber auch die
Liebe wird etwas anderes: nicht mehr Sinnlichkeit, die am Leibe
hängt und mit ihm vergeht, sondern Sehnsucht der Seele, ihrer
selbst gewiß und über die Erde hinausgreifend. Eine neue
Tragik kommt in die Welt, aber auch eine neue Versöhnung. —
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DAS ZUBETTGEHEN DER NEUVERMÄHLTEN.
Französischer Kupferstich von DAMBRUN nach QUEVERDO,
(Zu dem Aufsatz „Das öffentliche Beilager‘‘ Seite 342).
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DAS AUFSTEHEN DER NEUVERMÄHLTEN.
Französischer Kupferstich von DAMBRUN nach QUEVERDO.
(Zu dem Aufsatz ‚Das öffentliche Beilager‘‘ Seite 342).
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
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MUTTER. Von JEAN HONORE FRAGONARD. (1732—1806)
Zu dem Aufsatz Die Mutterschaft:. S. 397
EE
DAS GESCHWISTERPROBLEM.
Von Dr. J. B. SCHNEIDER.
E: ist eines der schwersten Probleme, mit dem sich das
letzte Jahrhundert beschäftigt hat, wenn auch seine Be-
deutung auf einem anderen Gebiete liegt als dem von der
Sexualforschung bislang allein betretenen. Die Sexualpsycho-
logen haben es lange Zeit bei Seite geschoben, einmal, weil
es undankbar ist, an Dinge zu rühren, die durch die Tradition
der Jahrhunderte sakrosankt geworden sind, und dann, weil
lange Zeit hindurch aus dem Geschwisterproblem höchstens
das rassenbiologische Moment als beachtenswert heraus-
gegriffen wurde. Die Literatur, die sich mit der blutsverwandten
Ehe, mit Inzest und der Vererbungstheorie beschäftigt hat,
enthält eine genaue Beschreibung der ungünstigen Folgen, die
Sich aus Geschwisterehen möglicherweise ergeben, und streitet
im übrigen um den Grad dieser Nachteiligkeit, ohne dem
Problem nach der sexual-ethischen und psychologischen Seite
näher zu kommen. In dem Verhältnis der Geschwister zu-
einander aber und besonders in der Zweiheit Bruder und
Schwester, schwingt eine der tiefsten Seiten menschlichen
Seelenlebens mit, webt eines der tiefsinnigsten erotischen
Probleme, und liegt soviel Lüge darum gebreitet, daß es bei-
nahe zur Unmöglichkeit wird, alle diese klaffenden Abgründe
zu überbrücken. Medizin und Jurisprudenz klammern sich ledig-
lich an die nackten Tatsachen, die den Verkehr zwischen Bruder
und Schwester, beziehungsweise zwischen Blutsverwandten über-
haupt, beweisen und neigen leicht dazu, überall eine Gesetzes-
übertretung zu wittern, wo, bei Lichte besehen, es sich um Be-
kundungen der Natur, um die Fundamente des erotischen
Empfindens selbst handelt. So haben auch diejenigen, die das
Blutsverwandtenproblem und das Gebilde des Inzestes konstruiert
haben, so weit es sich um Bruder und Schwester handelt, einen
falschen Schluß aus richtigen Prämissen gezogen, denn das
Verhältnis zwischen Bruder und Schwester ist zum mindesten
so uralt, wie das zwischen Mann und Weib, ja, Mann und Weib
standen sich ursprünglich als Bruder und Schwester gegen-
Geschlecht und Gesellschaft VIII, 9. 24
370 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
über und die Liebe, als Verschmelzungsprodukt zwischen einer
männlichen und weiblichen Energie, ist, man verzeihe den
paradoxen Nebensinn des Wortes, aus dem Inzest geboren.
Diese Empfindung liegt auch der biblischen Sage zu Grunde,
die das gesamte Menschengeschlecht von einem einzigen
Menschenpaare abstammen läßt, und die mystische Verball-
hornung, die das erste erotische Verhältnis in der Schöpfungs-
sage erfährt, ist nur ein Kunstgriffl, um eine nachgeborene
Menschheit das Eigentliche, Natürliche dieses Verhältnisses
nicht erkennen zu lassen. Aus dem gleichen Grunde haben
die Priester in der Schöpfungssage Gott selbst herabsteigen
lassen, der auf umständliche Weise den Mann Adam schaffen
mußte, aus dessen einer Rippe wiederum das Weib Eva ge-
staltet wurde. Aber der Instinkt läßt sich nicht täuschen, und
wir werden es gerade aus dem altjüdischen Testament be-
weisen, wie objektiv bereits in frühster Zeit das erotische Ur-
element der Geschwisterliebe im Volksbewußtsein gewertet wurde.
Die indische Schöpfungslegende ist hier viel naiver und offener,
indem sie von Anfang an die Zweieinigkeit Isis und Osiris als
eine erotische darstellt. Der Götterknabe Osiris knüpft mit
seiner Zwillingsschwester Isis bereits im Mutterleibe sexuelle
Beziehungen an, und die indische Göttin ist bereits geschwängert,
bevor sie noch auf die Welt kommt. Für die Volksphantasie ist
es aber verständlicher, wenn alles gewordene von einem Menschen-
paar abstammt, das sich gleichzeitig geschwisterlich verwandt
ist, als wenn erst der mythologische Olymp herbeigeholt wird,
von dem die Bevölkerung der Welt ausgeht, die sich übrigens
in ihrer Zusammensetzung als recht ungöttlich und mangelhaft
zeigt. Die Abstammung von einem Göttermenschenpaar, das
gleichzeitig Bruder und Schwester ist, offenbart in verhüllter Form
bereits jene neuzeitliche Auffassung von der Genesis des
Menschen, zu der wir erst auf dem Umweg über Darwin und
Haeckel gelangt sind; denn auch in der Schöpfungslegende
befindet sich das erste Menschenpaar auf der gleichen primi-
tiven Stufe, wie die es umgebende Tierwelt. Die Menschen
werden mit Tieren redend eingeführt und die Tiere empfinden
sie andererseits als ihresgleichen. Dieser paradiesische Zustand
ist nichts anderes als die moderne Darwinistische Abstammungs-
lehre in den biblisch-hebräischen Jargon übertragen. Mit ge-
wissen Variationen wiederholt sich die gleiche Anschauung in
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 371
der religiösen Mythologie aller Völker, kurz, an der Schwelle
aller Kulturen steht überall die mythisch-erotische Verbindung
Mann und Weib, oder in unserer Umdeutung: Bruder und
Schwester. Wenn demnach eine derartige Erkenntnis der
Psyche naiver Völker ganz selbstverständlich war, so beweist
das erstens, daß in dem Verhältnis männlicher und weib-
licher Geschwister zueinander immer ein erotischer
Unterton vernommen wurde, daß dieser erotische
Grundton die erste Schwingung bedeutet, die dann
hundert- und tausendfach verstärkt sich zu der Liebe
der Geschlechter entwickelt, und daß eine raffinierte
politische Spekulation entwickelterer Zeiten den verstärkten
Akkord angenommen, den ursprünglichen naiven Ton aber ver-
fälscht und verfehmt hat. Zweitens ergibt sich daraus, daß
die Gesetze, die von der rassenbiologischen Forschung für die
geschlechtliche Liebe und Ehe zwischen Blutsverwandten auf-
gestellt wurden, nur in bedingtem Umfang zu recht be-
stehen können, und daß das sogenannte Inzuchtproblem viel
mehr mit äußeren Umständen arbeitet, als zugegeben wird.
Das, was man allgemein als Inzucht bezeichnet, ist im
Grunde nichts als ein Komplex von zahlreichen noch
näher zu beschreibenden Phobien, an deren Ent-
stehung weniger das einzelne Individuum, als viel
mehr die Gesellschaft und ihr durch Jahrhunderte
genährter wirtschaftlicher Egoismus Schuld tragen.
Nach den biogenetischen Grundsätzen hat der Mensch eine
Reihe von Entwicklungsstufen durchmachen müssen, bevor er
zu einem Grad geistiger und körperlicher Vollkommenheit
gelangt ist, die das unterscheidende Merkmal zwischen ihm
und seinen tierischen Ahnenstufen ausmachen. Innerhalb dieser
Entwicklung liegt zunächst jener primitive Zustand, wo die
Vernunft zu Gunsten des animalischen Trieblebens noch ein-
gedämmt ist und die Instinkte frei walten. Die Geschlechts-
verhältnisse sind auf dieser Stufe denen der höheren Säuge-
tiere gleich, und erst die Differenzierung durch die zunehmende
Seßhaftigkeit und die dadurch bedingte Arbeitsverteilung führen
zur nächst höheren Phase im Entwicklungszustand der ur-
menschlichen Gruppen. Wenn in diesem Zeitraum nicht mehr
die wahllose geschlechtliche Promiskuität herrscht, so istes darauf
zurückzuführen, daß der geschlechtlichen Durcheinander-
24*
372 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
mischung bereits in früher Zeit gewisse instinktive Grenzen
gesetzt waren, die durch das Wirken einer sexuelle Auslese
anstrebenden Kraft hervorgerufen wurden. Durch die über-
wiegende Betonung besonders reizerhöhender sexueller Quali-
täten an dem gegenseitigen Partner hat die Natur darauf hin-
gearbeitet, eine Rückentwicklung zu bereits überwundenen
Stadien hintanzuhalten und gleichzeitig durch die Verstärkung
der wertvollen Anlagen immer wertvollere Exemplare zu
züchten. Die Überwindung des Matriarchats und das Einsetzen
individualistischer Tendenzen sind die Folgen dieses natürlichen
Auslese- und Aufzuchtprogrammes, dessen Durchführung unter
unsäglich erschwerenden Umständen geschieht und auf unab-
sehbare Reihen von Jahrtausenden verteilt ist. Es dürfte nicht
unwahrscheinlich sein, daß die erotische Anhänglichkeit der
Geschwister untereinander, die sich bis in die Urzeiten logisch
rekonstruieren läßt, ein wichtiges Hilfsmittel im Sinne der
natürlichen Auslese dargestellt hat. Wir haben bereits gesehen,
daß Mann und Weib zuerst in ihrem gleichzeitigen Verhältnis
als Bruder und Schwester aneinander ein erotisches Wohl-
gefallen finden. Es ist nun wahrscheinlich, daß der primitive
Mensch ähnlich wie bei seinen höheren tierischen Verwandten
einen bestimmten Zeitraum in der ersten Jugend zusammen mit
seinen weiblichen Geschwistern verlebt hat, und daß sich ihm
hierbei gewisse physische Momente, Qualitäten und Gewohn-
heiten an diesen besonders eingeprägt haben, deren er sich in
dem Moment, da sein geschlechtliches Verlangen nach einer
Gesellin erwacht, instinktiv aber deutlich erinnert. Mit anderen
Worten ausgedrückt: es scheint das Bildnis der Schwester zu
sein, was der primitive Mensch in anderen Partnerinnen sucht,
und bei der Auswahl wird jene vor allen reüssieren, die für
ihn ein Übergewicht an den begehrten lustbetonten Eigen-
schaften besitzt. Es kann aber auch das Umgekehrte dieser
Hypothesen — und wer wollte ihre Möglichkeit unbedingt
bestreiten? — eintreten, daß nämlich der Mensch auf der Suche
nach der für ihn wertvollsten Partnerin unbewußt auf seine
eigenen Geschwister stößt und so gerade jene Elemente
fortpflanzt, die einem Emporsteigen zu immer höheren Stufen
dienstbar und förderlich sind. Nachdem Galton, Haacke, Mayet,
Spencer, Rohleder und andere das Inzuchtproblem nach allen
Seiten hin zum Teil in widersprechendster Weise durchleuchtet
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 373
haben, wissen wir, daß Inzucht nur insofern Bedenken recht-
fertigt, als durch die Vermischung im engen Blutsverwandten-
kreise gewisse physische und somatische Merkmale der Rasse
eine dauernde Verstärkung erfahren, während andere vielleicht
nicht minder wichtige Fähigkeiten ebenso dauernd verkümmern.
Der äußere Habitus, die Geistigkeit und auch die Disposition
zu gleichen oder ähnlichen Leistungen, die mitunter in einer
alten Familie sich auffallend wiederholen, sind das Endprodukt
der häufig geübten Inzucht, die ebenso eine hervorragende
künstlerische Anlage wie verbrecherische Keime beider Eltern
im Kinde zu potenzieren vermag. Damit ist aber nicht gesagt,
daß Inzucht allein Degeneration im schlimmsten Sinne bewirkt,
denn dann müßten Kultur und Geistigkeit überhaupt die
eigentlichen Kennzeichen bereits begonnenen Niedergangs be-
deuten und unter solchen Annahmen wären für die praktische
Rassenveredelung nur zwei Wege offen: entweder führen wir
die Ideale des Mittgardbundes und ähnlicher reformfreudiger
Optimisten durch und erzielen eine Rasse, die in allem und
jedem Kraft und Gesundheit bedeutet — wir hätten also als
nächstes Ziel in der Zukunft die Rückkehr zum Urmenschen,
der nur seinen Trieben gehorcht und eine Kultur darüber
hinaus nicht anerkennt, vor uns, und wir gewännen damit die
Gewißheit, daß uns nicht das gleiche Verhängnis ereilt, das in
antiker Zeit der byzantinischen und lateinischen Rasse ihr Ende
bereitet hat; — oder wir lassen der Kunst und Kultur nach
wie vor offene Tore und begnügen uns damit, auf den
beiden vorgenannten Gebieten den höchsten Gipfel
zu erklimmen. Dann ist Inzucht der einzigste und wertvollste
Weg zur Erreichung der vorgesteckten Ziele und das Ge-
schwisterproblem behält seine ursprüngliche eminente kultur-
fördernde Bedeutung. Variieren wir also zusammenfassend das
biblische Wort im Sinne der prähistorischen Menschhejts- und
Kulturentwicklung: im Anfange sah der Mann das Weib und
das Weib war seine Schwester. Und der Bruder sah seine
Schwester und der Oheim seine Nichte, der Schwäger die
Schnur und der Enkel die Enkelin; und sie sahen, daß sie alle
wie eine Familie waren, und daß ihr Glück und ihre Kraft
darin lag, wenn sie wie eine Familie blieben; und das taten
sie und blieben wie eine Familie. Der Mensch horchte zu
Beginn auf die Stimme seines Blutes und die wies ihn auf die
374 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Schwester hin, in einer Ausdehnung auf die nächsten Ver-
wandten, d. h., der Instinkt erwies sich als der erste Kultur
schaffende Faktor. -
Mit dem Bruch des Mutterrechtes jedoch hat sich nicht sofort
die neue Gesellschaftsordnung vollzogen, sondern es bedurfte
einer langwierigen, Jahrtausende währenden Reife, bevor sich die
individualistische Umwertung des Mannes vollzogen hatte und
das Verhältnis der Geschlechter in jenes Stadium getreten ist,
dessen Zielpunkt sich in der Richtung des monogamen Prinzips
findet. Nach dem Sieg des monogamen Prinzips aber fällt gleich-
zeitig zum erstenmal die Erkenntnis der erotischen Grundwurzeln,
die in dem Geschwisterproblem ruhen. Sie leuchten in der antiken
semitischen und hellenischen Sagengeschichte auf und beweisen,
wie ich bereits erwähnt habe, den Bekennermut, mit dem die antiken
Völker unserem Problem gegenüber standen. Die altgriechische
Sage erfindet das Verhältnis zwischen Phryxos und Helle, ein Ge-
heimnis von wunderbarer Zartheit, das mit dem Tod Helles in
dem nach ihr benannten Hellespont ein tragisch düsteres Ende
nimmt. In direkter Fortführung dieser Sage findet sich dann
der merkwürdigste Versuch um die Lösung des Geschwister-
problems in der althellenischen Mythe, die Verbindung Orestes
und Iphigenie, die in den gewaltigen Komplex der Tantaliden-
sage mit ebensoviel Geschick wie ernster Bedeutung hinein-
geheimnist ist. Man muß den Sinn der Orestie, so wie sie
durch Aischylos überliefert ist, richtig verstehen, um den
Schlüssel zu dem Rätsel Orest und Iphigenie zu finden. Der
Sprößling Agamemnons, der das Blut seines Vaters an seiner
ehebrecherischen Mutter Klytämnestra rächt und dafür von den
Erinnyen, als den Vertreterinnen des beleidigten Mutterrechtes,
verfolgt wird, sinkt matt und zu Tode gehetzt in die Arme
seiner Schwester, durch die ihm die Erlösung zu teil wird;
Orest ist der Triumph des männlichen Prinzips über das
weibliche, der Sieg einer neuen individualistischen Ordnung
über die dunklen chtonischen Urmächte, als deren letzte
symbolische Repräsentantin Klytämnestra dasteht. Das ani-
malische, nur Mutter seiende Weib tritt in der neuen
Ordnung zurück und wird durch einen neuen Typus:
die Schwester, das ist Iphigenie, ersetzt. Eine beginnende
Kultur meldet sich zu Worte, die unumwunden auf das
Geschwisterverhältnis als ihr fruchtbares Grundelement, hin-
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 375
weist. Die priesterliche Heiligung, die die Schwester als solche
zum ersten Male in der Menschheitssage erfährt, ist ein in
Ehrfurcht und Staunen erschauerndes Einbekenntnis, daß die
Menschheit sich jener geheimen Kräfte bewußt wurde, die durch
die Fortpflanzung innerhalb der eigenen Sippe eine ungenannte
Steigerung erfahren. So wird die Schwester die Trägerin
des Kulturgedankens, seine Hüterin und Pflegerin, wie
die Mutter die nackte animalische Fortpflanzung
symbolisiert hat. Gleichzeitig aber findet sich in der Ver-
bindung Bruder-Schwester bereits die geistige, individualistische
Liebe vorgeahnt, die wir erst als eine Leistung der modernen
Höhenkultur für uns in Anspruch nehmen. Das platonische
Verhältnis zwischen Bruder und Schwester, das gleichwohl auf
dem erotischen aufgebaut ist, enthält als erstes die Elemente
der höchst-kultivierten, komplizierten modernen Liebe in sich.
In der griechischen Sage tritt es uns zwar noch nicht so
deutlich entgegen, dagegen findet es sich in der Bibel bereits
in unzweideutiger markanter Form wiedergegeben.
Die Bibel hat für das Geschwisterproblem eine tiefsinnige,
wuchtige, und von einer tragischen Atmosphäre erfüllte Inter- V `’
pretation gefunden. Im 2. Buch Samuelis wird im 13. Kapitel
die Geschichte von Davids Sohn Amnon und der Königstochter
Thamar geschildert, worin die althebräische Psychologie ein
Meisterstück ihrer Art leistet. Davids Sohn Amnon liebt seine
Schwester Thamar mit einer leidenschaftlichen, hoffnungslosen
Liebe, die ihm das Mark aus den Knochen saugt und seine
Wangen täglich hagerer und blasser erscheinen läßt. Das be-
merkt sein Oheim Jonadab, ein Sohn Simeas, Davids Bruder,
und spricht zu ihm: »Warum wirst Du so mager, Du Königs-
sohn, von Tage zu Tage? Magst Du es mir nicht ansagen?«
Da sprach Amnon zu ihm: »Ich habe Thamar, meines Bruders
Absalom Schwester lieb gewonnen.« Jonadab sprach zu ihm:
»Lege Dich auf Dein Bett und mache Dich krank. Wenn dann
Dein Vater kommt, Dich zu besehen, so sprich zu ihm: Lieber,
laß meine Schwester Thamar kommen, daß sie mich ätze und
mache vor mir ein Essen, daß ich zusehe und von ihrer Hand
esse.« So geschieht es auch, die Königstochter Thamar kommt
zu Amnon, um ihm das Essen zu bereiten. Da schickt er alle
Knechte und Mägde hinaus und bittet Thamar, ihm das Essen
vor das Bett in seine Kammer zu bringen. Als er aber mit
376 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Thamar allein zusammen ist, bittet er sie, sich ihm hinzugeben.
»Sie aber sprach zu ihm: Nicht, mein Bruder, schwäche mich
nicht, denn so tut man nicht in Israel, rede aber mit dem
Könige, der wird mich Dir nicht versagen«. Amnon aber hörte nicht
auf sie und beging gegen ihren Willen das Verbrechen an ihr.
Es folgt der zweite Teil der großartigen Tragödie,
der nicht nur psychologisch höchst interessant ist, sondern
auch eine Reihe neuer Probleme zu dem ursprünglichen hinzu-
bringt. Als Amnon seine Schwester geschwächt hatte, »da
wurde er ihr überaus gram, daß der Haß größer war, denn
vorher die Liebe war und Amnon sprach zu ihr: Mache Dich
auf und hebe Dich. Sie aber sprach zu ihm: Das Übel ist
größer, denn das andere, das Du an mir getan hast, daß Du
mich ausstößest. Aber er gehorchte ihrer Stimme nicht, sondern
rief seinen Knaben, der sein Diener war, und sprach: Treibe
diese von mir hinaus und schließe die Tür hinter ihr zu.«
Der Diener Amnon’s treibt die Prinzessin aus dem Hause
seines Herrn und diese betritt wehklagend die Straße, auf der
ihr Davids zweiter Sohn, Absalom, begegnet. Der bunte Rock
Thamars, den die königlichen Töchter, die noch Jungfrauen
waren, trugen, ist zerrissen. Weinend und Asche auf ihr Haupt
streuend, tritt sie Absalom entgegen. Dieser tröstet sie und
nimmt sie bei sich auf. Aber seit dem Tage sinnt er auf
Rache und bereitet langer Hand einen kühnen Anschlag vor,
der dem blutschänderischen Amnon das Leben kostet. Er
lädt zum Feste der beendeten Schafschur alle Königskinder zu
sich heraus, inszeniert bei dieser Gelegenheit einen Auflauf
und läßt durch seine Hirten Amnon erschlagen. »Also taten
die Knaben Absaloms dem Amnon, wie ihnen Absalom geboten
hatte. Da standen alle Kinder des Königs auf und ein jeglicher
saß auf seinem Maultier und flohen... Absalom aber floh
und zog zu Thalmai, dem Sohne Ammihuds, dem König zu
Gesur. Er (David) aber trug leid über seinen Sohn alle
Tage.«
Den Schluß bildet die Erzählung von Absaloms Leiden in
der Verbannung, von seiner Begnadigung auf Fürbitte des
Weibes von Thekoa hin, sein neuerlicher Aufruhr und schließ-
lich die abstoßende Szene, wo Absalom auf dem Dache seines
Palastes sich eine Hütte baut und vor den Augen des ganzen
Israel die Kebsweiber seines Vaters beschläft. Dafür stößt
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 377
Joab, der Heerführer Davids, dem mit seinen langen Haaren in
einer Eiche hängen gebliebenen Absalom einen Wurfspieß ins Herz.
Der für uns interessante Teil der Absalom-Legende ist die
Erzählung von Amnons und Thamars Butschande und die
Rache, die der andere Bruder an dem Blutschänder nimmt.
Wichtig ist zunächst die Feststellung: Amnon liebt seine
Schwester. Er begehrt sie nicht nur, sondern in seiner Seele
hat ein Gefühl Platz gegriffen, das an keiner anderen Stelle
der hebräischen Sagengeschichte so kunstvoll und mit Ver-
schwendung psychologischer Details beschrieben wird. Іт
Wesen der modernen Liebe liegt es, daß neben dem rein sinn-
lichen Element das übersinnliche ebenso stark zu Tage tritt,
und daß die Liebe auch nach erreichter Erfüllung entweder in
ihrer reinen Form oder in ihrem anderen Extrem, dem Haß, fort-
besteht. Das Wesen des animalischen Geschlechtstriebes hingegen
kennzeichnet sich in seiner Einförmigkeit, in seinem eruptiven
Aufflackern und dem ebenso raschen Erlöschen nach erlangter
Befriedigung. Der rein sinnliche Geschlechtstrieb vermag daher
ganz vorbereitungslos ein Objekt zu umfassen. Der Einzelne
läßt alle seine Kräfte spielen, um in den Besitz des reizaus-
übenden Objektes zu gelangen und ebenso plötzlich erlischt
alles weitere Interesse an dem Gegenstand der Begierde, wenn
der Zweck der Werbung erfüllt worden ist. Geschlechtstrieb
und Liebe unterscheiden sich aber streng genommen deutlich
voneinander, indem nämlich eines unabhängig vom anderen
oder aber beide gleichzeitig nebeneinander bestehen können.
Bei psychisch differenzierten Personen ist es keine Seltenheit,
daß sie in einem doppelten Verhältnis leben, d. h., sie befinden
sich in einer intensiven geschlechtlichen Abhängigkeit von zwei
verschiedenen Personen. Zu einer Person treibt sie das Ver-
langen nach Befriedigung, nach einem möglichst kompletten
Sexualgenuß, nichtsdestoweniger vermögen sie den Gegenstand
ihrer Begierde direkt unangenehm empfinden, ja geradezu
hassen. Der andere Freund wird dagegen schwärmerisch ver-
ehrt, oft mit rührender Liebe umgeben, ohne daß es zu einem
direkten Geschlechisverkehr kommen muß. Nun liegt es ja im
Wesen des Geschlechtstriebes, daß er, wie Steckel sich aus-
drückt, »bipolar« ist, daß einer entsprechend starken Liebe ein
ebenso wuchtiger Haß gegenüber steht, und daß nach uraltem
Naturgesetz diese beiden wichtigsten Strömungen menschlicher
378 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Leidenschaft ständig abwechseln müssen. Treten diese beiden
Gegenkräfte ins Bewußtsein, dann hat sich der Geschlechts-
trieb von seiner animalischen Stufe emanzipiert und tritt in
jenes Stadium ein, das wir schlechtweg als Liebe bezeichnen.
Da der Erkenntnis der Liebe eine spekulative Beschäftigung
mitihren Elementen vorangegangen sein muß, so setzt das eine
bestimmte Reife des Intellekts, eine erreichte Kulturhöhe voraus,
die natürlicherweise dort am höchsten ist, wo die Liebe zu
dem innersten und tiefsten Problem der Zeit geworden ist.
Um auf die biblische Legende zurückzukommen: Amnon liebt
seine Schwester Thamar mit der ganzen Kraft seiner Seele, er
wird um ihretwillen krank, und zwar in einer so bedenklichen
Weise, daß sein Oheim ihm selbst die Hand zu dem Komplott
gegen die leibliche Schwester biete. Die Liebe Amnons ist
keine augenblickliche Laune, keine vorübergehende Begierde;
sie hat nicht den Zweck der Fortpflanzung im Auge, sondern
ist mit intellektuellen Momenten gepaart und bedeutet, praktisch
genommen, das Anstreben einer unproduktiven Verbindung.
Sie läuft alle Phasen bis zu dem anderen Extrem, dem Haß, durch
und ist in ihrer gewaltigen Entwicklung bereits dem kompli-
zierten modernen Gefühl vergleichbar. Man hat in der neueren
Sexualliteratur mit einem großen Aufwand von Scharfsinn den
Beweis zu führen versucht, daß es Liebe in unserem Sinne bei
den alten Kulturvölkern kaum gegeben haben dürfte. Wenn
man von der griechischen Mythologie, in der sich im Übrigen
manche interessanten Verhältnisse finden, die wie eine Vorahnung
moderner Liebe anmuten, — ich erwähne beispielsweise die
tiefsinnige Mythe von Orpheus und Eurydike, von Hero und
Leander, Dido und Aeneas, die menschlich hoch bedeutsame
Komödie zwischen dem Spartanerkönig Menelaus und seiner
ungetreuen Gattin Helena, die Episode Hektor und
Andromache und so fort, die alle bereits die Spannweite
modernen Liebesgefühls aufzuweisen scheinen — absieht, so
enthält die Bibel ein derartiges rauschendes Register mensch-
licher Süchte und Leidenschaften, daß dadurch das Märchen
von der individualistischen modernen Liebe bis auf gewisse
Feinheiten, die eine Errungenschaft der jüngsten Zeit bedeuten,
gründlich widerlegt wird. Wer die Liebe richtig verstehen
lernen will, muß in die Abgründe menschlicher Leidenschaften
hineinleuchten und muß die gewaltigen Einzelgefühle auf ihren
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 379
Zusammenhang mit der Ewigkeit prüfen. Nirgends tritt dieser
Zusammenhang deutlicher zu Tage als in der Bibel, diesem ge-
dankenreichsten Gedichtbuch aller Zeiten. Die hier geschilderten
Ereignisse stehen, was Großzügigkeit der Idee und Pracht der
Darstellung anbelangt, den größten epischen und dramatischen
Dichtungen der Weltliteratur in nichts nach. Es ist fraglich,
ob die Erzählung von Amnon und Thamar so bildhaft,
so holzschnittmäßig, voll innerer Kraft und glühendster
Beseelung gewirkt hätte, wenn sie einer unserer erfolg-
reichen Dramatiker komponiert hätte. Allerdings werden
die Ideen, die Gefühle, die Visionen der Leidenschaft, einfach
mit einer erschütternden, souveränen Offenheit hingeschleudert
und es wird keine psychologische Detailkünstelei getrieben.
So kommt es, daß die Bibel auch den Geschlechtstrieb, be-
ziehungsweise die Liebe, dort, wo sie vorkommt, gleichsam
der letzten Hüllen entkleidet und ihn in seiner nackten Pracht
auflodern läßt. Mochten die antiken Kulturvölker nicht jenes
ungesund verfeinerte Aesthetengefühl in der Liebe erblicken,
das von den jüngsten Epigonen als moderne Liebe gepriesen
wird, — sie kannten die Liebe ebensogut wie wir und
hatten überdies den einen Vorzug vor uns, daß sie heroischer
als wir empfanden. Ich möchte in Parenthese die Frage auf-
werfen, ob es für uns doch nicht ein größerer Vorteil wäre,
wenn auch wir größerer, tiefer schürfender Leidenschaften fähig
wären, wenn unser Innenleben nicht einer ständigen Zerpflückung
der wertvollsten Gefühle gliche, einer unseligen Aufeinander-
häufung tausendfältiger Gefühlchen und Träumchen?! Wir haben
in die Liebe so viel Ideen, so viel Nebensächliches und Selbst-
gefälliges hineingetragen, daß darüber das große, ursprüngliche
Gefühl beinahe ganz verloren gegangen ist.
Amnon begehrt also seine Schwester Thamar nicht nur
zur sexuellen Befriedigung, sondern er liebt sie, was man im
modernen Sinne »lieben« heißt. Der biblische Dichter unter-
stützt diese Annahme durch die Erzählung des Hasses, den
Amnon nach vollbrachter Tat auf seine Schwester Thamar
wirft. Die hochdramatische Wendung in dem altbiblischen
Drama beweist ferner klipp und klar, daß Amnon bereits die
Tragweite seines Verbrechens erkannt hat und sich dafür einer
entsprechenden Strafe gewärtig ist. Die Strafe bleibt nicht aus.
Sein Bruder Absalom wirft sich zum Rächer der verletzten
380 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Schwesternehre auf und läßt durch seine Hirten den Königs-
sohn auf einer ländlichen Feier erschlagen. In dieser Schluß-
szene ringt ein doppeltes erotisches Problem nach Aus-
druck. Es kennzeichnet sich in der Stellung der beiden Brüder
zueinander und in der Auffassung, die Absalom für Amnons
Tat und Thamars Schuld beibring. Absalom fühlt sich
gleichzeitig mit seiner Schwester auf das gröblichste beleidigt
und ist überzeugt, daß die Schwere der Beleidigung Amnons
Blut zur Sühne erfordert. Diese Wendung ist ein großartiges
Zeugnis für den biblischen Dichterpsychologen, weil sie mit
einem Schlag das erotische Band zwischen Bruder und Schwester
enthüllt. Absalom tötet Amnon, weil er seine Schwester
Thamar in ihrer intimsten Sphäre, in ihrer geschlecht-
lichen Ehre nämlich, beleidigt hat. Er tötet ihn nicht
etwa darum, weil es der Ehrenkodex der alten Hebräer vor-
schrieb, sondern weil er sich in seinem eigenen erotischen
Verhältnis zu Thamar angegriffen fühlt. Überall, wo der
Bruder die beleidigte schwesterliche Ehre mit der
Waffe in der Hand wiederherzustellen sucht, spielt
nicht die Rücksicht auf den eigenen Namen, auf die
Familientradition und auf die Gesellschaft die aus-
schlaggebende Rolle, sondern der Umstand, daß hier
ein junges Weib, zu dem man in uneingestandenen
innigen erotischen Beziehungen stand, auf das gröb-
lichste beleidigt wurde. Der Rächer der schwesterlichen
Ehre, eine Erscheinung, die auch unserer weniger idealen
Gegenwart nicht fremd ist, handelt aus verdrängten sexuellen
Motiven, aus Eifersucht und geheimer Leidenschaft, deren
Gegenstand nach uralten menschlichen Prinzipien die eigene
Schwester ist. In dem Moment, da der Bruder dem Schänder
seiner Schwester gegenüber steht, fühlt er sich nicht als Glied
seiner Familie, sondern als Begünstigter, als geheimer Liebhaber
der Schwester. Dieses Problem ist so unendlich zart, so
unsagbar fein, daß es noch niemand eingefallen ist, darüber
nachzudenken und es ist auch so delikat, daß es jeder lieber
von der Hand weisen als anerkennen würde. Es ist aber
vorhanden und läßt sich durch nichts aus der Welt schaffen,
weil, so lange Menschen existieren, die geheimen erotischen
Wechselbeziehungen zwischen Bruder und Schwester wirksam
bleiben werden.
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 381
Aber weiter.. Absalom wirft von dem Moment an, da er
seiner Schwester Thamar in dem traurigen Aufzug in den
Straßen der Königstadt begegnet, seinen Haß auf Amnon, und
dieser Haß ist so leidenschaftlich, daß jedes andere Gefühl,
vor allem die Stimme des verwandten Blutes, daneben zum
Schweigen kommt. Man sieht, das erotische Empfinden ist im
Menschen so überwiegend, daß es von keiner Grenze, selbst der
durch die Verwandtschaft gegebenen, zurückschreckt, und daß
der Haß Absaloms wie die Liebe Amnons im Grunde genommen
das gleiche Gefühl darstellen. Absalom rächt ein Vergehen seines
Bruders, das er unter günstigen Umständen ebenfalls hätte
begehen können. Ja, wenn wir bis zur äußersten Konsequenz
schreiten wollen, so müssen wir sagen: Absalom erschlägt nur
deshalb seinen Bruder Amnon, weil es ihm unbewußt leid tut,
daß Amnon bei Thamar der Glücklichere gewesen war. Daher
auch sein Haß auf den brüderlichen Nebenbuhler, der mit der
bekannten Katastrophe endet.
Die Weltliteratur kennt dieses Motiv der feindlichen Brüder
als ein bevorzugtes, wenn auch die Deutung des eigentlichen
Problems, das sich darin birgt, meines Wissens noch von keinem
Dichter geboten wurde. Epochen, deren skrupellose Genialität
instinktiv der Bedeutung des Geschwisterproblems nachforschte,
haben mit besonderer Vorliebe diesen Stoff gestaltet. In
Deutschland waren es die Stürmer und Dränger, darunter
. Klinger, Leisewitz und später Schiller, in deren Dramen das Motiv
wohl die bekannteste Verherrlichung gefunden hat. Selbst-
verständlich ist der Grund, warum die Brüder streiten, immer
im verletzten Ehrgeiz und in entfachter Eifersucht zu suchen,
dagegen wird auf die geheime Erotik, die in dem Motiv
webt, nur zum Teil hingewiesen. Aber die feindlichen
Brüder bekämpfen sich nicht nur um äußerer Gründe willen,
um die Liebe einer erlesenen Frau zu erstreiten, sondern
auch darum, weil in ihrem Blute ein uralter geheimer
Antagonismus, der auf erotische Wurzeln zurückgeht,
lebendig ist. Der jüngere Bruder pflegt auch im gewöhn-
lichen Leben bereits äußerlich dem älteren irgendwie ähnlich
zu sein. Er ist gleichsam das lebendig gewordene Spiegelbild
des brüderlichen »Ich’s« und darum auch ein Nebenbuhler in
allem und jedem, was jener sieht, fühlt und denkt. Jeder
Mensch aber ist bis zu einem gewissen Grade autoerotisch
382 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
veranlagt, ja man kann den Autoerotismus direkt als die Grund-
lage des erotischen Empfindens bezeichnen. Das Verhältnis
des älteren zum jüngeren Bruder ist analog dem des Auto-
erotikerss zu sich selbst. Je größer die Ähnlichkeit
zwischen den beiden Brüdern ist, je inniger das
Familienband, das sie zusammenschließt, um so ein-
deutiger erotisch verfärbt stellt sich die Zweiheit
Bruder-Bruder, in einer anderen Umdeutung auch
Schwester-Schwester, dar. Man wundert sich oft über
das innige Gefühl, das zwei Brüder einander entgegenbringen,
beziehungsweise über die Gefühlsduselei älterer verschwisterter
Mädchen, die beinahe wie ein sexuelles Verhältnis anmutet.
Es ist das ein interessantes autoerotisches Problem, das aller-
dings außerordentlich kompliziert ist und dem ich mich hier
nur andeutungsweise nähern kann. Aber alle Symptome, sowohl
das innige Aneinanderhängen, als auch der tiefe Haß aus
scheinbar nichtigen Ursachen im gewöhnlichen Leben, dann
die Herrschsucht, die der Ältere dem Jüngeren entgegenbringt,
die Unduldsamkeit, mit der der Jüngere die Überlegenheit des
Älteren entgegennimmt, die kleinen Zwistigkeiten des Alltags,
das gemeinsame Interesse an den gegenseitigen erotischen Er-
lebnissen, das alles weist auf geheime erotische Beziehungen,
die vom Bruder zum Bruder hinüber währen. In der zeit-
genössischen Sexualliteratur soll dieses Thema von einem
Wiener Arzt Frischauf angeschnitten worden sein. Wenigstens
schließe ich es aus dem Titel eines Bändchens, das
Dr. Alfred Adler in seinen »Schriften des V. f. freie psycho-
anal. Forschung« hat erscheinen lassen.*) Leider ist mir diese
Abhandlung noch nicht zu Gesicht gekommen, so daß ich
Frischaufs Ergebnisse in meiner Arbeit nicht mehr berück-
sichtigen konnte und mich mit den eigenen aphoristischen
Deduktionen begnügen muß. —
Die Liebe, die hohe, ethisch entwickelte und auf der Er-
kenntnis gegenseitiger Werteigenschaften aufgebaute Liebe,
existiert also erst von jenem Moment an, wo die nackte
Sexualität des Weibes ausgeschaltet wird, und dem Weibe über
seine Bedeutung hinaus eine priesterliche, sakrale Stellung
eingeräumt wird. Auf welchem Wege das geschah, haben wir
*) H. Frischauf: Zur Psychologie des jüngeren Bruders.
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 383
bereits andeutungsweise auf den vorhergehenden Seiten dar-
gelegt. Der Mann, der sich auf der Suche nach sexueller
Befriedigung befindet, sucht an seiner Partnerin die reizbetonten
Qualitäten, die ihm besonders an den Frauen auffielen, mit
denen er zuerst in Berührung kam. Das sind Mutter und
Schwester. Das Problem der Mutter möchte ich in dieser
Darstellung unerörtert lassen, da einerseits bereits genügend
tief hineingeleuchtet worden ist, andererseits das erotische
Verhältnis zwischen Mutter und Kind viel unkomplizierter und
eindeutiger als das zwischen Bruder und Schwester scheint.
Otto Weininger hat als einer der ersten auf die erotischen
Nebenumstände des Verhältnisses zwischen Mutter und Kind
hingewiesen und aus richtigen Prämissen eine Reihe blendender
aber paradox unwahrer Schlüsse gezogen. Richtig ist, daß
unter ungewöhnlichen Umständen Mutter und Sohn in ein in-
zestuöses Verhältnis zueinander treten können, wie es wieder-
holt in Trinkerfamilien, bei Epileptikern und extrem degene-
rierten Menschen vorgekommen ist; oder in Fällen wie dem
Ninons de Lenclos’ und ihres Sohnes, des Chevaliers von Villiers,
jenem klassischen Beispiel eines in seine eigene Mutter un-
glücklich verliebten Sohnes. Aber wenngleich Ninon de Lenclos
eine der geistreichsten und begabtesten Frauen ihres Zeitalters
war, die degenerative Anlage läßt sich hier noch weniger als
anderswo bestreiten, und der Chevalier von Villiers war trotz
seiner Abstammung von dem Grafen von Gersey doch nur das
Kind einer — Prostituierten. Dagegen ist es nicht zu be-
streiten, daß auch die reine Mutterliebe eine erotische Wurzel
hat und daß ebenso die Anhänglichkeit des Kindes an die
Mutter erotische Momente in sich birgt. Humanität und
Familie, als die wichtigsten Kultur schaffenden Faktoren, sind
ja nur Kraft der erotischen Grundgesetze möglich und brächen,
würden diese aufgehoben, unfehlbar in sich zusammen. Daß
innerhalb der Familie der Sohn der eignen Mutter sich nicht
nähert, dafür hat die Natur bereits durch die Altersschranke
gesorgt, aber sie hat es nicht verhindert, daß das Jugendbild
der Mutter, ihr besonders reizausübendes Geheimnis, in der
Tochter eine Neubelebung erfährt. Dazu kommt, daß die
kindlichen Spiele die Geschwister einander näher bringen, und
daß das Erwachen der Sinne beiderseitig sich mit den Ein-
drücken verknüpft, die Brüderchen und Schwesterchen auf-
384 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
einander ausüben. Die sexuelle Pädagogik hat sich eingehend
mit allen Symptomen der kindlichen Pubertät beschäftigt und
die fremden Einflüsse, denen die kindliche Psyche unterliegt,
nach Möglichkeit einzudämmen gesucht. Auch auf die enorme
Wichtigkeit der geschwisterlichen Spiele hat sie mit gewissen
Einschränkungen hingewiesen, obwohl die geschwisterlichen
Spiele gerade eine erhöhte Aufmerksamkeit erfordern, weil die
erwachenden Sinne des Kindes sich im Verborgenen und von
der kindlichen Intimität begünstigt immer zunächst auf die
eigenen Geschwister werfen. Eines der beliebtesten Kinder-
. spiele, das bereits bei den Kleinsten von sechs und sieben
Jahren sehr verbreitet ist, ist »das Vater und Mutter spielen«.
Andere Bräuche der Großen, wie Verlöbnis, Hochzeit, Taufe
und dergleichen werden nachgeahmt und geben der kindlichen
Phantasie Gelegenheit zu unbewußt erotischen Kombinationen.
Sehr häufig ahmen die Kinder Vater und Mutter nach, indem
sie sich einfach nebeneinander hinlegen, und die Geste des
gemeinsamen Schlafens führt dann leicht zu Berührungen und
Gefühlen, die die tieferen Beziehungen des gemeinsamen Lagers
blitzartig empfinden lassen. Ist der Knabe erst einmal in das
Stadium der eigentlichen Geschlechtsreife getreten, dann richtet
sich die ganze Neugier seiner aufglühenden Sinne auf seine
nächste weibliche Umgebung, die Dienstboten und die weib-
lichen Geschwister. Während die Dienstboten oft gewissenlos
genug sind, den Wünschen des Knaben aus egoistischer
Anteilnahme entgegenzukommen, duldet das Schwesterchen die
unzüchtigen Berührungen, die Manipulationen an seinem Körper
und das neugierige Beschauen dessen, was die Natur verhüllt,
mehr aus Gründen der Unerfahrenheit als der Lüsternheit,
schlimmsten Falles macht sich hier nur eine leise instinktive
Erotik geltend, denn zu der Zeit, da bei den Knaben bereits
die Sinne tüchtig an der Arbeit sind, ist das Mädchen über
die seinen noch wenig oder gar nicht orientiert. Es ist be-
greiflich, daß das geheime erotische Einverständnis, das von
Natur aus den Bruder zu seiner Schwester treibt, auf solche
Weise nur eine Verstärkung erfährt, daß der Knabe bei allen
späteren Werbungen uneingestandener Maßen immer das
Bildnis seiner Schwester im Herzen trägt, und seine neue
Partnerin daran mißt; denn die Erlebnisse der Pubertät über-
wiegen die des mannbaren Alters. Daher auch das Interesse,
DIE FREUDEN DER MUTTERSCHAFT. Von ISIDOR STANISLAUS HEL-
MANN. Kupferstich nach J]. MOREAU LE JEUNE. (1777)
Zu dem Aufsatz »Die Mutterschaft-. S. 397
SEGNUNG DES WOCHENBETTS DURCH DEN PRIESTER. Von PIETER
BREUGHEL d. Ä. (etwa 1530—1563)
MATERNITAS. Von S. WYSCIANSKI. (Aus Adele Schreiber, Mutterschaft.)
Zu dem Aufsatz Die Mutterschaft „ S. 397
386 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
die Brüder nur ihre Schwestern, die Eltern ihre direkten Des-
zendenten geehelicht haben, um auf diese Weise nicht nur
einer Teilung des Erbgutes, sondern auch der Heranziehung
neuer Geschlechter zur Erbfolge vorzubeugen, und den Gott-
Ähnlichkeits-Begriff, der sich durch die Prävalenz bestimmter
Eigenschaften bei den Stammesgenossen herausgebildet hatte,
durch planvolle Züchtung der Familienmerkmale aufrecht zu
erhalten. So heiratete unter den Ägyptern Amosis, ein Herr-
scher der 17. Dynastie, seine Schwester Nefertere, Duthomosis 1.
seine Schwester Amosis, Duthomosis IV. seine Schwester Arat
und so fort. Bei den Peruanern war es Hausgesetz, daß ein
Inka nur seine leibliche Schwester heiraten durfte, um das Blut
der Sonne, von der sie zu stammen glaubten, rein zu halten.
Von den Juden gilt das, was Thamar ausdrückt, wenn sie zu
Amnon, der um sie wirbt, sagt: »Rede aber mit dem Könige,
der wird mich Dir nicht versagen«.
Daß die alten Griechen kein Inzuchtvolk waren und die
Römer trotz der blutsverwandten Ehen, die in den Patrizier-
familien sehr häufig waren, Inzucht gesetzlich nicht schützten
und den Inzest sogar bedingt bestraften, spricht keineswegs für
den Umstand, daß Inzucht als eine Begleiterscheinung bereits
den politischen Zusammenbruch vorbereitender Degeneration
zu werten sei. Das römische Reich ging trotz der Freiheit
der Ehegesetze vorzeitig zu Grunde, die Juden dagegen, die
trotz der Diaspora ein Inzuchtvolk reinsten Stiles darstellen,
haben bis heute ihren Nationalcharakter gewahrt und müßten,
auf einen einheitlichen staatlichen Komplex zusammengedrängt,
ein Kulturvolk ersten Ranges mit ausnehmender Begabung
bedeuten. Daß gleichwohl die Inzucht und der Inzest bei dem
ungelehrten Volke in Mißkredit gekommen sind, und die
gelehrten Kreise sich über ihre juristische Zulässigkeit, be-
ziehungsweise über ihren rassengenetischen Wert und Unwert
streiten, ist wohl darauf zurückzuführen, daß auch in dieses
Problem die egoistische politische Spekulation hineingetragen
wurde. Wie die Völker der Antike die Inzucht gefordert haben,
um ihren Stamm rein zu erhalten, beziehungsweise die prä-
valenten physischen und intellektuellen Eigenschaften kunstvoll
züchteten, so haben die nachkommenden Völker, die das Erbe
der alten Welt übernahmen, aus egoistischen Motiven den
Spieß einfach umgedreht. Staaten, in denen die Ochlokratie
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 387
maßgebend war, hatten selbstverständlich ein Interesse daran,
daß nicht eine bevorzugte Kaste, deren über den Durchschnitt
emporragende Intelligenz sich gleichzeitig mit dem Blute weiter
erbte, sie in absehbarer Zeit der Herrschaft wieder beraubte.
In republikanischen Gemeinwesen wird daher für die Inzucht
wenig übrig sein und die entgegengesetzte Tendenz wird sich am
deutlichsten in der Prägung von Gesetzen gegen inzestuöse
Handlungen aussprechen. Aus demselben Grunde mag auch
das Christentum, das eine Schöpfung von Fischern und An-
gehörigen der niedersten jüdischen Stände war, die Inzucht
verworfen und die Schranken gegen die leibliche Verbindung
zwischen Bruder und Schwester aufgerichtet haben. Denn trotz
seiner vielgerühmten Toleranz, trotz seiner grandiosen Schöpfung
des Humanitätsgedankens atmet durch das ganze neue Testa-
ment ein großer Haß gegen die Reichen und Mächtigen dieser
Erde, gegen die Bevorzugten an irdischen Gütern und am
Geiste, von denen gesagt ist, daß eher ein Kamel durch ein
Nadelöhr, denn ein Reicher ins Himmelreich еіпріпре. Ап einer
der tiefsinnigsten Stellen der neutestamentlichen Legende,
in der Bergpredigt, verwirft Christus den irdischen und geistigen
Besitz und lobpreist die „Armen im Geiste, denn ihrer ist das
Himmelreich“. Die Lehre des Nazareners war die erste
erfolgreiche Revolution gegen die Traditionen des jüdischen
Adelswesens, gegen Inzucht und Oligarchie, eine Auflehnung
des elenden Zöllnertums gegen die zu Reichtum und Macht
gelangten Pharisäier. Daß es da in erster Linie hieß, die
Gesetze zu brechen, auf denen sich der Einfluß einer bevor-
zugten Klasse aufbaute, das liegt wohl in der Tendenz selbst,
die in jeder revolutionären Auflehnung nach Ausdruck ringt.
Das Mittelalter, als ein Gebilde der Kirche und des mit ihr
verbündeten Adels mußte zwar naturgemäß die Traditionen der
Apostel forterben und wir sehen auch, daß der Inzucht und dem
Inzest im Mittelalter allenthalben Schranken aufgerichtet sind.
Aber da die Päpste einsahen, daß sie wohl sehr gut mit, dagegen
nicht gegen die Junker und Könige, regieren konnten, der Adel
anderseits der Steigerung, die seine Macht durch die Inzucht
erfuhr, sehr wohl bewußt war, so regnet es das ganze Mittel-
alter hindurch von Dispensen, und das Gesetz, das die bluts-
verwandten Ehen verbot, erwies sich im Großen und Ganzen
als illusorisch.
25*
388 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Wenden wir uns nunmehr der jüngsten Zeit zu und suchen
wir nach den Gründen, die uns ein Inzuchtproblem lebendig
gemacht haben, so muß man nach genauer Prüfung der Um-
stände gestehen, daß es ein Inzuchtproblem eigentlich nicht
nur nicht gibt, sondern daß das, was allgemein als Inzucht
bezeichnet wird, einen Komplex von Phobien bedeutet,
von Wünschen, Befürchtungen und Handlungen, die
gegen das eigene Ich gerichtet sind. Kraft des geheimen
erotischen Gesetzes, das jedem Menschen inne wohnt und im
Dienste einer ewig dauernden natürlichen Auslese tätig ist, ist es
begreiflich, daß Blutsverwandte untereinander zum mindest
ebenso häufig heiraten, als es aus Gründen der falschen Scham,
der Angst vor etwaigen Folgen, vor einer Zerstörung der
Familie und Beeinträchtigung der Nachkommen unterlassen wird.
Rohleder hat bereits in seiner ausgezeichneten Studie über
die Zeugung bei Blutsverwandten darauf hingewiesen, daß eine
Ehe unter völlig gesunden blutsverwandten Personen keine oder
im Gegenteil vorteilhafte Folgen nach sich zieht. Selbstver-
ständlich werden Menschen, die anormal veranlagt sind,
Krankheiten aufweisen, aus Familien stammen, die von Alkoho-
lismus, Epilepsie und Geisteskrankheiten heimgesucht sind,
nach wie vor durch Has Gesetz an einer Vermischung ver-
hindert werden müssen. Aber dieser Grundsatz gilt ebenso
für Personen, die nicht untereinander verwandt sind, wenn er
auch nicht durch das Gesetz geschützt wird, was leider zur
Folge hat, daß jährlich eine Unzahl körperlicher und geistiger
Krüppel mehr in die Welt gesetzt werden. Es kommt nicht
darauf an, daß die Menschen, die zur Ehe zugelassen
werden, nicht in direkter Linie verwandt, sondern
daß beide Teile gesund, an Körper und Geist völlig
gesund sind und im Übrigen auch aus einer nach-
weisbar gesunden Familie stammen.
Die Stellung der Moderne zum Inzuchtproblem und im
Vereine damit auch zum Geschwisterproblem ist mithin nicht
durch die Vernunft, sondern durch das Gefühl diktiert. Im
Großen und Ganzen wird es ja immer so bleiben wie heute,
daß die Blutsverwandtschaft in ihrer extremsten Form, ich
meine die von Bruder und Schwester, bei Eheschließungen
vermieden wird. Dazu liegt uns allzusehr die zwei Tausend
Jahre alte Erziehung durch die christliche Weltanschauung im
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 389
Blute. Das Christentum hat aus entgegengesetzten Motiven
wie die alten Inzuchtvölker die Schwester als sakrosankt er-
klärt. Wir haben uns allzusehr daran gewöhnt, eine Verletzung
dieses priesterlichen Charakters der Schwester zu vermeiden.
Aus diesem Grunde gibt es normaler Weise für uns kein Ge-
schwisterproblem. Aber das Blut ist stärker als wir und es
zeigt uns tausendmal im Leben, daß die geheimen Beziehungen
dennoch vorhanden sind. Vielleicht trägt ihre teilweise Er-
kenntnis dazu bei, uns als Wegweiser bei der Beurteilung
mancher Geheimnisse im Leben, mancher verborgenen Wurzeln
bei Inzestverbrechen zu dienen.
8 E
PSYCHOLOGIE DES WARENHAUSES.
Von LOTHAR EISEN.
wk dem Charakter dieser Zeit ist es etwas eigenes; sie hat
die sanfte Poesie des Biedermeiertums, die schrullenhafte
Romantik, in der sich männiglich noch vor wenigen Jahrzehnten
gefiel, in einer überraschen Entwicklung abgestreift und hat die
harte, nüchterne Prosa des Alltags zur Norm der Allgemeinheit
erhoben. Aber auf der anderen Seite quillt ihr die Erfindung
reicher als allen Jahrhunderten, die ihr voran gingen, sie zeigt
eine Pracht und Originalität der Phantasie, die ans Orientalische
grenzt und alles, was mit ihr in Berührung kommt, wächst
ins Gigantische, Unermeßliche hinein. Die Formen vergangener
Kulturen waren vielleicht eindeutiger, die Bräuche verrieten
offenkundiger ihre Zwecke, die Handlungen mochten weniger
Symbol gewesen sein als in der Gegenwart. Alles, was heute
lebt und irgend eine Bedeutung besitzt, ist viel komplizierter
geworden, äußerlich scheinbar eintöniger, aber in Wirklichkeit
lebt der Geist der jüngsten Epoche darinnen, und dieser Geist
besitzt die Beweglichkeit und Farbenpracht eines Kaleidoskops.
Allerdings muß man sich die Mühe nehmen, die tiefernsten,
genialen Gedanken hinter den Symbolen, die sie verschleiern,
hervorzusuchen.
Das 20. Jahrhundert ist das Zeitalter der Technik und der
strengen Wissenschaften; kein Jahrhundert genußfrohen Über-
schwangs und einer leichtfertigen, aus Kunst und Sorglosigkeit
390 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
verschmolzenen Lebensanschauung. In Umdeutung einer antiken
Fabel könnte man diese Zeit als die eiserne bezeichnen, soviel
Härte und Unzugänglichkeit liegt in ihr, soviel kraftvoller Auf-
schwung, aber auch soviel angstvolles Verbergen aller Ideale
und des Schönen, in dem sich die Sinne der Menschheit zu
neuer Kraft und Produktivität baden. Der Gesichtspunkt, von
dem aus die Dinge gewertet werden, ist der des Zwecks und
des Erwerbes, das Wirtschaftliche steht über dem Harmonischen,
und selbst das Pachtgut der Musen Musik, Tanz und Spiel
sind von einem unbarmherzigen Kapitalismus industrialisiert
worden. Das Geschäft ist der Hauptzweck. Ihm werden
Philosophie und Technik, Kunst und Wissenschaft dienstbar
gemacht. Woher stammt diese Angst vor dem Nichtgenughaben,
dieser Drang über die dem Einzelnen gesteckten Grenzen
hinaus, der sich ebensogut beim Proletarier wie beim Multi-
millionär offenbart? Er entstammt einer bedeutungsvollen,
erotischen Wurzel: der Sucht nach sexueller Befriedigung,
nach dem Sinnenrausch, den man in den Sorgen des Alltags
zu verlieren droht. Andere Zeiten haben sich Tempel der
Liebe gebaut, haben ihre Gärten geschmückt und das Lager be-
kränzt, wo sie das Geheimnis der Liebe zu erleben suchten, noch
andere Zeiten haben ihren Sexualrausch in wilden, bacchan-
tischen Orgien, in obszönen Theaterdarstellungen, in einem
maßlosen Genußleben austoben lassen. Die Gegenwart ist
ernster, tiefer veranlagt und sie begnügt sich aus einem
instinktiven Schamgefühl heraus mit Symbolen. Die Wunder-
werke der Technik, die kilometerlangen Tunnels, die ungeheuren
Abgründe überspannenden Brücken, die unheimlich "dahin-
flitzenden Eisenbahnen und Expreßzüge, und schließlich die
gewaltigen, in das lautlose Luftmeer eindringenden Flugwerk-
zeuge, das alles sind Offenbarungen des in dem Urgrunde der
Seelen brauenden Sexualtriebes, Träume, wie sie nur ein vom
heißesten Opium durchglühtes Hirn zu erleben vermag. Und
Hand in Hand mit diesen eruptiven, aber nur in symbolischen
Verkleidungen wirkenden Geschlechtsträumen geht das ge-
waltige, allumfassenden Schamgefühl, das den Gegen-
wartsmenschen anhaftet und das ein Zeichen ihrer titanenhaften,
an die Grenzen des Ewigen fußenden Kultur ist. Denn das
Schamgefühl ist etwas, das aus der Kultur entspringt, mit ihr
wächst und mit ihr zu Grunde geht und das umso mimosen-
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 391
hafter ist, je tiefer die zeitgenössische Forschung in das
Sexualproblem eindring. Wenn wir alles entschleiert haben
werden, was sich hinter diesem Problem verbirgt, dann werden
wir am keuschesten geworden sein. Denn der Aufstieg zum
Wissen ist in diesem Falle nicht gleichbedeutend mit dem
Abstieg zum Laster.
Eine originelle Erfindung der modernen, drängenden, das
Einfache im Großzügigen anstrebenden Zeit und ebenfalls ein
Symbol ihrer abgründigen Erotik ist das großstädtische Waren-
haus. Auf irgend einem Platz, wo sich mehrere wichtige
Straßen kreuzen, in einem Kolossalbau, an den die Königs-
schlösser der absolutistischen Periode nicht heranreichen, was
Pracht und Raumentfaltung anbelangt, von außen Glas, von
innen Gold und Marmor, mit wunderbaren, hängenden Gärten
und tropischen Gewächshäusern, liegen die Schätze aufgestapelt,
die Industrie und Gewerbe im Verein mit dem Handel aus
allen fünf Weltteilen zusammenhäufen. Man kauft hier alles
und man lebt hier auch alles. Ja, man lebt hier noch viel
mehr, als in den Märchen von Tausend- und Eine Nacht, denn
hier verbindet sich der Orient mit dem Okzident, und während
man in einem Palmenhain bei dem Rauschen eines Spring-
brunnens sitzt, duften in greifbarer Nähe alle Süßigkeiten der
Welt, türmt sich neben Brokat und Seide die schneeigste
Linnenwäsche, und Träume von Glanz und Herrlichkeit, die
sonst nur einzeln zu kommen pflegen, rauschen hier auf in
wuchtigen Akkorden, verrinnen zu einer grandiosen Symphonie,
die einen bis zu den Sternen emporträgt, aber auch die größte
Anspannung und Müßigkeit zu hinterlassen vermag. Das
Warenhaus ist die poetischste, und mit einer ganz eigenen
Romantik verkleidete Offenbarung moderner Erotik. Schon die
Atmosphäre ist von dem ersten Moment an, da man über die
Schwelle tritt, eine sinnliche, sie hat den heißen, wogenden,
berauschenden Atem exotischer Paläste an sich; man fühlt in-
stinktiv, daß man hier einen modernen Tempel der Liebe be-
tritt. Die Menschen, die hier durcheinander wogen, sind alles
Suchende. Nicht nur Käufer, die nach einer passenden Ware
fahnden, sondern Menschen, die ihr Glück, ein Erlebnis, oder
auch nur eine harmlose erotische Emotion suchen. Man hat
das Warenhaus in den 60er und 70er Jahren des verflossenen
Jahrhunderts zur Bequemlichkeit des kauflustigen Publikums
392 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
erfunden; und man hat ihm mit Rücksicht auf die geheime
erotische Welle, die unsere Zeit durchströmt, den jetzigen
üppigen femininen Stil gegeben. Das Warenhaus gehört den
Frauen. Das zeigt sich äußerlich schon darin, daß alle Räum-
lichkeiten zu jeder Tageszeit mit unendlich viel Frauen erfüllt
sind, die alle ein geheimes, einheitliches Zeichen auf der Stirn
tragen, so verschieden auch ihre Gesichter sein mögen, das
Zeichen ihres Wunschempfindens, der verhüllten, nach Erfüllung
suchenden sexuellen Begierde. Und die Atmosphäre, die in
dem Warenhaus bebt, kommt diesem Wunsch auf allen Wegen
entgegen, sie schafft die Möglichkeiten, unter denen sich Ver-
hältnisse anbahnen, und räumt vor allem Gegensätze und gesell-
schaftliche Schranken aus dem Wege, die den erotischen Er-
lebnissen hindernd im Wege stehen. So ist das Warenhaus
das erfolgreichste und meistbesuchte Kuppelinstitut, das die
moderne Zeit, die wahrlich an solchen Sehenswürdigkeiten nicht
arm ist, aufgebracht hat.
Unter den Warenhausbesuchern gibt es eine bestimmte Sorte
Frauen, die täglich ein und aus geht und sich stündlich in den
glänzenden Räumen aufhält, nur um bewundern, ansehen, sich
in die Dinge hineinträumen zu können. Jede Frau ist nämlich
von ihrem Sexualleben so beherrscht, daß sie überall und zu
allen Tageszeiten von dem Drange nach sexueller Entspannung
verfolgt wird. »Sich Schmücken« und »Kaufen«, das sind
die beiden Hauptrichtungen, in denen sich ihr verdrängter
Sexualtrieb austobt, und zu ihrer Befriedigung genügt bereits
die Geste des Kaufens, auch wenn der angestrebte Gegenstand
schließlich gar nicht erworben wird. Aber die Frau schmückt
sich nicht um den Männern zu gefallen, sondern weil ihr das
Schmücken des eigenen Körpers ein sexuelles Raffinement be-
deutet, weil eine Frau, die sich umkleidet, sich wäscht, kämmt,
sorgfältig frisiert und sich in so und so viele Kleider hüllt,
dabei eine angenehme ausgesprochen sexuelle Emotion emp-
finde. Ein Mann kann es nie begreifen, daß eine Frau zum
An- und Auskleiden Stunden braucht. Die Männer sind immer
ungeduldig und viele Zerwürfnisse, das vorzeitige Ende manchen
glücklichen Verhältnisses, sind auf die Unpünktlichkeit der Frau
zurückzuführen. Aber die Männer müßten wissen, daß jeder
Frau, die sich um 11 Uhr zum Morgentee ansagt und um
1/1 Uhr mit ihrer Toilette noch nicht fertig ist, die 21/ Stunden
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 5 393
Ankleidens ein erotisches Erlebnis waren, das an Intensität
dem Zusammensein mit dem Geliebten nichts nachgibt. Wenn
eine Frau pünktlich wird, wenn sie nicht mehr auf ihre Frisur
achtet, in gleichgültigen oder in unindividuellen Kleidern ein-
hergeht, dann ist sie bereits sexuell wertlos geworden. Ein
Kenner der Frauen-Psyche wird, wenn er eine schöne Frau
erwartet, immer über die vereinbarte Zeit hinaus noch ein
halbes Stündchen zugeben.
Ebenso ist das Kaufen, das Abwägen und das Prüfen der
Ware eine Herzensangelegenheit der Frau, das heißt, es besitzt
dieselbe Bedeutung für sie, wie das Sichschmücken, Ankleiden,
Flanieren oder Theaterbesuchen. Eine Frau, die zehn bunt-
schillernde Seidenstoffe ansieht, bevor sie sich für den elften
entschließt, zwei Dutzend Paar Schuhe anprobt, um dann
resultatlos das Geschäft zu verlassen, mit der Verkäuferin über
die Güte einer Spitzengarnitur minutenlang hin und her feilscht,
die sich in jeden neuen Hut, in jedes neue Pelzwerk mit einer
anderen Nuance von Begeisterung verliebt, diese Frau geht
nicht in das Warenhaus, um zu kaufen, sondern nur, um so
zu tun als ob sie kaufte, kurz, um den Rausch des Betrachtens
und Begreifens, um die Geste des Kaufens zu erleben.
Denn da die Kleidung für die Frau einen hohen, nach der
Liebe vielleicht den höchsten sexuellen Wert besitzt, so liebt
sie alles, was mit dieser in irgend einer Weise zusammenhängt,
und vor allem wird sie nie müde, zu ihrer Schneiderin oder
ins Warenhaus zu gehen, um durch neue Kombinationen ihrer
Kleidung sich begehrenswerter und interessanter zu machen.
Aus dem Grunde ist das Warenhaus immer von Frauen be-
lagert, die ohne Kaufabsicht, rein um des Betrachtens und
Prüfens willen, die Mühe des endlosen Treppensteigens auf
sich nehmen. Einen Mann, der gezwungen ist, mitzugehen,
kann das mitunter zur hellen Verzweiflung treiben. Aber würde
er in solchen Minuten seiner Begleiterin in die Augen sehen,
dann müßte er erkennen, welchen ungeheuren Dienst er ihr durch
den Rundgang um die aufgestapelten Warenberge leistet.
Das Warenhaus hat nicht nur die kleinen Spezialgeschäfte
in sich aufgenommen, sondern es hat auch die Stätten zum
Teil überflüssig gemacht, wo sich früher Liebesverhältnisse
anbahnten und vollzogen. Mit seiner sinnlich überhitzten Atmo-
sphäre, seiner blendenden Umgebung, den zahlreichen Schlupf-
394 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
winkeln und der ständigen Ausstellung hübscher Frauen und
Mädchen, ist es der erste und wichtigste Liebesmarkt der
Großstadt geworden. Die Präliminarien des Geschlechtaktes,
das langsame gegenseitige Umwerben, die Spaziergänge in
romantischer Landschaft, das trauliche Zusammensein in irgend
einer Konditorei, einem Cafe oder in der anschmiegsamen Ecke
eines Restaurants, Theater und Musik, das alles findet sich
jetzt auf einmal innerhalb der vier Wände jedes erstklassigen
Warenpalastes zusammen. So kann sich ein Roman, der früher
vielleicht Monate lang dauerte, in ganz korrekter Form in zwei
bis drei Stunden abspielen. Man begegnet einander in der
untersten Etage, der Mann liest in der Seele des Mädchens,
beziehungsweise der Frau, in ihren sehnsüchtig nach rechts
und links blickenden Augen die geheimsten Wünsche, man
geht an blitzenden Geschmeiden und Stapellagern von kost-
barer indischer Seide vorüber in den Erfrischungsraum, und
wenn man hier seinen Kaffee getrunken hat, wandert man
weiter, langsam nach der dritten Etage, um dort oben in irgend
einem Eckchen die Worte verstummen und die Lippen ihr
schweigendes Spiel beginnen zu lassen. Dazu klingt eine
schöne Musik, ganz heimlich hinter undurchsichtigen Wänden
hervor, und die Töne scheinen wie Falter von der hohen
Kuppelwandung des Daches herabzufallen, sie wandeln sich
unten zu den rosenfarbigen Cyclamen und duftkranken Tuberosen,
die in diesem steinernen Feenreich ihre Blütenpracht ausstreuen.
Nichts von der Romantik verflossener Wertherzeiten, nichts
von der Heidestimmung der Marlittschen Prinzessinnenromane,
aber der Effekt ist hier der gleiche wie dort, ja das Erleben
ist vielgestaltiger und intensiver, weil es eben modernen
Menschen begegnet.
Vor mehr als Jahresfrist stand der Aufsichtsherr eines
großen Warenhauses als Angeklagter vor den Gerichtsschranken,
weil er angeblich mit mehreren seiner Angestellten zarte Be-
ziehungen angeknüpft hatte und ein weiteres Engagement von
ihrer bedingungslosen Unterwerfung abhängig machte. Eine
Reihe angesehener Tageszeitungen hatte damals des Langen
und des Breiten über die Warenhäuser geschrieben, sie als
richtige Lasterhöhlen bezeichnet und die gesetzlich zulässige
Höchststrafe für den unsauberen Vorgesetzten gefordert. Und
es ist selbstverständlich, daß derartige Vorkommnisse nicht zu
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 395
verteidigen sind, aber ebenso klar ist es, daß die Aufsichtsherrn
der Warenhäuser, sowie das übrige männliche Personal vor ihren
weiblichen Gesellinnen einen ziemlich schweren Stand haben.
Man denke sich die kleinen Konfektionsmädchen, Verkäuferinnen
und Kassiererinnen, die Tags über an die überhitzten, mit den
schwersten sinnlichen Düften erfüllten Räume gebunden sind,
und deren Gefühlsleben sich gleichsam in einem Zustand
dauernder Versuchung befindet. Ich habe mit eigenen Augen
gesehen, wie Verkäuferinnen die männlichen Angestellten in
auffallender Weise umwarben und wie sich in einer Abteilung
sämtliche zwölf Köpfe instinktiv nach dem Wandelgang wandten,
wenn irgend ein hübscher, elegant gekleideter junger Mann
durchging. In der Geschichte der Prostitution wird so viel
über die Neigung zur beruflichen Unzucht gerade in dieser
Klasse gesprochen. Das Warenhausfräulein ist auch ein Typ,
der in der belletristischen Literatur mit Vorliebe in der
Rolle der Verführten geschildert wird. Die Psychologie der
Romanautoren hat überall als Entschuldigungsgrund die Be-
schäftigung des Warenhausfräuleins mit den kostbaren und
schönen Sachen angegeben. Das tägliche Sehen der Gegen-
stände lasse in den betreffenden Mädchen allmählich den
Wunsch reifen, sich in den tatsächlichen Besitz solcher Herrlich-
keiten zu setzen. Und da der einfachste Weg dazu der der
heimlichen oder offenen Prostitution ist, so sind eben die
meisten Warenhausfräulein im Nebenberuf klandestine oder
kontrollmäßig eingetragene Prostituierte. Die Rechnung stimmt
nur in Einzelheiten, sofern es feststeht, daß ein großer Prozent-
satz der weiblichen Warenhausangestellten der Prostitution
anhängt oder seine reellen Verhältnisse ziemlich häufig wechselt.
Aber nicht um sich in den Besitz der Kostbarkeiten zu setzen,
die sie Tags über verkaufen, gehen diese Mädchen ihren
galanten Abenteuern nach, sondern einfach darum, weil das
Warenhaus mit der Zeit in jeder Frau, die sich dauernd darin
aufhält, eine brennende Sinnlichkeit großzüchtet, die geschlecht-
liche Begierde zu immer neuer Aktivität aufpeitscht und die
Widerstände moralischer und logischer Art auf das Minimum
herabsetz. Dazu kommt, daß Liebenswürdigkeit mit dem
Kunden die erste und oberste Bedingung ist, die von dem
Chef des Hauses seinen Angestellten empfohlen wird. Aber
jemand, der es gewohnt ist, immer sein Gesicht in liebens-
396 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
würdige Falten zu legen, wenn er mit einer dritten, indifferenten
Person verhandelt, wird schließlich diese angenehme Eigenschaft
in allen Lebenslagen beibehalten. Eine Frau, die die jungen
Herren aus beruflichen Gründen immer in entgegenkommender,
Weise behandeln muß, wird auch draußen auf dem Asphalt-
pflaster, wenn die Tür des Warenhauses sich hinter ihr ge-
schlossen hat, nicht schwer zugänglich sein.
Das Warenhaus mit seinem Dunst von menschlicher und
pflanzlicher Wärme, mit seinem bunten, traumhaften uud farben-
schillernden Durcheinander der Gegenstände und Lichter, schleift
die Individualitäten ab und züchtet die Gefühle der Mädchen
um — ins Dirnenhafte.e Keine Frau aber steht so hoch, daß
sie nicht einen leisen, wenn auch noch so unmerklichen Ein-
schlag zur Dirne in sich trüge. Es kommt ganz und gar nur
auf die Situation an, in die sie hineingestellt wird, wenn be-
stimmte Seiten ihres ursprünglichen Talentes verkümmern und
die anderen, vielleicht besseren, zum Leben erwachen. Deshalb
ist es auch lächerlich, über eine Frau schlankweg den Stab zu
brechen, weil sie Dirne geworden ist. Sie ist es nicht aus
sich selbst geworden, sondern durch die Ungunst der Ver-
hältnisse, und hätte unter anderen Umständen vielleicht eine
ebenso züchtige und ehrbare Hausfrau wie vortreffliche Mutter
abgegeben. Wenn man bedenkt, daß eine Frau wohl tausend-
mal fallen, aber kaum einmal sich aus dem Sumpf wieder
erheben kann, dann wird man die übelbeleumdete Kaste der
Dirnen nicht mit noch größerem Schmutz überhäufen, denn
der ehrliche Mann muß sich sagen, daß unter anderen Um-
ständen seine Frau, seine Schwester oder seine Geliebte ein
gleiches Schicksal hätten erfahren können.
Diese Einwände sollen jedoch keineswegs eine Anklage
gegen das Bestehen der modernen Warenhäuser bedeuten. Ich
habe bereits Eingangs des Aufsatzes klar gelegt, welch eine
großartige Manifestation des erotischen Empfindens die gewal-
tigen Schöpfungen der Neuzeit, und unter ihnen auch das
Warenhaus, bedeuten. Schatten ist überall, wo sich Licht aus-
breitet, und in dem wertvollsten Buch finden sich neben den
besten Gedanken auch solche, die banal und alltäglich klingen.
Das Warenhaus ist mit Hinsicht auf den vorwärts drängenden,
Minuten und Sekunden wägenden Geist unserer Zeit zweifels-
ohne eine der wohltätigsten Einrichtungen, die in jeder Nation
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 397
und Großstadt, wo sie vorhanden sind, einen wirtschaftlichen
Reichtum aufdecken. Die Psychologie solcher Institutionen jedoch
erfordert es, daß alle darin enthaltenen Vorzüge und Fehler in
gleichmäßiger Verteilung ausgesprochen werden; so trägt auch
das Warenhaus gleicherweise zur Erhebung wie zum Ruin der
Gesellschaft bei. Das ist schließlich ein Naturgesetz: mit der
Erhabenheit paart sich oft ein lächerliches Pathos, mit dem
Gedanken die Ironie, mit der Tragik die Groteske, und wo
auf der einen Seite gewaltsam aufgebaut wird, da beginnen
bereits auf der anderen Seite die Fundamente zu schüttern.
8 E
MUTTERSCHAFT.
Von Dr. JOHANNES MARR.
eitdem die wirtschaftlichen Kämpfe der Gegenwart auch auf
die Frau übergegriffen und sie zu einer selbständigen Teil-
nahme am Berufsleben gezwungen haben, hat sich auch in
der Wertung der Frau durch die Öffentlichkeit und in ihrer
Stellung dem Mann als dem Werbenden gegenüber ein Um-
schwung vollzogen. Die Frau ist aus ihrer passiven Rolle, in
die sie durch die Jahrtausende währende Entwicklung der
Familie hineingedrängt worden war, — eine Passivität, die
allerdings nicht immer die gleichen Formen bewahrte, sondern
mannigfachen Abänderungen unterlag und vielfach der Frau,
so besonders im Schoße der Familie, ein Übergewicht vor dem
Manne einräumte, — immer deutlicher herausgetreten und
nimmt heute sowohl politisch, als auch inter lares beinahe die-
selben Rechte für sich in Anspruch, die kraft gesetzlicher
Überlieferung nur dem Manne zustehen. Die Frauenemanzi-
pation als eines der wichtigsten sozialen Probleme der Gegen-
wart hat für den Begriff »Weib« neuen Klangwert und Inhalt
geschaffen, sie hat eine gewaltige Umwälzung im Sexualleben
der Frau angebahnt und für sie neben der politischen Mission
das Recht auf Liebe und Mutterschaft neu entdeckt. Aber
wenn man auch die Frauenemanzipation als ein Gebilde der
Neuzeit betrachten muß, so greifen doch ihre Anfänge, die
geheimen Wurzeln der erotischen und sozialen Wiedergeburt
398 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
der Frau, bereits in die ältesten Zeiten zurück, und im Verlauf
der Geschichte kann man überall den mehr oder weniger er-
folgreichen Kampf zwischen AMutterschaftsidee, weiblicher
Liebessehnsucht und einer gesetzlich sanktionierten, alle Rechte
der Autorität ausübenden männlichen Ordnung vorfinden. Die
Bedeutung der Mutterschaft für die Entwicklung der Mensch-
heit erhellt bereits auf Ahnenstufen, zu jenen Zeiten also, wo
der Mann sich noch als völlig abhängig von der »Mutter«
zeigt, und die Rechte der Familie durch die mütterliche Ein-
flußsphäre begrenzt sind. Erst von dem Moment an, wo die
Herrschaft des Mutterrechtes gebrochen ist und der Egoismus
des Mannes zusammen mit dem Durchbruch persönlicher In-
stinkte eine neue Ordnung schafft, tritt das Weib als Gebieterin
und Mutter in den Hintergrund und wird zur Sklavin und
Gebärerin herabgedrückt. Durch alle familiären Phasen der
nachfolgenden Zeiten bleibt die Frau in dieser untergeordneten
Stellung und besitzt keinerlei Rechte, mit Ausnahme jener, die
der von Mannes Gnaden legitimen Beischläferin zustehen.
Denn die Erkenntnis von der überragenden Sexualität der
Frau wird von dem beobachtenden Manne zu ihren Ungunsten
ausgebeutet und die Entwicklung der Frau durch die Fest-
legung auf diese Sexualität für Jahrtausende hinaus gehemmt.
Die Frauen des Altertums, der glanzvollsten Epochen ver-
sunkener Kulturen, das Weib des Mittelalters und der älteren
Neuzeit werden nur dort im Zusammenhang mit der Geschichte
genannt, wo sie infolge ihrer ausgesprochenen Erotik hindernd
oder fördernd in die Abwicklung der Ereignisse hineingegriffen
haben. Aber sonst ist ihre Stellung die denkbar niedrigste, sie
unterscheidet sich in nichts von der noch heute üblichen
Wertung der Frau bei manchen orientalischen und eingeborenen
Völkern, und es bedurfte erst eines so gewaltsamen und tief-
greifenden Umschwunges in der Gesellschaftsordnung, wie der
französischen Revolution, um den Boden für die moderne Ent-
wicklung der Frau zu bereiten. Allerdings haben das Mittel-
alter besonders in der Epoche des höfischen Minnedienstes
und der Maitressenkult der Renaissance die moderne Gynäko-
kratie scheinbar vorgeahnt. Aber die Superiorität der Frau
war auch in diesen Zeiten wiederum eine rein sexuelle. Der
höfische Minnedienst betrachtet die Anbetung der Frau als
ein Gebot der Höflichkeit, in rechtlicher Beziehung war jedoch
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 399
die Frau durchaus hörig und mithin ganz anders geartet,
als sie sich in den Gedichten der schönfärbenden Trou-
badours ausnimmt. Die Renaissance und deren direkte Fort-
führung, das galante Zeitalter hinwiederum standen im Gegen-
satz zu dieser Auffassung auf dem platonischen Grundsatz, daß
eine Frau ausschließlich für rein erotische Verhältnisse und
zur Zeugung legitimer Erben geschaffen sei, für Wissenschaft,
Politik und Kunst dagegen vollständig ausschalten müsse.
