Skip to main content

Full text of "Geschlecht und Gesellschaft 8.1912"

See other formats


ШУ 
КФ 


7 | eer El 
Gei 902061 $ ДИП dief уй Kies 


Gë der Schönheit Berlin Ak 


EI 





> 
ә 
КАТ; л? 
КФ OLA 


2 Cal 
ao dë с> 


ee а SEN SC [% 
(Sieste DE 


(AL) d ' 


\ 





Үс A Ф“ 
ой ушл e 


КСЫ ET 


5 Р. Р 2 
éi еу & < 


А wc? GEN en CS 
Q A O WH -© ©) © 


EN Lag м 
у EC «р, 
ar os 

N 


< МЕ! 
© WE © ei 





10 


GESCHLECHT UND 
GESELLSCHAFT 


ec" HERAUSGEGEBEN 
IN VERBINDUNG MIT NAMHAFTEN FACHLEUTEN 
VON KARL VANSELOW 


> WË SU E 
10) HELLER 10) 


TELEPHON-ABONNENTEN. 








VERLAG DER SCHÖNHEIT 
BERLIN : LEIPZIG : WIEN 
WERDER a. H. 

1912. 





ALLE RECHTE VORBEHALTEN. 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 
VIII, 1. 


VASE IN PORZELLANGUSS. (Sammlung Moll.) 


ELFENBEINERNER STOCKGRIFF. (Samml. Moll.) 


Zu dem Aufsatz »-Die Erotik im Kunstgewerbe«, Seite 13. 





ВТВ 





SEXUELLE VERSORGUNG. 
Von Dr. IKE SPIER, Facharzt in München. 
»Solange nicht den Bau der Welt 
Philosophie zusammenhält, 
Erhält sich das Oetriebe 
Durch Hunger und durch Liebe!« 
ein Geringerer als Schiller faßte in diese paar wuchtigen 

Worte den ganzen kosmischen Regulationsplan zusammen; 
in weniger läßt sich gar nicht komprimieren, was so viel be- 
deutet und so unbedingt wahr ist. 

Mag sein, daß der Hunger, der Kampf um den Brotkorb 
und den Suppennapf noch energischere Umwälzungen im mensch- 
lichen Leben und in der Geschichte der Völker hervorgerufen 
hat; aber außer ihm gibt es bestimmt keinen mächtigeren Trieb als 
das, was man Liebe nennt, und was physiologisch meistens nichts 
anderes bedeutet, als den Drang nach sexueller Versorgung. 

Zweifellos gibt es in den ersten Regungen des Liebes- 
triebes bei Kindern und Jugendlichen Momente, wo eine sexuelle 
Versorgung bewußt nicht erstrebt wird, weil der Körper noch 
keine braucht, seine Zeit ist noch nicht gekommen; es handelt 
sich in diesem Stadium um den nach Moll so benannten Kon- 
trektationstrieb, die bloße Hinneigung zum anderen Geschlecht, 
um eine Art magneto-elektrischer Anziehung ungleicher Pole, 
Jedoch beim normalen geschlechtsreifen Individuum läßt sich 
diese zwingende Kontrektationsidee rein und frei vom Detu- 
meszenzwollen kaum noch nachweisen; die Detumeszenztrieb- 
richtung drängt mit unwiderstehlicher Kraft auf eine Ab- 
schwellung, also auf erlösende, befreiende Vorgänge im Geni- 
talsystem hin, so sehr, daß es effektiv Männer und Frauen 
gibt, die gar keine Kontrektationsempfindungen mehr aufkommen- 
lassen und nur der Detumeszenz leben; diese an Nymphomanie 
und Satyriasis erinnernden Zustände streifen schon nahe das 
Gebiet des Pathologischen und gehören zum Teil da hinein. 

Die gemischte Sensation der sexuellen Liebe, der Ge- 
schlechterhinneigung, ist aber auch bei ganz Normalen zum 
großen Teil detumeszensüberwertig, d. h. so, daß unendlich 

Geschlecht und Gesellschaft VIII, 1. 1 


2 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


viele Menschen den reinen Detumeszenzvorgang erleben müssen, 
selbst wenn ihre psychische Seite der Kontrektation gar keine 
Befriedigung findet; der Kontrektationstrieb ist bei ihnen sehr 
rege und vollkommen erhalten, wird aber zeitweise beim 
Mangel an sympathischer Partnerschaft vollkommen überlagert, 
so daß er verschwunden scheint. 

Newyork hat über 40000 Bordelle, die der Polizei bekannt 
sind; die ungezählten heimlichen Stätten der Venus vulgivaga 
sind gar nicht zu überwachen, so daß man bei milder Schätzung 
für diese amerikanische Weltstadt ca. 50000 annehmen kann; 
es wird wohl dabei keiner auf den Gedanken kommen, daß 
diese Stätten der Liebe vom allergemeinsten 10 cents-Bordell 
bis zum Überluxusvenustempel mit 1000 Dollarrechnungen irgend- 
wie etwas mit der Kontrektation zu tun haben; ihre Besucher 
mögen ja auch z. T. nicht nur rein physiologisch dort sich 
detumeszieren, manche mögen auch für die Frauen da etwas von 
Sympathie u. dgl. fühlen, aber das Gros sucht nichts anderes 
als den notwendigen lustbetonten Akt. 

Diese Art sexueller Versorgung, dieses Zerrbild dessen, 
was man Liebe nennt, gibt zu denken, und ihre Verbreitung 
über die ganze Erde läßt sie zuletzt als eine organische Not- 
wendigkeit erscheinen. 

Aber sie ist nur ein schlimmes Ersatzstück, eine jämmer- 
liche Imitation des Echten; jeder, der es erschwingen kann, 
wo er auch lebe, wenn es Landes Sitte und Art gestatten, 
sucht sich eine andere sexuelle Versorgung, mit Umgehung 
des Bordells. 

Es hilft nichts, zu predigen und Abstinenz zu glorifizieren, 
oder wie Tolstoi die Selbstvernichtung zu proklamieren, das 
Leben geht mit eisernem Schritt über die Phantasten und 
Ideologen weg, das Leben beweist durch die bestehenden Zu- 
stände haarscharf, daß das Kapitel der sexuellen Versorgung 
eines in nie endenden Fortsetzungen sein und bleiben wird, daß 
sexuelle Versorgung und Nahrungstrieb die zwei Pole sind, 
um die sich die belebte Welt dreht. 

Kultivierte und unkultivierte Völker müssen sich gleicher- 
maßen mit dem Problem abfinden und tun es, so gut es möglich ist. 

Einige Stämme Australiens halten sich steril gemachte 
Frauen, bei denen die unverheiratete Mannschaft ihre Ver- 
sorgung findet. 


| 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 3 


Mexikanische Ureinwohner züchteten die Mujerados, künst- 
lich effeminierte Männer, die der Pädicatio u. dgl. dienten. 

Andere auf niedriger Stufe stehende Völker haben in ihren 
Naturfesten bei Mondesfülle und in den Zwischenzeiten der 
Äquinoktien ein Ventil für die überschüssige und nach Er- 
lösung drängende Sexualität der Unverheirateten und Vermählten. 

Die Onanie ist nach genauen Forschungen bei den Natur- 
völkern gewiß nicht weniger verbreitet als bei den Nationen 
der Zivilisation. 

Im Gegenteil, manche Reisende berichten von öffentlich 
ohne Scheu betriebener Masturbation der Geschlechter bei 
Negern und Australiern; bei diesen Rassen scheint die so- 
genannte Scham noch wenig entwickelt zu sein oder wenigstens 
zeitweise vollständig ausgeschaltet zu werden. 

In einem australischen Städtchen übte ein Ureinwohner 
mit einem jungen Mädchen seines Stammes ohne Harm auf der 
Straße den Congressus aus und fand nicht das geringste da- 
bei, daß andre zuschauten. 

Das ist nicht zu verwechseln mit den künstlich gezüchteten 
Obscönitäten und Lüsternheiten der französischen Revolution, 
wo in einem Pariser Vorstadttheater ein gänzlich nackter brauner 
Wilder mit seiner Rassengenossin vor zahlendem Publikum den 
Akt vollzog; später stellte sich aber heraus, daß man es mit 
einem Zuhälter und einer Dirne, die sich angemalt hatten, aus 
dem Stadtteil La villette zu tun hatte. 

Die sexuelle Versorgung bei den Naturvölkern ist eine genau 
so zwingende und beunruhigende Frage, die beantwortet 
werden muß, wie bei uns. Der Unterschied ist nur dort, daß 
sich die Leute selbst ihren Sittenkodex machen und ihnen nie- 
mand hineinreden kann. 

Außerdem lassen diese Menschen ihre Mannbaren beider- 
lei Geschlechtes so früh wie möglich heiraten, wobei auf vor- 
handene Jungfernschaft oft gar kein Wert gelegt wird; im 
Gegenteil, bei manchen findet ein unberührtes Mädchen keinen 
Bewerber, weil der nach seiner Logik schließt, daß sie reizlos 
sei und nicht begehrenswert, wenn niemand nach ihr vorher 
Verlangen gehabt; eine anziehende Frau muß unbedingt von 
anderen schon erkämpft worden sein, so ist seine nach unseren 
Anschauungen vollständig verkehrte Konklusion. 

Es steht fest, daß bei allen Völkern auf einer niedrigen 

A8 


A GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Stufe der Zivilisation, bei Negern und Australiern stets von 
Staatswegen, oder besser durch eine stammesgebilligte Sitte, 
sexuelle Versorgung auf die eine oder andere Art möglich ist; bei ' 
den nicht so sensiblen, von Großstadtluft überreizten Land- 
bewohnern der meisten Kulturvölker ist eine stillschweigende 
Methode der Sexualversorgung insofern möglich, als die Un- 
verheirateten Mittel und Wege finden, sich zu vereinigen, wenn 
sie wollen; mögen sie später auch heiraten, oder mag diese 
Absicht im Momente des sich Findens bestehen, ein Verkehr 
vor der Ehe ist in vielen Kreisen der Bevölkerung gang und 
gebe, und die Zahl der jungfräulich sich verheiratenden Mädchen 
dürfte bei ihnen nicht sehr groß sein. 

Es gibt in Deutschland manche Gegenden, wo effektiv das 
Gros der weiblichen Bevölkerung vor der Ehe Kinder hat und 
ein Ehemann überhaupt nicht gefunden wird, wenn das weib- 
liche Wesen vor der Trauung kinderlos, also unfruchtbar, bleibt; 
ein Mann will dort Kinder haben und wenn seine Zukünftige 
darin versagt, ist er schlimm dran; denn die ganze, durch 
Jahrhunderte sanktionierte besondere Erbfolge würde darunter 
leiden, später würden die billigen Arbeitskräfte fehlen, und 
einen Haushalt ohne Nachkommen schätzt man dort einer 
Kirche ohne Turm gleich, als etwas Unvollkommenes. 

Die jungen geschlechtsreifen Männer des Volkes in seinen 
städtischen und ländlichen Bezirken suchen alle Geschlechts- 
verkehr; es gibt wohl keinen einzigen, der gesund und kräftig 
ist, welcher keusch in die Ehe tritt. 

Die Einwirkung der Seelsorger bleibt rein äußerlich; in 
solchen Sachen lassen sich die Menschen ungern zureden. Da- 
bei gibts wenig Unterschiede in den verschiedenen Ländern; 
man sagt zwar, daß in England, Schottland und Amerika, eben- 
so in Australien auch bei der niederen Bevölkerung eine sexuelle 
Vermischung der Unverheirateten eine Seltenheit sei, aber die 
Statistik der unehelichen Kinder, der kriminellen Aborte, der 
Liebestragödien verlassener Wesen, die schwanger waren, u. dgl. 
mehr beweisen doch, daß es nicht so sein kann, wie ober- 
flächliche Beurteiler schließen; in Italien soll auch das Mädchen 
vor der Ehe sehr keusch leben; das mag für die gezwungene 
Enthaltsamkeit der höheren Stände gelten, aber es kann nicht 
allgemein richtig für die niederen Volksklassen sein. Auch in 
Frankreich finden wir den jungen Arbeiter mit seiner An- 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 5 


gebeteten, schon kaum daß er auf eigenen Füßen steht, sobald 
er geringen Fabriklohn erntet, die sogenannte, wohl ziemlich 
gewiß unplatonische Liaison eingehen. Und in Deutschland 
lehrt der Augenschein täglich, daß schon die jüngsten Glieder 
der arbeitenden Klassen, sobald sie etwas selbständig sind, ihre 
Verbindung mit den gern drauf eingehenden Genossinnen an- 
knüpfen. 

Bei den höheren Gesellschaftsklassen ist es auf der ganzen 
Welt ziemlich gleich. Offiziell sind männliche und weibliche 
Jugend einander unerreichbar, das ist offenkundig; aber ebenso 
bestimmt weiß man, daß die jungen Männer sich alle sexuell 
gut versorgen und ausreichend den Congressus suchen, und 
daß die jungen Mädchen sehnsüchtig danach trachten, wenn 
auch Sitten und Angst, bei den wenigsten sicher nur moralische 
Bedenken, eine Barriere bilden; es ist eine »tote Gewißheit«, 
daß die weiblichen Mitglieder unserer besseren Kreise samt 
und sonders der Onanie fröhnen; es mögen einige außer- 
gewöhnlich frigide Geschöpfe sich davon fernhalten, aber nach 
Rohleder genießen 95—96 °/,, nach anderen bis 100 °/, dieses 
Surrogat der sexuellen Befriedigung. 

Es ist natürlich außerordentlich schwer, genaue Angaben 
zu erhalten; aber offene und ehrliche Mädchen gestehen, daß 
sie onanieren und daß ihre Freundinnen, soweit sie es wissen, 
dasselbe tun. 

Viele Frauen, die darüber ungenierter reden, bestätigen 
diese Angaben und bilden so nach und nach bei dem Sexual- 
forscher die feste Meinung, daß nur eine verschwindende 
Minderheit der weiblichen Jugend, wenn überhaupt, von der 
Masturbation frei bleibt. 

Die Männer oder Jünglinge masturbieren, solange sie keine 
sexuelle Versorgung haben, ziemlich ausnahmslos; es dürfte 
darüber kaum noch eine Meinungsverschiedenheit existieren, 
daß die Masturbation die verbreitetste »Jugendsünde« ist; 
zweifellos drängt bei vielen jungen Menschen schon,der Körper 
zu einer sexuellen Detumeszenz, ob man aber onaniert oder 
den Congressus ausübt, ist physiologisch nur insofern ver- 
schieden, als der Congressus gesünder ist. 

Es gibt nicht wenige Väter, die ihrem heranwachsenden 
Sohn den Weg weisen zu einem Congressus, zu einer physio- 
logischen Detumeszenz in längeren Intervallen, damit der Junge 


6 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


dem seelisch und physisch destruierenden Onanieren fern- 
gehalten werde. 

Diese Väter, denen manche gram sein mögen, haben 
Menschenkenntnis. Sie wissen, daß mit schönen Worten einem 
kräftigen, in strotzendem Körper begründeten Sexualtriebe, der 
nach Versorgung lechzt, nicht geholfen ist und daß Geheimnis- 
tuerei und Vertuschung nur Heuchelei und Unoffenheit 
erzieht. 

Also weisen sie auf den Weg der physiologischen Detu- 
meszenz. Im Orient war es Sitte, schon bei den ersten Zeichen 
der Mannbarkeit die betreffenden Individuen zu verheiraten; 
damit war das Problem der Sexualversorgung wohl am ein- 
fachsten gelöst. 

Bei uns ist diese einfache und praktische Eliminierung des 
schneidenden Problems nicht möglich; allerlei Hemmnisse 
sozialer Art, die Teuerung und damit verbundene Schwierigkeit 
für Anfänger, einen Haushalt zu gründen, u. dgl. schieben, wie 
schon an anderer Stelle ausgeführt wurde, das Heiratsalter be- 
deutend hinauf und drängen die geschlechtsreifen Individuen 
auf die merkwürdigsten Wege. 

Schon oft ist die sexuelle Abstinenz als die einfachste 
Lösung der Versorgungsfrage herbeigeholt worden und zwar 
mit wenigen Ausnahmen von streng bibelgläubigen Menschen, 
denen eine bona fides zu konzedieren ist. 

Dabei ist zu berücksichtigen, daß die Enthaltsamkeit bei 
vielen Menschen geradezu quälende Symptome hervorrufen kann. 

Es mag auch da einige wenige geben, denen die Abstinenz 
leicht und angenehm ist, aber die Regel bilden sie gewiß nicht, 
darüber besteht gar keine Diskussion; diese frigiden Menschen, 
sowohl männlichen wie weiblichen Geschlechts, sind in einer 
verschwindenden Minderzahl, und allgemeingültige Schlüsse kann 
man aus ihrem Verhalten unmöglich ziehen; die Erfahrung lehrt, 
daß der gewöhnliche Geschlechtsreife oft direkte Pein, die sich 
bis zur Unerträglichkeit steigern kann, erduldet, wenn er keine 
Detumeszenz erleben kann. Die Onanie als zu verwerfendes 
Ablaßventil, als ein Mittel, vor dessen Benutzung überein- 
stimmend alle Ärzte und Pädagogen dringend warnen, kommt 
selbstredend in einer ernsthaften Besprechung gar nicht in Be- 
tracht, obwohl Gegner der sexuellen Detumeszenz vor der Ehe 
lieber Onanisten als Congressusausübende haben, z. T. weil die 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 7 


Onanie wohl vom ecclesiastischen Standpunkt, moraltheologisch 
eine kleinere Sünde ist, als die Vollziehung des Aktes ohne 
die vorhergegangene Einwilligung der Geistlichkeit. 

Es kann hier natürlich mit Theologen von innerlicher 
Überzeugung nicht gerechtet werden; hier können nur physio- 
logische Gründe reden; aber in dieser Hinsicht besteht nicht 
der geringste Zweifel, daß ein mäßiger, individuell ab- 
gestufter Verkehr dem mannbaren Geschöpfe keinen Schaden 
körperlicher oder seelischer Art zufügen kann, sondern als eine 
Erleichterung, geradezu Steigerung psychischer und vitaler 
Kapazität empfunden wird. Sicher züchtet das moderne Leben 
eine Menge Existenzen, die im ewigen Ringen nach sexueller 
Versorgung direkt zugrunde gehen. Ihre Arbeitskraft ist einfach 
gelähmt, ihre Konzentration auf einen Beruf leidet unter dem 
fortwährenden Drange ungestillten sexuellen Sehnens. Sie ver- 
schwenden Tage und Nächte, um sich eine sexuelle, erotische 
Atmosphäre zu bilden, sie suchen Caf&häuser mit Damen- 
bedienung, Nachtlokale, Weinstuben, Rennplätze u. dgl. auf, 
Orte, wo die Illusion einer speziellen Auslebemöglichkeit am 
leichtesten gestaltet wird. 

Die Frage der verbummelten Studenten, der auf Abwege 
geratenen Kaufleute im jugendlichen Alter, das Scheitern so 
vieler Existenzen im Leben der Großstadt besonders wird oft 
überraschend geklärt, wenn man solche Elemente genauer be- 
obachet, Einblick in ihre Psyche erhält und dann herausfindet, 
daß diese, zuweilen einenruhigen und gleichmäßig-stillen Eindruck 
machenden Individuen eben Erotiker waren, die unter einem 
ständigen Nichtausgleich ihrer sexuellen Kräfte litten. Die 
weibliche Welt wird viel härter davon mitgenommen, daß ihr 
die erotische Entspannung erschwert ist, als man denkt. 

Man braucht kein Mensch mit lüsterner Phantasie zu sein, 
der den ganzen Kosmos als eine Folie des großen Phallus an- 
schaut, und kann doch bei objektiver Prüfung herausfinden, 
daß ungezählte Tragödien stiller und lauter Art, eine Menge 
von Krankheiten, psychische Depressions- und Exaltations- 
zustände bei Frauen in der Zeit der Geschlechtsreife, Verbitte- 
rung und Lebensüberdruß durch den Mangel der Versorgung, in 
sexuellen Nöten, ihre Deutung finden. Wenn Goethe seinen 
Mephisto satirisch sagen läßt, daß die Frauen von einem 
Punkt aus alle zu kurieren seien, so hat der große Dichter, dem 


8 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


die Geheimnisse der Natur divinatorisch kund wurden, die 
Wahrheit fast oder ganz genau präzisiert; gerade die leichter 
formbare, weibliche Seele erhält aus sexuellen Nöten schlimme 
Eindrücke, deren Spuren oft über das ganze Leben hinaus un- 
verwischbar vorhanden sind und das Wesen in einer bestimmten 
Richtung hin umbilden. 