Namentlich die Renaissance, die das Ideal des antiken Eros
neu beschworen hat und sich wie die perikleische Kultur in
der Männergemeinschaft gefiel, hat die Frau für lange Zeiten
hinaus diskreditiert und ihr durch die Verleihung von Schein-
rechten die Möglichkeit der persönlichen Entwicklung für Jahr-
hunderte hinaus genommen. In der Kunst des 15. und 16.
Jahrhunderts und noch später findet sich wohl eine so
schrankenlose Verehrung der Frau und Mutter, daß man leicht
irrigen Anschauungen mit bezug auf die Stellung der Frau bei
unseren Vorfahren zum Opfer fällt. Der übereifrige Madonnen-
kult mittelalterlicher und neuzeitlicher Kreise hat aber keines-
wegs der Verherrlichung der Mutterschaftsidee und dem Beweis
der Gleichstellung der Frau mit dem Manne gedient, sondern
ist nur das Dokument einer bestimmten erotischen Richtung,
bei der nicht das rein Mütterliche, Weibliche der Madonnen,
sondern der mystisch-transzendentale Begriff ausschlag-
gebend war. Die Madonnenanbetung des Mittelalters und der
Renaissance hat mit der Emanzipation der Frau nichts zu tun
und ist vielmehr einer Abneigung gegen diese, einer Vorein-
genommenheit gegen die irdische Frau und Mutter entsprungen.
Es ist ein rein ideales Experiment, das in den Madonnen-
bildern nach Ausdruck und Formen ringt. Ebenso ist der
Frauenkult der Renaissancekunst, der in der Bevorzugung des
Schwangerschaftsmotives seinen Gipfelpunkt findet, ebenfalls
ein rein erotisches Problem, das keineswegs auf eine veränderte
Stellung gegenüber der Frau deutet. Das beweist schon der
‚Umstand, daß die Frau bis in die jüngste Zeit hinauf nie
anders als die Geliebte, Dirne oder Maitresse dargestellt wurde,
auch dort, wo sie in häuslichen Kreisen oder bei Ausübung
mütterlicher Pflichten gezeigt wurde. Die Entdeckung der
Mutter in dem heutigen Sinne, die Veredelung des Begriffes
also und die Befreiung der Frau aus den hemmenden Maschen
400 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
politischer und konfessioneller Dogmen, ist erst ein Verdienst
der jüngsten Gegenwart und nicht zuletzt durch die veränderten
wirtschaftlichen Veränderungen der Gegenwart bedingt. Es ist
ein Vorrecht der anglo-amerikanischen Rasse, daß sie zuerst
für die Frau die Notwendigkeit einer Anpassung an die ge-
änderten wirtschaftlichen Bedingungen erkannt hat. Die Frauen-
emanzipation und mit ihr die ganze Mutterschaftsbewegung,
sofern sie heute als ein in sich Abgeschlossenes dasteht, ist
keine Erfindung deutschen Geistes und kämpft wohl auf
deutschem Boden so ziemlich mit den größten Schwierigkeiten,
wenngleich vorauszusehen ist, daß sie hier andererseits ihre
reichsten Früchte ernten wird. Einstweilen stehen noch die
Gesetze aus, die das berechtigte Verlangen der Frau nach
Gleichstellung im öffentlichen Leben und nach einer unge-
hinderten Erfüllung ihres Liebes- und Mutterschaftsberufes ent-
gegen kommen. In Wirklichkeit ist ja die Frau bereits auf
dem Wege zur Durchsetzung ihrer ureigensten Rechte, sie
hat nach und nach alle privaten und öffentlichen Berufe für
sich erobert, und es ist nur eine Frage der Zeit, ob ihr auch
das politische Stimmrecht zugestanden wird.
Daß diese Entwicklung Schritt für Schritt gegangen ist,
daß es hier einen ganzen Wust von Lügen und Aberwitz tot-
zuschlagen galt, bevor die Frau dahin gelangte, wo sie heute steht,
und daß sie heute zäher als je in dem Kampf gegen die Widersacher
ihrer Rechte beteiligt ist, das alles erfährt man aus dem groß-
angelegten Sammelwerk Adele Schreibers »Mutterschaft« (Mün-
chen, Verlag Albert Langen), das kürzlich in der Öffentlichkeit
berechtigtes Aufsehen erregt hat. Adele Schreiber hat hier
alles zusammengetragen, was zu dem Problem der Mutter in
irgend einem direkten Zusammenhang steht und hat eine
Anzahl gewichtiger Stimmen, die nicht von den maßgebenden
Instanzen überhört werden können, für die von ihr geleitete
Bewegung gesammelt. Es ist selbstverständlich, daß bei einem
so umfassenden Werk mancherlei weniger Gutes neben Vor-
züglichem unterlief und wenn namentlich die kulturelle und,
juristische Seite des Problems nicht nach allen Seiten hin ge-
nügend durchleuchtet scheint, so ist hier dennoch ein ganz
ungeheures positives Material zur Frauenfrage, zur Sexualreform
und Pädagogik der Gegenwart und zu einer Neuregelung der
diesbezüglichen Gesetze geboten. Es behandelt nur die echt
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(Hepsipnw “qS APY snY) "DIAOULSIW NVf UoA 'IJANI0I1 IHOISIAVIS
VENEZIANISCHE KINDERSTUBE. Von SCARSELLA.
(Hannover, Provinzial-Museum.)
DARSTELLUNG DER WOCHENSTUBE EINER VORNEHMEN
FLORENTINERIN. Von MASACCIO. (1401—1428)
Zu dem Aufsatz Die Mutterschaft. S. 397
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 401
frauliche Bewegung, in scharfer Umgrenzung des Gebietes, auf
dem die Frau ihre eigentliche Stärke bekundet, und für die neue
ergänzende Resultate in dem vorliegenden Sammelwerk bei-
gebracht sind.
Verhehlen wir es uns nicht: Es ist eine ungeheure Lüge
in unserer Zeit an der Arbeit, eine Lüge, die das gesamte
Privatleben, weil es so innig mit dem öffentlichen verknüpft
ist, in seiner intimsten Sphäre, der sexuellen, bedroht. Die
gleiche doppelte Moral, die vergangenen Epochen ihr ver-
nichtendes Gepräge gegeben hat, übt noch immer ihren Ein-
fluß auf die gesamte Gesetzesformulierung der Gesellschaft.
Liebe, Sexual-Ethik, Ehe, uneheliche Mutterschaft, Mutterschutz
und Kindererziehung, das alles unterliegt der Einflußnahme
dieser doppelten Moral, die allerdings aus ihren historischen
Wurzeln leicht verständlich ist, der aber im Interesse einer
zukünftigen Kultur Kampf bis an das Messer angesagt werden
muß. Auf dem Gebiete der Liebe und Ehe ist durch die neu-
zeitlichen Bestrebungen, namentlich aber durch die mißver-
standene Propaganda der Frau vielfach Unheil gestiftet worden,
und es ist begreiflich, daß gerade von fraulicher Seite alle
Anstrengungen gemacht werden, die vorhandenen Mißverständ-
nisse aus der Welt zu schaffen. Täuschen wir uns nicht, daß
es damit genau so seine Schwierigkeiten haben wird, wie bei-
spielsweise mit der Frage der modernen aufklärerischen Kinder-
erziehung, jener brennenden Sorge aller sich verantwortlich
fühlenden, verständnisvollen Eltern.
Gerade zu diesem letzteren Gegenstand äußert sich Hedwig
Bleuler-Waser in dem Sammelwerk in einsichtiger Weise;
die Kapitel über „Erziehung zur Mütterlichkeit“ und „Das
Zwischenland“ berühren die elementarsten Fragen der Sexual-
Pädagogik in eindringlicher Beleuchtung, wenn es auch schwer
ist, alle Fäden, die sich hier ineinander schlingen, aufzudecken.
Liegt doch die ganze Zukunft, die Möglichkeit, die idealen
Forderungen der modernen Frauen- und Mutterschaftsbewegung
durchzusetzen, in den Händen der Jugenderziehung, die nur
dann von Wert sein kann, wenn sie mit den gegebenen sozialen
und ökonomischen Bedingungen rechnet. Der alten Garde wird
es selbstverständlich schwer fallen, noch einmal umzulernen
und sich ein neues Frauenideal, neue Sittlichkeitsbegriffe, an-
zueignen, denn jeder Mensch glaubt, so lange er atmet, an den
Geschlecht und Gesellschaft VII, 9. 26
402 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Vorzug der alten Zeiten und an die Unzulänglichkeit der
kommenden. Die Jugend ist ja anders geartet. Sie kann
leichter mit, weil ihr — sagen wir unumwunden — „Gott sei
Dank“, die alten Zeiten mit ihrer souveränen männlichen Moral
fremd geblieben sind. Die Jugend wird es auch lernen, die
Ehe auf anderen, gesünderen Grundlagen als den bestehenden
aufzubauen, sie wird sich in das System des Großhaushaltes
hineinpassen, und wird vielleicht auf diese Weise die unglück-
selige Spätehe vermeiden, die sowohl an der Moral als auch
an der Fortpflanzungsfähigkeit der gegenwärtigen Nationen
її. Die Reform der Mutterschaftsgesetze, von der sowohl
die ehelichen als auch die unehelichen Mütter betroffen werden,
muß aber besonders für letztere von einschneidender Bedeutung
werden. Das Problem der unehelichen Mutterschaft ist, wie es
heute besteht, eine Kulturschande und ein Verbrechen am
Volkskörper. Die wohlhabenden Kreise werden ja davon
weniger betroffen und aus diesem Grunde erklärt es sich auch,
daß alle diesbezüglichen Reformbestrebungen fruchtlos bleiben.
Das Problem der unehelichen Mutterschaft gehört dem Prole-
tariat an und es ist umso verhängnisvoller, je mehr gerade
dadurch die im Beruf stehenden weiblichen Angehörigen des
Proletariats betroffen werden. Uneheliche Mutterschaft und
Beruf schließen sich nach den gegebenen gesellschaftlichen
Grundsätzen so vollständig aus, daß es der unehelichen Mutter
nahezu unmöglich wird, nach überstandener Schwangerschaft
und Entbindung abermals in der bürgerlichen Gesellschaft
unterzukommen. Die nächste Folge davon ist das Anschwellen
der Prostitution, die dauernde wirtschaftliche Krise in der
minder bemittelten Schicht und die damit verbundene Zunahme
der kriminellen Fruchtabtreibung bezw. die Abnahme der Be-
völkerungsdichte. Geburtenrückgang und uneheliche Mutter-
schaft stehen in einem so engen Zusammenhang, daß schon
um dieser Verbindung willen eine Änderung der herrschenden
Anschauungen wünschenswert erscheinen. Freilich, die Gesell-
schaft ändert ihre Anschauungen nicht gern, wenn mit dem
Wechsel der Gesinnung auch die Notwendigkeit neuer sozialer
Pflichten an sie herantritt. Mutterschaftsversicherung und
Säuglingsschutz, staatliche Alimentation der unehelichen Nach-
kommenschaft, Jugenderziehung und -Fürsorge, das alles drängt
sich als Schreckgespenst derartigen Reformen nach. Darum
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 403
hilft sich die Gesellschaft lieber mit unhaltbaren Vorwänden
und geht an die Lösung dieser Probleme erst gar nicht heran,
obwohl die Zahlen der diesbezüglichen Statistiken ein wuch-
tiges Anklagematerial bedeuten. So kommt es auch, daß die
notwendigsten Wohlfahrtseinrichtungen auf dem Gebiete des
Mutterschutzes und der Mutterschaftspflege noch immer zum
größten Teil aus Privatmitteln bestritten werden, und daß sich
demzufolge manche erheblichen Schwierigkeiten für die Auf-
nahme und Versorgung der werdenden Mütter beziehungsweise
des Säuglings ergeben. Man lese die diesbezüglichen Aufsätze
von Adele Schreiber nach, die sich mit den unehelichen Müttern,
mit den kinderlosen Stief- und Adoptivmüttern und mit der
offenen und geschlossenen Fürsorge für Mütter beschäftigen.
Besonders wertvoll sind die Angaben über die Wirksamkeit
der Mütterheime in Deutschland, die durch die anschließenden
Kapitel „Zur Ammen- und Hebammenfrage“ wertvoll ergänzt
werden.
Eine Übersicht über die Lage der Frau als Mutter in den
verschiedenen Ländern zeigt im übrigen, daß Deutschland bis
auf einzelne Sonderbestrebungen, die sich in England, Frank-
reich und den skandinavischen Ländern erfolgreich geltend
machen, auf dem Gebiete der Mutterschaftsbewegung ganz
überraschende Ergebnisse zu verzeichnen hat. Die Mutterschafts-
bewegung ist, wie bereits erwähnt, keine deutsche Bewegung,
aber sie ist bei dem jetzigen Stand der Dinge auf dem Wege,
eine solche zu werden. Wir glauben nicht, daß sich in der
anderssprachigen einschlägigen Fachliteratur ein gleiches Werk
von dem Umfang und der überzeugenden Eindringlichkeit der
Schreiberschen „Mutterschaft“ findet. Es orientiert den Leser
nicht nur über den gegenwärtigen Stand der Frauenfrage, deren
Vorzüge und Bestrebungen es objektiv bewertet, sondern es ist
das Buch der Frau katexochen, aus dem sie alles über sich
Wichtige und für ihre Mission als liebendes Weib und Mutter
Erforderliche erfährt. Es ist ein Buch, das aus dem Zeitgeist
geflossen ist, als ein Dokument tiefster weiblicher Sehnsucht
und männlichen Erkenntnismutes, daß für jede künftige frucht-
bare Kultur zunächst eine Neuordnung der Sexualgesetze und
ihrer sozialen Grundlagen unbedingt notwendig ist.
Hä E
26*
UNTERSCHIEDE DES GESCHLECHTSLEBENS,
Von Dr. CONSTANTIN J. BUCURA.*)
U" Geschlechtsleben verstehen wir Körperfunktionen,
insoferne diese von den Geschlechtsorganen ausgehen
oder mit ihnen in einem Kausalnexus stehen. Mit Geschlechts-
leben im eigentlichen und engeren Sinn aber bezeichnen wir
das Gemüts- und Körperleben, insoferne dasselbe mit dem
Zeugungsakt in direkter Beziehung steht. Im ersten Begriffe
subsumiert man die Geschlechtsreife, die Menstruation, die
Schwangerschaft, die Geburt, den Wechsel usw. Der zweite
Begriff schließt in sich den Geschlechtstrieb und den eigentlichen
Geschlechtsakt. Nur von dem Geschlechtsunterschiede des
Geschlechtslebens im engeren Sinne soll hier die Rede sein.
Das Bestreben, eine Definition des Geschlechtstriebes zu
geben, hat zu den disparatesten Äußerungen geführt. Denn
unhaltbar ist es, den Geschlechtstrieb als Entleerungstrieb hin-
stellen zu wollen. Dies träfe überhaupt nur für den Mann zu,
und für ihn auch nur im geschlechtsreifen Alter, da nur zu
dieser Zeit sich die Spermaflüssigkeit ansammelt, welcher Um-
stand allenfalls von einem Einfluß auf den Geschlechtstrieb sein
kann. Weder bei der Frau, noch bei dem Manne vor der
Geschlechtsreife oder bei dem Kastraten kann diese Definition
auch nur im entferntesten zutreffen. Auch nicht zutreffend ist
die Annahme, der Geschlechtstrieb sei nichts anderes als der
Fortpflanzungstrieb. Ebensowenig wie man bei Hunger und
Durst sich nährt und tränkt in der Absicht, dem Körper die
nötigen Stoffe zum Wachsen und zur Erhaltung zuzuführen
(am klarsten springt dies bei der Beobachtung dieser Handlung
beim Säugling ins Auge), ebensowenig übt die überwältigende
Mehrzahl der Menschen den Geschlechtsakt aus, um Kinder zu
zeugen. Das Resultat des Stillens des Hunger- und Durst-
gefühls ist allerdings die Körperernährung, ebenso die Folge
des Geschlechtstriebes die Erhaltung der Art. Mit der Hervor-
hebung des Endresultates ist aber eine Definition nicht gegeben.
Der Geschlechtstrieb ist nichts anderes als die Haupt-
funktion der inneren Sekretion der Keimdrüsen, nichts anderes
als eine oft nur temporäre Überladung des Organismus mit
*) Aus „Geschlechtsunterschiede beim Menschen“. Verlag Alfred Hölder,
Wien und Leipzig.
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 405
Stoffen, die aus den Keimdrüsen stammen. Diese Keimdrüsen-
hormonwirkung äußert sich, indem sie, wie kaum zweifelhaft,
auf das Nervensystem wirkt, und durch dasselbe den ganzen
komplizierten Vorgang der Äußerung des Geschlechtstriebes
auslöst. Dies zeigt sich deutlich beim Säugetier, wo der
Geschlechtstrieb mit Ausnahme krankhafter Zustände an die
Brunstzeit gebunden ist, in der Zwischenzeit aber vollständig ruht.
Das Heranziehen der Tierwelt zum Vergleiche zeigt aber
noch etwas sehr Wichtiges. Das weibliche Tier äußert den
Geschlechtstrieb nur zu den erwähnten bestimmten Zeiten und
bringt der Begattung in der übrigen Zeit nicht einmal einfache
Duldung entgegen. Bei dem männlichen Tiere, wie dies haupt-
sächlich vom Wilde feststeht, zeigt sich in der Brunst eine
Abhängigkeit vom Weibchen, und trägt dieselbe gewissermaßen
einen sekundären Charakter, indem die Brünstigkeit des männ-
lichen Tieres erst durch die Brunst des weiblichen hervor-
gerufen wird. In der übrigen Zeit hört die Samenbildung auf
und die Hoden zeigen auch morphologisch den Zustand der
Ruhe. Bewiesen durch die Erfahrung ist es, daß, wenn das
weibliche Wild einmal zur unrechten Zeit brünstig wird, das
männliche ebenfalls mit Brünstigkeit antwortet. Jedenfalls ist
beim Wilde die Spermienbildung etwas Sekundäres im Ver-
gleiche zur Tätigkeit der weiblichen Keimdrüsen (Schmalz).
Ebenso verhält sich, allerdings etwas weniger deutlich,
aber trotz der »Zivilisation« doch noch nachweisbar, der
Geschlechtstrieb auch bei dem Hunde, dessen Beobachtung
leichter zugänglich ist. Jeder Besitzer eines Hundepaares wird
bestätigen können, daß Hund und Hündin monatelang als gute
Kameraden ruhig nebeneinander leben, ohne daß es zu irgend
einer geschlechtlichen Betätigung kommt. Erst während der
Läufigkeit der Hündin ändert sich ihr Gebaren vollkommen.
Mit dem Moment, als bei der Hündin die blutige Sekretion
beginnt, ist der Hund geschlechtlich erregt und verfolgt die
Hündin mit seinen Liebesbezeigungen. Auch die Hündin, die
bei ihrem Gefährten durch ihre Läufigkeit den Geschlechtstrieb
geweckt hat, verhält sich anders als früher; sie reizt ihn und
erhöht seine geschlechtliche Erregtheit, indem sie ihm bis zu
einem gewissen Grad entgegenkommt; den Geschlechtsakt aber
läßt sie erst zu, wenn die blutige Sekretion zu versiegen beginnt.
Bei dem Menschen sind diese Verhältnisse allerdings andere
406 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
geworden. Der Geschlechtstrieb ist im großen und ganzen
nicht an gewisse Zeiten gebunden und die Hervorrufung solcher
bei dem Manne durch das Analogon der Brunst, die Menstruation,
ist nicht nachweisbar. Wenigstens nicht ohne weiteres. Ana-
logien finden sich aber in beiden Punkten. Was die Periodizität
anbelangt, so ist diese bei der Frau ganz deutlich ausgesprochen,
und zwar abhängig von der Menstruation. Die Angaben über
die Zeit des stärksten Geschlechtstriebes des Weibes variieren
in engen Grenzen. Fast alle Autoren, die sich darüber aus-
sprechen, geben an, daß der Geschlechtstrieb am stärksten in
den letzten Tagen der Menstruation auftritt oder knapp nach
derselben; seltener knapp vor derselben, noch seltener am
Beginne der Menstruation. Es dürfte nun, nach Analogie bei
den Säugetieren, sich dies wohl so verhalten, daß die physio-
logische Steigerung des Geschlechtstriebes nur diejenige ist,
die knapp nach der Menstruation auftritt, und daß die ante-
und intramenstruelle Steigerung, wenn sie überhaupt regel-
mäßig vorkommt, nur der Ausdruck des mechanisch-chemischen
Reizzustandes ist, durch die erhöhte Blutfülle und stärkere
Sekretion, ähnlich wie sie auch bei anderen pathologischen
Hyperämien und Ausflußarten zur Beobachtung kommt. Im
Einklange damit, daß nämlich postmenstruell der Geschlechts-
trieb am stärksten ist, steht die verschiedentlich gemachte
Beobachtung, daß bei den Frauen der Orgasmus am leichtesten
und schnellsten knapp nach dem Unwohlsein auszulösen ist,
und je mehr sich die Zeit des nächsten Unwohlseins nähert,
derselbe desto schwerer und langsamer auftritt. Frigidäre
Naturen geben direkt an, beim Verkehre nur knapp nach dem
Unwohlsein zur Befriedigung gelangen zu können; später
überhaupt nicht mehr. ,
Es häufen sich die Angaben, daß auch beim Mann eine
gewisse Periodizität des Geschlechtstriebes in monatlichem
Zyklus vorhanden sei. Die Beobachtung erstreckt sich haupt-
sächlich auf unwillkürliche Samenergüsse während des Schlafes.
Schon diese Tatsache dürfte die Beweiskraft der Fälle sehr
mindern, da hier die Fülle des angesammelten Ejakulates für
die Entleerung von Einfluß sein dürfte, ohne daß der Geschlechts-
trieb an und für sich irgendwie primär mitbeteiligt wäre. Daß
aber körperliche Funktionen bei langem Bestehen eine Perio-
dizität erlangen, ist ja allbekannt und für alle möglichen Organe
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 407
und Lebewesen nachgewiesen. Die Angaben, daß der Geschlechts-
trieb als solcher in wechselnden Perioden (mit Vorliebe wird
der Samstag und Sonntag angegeben) Steigerungen aufweist,
dürften so zu deuten sein, daß hier nur Lebensgewohnheit und
soziale Verhältnisse mitspielen, nicht aber innere Ursachen.
Der Geschlechtstrieb des Mannes kann physiologisch (außer
durch gewisse Genuß- und Arzneimittel, was ja auch nicht
mehr als physiologisch zu bezeichnen ist), hauptsächlich durch
zwei Momente zur geschlechtlichen Betätigung drängen: durch
stärkere Ansammlung der Samenflüssigkeit und durch die
Sinnesreize, die von der Frau ausgehen. Mächtiger ist der
zweite Faktor. Der erstere unterliegt mehr der Angewöhnung,
der Übung, und ist durch den Willen mehr beeinflußbar als
der letztere.
Schon dieser Umstand, daß nämlich beim Manne der
mächtigste Antrieb zur geschlechtlichen Betätigung von den
Sinnesreizen ausgeht, die ihm die Frau gibt, erweist den männ-
lichen Geschlechtstrieb als etwas mehr Sekundäres, ähnlich wie
beim männlichen Tiere; während bei der Frau, wie wir später
noch hervorheben werden müssen, das auslösende Moment
mehr ihr eigener, von innen kommender Trieb ist. Daß aber
beim Manne der „induzierte“ Geschlechtstrieb im gleichen Aus-
maße wie beim Tiere nicht mehr nachweisbar ist, dürfte unter
anderem auch davon abhängen, daß unter den Lebensverhält-
nissen des Menschen den Mann stetig mannigfache Reize
treffen, die von außen kommen.
Eine interessante Beobachtung teilt Ahlenstiel in den
»Sexualproblemen« mit, nämlich, daß beim Mann der männliche
Genitalapparat, einmal in Gang gesetzt, das Bestreben hat, auf
einmal möglichst viel zu leisten, in möglichst kurzer Zeit eine
möglichst häufige Spermaabgabe zu ermöglichen, dann zu
ruhen, bis alles ergänzt und genügend Neues aufgespeichert ist.
Stellt man sich einen Mann und eine Frau, abseits von
der Zivilisation mit ihren aufreizenden Schädlichkeiten, einsam
auf dem Land ohne Sinnesreizung, ohne aufregende Getränke
und Gerichte lebend, vor, so möchte ich glauben, daß sich bei
körperlich und psychisch gesunden Individuen ein Typus des
Geschlechtsverkehrs entwickeln würde, der große Ähnlichkeit
hat mit dem Verhältnisse beim Tiere; ein Typus, der vom
größeren Verlangen der Frau nach der Menstruation diktiert
408 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
würde. Der in freier Natur körperlich angestrengt lebende, ge-
sunde Mann würde in seinen Geschlechtsansprüchen sehr
genügsam sein; bei seiner unverbrauchten Kraft aber würde er
dem leisesten Zuvorkommen der von innen aus physiologisch
geschlechtlich erregten Frau willig Gehör leisten und in dieser
Zeit des weiblichen Verlangens entsprechend der Beobachtung
Ahlenstiels in einer umgrenzten Zeit den Geschlechtsakt öfters
ausführen, um dann, nachdem er ermüdet ist und das Verlangen
der Frau nachgelassen hat, längere Zeit, vielleicht bis wieder
erst nach dem nächsten Unwohlsein seiner Partnerin, zu
pausieren.
Trotzdem dies natürlich nur eine Hypothese ist, haben
mich manche Beobachtungen und Erzählungen von Leuten, die
in den obenangeführten ähnlichen Verhältnissen leben, dann die
Erwägung der Verhältnisse bei den Tieren, zur Überzeugung
gebracht, daß Obiges dem primär Physiologischen entspricht;
daß also das Primäre, das den Geschlechtstrieb -auch im
Einzelfalle Auslösende die Frau ist, daß die primäre Werbung
von der Frau ausgeht, wenn auch meistens bemäntelt und
vielleicht von beiden Seiten unbemerkt, daß demnach die Frau
weniger passiv ist, als im allgemeinen angenommen wird, und
weiter, daß die Periodizität ebenfalls von der Frau ausgeht
und auch bei dem Menschen als physiologische Grundlage
noch immer zu Recht besteht. Ich zweifle nicht, daß diese
Äußerungen etwas befremdend wirken, und doch glaube ich,
aus mehreren Äußerungen über den Geschlechtstrieb, die von
Frauen selbst herrühren, entnehmen zu dürfen, daß die obigen
Annahmen auf Richtigkeit beruhen.
Einige Sätze, die darauf einen gewissen Bezug haben, möchte ich
wörtlich zitieren; sie entstammen dem Kapitel »Das Geschlechtsgefühl des
Weibes: von Johanna Elberskirchen im Werke :Mann und Weib« von
Kossmann und Weiß. »Sobald die Geschlechtsreife des Weibes sich
ihrer Vollendung nähert, sobald sich mit der seelischen Geschlechtlichkeit
der Liebeskraft die körperliche Geschlechtlichkeit verbindet, beginnt das
Weib aufmerksam zu werden auf den Mann. Seine Sinne, bis dahin ge-
schlechtlich stumpf und tot, äußern sich geschlechtlich, wachsen dem
Manne langsam entgegen, strecken sich langsam nach ihm aus und das
Weib antwortet auf den von dem Mann ausgehenden Reiz bald mehr,
bald weniger stark, je nach der Größe des Reizes, ohne sich jedoch zu-
nächst dieses Reizes als eines Geschlechtsreizes bewußt zu werden und
ohne sich zunächst klar darüber zu sein, daß dieses Wohlgefallen dem
Manne gilt .. . Dann fällt es wie Schuppen von den Augen des Weibes;
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 409
plötzlich sieht sie da einen Menschen vor sich, der so mächtig ihre
Sympathie erregt, den Mann; und ihre Liebe, bis dahin ihr selbst ver-
borgen, wird ihr mit aller Urgewalt offenbar, erfaßt sie mit elementarer
Kraft und trägt sie mit plötzlich losbrechender Gewalt in das weltentrückte,
selige Reich der Liebe. Die Geschlechtserfüllung, die Begattung ist nun-
mehr nur noch eine Frage der Verhältnisse und allenfalls je nach den Ver-
hältnissen eine Frage der persönlichen Stellungnahme der Frau zur ge-
sellschaftlichen Geschlechtsmoral . . . Alles im Weibe drängt hin zu
dem geliebten Mann und will nur eines: »ihn«. Ein großer geschlecht-
licher Tätigkeitstrieb ist in der Frau wirksam, der mit der Sicherheit und
Genauigkeit einer Magnetnadel auf den Mann, den einen, geliebten, zeigt
und sie unweigerlich in seine Arme treibt, unweigerlich aus eigenster,
innerster Kraft. Diese Kraft macht sich besonders auch in den Geschlechts-
organen geltend. Auch dort ist alles auf den Mann gerichtet, häufig in
fast unerträglicher Spannung und bereit, die Geschlechtsoffenbarung zu
feiern... Dieser Zustand kann unabhängig von jeder Erfahrung, un-
abhängig von der Begattung, also ehe überhaupt die erste Begattung statt-
hatte, bestehen . .. Der Eintritt der geschlechtlichen Spannung ist nach
der Sturm- und Drangperiode der Jugend- und Liebeszeit einer gewissen
regelmäßigen Wiederkehr unterworfen. Die geschlechtliche Spannung
tritt bei dem gesunden Weibe mit der monatlichen Regel ein und ist am
stärksten am dritten und vierten Tag, unmittelbar bei oder nach Abschluß
derselben. In dieser Zeit ist auch die Befriedigung der Geschlechtslust am
stärksten und wohltuendsten und mit keinerlei Anstrengung verknüpft,
kräftigt im Gegenteil den Organismus erheblich. In der Jugendzeit da-
gegen, in der Sturm- und Drangperiode der Frau, ist der Eintritt der ge-
schlechtlichen Spannung unabhängig von der monatlichen Regel und sie
tritt unabhängig vom Werben des Mannes ein, lediglich als Folgezustand
geschlechtlicher Reife einerseits und dem, vom geliebten Mann ausgehenden
seelisch-geschlechtlichen Reiz andererseits... Aus diesem Zustande heraus
erfolgt das Werben der Frau um den Mann. Ja, das Werben der Frau.
Nicht nur der Mann wirbt, nein, auch die Frau. Ihr Werben versteckt
sich nur häufig, wagt sich selten offen heraus, wie das des Mannes, unter
dem Drucke der üblichen Geschlechtsmoral, oder wird schnöde zurück-
gedrängt als »unschicklich«. Aber es ist vorhanden als mächtige Kraft, die
unter dem Druck um so machtvoller aus dem Weibe hervordringt, in
jedem Blicke, jedem Klange der Stimme, jeder Bewegung, jeder möglichen
Berührung ... Auch das sogenannte Kokettieren des Weibes ist eine
Form des Werbens um den Mann .. .«
Daß sich die oben besprochenen, sagen wir physiologischen
Verhältnisse, die der tierischen Brunst beider Geschlechter ent-
sprechen, im heutigen Leben des Menschen geändert haben,
ist eigentlich kein Gegenbeweis wider ihre Richtigkeit; es ge-
nügt, wenn sich auch im menschlichen Leben nur eine An-
deutung des primären Verhältnisses nachweisen läßt; und dies
ist, wie oben gesagt, wohl der Fall.
410 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Daß es beim Manne im allgemeinen anders geworden,
hängt mit der ganzen Zivilisation, mit der ganzen Lebensführung
zusammen. Der Mann bekommt unentwegt verschiedenartige,
nichtphysiologische Stimulantien des Geschlechtstriebes in
Schaustellungen, Theater, Lektüre, Bildern usw. Dadurch wird
sein Verlangen ebenso geweckt wie physiologisch durch das
Gebaren der Frau knapp nach der Menstruation. Durch die
ihm allenthalben gebotenen leichten Möglichkeiten, seinen ge-
weckten Geschlechtstrieb zu befriedigen, kommt er in ein ge-
wisses Training, welches dann auch seinerseits das Verlangen
und die Ansprüche erhöht. Dadurch wird der Mann auch
gegen Frauen aggressiv, die ihrerseits zu seiner Ermunterung
nichts beigetragen haben. Ich glaube, nur dadurch entwickelt
sich das Verhältnis, wie es heutzutage im allgemeinen sichtlich
besteht und als normal und physiologisch aufgefaßt wird, und
durch welches der Mann als der einzig aktive Teil imponiert.
Doch für die Frau ist dies (in der Monogamie) nicht zweck-
mäßig, denn sie wird hierdurch gar oft gezwungen, den
Geschlechtsakt auszuführen, ohne hierfür das geringste Ver-
langen zu haben.
Es ist andererseits wohl selbstverständlich, daß der einmal
aggressiv gewordene Mann den Geschlechtstrieb der Frau
wecken kann und dann auch, ohne daß ihr Verlangen das
Primäre wäre, imstande ist, sie gefügig zu machen.
Weniger als beim Manne scheint sich das primäre Ver-
hältnis bei der Frau geändert zu haben. Nicht gar oft wird
man in das Geschlechtsleben der einzelnen Frau eindringen
können und sicher sein, die Wahrheit zu erfahren. Es mehren
sich aber heute die Angaben von schriftstellernden Frauen über
das weibliche Sexuelle immer mehr. Aus diesen vorhandenen
Angaben und aus gelegentlichen!Äußerungen läßt sich entnehmen:
1. daß es unrichtig ist, daßfder Geschlechtstrieb beim
Mädchen erst »geweckt« werden muß, um in Erscheinung zu
treten; es tritt vielmehr die Geschlechtslust ebenso von selbst
auf, wie die Pubertät, wie die erste menstruelle Blutung, wenn
auch die meisten Mädchen den in der Pubertät erwachenden
Geschlechtstrieb nicht als solchen zu deuten vermögen, sondern
meist in andere Gefühle umwerten;
2. daß der Geschlechtstrieb, wenn auch mißdeutet, sich in
der Pubertät auch unabhängig, später aber regelmäßig nach
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 411
der menstruellen Blutung spontan fühlbar macht: erotische
Träume mit Orgasmus, auch bei Mädchen, die niemals ge-
schlechtlich verkehrt haben; unwillkürliche Akte, die den
Orgasmus herbeiführen, oft ohne daß das Mädchen genau weiß,
um was es sich handelt;
3. daß der Geschlechtstrieb unter normalen Verhältnissen
im übrigen Intermenstruum, hauptsächlich in der zweiten Hälfte,
viel seltener oder kaum je spontan auftritt, sondern haupt-
sächlich nur, wenn er irgendwie künstlich geweckt wird; und
4. daß die spontane Äußerung des Geschlechtstriebes knapp
nach der Menstruation auftritt und dann nur durch die ver-
schiedentlichen Hemmungen unterdrückt wird.
Daß bei der Frau viel mehr Hemmungen einwirken als beim
Manne, ist eine bekannte und allseits gewürdigte Tatsache. Diese
Hemmungen sind nicht immer bewußt; die hauptsächlichsten
sind: Erziehung, Beispiel, Religion, ethische Grundsätze, Angst vor
Schande, vor Schwangerschaft, vor Geschlechtskrankheiten usw.
Für die Tatsache, daß es bei der Frau keine eigentliche
Brunst mehr gibt, d. h. daß nach vorheriger Anregung des
Geschlechtstriebes der Geschlechtsakt eigentlich zu jeder Zeit
mit Erfolg, mit Hervorbringung des Orgasmus, ausgeführt
werden kann, gibt es zwei Erklärungen: vor allem den Um-
stand, daß die menstruelle Evolution ohne Ruhestadium, wie
ein solches hauptsächlich bei den wild lebenden Tieren
monatelang andauert, vor sich geht, daß somit, wenn die eine
„Brunst“ " abklingt, gleich wieder die nächste ihren Einfluß
geltend macht; hauptsächlich aber die Cerebralisierung des
Geschlechtstriebes beim Menschen, welche den Geschlechts-
trieb durch zentrale Vorgänge wach erhält, zum Teil auch ganz
unabhängig von den Geschlechtsorganen.
Durch die grundlegenden Untersuchungen K. Kellers über
das Endometrium des Hundes wissen wir heute, daß sich ganz
ähnliche Vorgänge wie bei der Menstruation des Menschen
auch bei der Tieruterusschleimhaut während der Brunst nach-
weisen lassen, daß somit die Brunst beim Tiere nicht nur das
Äquivalent, sondern eigentlich der ganz gleiche Vorgang ist wie
die Menstruation beim Weibe. Der hauptsächliche Unterschied
zwischen Weib und Tier in der Evolution der Uterusschleim-
haut besteht in dem schon früher angedeuteten Umstande, daß
im Zyklus des Tieres ein wochen- oder monatelang dauerndes
412 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Ruhestadium sich einschiebt, welches beim Menschen ganz
fehlt. Läßt man das Ruhestadium des Tieres, speziell in
unserem Falle des Hundes, entfallen, so bildet sich in der
Aufeinanderfolge der Schleimhautveränderungen ein Zyklus
heraus wie beim Menschen. Beim Menschen entspricht die
menstruelle Blutung Heapes Prooestrus; das Auftreten des
Geschlechtstriebes knapp nach der Menstruation dem Oestrus,
die antemenstruelle Drüsenhyperplasie dem Metoestrum, während
das Dioestrum bei dem Menschen fehlt. Die Gegenüberstellung
der Verhältnisse beim Hunde geht aus folgender Tabelle hervor.
Gegenüberstellung der Menstruation und Brunst.
Beim Hund Heapes Einteilung
Palm Menschen (nach K. Keller) der tierischen Brunst
Menstruelle Blutung Blutige Sekretion bei der | Prooestrus
Läufigkeit (Schwellung
und Sekretion der Epi-
thelien)
Knapp postmenstruell Belegzeit Oestrus
Antemenstruelle Drüsen- | Drüsenhyperplasie Metoestrum
hyperplasie ж (5
Drüsenrückbildung (wenn | Drüsenrückbildung
keine Gravidität)
Fehlt Ruhestadium Dioestrum
Biologisch ist die Gleichheit der Prozesse ohneweiters
verständlich, vorausgesetzt, daß man das Fehlen des Ruhe-
stadiums beim Menschen genügend berücksichtigt. Morpho-
logisch ergeben sich in den einzelnen Details vielleicht noch
gewisse Verschiedenheiten, die aber nach meiner Überzeugung
bei genauerer Kenntnis und ausgiebigerer Einsichtnahme in die
vergleichende Histologie schwinden werden.
Was die Cerebralisierung des Geschlechtstriebes 'anlangt,
so ist es Tatsache, daß beim Menschen die cerebrale Kompo-
nente als Reiz des Geschlechtstriebes eine ganz besondere
Rolle spielt, während beim Tiere davon eigentlich nur die
periphere Reizwirkung des Riechnerven in Erscheinung tritt
und alle übrigen diesbezüglichen cerebralen Momente stark
zurücktreten oder auch ganz entfallen.
Wir stellen uns nämlich heute, wie oben schon angedeutet,
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 413
vor, daß bei dem Tiere zur Zeit der Brunst Keimdrüsenhormone
das Zentralnervensystem in für den Geschlechtstrieb spezifischer
Weise reizen, daß dieser Reiz zentrifugal auf die peripheren
Organe, beim Männchen vielleicht via Zwischenzellen des
Hodens, auf die Geschlechtsorgane geleitet wird und dort den
für die Begattung nötigen Zustand hervorbringt; daß also beim
Tiere der ganze Vorgang direkt abhängig vom Einflusse der
Keimdrüsensekrete ist, indem erst durch diese die Nervenbahnen,
die zu anderen Zeiten, also außerhalb der Brunst, ruhen, in
Aktion gesetzt werden.
Beim Weibe hingegen sind durch die ununterbrochen
vorhandene menstruelle Evolution, die eigentlich keine Ruhe-
pause zeigt, durch die kontinuierlich periodische Hormonwirkung
diese Bahnen permanent funktionsfähig, mit vielleicht nur
quantitativen periodischen Unterschieden, die sich, soweit uns
bekannt, auch nur bei der Frau geltend machen. —
Der Geschlechtstrieb kann von verschiedenen Seiten her
geweckt werden, wenn nur das Nervensystem unter der Ein-
wirkung der spezifischen Keimdrüsensekretion steht; so reflek-
torisch durch Reizung bestimmter Stellen der äußeren Ge-
schlechtsorgane oder bestimmter Stellen des übrigen Körpers,
die wir erogene Zonen nennen und die hauptsächlich Über-
gänge der äußeren Haut auf die Schleimhaut betreffen; durch
Reize, die die Hirnnerven empfangen (beim Menschen kommt
hauptsächlich das Auge in Betracht, weniger das Ohr und die
Nase, welch letztere beim Tiere die Hauptrolle spielt), durch
Reize, die direkt bestimmte Teile des Rückenmarks oder des
Gehirns treffen, hauptsächlich aber durch Reize, die von höheren
Funktionen des Gehirnes ausgehen, wie die verschiedenen
Vorstellungen, Erinnerungsbilder usw. Das Prävalieren der
cerebralen Auslösung des Geschlechtstriebes und die dadurch
entstandenen besseren und stets funktionierenden Bahnen der
entsprechenden Nervenleitungen erklärt nicht nur die stetige
Bereitschaft und Auslösbarkeit des Geschlechtstriebes beim
menschlichen Weibe, sondern auch das Weiterbestehen des
Geschlechtstriebes beim Menschen nach der Kastration.
Wollte man aus obigen Erwägungen einen Unterschied
des Geschlechtstriebes zwischen Mann und Weib konstruieren,
so würde sich ergeben, daß bei oberflächlicher Betrachtung ein
Unterschied nicht nachweisbar ist, weil bei beiden Geschlechtern
414 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
dieser fundamentale Trieb allzeit vorhanden ist, wenigstens
durch gegenseitige Erregung jederzeit bis zur erfolgreichen
Ausführung des Geschlechtsaktes angefacht und gesteigert
werden kann. Bei näherer Betrachtung aber scheint ein Unter-
schied doch zu bestehen. Bei der Frau überwiegt, ähnlich wie
beim weiblichen Tiere, die spezifische Wirkung der Keim-
drüsen, wodurch eine deutliche Periodizität des Geschlechts-
triebes in Erscheinung tritt, vielleicht hauptsächlich in quanti-
tativer Beziehung. Je mehr dieses Thema erörtert wird, desto
mehr häufen sich auch die Angaben, daß außerhalb der
Steigerung des Geschlechtstriebes knapp nach der Menstruation
die Auslösung des Orgasmus mit direkter Anstrengung ver-
bunden ist, wodurch dem Geschlechtsakt eine gewisse Ab-
spannung und Ermüdung folgt, während derselbe zur richtigen
Zeit nach der Menstruation eine nachträgliche wohltuende Er-
quickung mit sich bringt. Jedenfalls ist aber bei der Frau
eine Ursache des Geschlechtstriebes von innen heraus gegeben,
eine innere organische Ursache, die von ihr selbst stammt, so
daß der Geschlechtstrieb der Frau etwas mehr Primäres, viel
mehr Elementares aufweist als der Geschlechtstrieb des Mannes
der nach diesen Erwägungen mehr als induziert, als sekundär
angenommen werden muß, ähnlich wie dies Schmalz für die
wild lebenden Tiere hervorhebt, trotzdem der Mann, wenn
einmal sein Geschlechtstrieb angefacht ist, aktiver und aggres-
siver ist als die Frau, und zwar nicht deswegen, weil sein
Geschlechtstrieb stärker ist als der der Frau (darüber wird
noch später die Rede sein), sondern weil er weniger unbewußte
und bewußte Hemmungen zu überwinden hat.
Daß auch beim Manne der Geschlechtstrieb angeblich
periodische Steigerungen zeigt, beweist gar nichts, weil die
Periodizität, wie schon hervorgehoben, etwas ist, was alle Lebe-
wesen zeigen und auf jede Funktion des Körpers ausgebreitet
ist; es beweist dies keinesfalls, daß diese Periodizität beim
Mann aus einer inneren Ursache, einer periodischen Funktion
der Keimdrüsen, resultiere; hiefür haben wir bis heute nicht
die geringsten Anhaltspunkte.
Aus dem Umstande, daß der Geschlechtstrieb der Frau
etwas Primäres ist, beim Mann aber mehr induziert, würde
nun folgen, daß der geschlechtliche Verkehr für das Weib mehr
eine natürliche Notwendigkeit bedeute als für den Mann, daß
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 415
die Frau unter der Abstinenz mehr zu leiden habe als der
Mann. Und ich glaube, daß dies im Grunde genommen, wenn
man von den Kulturverhältnissen abstrahiert, sich tatsächlich so
verhalte. Wir sehen dies an den domestizierten Tieren. Ein
allein gehaltenes männliches Tier wird kaum je durch seine
geschlechtliche Appetenz auffallen oder Unannehmlichkeiten
bereiten, wenn es nicht irgendwie Gelegenheit hat, mit einem
brünstigen Weibchen in direkte Berührung zu kommen, be-
ziehungsweise ihre Exkrete, die von der Brunst stammen, zu
riechen. Nicht so das weibliche Tier; dieses wird zur Zeit
der Brunst geschlechtlich erregt sein, auch ohne daß ein
andersgeschlechtliches Tier zugegen ist; es wird durch sein
nicht mißzuverstehendes Gebaren seine geschlechtliche Erregung
zur Schau tragen und gar oft auch Geschlechtsverkehrs-
bewegungen ausführen (Bespringen, was dem Umklammerungs-
reflex des Frosches ganz analog ist, demnach, da es regelmäßig
auch bei Weibchen beobachtet wird, nicht als absoluter männ-
licher Geschlechtscharakter gelten kann), die dem männlichen
Tiere zukommen. Ob die Abstinenz beim normalen Menschen
von nachweisbar nachteiligen Folgen begleitet ist, hauptsächlich
die Beteiligung der Geschlechter an diesen Folgen, ist schwer
oder überhaupt nicht zu entscheiden; dies beweisen auch die
sich widersprechenden Äußerungen darüber. Gleichwertiges,
also vergleichbares Material könnte man nur erzielen, wenn
man vollwertige Individuen beiderlei Geschlechtes gegenüber-
stellen könnte, die ferne von jeglichen geschlechtlichen Reizen
leben. Daß hauptsächlich männliche derartige Individuen heute
schwer zu finden sind, ist einleuchtend; und an dem männ-
lichen Material scheitert auch aus anderen Gründen ein der-
artiger Vergleich.” Die Folgen der sexuellen Abstinenz beim
normalen, vollwertigen, geschlechtlich nicht gereizten Manne
kennen wir kaum; denn es gibt nicht viele Männer, die keinen
geschlechtlichen Verkehr in irgend einer Form ausüben, und
von denen, die dies nicht tun, läßt sich mit Sicherheit schwer
feststellen, ob sie wenigstens sexuell als vollwertig zu be-
trachten sind. Frauen aber gibt es, die keinen geschlechtlichen
Verkehr ausüben, und die Folgen an ihnen sind auch sichtbar.
Denn, daß es sowohl körperliche als auch psychische Unter-
schiede zwischen einer im geschlechtlichen Verkehr lebenden
Frau und einer »alten Jungfer« gibt, wird kaum jemand ernst-
416 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
lich bestreiten wollen. Ich glaube nicht, daß das Fehlen des
Typus der »alten Jungfer«e beim Manne dadurch bedingt sei,
daß es eben keine Männer gibt, die abstinent leben. Ich bin
vielmehr überzeugt, daß das oben Gesagte auch für den
Menschen zurecht besteht, daß nämlich die Frau des geschlecht-
lichen Verkehrs weniger entraten kann als der Mann, ohne
dies an Leib und Seele zu spüren; die Frau ist nämlich sexueller,
auf das geschlechtliche Leben mehr eingestellt als der Mann,
der unter günstigen Verhältnissen ohne sexuelle Reize u. ä.,
bei körperlicher und geistiger Arbeit und Ablenkung seine
Kräfte anderwärts auszugeben in der Lage ist. Dies ist auch
die richtige Folge unserer Überzeugung, daß der Geschlechts-
trieb des Weibes etwas Primäres ist, von der Funktion der
Keimdrüse direkt Ausgehendes, während der Geschlechtstrieb
des normalen, nicht geschlechtlichen Reizen ausgesetzten Mannes
induziert ist, mehr der Erweckung bedarf.
Hier sei noch des Einflusses des geschlechtlichen Verkehres der
Frau auf ihre körperliche und psychische Entwicklung gedacht. Daß ein
solcher Einfluß besteht, wird kaum angezweifelt. Unter dem Einflusse
der geschlechtlichen Betätigung kommen — und dies beobachtet man
hauptsächlich bei sehr jugendlichen oder in der Entwicklung zurückge-
bliebenen Individuen — die meisten weiblichen Geschlechtsmerkmale
rascher und auffälliger zur Entwicklung. Die Brüste nehmen an Umfang
rasch zu, die unregelmäßig auftretende oder (bei infantilen Individuen)
überhaupt noch nicht erfolgte menstruelle Blutung wird geregelt, die
Körperbehaarung kommt zu rascherer Entwicklung, überhaupt die ganze
Erscheinung entwächst dem kindlichen Habitus rasch und entwickelt sich
zum frauenhaften Aussehen. Über diese Tatsache herrscht wohl Einig-
keit, man findet darüber bei vielen Autoren ganz ähnliche” Angaben
(Blumenthal, Holst, Lombroso, Ploß-Bartels u.v.a.). Nicht die gleiche
Einigkeit herrscht über die Ätiologie dieser Erscheinungen, und von
manchen Autoren wurde dieses »Aufblühen« bei geschlechtlichem Verkehr
als eine direkte Folge der »Resorption« von Spermaflüssigkeit aufgefaßt.
Diese Annahme ist aber unhaltbar. Ich verfüge über mehrere Beobach-
tungen von sehr jungen, zum Teil auch unterentwickelten Mädchen, die
nach der Verheiratung in kürzester Zeit, man kann ohne weiteres behaupten
in einigen Wochen, zu vollentwickelten Frauen aufgeblüht sind, ohne daß
eine Resorption von Spermaflüssigkeit stattgefunden hätte, da, wie mir
vom Manne versichert wurde, ein derartiger Präventivverkehr stattfand,
daß das Sperma mit der Frau in gar keine Berührung kommen konnte.
(Schluß folgt.)
H 8
AUS DEM SÄUGLINGSHEIM DÜSSELDORF.
Zu dem Aufsatz »Die Mutterschaft«. S. 397
ANATOMISCHE ZEICHNUNG MIT EMBROY. Von JOST
AMMANN. Nach Albertus Magnus, Daraus man alle Heimlich-
keit deß weiblichen Geschlechts erkenen kan. Frankfurt 1592.
Aus Adele Schreiber, Mutterschaft. Zu dem Aufsatz »Die Mutterschaft-.
S. 397
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
уш, 10.
„= +5
\\ A?
SALOME EMPFÄNGT DAS HAUPT DES JOHANNES. Von LOVIS CORINTH
Zu dem Aufsatz »Salome«. S. 342
UNTERSCHIEDE DES GESCHLECHTSLEBENS.
Von Dr. CONSTANTIN J. BUCURA.
(Schluß).
Е" in der Sexualliteratur öfters diskutiertes Thema ist die
‘Stärke des Geschlechtstriebes der Frau, beziehungsweise
die Frage des Geschlechtsunterschiedes der geschlechtlichen
Bedürfnisse.
Eine Gruppe von Autoren ist der Ansicht, daß der Ge-
schlechtstrieb des Mannes viel stärker ist; sie sehen in dem
ausgesprochenen geschlechtlichen Verlangen des Weibes etwas
Pathologisches, Unnatürliches, so Lawson-Tait, Lombroso und
Ferrero, Fehling, Krafft-Ebing, Windtscheidt, Moll, Löwenfeld,
Adler u.a. Andere Autoren wieder bezeichnen den weiblichen
Geschlechtstrieb als stärker als den des Mannes (Ellen Key,
Gutzeit, Mantegazza, Ellis, Blackwell). Eine Reihe anderer
Autoren ist vorsichtiger in der Bestimmung des Unterschiedes
der Intensität des Geschlechtstriebes und weist nur die Behaup-
tung zurück, das Fehlen geschlechtlichen Bedürfnisses beim
Weib entspräche der Norm, so Kisch, Eulenburg, Koßmann,
Nyström, Bloch u. a. m.
Ein Intensitätsunterschied, der Geschlechter im Geschlechts-
triebe besteht wohl kaum, vorausgesetzt, daß man nur normale
und gleichwertige Individuen miteinander vergleicht. Ebenso
falsch ist es, dem Weibe den Orgasmus abstreiten zu wollen.
Andrerseits wird man aber Raciborsky (zitiert nach Ellis) ohne-
weiters beipflichten müssen, welcher der Ansicht ist, daß drei
Viertel aller Frauen die Annäherung des Mannes nur dulden.
Diese Verhältnisse dürften nicht in bezug auf die Anzahl der
Frauen stimmen, sicherlich aber auf die Zahl der Geschlechts-
akte. Ja, den Tatsachen entsprechend wird es sein, die Zahl
der Geschlechtsakte, wo die Frau vor denselben ein wirkliches
Verlangen und bei denselben eine wirkliche Befriedigung hatte,
noch viel geringer zu schätzen als ein Viertel, aber nicht, weil
die Frau ein geringeres Geschlechtsbedürfnis hat, eine geringere
Libido, nicht, weil sie frigider ist, sondern hauptsächlich, weil
Geschlecht und Gesellschaft VIII, 10. 27
418 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
die Frau zum Geschlechtsakt, wie oben erwähnt, von sich
selbst heraus nur zu bestimmten, umgrenzten Zeiten disponiert
ist, die der Mann entweder nicht kennt, nicht merkt oder nicht
berücksichtigt, weil er durch äußere Momente, durch Gewohn-
heit, Nahrung, Getränke usw. fast fortwährend geschlechtlich
erregt und bedürftig ist und deshalb die Frau in der Über-
zahl der Fälle den Verkehr nur duldet, nicht aber verlangt.
Außer diesen Umständen spielen bei der anscheinenden Fri-
gidität der Frau noch eine Reihe von anderen Faktoren mit,
wovon noch später die Rede sein wird.
Ohneweiters läßt sich ein Vergleich der Geschlechts-
bedürfnisse zwischen Mann und Frau nicht durchführen. Hiezu
ist ein näheres Eingehen auf die einzelnen Komponenten des
Geschlechtstriebes notwendig. Nach A. Moll und H. Ellis läßt
sich der ganze komplizierte Vorgang der Empfindungen und
Handlungen beim Geschlechtstrieb durch Zerlegung in seine
einzelnen Phasen erklären. Der Geschlechtstrieb zerfällt in den
Kontrektations-, das ist Annäherungstrieb, in den Tumescenz-
trieb (Ellis) und in den Detumescenztrieb (oder Depletations-
trieb Chrobak-Rosthorns). Trotz der alles eher als schönen
Bezeichnungen treffen diese Worte im allgemeinen das Richtige.
Der Annäherungstrieb, das Bestreben der Geschlechter,
miteinander in näheren Verkehr zu treten, sich zu sehen, zu
sprechen, ist etwas Elementares, Unbewußtes, Allgemeines und
die Voraussetzung für alle Weiterungen des Geschlechtstriebes.
Die nächste Folge dieser Annäherung ist die Auswahl. Bot
sich einmal Gelegenheit, sich sehen und kennen zu lernen, so
wird sich aus dieser allgemeinen Annäherung eine spezielle
herauskristallisieren; das Einzelindividuum wird seine spezielle
Wahl treffen.
Schon hier bei der Auswahl wird sich ein deutlicher
Geschlechtsunterschied geltend machen; wir werden bei der
Besprechung der seelischen Geschlechtsunterschiede sehen, daß
die altruistischen Neigungen der Geschlechter, speziell die
»Liebe«, im großen und ganzen verschieden zu bewerten sind.
Um es nur kurz anzudeuten, ist der Mann bei der Liebe zur
Frau eher geneigt, das Seelische vom Physischen zu trennen,
während das Weib dies im allgemeinen nicht tut. Bei der Aus-
wahl wird sich also der Mann weniger von psychischen Eigen-
schaften der Frau leiten lassen, er wird an ihr mehr einen sinn-
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 419
lichen Reiz suchen. Die Frau aber, die diese Trennung weniger
kennt, wird den Mann suchen und wählen, der auf sie nicht
nur und nicht so sehr sinnlich wirkt, sondern auch mittels seiner
seelischen und Charaktereigenschaften. Praktisch zeigt sich
dieser Auswahlsunterschied darin, daß es viel mehr Männer
gibt, die sich an Frauen ketten, die geistig, ethisch und sozial
tiefer stehen als sie selbst, als umgekehrt.
In sexueller Beziehung ist dieser Unterschied der Bewertung
des auszuwählenden Individuums von sehr großer Bedeutung,
da die Frau beispielsweise, die sich durch einen anfänglichen
Irrtum und, wie dies hauptsächlich in der Ehe geschieht, aus
sozialen, finanziellen und konventionellen Rücksichten an den
Mann gekettet hat, dessen Charaktereigenschaften und dessen
Psyche in krassem Widerspruch steht zu ihren Gefühlen und
Anschauungen, dadurch in ihrem Geschlechtsempfinden nach-
teilig beeinflußt wird, mit diesem ihr nicht zusprechenden
Manne vielleicht ihr Leben lang frigid bleibt, während sie mit
einem ihr in allen Punkten konvenierenden Mann ein normales
Geschlechtsempfinden und einen normalen Ablauf des
Geschlechtsaktes gehabt hätte.
Die nächste sich von selbst ergebende Folge der getroffenen
Auswahl ist die Werbung, die nach der sozialen Stellung, den
ethischen Qualitäten, der Erziehung, dem Temperament, kurz
je nach der Größe und Anzahl der Hemmungen, die bei der
Frau eine viel mächtigere Rolle spielen als beim Manne, sich
verschieden als mehr oder minder deutliche Anspielung, als
direkte Aufforderung, als deutliches Entgegenkommen, als scham-
loses Aufdrängen, als Liebeserklärung oder nur als Ausdruck
des Mienenspieles, eines Blickes, eines längeren Händedruckes
oder nach außen vielleicht auch gar nicht äußern wird. Wenn
diese Äußerungsformen auch verschieden sind und manchmal
gar nicht zum Ausdrucke gelangen, die Triebkraft bleibt in
allen Fällen dieselbe.
Die stattgehabte erfolgreiche Werbung bringt dann erst
— verschieden nach den Begleitumständen, was Zeitpunkt und
Form anlangt — den Tumescenztrieb zu seiner Betätigung, den
Trieb, das schon erwachte Geschlechtsverlangen zu steigern.
Durch weitere, vorerst eventuell geistige (Flirt in seinen ver-
schiedenen Abarten), dann immer mehr körperlich werdende
Annäherungen, schließlich durch Reizung erogener Zonen (Lieb-
27*
420 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
kosungen, Küssen usw.), wird das Geschlechtsverlangen bis
zum Höhepunkt gesteigert.
In diesem Stadium ist es, wo die Frau durch die großen
Hemmungen, durch die bei ihr stark entwickelte Schamhaftig-
keit veranlaßt, eine gewisse Resistenz zeigt und dadurch ihrem
ganzen Geschlechtstriebe fälschlich den Charakter der Passivität
verleiht. Daß der Mann bei einmal entfachtem Geschlechts-
verlangen, hauptsächlich wohl infolge seiner geringeren
Hemmungen, aktiver, aggressiver, brutaler werden kann, ist im
allgemeinen richtig. Doch spielen auch hier öfter starke Er-
regung mit Unterdrückung der Hemmungen, Gewohnheit, schließ-
lich und endlich das Gefühl der Stärke eine vielleicht größere
Rolle als der Geschlechtstrieb selbst.
Wurde nun das Geschlechtsverlangen der Frau durch die
Betätigung des Tumescenztriebes derart gesteigert, daß jedwede
Hemmung überwunden ist, so hat sich inzwischen auch das
Genitale selbst für den Geschlechtsakt zur Genüge vorbereitet
und wurde in einen Zustand versetzt, der eine Entspannung
durch den Geschlechtsakt dringend verlangt (Detumescenztrieb,
Depletationstrieb Chrobak-Rosthorns).
Bei Analysierung des Geschlechtstriebes fanden wir bis
jetzt schon einige Unterschiede, auf die wir weiter unten noch
zurückkommen. Die Stärke des Geschlechtsverlangens wird
bei Vorhandensein desselben wohl bei beiden Geschlechtern
die gleiche sein; handelt es sich doch um ein und denselben
Trieb. Anders dürfte es allerdings mit der Häufigkeit des
Verlangens stehen. Eine normale Frau, die ein mehr oder
minder hygienisches Leben führt, wird im allgemeinen in dieser
Beziehung genügsamer sein, als der Durchschnittsmann bei
einem durchschnittshygienischen Leben unter den heutigen Ver-
hältnissen. Die Frau ist mit ihrem Verlangen periodischer. Eine
vollständige Befriedigung des Geschlechtstriebes zu dieser Zeit
stillt im allgemeinen ihr Verlangen für die Zeit, wo der
Geschlechtstrieb bei ihr mehr zur Ruhe kommt. Der Mann
statt dessen ist durch Gewohnheit, Sitte u. a. m, wie schon
hervorgehoben, weniger genügsam, an Perioden so wenig wie
gar nicht gebunden, öfter und gleichmäßiger zur geschlecht-
lichen Betätigung aufgelegt als die Frau. Dadurch kommt es,
daß im regelmäßigen Verkehre zwischen ein und demselben
Paare es für die Frau gar nicht selten Zeiten geben wird, wo
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 421
sie den Geschlechtsverkehr nur duldet, dem Manne zuliebe. Es
gibt genügend Fälle, wo die Frau die Angabe macht, daß der
Geschlechtsverkehr auf Verlangen des Mannes fast alle Tage
stattfinde, daß sie selbst nur ziemlich selten ein Verlangen
danach habe, daß sie infolge des zu oft ausgeführten Aktes
abgestumpft sei und nur selten zur Befriedigung gelange. Forscht
man in diesen Fällen weiter nach, so findet man ganz regel-
mäßig die weitere Angabe, daß die Zeit des auch bei der Frau
bestehenden Verlangens und mit ihr die Zeit, wo beim Verkehr
eine Befriedigung stattfindet, mit dem postmenstruellen Stadium
zusammenfällt. In der übrigen Zeit dulde die Frau nur den Akt.
Sie hat davon nur ganz selten eine Befriedigung, des öfteren
nicht mehr als eine ihren Nerven wenig zuträgliche Erregung,
in welcher sie infolge des Ausbleibens des Orgasmus längere
Zeit verbleibt oder — und dies gar nicht selten — ein direktes
Unbehagen und einen Ekel, ohne dies dem Manne zuliebe
einzugestehen.
Mehr als der Mann braucht die Frau hauptsächlich zur
Zeit, wo das Geschlechtsverlangen bei ihr physiologisch nicht
wachgerufen ist, immer wieder eine intensive Werbung, um erst
zum Verlangen der Detumescenz zu gelangen. Dies ist auch
verständlich. In der Zeit nach der Menstruation befindet sich
die Frau sozusagen zum Orgasmus auf halbem Wege. Diese
physiologische Vorbereitung muß eben in der übrigen Zeit durch
den Reiz der Werbung erst hervorgebracht werden, um eine
weitere Tumescenz überhaupt zu ermöglichen. Bei Ausbleiben
der Werbung fällt die Vorbereitung weg, die Frau gelangt durch
den Geschlechtsakt nur bis zur Vorbereitung des Genitales,
nicht aber bis zum höchsten Grade der Spannung und bis zur
Entspannung. Dies ist auch ein Punkt, der die Frau »kälter«
erscheinen läßt als den Mann, der ja den Geschlechtsverkehr
erst suchen wird, wenn er hierzu genügend aufgelegt und vor-
bereitet ist.
Der wesentlichste Unterschied des Geschlechtstriebes bei
den Geschlechtern wäre also der, daß der Geschlechtstrieb bei
der Frau physiologischerweise periodisch auftritt und der
Hauptsache nach ungefähr eine Woche anhält, sie in der
Zwischenzeit, abgesehen von künstlichen und äußeren Reizen,
den Geschlechtsverkehr weniger oder gar nicht verlangt, was
ihr gar oft als Frigidität ausgelegt wird. Was die oft zitierte
422 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Aktivität des Mannes anlangt, so ist diese im großen und
ganzen auch nur scheinbar. Die Frau ist im Annäherungstrieb
aktiv, sie ist in der Werbung aktiv, sie-ist auch in der Zeit
des Tumescenztriebes aktiv; aber viel mehr gehemmt als der Mann.
Auch beim Vergleiche der Vorgänge während der Ko-
habitation bei den Geschlechtern müssen vor allem die sich ab-
spielenden Phasen bei der Frau analysiert werden.
Gehen wir von der physiologischen Vorbereitung zum
Geschlechtsakt aus, von der postmenstruellen Zeit, wo sich das
Genitale, ähnlich wie beim Oestrus der Tiere, in einer gewissen
Bereitschaft befindet, welche das ganze Geschlechtsorgan für
sexuelle Reize aufnahmsfähiger gestaltet. Allerdings sahen wir
oben, daß dieser Zustand beim Menschen keine conditio sine
qua non für den Geschlechtsakt bildet; daß es vielmehr durch
künstliche Reize, seien dieselben psychisch-reflektorisch oder
mechanisch, jederzeit gelingt, einen dem Oestrus ähnlichen Zu-
stand hervorzurufen, daß aber doch der natürliche Reizzustand
in der postmenstruellen Zeit das Optimum für die Empfäng-
lichkeit geschlechtlicher Eindrücke bildet.
Der Einfluß der aufgenommenen sexuellen Sinneseindrücke
wird sich bei vorgeschrittener Annäherung fühlbar machen, und
zwar in einer gewissen Spannung, bedingt durch die gesteigerte
Blutfülle der Unterleibsorgane, ein Zustand, der den Tumescenz-
trieb auslöst, d. h. eine Steigerung dieser Spannung verlangt,
die durch weitere körperliche Annäherung, durch Reizung der
erogenen Zonen, wie oben schon erwähnt, erzielt wird. Mit
der Steigerung Hand in Hand geht das Infunktiontreten der
sogenannten Wollustorgane des weiblichen Genitales. Die
Sekretionszellen der Bartholinischen Drüse treten in Aktion, die
Drüse selbst sezerniert ihr Sekret, welches durch den Aus-
führungsgang ausgeschieden wird und den Introitus und die
Vulva befeuchtet und schlüpfrig macht; zu gleicher Zeit sezerniert
die Cervix ein makroskopisch ganz gleiches Sekret, welches
ebenso klar, ebenso durchsichtig ist und ebenso die Konsistenz
leicht verdünnten Glyzerins hat. Ich betone ausdrücklich, daß
beide Sekrete sowohl der Vorhofdrüsen als auch der Cervix zu
gleicher Zeit sezerniert werden und von ganz gleichem Aus-
sehen sind: ziemlich dünnflüssig, klar, wasserhell. Mit wachsender
Erregung nimmt sowohl das äußere Genitale als auch die Portio
(wahrscheinlich auch Uterus, Eileiter und Eierstöcke) an Blut-
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 423
fülle zu; durch die Hyperämie des Schwellgewebes treten sowohl
der Bulbus vestibuli als auch die jetzt stark vergrößerte Klitoris
mit ihren Krura als harte Körper hervor, und speziell der
Bulbus vestibuli verengt derart nicht unbeträchtlich den
Scheideneingang. Dadurch, daß im weiteren Verlaufe des
Geschlechtsaktes bei der Immissio penis und bei den Friktionen
desselben die Erregung und mit ihr die Funktionen, d. i. die
Blutfülle aller Schwellgewebe (und zugleich die Sekretion der
Bartholinischen Drüsen und der Cervix) gesteigert werden, wird
der Introitus und zu gleicher Zeit der Penis immer stärker ge-
reizt. Eine ausgiebigere Berührung des Penis mit der Glans
clitoridis, wie dies von mancher Seite angenommen wird, ist
anatomisch kaum möglich und physiologisch gar nicht notwendig.
Eine Berührung findet nur mit dem durch die Erektion des
Gewebes sich vordrängenden Bulbus vestibuli statt und eventuell
mit den ebenfalls infolge der Hyperämie stark geschwellten
Crura clitoridis. Durch unwillkürliche oder willkürliche (aktive
Beteiligung der Frau beim Geschlechtsakte) Kontraktionen des
Beckenbodens, speziell des Constrictor cunni, wird der Kontakt
der Schwellgewebe mit dem Penis noch erhöht. Nimmt man
auch an, daß die Klitoris den Mittelpunkt der peripheren Reiz-
aufnahme bildet, so ist eine direkte Berührung derselben beim
Geschlechtsakte schon deshalb nicht notwendig, weil sie mit
den übrigen Schwellkörpern sowohl nervös als auch vaskulär
in innigster Verbindung steht, so daß jeder Reiz, der das übrige
Schwellgewebe trifft, indirekt auch sie trifft, indem er auf sie
fortgeleitet wird. Die mechanische Reizung trifft also vor-
wiegend die Bulbi vestibuli, welche den Scheideneingang, mit-
hin beim Geschlechtsakt auch das männliche Glied klammer-
artig umgreifen und dem mechanischen Reiz auf ihrer ganzen
Innenfläche ausgesetzt sind. Hier findet also primär die Reiz-
aufnahme statt, die in das Zentrum (Lendenmark? vegetatives
Nervensystem?) geleitet wird und dortselbst bei genügender
Summation den Orgasmus auslöst.
Der Orgasmus ist eine reflektorische Nervenentladung, für
welche weder eine Definition noch eine treffende Erklärung
gegeben werden kann. Sucht man nach einem Vergleiche mit
anderen Vorgängen am menschlichen Körper, so zeigt, glaube
ich, am meisten Ähnlichkeit noch der Niesreflex. Beim Nies-
reflex werden sensible Reize, die die Nervenendigungen an der
424 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Nasenschleimhaut treffen, in die Medulla oblongata geleitet,
dortselbst in motorische Bahnen umgeschaltet, welche zur
Respirationsmuskulatur führen. Ähnlich spielt sich auch der
Orgasmus ab; periphere Reize am äußeren Genitale summieren
sich, bis zentrifugal der Orgasmus ausgelöst wird. Wie beim
Niesen die Nasenschleimhaut nur zur Aufnahme der Reize not-
wendig ist und der Niesreflex ebenfalls ausgelöst würde, auch
wenn man imstande wäre, in der kurzen Zeit nach der
Summierung der Reize bis zum Beginn der Auslösung die
Nasenschleimheit zu eliminieren, wenn nur die zentrifugalen
Bahnen erhalten bleiben mit dem zum Ablaufe des Niesens
nötigen Muskelapparate, ebenso denke ich mir, daß der
Orgasmus, bei der Frau wenigstens, ein rein zentraler Vorgang
ist, der des äußeren Genitales nur zur Aufnahme der Reize be-
darf, zur Auslösung aber nur die motorischen Bahnen braucht,
die den Beckenboden innervieren, daß also für die letzte Phase
des Orgasmus das Genitale selbst gar nicht mehr notwendig ist.
— Auch fehlt bei der Frau jede Ejakulation, jede AusstoBung
von Flüssigkeit während der Geschlechtsbefriedigung, sie findet
in gar keiner Form, auch nicht andeutungsweise, statt.
7 Da dies den landläufigen Anschauungen zuwiderläuft, be-
darf es einiger Erläuterungen.
Hier möchte ich eine Beobachtung einschieben, die ich vor ungefähr
Jahresfrist zu machen Gelegenheit hatte.
Eine 42 jährige Witwe stand bei mir in Beobachtung wegen eines
geringen Ausflusses (Hypersekretion der Cervix). Sie ließ sich ungefähr
alle zwei bis drei Monate ansehen, eigentlich nur, weil sie eine fast krank-
hafte Angst vor Gebärmutterkrebs hatte; ihre Mutter war an Karzinom des
Genitales gestorben. Bei Einstellen der Portio zeigte sich als Grund des
Ausflusses eine starke Sekretion der Cervix; der sezernierte Schleim war
von der gewöhnlichen Konsistenz des Cervixsekretes: glasig, stark faden-
ziehend, kompakt, zähe. Einmal nun war es mir aufgefallen, daß schon
das äußere Genitale ein verändertes Aussehen zeigte, es war etwas ge-
spannt, blutüberfüllt, leicht livid, ebenso die Portio fast bläulich verfärbt.
Die Mündung des Ausführungsganges der Bartholinischen Drüse zeigte
das typische Sekret der Vorhofdrüse. Was mir am allermeisten auffiel,
war, daß am Muttermunde nicht der zähe Cervixschleim wie gewöhnlich
zu sehen war, vielmehr aus dem Uterus verhältnismäßig reichlich eine
dünnflüssige, wasserklare Flüssigkeit hervorquoll. Nach Einführung des
selbsthaltenden Spiegels betrachtete ich längere Zeit die Portio. Während
des Zurechtlegens des Spiegels und während des Spreizens desselben er-
folgten einige Kontraktionen der Beckenbodenmuskulatur, ohne daß sich
irgend eine Bewegung der Porto, beziehungsweise des Muttermundes ge:
zeigt hätte. Die weitere Manipulation bestand in der Reinigung der Portio.
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 425
Beim Entfernen des Spekulums, was einige Minuten nach den Beckenboden-
kontraktionen stattfand, war die livide Verfärbung sowohl der Portio, die
jetzt kollabiert aussah, als auch des Introitus geschwunden. Wie die ethisch
hochstehende Frau später ohne weiters zugab, hatte sie einen vollwertigen
Orgasmus gehabt.
Nach diesem Befunde des Cervixsekretes bei der geschlechtlichen
Erregung muß man annehmen, daß die Cervixschleimhaut befähigt ist,
zweierlei Sekrete zu liefern — den gewöhnlichen Cervixschleim, der zähe,
fadenziehend ist, und das dünnflüssige Sekret zur Zeit der geschlechtlichen
Erregung, welches, makroskopisch wenigstens, gleich ist dem Sekrete der
Bartholinischen Drüsen. Die Verschiedenheit des Aussehens des Cervix-
sekretes in der geschlechtlichen Erregung vom sonstigen Cervixschleim
kann bedingt sein entweder nur durch verschiedene Konzentration, indem
die stärkere Biutfülle bei der geschlechtlichen Erregung ein stärkeres Über-
wandern von Flüssigkeit bedingt oder aber durch direkte Wesensverschieden-
heit der beiden Sekretarten. Im letzteren Falle müßte man annehmen,
entweder daß ein und dieselbe Zelle bei verschiedener Innervation imstande
ist verschiedene Sekrete zu produzieren, oder aber daß die Cervixdrüsen
zweierlei Zellen besitzen; eine Zellart würde im gewöhnlichen Zustande
der Frau sezernieren, die andere nur bei geschlechtlicher Erregung oder
vielleicht überhaupt zur Zeit knapp nach den Menses, wo die Frau ge-
schlechtlich appetenter ist als sonst. Mir scheint die erstere Annahme,
die Verdünnung des gewöhnlichen Zellproduktes infolge der Blutfülle und
vielleicht der geänderten, bzw. verstärkten Innervation, das Naheliegendere
zu sein. Chemische Untersuchungen des Sekretes könnten den richtigen
Sachverhalt klarstellen.
Dieser Beobachtung wäre meines Erachtens eindeutig zu
entnehmen, daß in der geschlechtlichen Erregung, also nur in
der Zeit des eigentlichen Detumescenztriebes, der Introitus und
die Portio strotzend mit Blut gefüllt sind, die Bartholinische
Drüse und die Cervix ein ganz gleiches Sekret sezernieren,
welches ganz verschieden ist von dem sonstigen Sekret der
Cervix, daß aber im Momente des Orgasmus selbst, also in
der letzten Phase des Geschlechtsaktes, wohl eine Kontraktion
der Beckenbodenmuskulatur, aber weder eine Bewegung des
Uterus noch eine Ausstoßung irgendwelcher Flüssigkeit aus dem-
selben erfolgt. Dieses Unbeeinflußtbleiben des inneren Genitales
durch den eigentlichen Orgasmus sowohl betreffs muskulärer Be-
wegungen, als auch betreffs eines Ergusses, steht also in Ein-
klang mit unseren früheren Erwägungen über den Orgasmusreflex.
Demnach bestünde im Orgasmus ein wesentlicher Unter-
schied zwischen Mann und Frau, indem beim Manne mit dem
Orgasmus eine starke peristaltische Bewegung der samen-
abführenden Gänge statthat. Bei der Frau fehlt das entwicklungs-
426 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
geschichtliche Analogon der Vasa deferentia, wenigstens als
funktionsfähiges Organ, weshalb auch der motorische Effekt
des Orgasmus auf die Beckenbodenmuskulatur, die ja auch
beim Mann in Aktion tritt, beschränkt bleibt.
Dadurch, daß gezeigt wurde, daß das innere Genitale vom
Orgasmusreflex unbeeintlußt bleibt, wird auch die von Rohleder
so gewissenhaft erörterte Frage über den Sitz des Orgasmus
im Genitale gegenstandslos. Daß der Durchtritt der Sperma-
flüssigkeit durch die enge Öffnung der Ductus ejaculatorii beim
Manne denselben, beziehungsweise das Wollustgefühl nicht
auslöst, beweist der Orgasmus bei Masturbation von Knaben
vor der Zeit, in welcher sich ein Ejakulat vorfindet, wo sich
der Orgasmus vom späteren durch nichts anderes, als durch
den Mangel einer Flüssigkeitsausscheidung unterscheidet. Eben-
sowenig entspricht die Annahme Rohleders den Tatsachen, der
Orgasmus werde beim Weib im unteren Teil der Cervix, so-
wie im unteren Teil des Uterus ausgelöst; hier sei auch der
Sitz außerordentlich vieler nervenreicher Papillen, welche durch
Vermittlung des Centrum genito-spinale das peristaltische Spiel
der Uterusmuskelkontraktionen auslösen — meint Rohleder; der
Uterusreflex apud coitum beim Weibe mit Ausstoßung des
Kristeller und des Uterozervikalschleimes sei also das Pendant
des Sperma-Ejakulationsvorganges beim Manne.
Weder der Uterus noch die Vagina spielen meiner Über-
zeugung nach beim Geschlechtsakt irgend eine Rolle, außer daß
die Cervix in der Erregungszeit behufs Befeuchtung der Scheide
ein spezifisches Sekret sezernier. Daß der Uterus für den
Geschlechtsakt und für den Orgasmus überflüssig ist, beweisen
die zahlreichen Fälle von völlig ungestörtem Ablaufe des
Geschlechtsaktes nach operativer Entfernung der Gebärmutter.
Daß der Uterus beim Orgasmus keine eigenen Bewegungen,
keine Kontraktionen ausübt, schon gar nicht schnappende Be-
wegungen des Muttermundes, beweist der Umstand, daß ein
Organ vom Baue des Uterus gar nicht imstande ist, solche rasch
aufeinanderfolgende, schnappende Bewegungen auszuführen,
daß Uteruskontraktionen langsam, mit Unterbrechungen, wehen-
artig, verlaufen; doch auch diese fehlen beim Orgasmus.
Uteruskontraktionen werden von sehr vielen Frauen deutlich,
von vielen auch sehr schmerzhaft empfunden. Eine Äußerung
von Frauen, welche auf diese Uteruskontraktionen während des
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 427
Orgasmus hindeuten würde, wurde nie gemacht, auch von
solchen nicht, die an entzündlichen Erkrankungen, an Perimetritis
oder an Dysmenorrhöe leiden, welch letztere oft die geringsten
Eigenbewegungen der Gebärmutter, jedenfalls aber jede
Zusammenziehung derselben (Berührung des Muttermundes
durch eine Sonde) aufs schmerzhafteste empfinden.
Fehlt eine Gebärmutterzusammenziehung beim Orgasmus,
so kann es bei der Frau auch keine Ejakulation geben. Auch
nicht mit der Einschränkung Adlers, daß das Sekret nur eine
bescheidene Rolle im weiblichen Ejakulationsakte zu spielen
braucht. »Sicherlich«, sagt Adler, »gibt es auch profusere Er-
gießungen, allein absolut notwendig sind sie für das Zustande-
kommen der Wollustempfindungen nicht«. Ich habe vielmehr
aus physiologischen Erwägungen die Überzeugung, daß die
Sekretion der Bartholinischen Drüsen und der Cervix einzig
und allein im Erregungszustande statthat, am stärksten während
des Kulminationspunktes der Geschlechtserregung auftritt, im
Momente des Orgasmus aber eine weitere Ausstoßung von
irgend einer Flüssigkeit aus dem Genitaltrakte der Frau in
keiner Form stattfindet. Natürlich muß man ganz absehen von
den gar nicht seltenen Fällen, wo bei jedem Geschlechtsakt
oder nur wenn zu dieser Zeit die Harnblase sehr stark gefüllt
ist, während des Orgasmus ein Urinabgang stattfindet, als solcher
von den Frauen nicht immer erkannt wird und nicht selten eine
· regelrechte Ejakulation vortäuschen kann.
Demnach unterscheidet sich der weibliche Orgasmus vom
männlichen dadurch, daß bei der Frau keine Kontraktionen des
inneren Genitales auftreten (es entspricht die Gebärmutter, die
Eileiter und die Scheide entwicklungsgeschichtlich auch gar
nicht denjenigen Teilen, die beim Mann im Orgasmus perista-
lische Ausstoßungsbewegungen ausführen), und daß eine Ejaku-
lation auch nicht andeutungsweise stattfindet. Die Sekretion
der Bartholinischen Drüsen und der Cervix im Erregungszustand
entspricht nicht einer Ejakulation, sondern der gleichwertigen
Sekretion der akzessorischen Harnröhrendrüsen des Mannes. Die
von Beck beobachteten »schnappenden Bewegungen« der pro-
labierten Portio, die immer wieder zitiert werden, können viel-
leicht als fortgeleitete Bewegung des Beckenknochens gedeutet
werden. Im Orgasmus macht die ganze Muskulatur des Becken-
bodens plastische Kontraktionen. Wenn der Uterus tief liegt,
428 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
so kommt er in das Aktionsgebiet der Beckenbodenmuskulatur
direkt hinein, so daß er von ihren Zusammenziehungen ge-
troffen wird, die wieder als Bewegungen der Uteruswandungen
sichtbar werden und eine eigene Bewegung der Gebärmutter
vortäuschen.
Und dennoch dürfte der Orgasmus der Frau von einer
gewissen Bedeutung sein für das Zustandekommen der Be-
fruchtung. Wir wissen zwar, daß weder ein geschlechtliches
Verlangen noch irgend eine Erregung oder gar eine geschlecht-
liche Befriedigung bei der Frau für die Befruchtung notwendig
ist. Wir wissen aber andrerseits, daß ein Mitempfinden der
Frau während des Geschlechtsaktes einer Konzeption förderlich
ist. Auch dürfte die im Laienpublikum verbreitete Ansicht, daß
das gleichzeitige Auftreten der Befriedigung beim Mann und
bei der Frau ganz besonders förderlich sei für eine Befruchtung,
auf Wahrheit beruhen. Auch ohne »schnappende Bewegungen«
ist aber der Uterus beim Orgasmus der Frau befähigt, die
männliche Samenflüssigkeit »aufzusaugen«. Die starke Hyperämie
das Uterus während der Erregung und hauptsächlich während
des Kulminationspunktes derselben muß das im Uteruscavum
befindliche Sekret unter stärkeren Druck setzen und bestrebt
sein, dasselbe auszupressen. Bei Lösung der Hyperämie, wenn
die Uteruswände mehr oder minder kollabieren, wird in der
Uterushöhle ein negativer Druck entstehen, der imstande ist, die
vor dem Muttermunde gelegene Flüssigkeit (und die Portio taucht
ja bei normaler Lage der weiblichen Geschlechtsorgane in die
in das hintere Scheidengewölbe abgesetzte Samenflüssigkeit ein)
zu aspirieren.
Sehr wahrscheinlich ist es allerdings, daß zur Zeit der Menstruation
und vielleicht hauptsächlich nach derselben, wie dies beim Tiere für die
Zeit der Brunst experimentell nachgewiesen ist, die Gebärmutter und die
Eileiter eine größere Empfindlichkeit auf Wehenreize aufweisen, ja wahr-
scheinlich auch von selbst leicht peristaltische Bewegungen ausführen,
trotzdem dies mit dem Orgasmus sicher nichts zu tun hat.
Übrigens gestattet die Beobachtung Becks der schnappenden Be-
wegungen des Muttermundes beim Orgasmus außer der Annahme, daß
es sich hier um nichts anderes als um Fortleitung der Beckenboden-
kontraktionen auf den Uterus handeln könnte, noch eine andere Erklärung.
Beck sah nämlich bei einem Falle von Uterprolaps, daß das zu Beginn
harte, unbewegliche, normal aussehende Collum uteri, welches kaum für
eine Sonde durchgängig erschien, sich nach Berührung öffnete und fünf-
bis sechsmal ausperrte, während die äußere Offnung kräftig nach dem
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 429
Innern der Kollumhöhlung zu eingezogen wurde, was alles ungefähr
20 Sekunden dauerte, um dann in den normalen primären Ruhezustand
zurückzukehren (zitiert nach Luciani). Die Folgerung, daß diese Bewegungen
dem Orgasmus entsprochen hätten, ist, auch bei angenommener Richtigkeit
des beschriebenen Vorganges, nicht zwingend. Ich möchte vielmehr diese
Reizbarkeit des Uterus auf Berührung als eine vom Orgasmus, wie schon
erwähnt, ganz unabhängige Erscheinung ansprechen und die Beobachtung
Becks mit dem identifizieren, was jeder Gynäkologe wiederholt zu be-
obachten Gelegenheit hat, daß nämlich, speziell knapp vor und knapp nach
den Menses, sei es bei Sondierung der Uterushöhle oder bei Berührung
der Cervix, gelegentlich diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen,
nicht gar selten Kontraktionen des Uterus stattfinden, die sich vornehmlich
in Veränderung der Weite des Zervikalkanales äußern, so daß eine vorher
undurchgängige Cervix plötzlich leicht passierbar wird. Diese Kontraktionen
des Uterus auf mechanische Reize haben aber mit der Wollustempfindung
gar nichts zu tun, werden vielmehr fast regelmäßig, so stets bei thera-
peutischen Maßnahmen, als wehenartiger Krampf empfunden. Möglich
ist es allerdings, daß dieselbe Erscheinung auch beim Koitus auftritt, doch
glaube ich nicht als Orgasmus, beziehungsweise als physiologisches Vor-
kommnis im Ablaufe des Geschlechtsaktreflexes, sondern’ nur als Folge
der Berührung der Portio mit dem Penis, also direkt als Effekt eines
mechanischen Reizes, Bewegungserscheinungen am Uterus als Folge
mechanischer Reize (Massage u. a.) haben schon ältere Autoren zur Ge-
nüge beobachtet, so Ahrendt, Chrobak, v. Rosthorn, Rumpf, Lindbloom,
Reinicke. Als physiologische Koitusveränderungen der Portio (und des
Uterus) halte ich, wie schon hervorgehoben, nur die Anschoppung und
das nachträgliche Kollabieren des Organes, bedingt durch die sich allmäh-
lich steigernde, dann aber (nach dem Orgasmus) plötzlich abfallende Blut-
fülle, was eine gewisse Saugwirkung zweifelsohne zur Folge haben kann.
Fassen wir nunmehr die Geschlechtsunterschiede des Ge-
schlechtslebens zusammen, so finden wir, daß es solche zweifels-
ohne gibt; aber Unterschiede, die nicht alle gleichwertig sind.
Der größte Unterschied scheint mir der, daß der Ge-
schlechtstrieb der Frau, ähnlich wie im Tierreiche, etwas
Primäreres ist als der des Mannes, daß er von innen heraus
entsteht und zwar periodisch immer wieder von selbst bei der
Menstruation in Erscheinung tritt, während der Geschlechtstrieb
des Mannes in seiner Anlage mehr sekundär, induziert ist.
Ein Unterschied, der ebenfalls von praktischer Bedeutung
ist, wäre ferner, daß das Weib bei der Werbung im Manne
die Psyche mindesten ebensosehr berücksichtigt als das Sinn-
liche, während der Mann im Durchschnitte mehr auf den sinn-
lichen Reiz, den das Weib auf ihn ausübt, bedacht ist.
Weiters hat die Frau im Verlaufe der Betätigung des Ge-
schlechtstriebes und all seiner Phasen viel größere und zahl-
430 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
reichere Hemmungen zu überwinden als der Mann, weswegen
sie den Eindruck einer stärkeren Passivität erweckt.
Auch dürfte die Frau genügsamer sein als der unter den
heutigen Verhältnissen lebende Mann, aber nur dadurch, daß
ihr Verlangen zeitlich umgrenzt ist. Zur Zeit des Geschlechts-
verlangens (postmenstruell) ist vielleicht die Frau (allerdings
schwankend nach ihrem Temparament) anspruchsvoller als der
Mann, was meist durch die stärkeren Hemmungen wieder
paralysiert wird.
Bei dem Orgasmus besteht schließlich ein Geschlechts-
unterschied darin, daß bei der Frau weder eine Bewegung der
Gebärmutter und Scheide, noch die’ Ausstoßung eines Ejakulates
statthat.
Was die Stärke des Geschlechtsverlangens anlangt, so
dürfte dieselbe bei den Geschlechtern, ganz abgesehen von den
Hemmungen, gleich sein; ebenso kann in der Stärke des Ge-
nusses kein wesentlicher Unterschied bestehen.
Erfahrungstatsache aber ist es, daß die Frau öfters in die für ihre
Gesundheit nicht gleichgültige Lage versetzt wird, den Geschlechtsakt
auszuführen, ohne zur Befriedigung zu gelangen. Dies hat mit der Kon-
stitution der Frau, bezw. mit ihrer geringeren geschlechtlichen Appetenz
nicht viel zu tun. Hiefür gibt es physiologische und pathologische Gründe.
Physiologische Gründe gibt es mehrere: Vor allem ist die Frau, wie schon
oben hervorgehoben, wählerischer als der Mann; mit einem Manne, der
ihr entweder körperlich oder seelisch, oder in beiden Beziehungen von
Anfang an nicht behagt, oder der durch eine nachträgliche Tat, durch sein
Benehmen, durch irgend ein vielleicht nebensächliches Moment ihren
Ärger, ihren Ekel oder eine andere unangenehme Empfindung ausgelöst
hat, wird sie die Hemmungen, die sie zur erfolgreichen Ausübung des
Geschlechtsaktes zu überwinden hat, nicht überwinden können, sie wird
entweder durch denselben gar nicht geschlechtlich erregt oder wenn ja,
so meist nicht genügend, um bis zur Höhe der Erregung und zur vollen
Befriedigung zu gelangen. Bei dem Mann ist es anders. Ist es einmal
zur Erektion gekommen, so genügt ihm meist das mechanische Moment,
um zum Orgasmus zu gelangen, während bei der Frau der Erfolg durch
Hemmungen viel leichter aufgehalten wird. Weiters ist die Frau durch
den Mann sehr oft veranlaßt, den Geschlechtsakt auszuführen, ohne hiefür
das erforderliche Verlangen zu haben. Es ist dann ohneweiteres ver-
ständlich, daß sie durch den Geschlechtsakt oft nur bis zu einer gewissen
Erregung gelangt, der Geschlechtsakt erst die Rolle der Werbung über-
nimmt, d. h. daß durch denselben das Genitale erst in den Zustand ver-
setzt wird, welcher entweder durch das spontane Verlangen oder durch
die männliche Werbung veranlanßt werden sollte, somit nicht die Zeit hat,
im Oeschlechtsakte bis zur Entladung zu gelangen. Schließlich fehlt der
Frau, wie schon aus dem eben Gesagten hervorgeht, sehr oft die erforder-
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 431
liche Anregung zur Werbung von Seite des Mannes. Hauptsächlich
außerhalb der Zeit ihres Verlangens (postmenstruell) benötigt die Frau, um
psychisch in die nötige Stimmung und physisch in den nötigen Spannungs-
zustand der Geschlechtsorgane zu gelangen, welche Spannung der männ-
lichen Erektion entspricht, eine Anregung, eine intensive Werbung von Seite
des Mannes. Fehlt diese, wie dies so oft in einem schon gewohnten Ver-
kehre zwischen Mann und Frau der Fall ist, so fehlt auch der vorbereitende
Reiz für die Frau, die Geschlechtsorgane sind noch nicht in einem Zustande,
den der Geschlechtsakt verlangt, wodurch die Frau dann durch den Oe:
schlechtsakt vielleicht höchstens bis zum Kulminationspunkte der Erregung
kommt, aber keine Zeit hat, die Befriedigung zu erreichen.
Außer diesen sozusagen physiologischen Momenten für einen er-
schwerten oder fehlenden Orgasmus gibt es natürlich auch pathologische
Ursachen, die sich im großen und ganzen mit der pathologischen männ-
lichen Impotenz decken. Nur eine solche Ursache sei hier hervorgehoben,
weil sie ein direktes Analogon beim Manne nicht besitzt.
Es gibt wohl Übergänge, es lassen sich dennoch nicht schwer zwei
Arten von Auslösung des Orgasmus bei der Frau trennen. Ganz abgesehen
von seltenen Fällen, wo der Orgasmus auch von anderen erogenen Zonen
aus (Brustwarze, innere Handfläche usw.) ausgelöst werden kann, gelangt
die Frau zum Geschlechtsgenusse gewöhnlich entweder durch Reizung der
Klitoris oder durch Reizung des Scheideneinganges. Zur ersten Kategorie
gehören die meisten Masturbantinnen vor dem geschlechtlichen Verkehr,
also Virgines und viele Mädchen (auch Frauen), die einen außerehelichen
Verkehr ausüben, um aber vor den Folgen desselben ganz sicher zu sein
(Entjungferung, Schwangerschaft usw.), von einer Inmissio abgesehen.
Tritt einmal eine Angewöhnung auf Auslösung des Orgasmus durch
Reizung der Klitoris auf, so ist seine Auslösung auf natürlichem Wege
sehr häufig oder immer erschwert, sehr oft auch ganz unmöglich gemacht,
indem dann der natürliche Akt die Erregung zwar steigert, nicht aber bis
zur Auslösung der Befriedigung führt. Es muß hier eine so intensive
Bahnung von den Leitungen von der Klitoris stattgefunden haben und
eine Ausschaltung der Nervenbahnen vom Introitus, daß letzterer an Emp-
findlichkeit verliert. Seltener, glaube ich, sind die Fälle, wo der weibliche
Orgasmus, wie so oft hervorgehoben wird, deshalb ausbleibt, weil der
Mann nicht genügend lange den Geschlechtsakt ausführt. Der weibliche
Orgasmus ist wohl, wenn die Frau nur in ihrem Oeschlechtsleben voll-
kommen normal ist, nicht schwerer auszulösen als der des Mannes.
Wollte man die Geschlechtsunterschiede des Geschlechts-
lebens noch nach ihrer Wertigkeit als Geschlechtsmerkmale
sichten, so würde es sich ergeben, daß das Primäre des weib-
lichen Geschlechtstriebes als eine reine Hormonwirkung der
Keimdrüse aufzufassen ist, daß aber die übrigen Unterschiede
von der anatomisch-physiologischen Verschiedenheit der Organe
abhängen, also rein somatisch bedingt sind.
а D
|
432 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
DIE EROTIK IN DER BILDENDEN KUNST.
ХШ.
SALOME.
Von Dr. JOHANNES MARR.
A wie es in der Philosophie Begriffe gibt, die zu allen
Zeiten und bei allen Völkern unabhängig voneinander
wiederkehren, weil sie einen Bestandteil des aus primitiven
Anlängen sich emporringenden Ichbewußtseins bilden, so kennt
auch die bildende Kunst und die Poesie aller Geschlechter und
Zeiten gewisse Motive, die überall mit nur geringfügigen
Variationen des Inhalts und Wortlauts angetroffen werden. Es
handelt sich zumeist um Sagen, Legenden oder auch nur Be-
griffe, die irgendwie mit dem erotischen Vorstellungsinhalt der
Völker verknüpft sind. Schließlich entspringen alle Mythen
aus der Beobachtung der im Einzelnen lebendig wirkenden
Erotik und der Verhältnisse, die sich als Folgezustände der
erotischen Aktivität ergeben. Dieser einheitlichen Quelle dürfen
wir es wohl zu verdanken haben, daß der Sagenschatz der
Bibel vielfach dem der klassischen Antike zu entsprechen
scheint, daß sich Momente aus der assyrischen und indischen
Legende in den slavischen Überlieferungen gleichsam nach-
geahmt vorfinden, und daß schließlich der ganze altgermanische
Olymp in der christlichen Sagenbildung eine Umgestaltung
und Neubelebung erfahren hat. Denn die Menschen sind in
den entferntesten Breiten des Erdballs die gleichen und von
den gleichen Leidenschaften beseelt, Liebe und Haß wirkten
vor 2000 und mehr Jahren nicht anders als heute, und so
müssen auch die Symptome dieser Eigenschaften ein ewiges
und unabänderliches Gesicht tragen.
Der Beobachtung eines aus erotischen Grundwurzeln ent-
springenden Hasses, jener Klüfte und Stürme, die verschmähte
Liebe schafft, verdanken wir das Salomemotiv. Allerdings
stützt sich diese Interpretation nicht auf die Überlieferung der
Bibel, denn von verschmähter Liebe und daraus entspringender
Rachsucht ist in der Erzählung des Evangelisten Markus nichts
enthalten; Salome, das Kind der Herodias, wird im Gegenteil
mit einer Naivität und Sorgenlosigkeit umkleidet, die den
Schluß auf die ihr in neuzeitlichen Bearbeitungen nachgerühmte
Leidenschaftlichkeit nicht zulassen. Aber zweifelsohne ist Herodias
DIE ERSCHEINUNG. Von G. MOREAU (Paris, Luxembourg)
Zu dem Aufsatz »Salome«. S. 342
DAS GASTMAHL DES HERODES. Von LUCAS CRANACH (Galerie des
Städelschen Kunstinstitutes in Frankfurt a. M.). Zu dem Aufsatz »Salome«. $. 342
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SALOME MIT DEM HAUPT DES TÄUFERS.
Von B. LUINI (Louvre, Paris). Zu dem Aufsatz »Salome«
S. 342
434 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
einer uralten von den Römern herstammenden, sagenhaften
Überlieferung. So findet sich angeblich schon bei Livius ein
Bericht, wonach der römische Feldherr Flaminius, Statthalter
einer römischen Provinz, seinem Lustknaben zu Gefallen — nach
Valerius Antias war es eine von ihm besonders geliebte
Courtisane — einen gallischen Häuptling enthaupten ließ.
Alfred Kind (Die Weiberherrschaft in der Geschichte der
Menschheit) nimmt nun an, daß dem Evangelisten, vermutlich
einem unbekannten griechischen Dichter, die betreffende Über-
lieferung in der Umarbeitung des Seneca bekannt geworden
sei, und daß er eigenwillig den Tanz und die darauf folgende
Enthauptungsszene an den Hof des Vierfürsten Herodes von
Judäa verlegt habe.
Wenn wir auch auf die zahlreichen Bearbeitungen des
Salomemotivs nicht eingehen können (wer darüber Näheres
erfahren will, der sei auf die bereits einmal erwähnte aus-
gezeichnete Monographie von Daffner verwiesen), soviel sei
gesagt, daß eine Reihe der besten Dichter, darunter Heine,
Flaubert, Gutzkow, Oskar Wilde u. a., sich an die Bearbeitung
des Salomemotivs gewagt haben, und daß die Geschichte von
dem tanzenden Töchterlein der Herodias voraussichtlich immer
ein bevorzugtes Motiv dichterischer Darstellungen bleiben wird.
Gerade die unzweideutige Erotik, die der Salomelegende jene
sprühende Farbe und zeitlose Wirkung sichert, wird immer
auf künstlerische Temperamente faszinierend wirken, zumal
die orientalische Üppigkeit des sagenhaften Milieus dem Künstler
Gelegenheit bietet, alle Vorzüge seiner Begabung in das rechte
Licht zu rücken. So wie Oskar Wilde den Pagen Naraboth
— ein unseliges Sonnenkind oder in eigenwilligerer Wahr-
nehmung ein symbolischer Repräsentant der Kunst — sich um
die Schönheit der tanzenden Prinzessin Salome verbluten läßt,
so werden die Künstler noch späterer Generationen dieses
Motiv mit der gleichen, sinnigen Inbrunst lieben, für die schon
Heine in seinem »Atta Troll« die tragisch klassischen Worte
gefunden hat:
ee »Aber du Herodias
Sag’, wo bist Du? — Ach, ich weiß es,
Du bist tot und liegst begraben,
Bei der Stadt Jeruscholaiym.
Starren Leichenschlaf am Tage
Schläfst du in dem Marmorsarge!
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 435
Doch um Mitternacht erweckt dich
Peitschenknall, Hallo und Hussa!
Und du folgst dem wilden Heerzug
Mit Dianen und Abunden
Mit den heitern Jagdgenossen,
Denen Kreuz und Qual verhaßt ist!
Welche köstliche Gesellen!
Könnt’ ich nächtlich mit Euch jagen
Durch die Wälder, dir zur Seite
Rückt’ ich stets, Herodias!
Denn ich liebe dich am meisten;
Mehr als jene Griechengöttin,
Mehr als jene Fee des Nordens
Lieb’ ich dich, du tote Jüdin!
Ja, ich liebe dich, ich merk’ es
An dem Zittern meiner Seele.
Liebe mich und sei mein Liebchen,
Schönes Weib Herodias!
Die bildende Kunst hat sich vielleicht noch häufiger mit
dem Tanz der Salome und der sich daran knüpfenden Ent-
hauptung des Täufers beschäftigt, als die Poesie, wenngleich
meines Empfindens eine restlose Lösung des Inhalts dieser
Sage in keinem der überlieferten Kunstwerke erreicht worden
ist. Das liegt an der Schwierigkeit des Themas selbst, das
zwei voneinander grundverschiedene Handlungen umfaßt. Auf
der einen Seite ist der Tanz der Salome eine in sich ab-
geschlossene Handlung, die bereits für sich allein als Vorwurf
eines Kunstwerkes auszureichen vermag. Daran schließt sich
die Erzählung von der Enthauptung des Täufers, und die beiden
Vorgänge sind nur durch die Gestalt der Herodias, bezw. durch
die Einflechtung ihres rachsüchtigen Hasses miteinander ver-
bunden. Die Künstler, Maler und Plastiker, die sich nun mit
diesem Thema beschäftigt haben, konnten daher nur die eine
oder die andere dieser Handlungen festhalten. Entweder
zeigten sie den Tanz der Salome — was mitunter Gelegenheit
zu großartigen Gemälden und Kompositionen von orientalischer
Prachtentfaltung bot — oder sie hielten sich an die Ent-
hauptungsszene, wobei der krasseste Naturalismus triumphierte,
und der Künstler gleichzeitig seine anatomischen Kenntnisse
vor dem Publikum ausbreitete. Das hier Gesagte gilt in erster
Linie für die ältere Malerei, die mehr um des Gegenstands
willen malte und jeder psychologischen Tüftelei so ziemlich
28*
436 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
. abhold war. Die Deutung, daß Salome den Propheten eigent-
lich liebte und sein Haupt zur Sühne für ihre verschmähte
Liebe verlangte, ist eine Errungenschaft der neueren Zeit und
datiert wohl nicht allzulange vor den Tagen Oskar Wildes.
Unter dem Einflusse des Letzteren steht auch zum größten
Teil die spätere künstlerische Auffassung des Solomemotivs.
In der altitalienischen Malerei finden wir die erste künstlerische
Ausbeutung der biblischen Sage in dem »Gastmahl des Herodes«
von Giotto in Sancta Croce von Florenz. Das Werk ist nur
von relativer Schönheit, das dramatisch psychologische Moment
äußert sich ganz flüchtig in einer Gruppe von zwei Mägden,
die voll geheimen Schauders sich aneinander schmiegen.
Völlig leblos wirkt die Szene, wo der Henker die Schüssel mit
dem Haupte des Johannes der Prinzessin entgegenreicht. Das
Gleiche gilt von den Wandmalereien von Masolino von Castiglione
D’Olona und von dem Bilde des Fra Philippo Lippi, wo beide
Teile der Handlung, Tanz und Enthauptungsszene, neben-
einander dargestellt sind. Den Tanz der Salome hat auch
Andrea del Sarto auf einer seiner florentinischen Fresken zu
verbildlichen gesucht, aber an die Bibel klingt diese Auffassung
der Salome überhaupt nicht an, denn hier wird einfach ein
liebreizendes tanzendes Mädchen gezeigt, das, was Ausdruck
und Plastik der Bewegung anbelangt, modernen Tanzkomposi-
tionen in nichts nachsteht. Überhaupt halten sich die älteren
Maler mehr an die Beschreibung der Bibel, die von Salome
als dem »Mägdlein« spricht, dessen Tanz einem naiven Ge-
horsam gegen den Vierfürsten, keineswegs eigener sinnlicher
Aufregung entspringt. Im übrigen bevorzugt die altitalienische
Malerei die Salome für ihre sogenanten Ausdrucks-Halbfiguren,
wobei sie neben Judith, Lukrezia, Magdalena und Kleopatra
am häufigsten anzutreffen is. Gewöhnlich ist sie ein junges,
harmloses Mädchen von blonder oder dunkler Schönheit, das
mit sanfter, Mitleid und Trauer ausdrückender Miene die
Schüssel mit dem Haupte Johannes in den Händen hoch hält,
während daneben der Henker steht, dessen Häßlichkeit durch
verschiedene Charakteristika — wie beispielsweise bei Luini
durch eine große Nasenwarze — noch besonders erhöht ist.
Luini hat auch die Salome mehrfach gezeichnet, und auf
einem seiner Bilder, dem der kaiserlichen Galerie in Wien, ist
er der modernen Interpretation des Motivs instinktiv ganz nahe
m с
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 437
getreten, indem er der schönen Heidin Salome ein merkwürdig
grausames Lächeln geliehen hat, das in seiner geheimnisvollen
Art an die Schöpfung eines ungleich größeren Meisters, Leonardos
Monna Lisa erinnert. Aber sonst treffen wir überall nur auf
den obligaten Schönheitstyp der blonden Venezianerin, wie sie
Palma Vecchio und Tizian mit Vorliebe gestaltet haben. Tizian
beispielsweise hat einfach aus seiner Tochter Lavinia eine
Salome gemacht, indem er auf die hochgehaltene Silberplatte
statt der Früchte das blutige Haupt des Johannes gelegt hat.
Von den Meistern der Frührenaissance gilt, was Richard
Muther in seiner ausgezeichneten Monographie über Leonardo
da Vinci sagt: »Man beschäftigt sich, nachdem Leonardo in
der Monna Lisa, der Dame der Lichtensteingalerie,*) das dämo-
nische Weib, die männermordende Sphinx gemalt hatte, jetzt
überhaupt mit der Liebe als der dämonischen Macht, die tötet.
Die Geschichte der Salome, die den Johannes liebt und ihm,
da er ihre Liebe verschmäht, den Tod schwört, hat zu allen
Zeiten die Kunst gereizt, doch in dem Kupferstich des Israel
von Meckenen, wie in der Predella Botticellis, in dem Ham-
burger Bilde des Severin-Meisters und in dem Holzschnitt
Albrecht Dürers war nur eine Illustration des üblichen Textes
ohne weitere Nebengedanken gegeben. Für die Meister der
Leonardozeit steht das sündhaft Sinnliche der Szene im Vorder-
grund. Man schildert — wie in unserer Zeit Regnault, Gustav
Moreau und Oskar Wilde — den Dämon mörderischer Lust:
ein Mädchen, das auf das Haupt des schönen Mannes, den
ihre Liebe getötet hat, mit glühend begehrlichen Augen blickt,
während der Mund mit den blendend weißen Zähnen lächelt
wie ein unschuldiges Kind. Und noch zu einer anderen, sehr
originellen Variante gibt das Johannesmotiv Anlaß: Salome
wird ganz weggelassen und nur das Totenstilleben gemalt:
Das Licht spielt weich auf einer silbernen Schale und dem
blassen Kopfe eines schönen Mannes. Man denkt an die
wollüstige Leichenstimmung, die einige Bilder des Gabriel
Marx haben, denkt an die Stimmung, die Klinger ausdrücken
wollte, als er abgeschnittene Männerköpfe am Sockel seiner
Salome anbrachte.« Übrigens hat Muther nicht ganz recht mit
seiner Behauptung, daß die Vorläufer der Leonardozeit Salome
*) Nunmehr im Salon Carré des Louvre, Paris.
438 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
durchweg als das harmlose Mägdlein der Bibel empfunden
haben. Ganz bestimmt hat es Botigelli nicht, dessen vor-
erwähnte Salome mit den rostroten Haaren, den gleichsam
wollüstigen Lippen, dem vorwärtsdrängenden, gierig ge-
spannten Körper, bereits zu der perversen Erotik der jüngsten
- Salomebilder hinüberzuleiten scheint. Auch später findet sich
eine noch durchaus moderne Auffassung in einzelnen Salome-
bildern der niederländischen Schule, wo die Züge der Prinzessin
kalte Grausamkeit mit deutlich merkbarer Sinnlichkeit wider-
spiegeln. Ähnliches zeigt sich beispielsweise in dem Ant-
werpener Bilde der Enthauptung des Johannes von Martin de
Voß, dessen Bild, wie die Salomebilder der naturalistischen
Schule Italiens überhaupt, auch den toten Rumpf des Johannes
bringt, aus dessen anatomisch einwandfrei nachgebildetem Hals-
stumpf das Blut in hellen Strömen hervorschießt. Solche
Scheußlichkeiten, die sich noch bei einem Lucas van Leyden
und in abgeschwächter Form bei dem Italiener Strozzi finden,
ersetzen die übrigen charakteristischen Zeichen, die für den
Künstler in der biblischen Sage enthalten sind.
Einen weiteren Fortschritt bedeutet Rubens, der als erster
das Rassenhafte dieser alttestamentarischen Prinzessin fest-
gehalten hat. Rubens malt Salome als Jüdin, wie später die
Malerei gänzlich davon abgekommen ist, das Töchterlein der
Herodias anders als ein wildes, von aufregender Sinnlichkeit
durchschüttertes Judenmädchen zu malen.
Namentlich in jüngerer Zeit empfand man das Orientalische
der Situation, man suchte die Farbeneffekte heraus, die der
Stoff in sich barg, und tat noch ein Übriges dazu, indem man
allerhand Sinnliches und Übersinnliches in den Gang der Er-:
zählung hineingeheimniste. Die um die Wende des 18. Jahr-
hunderts einsetzende Orientbegeisterung der Franzosen rückte
den Salomestoff in eine neue Beleuchtung und dieser eigen-
artigen Verjüngung des Motivs haben wir Moreaus von
katholisch-mystischer Sinnlichkeit erfülltes Gemälde »Die Er-
scheinung« zu verdanken. Alles, was später der krankhaft
üppigen Dichtung Oscar Wildes anhaftet, und was Aubray
Beardsleys Erotik so verstiegen pervers macht, findet sich in
den Kunsttafeln jener Zeit vorgeahnt und vorbeschrieben. Aller-
dings ist auch Moreaus »Vision« nur ein dekoratives Gemälde,
das den Tanz der Salome weder wahrscheinlich noch besonders
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 439
geschmackvoll wiedergibt. Eugen Spiro hat dem gleichen
Moment der Sage ein Bild gewidmet, das wirkt in seiner
Lebendigkeit ganz anders, vor allem viel natürlich sinnlicher
und wahrscheinlicher. Die neueren Maler mit Ausnahme von
Slevogt, dessen Salome noch vor den Oskar Wilde-Rummel
fällt, sind endlich von der Bühne und besonders den einzelnen
Darstellerinnen der Salome, sei es in dem Werk des vor-
genannten englischen Dichters, oder der nach ihm komponierten
Straußschen Oper in ihrer Auffassung des biblischen Motivs
beeinflußt worden. So sind Albine Nagel, eine der genialsten
Interpretinnen der Salome, und Loie Fuller wiederholt als
Salome gemalt worden, und eine der schönsten Salomeplastiken,
die Skulptur von Fritz Klimsch, ist der Duse nachgebildet. Die
modernen Maler und Bildhauer haben auch eine Synthese der
in dem Stoff gekennzeichneten zwei Handlungen versucht, so
beispielsweise Lowis Corinth in seinem Bilde: „Salome empfängt
das Haupt des Johannes“, wo die Wollust und Grausamkeit
der Tänzerin noch in dem jungen Weibe zu beben scheint,
das mit brünstiger Neugier das gebrochene Auge des Johannes
zu öffnen versucht. Ebenso hat Klinger in seiner ganz wunder-
baren Plastik „Salome“ die Sinnlichkeit des Weibes mit der
Grausamkeit der Rächerin verschmähter Liebe zu verschwistern
gewußt. Man kann sagen, wenn auch dieses Motiv niemals
restlos gelöst werden wird, weil ewig nur ein Nebeneinander
aber nie ein Ineinander der beiden Handlungen gezeigt werden
kann, so ist dennoch die moderne Kunst der Lösung des
Problems so nahe als möglich gekommen, dadurch, daß sie
auf die seelischen Vorgänge das Hauptgewicht gelegt hat. Und
eins ist ihr im Gegensatz zu ihren Vorgängern unbedingt ge-
lungen: sie hat die wuchtige Erotik des Gegenstandes mit
ebenso unzweideutigem wie überraschendemRaffinement
zu Tage gefördert; oder — wie ein geistreicher Franzose zu
unserem Thema äußert: „Man bemitleidet diesen Johannes, der
um der Laune eines hübschen Weibes willen den Kopf verlor,
ebensowenig wie einen Simson, Holofernes und ähnliche. Denn
kein Tod ist so beneidenswert und groß wie der, den ein in
seiner Liebe verschmähtes Weib schenkt .. .“
H Ө
ЕЁ ГИ ГИ ГИ ГИ ГИ ГИН
ZUR GENESIS UND ENERGIE DER WEIBLICHEN
WERBUNG.
Von Dr. ERNST BERNHARD.
ie Bedeutung des Wortes »Werbung« ist nach zwei Seiten
D hin determiniert. Zunächst bedeutet es den rein physiolo-
gischen Zustand, in demsich das Weib in bestimmten Phasen
ihres sexuellen Daseins befindet, und wo die Werbung jene
Summe von Zuständen umfaßt, die dauernd und gleichmäßig
auf jeden Mann gerichtet sind. Es sind damit also alle Momente
weiblicher Aktivität, die auf das Zustandekommen eines sexu-
ellen Verhältnisses abzielen, gemeint, und in diesem Sinne ist
es erlaubt, die Werbung um den Mann als die stärkste Äuße-
rung des weiblichen Sexualempfindens zu betrachten. Da die
Werbung den eigentlichen und wertvollsten Teil des Sexual-
lebens der Frau ausmacht, ist es nicht unwesentlich, die Form
und Verschiedenheit ihrer Ziele von der männlichen Werbe-
aktivität näher ins Auge zu fassen. Jene zweite Art der Werbung,
die sich weniger in der allgemeinen Anlage, als vielmehr in dem
erotischen Verhalten zweier ganz bestimmter Personen zueinander
aussoricht, tritt zu dem Begriff der Werbung an und für sich nur in
ein sekundäres Verhältnis, da sie vollständig individuell ist und
je nach der Veranlagung und den äußeren Bedingungen, in denen
sich zwei Menschen treffen, ihren Ausdruck wechselt. Der
spezielle und individuelle Flirt, die Koketterie mit ihren mannig-
tachen Formen, sollen demnach in dem vorliegenden Zusammen-
hang nicht näher beschrieben werden. Was uns interessiert
sind lediglich die physiologische Seite der weiblichen Wer-
bung und ihre unterscheidenden Merkmale von der Art der
männlichen Werbung, die fälschlicherweise im Sexualverkehr
als die ausschlaggebende und allein aktive betrachtet wird.
Das Verhalten der Frau während der Dauer ihrer sexuellen
Vollwertigkeit ist nicht ein beliebiges, sondern streng nach
biologischen Gesetzen geregelt. Es unterliegt bei den einzelnen
Individuen nur unerheblichen Schwankungen, vorausgesetzt,
442 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
vorhanden ist, existiert auch eine gewisse Aktivität der Frau,
befindet sich die Frau im Zustand der Werbenden und Emp-
fangsbereiten. Der Umstand aber, daß die Frau von ihrer
Sexualität zufolge ihrer inneren Konstitution in einer weiteren
Ausdehnung beherrscht ist, als der Mann, bringt es mit sich,
daß die Frau stündlich auf den Mann eingestellt ist,
und daß ebenso ihre Libido, wenn auch unbewußt, oder in
maskierter Form stündlich vorhanden ist. Es ist eine falsche
Theorie, die von der Weckung der Libido der Frau spricht,
als wäre das sexuelle Wunschempfinden etwas der Frau fremdes
und erst durch die Berührung mit dem Manne in sie hinein-
getragen. Das Sexualempfinden der Frau ist von dem Augen-
blick der Pubertät an etwas Gegebenes und würde auch ohne
den Kontakt mit dem Manne gleichwohl zum Durchbruch ge-
langen. Das ganze Rätsel der Liebe auf den ersten Blick, die
Möglichkeit der Verführung von gänzlich unerfahrenen weib-
lichen Personen, die instinktive Angst jeder Frau vor einer un-
bestimmten Zukunft und nicht zuletzt die spontanen masturbato-
rischen Manipulationen beweisen diese Tatsache, auch wenn
man den Einfluß besonderer innerer Chemismen nich tanerkennt.
Bei dem Manne wird man vergeblich nach ganz gleichwertigen
Erscheinungen des Sexuallebens suchen, da beim Manne, wie
die neuere Sexualliteratur übereinstimmend konstatiert hat, die
Sexualität durchaus nicht wie beim Weibe die gleiche Rolle
spiel. Der Don Juanismus des Mannes, sein erotisches Drauf-
gängertum, seine ungezügelte Begierde und seine vielbemerkte
geschlechtliche Aktivität sind mehr von äußeren Momenten ab-
hängig, sie bedürfen viel stärkerer äußerer Anreize als beim
Weibe. Die männliche Werbung ist von der Logik be-
herrscht. Der Mann sucht in allem und jedem Gründe und
Gegengründe, seine Erotik entfaltet sich nicht frei, sie erhält
ihre Direktiven vom Gehirn aus, so daß man sagen kann, die
Liebe beim Manne ist mehr ein. logisches Gebäude, eine Folge
seiner Gehirntätigkeit, als instinktives und intuitives Erleben.
Es hat ganze Zeitalter gegeben, in denen diese männliche
Erotik als der höchste Grad der Liebe überhaupt kultiviert
wurde, und wo die Diskussion des Gefühls über das Ver-
gnügen des Erlebnisses selbst gesetzt wurde. Die reinste Kultur
einer so in die Extreme entarteten Erotik findet sich im Rokoko,
in dessen Briefen und Memoirenliteratur eine Fülle illustrativen
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 443
Materials für die rein geistige oder Gehirnerotik vorhanden ist.
Ich verweise nur auf den berühmten Briefwechsel zwischen
der Frau von Deffande und dem Kammerpräsidenten Ludwigs XV.,
Hérault, und auf die Maximen dieser geistigen Ausschweifungen,
die die Traditionen der berlihmten Kurtisanensalons des 17.
und 18. Jahrhunderts, die Weltanschauung der Delorme und
der Ninon de !’Enclos in ihrer vollkommensten Blüte zeigen.
Der Zusammenbruch der Gesellschaft im Rokoko ist infolge-
dessen auch nur eine Folgeerscheinung der ins Unermeßliche ge-
steigerten Genußsucht und der Unfruchtbarkeit im erotischen
Erleben. Die doppelte Seele des Rokoko, das überheizte
Temperament auf der einen Seite und ihre sinnliche Kälte, die
erotische Sterilität andererseits geben auch den tragikomischen
Akkord, der dieser interessanten Epoche einer verflossenen
Kultur anhafte. Die Liebe kann nur ohne die Logik ge-
deihen, sie ist, um einen alten Volksausdruck zu gebrauchen,
das Blümlein, das im Verborgenen blüht, das das grelle, brén-
nende Sonnenlicht meidet und seine dunkelsten Düfte und die
sehnsüchtigsten Farben in der blassen Monddämmerung ergießt.
Die logische Veranlagung des Mannes erklärt es auch, warum
er für das Zustandekommen und den Genuß des Liebeserleb-
nisses äußerer Mittel, namentlich aber die Unterstützung des
Lichtes bedarf. Der Mann liebt nicht aus sich heraus zufolge
eines natürlichen inneren Dranges, sondern dieser Drang wird
gleichsam erst durch das Auftreten der Frau, durch den Kon-
takt mit ihr in ihn hineinverlegt. Daher kann kein Mann eine
Frau lieben, bevor er sie nicht gesehen und nach Tunlichkeit
gefühlt hat, und seine Liebe dauert auch nur so lange an,
solange der Reiz, den die Frau auf ihn ausübt, nicht erlischt.
In der volkstümlichen Volksliteratur ist, wie alle großen Ge-
danken überhaupt, auch diese Idee unbewußt vorausbegriffen.
Es wird von Prinzessinnen erzählt, die sich auf die bloße Er-
zählung von einem schönen Prinzen hin unsterblich in diesen
verliebten und nicht Rast und Ruhe fanden, bis sie sich dem
Geliebten vereinigen durften. Die Prinzen dagegen bedurften
anderer Mittel, um für die unbekannte Schöne in leidenschaft-
licher Begierde zu entflammen. Bald ist es ein Haar, das der
Wind, eine Schwalbe oder ein Singvogel übers Meer getragen
bringen, oder es ist ein Gemälde der fremden Prinzessin, das
ein ungenannter Händler dem Prinzen in die Hände spielt;
444 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
und auf diese Indizien hin entwickelt sich nun jene märchen-
hatte Liebe par distance, die einen so leisen melancholischen
Reiz und so tiefe gedankliche Abgründe in sich birgt. Das
Sehen der Geliebten ist also für den Mann das Bestimmende
für die Entstehung einer erotischen Empfindung. Dazu kommen
die übrigen sinnlichen Anreize, die durch das Gehör, den
Geruch, das Gefühl vermittelt werden. Ein geistreicher Mann
sagte mir, er habe für keine Frau auch nur die leiseste erotische
Empfindung in sich entdeckt, wenn er sie nicht bei vollem
Tageslicht, noch lieber aber übergossen von einem strahlenden
künstlichen Licht sah. Hand in Hand mit der Abhängigkeit
der männlichen Erotik von männlicher logischer Denkweise
geht auch die Erscheinung, daß Männer häufig gegen Frauen,
deren Stimme, Haarduft, Körperwärme sie in der Dunkelheit
berauscht haben, sofort erkalten, wenn sie die Betreffende bei
vollem Lichte gesehen haben. War jedoch die Gelegenheit,
die begehrte Frau zu sehen, nicht günstig und ließ sich der
Mann von seinem Rausch hinreißen, dann kann sich bei ihm
nachträglich eine tagelange tiefe Depression einstellen, die auch
noch nach geraumer Zeit bei Erinnerung an das erotische
Erlebnis im Dunkeln von neuem auflebt. Darin liegt eben der
wesentliche Unterschied zwischen Mann und Frau. Der Frau
bedeutet die Liebe in allen ihren Aeußerungen ein viel inten-
siveres Erlebnis als dem Manne; dieser ist für sie nur das
Mittel, das die in ihr gleichsam aufgestapelte Liebesenergie
auslöst und eine Frau wird demzufolge auch selten nach einem
Geschlechtsverkehr, den sie wirklich herbeigesehnt hat, Ent-
nüchterung, Reue oder gar Ekel empfinden. Im Gegenteil, es
wird selbst dann, wenn sie erkannt hat, daß es sich um einen
häßlichen oder gar minderwertigen Partner gehandelt hat, für
den Mann noch immer ein Rest sympathischen Gefühls übrig
bleiben. Beim Manne ist eine derartige Sublimierung des Ge-
fühles für gewöhnlich ausgeschlossen. Ich verweise zur Illustra-
tion dieses Gedankens auf die meisterhafte Novelle von Guy
de Maupassant, wo ein junger, feingeistiger Aesthet in einer
Großstadtnacht auf eine tiefverschleierte Prostituierte stößt, die
ihn merkwürdig anregt und die ihn dazu bestimmt, sie in seine
Wohnung mitzunehmen. Hier fühlt er an der Entkleideten
einen vollkommen edlen weiblichen Körper und durchkostet
eine Nacht grenzenloser Liebe bis zur Erschöpfung mit ihr.
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 445
Als er früh aufwacht, ist die Frau verschwunden und nur auf
dem Bettkissen, wo ihr Kopf ruhte, entdeckt der Mann zu
seinem Entsetzen einen blutigen Fleck und einige silbergraue
Haare darauf. Die Vorstellung, daß es sich um ein altes Weib
mit einem jungen Körper gehandelt hat, die ihm eine so ge-
waltige Emotion bereiten durfte, löst eine Krise von nervöser
Reue und ungeheurem Ekel in ihm aus. Das Gegenstück zu
dieser Novelle wäre die Schilderung, die eine ähnliche Ent-
deckung an einer sensiblen, feingeistigen Frau hervorrufen
könnte. Dieses Gegenstück ist uns der Dichter schuldig ge-
blieben, aber wir wissen, daß es weder die tragische Groteske,
noch den freudlosen unharmonischen Abschluß für sich bean-
spruchen dürfte.
Weil das weibliche Sexualempfinden die Psyche der Frau völlig
beherrscht, vermag sich die Frau ebensowenig von ihm loszulösen,
wie ihr ganzes Leben Wert und Bedeutung nur während der
Dauer der normalen Funktion ihrer genitalen Organe behält.
Das, was die Frau vor dem Manne auszeichnet, bezw. sie von
ihm radikal unterscheidet, ihre größere Emotionalität, ihre mehr
instinktive als logische Selbstbestimmung, oder anders gesagt,
ihr intuitives Urteil, ihre Ausdauer im Kleinen und ihr oft
völliges Versagen in großen Dingen und die übrigen Aeuße-
rungen eines verengten Bewußtseins; ferner ihre Vorliebe für
Humanität und Toleranz, die aufopfernde Mütterlichkeit und
ihr elementares Hinneigen zur Familie; das alles sind Aeuße-
rungen oder Prämissen ihres erotischen Handelns und daraus
ergibt sich auch die Form und die Energie ihrer Werbung um
den Mann. Zufolge ihrer größeren Abhängigkeit von der
Periodizität innersekretorischer Vorgänge ist ihre Werbung
nicht spontan, sondern immer von innen heraus diktiert und
unterliegt bestimmten Abänderungen an Zeitdauer und Stärke,
die mit dem Auftreten des menstruellen Unwohlseins deutlich
zusammenhängen. Es ist, um noch einmal auf den Vergleich
mit der tierischen Brunst zurückzukommen, mit der weiblichen
Werbung ähnlich, wie mit den Erscheinungen der Brunst beim
weiblichen Tiere. Auch das Weibchen wirbt im Tierreich um
das Männchen, wenn seine Zeit gekommen ist und rastet
nicht eher, bis es zu der geschlechtlichen Vereinigung kommt.
Deutlicher allerdings sind die Symptome der Werbung beim
Männchen vorhanden, denn das Weibchen ist bis zu einem
446 GESCHLECHT UND GESEL| „CHAFT
gewissen Grade immer der duldende, der passive Teil. Im
. Verhältnis zwischen Mann und Weib aber haben sich unter dem
Einfluß der geänderten Konstitution auch geänderte Sitten und
eine verkehrte Form des Werbens ausgebildet. In Wirklich-
keit ist der Mann der Passive und das Weib ist die
Werbende, indem das Weib gleichsam dauernd auf
Suche nach dem Mann aus ist, auf den es seine Reize
am vorteilhaftesten wirken lassen kann. Der Mann ist
gleichsam außerhalb des erotischen Dunstkreises stehend, von
dem das Weib immer und überall umgeben ist, und wird erst
in dem Moment zum Werbenden, wenn er in die Einflußsphäre
eines stärkeren, sexual vollwertigen Weibes getreten ist. Hier-
bei ist die scheinbare Passivität der Frau ihre beste und er-
folgreichste Waffe, ihre natürliche immerwährende Bereitschaft
zum sexuellen Verkehr das wirksamste Anziehungsobjekt, auch
hervorragend geeignet, das einmal eroberte Reich für eine
längere Dauer zu behaupten. Die indirekte, in ihrer Passivität
enorm aktive Werbung der Frau weckt erst das erotische Be-
dürfnis im Manne und schafft die Atmosphäre, in der der
Mann einer wirklichen tieferen Liebe fähig wird. Der Don-
juanismus, der erotische Eklektizismus des Mannes, wäre ohne
die vorangehende energische und zähe Werbung der Frau
durchaus undenkbar, denn nur der Umstand, daß sich der
Mann von so und so vielen Frauen mehr als ein anderer um-
worben fühlt, stachelt seine Erlebnisgier und Genußfähigkeit
zu größten Leistungen an und erhält ihn dauernd in der maso-
chistischen Abhängigkeit von der Frau, die den markantesten
Bestandteil der Donjuan-Psyche ausmacht. Das Weib übt
kraft ihrer Sexualität, d.h. solange sie sich eben im Zustande
der eben geschilderten Werbung befindet, eine verschleierte
Superiorität über den Mann aus, und der Donjuanismus des
Mannes ist in Wirklichkeit nur solange möglich, als diese
Superiorität aufrecht erhalten werden kann. Es ist die größte
Täuschung, der sich ein Mann hingibt, wenn er denkt, daß
seine Eroberernatur sein eigenes, durch die Kunst der Frau
ungeschmälertes Verdienst is. Der Don Juan ist vielmehr
ein Masochist reinsten Wassers, ein Mensch, der
ewig auf der Flucht vor sich selbst begriffen ist, und der
nur darum seine Verhältnisse so häufig wechselt, weil er
bereits in jeder einfachen und unkomplizierten Weibnatur seine
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 447
Herrin wittert. Das Kennzeichen des ewigen Unzufriedenseins
verrät ein minderwertiges logisches Raisonnement, jene Sterilität
des Liebesempfindens, von der ich eingangs der Zeilen bei der
Charakteristik des Rokoko gesprochen habe. Aus dem Grunde
erklärt es sich auch, daß Geister wie Retif de la Bretonne,
Casanova, Choderlos de Laclos und wie die Liebeskünstler der
galanten Epoche heißen, heute wenig mehr angetroffen werden.
Die Logik des Mannes ist weniger paradox, aber natürlicher
geworden und die Werbung der Frau bezw. ihr sexueller
Wert hat sich im Verhältnis zu den verflossenen Zeiten ver-
vollkommnet. Es ist der größte Fortschritt, den die Emanzi-
pation der Frau im 19. Jahrhundert nach sich gezogen hat,
daß die Frau sich intensiver ihrer sexuellen Natur be-
wußt geworden ist und sie konsequenter als früher
auf den Mann eingestellt hat. Die Emanzipation ist eigent-
lich der großartigste Ausdruck weiblicher Werbung und beweist
am deutlichsten die Zähigkeit, mit der die Frau am Werke ist,
um ihr eingeborenes und naturgewolltes Liebesbedürfnis zu
befriedigen. Das Verlangen nach einer neuen Sexualordnung,
nach Gesetzen, die die Mutterschaft und das sexuelle Verhältnis
zwischen Mann und Weib neu regeln, hat seine Wurzeln in
der richtigen Erkenntnis, daß die Frau die eigentliche Trägerin
und Behüterin der Liebe im Leben ist, und auf diesem Umweg
gleichzeitig die Schöpferin und Bewahrerin aller Kultur und
Geistigkeit wird. Daher die Energie, mit der die Frauen an
die Lösung des Emanzipationsproblems schreiten und der große
Aufwand von Mitteln, mit denen sie den Donjuanismus in der
gegenwärtigen Epoche bekämpfen. Das ist sicher; je weniger
Don Juans es geben wird, desto eher kommt die Frau zu
ihrem Recht, desto gefestigter steht das monogame Prinzip da,
desto sicherer ist auf eine wertvolle, produktive Nachkommen-
schaft zu rechnen. Auf die Ausdauer und Energie der weib-
lichen Werbung ist es aber auch zurückzuführen, daß sich in
der Gegenwart alle möglichen Formen des Flirts bis zu seinen
bedrohlichen Auswüchsen ausgebreitet haben, und daß unsere
Kultur das Odium des sittlichen Niedergangs erworben hat,
weil die Schamhaftigkeit in den fraulichen Reihen scheinbar
geschwunden ist und die nackte Sexualität triumphiert. Aber
der Flirt, selbst in seiner brutalsten Ausartung, ist nur ein
Suchen und Tasten des richtigen weiblichen Instinktes nach
448 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
einer erfolgreichen Methode, der Liebe wiederum Raum
in dieser Welt zu schaffen. Es ist begreiflich, daß diese
Methode nicht durchgeführt werden kann, ohne daß sie mit
sexuellen Schäden kämpft und daß wertvolle weibliche Elemente
der Prostitution oder einem partiellen moralischen Zusammen-
broch anheimfallen. Aber die Frau wird es trotzdem durch-
setzen, dank der Energie ihrer Werbung, die ihr durch ihre
natürliche Veranlagung geboten ist, daß uns noch eine Wieder-
geburt der Liebe selbst in dieser harten Zeit empordämmert.
IO B
ÜBER DIE PERSÖNLICHE PROPHYLAXE DER
GESCHLECHTSKRANKHEITEN,
Von Prof. Dr. KARL ZIELER.
Es stehen uns verschiedene Wege zu Gebote, um das ideale
Ziel der Austilgung oder wenigstens der möglichsten Ver-
hütung von Geschlechtskrankheiten zu erreichen. Sie schließen
sich gegenseitig nicht aus, und wir müssen sie sämtlich mit
aller Kraft verfolgen, soll dies Streben einigermaßen von Erfolg
gekrönt sein. So können wir schon auf dem Gebiet der Er-
ziehung durch die Verbreitung der Kenntnis von den Geschlechts-
krankheiten viel erreichen und haben es in den letzten Jahren
erreicht, insbesondere durch die zielbewußte Arbeit der Deutschen
Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. Auch
der Staat kann durch Förderung der öffentlichen Hygiene manches
leisten, so durch eine sachgemäße (sanitäre, nicht polizeiliche)
Prostitutionsbekämpfung.
Bei der geringen Belehrbarkeit des Menschengeschlechts
aber, sobald es sich um den mächtigsten Trieb, den Geschlechts-
trieb, handelt, und so lange wir nicht eine zwangweise Behand-
lung aller Geschlechtskranken haben, ist durch diese Maß-
nahmen nicht sehr viel, jedenfalls nicht wesentlich mehr als
bisher zu erreichen. Das gilt auch mit gewissen Einschrän-
kungen für die Verhütung von Geschlechtskrankheiten bzw. ihre
Verminderung durch sorgfältige ärztliche Behandlung. Die
Lehrpläne und Prüfungsvorschriften für die angehenden Ärzte
sind leider noch nicht derart, daß von jedem jungen Arzt die
völlige Beherrschung dieses so ungeheuer wichtigen Gebietes
DIE ENTHAUPTUNG DES JOHANNES. Von
LUCAS VAN LEYDEN (Sammlung Somree)
Zu dem Aufsatz »Salome«. S. 342
SALOME. Von:BOTICELLI (Florenz, Akademia)
Zu dem Aufsatz »Salome«. $. 342
SALOME, DIE JÜDIN. Von STRATHMANN (Verlag J. J. Weber, Leipzig)
Zu dem Aufsatz »Salome«. S. 342
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 449
nach jeder Richtung hin erwartet werden könnte, wenn auch
gewiß die Verhältnisse sich hierin in den letzten zwei bis drei
Jahrzehnten wesentlich gebessert haben. Allerdings können
heutzutage die Kranken viel leichter als früher sachgemäße
Behandlung und Heilung finden, aber — und das macht eben
die ärztliche Arbeit auf diesem Gebiet zu einer nur teilweise
erfolgreichen —, trotz weitgehender Möglichkeit lassen sich
eben viele Geschlechtskranke garnicht oder nur mangelhaft und
widersinnig (z. B. durch Kurpfuscher) behandeln, so daß
massenhaft Ansteckungsquellen vorhanden bleiben. Die Ver-
hütung ist aber leichter als die Heilung auch bei den Ge-
schlechtskrankheiten, denn diese, und ganz besonders die
Syphilis, sind in ihrem Verlauf schwer im voraus zu beurteilen,
und wohl stets stellt ihre Behandlung und Heilung an Sorgfalt
und Ausdauer der Erkrankten erhebliche Anforderungen.
Bei der außerordentlichen Beliebtheit, der sich trotz aller
damit verbundenen Gefahren der die Hauptquelle der Ver-
breitung der Geschlechtskrankheiten bildende außereheliche
Geschlechtsverkehr erfreut, bleibt demnach als wesentlichstes
Mittel, deren Übertragung zu verhüten, nur die rein persönliche
Prophylaxe. Für den Arzt wird es ja leider meist nicht in
Betracht kommen, der heranwachsenden Jugend mit der Warnung
vor außerehelichem Geschlechtsverkehr Aufklärung über Schutz-
maßregeln gegen eine Ansteckung zu geben. Die Öffentliche
Erörterung dieser Frage verbietet sich aus verschiedenen Gründen,
wenn wir Ärzte auch die bekannten, an sich sehr anerkennens-
werten ethischen und pädagogischen Gründe, mit denen man
diese Aufklärung bekämpft hat, niemals werden gelten lassen
dürfen. Es wird sich für den Arzt deshalb im allgemeinen nur
darum handeln, Patienten, die sich einer Ansteckungsgefahr
ausgesetzt haben und also als wirklich oder nur wahrscheinlich
angesteckt anzusehen sind, die Mittel anzugeben, oder sie selbst
beim Kranken anzuwenden, die geeignet sind, die beginnende
Krankheit im Keime zu ersticken. Da der Gedanke an die
Ausrottung des außerehelichen Geschlechtsverkehrs eine wert-
lose Utopie ist, wenn auch gewiß ein schönes Ideal, so hat
der Arzt die Pflicht, mindestens die Kranken, die mit einer
Geschlechtskrankheit zu ihm kommen und von denen ja als
wahrscheinlich anzunehmen ist, daß sie sich auch weiterhin
Ansteckungsmöglichkeiten aussetzen werden, darüber aufzuklären,
Geschlecht und Gesellschaft VIII, 10. 29
450 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
in welcher Weise sie sich schützen können. Selbstverständlich
hat der Arzt dieselbe Pflicht auch den Patienten gegenüber,
die ohne wirkliche Ansteckung nur mit der Furcht davor ihn
aufsuchen. Wenn der Arzt auf dem Gebiete der persönlichen
Verhütung der Geschlechtskrankheiten vollkommen unterrichtet
ist, welche Mittel sich als brauchbar erwiesen haben, die
Weiterverbreitung einer Geschlechtskrankheit zu verhindern —
und diese Frage kann täglich an den allgemeinen Praktiker
herantreten —, so wird er nicht leicht in Verlegenheit kommen,
wenn er z.B. als Hausarzt gefragt wird, was die Familie tun
soll und wie sie sich schützen kann, wenn etwa ein Glied der
Familie sich eine Geschlechtskrankheit zugezogen hat und nicht
abgesondert werden kann. Infektionen im Kreise der Familie
sind ja noch immer erschreckend häufig. Daß der Unverstand
und der Leichtsinn der Menschen uns diese Arbeit sehr er-
schwert, ist richtig, aber kein Grund, ihr nicht unsere ganze
Kraft zu widmen. Gewiß sollen wir dem Kranken die Er-
krankung nicht schwerer darstellen, als sie wirklich ist. Wir
können aber nicht häufig und energisch genug darauf hinweisen,
wie leicht die Geschlechtskrankheiten, insbesondere die Syphilis,
auf die Umgebung verbreitet werden können und welche
schweren Schäden bei Nichtbeachtung der nötigen Vorsichts-
maßregeln entstehen können. Ich erinnere hier nur an die Fälle,
мо еіп Ehegatte eine Geschlechtskrankheit erwirbt. Wir dürfen
uns dann nicht darauf beschränken, Enthaltsamkeit zu predigen,
sondern müssen von Anbeginn an weitere Vorsorge treffen, um
Schaden zu verhüten, wenn, wie es leider oft geschieht, die
nötige Enthaltsamkeit nicht durchgeführt wird.
Die Fortschritte, die uns die letzten Jahrzehnte in der Er-
kenntnis der Ätiologie der Geschlechtskrankheiten und der
Art ihrer Übertragung gebracht haben, haben uns auch die
Wege gezeigt, wie wir eine Ansteckung verhüten oder eine
schon zustande gekommene Übertragung unschädlich machen
können. Auch früher hat man sich vielfach bemüht, die Über-
tragung der Geschlechtskrankheiten zu verhüten, bei der nicht
ausreichenden Kenntnis der Krankheiten meist mit mangelhaften
Erfolgen. Doch sind auch schon lange durchaus zweckmäßige
Methoden bekannt gewesen, die allerdings unseren heutigen
nur zum Teil gleichkommen.
Wir haben hier allgemeine Maßnahmen zu unterscheiden,
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 451
die für sämtliche Geschlechtskrankheiten in Betracht kommen,
und auch besondere, die wenigstens teilweise abweichend sind,
je nach der Art der Krankheit, gegen die man schützen will,
da die Ansteckungswege und Ansteckungsmöglichkeiten für die
fastallein inFragekommendenKrankheiten Gonorrhoe und Syphilis
verschieden sind und so auch der Schutz gegen sie verschiedenen
Bedingungen genügen muß. Wirksame Mittel gegen den Erreger
der einen Krankheit sind durchaus nicht stets geeignet, in ver-
wertbarer Konzentration denErreger der anderen abzutöten (z.B. ist
Sublimat gegen die Syphilisspirochäten sehr wirksam, gegenüber
Gonokokken nicht brauchbar). Das erfordert eine getrennte
Besprechung, wenn auch praktisch nicht der Schutz gegen
eine, sondern gegen alle Geschlechtskrankheiten erforderlich ist.
Die zur Verhütung der Übertragung von Geschlechts-
krankheiten geeigneten allgemeinen Maßnahmen sind dem Arzt
nicht gerade neu, dem Laien dagegen sind sie noch vielfach un-
bekannt. Schon seit Jahrhunderten ist bekannt, daß peinlichste
Sauberkeit nicht nur nach, sondern auch vor einem Koitus für beide
Teile geeignet ist, Ansteckungen zu verhüten. Je sorgfältiger
die Geschlechtsteile von früher Jugend an regelmäßig, d. h.
täglich gewaschen werden, umso widerstandsfähiger ist deren
Haut gegen oberflächliche Verletzungen. Wer diese selbst-
verständliche Reinigung täglich vornimmt, wird z.B. nie an einem
Eicheltripper erkranken. Noch besser wirkt die Beschneidung,
allerdings nur für die Haut der Vorhaut und Eichel, deren be-
sonders empfindliche Haut dadurch dicker und weniger leicht
verletzlich wird. Bei beiden Geschlechtern ist die Umgebung
der Geschlechtsteile so reich an Drüsen, deren Absonderungen
sich zersetzen und zu Hautreizen oder kleinen Verletzungen
Veranlassung geben können, daß der Hausarzt sich ein großes
Verdienst erwirbt, wenn er immer wieder auf die Notwendig-
keit der täglichen gründlichen Reinigung dieser Teile schon
bei Kindern hinweist. Je empfindlicher und je weniger ab-
gehärtet die Haut der Geschlechtsteile ist, um so leichter ent-
stehen naturgemäß beim Geschlechtsverkehr kleine Risse und
Schrunden, die Infektionskeimen eine Eintrittspforte bieten.
Energisches Waschen mit Wasser und Seife vor und nach dem
Koitus ist auch geeignet, vorhandenen Ansteckungstoff rein
mechanisch zu entfernen und so die Ansteckung zu verhüten,
Peinlichste Sauberkeit ist auch nötig, um die Weiterverbreitung
. 29*
452 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
einer Geschlechtskrankheit z. B. im Kreise der Familie zu ver-
hindern. Dem Laien ist es durchaus nicht immer klar, daß ein
Kranker nicht mit Gesunden das gleiche Bett, Handtuch, EB-
und Trinkgeschirr benutzen darf. Das gilt auch für mangel-
haft gereinigte Badewannen. Durch Leichtsinn, vielleicht auch
durch ungenügende Unterrichtung in diesen Punkten werden
nicht selten Ansteckungen im Kreise der Familie verschuldet.
Denn die sofortige Beseitigung bezw. das gründliche Aus-
kochen aller beschmutzten oder auch nur vom Kranken be-
nutzten Gegenstände beseitigt sicher die Gefahr. Daß direkte
Berührung wie Küssen, Vorkosten etc. insbesondere bei Syphilis
sehr gefährlich sind, muß dem Laien ausdrücklich gesagt
werden.
Welche Rolle der Alkohol spielt beim Zustandekommen
von Geschlechtskrankheiten, ist ja bekannt. Gewiß wird das
sehr übertrieben. Aber wenn auch nur 30°/, aller Ansteckungen
sicher oder wahrscheinlich unter dem Einfluß des Alkohols
entstehen, wie v. Notthafft auf Grund einer sehr sorgfältigen
Statistik angibt, so ist das immerhin noch mehr als reichlich,
Hier wirken verschiedene Schäden zusammen, die das Urteil
trübende Wirkung des Alkohols, die dazu führt, daß auf die
Sauberkeit der Partnerin (oder des Partners) wenig Rücksicht
genommen und auch die nötige eigene Reinlichkeit außer acht
gelassen wird. Dazu kommt, daß der Rausch durch Abstumpfung
des Gefühls zur Verlängerung der geschlechtlichen Berührung
oder gar zu Wiederholungsversuchen führt. So begünstigt die
längere Berührung mit kranken Teilen selbstverständlich sehr
die Möglickeit der Übertragung.
Die Maßnahmen welche im einzelnen empfohlen sind, um
die Übertragung einer Geschlechtskrankheit zu verhüten, müssen
der Forderung Genüge leisten, daß nach Möglichkeit die Be-
rührung kranker Stellen vermieden wird, oder daß, wenn das
doch geschehen ist, der übertragene Krankheitsstoff wieder
entfernt oder abgetötet wird, ehe er Zeit gefunden hat, sich
einzunisten.
Wie kann nun die Übertragung der Gonorrhoe, mit der
wir uns zunächst beschäftigen wollen, verhütet werden?
Hier handelt es sich um verhältnismäßig einfache Be-
dingungen, da von den beim geschlechtlichen Verkehr sich be-
rührenden Körperteilen nicht die äußere Haut, sondern nur die
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 453
Schleimhäute empfänglich sind und es also beim Manne nur
darauf ankommt, die Schleimhaut der Harnröhre zu schützen.
Das geschieht am besten durch das etwa schon zwei Jahr-
hunderte bekannte Kondom, das von seinem Erfinder aus dem
Blinddarm von Schafen hergestellt wurde, jetzt vorwiegend aus
Gummi angefertigt wird und das bei sachgemäßer Anwendung
einen dünnen, undurchlässigen Überzug für den Penis darstellt.
Abgesehen von den immerhin seltenen Fällen, in denen trotz-
dem eine Tripperansteckung erfolgt (durch ungeschickte Hand-
habung, Platzen), bietet es einen sicheren Schutz.
Hat jemand ohne derartigen Schutz sich einer Tripper-
ansteckung ausgesetzt, so ist zwar die beste Zeit für die Ver-
hütung schon verloren gegangen, aber es besteht immer noch
die Möglichkeit, etwa übertragenen Ansteckungsstoff zu ent-
fernen. Außer gründlichster äußerer Säuberung ist das Wichtigste
dann die Abtötung übertragener oder vermuteter Gonokokken
im Anfangsteil der Harnröhre, denn weiter als I—2 cm dringen
die Gonokokken in den ersten Stunden nicht ein. Zu diesem
Zwecke sind eine ganze Reihe handlicher Tropfapparate an-
gegeben worden, zuerst von Blokusewski, der 2°/,ige Höllen-
steinlösung verwendete. Dazu veranlaßten ihn die bekannten
glänzenden Erfolge des Cred&schen Verfahrens bei der Pro-
phylaxe des Augentrippers. Später hat man auch starke
Protargollösungen (10—20°/,), Albargin etc. empfohlen. Der-
artige handliche Apparate sind unter verschiedenen Namen im
Handel: so Samariter (Höllenstein), Viro, Phallokos (Protargol)
etc. Die Silbersalzlösungen dürfen nur verhältnismäßig frisch
verwendet werden, da sie sich nach einiger Zeit zersetzen und
dann starke Reizungen hervorrufen. Man wendet sie derart
an, daß man nach dem Urinlassen, das sehr wohl schon allein
imstande sein kann — und deswegen sich auch nicht mit Un-
recht einer gewissen Schätzung im Volke als Vorbeugungs-
mittel erfreut —, übertragene Gonokokken zu entfernen, einige
Tropfen in die Harnröhre einträufelt und für einige Minuten
darin läßt. Ebenso empfiehlt es sich, auch die Gegend des
Frenulums, bezw. die Hauttaschen rechts und links davon ein-
zuträufeln, da sie leicht Schlupfwinkel für die Gonokokken
sein können. Diese Lösungen bewirken stets einen leichten
Reiz, ganz besonders tun das aber ältere Lösungen. Wenn
also nach deren Anwendung ein Ausfluß erscheint, so braucht
454 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
das nicht auf einer Tripperübertragung zu beruhen. Die Ent-
scheidung darüber, ob es sich um einen Reizungkatarrh oder
um eine beginnende Gonorrhoe bei nicht gelungener Prophy-
laxe handelt, ist selbstverständlich nur durch mikroskopische
Untersuchung zu erbringen. Je früher nach dem Koitus die
Anwendung erfolgt, um so sicherer ist der Erfolg. Aber selbst
einige Stunden nachher lassen sich noch recht günstige Erfolge
erzielen, wie die Anwendung derartiger Methoden bei der
Marine und auch sonst bei Truppenteilen erwiesen hat. Ähnlich
wirksam, aber umständlicher ist die möglichst bald nach dem
Koitus ein- oder zweimalig vorgenommene Einspritzung einer
3—5°/, igen Protargollösung (mit 1°/, Alypinum nitricum) durch
den Arzt oder Ausspülung mit schwachen Silberlösungen
(Höllenstein 1:5000, Albargin 1:1000, Protargol ';,°,, etc.).
Sublimatlösungen sind hierfür wertlos, da sie in nicht reizenden
Verdünnungen die Gonokokken nicht abtöten, in stärkeren
Konzentrationen aber die Ursache unangenehmer Strikturen
werden können, nicht nur von einfachen Reizungen.
Ebenso wichtig wie der Schutz des Mannes gegen die
Tripperansteckung ist der des Weibes. Die Notwendigkeit
dieses persönlichen Selbstschutzes kommt in unserer Zeit natür-
lich nicht nur für die Prostituierten in Frage. Er kann auch
einmal in der Ehe notwendig werden. Für die weibliche Harn-
röhre, die einfacher gebaut und weniger empfindlich ist als
die männliche, eignen sich Einspritzungen (Protargol etc.), für
die Vulva, bezw. für die dort mündenden Drüsengänge Be-
streichen mit undurchlässigen Fetten oder Einreibungen mit
antiseptischen Seifen (Parisolseife, Afridolseife etc.), für die
Scheide Spülungen mit antiseptischen Lösungen, wozu z. B.
Lysol oder auch das für die Harnröhre gänzlich unbrauch-
"bare (s. o.) Sublimat (1 : 1000) verwendet werden kann. Sehr
wichtig ist selbstverständlich der Schutz der Cervix. Okklusiv-
pessare sollen zwar wirksam sein, sind mir aber verdächtig,
da sie ja auch für die Verhütung der Schwangerschaft nicht
zuverlässig sind. Allerdings wird diese Schattenseite durch
eine gründliche antiseptische Scheidenspülung, die dem Koitus
stets zu folgen hätte, wohl aufgehoben. Besser und vor allen
Dingen sauberer wäre ein tief in die Scheide eingeführter und
mit antiseptischer Flüssigkeit getränkter Gazebausch (auch von
1—2°/, iger Isoformgaze), der der Vaginalportion möglichst gut
r
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 455
angepaßt liegen müßte. Die Eignung der antiseptische Zusätze
enthaltenden, zur Konzeptionsverhütung bestimmten Tabletten etc.
zur Gonorrhoeprophylaxe wird zwar von den Fabrikanten be-
hauptet, ist aber sehr fraglich.
Wesentlich schwieriger als bei der Gonorrhoe liegen die
Verhältnisse für die persönliche Prophylaxe gegenüber der
Syphilis. Es handelt sich ja hier nicht um eine Krankheit, die
nur von ganz bestimmten Stellen des Körpers übertragen wird,
sondern um eine Erkrankung, die im Frühstadium gerade an
den Geschlechtsorganen und in ihrer Umgebung, weniger auch
am übrigen Körper, immer wieder zu vielfachen hochansteckenden,
aber oft sehr unscheinbaren Veränderungen führt. Diese Er-
scheinungen können ebenso an den zunächst nicht sichtbaren
Teilen der Schleimhäute, also z. B. zwischen den Falten der
Scheide, vorhanden oder gering ausgebildet sein, daß sie selbst
bei genauester Betrachtung dem Untersucher entgehen. So
können also selbst bei anscheinend unversehrter Haut und
Schleimhaut Spirochäten aus dem Körper austreten und eine
Übertragung vermitteln. Das kann bei der eben jahrelang an-
steckungsfähig bleibenden Syphilis wahrscheinlich selbst an
ganz banalen Erosionen geschehen. Sind solche Veränderungen
beim Partner sichtbar, so müßten sie selbstverständlich die
Veranlassung zum Unterlassen des Geschlechtsverkehrs sein,
ebenso wie Schrunden, Einrisse etc. am eigenen Körper. Da
aber die meisten Menschen, wenn sie sich der Gefahr der An-
steckung aussetzen, nicht daran denken, meist sogar, wenn sie
die Gefahr kennen, so müssen wir mit dieser Tatsache rechnen
und unser Augenmerk darauf richten, wie eine Syphilisansteckung
verhütet werden kann. Auch hier handelt es sich in erster
Linie darum, die Berührung kranker Stellen zu verhindern.
Das geschieht bis zu einem gewissen Grade durch die Ver-
wendung eines Kondoms, das wenigstens einen Teil der Organe,
den Penis und die Vagina, schützen kann. Daß das aber bei
weitem nicht ausreicht, sehen wir z.B. an den nicht so über-
mäßig seltenen Fällen, in denen ein Primäraffekt an der Wurzel
des Penis, also gerade dort, wo der Schutz des Kondoms auf-
hört, sich ausbildet! Ebenso ist natürlich die zarte Haut in der
Umgebung der Geschlechtsorgane gefährdet. Der Schutz der
gefährdeten Teile vor dem geschlechtlichen Verkehr ist auch
hier wichtiger als die sorgfältigste nachträgliche Reinigung, die
456 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
für sich allein jedenfalls weniger Schutz bietet. Deshalb hat
man hierfür schon längst gründliche Einfettung (Neisser u. a.)
empfohlen, die, wenn ein Kondom nicht benutzt wird, auch
für das Glied sehr nützlich sein kann. Eine derartige Ein-
reibung der Geschlechtsorgane und ihrer Umgegung, die aber
alle Falten treffen müßte, allein mit Fetten wie Vaseline, kann
sehr nützlich sein, da die Fette im allgemeinen das Eindringen
von Infektionserregern hindern. Zulässig ist dieser Schutz aller-
dings auch nicht, denn trotz gründlichster Einfettung kann
durch den Koitus an einzelnen Stellen das Fett abgewischt
und so dem Syphilisgift eine Eintrittspforte geschaffen werden.
Mit der Entdeckung der Übertragbarkeit der Syphilis auf
Tiere mußten natürlich auch die Bestrebugen zur Verhütung
der Syphilis neue Nahrung gewinnen.
Diese Bestrebungen sind zwar schon sehr alt, und die auf
Grund theoretischer Überlegungen oder reiner Empirie vor-
geschlagenen Mittel waren durchaus nicht alle wertlos. So hat
man bald nach dem Auftreten des Syphilis Waschungen mit
Wein empfohlen, teils rein, teils gemischt mit Urin, Terpentin,
Guajakolabkochungen etc. Auch Quecksilbersalben sind schon
Anfang des 13. Jahrhunderts gerühmt worden, in dessen letzter
Hälfte auch das Sublimat, sogar schon in wirksamster Mischung
mit Alkohol wie in neuester Zeit, die also nichts wesentlich
Neues lieferte. Denn es waren in der Hauptsache auch nur
desinfizierende Lösungen (Sublimat, Hydrarg. oxycyanat.), Queck-
silberseifen und -Salben, von denen man Gutes erwartete.
Aber erst die experimentelle Forschung konnte mit der Möglich-
keit exakter Prüfung am Tier zuverlässige Grundlagen für die
Verhütung der Syphilisübertragung beim Menschen liefern.
Metschnikoff war der erste, der zur Verhütung der Syphilis-
übertragung im Jahre 1906 nach längeren Versuchen mit ver-
schiedenen Ouecksilbersalben eine 33°/, ige Kalomel-Lanolin-
salbe als besonders geeignet gefunden hatte, bei Affen die
Syphilisinfektion zu verhüten. Er hat dann diese Salbe für die
persönliche Prophylaxe vor und nach dem Koitus empfohlen.
Auch beim Menschen (Metschnikoffs Schüler Maisonneuve)
wurde bei experimenteller Übertragung von Syphilisgift die Er-
krankung durch die Anwendung dieser Salbe verhütet. In der
Folgezeit sind aber doch neben günstigen Erfolgen auch eine
ganze Reihe von Syphilisansteckungen selbst trotz sorgfältigster
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 457
Anwendung dieser Salbe nach ärztlicher Anleitung beobachtet
worden. Das ließ weitere Forschungen wünschenswert er-
scheinen, die in sehr eingehender Weise von C. Siebert, einem
Mitgliede der Neisserschen Syphilisexpedition, durchgeführt
worden sind. Siebert hatte zunächst festgestellt, daß Brei aus
Milz, Hoden und Knochenmark frisch syphilitischer Tiere, wenn
er mit den zu prüfenden desinfizierenden Lösungen innig ver-
mischt und nach verschiedenen Zeiten davon mittels Durch-
gießens durch Gaze wieder getrennt worden war, nicht mehr
eine Ansteckung vermittelte, nachdem er nur für kurze Zeit
mit wenig konzentrierten Sublimatkochsalzlösungen in Berührung
gewesen war. Diese Abtötung gelang mit Lösungen von
1: 10000 innerhalb 15 Minuten, während bei gleich konzen-
trierter Sublimatlösungen ohne Kochsalz die Wirkung weit
weniger zuverlässig war, ja sogar oft versagte. Auch Natrium
arsenicosum (1 : 500 bis 1 : 1000) und Chinin in konzentrierteren
(1 :100) Lösungen waren brauchbar. Bei den Versuchen Sieberts,
frisch angelegte Impfstellen an Affen zu desinfizieren (meist
eine Stunde nach der Infektion), ergab sich, daß dazu wesent-
lich höhere Konzentrationen nötig waren und daß das viel
besser durch desinfizierende Lösungen als durch Salben zu
erreichen war. Sublimatlösung 1: 300 verhinderte sogar noch
die Erkrankung 24 Stunden nach der Infektion, während die
Metschnikoffsche Kalomel- und sonstige Quecksilbersalben
im Tierversuch versagten. Das stimmt überein mit der schon
von Robert Koch betonten Tatsache, daß desinfizierende Sub-
stanzen durch die Vermischung mit Ölen bedeutend an Wirk-
samkeit verlieren.