Wenn diese Tatsachen so wenig allgemein bekannt sind, 
so kommt das eben daher, daß die Frauen gewissermaßen eine ge- 
schlossene Phalanx gegen die Männerwelt formieren, daß in 
stillschweigendem Übereinkommen, wie bei den Auguren im 
alten Rom, »nicht aus der Schule geplaudert wird«, daß 
überhaupt die feminine Psyche mehr der mimosa pudica gleicht, 
die sich einer rauhen Berührung mit der Außenwelt sehr emp- 
findsam verschließt und selten jemand einen tieferen Einblick 
gestattet. 

Zuweilen aber erhält man doch genaue Daten, die all- 
gemeingültigen Wert besitzen. 

Die folgende Krankengeschichte einer Patientin aus bessern 
Kreisen soll ein ungefähres Bild von solchen Möglich- 
keiten geben. 

Еп. Е. у. ]., 21 Jahre alt, leidet an allerlei nervösen Be- 
schwerden und unbestimmten Zuständen; sie ist reizbar, oft 
unzufrieden mit ihrem ganzen Leben, von einer drückenden 
Spannung gequält; ihr Appetit ist gestört, die Verdauung sehr 
unregelmäßig, sie ist schlaflos usw. 

Frl. v. J. ist die Tochter eines Arztes, der aber schon ge- 
raume Zeit tot ist. Sie hat eine umfassende Bildung, eine 
hervorragende Intelligenz und macht den Eindruck einer ge- 
wissen geschlossenen Persönlichkeit, die eventuell recht energisch 
sein kann. Nach und nach entschließt sie sich mit einem »merk- 
baren Ruck« zu einem kompletten rückhaltslosen Geständnis. 
Seit ihrem 12. Lebensjahre onaniert sie. In der Pension einer 
vornehmen schweizerischen und später einer sächsischen Stadt hat 
sie stets mit intimen Freundinnen mutuell masturbiert, sogar 
schon den cunnilingus ausgeübt; dabei ist sie nicht die Ver- 
führerin gewesen, sondern die älteren Pensionskolleginnen haben 
sie eingeweiht. 

Nach ihrer Rückkehr ins Mutterhaus suchte sie, wo nur 
möglich, Lektüre sexuellen Inhalts zu ergattern, das Konver- 
sationslexikon, die Bücher aus der Bibliothek ihres Vaters usw. 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 9 


mußten ihr ein notdürftiges Äquivalent bieten; die Phsychopathia 
sexualis von Kraft-Ebing geriet in ihre Hände und brachte 
sie beinahe durch die darin enthaltenen Schilderungen, die bei 
ihr zur fortwährenden Onanie drängten, zur Überreizung; sie 
onanierte jede Nacht seitdem, ca. 3 Jahre lang, und ist fort- 
während in sexueller Spannung. Ihre Beherrschung aber hat 
sie bis jetzt vom Verkehr mit Männern zurückgehalten, jedoch 
erstrebte sie mit allen Kräften die baldige Heirat mit ihrem Ver- 
lobten, einem Staatsbeamten, der natürlich von ihren Zuständen 
keine Ahnung hatte. 

Die Patientin fand in einer baldigen Heirat die gewünschte 
Erlösung und ist seitdem glücklich, vor den quälenden An- 
stürmen ihrer Sexualität Ruhe bekommen zu haben. 

Diese intelligente Frau, welche offen ohne Prüderie und 
Lüsternheit, absolut kritisch ihre Konstitution beobachtete, be- 
stätigte, ohne irgend welche Entschuldigung darin für sich zu 
suchen, rein objektiv, daß ihre Erfahrung erlaube, für viele 
Frauen und Mädchen ähnliche Situationen anzunehmen, bei 
manchen weniger, bei anderen gerade so ausgebildet, bei allen 
aber einen zwingenden Drang zur sexuellen Versorgung, zur 
Entspannung, zur Detumeszenz. 

Warum nun gibt es Forscher, die derartige Fälle nicht als 
allgemeingültig anerkennen wollen? 

Weil ihnen eben nicht die Informationen zu Gebote stehen, 
weil nicht jedem gegenüber die Frauen sich rückhaltslos offen- 
baren und vor allem, weil viele Frauen eher sterben als ihre 
Seele mit scävolanischer Härte dem Wissen eines anderen dar- 
bieten wollen; es gibt Frauen, in denen ein erotischer Vulkan 
glüht und die mit eiserner, raffinierter Konsequenz den Ein- 
druck absoluter Frigidität hervorzurufen imstande sind; nicht 
alle Frauen sind sexuell überwertig, das ist klar; aber das Gros 
mit dem gesunden Geschlechtstrieb sucht auch im richtigen 
Alter physiologisch die richtige Versorgung, den Congressus: 
es braucht dabei gar keine messalinische Unersättlichkeit im 
Spiele zu sein; das normale weibliche Geschöpf wird gedrängt 
nach einer normalen Detumeszenz, das ist der Congressus. 

Wenn viele diesem Drängen einen Widerstand entgegen- 
setzen, so hat dies die bekannten Gründe, und zwar in erster 
Linie die dem weiblichen Geschlecht anhaftende größere Scham- 
haftigkeit und die in unseren Gegenden übliche Betrachtungs- 


10 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


weise sexueller Freiheit bei Frauen, die, wenn sie erotisch 
»freibeutern«, stets verdammt werden, und als wichtigster, die 
Angst vor der Konzeption, dem illegitimen Kinde. 

Ein etwas drastischer Ausspruch eines bekannten Theo- 
logen lautete: »Wenn die Polizei nicht wäre, würden sich die 
Menschen unter den Linden betragen wie die Hunde.« 


Er würde noch vollständiger sein, wenn er lautete: »Die 
Polizei und die Angst vor dem Kinde.« 

Es ist gar nicht vorauszusehen, wie frei und ungebunden 
die jetzt schon ziemlich fessellosen breiten Massen der Völker 
sexuell sich betätigen möchten, wenn »das Kind« nicht das 
ewige Schreckgespenst bliebe. Die sexuelle Versorgung einer- 
seits und die Gefahr der Konzeption sind sich feindlich gegen- 
überstehende Probleme. Trotzdem kann die bewußte Prognose, 
daß von 1000hne Vorsichtsmaßregelnausgeübten Geschlechtsakten 
ca. 10—20 mit einer Befruchtungschance beschwert sind, nur 
wenige, ängstliche Menschen davon abhalten, ihren Trieben, 
wenn sich Gelegenheit bietet, rückhaltslos zu folgen, sie zu 
befriedigen. 

Man sieht, die Qual der sexuellen Versorgung, das Natur- 
gesetz der geschlechtlichen Polarität, der Zwang des erotischen 
Detumeszierens kennt nur wenig Dämme, und auch diese reißen, 
wenn die Flut zu hoch steigt. 

Es ist gar keine Frage mehr, daß der geschlechtsreife 
Mensch eine sexuelle Versorgung braucht und daß alle Vereine 
gegen die venerischen Krankheiten, alle Predigten von Moral 
und Ethik, von hehren Ideen und entsagendem Martyrium stets 
nur auf wenige wirken werden, auf eine so geringe Minderzahl, 
daß der Wert solcher Unternehmungen ganz und gar proble- 
matisch ist; die große Masse kümmert sich absolut nicht um 
solche Dinge und lebt, so gut es eben geht, mit eigener Hilfe, 
nach eigenem Gutdünken, diese Unannehmlichkeit der sexuellen 
Karenz vermeidend. 

Es ist hier unnötig, die aus sexueller Not begangenen 
Sittlichkeitsdelikte anzuführen, um die aktuelle Wichtigkeit, die 
soziale Bedeutung dieser Frage zu illustrieren. 

Es steht fest, daß ein Vielfaches der zur Anzeige kommen- 
den und bestraften Delikte unentdeckt bleibt oder absichtlich 
verdeckt wird, daß eine ungeheure Anzahl von sonst gut ge- 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 11 


achteten und anständigen Menschen bestraft und geächtet sein 
würden, wenn überall ein Kläger sich fände. 

In etwas übertriebener Art erlaubte sich ein Autor die 
Phrase, »daß ziemlich alle Menschen Sittlichkeitsverbrecher 
seien, wenn man die feinsten Maßstäbe des Strafgesetzes an- 
legen wollte.« 

Die sexuelle Versorgung ist ein noch viel komplizierteres 
Problem als die meisten sozialen Tagesfragen, zu deren Lösung 
Staat und Parteien, alle Schichten der Bevölkerung beitragen. 
Nur ist an ihr das Gute, daß man sich unter Umständen helfen 
kann und auch eventuell sogar muß, auf eine Art, die keinen 
Konflikt mit dem Strafgesetzbuch im Gefolge hat. 

Der jetzt überall lebhaft diskutierte Geburtenrückgang ist 
aufs engste mit der Frage der sexuellen Versorgung verknüpft; 
die Zahl der Eheschließungen nimmt ab und auch besonders 
die Zahl der Geburten; die Eheschließungen müssen zurück- 
gehen, weil die Möglichkeit der Heirat in allen Schichten der 
Bevölkerung aus ökonomischen Gründen sehr erschwert worden 
ist und so die übliche legitime, gesetzlich lizensierte Sexual- 
versorgung immer mehr in den Hintergrund tritt im Vergleich 
‘zu der Anzahl derer, welche auf eigene Faust ihre erotische 
Sättigung jenseits von Traualtar und Standesamt suchen müssen; 
es wäre also die Ehrenpflicht eines vernünftigen Staates und 
auch eine Tat kluger, nationaler Selbsterhaltung, wenn er durch 
eine weise Gesetzgebung, eine geeignete Zollpolitik die Lebens- 
mittel aufs äußerste verbilligte, seine Schulen umsonst dem Be- 
such freigäbe, die Steuern soweit wie möglich erniedrigte usw., 
damit die Erzeugung der Kinder und ihre Erziehung keinen 
Schrecken mehr für die Eltern habe. Dann würden sich be- 
stimmt die Ehen außerordentlich vermehren und die sogenannte 
zivile Sexualversorgung würde in ungeahntem Maße wachsen. 
Die Ehen würden vor allem in viel früheren Jahren geschlossen, 
als dies jetzt der Fall ist; die Ehe sei hier absolut nicht als 
kirchliches Sakrament oder pragmatische, staatspolitische In- 
stitution gepriesen, also ethische, religiöse und patriotisch- 
konservative Gründe spielen keine Rolle hier, sondern nur vom 
Standpunkt der praktischen, der gesunden, normalen Sexual- 
versorgung, der hygienischen, sauberen und auch ungefährlichen 
Detumeszenz für beide Teile wird sie hier gewertet. 

Auch die Kinder befinden sich in einer ruhigen Ehe zweifel- 


12 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


los — bei den heutigen sozialen Anschauungen und üblichen 
Urteilen der großen Masse über illegitime Verbindungen und 
daraus entsprossene Nachkommen — besser, als in einem freien 
Nebeneinandersein der beiden Eltern; es sei hier absolut nichts 
gegen die geläuterte freie Ehe und Liebe, das zwanglose, ethische 
Zusammenleben geistig und sittlich hochstehender Individuen 
vorgebracht, im Gegenteil für so geartete Geschöpfe kann es 
gar nichts Idealeres geben als das ungebundene, bei beider- 

seitigem Übereinkommen ruhig lösbare Verhältnis. i 

Aber die groBe Menge ist noch nicht reif für solche Ideen 
und es bleibt zweifellos, ob sie es je sein wird und mag; des- 
halb muß mit praktischen Tatsachen gerechnet und auf ihrer 
Grundlage gearbeitet werden. 

Also die Ehe als rein soziales, praktisches Moment wäre 
eine sehr feste Burg für die solide sexuelle Versorgung, wenn 
es unsere Verhältnisse erlauben möchten, daß geschlechtsreife 
Individuen jung und früh heiraten, d. h. sobald sie im körper- 
lichen und seelischen Besitz aller Fähigkeiten sind, die eine ge- 
sunde Nachkommenschaft garantieren können. Dies alles hier 
Geforderte ist vorerst Utopie von reinstem Wasser. Es ist 
absolut ausgeschlossen, daß sich in absehbarer Zeit die öko- 
nomischen Lebensbedingungen derart ändern werden, daß eine 
frühere legitime Verbindung jugendlich Mannbarer stattfindet, 
als es jetzt üblich ist; im Gegenteil, die Zustände werden sich 
in dieser Richtung verschlimmern und die sexuelle Versorgung 
wird ein böses Problem in der Nationalökonomie und Sexual- 
hygiene der nächsten Dezennien bleiben. 

Es wird für den Staat einfach gar kein anderer Weg gangbar 
sein, als die Prostitution milder und gerechter zu betrachten, 
die illegitimen Verbindungen der Geschlechter ungeschoren zu 
lassen und das Konkubinat, die freie Ehe mehr als bis jetzt 
anzuerkennen und besonders die illegitimen Sprößlinge recht- 
lich ganz anders zu stellen; auch die Volksschätzung der Kinder 
aus nicht lizensierter Verbindung wird sich ändern müssen, da 
eine Abnahme der »Unehelichen« nirgends zu konstatieren ist 
und man doch nicht einfach einen erheblichen Prozentsatz der 
Bevölkerung, der dazu noch im langsamen Wachsen begriffen 
ist, einfach zu zweitklassigen Helotengeschöpfen degradieren 
kann. Die zwingend geforderte Beantwortung der Frage nach 
sexueller Versorgung dürfte noch lange in Schwebe gehalten 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 13 


werden, wenn man nicht die organische Entwicklung unserer 
Volkssexualität so anerkennen will, wie sie sich, unabhängig 
von behördlicher Billigung oder Mißbilligung, den Umständen 
sich anpassend, darbietet. 

Die »sexuelle Versorgung« wird sich stets so unbesiegbar 
selbst ihre Wege bahnen, allein, wenn man sie nicht unterstützt, 
wie die »Magen- und Darmversorgung«e. Ohne Essen und 
Liebe kann der Mensch nicht sein; wenn also Staat und öffent- 
liche Meinung, was oft mit öffentlicher Heuchelei gleichkommt, 
nicht mit den bestehenden Zuständen sich abfinden wollen, 
dann werden sich die Evolutionen ohne diese zwei Faktoren, 
oder sogar gegen, sie in weiser Selbststeuerung weiter helfen. 


KZ 


DIE EROTIK IM KUNSTGEWERBE, 
Von Dr. J. B. SCHNEIDER. 


We man die zahlreichen Probleme der Kunst mit ihren 
tausendfachen und scheinbar einander widersprechenden 
Ausstrahlungen genau ins Auge faßt, so lassen sich alle 
auf einen ursprünglichen Gedanken zurückführen, den man 
gleichsam als das Urphänomen alles Künstlerischen be- 
zeichnen könnte. Das ist die Symbolik des Geschlecht- 
lichen, Eros pandämos, die ewig wechselnden Gezeiten der 
Liebe, von der bereits die alten Dichter gesungen haben 
und die uns auch das Märchen von Aphrodite schenkte. Die 
Erotik ist die letzte Wurzel aller künstlerischen Gestaltung, 
angefangen von den spielerischen Erzeugnissen primitiver Ur- 
völker bis zu den raffinierten Produkten moderner Kunsttechnik, 
und mithin eine Idee von zeitloser Bedeutung, die die gesamte 
sonstige Metaphysik an Einfluß und Interesse überwiegt. Wie 
weit sich die Sexualität eines Zeitalters in den überlieferten 
Bildwerken ausspricht, wird allein der Kulturhistoriker ent- 
scheiden können, dem gleichzeitig die intimste Geschichte jener 
Epoche bekannt ist; aber bis zu einem gewissen Grade wird 
auch der Laie aus der Wirkung, die das Kunstwerk beim 
Beschauen auf ihn ausübt, den Gedanken, von dem sich der 
Künstler bei seinem Werke leiten ließ, erkennen und den 
sinnlichen Gehalt der Schöpfung nachempfinden. Bei voll- 


14 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


endeten Werken, die des Meisters Hand verraten, wird natür- 
lich das ästhetische Element überwiegen, und selbst für grob- 
sinnliche Vorwürfe dürfte sich immer noch ein Grund der 
Entschuldigung finden lassen. So gibt es eine Reihe von Jahr- 
hunderten, die immer auf den groben Effekt hingearbeitet haben 
und vor den unverhülltesten Obszönitäten nicht zurückschreckten, 
denen gleichwohl künstlerischer Ernst und großzügige Anlagen 
nicht abgesprochen werden können. Solche Bilder sprechen 
dann deutlicher als alle anderen von der sinnlichen Atmosphäre 
der Vorzeit und eine seltsame tragigroteske Verbindung von 
Schönheit und Häßlichkeit scheint aus all den halbverwitterten 
Kompositionen und Plastiken zu atmen. 

Über diesen verschleierten und doch deutlichen Symbolen 
der Sexualität fühlt sich schließlich der Laie unschwer ver- 
leitet, das Geringfügige und Unscheinbare in der Kunst zu 
übersehen, und namentlich die Kleinprodukte, die auf das All- 
tagsleben Bezug haben, in ihrer kulturhistorischen und ästhe- 
tischen Bedeutung zu unterschätzen. Und doch sind die ver- 
schiedenen Gegenstände kunstgewerblichen Fleißes, die die 
einzelnen Jahrhunderte hervorgebracht haben, mit demselben 
Aufwand von Erfindungskraft und bei weitem mehr Humor 
verfertigt, obwohl die Meister nicht den berühmten Klang 
im Namen wie Rembrandt, Rubens, van Dyk, Tintoretto, 
Carracci, Aldengrever u. a. haben, sondern meist kleine unbe- 
kannte Kunsthandwerker waren. Es ist erst ein Verdienst der 
letzten Jahrzehnte, daß die Schöpfer des Kleinkunstgewerbes 
in ihren originellsten Köpfen den bedeutendsten zeitgenössischen 
Malern gleichgeachtet werden. Vereinzelt treten zwar auch in 
der Kunstgeschichte verflossener Jahrhunderte Namen auf wie 
Cellini, Peter Flötner, Veit Stoß usw., die Zeugnis ablegen, 
daß auch das Kunstgewerbe immer seine erlesenen Meister 
besessen hat. Aber die genannten Künstler stünden wohl 
nicht in den Annalen der Historie, wenn sie nicht gleichzeitig 
im Dienste anderer bedeutender Männer gestanden hätten. Von 
den ungezählten Tausenden, die das altrömische Kunstgewerbe 
zu seiner einzig dastehenden Blüte gebracht haben, von den 
Gold- und Rotschmieden des Mittelalters, die jene seltsamen, 
von grotesken phallischen Figuren gezierten Geschmeide ge- 
schaffen haben, von den modernen Fabriksarbeitern endlich, 
deren volkstümlicher und gesunder Humor sich an ungezählten 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 15 


kunstgewerblichen Gegenständen verbreitet, wird in der Ge- 
schichte der Kunst nirgends näher berichtet. Aber der Geist, 
von dem die kunstgewerblichen Arbeiten getragen sind, ist 
volkstümlicher, wahrer und natürlicher als der der großartigsten 
Meisterwerke; denn er ist ein Teil von dem ursprünglichen 
Volkswitz und der Gedankenwelt, in der sich der kleine Mann 
mit Vorliebe bewegt. Man darf nicht vergessen, daß ein 
großer Teil der kunstgewerblichen Gegenstände für die Bedürf- 
nisse gerade des kleinen Mannes bestimmt war und daß bei- 
spielsweise der erotische Scherz, der auch auf dem Trinkglas 
angebracht war, genau dem: geistigen Horizont seines Besitzers 
entsprach; und da zeigt sich wiederum deutlich die ungemessene 
Freude, die jeder einzelne zu allen Zeiten an Dingen der Erotik 
empfindet, die Bestätigung des alten Satzes, der den Trieb 
der Geschlechter zueinander als das Alfa und Omega alles 
Seins bezeichnet. Die überlieferten Schöpfungen der Kleinkunst 
sind mit wenigen Ausnahmen Erotika und beweisen die un- 
geheuerliche Durchdringung alles Fühlens und Handelns. durch 
das Sexuelle. Man hat im Laufe der Jahrhunderte ein erstaun- 
liches Material zusammengehäuft, aber bei genauer Sichtung 
und Prüfung bleiben nur wenige Motive übrig und die über- 
gehen von Jahrhundert auf Jahrhundert, von den Hellenen bis 
auf die Neuzeit, einzig das Gewand, in das sie sich kleiden, 
ist nach der Kultur ein verschiedenes. Das Grundmotiv, mit 
dem sich das Kunstgewerbe immer mit Vorliebe beschäftigt 
hat, ist die Verherrlichung des Phallus, sei es, daß er in 
herrischer Einsamkeit oder in seinen zahlreichen Beziehungen 
zum andern Geschlechte gezeigt wird. Von den alten asiatischen 
Kulturvölkern, deren Erbe die Griechen übernommen haben, 
soll an dieser Stelle nicht gesprochen werden. Für uns datiert 
die Kultur doch nur von jenem Augenblick an, da das hell- 
äugige Volk an der Aigäs seine Geschichte zu schreiben an- 
fing. Von den Mysterien dieses Volkes, die sich um die An- 
betung des Phallus und seiner geheimnisvollen Kräfte drehten, 
handelt Fuchs in seiner Geschichte der erotischen Kunst, in 
der er ein umfassendes Sittenbild der antiken Welt entwirft. 
Das Erbe der Griechen, das auf uns überkommen ist, erschöpft 
sich leider nur nach der Seite der bildenden Kunst hin, in der 
sie wohl für alle Zeiten einen vorbildlichen Rang erstritten 
haben. Kaum daß einzelne Gemmen, Münzen und sonstigen 