Siebert hat deshalb eineSalbe hergestellt, die kein Fett enthält
und die im bakteriologischen und Tierversuch eine ebenso
starke Sublimatwirkung zeigte wie entsprechend konzentrierte
wässrige Sublimatlösungen, von folgender Zusammenstellung:
Hydrarg. bichlorat. corrosiv. 0,3
Natr. chlorat. 1,0
Traganth. 2,0
Amyl. 4,0
Gelatin. 0,7
Alkohol. 25,0
Glyzerin. 17,0
Aqu. destill. 100,0
458 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Den Alkohol hat Siebert zugesetzt, weil er nach den Unter-
suchungen von Paul und Krönig die desinfizierende Kraft einer
Sublimatlösung erheblich erhöht, das Glyzerin, um das schnelle
Eintrocknen der Salbe zu verhindern. Diese Salbe wird wegen
technischer Schwierigkeiten fabriksmäßig hergestellt und von
der Chemischen Fabrik, vormals Dr. H. Byk (Charlottenburg)
als Neisser-Siebertsche Desinfektionssalbe in Tuben in den
Handel gebracht.
Sie soll vor dem Koitus sorgfältig in die Haut der Ge-
schlechtsorgane bezw. ihrer Umgebung eingerieben werden und
ebenso sofort nachher, nachdem eine gründliche Reinigung der
Teile mit Wasser und Seife und eine Abspülung mit reinem
Wasser voraufgegangen ist. Die Haut muß dabei gut an-
gespannt werden, damit keine Falten der Behandlung entgehen.
Die Behandlung vor dem geschlechtlichen Verkehr ist besonders
wichtig, denn sie kann vèrhindern, daß übertragene Krankheits-
keime überhaupt in die Haut hineinkommen. Ist das aber
schon geschehen, zumal wenn man im Gegensatz zum Tier-
versuch die mögliche Entrittsstelle nicht kennt, so liegen die
Verhältnisse wesentlich ungünstiger.
Schon das sorgfältige Abreiben mit Sublimatlösung 1 : 1000
nach vorheriger Seifenwaschung scheint die Ansteckungsgefahr
sehr herabzusetzen, wenigstens berichtet Tandler nach Unter-
suchungen an der österreichischen Gesandtschaftswache in
Peking, daß von 1560 gründlich mit Sublimat desinfizierten
Fällen nur drei an Syphilis erkrankten. Pinkus empfiehlt auf
Grund der Siebertschen Versuche eine »gründliche Waschung
mit Sublimatlösung, der man einen tüchtigen Schuß Spiritus
zusetzen sollte, und Einwickeln des Gliedes in einen mit dieser
Lösung getränkten Wattebausch für eine halbe Stunde und
länger«. Jedenfalls ein verhältnismäßig einfaches Verfahren,
und je einfacher das Verfahren ist-und je leichter die nötigen
Mittel zu haben sind, um so eher werden wir die Durchführung
erreichen.
Für den Schutz des Weibes vor der Ansteckung mit
Syphilis kommen, soweit es sich um die äußeren Teile handelt,
ebenso Waschungen und Salbeneinreibungen in Frage wie
beim Manne. Die inneren Teile, die Scheide und der Mutter-
mund, werden nur durch ein Mittel zuverlässig geschützt: die
Benutzung des Kondoms durch den verdächtigen Mann.
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 459
Gegenüber dem Tripper und der Syphilis hat der weiche
Schanker wenig Bedeutung. Die Geschwüre sind meistens
schmerzhaft, und wenn sie z.B. am Vorhautrand oder bei der
Frau auch an den äußeren Teilen vorhanden sind, so verbietet
sich der geschlechtliche Verkehr eigentlich von selbst. Das
Kondom kann nur die inneren Teile wirksam schützen, für die
äußeren Teile sind dieselben Maßnahmen anzuwenden wie für
die Verhütung der Syphilis. Mit deren Verhütung würde also
auch die Übertragung des weichen Schankers, der ja nur eine
rein örtliche Erkrankung ist, ziemlich sicher verhindert.
Bei der großen Bedeutung der Geschlechtskrankheiten nicht
nur für den einzelnen, sondern auch für die Familie und das
Volk, sollte jeder, der außerehelichen Geschlechtsverkehr aus-
übt, auch über die Mittel sich unterrichten können, welche die
Ansteckung verhindern können. Der öffentlichen Ankündigung
und Aufklärung steht allerdings die etwas eigenartige Praxis
unserer Gerichte entgegen, mit der wir rechnen müssen. So
lange Reichstag und Reichsregierung so wenig soziales Ver-
ständnis beweisen, daß sie nicht für das gesetzliche Verbot
der Behandlung von Geschlechtskrankheiten durch Kurpfuscher
zu haben sind, werden wir auch unendlich viele Patienten
überhaupt nicht aufklären können, nicht nur zu ihrem eigenen,
sondern auch zu ihrer Umgebung Schaden.
Das beste Schutzmittel ist selbstverständliich — darauf
muß auch der Arzt nachdrücklich hinweisen — die Enthalt-
samkeit, welche die Gefahr eigentlich vollkommen ausschließt,
wenn wir von den selbst bei uns immer noch zu häufigen
Fällen außergeschlechtlicher Übertragung (Kindergonorrhoe,
Familiensyphilis) absehen. Je weniger oft der Einzelne sich
der Gefahr der Ansteckung aussetzt, um so geringer ist auch
die Wahrscheinlichkeit, daß er erkrankt, besonders wenn er
sich sachgemäß schützt. Im einzelnen Falle muß die persön-
liche Prophylaxe selbstverständlich alle Ansteckungsmöglich-
keiten gleichzeitig berücksichtigen und nicht etwa nur eine
einzelne Geschlechtskrankheit. So wird die Verhütung der
Tripperansteckung durch Tropfapparate sehr häufig geübt, die
Verhütung der Syphilis, trotzdem diese mehr gefürchtet wird,
von denselben Leuten ebenso häufig vernachlässigt.
Eine sachgemäße persönliche Prophylaxe hätte also folgendes
zu berücksichtigen: Sie müßte sich auf beide Teile erstrecken
460 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
und setzt zunächst die gründliche Reinigung der Geschlechts-
teile und ihrer Umgebung vor dem geschlechtlichen Verkehr
voraus. Dem hätte die sorgfältige Einreibung unter Berück-
sichtigung aller versteckten Falten mit der Neisser-Siebertschen
Desinfektionssalbe oder einer ähnlichen wirksamen Salbe oder
Seife zu folgen. Für den Notfall könnte die wohl überall vor-
handene Vaseline oder ein anderes Fett verwendet werden.
Wird dann ein Kondom benutzt, so erscheint ein weiterer
Schutz vor dem Koitus überflüssig. Sonst ist der Schutz
wesentlich unsicherer, da er einigermaßen wirksam dann nur
gegenüber der Tripperansteckung durch Tamponade und Aus-
spülung für das Weib möglich ist. Nach dem geschlechtlichen
Verkehr sollte stets eine gründliche Waschung der Geschlechts-
teile und ihrer Umgebung mit warmem Wasser und Seife und
die nachherige gründliche Einreibung einer desinfizierenden
Salbe (Siebert) folgen. Je sorgfältiger und gründlicher das
geschieht, um so sicherer werden Ansteckungen verhütet. Wird
auf das Kondom verzichtet, so sollte sofort nach dem Koitus
Urin gelassen werden, und außerdem müßten einige Tropfen
einer starken Silbersalzlösung in die Harnröhrenöffnung und
auf die Gegend des Bändchens geträufelt werden. Beim Weibe,
das dann stets mehr gefährdet ist (Syphilis!), wäre eine Ein-
spritzung einer schwächeren Lösung (z. B. Protargol '/;—1°/,)
in die Harnröhre und eine antiseptische Scheidenspülung von
Nutzen.
» Gewiß erscheinen diese Maßnahmen umständlich. Ver-
nünftige Patienten — sie sind allerdings selten — werden aber
schließlich dafür Verständnis haben, daß das, was beim außer-
ehelichen Geschlechtsverkehr vielleicht an Illusionen verloren
geht, wenn beide Teile vor- und nachher peinlichste Sauberkeit
beobachten und die möglichen Schutzmaßregeln anwenden,
niemals so viel wert sein kann als das, was eine Geschlechts-
krankheit an Arztkosten, Arbeitsverdienst und Schädigungen
im beruflichen Fortkommen zu bedeuten hat, ganz abgesehen
von den sonstigen Folgen für den Kranken oder seine Familie.
Auch ein leichtsinniger Mensch wird das einsehen, zumal,
wenn wir ihn noch eindringlich darauf hinweisen, daß es sich
bei den Geschlechtskrankheiten um vermeidbare Krankheiten
handelt, denen man bei Anwendung der nötigen Sorgfalt mit
fast völliger Sicherheit entgehen kann. Zur nötigen Sorgfalt
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 461
gehört selbstredend auch die möglichste Einschränkung
des außerehelichen Geschlechtsverkehrs mit der öffent-
lichen und geheimen Prostitution.
Wie steht es nun zum Schluß mit folgender Frage, die
von intelligenten Patienten gar nicht ‚so selten gestellt wird:
Schützen uns die besprochenen prophylaktischen Maßnahmen
auch sicher vor einer Erkrankung? Denn selbst intelligente
Patienten sind hierin oft unglaublich leichtsinnig und scheuen
selbst die geringe Mühe, welche die als brauchbar anzunehmen-
den Maßregeln verursachen; vielleicht auch in dem Glauben,
daß sie doch wenig zuverlässig seien. Demgegenüber können
wir mit gutem Gewissen betonen, daß die empfohlenen Maß-
nahmen mit größter Wahrscheinlickeit die Ansteckung verhüten,
um so mehr, je sorgfältiger sie durchgeführt werden und je
weniger man sich auf eine Methode verläßt. Es ist gewiß
richtig, daß schließlich jede Methode einmal versagen kann.
Das gilt mehr noch für die Verhütung der Syphilis als für die
des Trippers, der bei der nötigen Sorgfalt absolut vermeidbar
ist. Bei der Syphilis liegen die Verhältnisse ja schwieriger, da
hier die Übertragungsmöglichkeiten so sehr mannigfaltig sind.
Sonst hätten wir eben nicht die noch recht häufigen Berufs-
ansteckungen bei Ärzten und Hebammen, bei denen nicht immer
Unachtsamkeit allein die Schuld trägt. Dafür aber, daß die
sorgfältige Durchführung prophylaktischer Maßnahmen, denen
die experimentelle Forschung eine zuverlässige Grundlage ge-
geben hat, wohl geignet ist, in den allermeisten Fällen die An-
steckungen zu verhüten, liegen bereits hinreichende Beweise
von verschiedenen Seiten vor. Am meisten zeigt das wohl die
zwangsweise Durchführung prophylaktischer Maßnahmen bei
den verschiedenen Marinen und bei anderen Truppenteilen,
die nicht nur für den Tripper, sondern auch für die Syphilis
unerwartet günstige Resultate ergeben hat. Die oben erwähnten
Resultate von Tandler stehen nicht allein, sie sind in ähnlicher
Weise, allerdings nur bei zwangsweiser, nicht bei fakultativer
Durchführung überall erzielt worden, und das, trotzdem die
Anwendung der Schutzmaßregeln meist erst nach mehreren
Stunden erfolgt ist. Das, was hier der Zwang erreicht hat,
müßte der Vernunft des einzelnen Patienten auch möglich sein.
E. B
462 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
MORAL UND EHE IN INDIEN,
Von SENNAH PIARA.
TER Heinz Ewers hat einmal gesagt, man könne in Indien
Monate lang reisen, ohne zwischen Männern und Frauen
auch nur eine Liebesbezeugung zu sehen. Das trifft insofern
zu, als zwei Liebende, die Arm in Arm im Frühling unter
blühenden Bäumen schreiten, hier unten wohl kaum angetroffen
werden, es wären denn durchreisende oder hier ansässige
Europäer. Man könnte nun daraus wohl auf ein gesteigertes
Schamgefühl schließen. Aber das Schamgefühl versagt bei den
Hindus gerade im Hinblick auf die Frau völlig. Die Frau ist
das eigentliche Arbeitstier im Hause, sie steht tief unter dem
»Herrn« und hat ihm gegenüber fast nur den Beruf Weibchen
zu sein. Demgegenüber machen die vornehmen Hindukasten
allerdings eine gewisse Ausnahme. Es ist bekannt, daß un-
endlich viele Kasten die Hindus in streng geschiedene Schichten
spalten, und daß es für den Angehörigen einer hohen Hindu-
kaste schon eine Verunreinigung bedeutet, wenn Eine aus
der untersten Kaste sich ihm-auf etwa 30 Schritte nähert.
Dies alles verbietet, die Moral der Hindus unter einer
gemeinsamen Norm zusammenfassen zu wollen. Zwar geschieht
dies mitunter durch Einheimische ‘selbst, wie ein Aufsatz der
größten Zeitungen Deutschlands zeigte, der im vergangenen
Jahre unter dem Autornamen Dr. Narayan Krishna erschien.
Dr. Narayan Krishna versuchte auch die Moral der europä-
ischen Frau womöglich auf den tiefsten Standpunkt im Gegensatz
zu der des Hinduweibes zu stellen. Hatte der Babu Krishna
damit vielleicht den Beweis völliger Unkenntnis europäischer
Sitten geliefert, so lag in der Beurteilung der Inderin eine
Verallgemeinerung, die jedem, der Land und Leute kennt, in
die Augen fallen mußte. Denn gerade in den oberen Hindu-
kasten offenbart sich eine Laxheit in der Auffassung der
moralischen Verantwortlichkeit, die auch in Europa größer
nicht gedacht werden kann. Allerdings ist es außerordentlich
schwer, die europäische mit der indischen Moral zu vergleichen,
ganz einfach aus dem Grunde, weil die Moral eine Funktion
der Kultur ist und als solche eine nach Völkern und Rassen
abgestufte Entwicklung zeigt. Mit Recht verurteilen wir die
Prostitution in Europa, aber ebensogut gibt es hier eine freie
und eine käufliche Liebe. Nur mit dem Unterschied, daß man
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 463
in Indien ausschließlicher die käufliche vorfindet. Es kommt gar
nicht selten vor, daß die Eltern die Tochter, der Mann seine
Frau für wenige Schillinge irgend einem andern, vielleicht
absolut Unbekannten auf einige Zeit überlassen. Allgemein
kommt so etwas nur in den unteren, höchstens mittleren Kasten
vor. Nun aber stellen gerade diese den überwiegenden Prozent-
satz der ganzen Hindubevölkerung, und bei einer allgemeinen
Beurteilung muß das schwer ins Gewicht fallen. —
Den Reisenden also, die Indien besuchen, fällt es auf, daß
man trotz des Volksgewimmels in den Städten kaum eine
Frau zu Gesicht bekommt. Vom frühen Morgen an — oft
werden die Frauen in Djangel schon morgens um 2 oder 3
auf den Feldern beschäftigt, — arbeiten diese. Haus, Hof und
Feld zu verwalten und zu bestellen liegt ihnen ob, während
der Mann kein Freund anstrengender Beschäftigung ist. Wohl
pflügt er das Feld, aber der größte Teil der Arbeit fällt der
Frau und den meist zahlreichen Kindern zu. In den höheren
Kasten, wo die Männer als Beamte oder Kaufleute tätig sind,
haben es die Frauen natürlich besser. Sie haben ihre zahl-
reiche Dienerschaft und arbeiten nicht. Außerdem hält sich
der vornehme Hindu meist mehrere Frauen. Von einem
seelischen Verhältnis nach europäischer Darstellung ist hier
nicht die Rede, denn der vornehme Hindu lernt seine Frau
kaum früher als in der Ehe eigentlich kennen. Aus dem
Frauengemach des Elternhauses tritt das Mädchen über in die
Sanana ihres zukünftigen Gemahls. Ihre Bildung ist nach
europäischen Begriffen oft dürftig. Nur wenige können lesen
und schreiben, die meisten jedoch wissen die heiligen Bücher
auswendig und haben durch ihre Erziehung immerhin eine
innere Bildung erhalten. Das Frauengemach schließt die Weiber
auch nach der Eheschließung von der Außenwelt ab. Die
Gelegenheit also für die vornehme Hindufrau, zu straucheln,
ist sehr gering.
Was nun aber die laxe Auffassung der moralischen
Pflichten bei den mittleren und unteren Schichten des Hindu-
volkes und seiner Sekten anlangt, so muß man sie eben aus
der kulturellen Unzulänglichkeit der Inder abzuleiten suchen.
Wird nämlich ihr kulturelles und sittliches Gefühl gehoben,
so sind sie in der Lage einen Standpunkt zu erreichen, der
den Europäer erstaunen lassen muß.
464 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Abgesehen von aller übrigen Kulturarbeit, die geleistet
wird, sind die meisten schon heute mit den durchgängigen
europäischen Moralbegriffen vertraut, z. T. dank der Arbeit der
deutschen Missionen. Beispielsweise gilt es als eine schwere
Verfehlung, wenn sich ein Mädchen einem Mann hingibt, der
sie nicht heiraten will. Obwohl nun die Leute solche Dinge
ganz allein unter sich bestrafen, so muß doch der betreffende
Missionar den gefällten Spruch wenigstens begutachten. Zur
Illustration sei mir gestattet, eine kleine Geschichte zu berichten,
die ich vor kurzem erlebte:
In einem einsamen kleinen Djangeldorfe, etwa 70%3km von
der Bahnstation entfernt, hatte die Tochter des reichsten dort
ansässigen Bauern, dem mehrere Dörfer gehörten, vor mehreren
Jahren sich mit einem jungen Manne eingelassen. Das wurde
ruchbar und das Mädchen, die Reichste weit und breit, fand
keinen Mann. Endlich hatte der Vater in einem fernen Dorfe
einen vollständig mittellosen Kuli als Mann für seine Tochter
gefunden. Die Hochzeitsfestlichkeiten waren bereits im Gange,
als plötzlich der Kuli weinend erschien und dem Missionar
erklärte, daß er soeben alles erfahren und nun das Mädchen
nicht heiraten könne. Geld und Gut waren also für diesen
mittellosen Menschen, der weiter nichts besaß als das, was er
auf dem Leibe trug, ohne Bedeutung angesichts der ihm eben
zu Ohren gekommenen Tatsache. Erst nach 2 Tagen gelang
es dem gütig zuredenden Missionar ihn zur Eheschließung zu
bewegen. Das ist nur ein Fall, der aber als typisch angesehen
werden kann und der zeigt, wie die herrschende Moral trotz
puritanischer Grundsätze für humanere Änderungen nicht un-
zugänglich ist. Man verhehle sich aber anderseits nicht, daß
es schwer ist, die Moral zweier verschiedener Rassen ohne
weiteres einander anzupassen. Wenn aber auf der anderen
Seite Krishna die Moralität des Hinduweibes so weit über die
der Europäerin stellt, so bedeutet es noch nicht, daß in Indien
die Politik der Intoleranz allem Europäischen gegenüber all-
gemeine Geltung erlangt hat.
H B
SALOME. Von FERRARY (Aus La »Sculpture au Salon«)
Zu dem Aufsatz »Salome«. $. 342
SALOME (THE DANCING REWARD). Von AUBREY BEARDSLEY
(Verlag John Lane, London). Zu dem Aufsatz Salome. S. 342
GESCHLECHT UND QESELLSCHAFT
VII, 11.
SUN
Ku
Cie
MODEKARIKATUR AUF DIE ÜBERTREIBUNG DER HAARFRISUR
(um 1780).
Zu dem Aufsatz »Zur Psychologie des Kostüms«. S. 486.
В Ак Акак къ;
BÜNDNISFORMEN HOMOSEXUELLER MÄNNER
UND FRAUEN.
Von Dr. MAGNUS HIRSCHFELD.
LS wir die mannigfachen Orte, an denen Homosexuelle
sich die Befriedigung ihrer seelischen und körperlichen
Neigungen verschaffen, Revue passieren, so hat es, oberflächlich
betrachtet, den Anschein, als ob unter ihnen der käufliche
und auf bloßen Geschlechtsgenuß bedachte Verkehr weit häufiger
vorkomme, als höhere Formen der Liebe. Dies trifft aber in
Wirklichkeit nicht zu. Man übersieht, daß alles das, was sich
innerhalb der vier Wände der Wohnung des Urnings abspielt,
der Beobachtung entzogen ist, daß aber nur hier die auf wirk-
lichem Vertrauen und tiefer dauernder Zuneigung begründeten
Verhältnisse ihre stille Stätte finden. Die Grundnatur der
meisten homosexuellen Männer und Frauen ist eine monogame.
Wer viele von ihnen vorurteilslos kennen zu lernen sich be-
müht hat, wird wahrnehmen, daß fast alle Uranier nach einem
einzigen Freund verlangen, und daß auch bei den Uranie-
rinnen eine Freundin zu lieben, die große starke Sehnsucht
ihres Lebens ist. Wenn gleichwohl die homosexuelle Prosti-
tution so weit verbreitet ist, so rührt dies daher, daß die
Anschauungen über die Homosexualität den konträrsexuell Emp-
findenden dorthin treiben, wo möglichst niemand weiß, wer er
ist, auf die Straße, in öffentliche Bäder und Lokale. Würden
sich die Anschauungen über die männliche Homosexualität
ändern, wären sie etwa nur die gleichen wie über die homo-
sexuellen Frauen, dann würden sicherlich die männlichen Homo-
sexuellen sich ebenso wie diese und die Heterosexuellen hin-
sichtlich ihres Liebes- und Geschlechtslebens ungleich mehr auf
ihre Behausung beschränken, zum mindesten würden sie in
der Öffentlichkeit nicht bemerkbarer sein, als die weiblichen
Homosexuellen.
Man kann daher auch konstatieren, daß die gleichgeschlechtliche
Prostitution, je ungünstiger sich in einem Lande die Gesetze gegen den
Uranismus stellen, um so stärker hervortritt, daß ferner in Ländern, in
denen die Auffassungen tolerantere sind, die Hauptkundschaft der Prosti-
Geschlecht und Gesellschaft VII, 11. 30
466 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
tution aus Fremden besteht, die aus Gegenden stammen, wo die An-
schauungen über sie schlechtere sind. Der Uranismus der Einheimischen,
der mit dem käuflichen Verkehr der Straße wenig zu tun hat, tritt dem-
gegenüber fast völlig zurück.
Im ganzen findet man unter den Homosexuellen dieselben
drei Hauptformen sexueller Verbindungen wieder, wie sie
sich im heterosexuellen Liebesleben als Produkte innerer Nei-
gungen und äußerer Lebensumstände entwickelt haben: Ehe-
artige Bündnisse, gekennzeichnet durch die Ausschließlich-
keit und lange Dauer der Beziehungen, das Zusammenwohnen
und den gemeinschaftlichen Hausstand, die Gemeinsamkeit aller
Interessen, nicht selten auch durch faktische Gütergemeinschaft.
Sie sind unter homosexuellen Frauen etwas häufiger, als unter
Urningen; zweitens freiere Liebesverhältnisse von meist nicht
so langem Bestand und relativ größerer Selbständigkeit beider
Partner, drittens käufliche Betätigung mit homosexuellen oder
heterosexuellen Personen, die aus dem Geschlechtsverkehr
materielle und zwar meist pekuniäre Vorteile ziehen. Die Grenzen
zwischen diesen verschiedenen Kategorien können bei den Homo-
sexuellen nicht immer scharf gezogen werden. Zunächst sind
die beiden ersten Gruppen oft schwer zu trennen, weil das
Hauptunterscheidungsmerkmal der Staatsehe vom freien Liebes-
verhältnis — die Sanktionierung — fehlt. Richard Wagner
sagt in der Schrift „Ein Problem der griechischen Ethik“ von
der dorischen Kriegskameradenliebe, daß sie sich nicht weniger
fest als ein Ehebund erwiesen habe. Ferner täuscht die finan-
zielle Abhängigkeit der geliebten von der liebenden Person oft
ein prostitutionsartiges Verhältnis vor, während es in das Hetero-
sexuelle übertragen nichts anderes ist, als wenn ein wohl-
habender Mann für ein von ihm stark geliebtes Mädchen viel
Geld ausgibt, gleichviel ob er sie heiratet oder nicht.
Dem Gedanken, der sich in einer der von Krafft-Ebing!) mitgeteilten
Autobiographien findet: «Gäbe es eine Ehe zwischen Männern, so glaube
ich, würde ich eine lebenslängliche Gemeinschaft nicht scheuen, welche
dagegen mit einem Weibe mir etwas Unmögliches erscheint,» habe ich
. von Homosexuellen oft ähnlich Ausdruck geben hören. Sexuelle und
materielle Momente sind im Liebesleben oft, ja man kann sagen, immer
so fest verbunden, daß es vielfach eine Unmöglichkeit ist, sie absolut von-
einander zu trennen. Hierin sind sich die heterosexuellen und die homo-
sexuellen Bündnisse völlig gleich; bei der Ehe wäre die Mitgift der Frau
1) v. Krafft-Ebing, Psychopathia sexualis, p. 249.
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 467
einerseits, der von dem Manne der Frau gewährte Unterhalt andrerseits
zu nennen; im freien Liebesverhältnisse ist meist der Mann, nicht selten
aber auch die Frau der finanziell stärkere und abgebende Teil; die Prosti-
tuierte beispielsweise lebt vom Oelde des Mannes, das sie oft genug wieder
nach eigenem Bedürfnisse mit einer von ihr geliebten Person teilt.
Alles das findet darin seine Erklärung, daß die Liebe und
das Geschlechtsleben als hohes Wertobjekt empfunden werden,
für die Gegenwerte von den meisten gern geopfert werden.
Die Alten sagten mit feinem Instinkt, daß die Liebe ein Kind
sei von Überfluß und Mangel, Poros und Penia. Aus diesen
Gründen scheint es mir auch recht bedenklich zu sein, im
Liebesleben oft so schwer zu beurteilende Begriffe wie die der
Abhängigkeit und der Gewerbsmäßigkeit als besonders straf-
würdig zu erachten. Nur die Freiwilligkeit der Liebe ist zu
schützen. Gewalttätigkeiten, um sich in den Besitz sexuellen
oder finanziellen Gewinnes zu setzen, sind zu bestrafen. Mehr
ist vom Übel.
Ebenso wie ungeschwächt mit gleicher Liebesstärke fortbestehende
Ehebündnisse im normalgeschlechtlichen Leben nur selten sind, zum
mindesten eine Abschwächung der grobsinnlichen Libido die Regel ist,
wird auch dem monogam veranlagten Homosexuellen das ihm als höchstes
Ideal vorschwebende dauernde, auf gegenseitiger gleicher Liebe basierende
Freundschaftsverhältnis in nur spärlichen Fällen zur Wirklichkeit. Ist doch
für sie die Aussicht, einen Partner zu finden, der ihre Gefühle erwidert,
schon darum eine geringere, weil der Prozentsatz gleichempfindender
Männer gegenüber den weibliebenden an und für sich ein kleinerer ist
und die Neigung vieler Homosexueller sich zudem auf vollmännliche
Typen erstreckt, die naturgemäß mehr bei Heterosexuellen zu finden sind,
die also ihre Liebe niemals erwidern können. Dasselbe gilt mutatis
mutandis von Homosexuellen weiblichen Geschlechts. Es kommt hinzu,
daß ebenso wie bei Normalgeschlechtlichen der Partner, wenn er älter
wird, dem Geschmack nicht mehr so völlig entspricht wie in jüngeren
Jahren.
War der eine von beiden heterosexuell, so ergibt sich eine Lösung
der monogamen Beziehung nach einiger Zeit meist von selbst dadurch,
daß bei dem Normalen früher oder später der Drang zum Weibe sich
mit so unbezwinglicher Gewalt einstellt, daß er ihm nachgeben muß.
Auch in diesen Fällen bestehen oft die freundschaftlichen Beziehungen,
selbst nach der Verheiratung des Normalen, oft noch jahrelang, bisweilen
bis zum Lebensende des einen fort, doch werden sie naturgemäß gewöhnlich
weniger innig sein, als die zwischen zwei Homosexuellen, da das gegen-
seitige Verständnis für ihr verschiedenartiges Liebesempfinden ein ge-
ringeres ist, abgesehen davon, daß die Anforderungen der Ehe und des
Familienlebens den Heterosexuellen zu sehr in Anspruch nehmen. Mehr
aber noch stehen äußere Schwierigkeiten dem Abschluß und der Durch-
30*
468 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
ührung fester homosexueller Verhältnisse im Wege, beispielsweise dadurch,
daß sie das ersehnte völlige Zusammenleben der beiden Liebenden unmöglich
machen. Solche Hindernisse können im Unterschied des Alters und der
sozialen Stellung bedingt sein, Momente, die ja auch oft normale Ehen
unmöglich machen. Verstärkt werden sie noch dadurch, daß das Zu-
sammenwohnen zweier nicht verwandten Personen des gleichen Geschlechts
bei unseren heutigen Kulturbegriffen an und für sich etwas Auffallendes
ist, was allerdings für Männer in höherem Grade zutrifft als für Frauen.
Trotzdem bestehen derart eheartige, viele Jahre, bisweilen das ganze
Leben ausdauernde feste Freundschaftsbündnisse monogamer Homosexueller
auch jetzt noch vielfach und sind mir in nicht geringer Anzahl bekannt.
Carpenter?) erzählt von Bündnissen, welche Liebende desselben Geschlechtes
oft durch einem langen Zeitraum von Jahren miteinander vereinten «in
so unfehlbarer gegenseitiger Zärtlichkeit der Behandlung und Rücksicht-
nahme, wie sie sich sonst nur in den glücklichsten Ehen kundgibt», und
auch Moll berichtet, daß die ‘Liebe vieler Urninge, die sich in der Jugend
entwickelte, mitunter das ganze Leben hindurch bestehen bleibt.
Von diesen Bündnissen führen fließende Übergänge zu den
temporären, mehr oder weniger festen Verhältnissen, die auch
ganz den analogen Erscheinungen im normalen Liebesleben
entsprechen. Wir finden da einmal intime Beziehungen zwischen
gesellschaftlich Gleichstehenden, die sowohl durch sexuelle wie
durch geistige Interessen für kürzere oder längere Zeit mitein-
ander verbunden sind; derartige Verhältnisse können nach- und
nebeneinander in großer Anzahl bestehen; es gibt Urninge, die
meinen, daß durch die Vielseitigkeit solcher Beziehungen ihr
sozialer Wert erhöht wird. Ein charakteristisches Beispiel derart
wechselnder, teilweise gleichzeitig bestehender, aber doch fester
und inniger homosexueller Verhältnisse bieten die Beziehungen
Heinrichs des Ill. zu seinen Mignons, die Dr. von Römer?) so
eingehend geschildert hat. In anderen Fällen wiederum neigen
Urninge der höheren Stände dazu, festere Verhältnisse von
längerer oder kürzerer Dauer mit Angehörigen der unteren
Kreise anzuknüpfen, während Homosexuelle niederen Standes
sich oft gern an geistig und gesellschaftlich höher Stehende
anschließen, wodurch ebenfalls Beziehungen von sozialem Werte
geschaffen werden können, indem das Verständnis der oberen
Zehntausend für die Bedürfnisse und Interessen des Volkes
gesteigert, und das geistige Niveau sozial tiefstehender, aber
emporstrebender Personen gehoben wird. Verbreiten diese die
2) Die Homogene Liebe p. 39.
?) p. 572 ff.: «Heinrich der Dritte, König von Frankreich und Polen.»
Im IV. Bande des Jahrbuchs f. sex. Zw.
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 469
gewonnenen ideellen Werte in ihrem Kreise weiter, kommen
sie auch breiteren Schichten zugute. Ihrer Art nach können
derartige Verhältnisse so überaus verschiedenartig und mannig-
faltig sein, daß eine Schilderung der Einzelheiten Bände füllen
könnte. Eine nach außen unauffällige Form für solche Ver-
hältnisse wird oft dadurch hergestellt, daß der besser Situierte
den Freund als Privatsekretär, Geschäftsführer, Reisebegleiter,
Diener, bei den Persern als »Schenken«, bei Türken und Chinesen
als Pfeifenstopfer engagiert. Es würde natürlich widersinnig
sein, ein derart sekundär aus erotischen Gründen hervor-
gegangenes Abhängigkeitsverhältnis als strafverschärfend bei
der gerichtlichen Verfolgung homosexuellen Verkehrs anzusehen,
da alle Voraussetzungen eines Zwanges oder einer Verführung
dabei fehlen.
Eine ziemlich häufige Erscheinung des homosexuellen Liebeslebens
ist das gleichzeitige Bestehen eines monogamen Verhältnisses bei poly-
gamen Beziehungen des einen oder beider Partner. Es gibt Individuali-
täten, die zu einer derartig doppelseitigen Erotik wie disponiert erscheinen.
Beispielsweise empfindet ein Urning einem älteren Freund gegenüber
feminin, indem er sich hingebend an ihn anlehnt und sich gern lieben
läßt, während er jüngeren gegenüber viril fühlt, seinerseits den Verkehr
mit ihnen sucht, sie unter seinen Schutz nimmt und in seinem Verhalten
ihnen gegenüber aggressiv und aktiv ist. Einer derartigen Natur würde
demnach ein dauerndes festes Verhältnis mit einem älteren Homosexuellen
und daneben wechselnde flüchtige Beziehungen zu Jünglingen entsprechen.
Es sind dies der Bisexualität nahestehende Erscheinungen, aus der sich
ähnliche Verhältnisse ergeben; ein monogam homosexueller Freundschafts-
bund neben polygamer normalgeschlechtlicher Betätigung des einen Partners.
Besonders in eheartigen Frauenfreundschaften der Urninden werden dem
»Vater« nicht selten Seitensprünge als gutes Recht konzediert, die dieser,
wenn sie die »Mutter« beginge, schwer ahnden würde. Also auch hier
gibt es eine doppelte Moral.
Sehr häufig kommt, namentlich wenn beide Partner homosexuell
waren, nach einer grande passion von mehr oder weniger langer Dauer
vor, daß eine leidenschaftliche Liebe in kameradschaftliche Freundschaft
abklingt. Ich kenne Freundespaare, die, nachdem ihre geschlechtlichen
Beziehungen aufgehört hatten, bis zu ihrem Lebensende in treuester Zu-
neigung verbunden blieben. In einigen Fällen knüpfen die Betreffenden
dann überhaupt keine erotischen Beziehungen mehr an, sondern finden
in ihrer Freundschaft und anderweitigen Bestrebungen Ersatz, in anderen
wieder unterhalten beide oder der eine von beiden nebenbei wechselnden
Verkehr mit Personen, die in physischer Hinsicht ihrem Geschmacke ent-
sprechen, ohne daß diese flüchtigen Beziehungen das alte Verhältnis stören.
Der Freund bleibt vielmehr dauernd der Vertraute und Mitwisser auch
aller erotischen Erlebnisse.
470 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Überblicken wir ein nach Tausenden zählendes Material,
so kommen wir zu dem Resultate, daß wir alle die fein nüan-
cierten Abstufungen sexueller Beziehungen, denen wir im nor-
malen Liebesleben begegnen, von festesten, eheartigen Verhält-
nissen bis zu polygamer Universalität der Neigungen, de facto
auch bei homosexuellen Männern und Frauen finden.
Unter 100 homosexuellen Männern und Frauen meiner
Statistik hatten durchschnittlich 33 nur flüchtige, wechselnde
Beziehungen, 67 langdauernde »eheartige« Bündnisse; 8 der
letzteren sprachen von »rein platonischen« Verhältnissen; 59
von den 67 bezeichneten sich als eifersüchtig.
Mit nichts hat Ulrichs seine Zeitgenossen, und zwar die
homosexuellen nicht weniger als die heterosexuellen, so frappiert,
wie mit seiner Forderung sanktionierter Urningsehen; nichts
ist ihm so verdacht worden und hat ihn so sehr in den Ruf
eines Sonderlings gebracht, als diese Idee, die dem einen als
ein bizarres Hirngespinst, anderen geradezu als eine Blas-
phemie erschien. So schreibt Capellmann*): »Diese Forde-
rung kann nur gestellt werden von solchen, denen natürliches
und göttliches Sittengesetz nur mehr leere Worte sind.« Ich
kann mich diesen Auffassungen nicht anschließen, finde viel-
mehr, daß gerade dieser Gedanke zeigt, wie ernst und heilig
Ulrichs die homosexuelle Liebe begriff, wobei er sich außer-
dem auf Beispiele aus der Geschichte und Gegenwart, die wir
seit ihm wesentlich zahlreicher kennen gelernt haben, berufen
konnte, die beweisen, daß tatsächlich sanktionierte Bündnisse
zwischen Personen gleichen Geschlechts ziemlich häufig ge-
schlossen worden sind.
Die wiederholt, unter anderen schon von Urquhart in den
dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts berichtete®) Tatsache, daß auch
noch im heutigen Griechenland, in Epirus und in anderen entlegenen
Provinzen des Balkans sich bisweilen zwei Jünglinge von griechisch-katho-
lischen Priestern ganz in den dortigen Formen der Ehe zusammengeben
lassen, wird von Näcke und anderen auf die uralten hellenischen Traditionen
zurückgeführt.
Sehr bekannt geworden sind die mit aller Feierlichkeit vorgenommenen
Eheschließungen römischer Cäsaren mit ihren Lieblingen. So hat sich
Nero zweimal mit jungen Männern verheiratet: in Griechenland mit Sporus,
4) Pastoral-Medicin. 16. Aufl. Aachen 1906, p. 145.
5) Anastasius: »Fahrten eines Griechen im Orient« von Urquhart, einem
englischem Gesandten; Deutsch von Lindau; erschienen etwa 1830—1840.
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 471
in Rom mit Pythagoras, der nach Suetonius nicht Pythagoras, sondern
Doryphorus hieß, beide Male unter allen Solennitäten der römischen Ehe.
Tacitus erzählt: (annal. 15, 37.) »Den Pythagoras heiratete der Kaiser in
solenner Hochzeit. Gattin war dabei er selbst. Er ließ sich das hochzeit-
liche weibliche Haarnetz aufsetzen (flammeum). Zwei Haruspices wurden
ausgesandt.ce (Um aus dem Vogelflug eine gute Vorbedeutung für die
Ehe zu entnehmen.) »Nicht fehlten Brautbett und Hochzeitsfakeln.«
Aurelius Victor (de Caes, 5, 5 und epit. 5, 5) sagt von dieser Hochzeit:
»Angetan mit dem Hochzeitsgewande einer Braut, erschien er im ver-
sammelten Senate und setzte dem Bräutigam die ihm zuzubringende Mit-
gift aus. Alle mußten die üblichen Formalitäten erfüllen. Er heiratete
nach den Formen der strengen römischen Ehe, der ‚in manum conventio‘,
so daß er sich unter die eheherrliche Gewalt des Mannes begab.< Auch
Martial schildert Liebesbündnisse, die in Rom unter Feierlichkeiten ein-
gegangen wurden; z. B.:
»Barbatus rigido nupsit Callistratus Apro
Hac, qua lege viro nubere virgo solet.
Praeluxere faces; velarunt flammea vultus,
Nec tua defuerunt verba, Thalasse, tibi
Dos etiam dicta est.« (Lib. 12. 42.)
Von des Kaisers Heliogabalus Ehe mit dem Hierokles sagt Lam-
pridius: »Nupsit, ita ut et pronubum haberet.« Petronius schildert aus-
führlich das eheartige Liebesbündnis zwischen dem Urning Enkolpius und
und seinem »frater« Giton. Um dem Kaiser Heliogabalus zu gefallen,
sind sogar Heterosexuelle soweit gegangen, mit Männern Liebesbündnisse
einzugehen, als wären sie selbst Urninge. Lampridius erzählt: »Erant
amici improbi, .. . qui caput reticulo componerant ... qui maritos se
habere jactarent« (cap. 11), sie trugen das weibliche Haarnetz (reticulum
oder flammeum) und rühmten sich, gleich dem Kaiser Ehemänner zu haben.
Die Hochzeitsfeste römischer Cäsaren mit Jünglingen, von denen
die alten Schriftsteller berichten, waren weder ein Vorrecht der Cäsaren
noch der Antike. Die unterbrochene Hochzeitsfeier des Amerikaners
Withney mit einem preußischen Ulanen erregte vor einigen Jahren in
Berlin großes Aufsehen, aber dieser Fall steht durchaus nicht vereinzelt
da. Vor vielen Jahren hatte ich selbst einmal Gelegenheit, einem solchen
Vorgang beizuwohnen. Ein Urning, der mein Interesse für dieses noch so
wenig erforschte Gebiet menschlichen Lebens kannte, schrieb mir, ob ich
der Trauung eines homosexuellen Paares beiwohnen wollte. Ich willigte
ein und fand mich zur angegebenen Stunde Sonntag nachmittags in dem be-
zeichneten Lokal in der Friedrichstadt ein. Als ich eintrat, sah ich gegen
50 Herren, die offenbar den besseren Ständen angehörten, in Gesellschafts-
toilette versammelt; ein Altar, von Blattpflanzen umgeben, war errichtet, zahl-
reiche Kerzen brannten; nicht lange, und es erschien ein älterer bartloser
Herr in der Tracht eines Geistlichen und betrat den Altar. Auf dem Harmo-
nium wurde ein weihevolles Lied gespielt, in das die Versammelten ein-
stimmten. Unter diesen Klängen zog das Brautpaar, von Brautjungfern,
ebenfalls Herren, geführt, ernst und feierlich in den Raum: es waren zwei
junge Leute, der eine Ende, der andere Anfang der Zwanziger, beide im Frack-
472 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
anzug, der ältere trug einen Myrtenstrauß im Knopfloch, der jüngere einen
Myrtenkranz und einen lang herabwallenden Schleier. Der Pseudogeistliche
hielt eine Rede, in welcher er auf die Innigkeit dieser Freundschaftsliebe,
den Entschluß, auch äußerlich den Bund zu besiegeln, hinwies, und beide
aufforderte, in allen Lagen des Lebens treu zueinander zu halten. Beim
Wechseln der Ringe sagte er:
Und nun vereinigt euch das Sakrament,
Bis Zwietracht oder Tod euch trennt.
Dann wieder Musik und allgemeines Beglückwünschen. Auf mein Be-
fragen teilte mir der »Kaplan« — so nannten sie den Geistlichen — mit,
daß er zum neunten Male in dieser Weise amtiere®),
In Berlin gab es ein urnisches Schauspielerpaar, bei dem der jüngere
den Namen des älteren angenommen hat. Ein schwedischer Urning er-
zählte mir, daß es sein höchster Wunsch wäre, einen Freund zu finden,
der seinen Namen führe. Deshalb halte er auch in seiner ausgebreiteten
Familie unausgesetzt nach einem urnischen Verwandten Umschau. Er
hatte die »fixe Idee«, daß er erst, wenn er einen solchen als Freund ge-
funden hätte, seinen Namen zu Recht führen würde. In urnischen Frauen-
bündnissen nimmt ebenfalls häufig die »Mutter« den Namen des »Vaters«
an und wird in ihrem Bekanntenkreise nur mit diesem angeredet. Und
auch hier findet man bei Naturvölkern schon ganz analoge Sitten. So
hat man bei den Balondas’) und anderen afrikanischen Stämmen regel-
rechte Verlöbnis-Zeremonien zwischen Freunden beobachtet, bei denen
jeder einige Tropfen von seinem Blute in den Trank des anderen fließen
läßt. »Dann tauschen sie ihre Namen aus und beschenken sich gegen-
seitig mit dem Kostbarsten, was sie besitzen.®) Es liegen auch von anderen
Volksstämmen ganz verschiedener Himmelsstriche Berichte über rite ge-
schlossene Männer- und Frauenbündnisse vor°), so erst wieder neuerdings
von Breitenstein?) und H. Roth, nach denen in Borneo nicht selten
die Priester förmliche Ehen mit jungen Männern schließen.
Wiederholt ist es auch vorgekommen, daß Urninge ebenso wie Ur-
ninden ohne ihr wahres Geschlecht anzugeben, sich mit Personen ihres
Geschlechts verlobten. So notifizierte der von Fränkel als homo mollis
185312) beschriebene Urning Süßkind Blank eines Tages öffentlich unter
в) Geschildert in dem Artikel: Sind sexuelle Zwischenstufen zur Ehe
geeignet? Von Dr. Hirschfeld, im Jahrbuch f. sex. Zw. Bd. Ill. p. 69/70.
?) Cf. »Naturgeschichte des Menschen, von J. G. Wood. Band
»Afrika« p. 419.
8) Cf. auch Livingstones »Expedition nach dem Zambesis Murray
1865, p. 148. (Zitiert nach Carpenter, Das Mittelgeschlecht, p. 42).
9) Cf. Ulrichs VII, p. 102 und XII. p. 32.
10) Cf. Sexualprobleme 1912, p. 848 und Anm. 93, p. 857: H. Breiten-
stein, »Einundzwanzig Jahre in Indien«, Bd. I. (Leipzig 1899), p. 226.
u) Cf. ibidem und Anm. 94, p. 857: H. Ling Roth, »The Native
Tribes«, Bd. I, S. 270.
12) Medizinische Zeitung des Vereins für Heilkunde in Preußen
Bd. XXII. 1853. S. 102/3.
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 473
dem Namen ;»Friedericke Blank« seine Verlobung mit einem fremden
Handwerker. Blank tötete sich später, ebenso wie ein »Seitenstück« von
ihm, der als »männliche Braut« bekannt gewordene Paradeda, der sich in
Paris mit einem Lehrer verlobt hatte, dem er nach Breslau gefolgt war.
Im Verfolg seiner Anschauungen vertrat Ulrichs den Standpunkt, daß
das Bündnis eines Homo- mit einem Heterosexuellen — die Beziehungen
dieser beiden, nicht die von Urningen untereinander beschäftigte ihn fast
ausschließlich in seinen Schriften — zwar ebenso fest und feierlich ge-
knüpft werden solle, die Lösung aber erheblich leichter sein müsse, wie
diese, einmal weil der Heterosexuelle »dem Liebesgenuß am Weibe, seiner
geschlechtlichen Hauptbestimmung nicht zeitlebens entzogen werden dürfe,
und zweitens, weil die Ehe wesentlich nur wegen desjenigen ihrer Zwecke
für schwer lösbar, bezw. unlösbar erklärt sei, welcher auf Kindererzeugung
und Kinderaufziehung gerichtet ist, dieser Zweck aber beim urnischen
Liebesbündnis wegfällt.«
Häufiger als bei homosexuellen Männern findet man bei
homosexuellen Frauen das Bestreben, ihren Beziehungen einen
eheartigen Charakter zu geben. H. Elisa erwähnt einen Fall
aus England, in dem eine zeremonielle Trauung zwischen zwei
Frauen ohne jede Täuschung vor sich ging. Eine von Geburt
inverse Engländerin von hervorragenden geistigen Fähigkeiten
verband sich mit der Frau eines Geistlichen, der in voller
Kenntnis der Sachlage die beiden Damen in seiner eigenen
Kirche vermählte.
Юаһгеп !*) teilt mit, daß am A Juli 1777 in London eine Frau zu
6 Monaten Kerker verurteilt wurde, die sich, als Mann verkleidet, schon
dreimal mit verschiedenen Frauen verheiratet hatte,
In Friedreichs Blättern für gerichtliche Medizin‘5) wird über den Fall
eines Mannweibes berichtet, das mehrere Jahre mit einem Weibe verheiratet
war. Als es schließlich doch aufkam, wurde sie in Untersuchung gezogen,
wegen Sodomie zum Tode verurteilt und mit dem Schwerte hingerichtet.
Die Mühlhaberin, ihr Weib, will von dem Geschlechte ihres »Gemahls«
keine Kenntnis gehabt haben.
Baumann erzählt aus Paris folgendes Erlebnis:
In einer Maison meublée wohnten zwei in der Mitte der zwanziger
Jahre stehende Fräulein. Die eine war eine imposante Erscheinung von
ausgesprochenem südlichen Typ mit krausen, schwarzen Haaren. Sie
stand als Direktrice einem bedeutenden Modengeschäfte vor. Die andere,
eine allerliebste Blondine, hätte als Ebenbild des deutschen Gretchens
gelten können, wenn sie blaue Augen, statt der feurigen dunkelbraunen
gehabt hätte. Sie war Sekretärin in einer der vielen Privatkliniken. Öfters
19) H. Ellis, Sexualinversion. P. 146, Fußnote.
“) Dühren, Engl. Sittengeschichte Il. Band p. 54.
1») „Ein weiterer Fall von konträrer Sexualempfindung« mitgeteilt
von Dr. F. C, Müller. 1891, p. 279.
474 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
drang Streit aus der Wohnung dieser Damen zu mir herüber, und ich
wurde anfänglich durch das wiederholte, leidenschaftlich ausgesprochene
»Je tiens, que tu seras tout à fait à moi, je et le répète une fois де ріиѕ!«
zur Meinung gebracht, diese Worte seien an den Liebhaber einer der
Damen gerichtet, dessen Benehmen dieser nicht volle Garantie für seine
Treue biete. Im übrigen schenkte ich der Sache keine Beachtung. Nun
traf ich eines Sonntags zufällig in einem der »Robinsons« genannten
Restaurants, die in der Umgebung von Bourg-la-Reine unter den Kronen
der uralten, gewaltigen Bäume errichtet sind, mit den beiden Damen zu-
sammen. Wir kamen ins Plaudern; bisher hatte sich unser Verkehr auf
das beim Begegnen im Hause übliche Grüßen beschränkt. Wie nun das
in Paris vorzukommen pflegt, daß sich selbst bei Leuten, die sich völlig
fremd waren, ein zufälliges Zusammentreffen an einem Vergnügungsorte
rasch zu einem recht gemütlichen Beisammensein gestaltet, so wurde auch
beschlossen, daß wir den Tag zusammen verbringen wollten. Nun sah
ich, daß beide Damen Eheringe trugen und als ich dieselben frug, ob sie
eigentlich verlobt oder verheiratet seien, bekam ich zur Antwort: »Mais
nous sommes mariees, nous deux!« Die Betonung, mit welcher das »nous
deux« gesagt worden war, machte mich stutzig; mir fiel plötzlich der
Streit ein, den ich öfters schon gehört hatte. Da muß ich klar sehen!
Ich fragte deshalb nach ihren Männern. Die beiden lachten hell auf, und
die Direktrice sagte in einem Tone, als wäre das etwas ganz Natürliches;
»Mais voilà, ma petite femme!: indem sie die herzige Blondine an sich
zog und dieselbe dabei mit einem Gesichtsausdruck ansah, der kein glühen-
deres Verlangen bei einem jungen Ehemanne hätte zeigen können, der sein
Weibchen in die Arme schließt. Ich muß bei dieser Erklärung außer-
ordentlich dumm ausgeschaut haben, denn die beiden Fräulein brachen in
lautes Gelächter aus. »Comme ils sont dröles, les Suisses!« rief der > Мапп‹
aus, und beide machten sich über meine »Verständnislosigkeit« lustig. Das
war es aber weniger als wie die Überraschung, daß die Damen die Sache
als etwas Selbstverständliches behandelten, die mich momentan staunen
ließ. Aus dem, was ich jenen ersten Tag und sodann auch in der Folge,
namentlich aus den Gesprächen mit der Sekretärin vernommen hatte, die
mir Vertrauen schenkte und öfters mir ihr Leid wegen der Eifersucht ihrer
Freundin klagte, will ich einiges hier wiedergeben,
Die beiden Damen, von denen die Blondine eine Pariserin war, die
andere aus dem südfranzösischen Departement der Alpes-Maritimes
stammte, hatten sich im gleichen Geschäft kennen gelernt. Als sie auf
einem gemeinschaftlichen Spaziergange sich auf dem Rasenplatze einer
Lichtung des Waldes von Meudon ausruhten, umarmte die Südfranzösin
plötzlich ihre Begleiterin und sagte in stürmischer Aufwallung: »Ah, je
vous aime!« Dann herzte und küßte sie sie leidenschaftlich, und da kam
der Blondine ihre Neigung zum gleichen Geschlechte zum Bewußtsein.
Von nun an waren sie unzertrennlich. Sie nahmen eine gemeinschaftliche
Wohnung und kauften sich Eheringe zum Zeichen der zwischen ihnen
geschlossenen »Ehe«, wie sie diese Verbindung selbst nannten. Da sich
aber die Direktrice in ihrer anormalen Leidenschaft nicht zu beherrschen
wußte, wenn sie sich in Gegenwart ihrer Freundin befand, wurde zur
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 475
Vermeidung unliebsamer Vorfälle beschlossen, daß die Blondine ihre
Bureaustelle wechseln sollte. So kam diese in die Privatklinik, wo bald
ein Flirt zwischen der hübschen Sekretärin und einem der Ärzte entstand.
Dadurch wurde die letztere ihrem »Manne« untreu, denn der Umgang mit
dem Herrn entzückte sie kaum weniger, als der mit der Freundin. Sie
war eben nicht, wie diese, rein homosexuell veranlagt, und eine angenehme
Abwechslung boten ihr auch die Einladungen des Arztes zum Besuche
von Theatern usw., wobei, wie sie sagte, die Begleitung eines Kavaliers
doch etwas ganz anderes sei, als die einer Freundin.
Es dauerte denn auch nicht lange, bis die letztere von diesem Flirt
Kenntnis erhielt. Die Blondine legte ein um so aufrichtigeres Geständnis
ab, als sie glaubte, daß ein Flirt mit einem Manne ja nur ein »Amusement
passager« von ganz anderer Art sei, als das homosexuelle Verhältnis mit
ihrer Freundin. Dieser Meinung aber war die letztere nicht. Sie sagte
kategorisch: Quoiqu’il en soit, de tes caresses cet homme-là consume la
m&me jouissance telle que moi, et j’exige absolument que tu seras à moi
seule!« Immerhin gab sie den Bitten der Freundin nach, sich von diesem
Arzte zu Vergnügungen führen zu lassen: »Je t’aime trop, pour te con-
traindre!« fügte sie der widerwillig gegebenen Erlaubnis bei. Die Liebe
der Südfranzösin zur Pariserin war eine schwärmerische. Aber die sinn-
liche Leidenschaft zugleich eine derart gesteigerte, daß, während ihre
Freundin von der erteilten Erlaubnis Gebrauch machte, die sich mit den
peinigendsten Eifersuchtsgedanken quälte und ihr bei der Rückkehr die
heftigsten Vorwürfe machte. Ein psychologisches Rätsel blieb mir immer,
daß die Blondine die Gewaltherrschaft, welche ihre Freundin auf sie aus-
übte, ertrug und auch, daß alle die Störungen in der Harmonie dieser
»Ehe« rasch vorübergehende waren. Die Sekretärin hatte auf meine dies-
bezügliche Frage ein einfaches: »Elle m’aime tant!« zur Antwort. Gewiß,
sie wurde von der Direktrice sehr geliebt; die Beweise dafür waren zahl-
reich. Und diese Liebe wurde wenigstens in ihrer sinnlichen Begierde
unzweifelhaft aufs wärmste erwidert. Das bezeugten, neben anderen Tat-
sachen, auch die Liebkosungen der beiden, von deren wild-stürmischer
Art das Echo beredtes Zeugnis ablegte.
Wenn hier von »Gewaltherrschaft« die Rede ist, welche die männ-
lichere Homosexuelle auf die feminine ausübt, so entspricht dies meiner
Beobachtung, nach der die stärksten Fälle sexueller Hörigkeit in den ehe-
artigen Verhältnissen vorkommen, die homosexuelle Frauen führen, in
denen die eine Freundin tatsächlich »Wachs« in der Hand der anderen
war, in einem Falle, in dem der Ehemann der einen die Freundin samt
seiner Ehefrau herauswarf und dann die Ehescheidungsklage einleitete,
erklärte die Freundin unverblümt, als ich ihr vorhielt, daß das Verhältnis
der verheirateten Frau mit ihr einem Ehebruch gleichzusetzen sei, »es sei
doch wohl Ehrensache, daß man für die Geliebte in solchen Fällen einen
Meineid schwöre«.
Aus Paris wurde 1907 gemeldet, daß die Marquise de Morny und
die Schriftstellerin Colette Willy auf das Standesamt gegangen seien, um
die Heirat nachzusuchen. Der verblüffte Standesbeamte habe jedoch die
Eheschließung abgelehnt, obgleich er bemerkte, daß er »keinen Text ge-
476 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
funden habe, der eine solche Heirat verbiete«. d’Estoc (Paris-Eros S. 58)
berichtet von einer dreißig Jahre dauernden Tribaden-Ehe. In »The Lancet
Clinic«’) wird ein mehr als fünfzehnjähriges Bündnis zwischen einer
Frau G. und D. beschrieben. Der Schluß des Artikels lautet: >Sie hat in
ihrem ganzen Leben nur für diese eine Frau Zuneigung empfunden; sie
kann nichts Unrechtes in dieser Liebe finden und hält ihr Bündnis für
ebenso heilig wie die Ehe. Dabei wird Frau G. von allen ihren Ver-
wandten und Freunden sehr hoch geschätzt, kurz von allen Menschen, mit
denen sie jemals in Berührung gekommen ist, auch hat sie in ihrem Fache
wirklich Hervorragendes geleistet. Niemand ahnt, daß ihre sexuelle Ver-
anlagung abnorm ist.« Mir selbst ist in Berlin ein Fall bekannt, in dem
es einer homosexuellen Frau, die als Mann lebte, gelang, daß sie, ohne
daß man ihr wahres Geschlecht ahnte, mit ihrer Freundin — sie lebten
bereits zehn Jahre zusammen — kirchlich und standesamtlich getraut wurden.
Am bekanntesten von ähnlichen Fällen ist wohl der von Krafft-Ebing be-
gutachtete der Sarolta (Charlotte) Gräfin Vay geworden, die unter dem
Namen Graf Sandor Vay im Jahre 1888 in Ungarn mit einer von ihr
schwärmerisch geliebten Lehrerin Marie S. eine von einem Pseudopriester
eingesegnete Scheinehe einging.
Wie weit das Ehegefühl homosexueller Frauen, die zu-
sammenleben, gehen kann, zeigt nicht nur die volkstümliche
Bezeichnung der Partnerinnen als Vater und Mutter, sondern
daß tatsächlich beide oft nichts so schmerzlich empfinden, als
die Unmöglichkeit, ein eigenes Kind zu besitzen. Manche
adoptieren ein fremdes Kind oder halten sich wenigstens als
Symbol eine große Puppe. Ein Pariser Mädchen einfacher
Herkunft, das mit einer Berliner Künstlerin ein sehr leidenschaft-
liches Verhältnis hatte, schrieb mir einmal: »Je vis avec une
amie, je désirerais vivement avoir un bébé ď’elle.« Dann ging
es weiter: »Comme je sais que vous pouvez tout faire ....
auriez vous la bonté de nous indiquer un moyen; nous nous
aimons passionnément, donc rien est nous impossible«. Ich
nahm zuerst einen Scherz an und ließ mir die Französin
kommen, um zu erfahren, daß sie in der Unschuld ihres
Herzens tatsächlich an die Erfüllbarkeit ihrer Sehnsucht ge-
glaubt hatte. Sie verließ mich ebenso bekümmert wie ent-
täuscht, als ich ihr die Unentbehrlichkeit des Mannes bei der
Fortpflanzung auseinandersetzte.
Ich führte bereits aus, daß die starke Verpönung des mann-
männlichen Verkehrs die männliche Prostitution wesentlich be-
17) Übersetzung aus »The Lancet Сііпіс« уот 2. November 1912.
— Vol. C VII. No. 18. Seite 487/90. Einige Bemerkungen über die
Psychologie der »sexuellen Inversion« bei Frauen.
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 477
fördert hat; diese Verpönung ist der wesentlichste Grund, daß
der Homosexuelle sich scheut, eine von ihm geliebte Person
zu sich zu nehmen, sich mit ihr ständig zu zeigen oder sich
ihr sichtlicher Weise zu widmen, weil er stets in Furcht ist,
der erotische Charakter dieser Beziehung könne entdeckt, das
Verhältnis beargwöhnt werden. Daher sucht er die geistige
Seite seines Sexualtriebes möglichst zu verstecken und die
körperliche recht geheim und unerkannt zu befriedigen. Es
liegt auf der Hand, daß der Geschlechtstrieb dadurch auf eine
tiefere, man könnte auch sagen auf eine tierischere Stufe herab-
gedrückt wird, andererseits eine Menschenklasse großgezogen
wird, die sich aus der vorübergehenden Hingabe ein einträg-
liches, bequemes Gewerbe schafft.
Es soll damit allerdings nicht behauptet werden, daß diese soziale
und gesetzliche Ächtung die ausschließliche Wurzel der männlichen
Prostitution ist; daß dies nicht richtig ist, geht schon daraus hervor, daß
sie, wenn auch nicht in der gleichen Ausdehnung wie in Ländern mit
Strafbestimmungen, in Gegenden und vor allem in Zeiten nachweisbar ist,
wo das Verständnis für die gleichgeschlechtliche Liebe ein günstigeres
war, als im antiken Griechenland und Rom. Mehr als ein Dichter und
Schriftsteller jener Epochen wendet sich mit Eifer bereits gegen Jünglinge,
die den Meistbietenden feil sind. Offenbar gehören zu den Kunden
männlicher Prostitution außer denen, die sich nicht festere Verbindungen
einzugehen trauen, viele, die bisher das ihrer Triebrichtung voll ent-
sprechende noch nicht gefunden haben, ferner solche, die neben einer
stärkeren monogamen Beziehung auf polygame »Seitensprünge» nicht ganz
verzichten können und wollen, sowie endlich Leute, die gerade unter den
Prostituierten die ihnen seelisch und leiblich zusagenden Typen finden.
Für manche Homosexuelle scheint es geradezu ein psychisches Bedürfnis
zu sein, zum Teil wohl in einem instinktiven Gefühl der Überlegenheit
begründet, den Partner zu bezahlen. Alles in allem sind es fast die
gleichen Ursachen, die auch den normalsexuellen Mann zur weiblichen
Prostituierten drängen, trotzdem er diese sozial eher noch mehr mißachtet,
wie der homosexuelle Mann den Strichjungen.
Auch weibliche Prostituierte gibt es, die nur Urninden zu Gebote
stehen. Bloch!®) schreibt darüber: Diese tribadische Prostitution ist be-
sonders umfangreich in Paris. Man nennt sie ‚gouines‘ oder ‚gougnottes‘
oder ‚chevalieres du clair de lune ә). Auch Tribadenbordelle gibt es in
Paris. Unter den Masseusen großer Städte gibt es stets einige, die
tribadischen Verkehr gegen Entgelt als Spezialität pflegen.
Was aber treibt den männlichen Prostituierten selbst zu
seinem Gewerbe? Hier sind die Ursachen teils endogene, in
18) Bloch, a. a. O. p. 587.
19) Vgl. Martial d’Estoc, Paris-Eros, S. 59.
478 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
den individuellen Besonderheiten der Prostituierten gelegene,
teils exogene, durch äußere Umstände bedingte. Zu den ersteren
gehören in erster Linie gewisse, meistens auf degenerierter An-
lage beruhende Schwächen und Defekte der psychischen Kon-
stitution, ein Mangel an Arbeitslust und Energie, der die Be-
treffenden an körperlicher oder geistig anstrengender und gleich-
mäßiger Tätigkeit keinen Gefallen finden und sie den mühe-
losen Verdienst, den sie sich durch Preisgabe ihres Körpers
verschaffen können, bevorzugen läßt. Die Bereitwilligkeit zur
Prostitution hat ferner eine Abstumpfung des normalen Scham-
gefühls zur Voraussetzung, wie wir ihr ebenfalls besonders
häufig bei Degenerierten begegnen, die dann naturgemäß in
der fortgesetzten Ausübung dieses Gewerbes sich weiter ent-
wickelt. Der Hang zum Genußleben, zu dessen Befriedigung
die Prostitution eine der leichtesten Möglichkeiten bietet, ist
für einem sinnlichen Lebensgenuß zuneigende Naturen bei
beiden Arten gewerblicher Unzucht ebenfalls häufig das treibende
Motiv. Daß die eigene sexuelle Neigung weniger häufig ur-
sächlich in Betracht kommt, geht schon daraus hervor, daß die
Zahl der homosexuell veranlagten männlichen Prostituierten
gegenüber den heterosexuellen relativ nur klein ist, und unter
diesen die Fälle, in denen sich die bezahlte Hingabe auf Per-
sonen beschränkt, die dem eigenen Geschmack der Prostituierten
entsprechen, ein verschwindend geringer ist.
Es gibt aber eine bestimmte Gruppe von Prostituierten, die durch
einen gewissen inneren Drang zum Verkauf ihres Körpers getrieben
werden. Es scheint in dem Umstand, daß die Liebesdienste pekuniär be-
lohnt werden, ein Erfordernis ihrer sexuellen Individualität zu liegen.
Einige Homosexuelle gaben mir offen zu, daß ihnen nur der bezahlte
Verkehr Genuß gewähre. Es wird dadurch auch psychologisch erklärlicher,
daß vielfach Jungen der besseren Stände sich für relativ geringes Entgelt
prostituieren. Vor einigen Jahren suchte mich einmal ein höchst elegant
gekleideter 18 jähriger Amerikaner auf, der auf einer Berliner Schule er-
zogen wurde, um mir folgendes Geständnis zu machen. Er sei Primaner,
stamme aus einer Newyorker Millionärsfamilie, sei so gestellt, daß er sich
keinen Luxus zu versagen brauche; seit seinem 14. Lebensjahr verspüre
er das Verlangen, sich gegen Entgelt Männern hinzugeben. Um von
ihnen angesprochen zu werden, setze er sich nachmittags in die Empfangs-
und Teeräume der vornehmen Hotels. Ein- bis zweimal die Woche er-
reiche er sein Ziel, der Verkehr sei nur mit Herren möglich, die ihn reich-
lich bewirteten und beschenkten, sonst fehlte jede Erregung; er be-
zeichnete sich selbst als geborene Kokotte. Post actum verabscheue er
sich und das so verdiente Geld, er habe es bisher noch nie für sich ver-
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 479
wandt, sondern an Wohltätigkeitsinstitute gegeben; trotz aller Reue und
Selbstvorwürfe unterliege er aber nach wenigen Tagen wieder seiner
»Obsession«.
Gegenüber den inneren Momenten, die zwar in keinem
Falle fehlen, aber naturgemäß weniger in die Erscheinung treten,
sind die äußeren Veranlassungen der männlichen Prostitution
mannigfacher und augenfälliger. In erster Linie ist es die
materielle Not, die bei den männlichen wie bei den weiblichen
Prostituierten als ursächliches Moment in Betracht kommt. Es
kann sich dabei sowohl um einen mehr dauernden Zustand
wie um eine vorübergehende, durch Arbeitslosigkeit oder Krank-
heit bedingte Verlegenheit handeln. Der Mehrzahl nach rekru-
tiert sich aus diesem Grunde die männliche Prostitution aus
den niederen, unbemittelten Volksschichten.
Ein Gelegenheitsprostituierter antwortete auf die ihm von einem
Kriminalbeamten vorgelegte Frage: warum er sich auf dem Strich herum-
treibe, kurz und vielsagend: »um nicht zu stehlen«.
So unglaublich es klingt, es kommt tatsächlich vor, daß mittellose
Eltern ihre heranwachsenden Söhne und Töchter — namentlich wenn sie
durch ein anziehendes Äußere ihnen dazu besonders geeignet erscheinen —
zu diesem traurigen Gewerbe anhalten. Von einem der bekanntesten
Berliner Prostituierten wird zuverlässig berichtet und von ihm selbst be-
stätigt, daß seine eigenen Eltern ihn bereits in seinem 14. Jahre in diese
Laufbahn brachten. Ein Urning teilte mir aus der Unterhaltung, die er
mit einem Prostituierten hatte, folgendes mit: »Der Junge erzählte mir,
daß ihm seine Mutter gesagt habe, er solle nie Geld fordern, sondern mit
dem zufrieden sein, was ihm die Herren freiwillig gäben«. Ganz erstaunt
forschte ich weiter, und es stellte sich heraus, daß seine Mutter selbst das
Gewerbe einer Prostituierten in Eisenach betrieb. Hier strömen im
Sommer viele Fremde, besonders viele Studenten der umliegenden
Universitäten zum Besuche der Wartburg zusammen. Da habe er, als er
17 Jahre alt war, durch seine Mutter einst einen Studenten kennen gelernt,
dem er besser als seine Mutter gefallen habe, und habe diese ihn dann
dem homosexuellen Verkehre zugeführt.
In vielen, in der Großstadt wohl in den meisten Fällen,
wirkt das Beispiel anderer Prostituierter ansteckend oder ver-
führend, sei es, daß diese den betreffenden Jungen direkt auf
die angenehme und leichte Erwerbsquelle aufmerksam machen,
sei es, daß er durch eigene Beobachtung auf ihr Treiben auf-
merksam wird und sich entschließt, ihrem Beispiel zu folgen.
Nur ausnahmsweise kommt es vor, — und solche Fälle können
nicht scharf genug verurteilt werden — daß ein Homosexueller
einen Burschen zur Prostitution verführt, indem er ihn dem
Geschäfte, in dem er arbeitet, entzieht. Häufiger schon kommt
480 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
es vor, daß ein junger Mann, welcher, außer Stellung geraten,
sich vergebens bemüht, wieder in Brot zu kommen, die Be-
kanntschaft eines Urnings macht, mit dem er gegen Entgelt
intim verkehrt. Dieser gibt ihm Essen und Kleidung, behandelt
ihn gut, führt ihn in bessere Kreise ein, was seiner Eitelkeit
schmeichelt. Der bequeme Verdienst, der ihm, falls er selbst
homosexuell veranlagt ist, noch dazu Vergnügen bereitet, das
Faulenzerleben werden ihm so sehr zur Gewohnheit, daß er
nicht mehr davon lassen kann, auch wenn ihm Gelegenheit
geboten würde, in ein ehrliches, arbeitsames Leben zurück-
zukehren. (Schluß folgt).
9 E
SPORT UND SEXUALITÄT.
Von HANS BRUCKE.
E: hat von jeher Vertreter jener Anschauung gegeben, die
da heißt: alles ist sexuell, mit anderen Worten: vieles
Geschehen in uns und um uns ist auf geschlechtliche Ver-
anlagungen und Empfindungen zurückzuführen. Darin ist ohne
Zweifel ein sehr wahrer Kern. Leider verwischte sich die
Klarheit dieses Satzes wieder, und es bedeutete schon einen
großen Schritt vorwärts, als Zell sein »Überskreuzgesetz« für
die Zoologie aufstellte und Jäger mit seiner »Entdeckung der
Seele« an die Öffentlichkeit trat. Dieser stellte Liebe und Haß
oder sagen wir besser Zuneigung und Abneigung dar als die
Folge-Erscheinungen bestimmter »Duftwahrnehmungen«. Die
Träger dieser empfinden Zuneigung, wenn die gegenseitigen
Duftwahrnehmungen direkt verschiedenen oder doch einander
widerstrebenden Charakters, sie empfinden Abneigung, wenn
die Düfte gleichen oder ähnlichen Charakters sind. Wohl-
bemerkt — der Ausdruck »Düfte« ist falsch; es handelt sich
hierbei durchaus nicht um bewußt wahrnehmbare Gerüche;
sondern um Gefühlskomplexe, die wir weiter nicht zerlegen
können. Die Untersuchung von Erscheinungen aber wie Liebe,
Freundschaft, Zuneigung und so fort bis zum Haß auf der
andern Seite gibt uns oft über den Charakter des Einzelnen
wertvolle Aufschlüsse, zeigt uns die Motive seiner Handlungen
und legt manch eine Ursache klar, deren Folgen uns bis dahin
in persönlicher und in sozialer Hinsicht unverständlich waren.
Сие
Umdepeinlanre’ou lo
Vruengherdelatilerte
MODETORHEITEN. Von JAMES GILLRAY.
Zu dem Aufsatz »Zur Psychologie des Kostüms«. $. 486.
Zu dem Aufsatz
»Zur Psychologie des
Kostüms-. S. 486.
PARISER MODEKUPFER (1782). Von DESRAIS. AUGSBURGER MODEKUPFER. Von GÖTZ.
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 481
Der Sport ist ein soziales Problem. Die sexuelle Frage
im Sport ist nicht nur eine ärztliche, sondern auch eine päda-
gogische und eine soziale Frage. Denken wir an den jungen
Nachwuchs, der noch nicht zum Sport gehört, ihm aber dereinst
dienen soll. Wieviel ist hier nicht in die Hand des Pädagogen
gegeben! Und denken wir an das Thema Sport und Weib,
so ergeben sich nicht nur ärztliche, sondern auch einige ernste
kulturelle Fragen!
Der erwachsene Sportsmann muß vor allem über eines
genauen Aufschluß anstreben: Wie verhalten sich sportliche
und geschlechtliche Tätigkeit zueinander? Meist wird die
Erfahrung ihn dahin lehren, daß Höchstleistungen auf beiden
Gebieten sich miteinander ganz und gar nicht vertragen; daß
nur das eine auf Kosten des andern entstehen kann, und eins
stets zu Gunsten des andern zurückgestellt werden muß! Von
den griechischen Olympiakämpfern verlangte man das Gelöbnis
absoluter Enthaltsamkeit auch in der Liebe; in unsern Tagen
verlangt man das gleiche von Rennruderern und zuweilen
auch von Leichtathleten. Diese Forderung ist gewiß ein
Zeichen für den schwerwiegenden Einfluß sexueller Betätigung
auf sportliche Leistungen; und es wäre sehr zu wünschen,
daß auch in andern Sportarten diese Forderung bei jedem
schweren Training eine Selbstverständlichkeit würde.
Nun hat aber auch das schwere Training einmal ein Ende,
und der Sportsmann, der auf seinen Körper hinreichend acht
gibt, steht bald vor der andern Frage: Abstinenz oder Ein-
schränkung? Diese Frage ist auch individuell; keineswegs
aber ist — in der Regel — die völlige Enthaltsamkeit die
beste Lösung. Sie erfordert einen beträchtlichen Aufwand an
Energie und ist dann meist so heimtückisch, zu den un-
passendsten Zeiten zu Pollutionen zu führen. Eine solche vor
dem Wettkampf eintretende Pollution vermag die wochenlange
Arbeit des Trainings zum größten Teil zu vernichten. Auch
aus diesem Grunde erscheint eine planmäßige Beschränkung
der geschlechtlichen Tätigkeit die tatsächlich beste Lösung.
Einzig und allein bei einer Anzahl von Kurzstreckenläufern
kënnte mam von reiner: planmäßigen:! sexuellen Betätigung
seden./ Viele Sprinteronämlich:ifühlen: isichiam:'Tageonäach einem
“eschlechtsakt: derartiigefötdest:iin ihrem! Wohlbefinden; ‚daß
Geschlecht und Gesellschaft VII, 11. 31
482 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
sie den Akt systematisch als ein Reizmittel zur Hebung ihrer
Leistungsfähigkeit benutzen. Tatsächlich laufen sie ein oder
zwei Rennen besser als unter normalen Umständen, dann aller-
dings tritt eine umso intensivere Erschlaffung ein. Dem-
entsprechend kann auch dieses — gewiß eigenartige — Reiz-
mittel nur bei kurzen Energieleistungen in Anwendung kommen;
es ist desto weniger angebracht, je mehr die Ausdauer zu
einem wertvollen Faktor in dem Wettkampf wird. Dann ist
jeder Verlust an Sperma ein Verlust an Nervenkraft, der un-
bedingt nachteilig wirkt.
Übereinstimmend mit dem Satze, daß die planmäßige Ein-
schränkung der geschlechtlichen Betätigung immer noch die
durchschnittlich beste Lösung des Problems darstellt, vermag
man sehr wohl zu sagen, daß solche Betätigung in ihrem aller-
größten Teil durch erhöhte sportliche Tätigkeit abgelöst zu
werden vermag. Ob der überschießende, nicht verbrauchte
Teil nur durch die natürliche Betätigung oder aber auch durch
feinere psychologische Reize auch wieder psychologisch er-
ledigt zu werden vermag, ist eine noch nicht genügend ge-
klärte Frage. Jedenfalls geht das eine aus dem gesagten klar
hervor: Sport und Weib vertragen sich miteinander nie; denn
beide wollen den ganzen Mann!
Das Weib sieht in dem Manne in erster Linie denjenigen
Teil, der die andere geschlechtliche Hälfte gleichsam des
Ganzen bildet und daher selbstverständlich voll und ganz zu
ihm gehört. Daher wird der Sportsmann in dem Weibe
— gemeint ist hier die engere, dauernde, nichteheliche Ver-
bindung wie z.B. das »Verhältnis«, denn der Ehemann scheidet
von selbst aus, — den Faktor erblicken, der ihn nur für sich
gewinnen will, um ihn körperlich und oft auch geistig mit
Beschlag zu belegen. Gelingt dieses, dann mag es gewiß zu
sexuellen Höchstleistungen kommen, der Sportsmann aber wird
verloren sein. Ob diese Erkenntnis überhaupt jemals in das
Bewußtsein des Betreffenden tritt, und wie vor allem hernach
die Entscheidung über das »Entweder — Oder« ausfällt, das
wird immer in erster Linie Sache der individuellen Veranlagung
bleiben. Der Mann mit ausgesprochen starkem Sexualbedürf-
nis wird den Zwiespalt vermutlich nie empfinden, der darin
liegt, daß er ganz sich den Einfällen und Launen des Weibes
unterwirft und auf Kosten seiner Männlichkeit nur dem Weibe
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 483
dient! Er wird, weil er es muß, jedweden Sport mit dem
Hinweis auf das Kindliche derlei Spielereien strikt ablehnen
und wird darin von seiner Partnerin heftig unterstützt werden,
denn sie weiß sehr wohl, daß in allen Männern noch ein weniges
von jener männlichen Anschauung schlummert, die einer
körperlichen Leistung ihre Anerkennung nie ganz versagt. Und
sie weiß auch, daß in dem Maße, in dem solche Anerkennung
wächst, die Sympathie für die Übungen selbst zunimmt, damit
aber die Gefahr sich steigert, daß im Betrachter das Gefühl
der Männlichkeit wächst, er Gefallen und Freude findet an
den Übungen in rein männlichen Tugenden, und daß er
damit langsam und sicher dem Weibe entgleitet.
Das ist die Feindschaft zwischen Sport und Weib!
Der angedeutete Fall ist freilich zumeist nur eine Aus-
nahme. Denn der ausgesprochen stark sexuelle Mann wird
meist das »Verhältnis«e dem Sport vorziehen oder richtiger: er
wird sein Liebesleben neben seinem Sport gleich hoch werten.
Anders verhält es sich mit den sexuell weniger stark ver-
anlagten Naturen. Bei ihnen ist einmal die Möglichkeit größer,
das Geschlechtsbedürfnis oder doch einen großen Teil davon
durch sportliche Tätigkeit zu verdrängen; gemeinhin pflegt der
sexuell weniger Bedürftige das Weib nicht ausschließlich so
hoch einzuschätzen, daß es ihm über alles ginge! Seine Freude
an körperlich anstrengender Tätigkeit, an Spiel und Kampf ist
größer als das Vergnügen an dem Verkehr mit dem andern
Geschlecht. Er wird aus dem Grunde auf diesen leichter ver-
zichten, und sein Hauptinteresse dem Sport zuwenden, ohne
dabei etwas zu vermissen. Jedenfalls lehnt er z.B. ein »Ver-
hältnis« ab, denn höher als das Weib steht ihm der Sport!
Auch hier muß die Veranlagung, und zwar die sexuelle
Veranlagung für ausschlaggebend erachtet werden. Immerhin
bleibt zu bedenken, daß die Grenzen sich nicht haarscharf
trennen lassen und die verschiedenen Betätigungsformen in
einander übergehen. Eins aber ist sicher: es ist ein häßlicher
Anblick, wenn Sportsleute zu Sportfesten mit ihren Damen er-
scheinen. Man wird den Eindruck, daß hier etwas Halbes
sich auftut, nicht wieder los und wird in der Einschätzung
solcher Sportmen beeinflußt. Es ist eben nur ein verschwinden-
der Bruchteil, der sowohl dem Sport als auch dem Weibe dienen
kann, weil beide den ganzen Mann verlangen. Dem Sport
31*
484 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
dient derjenige sicher nicht, der ohne »Übermensch« zu sein,
beides mit einander verquicken möchte!
Alles in allem: die Beurteilung des Sports durch den
Einzelnen erscheint stark abhängig von seiner sexuellen Ver-
anlagung. Von diesem Satz scheint es wie gesagt, nur eine
Ausnahme zu geben (aber selbst hier ist die Ausnahme nur
scheinbar): gemeint ist der sportliche Ästhet!
Der Mann, dem der Sport mehr geworden ist, als eine
körperliche Übung, dem der Rekord ein Symbol ist für mensch-
liche Leistungsfähigkeit, der Mann, der in dem menschlichen
Körper ein Kunstwerk sieht, fähig, zu einer höchsten Schönheit
entwickelt zu werden. Der Mann, der seinen Körper trainiert,
um, wie der Künstler, Leistungen zu schaffen, der da startet,
um das Publikum den Kampf mitempfinden zu lassen, den er
mit seinen Gegnern austrägt; der Mann, der, kurz gesagt
Künstlerisches schaffen, begeistern will, nicht nur für Kraft und
Ausdauer, Schnelligkeit und Energie, sondern auch für die
Schönheit des menschlichen Körpers; der dem Sport dieses
neue Ziel stellt — die männliche Schönheit — der uns lehrt,
daß der Sport hier Verpflichtungen hat, denen er sich nicht
entziehen kann, will er zum Erzieher der Rasse werden. Der
Mann, der in diesem Ziel seine Aufgabe sieht, der für dieses
Ziel kämpft und dafür alles opfert — das ist der andere Typus
des Sportsmannes: das ist der Ästhet im Sport!
Das ist der Sportsmann, bei dem das Weib keine Rolle
spielt; denn Schönheit erkennt er nur dann als solche an, wenn
sie mit Kraft gepaart ist. Sein Liebesbedürfnis müßte somit
gleich null sein. Aber er ist über diese Grenze hinweggegangen
und hat sich von der grobsinnigen Liebe der Schönheit zu-
gewendet. Von der Schönheit der Dinge zu der des mensch-
lichen Körpers überhaupt und weiter zu der Idee der Schönheit
an sich! In deren Dienst stellt er den Sport, er stellt dem
Sport ein neues hehreres Ziel — die Erziehung zur Schön-
heit! Das ist der sportliche Ästhet.
Wie soll man nun hier eine Brücke schlagen von der
sexuellen Veranlagung zu dieser Art der sportlichen Betätigung?
Es scheint, daß das Geschlechtliche hier von allem Grob-
sinnlichen:befreit ist;; und-diei noch übrige feine, zarte-Sinnlich-
keit bdie iin den Verehrung der: Schönheit ı des omännlichen
‚Körpers ‘zum: ‚Ausdruck: :kommt, im Sport, wip їп der. Freund.
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 485
schaft gepflegt und auf diese Weise auf ein soziales Betätigungs-
feld hinüber geleitet wird. Hier opfert sie — fern von aller
Erotik — dem Sport, weil sie die Idee der Schönheit anbetet.
Und nicht selten stammen die großen Idealisten im Sport aus
diesem Lager; sie dienen der Idee als »Kanonen«, als Trainer
usf. und dienen ihr mit einer Hingabe, die beweist, wie sehr
sie der Sache zugetan sind! Sie erfüllen aber auch eine weitere
Aufgabe: sie dienen sozusagen der männlichen Emanzipation
vom Weibe, trotzdem sie ihm anhängen. Aber sie meiden es
nicht und lassen es nicht über sich triumphieren.
Und das ist die andere größere Feindschaft zwischen
Sport und Weib!
Friedrich der Große hat einmal gesagt: Der Mensch ist ein
unverbesserliches Geschöpf von mehr Gefühl als Verstand. In
der Tat spielt das Gefühlsleben in unsern Handlungen eine so
große Rolle, daß wir selten nur über die tieferen Gründe unseres
Handelns uns klar sind. Das ist schon bei uns Älteren der
Fall, um wieviel mehr ist er es bei der Jugend! Aber — war
es nicht immer die Kunst der Erziehung, die guten Saiten im
jungen Menschen erklingen und die schlechten rosten zu lassen?
Denken wir hierbei an die sexuellen Gefahren des vielen
Sitzens für den reifenden Körper: ist auch der Geist willig, so
ist doch das Fleisch schwach und reißt ihn mit sich. Und
beide treiben auf einem gefährlichen Wasser, wo sie nicht hin-
gehören! Der Reiz des Geheimnisvollen und des Neuen hält
sie hier fest. Demgegenüber kann es nur das eine Mittel
geben: man nehme unsern Jungen die sexuellen Reize und
setze bessere an deren Stelle!
Und diese besseren? Das sind die Ziele, die Spiel und
Sport ihnen geben!
Im allgemeinen ist der Ehrgeiz unserer deutschen Jungen,
körperliche Leistungen zu vollbringen, noch recht groß.
Mindestens ebenso groß als das Vergnügen an geschlechtlicher
Ausschweifung. Es bedarf nur der feinen unsichtbaren
Führung, die sie allmählich vor kleinste und kleine und dann
vor größere und große Schwierigkeiten des sportlichen Spiels
stellt! Es bedarf ferner zur rechten Zeit der Erläuterung, daß
ein Erfolg in Spiel und Sport nur dann erwartet werden kann,
wenn das Geschlechtsleben in jeder Hinsicht einwandfrei ist.
(Vgl. Brustmann: Olympisches Trainierbuch Seite 122). Mit
486 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
andern Worten: das Sichaustoben vom dem wir soviel hören,
muß hinübergeleitet werden von dem sexuellen Gebiete auf
das sportliche. Je unmerklicher das geschieht, je erfolgreicher
hierbei der gesunde körperliche Ehrgeiz der Jungen gereizt wird,
desto eher gelingt es, Körper und Geist aus den Banden zu
befreien, die eine verfrühte Erotik um ihn schlangen!
Der Sport weckt den Ehrgeiz. Der Ehrgeiz stellt den
Jungen vor die Alternative: willst du im Sport etwas leisten,
mußt du die geschlechtliche Betätigung lassen; läßt du die
nicht, dann kannst du im Sport nie etwas leisten! Und
außerdem bist du ein schlapper Kerl! Die meisten unserer
Jungen aber kommen einmal an diesen Punkt, wo sie sich selbst
verachten. Das ist dann der Wendepunkt! Gewiß wird der
Junge noch straucheln; aber sein Ehrgeiz beherrscht sein Trieb-
leben mehr und mehr, und es dauert nicht lange, so wird er mit
siegesfroher Gewißheit der tierischen Erotik den Fußtritt geben-
ые B
ZUR PSYCHOLOGIE DES KOSTÜMS
VOM ROKOKO BIS ZUR GEGENWART.
Von Prof. Dr. ADOLF THIMME.
ki wenig man es einem Menschen zum Vorwurf machen
wird, wenn er sich seine Wohnung nicht nur sauber,
sondern auch schön und behaglich einzurichten sucht, so wenig
sollte man es verdenken, wenn er das Bestreben in Betreff
seiner Kleidung hat. Das sollte man nicht als Putzsucht und
Eitelkeit ablehnen, sondern als wichtigen Faktor zur ästhetischen
Bildung und künstlerischen Erziehung würdigen. Denn es
kann keinem Zweifel unterliegen, daß mit unserer Kleidung für
uns ein sehr starkes psychologisches und sexuelles Moment
verknüpft ist. Das ist ganz natürlich, wenn man bedenkt, wie eng
Mensch und Kleid zusammengehören. Die Kleidung ist mit Recht
als des engste Wohnhaus des Menschen bezeichnet worden.
Während unsere eigentliche Wohnung doch in gleicher Form
bestehen bleibt, auch wenn der Bewohner sie verläßt, so sinkt
dagegen die Kleidung in sich zusammen und verliert Halt und
Form, sobald der Mensch herausschlüpft. Kein Wunder also,
wenn das Lebensgefühl des Einzelnen mit dem Kleide zu-
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 487
sammenhängt. Ja, viele Menschen nehmen unbewußt und un-
gewollt mit anderer Kleidung auch ein anderes Wesen an.
Und zwar (wird man behaupten können), je unbefangener und
natürlicher ein Mensch ist, desto deutlicher wird sein Gebahren
von der Kleidung beeinflußt. Man hat das oft an Naturvölkern
belacht, man kann das aber auch an dem Naturvolk, das unter
uns lebt, an den Kindern beobachten. Selbst in der Tier-
welt ist das oft bemerkt worden. Merkwürdigerweise ist es
hier das männliche Geschlecht, das sein Kleid am meisten
und auffallendsten wechselt, und hier wird auch gerade die
selbstbewußte Haltung betont, mit der die Männchen im neuen
Frühlingskleid um die Geliebte werben. In der Menschen-
welt ist man im allgemeinen geneigt, dem weiblichen Geschlecht
nachzusagen, daß es das Kleid am häufigsten wechsle und mit
einem neuen Kleid auch ein neues Wesen anziehe. Aber wer
will das im Ernst behaupten? Denn wer kann sagen, zu welchen
Extravaganzen beispielsweise das männliche Geschlecht verleitet
werden würde, wenn nicht ein notwendiges Maß ihm auferlegt
wäre dadurch, daß es bei feierlichen Gelegenheiten durchweg
in der Zwangsjacke des schwarzen Fracks erscheinen muß!
Wer es bemerkt, wie sehr ein Männerherz, sogar ein ganz altes,
zu schwellen vermag, wenn ihm auch nur ein ganz bescheidener
Orden aufgeheftet wird, der wird es glauben, daß Schmuck und
Kleidung für den Mann wie für die Frau unter dem Zwang
eines gleichen sexuellen Egoismus stehen.
Es ist also sicher, daß sich ein erhöhtes Selbstbewußtsein,
eine erhöhte Temperatur des Lebensgefühls, bei demjenigen
einstell, der im Schmuck eines festlichen Gewandes einher-
geht. Man kann auch nachweisen, daß dieser Faktor längst
vor der Weltgeschichte mit in Rechnung gestellt ist. Wenn
es darauf ankam, die Menschen mit höherem Selbstgefühl zu
erfüllen, das ja auch mit höherem Mute verbunden zu sein
pflegt, so zog man sie eben schöner an. Vor der Schlacht
schmückten sich die Spartaner und bekränzten sich mit Lorbeer
und Blumen, wie zu einem Feste. Der Landsknecht des 16.
und 17. Jahrhunderts verwandte ein Vermögen auf seine farben-
prächtigen Gewänder, und noch heute trägt der Soldat darum
den sogenannten bunten Rock, damit sein Selbstbewußtsein
gehoben wird, und man wird nicht zu behaupten wagen, daß
diese List der Weltgeschichte ohne Erfolg geblieben sei. Auch
488 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
jetzt noch gibt man unsern Kriegern vor der ersten Schlacht
die Sonntagsgarnitur heraus, weil im Festtagskleid seine Kraft,
sein Mut wächst, sein Leben in die Schanze zu schlagen. Und
im Gegensatz dazu wird sich vielleicht auch mancher von uns
entsinnen, wie das eigene Ichbewußtsein plötzlich dahinsank,
wenn er merkte, daß an seiner Kleidung etwas nicht in Ord-
nung war; wenn irgendwo etwas knackte oder riß, während
er den Blicken der Menschen ausgesetzt war, selbst dann,
wenn er selbst den Schaden nicht einmal mit Augen sehen
konnte.
Ebenso sicher ist es ferner, wenn auch vielleicht schwieriger
zu verstehen, daß nicht bloß bei dem einzelnen Menschen das
Selbstgefühl mit der Kleidung differiert, sondern daß auch um-
gekehrt bei einer großen Menge von Menschen, die eine be-
stimmte gleiche Kleidungsart tragen, sich ein gemeinschaftliches
Lebensgefühl oder Körpergefühl einstellen wird, ich meine ein
Gefühl von der eignen bekleideten Körperlichkeit, das sich in
einer anderen Generation mit einer anderen Tracht dann wieder
ändert. So wird z.B. die Gangart, sozusagen das Auftreten,
einer Generation sich ähneln, wenn alle Individuen gleiche
Schuhe tragen. Daß die Chinesen durchweg den unsicher
trippelnden Gang haben, kommt eben von ihren zu kleinen
Schuhen. Spitze Schuhe mit hohen Hacken bringen auf die
Dauer notwendig einen andern Gang hervor, als weite, breite
und leichte Schuhe. Auch heute kann man beobachten, wie
eine junge Dame, die ungeschnürt und in bequemen Schuhen
ohne Absätze zum Tennis eilt, anders geht, sich auch im
ganzen Körper anders bewegt als eine, die in engen Tanz-
schuhen mit hohen Absätzen und mit festgeschnürter Taille,
wodurch das zarte Spiel der edelsten und schönsten Musku-
latur des Körpers von den Schultern bis zu den Hüften ver-
loren geht, im Ballsaal auf und ab stolziert.
Es versteht sich also auch von selbst, daß der gezierte
Rokokomensch des 18. Jahrhunderts eine andere Art hatte, sich
zu bewegen und zu benehmen, als sie etwa zu gleicher Zeit im
»wilden Westen« der Bürger der Vereinigten Staaten von
Amerika haben konnte.
Umgekehrt dürfen wir aber auch behaupten, daß das Auf-
treten einer neuen Tracht auch ein neues Bedürfnis
voraussetzt, ja auch als Zeichen einer neuen geistigen Richtung,
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 489
einer neuen Weltanschauung gelten kann. Eine neue Zeit und
neue Menschen schaffen sich also ein neues Kleid.
Besonders scharf begrenzt und deutlich gegliedert liegt vor
uns die Entwicklung des Kostüms in der Entwicklungsreihe
vom Rokoko durch die Zopfzeit zum Empire und wieder zum
Biedermeierstil. Zugleich ist diese Zeit darum füy uns be-
sonders interessant, weil das Empirekleid, der mittlere Abschnitt
dieser Periode, in der Gegenwart, wenn auch in veränderter
Gestalt, als Reformkleid, wieder auftaucht. Es sind aber in
dieser Zeit eigentlich nicht 4, sondern nur 2 Grundformen
vorhanden, insofern der Zopfstil nur ein Übergang vom Rokoko
zum Empire ist, und der Biedermeierstil nur eine bürgerliche,
man kann wohl sagen plebejische Imitation des adligen und
vornehmen Rokoko. Bleiben also 2 Hauptstile: der des ge-
schnürten und steifen Kostüms, das ist eben Rokoko und
Biedermeier, und des losen und freien Kostüms, das ist das
Empire, das in der Gegenwart als Reformkleid seine Auf-
erstehung feiert.
Entsprechend den beiden Grundformen der Frauenkleidung
könnte man vielleicht auch zwei Arten der Behandlung
der Frauen durch die Männer annehmen. Dem Rokoko ent-
spräche eine Behandlung der Frauen, die man wohl den
Porzellanstil nennen könnte, der, von Frankreich ausgehend,
die Frau als einen Engel mit devoter Ritterlichkeit oder als
kostbare Nippsache mit höchster Vorsicht behandelt, wobei der
galante Mann durchweg rein erotische Absichten hat. Dieser
Stil ist unter der Voraussetzung höchst zivilisierter und vor-
nehmer Geselligkeit gedacht, und deshalb wirkt der gleiche
Stil beim Biedermeier ein wenig unecht. Denn einerseits er-
scheint seine Galanterie als eine Art Anachronismus, und
andererseits ist seine Geselligkeit zwar weit ehrbarer, aber
weniger vornehm, vielmehr billig und bürgerlich. _
Der zweite Stil ist der Kameradschaftsstil, der, von Eng-
land und der deutschen Romantik ausgehend, die Frau zunächst
nicht als geschlechtsverschieden betrachten will, sondern
als gleichgesinnten und gleichgestimmten Kameraden, und
mit ihr auf gleich und gleich verkehren möchte. Diese Form
herrscht im Prinzip im Empire und in der (speziell sogenannten)
Moderne vor.
490 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Diese Verkehrsformen reflektieren nun durchaus auch auf
das Kostüm. Das elegante Rokoko-Kostüm des Kavaliers des
18. Jahrhunderts mit galloniertem Rock und Spitzenjabot, mit
Galanteriedegen, in Kniehosen und seidenen Strümpfen ist der
vollendete Ausdruck der Vornehmheit, aber auch des hoch-
mütigen und sexuell hyperaktiven Egoismus der herrschenden
Kaste, das” heißt der Fürsten und des mit ihnen verbündeten
Adels. Es deutet auf höchste Eleganz der Umgangsformen,
vollendete Sicherheit des Auftretens, Leichtfertigkeit der Moral,
raffinierten Lebensgenuß, aber auch ein Aufgehen in Äußerlich-
keiten und ein Sichbeugen vor dem Zwang der Konvenienz
und Etikette.
In gleichem Sinne wie das Männerkostüm ist das Frauen-
kostüm des Rokoko ein Kleid der Eleganz und Feinheit, aber
zugleich in erhöhtem Maße ein Kostüm des Zwanges, der
Steifheit und Geschnürtheit, und zwar erstreckt sich dieser
Zwang vom Wirbel bis auf die Zehen, von der künstlerischen
Frisur, dem Reifrock bis auf die engen Schuhe. Die eigent-
liche Hochburg dieser sämtlichen Festungswerke bildete das
Korsett, ein von Katharina v. Medici im 16. Jahrhundert er-
fundener, aus dicht aneinandergereihten Fischbeinstäben zu-
sammengfügter Brustharnisch. Über dieses und den ungeheuren
Reifrock floß ein mit vielen Volants garnirtes Seidengewand
herab und über dieses wieder das mit einer Schleppe ver-
sehene Obergewand von anderer Farbe, die Kontuche, die,
mit reichem Besatz geschmückt, vorn auseinanderfiel. Die Ärmel
reichen bis zum Ellenbogen, der lange, parfümierte Handschuh
bedeckt den Unterarm. Jede elegante Dame führte eine Perl-
mutterdose mit schwarzen Schönheitspflästerchen, Fliegen oder
Müschen genannt, bei sich, die bald in die Augenwinkel, bald
auf Wange oder Kinn geklebt wurden. Die Schuhe waren
Stöckelschuhe von buntem Leder oder Atlas, gestickt und mit
Rosetten geziert, vorn spitz zulaufend und mit hohen spitzen
Absätzen versehen.
Das Frauenkostüm des Rokoko ist der Spiegel seiner
Psyche, und diese Psyche ist masochistisch, denn in dem
gesellschaftlichen Leben dieser Zeit spielte die Frau natürlich
die Hauptrolle. Aber überall war diese Rolle durch die
ungeschminkte Galanterie oder Koketterie bedingt. Die Frau
war die parfümierte »grande dame«, die schon vormittags in
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 491
raffiniertem Kostüm, im Bett liegend, die Visiten kourmachender
Verehrer empfing und nachmittags im Salon auf der Kouchette
mit dem kleinen Abb& Schökolade trank, oder als ebenso
parfümierte Schäferin im Park mit eleganten Schäfern mutwillige
oder graziöse Liebeständeleien trieb, wie die Bilder Watteaus
sie darstellen; oder endlich am Abend zwischen Tafelfreuden
und Hazardspiel brillantenübersät ein Feuerwerk des Esprits
in geistreichen Bonmots, feinziselierten Reimereien ersprühen
ließ. Es war aber alles nur für den Augenblick berechnet,
und der Augenblick hat alles verschlungen. In Deutschland
war das geistige Niveau der Frau damals recht gering, sie ging
auf im Haushalt, im Alltagsleben, im Putz und Tändeln. Die
Geschichte der geistigen Kultur Deutschlands verzeichnet da-
her verschwindend wenig Frauen aus jener Zeit. Weder die
Zeit Friedrich Wilhelm I. noch Friedrich II, des großen Weiber-
feindes, war der Entwicklung weiblicher Geistigkeit günstig.
Erst nach Friedrich d. Gr. Tode, am 1. April 1787, konnte in
Berlin die erste höhere Töchterschule, natürlich als Privatschule,
und zwar mit 20 Schülerinnen eröffnet werden. Dagegen hatte
der König es sich angelegen sein lassen, eine große, öffent-
liche und mit allerlei wohltätigen Einrichtungen versehene
Hebammenschule in Berlin zu gründen. Daran nahm er ein
Staatsinteresse, von einer höheren geistigen Bildung der Frauen
aber erwartete er nichts. Die große Anregung für die geistige
Entwicklung der Frauen kam vielmehr von anderer Seite. Es
war die Sturm- und Drangzeit, die einerseits die Heraus-
bildung einer edlen Persönlichkeit verlangte und andrer-
seits den Ruf nach Natürlichkeit und Wahrheit, nach Be-
freiung von Zwang und Konvenienz erschallen ließ. Daher hat
diese neue Zeit auch Einfluß auf die Kleidung, aber, da sie
eine ganz männliche Richtung war, zunächst auf die männliche
Kleidung. Diese neue Männertracht, die Tracht der Genies,
wie man Goethe und seine Genossen im Sturm und Drang
nannte, war die Wertherkleidung, mit der Goethe auch 1775
in Weimar auftrat: ein blauer Rock, gelbe Weste, Lederhosen,
die oft in hohen Stiefeln steckten. Es war keine neue Er-
findung, vielmehr war es die alte Tracht der englischen Land-
junker, die schon im Landprediger von Wakefield vorkommt,
zum Reiten und Jagen geeignet, die von England zunächst
nach Nordamerika verpflanzt wurde.
492 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Das Kostüm des Bürgers der Vereinigten Staaten
(der schlichte Rock, die lange Hose, der runde Hut) wurde
von Benjamin Franklin, dem Gesandten der Vereinigten
Staaten, seit 1776 in Paris getragen und wurde später durch
` die Revolution die herrschende Tracht und somit die Grund-
lage des Männerkostüms auch der Gegenwart. Ein Überrest
des Rokokokostüms aber blieb noch bis heute in den Stickereien
und sonstigen Verzierungen der Hoftrachten und Uniformen
unserer hohen Beamten hängen.
Auch zur Reform des Frauenkostüms wurden damals schon
Versuche gemacht, besonders von seiten der deutschen Auf-
klärer und Philantropinisten. Man rief den gesunden Menschen-
verstand, aber auch Spott und Satire zu Hülfe im Kampfe
gegen die Unnatur und ihren greifbaren Ausdruck, das Rokoko-
kostüm, das aber gerade um diese Zeit, im Jahre 1774, mit
der Thronbesteigung Marie Antoinettes in alter Pracht noch
einmal auflebte.e Mit Beziehung auf dieses Kostüm gibt ums
Jahr 1779 Salzmann in seinem Buche »vom menschlichen Elend«
eine recht drastische Schilderung vom Ankleiden einer Braut.
»Der ganze Vormittag des Hochzeitstages«, heißt es da, »wurde
mit dem Aufputzen der Braut zugebracht. Erst brannte der
Friseur das Haar, dann kämmte er es aus, dann öffnete er
eine Schachtel, die mit allerlei ekelhaften Dingen, wie Pferde-
haar, Menschenhaar, Werg, Schweineschmer angefüllt war, das er
alles an den Kopf der Braut setzte und strich. Dann machte er
ihr schönes braunes Haar (mit Puder) weiß. Sobald alle Spuren
der lieben reizenden Natur vom Kopfe der Braut vertilgt waren,
ging es mit diesem unseligen Geschäfte auch auf den übrigen
Körper fort. Man brachte eine Schnürbrust, die das unglück-
liche Mädchen so stark zusammenpreßte, daß man ihren Leib
beinahe mit zwei Händen umspannen konnte. Nach Endigung
dieser entsetzlichen Zusammenpressung fuhr man fort, den
ganzen Körper zu verunstalten. An die Hüften machte man
fischbeinerne Auswüchse, die dann durch ein langes, weiß-
seidenes Kleid überdeckt wurden. Die Braut, dachte ich, lebt
heute nicht für Gott, nicht für sich, nicht für die Welt, nicht
für ihren Bräutigam, sondern für ihr weißseidenes Kleid, weil
sie zu allem andern unfähig ist, und nur ihre Aufmerksamkeit
darauf richten muß, daß das Weißseidene keine Flecken be-
komme. Zuletzt wurde ein Bedienter gerufen, der, weil die
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 493
Braut sich unmöglich mehr bücken konnte, ihr Strümpfe und
Schuhe anziehen mußte Endlich, da die Braut nun in Gala
dastand, trat ihr Bräutigam herein, und band ihr einen Schmuck
um den Hals.« — Die Porzellanfigur war fertig! —
Die Klagen speziell über die Schädlichkeit und Häßlichkeit
der Schnürbrust verstummen seitdem nicht mehr. Auch von
seiten der Künstler machte man Versuche, den Schaden zu
bekämpfen. Im Jahre 1784 entwirft der Kupferstecher Chodo-
wiecki ein Reformkostüm, das ein griechisches Gewand ohne
Korsett darstellt. Chodowiecki drang mit seiner Idee ja zunächst
durch, aber es muß doch so etwas ähnliches in der Luft ge-
legen haben, denn die später eintretende Umwälzung der Mode
hatte in der Tat die gleiche Tendenz.
Im nächsten Jahre, 1785, sah man auch schon an der
Gründung der ersten großen deutschen Modezeitung durch
Bertuch im Weimar, daß ein neuer Geist heraufzog, und daß
man ein wenig mehr Selbständigkeit dem Auslande gegenüber
zu erlangen suchte. Im Kostüm selbst gewann auch schon
ein wenig mehr Lockerheit Platz. Zwar das enggeschnürte
Korsett bleibt noch in diesem Kostüm der Zopfzeit, aber der
Rock hat schon einen glatteren, von keinen Volants oder
Falbeln unterbrochenen Fall. Die beginnende Lockerheit zeigt
sich zunächst besonders in der Frisur, die statt eines steif aus
der Stirn in die Höhe gekämmten und gepuderten Berges ein
allerdings noch überladenes Arrangement von Locken aufweist,
über dem ein mächtiger, aber leichter Hut thront, aus Stroh
und Flor gefertigt, oder aus Pappe, die mit bunt couleurten
Bändern dicht umwickelt wurde. Der Reifrock wird noch eine
Weile fest gehalten, doch nimmt er bescheidenere Dimensionen
an. Ein Jahr später ist auch der hohe Hut wieder ver-
schwunden, die Haare zeigen ein loses und freies, oft sehr
hübsches Spiel von Wellen und Locken, der Hals ist frei, und
wird nur durch ein bequemes Busentuch lose bedeckt. Es ist
das Kostüm der achtziger und beginnenden neunziger Jahre,
das uns besonders aus den Portraits der Schiller- und Goethe-
zeit bekannt und lieb ist, Bilder voll geistiger Anmut und doch
mit einem Zug von würdevoller Hausfraulichkeit.
ıs:!s PissPrauivon Stein, Charlotte Schiller, Garoline v.Dacheröden,
Mira: >Körner;, die: Frauen und Freundinnen‘ der: Dichteri ‘aus
!Weimars-Glasizzeit,; tragen ıdası Kostüm. Auch Corona
494 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Schroeter, die schöne und liebenswürdige Schauspielerin,
die Freundin Karl Augusts und Goethes, die als Dilettantin
auch andre Künste, z.B. die Zeichenkunst, betrieb und für
etwas emanzipiert galt, kleidet sich so. Eine Fülle von Locken
umrahmt das klassisch schöne Antlitz, das ein großer einfacher
Sommerhut mit langem Schleier bedeckt. Das Kleid zeigt
schon das Streben nach großem und vornehmem Faltenwurf,
zwar die Taille ist noch fest, aber das Ganze bietet schon
den Anblick einer künstlerischen Freiheit, ja, es hat in der
Tat schon etwas Eigenwilliges, Emanzipiertes an sich. Aber
mit dieser freien Richtung der Kostümierung hatte auch ein
Kampf der älteren Generation gegen das Neue eingesetzt. Die
gute alte Zeit wird von den Alten ja regelmäßig auch als die
moralisch bessere hingestellt, und sie sind geneigt, einen Teil
ihrer Moralität in den guten, alten Moden zu suchen. Folglich
untergraben nach ihrer Ansicht die neuen Moden die alte
strenge Sittlichkeit. Die neue Kleidung der Geniezeit nannte
man daher spöttisch genial, und an den kleinen Höfen und
in anderen »vornehmen« Winkeln Deutschlands, wo man schon
aus Angst vor der Revolution durchweg hochkonservativ war,
hielt man es noch am Ende des Jahrhunderts mit Nasen-
rümpfen für »genial«, wenn jemand zu Hofe und in Gesell-
schaft zu kommen wagte, ohne den sonst schon fast ver-
schollenen Zopf angesteckt zu haben.
Aber um den Bestrebungen auf Erneuerung des Kostüms
zum vollen Siege zu verhelfen, mußte erst ein großes welt-
erschütterndes Ereignis kommen: das war die französische
Revolution. Man schwärmte allgemein, und zwar nicht nur in
Frankreich, für die Wiederaufrichtung der alten Bürgerfreiheit
von Hellas und Rom. Die neuen Republikaner in Paris wollten
das auch äußerlich dokumentieren. Aber das antike Männer-
kostüm ohne Hosen und Ärmel war den Citoyens doch zu
frostig. So nahm man das republikanische Kostüm der Nord-
amerikaner an, vor allem den runden Hut und die lose Haar-
tracht. Im übrigen wirkt zunächst in feinen und gebildeten
Kreisen das feine und elegante Rokoko noch nach, wie man
an dem Bilde des schönen und vornehmen Revolutionärs Sériziat
sehn kann. Er trägt zwar Hut und Rock der Geniezeit, aber
auch noch ein bescheidenes Spitzenjabot und die kurzen Knie-
hosen. Später kam ja dann der Spottname »Sansculotte« auf
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 495
für die Revolutionäre, was wörtlich Ohnehosen bedeutet, es
war damit jedoch nur gemeint, daß diese Leute keine »culottes«,
d.h. keine Kniehosen nach alter vornehmer Rokokoweise,
sondern vielmehr die neuen genialen und ordinären Pantalons
trugen.
Das Frauenkostüm dagegen orientierte sich nach der Antike.
Doch ist es verkehrt, was man wohl in Büchern liest, daß das
Empirekostüm aus dem revolutionären Hexenkessel Paris so
plötzlich hervorgesprungen sei. Man hat das allerdings ein
Menschenalter später behauptet, als man dies Freiheitskostüm
gern wieder diskreditieren wollte. Liest man aber die gleich-
zeitigen Modeblätter, so sieht die Sache anders aus. Wir
sahen schon, daß, dem allgemeinen geistigen Zuge entsprechend,
das Kostüm auf eine Befreiung aus den Banden des Rokoko-
kostüms längst lossteuerte. Aber das Korsett hielt doch noch
stand, bis das Haupt der Königin der alten Mode, Marie
Antoinette, auf dem Block gefallen war. Selbst im Jahre 1794
zeigen noch alle Kostümbilder des für Deutschland maßgebenden
Modejournals von Bertuch feste "Taillen, Zum ersten Mal
im Januar 1795 taucht das erste Kleid mit loser Taille auf.
Aber wie bescheiden, wie vorsichtig! Kaum, daß man es von
den festen Kleidern unterscheiden kann. Und wie wichtig,
wie revolutionär erscheint dem guten Herausgeber Bertuch
selbst dies Gewand! Er selbst sträubt sich, wie die Heraus-
geber von Modeblättern, Schneider und Schneiderinnen, und
wie ja die fachmäßige und offiziöse Vertretung in allen Hand-
werken und Künsten von jeher getan, gegen die Einführung
der durchgreifenden Neuerung. So hat denn auch Bertuch
dies erste Empirekostüm erst gebracht, als der neue Schnitt
anderwärts schon durchgedrungen war, und es klingt noch
wie eine Entschuldigung, was er dabei schreibt: »Dies Kleid
wird englisch-griechisches Kostüm oder griechisches Hemd ge-
nannt. Wie eine Mode gewöhnlich übertrieben wird, wenn sie
erst allgemein zum Durchbruch gekommen ist, so geht es jetzt
mit der englisch-griechischen Art sich zu kleiden oder der
weiblichen Kleidung ohne Taille. Die erste Erfinderin davon
in England war vermutlich eine Dame von Geschmack, die
über die ihrer Figur nötige Kleidung nachzudenken wußte,
und fand vielleicht gerade in ihrem durch zu lange Beine und
einen zu kurzen Leib unverhältnismäßigem Wuchse begründete
496 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Ursache, diese Kleidungsart, welche die Fehler ihres Wuchses
aufs Vorteilhafteste verbarg, zu wählen. Sie ward vielleicht
von einigen jungen, schlank und schön gewachsenen Damen
glücklich nachgeahmt, und nun war die Epidemie da, steckte
alle Köpfe an und machte auch hier und da aus kleinen kor-
pulenten Figuren, die sich nun den Rock herauf unter den
Busen und hinten unter die Schulter banden, Zwerginnen und
Pagoden.«
Man sieht aus diesen Worten, wie Bertuch dem neuen
Stil und dem ganzen Zuge der Zeit verständnislos gegenüber-
steht, aber wir werden die Mitteilung als Tatsache anzu-
nehmen haben, daß ebenso wie die neue Männertracht, so auch
die neue Frauentracht aus England stammt.
Bertuch hat in seiner Zeitschrift noch versucht, die alte
Tracht zu halten, indem er bis zum August 1795 Kostüme mit
festen Taillen neben den neuen bringt, allmählich jedoch ver-
schwinden die alten, da sie offenbar niemand mehr machen
läßt. Das Empire hat gesiegt, und die Form, wie sie nun
in den 90er Jahren sich in Deutschland entwickelt hat, ist eine
ebenso maßvolle, wie schöne und würdevolle zu nennen. In-
zwischen hatten natürlich längst auch die Französinnen die
neue Tracht mit Begeisterung aufgenommen, sowohl, weil sie
griechisch, d. h. republikanisch, war, als auch, weil sie körper-
liche Freiheit brachte. Schon Ende 1795 werden in Frankreich
offiziöse Weisungen ausgegeben für die neuste, die »neuantike«
Tracht: »Keine Unterröcke und ein Kleid aus feinem Leinen,
ausgeschnitten, unmittelbar unter dem Busen gegürtet, im
Rücken rund und schmal ausgeschnitten, mit kurzen Ärmeln.«
Leinen, Musselin, Krepp und Perkal waren die Lieblingsstoffe,
bis Napoleon die Seide als Hofkleid einführte, um die Industrie
von Lyon zu heben. Daß die Franzosen den Wechsel des
Kostüms mit dem vollen Bewußtsein seiner Bedeutung vor-
nahmen, erhellt z. B. aus den Worten von Sergent, dem Prä-
fenten der »Société populaire des Arts«, der ausruft: »Zu lange
haben wir das Sklavenkleid getragen, es gilt jetzt eine Tracht
zu schaffen, welche uns von jedem Zwange befreit und die
schönen Körperformen nicht verhüllt!« Es ist selbstverständlich,
‚daß, ‚die, Franzosen die ıneug ‚Tracht: mannigfach :libeittrieben.
опи BsoScheint! bei allerı,Kleidung: ein spsychologisches: Gesetz
zu sein, :daß. bei/feierlichen''Gelegenheitensdie jeweilige
DIE WIRKUNG DER NACKTMODE. KUPFERSTICH von DUTAILLY.
Zu dem Aufsatz »Zur Psychologie des Kostüms«.
S. 486.
ENGL. MODEKARIKATUR AUF DIE GROTESKE
ÜBERTREIBUNG DER GRÖSSE DES BUSENS
UND DER LENDEN,
Zu dem Aufsatz «Zur Psychologie des Kostüms«. S. 486.
LA BALANCOIRE. PARISER MODEKUPFER
um 1700. Von F. GUERARD.
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 497
Tendenz derselben bis in Extrem getrieben wird. So lautete
also die Parole für die Rokokozeit: je feierlicher der Anlaß,
desto steifer, geschnürter und unbequemer die Kleidung. Für
die Empirezeit: je feierlicher der Anlaß, desto loser und freier
die Kleidung. Es wird daher berichtet, daß sich zahlreiche
Damen im Empire infolge zu leichter Kleidung, zumal im
Winter, bei Festlichkeiten Krankheit oder Tod geholt. Sie hatten
eben den Ehrgeiz, auf Bällen womöglich nur mit einer leinenen
oder seidenen Tunika und mit einem ebenso dünnen Himation
als Überwurf darüber zu erscheinen, um ganz wie eine echte
Griechin zu sein. Infolgedessen war auch das französische
Empire in sexueller Hinsicht mitunter skrupelloser als das
englische oder deutsche. Aber auch in England und Deutsch-
land fand die Partei der Alten das neue Kostüm unsittlich
und aufreizend. Aus welchen Gründen das bisweilen geschah,
ersieht man z. B. aus einer Theaterkritik, die eben auch das
Bertuchsche Journal im Jahre 1794 brachte. »Als Madame
Baranius«, heißt es da, »auf der Bühne erschien, schrie alles
um und neben uns: Wie schön sie ist und wie kostbar an-
gezogen! In Ansehung dieses Punktes wünschen wir aber herz-
lich, daß sie nicht in die Grenzen der rohen Natur zurück-
geht, wie sie es in der Szene tut, wo sie als Doris mit bis
ganz an die Schulter hinauf wirklich nackten Armen
erscheint. Diese Natur auf der Bühne ist aller Moralität zu-
wider und erweckt Ekel. Wie anständig und sittsam war da-
gegen Madame Müller als Ophelia gekleidet, sie hatte die
Natur, wie es einem gesitteten Frauenzimmer geziemt und wie
es noch auf jeder gesitteten Bühne in dergleichen Fällen Brauch
war, mit fleischfarbenen atlassenen Ärmeln verschönt.«
In Deutschland kommt der Durchführung des neuen
Kostüms übrigens noch ein besonderer Umstand zugute. Es
ist das die seit dem Sturm und Drang immer stärker werdende
Tendenz auf eine Heranziehung des weiblichen Geschlechts zu
höherer geistiger Bildung, speziell zu literarischen Interessen.
Es ist merkwürdig, aus der Literaturgeschichte zu ersehen, wie
die Frau fast plötzlich aus dem geistigen Dunkel hervor neben
den Mann tritt. Es hatten sich zwar schon seit der Sturm-
und Drangzeit der 70er Jahre Männer und Frauen zusammen-
getan — noch nicht im Göttinger Hainbund, der nur aus
Männern bestand, aber wohl schon in der Darmstädter Ge-
Geschlecht und Gesellschaft VIII, 11. 32
498 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
meinschaft der Heiligen, zu der Goethe gehörte — zu gemein-
samer Pflege der Literatur oder auch nur der Empfindsamkeit
und des Gefühls für schöne Natur. Goethe ist trotzdem der
erste, dessen Leben wir auf Schritt und Tritt von Frauen be-
gleitet sehen, so daß wir, um ihn zu verstehen, fortwährend
jene, die ihn anregten, fragen müssen. Ferner wandten die
Philanthropinisten auch dem weiblichen Geschlecht ihre Für-
sorge zu in der Erziehung zu geistigen Kenntnissen, zur Freiheit
und zur Natur. Die Gründung der ersten höheren Töchter-
schule 1787 bedeutete damals doch noch weit mehr als heut-
zutage die Eröffnung der ersten weiblichen Lyceen. Endlich
steigerte die alles mit fortreißende poetische Tätigkeit Goethes
und Schillers die geistige Empfänglichkeit der deutschen Jugend,
die in den 90er Jahren in den Berliner literarischen Salons und
in der jugendlichen Genossenschaft der ersten Romantiker in
Jena gipfelt. Kurz, alles trug dazu bei, für das neue Wesen
auch einen neuen körperlichen Ausdruck, sozusagen ein Symbol,
zu suchen. Es ist eben psychologische Notwendigkeit, daß ein
geistiges Streben auch auf den Körper und sein Aussehen,
und zwar nicht nur auf den Gesichtsausdruck, sondern auch
auf Gang und Haltung, auf Kleidung und Haartracht reflektiert.
Somit sieht denn auch eine Frau, die ihr Leben am Kochherd
und in der Kinderstube hinbringt, anders aus, als eine, die sich
einer wenn auch bescheidenen Geselligkeit und geistiger Inte-
ressen nicht entwöhnt hat. Wieder anders die eigentliche Ge-
sellschaftsdame, die in großem und formellem Verkehr lebt, und
wieder anders diejenige, die in einem kleineren Kreise geistig
angeregter Männer und Frauen sich geistig zu steigern und zu
entwickeln sucht. Dieser letzte Typus tritt mit der beginnenden
Empirezeit und der Frühromantik zum ersten Male auf. Aus
der bloßen Anregerin der Muse des Mannes wird sie zu einer
Gehülfin, zu einer Mitarbeiterin, einer Kameradin, ja zu einer
neben dem Manne nach Gleichberechtigung und gleichem An-
sehen strebenden selbständigen Künstlerin und oft geradezu
zum Mittelpunkt eines literarischen Salons oder einer künstle-
rischen Clique. Unter sich außerordentlich verschieden zeigen
doch diese Frauen alle den Zug großer geistiger Selbständig-
keit und Freiheit auch dann, wenn sie zugleich die tugend-
haftesten, besten Hausfrauen sind. Schon Karoline v. Wolzogen
gehört hierher, die Schwägerin Schillers, und Karoline Schlegel,
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 499
Rahel Levin und Henriette Herz, oder, um ein paar Französinnen
zu nennen, die Frau von Sta&l und Julie Recamier.
In den Annalen der Literaturgeschichte dokumentiert sich
dies bedeutsame Hervortreten der Frau in der Empirezeit durch
ein gewaltiges Anwachsen der Zahl der Schriftstellerinnen. Aber
wenn sie auch nicht als solche hervortraten, so haben die
Frauen doch häufig etwas Künstlerisches im Wesen und Aus-
sehen. Man sieht das an manchen Bildern aus jener Zeit, z.B.
an dem Porträt von Karoline Schlegel, die den geistigen
Mittelpunkt der ersten romantischen Schule in Jena um 1797
bildete.
Sie ist als Schriftstellerin nicht hervorgetreten, obwohl sie
ihrem Mann vielfach bei seinen literarischen Arbeiten geholfen
hat, sowohl bei seinen kritischen Arbeiten als bei seiner be-
rühmten Shakespaerübersetzung. Ihre entzückenden Briefe
legen Zeugnis ab von ihrer künstlerischen Begabung. Ihr
Schwager F. Schlegel entwirft von ihr folgende Schilderung: »In
ihrem Wesen lag jede Hoheit und jede Zierlichkeit, jede Gott-
ähnlichkeit und jede Unart, aber alles war feingebildet und
weiblich. Frei und kräftig äußert sich in ihr jede Eigenheit,
als sei sie nur für sich allein da, und dennoch war die reiche,
kühne Mischung so ungleicher Eigenschaften nicht verworren,
denn ein Geist beseelte sie, ein lebendiger Hauch von Harmonie
und Liebe. Sie konnte in derselben Stunde irgend eine komische
Albernheit mit dem Mutwillen und der Feinheit einer gebideten
Schauspielerin nachahmen und ein erhabenes Gedicht vorlesen
mit der hinreißenden Würde eines kunstlosen Gesanges. Bald
wollte sie in Gesellschaft glänzen und tändeln, bald war sie
ganz Begeisterung, bald half sie mit Rat und Tat, ernst, be-
scheiden und freundlich wie eine zärtliche Mutter. Eine ge-
ringe Begebenheit war durch ihre Art, sie zu erzählen, so
reizend wie ein schönes Märchen.
Zu dieser geistigen Schönheit und Freiheit, der weltlichen
Sicherheit, dem selbständigen Auftreten dieser Frauen paßte
das Empirekostüm ausgezeichnet. Es ist das Kostüm des
stets wechselnden Faltenwurfs, des künstlerischen Einher-
schreitens, der vornehmen Anmut, zwar nicht der tändelnden
Grazie des Rokoko, sondern des frei auf der Höhe wandelnden
Lebenskünstlertums, aber auch der königlichen Vornehm-
heit einer Königin Luise. Es traf sich ja so, daß die Früh-
32%
500 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
romantik der Empirezeit gerade zu der Zeit erblühte, als in
Berlin das junge Königspaar Friedrich Wilhelm III. und die
Königin Luise den Thron bestiegen. Sie ist ein Typus der
Empirezeit und eine echt romantische Frau, schon darin, daß
sie so bedeutungsvoll neben ihrem Manne hervortritt. Sie ist
weit reicher an Eigenschaften des Geistes und Herzens, sie
ist auch weit selbständiger als dieser. Ihr jubelt daher Novalis,
der Dichter der Romantik, in vollen Tönen zu ...
Das Empirekleid entwickelt sich nun weiter, so daß
jeder Anklang an das Frühere verschwindet. Es wird ein frei
in losen Falten den Körper verhüllendes, aber auch zeigendes
Gewand. Während das feste Korsett eine gerade und selbst
steife Haltung erzwang, war jetzt große Übung und Kunst an-
zuwenden, um in der Bewegung wie im Sitzen und Liegen den
Faltenwurf schön erscheinen zu lassen. Man erkannte wieder
wie im griechischen Altertum die feine Frau an der Vornehm-
heit des Faltenwurfs. Ganz allgemeinist dabei dieSchleppe
für alle feineren Gewänder im Gebrauch. Denn in dem Motiv
der lang herabfließenden Falten, die durch die lose Gürtung
unter der Brust entstehen, liegt zugleich das Motiv der Schleppe
als Abschluß, weil es zur gemessenen Bewegung und ruhigen
Würde auffordert und den Falten eine gewisse Stabilität ver-
leiht. Bei Alltagskleidern trug man die Röcke wenigstens bis
auf den Fuß fallend. Die Stoffe, die in der Rokokozeit durch-
weg stark gemustert waren, werden jetzt mit wenig auffallen-
den oder ganz ohne Muster hergestellt, da ein lebhaftes Muster
die Wirkung des Faltenwurfs beeinträchtigt. Als Farbe herrscht
das schlichte Weiß vor, dazu werden hellfarbige Tücher, Über-
würfe oder Mäntel getragen in blau, violett oder gold.
(Schluß folgt).
BEMERKUN GEN ÜBER MELANCHOLIE, IMPOTENZ
UND TRIEBANOMALIEN.
Von Dr. PAUL ZIMMERMANN.
р“ Geschlechtstrieb ist die eigentliche Quelle menschlicher
Kraft, er schafft die großen Momente im Leben, er ordnet
indirekt die Geschichte, soweit sie nur ein Ausdruck des
ungeheuren Gefühlslebens der Masse erscheint. Er ist aber
auch andererseits die letzte geheime Quelle, aus der die großen
Verirrungen des Lebens, die mannigfaltigen Varianten des Ver-
brechens stammen. Es ist begreiflich, daß man nach dem
»Woher?« und »Wie beschaffen?« des gleichsam in den Urtiefen
des Organismus brauenden Stromes der Sexualität gefragt,
und daß man die Abhängigkeit des gesamten Lebens von den
sexuellen Einflüssen zu erforschen gesucht hat. Vollständige
Klarheit besteht in der Beantwortung dieser Fragen nun aller-
dings nicht, nur soviel steht fest, daß der Geschlechtstrieb zu
den psychischen Vorgängen zu rechnen ist, und daß seine
Intensität und Richtung durchaus nicht willkürlich geregelt
werden kann. Es dürfte sich beim Geschlechtstriebe wohl um
eine ähnliche psychische Disposition handeln wie bei den
übrigen geistigen Anlagen, die blutsmäßig vorhanden sind, und
die sich als ein latenter Komplex von unbewußten Vorstellungen
forterben. Stärke und Richtung des Geschlechtstriebes sind
durch die Summe der geschlechtlichen Energien der Vorfahren
bestimmt, wozu sich eine gewisse Abhängigkeit von chemischen
Vorgängen im männlichen und weiblichen Organismus, eine
Beeinflussung gleichsam des Zentrums durch die Sekretion der
Sexualdrüsen gesellt. Die zentrale Bedingtheit des Geschlechts-
triebes hat somit zur Folge, daß die Theorie von dem Erwachen
und Fortleben der Sexualempfindung auf Grund von Keim-
drüsenabsonderungen nicht in dem Umfange aufrecht erhalten
werden kann, wie es noch in den letzten Jahren geschah. Man
nimmt neuerdings an, daß Pubertät und Klimakterium keines-
wegs Folgen von ÖOvarialhormonen sind, sondern, daß das
502 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
schnellere Ausreifen der Keimdrüse und die dadurch bewirkte
Anzahl von Geschlechtsunterschieden, bezw. die dement-
sprechenden Bildungen des Klimakteriums nur Symptome der
beiden wichtigen Etappen des Geschlechtstriebes darstellen.
Obwohl es sich nun beim Geschlechtstriebe.um eine zentrale
Disposition handelt, die nicht erst durch die Funktionen der
Keimdrüse ins Leben gerufen wird, so machen sich hier gleich-
wohl zahlreiche Zwangsassoziationen geltend, die mit den periferen
Genitalorganen zusammenhängen, der Art, daß bei vorhandenem
Sexualtriebe ein Vorgang in der Genitalzone sofort eine gleich-
wertige Reaktion im Zentrum erzeugt. Die Beeinflussung ist
aber auch eine wechselseitige, indem umgekehrt ein zentraler
Prozeß auf die periferen Organe hinübergreift und sie sozusagen
aus ihrer Ruhe aufstört und zur Tätigkeit anregt. Dieses
selbständige Eingreifen vom Zentrum aus ist durch eine Reihe
von Erscheinungen, an die namhafte Forscher ihre Beobachtungen
geknüpft haben, erwiesen. Bereits Gall hat den Satz aus-
gesprochen: »Que l’instincte de la reproduction est une fonction
du cerveau et appartient nullement aux parties sexuelles«,
(Citat nach Moll, Untersuchungen über die libido sexualis.
Seite 619 ff.) Gall stützt seine These unter anderem durch den
Hinweis, daß mitunter Kinder von 2—5 Jahren, bei denen die
Keimdrüsen vollständig noch außer Tätigkeit gestellt sind,
geschlechtliche Empfindungen und ein Hinneigen zu wollüstigen
Akten zeigen können, daß ferner Greise und Kastraten sich
stark libidinös benehmen, und daß schließlich Frauen, bei
denen die Gebärmutter nur mangelhaft entwickelt ist oder
gänzlich fehlt, nichtsdestoweniger von einem starken Sexual-
triebe beherrscht sein können. Ähnliches sagen Freud, Forel
und Hirschfeld aus, von denen letzterer in seinen Kastraten-
studien das Vorhandensein des Geschlechtstriebes bei Eunuchen
an Hand eines stichhaltigen Materials einwandfrei nachgewiesen
hat. Ellis zitiert in seinem Buche »Mann und Weib« eine
Reihe von medizinischen Schriftstellern, die ähnliche Bekundungen
aufgestellt haben. Ein weiterer Umstand, der für die zentrale
Bedingtheit des Geschlechtstriebes spricht, ist seine ausnehmende
Beeinflußbarkeit von örtlichen Erscheinungen im Gehirn, die
krankhafter Natur sind. Es ist bekannt, daß die größere Zahl
der Geisteskrankheiten zu stärkeren oder schwächeren Ver-
änderungen des Sexualtriebes führen, daß Erkrankungen des
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 503
Cerebralsystems neben einer abnorm gesteigerten Libido alle mög-
lichen Arten von Perversionen als Begleiterscheinungen aufweisen.
Interessant ist nun der Zusammenhang zwischen seelischer
Depression, Melancholie und einem abnormen sexuellen Leben,
soweit derartige Erscheinungen im gewöhnlichen Leben be-
obachtet werden und sich zur Plage des ansonst normal
Empfindenden entwickeln können. Die Frage ob Melancholie
allein imstande ist einen normalen Geschlechtstrieb ins Gegen-
teil zu verkehren, gewinnt ihre Bedeutung schon durch den
Umstand, daß seelische Depressionen im Allgemeinen einen
nachweisbaren ungünstigen Einfluß auf das Sexualempfinden
jedermanns zu üben imstande sind. Jedermann wird wohl
wissen, daß es bei ihm Stunden der Erschlaffung, eines Ver-
sagens jeder schöpferischen Energie, einen Ekel vor Erlebnissen,
kurz, Momente eines sogenannten moralischen Bankerottes ge-
geben hat. Die Gründe sind mannigfaltiger Natur. Sie werden
zumeist im Fehlschlagen wichtiger Unternehmungen, in Zer-
würfnissen mit sympathischen Personen, in körperlicher Indis-
position, im Wetter usw. gefunden. Es fragt sich jedoch, ob
die sogenannte »schlechte Laune« tatsächlich von außen her,
durch Rheumatismus oder eine Magenverstimmung verschuldet
wird. Seelische Depression paart sich in der Regel mit der
Furcht vor etwas Unbekanntem, sei es den Folgen der als
unangenehm empfundenen Ereignisse, oder in der Enttäuschung
über das Ausbleiben anderer, die eine Erhöhung des persön-
lichen Wohlbefindens im Gefolge gehabt hätten. Melancholie
ist nichts anderes, als Furcht und Hoffnung inbezug auf das
Unbekannte, das selbst wiederum einen eindeutigen sexuellen
Untergrund aufweist. Dieses Unbekannte ist eine Äußerung
des zentral wirkenden Geschlechtstriebes, die sich auf
ein fernes sexuelles Erlebnis gründet. Loewenthal weist in
seinem Buch Ȇber die sexuelle Konstitution und andere
Sexualprobleme« darauf hin, daß depressive Akte erregend auf
die Sexualsphäre einwirken können. »Dies gilt«, — sagt der
Autor — »vor allem von der Angst, welche zwar die Libido
nicht weckt, aber durch Einwirkung auf die genitalen Lumbal-
zentren sexuelle Erregung hervorrufen kann, die bis zur Aus-
' lösung von Pollutionen sich steigert.«e Über die Grundelemente
der Furcht und der Angst hat andererseits die psychoanalytische
Forschung, die auf den Erkenntnissen Freuds fußend, alle
504 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
wichtigen psychischen Regungen nach ihren Quellen durch-
forscht hat, unterrichtet, anderseits empfinden wir es instinktiv,
daß Furcht und Angst irgend ein unterdrücktes Sexualwunsch-
erlebnis symbolisieren. Die Anamnese psychischer Depressionen
ergibt auch sehr häufig, daß die mißvergnügte Stimmung oder
Melancholie mit dem Sexualleben des Patienten innig zusammen-
hängt und vor allem von seinem unterbewußten sexuellen
Wunschempfinden bestimmt wird. Ich möchte den Gedanken-
gang an Hand nachfolgender Skizze aus meinem Beobachtungs-
material verständlicher machen: Ein Kaufmann, 43 Jahre alt,
in angesehener Position, Junggeselle, leidet an periodisch
wiederkehrenden Anfällen schwerer Melancholie, während deren
Bestehen er zu jeder Arbeit unfähig ist und mit peinlich
krankhafter Scheu sich auch vom Verkehr mit seiner Umgebung
abschließt. Die Anfälle, die immer transitorischer Natur sind,
charakterisieren sich neben den gewöhnlichen Symptomen
durch Schweißausbruch, andauernde Herzpalpitation, aus-
gesprochene Platzangst und ein völliges Versagen der Libido.
P. fühlt sich in dieser Zeit als gänzlich impotent, woran sich
auch ein allgemeines körperliches Unbehagen knüpft. Allmählich
bessert sich der Zustand, Appetit und Arbeitslust werden wieder
normal, der Geschlechtstrieb stellt sich wieder wie früher ein
und der Zustand der allgemeinen Besserung kennzeichnet sich
durch eine Form psychischer Reaktion, indem P. sich in den
Tagen darauf regelmäßig 2 bis 3 Nächte hindurch einem sexuell
anspruchsvollen Leben hingibt.
Die Frage nach dem Grund der periodisch wiederkehrenden
Depression ist m. E. dahin zu beantworten: P. ist Junggeselle
und von dem lebhaften Wunsch beseelt, ein dauerndes Ver-
hältnis zu finden, bzw. einen eigenen Hausstand zu gründen.
jedesmal, wenn P. mit einem ihm sympathischen weiblichen
Wesen in nähere Berührung tritt, folgen kurze Zeit darauf die
eben geschilderten Anfälle von Melancholie, die schließlich
mit sexuellen Ausschweifungen endigen. Dem Wunsch, seine
Träume zu realisieren, steht zweifellos eine uneingestandene
Furcht vor den Schwierigkeiten einer Eheschließung entgegen,
da P. mit Rücksicht auf sein Alter und auf eine in jungen
Jahren überstandene gonorrhoische Infektion, nach der ein
Blasenkatarrh zurückgeblieben ist, in seinen endgültigen Ent-
schließungen immer im entscheidenden Moment sich gehemmt
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 505
fühlt. Die vorgeschilderten Symptome, wie Herzklopfen,
Schweißausbruch und Platzangst hängen mit diesen Befürch-
tungen auf das Engste zusammen. Das vorübergehende Er-
löschen der Libido erklärt sich aus den intensiven Furchtgefühlen
vor einer möglichenImpotenz und der damit verbundenen Blamage
im Ehebett. Darüber hinaus besteht der intensive Wunsch ein
dauerndes Verhältnis um jeden Preis einzugehen und die
Hoffnung, in einem derartigen Verhältnis Kinder zeugen zu
können. P. ist — was ihn überaus charakterisiert — nebstbei
großer Kinderfreund, während der Dauer seiner Anfälle jedoch
hält er alle Kinder von sich fern und ist, wo er notwendig
mit solchen zusammentrifft, entgegen seiner sonstigen Natur
barsch und unzugänglich. Die Melancholie resultiert in diesem
Falle aus einer unbefriedigten Sehnsucht nach ehelicher Ge-
meinschaft, der sich die Furcht vor einer vorzeitigen Ver-
brauchtheit der sexuellen Potenz infolge einer Jugendinfektion
gesellt.
Die Angst vor einer Rückwirkung früherer geschlechtlicher
Erkrankungen und einer damit verbundenen vorzeitigen Impotenz
ist schlechtweg für die Gesamtzahl der Melancholiker sympto-
matisch. Auch bei Aufzählung der Momente, die nach der
stark angefeindeten Meinung einzelner Autoren das vorerwähnte
männliche Klimakterium ergeben, spielt die Melancholie eine
nicht zuunterschätzendeRolle. Lewandowsky,der den Symptomen-
komplex des männlichen Klimakteriums zusammenfassend be-
schreibt, erwähnt neben Angst und innerer Unruhe besonders
das Insuffizienzgefühl, aus dem sich eine Steigerung der
Mißverstimmung bis zu Suizidgedanken ergibt, betont aber
allerdings die Schwierigkeit, psychische Störungen nicht inner-
sekretorischer Natur und echte Depressionen auszuschließen.
Der Umstand, daß die im Beginn gesunkene Libido nach Ab-
lauf der klimakterischen Störungen wieder ansteigen könne,
spräche dafür, daß mindestens in einer Anzahl von Fällen die
genitalen Störungen durch die psychischen bedingt wären und
nicht umgekehrt. Die Meinungen, ob es ein dem weiblichen
Klimakterium gleichwertiges männliches Übergangsstadium gibt,
sind wie gesagt sehr verschieden und wir wollen uns mit ihnen
an dieser Stelle nicht auseinandersetzen. Soviel jedoch
scheint festzustehen, daß sowohl die im Übergangs-
alter auftretende Impotenz, (ähnlich wie der Johannis-
506 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
trieb), zum großen Teil erst als eine Folge der aus
unterdrückten Sexualwünschen resultierenden Melan-
cholie zu betrachten ist. Jede vorzeitige Impotenz, die
von depressiven Stimmungen begleitet ist, muß eher als eine
Folge der Melancholie als umgekehrt betrachtet werden. Für
den Ursprung der Melancholie als Summe von Angst,
Furcht, im unterbewußten Wunschempfinden, ist aus-
schlaggebend, daß die depressive Stimmung mitunter
von einem Auftauchen abnormaler Empfindungen, bzw.
direkter Perversionen verbunden ist. Einen solchen Fall
berichtet beispielsweise Sullivan, wo es sich um einen 21 jährigen
Mann handelt, der nur in Anfällen von Melancholie einen
homosexuellen Geschlechtstrieb aufwies. Nach Tarnowsky
sollessogareinedurchMelancholiebedingeteperiodische
Päderastie geben. Moll beschreibt in seinen »Untersuchungen
zur Libido sexualis« den Fall eines 50jährigen alten Herrn,
aus der bürgerlichen Gesellschaftsgeschichte, der alle vier
Wochen von einem intensiven Trieb zum Manne befallen wurde.
»Wenn ihm diese Gedanken kommen, so sei zeitweise die
Geschlechtserregung so groß, daß er alles, Frau, Familie, Arbeit
im Stiche läßt und wie ein Besessener umherläuft, um einen
Mann zu treffen, Moll weist auf die Ähnlichkeit mit Epilepsie
in diesem Falle hin und sucht die Hauptquelle der periodisch
auftretenden Anomalie in zentralen Vorgängen. Daß es zentrale
Vorgänge auch in der Tat sein dürften, beweist die regel-
mäßige Wiederkehr der Triebverirrungen, die mit
Symptomen depressiver Natur deutlich verbunden ist.
Ich möchte hier nicht die Erkenntnisse von Professor Fließ
unberücksichtigt lassen, der die Periodizität sexueller
Funktionen ebensogut beim Manne wie beim Weibe nach-
gewiesen hat, und einen der weiblichen Menstruation periodisch
wiederkehrenden Vorgang im männlichen Organismus annimmt.
Es liegt nun an der Hand, daß die im Zeitraum von 21 bis
25 Tagen wiederkehrende männliche Periode mit einem Frei-
werden von größeren Mengen libidogener Stoffe verbunden
ist, die eine erhöhte Reizung der diesbezüglichen Zentren nach
sich ziehen und gleichzeitig latente Eindrücke, die aus derKindheit
stammen, oder auf einer vererbten Disposition beruhen, freimachen.
So ist es möglich, daß ein homosexuelles Erlebnis der Kindheitsjahre
bzw. die im Blute lebendig vorhandere Erinnerung an abnormale
508 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
nur mangelhaft auszuführen pflegen. Daher sind die Stimmen,
die neuerdings in ärztlichen Kreisen laut geworden sind und die
bei Schüleraufnahmen ein ähnliches Verfahren wie das bei
militärischen Assentierungen übliche fordern, durchaus gerecht-
fertigt. Zur Teilnahme an den Turnübungen sollten nur
körperlich gesunde, durch keinerlei Krankheiten orga-
nischer Natur behinderte Individuen zugelassen wer-
den. Andererseits muß aber auch eine viel größere Rücksicht
auf die sexuellen Gefahren des Turnunterrichts genommen
werden, die bei der bestehenden Einteilung des Lehrplanes
selbst von den gewissenhaftesten Lehrern häufig nicht ver-
mieden werden können.
Der Turnunterricht umfaßt zwei Hauptgruppen sportlicher
Betätigung. Einmal die Bewegungsspiele und zum andern das
Geräteturnen. Während die Bewegungsspiele zum großen Teil
in allen Etappen des Unterrichts gleichmäßig betrieben werden,
tritt das Geräteturnen an die Jugend in einem viel zu frühen
Alter und in allzu begünstigtem Ausmaß gegenüber allen übrigen
sportlichen Betätigungen in den Vordergrund. Allgemein beginnt
man bereits im zartesten Alter, also bei 7- und 8jährigen Knaben,
mit einfachen Kletterübungen, Ring- und Barrenturnen, wozu sich
auch der nach anderer Seite hin ziemlich unheilvolle Lauf- und
Seilsprung hinzugesellt. Alle die genannten Übungen begünstigen,
weil die Knaben in den meisten Fällen in dem gefährlichen Alter
vor und um die Pubertät sich befinden, das Erwachen sexueller
Empfindungen, die durch den näheren Kontakt der Geräte mit
den Genitalorganen hervorgerufen werden. Die Kletterübungen,
sowie das Reck- und Barrenturnen sind in diesem Punkte be-
sonders verhängnisvoll, und es ist erwiesen, daß im Anschluß
an die dabei zustande kommenden Reizungen die Knaben in
zahlreichen Fällen zu masturbatorischen Handlungen hingeleitet
wurden. Der Lehrer glaubt den Kindern dadurch einen be-
sondern Gefallen zu erweisen, wenn er ihrem fast immer leiden-
schaftlich geäußerten Wunsche nach dem Geräteturnen Gehör
schenkt. In Wirklichkeit leistet er nur dem Emporwuchern der
oben geschilderten schädigenden Einflüsse Vorschub. Es ist
tatsächlich vorgekommen — aus meiner eigenen Erfahrung
stehen mir unzählige derartige Fälle zur Verfügung — daß 8- und
Yjährige Knaben durch die Kletter- und Barrenübungen erst auf
die geheimnisvolle Mission ihrer bis dahin ruhenden Geschlecht-
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 509
lichkeit aufmerksam gemacht wurden. Ein junger Mann, den ich
im späteren Leben als einen exzessiven Masturbanten wiedertraf,
und der nebstbei eine homosexuelle Veranlagung aufwies, gestand
mir, daß die ersten sexuellen Regungen bei ihm im Alter von
7 Jahren, nach einer Turnstunde, in der auf Kletterstangen geübt
wurde, aufgetreten seien. Das Heruntergleiten von einer be-
trächtlichen Höhe an der glatten Stange verursachte ihm merk-
würdige Empfindungen in der Genitalsphäre und veranlaßte ihn
dazu, sich bei Kameraden zu erkundigen, ob sie ähnliches an
sich bemerkt hätten. Der praktische Erfolg dieser Umfrage, bei
der er von mehreren Seiten zustimmende Aussagen erhielt, war
zunächst eine Aussprache der Jungen untereinander über die
empfundenen Annehmlichkeiten, deren Wiederholung durch eine
andere ähnliche Reizung dann wiederholt angestrebt und erzielt
wurde. „Ich habe es dem Turnunterricht zu verdanken,“ schrieb
mir der betreffende Gewährsmanns, „daß ich zur Erkenntnis
meiner eigentlichen homosexuellen Veranlagung gelangte.“ Ob-
wohl also das Turnen an Geräten seinen unbestrittenen Wert
für die körperliche Jugenderziehung besitzt, muß im Interesse
der Jugend die Grenze, wo es beginnen darf, möglichst hoch,
nicht vor die vollendete Pubertät angesetzt werden. Abgesehen
davon, daß das Turnen an Barren und Reck und Kletterübungen
bei Weitem nicht den praktischen Erfolg zeitigen, wie eine
systematische Vervollkommnung der Bewegungsübungen, birgt
sich auch für allzu jugendliche Personen die Gefahr darinnen,
daß es neben Reizungen auch zu direkten Beschädigungen der
edieren Organe kommen kann. In einem Falle war ein neun-
jähriger Knabe so heftig auf einen Barren aufgesessen, daß der
erlittene Stoß eine Hodenentzündung zur Folge hatte. Den
gleichen Zufällen sind namentlich körperlich schwache Kinder
auch beim Laufen, Seilspringen, und bei dem in vielen Schulen
so üblichen Knabenringen ausgesetzt.
Das Knabenringen bedarf eines Kapitels für sich. Vom ärzt-
lichen und pädagogischen Standpunkt aus ist mancherlei da-
gegen einzuwenden, denn einmal werden nirgends die Leiden-
schaften so aufgepeitscht und ein vorzeitiger jugendlicher Ehr-
geiz gezüchtet, wie gerade bei dieser Art sportlicher Jugend-
betätigung. Dann aber können dem Umstand zufolge, daß beim
Ringen die Knaben zu so engen gegenseitigen Berlihrungen und
Umschlingungen kommen, starke Gefühle sexueller Art zum
510 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Durchbruch kommen, die überdies durch die nach dem Ring-
kampfe jedesmalig eintretende Erschöpfung gesteigert werden.
Eine Beobachtung, die ich durch die Aussagen zahlreicher
Knaben bestätigt fand, und die auch in der medizinischen
Literatur unbestritten dasteht, verweist auf die innigen Be-
ziehungen, die zwischen sexueller Erregung und körperlicher
Abspannung bestehen. Ein schwächlicher, nervös veranlagter
Knabe von 11 Jahren war trotz seiner mangelnden Kraft leiden-
schaftlicher Ringer, weil die nachfolgende Erschöpfung fast
immer für ihn mit einem wollüstigen Zustand verbunden war,
der mitunter die Intensität einer Pollution annahm. Es ist wohl
glaublich, daß dieselben Ermüdungstoffe, die nach einer starken
körperlichen Anstrengung sich dem Blute mitteilen, gleichzeitig
als Lusterreger auf die Sexualzentren wirken. Als anlog dürfte
man jene Fälle bezeichnen, wo eine starke Anspannung körper-
licher Kräfte bei erwachsenen Personen die gleichen Er-
scheinungen hinterläßt. Zum Teil hängt damit auch die im
Volke falsch verbreitete Meinung zusammen, daß bei dem Vor-
handensein eines gestrafften sexuellen Empfindens starke körper-
liche Ermüdung vermieden werden muß. So wird von älteren
Leuten häufig dem Brautpaare vor der Hochzeit eine länger
währende Ruhe empfohlen, damit die Kräfte durch körperliche
Arbeit nicht unnütz verschwendet würden. Beim Ringkampf
spielt außerdem die seelische Aufregung eine bedeutende Rolle.
Der Affekt, namentlich Zorn, Angst, Freude, und zum Teil auch
Eifersucht, lassen unfehlbar sexuelle Nachempfindungen zurück.
Schließlich kommt ein Drittes bei der innigen Umschlingung
der ringenden Knaben noch als erschwerender Umstand hinzu.
Die Nähe der gegenseitigen, von Aufregung gespannten Leiber,
der innige Kontakt der Hände und Füße verleitet Knaben un-
willkürlich dazu, sich auch direkt sexuell zu berühren. Es
kommt sehr häufig vor, daß Knaben einen Ringkampf dadurch
beenden, daß sie von gegenseitigen sexuellen Berührungen zur
mutuellen Onanie übergehen. Ebenso häufig trifft es zu, dab
bei ganz keuschen Knaben in der Nacht, die einem stattgehabten
Ringkampfe folgt, sich Pollutionen einstellen. Alle diese Er-
fahrungen drängen das Kind naturgemäß zur Wiederholung, und
so wird man denn verstehen, daß der Ringkampf unter den
Knaben sich einer so außerordentlichen Beliebtheit erfreut. Der
Lehrer aber, der die verborgenen Gründe der kindlichen Wünsche
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 511
nicht kennt, kann hier mit Leichtigkeit des Guten zuviel tun und
statt den kindlichen Organismus vor Schäden zu bewahren,
seiner Schwächung um so ergiebiger zu Hilfe kommen.
Zum Teil leiten die Gründe, die Knabenringkämpfe so ge-
fährlich erscheinen lassen, auch auf andere Gebiete, wie das
des Dauerlaufs und der mit übermäßigen Anstrengungen ver-
bundenen Ballspiele hinüber. Auch hier bedarf es der äußersten
Vorsicht. Den Knaben darf keineswegs volle Freiheit gelassen
werden und vor allen Dingen muß das sinnlose und stunden-
lange Durcheinanderrennen, wie es bei den Jugendspielen üblich
ist, vermieden werden. Dagegen sind die Wanderungen unter
Aufsicht -gewissenhafter Lehrer bezw. ebenso gewissenhafter
Stellvertreter, auch wenn sie sich auf ganze und halbe Tage
und noch länger ausstrecken, eine außerordentliche Wohltat für
den kindlichen Körper. Weite Wanderungen fördern nicht nur
das physische Wohlbefinden der Jugend, sondern sie befruchten
geradezu die Phantasie der Knaben und Mädchen und leiten
die Kameradschaftlichkeit in gesündere und natürlichere Bahnen.
Obwohl ja der Wandertrieb ebenfalls sexuellen Ursprungs ist,
und von den Gegnern der Wandervogelbewegung wiederholt
auch auf die Bedenklichkeiten des allzu lange währenden
intimen Zusammenseins der Wandernden hingewiesen wurde,
so sind diese Bedenken bei weitem nicht so schwerwiegend
wie diejenigen, die sich zum großen Teil dem einfachen Turnen
unter den oben geschilderten bedenklichen Umständen entgegen-
stellen. Aber will man schließlich von der Wandervogelbewegung
absehen und die Ertüchtigung der Jugend mittels Turnunterrichtes
anstreben, dann wird man diesen sowohl nach dem Alter als
auch nach den individuellen Anlagen jedes Einzelnen abstimmen
müssen. Für die Jugend vor und während der Pubertät muß
unbedingt darauf gedrungen werden, daß das Geräteturnen zum
größten Teil für sie ausschaltet, die Leibesübungen und die
leichteren Arten des Rasensports begünstigt werden. Dagegen
empfiehlt es sich, daß einem Sportzweig, der bislang auf den
wenigsten Schulen und nur in den obersten Klassen betrieben
wird, ich meine, dem Fechten, auch auf den unteren Stufen
ein breiterer Spielraum eingeräumt wird. Es ist nicht einzusehen,
warum dieser so vorzügliche, zur Erzielung von körperlicher
Geschmeidigkeit und zur Stählung der Energie so ausgezeich-
nete Sport mit leichten, abgestumpften Waffen nicht bereits vom
512 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
zehnten und elften Lebensjahre an geübt werden sollte! Ver-
suche dieser Art haben ergeben, daß der Fechtunterricht auch
auf jüngere Knaben einen starken pädagogischen Einfluß aus-
übt und die Tugend des Ehrgeizes und der Ritterlichkeit weit
mehr fördert, als der die gleichen Ziele bezweckende Knaben-
ringkampf. Auch die ästhetische Seite findet hier eine weiter
gehende Berücksichtigung als bei den sonstigen Jugendspielen.
Den Gegnern des Duells mag gesagt werden, daß damit noch
_ keineswegs eine rohe und radaulustige Jugend herangezogen wird,
wohl aber kann Kriegstüchtigkeit und ein bedeutender Er-
folg nach der charakterbildenden Seite hin erzielt werden.
Schließlich ist das Fechten noch am ehesten geeignet, die
romantischen Erwartungen des Knaben, die er in jedem Sport
sucht, zu erfüllen und ihm eine Grazie der Bewegung zu
vermitteln, die sich gerade an unserer heutigen Jugend so
außerordentlich selten findet.
Die Bestrebungen des Sportes und der Jugendpflege fänden
aber eine nicht nicht minder starke Unterstützung, wenn das
Knaben- und Mädchenturnen auf den unteren Stufen einheitlich
würde. Koädukation im Turnunterricht, die sich auf die Leibes-
übungen und rasensportlichen Spiele erstreckt, dürfte nament-
lich für die Knaben zum mindesten dieselben günstigen Erfolge
zeitigen, wie der gemeinschaftliche Unterricht in den niederen
Klassen überhaupt. Gerade die Anwesenheit von Mädchen wird
den oft erstaunlichen Zynismus der Knaben dämpfen. Es wird
nicht zu jenen Ausgelassenheiten kommen, die dem Turnunter-
richt heutigen Tages in den Elementar- und Mittelschulen ein
so unvorteilhaftes Stigma verleihen. Nirgends käme der Knabe
so leicht dazu, sich vom ersten Moment an als Helfer und Be-
schützer des zarten Geschlechts zu fühlen, wie in den gemein-
schaftlichen Knaben- und Mädchenriegen, oder auf einem Sport-
platz, wo beide Geschlechter unter der Aufsicht eines Lehrers
an vernünftigen Jugendspielen sich beteiligen. Schließlich ist
die Erziehung der Jugend zur gegenseitigen Achtung eine der
Hauptbedingungen einer vernünftigen Pädagogik und am ehesten
geeignet, die sexuellen Gefahren, die besonders beim Sport-
und Jugendturnen vorhanden sind und selbst von dem ein-
sichtigsten Lehrer nur mit außerordentlicher Mühe unterdrückt
werden können, auf ein Minimum herabzusetzen.
D D
ECAMIER.
2
MADAME R
486
S
des Kostüms«
»Zur Psychologie
Zu dem Aufsatz
REVOLUTIONÄRE STUTZERMODE.
Zu dem Aufsatz »Zur Psychologie des Kostüms«. $. 486.
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
VIII, 12.
BEI DER TOILETTE. Von AUBREY BEARDSLEY.
Zum dem Aufsatz »Zur Psychologie des Kostüms«.
S. 526.
—_ ug к 2
PROSTITUTION UND GESELLSCHAFT.
Von Dr. W. HAMMER.
D“ Mensch ist ein geselliges Wesen. Er bedarf zu seiner
Ausbildung der Gesellschaft anderer und der Erziehung
durch die Eltern weit länger als die meisten Säugetiere. Schon
in den ersten Lebenstagen erzeugt und erlebt er Wollustgefühle
beim Saugen an der Mutterbrust. Im Verlaufe des späteren
Lebens kennt er die Wollust der Umarmung, das angenehme
Gefühl der gegenseitigen Hautberührung. Dazu kommen
Neigungen zu Personen des anderen Geschlechtes, der Söhne
zur Mutter, der Töchter zum Vater, der kleinen Kinder zu den
Kindermädchen, die als Vorläufer der später sich einstellenden
grobsinnlichen, mannweiblichen Liebe gelten können. Diese
Neigungen sind anfänglich feinsinnlich oder platonisch. Sie
sind Ausflüsse des Berührungstriebes (Kontrektationstrieb Moll).
Daneben haben nicht selten kleine Mädchen, ebenso wie Knaben
gröbere Neigungen. Teils treiben sie Selbstbefleckung, indem
sie an den Geschlechtsorganen spielen, teils suchen sie die
Fortpflanzungswerkzeuge Erwachsener oder Kinder zu Gesicht
zu bekommen, teils beobachten sie den elterlichen Verkehr,
oder sie besprechen untereinander die Rätsel der Entstehung
des Menschen, sie fragen auch die Eltern, woher die Kinder
kämen. Schon in frühester Kindheit lernen sie in der
Regel, die Entleerungen und ihre Werkzeuge geheim zu halten,
sodaß sie sehr bald das Gefühl haben, daß etwas in der Welt
vorgeht, das sie vorläufig nicht wissen sollen, über das sie
sich nicht unterhalten dürfen. Wenn sie daher sich geschlecht-
lichen Regungen hingeben, so geschieht dies schon in der
Kindheit geheim. Die Geheimtuerei in geschlechtlichen Dingen,
die wir für selbstverständlich zu halten pflegen, hat meiner
Ansicht nach vornehmlich zwei Gründe. 1. Ist mit großer
Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß Kinder, denen keinerlei
Schamgefühl anerzogen wird, sich frühzeitig sinnlichen Ge-
dankenreihen hingeben, und zwar in bei weitem höherem Maße,
als das der Fall ist, wenn die anerzogene Scham höchstens
heimlich und vorübergehend Unzüchtigkeiten zuläßt, denen
Geschlecht und Gesellschaft VIII, 12. 33
514 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
dann Gewissensqualen folgen. Die Unkenntnis, daß andere
oder gar Menschen des anderen Geschlechtes ebenso empfinden,
dämmt die frühzeitigen Sinnlichkeitsauslösungen stark ein. 2. Die
meisten Eltern würden, falls sie aufrichtig wären, bei den
Kindern kein Ansehen mehr haben, da sie bekennen müßten,
nicht nur früher unzüchtig gewesen zu sein, sondern noch zu
Lebzeiten der Kinder hohen Sittlichkeitsforderungen nicht ge-
nügt zu haben. Wollen sie aber nicht ganz ehrlich alle Fragen
des Kindes wahrheitsgemäß beantworten, so müssen sie das
Schamgefühl anerziehen, daß in irgend einem Teile des Trieb-
lebens die Unbefangenheit aufhört, der Besprechung Schranken
gesetzt sind.
Während dieses weiteren Wachstums tritt zu dem von
Moll so genannten Kontrektationstriebe (Berührungstriebe) der
Entspannungs- oder Detumescenztrieb, der starke Wunsch einer
Beseitigung des Spannungsgefühls, das durch starke, ständig
dauernde Tätigkeit der Sexualdrüsen hervorgerufen wird.