16 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Schmuckgegenstände auch die kunstgewerblichen Anlagen der 
Hellenen ins Licht rücken; sie verraten dieselbe leidenschaftlich- 
sinnliche Weltanschauung, und neben dem Sinn für Schönheit 
auch den für die Karrikatur, so wenn z. B. eine kunstvolle 
Gemme den Heldenjüngling Alcibiades zeigt, der als großer 
aufgereckter Phallus einherwandelt und nach allen Seiten hin 
von Symbolen der Weiblichkeit umschwärmt wird. Was im 
übrigen die Griechen auch im Kunstgewerbe verherrlichten, 
waren die gleichen Motive aus der Göttersage, die sinnlichen 
Verhältnisse der Götter und Halbgötter untereinander, denen 
sie in der Legende und in der Plastik so wundervollen Aus- 
druck geliehen haben. Das eigentliche Altertum ist repräsen- 
tiert in den Sammlungen aus den pompejanischen Funden und 
den Ausgrabungen auf altrömischen Plätzen, wo in den 
herrlichsten Baudenkmälern auch die entzückendsten Werke 
der Kleinkunst zu Tage treten. Die Häufigkeit der altrömischen 
Vasen, Lampen, Krüge, Schüsseln, Spangen, Münzen, Messer 
und sonstigen Gebrauchsartikel, die selbst als erotische Symbole 
geformt oder mit einem solchen versehen sind, beweist, wie 
allgemein diese phallisch gezierten Gegenstände waren. Man 
muß darin noch immer keinen Beweis einer umfassenden 
Lüsternheit, einer schreckhaften Korruption sehen, ebenso wenig 
wie die modern-erotischen, kunstgewerblichen Gegenstände ein 
Zeichen der zunehmenden Degeneration unserer Zeit sind. Die 
Freude an allem Erotischen, die Naivität der Massen, die in 
einem obszönen Stück lieber einen guten Witz als einen An- 
griff auf die Öffentliche Sittlichkeit sehen und in der ver- 
schleierten Betonung alles Geschlechtlichen ihre eigentliche 
Genugtuung finden, bringen es mit sich, daß trotz der Polizei- 
fehme derartige Gegenstände immer von neuem auf den Markt 
gebracht werden. Р 
Kleinpaul hat in einer Untersuchung Ȇber das Strom- 
gebiet der Sprache« auf den geheimen erotischen Sinn hin- 
gewiesen, der beinahe jedem alltäglichen Wort zu Grunde liegt. 
Ähnlich könnte man auch in allen Gegenständen, die scheinbar 
ganz harmloser Natur sind, eine geheime sexuelle Bedeutung 
symbolisiert finden, sofern man nur die Phantasie rege arbeiten 
läßt. Eine Naturgeschichte der erotischen Kunst möchte ich 
an dieser Stelle zwar nicht geben, aber trotzdem an ein- 
zelnen Beispielen erläutern, wie ich mir das Zustandekommen 


“(sHapunyayef ‘ZI səp əpug) Zunis1z13Aj3999q зәцәвӊцозә иш ISOASYVAVLIANNHIS INYIIANN 


'Є1 әнә$ ENER 
sung ut Mo? a, 
zyesiny wap nz 








VOR- UND RÜCKSEITE EINER MODERNEN ZÜNDHOLZSCHACHTEL 
AUS ZINK, 


Zu dem Aufsatz Die Erotik im Kunstgewerbe«, Seite 13. 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 17 


erotischer Symbole denke. Aus den Funden von Pompeji, 
Nimes, Arles, Paris und anderswo kennen wir eine ganze 
Reihe von phallischen Bronzelampen, deren sich scheinbar die 
Römer mit besonderer Vorliebe bedient haben. Neben der 
Verwendung des Phallus und anderer religiöser Motive mag 
die Anspielung auf das Grobsexuelle gerade in der Verzierung 
der Lampen sich aus der intimen Mission dieser Gegenstände 
erklären lassen. Dienten doch die Lampen wie heute so auch 
früher immer zur Erleuchtung der stillen Gemächer, in denen 
sich das Liebesspiel zumeist vollzog, und waren demnach die 
unmittelbaren Zeugen des uralten Mysteriums, das am besten 
in die geheimnisvollen Schleier der Nacht gehüllt wird. Auch 
die Form der Lampen, die zumeist hufeisenförmig ist, dürfte 
man wohl kaum als zufällig bezeichnen; das Hufeisen gilt seit 
den erdenklichsten Zeiten als ein glückbringender Gegenstand, 
der überdies in seiner Form die weiblichen Genitalien nach- 
zuahmen scheint. Der gleiche erotische Sinn läßt sich bei 
näherem Zusehen in vielen anderen kunstgewerblichen Objekten 
finden, die im Verkehr üblich waren. Namentlich die Trink- 
gefäße, Becher, Pokale, Pulverhörner, Kaffeekannen, Tassen etc. 
ähneln bereits äußerlich durch ihre Form mehr oder minder 
dem Phallus bezw. den weiblichen Geschlechtsteilen, und 
reizten gerade dadurch, daß sie bei den festlichen Angelegen- 
heiten des Lebens, beim Trinken und Schmausen verwendet 
wurden, zur erotischen Ausschmückung; denn jedermann weiß, 
daß Trink- und Eßgelage nicht allzu selten mit einem Liebes- 
fest schließen. Das Jagdhorn mag wohl aus demselben Grunde, 
dann aber des Klanges wegen, der an den Brunstschrei der Tiere 
erinnert, mit den mannigfaltigsten obszönen Bildern und scherz- 
haften Aufschriften bedeckt worden sein. Eine andere Spezies, 
die sich bis heute erhalten hat, sind die erotisch gezierten 
Schnupftabaksdosen, die, um ein Beispiel zu geben, an der 
Außenfläche das Bild einer jungen, hübschen Falknerin zeigen, 
auf den Innenflächen dagegen die obszönsten Aktbilder auf- 
weisen. Es scheint mir nicht unwesentlich, daß gerade Schnupf- 
tabaksdosen mit derartigen Bildern geziert werden, denn das 
Schnupfen ist in erster Linie eine Domäne der alten Herren, 
denen solche handgreiflichen Stimulantien ganz erwünscht sein 
mögen. Auf dem Wege der Assoziation, daß ein Schnupfer für 
gewöhnlich ein bejahrter Mann sein dürfte, ist demnach der 
Geschlecht und Gesellschaft VIII, 1 2 


18 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Kunstarbeiter zur Verwendung der pornographischen Motive 
gelangt. Wie ausgedehnt diese Praxis im Laufe der Jahre 
wurde, beweist der Umstand, daß sich die „Dosenstücke“ zur 
Bezeichnung einer selbständigen Gattung der erotischen Literatur, 
der kleinen, scharf pointierten Skizzen obszönen Inhalts, aus- 
gebildet haben. Auf diese Weise läßt sich in den meisten 
kunstgewerblichen Gegenständen ein direkter Bezug zum Ge- 
schlechtlichen herausfinden, der von dem Volksinstinkt zumeist 
viel leichter erfaßt wird als von dem grübelnden Geistesarbeiter, 
der sich mit der Deutung solcher Gegenstände abgibt. 

Je kraftvoller und sinnlicher ein Zeitalter an sich ist, um 
so häufiger stoßen wir auf die Verwendung phallischer Motive 
an kunstgewerblichen Produkten, deren Beurteilung im Rahmen 
des gesamten Kunstschaffens solcher Zeitläufte vorgenommen 
werden muß. Ob zwar die Moderne an erotischen kunstgewerb- 
lichen Gegenständen nicht arm ist, zeigt sie bei weitem nicht 
jene Überfülle des Materials wie die vorhergehenden Epochen 
der Renaissance, des Barocks und teilweise des bürgerlichen 
Zeitalters. Daß das Mittelalter verhältnismäßig wenig an Klein- 
kunstwerken aufweist, ergibt sich aus dem allgemeinen Tief- 
stand der mittelalterlichen Kunst; jedoch finden sich auch hier 
vereinzelt Münzen, Ketten, Schlösser, Gürtel — man vergleiche 
den im Mittelalter beliebten Keuschheitsgürtel! — und zahlreiche 
Broschen aus Blei, die in ihrer Form unzweideutig die An- 
lehnung an das Sexuelle bekunden. Die meisten derartigen 
Gegenstände wurden auch als Amulette gegen den Einfluß 
der bösen Geister getragen, die sich nach mittelalterlichem 
Glauben durch die jungfräuliche Scham vertreiben ließen. Daß 
dem Phallus im Geheimen immer eine besondere fruchtbare 
und erlösende Kraft zugeschrieben wurde, beweist ja der Aber- 
glaube, der noch heute in den nördlichen und südlichen Zonen 
verbreitet ist und in dessen Mittelpunkt das begehrte Symbol 
der männlichen aktiven Kraft steht. Aus der Hölle des christ- 
lichen Mittelalters ist der antike Priap unverbrannt hervor- 
gegangen, nur hat dieser heidnische Gott der fleischlichen Liebe 
eine Gloriole bekommen und ist zu einem christlichen Heiligen 
erhoben worden. Der römische Tutunus oder Midinus und 
der heilige Cosimo der italienischen Bäuerinnen sind im letzten 
Grunde ein und dieselbe Person geblieben. Aber der Über- 
gang vom Mittelalter zur Neuzeit, an deren Schwelle die gigantische 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 19 


Periode der Renaissance steht, weist eine ungeheure Menge 
erotisch oder obszön verschleierter Gegenstände auf, die für 
den Alltagsgebrauch bestimmt waren; ja man kann sagen, daß 
alles und jedes, mit dem die Renaissance in Berührung trat, 
den sinnlichen Überschwang der damaligen Menschheit ma- 
nifestier. Angefangen von den Geräten, die auf den Tisch der 
Fürstlichkeiten und Bürger kamen, bis zu den Degen, Spiel- 
karten, Toilettegegenständen etc. war alles mit erotischen Motiven 
geziert. Häufiger noch begnügte man sich nicht mit der An- 
deutung, sondern zeigte die Dinge in ihrer ganzen brutalen 
Wirklichkeit. Zur Illustration des Ebengesagten genügen 
einzelne Beispiele, die wir aus der Fülle des überlieferten 
Materials herausgreifen. Brantöme erzählt von einem Prinzen, 
der einen köstlichen, von Benvenuto Cellini gefertigten Trink- 
becher besessen haben soll, der mit Gruppen nach Aretino 
und Giulio Romano geziert war. Der Prinz stellte ihn 
mit Vorliebe auf die Tafel, wenn Damen zugegen waren, 
oder er bot auch öfter seiner Partnerin einen Trunk aus dem 
merkwürdigen Pokal an. Brantöme berichtet nicht, daß die 
damaligen Damen an dem Vorgehen des Prinzen etwas An- 
stößiges gefunden hätten. Philipp von Burgund soll »eine 
schöne nackte Venus aus Gold sein Eigen genannt haben, die 
den Tischwein in eine Kanne p....« Harmloser war die 
Methode, wo der Tischwein aus den Brüsten eines jungen 
nackten Weibes perlte, und zwar aus der einen der rote, aus 
der andern der weiße. Ein kunstgewerbliches Meisterstück 
war auch der Holzschuherpokal, von Peter Flötner gefertigt 
und von dem bekannten Nürnberger Patrizier Holzschuher bei 
seinen Trinkfesten verwendet. Derlei Scherze waren auch in 
späteren Jahren durchaus nicht verpönt. Von Ludwig XIV. 
wird erzählt, daß er sich beim Spiel besonderer Karten bedient 
habe, die mit allerlei Akten von Bestialität, obszönen Stellungen 
verschiedener Tiere geschmückt waren. Ein Seitenstück zu den 
derben Sitten der Fürstlichkeiten war die Verwendung phallisch 
gezierter oder mit eindeutig erotischen Sprüchen bedeckter 
Geräte an der kleinbürgerlichen und bäurischen Tafel. Die 
meisten Produkte des Töpfers, Schüsseln, Teller, Krüge usw. 
wiesen zotige Sprüche oder auch derb realistische Bilder auf, 
die in irgend einer Beziehung zu der festlichen Gelegenheit 
standen, bei der sie verwendet wurden. Teller, die als Ge- 
2* 


20 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


schenk der Braut gegeben wurden und dementsprechend mit 
den kräftigsten Sprüchlein ausgestattet waren, sind auch heute 
auf dem Lande beliebt, ebenso wie es in manchen alten Bauern- 
häusern Truhen und Schränke mit gemalten Sprüchen gibt, die 
von einer unverblümten, humorvollen Erotik zeugen. Fuchs 
zählt aus einer oberfränkischen Sammlung eine ganze Anzahl 
derartiger Inschriften auf, die stellenweise ziemlich harmloser 
Natur sind: »Küss’ mich, ich drück’ dich«, »Zum Zeitvertreib 
nehm’ ich mir ein Weib« oder »Allerschönste Dorothee, sitzt 
im Bett und fangst die Flöh«e. Auch ein derberes Kaliber ist 
durchaus nicht verpönt: »So oft er will, halt ich ihm still« oder 
»Junge Weiber denken bei ihren Männern nur an das, was 
von ihnen der Kammertopf sieht« u.s.f. Von dem gleichen 
offenen Ausdruck sind die Inschriften, die auf den Tellern und 
Kammergeschirren angebracht waren, die man in bäuerlichen 
Kreisen von allen Seiten der Braut verehrte. Auch hiervon 
gibt Fuchs eine Anzahl gelungener Proben, deren Wiedergabe 
jedoch den Rahmen dieser Studie überschreiten würde. Es 
muß noch hinzugefügt werden, daß die neuzeitliche kunst- 
gewerbliche Erotik weniger in derlei Sprüchen arbeitet, sondern 
das Bild oder die plastische Gruppe bevorzugt. Jedermann 
wird gewiß Tabakspfeifen, Spazierstöcke, Ringe, Uhrschlüssel, 
Gabel, Messer, Löffel, Tafelaufsätze, Billardkugeln, Schlösser, 
Siegel etc. gesehen haben, die in irgend einer Weise mit 
realistischen Liebesszenen oder mit dem Symbol der Liebe 
geschmückt sind. Eine leise verhüllte Erotik ist im übrigen 
an vielen kunstgewerblichen Gegenständen der Moderne ange- 
bracht, ohne daß der Käufer eine Ahnung von den geheimnis- 
vollen Beziehungen erhält. Es gibt beispielsweise eine ganze 
Reihe hochmoderner Stockgriffe, die in ihrer Form nichts anderes 
als Phallen sind, wie überhaupt Stöcke ähnlich wie früher der Degen 
und die sonstigen Waffengattungen der Vortäuschung männ- 
licher Aktivität dienen. Weibliche Handtaschen in ihrer doppel- 
teiligen Anordnung, Broschenformen, überhaupt der größte Teil 
des weiblichen Schmuckes erinnern teilweise an den Phallus, 
teilweise an die weibliche Scham, was allerdings nur bei ein- 
gehender Beobachtung herauszufinden ist. 

Moll zählt in seinem Handbuch der Sexualwissenschaften 
die außereuropäischen Völker auf, die sich gewerbsmäßig mit 
der Herstellung derartiger pornographischer bezw. erotischer 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 21 


Gegenstände beschäftigen, und nennt an erster Stelle die 
Chinesen und Japaner, für deren Kunst sich der abendländische 
Kontinent in den letzten Jahrzehnten immer lebhafter zu inter- 
essieren beginnt. Die Japaner haben frühzeitig das erotische 
Element in der Kunst gepflegt, was ihre klassische Literatur 
beweist, und auch ihre Bilder wimmeln von erotischen Situa- 
tionen, die neben der charakteristischen Form und Farbe dem 
Gemälde die besondere pikante Note verleihen. Die japanische 
erotische Bildkunst, namentlich die Illustrationen der Hochzeits- 
bücher, die in früheren Jahren jungen Ehepaaren gegeben 
wurden, würde ein Kapitel für sich beanspruchen. Die Be- 
rührung Japans mit England und Amerika hat auch die Welt- 
anschauung dieses Volkes zum Teil umgeformt und neuen, 
prüderen Gesetzen Eingang in das Reich des Mikado ver- 
schafft. Zweifelsohne würden Werke von so unzweideutiger 
Erotik wie die Romane der Murasaki-Shikubu und die ausge- 
lassenen Skizzen der Sei-Shonagen heute nicht mehr mit jener 
allgemeinen Hochachtung begrüßt werden ‘wie in den Zeiten 
der Kaiserin Jotomonen und den darauffolgenden Jahrhunderten. 
Aber die Kleinkunst der Japaner zeigt erotische Motive noch 
in genügender Anzahl, und die Proben der Buxbaum- und 
Elfenbeinschnitzereien, die Moll in seinem ausgezeichneten 
Buch gibt, sprechen deutlicher als alles andere für die außer- 
ordentliche Verbreitung erotischer kunstgewerblicher Artikel 
auch im heutigen Japan. Neben größeren Figuren, die zu 
Gruppen beim Tanz und beim Musizieren vereinigt sind, und 
wobei unter der Kleidung der Körper bis in alle Einzelheiten 
durchgearbeitet is, wurden hauptsächlich in früheren Zeiten 
die sogenannten Netsuken zur Darstellung erotischer Figuren 
verwendet. Sie bildeten einen Teil des japanischen Kostüms 
und wurden in der Regel oberhalb des Gürtels getragen. 
Moll bringt auch Porzellanfiguren, die wertvolle Stücke alt- 
japanischer Kleinkunst darstellen und trotz des realistischen 
Inhalts nicht abstoßend obszön, sondern vielmehr ästhetisch 
wirken. Auch die Chinesen haben häufig erotische Motive in 
ihren kunstgewerblichen Erzeugnissen gebraucht. Eine Anzahl 
der zierlichsten Elfenbeinschnitzereien und farbigen Mosaik- 
tafeln, die als Ganzes genommen zu dem Entzückendsten ge- 
hören, was auf diesem Gebiete hervorgebracht wurde, zeigen 
Männlein und Weiblein in den verschiedenartigsten Umarmungen, 


22 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


wobei sich die nackten Körper mit ihren geschmeidigen Linien 
den phantastischen Ornamenten und farbigen Blattranken ganz 
wunderbar anpassen. Vielfach verwenden die Chinesen Serien- 
zeichnungen, die irgend ein erotisches Verhältnis bis in die 
extremsten Konsequenzen variieren und gleichzeitig Dokumente 
von sittengeschichtlicher Bedeutung darstellen. Eine Reihe ge- 
lungener erotischer Karrikaturen an kunstgewerblichen Gegen- 
ständen hat der Verfasser dieses in slavischen Gegenden, nament- 
lich an altböhmischer Majolika und böhmischer Glasmalerei be- 
obachtet. In den Kirchen kleiner Dörfer kann man: wiederholt 
auf Holzschnitzereien stoßen, die an Eindeutigkeit nichts zu 
wünschen übrig lassen. Kleine Vasenbilder aus Rußland und 
Nippfiguren, die kürzlich auf den Markt gebracht und inhibiert 
wurden, zeigten Nachbildung russischer Kosaken, die sich 
in intimer Umarmung mit weiblichen Figuren befanden, 
wobei die Dimensionen übergroß ausgearbeitet waren. Die- 
selben Figuren finden sich übrigens in russischer bäurischer 
Holzschnitzerei wieder. Interessant wäre auch eine Darstellung 
aller französischen Artikel des genannten Genres, die m. E. das 
Raffinierteste, aber auch Vollendetste auf diesem Gebiet dar- 
stellen. Namentlich in der farbigen Postkartenindustrie und 
in der erotischen Photographie sind die Franzosen uner- 
reichte Meister geblieben. Mit der zunehmenden Industrie- 
alisierung aller gewerblichen Betriebe sind die Handfertigkeiten 
immer mehr in den Hintergrund getreten, und damit ist auch, 
wie bereits gesagt, die urwüchsige derb-erotische Kleinkunst 
zurückgedrängt worden. Das luxusiöse und auf Raffinement 
berechnete Element, das der neuzeitlichen Kunst ihren extremen 
sinnlichen Stempel gibt, tritt auch hier wachsend zu Tage, 
ebenso wie in der modernen Literatur an Stelle der Zote seit 
kurzem die viel raffiniertere erotische Pointe getreten ist. Die 
Erotik ist eben wie ein roter Faden, der sich durch alle Zeiten 
und alle Kulturen gleichmäßig dahinzieht; Kunst und Kultur aber 
unter eine asketische Moral zu stellen, wäre gleichbedeutend, 
wie beide ihrer Lebensfähigkeit und ihrer besten Wirkungen zu 
berauben. 