Ganz ohne äußere Einwirkung oder Verführung stellen
sich beim Manne und bei der Frau qualvolle Zustände der
Sinnlichkeit ein. Sie lernen durch Berührungen oder Reibungen,
auch durch Schwelgen in der Einbildungskraft eine willkür-
liche Entleerung der Bertholinischen und der anderen Ge-
schlechtsdrüsen zu bewirken. Falls Selbstbefriedigung nicht
statthat, steigert sich die Sinnlichkeit zu wollüstigen Träumen,
in denen deutlicher, als alle Beschreibungen durch Freundinnen
es je bewirken können, gezeigt wird, zu welchem Zwecke die
Fortpflanzungswerkzeuge dienen. Die wollüstigen Vorstellungen
entstammen aber dem Gehirne, nicht der äußeren Einwirkung.
Sie treten auch dort auf, wo es gelingt solche Einwirkungen
dauernd bis zur vollständigen Reife fernzuhalten.
Was Anstand genannt wird, ist in der Regel Gewöhnung
an regelmäßige Selbstbefriedigung. Was keusch heißt, bedeutet
meist Gedankenunzucht auf Kosten der Gesundheit.
Während die erste Sinnlichkeit dem Mädchen eine Ahnung
des Geschlechtsverkehres gibt, bewirken die nächtlichen Träume
immer deutlichere Vorstellungen und der erste Verkehr mit
einem Manne schafft Gewißheit, wie das ganz entsprechend ja
auch bei jungen Männern sich verhält.
Da es nur möglich ist, durch einfache Mittel die Ge-
schlechtsdrüsen zu entspannen, stellen sich gar bald Störungen
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 515
ein in dem Zusammenwirken derjenigen Nerventätigkeit, die
wir im Rückenmark suchen und derjenigen, die wir ins Gehirn
verlegen. Das sexuelle Wunschempfinden nimmt überhand,
entartet, während die Unterleibsnerven überreizt werden, so daß
Berührungen durch einen Mann statt angenehm peinlich
empfunden werden.
Wenn wir uns nun fragen, was ein Mädchen zum außer-
ehelichen Verkehre veranlaßt, so ist in erster Linie die Sinnlich-
keit anzuschuldigen, bei solchen, die noch nicht der Selbst-
befriedigung ergeben sind, der Wunsch die Geschlechtsdrüsen
zu entspannen, bei anderen die Sehnsucht, der Gedanken-
unzucht und der Eigenbefriedigung zu entrinnen. Fast unfähig,
dem Manne dauernd zu widerstehen, ist die Frau im Zustande
der Verliebtheit, oder wie der herrschende Sprachgebrauch sagt,
der Triebe, immer bereit, sich dem Eindruck, den der Mann
auf sie macht, schrankenlos hinzugeben. Ein in dieser Weise
liebendes Mädchen »geht für den Geliebten durchs Feuer«
und es ist in der Regel ein Spielball in der Hand des Mannes,
der sie zur Enthaltsamkeit und zum Verkehre bewegen
kann. Mit 13 bis 15 Jahren ist ein Mädchen in der Regel
geschlechtsreif, gebärfähig und fähig, ohne Nachteil dem
männlichen Verkehre sich hinzugeben, was das neue Bürger-
liche Gesetzbuch insofern anerkennt, als Mädchen auch schon
vor dem 16. Jahre in Ausnahmefällen zur Ehe zugelassen
werden und andere bis zum 14. Jahre geschützt sind.
Allgemein ist die Jungfräulichkeit der Mädchen bis zum
16. Jahre geschützt, einem Alter, in dem die Geheimnisse der
Selbstbefleckung in der Regel erfaßt sind.
Die geschilderten Zustände sind zwar in der Regel so,
wie ich sie eben im Gegensatze zu von Krafft- Ebing,
Hegar, W. Acton, Rees, Lombroso, Ferrero, Fehling»
F. Windscheid, Loewenfeld u. a, deren Standpunkt ich
in einigen Zitaten wiedergeben will, schilderte.
W. Acton (M. R. C. S. Functions and Discorders of the
Reproductive Organs) behauptet, wohlerzogene Frauen seien
in England, und sollten es sein, in allen auf das Geschlecht-
liche bezüglichen Dingen vollständig unwissend. »Ich möchte
sagen, daß zum Glück für die Gesellschaft die meisten Frauen
nicht sehr durch geschlechtliche Gefühle in irgendwelcher
Art beunruhigt werden.«< Die Annahme, daß alle Frauen ge-
33*
516 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
schlechtliche Gefühle besäßen, betrachtet er als »niedrige Be-
schimpfung.«
Rees (Cyclopädia, Artikel Generation) behauptet: »Daß
eine schleimige aus den inneren Organen und der Scheide
stammende Flüssigkeit manchmal beim Verkehr vorkommt, ist
zweifellos, aber das kommt nur bei lüsternen oder in Aus-
schweifung lebenden Frauen vor.«
Lombroso und Ferrero (La donna delinquente, la
prostituta e la donna normale 1893, S. 54 bis 58; deutsch
von H. Kurella, Hamburg 1894) hält die durchschnittliche
Frau »von Natur und von jeher für erotisch kalt.«
H. Fehling (Die Bestimmung der Frau. 1892. S. 18.
Rektoratsrede, an der Baseler Hochschule gehalten): »Es ist
eine ganz falsche Idee, daß das junge Weib einen ebenso
starken Trieb zum andern Geschlecht besitzt, als der Mann...
Das Hervortreten des sexuellen Elements in der Liebe eines
jungen Mädchens ist etwas Pathologisches (Krankhaftes)«.
In seinem Lehrbuch der Frauenheilkunde behauptet derselbe
Frauenarzt, daß seiner Ansicht nach die Hälfte aller Frauen
geschlechtlich unerregbar wäre.
F. Windscheidt (Die Beziehungen zwischen Gynäkologie
und Neuralgie, Zentralblatt für Gynäkologie 1896, Nr. 22, ebenso
wie die früheren, zitiert nach Havelock Ellis, Das Geschlechts-
gefühl, autorisierte deutsche Ausgabe von Dr. Hans Kurella.
Würzburg, A. Stubers Verlag [C. Kabitzsch 1913]) hat folgende
Meinung: »Beim normalen Weibe, besonders dem der höheren
Stände ist der sexuelle Instinkt erworben, nicht angeboren.
Wo er angeboren ist oder von selbst erwacht, haben wir es
mit einer Anomalie zu tun. Da die Frauen diesen Instinkt vor
der Ehe nicht kennen, so entbehren sie auch nichts, wenn sie
keine Gelegenheit finden, ihn kennen zu lernen«.
L. Löwenfeld (Sexualleben und Nervenleiden, 1911, 2. Auf-
lage, S.11) behauptet, »daß normalen jungen Mädchen spezifisch
sexuelle Empfindungen absolut unbekannt seien, so daß ein
Verlangen nicht bestehen könne. Abgesehen von der beträcht-
lichen Anzahl derjenigen Frauen, bei denen das geschlechtliche
Verlangen sich nicht einstelle, auch wenn sie schon geschlecht-
liche Beziehungen kennen gelernt hätten, die also absolut kalt
blieben, gäbe es eine noch größere Anzahl von Frauen mit
gemäßigtem geschlechtlichen Verlangen, die man also als ver-
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 517
hältnismäßig kalt bezeichnen könne«. Hier zeigt sich wieder die
Ansicht von der Unempfindlichkeit der Jungfrau, der Empfind-
lichkeit der Frau.
Ich persönlich halte die mitgeteilten Ansichten für Ver-
wechselungen von Selbstbefleckung und Unempfindlichkeit
und für Erzeugnisse der Einbildungskraft von Forschern, die
aus dem Ernste der Unterleibkrankheiten, der Abstumpfung der
»Hysterischen«, richtiger Selbstbefleckerinnen, für die Allgemein-
heit unzulässige Schlüsse zogen. Gewiß wird die Frau zeugungs-
unfähig, geschlechtlich abgestoßen bei der männlichen Be-
rührung, die Tag für Tag, Jahre hindurch der Selbstbefleckung
huldigt. Das ist aber ein Folgezustand, keine ursprüngliche
Anlage. Wenn nun gar die Meinung vertreten wird, die »wohl-
erzogenen« Mädchen hätten keinen Geschlechtstrieb, so ist das
eine Behauptung, für die nach meiner Erfahrung jeder Anhalts-
punkt fehlt. Vielmehr kann starke Selbstzucht wohl zur Be-
herrschung des groben Liebestriebes führen, nicht aber zu seiner
völligen Unterdrückung im jugendlichen Alter. Ich halte mich
zur Verallgemeinerung meiner Beobachtung unter anderm auch
deswegen für berechtigt, weil ich selbst noch vor meiner Kon-
firmation von einer damaligen höheren Tochter nicht nur über
den Mechanismus der ehelichen Beiwohnung vollständige An-
gaben erhielt, sondern weil dieses Mädchen, das später wissen-
schaftliche Lehrerin wurde und heute wohl zu den keuschen
alten Jungfern gehört, als Quelle ihrer Kenntnis damals angab,
daß ein entsprechendes Buch in ihrer Klasse von einer Hand
zur anderen gewandert sei und jede, die es nicht gewußt habe,
habe es so erfahren.
Meiner Auffassung pflichten bei oder nähern sich и. а.:
Dr. Elisabeth Blackwell, die Frauen sogar für stärker geschlecht-
lich veranlagt hält als Männer (The Human Element in Sex 5,
ed. 1894). Marro (La рибегіа 1898, 5. 233): »аіе geschlechtliche
Grundlage beherrscht das ganze Leben des Weibes«. Kisch
(Sterilität des Weibes, 2. Auflage, S. 205 ff.): der Geschlechts-
trieb des Weibes sei so wichtig, daß er zu bestimmten Zeiten
die ganze Natur des Weibes beherrsche, so daß für Vernunft-
gründe auf dem Gebiete des Fortpflanzungslebens kein Raum
bleibe. Im Gegenteil, das Verlangen nach Vereinigung sei da,
selbst wenn zu gleicher Zeit Furcht vor der Fortpflanzung
bestehe oder von einer solchen (Vereinigung) gar keine Rede
518 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
sein könne. Ähnlich Albert Eulenburg (Sexuale Neuropathie
S. 88—90 oder Zukunft [Monatsschrift] vom 2. Dezember 1893).
Der französische Physiologe Beannis, den Havelock Ellis
erwähnt (Geschlechtsgefühl S. 207), fand zwischen der Stärke
des männlichen und der des weiblichen Liebestriebes keinen
Unterschied. (Beannis, Les sensation internes 1889 S. 151.)
Daß auch bei Töchtern sogenannter höherer Stände die Sehn-
sucht nach jungen und hübschen Männern im Durchschnitt
rege zu sein pflegt, beweist die Bittschrift von 72 Darmstädter
Mädchen vom 15. Februar 1821, in der in bewegten Klagen
das Enthaltsamkeitselend geschildert wird (Monatschrift für
Harnkrankheiten, Psychopathia sexualis, sexuelle Hygiene No-
vember 1906, Malendes Verlag, Leipzig). Ich hielt es für richtig,
auf diese Grundfragen näher einzugehen, weil eine Neben-
einanderstellung der verschiedenen Ansichten über die angeb-
liche Kälte der gesunden Frauen ohne weiteres erkennen läßt,
daß zahlreiche Ärzte jedes sinnliche Mädchen für »nicht nor-
mal«, »krank«, »minderwertig«, »schwachsinnig« halten, während
ich jedes gesunde Mädchen für zeitweilig sinnlich und schein-
bare Kälte für ein Zeichen des Hemmungstriebes oder der Selbst-
befleckung oder endlich einer Ersatzbefriedigung, z. B. der gleich-
geschlechtlichen oder der inbrünstig religiösen Befriedigung halte.
Ich will nun: versuchen, ohne das Schlagwort »schwach-
sinnig« oder »psychopathisch« zum Grundpfeiler meiner Aus-
führungen zu machen, die geistigen Eigentümlichkeiten sowohl der
zeitweilig außerehelich Verkehrenden, als auch der sich gewerbs-
mäßig der Unzucht ergebenen Mädchen anzudeuten, indem ich
vorweg bemerke, daß jedes einzelne Gehirn, jeder einzelne
Mensch ein Kunstwerk für sich ist, das keinem andern gleicht.
Immerhin finden sich jedoch recht häufig gemeinsame Züge,
und die Festlegung solcher gemeinsamen Züge soll in folgendem
versucht werden.
Im Staatsleben, wie im Leben des Einzeln streiten zwei
Weltanschauungen um die Herrschaft, die lebenbejahende
(hedonistische, hedoné gr. Freude) und die lebenverneinende
(asketische, askéomai gr. ich begnüge mich) ernste Anschauung.
Die lebenbejahenden Menschen erblicken im Diesseits, im
irdischen Leben und im möglichst ausgiebigen Genusse ihren
Lebenszweck, die lebenverneinenden Menschen sind häufig von
ernster, auf ein Jenseits gerichteter Lebensauffassung; sie betonen
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 519
die Pflichten des Lebens, während die Hedonisten die Rechte
betonen. Dieser Gegensatz findet sich auch dort, wo die
Glaubenssätze der staatlich anerkannten Religionsgemeinschaften
nicht anerkannt werden. Der stärkste Ausdruck der Lebens-
bejahung ist die Erzeugung von Nachkommen. Starke Aus-
drucksweisen der ernsten lebenverneinenden Lebensauffassung
sind das Nonnen- und Mönchswesen, die Selbstgeißelungen und
Selbstzerfleischungen, schließlich auch die Selbstmorde Schwer-
mütiger, die den Tod herbeisehnen und förmlich den Tod
physisch lieben, wenn sie einen Strick zum Aufhängen, eine
Pistole zum Erschießen, ein Wasser zum sich Ertränken wählen.
Eine Mischung von Selbstaufopferung, Unterdrückung des
Liebestriebes und Lebenslust, Sichausleben und -Austoben-
wollen stellen die meisten Menschen dar. Daneben gibt es
zielbewußte Vertreter der lebenbejahenden Weltanschauung,
Männer und Frauen, die mit vollem Bewußtsein den Lebens-
genuß als das erstrebenswerte Lebenziel hinstellen, die dem
Geist des Nurgenießenwollens, der Anschauung, Arbeiten sei
eine Last, huldigen.
Zwischen den gewerbsmäßig und den nichtgewerbsmäßig
unzüchtigen Mädchen und Frauen besteht nun ein Hauptunter-
schied. Die einen verfolgen noch andere Lebenszwecke als
den der Männeranlockung, des Schöngekleidetgehens und der
verfeinerten Aufnahme von Speise und Trank. Die gewerbs-
mäßig Unzüchtigen leiden sehr häufig an Arbeitsscheu. Sie
verbrauchen aber ihre Kräfte im Genießen und Männeranlocken,
das ihnen Vergnügen macht. Zwischen den nur ehelich Ver-
kehrenden und der gelegentlich auch außerehelich oder vor-
ehelich Liebenden und der ausschließlich auf Männerfang Aus-
gehenden gibt es zahlreiche Übergänge.
Diejenigen Mädchen, die unter sittenpolizeiliche Aufsicht
kommen, zeigen häufig folgende hervorstechende Eigentümlich-
keiten:
1. Arbeitsunlust, Trägheit im Dienste, Mangel an Ausdauer
im Fabrikdienst, hingegen
2. starke Sinnlichkeit; Männer werden angelockt, selbst wenn
keinerlei Aussicht auf Bezahlung besteht. Fehlt der Männer-
verkehr, so treten Triebabweichungen, z. B. weibweibliche Liebe,
an seine Stelle. Die verschiedensten Formen des sexuellen Ver-
kehres werden eingehend besprochen und versucht, so daß beim
520 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
einfachen Verkehr oft eine Lustempfindung fehlt. Knechten, ja
Peitschen des Mannes bereitet vielen Freudenmädchen Ver-
gnügen, ebenso die Ausbeutung und Verhöhnung des Freiers.
Hingegen wird die (lesbische) Freundin oder der Bräutigam
eifersüchtig geliebt. Als Bräutigam begehren die Mädchen
meist einen Mann von rauhem Auftreten, der sie beherrscht,
bei Unfügsamkeit sich nicht scheut, Gewalt anzuwenden. Aus-
peitschung mit dem Gummischlauch ertragen sie von dem
Bräutigam gern, hingegen zeigen sie ihn bei Untreue oft an.
3. Weibliche Eitelkeit ist stark ausgeprägt.
4. Kunsttriebe, wie gesangliche Fertigkeiten, Sinn für Formen-
und Farbenpracht, auch schauspielerische Fähigkeiten sind oft
stark entwickelt.
5. Die Freudenmädchen sind lebhaftem Stimmungswechsel
unterworfen, oft Spielbälle kurzer Stimmungen, in denen sie
Anwandlungen von Liebe, Mitleid, Haß, Zorn leicht nachgeben.
Ausdauer ist in der Regel nicht vorhanden. Ein Kleid, das
heute gefällt, wird morgen verschleudert. Ein abwechslungs-
reiches Abenteurerleben zwischen Genuß und Entbehrung, Ge-
fängnis, Krankenhaus, Ballhaus wird von ihnen ruhiger Stetigkeit
selbst dort vorgezogen, wo sie bei leichtester Arbeit sorglos,
aber ohne Mann leben könnten.
Diese Eigenschaften haben, soweit meine Untersuchungen
reichen, nichts mit den geldlichen Verhältnissen des Eltern-
hauses zu tun. Die mir bekannten Kontrollmädchen entstammten
allen Kreisen der Bevölkerung ohne verhältnismäßig starke
Beteiligung der Handarbeiterkreise oder gar verhältnismäßig
schwache Beteiligung der sogenannten höheren Kreise. Höhere
Töchter sind zahlreich unter den von mir untersuchten Kontroll-
mädchen vertreten.
Soweit ich bisher die von mir eingehend erforschten Lebens-
läufe von Hunderten Berliner Mädchen, die von der Sittenpolizei
zur Zwangsbehandlung eingeliefert wurden, überblicke (die
Forschungen sind noch nicht abgeschlossen, da ich alle einzelnen
Angaben, soweit irgend möglich, nachprüfe, auch die einzelnen
Familien persönlich aufsuche und die weiteren Schicksale ver-
folge bis zum Tode jedes einzelnen Mädchens), entstammten
die ohne bewußte Parteilichkeit von mir ausgewählten Freuden-
mädchen nicht den ärmsten Bevölkerungsschichten, sondern
den verschiedenen Volkskreisen. Unter den Mädchen Nr. 1 bis
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 521
100 war eine adlige Dame, Gutsbesitzerstochter, neben 99 Bürger-
mädchen. Zwei machten unbrauchbare Angaben, etwa 8 waren
außerehelicher, etwa 90 ehelicher Abkunft, 2 waren Töchter von
Rentiers (ein Rentier war früher Monteur, einer früher Maler-
meister gewesen und jetzt Hausbesitzer), 1 Hauptmannstochter,
etwa 18 Töchter von »Arbeitern«, 7 Töchter von Militäranwärtern,
1 Tochter eines Reisenden, 1 Kaufmannstochter, deren Mutter
eine Brauerei besaß, 1 Tochter eines Berliner Magistratsbeamten,
zahlreiche Töchter von Handwerksmeistern und -Gesellen, sowie
auch solche von Landwirten, mehrere höhere Töchter, 1 staat-
lich geprüfte Lehrerin. Daß die außerehelich Geborenen nicht
durch Brotmangel zur Unzucht kamen, zeigen ihre Lebensläufe,
die ich in der von mir herausgegebenen Monatschrift für Harn-
krankheiten, Psychopathia sexualis und sexuelle Hygiene, Ver-
lag Malende, Leipzig, unter dem Titel Dirnentum und Mutter-
schutz (ebenda als Sonderdruck) erscheinen ließ. Ebensowenig
wie diese Außerehelichen gab auch nur eine einzige Eheliche
an, durch Brothunger zum Dirnengewerbe gegriffen zu haben.
Die Besucherinnen der Volksschule werden in Preußen auf
97 00 ег Gesamtbevölkerung geschätzt, so daß aus meinen
Akten ohne weiteres hervorgeht, daß höhere Töchter sich
zahlreich an der Gewerbunzucht beteiligen, nicht als seltene
Ausnahme, sondern in Berlin so regelmäßig, daß während
meiner Hausarzttätigkeit im Fröbelkrankenhause stets höhere
Töchter in Zwangsbehandlung waren.
Schon aus den Lebensläufen dieser Berliner Kontrollmädchen,
die ein wissenschaftlich treues Spiegelbild aller noch vorkommen-
den Lebensläufe sind, geht deutlich hervor, daß Brothunger nicht
die Triebfeder zur Gewerbeunzucht ist, auch nicht bei früheren
Fabrikarbeiterinnen. Christine L. z.B. (Nr. 9 meiner Akten)
verdiente mit 141/2 Jahren als Serviteurnäherin im Akkord 7 bis
8 Mark wöchentlich, wohnte zuhause und wurde Kellnerin
Obgleich ihr nun bei leichtester Arbeit und ohne Zwang zu
irgend einer Überbürdung im Magdalenenstift, das damals nach
dem Ergebnis meiner Erkundigungen 1,10 Mark pro Tag und
Mädchen ausgab, freundliche Behandlung und vorzügliche Er-
nährung geboten wurde, rückte sie nach vier Tagen aus. Die
Mutter glaubte auch nicht an den Brothunger, schlug das
Mädchen und dieses schrieb der Oberin des Stifts: „Meine
Mutter weiß, was an mir ist. Ich bin ein bißchen leichtsinnig,
522 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
aber sonst nicht schlecht. So sagt wenigstens meine Mutter
zu mir. Ich bleibe Kellnerin und liebe meinen Beruf.“
Kein einziger der von mir befragten Verwandten (eben-
sowenig ;wie irgend eines der eingelieferten Mädchen) ver-
suchte auch nur die Behauptung aufzustellen, Brothunger
habe die Mädchen zur Unzucht gezwungen. Ebenso versagten
auch bisher alle Schriftsteller, die zwar mutig die unerhörtesten
Beschuldigungen gegen die bürgerliche Gesellschaft schleuderten,
von denen aber auf meine Anfrage bisher nicht ein einziger mir
auch nur einen einzigen Fall nennen konnte, in dem ein
Mädchen durch Brothunger gewungen wurde, das Gewerbe
eines Kontrollmädchens zu ergreifen. Diese irrtümliche An-
nahme ist um so verkehrter, als das Unzuchtgewerbe in den
Großstädten derart mit Arbeitskräften überfüllt ist, daß nur
sehr geschickte und gerissene Mädchen der Männerwelt das
zum Lebensunterhalt nötige Geld entlocken können. Die Unter-
bietung derer, die sich ohne Bezahlung auf Verkehr einlassen,
ist in den großen Städten erheblich, während Mangel ап
zahlungslüsternen Männern (Ehemännern und Dirnenfreiern) zu-
tage tritt.
Wenn man die Frage erörtern will, was geschieht oder
geschehen soll in der Behandlung der Dirnen, so will ich
zunächst einen Überblick geben über die gegenwärtig in Preußen
möglichen Behandlungsarten und -Mittel.
Die wirksamen Mittel lassen sich in drei Gruppen ein-
teilen. Es wird a) durch Liebe, b) durch Furcht, c) durch
das Beispiel gewirkt.
Wenn wir durch Liebe zu wirken suchen, so suchen wir,
ärztlich gesprochen, eine gröbere Liebesbetätigung durch eine
feinere zu ersetzen. Wenn ein Mädchen oder ein Bursche zu
einem anderen Menschen heftige Liebe empfindet, so meidet
er, was den Geliebten kränkt. Steht also der geliebte Mensch
auf dem Boden der lebenverneinenden Weltanschauung, so
läßt sich der Liebende leicht umstimmen, wenn seine Liebe
heftig und der Geliebte standhaft ist. Um ihn nicht zu kränken,
meidet der Liebende das von dem Geliebten Nichtgerngesehene.
Diese Art »edler« Liebe oder Freundschaft ist möglich zwischen
Eltern und Kindern, Brüdern unter einander, Schwestern unter
einander, Brüdern und Schwestern, endlich zwischen Nicht-
verwandten. Sie birgt in sich den Keim zum Übergehen in
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 523
körperliche Berührungen, z. B. Küsse, die bis zum gröbsten
Verkehre führen können, so daß also schließlich eine Form
der grobsinnlichen Liebe durch die andere noch gröbere er-
setzt würde. In Würdigung dieser Möglichkeit wird nach
$ 174 DRSt. der Verkehr von Lehrer und Schüler erheblich
bestraft.
Nun ist es richtig, daß nach dem jetzigen Stande der
Sittenlehre nur Übertreibungen und Auswüchse, nicht die Triebe
an sich bekämpft werden. Überführen eines Triebes in die
beste Form ist das erstrebenswerte Ziel, nicht Unterdrückung
des Nahrungs- oder Liebestriebs überhaupt. Der Liebe des
Erziehers entspricht die »Humanität« des letzteren.
b) Durch Furcht wirkt man mittels Drohungen oder
Strafe, auch durch Kälte (Strafloslassen, auch nicht mehr Tadeln
und gleichzeitig als nicht zu uns gehörig Behandeln.)
Die Drohung wirkt als Abbild der Strafe. Die Angst-
vorstellung wirkt schwächer als die Schmerzempfindung.
Drohungen werden wirkungslos, wenn sie nicht gelegentlich
verwirklicht werden.
Als Strafen werden Beeinträchtigung des körperlichen
Wohlbefindens gewählt. Strafen, die keinerlei körperlichen
Nachteil bringen, gibt es nicht, wenn man die verschärften Er-
mahnungen nicht als solche gelten lassen will.
Ich persönlich halte die Prügelstrafe auch bei vierzehn-
bis einundzwanzigjährigen Mädchen in der Regel für zweck-
mäßiger, als die Nahrungsentziehung oder Einzelhaft oder
gar die Dunkeleinsperrung. Körperliche Züchtigungen sind alle
drei Strafarten. Die Prügelstrafe hat m. E. den Vorteil, daß
sie nur kurze Zeit dauert, in ihren Wirkungen unmittelbar er-
kannt werden kann, auch leicht ausführbar ist, so daß sie bei
häuslicher Erziehung leicht in Anwendung gebracht werden
kann. Andererseits widerstrebt das Prügeln vielen Erzieherinnen,
die eine körperliche Züchtigung als Roheit empfinden, während
sie die Rauheiten der Hungerkuren und Einzeleinsperrungen
nicht als solche betrachten. Damit ein Mißbrauch der Straf-
gewalt vermieden wird, halte ich genaue Einzelvorschriften für
erwünscht, wie weit die Erzieherin gehen darf; gleichsam eine
Einführung {von »Maximaldosen«, wie wir sie als Richtschnur
für Ärzte haben, auch für die Erzieher. Als Ziel der Erziehung
dient die Ausbildung zu einem Beruf, die Gewöhnung an
524 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Arbeit. In Anstalten wird beim Eintritt des Zöglings der Arzt
über die Kräfte der Eintretenden zu hören sein. Die ersten
Wochen dienen der Körperpflege und allmählichen Anlernung;
dann folgt die Einübung zur Ausdauer in einer Arbeit. Bei
mangelhafter Begabung geduldige Einzelunterweisung, bei Bös-
willigkeit Bestrafung, die stets als unangenehm empfunden
werden soll, daher nicht zu leicht sein darf.
Den Strafen entsprechen Anerkennungen. Mit Zwang
allein ist der Endzweck der Erziehung nicht erreicht. An-
erkennung der Fortschritte, in Anstalten durch Aufrücken in
kleinen Ämtern, vielleicht anch durch Gewährung von Taschen-
geld. (Den Strafen der Erzieher entsprechen in der ärztlichen
Behandlung die Einkerkerung im Irrenhaus, »disciplinare« Bett-
ruhe, schmale Kost und ähnliche Mittel).
c) Das gute Beispiel ist die Grundlage einer guten Er-
ziehung. Die guten Vorbilder einer sittlichen Lebensführung sind
wirksamer als schöne Worte oder Strafen, sie bilden die Vor-
aussetzung für eine wirksame Bestrafung. Ein inniges Verhältnis
zwischen Erzieherin und Zögling ist nur dann erzielbar, wenn
Ehrlichkeit auf beiden Seiten obwaltet.
Zu diesen erzieherischen Mitteln treten je nach dem Einzel-
falle geeignete ärztliche Maßregeln, besonders dort, wo Körper-
krankheiten vorhanden sind. Prüfung der Sinneswerkzeuge
der Brust, sowie Untersuchung des ganzen Körpers durch den
Arzt erfolgt schon bei der Aufnahme. Bei Krämpfen und
andern auf Nervenleiden deutenden Zuständen wird auch die
Frage der Verstellung zu prüfen sein.
In den Tagen des monatlichen Unwohlseins und dem
zwischen zwei Monatsblutungen in der Mitte liegenden Tage
seien die Erzieher besonders milde und freundlich, da in dieser
Zeit die Stimmung der Mädchen leicht gereizt zu sein pflegt.
Die gleichgeschlechtliche Liebesbetätigung erfordert die
besondere Aufmerksamkeit der Erzieherinnen, dieser Trieb ist
mitunter nur Folge langer Enthaltsamkeit vom mannweiblichen
Verkehre, das Nachgeben außerdem Folge der Willensrichtung.
Schläge sind hier zwar am wirksamsten, doch gerade bei
solchen Betätigungen vielfach verpönt. Vorbeugend wirken die
Einrichtung von Einzelschlafkammern, die Erziehung in religiösem
Geiste, das rechtzeitige Aufstehenlassen. Beim Einwirken auf
eine Lesbierin kann vorteilhaft betont werden, daß die edle
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 525
Freundschaft nicht verboten ist, Anerkennung findet, das Über-
gehen zu grobsinnlicher Leidenschaftlichkeit jedoch nicht ge-
duldet werden kann.
Im Einzelnen möchte ich noch folgende Punkte berühren:
1. Bei der seelischen Einwirkung auf die Zöglinge ist ein
Zwiespalt in den Weltanschauungen der Anstaltsangestellten
ganz besonders gefährlich. Ärzte z. B,, die den Mädchen als
»Freier« bekannt sind, üben ein Gegengewicht gegen die Ein-
wirkungen des Geistlichen aus, der doch auf dem Boden der
außerehelichen Enthaltsamkeit steht.
2. In Dienst gegebene Mädchen sollten regelmäßig ge-
wogen werden, auch öfter außerhalb des Hauses der Herr-
schaft Gelegenheit haben, sich mit einem Fürsorger über ihre
Wünsche auszusprechen.
3. Die Dienstherrschaft, die gut ausgewählt werden muß,
hat mit Recht die Machtbefugnis der Eltern, doch gebürt ihr
das Recht der körperlichen Bestrafung in der Regel m.E.
nur dann, wenn sie dem Zögling auch die äußere Stellung
eines Kindes (z. B. durch Adoption) einräumt.
4. Lieblose Anspielungen auf die Vergangenheit sind zu
vermeiden; sie entstehen meist dort, wo die Erzieher kein
Strafrecht haben.
5. Ich empfehle den Herrschaften der Zöglinge eine ge-
druckte Anleitung in die Hand zu geben.
6. Reizbare Nervenschwäche (Nervosität) der Erzieher wirkt
ansteckend auf die Zöglinge. Ruhiges, bestimmtes Auftreten,
nicht der gereizte Ton der Nervenzerrüttung ist zur Erziehung
erforderlich.
Die vorhergehenden Sätze sind nur Winke, die im all-
gemeinen die wichtigsten Punkte enthalten.
Im Einzelfalle ist die günstige Beeinflussung eine Kunst,
die je nach den Besonderheiten bald das eine, bald das andere
Mittel wählt.
H Ө
EI
526 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
ZUR PSYCHOLOGIE DES KOSTÜMS
VOM ROKOKO BIS ZUR GEGENWART.
Von Prof. Dr. ADOLF THIMME,
(Schluß).
Set dem Jahre 1806 beginnen wieder kurze, fußfreie Röcke zu
erscheinen speziell als Tanz- und Ballkleider junger Mädchen.
Nach der Niederlage bei Jena verschwindet die Schleppe, d. h.
Würde und Hoheit aus der Kleidung. Während vorher die
schlicht herabwallenden Kleider ihren natürlichen Abschluß
dadurch erreichten, daß sie auf dem Boden einen Halt fanden,
verlangen die fußfreien Röcke sehr bald einen besonderen Ab-
schluß am unteren Rande, um nicht zu flattrig und leicht zu
sein. Es erscheinen daher nun allerlei Frisuren als Abschluß,
eine Borde, eine Rüsche, ein Blätterkranz oder ein Spitzenvolant.
So nett das zunächst aussehen kann, so bedeutet es doch den
Ruin der reinen Empiretracht. Denn der schwer und schwerer
werdende Abschluß verdrängt und verhindert den schönen
freien Fluß der Falten. Daher werden die Röcke enger, die
Falten weniger, die Muster in den Stoffen treten wieder mehr
hervor. Doch bleiben in den Jahren der Befreiungskriege bis
etwa 1816 die Moden ziemlich stabil, da man an anderes zu
denken und zu sorgen hatte.
Neben den kurzen Röcken sind die Schleppen im Ge-
brauch nur noch bei Staatskleidern geblieben, wo sie oft als
Überwurf erscheinen, so besonders in England, das ja unter
der Not der Zeit am wenigsten gelitten hatte. Doch auch
kurze Tunikas erscheinen als Überwurf, hier und da tauchen
am Kostüm Quasten, Volants, Stickereien wieder auf. Wodurch
sich aber dies Kostüm der späteren Empirezeit von der früheren
unterscheidet, das ist der Umstand, daß das Kleid dicht unter
der Büste wieder fest wird: Ein Vorbote der kommenden Reaktion.
Es wird also wieder eine Taille markiert; zwar ist sie in den
Jahren 1817—20 noch meist sehr hoch, aber es beginnt doch
eben in diesen Jahren wieder der Kampf zwischen den beiden
Stilarten der Kleidung. Es taucht nämlich zuerst im Jahre 1817
auch wieder die Schnürbrust auf, die aber diesmal bezeichnender-
weise aus Rußland kommt, aus dem Lande der Knute und
Sklaverei. Man schreibt bei ihrem ersten Erscheinen zwar aus
Paris: »Die russischen Schnürbrüste empören hier den National-
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 527
stolz«, und man fügt spöttisch hinzu: »Solche den Insekten
gleich in der Mitte des Körpers eingeschnittene Puppen werden
dadurch verteidigt, daß sie weniger essen, also in diesen teuren
Zeiten billiger leben können«. Auch die Bertuchsche Modezeitung
kämpft tapfer für das Empire und gegen die wieder andringende
feste und tiefe Taille. Noch 1819 heißt es bei Bertuch: »Auf-
fallend ist der schnelle Übergang von den kurzen Taillen auf
die langen, doch werden diese wohl nicht allgemein Beifall
finden, da sie sich wenig von den steifen Korsetts unterscheiden,
welche so oft auf dem Theater als Karikatur erscheinen«.
Aber doch siegte diese Karikatur, und zwar drang sie in Paris
zuerst durch, während sich die Engländer am längsten dagegen
sträuben.
Die Taille des Empirekleides rückt dann allmählich wieder
herab und wird zugleich fester, und mit einem Male ist das
Korsett und die Wespentaille wieder da, trotz aller Proteste der
Ärzte und Menschenfreunde. Es scheint im Modewechsel
wirklich die eiserne Notwendigkeit eines Naturgesetzes zu liegen.
Sobald eine neue unbequeme oder gesundheitswidrige Mode
auftaucht, jammert alles, aber alles macht sie mit. Wenn sie
verschwindet, herrscht große Freude wie über den Tod eines
Tyrannen. Das Wiederaufkommen der festen Taille hatte
damals seine guten allgemeinen Gründe Denn nach dem
frischen literarischen Leben der Frühromantik, nach all der
patriotischen Begeisterung der Freiheitskriege war die Müdigkeit
des Siegers gefolgt. Die Versprechungen der Fürsten für eine
freiere Verfassung wurden von den meisten gebrochen; an-
gesichts der wüsten Ausschreitungen der Revolution übersah
man den Segen, den sie gebracht, und flüchtete zu den Idealen
des Mittelalters zurück. Es trat daher auf allen Seiten eine
höchst energische Reaktion ein, der Absolutismus, der Feudalis-
mus kam überall ans Ruder. Die deutsche studierende Jugend
und die neu auftretenden Turner suchten zwar in Burschenschaften
und Festen die freiheitlichen Bestrebungen am Leben zu er-
halten und schufen sich auch wieder in einem neuen Kostüm
ein Symbol dafür, aber unerbittlich wurde die Polizei auf ihre
Fährte gesetzt. Der Turnvater Jahn konnte noch froh sein,
für seine Tracht mit Verbannung davon zu kommen; im übrigen
entwickelte sich der bürgerliche runde Kastorhut Benjamin
Franklins zu dem finsteren Zylinderhut, unter dessen wuchtigem
528 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Dach der beschränkte Untertanenverstand in Sicherheit ge-
bracht zu sein schien. Daher mußte denn auch wohl das
Frauenkostüm die beschriebene Rückentwicklung erleiden. Auch
die Literatur zog sich von großen und das Menschenherz be-
wegenden Fragen zurück in die Goldschnittaschenbücher, wo
die bezauberten Rosen dufteten und verwunschene Feen die
veilchenblaue Tugend belohnten. Auch der ritterliche Porzellan-
stil des Rokoko lebte wieder auf. Allein das Biedermeier machte
eigentlich nur einen Ausflug in die Ritterlichkeit, und wenn es
davon wieder nach Hause kam, so legte es mit dem Frack
und den Vatermördern den Ritter wieder ab und zog den
Haustyrannen oder den Patriarchen an.
In der Folge eroberte sich das Frühbiedermeierkostüm der
zwanziger Jahre die tiefe feste Taille zurück, die Ärmel wurden
keulenförmig, die Volants am unteren Rockende wuchsen nach
oben empor, zugleich gewann der Rock an unterer Weite, bis
der Moment eintrat, wo man den Umfang künstlich durch einen
Roßhaarrock oder durch einen eingenähten Reif von Fischbein
oder Rohr stützen mußte. Der Hals wurde meist noch frei ge-
tragen, der Hut durch allerlei Bänder und Bandagen geziert.
Aber das Übergangskostüm der zwanziger Jahre hatte noch
keinen rechten Stil, die neuen Intentionen, die auf Zwang und
Drangsal hinauswollten, kamen noch nicht voll zur Geltung, man
ging daher in den dreißiger Jahren in derselben Richtung
noch weiter. Die Taille wurde enger geschnürt, das Kleid
unten noch weiter, der Kopfputz zierlicher. Das Ganze ge-
winnt wieder etwas Stilvolles, wenn auch Unnatürliches, denn
das Kostüm hat etwas Zimperliches, Altjüngferliches an sich.
Aber man kann ihm eine gewisse Grazie nicht absprechen.
Das Leben bietet auch wieder etwas mehr Behagen, insbesondere
glänzt eine gewisse Sauberkeit und Adrettheit aus dem Arrange-
ment der Schultern, der Hände und des Kopfes.
Die Haarfrisur insbesondere bietet viel Charakteristisches,
der Kopf wird sozusagen immer kleiner und gewinnt den Aus-
druck äußerster geistiger Genügsamkeit. Oben ist die Frisur
glatt und anliegend, rings mit Blumen besteckt, an den Seiten
von einer Garnitur sauber und zierlich gedrehter Löckchen
umrahmt, hinten durch einen soliden Knoten und eine Spitzen-
schleife abgeschlossen. Das ganze atmet Bescheidenheit,
sexuelle Genügsamkeit und Tugendhaftigkeit.
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DIE KRINOLINE IM BALLSAAL.
Zu dem Aufsatz »Zur Psychologie des Kostüms«. S. 526.
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 529
In der Literatur erscheinen in den dreißiger Jahren merk-
würdigerweise die beiden Frauen, die man wohl als die größten
deutschen Schriftstellerinnen bis auf die Moderne bezeichnen
muß: Bettina von Arnim-Brentano und Annette von Droste-
Hülshoff. Aber beide sind ja noch im Empirekostüm auf-
gewachsen, beide stehen der Biedermeierzeit selbst und ihrem
Geschmack völlig fern, beide werden daher wenig gelesen, und
ihre Bücher erleben kaum eine neue Auflage.
Als Beweis, wie wenig biedermeierlich jedoch die Droste in
Wirklichkeit ist, und wie sehr die Freiheitssehnsucht der modernen
Frau in ihr lebt, möge hier das Gedicht: Am Turm stehn:
Am Turme.
Ich steh auf hohem Balkone am Turm,
Umstrichen vom schreienden Staare,
Und laß gleich einer Mänade den Sturm
Mir wühlen im flatternden Haare;
O wilder Geselle, o toller Fant,
Ich möchte dich kräftig umschlingen
Und Sehne an Sehne, zwei Schritte vom Rand,
Auf Tod und Leben dann ringen!
Und drunten seh ich am Strand, so frisch
Wie spielende Doggen die Wellen,
Sich tummeln rings mit Geklaff und Oezisch
Und glänzende Flocken schnellen. —
O, springen möcht ich hinein alsbald,
Recht in die tobende Meute,
Und jagen durch den korallenen Wald
Das Walroß, die lustige Beute!
Und drüben seh ich ein Wimpel wehn
So keck wie eine Standarte;
Seh auf und nieder den Kiel sich drehn
Von meiner luftigen Warte;
O, sitzen möcht ich im kämpfenden Schiff,
Das Steuerruder ergreifen,
Und zischend über das brandende Riff
Wie eine Seemöve streifen!
Wär ich ein Jäger auf freier Flur,
Ein Stück nur von einem Soldaten,
Wär ich ein Mann doch mindestens nur,
So würde der Himmel mir raten;
Nun muß ich sitzen so fein und klar,
Gleich einem artigen Kinde,
Und darf nur heimlich lösen mein Haar
Und lassen es flattern im Winde!
Geschlecht und Gesellschaft VIII, 12. 34
530 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Alle andern großen, schöpferischen Künstler jener Zeit
sind männlichen Geschlechts, nur in den reproduzierenden
Künsten, dem Gesang, der Schauspielkunst finden sich weib-
liche Größen. Als Typus der zahlreichen Fabrikarbeiterinnen
der Literatur kann etwa der Name der Birch-Pfeifer genannt
werden. So ist auch der Ausdruck der zahlreichen weiblichen
Portraits der Zeit durchweg der der erotisch anspruchslosen
Bescheidenheit und Sanftmut, ganz zu dem Kostüm passend.
Das Männerkostüm machte noch einmal einen schwachen
Versuch, aus dem Zylinder und den Vatermördern herauszu-
kommen. DasJahr 1848 war herangekommen, und von jen-
seits des Rheines erscholl wieder einmal das Feldgeschrei:
»Liberte, égalité, fraternité!« Da sammelten sich auch іп
Deutschland um Hecker, Blum und Schurz die Scharen des
republikanischen jungen Deutschlands. Und wieder schufen
sie zum Ausdruck ihrer Ideale ein Kostüm, das die Freiheit
nicht ohne einige Koketterie dokumentieren sollte. Der große
Heckerhut mit Kokarde und Hahnenfeder und ein großer Voll-
bart waren des echten Freischärlers vornehmste Kennzeichen.
Das Erscheinen eines solchen Kostüms genügte jedoch, die
Polizei in Aufregung zu
versetzen, da es als poli-
tisches Verbrechen ange-
sehen wurde, ebenso wie
das Tragen eines Turner-
oder Burschenschafts-
kostüms um 1820.
Die Reaktion der 50er
Jahre zeigt sich, wie in
der Wiederaufnahme von
Rokokoformen in Möbeln
und Geräten, so in der
Entwicklung der Frauen-
mode. Die Stilform der
Biedermeier-Frauenmode,
die in den 30er und 40er
Jahren auf der Höhe ihrer
Entwicklung angelangt
war, entartete in den
Die Naive. Holzschnitt von Genoile 184. 50er Jahren. Schon längst
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 431
wurden ja in das Kleid,
wie in die Unterröcke,
die teilweise mit Roß-
haaren gefüttert wurden,
Rohr- und Fischbeinreifen
eingenäht, um die nach
unten immer weiter wer-
denden Röcke in ihrer
ganzen Ausdehnung zu
präsentieren. Als die
weibliche -Hüfte das Ge-
wicht der gefütterten und
mitReifen benähten Röcke
nicht mehr zu tragen ver-
mochte, erfand zu ihrer
persönlichen Erleichte- HE
rung die Kaiserin Eu- ge
genie die sogenannte a )
Krinoline*), den eigent- É j E
lichen Reifrock, die den e e
Vorteil bot, daß sie eine un-
tere Dimension von 5 bis
6 Metern gewährleistete, dabei doch das Gewicht erheblich ver-
minderte und den Beinen ein freieres Ausschreiten ermöglichte,
während man nun die Länge des Rockes bis auf den Erdboden
herunter führen konnte, um die größte mögliche Weite zu erreichen.
Da der Kopf ganz bescheiden gehalten wird, so macht er immer
mehr den Eindruck eines kleinen Knopfes auf einer riesigen
Glocke. Jede Vorstellung davon, welche natürlichen Körper-
formen eigentlich bekleidet werden sollten, verschwand. Diese
Reifröcke wurden daher als besonders sittliche Kleidungsstücke,
als Tugendwächter gepriesen, wahrscheinlich, weil die Ver-
mutung, daß vielleicht menschliche Beine darunter stecken
könnten, nun in unverdorbenen Herzen gar nicht mehr auf-
kommen konnte. Eine Menge querlaufender Volants und Frisuren
verlegte noch dazu, besonders bei Gesellschaftskleidern, den
Auf der Jagd. Zeichnung von Felix Valloton.
*) Die eigentliche Krinoline war eben jener schon seit mehr als
20 Jahren getragene Roßhaarunterrock, denn Krinoline heißt auf deutsch:
Roßhaarrock.
34°*
432 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Schwerpunkt aus der natürlichen Vertikale des Körpers in die
Horizontale, in die Baumkuchenform.
Im Zusammenhang damit steht nun auch die Auswahl und
Musterung der Stoffe. Die Muster schreien buchstäblich gen
Himmel. Karrierte und quergestreifte oder mit Bouquets be-
streute Muster werden bevorzugt, alles, um den menschlichen
Leib nicht ahnen zu lassen. Eine Schutzrede auf die Krinoline
aus dem Jahre 1858 sagt: »Gewährt nicht eine Schaar daher-
schwebender bunter Krinolinen ganz denselben Anblick als ein
von sanften Westwinden geschaukeltes Blumenbeet? Aber die
Krinoline ist nicht allein reizend, sie ist auch sittsam.«
Übrigens hat die Krinoline nicht immer die gleiche Form
gehabt. Die ältere Art der 50er Jahre hatte die Bienenkorb-
oder Baumkuchenform und war auch oben an den Hüften von
erheblicher Weite, so daß die darüber getragenen Röcke nach
oben nicht abgeschrägt wurden. Die spätere dagegen aus den
60er Jahren war oben schlanker und hatte unten mehr die
Ausladung eines umgekehrten Trichters. Von alten Damen
wird mir noch heute die Schönheit und das stattliche Ansehen
jener Mode gerühmt, sowie die Annehmlichkeit der Krinoline,
die das Gehen erleichtert und den unteren Kleidersaum ge-
schont habe, so daß man sich »so recht frei und luftig darin
gefühlt« habe. Dagegen wird zugegeben, daß sie beim Sitzen
unbequem gewesen sei und viel Vorsicht erfordert habe, da es
bei auch noch so feinen Stahlreifen nicht ohne unliebsamen
Druck abgegangen sei, und besonders unangenehm sei es
vollends gewesen, wenn beim Springen oder Tanzen der Fuß
zwischen die nur mit Bändern verbundenen Stahlreifen ge-
raten sei.
Die Krinoline ist die dritte der Reifrockmoden in der Ge-
schichte des neueren Kostüms. Der erste Reifrock war in der
spanischen Tracht, die bis zum 30jährigen Kriege herrschte,
der zweite der Rokokozeit lebte bis zur französischen Revolution,
der dritte, die Krinoline, lebte bis zum Kriege von 1870/71.
Sonderbar, daß immer ein großes politisches Ereignis nötig
war, um dem Ungetüm den Garaus zu machen. Übrigens
war das im Einzelfalle buchstäblich gar nicht leicht. Denn da
die Krinoline ein Gestell aus sehr elastischen und zähen Stahl-
reifen war, so wußte man in der Tat nicht, wohin mit dem ab-
gelegten Ding. Es hatte ein zähes Leben. Ein Gutsbesitzer
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 433
aus jener Zeit klagt: »Die Dinger sind gar nicht loszuwerden.
Das Wasser nimmt sie nicht mit, im Feuer verbrennen sie nicht,
tut man sie auf den Mist, so findet man sie im Frühjahr wieder
auf dem Felde, gräbt man sie unter, so kommen sie beim
Pflügen wieder heraus.« Es war daher ein genialer Gedanke,
als im Jahre 1876 ein findiger Kopf in Paris darauf verfiel, die
Reifen zu zerschneiden und das berüchtigte knackende Spielzeug,
das cri-cri, daraus zu machen, mit dem so etwa 6 Wochen lang
die ganze Welt, jung und alt, bewaffnet ging.
Auch nach dem Jahre 1871 wird die Entwicklung des
Kostüms nicht jäh abgebrochen. Die Krinoline bleibt sozu-
sagen noch eine Weile an der Rückseite des Frauenrockes in
Gestalt der sogenannten Tournüre lebendig, auf der man zu-
nächst die leer gewordene Hülle aufzubauen sucht, indem man
die Röcke durch unterhalb angebrachte Bänder nach hinten
zusammenband. Das ist wohl als der Gipfel der Stillosigkeit
und Geschmacklosigkeit anzusehen. — Um auch hier noch einen
kurzen Seitenblick auf die gleichzeitige weibliche Literatur zu
werfen, so triumphiert auch hier das konservative Element. In
den Jahren von etwa 1860—80 ist die Marlitt die führende
Schriftstellerin. Erst als in der Mitte der siebziger Jahre jener
Konservativismus schwand, verschwand auch der rückwärtige
Auswuchs der Tournüre, es blieben jedoch noch die künst-
lichen Falten des Rockes. Diese folgen aber nicht etwa den
natürlichen Linien des Körpers, sondern sie werden von vorn
nach hinten drapiert, gerade so wie man etwa Gardinen oder
Portieren an Fenstern und Türen zu drapieren und zu raffen
liebte. Außerdem wird der Fall des Rockes noch durch Über-
würfe und Bänder, Schleifen, Rüschen und Volants unterbrochen.
Eine bauschige mit Rüschen und Pliss&es verbrämte Schleppe
rauscht hinterher, während der obere Teil des Kostüms, die
Taille, knapp und glatt anliegt. Das Ende der achtziger
Jahre läßt die Schleppe fallen, aber nicht die Draperie des
Rockes, was dazu führt, wieder einmal das untere Ende des
-Rückens durch ein kräftiges Polster, den sogenannten cul de
Paris, für die Drapierungen aufnahmefähig zu machen, wo-
durch eine Betonung des Gesäßes erzielt wurde und der Zu-
sammenhang zwischen Kleidung und Erotik deutlicher als in
der vorhergehenden Epoche zutage trat. Die 20 Jahre von
1870—90 kann man als die Zeit völliger Stillosigkeit des
434 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Kostüms bezeichnen, ebenso wie der literarische Charakter der
Zeit farblos und unbestimmt ist.
Mit Beginn der neunziger Jahre setzt eine klare Rich-
tung auf das Einfache und Praktische ein, wobei allerdings
dem Gott Eros durch enge Korsetts, der Göttin Mode durch
abnorm hohe Schultern oder gewaltige Keulenärmel geopfert
wurde, bis dann 1892*) das Regiment der Bluse einsetzt, die
noch heute wenigstens teilweise herrscht und die Vorteile der
Einfachheit und Mannigfaltigkeit mit dem weiteren vereinigt,
daß sie keine enge Umschnürung der Taille verlangt. Es läßt
sich aber nicht leugnen, daß die Bluse in künstlerischer Be-
ziehung wenig bietet, weil sie keine große Form und wenig
ausgesprochenen Stil zeigt. Das ist der eine Grund, warum
die Künstler, die mit dem Beginn des neuen Jahrhunderts
wieder dem Kosfüm ihr reges Interesse widmeten, an der
Schaffung einer anderen Tracht arbeiteten. Der andere Grund
ist sozusagen ein sozial-
politischer. Er ist in der
modernen Frauen-
bewegung zu suchen, die
die freiheitliche Ausgestal-
tung des Frauenlebens an-
strebt und das Recht auf
Beteiligung an wertvoller
A geistiger Arbeit, sowie
0 sexuelle und politische
Selbständigkeit, verlangt.
Einer solchen freiheitlichen
Tendenz aber widerstrebt
unbewußt-energisch, wie
*) Am 17. Januar 1892
wurde die erste Bluse in der
Modenwelt abgebildet. Mit
Bezug darauf wird dann unter
dem 14. August 1892 bemerkt:
»Die charakteristische jugend-
liche Tracht des Sommers rettet
sich auch in den Herbst hin-
über. Auch kann man jetzt
von dem Kleide abstechende
Blusen separat kaufen.«
Kostüm von
einem Pariser
Künstlerball.
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 435
wir schon in der
Empirezeit sahen,
der gepanzerte
Rumpf, das Korsett.
Die Bemühungen
der Künstler um
ein höheren ästhe-
tischen Ansprüchen
genügendes Frauen-
gewand und zu-
gleich die Freiheits-
bestrebungen der
modernen Frau
schufen schließlich
das moderne Re-
formkostüm.
Das Reform-
kleid ist dem Em-
pirekleid recht ähn-
lich. Es will, wie
das Empirekleid, die | AS
natürliche Freiheit Tr => Аг)
des Körpers zu = |
ihrem Rechte kom-
men lassen, es will auch das ästhetisch vielleicht wertvollste
Element der Kleidung, den Faltenwurf, in edler Größe und
Schlichtheit als Hauptelement festhalten. Aber es hat neben-
bei hervorragend praktische Zwecke, da es gerade die im
Wettbewerb mit dem Manne beruflich arbeitende Frau
kleiden will. Deshalb kann es auch sehr verschiedene
Formen annehmen, kann die künstlerische Phantasie oder die
individuelle Liebkaberei es sehr verschieden gestalten, deshalb
läßt es aber auch den persönlichen Geschmack der Trägerin
am deutlichsten erkennen. Es braucht gar keine Gürtung
des Rockes, es kann die hohe Gürtung unter dem Busen, es
kann auch die ganz tiefe lose Gürtung annehmen, direkt
über der Hüfte, wie die Frauen im Mittelalter sie lange Zeit
getragen haben, und die jedenfalls vor unserer gewöhnlichen
Taille, die den Körper querüber durchschneidet, da, wo gar
kein natürlicher Querschnitt ist, den künstlerischen Vorzug hat,
Modebild von G. Lami 1898.
436 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
den wirklichen Ansatz der Hüften reizvoll und anmutig anzu-
zudeuten. Das wertvollste Moment des Reformkleides scheint
mir daher einmal darin zu liegen, daß es zur künstlerischen
Erziehung seiner Trägerin beiträgt, und sodann in seiner großen
Wandlungsfähigkeit.
Deshalb konnte es wohl zum Gradmesser aesthetischer
Bildung und persönlichen Geschmackes werden. Dazu war
allerdings nötig, daß die gebildete Welt sich nicht der neusten
Macht auf diesem Gebiete zur wehrlosen Beute gäbe, nämlich
dem Konzern der organisierten Tuch-, Hut- und Korsettfabrikanten
und Schneider, sondern daß sie den Mut habe, den eignen Ge-
schmack zu vertreten. Betreffs des Reformkleides, oder wie
unsere Künstler es zu nennen lieben, des Eigenkleides, hätte
man also wohl die Hoffnung hegen können, daß hierdurch
wieder ein allgemeiner, fester Stil der Kleidung eintreten werde.
Doch so weit ist es noch nicht, und wenn die Geschäftsinte-
ressen der Fabrikanten maßgebend sind, wird es auch nicht
dahin kommen.
So haben wir denn die grotesken Topfhüte und die im-
posanten Riesenhüte uns freundlich zunicken sehn, sind sinnend
den neuesten Krümmungen der Korsetts gefolgt, haben den
Humpelrock, die wackligen Schuhe, die knappen Röckchen,
kurz die vollkommenste Stillosigkeit schaudernd mit erlebt,
wobei wir allerdings die Beobachtung machen durften, daß
nichts Willkürliches in der Mode liegt, sondern sie immer der
Ausdruck der mehr oder minder aktiven Erotik ihres Zeit-
alters ist, und daß sie ewig ein wechselndes Gesicht tragen
wird, weil auch Sittlichkeit und Schamgefühl dauernd eine
andere Maske vorlegen.
с ©
APHORISMEN.
Im Anfang war das Geschlecht, nichts außer ihm, alles in ihm.
St. Przybyschewski.
Ich glaube, daß kaum ein Weib auf der ganzen Welt mir wider-
sprechen würde, wenn ich sage, aus Unerfahrenheit, sogar aus Edelmut
oder aus Berechnung sind mehr Mädchen gefallen als aus Üppigkeit,
Begierde oder Leidenschaft. H. v. Kahlenberg.
H E
E =
RER
SCHILDDRÜSE UND KROPFLEIDEN.
Von Dr. CONRAD APPEL.
Z" den Organen des menschlichen Körpers, deren Zweck und
Bedeutung noch nicht vollständig erklärt ist, gehört die
Schilddrüse, jene besondere Halsdrüse, die vielleicht die engsten
Beziehungen zu den chemischen Vorgängen im Blutkreislaufe
besitzt. Die Absonderungen der Schilddrüse sind weder klar
beschrieben, noch ist es uns bekannt, durch welchen Umstand
jene ungeheure Beeinflussung, namentlich des weiblichen
Organismus, erzielt wird. Zweifelsohne besäße man eine
genauere Kenntnis des Gemütslebens, eine einwandfreiere
Psychologie der Frau, wenn es gelänge, das Geheimnis der
Schilddrüse endgültig aufzuhellen. Der Umstand, daß eine
Reihe von schweren Erkrankungen, die auf Wucherungen des
Schilddrüsengewebes, bezw. auf krankhafte Veränderungen
der Drüse zurückzuführen sind, dieselben Symptome aufweisen,
wie Krankheiten des Nervensystems und der damit verbundenen
Organe, scheint für eine nähere Verwandtschaft zwischen
Schilddrüse und Gehirn zu sprechen. Auch andere krankhafte
Momente, die auf eine Entartung der Thyreoidea zurückzuführen
sind, wie Kropf, Kretinismus, Idiotie, und die gleichzeitig von
einer Verkümmerung des Gesamtkörpers begleitet sein können,
sprechen dafür, daß die Produkte der Schilddrüse zu ähnlichen
Zwecken bestimmt sind, wie die der übrigen Sexualdrüsen,
deren Einfluß auf Wachstum, Geistigkeit und das physische
Wohlsein des Individuums unbestritten ist.
Die Größe der Schilddrüse soll nach Messungen von
Kocher und anderen bei Neugeborenen zweieinhalb vom Hundert
des Körpergewichts, beim Erwachsenen dagegen nur 0,55 Proz.
ausmachen. Selbstverständlich handelt es sich hier um variable
Größen, da die Schilddrüse bei beiden Geschlechtern eine
ungleichmäßige Entwicklung zeigt, beim Manne vor der Puber-
tät größer ist, um später sich über eine gegebene Grenze hinaus
nicht mehr zu entwickeln, bei der Frau dagegen erst nach dem
538 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Eintreten der ersten Menses an Umfang und Bedeutung gewinnt.
Es handelt sich hier ferner um ein Organ, dessen Schwellung
keineswegs eine konstante, sondern von den Vorgängen im
Sexualsystem abhängig ist. Die gesteigerte Sexualität der Frau,
die zentrale Bedingtheit ihrer geschlechtlichen Empfindungen
und die Einstellung ihrer gesamten Körperlichkeit auf die
sexuelle Mission ist nicht zum geringsten Teil auf die besonders
energischen Funktionen dieser Drüse zurückzuführen. Deswegen
hat schon Meckel die Schilddrüse als die zweite Gebärmutter
am Halse der Frau bezeichnet; tatsächlich spiegelt sie alle
Vorgänge im Genitalsystem getreu wieder. An der Frau kann
man deutlich beobachten, daß die Schwellung der Schilddrüse
zur Zeit der Menstruation und während der Schwangerschaft
ganz bedeutend zunimmt. Sogar schon eine einfache sexuelle
Erregung vermag gleichsam einen geheimnisvollen Reflex in der
Schilddrüse zu erzeugen. Darauf ist es zurückzuführen, daß
sich in der volkstümlichen Literatur die Anschauung findet, die
Jungfräulichkeit des Weibes sei unter anderem am Halse zu
erkennen. Schon bei dem Römer Catull wird von dem An-
schwellen des Halses bei sexueller Erregung der Frau Erwähnung
getan. Auch in welschen Gegenden findet sich seit Jahrhunderten
die Meinung verbreitet, eine Jungfrau, die ihre Tugend verloren
habe, sei am deutlichsten daran zu erkennen, daß ihr Hals
auffallend dick werde. Die Messung des Halses mit einem
Bindfaden, der eine bestimmte Länge hat, galt daher in früherer
und in späterer Zeit als ein sogenanntes untrügliches Zeichen
der Jungfernschaft. Goethe erwähnt in seiner „Venezianischen
Elegie“ diesen Brauch, der wohl auf einer instinktiven Er-
kenntnis des Volkes von den tatsächlichen Veränderungen der
Schilddrüse zufolge sexuellen Erregungen beruht.
Im Tierreich hat man ähnliche Vorgänge beobachtet. Nach
Ellis vergrößert sich bei Hündinnen, Katzen, Ziegen, Schafen
und Rehen die Schilddrüse in der Brunstperiode. Kisch be-
stätigt das Gleiche und meint, daß besonders bei den Hirschen
in der Brunstzeit eine Schwellung der Glandula thyreoidea an-
zutreffen sei. Die alten Erfahrungen, von denen Catull und
Demokrit sprechen, werden auch von einer Reihe neuzeitlicher
Forscher bestätigt. Namentlich in der Schwangerschaft soll die
Hypertrophie der Schilddrüse allgemein zunehmen. Freund
fand, daß diese Schwellung während der Entbindung noch zu-
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 539
nahm, die Stillperiode hindurch währte und erst allmählich
verschwand, um zur Zeit des Menses sich wieder deutlicher
bemerkbar zu machen. Ebenso wurde beobachtet, daß
Gemütsbewegungen bei beiden Geschlechtern eine Ver-
größerung der Schilddrüse zur Folge haben können. Es gilt
als allgemeines Symptom des Zornes, daß der Hals sich rötet,
die Adern bläulich hervortreten und der ganze Hals an Umfang
und Straffheit zunimmt. Gerade die Tatsache, daß die Gemüts-
affekte wie Leidenschaft, Zorn, Eifersucht, Angst, Freude, Schreck,
von sexuellen Momenten untermischt sind, und daß dieselben
Giftstoffe, die den Affekt zu erzeugen imstande sind, auch
sexuelle Reizqualitäten besitzen, beweist, wie innig die
Schilddrüse mit den Chemismen des Blutes verbunden ist.
Diesem Umstand ist es auch zuzuschreiben, daß die Mehrzahl
der Krankheiten der Schilddrüse einen nervösen Charakter
trägt. Die häufigste und minder gefährliche Erkrankung, der
Kropf, tritt sporadisch in allen Klimaten, häufiger aber bei der
Bevölkerung sumpfiger Tiefebenen und entlegener Gebirgstäler
auf. Neben Schottland ist der Kanton Bern in der Schweiz
sprichwörtlich als die Heimat des Kropfes bezeichnet worden,
aber auch in den bayrisch-österreichischen Alpentälern kann
man ihn sehr häufig finden. Die Entwicklung des Kropfes
dürfte nicht unabhängig sein von der allgemeinen Ernährung
und Entwicklung des Organismus, wie umgekehrt die
Schilddrüse zweifelsohne eine wichtige regulierende trophische
Bedeutung für Wachstum und Kräftigung der Sexualorgane
besitz. Aus dem Grunde ist es verständlich, daß Störungen
in den Sexualorganen auf die Schilddrüse rückwirkend die
Ausbildung eines Kropfleidens beschleunigen können, wie es
Steinberger bei jungen Mädchen beobachtet haben will, bei
denen nach regelmäßiger Menstruationstätigkeit zufolge äußerer
Einflüsse die monatlichen Blutungen plötzlich unterbrochen
wurden. Im allgemeinen wird bei vielen Kindern vor der Pubertät
eine Kropfanlage konstatiert, ohne daß sich später daraus ein
Kropfleiden entwickelt. Der Prozentsatz der Beteiligung von
Knaben und Mädchen an dieser Krankheit liegt für die Mädchen
vor der Pubertät bedeutend günstiger, ändert sich aber während
und nach der Zeit der geschlechtlichen Reife auffallend, indem
nämlich von da ab das Gegenteil zutreffend ist. Von der
Pubertät an sind die Mädchen von Kropfleiden häufiger be-
540 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
troffen als die Knaben, was wiederum zu beweisen scheint,
daß die Funktionen der Schilddrüse bei beiden Geschlechtern
nicht in allen Punkten den gleichen Gesetzen unterstellt sein
dürften. Häufig ist der Kropf mit geistiger Minderwertigkeit
und einer mehr oder minder leichten körperlichen Entartung
verbunden. Eine Beobachtung, die noch nicht genügend ge-
klärt ist, ist die, daß auf der einen Seite sich mit Kropfleiden
behaftete Frauen als ziemlich fruchtbar erwiesen haben, während
ein ebenso starker Prozentsatz steril geblieben ist. Ich habe
nicht selten Entartungen der Schilddrüse an weiblichen An-
gehörigen degenerierter Familien beobachtet, ebenso liegen
mir Fälle vor, wo Kropfleiden bei Kindern aus Trinker- und
Prostituiertenfamilien sich eingestellt hatten. Ich übergebe
diese Beobachtungen zur Diskussion, ohne entscheiden zu
wollen, ob die degenerative Anlage, bezw. die krankhafte
Sexualität in irgend einem Zusammenhang mit dem bei den
Ascendenten beobachteten Kropfleiden zu bringen sind.
Bei der Beschreibung der Krankheiten der Schilddrüse
möchte man auch nicht den Kretinismus und die Idiotie ver-
gessen, die bei Männern sich ebenso häufig finden, wie bei
Frauen. Wir möchten die Erfahrung Fletcher Beachs, von der
Ellis Nachricht gibt, daß nämlich Idiotie bei Frauen ungefähr
doppelt so häufig vorkommt, wie bei Männern, stark anzweifeln.
Ein Material aus anderen Ländern und nach anderer Rassen-
zugehörigkeit gegliedert ist imstande auch das gegenteilige
Bild zu ergeben. Wahrscheinlicher ist es, daß bei Kretinismus
und Idiotie der gleiche Prozentsatz sowohl auf Männer
als auf Frauen entfallen dürfte. Dagegen steht fest, daß die
Basedowsche Krankheit tatsächlich fünf- bis sechsmal häufiger
bei Frauen als bei Männern anzutreffen ist. Da es sich in
diesem Falle um eine Erkrankung handelt, deren Symptome
denen der Epilepsie und schwerer Neurhastenie sowie gewissen
Gehirndefekten gleich zu stellen sind, ist es begreiflich, daß
die Frau zufolge ihrer erhöhten Emotionalität sowie des ge-
heimen innigen Zusammenhangs, der zwischen Schilddrüse und
Sexualleben besteht, der Basedowschen Krankheit leichter an-
heim fällt, als der Mann. Der Charakter dieser Krankheit ist
in der medizinischen Literatur eindeutig beschrieben. Neben
heftigem Herzklopfen, das ganz plötzlich auftritt, beginnt der
Kranke am ganzen Körper zu zittern, das Auge tritt starr und
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 541
glotzend hervor, der Atem stockt und der ganze Körper ist von
einem kalten, klebrigen Schweiß bedeckt. Unregelmäßigkeiten
in der Darmfunktion, sowie Änderungen der Pigmentierung der
Haut und Haare, endlich Haarausfall und Nasenbluten, gehören
zu den sekundären Symptomen der Basedowschen Krankheit.
Hier wie bei der Epilepsie scheint es sich um Prozesse im
Gehirn, hervorgerufen durch innere Einflüsse zu handeln. Welcher
Art diese Einflüsse sind, darüber sind noch positive Belege
nicht vorhanden. Mackenzie macht in seinen klinischen Vor-
lesungen über schwere Gehirnleiden, nachfolgende interessante
Bemerkung: »Wenn ein gewisser abnormer Zustand des Nerven-
systems einmal eingetreten ist, so wird er bekanntlich von der
assoziativen Verbindung mit der erregenden Ursache losgelöst
und wird zu einer ganz selbständigen Erscheinung, so daß ein
ganz minimaler Reiz genügt, um den Erscheinungskomplex her-
vorzurufen. In vielen Fällen wird die Krankheit durch einen
schweren seelischen Chok von neuem zur Entwicklung gebracht.
Vielleicht ist sie in vielen anderen Fällen der Ausdruck
einer organischen unbewußten Erinnerung des Indi-
viduums an einen von einem Vorfahren erlittenen Chok.
(Diese Hypothese hat sich unter anderem Ewers in seiner
psychologisch interessanten Novelle »Die blauen Indianer« zu
eigen gemacht. Das Bild der Basedowschen Krankheit ist hier
als kunstvolles Sujet ausgebeutet und Mackenzies Ansicht von
der unbewußten Erinnerung des Individuums an einen von
einem Vorfahren erlittenen Chok als Tatsache behandelt. Anm.
d. Verf.). Wahrscheinlich hat die Funktionsänderung der Schild-
drüse, deren Bedeutung für die Erinnerung und für die
Nervendynamik hinlänglich bewiesen ist, mit manchen sekun-
dären Symptomen der Krankheit zu tun. Aber diese selbst ist
eine sehr ausgebreitete Störung des emotionellen Nervensystems«.
Die neuzeitliche medizinische Forschung ist wie gesagt,
über diese geistreichen Annahmen noch nicht hinausgekommen.
Die Lösung des Rätsels wird wohl erst in dem Moment ge-
wesen sein, wo die Mission der Thyreoidea eindeutig nach-
gewiesen ist.
ые B
542 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
BÜNDNISFORMEN HOMOSEXUELLER MÄNNER
UND FRAUEN,
Von Dr. MAGNUS HIRSCHFELD.
(Schluß).
Cr Sammelplätze der ärmsten und verkommensten Be-
völkerung kommen besonders als Brutstätten männlicher
Prostitution in Betracht, da eine große Zahl ihrer Besucher mit
diesem Gewerbe bereits Bekanntschaft gemacht haben und gern
erbötig sind, den Neulingen gegenüber den Lehrmeister abzu-
geben. Zunächst sind hier die Nachtasyle für Obdachlose zu
nennen, in denen der gleichgeschlechtliche Verkehr von den
Obdachlosen selbst als surrogative Betätigung viel geübt wird.
Es ergibt sich von selbst, daß die Homosexualität hier einen
vielfach behandelten Gesprächsstoff bildet. Sie hören dort,
daß mancher, der noch voriges Jahr wie sie in der »Palme«
oder Wiesenburg einkehren mußte, jetzt »in dufter Schale zur
Kieler Woche fährt.« Mancher junge Mann, der im Obdach
mit der männlichen Prostitution theoretisch bekannt geworden
ist, sucht schon am nächsten Tage die erworbenen Kenntnisse
praktisch zu verwerten. Ähnlich liegen die Verhältnisse bei
der Fürsorgeerziehung. Sehr häufig sind die Zöglinge, nament-
lich soweit sie der Großstadt entstammen, nicht nur mit der
homosexuellen Betätigung, sondern auch mit der Prostitution
schon eingehend bekannt und teilen ihre Erfahrungen den in
diesen Fragen noch unbewanderten Kameraden nur allzugern
mit, die nach ihrer Entlassung Gebrauch davon machen und
sich auf diese Weise einen Erwerb schaffen, der ihnen um so
willkommener ist, als sie zu anstrengender Tätigkeit oft wenig
Neigung haben und es den entlassenen Fürsorgezöglingen bis-
weilen auch schwer fällt, Arbeit zu finden. Noch böser pflegen
in vielen Fällen die Belehrungen zu wirken, die jungen Leuten
in Gefängnissen und Strafanstalten von Insassen zuteil werden,
die auf diesem Gebiete bereits Erfahrungen gesammelt haben.
Werden sie doch meistens von diesen gleich über die nahe-
liegenden Beziehungen der männlichen Prostitution zu kriminellen
Handlungen — namentlich Diebstählen und Erpressungen —
unterrichtet, wodurch sie in Versuchung geraten, sich der ge-
werbsmäßigen Unzucht gleich mit der Nebenabsicht zu ergeben,
sie zu verbrecherischen Zwecken auszunutzen, eine Verlockung,
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 543
die bei entarteten und kriminell veranlagten Individualitäten
naturgemäß auf besonders günstigen Boden trifft.
Schon aus den verschiedenartigen Motiven, die zur männ-
lichen Prostitution führen, läßt sich entnehmen, daß sie sich
aus sehr heterogenen Elementen zusammensetzt, die man von
den verschiedensten Gesichtspunkten aus in Gruppen zusammen-
fassen kann. Zunächst ist eine solche Einteilung der Prosti-
tuierten nach ihrer geschlechtlichen Veranlagung in Hetero-
sexuelle und Homosexuelle möglich.
Da bei den ersteren naturgemäß nicht die innere Neigung, sondern
nur die Aussicht auf materiellen Vorteil als Beweggrund in Betracht kommt,
finden wir vorzugsweise, wenn auch keineswegs ausschließlich, unter
ihnen jene Individuen, die mit der Prostitution einen unrechtmäßigen
Gelderwerb zu verbinden suchen. Natürlich gibt es auch Normalveranlagte,
die sich mit dem ausbedungenen Lohn für ihre Liebesdienste begnügen,
namentlich ist dieses dann der Fall, wenn sie durch vorübergehende Not
gezwungen werden, sich gelegentlich zu prostituieren, oder dieser Verkehr
für sie nur einen Nebenerwerb darstellt.
Unter den homosexuellen Prostituierten müssen wir wieder solche
unterscheiden, die sich ohne Rücksicht auf ihren eigenen Geschmack
jedem preisgeben, von dem sie etwas zu verdienen hoffen, und solche,
die mit dem Verdienste auch .die eigene Befriedigung verbinden wollen
und sich daher nur Männern zur Verfügung stellen, die ihren sexuellen
»Falle repräsentieren. Zur ersten Kategorie gehören Homosexuelle, die
selbst >jung« lieben, gegen Bezahlung aber auch älteren Liebhabern ge-
fällig sind. Es gilt für diese, die natürlich die Prostitution auch aus rein
materiellen Gründen betreiben, im großen und ganzen dasselbe, was ich
über die heterosexuellen männlichen Prostituierten erwähnte. In derselben
Weise wie diese verbinden sie mit dem unzüchtigen Verkehr nicht selten
Eigentumsvergehen aller Art. Auch kommt bei ihnen eine besondere,
ihrer Veranlagung entsprechende Form des Zuhältertums vor, indem sie
junge männliche Personen, mit denen sie selbst geschlechtlichen Verkehr
unterhalten, auf den »Strich« schicken und sie bisweilen auch als Lock-
vögel für Erpressungen und ähnliche kriminelle Handlungen benutzen. Die
kleine Gruppe homosexueller Prostituierter, die sich auf den ihrer
Geschmacksrichtung adäquaten Verkehr beschränkt, wird naturgemäß
selten auf verbrecherische Bereicherung ausgehen, abgesehen von den
Fällen, in denen sie sich durch Rache oder aus verschmähter Liebe oder
Eifersucht zu solchen Schritten hinreißen lassen.
Der Häufigkeit und Ausschließlichkeit nach, in der die
Einzelnen dem Unzuchtsgewerbe nachgehen, .lassen sich die
Prostituierten in gewerbsmäßige und gelegentliche einteilen.
Wenn auch die Heterosexuellen aus begreiflichen Gründen nur in
den seltensten Fällen ihr ganzes Leben lang einem ihnen wenig zusagenden,
oft sogar abstoßenden Geschlechtsverkehr nachgehen werden und ge-
544 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
wöhnlich auch schon deshalb, weil sie in höherem Alter nicht mehr oder
weniger begehrt werden, ihr Gewerbe aufgeben müssen, so gibt es doch
auch unter ihnen Elemente, die infolge von Indolenz und Gewöhnung an
den bequemen Verdienst und das müßige Leben viele Jahre hindurch der
Prostitution nachgehen und daher mit Recht als Gewohnheitsprostituierte
bezeichnet werden können. Daneben unterhalten sie, wie bereits erwähnt,
vielfach normalgeschlechtlichen Verkehr; ja es kommt vor, daß sie auch
nach der Verheiratung ihr unzüchtiges Gewerbe noch fortsetzen. — Leichter
gewöhnen sich homosexuelle »Strichjungen« an die Prostitution, von der
sie sich um so weniger trennen können, als der weibliche Verkehr ihnen
keinen Ersatz dafür bietet.
Zu der gewerbsmäßigen männlichen Prostitution gehören auch die-
‘jenigen — in Berlin gibt es zirka 30 —, die in Weiberkleidern ihrem Ge-
werbe nachgehen, sich heterosexuelle, meist etwas angetrunkene Männer
suchen, denen sie, um den Coitus zu umgehen, vorreden, sie hätten ge-
rade ihre menses; sie könnten sich daher nur auf die »französische Tour«
(penilinctio) einlassen. Einige von diesen tragen auch aus tierischer Haut
künstlich hergestellte weibliche Genitalien. Ihrer eigenen Triebrichtung
nach dürften sie fast sämtlich homosexuell sein. Die weiblichen
Prostituierten, die sich im übrigen mit der männlichen Konl:urrenz meist
gut stehen, weil sie genau wissen, daß ihr Kundenkreis nicht der gleiche
ist, sind auf die letztgenannte Gruppe der femininen Männer in Frauen-
kleidern nicht gut zu sprechen, lassen sie aber gleichwohl selten »hochgehen«.
Die Sitze der gewerbsmäßigen männlichen Prostitution sind
naturgemäß die großen Städte, in denen sie in einer Vielge-
staltigkeit und Mannigfaltigkeit auftritt, von denen man in
kleinen Städten keine Vorstellung hat.
Die Menge der sich auf den Straßen von Paris, namentlich auf den
großen Boulevards herumtreibenden Prostituierten ist verhältnismäßig nicht
so groß, wie in Berlin. Pherander zählte auf den Boulevards des
Italiens und Montmatre während der besten »Geschäftszeit« 20—30 käuf-
liche Männer, während er zu derselben Zeit in dem belebtesten Teil der
Berliner Friedrichstraße 50—60 beobachtete. Je größer die Stadt ist, um-
so umfangreicher ist die männliche Prostitution. In Deutschland sind
Berlin, Hamburg, München, Dresden, Leipzig, Breslau und Köln die Haupt-
zentren, welche aus diesem Grunde auch häufig von Urningen aus
kleineren Städten oder vom Lande aufgesucht werden. Reine Prostituierte,
die ganz von ihrem »Berufe« leben, berechnet Pherander in Berlin auf
400, die Anzahl der Halbprostituierten, welche den gleichgeschlechtlichen
Verkehr als Nebenverdienst betreiben, dagegen auf 10—12000. Von ihren
ständigen Quartieren, den großen Städten, aus machen die gewerbsmäßigen
Prostituierten nicht selten Ausflüge nach außerhalb. Namentlich bieten
Veranstaltungen, die ein großes Publikum anlocken, wie Ausstellungen,
Einweihungsfeierlichkeiten, Volksfeste, auch den männlichen Prostituierten
Veranlassung, sich in größerer Anzahl an den betreffenden Orten ein-
zufinden. »In Kiel«, schreibt ein Herr, hatte sich während der Kieler
Woche, in der alle möglichen Regatten abgesegelt werden, im Sommer 1902
LIEBE UND KOKETTERIE.
Zu dem Aufsatz »Zur Psychologie des Kostüms«.
S. 526.
DAS ERSTE RENDEZVOUS (Modekleid um 1883). Von ED. BISSON.
Zu dem Aufsatz »Zur Psychologie des Kostüms«. $. 526.
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 545
aus Hamburg eine Reihe männlicher Prostituierter eingefunden, um auf
Fang und Erpressung auszugehen. Das große Publikum hat gewiß nichts
davon gemerkt, während ich selbst nach wenigen Tagen ihre Anzahl, die
sich auf 12 belief, festgestellt hatte, und zwar alle in der Düsternbrocker
Allee gegenüber den Anlegebänken für Marineboote.«
Zum Schauplatz ihrer Tätigkeit wählen sie in erster Linie die be-
lebten Hauptstraßen, in denen einzelne viele Stunden lang suchend auf-
und abflanieren, während andere wieder abwartend an bestimmten Stand-
orten, Straßenkreuzungen, Bahnhofs- und Passageeingängen herumstehen.
Aber auch die abgelegenen Wege der öffentlichen Parks, namentlich in
der Nähe von Bedürfnisanstalten, werden viel von ihnen frequentiert.
Andere wieder halten sich in Lokalen auf, die von Homosexuellen
besucht werden, wo sie ihrer eigenen »Aufmachung« und ihrem Geschmacke
nach die Wahl zwischen Restaurants von raffiniertester Eleganz bis
herunter zu den obskursten Keller- und Winkelkneipen haben. Während
Straße und Lokal nur der Anknüpfung der Bekanntschaft dienen, können
die »feinen« Prostituierten zum intimen Verkehr den Liebhabern ihre oft
mit raffiniertem Luxus eingerichtete Wohnung zur Verfügung stellen,
während es andere vorziehen, mit ihrem Herrn seine Wohnung oder ein
Hotel aufzusuchen.
Einigen bringt ihr Erwerb so viel ein, daß sie sich recht luxuriöse
Wohnungen leisten können. Je teurer und eleganter sie wohnen, desto
größere Ansprüche und Anforderungen stellen sie auch an die Börse ihrer
Kunden. Manche erwerben sich durch hohe Preise und Erpressungen ein
kleines Vermögen, wovon sie auf ihre alten Tage leben können. Ein sehr
berüchtigter und bekannter Berliner Strichjunge aus guter Familie, dessen
Hauptgeschäft lange hinter ihm liegt, und der den Eindruck eines voll-
kommenen Kavaliers macht, wohnt jetzt sehr komfortabel in einem
Appartement, das durch seine Ausstattung beweist, wie sehr es sein Be-
sitzer verstanden hat, seine »Ersparnisse« gut anzuwenden. Er soll früher
einen ganz enormen Einfluß auf seine Kollegen vom Fach ausgeübt
haben, und sein Name wird noch in einer Art Ehrfurcht unter den
Berliner Strichjungen genannt. »Ich habe manche andere Wohnung der
Prostituierten gesehen«, schreibt einer unserer Gewährsmänner, »und mich
dabei vom Augenschein überzeugt, daß das Geschäft mehr einbringen muß,
als тап denken sollte, Ein Berliner Strichjunge, in seiner Jugend der
freche Oskar genannt, fährt jetzt, nach dreißigjähriger Tätigkeit, in seiner
eigenen Equipage. Ein Strichjunge aus Köln hatte sich, als er wegen
Vagabondage in Paris verhaftet und zu drei Jahren Gefängnis verurteilt
wurde, in zehn Jahren 80000 Franken erspart, ein anderer — ebenfalls
Rheinländer — in 12 Jahren über 50000 Mark.
Die Gelegenheits- und Halbprostituierten rekrutieren sich aus
allen Berufs- und Gesellschaftsschichten. Besonders sind unter
ihnen die jugendlichen Uniformierten vertreten, die ihrer kleid-
samen Tracht wegen von den Homosexuellen bevorzugt werden,
und deren Beruf eine Anknüpfung auch vielfach erleichtert.
Geschlecht und Gesellschaft VIII, 12. 35
546 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
In erster Linie trifft dies für die Hotelangestellten, Pagen und Lift-
boys, für Messengerboys, Telegraphen- und Paketfahrboten zu. Ich hatte
einen Urning zu begutachten, der an sich selbst Telegramme schickte, um
die jugendlichen Telegrammbesteller in seine Wohnung kommen zu lassen,
ein anderer pflegte nach einem »roten Radler« zu telephonieren, der ihm
irgend eine Besorgung machen sollte.
Um sich anziehender oder begehrlicher zu machen, bedienen
sich die prostituierten Männer ganz ähnlicher Anlockungsmittel,
wie ihre weiblichen Genossen.
Die Eleganteren, die Klasse-Jungen, wie sie sich in Berlin gern nennen
hören, verwenden alle Toilettenkünste, die dazu dienen, jünger und schöner
zu erscheinen, genau so wie Bloch?) uns dies schon von den antiken
Strichjungen geschildert hat, sie schwärzen sich die Augenbrauen, legen
rouge auf die Wangen, schminken sich blaß oder braun, bestreichen sich
die Lippen mit Lippenpomade, pudern sich, entfernen sich jedes Härchen
aus dem Gesichte oder gar vom Körper, bräunen und kräuseln sich das
Kopfhaar, träufeln sich Tropfen auf die Augenbindehaut, um die Pupillen
zu vergrößern, polieren und färben sich die Nägel rosig, säubern sich auf
das Sorgfältigste und verwenden auch wohl diskrete Parfüms. Mit dem-
selben Raffinement, mit dem sie sich »raxen«, so bezeichnen sie in ihrem
Jargon diese Körperpflege, kleiden sie sich an, viel Wert wird auf so-
genannte »Reizwäsche« gelegt, bunte Hemden aus feinem Gewebe, auf
lange, teure Strümpfe, durchbrochen und bunt gemustert, womöglich von
derselben Farbe wie die Kravatten, sie nennen sie selbst »perverse« Strümpfe,
auf rosa oder lila Strumpfbänder, farbige Unterhosen und Unterjacken,
»kokette« Hosenträger, bunte Westen, dazu Anzüge und Hüte nach neuester,
möglichst extravaganter Facon und vor allem recht in die Augen fallende
Fußbekleidung, wie Halbschuhe aus Lack mit breiten Bändern und Schleifen
oder Schnürschuhe in sattestem Gelb mit Wildleder oder Gamaschen, wie
es gerade die allerletzte Mode erheischt. Auch Ringe und Armbänder
fehlen selten, dagegen sind Stöcke und Schirme verpönt, in Übereinstimmung
mit einer an Fetischhaß grenzenden Abneigung vieler homosexueller Herren
gegen diese Gegenstände; so sagte mir einmal ein englischer Homosexueller,
daß jede Möglichkeit sexueller Betätigung für ihn ausgeschlossen sei, wenn
ein im übrigen noch so anziehender Mensch einen Stock, eine Brille oder
Zugstiefel trüge. Viele männliche Prostituierte sind sehr bemüht, be-
stimmten fetischistischen Geschmackseigentümlichen Rechnung zu tragen.
Manche legen aus diesem Grunde hohe Stiefel an mit Sporen oder Sport-
anzüge, Sweater, locker geschlungene Halstücher, Jockey- und Schirmmützen;
selbst kleine Medaillen oder kleine Lederriemen im Knopfloch erweisen
sich schon als Fetische wirksam. Man kann auf dem Berliner Strich, und
in Paris und London ist es nicht anders, Matrosen finden, die nie ein
Schiff, Bereiter, die nie ein Pferd bestiegen haben, Chauffeure, die nie
Steuerrad, Soldaten, die nie ein Gewehr in der Hand hielten. Wiederholt
sind männliche Prostituierte in Berlin wegen unerlaubten Tragens von
%) Iwan Bloch, Dieses Handbuch Bd. I p. 333 ff.
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 547
Uniformen bestraft worden. Unter den männlichen Prostituierten Berlins
gibt es einen in Wilmersdorf geborenen, der stets als Tyroler geht, trotz-
dem er nie das Weichbild der Stadt verlassen, zwei, die als Förster er-
scheinen, obwohl der einzige Wald, den sie kennen, der Tiergarten ist,
mehrere die stets Schlächteranzüge tragen; das kurioseste aber waren zwei
Schulknaben, die jeden Nachmittag zwischen 5 und 7 Uhr auf der Tauentzien-
straße Arm in Arm flanierten, mit kurzen Hosen, Schülermützen und Bücher
unterm Arm; man hielt sie für 14jährig, in Wirklichkeit waren es Prostituierte
von 22 oder 23 Jahren.
Auf den Pariser Boulevards machte ein Prostituierter gute Geschäfte,
indem er sich als Anlockung eines breiten Trauerflors um den Unterarm
bediente. Viele Fremde fielen darauf hinein, weil sie sich nicht recht vor-
stellen konnten, daß dieser Leidtragende ein Preller sein konnte.
Der anspruchsvollere Teil der männlichen Halbwelt erscheint meist
erst am Nachmittag auf der Bildfläche. Bis Mittag, oft bis zwei, drei Uhr
liegen sie im Bett. Dann folgt die Toilette, die oft eine Stunde in An-
spruch nimmt. Der übrige Tag pflegt dann so zu verlaufen, daß nach
einem leichten Imbiß im Restaurant — der reichlichere wird für den
Abend in Gesellschaft eines »Freiers« erwartet — der Prostituierte seine
Nachmittagstour unternimmt, wobei er gewöhnlich an einer anderen Stelle
wie des Abends flaniert oder in einem Kaffee- oder Teeraum auf der
Lauer liegt. Von 7—10 Uhr macht er eine Ruhepause, entweder in seiner
Wohnung, oder auch wohl in einem Konzertcaf& oder Theater, um dann
die »große "Tour, zu beginnen, die um Mitternacht ihren Höhepunkt er-
reicht und oft erst gegen 3 Uhr und später endet. Bei dem großen An-
gebot auf dem Prostitutionsmarkt kommt es vor, daß einer zwei, drei oder
auch mehrere Abende vergebens läuft, der Durchschnitt findet in der Woche
2 bis 3 Freier, die in der Mode befindlichen doppelt so viel, viele aber
auch weniger.
Ein Berliner Prostituierter, der gerade sehr en vogue war, berichtete,
daß er im Monat durchschnittlich 20 bis 25 Herren »hätte«, im Jahre 300
fast, von diesen seien höchstens 10 Prozent Berliner, 50—60 Prozent seien
Provinzler, 30—40 Prozent Ausländer, besonders Russen, Franzosen und
Amerikaner. Er führte darüber geschäftsmäßig Buch.
Das Zusammensein des Herrn mit einem Prostituierten spielt sich
gewöhnlich in folgender Weise ab: Der Strichjunge sieht einen Herrn an,
dieser fängt den Blick auf, beide lächeln sich an, der eine geht dem andern
nach, einer bleibt vor einem Laden oder einer Anschlagsäule stehen oder
biegt an einer Ecke in eine dunklere Seitenstraße ein. Der andere tut das
gleiche. Dann bittet der eine den anderen um Feuer — auch die Nicht-
raucher unter den Urningen sind zum Zweck der Anknüpfung fast stets
mit Zigaretten und Feuerzeug versehen —, und die Unterhaltung beginnt
in harmlos tastender Weise: »Schöner Abend heute« oder »wieder recht
schlechtes Wetter« oder »gehen Sie noch so spät spazieren?« Nach diesen
Präliminarien gehen Geübtere gewöhnlich rasch auf den eigentlichen Zweck
ihres Zusammenseins über, wobei zunächst das Wo? erörtert wird. Handelt
es sich um einen »feineren« Prostituierten, so schwankt die Wahl zwischen
einem Absteigequartier, wofür man sich in der Mehrzahl der Fälle ent-
35*
548 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
scheidet, oder der Wohnung des Herrn, die selten, und der des Jungen,
die etwas häufiger genommen wird.
Auf dem Wege dorthin wird gewöhnlich der Preis akkordiert, der
in sehr weiten Grenzen schwankt. Die Jungen pflegen bei diesem Thema
gewöhnlich zu erzählen, welche Beträge sie schon früher erhalten hätten,
wobei Unwahrheiten an der Tagesordnung sind. Immerhin ist es nicht
selten, daß ein besserer Prostituierter 20 Mk., 50 Mk. und mehr für ein
einmaliges Zusammensein erhält, doch sind im allgemeinen die Preise für
die männlichen Prostituierten geringer wie für die entsprechenden Klassen
der weiblichen. So rechnen sich schon 10-Mark-Jungen zu den »Klasse-
Pupen«, sehr viele haben 5 Mark »Taxe«, und dann geht es herunter auf
drei, zwei, eine Mark und noch geringere Beträge. Im allgemeinen sind
die professionellen teurer wie die Gelegenheitsprostituierten. Die Bezahlung
selbst erfolgt gewöhnlich nicht wie bei den weiblichen Prostituierten vorher,
sondern nach vollzogenem Verkehr. Dieser ist in der großen Mehrzahl
der Fälle ein onanistischer, am zweithäufigsten sind orale Akte, wobei
wiederum der lambitus am membrum des Partners öfter vorgenommen
zu werden scheint als die immissio membri in os alterius.
Der Homosexuelle bevorzugt im Verkehr mit dem Prosti-
tuierten meist aus Angst die straflosen, der Prostituierte aus
Gewinnsucht die strafbaren Formen, nach denen er, sei es
im Guten oder Bösen, reichliche Entlohnung erhofft. Der ge-
werbsmäßige Prostituierte läßt es meist nicht zur Ejakulation
kommen, es sei denn, daß er selbst homosexuell und der Freier
sein Fall is. Dagegen besitzen sie oft eine große Fähigkeit,
Erektionen bei sich herbeizuführen, um so den anderen stärker
zu erregen. Legt der Partner auf die Ejakulation des Prosti-
tuierten Wert, so erhöht sich dadurch der Preis. Nach dem
Akt kommt der finanzielle und meist heikelste Teil des Zu-
sammenseins zur Erledigung. Beide, die eben noch sich an
Liebkosungen nicht genug tun konnten, nehmen Abstand und
verwandeln sich in kühl kalkulierende Geschäftsleute. War der
Preis vorher ausgemacht, was gewöhnlich viel Ungelegenheiten
erspart, so begnügt sich der »reelle« Prostituierte mit dem ver-
einbarten, gewöhnlich noch durch ein kleines Trinkgeld erhöhten
Satz, oder er geht, wie er es nennt, auf die »Schmustour«, in-
dem er durch Schilderung seiner Notlage, meist unter Hinweis
auf seine zerrissenen Stiefel, oder durch Schmeicheleien einen
höheren Betrag herauszuschlagen sucht. Diesen beiden »soliden
Touren« — ich bediene mich der charakteristischen Ausdrücke
dieser Kreise selbst — stehen die beiden »Krampftouren« gegen-
über, die »Klautour«, bei der es auf »Beischlafdiebstähle«, und
die »Prelltour«, bei der es auf Erpressungen abgesehen ist.
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 549
Die beiderseitigen Namen werden in dem Zusammensein nicht
genannt, auch die Vornamen werden gewöhnlich nicht richtig
angegeben. Bei der Verabschiedung wird gewöhnlich eine
weitere Verabredung getroffen, die aber oft nur eine Formsache
ist, da eine Innehaltung von beiden Seiten stillschweigend nicht
vorausgesetzt wird. Der Wunsch fast jedes Prostituierten ist
es, ein länger dauerndes Verhältnis zu finden, um für einige
Zeit der Unsicherheit seiner Existenz überhoben zu sein. In
vielen Fällen lernt er früher oder später einen wohlhabenden
Herrn kennen, dessen Geschmack er so sehr entspricht, daß
er ihn einige Wochen oder Monate bei sich behält. Häufig
nehmen solche Herren dann den Prostituierten mit auf Reisen,
wobei sie sich in den Gasthäusern als nahe Verwandte, oft
als Onkel und Neffe oder, wenn der Abstand im Eindruck zu
groß ist, als Herr und Diener eintragen. Diese Verbindungen
halten meist nicht sehr lange vor, da der an Freiheit gewöhnte
Junge sich im Umgange als schwierig, oft auch als träge,
störrisch und unehrlich erweist, so daß das Verhältnis nicht
selten »mit Ach und Krach« nach kurzem wieder in die Brüche
geht. Hie und da hält es aber auch länger vor, vielfach bis
zur Militärzeit des Jüngeren, oder bis für ihn eine Stellung
gefunden ist. Es ist immerhin ein nicht geringer Prozentsatz,
der schließlich in dieser Weise von homosexuellen Herren wieder
vom Strich gerettet wird.
Die Militärzeit stellt überhaupt im Leben dieser jungen Leute einen
wichtigen Wendepunkt dar, als sie ihrer gefährlichen »Lauf«-bahn ein
energisches Ende bereitet. Für beliebte »Strichjungen« wird von ihren
Freiern und Kameraden nicht selten vor ihrem Abgange zum Militär ein
solennes Abschiedsfest gefeiert. Das durchschnittliche Alter, in dem der
männliche Prostituierte zu seinem Gewerbe gelangt, ist das 17., doch sind
auch jüngere vom 14. ab keineswegs selten. Die meisten können sich
wegen der aufrückenden jüngeren Konkurrenz nur 5 Jahre auf dem Strich
halten, einige bis zum 25. Jahre. Doch gibt es Virtuosen, die sich mit
36 Jahren noch das Aussehen eines 18jährigen zu geben wissen, auf dem
Berliner Strich kenne ich einen, der seit 20 Jahren Nacht für Nacht seiner
gleichförmigen Tätigkeit obliegt; dabei noch jetzt wie achtzehnjährig aus-
sieht. Als sich vor einigen Jahren*!) die Zentralstelle für Jugendfürsorge
in Berlin an das Kgl. Polizeipräsidium wandte mit den Ersuchen »um
Einschreiten gegen das Gebaren minderjähriger Burschen in der Nähe
des Bahnhofes Friedrichstraße, da diese Burschen sich hier offensichtlich
21) Cf. Tätigkeitsbericht der Zentralstelle für Jugendfürsorge für das
Geschäftsjahr 1905/6.
550 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
zum Zwecke homosexueller Prostitution herumtreiben und den Ankommen-
den sich anböten«, indem sie bitte, „eine scharfe polizeiliche Beobachtung
eintreten zu lassen und die etwa Überführten der Fürsorgeerziehung zu
überweisen«, erwiderte der Polizeipräsident, daß dies bereits geschehe,
daß es sich dabei aber nicht immer um Minderjährige handelte, sondern
daß die sogenannten männlichen Prostituierten vielfach in höherem Alter
ständen und nur sich durch künstliche Hilfsmittel, Haartracht, Schminke
usw. ein jugendliches Aussehen gäben.
Im allgemeinen aber kommt die Zeit, wo der Prostituierte
dem Alter seinen Tribut zollen muß, viel früher heran als für
die weibliche Rivalin. Alles Rasieren, »Zurechtmachen« und
»Raxen« hilft nichts mehr. Es finden sich zwar noch einige,
die den vollentwickelten Mann dem Jüngling vorziehen, aber
davon kann man nicht existieren, und so muß man wohl oder
übel nach einem anderen Erwerbszweig suchen. Hat man Er-
sparnisse”gemacht, so eröffnet man ein kleines Geschäft oder
eine Restauration. Ein Teil kommt zum Militär und danach
auf gute Wege, ein Teil findet einen homosexuellen Gönner,
der ihn etabliert, viele aber können sich nicht mehr an ein
regelmäßiges Leben gewöhnen und werfen sich schließlich ganz
dem Verbrecher- oder Zuhältertum in die Arme, zu dem sie
auf Grund ihrer Veranlagung und ihres Milieus höchst wahr-
scheinlich auch ohne ihre Prostituiertenjahre gekommen wären.
Eins läßt sich deutlich verfolgen. Kein heterosexueller Prosti-
tuierter erwirbt durch Gewohnheit gleichgeschlechtliche Triebe,
ebensowenig wird ein homosexuell veranlagter Strichjunge aus
Übersättigung am Manne heterosexuell.
Viele »zehren«, wenn sie älter werden, »von Erinnerungen«, indem
sie ihnen als homosexuell bekannte Personen, die ihren Standort kreuzen,
um kleine Geldbeträge »anbohren«, was sie als »Zinseneinholen< oder
»tirachen« bezeichnen. Vielfach führen die männlichen Prostituierten auch
Spitznamen, wie Lippenfritz, Füllfeder-Otto, Studentenemil, Fosenrichard;
die feminineren Mädchennamen: wie Hundelotte, Lotte aus dem Westen,
Georgette, die Wienersche, die »pommersche Gans«, besonders viele Namen
beziehen sich auf das häufige Aufsuchen von Bedürfnisanstalten, wie Blech-
konfektionöse, Rotundelein, Locusblume, Pißtazie. Tardieu?) führt folgende
»surnoms« Pariser Prostituierter auf: »Pistolet, la Grille, le Paletot, Macaire,
le Gendarm, Coco, Pisse-Vinaigre, Tuyau de Poêle, la Marseillaise, la
Nantaise, la Pépée, la Bouchèe, la Léontine, la Folle, la Fille à la mode,
la Fille à la perruque, la Reine d’Angleterre.«
Im übrigen stellt die Ausdrucksweise der Prostituierten ein Gemisch
32) Ambroise Tardieu, Étude médico-légale sur les attentats aux moeurs.
5me éd. Paris, 1867, p. 187.
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 551
der Verbrechersprache mit dem homosexuellen Jargon dar. In den Großstadt-
dokumenten*) gab ich noch einige Beispiele: »Die schwule Bande«, die
»warmen Brüder« oder die »Tanten« teilen sie ein nach ihrer Zahlungs-
fähigkeit in »Tölen«, »Stubben« und »Kavaliere«, sich selbst unterscheiden
sie in »Klassepupen«, »Pennerjungen«, »Raben«, »Raubtiere« oder nach
der Gegend: in »Kurfürstendammjungen«, »Friedrichstraßenjungen«, »Tier-
gartenjungen« etc. Geld haben heißt »in Form sein«, in Not sein nennen
sie »sim Bruch sein«, schlafen »pennen«, betteln »abwackeln«, Furcht vor
der Polizei »Lampen haben«, kommt ihnen etwas іп die Quere, so sagen
sie »die Tour sei ihnen vermasselt«, fortlaufen heißt »türmen«, werden sie
von den »Greifern«, d. h. den Kriminalbeamten oder den Blauen — das
sind die Schutzleute — abgefaßt, so nennen sie das »auffliegen«, »alle
werden« oder »verschütt gehen«. Dann kommen sie erst auf die »Polente«,
das Polizeibureau, dann ins »Kittchen«, das Untersuchungsgefängnis, um
dann, wie sie sich euphemistisch ausdrücken, in einen »Berliner Vorort«
zu ziehen, darunter verstehen sie Tegel, Plötzensee und Rummelsburg, die
Sitze der Strafgefängnisse und des Arbeitshauses. Das Erpressen selbst
in seinen verschiedenen Abstufungen nennen sie: »abkochen«, »hochnehmen«,
»prellen«, »neppen«, abbürsten«, »rupfen«, »klemmen«; anzeigen heißt
»pfeifen« oder »hochgehen lassen«. Jeder Geschlechtsakt hat mehrere
besondere Bezeichnungen, beispielsweise heißt die Masturbation »Hand-
arbeit«, die fellatio »blasen«, die immissio in anum »verkacheln« usw.
Die Herbeiführung des Orgasmus nennen »sie fertig machen«. Die Aus-
drücke, »er ist gut oder schlecht beschlagen«, beziehen sich auf die Größe
des membrums. Der Charakter eines Prostituierten wird durch die gegen-
sätzlichen Worte »kess«, was so viel wie dreist, gewitzt und »dow«, was
naiv, gutmütig bedeutet, bezeichnet. Ist ein Strichjunge, der in Berlin auch
vielfach eine »Pupe« oder ein »Pupenjunge«, heißt, selbst homosexuell,
so nennt er sich »a.s.« (auch so), in den letzten Jahren wohl auch »h. s.«
(homosexuell). Mit den gleichen Buchstaben werden auch die »Freier«
charakterisiert; von einem zum Verkehr bereiten Heterosexuellen sagen
sie m. m. (macht mit), in Österreich hat man für heterosexuelle Prostituierte
den Ausdruck »franke Burschen«; die Abkürzung t. u. (total unvernünftig)
bedeutet einen völlig normalen, was die Bereitwilligkeit zum Geschlechts-
verkehr nicht ausschließt. Es ist durchaus nicht leicht zu entscheiden,
welcher Kategorie die sich auf den Straßen und in Lokalen Feilbietenden
angehören, sehr viele, die absolut normal sind, spielen sich auf »echt«
heraus, weil dies die »Freier« unbesorgter macht. Andere, die homosexuell
sind, geben sich als ganz normal aus, weil sie meinen, daß sie dies begehrens-
werter macht und ihnen eine bessere Bezahlung sichert. Der in Österreich
für Homosexuelle viel gebrauchte Ausdruck Busseranten soll von dem beim
Billardspiel von hinten a la buzzera (italienisch) geführten Stoß herrühren.
Sehr merkwürdig sind viele nur dem Eingeweihten ver-
traute Satzbildungen. Die meisten Ausdrücke dieser Geheim-
23) Berlins drittes Geschlecht. Großstadt-Dokumente Bd. 3, 15. Aufl,
Berlin u. Leipzig, p. 67.
552 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
sprache haben eine mehr örtliche Verbreitung. So bieten sich
in Hamburg oft Leute aus dem Volke Homosexuellen mit den
Worten an: »Wir stellen ock Kommoden um« (wir stellen auch
Kommoden um). Als ich bei einer Führung durch St. Pauli
diese Worte zum ersten Male hörte, waren sie mir, wie den
meisten Fremden, ganz unverständlich. Von meinem Begleiter
erfuhr ich ihren Sinn. Vor vielen Jahren lebte in Hamburg
ein Urning, der die Gepflogenheit hatte, auf den Arbeitsmarkt
zu kommen, wenn sich die Arbeitslosen dort Stellen suchend
drängten. Er suchte sich unter den Burschen den aus, der
seinem Geschmack am meisten zusagte und fragte ihn auf Ham-
burger Platt, ob er ihm wohl gegen ein kleines Entgelt helfen
wollte, Kommoden in seiner Wohnung umzustellen. Jeder
nahm bereitwilligst an und sträubte sich auch nicht, wenn er
in der Behausung des Herrn angelangt, wahrnahm, daß dieser
ganz andere Wünsche, als die vorgegebenen hatte. Nachdem
sich dieser Vorfall mehrfach wiederholt und allmählich herum-
gesprochen hatte, begegnete es dem Herrn, daß, wenn er auf
dem Arbeitsmarkt erschien, ihm bereits eine ganze Anzahl
Burschen entgegenkam mit den Worten: »Wir stellen ock
Kommoden um«e. Nach und nach nahm nun dieser Satz den
Charakter eines geflügelten Wortes an, das sich über den
Sammelplatz der Arbeitslosen hinaus verbreitete, besonders
unter den Schiffern am Hafen, den Obdachlosen der Parks und
allen denen, die sich aus Geldmangel gegen eine Kleinigkeit
Homosexuellen zum Verkehr anbieten wollten. 0
Eine verwandte Redewendung in Berlin lautet: »Karl macht Über-
stunden<, womit von jemandem, der im übrigen arbeitet, ausgedrückt
werden soll, daß er sich durch homosexuellen Verkehr Nebeneinnahmen
verschafft; sie rührt davon her, daß einmal die Mutter eines solchen
Burschen, als sein Vater sich erregt darüber aussprach, wo er denn die
halben Nächte zubrächte und woher er das Geld bekäme, um sich so
schöne Wäsche und Ringe anzuschaffen, beschwichtigend erwidert haben
soll: »Du solltest Karl nicht schelten, er macht Uberstunden«. In Süd-
deutschland hört man nicht selten von jemand: »Er wohnt in der Gabelsberger-
gasse«, womit ein Urning einem anderen über einen Prostituierten mitteilen
will, er werde, falls er mit ihm verkehre, eine Enttäuschung erleben.
Solche Redensarten, die auf einen gewissen Vorfall zurückgehend
nur einem kleinen Kreise verständlich sind, von nicht Unterrichteten aber
ganz anders gebraucht werden, finden sich unter den Urningen fast aller
Länder.
Aus Cuzce (Peru) berichtete mir ein Urning, daß die Dortigen von
jemandem, der das weibliche Geschlecht meidet und im Verdacht solitärer
VORNEHME KOKOTTEN AUF DEN PARISER BOULEVARDS.
Von GUILLAUME.
BADELEBEN (Badebekanntschaft). Von E. HEILEMANN.
Zu dem Aufsatz »Zur Psychologie des Kostüms«. S. 526.
VARIETE-KOSTÜM
Zu dem Aufsatz
»Zur Psychologie
des Kostüms«.
S. 526.
CANCAN.
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 553
oder mutueller Onanie stände, zu sagen pflegen, »er hat ein Verhältnis
mit Sefiora Manuela«. Mein Korrespondent merkte erst allmählich, daß
Manuela in diesen Fällen nicht den dort sehr verbreiteten Mädchenvornamen
bedeute, sondern von mano = die Hand abzuleiten sei.
Auch die parasitären Anhängsel der Prostitution: das Zu-
hälter-, Bordell-, Kuppler- und Schlepperwesen, fehlen der
gleichgeschlechtlichen Prostitution nicht völlig. Daß sie nicht
häufiger sind, dürfte darin begründet sein, daß die vorüber-
gehende und Gelegenheitsprostitution ungemein viel verbreiteter
ist als die gewerbsmäßige, ferner darin, daß die männlichen
Personen immerhin eine ungleich größere Selbständigkeit be-
sitzen, die vor allen Dingen auch darin zum Ausdruck kommt,
daß sie ihren Geldverdienst möglichst für sich allein zu be-
halten und zu verwerten trachten.
So sehen wir, daß es eigentlich nur die unselbständigen, schutz-
bedürftigen Elemente sind, die sehr jungen und femininen, die in dieser
Weise ausgenutzt werden. Der gewöhnlichen Wohnungskuppelei leistet
naturgemäß großen Vorschub die für den Homosexuellen besonders
schwierige Unterschlupfsfrage; in seine Wohnung den Prostituierten mit-
zunehmen, trägt er begreifliche Scheu, dieser selbst verfügt aber oft auch
nicht über ein ungeniertes oder geeignetes Quartier, ist vielleicht sogar
obdachlos; in nicht geschlossenen Räumen wiederum droht die Gefahr
der Erregung öffentlichen Ärgernisses. Wir wiesen oben bereits darauf
hin, wie leicht sich alle Besitzer von Absteigequartieren, maisons
de passe, Bädern, ja selbst von Lokalen und Privatwohnungen der
homosexuellen Kuppelei schuldig machen können, und es liegen auch
nicht wenig Fälle vor, wo Anklagen mit Aburteilungen aus diesem
Grunde erfolgten.
Einen Schritt weiter geht noch der Kuppler, der nicht nur den Raum,
sondern auch das Objekt der Betätigung zur Verfügung stellt, sei es
gewerbsmäßig gegen oder gewerbsmäßig ohne Entgelt. Hat er die
Burschen nun noch bei sich wohnen, nimmt für den Verkehr der Herren
mit ihnen seinerseits die Bezahlung entgegen, schafft ihnen dafür Kost und
Kleidung an und entlohnt sie nach einem bestimmten Satze oder läßt sich
von ihnen die Hälfte oder einen Teil ihres Verdienstes abgeben, so ist
das richtige Bordell fertig. Ihre Existenz ist vielfach in Zweifel gezogen,
es ist aber ganz sicher, daß sie vorgekommen sind und auch heute noch
existieren, wenngleich selten. In China unterschied man bis vor kurzem
Weiberbordelle, die in der Hauptsache dem Männerverkehr, ausnahms-
weise aber auch dem homosexuellen Frauenverkehr dienten, sowie Männer-
bordelle, die fast ausschließlich dem homosexuellen Männerverkehr, selten
dem Verkehr heterosexueller Frauen dienten, und gemischte Bordelle, in
denen alle vier Arten des Verkehrs vorkamen, wenn schon im wesentlichen
sowohl die weiblichen als die männlichen Insassen von heterosexuellen
und homosexuellen Männern besucht wurden.
554 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Libermann®*) erzählt, daß um die Mitte des vorigen Jahrhunderts, als
er China bereiste, sich allein in Tientsin 800 junge männliche Prostituierte
in 35 Bordellen aufhielten.
Aus Peru berichtete mir ein Heterosexueller, daß in fast allen
Limenser Bordellen sich außer den weiblichen auch einige männliche
Prostituierte zur Verfügung stellten. Ulrichs%) veröffentlicht folgende
Stellen aus dem Briefe eines türkischen Generals: >In einer Gasse von
Galata hat die Göttin der Lust ihr Zelt aufgeschlagen. Diese Häuser
existieren in Wirklichkeit, existieren als öffentliche, vom Staate geduldete
Anstalten. Ich sah diese Buben, das Haupt umwallt von üppigem Locken-
haar, gekleidet in goldgestickte Kleider, mit vielen Zieraten behängt, das
Gesicht reizend geschminkt«. »Die Quartiere, die sie bewohnen, sind zu-
gleich als Kaffeehäuser eingerichtet. Üben die Buben ihr Handwerk nicht,
so unterhalten sie die Gäste mit Gesang, Tanz, Gaukeleien und
Mandolinenspiel. Tag und Nacht sind die Häuser von einer Unzahl von
Gästen belagert«.
Ich selbst konnte bei meinem Besuch in der Türkei in Galata und
auch in Pera keine eigentlichen Knabenbordelle mehr ausfindig machen,
dagegen wurde mir eines in Stambul nahe Karabagdsche gezeigt. Es ge-
hörte einem riechen und enthielt sieben Jungen von 14 bis 20 Jahren,
meist Griechen, alle mit Fez. Man trat in ein ärmliches Empfangszimmer,
das leer war. Die Jungen schliefen oben in einem Raum zusammen. Der
Haushüter fragte, was für einen dschotschuk (Jungen) die Herren ungefähr
haben wolien, und brachte dann einige zur Auswahl. Der Besucher zog
sich mit einem in ein separates Zimmer zurück, nachdem er vorher dem
Wirt 25 Piaster behändigt hatte. Der dtschotschuk erhielt nur ein ge-
ringes Bakschisch, das ihm vermutlich der Hausinhaber auch noch abnahm.
Diese Bordelle sind nicht auf den Orient beschränkt. Ulrichs schreibt:
»Vom Staate zwar nicht de jure vollständig, aber de facto geduldet,
existieren sie auch in Neapel, Palermo, Madrid, Lissabon usw. heimlich
und vor der Polizei keinen Augenblick sicher, auch in Paris, ja, sogar
in Berlin«.
Mir selbst liegen verbürgte Schilderungen u. a. aus Marseille, Brüssel,
Rotterdam vor.
Gegenwärtig sind mir eigentliche Bordelle in Berlin nicht
bekannt, dagegen hörte ich von einer Anzahl von Quartieren,
deren Wirte den Besuchern Burschen besorgen, von denen sich
einige gewöhnlich an Ort und Stelle aufhalten; bei mehreren
wohnen die Jungen direkt im Hause, so daß an dem Begriff
des Bordells nicht mehr viel fehlt.
Verbreiteter als die Bordelle ist zweifellos das homosexuelle
Zuhältertum. Dieses tritt so in die Erscheinung, daß ein
%) Libermann, H., Les Fumeurs d’Opium en Chine. Etude medicale,
Paris 1862. p. 64ff.
25) Ulrichs, Ara spei, p. 9.
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 555
älterer Bursche, der früher meist selbst Prostituierter war, öfter
es auch noch ist, einen jüngeren zum Männerfang anhält, von
dessen Erwerb er »ganz oder teilweise« lebt. Häufiger ist der
jüngere ein femininer Homosexueller, der in den älteren heftig
verliebt ist, ähnlich wie eine Dirne in ihren Zuhälter, und
der deshalb wie diese alles tut, was man ihm sagt. Es ent-
wickelt sich dann nicht selten ein sexuelles Hörigkeitsverhältnis.
Empfinden die Zuhälter in diesen Fällen meist selber homosexuell
oder bisexuell, so gibt es andrerseits auch Verhältnisse, in denen sich ein
homosexueller Zuhälter — meist ein herabgekommener, aus seinem Kreise
gestoßener Urning — mit einem Burschen, gewöhnlich einem heterosexuellen
zusammentut, dem er beibringt, wie Homosexuelle zu nehmen und hoch-
zunehmen sind. So ergab sich vor einigen Jahren in einem Erpresser-
prozeß gegen einen Schlächter, der einen Aristokraten zum Selbstmord ge-
trieben hatte, daß der Angeklagte mit einem Grafen zusammenlebte, der
ihm augenscheinlich Zuhälterdienste geleistet hatte.
Zwischen Homosexuellen und Zuhältern bestehen noch andere eigen-
artige Beziehungen. Der Urning aus dem Volk, welcher oft in naiver Weise
glaubt, daß das staatliche Recht, welches ihn für einen Verbrecher hält,
auch »recht« habe, fühlt sich mit den Zuhältern durch die gleiche soziale
Verfehmung und Furcht vor der Polizei verbunden, wobei sich viele, auch
aus besseren Kreisen zu ihnen als Typen hingezogen fühlen. Diese Be-
ziehungen finden ihren Ausdruck auch in gemeinsamen Festen. So werden
in Berlin von Zeit zu Zeit Herrenabende veranstaltet, mit Liebhaber-
vorstellungen, bei denen die männlichen Rollen alle von Zuhältern, alle
weiblichen von femininen Homosexuellen gegeben werden. Das sehr
zahlreiche Publikum dieser Theatervorführungen setzt sich ebenfalls teils
aus Homosexuellen, teils aus Zuhältern und deren Anhang zusammen.
Besonders kommt das Voyeurtum bei diesen Darbietungen auf die Kosten,
da bei diesen in geschlossenen Kreisen stattfindenden Vorführungen Szenen
mit künstlichen Phalli aufgeführt werden, die jeder Beschreibung spotten.
Zahlreicher als die Zuhälter männlicher sind die Zuhälterinnen weib-
licher Prostituierter. Das gemeinsame beider Kategorien besteht in der
Homosexualität der Prostituierten selbst, während sonst gerade umgekehrt,
im männlichen Betriebe die Zuhälter der Jungen meist heterosexuell, ihre
»Freier« homosexuell, im weiblichen die Zuhälterinnen der Mädchen homo-
sexuell, deren Freier heterosexuell zu sein pflegen.
Unsere Gesetze — der Zuhälterparagraph 181 a — berücksichtigen
übrigens weder die Zuhälterin noch den Zuhälter eines männlichen Prosti-
tuierten. Dabei sind die weiblichen Zuhälterinnen durchschnittlich noch
brutaler als ihre männlichen Berufskollegen; so ereignete sich im Jahre 1905
in Berlin der folgende Auftritt zwischen einer Zuhälterin H. und ihrer
»Freundin« R., über den wie folgt berichtet wird: Im Moabiter Kranken-
hause wurde die 21 jährige Kellnerin H. mit einem Schädelbruch eingeliefert.
Auf einer Ballfestlichkeit hatte die H. mehrfach mit einem Herrn getändelt,
worauf sie die R. in der Garderobe zur Rede stellte. Es kam zu einer
556 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Auseinandersetzung, in deren Verlaufe die R. die H. die Treppe hinunter-
stieß. Sie blieb schwerverletzt am Fuße der Treppe liegen und erlitt einen
schweren Schädelbruch.
Eine weitere, im homosexuellen Betriebe relativ stärker als im hetero-
sexuellen verbreitete Kategorie sind die Besorger und Zuführer. Wohl-
habende Homosexuelle haben ähnlich veranlagte Freunde, mit denen sie
nicht geschlechtlich verkehren, die aber Personen verschaffen, mit denen
sie sich ohne Risiko einlassen können. Es sind dies meist Vertrauens-
personen, die sie als Sekretäre, Reisebegleiter oder Diener beschäftigen,
und die sich so in den Geschmack ihres Herrn hineingelebt haben, daß
sie genau wissen, womit sie ihn »erfreuen«. Es liegt auf der Hand, daß
diese Klasse von »Schleppern« stark durch die Gefahren und Vorsichts-
maßregeln gefördert wird, die der homosexuelle Verkehr mit sich bringt.
Wie Iwan Bloch in seinem großen Werke über die
Prostitution nachweist, hat die Prostitution historisch sich
meistens im Anschluß an religiöse Kulte entwickelt und dem-
entsprechend auch topographisch ihren Ausgangspunkt entweder
direkt von den religiösen Verehrungsstätten (Tempelprostitution)
genommen oder sich eng an diese angeschlossen, indem die
ersten Bordelle in unmittelbarster Nähe berühmter Tempel —
namentlich der Liebesgöttin Astarte (Aphrodite) — angelegt
wurden. Sowohl die Tempelprostitution wie diese Bordelle
galten dem heterosexuellen und homosexuellen Liebesverkehr,
beherbergten daher Lustknaben wie Dirnen. Noch jetzt gibt es
auf Borneo, Celebes und sogar unter den zum Christentum
übergetretenen Einwohnern der Insel Luzon Priester, die sich
weiblich kleiden und sich gegen Bezahlung zu homosexuellem
Verkehr hergeben.
Wie schwer im homosexuellen Verkehr die Grenzen der
Prostitution zu ziehen sind, zeigt nichts mehr als das Beispiel
der mit Unrecht oft so benannten Soldatenprostitution. So
lange es Krieger gibt, haben diese auf homosexuelle Männer
eine besonders große Anziehungskraft ausgeübt, und auch unter
den Soldaten selbst gab es stets eine erkleckliche Anzahl nicht
nur selbst urnisch veranlagter, die sich gern an Homosexuelle
angeschlossen haben. Im allgemeinen pflegen sie es nur während
ihrer Militärzeit zu tun, und ließen es schon dadurch zweifel-
haft erscheinen, ob es sich wirklich um Prostituierte handelt,
die von einer geregelten Arbeit nicht viel wissen mögen. Sehr
mit Recht sagt Prätorius einmal, daß, wenn ein Heterosexueller
aus Freundschaft, aus Dankbarkeit usw. ein Bündnis mit einem
Homosexuellen eingeht, deshalb ein solches Verhältnis nicht
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 557
einem prostitutiven gleichgestellt werden könne, zumal wenn
für den Heterosexuellen ethische Momente, wie erzieherische
Wirkung, Bildung seines Charakters, Förderung seiner Fähig-
keiten usw. durch den günstigen, liebevollen Einfluß der Homo-
sexuellen in Betracht kommen. Dies gilt für die Soldaten-
freundschaft in ausgesprochenstem Maße.
Die Gründe, welche den Soldaten zum Verkehr mit Homosexuellen
veranlassen, sind mannigfach; einmal der Wunsch, sich das Leben in der
Großstadt etwas komfortabler zu gestalten, besseres Essen, mehr Getränke,
Zigarren und Vergnügungen (Tanzboden, Theater) zu haben; dazu kommt,
daß der oft sehr bildungsbedürftige Landwirt, Handwerker oder Arbeiter
im Verkehr mit dem Homosexuellen geistig zu profitieren hofft; dieser
gibt ihm gute Bücher, spricht mit ihm über die Zeitereignisse, geht mit
hm ins Museum, zeigt ihm, was sich schickt, und was er nicht tun soll;
das oft drollige Wesen des Urnings trägt auch zu seiner Erheiterung bei.
Weitere Momente sind der Mangel an Geld oder an Mädchen, die den
Soldaten nichts kosten, die Furcht vor Geschlechtskrankheiten und die gute
Absicht, der daheim bleibenden Braut treu zu bleiben, der man beim Ab-
schied die Treue geschworen hat, und die in jedem »Schreibebrief« ängst-
lich an diesen Schwur gemahnt. Als ich einmal in einer urnischen Soldaten-
kneipe Berlins einen reichen Bauernsohn, der bei den Dragonern diente,
fragte, weshalb er mit Männern verkehre, erwiderte er: »Um meiner Braut
treu zu bleiben. Man muß die Innigkeit solcher Beziehungen, den
Stolz auf der einen, die Anhänglichkeit auf der andern Seite oft zu be-
obachten Gelegenheit gehabt haben, um zu erkennen, daß die Vorstellung,
welche wir mit dem Worte Prostitution verbinden, die Sache nicht deckt.
Bereits in den »Großstadtdokumenten« sprach ich mich dahin aus,
»daß die Soldatenprostitution in einem Lande um so stärker ist, je mehr
die Gesetze die Homosexualität verfolgen. Offenbar hängt diese Tatsache
damit zusammen, daß man in Ländern mit Urningsparagraphen von den
Soldaten am wenigsten Erpressungen und andere Unannehmlichkeiten zu
befürchten hat«. Ich zitiere auch an dieser Stelle einen Gewährsmann, der
London, wo sich in den belebtesten Parks und Straßen vom Spätnachmittag
bis nach Mitternacht zahlreiche Soldaten in unverkennbarer Weise feil-
bieten, Berlin, Stockholm, wo sogar Patrouillen auf Soldaten fahndeten,
die zu dem erwähnten Zwecke »herumstreichen«, Helsingfors und Peters-
burg auf der einen und der anderen Seite, Paris, wo er »in 18 Monaten
nur Rudimente eines militärischen Striches< nachweisen konnte, sowie
Amsterdam, Brüssel, Rom, Neapel und andere Städte ohne Urningspara”
graphen miteinander verglich und zu dem Schlusse gelangt, daß in allen
europäischen Ländern mit strengen Strafbestimmungen gegen den homo-
sexuellen Verkehr die Hingabe von Soldaten in einer Weise auftritt, die
man nicht für möglich halten sollte, wenn man es nicht mit eigenen Augen
beachtet hat, während man in Ländern ohne Urningsparagraphen fast nichts
von dieser Erscheinung bemerkt. Der »militärische Strich«, auf dem die
Soldaten einzeln oder in Paaren gehend Annäherung an Homosexuelle
suchen, findet sich gewöhnlich unmittelbar an den Kasernen oder unweit
558 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
dieser vor gewissen Soldatenkneipen. Auch in diesen selbst, die in den
Stunden von Feierabend bis zum Zapfenstreich am besuchtesten sind, finden
sich vielfach Homosexuelle ein, die die Soldaten freihalten und so Be-
ziehungen mit ihnen anzuknüpfen. Geschieht dies in stärkerer Weise, so
sind diese Lokale meist von kurzem Bestand. Fast immer werden sie dem
Militär nach kurzer Zeit durch Regimentsbefehl verboten, nachdem irgend
ein Unbekannter gewöhnlich aus Brotneid oder Rachsucht, »gepfiffen« hat.
Es tun sich dann stets bald wieder ein oder zwei, auch mehrere ähnliche
Lokale in der derselben Gegend auf. Würde ein Normalsexueller diese
Lokale betreten, er würde sich vielleicht wundern, daß dort so viele fein-
gekleidete Herren mit Soldaten sitzen, im übrigen aber wohl kaum jemals
etwas Anstößiges finden. Die hier bei Bockwurst mit Salat und Bier ge-
schlossenen Freundschaften zwischen Homosexuellen und Soldaten halten
oft über die Dienstzeit, nicht selten darüber hinaus, vor. So mancher
Urning erhält, wenn der Soldat schon längst als verheirateter Bauer fern
von seiner geliebten Garnison Berlin in heimatlichen Gauen das Land be-
stellt, »Frischgeschlachtetes« als Zeichen freundlichen Gedenkens. Es kommt
sogar vor, daß sich diese Verhältnisse auf die nachfolgenden Brüder über-
tragen; so kenne ich einen Fall, wo ein Homosexueller nacheinander mit
drei Brüdern verkehrte, die bei den Kürassieren standen.
Hier von Prostitution zu reden, wie es beispielsweise
H. Ostwald, diese Bezeichnung lebhaft verteidigend, in dem
Buche »Männliche Prostitution« tut, scheint nicht gerechtfertigt.
Wie bedacht die Militärbehörden sind, die Annäherung zwischen
Homosexuellen und Soldaten zu verhindern, geht daraus hervor, daß des-
wegen nicht nur manche Restaurants, sondern auch manche Spaziergänge
der Garnison Berlins streng verboten sind, so das Waterloo-Ufer am
Halleschen Tore, der Weg am »schwarzen Zaun«, unweit des Tempelhofer
Feldes, einige Promenaden im Tiergarten. Neuerdings wird in vielen
Regimentern in der Instruktionsstunde den Soldaten besonders der Verkehr
mit Homosexuellen untersagt, es nützt aber wenig, im Gegenteil, manche
Unwissende werden dadurch erst »auf die Idee gebracht«, sich homo-
sexuellen Umgang zu suchen. Wirksamer war vielleicht ein Verfahren,
das ein alter Wachtmeister von den Gardekürassieren anwandte. Von
dieser »Mutter der Schwadron« heißt es in einem Bericht: »Besonders
verhaßt war ihm, wenn Briefe aus Berlin an einen Mann der Schwadron
kamen. Auch Urlaub gab er an Wochentagen höchst ungern, weil er mit
Recht immer Beziehungen zu Homosexuellen witterte. Wenn manch’ einer
in seiner Schwadron sich von weniger charakterfesten Kameraden nicht
auf Abwege zerren ließ, so war das nicht zum mindesten dem braven,
alten Gottlieb zu danken. »Mein Sohn, du tust mit die warmen Brüder
verkehren! Wenn du das nicht läßt, so schreibe ichs an deine Eltern!
So sagte er, väterlich ermahnend, unter vier Augen und blickte dem Kürassier
dabei scharf und zugleich mild bis tief in die Seele.«
Vollkommen unrichtig ist die Meinung, daß der erste
Schritt in den Beziehungen zwischen Soldaten und Homo-
sexuellen immer von diesen ausgeht. Wenn seinerzeit Kriegs-
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 559
minister von Einem im Deutschen Reichstage sagte; »Die Tat-
sache steht (allerdings) fest, daß unsere Soldaten sich nur mit
Mühe der Angriffe erwehren können, die von diesen Buben
auf sie gemacht werden«, so zeigte er sich über den wahren
Sachverhalt wenig orientiert, ganz abgesehen davon, daß schon
die Vorstellung, die Riesen unserer Garde könnten sich der
Angriffe unserer Urninge nicht erwehren, dem Kenner geradezu
lächerlich erscheinen muß. In Wirklichkeit übertrifft das An-
gebot der sich zur Verfügung stellenden Soldaten die Nach-
frage der Homosexuellen meist um ein Beträchtliches. Ge-
wöhnlich ist es ein Kamerad, der von den anderen in der
Stube gefragt, wo er denn das viele Geld bekomme, wer ihm
die schöne Extrauniform gekauft hätte, den einen oder anderen
in sein Vertrauen zieht, mitnimmt, und »einführt«. Es ist auch
schon vorgekommen, daß sich ein junger Bursch, der sich
vorher Männern für Geld feilbot, freiwillig für ein Regiment
meldete, das eine recht kleidsame Uniform trägt, weil er glaubte,
in der pelzverbrämten Attila und den enganliegenden Bein-
kleidern, die Sonntags in hohen Lackstiefeln stecken, sein Ge-
schäft einträglicher gestalten zu können. —
Einiges noch über die Bekämpfung der Prostitution im
allgemeinen. Sie kann nur eine vorbeugende und verhütende
sein. Man hat zwar vorgeschlagen, die männliche Prostitution
als solche zu bestrafen. Im Vorentwurf zu einem Deutschen
RStrGB. ist eine Zusatzbestimmung eingeführt, »wonach mit
Gefängnis bis zu zwei Jahren bestraft wird, wer sich zu der
Tat gewerbsmäßig anbietet oder bereit erklärt«; in Dänemark
ist bereits vor einigen Jahren ein analoges Gesetz eingeführt.
Diese Strafandrohungen sind ungerecht, zwecklos und schäd-
lich. Ungerecht, weil die männliche Prostitution vom ethischen
Standpunkte nicht anders beurteilt werden kann als die weib-
liche; aussichtslos, weil eine so tief in sozialen und biologischen
Ursachen und Mißständen wurzelnde Erscheinung sich er-
fahrungsgemäß nicht auf diesem Wege ausrotten oder auch
nur eindämmen läßt, und schädlich, weil es nicht gut tut, einer
Anzahl junger Leute, von denen die Erfahrung lehrt, daß sie
sich in der Mehrzahl später sozial noch gut entwickeln, einen
nicht mehr auszulöschenden Verbrecherstempel aufzuprägen,
der ihre Zukunft, und dadurch indirekt die Gesellschaft, schwer
beeinträchtigt.
560 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT
Das französische Gesetz vom 11. April 1908 bestimmt:
»Minderjährige unter 18 Jahren, die sich gewohnheitsmäßig der
Prostitution ergeben, sollen, wenn nötig, durch Richterspruch
in eigens zu diesem Zwecke bestimmten Erziehungsinstituten
untergebracht werden.«e Das gleiche kann übrigens bei uns
auf Grund der allgemeiner gehaltenen Bestimmungen des Ge-
setzes vom 2. Juli 1900 über die Fürsorgeerziehung geschehen.
Im übrigen lassen sich gegen die Einfügung des Wortes »gewerbs-
mäßig« in den $ 175 folgende Einwendungen machen: a) der Begriff
gewerbsmäßig ist zwar in den Kommentaren zum Strafgesetzbuch
(88 361, Мо. 6, 260, 284, 294, 302d) zu normieren versucht worden, aber
dennoch in der praktischen Anwendung unbestimmt und dehnbar, denn
1. nach den Kommentaren kann schon eine einmalige Geldannahme das
Merkmal der Gewerbsmäßigkeit bilden, wenn aus ihr festzustellen ist, daß
дег Empfänger gleiche Fortsetzung beabsichtigte, und der Geldempfang
nur das erste Glied in einer beabsichtigten Kette bildete. — 2. Es ist
ferner nicht nötig, daß eine Person nicht ausschließlich ihren Lebens-
unterhalt durch Geldannahme für sexuelle Handlungen bestreite. Es ge-
nügt schon, daß ein wesentlicher Teil ihres Lebensunterhaltes dadurch
bestritten wird. — Es könnten bei dieser Auffassung auch Freundschafts-
verhältnisse zwischen einem Bemittelten und einem minder Bemittelten
einen strafbaren Charakter gewinnen. — 3. Ferner ist zu berücksichtigen,
daß durch jene Einfügung gewissermaßen ein Schutz und ein Vorrecht der
Wohlhabenden gegenüber den Unbemittelten geschaffen wird. Wenn auch
nicht wahrscheinlich, so ist es doch nicht ausgeschlossen, daß hin und
wieder eine Verkehrung der jetzt bestehenden Verhältnisse stattfindet derart,
daß späterhin der Minderbemittelte in ein unter Umständen gefährliches
Abhängigkeitsverhältnis von dem Wohlhabenden gerät.
Die Prophylaxe der männlichen Prostitution muß auf die
Beseitigung ihrer Ursachen gerichtet sein. Als solche lernten
wir in einer Reihe von Fällen, namentlich dort, wo kriminelle
Motive mitsprechen, die bestehenden Strafbestimmungen und
das herrschende Vorurteil gegen die homosexuelle Veranlagung
und den homosexuellen Verkehr kennen. Die Eliminierung
dieser beiden Umstände würde mithin schon eine erhebliche
Einschränkung der männlichen Prostitution bewirken.
ACHTER BAND п
ITS
SEXUALREFÜRM
TT
BEIBLATT ZU „GESCHLECHT UND Bes Ser
VERSCHIEDENES.
Konzeption ohne Menstruation.
Dr. ©. J. Blankingship berichtet im
Journ. Am. Med. A. den Fall einer
Frau, die drei Kindern das Leben
schenkte, ohne jemals vor oder nach
der Entbindung das leiseste Zeichen
einer Menstruation verspürt zu
haben. Die betreffende Frau ent-
stammt einer gesunden Familie und
verheiratete sich im Alter von 13
Jahren; ihr Körpergewicht betrug
zu der Zeit 180 Pfund. Das erste
Kind kam 10 Monate nach der Ver-
heiratung zur Welt. Patientin be-
saß eine Schwester, die dreimal
verheiratet war und acht Kindern
das Leben geschenkt hatte; auch
diese Schwester hat die ganzen
Jahre hindurch niemals menstruiert.
Dagegen waren die Menses bei der
Mutter und einer andern Schwester
völlig regelmäßig eingetreten.
-el-
Einseitige Kastration und
ihre Wirkung. Folgende Beobach-
tung wird nach einem Bericht
Selenews in der Dermatologischen
Wochenschrift 1912 No. 43 von den
Sex. Probl. wiedergegeben: Es
handelt sich um die Kastration des
rechten Hodens bei einem I8 jährigen
jungen Manne, wegen mutmaßlicher
Tuberkulose. Die Folge der rechts-
seitigen Kastration war abnorm ge-
steigertes Wachstum der linken
Brustdrüse, so daß das Bild einer
linksseitigen Gynäkomastie sich ent-
wickelte.e Die Kreuzwirkung läßt
an das Vorhandensein von tro-
ERSTES HEFT п
phischen Nerven in der entgegen-
gesetzten Seite denken, welche die
Entwicklung der Geschlechtsorgane
hemmen. Im vorliegenden Falle
müßten sich diese Nerven, welche
die weibliche Entwicklung der Brust-
drüse beim Manne hemmen, sich
im rechten Hoden des Patienten
befunden haben. Prof. Selenew
macht darauf aufmerksam, daß bei
den Hottentoten in Südafrika und
bei dem Stamme Ponope auf den
Karolinen die kuriose Sitte der ein-
seitigen Kastration bei jedem Kinde
besteht. Ueber den Sinn dieser
Sitte herrscht noch Meinungsver-
schiedenheit, aber »jedenfalls haben
wir hier reichliche Gelegenheit,
den Einfluß der einseitigen Kastration
auf den Organismus, sowie auf die
übrigen primären und sekundären
Geschlechtsmerkmale zu studieren«.
Die Masken der Sexualität.
Aus Berlin wird der Straßb. Post
geschrieben: Die Psychoanalyse, die
geistreiche Methode, mit der Sig-
mund Freud eine neue Ara der
Nerventherapie heraufzuführen hofft,
macht schnelle Fortschritte. All-
jährlich tagen bereits psychoana-
lytische Kongresse, die Literatur
wächst schier ins Ungemessene, es
gibt ein regelmäßig erscheinendes
Jahrbuch für Psychoanalyse und seit
Monaten sogar eine psychoana-
Iytische Monatsschrift großen Stils
(Imago). Kein Wunder, daß die
neue Schule nun auch versucht,
das große Publikum für ihre Lehre
zu interessieren, und sie tut es —
man muß es ihr lassen — auf eine
1
JANUAR 1913
recht geschickte Art. Im Berliner
Architektenhaus erschien dieser Tage
Dr. Wilhelm Stekel am Vortrags-
pult, um über „Die Masken der
Sexualität“ zu sprechen. Das Thema
war äußerst klug gewählt und
formuliert, spannend und pikant.
Klug gewählt aber vor allem auch
deshalb, weil es an Dinge anknüpfte,
die jedem Menschen, der nur einiger-
maßen gewöhnt ist, sich und andere
zu beobachten, mehr oder weniger
bekannt sind. So naiv sind wir
denn doch heute nicht mehr, blind-
lings an die heiligen Motive der
Flagellanten zu glauben und der
närrischen Ekstase hysterischer Pro-
phetinnen wie einem hehren Him-
melswunder gegenüberzustehen. Ja
selbst hinter dem oft fast frivolen
Heldenmut der Märtyrer läßt sich
bisweilen so etwas wie ein erotisches
Geheimnis ahnen. Und dann —
haben uns nicht unsere Dichter und
Seelenkünder längst gelehrt, den
allzu stark akzentuierten Äußerungen
des Widerwillens, zumal gegenüber
Personen des anderen Geschlechts,
zu mißtrauen? Ein entrüstet ab-
gewiesener Freier kann über Nacht
leicht, wie leicht zum angebeteten
Idol der Geliebten werden; nicht
etwa, weil die Frauen flatterhaft
sind und ihre Meinung rasch zu
wechseln pflegen, sondern weil die
anfängliche Abneigung nichts weiter
war als eine aus irgend welchen
Gründen mit peinlicher Sorgfalt ver-
steckt gehaltene Zuneigung. Aber
die Psychoanalyse kennt noch ganz
andere Masken der Liebe, und wenn
man sich die Zeit und Mühe nimmt,
diese Masken einmal gründlich zu
studieren, so kommt man zu dem
seltsamen Ergebnis, daß eine ganz
verblüffend große Menge aller ner-
vösen Krankheitserscheinungen, aller
üblen und kuriosen Angewohnheiten,
oft sogar verbrecherische Neigungen
und Handlungen nichts anderes
sind, als solche erotischen Masken.
Schon das Kind (das Märchen vom
asexuellen Kind muß ja als end-
gültig abgetan gelten) maskiert sich,
und der reife Mensch erlangt darin
eine derartige Virtuosität, daß seine
Maske oft der Kunst des gewiegtesten
Seelenarztes lange Zeit hindurch sieg-
haft Trotz bietet. Natürlich ist er
selbst dabei der Betrogene, hat keine
Ahnung davon, daß seine Leiden,
seine kleptomanische Neigung, sein
unheilvoller Drang, Mensch und
Tier zu quälen, in Wahrheit auf
unterdrückte Sexualtriebe zurück-
zuführen sind. Die Psychoanalyse
behandelt diese Kranken in der
Weise, daß sie sie zur Erkenntnis,
zur klaren Selbsterkenntnis führt.
Wie das geschieht und welche
inneren und äußeren Folgen es hat,
haben wir an dieser Stelle nicht zu
erörtern. Darüber hinaus aber bleibt
noch ein gutes Stück Arbeit für uns
und unsere Nachkommen zu leisten;
denn es gilt ja nicht nur die Kranken
zu heilen, sondern die Gesunden
vor der Krankheit zu schützen, und
das will hier besagen: die Masken
der Liebe überflüssig zu machen.
Zur Psychologie des Scham-
gefühls. Ueber die Entwicklung
und die gesellschaftliche und er-
zieherische Bedeutung des Scham-
gefühls sprach Dr. G. Flatau vor
der Psychologischen Gesellschaft in
Berlin. Er erkennt ein natürliches
körperlichesSchamempfinden an und
deutet es als eine Reaktion gegen
die Einflüsse, die der Entwicklung
des körperlichen und seelischen
Lebens nachteilig sind. Das Kind
besitzt dieses Schamgefühl nicht,
da ihm ja auch die Kenntnis jener
drohenden Einflüsse abgeht. Es
besitzt im Gegenteil eine Neigung,
sich zu entblößen, die auf das
Lustgefühl, das durch die offene
Hautatmung erzeugt wird, zurück-
zuführen ist. Daß die in den ge-
mäßigten Zonen wegen der
Witterungseinflüsse nötige Beklei-
dung des Körpers viel zur Aus-
bildungdesSchamgefühls beigetragen
hat, erkennt der Vortragende an.
Auch das Verschleiern der Türken-
frauen und das Verbergen der Füße
bei den Chinesinnen als Zeichen
des Schamgefühls zu erklären, sei
jedoch irrig. Den Türkinnen ist
das Verschleiern des Gesichts vor-
geschrieben, um die sehr rege
Eifersucht ihrer Gatten zu schonen.
Denn der Türke ist von Natur außer-
ordentlich eifersüchtig. Daß aber
bei den Chinesinnen die Füße wenig
zu sehen sind, liegt an ihrer durch
Bandagen erzielten Verkrüppelung,
die ursprünglich ein Zeichen der
Knechtschaft gegenüber den Mand-
schufrauen war. Beides hat also
mit Schamhaftigkeit nichts zu tun.
Ein bedeutsames Licht wirft da-
gegen das Dekollet& unserer Damen
auf den Begriff der Schamhaftigkeit,
da bei gewissen gesellschaftlichen
Gelegenheiten sicher jede jüngere
Dame sich in einem undekolletierten
Kleide geniert fühlen würde. Ein
Beweis, daß Konvention und Mode
den Begriff der Schamhaftigkeit
stark beeinflussen. (Berl. Morgpst.)
Exotische Heiraten. Eine junge
Engländerin, Miß Olive Macleod,
unternahm vor nicht allzu langer
Zeit eine gefährliche Tour in das
Innere Afrikas, um das Grab ihres
Verlobten, des Leutnants Boyd-
Alexander aufzusuchen, der von
Eingeborenen ermordet worden war.
Sie selbst wurde in den meisten
Gegenden, durch die sie kam, sehr
ehrenvoll aufgenommen und weiß
nun allerhand Interessantes von ver-
schiedenen Eingeborenenstämmen
zu berichten, besonders in Bezug
auf absonderliche Heiratsgebräuche,
So erzählt sie, daß bei den Fulani,
einem schöngewachsenen und in
mancher Hinsicht ziemlich zivili-
sierten Stamme in Nordnigeria, ein
Jüngling, der sich zu verheiraten
wünscht, einer sonderbaren Vorbe-
reitung zu diesem Standeswechsel
unterworfen wird. Seine Stammes-
genossen gruppieren sich zu einem
Kreis, in dessen Mitte der Heirats-
kandidat Platz zu nehmen hat.
Dann wird er von allen Seiten fleißig
mit ledernen Riemen bearbeitet.
Während der ganzen Prozedur hält
erin der rechten Hand einen Spiegel,
in welchem er sein Gesicht zu be-
obachten hat. Es ist Ehrensache,
daß seine Züge stets nur stoische
Ruhe ausdrücken ; die Selbstkontrolle
durch den Spiegel ermöglicht es
ihm, jede verräterische Regung des
Schmerzes gleich im Keime zu
unterdrücken, und schützt ihn so
vor Blamage. Vielleicht braucht er
diese Selbstüberwindung in der Ehe
sehr nötig! Ein afrikanischer Neger-
häuptling, den die junge Engländerin
indiskreterweise um die Anzahl
seiner Frauen befragte, schätzte
diese auf 200 bis 250 und führte
sie ihr abteilıngsweise zum Photo-
graphieren vor. Gegen die Weiße
erwies er sich äußerst zuvor-
kommend, ja er stieg sogar vom
Pferde, um sie zu begrüßen, was
seinen Untertanen um so mehr auf-
fallen mußte, als er bis dahin noch
niemals in der Oeffentlichkeit von
irgend einer Frau Notiz genommen
hatte. Der Gatte einer Prinzessin
zu sein, ist bei mehreren Stämmen
eher eine Bürde, denn eine Würde.
Der Sultan von Bagirim wählt stets
die Gatten für seine Töchter aus;
aber meist drücken sich die jungen
Leute vor dieser Ehe durch Davon-
laufen. Denn der Gatte einer
Prinzessin muß sich sofort von
seinen bisherigen Frauen trennen,
darf auch nie eine andere Frau
heiraten, und die Prinzessin darf er
auch nur dann besuchen, wenn diese
ihn holen läßt, Eine besondere
Annehmlichkeit genießt außerdem
noch der Gatte der zweiten Tochter
des Sultans. Während nämlich die
älteste das Privilegium hat, sich in
1*
der Oeffentlichkeit zu Pferde zu
zeigen, darf die zweite nur hucke-
pack auf dem Rücken eines Mannes
vor dem Volke erscheinen. Und für
das ehrenvolle Amt, diese süße Last
zu tragen, ist natürlich nur der Ehe-
mann gut genug. Man braucht wohl
kaum zu erwähnen, daß das Ver-
mögen des Mannes seiner Prinzessin-
Frau zur freiesten Verfügung steht;
er selbst braucht sich garnicht mehr
darum zu kümmern! SK. (Cth.)
Statistisches über die Pros-
titution jugendlicher Mädchen.
In der Münch. Mediz. Wochenschrift
veröffentlicht Jugendstaatsanwalt
Rupprecht einen Aufsatz über die
Prostitution jugendlicher Mädchen,
dem wir nachfolgende interessante,
statistische Angaben entnehmen.
Zugrunde gelegt sind — schreibt
der Verfasser — die Feststellungen,
welche innerhalb dreier Jahre im
Strafverfahren gegen 88 wegen Ge-
werbsunzucht zu Strafen verurteilte
Mädchen im Alter von weniger als
18 Lebensjahren gemacht wurden.
Zunächst fällt die große Zahl der
jugendlichen Dienstmädchen auf,
die wegen Gewerbsunzucht zur
Anzeige kamen, und unter ihnen
wieder die erhebliche Zahl von
Mädchen des jüngsten Alters, des
vollendeten 14.und 15.Lebensjahres.
Von 24 noch nicht 16 Jahre alten
Dirnen waren 17 Dienstmädchen.
Auch die große Zahl der unehelich
geborenen Mädchen, die der Pros-
titution verfallen, verdientBeachtung.
Daß die Prostitution ihre Opfer
hauptsächlich im Arbeiterstande
sucht, ist eine Tatsache, die über-
wiegend in ungünstigen wirtschaft-
lichen Verhältnissen beruht. Von
den verurteilen 88 jugendlichen
Dirnen gehörten 11 dem 15. Lebens-
jahre, 26 dem 16. Jahre und 51
dem 17 Jahre an. Von diesen 88
Geschöpfen waren 66,6 Prozent
geschlechtskrank. Die Ursachen,
welche diese Dirnen auf den
schlimmen Pfad getrieben haben,
waren in 14 Fällen auf mangelnde
Aufsicht der Eltern, in 9 Fällen auf
die sittliche Verkommenheit der
Eltern, in 6 Fällen auf sittliche Ver-
wahrlosung, in 14 Fällen auf ärm-
liche häusliche Verhältnisse, Woh-
nungselend, und in 25 Fällen darauf
zurückzuführen, daß die Tochter
frühzeitig aus dem Elternhaus bei
fremden Leuten zur Erziehung oder
zum Erwerb weilte. 15 dieser un-
glücklichen Geschöpfe lebten früher
in geordneten Verhältnissen, 9 da-
von genossen sogar eine gute Er-
ziehung. In 17 Fällen ist der frühe
sittliche Verfall auf Verführung durch
Freundinnen, in 18 Fällen auf Ver-
führung durch den Geliebten, in
26 Fällen auf Not und Arbeitslosig-
keit und in 27 Fällen auf Lieder-
lichkeit zurückzuführen. Die Für-
sorge des Jugendgerichtes hat sich
in 8 Fällen durch Ueberweisung an
die Eltern, in 6 Fällen durch Schutz-
aufsicht, in 17 Fällen durch Unter-
bringung in ein Heim, in 8 Fällen
durch Verschaffung von Arbeit und
in 20 Fällen durch Zwangserziehung
betätigt. Am meisten gefährdet er-
scheinen die jugendlichen Dienst-
mädchen. Biermädchen und Kellner-
innen und jugendliche Arbeiterinnen
treten ihnen gegenüber trotz ihrer
größeren Bewegungsfreiheit und
Selbständigkeit zurück. Vielleicht
liegt der Grund aber darin, daß
diese letzteren erwerbstätigen Mäd-
chen meist ein sogenanntes »festes
Verhältnise haben. Die Mehrzahl
der aus Arbeiterfamilien stammenden
gefallenen Mädchen sind vom Lande
oder aus Kleinstädten in die Groß-
stadt gekommen.
Die Prostitution in Chicago.
In der Z. f. d. B. d. G. referiert R. M.
über einen Bericht der Stadt Chicago
aus dem Jahre 1911, der sich mit
den Ursachen, der Verbreitung und
Regelung des Prostitutionswesens
daselbst beschäftigt. Der Referent
führt aus den amtlichen Mitteilungen
u. a. folgende markante Stellen an:
»Die gewerbsmäßige Ausnutzung
der Prostitution wird in Chicago in
gewaltiger Ausdehnung betrieben.
Sie erreicht einen Umsatz von 15
Millionen Dollars pro Jahr. Be-
sonders unterstützt wird sie dadurch,
daß sich angesehene Männer und
Frauen der Stadt dazu hergeben,
Räume zur Ausübung der Pro-
stitution für exorbitante Summen
zu vermieten und somit ein Inter-
esse an dem Bestehen der Pro-
stitution haben, jener Prostitution,
die jährlich 5000 Opfer fordert.
Diese 5000 rekrutieren sich aus
Prostituierten, die keinen anderen
Beruf haben. Es ist natürlich un-
möglich, irgendwelche Zahlen über
den Umfang der geheimen Pro-
stitution anzugeben. Die Polizei-
liste selbst gibt eine Zahl von 4194
Gewerbsmäßigen an. Die Zahl
800 ist wohl nicht zu hoch ge-
griffen für solche, die sich der
Einschreibung entzogen haben ...«
Über den Mädchenhandel und das
Treiben der Zuhälter in Chicago
heißt es an anderen Stelle: »Die
Kuppler und Zuhälter machen be-
sonders die Tanzlokale unsicher
und halten nach unerfahrenen Mäd-
chen Ausschau, es fällt ihnen dies
umso leichter, als sie die Pro-
stituierten, die zu 75 Prozent den
Saal füllen, kennen. Wenn erstere
dann betrunken sind, werden sie
von den jungen Leuten, die zu
diesem Zweck hinkommen, in die
benachbarten Absteigequartiere mit-
genommen. Der Preis für die Be-
nutzung eines solchen Zimmers be-
trägt 1—8 Mark, die Betten werden
häufig nicht gewechselt und so
sind diese Stätten eine Quelle der
venerischen Erkrankungen. Bei
einigen Wirtinnen ist eine Liste
von jungen Mädchen gefunden
worden, die tagsüber eine Be-
schäftigung haben und des Abends
SEXUALREFUORM
telefonisch benachrichtigt werden,
wenn sie gebraucht werden. Einige
leben in der Nähe der Stadt und
kommen von Zeit zu Zeit, um sich
eine Nebeneinnahme zu verschaffen.
Andere machen in den ersten Abend-
stunden Bekanntschaften, denen sie
Karten mit ihrer Adresse und Telefon-
nummer hinterlassen. Auch eine
große Anzahl von Männern sind
Inhaber von Bordellen. Sie stehen
in enger Beziehung mit den Zu-
hältern und dem Abschaum der
menschlichen Geellschaft. In einigen
Bordellen bestehen sie darauf, daß
die Mädchen sich einen Zuhälter
wählen, der sie dann beobachtet.
Perversitäten häufen sich besonders
in den gutbezahlten Häusern. Vor
vielen Häusern stehen Aufpasser,
die durch eine elektrische Klingel
oder bestimmte Zeichen mit der
Hand anzeigen, wenn ein Schutz-
mann sich nähert. Die sogenannte
ärztliche Untersuchung der Mädchen
durch von den Bordellwirtinnen an-
gestellte Ärzte ist so gut wie wertlos.
Es sind Fälle notiert worden, wo
kranke Mädchen mit Wissen der
Ärzte weiter im Haus verblieben
sind.«
Freudenhäuser für die Marine.
Folgender Bericht geht dem »Hamb.
Echo« aus Wilhelmshaven zu: Die
Bürger von Wilhelmshaven befinden
sich seit einiger Zeit in bedenklicher
Aufregung. Gilt es doch, in der
Stadt, der der deutsche Kaiser un-
längst erst das Coligny-Denkmal
schenkte, einen lebhaften Abwehr-
kampf gegen die Errichtung eines
Freudenhauses zu führen. Ein von
Gewissensschmerzen wenig geplag-
ter Unternehmer hat bei der Polizei-
behörde die Erlaubnis zur Errichtung
eines Logierhauses für Prostituierte
nachgesucht. Nun wäre ja an einem
solchen Wunsche nichts Besonderes,
indes will der gute Mann aber auch
einen Restaurationsbetrieb mit Da-
menbedienung einrichten. Kurz, die
Behörde soll die Konzessionierung
eines versteckten Bordells bewerk-
stelligen. Aber in Wilhelmshaven
besteht bereits seit Jahren ein
solches öffentliches Haus, dessen
Betrieb wohl gegen die Bestimmun-
gen des Strafgesetzbuchs verstößt,
aber doch stillschweigend geduldet
wird. Meint man doch, daß das
regelmäßig längere Zeit abwesende
Marinepersonal in Seestädten wie
Wilhelmshaven Zutritt zu dergleichen
Häusern haben müsse, anderenfalls
Anfälle auf Frauen und Bürgers-
töchter nichts Seltenes wären.
Gegen die Errichtung weiterer
Häuser, deren Genehmigung durch
die Polizeibehörde bevorstehen soll,
wehren sich nun aber die in der
Nähe der projektierten Häuser
wohnenden Bürger. Äußerlich aus
moralischen Gründen, innerlich aber
fürchten sie besonders einen Rück-
gang der Wohnungsmieten. Eine
große Protestaktion ist eingeleitet.
Ein Spaßvogel machte den Vor-
schlag, eine alte Korvette, wie solche
eine Anzahl im Hafen abgetakelt
liegen, als Freudenhaus einzurichten
und diese dann jeweilig, wenn
hoher Besuch anwesend, mit den
Insassen in einen anderen Hafen zu
fahren. Dieser Vorschlag erregte
wohl großes Gelächter, er konnte
aber in der Praxis keine Verwirk-
lichung finden. In der Stadtver-
ordnetensitzung beschäftigte sich
auch die Kommunalverwaltung mit
der allenthalben lebhaft diskutierten
Frage. Das Ergebnis der mehr-
stündigen Debatte war die Meinung,
daß das benachbarte, auf Olden-
burger Gebiet liegende Rüstringen
das zweite Bordell in seinen Mauern
aufnehmen solle. Die Stadt Rüst-
ringen denkt aber gar nicht daran,
Wilhelmshaven seinen Unrat abzu-
nehmen.
Bücherschicksale. Bis zu wel-
chem Wirrwar die Rechtsprechung
gedeihen kann, wenn die Interpre-
tation des $ 184 der Willkür der
einzelnen Gerichtsinstanzen unter-
liegt, hat neuerdings der Prozeß
des Stuttgarter Schriftstellers Unge-
witter bewiesen, dessen Bücher
»Nackt« und »Kultur und Nacktheit«
seinerzeit von der Zensurbehörde
beschlagnahmt wurden, nachdem
sie bereits die längste Zeit im Buch-
handel zugelassen waren. Hierzu
schreibt die Frkf. Ztg. wie folgt:
Das Buch »Nackt« wurde im Sep-
tember 1911, nachdem es fast drei
Jahre früher einmal vor Gericht ge-
wesen, dann wieder zurückgegeben
und anstandslos verkauft worden
war, von neuem trotz verschiedener
Ansicht mehrerer Instanzen beschlag-
nahmt. In einem Stuttgarter Urteil
vom April 1912 wurde es freige-
geben. Die Staatsanwaltschaft legte
Revision ein, die im Januar 1913
entschieden wird. Inzwischen hat
ein Berliner Gericht einen Buch-
händler wegen Verbreitung des
Buches mit 10 Mark Geldstrafe be-
legt und die Entfernung einer Seite
aus dem Buche durch Urteil be-
schlossen, während das Münchener
Schwurgericht einen Buchhändler
wegen Verbreitung desselben Buches
freigesprochen hat. Nun will das
Berliner Gericht die in Stuttgart
freigegebenen Exemplare des Buches
teilweise vernichten; kommt dann
das Reichsgericht zur Verwerfung
der Stuttgarter Revision, gibt also
dem Verfasser in Stuttgart recht, so
nützt diesem das Urteil des Reichs-
gerichts nichts mehr, weil das Land-
gericht Berlin die Bücher schon
teilweise hat zerstören lassen. Ganz
ähnlich liegt die Sache bei »Kultur
und Nacktheit« zwischen dem Stutt-
garter und einem Wiesbadener Ur-
teil. Das Kammergericht hat denn
auch in einer Entscheidung vom
19. November mit schöner Offen-
heit erklärt, bezüglich einer und
derselben Schrift könnten verschie-
dene Entscheidungen des Reichsge-
(505000 соро
richts über die Sittlichkeit oder
Unsittlichkeit des Buches nicht aus-
bleiben, weil die Frage der Un-
züchtigkeit eines Buches Tatfrage
und keine Rechtsfrage sei. Eine
Frage des Rechts ist eine derartige
Rechtsprechung allerdings nicht
mehr.
Eine Gesetzesvorlage zur Be-
kämpfung der Schundliteratur.