SS 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 23 


ZUR PSYCHOLOGIE DER HOCHZEITSREISEN. 
Von LOTHAR EISEN. 

ie Entwicklung der modernen Kultur zu einem reinen Produkt 

des Kapitalismus hat es mit sich gebracht, daß die Ehe 
ihre hohe sozialethische Bedeutung, die sie auf der christlichen 
Basis erlangt hat, immermehr einbüßt und sich von den beiden 
Grundelementen der Moderne, Spekulation und Konvention, 
völlig abhängig zeigt. Ich habe bereits in einem früheren 
Aufsatz an anderer Stelle die Ehe als eine Industrie-Anstalt 
bezeichnet, die auf derselben Basis gegründet ist wie derlei 
Unternehmungen überhaupt und auf den höchsten erreichbaren 
materiellen Profit abzielt. Begreiflicherweise sind auch die 
Kapitel vor der ehelichen Verbindung, die Bräutigamszeit sowie 
die poetischen Flitterwochen, längst ihrer mystischen Herrlichkeit 
entkleidet worden, und was heute noch diesen beiden Perioden 
anhaftet, das ist der Zustand der dauernden moralischen Ver- 
logenheit, in dem Braut und Bräutigam einander begegnen. 
Unsere Mütter würden das nicht ertragen haben, aber die Enkel 
stehen unter dem Einfluß des gegenwärtigen alles nivellierenden 
Zeitgeistes, und dieser Einfluß ist fressend, zerstörend wie eine 
Säure, die über einen glänzenden Metallgegenstand gegossen 
wird. Allerdings weiß die jüngere Generation wie keine andere 
vorher den äußeren Schein zu wahren, und so kommt es, daß 
nie soviel praktische Bücher über die Ehe, Diskussionen des 
monogamen Prinzips, Ratschläge und Winke für junge Mütter etc. - 
in die Öffentlichkeit geschleudert wurden wie in unserer schreib- 
wütigen und lesehungrigen Zeit. Bedeutet nun die Ehe nicht mehr 
das Fest der endgültigen und restlosen Vereinigung zweier ver- 
wandter Individualitäten, so hat sich gleichwohl eine Reihe von 
Gebräuchen erhalten, die den holden Schein von einst gern vor- 
trügen möchten, und andere neue sind hinzugekommen, die 
vielleicht eine Auffrischung uralter natürlicher Instinkte bedeuten, 
heute aber ganz andere, das junge Ehepaar direkt schädigende 
Zwecke erfüllen. Von der langen Bräutigamszeit, die für die 
Mehrzahl der Verlobten nichts weniger als eine bittere Karenz- 
zeit bedeutet, und die in ihren verhängnisvollen Einflüssen be- 
reits früher an dieser Stelle gekennzeichnet worden ist, unter- 
scheidet sich das Stadium der Erfüllung lediglich durch den 
Akt vor dem Standesbeamten und die darauf folgende Hochzeits- 
reise, die unter den neuzeitlichen Zeremonien vielleicht als die 


24 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


wichtigste angesprochen werden muß. Die jungen Mädchen 
von heute verheiraten sich nicht mehr, um die Mysterien der 
Brautnacht und des in ihr erschlossenen neuen, bewußteren 
Lebens kennen zu lernen — das haben die aufgeklärten Kinder 
der Großstadt und die sittlich depravierten Kreise des Landes 
nicht mehr nötig — sondern sie wünschen zunächst eine standes- 
gemäße Versorgung und dann die Fortsetzung des Flirts, den 
sie mit ihrem künftigen Gatten begonnen hatten und in der 
Ehe mit andern Männern weiter führen. Ein Symptom dieses 
Flirtes, der Sucht nach immer neuen Sensationen, die geeignet 
sind, die Sinne aufzupeitschen, und eine Verbeugung vor den 
Exzentrizitäten der Mode ist die Hochzeitsreise. Wenn die Kopu- 
lation durch den Priester oder die zuständige Behörde vollzogen 
ist, schnürt das neuvermählte Paar seinen Koffer, löst ein Billet 
nach Paris und Venedig, und fort geht es mit dem ersten D-Zug 
in das gelobte Land der Mädchenträume, die in Wirklichkeit 
darauf gerichtet sind, wieviel neue Toiletten und Hüte das 
Männchen in Paris kaufen wird und was die lieben Freun- 
dinnen dazu sagen werden, wenn man nach drei Wochen in 
einem solchen Staat zurückkehrt. Die wenigsten der jungen 
Eheleute denken wohl daran, daß auch die Hochzeitsreise 
ursprünglich einem höheren geistigen Zweck gedient haben muß, 
und daß der Kern ein durchaus gesunder ist, wenngleich sie 
heute ein Spiel mit verfälschten Werten, kurz eine Farce, be- 
deutet. In der Hochzeitsreise nämlich lebt wieder jener Instinkt 
auf, der die Liebenden in zeitweilige Einsamkeit drängt, zur 
Hingabe aneinander, die durch keinerlei fremde Einflüsse be- 
einträchtigt ist. Schon in der Natur suchen Männchen und 
Weibchen, wenn sie den letzten Liebesakt zu vollziehen sich 
anschicken, irgend ein abgelegenes, unbewachtes Plätzchen auf, 
sie wählen eine Stunde, wo der Tag kaum im Erwachen be- 
griffen und lautlose Einsamkeit über alle Gegenstände gebreitet 
ist. Auch die primitiven Völker mochten gleichwie die späteren 
Kulturvölker, so weit sie sich nicht durch extremen Luxus und 
ein raffiniertes Genußleben unter das Tier herabwürdigten, in 
dem Liebesakt eine Handlung ersehen haben, die sie um jeden 
Preis vor der Profanation durch fremde Augen und Ohren 
schützten und die sie nur in einer geeigneten Stunde und in 
geeigneter Umgebung vollzogen. Das Bedürfnis der Liebenden, 
allein beieinander zu sein und das höchste Opfer der Liebe 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 25 


womöglich am schönsten Orte darzubringen, dürfte demnach 
das Primäre in dem Brauch der Hochzeitsreise gewesen sein. 

Ob die antiken Völker, deren vorbildliches Leben bis in 
die kleinsten Details uns überliefert ist, bereits die Hochzeits- 
reise gekannt haben, ist freilich nicht erwiesen. Allein gewisse 
symbolistische Ansätze dazu finden sich in den Märchen und 
Sagen der Vergangenheit, wo berichtet wird, daß Prinzen und 
Könige große Reisen machen mußten, um die Auserwählte 
ihres Herzens nach Hause zu bringen. Die Einholung des 
„Mädchens aus der Fremde“ durch Mittelspersonen, häufiger 
jedoch durch den Bewerber selbst, ist kein ledigliches Sagen- 
motiv geblieben, sondern das ganze Mittelalter hindurch bis in 
die jüngste Neuzeit hat die Werbung par distance und die 
darauf folgende Brautreise der Verlobten zurück in die Heimat 
im Leben der Völker eine wichtige Rolle gespielt. Hochzeits- 
reisen im eigentlichen Sinne sind erst um die Wende des 
18. Jahrhunderts gang und gäbe geworden und nahmen ihren 
Ursprung noch aus einer anderen als der bereits genannten 
Wurzel. Bekanntlich vollzog sich die Ehe in den Uranfängen 
der Kultur und auch noch bei einzelnen asiatischen und afri- 
kanischen Völkern der Jetztzeit auf der Basis des Raubes, 
indem der stärkere Mann das schwächere Weib bei günstiger 
Gelegenheit überwältigte und dann mit ihm in die Einsamkeit 
floh. In milderer Form hat sich der Frauenraub, von dem 
bereits die klassisch-römische Sage zu berichten weiß, bis in 
die Jetztzeit erhalten. Die Entführung, sei es nun die gewalt- 
same oder die mit Einverständnis beider Teile erfolgte, ist 
nichts als eine Wiederholung des bekannten uralten Prinzips, 
nur daß vielleicht der ganze Vorgang mit einer gewissen 
Romantik, ich möchte beinahe sagen, Affektation umgeben 
wurde. Das 18. Jahrhundert, namentlich gegen seinen Aus- 
klang hin, hatte besonders zahlreiche Entführungen aufzuweisen, 
ja, um in der fashionablen Hofgesellschaft zu bestehen, mußte 
jede Dame mindestens ein derartiges Erlebnis hinter sich haben. 
Selbstverständlich wurde dieser Brauch von der bürgerlichen 
Gesellschaft fleißig nachgeahmt, und die Entführungen resp. 
heimlichen Trauungen waren in diesen Kreisen nicht weniger 
verbreitet als unter den oberen Zehntausend. Die Institution 
des Schmiedes von Gretna-Green, dem die Kopulation flüch- 
tiger Paare oblag, mag heute für unsern Geschmack etwas 


26 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Lächerliches an sich haben. Dem Geist jener Zeit war sie 
völlig adäquat und das beste Ausdrucksmittel für die ver- 
schrobene Romantik der damaligen Gesellschaft. Vielleicht 
liegt dem heutigen Hochzeitsreisebrauch eine dunkle Erinnerung 
an die so beliebte Entführungsromantik zu Grunde, indem der 
Bräutigam seine Braut aus der Alltagsumgebung in andere 
romantisch-verklärte Gegenden führt. Es ist im übrigen nicht 
irrelevant, daß die deutschen jungen Paare mit besonderer 
Vorliebe nach Italien reisen. Italien ist ja das Land der 
klassischen Träume des Germanentums, die Sehnsucht und 
das Ziel ganzer Epochen gewesen, um dessentwillen Heere 
zusammengeschweißt und Kronen gestürzt wurden, und wenn 
heute noch ein Deutscher den Märchenboden nennen sollte, 
aus dem die blaue Blume der Romantik sprießt, so würde er 
unbedenklich sagen: Italien. In jüngster Zeit macht zwar Paris 
mit seinem Renommee von Lebenskunst und Raffinement 
Florenz, Venezien und der heiligen Roma ernste Konkurrenz; 
allein Italien ist noch immer das bevorzugte Land. 

Noch aus einer dritten psychologischen Wurzel läßt sich 
die Gewohnheit der Hochzeitsreise erklären, doch sind sich die 
reisenden Paare ihrer ebenso wenig bewußt wie der sonstigen 
Gründe, aus denen sie unbequeme Fahrten in die weite Welt 
einem angenehmen und traulichen Beisammensein zu Hause 
vorziehen. Es ist eine bekannte Tatsache, daß zur Zeit der 
sexuellen Überspannung viele Menschen sich dadurch Er- 
leichterung schaffen, daß sie Stunden und Tage lang im 
Freien herumwandern oder auch fremde, nie gesehene Orte 
besuchen. Mit dem unbefriedigten Paarungstrieb geht ein mehr 
oder minder intensiver Wandertrieb Hand in Hand, vielleicht 
auch aus dem Verlangen geboren, die Träume, die der dauernde 
Rauschzustand vorgaukelt, in eine lebendige farbensprühende 
Wirklichkeit zu übertragen; wiederum eine symbolistische 
Handlung, die im letzten Grunde auf Entspannung der auf- 
gehäuften sexuellen Energie hinarbeitet. Nehmen wir nun an, 
daß Mann und Weib, die sich nach längerer Wartezeit endlich 
zu einem Paare vereinigt haben, mit dieser Energie vollgeladen 
sind und dem instinktiven Wandertrieb nachgeben, der sich 
bei ihnen gleichzeitig meldet! Beide suchen nach dem besten 
Ausdrucksmittel für ihre zur Überfülle gesteigerten seelischen 
Erlebnisse und finden sie in der Einrichtung der — Hochzeits- 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 27 


reise. Von dem Standpunkt aus scheint die Hochzeitsreise 
weder ungerechtfertigt noch überflüssig, ja es haftet ihr eine 
gewisse romantische Verklärung an, so daß sie als der beste 
und ethisch wertvollste Teil der ganzen Hochzeitszeremonien 
betrachtet werden könnte. Leider sprechen hier so viel weitere 
Faktoren mit, die sehr unhygienischer und unästhetischer Art 
sind, daß die Hochzeitsreise bei allen medizinischen Autoritäten 
und auch bei einsichtigen Laien immermehr in Mißkredit ge- 
kommen ist. Zunächst wird sie, wie bereits erwähnt, zumeist 
aus Eitelkeitsgründen unternommen. Sie ist gleichsam das 
Paradestück, das die Jungverheirateten in ihre Ehe mitbringen, 
oft ein Paradestück, das von einer bedenklichen finanziellen 
Krisis begleitet wird. Denn so eine Reise kostet Geld, und 
gerade das ist in jungen Wirtschaften minderbemittelter Leute am 
wenigsten vorhanden. Aber eine Hochzeitsreise muß um jeden 
Preis gemacht werden. Dazu drängt der Bräutigam, die Braut, 
die Eltern, Tanten und sonstigen Verwandten, koste es, was 
es will, und sollte es auch auf Kosten der künftigen Bequem- 
lichkeit des neuen Heimes gehen. Was ist die Folge einer 
solchen Reise? Einzelne blendende Eindrücke, die nachträg- 
lich von den Gefühlen der Sorge und materiellen Bedrängung 
überwogen werden und die erste Gelegenheit zu einem Zer- 
würfnis zwischen den neu gebackenen Ehegatten bieten, so daß 
die Hochzeitsreise gerade das Gegenteil erreicht, was sie be- 
zweckte, nämlich das traute Beisammensein der Gatten zu 
fördern und die Befangenheit auf beiden Seiten nach Tunlich- 
keit zu beheben. Sind dagegen die Hochzeitsreisenden genügend 
mit finanziellen Mitteln versehen und wurde die Ehe nach den 
Grundsätzen kapitalistischer Kalkulation geschlossen, so fördert 
die Hochzeitsreise nicht nur nicht die geringe Sympathie der 
eben Angetrauten, sondern sie zerstört sie vollends durch die 
Wucht der zahlreichen neu einstürmenden Eindrücke und Aben- 
teuer, denen beide auf der Reise ausgesetzt sind. Daß der 
geschlechtliche Verkehr unter Umständen, wo das seelische 
Moment vollkommen fehlt, nichts weiter als eine Art ehelicher 
Prostitution ist, wird nach dem Gesagten niemand bestreiten 
wollen. Häufiger noch hat die mondaine Frau, die sich mit 
ihrem Gatten auf der Hochzeitsreise befindet, Gelegenheit, neue 
erfolgreiche Bekanntschaften anzuknüpfen, und so manches ille- 
gitime Verhältnis, das später Jahre der Ehe überdauert hat, 


28 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


wurde in den ersten Tagen der Flitterwochen angebahnt. Bei der 
modernen konventionellen Ehe ist die Hochzeitsreise überdies 
ein Kunstgriff, durch den sich die Gatten dem Urteil der Öffent- 
lichkeit entziehen. Es ist plausibler, wenn eine Disharmonie 
erst nach vier bis sechswöchentlichem Aufenthalt in Grado 
oder sonstwo an der Riviera zu Tage tritt, als wenn sie vom 
ersten Augenblick der Ehe an vorhanden wäre. 

Will man jedoch von allen den genannten Bedenken ab- 
sehen, so bleibt trotzdem noch der wichtigste Einwand bestehen, 
der sich gegen die Hochzeitsreise vorbringen läßt und der rein 
praktisch-hygienischer Natur ist. Mann und Weib haben sich 
in der Brautzeit seelisch kennen gelernt, aber erst nach der 
kirchlichen, bezw. standesamtlichen Trauung dürfen sie das 
letzte Ziel ihrer Wünsche, die körperliche Hingabe aneinander, 
erreichen. Statt nun in die Einsamkeit zu gehen und sich im 
Sinne der Natur an der gegenseitigen Schönheit zu freuen, 
schleppt der Mann die Frau auf eine mehr oder minder lange 
Reise, auf der sie allerlei anstrengenden Touren, Bergsteigen, 
Pflasterlaufen, Land- und Wasserfahrten, unbequemem Nacht- 
lager, Erkältungen etc. ausgesetzt ist und überdies die gehäuften 
Liebkosungen des jungen Gemahls, vielleicht Tag für Tag und 
Nacht für Nacht erdulden muß. Dazu kommen die Eindrücke 
von außen, die auf das ohnehin in seinem Gleichmaß erschütterte 
Gemüt der Frau einen gefährlichen Einfluß üben können und 
so häufig der Grund späterer Hysterie oder sonstiger Psychosen 
werden. Aber auch das körperliche Befinden leidet unsagbar 
unter der übermäßigen sexuellen Anstrengung und den mecha- 
nischen Beschwerden der Hochzeitsreise, derart, daß es zu Er- 
krankungen edler Organe und zu einer Störung des natürlichen 
Verlaufs der Konzeption kommen kann. Bockelmann hat kürz- 
lich in der Münchener medizinischen Wochenschrift über den 
Flitterwochenabort geschrieben, wo er dauernde sexuelle Über- 
reizung während der Verlobungszeit als häufigste Ursache des 
vorzeitigen Fruchtabgangs während der Flitterwochen annimmt. 
Durch die ständige Hyperämie des Unterleibes und der Sexual- 
organe komme es zu einer Art endometritischer Wucherung, 
die die Einbettung des Ovulums in der Schleimhaut der Gebär- 
mutter verhindere. Ohne die Berechtigung dieser Theorie be- 
streiten zu wollen, möchte ich trotzdem nach wie vor die 
Beschwerden der Hochzeitsreise und die Schädigungen des 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 29 


leiblichen Organismus, die eine solche mit sich zu bringen 
pflegt, als die erste wichtigere Ursache des Flitterwochenabortes 
ansehen. Abgesehen davon, daß die ständige psychische Auf- 
regung und auch die äußeren mechanischen Umstände auf der 
Hochzeitsreise eine eben eingetretene Schwangerschaft ungünstig 
beeinflussen, unterbricht oft der Mann infolge der maßlos aus- 
geübten Kohabitation, dem brutalen Angriff auf das unerfahrene 
Weib, die Gravidität, die kaum über das vorbereitende Stadium 
hinaus war. Selbstverständlich sind alle derartigen Fälle mit 
einer direkten Gefährdung der Gesundheit des weiblichen Teiles 
verbunden, und zahlreiche Gebärmutterentzündungen, Unterleibs- 
wucherungen, Sterilitätt und andere schwere Krankheiten in 
späterer Zeit sind auf die maßlosen sexuellen Übergriffe während 
der Hochzeitsreise zurückzuführen. Zur Illustrierung des eben 
Gesagten verweise ich auf Scanzoni, der die Schäden der über- 
mäßigen Beiwohnung ausführlich beschrieben hat und unter 
anderem auch über die Hochzeitsreise wie folgt urteilt: »Nach 
wochenlanger unbefriedigter geschlechtlicher Aufregung geben 
sich die nun unbewachten jungen Eheleute dem vollen Genusse 
der Liebe hin, die intensiven geschlechtlichen Erregungen unter- 
halten einen hohen Grad von Reizung und Hyperämie in den 
Genitalien des Weibes, und kommen nun noch hinzu die auch 
auf Reisen sich so häufig geltend machenden Einflüsse äußerer 
Schädlichkeiten, verbunden mit durch die Schamhaftigkeit der 
jungen Frau hervorgerufenen diätetischen Fehlern, so darf es 
nicht befremden, warum es so häufig geschieht, daß die gesund 
abgereiste Frau mit dem Keim einer Krankheit zurückkehrt, 
welche sie in der Folge nie völlig mehr los wird, die eine Quelle 
zahlreicher Beschwerden und namentlich einer unfruchtbaren 
Ehe abgibt.« Ein Fall dieser Art, der gerade in den letzten 
Tagen zu meiner Kenntnis gelangte, spricht am deutlichsten 
gegen den eben geschilderten Unfug, der mit den modernen 
Hochzeitsreisen verbunden ist. Ein junger Offizier befand sich 
mit seinem eben angtrauten reizenden Frauchen auf der Hochzeits- 
reise, die sie auf dem üblichen Wege über Dresden, Wien, Adels- 
berg und Triest nach Italien führte. Während der ersten drei 
Tage hatte er den ausgiebigsten Gebrauch von seinen ehelichen 
Rechten gemacht und die zarte, gebrechliche Frau in keiner 
Weise geschont. Am vierten Tage wurde sie plötzlich — vor- 
zeitig — von der Menstruation überrascht und hätte in diesem 


30 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Zustand unbedingt der größten Ruhe und Schonung bedurft. 
Allein das Ehepaar pflog nicht nur den sexuellen Verkehr 
weiter, sondern der Mann schleppte sie über allerlei Tanzböden, 
von Stadt zu Stadt, Museum zu Museum, bis sie schließlich in 
der Adelsberger Grotte ohnmächtig zusammenbrach. Die Folge 
war eine beiderseitige Lungenentzündung verbunden mit Bauch- 
fellentzündung, die schließlich zu einem tödlichen Ausgang führte. 
Schuld daran war die Hochzeitsreise mit ihren Aufregungen 
und der schonungslosen Ausnutzung des Zusammenseins, das 
durch den gewaltsam herbeigeführten Tod der jungen Frau 
leider ein frühes Ende erfahren sollte. 

Faßt man den Zweck, den die Hochzeitsreise erfüllen soll, 
richtig ins Auge, so wird er durch die heutige Praxis ge- 
fährdet, wenn nicht geradezu unmöglich gemacht. Mann und 
Weib sollen nach geschlossener Ehe das größte Geheimnis 
ihres Lebens aufdecken, den Traum zu Ende träumen, den sie 
in der Kindheit geahnt, als junge Mädchen gefürchtet und als 
Verlobte mit ganzem Herzen herbeigesehnt hatten. Gehört 
nicht dieser Traum in die stillen vier Wände des eigenen 
Heims, das man sorgfältig dazu vorbereitet hatte, in das man 
alles Schöne seit langem zusammentrug, von dem man hoffte, 
daß es das Zusammenleben schöner und reizvoller gestalten 
würde? Die Liebe ist eine so mimosenhafte Pflanze, daß sie 
der zärtlichsten und sorgfältigsten Wartung bedarf, die leicht 
durch das Überhandnehmen fremder Einflüsse zerstört wird und, 
wenn sie einmal einen Riß bekommen, nicht wieder in ihrer 
einstigen strahlenden Gänze ersteht. Wo aber könnten Mann 
und Weib einander so restlos begreifen lernen als in der intimen 
Behausung, wo alles auf den harmonischen Einklang, das Milieu 
auf die Menschen — und vor allem auf sie allein — abgestimmt 
ist? Die kapitalistische Kultur, die aus der ehelichen Verbindung 
zweier Menschen ein Auseinanderfliehen beider Teile gemacht 
hat, diese streng egoistische Kultur hat für den Traum der 
Flitterwochen das traurige Surrogat der Hochzeitsreise erfunden. 
Das ist aber der beste Weg, auf dem sich zwei Menschen, 
die sich bis dahin teuer waren, mit Sicherheit — verlieren können. 


SS 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 31 


DIE KINDHEIT ALS QUELLGEBIET PERVERSER 


NEIGUNGEN. 
Von Dr. тей. J}. MARCINOWSKI.*) 


ir haben im Leben des Erwachsenen eine Unzahl von 
Verkehrtheiten des Liebeslebens zu beklagen, die wir zu 

den krankhaften Erscheinungen zählen müssen. Alle diese 
haben ihre Wurzeln in dem kindlichen Erleben mit seiner gegen- 
über dem des Erwachsenen gesteigerten Eindrucksfähigkeit. 
Es widerstrebt mir aber, die außerordentliche Vielseitigkeit 

in der Möglichkeit sinnlicher Lustgewinnung deswegen schon 
als »universell oder polymorph pervers« zu bezeichnen, weil 
die Perversionen des Geschlechtslebens in ihr ihre Wurzeln 
haben. Unsere Kinder sind zwar sämtlich polymorph erotisch, 
und manche bleiben es auch, aber sie sind nicht pervers und 
noch lange keine verkappten Sadisten und Lustmörder, weil 
ihre Träume und Phantasien oft von so blutrünstiger Natur sind. 
Ich habe schon wiederholt darauf hingewiesen‘), daß es 
eine mißbräuchliche Verwendung technischer Ausdrücke sei, 
wenn man Begriffe wie: Sadismus, Homosexualität und der- 
gleichen verallgemeinernd auch auf die leisen Andeutungen 
solcher Züge in der Breite des Gesunden überträgt. So wichtig 
es war, daß wir die große Mannigfaltigkeit in den Möglich- 
keiten der kindlichen Lustbeziehung nachwiesen, und daß wir 
in dem Kindesleben von uns allen die Wurzeln erkennen, 
aus denen heraus durch einseitige Festlegung auf einen Teil- 
trieb eine echte Perversion herauswächst, so wenig dürfen wir 
jene Ausdrücke schon da gebrauchen, wo sich irgendein Herren- 
gelüst einmal mit lockeren Handgelenken verbindet, so wenig 
geht es an, schon jeden gehorsam artigen Knaben als eine 
Verdichtung masochistischer Unterordnungslust und pervers 
homosexueller Verleugnung männlichen Charakters aufzufassen. 
Warum die Menschen mit solchen großen Worten unnötig 
erschrecken? Homosexualität ist doch kein berechtigter Aus- 
druck für all die Fülle noch unentschiedenen Liebessuchens 
im Kinde und im hierin oft noch Kind gebliebenen Erwachsenen. 
Es ist die unentschiedene Gefühlseinstellung, die geschlecht- 


*) Aus »Der Mut zu sich selbst«. Das Seelenleben der Nervösen und 
seine Heilung. Von Dr. med. J. Marcinowski. Verlag von Otto Salle, Berlin. 
1) Vgl. Zentralblatt für Psychonanalyse 1912, Heft 9, Seite 541/2. 


32 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


liche Unterschiede noch gar nicht kennt; es ist die Vielseitigkeit 
in der Möglichkeit der Lustbeziehungen, aber noch keine 
Homosexualität. Das Wort hat erst da Berechtigung und Sinn, 
wo eine einseitig starre Festlegung auf gleichgeschlechtliche 
Liebesziele stattgefunden hat. Dazu gehört die gleichzeitige 
Ablehnung der gesunden andersgeschlechtlichen Ziele. 


Aber andrerseits ist es auch nicht zu verkennen, daß hier 
die Richtungslinien zu sehen sind, auf denen ein extremer 
Charakterzug sich zu jenen Verzerrungen des Natürlichen hin 
entwickelt; aber es geht denn doch nicht an, jeden Wesenszug 
in unserer Persönlichkeit nach seinen krankhaften Über- 
treibungen zu benennen. Dadurch stempeln wir sehr berechtigte 
Teile unseres Charakters zu etwas Unerlaubtem und zum 
mindesten Unerwünschtem und Krankhaftem, und verfallen 
damit nur in den umgekehrten Fehler wie der Moralist, der 
Sinnlichkeit als Unzucht bezeichnet und Kinderdummheiten als 
Laster. Der Arzt soll aber befreiend und nicht einschüchternd 
wirken: und wenn er auch nicht schönfärben darf, so ist es 
doch gottlob ebenso unrichtig wie unpraktisch, die Patienten 
mit solchen unangebrachten Ausdrücken zu erschrecken. 


Sorgen wir lieber dafür, das ein klares Erkennen für die 
Entwicklungsgesetze krankhafter Gefühlstöne angebahnt werde, 
damit wir die Entwicklung von Unerwünschtem besser in die 
Hand bekommen. Denn das steht fest, die begleitenden Um- 
stände, unter denen ein Kind seine ersten sinnlichen Em- 
pfindungen bewußt empfing, die bleiben ihm für alle Zeit als 
feste Norm bestehen, und nichts wird seine erotische Erreg- 
barkeit in Zukunft stärker wachrufen, als das, was den Inhalt 
dieser Nebenumstände ausmachte?). 


Der Säugling verankert sein Glücksempfinden mit hoch- 
busigen Frauengestalten; das Kind lernt an seinen Eltern 
Frauen und Männer lieben; beim Erwachsenen meldet sich, 
gern Gleiches mit Gleichem vergeltend, die leise Erinnerung 
an die Liebkosungen der Hausmägde, und von Geschwistern 
und Gespielen her bleibt uns die Liebe zu Kindern eine lust- 
betonte Beziehung. Einen Schritt weiter: dies Erinnern läßt 


2) Vgl. Marcinowski: Krankhafte Richtungen des Geschlechtstriebes. 
Vortrag im Flugblatt des Volksbundes zur Bekämpfung des Schmutzes in 
Wort und Bild. 


"EI 3935 >эәдләмә3увипу ш} {ңолд at, zeen шәр п7 


Споуу Зипүшшес) 2101 Ing (aan ш Paszyuyosupquayg “NTI4V.L 3HOISISINIHD 





ZUCKERSCHERE UND STOCKGRIFF, 


aus Bein geschnitzt. 


SCHNUPFTABAKSDOSENDECKEL. 1830. 


Zu dem Aufsatz Die Erotik im Kunstgewerbe:, Seite 13. 





GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 33 


den erotischen Trieb die Grenze des Unbewußten mit der 
Wucht einer Zwangserscheinung durchbrechen, und dann sind 
wir mitten im sogenannten Laster und im Perversen. Und 
wieder ist es die gespaltene Bewußtheit, die im gelockerten 
Gefüge Teiltriebe zu unerwünschter Eigenbetätigung gelangen 
läßt. Das Gesunde wächst über all das hinweg, erst Hunger 
und Konfliktslagen lassen uns auf die ersten Formen der kind- 
lichen Lustbeziehungen zurückgreifen. So drängt erzwungene 
Enthaltsamkeit zur kindlichen Betätigungsform zurück, und der 
Kranke ist seinerseits auf ihr sitzen geblieben, wenn sie auch 
oft nur als geheime, uneingestandene Neigung besteht, die 
sich nur da und dort flüchtig andeutet oder sich nur im Traume 
hervorwagt. Immer bleibt aber das erste bewußte erotische 
Erleben für die ganze Richtung von einem stark bestimmenden 
Einfluß. 

Das geht so weit, daß selbst einzelne Körperteile und 
Gegenstände, wie Fuß, Höschen, Schuhe und dergleichen zum 
Träger der Lust am Ganzen werden, zum Fetisch, zur Be- 
dingung erotischer Erregbarkeit, zum Merkmal des erregenden 
Typus, vom winzigen Zug bis zur ganzen Persönlichkeit in 
allen Abstufungen lebendig. Doch bleiben wir beim Alltäglichen. 

Ein Knabe, der von einer armen, erotisch bis zur Tollheit 
verhungerten Erzieherin verführt wurde und dabei zum ersten Male 
bewußt sinnlich empfand, er wird für sein Lebtag dadurch gefeit 
sein gegen alle homosexuellen Gelüste. Ein Bube aber, den seine 
älteren Schulkameraden in demselben Sinne auf dem Gewissen 
haben, wird ebenso sicher, wenigstens in der Phantasie, mit ihnen 
zu kämpfen haben. Und wenn er später durch irgendwelche 
Verhältnisse so hungrig wurde, wie die arme Erzieherin, von 
der ich sprach, so werden ihm seine Sinne Knaben vorzaubern 
von der Art und dem Alter, wie die Begleiter seines ersten 
Sexualerlebens waren. Die ersten Eindrücke bleiben eben oft 
maßgebend, auch wenn sie dem gewöhnlichen Hang der Natur 
zuwiderlaufen. Sie bilden zum mindesten einen Einschlag in 
das Gewebe naturgewollter Lebensformen. 

Übrigens, ein gewisses Maß von Sinnenfreude am eigenen 
Geschlecht haben wir alle, denn wir machen sämtlich während 
der Entwicklungsjahre eine Periode gleichgeschlechtlicher Zärt- 
lichkeitsbeziehungen naturgemäß durch. — Sie ist vermutlich 


auch wieder ein Erinnerungsrest aus tausendjährigem Gebrauch- 
Geschlecht und Gesellschaft VIII, 1. 3 


34 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


tum, überwachsen und in ein jugendlicheres Alter zurück- 
gesunken, wie wir das ja allenthalben finden. Männerwerk der 
Vorzeit wird zum Knabenspiele der Gegenwart, alte heilige Ge- 
bräuche und Kultgeräte zum Spielzeug. 

Über die ganze Erde verteilt finden wir bei den primitiven 
Völkern die jungen unverheirateten Männer abgesondert und 
gemeinsam wohnend, und in dieser Abgeschlossenheit häufig 
gleichgeschlechtlicher Sinnenlust fröhnend. Den Männerbünden 
entspricht das Zusammenhocken in Frauengemeinschaften. Da- 
von besitzen wir auch bei uns noch deutliche Reste, die Spinn- 
stuben und das Zusammenrotten der männlichen Dorfjugend. 
Ich muß mich hier mit Andeutungen begnügen. Die Haupt- 
sache ist ja, daß wir überall den Anstoß empfangen, in unserer 
überlieferungsarmen Zeit den Sinn für kulturgeschichtliche 
Zusammenhänge zu wecken und die entwicklungsgeschichtlichen 
Bedingtheiten rätselvoller Erscheinungen aufzusuchen. 

Tatsache ist, daß in diesem gleichgeschlechtlichen Zusammen- 
leben eine abenteuerliche Fülle von sinnlichen Verirrungen Platz 
griff, die wir nur nicht als unmoralisch werten dürfen, denn dem 
primitiven Menschen ist Sinnenlust jeder Art etwas ganz harm- 
los Vergnügliches, wie auch unseren Kindern. Erst mit dem 
Wissen um die Zeugungsvorgänge und mit dem bewußten 
Zeugungswillen, der uns innewohnt, wächst das alles ins 
Gebiet des Sittlichen hinein. Vergessen wir auch bitte nicht, 
daß in der Reihe der höheren Säugetiere die menschenähnlichen 
Geschöpfe von ganz anderen Gesetzen des Triebverlangens be- 
herrscht werden, als die übrigen Tierarten. Diese kennen 
einen Geschlechtstrieb nur zur Zeit der Brunst; der Hengst nur, 
wenn die Stute rossig ist, der Hund nur, wenn die Hündin 
läufig, also wenn die Weibchen in der Periode des Blutflusses 
sind. Das ist im besten Falle zweimal im Jahre; in der übrigen 
Zeit schweigt das Begattungsverlangen. Bei den Menschen- 
arten aber schwankt die Brunst in so kurzen Perioden auf und 
nieder, daß der Trieb überhaupt nie ganz zur Ruhe kommt. 
Übrigens hat das erst unsere heutigen kulturellen Verhältnisse 
ermöglicht. Der Trieb wurde dadurch zahmer und flacher. 
Man stelle sich unsere gesellschaftlichen Verhältnisse vor, wenn 
alle Herbst und Frühjahr ein kurzer, aber um so gewaltigerer 
Trieb über die Menschheit käme. Der tollste Fasching müßte 
ja ein Ideal von Sittsamkeit dagegen bleiben und Verhältnisse 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 35 


wären unvermeidlich, die nach unseren heutigen Begriffen als 
tierische Roheit gelten. 

Schließlich, alle Gesellschaftsbildung hat nur den Sinn, den 
wirtschaftlichen Geltungsbereich des Einzelnen und der Gemein- 
schaft abzugrenzen und die geschlechtlichen Beziehungen in ihr 
zu regeln, d. h. Hunger und Liebe in künstliche, machtdiktierte 
Gesetze zu zwängen. Wie das alles früher einmal geworden 
ist, das spiegelt die Entwicklung des Kindes eben wieder. 
Darum haben wir neben manchem anderen auch die Periode 
der Hordenbildung und der Knabenfreundschaften, in der der 
Junge auf alles Weibliche mit einer gewissen Verachtung herab- 
blickt; selbst Mutter und Schwester sind ihm mehr geduldete 
Größen, und ihnen bei ausgesprochen weiblichen Verrichtungen 
hilfreich zur Hand zu gehen oder gar Pakete zu tragen, gilt in 
dieser Zeit als ein Schimpf und gegen die Ehre. 

Die alten griechischen Philosophen hatten sich solche 
Neigungen für die ungescheute Betätigung ihrer sinnlichen Aus- 
wüchse so zurecht gelegt, daß selbst in dieser anscheinend 
doch unverkennbaren Unnatur etwas Naturgewolltes liegen 
solle. Sie faßten diese Neigung als eine Schutzmaßregel des 
Geschlechtsinstinktes auf, die zu verhüten bestimmt war, daß 
Kinder eher gezeugt wurden, als bis die jugendlichen Körper 
zu einer Reife gelangt waren, die kraftvolle Kinder gewährleisten 
konnte. Dem gleichen Zwecke dient vielleicht auch die allen 
Menschen gemeinsame Periode spielerischer Selbstbefriedigung. 
Der erwachende Trieb tobt sich am eigenen Körper aus, statt 
sich, bar der Hemmungen des erwachsenen Menschen, auf andere 
zu stürzen, was er sonst sicher tun würde, wie wir aus dem 
Seelenleben des Kindes wohl nicht allzu kühn schließen dürfen. 

Im gleichen Sinne scheint mir auch jene hochidealisierte 
Art jugendlicher Liebesverirrung von der Natur gewollt zu sein, 
die man so etwas spöttisch als Sekundanerliebe bezeichnet. 
Wollte man einem solchen Jüngling zumuten, daß er der Ge- 
liebten mit einem feurigen Kusse statt mit schlechten Versen 
nahe, er würde das als tötliche Beleidigung der Angebeteten 
mit der gleichen Entrüstung zurückweisen, als hätte er einen 
Kollegen vor sich, der Psychoanalyse zu treiben wagt. 

Ausgeprägter und ich möchte sagen naiver liegen die 
gleichgeschlechtlichen Verhältnisse beim weiblichen Geschlecht, 
mit seinem ewigen Geknutsche und seinen Küssen, mit seinen 

3° 


36 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Backfischfreundschaften und eifersuchtsvollen Schwärmereien 
für Lehrerinnen und dergleichen. Übrigens, da wir den 
Mädchen gegenüber hierin nachsichtiger fühlen und ihre gegen- 
seitigen Zärtlichkeiten nicht in dem Maße als unnatürlich 
empfinden, so erhält sich die Möglichkeit, das Liebesbedürfnis 
am eigenen Geschlecht zu sättigen, beim Weibe leichter und 
weiter ins spätere Leben hinein als beim Mann. Das alles 
aber ist keine Perversion, ist durchaus nicht ausgesprochene 
Homosexualität. Beides wird das erst in seinen äußersten 
Übertreibungen bis zur Unfähigkeit, Liebe für das andere Ge- 
schlecht zu empfinden, und bis zu jenen verkehrten Gefühls- 
einstellungen, bei denen sich die Frau als Mann und der Mann 
als Frau empfindet und gebärdet. 

Leugnen läßt sich allerdings nicht, daß durch unser ganzes 
Wesen, oder wenigstens doch bei einer so großen Zahl von 
Menschen Anklänge an solche, ich möchte sagen Charakter- 
verwechslungen vorliegen, daß man unsere seelische Verfassung 
mit Recht als eine »bisexuelle« bezeichnet hat, also als eine 
doppelgeschlechtliche in dem Sinne, daß nicht nur unbegrenzte 
Möglichkeiten geschlechtlichen Lustgewinnes nach beiden Seiten 
hin für uns vorliegen, sondern daß auch in unserm ganzen 
Wesen eine Art Mischung von weiblichen und männlichen 
Zügen zutage tritt, die sich bis auf die körperlichen Eigenheiten 
ausdehnt und sich gelegentlich auch in ihnen deutlich ausprägt. 
Es ist hier nicht der Platz, dies ausführlich darzulegen, aber 
ich kann mich auch wohl mit dem Hinweis begnügen, daß 
jeder von uns Mannweiber und weibische Männer kennt, wenn 
auch vielleicht nur aus der hierin sehr ergiebigen Literatur- 
quelle unserer Witzblätter. 

Was dort in komischen Formen geschildert wird, hat aber 
in irgendeinem Mischungsverhältnis mehr oder weniger für 
jeden von uns Geltung, und darin prägt sich nicht bloß die 
Eigenart unserer Charaktermischung und unserer Lebensführung 
aus — das sind ja nur die äußersten Spitzen — es tritt viel- 
mehr in seinem eigentlichen Wesen noch viel deutlicher zutage, 
wenn wir an der Hand unserer Traumbilder das unterirdische 
Leben unserer außerbewußten Vorstellungen durchforschen. 

Das Seelenleben der Nervösen mit seinem größeren Kon- 
fliktsreichtum läßt das natürlich auch in entsprechend reicherem 
Maße erkennen. Ja, es gibt eigentlich kaum einen Fall, bei 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 37 


dem man tiefer eindringend nicht auf Vorstellungsgruppen 
dieser Art stieße. Sie übersehen wollen, wäre nicht nur kurz- 
sichtig, sondern auch unpsychologisch, denn die Heilung einer 
Neurose hängt ja davon ab, daß all ihre unbewußten Konflikt- 
. stellungen in bewußte verwandelt werden, als die allein sie zu 
gesunder Entscheidung gebracht werden können. Gerade des- 
wegen müssen wir ja die Erotik des Kindeslebens so sorgsam 
studieren, weil diese Forderung auf das Aufdecken der Ent- 
wicklungsgeschichte der ganzen Neurose und ihrer einzelnen 
Symptome herauskommt. 