Obwohl infolge der vielfach ge-
troffenen Bekämpfungsmaßnahmen,
die von kommunalen Körperschaften,
Vereinen und dergi. ausgehen, ein
Rückgang im Vertrieb der Schund-
literatur festzustellen ist, so erachtet
man doch eine reichsgesetzliche
Regelung der Materie für notwendig.
Die Reichsregierung hatte sich, um
Grundlagen für gesetzgeberische
Maßnahmen zu erhalten, an die
Bundesregierungen gewandt, deren
Äußerungen in der Mehrheit dahin
gingen, daß ein schärferes Ein-
schreiten erwünscht erscheint, wenn
man der gesetzgeberischen Schwie-
rigkeiten Herr werden könnte. Diese
liegen namentlich in einer genauen
Definition des Begriffes »Schund-
literatur«, da die Grenzen zwischen
dieser und anderer Literatur schwer
zu ziehen sind. Im besonderen
wurde in den Antworten der Bundes-
regierungen darauf hingewiesen, daß
ein gesetzgeberisches Vorgehen
durch Abänderung der Gewerbe-
ordnung zu befürworten sei, wo-
nach die Kolportage derartiger lite-
rarischer Erzeugnisse auch innerhalb
des Wohnortes verboten wird.
Ebenso wurde die Beschlagnahme
derartiger im Wege des Kolportage-
handels vertriebener Drucksachen
für wünschenswert erachtet, und
ferner sollten die Strafbestimmungen
für Zuwiderhandlungen in dieser
Hinsicht eine Verschärfung erfahren.
Diebisherigen Erörterungenzwischen
den beteiligten Reichsressorts haben
sich in dieser Richtung bewegt, und
wie wir hören, haben die Verhand-
SEXUALREFORM
lungen über ein reichsgesetzliches
Vorgehen auf diesem Gebiete in
letzter Zeit wesentliche Fortschritte
gemacht, so daß es nicht ausge-
schlossenerscheint, daß dem Bundes-
rat noch während der jetzigen
Tagung des Parlaments ein ent-
sprechender Gesetzentwurf zur
Durchberatung zugeht.
Sexuelle Besessenheit. In
einem Aufsatz, der im Januarheft
der N. G. erschienen ist, bietet Hans
Freimark eine Übersicht über die
wichtigsten historischen Fälle von
sexueller Besessenheit (Hexen-
glauben, Teufelsbuhlschaften) und
fährt dann wie folgt fort: »Sie (Fälle
sexueller Beschaffenheit) sind auch
heutzutage keineswegs so vereinzelt,
wie man vielfach meint. Allerdings
hat der Rationalismus des vorigen
Jahrhunderts versucht, den Teufeln,
Dämonen und Geistern aller Art
das Lebenslicht auszublasen. Da
er aber glaubte mit bloßer Leugnung
und Verneinung auszukommen, so
ist ihm seine Absicht nicht gelungen.
Der im Spiritismus wiedererwachte
Geister- und Wunderglaube hat
auch der sexuellen Besessenheit,
wenigstens in bestimmten Kreisen
wieder ihren alten Charakter ver-
liehen. Die erotische Begehr-
lichkeit Hysterischer, die sich
sonst an irgend eine markante
Persönlichkeit ihrer näheren oder
weiteren Umgebung haftet, greift
unter dem Einflusse spiritistischer
Theorien in das »Jenseits« hinüber
und wählt sich dort den Liebhaber.
Das männliche Geschlecht wird von
der sexuellen Beschaffenheit nur
selten ergriffen (vgl. die fixe Idee
bei Paranoikern, die sich sehr häufig
von Dämonen besessen glauben.
Anm. d. Red.) und dann sind es
hypernervöse und in erotischer Be-
ziehung ziemlich extrem veranlagte
Individuen. Die Frauen dagegen
sind und waren diesen psycho-
physischen Anfechtungen weit mehr
ee SEXUALREFORM 52505050505052505252505050505050/9]
unterworfen. Zum Teil ist das wohl
auf das Überwiegen des Gefühls-
lebens zurückzuführen, zum andern
trägt der Umstand wesentlich dazu
bei, daß der Organismus der Frau
konstant von den Wellen eines
Umwandlungsprozesses durchflutet
wird, der von ihrer Sexualsphäre
ausgeht. Man unterschätze diesen
Vorgang nicht. Freilich seine phy-
siologische Abwicklung irritiert nicht
in dem Maße, als seine bewußt
kaum wahrzunehmenden physischen
Ausläufer. Gerade dieses Über-
greifen in das Gebiet des Unbe-
wußten, in dem ja auch die Quellen
des Glaubens an außermenschliche
Mächte liegen, bringt die Erotik mit
inneren psychischen Erscheinungen
in eine sinnliche, vermeintlich äußere
Verbindung. Der Verfasser em-
pfiehlt zur Behebung dieses Zustan-
des die Freudsche Psychoanalyse.
ZENTRALBIBLIOTHEK FÜR
SEXUALWISSENSCHAFT.
BESPRECHUNGEN.
Der Mut zu sich selbst. Das
Seelenleben der Nervösen und seine
Heilung. Von Dr. J. Marcinowski.
Berlin W. 57, Verlag von Otto Salle.
Brosch. M. 6.—, geb. M. 7.—.
Marcinowski hat neuerdings in
einem großen, breit angelegten
Buche eine Lanze für seine beiden
Meister Freud und Steckel gebrochen.
Die Gesichtspunkte, unter denen
das Buch abgefaßt ist, sind dem
fachlichen Leserkreis bereits aus
Marcinowskis erster Untersuchung
über „Nervosität u. Weltanschauung«
bekannt. In der genannten Studie
versuchte der Verfasser den Nach-
weis zu erbringen, daß die Nervo-
sität eigentlich auf ein Ueberwuchern
von ungesunden Gedankengängen
zurückzuführen sei, und trat hier
zum ersten Mal energisch für die
psycho-analytische Methode auf,
wie sie von der Wiener Schule in
den letzten Jahren mit Erfolg ange-
wendet wird. Marcinowskis Er-
kenntnisse sind von einem starken
Subjektivismus und Optimismus ge-
tragen, wie überhaupt sämtliche
Schüler Freud’s anderen Meinungen
ziemlich schroff gegenüberstehen
und jede Kritik der Psychotherapie
von vornherein zurückweisen. Auch
Marcinowski verwehrt sich in dem
vorliegenden Buch gegen den Ein-
wand, daß alle Erfolge der Psycho-
analyse letzten Endes auf Suggestion
beständen, und sucht ihn durch
allerlei Gegenargumente zu ent-
kräften. Tatsächlich hat die Dis-
kussion dieser neuesten Methode
der psychologischen Wissenschaft,
die Steckel u. a. letzthin in der
Oeffentlichkeit angeregt haben, viele
Gegner der Psychotherapie zu ihren
Anhängern gemacht, und auch der
unkritische Laienverstand wird die
intimen Beziehungen zwischen Ner-
vosität und Sexualität auf die Dauer
nicht bestreiten können. Trotzdem
wollen wir die Frage, ob alle Träume
Erwachsener nur erotische Symbole
sind, bezw. die Erfüllung eines
erotischen Wunsches in ihnen ange-
deutet wird, offen lassen, da u. E.
bei dem Traum noch andere als
alleinerotische Komponenten aus-
schlaggebend sind. Im übrigen ist
dieses Kapitel bereits vor Marci-
nowski von Näcke, Löwenfeld, De
Sanctis, Moll u. a. ziemlich er-
schöpfend behandelt worden und
erst kürzlich hat Haeblein in den
Sexualproblemen von der Erotik des
Kindes und ihren Folgen im Leben
des Erwachsenen ausführlich und
einleuchtend gehandelt. Marcinowski
widmet dem gleichen Thema einen
breiten Raum in seiner Untersuchung
und was er hier an kasuistischem
Material und feinsinnigenHypothesen
bietet, ist zweifelsohne von hohem
Interesse und zeugt von einer liebe-
vollen Vertiefung in den Stoff. Diese
—
a
und die Abhandlung über die Kind-
heit als Quellgebiet perverser Nei-
gungen bilden den wertvollsten
Bestandteil des Buches und sind
eine wichtige Ergänzung der be-
reits vorhandenen Erkenntnisse
über das Sexualleben des Kindes.
Das Marcinowski’sche Buch ist viel-
leicht nicht eine Leistung in streng
wissenschaftlichem Sinn — der Ver-
fasser scheint mir mehr Dichter als
trockener Berufspsycholog zu sein —
aber gerade der subjektive Ton und
die temperamentvoll und unverblümt
ausgesprochenen Meinungen die
darin zum Ausdruck gebracht sind,
erheben es weit über den Durch-
schnitt derartiger Schriften und
werben den Erkenntnissen der
Wiener Schule in den weitesten
Kreisen Sympathien.
Die Tuberkulose der Harn-
organe. Von Dr. H. Wildboiz
(in Sammlungen zwangloser Abhdig.
aus dem Gebiete der Dermatologie
etc.) Carl Marhold, Verlagsbuchhdig.
Halle a.S. Preis: 1,50 Mk.
Der Verfasser beschäftigt sich auf
Grund praktischer Erfahrungen ein-
gehend mit der Tuberkulose der
Harnorgane, deren primären Herd
er für alle Fälle in die Nieren ver-
legt! Danach gelangen die Tuber-
kelbazillen durch das Blut in die
Nieren und rufen hier örtliche Ver-
änderungen hervor, die in ihrem
weiteren Verlauf zur Unterbindung
der normalen Nierentätigkeit und
dadurch mittelbar zum Tode der
betreffenden Kranken führen. Eine
Diagnose ist vom Anfang an nur
nach peinlicher Untersuchung und
mit der möglichsten Vorsicht zu
stellen, da andere Erkrankungen der
Harnorgane, wie Nierensteinkolik,
unter denselben Symptomen einher-
gehen. Dagegen lassen das Vor-
handensein von Blut und Eiter im
Urin sowie der Nachweis von Tuber-
kelbazillen in den Harnabgängen
den positiven Schluß auf Nieren-
SEXUALREFORM
tuberkulose zu.
Die nächste Folge
der Erkrankung der Harnorgane auf
tuberkulöser Basis ist eine Pyurie
(Eiterharnen), die mitunter von mehr
oder minder heftigen Hämaturien
(Nierenblutungen) begleitet sein
kann. Sehr häufig tritt bei der
innigen Verbindung von Harn und
Sexualorganen eine Miterkrankung
der letzteren bei tuberkulöser In-
fektion der Harnwege ein, indem
die Erkrankung der hinteren Harn-
röhre beim Manne ein Uebergreifen
des Prozesses auf die dort aus-
mündenden Prostatagänge und
Samenleiter zur Folge hat. Aber auch
ohne Erkrankung der Harnröhren-
schleimhaut können Tuberkelbazillen
aus der Urethra in die Sexualorgane
eindringen. Ebenso ist eine Infektion
unmittelbar auf dem Blutwege mög-
lich. Während die Tuberkulose der
Harnorgane bei 60—70 pCt. aller
männlichen Kranken auch zu einer
Erkrankung der Sexualorgane führt,
bleiben weibliche Patienten von ihr
relativ häufig verschont. Eine zu-
verläßliche Therapie ist mit Aus-
nahme der günstigen Wirkungen der
Nephiktomie (Entfernungderkranken
Nieren auf operativem Wege) bis
heute nicht gefunden. Häufig ge-
langt die Krankheit selbständig zur
scheinbaren Ausheilung, dadurch
daß eine Verkäfung der tuberkulösen
Nieren eintritt. Jedoch kann eine
derartige Autonephraktomie niemals
einer vollständigen Heilung verglichen
werden, da die toxische Wirkung der
verkäften Niere fortbestehen bleibt.
Wie das Weib am Manne leidet
und der Mann am Weibe. Von
Reinh. Gerling. Anthroposverlag
Preis brosch. 2 Mk., geb. 3 Mk.
In einer Vorrede, die als Ueber-
schrift die Variation eines bekannten
biblischen Wortes: „Im Anfange war
das Geschlecht« trägt, rechtfertigt
der Verfasser seine Tätigkeit als
sexualwissenschaftlicher Schrift-
steller und teilt die Genese des
vorliegenden Büchleins mit. Da-
nach sollten die knappen belle-
tristischen Skizzen mit sexualphilo-
sophischen Perspektiven ursprüng-
lich Mitteilungen »aus dem Beicht-
stuhl der Ehe« heißen und erst,
nachdem dieser Titel sich als be-
reits vorhanden erwies, nannte
Gerling seine Broschüre etwas lang-
atmig »Wie das Weib am Manne
leidet und der Mann am Weibe«.
Aus den beiden vorgenannten Titeln
ergibt sich der Inhalt des Bändchens,
dessen Grundakkord am besten
durch das Nietzesche Wort wieder-
gegeben werden mag: »Ehe, so
heiß ich den Willen zu Zweien, das
eine zu schaffen, das mehr ist, als
die es schufen!« Und weiter: Ueber
dich sollst du hinausbauen! Nicht
nur fort sollst du dich pflanzen,
sondern hinauf. Dazu helfe dir
der Garten derEhe!« Interpretationen
dieses eindeutigen und dennoch viel-
sagenden Motivs sind die einzelnen
Kapitel über sexuelles Herrenrecht,
Eifersucht, die Verhütung des Kinder-
segens, Manneskraft, Untreue,
Scheidung usw., von denen einzelne
von dem Verfasser bereits an an-
derer Stelle veröffentlicht wurden.
Die Skizze Herrenrecht, die das
Motiv des Incests zwischen einem
Vater und seiner unehelichen Tochter
behandelt, weist die dämonische
Kraft eines Villieses und eine dem
bizzaren d’Aurevilly ebenbürtige
Erfindungsgabe auf — aber leider
gibt der Autor selbst zu, daß nicht
er, sondern — das Leben sie ge-
dichtet habe. Eine furchtbare
Dichtung, die eindringlicher als die
geistreichste Argumentation die Ver-
lotterung der vorhandenen sexuellen
Moral darlegt! Der Rest der Bro-
schüre ist eigentlich nur Wieder-
holung der modernen sexualwissen-
schaftlichen Postulate. Daß eine
zweckentsprechende Aufklärung der
Jugend zu den gesündesten Grund-
sätzen der Pädagogik, eine nach
Tunlichkeit ausgedehnte Abstinenz
und Wertschätzung der Frau zu den
Grundbedingungen einer glücklichen
Ehe gehören, sind heute beinahe
soviel wie Binsenwahrheiten. Aber
Gerlings Schreibweise hat etwas
Frisches, Einnehmendes an sich, und
schließlich mag ihm zugegeben
werden, daß alle Wahrheit bis zu
gewissen Grenzen hin — banal ist.
Seinen volkserzieherischen Zweck
erreicht der Verfasser zweifelsohne
sicherer und leichter als unsere
schwerblütigen Professoren, die
immer nur für eine Auslese aller
Intelligenten schreiben. Das be-
weist der praktische Erfolg der
Gerlingschen Propagandaschriften.
Dr. Schneider.
BRIEFKASTEN.
Schwangerschaftserbrechen.
(Frau B. in L.) Eine entzündliche
Erkrankung innerer Organe liegt
dem Schwangerschaftserbrechen
nicht zu Grunde. In der Regel ver-
liert sich dieses Symptom im Ver-
laufe der Gravidität, sofern nicht
gleich beim ersten Auftreten eine
sorgfältige, persönliche Hygiene
stillend eingegriffen hat. Zur Be-
hebung des Schwangerschafts-
erbrechens empfiehlt sich nament-
lich frische Luft, frühes und regel-
mäßiges Aufstehen, hinreichende
Bewegung, Mäßigkeit in Essen und
Trinken und Sorge für regelmäßige
Stuhlentleerung. Das Trinken von
mit Jodtinktur versetztem Wasser,
das neuerdings von mancher Seite
warm befürwortet wird, ebenso wie
die Verwendung von Champagner
und Narkotiken ist nur auf Anraten
des Arztes zulässig. Unstillbares
Erbrechen hat Förster-Berlin durch
künstliche Verlagerung der Gebär-
mutter zum Schwin en gebracht.
(Vgl. Münchn. Med. Woch. 1911,
Nr, 33, S. 1780.) Fr. plädiert für
diese verhältnismäßig harmlose
Operation in allen Fällen von Neu-
schwängerung, wo eine vorauf-
gehende Schwangerschaft durch
allzustarkes Erbrechen gefährdet war,
Schönheit-Preisausschreiben 1913.
Unser bisheriges Preisausschreiben
zur Erlangung künstlerisch
wertvoller Akt-Photographien
wird auch für das Jahr 1913 unter den gleichen Bedingungen
wiederholt.
Die Aufnahmen sollen schön genugsein, um in der „Schönheit“
als vorbildlich veröffentlicht werden zu können. Sie sollen sittlich
edel und einwandfrei wirken und sollen geeignet sein, in künstle-
rischer und sittlicher Hinsicht zur Beseitigung aller der Akt-Photo-
graphie noch vielfach entgegengebrachten Vorurteile beizutragen.
Der ernste, künstlerische, gesundheitliche und sittliche Zweck
dieses Preisausschreibens macht es wünschenswert, daß sich aus
gebildeten Familienkreisen natürlich denkende, normal gewach-
sene Frauen und Mädchen, die durch Korsett nicht entstellt
sind, Männer, Jünglinge und Kinder bei unbefangenem Auf-
enthalt im Bade, im Garten, in Wald und Feld zur Verfügung
stellen und die Verwendung von Berufsmodellen nur soweit in
Betracht kommt, als es sich um sittlich einwandfreie Personen
mit edel-vornehmem Gesichtsausdruck handelt. Aufnahmen im
Atelier oder Zimmer wirken sehr leicht pikant oder unnatürlich,
es werden daherFreilichtaufnahmen in schöner Natur die meiste
Aussicht haben, bei Prämiierung und Ankauf berücksichtigt zu wer-
den; für Atelier- und Zimmer-Aufnahmen empfiehlt sich einfarbiger
Hintergrund. Besonders erwünscht sind auch Gruppenbilder.
An Preisen sollen wieder
1000 Mark
zur Verteilung gelangen und zwar
ein 1. Preis von 300 Mark,
ein 2. Preis von 200 Mark,
ein 3. Preis von 100 Mark.
Der Rest von 400 Mark soll in beliebiger Verteilung für
weitere Preise oder Ankäufe nach dem Ermessen der Redaktion
der „Schönheit“ Verwendung finden. Wir behalten uns vor, bei
hervorragend wertvollen Einsendungen die Preise oder die
Zahl derselben nachträglich zu erhöhen.
11
28
Die Entscheidung liegt in den Händen der Redaktion der
Schönheit und einer Anzahl künstlerischer, am Wettbewerb
nicht beteiligter Mitarbeiter und Beiräte derselben.
Bedingungen.
1. Die Beteiligung steht nicht nur den Abonnenten, sondern
allen Lesern der »Schönheits frei.
2. Die Einsendung muß bis spätestens 30. November 1913 erfolgen.
Spätere Einsendungen können für die Preisverteilung nicht berücksichtigt
werden. Die Einsendung muß portofrei an die Redaktion der «Schönheit»,
Werder a. H., Am Zernsee 4, erfolgen.
3. Jedes Bild muß auf der Rückseite ein Kennwort tragen. Der
Name des Einsenders darf weder auf der eingesandten Preisbewerbung,
noch auf der Postbegleitadresse, dem Umschlag oder der Einlage ver-
merkt sein. Name und genaue Adresse sind vielmehr in einem gut
verschlossenen Umschlag beizulegen, welcher die Aufschrift trägt: »Ent-
hält Einsenderadresse«. In diesem verschlossenen Briefumschlag muß
die ausdrückliche Erklärung des Einsenders enthalten sein, daß er die
vorliegenden Bedingungen des Preisausschreibens ausdrücklich anerkennt,
und daß sowohl der Hersteller des Bildes wie die aufgenommenen Per-
sonen mit der Veröffentlichung einverstanden sind. Diese Umschläge
werden erst nach der Entscheidung geöffnet. Berechtigt zur Einsendung
sind nicht nur die Hersteller der Bilder, sondern auch die dargestellten
Personen sowie deren Angehörige usw.
4. Die Entscheidung des Preisgerichts wird im Weihnachts-
heft 1913 veröffentlicht. Von der Zuerkennung der Preise kann abge-
sehen werden, wenn die eingesandten Arbeiten den berechtigten An-
sprüchen an Technik und künstlerischer Auffassung nicht genügen. Von
den nicht preisgekrönten Arbeiten ist der Ankauf einer größeren Anzahl
auf Grund besonderer Vereinbarungen in Aussicht genommen.
5. Die eingereichten Bilder dürfen noch niemals veröffentlicht sein.
Es dürfen beliebig viele Einsendungen gemacht werden. Die Bilder
sollen möglichst dem Format der Schönheit angepaßt sein und in min-
destens zwei scharfen, kontrastreichen Kopien in Original- Plattengröße
eingereicht werden.
6. Die preisgekrönten Bilder nebst den Negativen werden mit
Reproduktionsrechten Eigentum des Verlags der Schönheit. Die Ver-
öffentlichung erfolgt auf Wunsch unter Pseudonym.
7. Die Rücksendung der nicht preisgekrönten oder nicht ange-
kauften Einsendungen erfolgt auf Rechnung und Gefahr der Einsender.
Das Rückforderungsrecht erlischt am 31. März 1914.
8. Etwa erforderlich werdende Ergänzungen zu diesen Bestimmungen
werden in der »Schönheit« bekannt gegeben.
BERLIN-WERDER a. H.
DIE SCHÖNHEIT
Redaktion und Verlag.
5 Die Schönheit, Buch- und Kunsthandlung, Werder a.H. 5 20
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die sich zur Einfügung in jede Privatbibliothek eignen.
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Mit einem Namen-, Länder-, Orts- und Sachregister. Lexikonformat 900 Seiten stark.
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Was der Verfasser durch diese neue geschichtliche und soziale Untersuchung bis zum
Ende des Mittelalters bietet, gewährt uns Einblicke in das Menschenleben, das oft zum
Grauen und Schaudern führt, ja uns allen Miete еп gegenüber, die Menschheit
zum Höhern zu bringen, hoffnungslos werden lassen könnte, wenn wir nicht wüßten,
daß neben GE? Sümpfen und Niederungen auch das Große und Edle stets vorhanden
gewesen is
Zweiter Schlußband erscheint zu gleichen Preisen Mitte 1913.
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schaft des 18. und 19. Jahrhunderts — Lady Emma Hamilton — Die Mode — Aphro-
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Handbuch
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mit besonderer Berücksichtigung der
kulturgeschichtlichen Beziehungen
unter Mitwirkung von
Dr. med. et phil. G. BUSCHAN in Stettin, HAVELOCK
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Ein Band in Großoktav von 1029 Seiten. Preis broschiert M. 27.—,
elegant gebunden M. 30.—
Das vorliegende Werk ist in erster Linie für Mediziner bestimmt,
aber auch für andere gebildete Personen, die sich mit den Sexual-
problemen wissenschaftlich beschäftigen, namentlich Juristen, Sozio-
logen und Pädagogen. Besondere Aufmerksamkeit hat der Autor
den Abbildungen zugewendet in der Erkenntnis, daß die engen Be-
ziehungen zwischen den verschiedenen Erscheinungen der mensch-
lichen Kultur durch das reiche Bildermaterial am besten verdeutlicht
werden. Das Buch enthält über 400 zum großen Teil bisher noch
nicht veröffentlichte Abbildungen.
оозооооооооооооооооовоооовосвсвеосововосвоовововоссвевовесвовевовссссввооовооссосововоовооо.
Der Flagellantismus
im Altertum
Von Georg Friedrich Collas. Broschiert 10 Mark.
Vorliegendes Werk behandelt die Erscheinung des Flagellantismus vom historischen
und kulturhistorischen Standpunkte aus und sucht vornehmlich darzutun, welche Rolle
er in den Rechtsgebräuchen und im relıgiösen Leben der verschiedenen Zeitalter ge-
spielt hat. Auch das Erziehungswesen und die Sklaverei werden in den Kreis der
REES EE e Betrachtung gezogen. ‚кклет наал атте наза зекетте тө
PELTEIIIIIIIIIIITIIITITIIIIIIIIIII ө
[ттт
“7. DSa ti җе” Ф Чч
Die Schönheit, Buch- und Kunsthandlung, Werder a.H. 95
Die Zeugung beim Menschen
Eine sexualphysiologische Studie aus der Praxis
von
Dr. med. Hermann Rohleder,
Spezialarzt für Sexualleiden in Leipzig.
Mit Anhang:
Die künstliche Zeugung (Befruchtung) beim Menschen.
290 Seiten gr. 8. M. 7.—
Während die Pathologie des Sexuallebens nach allen Richtungen
hin durchforscht und in zahlreichen Schriften populär dargestellt ist,
ist die Physiologie der normalen menschlichen vita sexualis in der
Literatur bisher sehr stiefmütterlich behandelt. Der bekannte Sexual-
pathologe hilft in seinem neuen Buche diesem Mangel ab. Besonders
wertvoll sind seine Ausführungen über die Physiologie der Koha-
bitation und über die neuerdings häufiger angeschnittene Frage der
künstlichen Befruchtung des Weibes, die sowohl physiologisch als
auch vom juristischen Standpunkte aus von besonderem Interesse
und die vom Verfasser besonders ausführlich behandelt ist.
Eduard Fuchs und Alfred Kind
Die Weiberherrschaft
in der Geschichte der Menschheit
Mit ca. 650 Textabbildungen u. 85 meist doppelseitigen, farbigen u. schwarzen Bildern.
Das Werk erscheint zunächst in 30 vierzehntägigen Lieferungen zu je 1 Mark.
E: ist ein überaus großer Reichtum von durchaus neuen Gesichtspunkten und Doku-
menten, der hier zusanımengebracht und verarbeitet worden ist. Neben den in
Frage kommenden allgemeiner bekannten Werken der großen Kunst wird das Buch
mehr an zeitgenössischer Tageskunst zeigen, die weiteren Kreisen noch vollkommen un-
bekannt ist. Es ist nicht zuviel behauptet, wenn man sagt, daß sich darunter wiederum
ein Teil des Wertvollsten von dem befindet, was auf dem Gebiete des Holzschnitts,
der Radierung, des Kupferstichs und des Schabstıchs, des Farbstichs und der Lithographie
usw. im Jahrhundert geschaffen wurde. Vom Verlage ist — vor allem aber in den zahl-
reichen Sonderbeilagen — mit allen anwendbaren technischen Künsten eine dem wert-
vollen Original würdige Wiedergabe angestrebt worden. So ist ein Werk entstanden,
das sich ebenso neu in seiner Idee darstellt, wie es eigenartig in seiner gesamten
Durchführung ist und das alle die aufs regste interessieren dürfte, die den großen
Fragen der Kulturgeschichte entgegenzukommen suchen.
Trotz des reichhaltigen Bildermaterials der von Fduard Fuchs bisher erschienenen Werke,
kann auch hier wıeder darauf hingewiesen werden, daß jedes Bild dieses Bandes in keinem
anderen Werk von Eduard Fuchs enthalten ist und hier zum erstenmal erscheint.
Farbig illustrierte Prospekte werden auf Wunsch sogleich kostenfrei zugesandt.
Berlin Werder a H. Die Schönheit,
Buch- und Kunsthandlung
112 ёх INHALT
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT.
VIII. Band, Heft 8.
Abbildungen
(Zu dem Aufsatz „Das öffentliche Beilager“. )
Die Neuvermählte. . . . . Vor Seite 321 Das Zubettgehen der Neuvermählten.
Das Zubettgehen der Neuvermählten. - Hinter Seite 352
Hinter Seite 336 Die Einsegnung des Ehebetts. Vor Seite 353
Öffentliches Beilager und Eınsegnung des Das Zubettgehen der Neuvermählten.
Ehebettes. . . . . Hinter Seite 336 Hinter Seite 368
Hochzeit auf Марїпдапо. . Мог Seite 337 Das Aufstehen der Neuvermählten.
Öffentliches Beilager. . . . Vor Seite 337 Vor dem Beiblatt.
Text:
Seite 3 o d Seite
Sexuelle Entwertung. Von Dr. Das öffentliche Beilager. Von
J. B. Schneider . . . . 321 Johannes Marr . . . . 342
Der Kampf der Geschlechter. Der Geschlechtstrieb. Von Emil
Von Dr. Wilhelm Stekel . . 333 ЕКА? u aus ia
SEXUALREFORM.
VIII. Band, Heft 8.
Seite Seite
Verschiedenes:
Die Regelung: der Ehe im rassen- Zentralbibliothek für Sexual-
hygienischen Sinne — Eine hoch- wissenschaft. (Besprechungen :
moderne Ehescheidungs-Reform — Emil Lucka, Die drei Stufen der
Dje englische Sittlichkeit im 18. Jahr- Erotik — Wilh. Stekel, Das liebe
hundert — Strafgesetzbuch und Ich — Franz Blazek, Das Feuer) . 104
Sexualverbrechen — Die Heilsarmee
als „Heiratsvermittlerin‘‘ — Das un- Briefkasten:
sittliche Testament — Alkoholismus Blutungen während der Schwanger-
und Geschlechtsdrüsen — Die Rechts- Schaft ee en ZN iO
stellung der unehelichen Kinder —
Kriminal- und Lasterstudenten . . 97
Unverlangte Manuskripte senden wir nicht zurück, wenn nicht Rückporto
beigefügt ist.
Verantwortlich für die Redaktion: Dr. J. B. SCHNEIDER, Werder a. H.
Herausgeber und Eigentümer: VERLAG DER SCHÖNHEIT, KARL VANSELOW,
Berlin-Charlottenburg und Werder a. H.
Gedruckt von KREY U. SOMMERLAD, NIEDERSEDLITZ-DR.
BEIBLATT ZU „GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT“
ACHTER BAND D NEUNTES HEFT D SEPTEMBER 1913
VERSCHIEDENES.
Ammenwesen und Mutter-
trieb. In einem Aufsatz über den
Generationswechsel, der sich im
»Archiv für Rassen- und Gesell-
schafts-Biologie« findet, handelt
Medizinalrat Dr. J. Graßl unter
anderem über die Abnahme des
Muttertriebes in heutiger Zeit, die
er zum Teil auf die gesteigerte
Verwendung von Ammenernährung
in der Säuglingspflege zurückführt.
Die Völker, die Völkerstäimme und
Sippschaften, die sich dem Ammen-
wesen ergaben, litten von jeher
unter den Folgen des abnehmenden
Muttertriebes, nämlich an der Un-
fruchtigkeit. Natürlich zeigen sich
die Folgen nicht sofort, sondern
erst Jahrhunderte nach dessen Ein-
führung. Unter Hamurrhabi war
das Ammenwesen bereits stark
entwickelt; die Jüdinnen in Ägypten
waren die Ammen ihres Wirtvolkes,
wie die Juden die Ziegel- und Erd-
arbeiter desselben waren. Das
Ammenwesen Athens hinderte die
völkische Entwicklung; Rom ging
bereits unter den Gracchen zur
Ammenernährung über usf. Der
abnehmende Muttertrieb folgte
regelmäßig nach. Das Ammenwesen
wurde abgelöst durch die künst-
liche Ernährung. Mit dem sich
ausdehnenden Demokratismus, mit
der Industrialisierung der Wirt-
schaftsverhältnisse war nicht bloß
für die oberen Stände die Gewin-
nung der Ammen immer schwieriger
geworden, so daß sie gierig zur
Flasche griffen, sondern die unteren
Stände, deren Leistung bisher noch
von der Funktion der Brust der
eigenen Mutter abhängig war,
gingen unter dem Drucke der
Aussenverhältnisse auch zur Flasche
über. Die künstliche Ernährung
und namentlich die Flasche war es,
die die Folge der Mutterlosigkeit
für die Existenz des Individuums
milderte und damit naturgemäß die
Bedeutung der Mutter für das Volk
herabsetzte und den Muttertrieb
schwächte. Die Flasche hat also
nicht bloß — wie an anderer
Stelle gezeigt wurde — großen
kulturhistorischen Einfluß, sondern
auch hohe biologische Bedeutung.
Das moderne Kuhkind, der ge-
wöhnliche Gegenstand der Säug-
lingsfürsorge, ist in biologischer
Beziehung ein pathologisches Pro-
dukt. Das Nichtanlegen des Kindes
ist aber auch für das Mutterindi-
viduum eine Krankheit. Es muß
die Rückbildung der ganz gewaltig
vergrößerten Gebärmutter und der
sehr stark vergrößerten Brustdrüsen
zu gleicher Zeit vornehmen und
die Brustdrüsen, die eine Ab-
lenkung der Zerfallprodukte der
Uterusrückbildung Monate hindurch
sein sollten, vermehren noch den
Verfallsvorgang. Daß dieses nicht
mehr physiologisch ist, ist klar.
Nebenbei leidet, wie allgemein be-
kannt, auch das Kind-Individuum.
` Der somatische Zusammenhang
zwischen Mutter und Kind be-
schränkt sich auf die Auskeimungs-
periode. Während dieser Periode
9
findet aber ein ununterbrochener
Saftstrom zwischen Mutter und
Kind statt. Dieser Saftstrom ver-
mehrt und erhöht die vorhandene
Mutteranlage der Mutter. Diese
Vermehrung des Muttertriebes bleibt
in der Frau längere Zeit wirksam.
je öfter daher die Frau befruchtet
wird, desto mehr wächst der Trieb
zum Kinde. Die tägliche Beobach-
tung stimmt mit dieser Ansicht
völlig überein. Die Frau, welche
drei- oder viermal befruchtet wurde,
ist, selbst wenn sie nun nicht mehr
empfangen will, bei einer aber-
maligen Schwangerschaft bei wei-
tem nicht so »tief unglücklich» wie
eine Frau, die von Anfang her un-
oder unterfruchtbar sein will.
Genialität und Rassenver-
besserung. Der englische Gelehrte
Havelock Ellis berichtet in einer
Londoner Zeitschrift, daß er ohne
Kenntnis der Bestrebungen der neuen
eugenischen Theorie vor Jahren be-
reits Untersuchungen über die bio-
logischen Vererbungsverhältnisse
genialer Engländer vorgenommen
habe. Er studierte zu diesem Zweck
dieLebensverhältnissevonetwa 1000
Männern und Frauen, die im öffent-
lichen Leben Englands eine Rolle
gespielt haben, und konnte dabei
feststellen, daß eine unverhältnis-
mäßig große Zahl dieser Größen von
Geisteskranken oder geistig minder-
wertigen Eltern abstamme. Eine
Schwierigkeit der Feststellung ergab
sich freilich aus der Erwägung,
daß der Wahnsinn bei den Er-
zeugern gelegentlich erst im vor-
geschrittenen Alter auftrat und
deshalb als Symptom für die
Vererbungsfrage nicht in Betracht
kommen kann. In anderen Fällen
wieder war der Geisteszustand so
bedenklich, daß er die Grenzlinien
des Wahnsinns fast überschritt. Im
allgemeinen kann man das Ver-
hältnis der geistesgestörten Eltern
genialer Kinder auf 20 Prozent
schätzen. Was diese Kinder selbst
anbetriftt, so waren beispielsweise
Swift und der Erzbischof Marsh aus-
gesprochene Irre. Andere wieder
wie Lamb hatten irrsinnige Ge-
schwister. Diese Beobachtungen,
die der Engländer hier macht, be-
halten auch für das Ausland ihr
Geltungsrecht. Es sei hier nur an
Tasso erinnert. Er war wahnsinnig,
sein Vater hatte einen krankhaften
Hang zum Mystizismus und seine
Mutter Portia stammte aus einer
Familie, in der Laster und Grau-
samkeit gang und gäbe waren.
Ein Schulbeispiel ist auch jean
Jacques Rousseau. Zwar waren
seine Eltern gesund, er selber aber
war gemütskrank und epileptischen
Anfällen ausgesetzt. Daß die Scheide-
linie, die den Irrsinn vom Genie
trennt, kaum bestimmbar ist, be-
stätigen im übrigen auch Mohammed,
Napoleon, Molière, Händel, Paganini,
Mozart, Schiller, Richelieu, Newton,
Flaubert und andere mehr. Ein
Psychiater ist kürzlich erst mit der
Behauptung aufgetreten, daß dieWelt-
geschichte von abnormen Menschen
gemacht wurde, und hat als Beweis
dafür auf Alexander den Großen,
Julius Caesar, Luther und Friedrich
den Großen verwiesen. Aus alle-
dem glaubt Havelock Ellis den
Schluß ziehen zu dürfen, daß die
Anhänger der Rassenverbesserung,
die durch die Zuchtwahl die Welt
von allen nicht vollkommen ge-
sunden Elementen befreien wollen,
unbewußt und gedankenlos dem
Ziele entgegensehen, alle starken
und ungewöhnlichen Individualitäten
auszurotten. Seiner Meinung nach
ist daher ein Gebot der Pflicht, die
eugenische Wissenschaft zu be-
kämpfen, die nur dazu dienen kann,
Alltagsmenschen zu züchten und
das Genie zum Aussterben zu ver-
urteilen.
UngewöhnlicheNachkommen-
schaften. Die Wiener „Ärztliche
Standeszeitung“ bringt einige Mit-
teilungen von riesenhafter Nach-
kommenschaft, die gerade heute in
der Zeit des Geburtenrückganges be-
sonders bemerkenswert erscheinen.
Geradezu ungeheuerlich mutet die
wissenschaftlich festgestellte Tat-
sache an, daß eine Frau nicht weniger
als 69 Kinder geboren hat. Sie
hatte nie eine einfache Geburt,
sondern 4 mal Vierlinge, 7 mal gebar
sie Drillinge und nicht weniger als
16mal Zwillinge. Der Gatte dieser
Frau hatte insgesamt 87 Kinder, von
denen 84 am Leben sind, denn
nachdem seine erste Frau, die ihm
die obenerwähnten 69 Kinder ge-
schenkthatte, gestorben war, heiratete
er zum zweiten Mal. Von seiner
zweiten Frau hatte er noch 18 Kinder
und zwar in 2 Drillingsgeburten und
6 Zwillingsgeburten. Diesem Manne,
der 87 Kinder erzeugt hat, steht
unter den bemerkenswerten Er-
scheinungen der Beobachtungen in
der männlichen Linie ein Deutscher
am nächsten, der von 2 Frauen
82 Kinder hatte. Ein anderer russi-
scher Bauer hatte von seiner ersten
Frau 57, von seiner zweiten Frau
15, im ganzen 72 Kinder und zwar
zum Teil Drillings- und Zwillings-
geburten. In der älteren italienischen
Literatur soll sich eine Mitteilung
finden über eine Frau, die 53 Kinder
gebar, ferner über eine 40 jährige
Frau, die Mutter von 42 Kindern
war; in neuerer Zeit wird von einer
Frau berichtet, die in 30 jähriger Ehe
48 Kinder gebar. Derartige Fälle
gehören allerdings zu den größten
Seltenheiten. Ferner soll eine
Brasilianerin, die ein Alter von
77 Jahren erreichte, nicht weniger
als 44 Kinder geboren haben, von
denen das erste im 15., das letzte
im 47. Lebensjahre geboren wurde,
ohne daß jemals eine Mehrlings-
geburt zu verzeichnen war. Eine
Tochter dieser Frau soll 19 Kindern
das Leben geschenkt haben, da-
`
runter wieder eine Tochter, die bei
ihrem im 31. Lebensjahre erfolgten
Tode 18 Kinder hinterlassen hat.
Die Gründung einer inter-
nationalen Gesellschaft für
Sexualforschung. Die Gründung
einer solchen Gesellschaft ist in
den letzten Wochen von den Herren
Prof. Dück, Innsbruck; Prof. Hans
Groß, Graz; Geh. Hofrat Prof.
v. Lilienthal, Heidelberg; Dr. Max
Marcuse, Berlin; San.-Rat Dr. A.
Moll, Berlin; Geh. Konsistorialrat
Prof. Seeberg, Berlin; Prof. Sell-
heim, Tübingen; Prof. Weber, Chem-
nitz; Geh. Regierungsrat Prof. Julius
Wolf, Charlottenburg, vorbereitet
worden mit dem Erfolge, daß sich
bereits 70 der angesehensten Sexo-
logen aus allen Zweigen der Wissen-
schaft ihnen angeschlossen haben.
Die konstituierende Versammlung
fand Sonntag, 16. November, vor-
mittags 11 Uhr im Langenbeckhaus,.
Ziegelstr. 10, statt. Den Zutritt zu den
nächsten Versammlungen haben alle
Sexualforscher und alle Personen,
die als sexualwissenschaftlich ernst-
haft interessiert gelten können; wer
von diesen den Versammlungen der
Gesellschaft beizuwohnen wünscht,
wird jedoch gebeten, sich wegen.
Erlangung einer Legitimation an Dr.
Max Marcuse, Lützowstr. 85, zu
wenden.
Proletariat und Geburten-
ziffer. In einem ausgezeichneten
Aufsatz, der sich im »Zeitgeist« findet,
beschäftigt sich Dr. Otto Ehinger
mit dem Gebärstreik, seinen sozialen
und ökonomischen Konsequenzen
und schließt dann folgendermaßen
ab: Die Antwort des Proletariers
auf die Frage des Schicksals, ob es
„für ihn und seine Kinder Glück bct-
deute, daß er zahlreiche Menschen
zum Leben erwecke, ist ein trübes,
bedrückendes Nein. So wirft sich die
ohnmächtigste, verachtetste Klasse
zum allmächtigen Herrn über die
Gesellschaft auf, indem sie ihr
9*
das menschliche Leben verweigert,
auf dem sie ruht. Noch vor zehn
Jahren mußte das Handwörterbuch
der Staatswissenschaften (Brentano)
einen erfolgreichen Gebärstreik als
Utopie bezeichnen. Heute weiß
man, daß in einigen Jahrzehnten
die Kulturvölker nur noch aus
Menschen bestehen werden, deren
Dasein gedacht und gewollt ist. Die
oberen Schichten wußten sich zu
allen Zeiten durch Beschränkung
der Kinderzahl vor dem Druck des
Lebens zu schützen. Aber ihre
Sittlichkeit blieb Geheimlehre. Heute
bekennen sich die proletarischen
Parteien offen zum Neumalthusianis-
mus, und manche Arbeitergruppen
treiben mit ihrer Kinderzahl seit
vielen Jahren bewußte Lohnpolitik.
Die Mitglieder der „Hearts of Benefit
Society«, welche die Elite der eng-
lichen Arbeiterschaft in sich ver-
einigt, verminderten aus diesem
Grunde ihre Nachkommenziffer seit
Mitte der achtziger Jahre auf weit
weniger als die Hälfte. Es gibt
keinen Kulturstaat, in dem die
Geburtenverweigerung nicht schon
begonnen hätte, und ihrem Fort-
schritt stellen sich Moral und Staats-
weisheit vergeblich in den Weg. Die
Masse vermag dem Staat in der
Begeisterung ihr Leben, aber nicht
ihr Behagen und das Glück ihrer
Kinder zu opfern. Und sie ist von
der offiziell mit viel Grund streng
mißbilligten Ansicht, daß es besser
sei, weniger Kinder materiell glück-
lich, als viele elend zu machen,
nicht mehr abzubringen. Die staat-
lichen Gegenmittel blieben bis jetzt
in Frankreich, Ungarn und Australien
ebenso wirkungslos wie im alten
Rom. — Fruchtbar ist im allgemeinen
das Elend; wo aber Teile eines `
Kulturvolks verarmen, steigt die
Geburtenziffer nicht wieder.
Fruchtbarkeit der durch die Krisis
der letzten dreißig Jahre fast brot-
los gewordenen Lyoner Seidenweber
Die
sinkt immer noch rapid, obgleich
sie schon vorher geringer war als
die des Durchschnitts des übrigen
Frankreich. Sogar die Sklaven des
römischen Italien, die wie Tiere
zusammenlebten und nichts zu ver-
lieren und nichts zu gewinnen hatten,
wußten sich ja vom ersten Jahr-
hundert vor Christus an fast völlig
steril zu erhalten.
Die Geburtenverweigerung, die
alle zu materiellem Behagen führt
und weder Entbehrungen noch
Opfer verlangt, ganz heimlich und
unkontrollierbar betrieben werden
kann und niemals ein offenes Be-
kenntnis fordert, besitzt alle Eigen-
schaften, um beim langsameren
Proletariat nach und nach ebenso
beliebt zu werden wie in den
höchsten Kreisen. Die Massen
werden mit ihrem internationalen
Gebärstreik — zu ihrer eigenen
Überraschung — die wirtschaftliche
Klassenschichtung und damit die
bestehenden autokratisch - bureau-
kratischen Staatsformen beseitigen,
die Menschenware zum seltensten
und deshalb kostbarsten Gut, die
Arbeit zum Maß aller wirtschaft-
lichen Werte machen. Dies ist ge-
wiß; denn erst im Zustand einer
hochgradigen Blutarmut wird die
Gesellschaft es lernen, den Müttern
das Geschenk eines Menschen groß
genug zu danken.
Liebesleben undKapitalismus.
Nach einem Bericht des Westpr.
Volksbl.-Danzig hat kürzlich der
Berliner bekannte Nationalökonom
Werner Sombart in einem öffent-
lichen Vortrag in Danzig zu dem
obigen Thema nachfolgende Ge-
danken geäußert: „Die Entwicklung
der geschlechtlichen Beziehungen
habe sich nach zwei Seiten voll-
zogen. Es gäbe gewissermaßen
zwei Ströme. Der eine führe zu
fortschreitender Freiheit und Eman-
zipation, der andere zu fortschreiten-
der Bindung und Beschränkung.
Eee SEXUALREFORM 50505052505050505050505050505050] 133
Man könne auch sagen, es seien
seit dem Mittelalter zwei große
Ideenkomplexe tätig gewesen, die
griechische und die jüdische Auf-
fassung. Mit der Zeit der Minne-
sänger setzte die „Verweltlichung
die Liebe“ ein, die ihren stärksten
Ausdruck fand in der Zeit der
Renaissance. Diese Entwicklung
drängt zum Siege des Illegitimitäts-
. Prinzips, wie es besonders in der
Kurtisane der Höfe zum Ausdruck
kommt. Seit dem 18. Jahrhundert
ist die Kurtisanen-Maitressenwirt-
schaft allgemein in die oberen
Schichten der Gesellschaft über-
nommen worden. Die zweite Auf-
fassung ist die, daß nur die Liebe
in der Ehe legitim ist, Zuerst war
es die katholische Religion, die diese
Gedanken in ihr System aufnahm.
Das Erotische ist nur dann erlaubt,
wenn es den Zwecken der Ehe dient.
Diese Ansicht wird im Laufe der
Zeit verschärft, kommt am schärfsten
im Calvinismus und Puritanismus
zum Ausdruck, ist besonders in den
angelsächsischen Staaten gepflegt
worden und hat den Grund ge-
geben für die englische und ameri-
kanische Ргйаегіе Der Redner
suchte nun nachzuweisen, daß die
Menschen gleichmäßig sind in der
Stellung zu dem Problem der Liebe
und des Wirtschaftslebens, wie es
bereits Thomas von Aquin ausge-
sprochen habe in den Worten: Die
Sünde der Verschwendung ist eine
allgemeine, und wer verschwende-
risch ist in Liebesdingen, ist auch
verschwenderisch in ökonomischen
Dingen, und wer sparsam ist in
dem einen, ist es auch im anderen.
Die freiere Auffassung von den Be-
ziehungen der Geschlechter äußere
sich stets in der Entfaltung eines
luxuriösen Lebens. Es gäbe zahl-
reiche Menschen, die den Reich-
tum verwenden, um ihr Leben in
Sinnenlust und Schönheit zu ver-
bringen. Die Finanziers seien zu-
sammen mit den Höfen und dem
Adel die Träger dieser Auffassung.
Der Luxus aber sei für die Ent-
wickelung des Kapitalismus von
grundlegender Bedeutung geworden,
weil er die Bedingung für den Ab-
satz, für den Markt schuf. So ist
das Schloß zu Versailles wie aller
Luxus geschaffen auf einen Wunsch
des Verliebten und es ist interessant,
daß bei diesem Schloßbau die ersten
Nachtschichten eingeführt wurden,
weil der Verliebte es nicht erwarten.
konnte, bis das Wunderwerk fertig
war. Der Luxus früherer Zeit war
öffentlich. Mit der Zeit, wo die
Frau, insbesondere die illegitime,
zu größerem Einflusse gelangt, sei
eine Verhäuslichung und eine Ver-
feinerung der Luxusentfaltung ein-
getreten, wie es«sich im Barock und
Rokoko stark bemerkbar machte.
Die Gegenstände des Großhandels
des 17.und 18. Jahrhunderts: Zucker,
Kaffee, Seide, Gewürze usw. waren
für das Luxusbedürfnis der Frauen
bestimmt. Ein großer Teil der
großen Industrie, so Seiden-, Gläser-
und Spiegelindustrie, war Luxus-
industrie. Überhaupt seien alle
kapitalistischen Großindustrien für
den Luxus entstanden. Man könne
ruhig sagen, daß ohne den Luxus
der Kapitalismus um Jahrhunderte
hinausgeschoben worden wäre, aller-
dings mit der Einschränkung, daß
für den Massenbedarf des Militaris-
mus ebenfalls der Kapitalismus not-
wendig war. Die Bourgeoisie, die
Bürger, seien diejenigen, die den
Kapitalismus eigentlich recht in die
Höhe gebracht haben. Ditse zweite
Gruppe gehöre der anderen Richtung
betreffs des Verhältnisses der Ge-
schlechter an. Bei den modernen
Wirtschaftsmenschen finde man jene
Tugenden, die ihren höchsten Aus-
druck fanden in den Bürgersleuten
des 18. Jahrhunderts und die sich
in die Worte kleiden lassen: Sei
fleißig und arbeitsam, sei sparsam
~
und sei wohlanständig. Mit diesen
Bürgertugenden sei eine erotische
Auffassung vom Liebesleben un-
vereinbar. Der moderne Bourgeois
sei zusammengeflossen aus Bürger-
geistund Unternehmergeist. Sind nun
diese verschiedenen Auffassungen in
der Natur des Menschen begründet?
Kann man durch eine bestimmte
soziale Entwickelung aus jedem
Menschen einen in allen Richtungen
verschwenderischen oder haushälte-
rischen Menschen machen? Man
könne zu der Überzeugung kommen,
daß die Menschen blutsmäßig ero-
tisch und bürgerlich veranlagt sind,
das die einen „Beamte“, die anderen
„Künstler“, daß die einen geborene
Lehrer und Erzieher, die anderen
Beschauer und Betrachter seien.
Unter den Zwangsverhältnissen des
Lebens werden, wie Prof. Sombart
meinte, die erotischen, die Künstler-
naturen, ausgemerzt, denn die ero-
tische Natur ist für das wirtschaft-
liche Leben in unserem Sinne nicht
fähig. Diese Naturen würden lang-
sam vom bürgerlichen Leben auf-
gesogen werden. Es röche zwar
etwas nach Ketzerei, wenn man
das Liebesleben und das Wirtschafts-
leben in Zusammenhang bringe. Es
ist nach Sombart jedoch notwendig.
Es seien die zentralen Bewegungen,
mit denen man sich in Zukunft noch
oft werde befassen müssen. Es sei
das Problem der Zukunft.
Der Wert der Heiratsannonce.
Helene Stöcker äußert sich in der
N. G. bezüglich des Wertes des per-
sönlichen Sichkennenlernens und
der Bedeutung der Heiratsannonce:
»Es ist selbstverständlich, daß uns
das Problem einer besseren Organi-
sierung menschlichen Kennen-
lernens fortdauernd als eine durch-
aus wesentliche Aufgabe in unserem
Sinne erscheinen muß, und daß wir
daher auch den alten und unzu-
länglichen Formen, in denen heute
der Versuch einer Rationalisierung
SEXUALREFORM 5202525052525250525252505050505018)
des Kennenlernens gemacht wird,
z. B. durch die Heiratsannonce,
zwar kritisch aber mit psycho-
logischem Interesse gegenüber-
stehen. So unzulänglich sie in
ihrer heutigen Form ist, wo sie in
der Regel nur denjenigen dient,
denen es weniger: auf eine adäquate
Persönlichkeit, als auf die Ge-
winnung eines bestimmten Geld-
besitzes ankommt, so liegen doch
in ihr gewisse Möglichkeiten, sie
in einer verbesserten, revidierten
Form den Zwecken einer höheren
Auslese in der Liebes- und Gatten-
wahl zugänglich zu machen. Wie
einer der geistreichsten Philosophen
unserer Tage das soziologisch-
psychologische Problem der Hei-
ratsannonce darstellt, Professor
Simmel in seiner „Philosophie des
Geldes:, das mag mit einigen
seiner eigenen Worte wieder-
gegeben werden: »Daß die Heirats-
annonce eine so sehr geringe und
auf die mittlere Gesellschaftsschicht
beschränkte Anwendung findet,
könnte verwunderlich und bedauer-
lich erscheinen. Denn bei aller
hervorgehobenen Individualisierung
der modernen Persönlichkeiten
und der daraus hervorgehenden
Schwierigkeit der Gattenwahl gibt
es doch wohl für jeden noch so
differenzierten Menschen einen ent-
sprechenden des anderen Ge-
schlechtes, mit dem er sich ergänzt,
an dem er den »richtigen« Gatten
fände. Die ganze Schwierigkeit
liegt nur darin, daß die so gleich-
sam füreinander Prädestinierten
sich nicht zusammenfinden. Die
Sinnlosigkeit von Menschenschick-
salen kann sich nicht tragischer
zeigen als in der Ehelosigkeit oder
in den unglücklichen Ehen zweier
einander fremder Menschen, die
sich nur hätten kennen zu lernen
brauchen, um aneinander jedes
mögliche Glück zu gewinnen. Kein
Zweifel, daß die vollendete Aus-
ege ee eege
bildung der Heiratsannonce das
blinde Geratewohl dieser Verhält-
nisse rationalisieren könnte, wie
die Annonce überhaupt dadurch eine
der größten Kulturträger ist, daß
sie dem Einzelnen eine unendlich
höhere Chance adäquater Bedürfnis-
befriedigung verschafft.«
Das deutsche Gretchenideal.
Eine Charakteristik des Gretchen-
ideals, dem die Frauenemanzipation
ein vorzeitiges Ende bereitet hat,
bietet Dr. Franck in der Frkf. Ztg.
Er untersucht die politischen und
wirtschaftlichen Bedingungen, die
diese Wandlung des Frauenideals
in neuer Zeit verschuldet haben,
und fährt dann wie folgt fort:
Das „Gretchen“, das „deutsche
Gretchen“, ist ungefähr ein Jahr-
hundert hindurch der weibliche Ideal-
typus, gesehen durch das Medium
deutscher Männeraugen, gewesen.
Die Frauenrechtlerinnen vom ex-
tremen Flügel haben das deutsche
Gretchen mit einer reichlichen Lauge
Spott und Verachtung bedacht, und
eine gewisse Gattung männlicher
Erotiker hat ihnen noch immer leb-
haft zugestimmt. Es darf aber nicht
übersehen werden, daß das Gretchen-
ideal ein weiblicher Typus war, der
mit unserer deutschen Männlichkeit
im vorigen Jahrhundert, einer kräftig
betonten und einseitig egozentrisch
gerichteten Männlichkeit, vorzüglich
korrespondierte. Es bedurfte einer
beträchtlichen Metamorphose dieser
Männlichkeit und einer Metamor-
phose zugleich auch der Weiblich-
keitund einer Metamorphose drittens
der Auffassung, die beide Ge-
schlechter von ihrer Stellung und
Beziehung zueinander hatten, um das
Gretchenideal in aller Form zu ent-
werten und es bei wohlwollender
Anerkennung seiner Qualitäten als
eine doch nur unvollkommene
Fassung des weiblichen Idealtypus,
zumal am Maßstab einer ideal ge-
dachten Ehegemeinschaft gemessen,
zu erkennen. Es ist, beiläufig be-
merkt, nicht die Frauenemanzipation,
die diese Wandlung hervorgebracht
hat, obwohl ihre Vertreterinnen nur
zu sehr geneigt sind, sie ausschließ-
lich ihrem Konto zuzuschreiben.
Denn die Frauenemanzipation unserer
Epoche ist in diesem Falle auch
nur eine gleichzeitig mit jenem Ideal-
typus an demsciben Baum gereifte
Frucht, ist auch nur die Folge-
erscheinung ener tieferliegenden
Wandlung, die sich im Selbstbewußt-
sein der Geschlechter in neuerer
Zeit vollzogen hat.
DasWesenhaftedesGretchenideals,
dasdie deutschenMädchen undFrauen
ein Jahrhundert hindurch in mehr
oder minder vollkommener Form
realisierten, war das wunderbare
Vermögen einer restlosen Entpersön-
lichung, der reine Wille zum Objekt,
zum Objekt des Mannes, der Drang
nach unbedingter seelischer und
körperlicher Hingabe an den Ge-
liebten und Gatten. Daß sie nicht
rechneten, die deutschen Gretchen,
daß sie blind waren gegen soziale
und gesellschaftliche und tausend
andere Realitäten, daß sie oft genug,
und freilich auch töricht genug, ihr
einfaches Gefühl mit ihrer ganzen
Existenz, wie ja auch mit ihrem Ich,
ihrerlatenten oder manifesten Persön-
lichkeit bezahlten, das ist die Quelle
aller jener rührenden Empfindungen,
die sie auch heute noch in uns
wachrufen, und des sentimentalen
poetischen Schimmers, der sie lange
glorienhaft umwob. Es macht dem
Verantwortlichkeitgefühl des Mannes
natürlich wenig Ehre, daß er nichts
tat, um dieses Verhältnis zu ändern,
daß er als Gatte und Liebhaber
nahm und genoß, was ihm so be-
quem lag, und so willkommen ge-
boten wurde, und daß ihm nie der
Gedanke kam: ob nicht der Frau,
die dies Gretchenideal verkörperte,
moralische Qualitäten innewohnen
könnten, die sie auch noch zu weit
136
(152505050505050505050505050505050 SEXUALREFORM
höherwertigerLeistung zu disponieren
geeignet wären. Aber allzustreng
mit dem Manne ins Gericht zu gehen,
erscheint doch auch nicht angezeigt.
Denn in seinem Urteil, seinem Vor-
urteil über die Frau trug er die Last
der Tradition im Kopfe, einer Tra-
dition schließlich von Jahrtausenden,
und da er sah, daß die Frau als
Gretchen glücklich .war, so glück-
lich, wie sie sichs nur denken konnte,
so kam ihm, begreiflich genug, nie
der Gedanke, daß es darüber hin-
aus für die Frau noch etwas geben
könne.
Polizei und Prostitution in
Nordamerika. Über dieses düstere
Kapitel der amerikanischen Behörde
und die Korruption namentlich in
der Newyorker Polizei schreibt
Dr. Ernst Schultze-Großborstel in
einem Aufsatz über die Geschichte
der Prostitution in Nordamerika,
der sich in der „Neuen Generation«
findet: Wie die Polizei in Nord-
amerika der Prostitution gegenüber-
steht, das wissen wir ja aus
mancherlei Nachrichten über ihre
Korruption, die immer wieder den
Weg über den Atlantischen Ozean
finden. In der Tat kann man sich
die Verseuchung der ameri-
kanischen Polizei kaum arg ge-
nug vorstellen. Wenn sie in irgend
einer nordamerikanischen Stadt ein-
mal mit reinen Händen dasteht, ist
zu befürchten, daß dies nur eine
vorübergehende Erscheinung ist, und
irgendwelche Sicherheit für die
Dauer der Besserung ist nicht ge-
geben. Es genügt nicht einmal,
daß das Haupt der Polizeibehörde
einehrlicher, anständiger, energischer
und scharfsichtiger Mann ist, denn
trotz aller dieser Eigenschaften gibt
es tausend Mittel und Wege für
seine Angestellten, ihn zu hinter-
gehen und seine Verordnungen und
Befehle unkräftig zu machen. Је
größer das Polizeikorps ist, desto
mehr tritt diese Schwierigkeit zu
Tage. So ist es in der Stadt Newyork,
wo die Verhältnisse am schlimmsten
liegen, selbst dem ungemein ener-
gischen und tüchtigen General Bing-
ham trotz jahrelanger Tätigkeit nicht
gelungen, wirklich Bresche in die
fast unglaublich erscheinende Polizei-
korruption zu legen. Hat doch die
dortige Polizei, die sich mit kenn-
zeichnender Bescheidenheit „йе
feinste« (natürlich der ganzen Welt)
nennt, einen Rekord nicht nur in der
Schröpfung der Bordellbesitzerinnen
und damit der Prostituierten auf-
gestellt, sondern auch einen solchen
im Mädchenhandel. Was die New-
yorker Polizei an Schmiergeldern
von der Prostitution zu be-
ziehen vermag, mögen folgende
Zahlen beweisen. Der frühere
Bezirks - Staatsanwalt Eugene A.
Philbin bezifferte die Gesamtsumme
des Tributs, den sie aus ver-
schiedenen Quellen bezog, auf vier
Millionen M. jährlich; allein aus
dem Tenderloin-Bezirk — dem Ver-
gnügungszentrum Newyorks — er-
hielt sie monatlich 80000 M. Spiel-
höllen, die ebenso wie Bordelle ver-
boten sind, hatten monatlich je
2000 M. zu zahlen, um’ geduldet zu
werden; andere Häuser (gemeint
sind Bordelle) mußten je 2000 M.
für die Erlaubnis der Eröffnung und
је 200 М. monatlich für die Betriebs-
erlaubnis zahlen. A. Philbin gab
diese Ziffer in einer Ansprache, die
er am 23. Mai 1905 in der Cornell-
Universität hielt; er bezog sich da-
bei auf die Verhältnisse, wie sie vor
der Amtsführung des Polizeipräsi-
denten William McAdoo herrschten,
der seine Tätigkeit im Januar 1904
begann.
Ein interessanter Vertrag. Von
einem merkwürdigen Vertrag, der
kürzlich Gegenstand einer inte-
ressanten Rechtsprechung des Reichs-
gerichtes war, wird in der Frkf.Voıks-
stimme erzählt: Eine noch jugendliche
Witwe knüpfte mit einem Kaufmann
аа а
ein Verhältnis an, das auf beiden
Seiten ohne Heiratsabsicht fort-
gesetzt_ wurde. Nach Verlauf
mehrererMonate drohte derKaufmann
sich von der lebenslustigen Witwe
abzuwenden, und zwar nach seiner
Angabe hauptsächlich deshalb, weil
die Gefahr bestände, daß er die
Gelegenheit zu einerstandesgemäßen
Heirat verpasse. Die Witwe konnte
ihm selber kein Vermögen, sondern
nur die Aussicht auf eine spätere
Erbschaft bieten. Auf Drängen der
verliebten Wittib kam schließlich
zwischen den beiden folgender
ordnungsmäßig geschlossene Ver-
trag zustande: Der Freund ver-
pflichtete sich weiter, Treue zu
halten, und die Frau verpflichtete
sich, im Falle ihrer Wieder-
verheiratung oder eines Erbanfalls
die Summe von 5000 M. an ihn zu
zahlen. Als dann nach zwei Jahren
die erwartete Erbschaft eintrat, ver-
langte der Freund seine fünf braunen
Lappen. Jetzt wandte ihm aber die
undankbare Witwe den Rücken und
verweigerte ihm zum Überfluß auch
noch das ihm vertraglich zustehende
Geld.
Der Genasführte rief die Gerichte
an, indem er beteuerte,.die 5000 M.
seien eine gelinde Entschädigung für
all die verpaßten »guten Partien«.
Der liebesdurstigen Witwe habe er
seine »schönsten Jahre« geopfert. Das
Landgericht Bochum und das Ober-
landesgerichtt Hannover sprachen
auch in der Tat dem klagenden
Kaufmann die Vertragssumme zu,
das Reichsgericht indessen kam zu
einer Abweisung der Klage. In
der Begründung heißt es u. a.; Der
zwischen Kläger und Beklagter ge-
schlossene Vertrag ist nichtig. Es
verstoße gegen die guten Sitten und
das allgemeine Anstandsgefühl, wenn
ein Mann, sich dafür, daß er einem
Verhältnis mit einer Frau seine Zeit
opfere und etwaige Gelegenheit zur
Verheiratung verpasse, Geldentschä-
SEXUALREFORM
ee]
digung versprechen lasse. Kläger
habe auch gar kein Opfer gebracht,
er sei vielmehr seiner eigenen
Leidenschaft gefolgt, von der er
sich stets hätte freiwillig losreißen
können. Hat er sich aber für seine
freiwillige Unterwerfung von dem
Gegenstande seiner Leidenschafteine
Entschädigung versprechen lassen,
so trägt diese den Charakter der un-
entgeltlichen Zuwendung. DasRechts-
geschäft hat daher als Schenkungs-
versprechen der notariellen Form
bedurft.
ZENTRALBIBLIOTHEK FÜR
SEXUALWISSENSCHAFT.
BESPRECHUNGEN.
Die Geschlechtsunterschiede
beim Menschen. Von Constantin
I. Bucura. Verlag A. Hölder-Wien.
In einer ausgezeichneten
sammenstellung bekannten Mate-
riales, dem eine Anzahl neuer,
interessanter Beobachtungen hinzu-
gefügt sind, sucht der bekannte
Wiener Privatdozent und Forscher
alle psychischen und somatischen
Merkmale zu fixieren, die für die
Unterscheidung der beiden Ge-
schlechter ausschlaggebend sind.
Bucura beginnt mit der Aufzählung
der äußeren köıperlichen. Eigen-
schaften bei Mann und Weib, der
sich ein ausführliches Kapitel über
die Beschaffenheit und Tätigkeit der
eigentlichen Geschlechtsorgane an-
schließt. Eine eingehende Schilde-
rung erfährt die so überaus wichtige
Mission der innersekretorischen Vor-
gänge und die Funktion der Keim-
drüsen, der von fachlicher Seite in
letzter Zeit die größte Aufmerksam-
keit gewidmet wird. Die inner-
sekretorischen Vorgänge dürften nach
heutigen Forschungsergebnissen die
ganze Entwicklung der Persönlich-
keit in einem derartig entscheidenden
137
Zu- .
für die
England seinen Pionier
moderne Frauenbewegung ausge-
sandt. Es ist der englische Ge-
lehrte Lionel Tayler, der sich in
einem Buch, das von Pannwitz in
ein musterhaftes Deutsch übertragen
wurde, über die Natur des Weibes
eingehend ausspricht. Es ist eine
ausführliche Darstellung der Ent-
wicklung der Frau, sowohl vom
historischen als auch modern ge-
sellschaftlichen Standpunkt. Für die
Frau werden im Großen und Ganzen
die Erkenntnisse . der modernen
Psychologie geltend gemacht.
Mancherlei, wie ihr verengtes Be-
wußtsein und dessen notwendige
Äußerungen, wirdteilweise bestritten,
teilweise zugegeben. Dadurch stellt
sich Tayler stellenweise in direkten
Widerspruch mit dem bislang besten
Kenner der Frauenpsyche, Heymanns
und seinen Nachfolgern. Manches,
was bereits Möbius, Lombroso und
Ferrero, Galton u.a. vor ihm aus-
gesprochen haben, wird noch ein-
mal wiederholt. Das gilt an erster
Stelle von dem Kapitel; »Die Evo-
lution des Geschlechts und ihre
Bedeutung, Der Inhalt dieses
Kapitels gipfelt naturgemäß in einer
Abweisung der schrankenlosen
Frauenemanzipation und in einer
Verherrlichung der Mutterschaft, von
der bedauert wird, daß sie in ihrer
Bedeutung für die Geistigkeit
der Frauen noch nicht genügend er-
örtert und dargestellt worden ist. Der
wertvollere Bestand dieses Buches
jedoch sind weniger die theoretischen
Auseinandersetzungen mit idealen
Begriffen, sondern die praktischen
Vorschläge, die der Verfasser auch
in volkswirtschaftlicher Hinsicht be-
zügliich der Frauenfrage macht.
Das Buch ist in mancherlei Hin-
sicht interessant, auch wegen der
Abhandlung einer umfassenden ein-
schlägigen Literatur, die sich in den
knappen, miteinander zusammen-
hängenden Aufsätzen eingestreut
SEXUALREFORM
findet. Es
ist besser als viele
seinesgleichen geschrieben und be-
reichert, jeden der es in die Hand
nimmt, um neue wichtige Gesichts-
punkte, Ké
BRIEFKASTEN.
Unnatürliche Behaarung bei
Frauen. (Frau S. in K.) Allerdings
ist es ein ganz erheblicher „Schön-
heitsfehler“, wenn das Haarkleid
auch auf andere Teile des weiblichen
Körpers sich erstreckt als auf jene,
die von Natur aus dazu bestimmt
sind. Ob eine Epilation von günstigen
Folgen begleitet sein dürfte, können
wir Ihnen nicht sagen, da uns die
Gründe, weshalb jetzt überall auf
Ihrem Körper „Haar zu sprossen be-
innt“, nicht näher bekannt sind.
llgemein pflegt allerdings der Haar-
wuchs bei den Frauen nach dem Be-
inn des Klimakteriums namentlich
im Gesicht stärker zu werden, was
auf das Aussetzen gewisser Sekre-
tionen und das Ueberwiegen anderer
in den Sexualorganen zurückzuführen
ist. Da Sie jedoch erst im vierten
Jahrzehnt stehen, so ist dieser plötz-
liche Haarwuchs, verbunden gleich-
zeitig mit einer Entwicklung Ihres
Gesamthabitus zu männlichen For-
men, nicht auf ein vorzeitig ein-
getretenes Klimakterium zurückzu-
führen. Fälle ähnlicher Art finden
sich in der medizinischen Literatur
wiederholt erwähnt, und zumeist
handelt es sich dabei um Aeuße-
rungen einer verspäteten homosexu-
ellen Anlage, die bis dahin durch
eine gleich starke heterosexuelle An-
lage gebunden gewesen war. Auch
der Umstand, daß Sie seit längerer
Zeit merkwürdige Schwärmereien
für junge Mädchen haben, während
Ihnen fhr Mann gleichgültig ge-
worden ist, bestärkt uns in der An-
nahme, daß Ihre Umwandlungen
zum virilen Typ auf die vorerwähnten
Ursachen zurückzuführen sein dürfte.
Wir empfehlen Ihnen, sich auf alle
Fälle mit einem hervorragenden
Nervenarzt in Verbindung zu setzen.
Юг. 1. М.
Schönheit-Preisausschreiben 1914. >»
Unser vorjähriges Preisausschreiben
zur Erlangung künstlerisch
wertvoller Akt-Photographien
wird auch für das Jahr 1914 unter den gleichen Bedingungen
wiederholt.
Die Aufnahmen sollen schön genug sein, um in der Schönheit
als vorbildlich veröffentlicht werden zu können. Sie sollen sittlich
edel und einwandfrei wirken und sollen geeignet sein, in künstle-
rischer und sittlicher Hinsicht zur Beseitigung aller der Akt-Photo-
graphie noch vielfach entgegengebrachten Vorurteile beizutragen.
Der ernste, künstlerische, gesundheitliche und sittliche Zweck
dieses Preisausschreibens macht es wünschenswert, daß sich aus
gebildeten Familienkreisen natürlich denkende, normal gewach-
sene Frauen und Mädchen, die durch Korsett nicht entstellt
sind, Männer, Jünglinge und Kinder bei unbefangenem Auf-
enthalt im Bade, im Garten, in Wald und Feld zur Verfügung
stellen und die Verwendung von Berufsmodellen nur soweit in
Betracht kommt, als es sich um sittlich einwandfreie Personen
mit edel-vornehmem Gesichtsausdruck handelt. Aufnahmen im
Atelier oder Zimmer wirken sehr leicht pikant oder unnatürlich,
es werden daher Freilichtaufnahmen in schöner Natur die meiste
Aussicht haben, bei Prämiierung und Ankauf berücksichtigt zu wer-
den; für Atelier- und Zimmer-Aufnahmen empfiehlt sich einfarbiger
Hintergrund. Besonders erwünscht sind auch Gruppenbilder.
An Preisen sollen wieder
1000 Mark
zur Verteilung gelangen und zwar
ein 1. Preis von 300 Mark,
ein 2. Preis von 200 Mark,
ein 3. Preis von 100 Mark.
Der Rest von 400 Mark soll in beliebiger Verteilung für
weitere Preise oder Ankäufe nach dem Ermessen der Redaktion
der Schönheit Verwendung finden. Wir behalten uns vor, bei
hervorragend wertvollen Einsendungen die Preise oder die
Zahl derselben nachträglich zu erhöhen.
140
Die Entscheidung liegt in den Händen der Redaktion der
Schönheit und einer Anzahl künstlerischer, am Wettbewerb
nicht beteiligter Mitarbeiter und Beiräte derselben.
Bedingungen.
1. Die Beteiligung steht nicht nur den Abonnenten, sondern
allen Lesern der »Schönheit« frei.
2. Die Einsendung muß bis spätestens 31. Oktober 1914 erfolgen.
Spätere Einsendungen können für die Preisverteilung nicht berücksich-
tigt werden. Die Einsendung muß portofrei an die Redaktion der
»„Schönheit«, Werder a H. Am Zerrnsee 4, erfolgen.
3. Jedes Bild muß auf der Rückseite ein Kennwort tragen. Der
Name des Einsenders darf weder auf der eingesandten Preisbewerbung,
noch auf der Postbegleitadresse, dem Umschlag oder der Einlage ver-
merkt sein. Name und genaue Adresse sind vielmehr in einem gut
verschlossenen Umschlag beizulegen, welcher die Aufschrift trägt: »Ent-
hält Einsenderadresse«. In diesem verschlossenen Briefumschlag muß
die ausdrückliche Erklärung des Einsenders enthalten sein, daß er die
vorliegenden Bedingungen des Preisausschreibens ausdrücklich anerkennt,
und daß sowohl der Hersteller des Bildes wie die aufgenommenen Per-
sonen mit der Veröffentlichung einverstanden sind. Diese Umschläge
werden erst nach der Entscheidung geöffnet. Berechtigt zur Einsendung
sind nicht nur die Hersteller der Bilder, sondern auch die dargestellten
Personen sowie deren Angehörige usw.
4. Die Entscheidung des Preisgerichts wird im Weihnachts-
heft 1914 veröffentlicht. Von der Zuerkennung der Preise kann abge-
sehen werden, wenn die eingesandten Arbeiten den berechtigten An-
sprüchen an Technik und künstlerischer Auffassung nicht genügen. Von
den nicht preisgekrönten Arbeiten ist der Ankauf einer größeren Anzahl
auf Grund besonderer Vereinbarungen in Aussicht genommen.
5. Die eingereichten Bilder dürfen noch niemals veröffentlicht sein.
Es dürfen beliebig viele Einsendungen gemacht werden. Die Bilder
sollen möglichst dem Format der Schönheit angepaßt sein und in min-
destens zwei scharfen, kontrastreichen Kopien in Original-Plattengröße
eingereicht werden.
6. Die preisgekrönten Bilder nebst den Negativen werden mit
Reproduktionsrechten Eigentum des Verlags der Schönheit. Die Ver-
öffentlichung erfolgt auf Wunseh unter Pseudonym.
7. Die Rücksendung der nicht preisgekrönten oder nicht ange-
kauften Einsendungen erfolgt auf Rechnung und Gefahr der Einsender.
Das Rückforderungsrecht erlischt am 31. März 1915.
8. Etwa erforderlich werdende Ergänzungen zu diesen Bestimmungen
werden in der „Schönheit« bekannt gebeben.
BERLIN-WERDER a.H.
DIE SCHÖNHEIT
Redaktion und Verlag.
=
ESS Die Schönheit, Buch- und Kunsthandlung, Werder a. H. 157
Die Geschlechtsunterschiede
beim Menschen
Eine klinisch-physiologische Studie
von
DR. CONSTANTIN J. BUCURA
Privatdozent für Geburtshilfe und Gynäkologie an der
Universität Wien.
Preis brosch. 3 M.
Das Buch enthält eine eingehende Beschreibung aller Geschlechtsunterschiede
des Körperbaues sowie des Geschlechtslebens, ferner die psychischen Geschlechts-
unterschiede, soweit sie heute darstellbar sind. Die Unterschiede der Natalität,
Morbidität, Mortalität und Kriminalität werden auf Grund eigenen statistischen
Materials festgelegt. Im Schlußkapitel endlich versucht der Autor aus den Er-
gebnissen aller zusammengeführten Daten und aus sonstigen bekannten Tat-
sachen die Geschlechtsunterschiede des Menschen nach ihrer Genese zu werten.
Es ist eine der interessantesten und wertvollsten Arbeiten, die in letzter Zeit
auf diesem Gebiete erschienen ist.
i BEITRÄGE ZUM SEXUELLEN PROBLEM #
VON
DR: J. B. SCHNEIDER
f PREIS BROSCHIERT 3 M. ELEGANT GEBUNDEN 4 M.
mamanman S
AUS DEM INHALT:
Zur Frage der physischen und moralischen Jungfräulich- į
i keit / Prostitution und Musik / Psychologie der Hochzeits- #
i reisen / Künstler und Prostituierte / Die problematische *
Frau / Die eheliche Untreue / Die Jagd nach dem Manne /
Masturbation und Verbrechen usf.
ишшишшинишиншииниииииишиииииииииииииииииииииитишишшитии |
„Ein interessantes Buch, das neue, frappante Gedanken zum Sexual- |}
f problem hinzubringt. Mit anerkennenswerter Offenheit werden hier die Я
zahlreichen konventionellen Lügen der Gesellschaft gegeißelt...... Н
нйн нй нй ны INHALT aAA
GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT.
ҰШ. Вапа, Heft 12.
Abbildungen:
Zu dem Aufsatz: »Zur Psychologie des Kostümes:.
Seite Seite
Bei der Toilette. Von A. Beardsley. Das erste Rendezvous. Von Eduard
Vor Seite 513 Bisson . . . . . . Vor Seite 545
Eine Braut vom Jahre 1859. Vornehme Kokotten auf den Pariser
Hinter Seite 528 Boulevards. Von Guillaume.
Die Krinoline im Ballsaal. Vor Seite 529 Hinter Seite 560
Die Naive. Von A. Genoile (1840) . 530 Badeleben. Von E. Heilemann.
Auf der Jagd. Von Felix Valloton . 531 Hinter Seite 560
Kostüm von einem Pariser Künstlerball 534 Varietekostüm. . . . Vor dem Beiblatt.
Modebild. Von G. Lami (1898). . . 535 Cancan . . . . . . Vor dem Beiblatt.
Liebe und Koketterie . Hinter Seite 544
a
Text:
Seite Seite
Prostitution und Gesellschaft. Schilddrüse und Kropfleiden.
Von Dr. W. Hammer . . . 513 Von Dr. Conrad Appel . . 537
Zur Psychologie des Kostüms Bündnisformen homosexueller
vom Rokoko bis zur Gegen- Männer und Frauen. Von Dr.
wart.Von Prof. Dr. A.Thimme 526 Magnus Hirschfeld. (Schluß). 542
SEXUALREFORM.
VIII. Band, Heft 12.
Seite Seite
Verschiedenes: Das Geschlechtsieben vor der Wiener
(Syphilisübertragung und Infektions- Gesellschaft — Ein Homosexuellen-
gefahr — Sexuelle Reformarbeit in Béil ein un an Ъул”. OT
Amerika — Zur Reform der nordischen Zentralbibliothek für Sexual-
Gesetzgebung — Sturmfreie Buden — wissenschaft. (Besprechungen:
Transvestitismus und Polizei — Jaskowski, Philosophie des Vege-
Richard, der Hochnotpeinliche — tarismus — Gewichtige Stimmen über
Die Erwähnung der Syphilis in der das Unrecht des 8175) . . . . . 185
belletristischen Literatur — Ein Briefkasten:
Sammelplatz erotischer Literatur — (Magische Veranlagung des Weibes) 186
Verantwortlich für die Redaktion: Dr. J. B. SCHNEIDER, Werder a. H.
Herausgeber und Eigentümer: VERLAG DER SCHÖNHEIT, KARL VANSELOW,
Werder a. H.
Gedruckt von G. REICHARDT, Groitzsch, Bez. Leipzig.
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