Bei der Tatsache der Zweigeschlechtlichkeit unserer 
seelischen Anlage — übrigens auch unserer körperlichen im 
Embryo — muß ich darum so lange verweilen, weil sie sich 
trotz aller Offensichtlichkeit doch der Erkenntnis im Einzelnen 
oft ungewöhnlich stark entzieht, ja ich möchte sagen wider- 
setzt; d. h. die gleichgeschlechtlichen Neigungen unserer noch 
in allen erotischen Triebrichtungen so gänzlich unentschiedenen 
Kinderzeit pflegen wir sehr früh und mit besonderer Wucht 
ins Hinterbewußte zu verdrängen. Die Gründe hierfür sind 
uns noch sehr unklar. Ich möchte glauben, daß sie vor allem 
beim Knaben — die Mädchen haben das der Mutter gegen- 
über weniger nötig — in der Ehrfurcht vor der überragenden 
Gestalt des Vaters liegen, die uns scheu zurückbeben läßt und 
sinnliche Regungen im Keime erstickt. . Aber wie alles Ver- 
drängte, bleibt es eben vom Hinterbewußten her wirksam und 
bedingt von dort aus unsere Handlungen und unsere Neigungen. 
Ich beschränke mich auf diese Darstellung, weil die unendliche 
Fülle der Traumbilder nicht viel Neues dazu zu sagen hätte. 
Nur für jeden Fall ein Bild: 

Sie war mittlerweile ein altes Mädchen geworden,’und eine 
tiefe Niedergeschlagenheit begleitete den allmählichen Verzicht 
auf eigenes Liebesglück, namentlich nachdem ihre geliebte Mutter 
gestorben war, an der sie von Kindheit auf mit ungewöhnlicher 
Zärtlichkeit gehangen hatte, während ihr Herz den Vater stets 
ablehnte. Ihre inneren Konflikte enthüllte sie mir in folgendem 
Traum: »Wir waren auf einer schönen Reise nach Italien, dem 
gelobten Land der Sinnenfreude und der Hochzeitsreisen. 
(Symptomhandlungen nennt Freud solche unbewußten Scherze. 
Gerade diese Reise hat nämlich eine merkwürdige Ideenver- 
bindung zum Geschlechtlichen, sie führt gen Italien, d. h. zu 


38 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


den Gen-italien) Die Mutter lebte wieder, und wir fuhren 
zusammen nach Mailand, besuchten dort eine liebe Freundin 
und berieten, ob wir nicht bei ihr wohnen bleiben sollten. 
Auch meine Nichte war da, die sehr schönes blondes Haar hat. 
Die Freundin wühlte ihr mit sichtlichem Wohlbehagen in den 
Наагеп.« — So weit dieser Traum — er hatte natürlich noch 
mancherlei Geschwister. Er sagte mir deutlich: »Laßt mich 
mit den Männern zufrieden; das Weib ist mir alles, ist mir 
Mutter, Lebensgenosse (Freundin) und Kind. Das ist's, was 
ich mir erträumte!« 

Das führte zum vollen Verstehen ihrer seelischen Eigenari 
und ihrer Schwierigkeiten im Leben. Nie war sie verliebt ge- 
wesen, und ihren Vater hatte sie nicht gemocht, seinen Tod 
als Erlösung empfunden. Mutter und Schwester waren ihr 
voller Ersatz. Später, nachdem sich ihr die Schwester durch 
Heirat entzogen hatte, trat an deren Stelle die Nichte mit dem 
schönen blonden Haar. Den Gedanken an Heirat fand sie 
»unappetitlich«. 

Das ist übrigens so bezeichnend für gleichgeschlechtliche 
Gefühlseinstellungen, daß wir ohne weiteres auf sie zu schließen 
haben, wenn uns irgendwo in der Neurose Ekel und Wider- 
wille dem anderen Geschlecht gegenüber entgegentritt. Es ist 
im Grunde derselbe Widerwille, den der Gesunde bei dem 
Gedanken an eine gleichgeschlechtliche Betätigung empfindet, 
nur hat der ihn meist nicht nötig zu äußern; denn an ihn 
treten nur ganz selten Wünsche heran, die ihn in Zwiespalt 
mit dem eigenen Empfinden versetzen. 

Weiter: ein anderes Bild. Als kleines Mädchen hatte sie 
mit einer Spielgenossin wilde und heimliche Umarmungen 
getauscht, aber stets hatte sie dabei in Gedanken und in ihrer 
Körperhaltung den Mann gespielt. Durch alle ihre Phantasien 
und Träume zog sich das auch später hindurch, und als sie 
heiratete, war sie trotz aller Leidenschaftlichkeit nicht fähig, am 
Manne Liebe zu empfinden. Eine schwere Herzneurose brachte 
sie zu mir, denn jede Erregung ihrer Sinne führte seit vielen 
Jahren nur zu Herzklopfen, aber niemals zu ersehnter Lust. 
Und da sie stets unbefriedigt blieb, blieben ihre Sinne immer 
hungrig, und stets kam das arme Herz durch die fast immer 
wache und doch so vergebliche Erregtheit nie zur Ruhe. Ver- 
gebliche Sinneserregung, das Erzwingenwollen des erlösenden 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 39 


Höhepunktes im Empfinden führt ja allemal zu wüsten Un- 
ordnungen der Herztätigkeit. Hier möchte ich einschalten, daß 
die sogenannte Gefühlskälte des Weibes, an der so viele ehe- 
liche Gemeinschaften kranken und zugrunde gehen, nicht nur 
der Ausdruck dafür ist, daß dem Weibe eben der rechte Mann 
fehlt — die erotische Erregbarkeit ist ja nicht nur an gleich- 
und andersgeschlechtliche Gefühlseinstellungen geknüpft, sondern 
auch durch körperliche und seelische Eigenarten bis ins Feinste 
hinein bedingt. Die Gefühlskälte ist vielmehr sehr oft nur eine 
Strafe für kindlichen Mißbrauch der Genitalien. Die Wahl 
des Gatten ist also meist nicht anzuschuldigen. Daß Männer 
zeugungsunfähig werden, weil sie die Vorstellung in sich tragen, 
sie hätten ihr Glied in kindlichem Unverstand »ruiniert«, ist 
bekannt. Das starke Unglücksgefühl des schwächlichen Gatten 
ist nicht zum kleinsten Teil durch die Gedanken der selbst- 
verschuldeten, also der verdienten Strafe bedingt. Aber, daß 
dieser Gedankengang auch für Frauen zutrifft, ist nicht be- 
kannt genug. 

Ich behandelte eine Kranke, die durch ihre Gefühlsunfähig- 
keit Höllenqualen litt, denn ihr drohte dadurch der Verlust des 
geliebten Mannes. Sie hatte Tag und Nacht keinen anderen 
Gedanken, und je wilder sie Liebesfülle zu erzwingen ver- 
suchte, desto weniger konnte ihr Erfüllung werden, wie immer 
der heftige Wunsch so ziemlich das stärkste Hindernis zum 
Erreichen 151%). Man hatte mittels elektrischer Ströme fest- 
gestellt, daß die Gegend des Kitzlers gänzlich unerregbar sei (!) 
— nun war das Unglück da, die Lähmung offiziell! Die psycho- 
logische Auffassung führte gottlob zu anderen Ergebnissen. 

Das wilde Kind hatte seinen erwachenden Trieb an allen 
möglichen Gegenständen zu sättigen gesucht; auch harte waren 
dabei gewesen, an denen sie sich den Kitzler oft schmerzhaft 
gedrückt hatte. »O Gott, hast du dir auch nichts damit entzwei 
gemacht!«e — Nach dem, was wir von den Fähigkeiten des 
ideoplastischen Vermögens kennen gelernt haben, brauche ich 
wohl diesem Ausruf nichts mehr hinzuzufügen. Die hysterische 
Gefühlsabsperrung als Strafe ist doch recht offenkundig. Therapie: 
Analyse und Aufklärung; probatum est! 

Auch bei den Klagen unserer zweiten Patientin war »Ekel« 


®) Vgl. Marcinowski: Nervosität und Weltanschauung Kap. IV. 


40 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


das dritte Wort. Auch hier die Fixierung einer kindlichen Ge- 
fühlseinstellung fürs Leben, aber keine echte Perversion, sondern 
nur eine phantastische Nachahmung mit der Möglichkeit des 
Nachentwickelns gesunder Triebe, also der Heilung: kenntlich 
daran, daß im Unbewußten Träume echt weiblichen Inhalts 
lebten. In einem derselben deutet sich die spätere Entwick- 
lung männlichen Gebahrens allerdings schon an, während die 
ganze Traumlage noch typisch weiblich zu nennen war. Sie 
hatte mit vier Jahren, also als ganz kleines Mädelchen, geträumt, 
sie könne fliegen und schwebte zu einem »runden Dachfenster« 
hinaus in einen Garten. Wie sie sich aber zur Erde hernieder- 
lassen wollte, da stand ein »wilder Mann« aufrecht zwischen 
den »Büschen« und hielt ihr ein »blankes Messer« entgegen. 
»Angstvoll« versuchte sie, mit den kleinen Flügelchen die Höhe 
zu gewinnen, aber immer wieder kam sie auf das Messer herab. 
So deutlich war der Traum, daß sie ihn nach fast 30 Jahren 
noch genau wußte. Nun, Gebäude sind Körper mit Öffnungen 
und Fenstern. Der Weg des kleinen Engleins führt also aus 
der Geschlechtsöffnung des Mutterleibes auf den ragenden 
Phallus des Vaters im Gebüsch der Schamhaare, der wie eine 
allegorische Figur durch das Attribut des blitzenden Dolches 
unverkennbar gekennzeichnet war. Auf und nieder schwebte 
das Englein, sehr rhythmisch nachahmend, was es in irgend- 
einer ähnlichen Lage erlauscht haben mag. 

Aber nun beachte man, wie diese Lage beschaffen war. 
Von unten her ragte ihr das männliche Prinzip entgegen, in 
Umkehrung der gewöhnlichen Verhältnisse, und als das Mädchen 
einige Jahre darauf an der kleinen Spielgefährtin die erste Lust 
suchte und fand, da spielte sie immer noch in ihrer ganzen 
Haltung den Mann und hielt das Mägdlein unter sich fest. So 
wachsen die Formen unseres Liebeslebens und unserer ero- 
tischen Erregungsmöglichkeiten aus den Tiefen der kindlichen 
Erotik hervor. Auch dieser Traum malt deutlich, wie wir die 
Geschlechtsteile als Personen träumen, den Phallus als einen 
wilden Mann — oft auch als Knaben, als kleinen Mann und 
Sohn — das weibliche Geschlecht mit Vorliebe als kleines Mädchen, 
als die kleine Schwester, als Töchterchen, als »die Kleine«. 

Da, wo eine solche Zwiegeschlechtlichkeit in schwankenden 
Einstellungen unentschiedene Züge aufweist, da spiegelt sie sich 
auch im Charakterbilde als sinngemäßer Ausdruck dieses Vor- 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 4 


bildes wieder. Ja, ist denn jeder Charakter der letzte und 
stärkste Ausdruck unserer Art als Geschlechtsmensch? — Ist 
kraftvolle Männlichkeit und echte Weibesnatur je etwas anderes, 
und kann dem Impotenz und Verzerrung des Gefühlslebens ent- 
sprechen? Ich habe wiederholt die Probe gemacht; wenn ich 
in der Analyse auf Tatsachen stieß, die mir eine unentschiedene, 
zweifelhafte, schwankende Gefühlseinstelluug aus frühesten 
Kinderjahren bewiesen, da konnte ich auch allemal ohne 
Kenntnis der gegenwärtigen Lebensumstände die verblüffende 
Behauptung aufstellen, das gleiche Schwanken habe der Kranke 
im Berufsleben, in der Berufswahl, in allen großen und kleinen 
Entscheidungen seines äußeren Lebens bewiesen. Es sei wie 
ein Fluch in seinem Leben, daß er an allem zweifeln und 
immer schwanken müsse. Das ist der sinngemäße Ausdruck 
jener Tatsache, daß er sich über seine Rolle als Geschlechts- 
wesen nicht klar wurde, als er noch Kind war, als er erwachsen. 

Das Weib kannte er nicht, er wagte sich nicht zu ihm in 
dem Gefühl seiner Unsicherheit und Triebschwäche ihm gegen- 
über, und die Gleichgeschlechtlichkeit mied er aus moralischer 
Scham, und mit dem Drang zu beidem brach er in fürchter- 
licher Einsamkeit zweifelnd zusammen. 

Auch den umgekehrten Weg bin ich gegangen, um mich 
selbst zu überzeugen. Ich traf Menschen, die waren schwankend 
in ihren Entschlüssen und unglücklich in ihrer ewigen Zwitter- 
stellung zu allen Aufgaben des Lebens; stets wollten sie zweier- 
lei und konnten es nicht vereinigen. Ich las in ihren Träumen 
und erzählte ihnen ihre Jugendgeschichte, die ich nicht kannte, 
und die ich nur aus den Folgen geschlossen hatte. Ich malte 
ihnen ihre schwankende Liebe zwischen Vater und Mutter, 
zwischen Mann und Weib und ihre Zwitterrolle als Geschlechts- 
wesen, und erstaunt mußten sie mir zugeben, daß alle dem so 
gewesen sei. 

Zweifler sind meist Naturen, die in ihrem Wesen starken 
Hemmungen unterliegen. Nichtwoller in all ihrer Sehnsucht, 
richtiger gesagt: Nichtkönner und Nichtdürfer. Dieselben Ver- 
hältnisse ausgeprägter Doppelgeschlechtlichkeit führen bei 
hemmungslosen Charakteren zu ganz anderen Lebensformen, 
und lassen da so recht den allem Perversen gemeinsamen Ur- 
grund, das polymorph Erotische unseres kindlichen Wesens er- 
kennen, von dem die einzelne Perversion immer nur ein winziger 


42 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Teiltrieb ist, der durch irgendwelche Ungunst festgelegt und in 
den Vordergrund geschoben wurde, und zwar in der Regel 
durch Abwehr und Unterdrückenwollen, also gerade durch den 
Willen gegen ihn, unendlich viel seltener durch unbändiges 
Verlangen gerade in dieser einen Richtung. Unterdrücken hält fest! 
Also bei hemmungslosen Naturen bleibt die Zwitterhaftigkeit 
des Empfindens als vielgestaltige Lustmöglichkeit bestehen, 
während sie beim Gehemmten alle Möglichkeiten der Lust- 
gewinnung lahm legt. Das gibt unter günstigen Umständen 
Menschen von wilder Schönheit in ihrem großartigen all-erotischen 
Empfinden, Künstler der Liebe und des Lebens, nur dürfen sie 
nicht roh sein. 

Klassisch rein spiegelt sich die zwiegeschlechtliche 
Phantastik, die diesen Verhältnissen zugrunde liegt, in folgendem 
Traumbilde: »Ich ging in einen Laden. Man zeigte mir Teller 
mit Porzellanmalerei. Auf dem einen sah man die Darstellung 
eines Gottes und einer Göttin in ihrer Vereinigung, stehend 
einander gegenüber. Aber das Glied, das stark und groß 
zwischen beiden Körpern zu sehen war, ragte von der weib- 
lichen Gestalt aus schräg aufwärts, als ob die Göttin der Mann 
wäre. Auch konnte ich nicht erkennen, bei wem es eigentlich 
angewachsen war«. 

Also der Mann war eine Frau, und die Frau hatte ein 
männliches Glied. Bezeichnenderweise sind beide göttliche, 
mythologische Phantasiegestalten. Die Träumerin will Weib 
und Mann sein, — der Traum sagt zweifelnd, »oder«: ich 
konnte nicht erkennen, bei wem es angewachsen war — alles 
mit einem Worte, unersättlich in der Größe ihres phantastischen 
Liebesverlangens. Auch hier sind die Verhältnisse aus den 
Phantasien der kindlichen Psyche herausgewachsen, denn auch 
die Träume und Zeichnungen aus ihrer Kinderzeit sollen in 
Art und Inhalt ganz ähnliche gewesen sein. 

Weiter: ein anderes Bild. Ein zarter, schmächtiger Mann, 
elend und heruntergekommen an seinem Körper und in seiner 
Ernährung. Drei Träume wußte ich von ihm. Der erste war 
ein Wachtraum, eine Art Zwangsvorstellung, mitten am Tage. 
Er beugte sich zum Fenster hinaus und sah die ragenden 
Akazien sich kahl und dürr ihm entgegenstrecken. Da mußte 
er denken, wie es wäre, wenn er hinunterspränge und auf sie 
fiele! Das war eine typisch weibliche Phantasie. Wir kennen 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 43 


sie schon von dem kleinen Mädchen her, das denselben Weg 
ging. Hier fühlte der Träumer sich Weib. Er verschmolz mit 
dem Fenster zur weiblichen Genitalöffnung, zu der der baum- 
lange Phallus emporragte. 

Dann lag er im Traum auf sonniger Wiese. Da kam ein 
Flugschiff, gleich einem Raubvogel, auf ihn herabgestoßen, und 
mit Angst wachte er auf. Auch dieser Traum zeigt ihn in der 
erträumten Rolle des Weibes. Der Phallus, den er voll Sehn- 
sucht erwartete, war in seiner Phantasie ins Riesenhafte ver- 
größert, weil früheste Kindheitserinnerungen ihm das Glied des 
Vaters als etwas Gewaltiges festgehalten hatten. Die 
dichterische Form, die er wählte, vereinigte eine ganze Menge 
phallischer Symbole in sich. Da war erst mal der Vogel als 
Raubvogel und als Flugzeug; und unwillkürlich tauchen vor 
einem all die heiligen Befruchtungszauber-Vögel auf: der 
Storch und die Taube und die priapischen Amulette mit Flügeln 
und Vogelbeinen und dergleichen mehr. Dazu die Form des 
Luftschiffs, die langgestreckte Zigarre, das wie ein echter Phallus 
in sich zusammensinken kann und dann wieder in praller 
Füllung dahinsegelt. Wieder ist der Traum ein Dichter, und 
das Wildeste, was wir scheu nicht zu nennen wagen, malt er 
mit seinen Wunderbildern scheulos und rein, wie die Kinder 
denken. — Also auch hier war er Weib. 

Der dritte Traum lautete: »Ich sah meine tote Mutter, aber 
sie lebte wieder, sie war nur scheintot gewesen; elend und 
mumienhaft sah sie aus«.. — Nun, wir träumen und dichten 
nur immer uns selber, das wissen wir längst. Auch die tote 
Mutter ist nur ein Bild des Träumers, indem er seine Sehn- 
sucht und seine Leiden verkörpert. Wieder ist er ein Weib 
und diesmal deutlich das Weib seines Vaters, den er in 
frühester Kinderzeit leidenschaftlich geliebt, bis er ihn, hundert- 
mal zurückgestoßen und enttäuscht, endlich hassen lernte, 
ihn, den Treulosen, der längst zum zweiten Male geheiratet. 
Wie ein Scheintoter fristete der Knabe seitdem ein halbes 
Leben, und »mumienhaft elend« suchte er endlich als Mann 
bei mir Trost und Heilung. Ein Weib zu berühren, war ihm 
nie in den Sinn gekommen; war er doch selber eins geworden, 
als er am Vater lieben lernte, statt an der Mutter. So spielen 
wir als Erwachsene, was wir als Kinder erträumten. 

Überdies wies dieser Kranke noch einen Zug auf, den ich 


44 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


sehr häufig beobachtet habe. Er hatte die Zwangsvorstellung, daß 
er sich wie ein kleiner Bub benähme. So trug ihn nach der 
Empörung und Entfremdung mit seinem Vater der Wunschtraum іп 
die Kinderzeit zurück, in der er den Vater noch liebte; und die 
Gefahr war groß genug. Ohne die Analyse dieser geheimen 
Triebkräfte hätte er sich wahrscheinlich von der Wirklichkeit 
abgewendet und wäre im Geist in das Land seiner Kindesliebe 
entflohen, wo ihn der Arzt nicht mehr erreichen konnte. — 


Noch ein anderes Gebiet muß ich hier berühren: die un- 
geheure Verbreitung jener Verirrungen der Geschlechtslust, die 
sich an Grausamkeiten und Mißhandlungen, erlittene wie ver- 
übte, knüpft. Auch hier ist die Unwissenheit eine grenzenlose 
und darum auch das Unheil, das daraus erwächst. Wieder ist 
es die früheste Kinderzeit, in der sich die Sinnenlust eines 
unglücklichen Augenblicks mit seinen äußeren Nebenumständen 
verankert. Ungezählte Menschen sind so dazu gekommen, 
körperliche Züchtigungen als wollusterregend kennen zu lernen, 
und sie später bewußt zu begehren und als Lustquellen auf- 
zusuchen. Und von den Ungezählten sind einige, für die wird 
diese eine Möglichkeit des Lustgewinnes zur alles beherrschen- 
den Einzigkeit ihrer Lustmöglichkeiten, und fast immer waren 
sie in der Kinderzeit in den Händen von unbeherrschten Er- 
ziehern und Erzieherinnen gewesen, die die eigene Wollust in 
den erniedrigenden Mißhandlungen der entblößten Kinder zu 
finden gewußt hatten. Die gemeinsame Lust verband das Kind 
mit dem gehaßten Peiniger zu einer geheimen Sinnesgemein- 
schaft, und zugleich wand sich die arme Seele in den Qualen 
der Selbstverachtung für eine Erniedrigung, die ihm doch 
wieder auch Lust brachte. 


Man ist übrigens in letzter Zeit aufmerksam geworden auf 
die Tatsache der ungeheuren Verbreitung grausamer Miß- 
handlungen aus Wollust. Wohl ist manches, was die 
Kranken uns als erlebt und wirklich auftischen, nur ein über- 
lebhaftes Ergebnis ihrer phantastischen Träume, aber ich kenne 
auch als wahr erwiesene Fälle genug, die in ihrer Grausen- 
haftigkeit ein erschütterndes Bild bieten, und um so er- 
schütternder, wenn ihnen niemand ihr Elend glaubt und sie 


4) Vgl. Adele Schreiber, Prügelkinder, „Pädagogische Verbrechen“. 
Verlag Frauen-Rundschau. 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 45 


als alberne Hysteriker verhöhnt werden, wenn sie die Angst 
in ihre grausenerfüllten Dämmerzustände hineinpeitscht. In 
ihnen toben sie dann in Gedanken ihre wilden Mißhandlungs- 
orgien aus, bis sie ermattet zusammensinken, als ob sie es 
alles wirklich erlebt hätten. Das Ganze ein Akt psychischer 
Onanie. 

Ihr Träumen überwuchert das Tagesbewußtsein; aber fest 
verschlossen sind ihre Lippen, und nie erführe ein Mensch 
von ihrer Qual, nie hätte ich den einen oder anderen von ihr 
erlösen können, wenn wir nicht imstande wären, uns mit dem 
Schlüssel der Traumanalysen die Pforten ins Unbewußte zu er- 
öffnen. Da wimmelt es von Sklavenhaltern und Auspeitschungs- 
szenen, da wird man geraubt und gefesselt, da findet sich 
alles, was wir in der merkwürdigen Literatur, die dieser Ver- 
kehrtheit dient, ausgeheckt finden, und was in geheimen Klubs 
tatsächlich geschieht. Und wiederum ist es, als ob diese ver- 
zerrteste aller Verzerrungen des Geschlechtstriebes nur das in 
die Tat übersetzte Träumen und ein Rest vergangener Jahr- 
tausende sei; denn ich fand solches Träumen bei Menschen, 
die keine Ahnung weder von der Wirklichkeit noch von ihrer 
Literatur hatten. Es muß also wohl oftmals auch von seiten 
der Kinder ein gewisses Entgegenkommen dafür vorhanden 
sein. Oft werden sie so die Lust auch an Züchtigungen lernen, 
die keineswegs dem Lustwillen des Züchtigers entsprangen. 
Aber wenn dem Erwachsenen die Erinnerung davon verblieben 
ist, wie seine Kindergärtnerin in der Spielschule ihn immer 
wieder auf den Abtritt genommen und ihm die Höschen herunter- 
gezogen hatte, um ihn für Unrecht zu strafen, von dem er nie 
wußte, worin es bestanden hatte, dann mutet uns doch solche 
Erzählung seltsam verdächtig an, zumal wenn sie hier aus dem 
Munde eines ernsthaften, gebildeten Mannes stammt. Da wäre es 
nun wirklich vielleicht schon besser gewesen, sie hätte gleich so 
vielen anderen ihres Geschlechts dem ihr anvertrauten Knaben 
den eigenen Körper und seine Lust zu kosten gegeben, er 
wäre dann wenigstens nicht in so tragischer Form erkrankt. 

Gesunde Kinder wachsen Gott sei Dank aus all diesen 
Fährlichkeiten kraftvoll empor und vergessen alles oder machen 
sich später bewußt drüber lustig. Daß eine solche Verführung, 
wie ich hier eben andeutete, in gewissem Sinne sogar ihr Gutes 
haben kann, sagte ich schon. Wie sie aber auch da noch 


46 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


formbestimmend für das spätere Leben wird, ist manchmal sehr 
merkwürdig zu beobachten. 

So mußte ich einst einen alten Herrn wegen seiner Zwangs- 
vorstellungen beraten. Der beichtete mir in seiner Todesangst 
folgendes: Er käme aus kleinen Verhältnissen, und in seiner Kinder- 
zeit sei es sehr kümmerlich zugegangen. Die Wohnung wäre 
äußerst beschränkt gewesen, und während der ganzen Knabenjahre 
habe er das Zimmer mit der alten Großtante geteilt. Die hätte 
ihn fast allnächtlich zu sich ins Bett genommen und an dem 
Knaben ihr Lüstchen gekühlt. Als er dann später geheiratet 
habe, da müsse er gestehen, sei es mehr der alten Schwieger- 
mutter wegen gewesen, als der jungen Braut zuliebe. Schon 
in der Verlobungszeit habe er mit der alten Dame zärtliche 
Liebe gepflogen und diese Gewohnheit auch jetzt noch bei 
der Greisin, die bei ihm wohne, beibehalten. Was er in 
früher Kindheit zuerst als Lieben kennen gelernt hatte, dem 
blieb er mit zwingender Gewalt sein Leben lang treu. 

Danach ist es leicht verständlich, warum in der »frommen 
Helene« von Wilhelm Busch der »heilige Franz« einen so un- 
überwindlichen Hang zum Küchenpersonal an den Tag legte. 
Er war vermutlich wie ungezählte Jungens in früher Kindheit 
der Gegenstand lüsterner Liebkosungen seitens des »Mädchens 
für alles« gewesen, und dieser Erinnerung gedenken manche 
auch später nicht ungern, so wie unser Patient seiner Grei- 
sinnenliebhaberei. Dieser Hang des Küchenpersonals selber 
zu spielerischem Mißbrauch der Kinder ihrer Herrschaft hat 
übrigens oft noch ernstere Folgen, denn, da die Kinder nur 
sehr selten zu natürlichem, normalem Geschlechtsgenuß ge- 
eignet sind, lernen sie statt dessen bei solchem Mißbrauch auch 
der Form nach Mißbräuchliches kennen und lieben. 

Nun dürfen wir uns nicht auf den Standpunkt des Moralisten 
stellen und all die unendliche Fülle von Liebkosungen und 
Zärtlichkeiten, die sich die glühende Phantasie auch der ge- 
sunden Menschen verschwenderisch schenkt, als häßlich und 
unzüchtig ansehen; denn Liebe adelt alles. Aber wo wir es 
mit nervöser Veranlagung zu tun haben, da kommt das Schuld- 
gefühl und die Sündenlehre, und die beiden wiederum be- 
schmutzen alles, was Liebe adeln konnte. Und da wird es 
denn oft für das Seelenleben des Erwachsenen verhängnisvoll, 
wenn der Körper des kleinen Kindes Liebkosungen ausgesetzt 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 47 


war, die z. B. als unaufhörliche Küsse seine kleinen Geschlechts- 
teile trafen, oder was sich sonst die zur Einsamkeit verurteilte 
Phantasie einer tagsüber streng gehüteten und des Nachts wohl- 
eingeschlossenen Dienstmagd als Ersatz ausheckt. 

Das Merkwürdigste an all diesen Erscheinungen bleibt 
dauernd die Ahnungslosigkeit und Harmlosigkeit der Eltern. 
Ich will sie mit meinen Darlegungen darin stören, wenn ich 
mir auch bewußt bin, wie wenig das helfen wird. Übrigens 
verdanke ich meinen Beobachtungen die Kenntnis davon, wie 
weit die Erinnerungsfähigkeit eines erwachsenen Menschen in 
seine Kinderjahre zurückreichen kann. Ich habe eine Frau 
behandelt, die eine klare Erinnerung an Verhältnisse und Vor- 
gänge hatte, die nachgewiesenermaßen fast bis ins erste Lebens- 
jahr zurückreichten, denn sie bezogen sich auf die eigene Amme, 
und deren Entlassungstermin im 15. Monat stand fest. 

Auch da handelte es sich um Mißbrauch des kindlichen 
Körpers durch leidenschaftliche Küsse auf die Geschlechtsteile. 
Die Frau erinnerte sich mit starkem Lustgefühl daran und 
hatte niemals zu irgendeinem Menschen davon gesprochen, so 
wenig wie von ihrer starken Neigung zu gleichgeschlechtlichen 
Lustbeziehungen. 

Heftige Anfälle von unstillbarem Erbrechen lösten sich 
mir als Ekel gegen den Mann, bezw. gegen sich selbst auf; 
dadurch kam das eine sowohl wie das andere zur Sprache. 
Es leuchtet ohne weiteres ein, daß diese Erinnerung nicht aus 
späteren Erzählungen der Erwachsenen herstammt; selbst wenn 
die darum gewußt haben sollten, würden sie in Gegenwart des 
Mädchens doch nie davon gesprochen haben. Die einige Jahre 
ältere Schwester war indessen nach der Erinnerung der Patientin 
öfter Zeuge dieser Liebkosungen gewesen. Als wir sie nun 
danach befragten, bestätigte sie die Erinnerung aus der Säug- 
lingszeit. Es dürfte wohl zum mindesten sehr berechtigt sein, 
daß die Frau ihre gleichgeschlechtlichen Neigungen auf dieses 
sinnliche Verhältnis zu ihrer Amme zurückführte. 

Ich habe die kindliche Erotik so eingehend behandelt, 
teils weil ihr Vorhandensein überhaupt geleugnet wird, teils 
weil sie tatsächlich die Vorbedingung der Erotik des Erwachsenen 
ist und damit auch die Vorbedingung der Konfliktstellungen, 
in denen wir im Sinne der Nervosität erkranken. 


D D 


48 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


ZUR PHYSIOLOGIE DER TARDIVEN 
EJAKULATION. 


Г der amerikanischen Monatsschrift „The Am. Journal of Urologie« 
widmet Dr. Viktor Blum eine eingehende Studie der männlichen Im- 
potenz, die sich neben zahlreichen anderen Symptomen auch durch eine 
verspätete oder gänzlich ausbleibende Ejakulation anmeldet. Die tardive 
Ejakulation — schreibt der Verfasser — hat ihren Grund entweder in 
der verminderten Erregbarkeit des Ejakulationszentrums oder in einem 
Ausbleiben der entscheidenden ejakulatorischen Reflexeinstellung. Die 
Verzögerung der Ejakulation hat mithin physiologische Gründe, sei es, 
daß bei einem sonst völlig gesunden Manne die Libido und der Koitus- 
drang nicht genügend stark waren, oder aber der taktile Schleimhautreiz 
in der Vagina zur Auslösung des ejakulatorischen Reflexes nicht aus- 
reichte. Das kann sowohl bei Störungen des spinalen Nervenzentrums 
als auch bei Erkrankungen der Kopulationsorgane eintreten. Namentlich 
die Abstumpfung der reizempfindlichen Stellen an der glans penis, die 
mit dem Ausbrechen von Rückenmarkskrankheiten verbunden ist, pflegt 
den normalen Ejakulationsprozeß unmöglich zu machen. Häufig geübter 
Coitus interruptus, bei dem die Ejakulation auf der Höhe des Orgasmus 
gewaltsam zurückgedämmt wurde, kann für den normalen Verkehr in- 
soweit nachteilige Folgen haben, als eine lange mechanische Friktion 
des Gliedes notwendig ist, um den Orgasmus und Samenerguß herbei- 
zuführen. Die extremste Form der tardiven Ejakulation ist der sog. 
psychische Aspermatismus, wo die Koitusbewegungen bis zur Er- 
schöpfung fortgesetzt werden können, ohne zu der endgültigen Ent- 
spannung der Libido zu führen; dagegen stellt sich nach derartigen 
fruchtlosen Versuchen häufig noch in derselben Nacht eine mehr oder 
minder ausgiebige Pollution ein. Der Verfasser teilt alle Fälle ver- 
zögerter Ejakulation in zwei Gruppen, die sich symptomatologisch von- 
einander genau unterscheiden. In der ersten Gruppe bleibt der Samen- 
erguß aus, Orgasmus und Sättigung der Libido sind jedoch vorhanden. 
Die Lähmung des zerebralen Ejakulationszentrums wird durch äußere 
Umstände (z. B. physische Qualitäten des weiblichen Partners) ver- 
ursacht und läßt sich auch durch andauernde mechanische Reizung nicht 
beheben. Die zweite Gruppe umfaßt alle Fälle von sexueller Neu- 
rasthenie, hervorgerufen durch dauernden Mißbrauch der Geschlechts- 
kraft. Der Zustand der verzögerten Ejakulation unterscheidet sich von 
der vollkommenen Impotenz dadurch, daß Erektion des Gliedes und 
Orgasmus immer vorhanden sind. (Vgl. Löwenfelds Patienten, die an 
schmerzhaften Priapismen litten. U. E. mußte diese Beobachtung bei 
der Beschreibung der tardiven Ejakulation herangezogen werden. Anm. 
d. Red.) -еі- 


e2 


*Є1 әйә$ ©әчләлә8у$ипу ш M0OI7 al: Zgelnv шәр пу "әуцәщоѕәйиә}і$ ‘зп “цоп ЦЕМ 
"uang иәудјіицәѕәдшәд иәудәѕәдпе 


"JIINONIOLS YI3LUFIZUIA HISILOYI иш ОМІЅЅЭМ 50У ҸЭІНЭПЭ1 "SYIONIANY SINFI44ITHISID 





RÖMISCHE LAMPE AUS DER KAISERZEIT. (Sammlung Moll.) 





PHALLISCHE BRONZE. (Geflügelter Löwe.) Pompeji. 


Zu dem Aufsatz »Die Erotik im Kunstgewerbe :, Seite 13. 





GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 
уш, 2. 





CHRISTUS UND DIE EHEBRECHERIN. Von LUCAS CRANACH d. A. (München, Pinakothek) 
Zu dem Aufsatz »Die eheliche Untreue<. Seite 86. 


Klee El EE 





DER GESCHLECHTSVERKEHR ZWISCHEN 


BLUTSVERWANDTEN. 
Von Dr. med. HERMANN ROHLEDER'). 


as Wort Inzest (franz. inceste, ital. und span. incestum, engl. 

bloodshed, holländ. bloedskand, von incestus (Cicero), auch 
incestum, von incestare = verunreinigen, beflecken) hat heute 
im streng juristischen Sinne die Bedeutung von geschlecht- 
lichen Verkehr zwischen Verwandten im Sinne von Eltern und 
Kindern, Großeltern und Enkel, Geschwistern und Verschwä- 
gerten untereinander. Die Lex lata bestimmt in 

8 173 Deutsches Str. G. B.: 

„Der Beischlaf zwischen Verwandten auf- und absteigen- 
der Linie wird an den ersteren mit Zuchthaus bis zu fünf 
Jahren, an den letzteren mit Gefängnis bis zu zwei Jahren 
bestraft. 

Der Beischlaf zwischen Verschwägerten auf- und ab- 
steigender Linie sowie zwischen Geschwistern wird mit Ge- 
fängnis bis zu zwei Jahren bestraft. 

Neben der Gefängnisstrafe kann auf Verlust der bürger- 
lichen Ehrenrechte erkannt werden. 

Verwandte und Verschwägerte absteigender Linie bleiben 
straflos, wenn sie das 18. Lebensjahr nicht vollendet haben. 
Sog. „Blutschande“. 

Charakteristisch ist für diesen Paragraph, daß er, in Über- 
einstimmung mit den meisten Kulturstaaten, den Inzest bei den 
Aszendenten schärfer bestraft als bei den Deszendenten, die 
Eltern mit Zuchthaus, die Kinder mit Gefängnis. Interessant 
ist hierbei, daß hier der Begriff der unehelichen Verwandtschaft 
nicht freimacht, also daß z. B. der Inzest zwischen Vater und 
unehelicher Tochter, zwischen unehelichen Geschwistern be- 
straft wird. 


1) Aus Monographien über die Zeugung beim Menschen von Dr. med. 
Hermann Rohleder. Band II. Die Zeugung unter Blutsverwandten. Leipzig 
1912, Verlag von Georg Thieme. 

Geschlecht und Gesellschaft VIII, 2. 4 


50 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Da dem Gesetz in erster Linie der Gedanke der Kinder- 
zeugung zugrunde liegt, darf es nicht wundernehmen, wenn 
es nur von Blutschande, d. i. Beischlaf zwischen Ver- 
wandten, aber nicht von unzüchtigen Handlungen 
zwischen Verwandten spricht. Es scheint keine solchen 
anzunehmen, denn $ 174 spricht von unzüchtigen Handlungen 
nur an Vormündern, Adoptiv- und Pflegeeltern. 

Weit genauer ist das 

Oesterreichische Strafgesetzbuch. 
Es bestimmt in 

$ 131, П, 
daß Blutschande, welche zwischen Verwandten in auf- und 
absteigender Linie, ihre Verwandtschaft mag von ehelicher oder 
unehelicher Geburt herrühren, begangen wird, mit Kerker von 
sechs Monaten bis einem Jahr bestraft wird, und 

§ 132, IV, 
daß Kuppelei, wofern dadurch eine unschuldige Person ver- 
führt wurde, oder wenn sich Eltern, Vormünder, Erzieher 
oder Lehrer gegen ihre Kinder, Mündel oder gegen die 
ihnen zur Erziehung oder im Unterricht anvertrauten Personen 
schuldig machen, mit schwerem Kerker von 1—5 Jahren be- 
straft werden, und dann noch in 

§ 501, 

daß Unzucht zwischen voll- und halbbürtigen Geschwistern, 
mit den Ehegenossen der Eltern, der Kinder und Geschwister 
als Ubertretung mit 1—3 Monaten Arrest, der nach Umständen 
verschärft werden soll, zu bestrafen ist. 

Diejenigen, die durch die Untersuchung als Verführer er- 
kannt werden, sind zu strengem Arrest von 1—3 Monaten 
zu verurteilen. 

Wulffens „Sexualverbrecher“ entnehme ich S. 634 fol- 
gende historische Tatsachen: „Das römische Recht strafte nicht 
den Geschlechtsverkehr zwischen Verwandten als solchen, son- 
dern nur den Abschluß einer Ehe zwischen solchen Personen. 
Es unterschied also zwischen Incestus juris gentium, Ehe 
zwischen Verwandten auf- und absteigender Linie und Incestus 
juris civilis. Ähnlich unterscheidet das kanonische Recht, wel- 
ches den Begriff stark erweiterte (cognatio spiritualis zwischen 
Taufpaten und Täufling!), zwischen Incestus juris divini und 
Blutschande nach Menschensatzung. Die Rechte des deut- 


52 GESCHLECHT UND QESELLSCHAFT 


Sicher ist die Westermarcksche Anschauung einer instink- 
tiven Abneigung |gegen den Inzest (und die Inzucht) schon 
bei den Urvölkern und geschichtlichen Völkern die unwahr- 
scheinlichere. Heute ist jedenfalls im Verlauf von mindestens 
zwei Jahrtausenden bei allen zivilisierten Völkern und auch 
den meisten unzivilisierten diese Abneigung gegen eine Zeu- 
gung unter allernächsten Verwandten zu einer ethischen ge- 
worden. 

Daß die Abneigung gegen den Sexualverkehr mit Bluts- 
verwandten, der Inzest kein instinktmäßig angeborener im Sinne 
Westermarcks ist, also kein gleichsam ererbter, uns phylo- 
genetisch überkommener, sondern ein gezüchteter, auf Kultur 
und Sitte basierter, geht übrigens auch aus Beobachtungen im 
Tierreich hervor. Schon Darwin hat die Richtigkeit des In- 
zestes beim Tier an Beobachtungen dargetan. Woltermann 
macht darauf aufmerksam, daß bei den Haustieren, kein Wider- 
wille gegen Inzest vorhanden ist, daß z. B. eine Schafmutter 
so lange für ihr Junges sorgt und es pflegt, bis es sich selbst 
ernähren kann, daß sie aber später, wenn es erwachsen ist, 
das Junge nicht mehr kennt und sich mit ihm paart. Der 
Widerwille gegen den Inzest ist also ein innerhalb 
der geschichtlichen Entwicklung der Menschheit er- 
worbener, durch das dauernde Zusammenleben, das Mitein- 
anderaufgewachsensein während der Kindheit bis zur Pubertät 
in der Ehegemeinschaft. Dieselben stumpfen die Phantasie, 
die Libido ebenso ab wie das ständige Zusammenleben des 
Mannes mit der Ehefrau in der Ehe. Fast immer ist es der 
Reiz der Neuheit, die Abstumpfung durch das Alltägliche, die 
die Ehegatten zum Ehebruch führt. Dort wirkt diese Anein- 
andergewöhnung sexuell günstig, in der Ehe — die Kehr- 
seite — ungünstig ein. Wie mächtig diese Angewöhnung 
wirkt, zeigt ja die Ehe — leider — so deutlich. Wie oft habe 
ich beobachtet, wenn eine Ehe aus reiner sinnlicher Zuneigung 
geschlossen wird, in sog. „Liebesheiraten“, wo also gleichsam 
nur der sexuelle Rausch die treibende Kraft zur Verehelichung 
ist, wird doch langsam, aber sicher, durch das ständige 
sexuelle Zusammenleben die Libido übersättigt. Der poly- 
gamische Sexualtrieb ist es, der vermittelst der Erzie- 
hung zur Abneigung gegen den Inzest führt, aber auch 
zur „sexuellen Anästhesie“ in der Ehe. Bernhardin de St. 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 53 


Pierres sagt: „Liebe entsteht aus Gegensätzen, und je größer 
diese sind, desto mehr Kraft hat sie“ Der Libido sexualis 
geht es also gleichsam wie den allzu gleichen Keimzellen in 
der Blutsverwandtschaft: je näher verwandt letztere sind und 
je länger verwandt sie sind, desto weniger kommt es zur Aus- 
lösung der biologischen Energie bei der Befruchtung. Je 
länger die Libido zwischen zwei Menschen besteht, desto mehr 
wird sie abgestumpft, desto weniger kommt es zur Auslösung 
der Anziehungsenergie ad cohabitationem. Während es dort 
sogar usque ad sterilitatem bei fortgesetzter Inzucht kommen 
kann, wissen wir Sexualpathologen, daß es hier usque ad 
impotentiam kommen kann. Gerade deshalb soll ja die Ehe 
nicht auf sexueller Anziehungskraft allein basieren, sondern 
auf geistiger besonders. Die geistigen Qualitäten der Ehe- 
gatten sollen einander anziehen und veredeln und den ur- 
sprünglich bei den meisten Menschen polygamen Sexualtrieb 
in der Ehe zu einem monogamen umwandeln. Sie haben also 
gleichsam dieselbe Bedeutung für die Ehe wie die Vermischung 
für die Blutsverwandtschaft. 

Marcuse hat die Häufigkeit der Inzestdelikte beleuchtet 
und meint, daß nur außerordentlich selten die Kunde von 
sexuellen Verirrungen zu allgemeiner Kenntnis kommt. Irgend- 
welche statistische Angaben lassen sich nicht machen. Jeden- 
falls würden die gesammelten Kriminalfälle nur einen außer- 
ordentlich verschwindend geringen Bruchteil im Verhältnis 
zur Bevölkerung ausmachen. Er hat jedenfalls ganz recht, 
wenn er meint, daß nur die verschwindend seltenen Fälle zur 
Aburteilung kommen, überhaupt bekannt werden, denn unter 
dem Proletariat der Großstädte herrsche eine „regelrechte ge- 
schlechtliche Promiskuität“, und zwar, je größer die Stadt, desto 
schlimmer, als Folge des Wohnungselends. Es geht hier wie 
mit dem kriminellen Abort. Nur die allerwenigsten kommen 
zur Kenntnis der Behörden und werden bestraft. Landesrat 
Schmidt hat, wie dieser Autor angibt, in seinen Akten unter 
80 Fällen von Fürsorge 40mal Blutschande, verübt von Vätern 
an ihren Töchtern, oder von Kuppelei, gewerbsmäßiger Un- 
zucht u. dgl. gefunden. Dabei handelte es sich nur in fünf 
Fällen um Wohnungen von drei Räumen, in 21 Fällen in sol- 
chen von zwei und in 49 Fällen in solchen von einem Raum. 
Mittermaier hat nun erwiesen, daß auf dem Lande der 


54 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Inzest noch weit schlimmer haust, daß an den krimi- 
nellen Fällen von Blutschande wesentlich die Land- 
bevölkerung beteiligt war. Auch hier war die Haupt- 
ursache das Wohnungselend. Marcuse hat noch eine Art 
„mittelbaren“ Inzestes aufgestellt, wenn z. B. Mutter und Tochter 
denselben Geliebten haben. Daß hier von Inzest im eigent- 
lichen Sinne, also von „Blutschändung“ keine Rede sein kann, 
leuchtet ein. Der Begriff des Inzestes ist m. Е, für solche 
Fälle streng auszuscheiden. Der Ansicht dieses Autors, daß 
- der Inzest in zahlreichen Fällen nur faute de mieux, mangels 
anderer Ursachen, gepflogen werde, vermag ich nicht ohne 
weiteres zuzustimmen. Wenn auch in diesen unteren Be- 
völkerungskreisen mit infolge des Wohnungselends eine große 
moralische Verderbtheit herrschen mag, meine ich, ist im großen 
und ganzen auch in diesen Kreisen dennoch eine Abneigung 
gegen den familiären Umgang verbreitet, als daß hier allein 
aus diesem Grunde in zahlreichen Fällen dazu geschritten 
werden sollte. Es müssen hier schon andere Faktoren mit- 
sprechen, wie geistige Minderwertigkeit oder, was wohl die 
Hauptsache ist, irgendwelche Rauschzustände, sittliche Ver- 
worfenheit usw., wie akuter Alkoholrausch oder Sexualrausch, 
wie überhaupt sexuelle Hyperästhesie, Satyriasis resp. Nympho- 
manie u. dgl. 

Der Begriff der Verwandtschaft ist bezüglich des 
Inzests sehr weit gefaßt, ja m. E. etwas zu weit. Daß 
die unehelichen Kinder resp. der Verkehr mit ihnen seitens der 
Eltern mit einbezogen ist, wird jeder rechtlich Denkende billig 
finden. Aber der Inzest beschränkt sich ja nicht nur auf die 
Eltern und Kinder sowie Geschwister ehelicher oder unehe- 
licher Herkunft, sondern auch auf die verschwägerten Familien- 
mitglieder, ja selbst auf Personen, von denen eine mit Eltern, 
Voreltern oder Abkömmlingen der anderen geschlechtlichen 
Verkehr gepflogen hat, wenigstens darf keine Ehe mit den- 
selben geschlossen werden. Daß hier von „Blutsverwandtschaft“ 
keine Rede sein kann, leuchtet ja sofort ein. Inzest im eigent- 
lichen Sinne, also Verkehr zwischen „Blutsverwandten“, liegt 
ja auch bei „Verschwägerten“ nicht vor. Wenn der Gesetz- 
geber auch diesen Verkehr unter Strafe stellt, so bewog ihn 
dabei jedenfalls kein naturwissenschaftlich-hygienischer Stand- 
punkt, sondern allein der der Familie. Die Familie als Grund- 


GESCHLECHT UND QESELLSCHAFT 55 
pfeiler des Staates soll rein erhalten werden. Das ist ja der 
Grund der ganzen Inzestgesetzgebung, des deutschen § 173 
StGB. Von diesem Standpunkt also‘, vom staatlichen resp. 
moralischen kann man die Ausdehnung der Strafbarkeit auf 
diese Verwandtschaft wohl anerkennen. Vom biologisch- 
hygienischen Standpunkt aus hat sie keine Berechtigung. Eine 
juristische Autorität wie Mittermaier hat daher auch eine 
Streichung des Schwagerschaftsverhältnisses befürwortet. 

Daß der Inzest, vom medizinischen und natur- 
wissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet, noch 
schädlicher sein muß als die erlaubte Konsanguinität 
resp. die Inzucht, ist natürlich selbstverständlich, da 
die Gleichheit der Keimzellen hier ja noch eine viel 
größere ist als bei der Inzucht, ja die allergrößte, die 
überhaupt denkbar ist, da sie die Allernächsten be- 
trifft, die direkten Abkömmlinge, und infolgedessen 
die Eiweißzersetzung beim Befruchtungsvorgange, der 
chemische Oxydationsprozeß der Nukleine der beiden 
Keimzellenkerne ein noch viel mehr geschwächter 
sein wird als bei der Blutsverwandtschaft. Die bio- 
logische Energie ist noch mehr vermindert. Beim heu- 
tigen Menschengeschlecht liegen glücklicherweise keine Anhalts- 
punkte vor über Resultate einer längeren Inzestperiode. Wir 
können hier nur die geschichtlichen Zeiten der alten Perser, 
Ägypter und Peruaner heranziehen. Leider bieten die natürlich 
für die medizinisch exakte Beurteilung nicht genügenden An- 
haltspunkt, da hier nicht allein reiner Inzest, sondern auch 
Inzucht, also Zeugung unter weiterer Blutsverwandtschaft, vor- 
kam. Dasjenige Volk, das am allerstrengsten, besonders in 
den herrschenden Familien, den Inzest pflegte, waren die alten 
Peruaner. Denn hier war er in der Herrscherfamilie direktes 
Hausgesetz. Ein Inka mußte seine Schwester heiraten. Wir 
hätten hier die Folgen des Inzestes beim Menschengeschlecht 
am besten studieren können. Leider haben wir von diesem 
Volke keine schriftlichen Überlieferungen, da dasselbe keine 
Zeichenschrift hatte oder wenigstens keine auf uns über- 
kommen ist. Die spanischen Werke, auch die besten, wie die 
von Paz Soldan, de las Casas, Garcilaso de la Vega, 
können keine Aufschlüsse geben. Wir sind also über die 
körperlichen Folgen der Inzestzucht allein auf die Tierzucht 


56 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


angewiesen, und sie hat uns gezeigt, daß die Inzestzucht 
die Folgen der verstärkten Blutsverwandtschaftszucht 
hat, d.h. die Verfeinerung und Schwächung der Kon- 
stitution,die Unfruchtbarkeit usw.tretennoch schneller 
und stärker auf als bei der Blutsverwandtschaftszucht 
und wir müssen daraus schließen, daß Inzestzucht 
beim Menschen durch mehrere Generationen hindurch 
von denselben pathologischen Folgen begleitet sein 
würde und besonders durch die psychischen Organe, 
die geistigen Fähigkeiten affiziert werden würde. Da- 
mit aber wäre der Inzest auch vom staatswirtschaft- 
lichen Standpunkt aus gerichtet. 

Es ist aber beim Inzest nicht bloß der gesundheit- 
liche und staatswirtschaftliche Standpunkt, der in 
Betracht kommt, sondern auch der ethisch-sittliche. 
Denn der Staat ist begründet auf der Institution der Familie, 
der Ehe. Ist diese auf sittlich reiner Grundlage aufgebaut, 
dann kann auch das Staatswesen gedeihen. Wäre aber das 
Eheleben moralisch so morsch und mürbe, daß diese Reinheit 
der Familie durch solche sexuelle Delikte wie der Inzest ge- 
duldet würde, dann würde ein solches Staatswesen eben in 
seinen sittlichen Grundfesten, in seinem Innersten zerstört und 
zerrüttet. Denn ein Staatswesen, das solche sittlichen Delikte 
innerhalb der Familie ungestraft dulden würde, würde binnen 
kurzem zugrunde gehen müssen an moralischer Zerrüttung 
und Verkommenheit. Jeder sittlich intakte Mensch wird fühlen, 
daß das Verbrechen des Inzestes schwerer ist und tiefer steht 
als das der Notzucht. Der Inzest ist eines der allerschwersten 
Sittlichkeitsdelikte, die überhaupt begangen werden können, 
und zwar in allen Kultur- und Halbkulturstaaten. Mit Recht 
sagt daher auch v. Krafft-Ebing in seiner „Psychopathia 
sexualis“, 12. Aufl., S. 432: „Die Wahrung sittlicher Reinheit 
des Familienlebens ist eine Frucht der Kulturentwicklung, und 
lebhafte Unlustgefühle erheben sich beim ethisch intakten 
Kulturleben da, wo ein lüsterner Gedanke bezüglich eines 
Gliedes der Familie auftauchen mag. Nur mächtige Sinnlich- 
keit und defekte rechtlich-sittliche Anschauungen dürften im- 
stande sein, zum Inzest zu führen.“ Aus der jahrtausende- 
langen kulturhistorischen Entwicklung der Abneigung 
gegen Inzest heraus muß man auch annehmen oder 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 57 


wenigstens vermuten, daß nicht allein laxe sittliche 
Anschauungen in Verbindung mit sexueller Hyperäs- 
thesie (Nymphomanie, Satyriasis) zum Inzest führen, son- 
dern meistenteils auch ein gewisser geistiger Defekt, 
sei es durch erbliche Belastung, sei es durch andere 
Ursachen, der dabei mit im Spiele ist. Kurz das Ver- 
brechen des Inzestes sollte dem Arzte wenigstens 
den Gedanken nahelegen, daß beim Täter vielleicht 
doch eine psycho-pathologische Grundlage vorhanden 
ist. Krafft-Ebing meint ja nun, daß in der Mehrzahl der 
Fälle „eine pathologische Begründung des nicht bloß die Bande 
des Blutes, sondern auch die Gefühle eines Kulturvolkes tief 
verletzenden Aktes“ sich nicht erbringen lasse, aber wir nehmen 
an, daß in gar manchem dieser Fälle „eine psychopathische 
Begründung zur Ehre der Menschheit“ sich finden lasse. 

Jedenfalls finden wir den Inzest vielfach bei irgend- 
welcher geistigen Minderwertigkeit resp. bei direkt 
Geisteskranken, bei Schwachsinnigen, Epileptikern, 
Idioten, Paranoikern und chronischen Alkoholisten 
resp. Morphinisten, also auch bei solchen, bei denen in- 
folge chronischer Gifte der geistige Vollbesitz nach irgendeiner 
Richtung hin einen Defekt erlitten hat. Gerhard Hauptmann 
hat in seinem Erstlingsdrama: „Vor Sonnenaufgang“ gezeigt, 
wie der Alkoholismus auch die Schranke der Blutschande 
niederreißt, und Erich Wulffen hat in seinem Werke „Ger- 
hard Hauptmanns Dramen, kriminalpsychologische und -patho- 
logische Studien“ auch eine äußerst feine, höchst interessante 
psychologische Sexualstudie gegeben. Helenes Vater, der alte 
Krause, ist ja ein völlig vertierter Alkoholiker. „In seiner 
Trunkenheit umarmt er seine Tochter und vergreift sich un- 
züchtig an ihr. Sie weint und schreit: ‚Tier, Schwein‘. Der 
Zusammenhang von Alkohol und Verbrechen wird angedeutet. 
Der Alkohol schädigt das Hemmungsvermögen gegen die 
Blutschande“ usw. 

Es würde zu weit führen, an kriminellen Fällen von Inzest 
den Zusammenhang von Geisteskrankheiten oder wenigstens 
geistiger Minderwertigkeit und unserem Verbrechen darzutun, 
Man lese Krafft-Ebings, Wulffens u. a. Werke. Auch er- 
lasse man mir, hier Kasuistik über Fälle von Inzest zu geben. 
Alle Tageszeitungen bringen sie in Hülle und Fülle. Am 


58 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


häufigsten ist der Inzest des Vaters mit der Tochter, seltener 
der Mutter an dem Sohn, resp. umgekehrt, und zwischen Ge- 
schwistern. Fast ausschließlich ist er heterosexuell. Die 
Fälle von homosexuellem Inzest gehören wohl zu den größten 
Seltenheiten. 

Es gibt auch genügend Fälle, bei denen jegliche patholo- 
gische Unterlage fehlt. Andererseits ist der Inzest, wie 
bisher von noch keinem Autor berichtet, bisweilen 
eine Folge einer krankhaften Erscheinung des Ge- 
schlechtslebens, der sog.Paedophilia erotica. In meinen 
„Vorlesungen über das gesamte Geschlechtsleben des Men- 
schen“, Bd. Il, S. 502, habe ich auf die Paedophilia erotica 
homosexualis feminarum, der allerdings seltensten Betätigungs- 
form der weiblichen Homosexualität kleinen Mädchen gegen- 
über, hingewiesen. 

In dieser selteneren Art menschlichen Geschlechtstriebes 
besteht eine Neigung zum Verkehr mit unreifen resp. sexuell 
sich erst entwickelnden Kindern während der Pubertät resp. 
bei Beginn der Pubertät. Bekannt ist ja die „griechische Liebe“. 
In meinem genannten Werke, Bd. II, Vorlesung 50, S. 260 ff., 
bin ich näher auf dieselbe eingegangen. Diese Neigung 
ist bisweilen so stark, daß sie selbst zu den eigenen 
Kindern hindrängt. 

Ganz kurz illustriere dies folgende eigene Beobachtung. 

Vor einigen Jahren konsultiert mich ein höchst achtens- 
werter Herr, Kaufmann von ca. 46 Jahren, mit schon meliertem 
Vollbart. Derselbe macht den Eindruck voller geistiger Intakt- 
heit. Eine subtile Untersuchung ergab auch nicht den ge- 
ringsten Anhaltspunkt für irgendwelche geistige Degeneration 
nach irgendeiner Richtung hin. Kein Trinker, kein Morphinist. 
Er erzählt, seit ca. einem Jahr sei in seiner gesamten Sexual- 
psyche ein gewaltiger Umschwung eingetreten. Es reize ihn 
jetzt nur noch das Jugendliche, besonders aber die sich ent- 
wickelnde Pubertas, nicht das volle Ausgereiftsein. Ein junges 
Mädchen, dessen Busen er in seinem Wachstum beobachten 
könne, reize ihn ungemein. Diese Neigung sei aber in letzter 
Zeit so stark ausgeprägt, daß sogar seiner eigenen 15jährigen 
Tochter gegenüber sie durchbreche, Es sei ihm jetzt nicht 
mehr möglich, was er noch vor einem Jahre gekonnt, dieselbe 
auf den Schoß zu nehmen. So wie er es tue, bekomme er 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 59 


heftigste Erektionen und gleichzeitig starken sexualen Drang, 
den er kaum zu bemeistern уегтӧре. Seine Libido sei sonst 
normal bisher gewesen, nie abnorm stark. Sein Kind zu lieb- 
kosen oder gar zu küssen, sei ihm jetzt unmöglich. Er müsse 
demselben aus dem Wege gehen und es direkt von sich 
stoßen. Schon das Betasten seiner Tochter löse die heftigsten 
satyriatischen Neigungen in ihm aus, und unwillkürlich komme 
ihm der Gedanke bei ihrem Anblick, nach dem Busen seiner 
Tochter oder gar nach den Genitalien zu greifen. (Wieder- 
erkennung des Jugendbildes seiner eigenen Frau in der 
Tochter??) Patient vermag diesen verhängnisvollen Trieb nur 
zu stillen bei ganz jugendlichen Prostituierten, wo er seinen 
Neigungen freien Lauf lassen kann. Er konsultierte mich 
später noch einmal. Sein unheilvoller Trieb hatte sich noch 
nicht gelegt. Ich hatte ihm nur Antaphrodisiaka für die 
schlimmsten Anfälle geben können und den guten Rat, seine 
Tochter baldmöglichst aus dem Hause zu geben bis zur 
völligen sexuellen Entwicklung und auch andere weibliche 
Wesen in diesem Alter (Dienstmädchen usw.) nicht zu dulden. 
Überhaupt findet man diese Paedophilia besonders im späteren 
Lebensalter, wenn die Sexualakme überschritten ist, bei Frauen 
besonders in der Zeit der Menopause. 

Daß der Inzest in den meisten Kulturstaaten als ein Sitt- 
lichkeitsdelikt angesehen wird, beweist die Gesetzgebung der- 
selben. 

Die Lex lata der hauptsächlichsten Kulturstaaten 
Europas bezüglich der Blutschande ist folgende: 

Deutschland ($ 173 StGB.) und Oesterreich (88 131, 
132 u. 501) habe ich schon eingangs des Abschnittes „Inzest“, 
S. 153/154 angeführt. 

Frankreich bestraft (Art. 331 des Code pénal) den Inzest 
als „Attentat aux moeurs“ in den Aszendenten gegen die 
minderjährigen Deszendenten als Mißbrauch eines Abhängig- 
keitsverhältnisses, aber nicht als eigentliches Delikt, dasselbe 
tut der Code pénal von Monaco. 

Spanien bestraft im Código penal, Art. 458, den Inzest 
mit der Tochter oder Schwester als Autoritätsmißbrauch. 

Holland (Art. 249) die Unzucht der Eltern gegenüber 
den unmündigen Kindern. 


60 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Belgien und Portugal, ebenso die Schweizer Kantone 
Genf und Waadt lassen die Blutschande als solche straffrei. 

Italien und der Kanton Neuenburg strafen nur bei 
öffentlichem Skandal. 

In England, ebenso dem nordamerikanischen Common 
Law kann der Inzest nur vor den geistlichen Gerichten ge- 
straft werden, nicht in Schottland und den Kolonien. In 
New York ist das Eingehen einer inzestuosen Ehe strafbar. 

In allen diesen Gesetzgebungen, die den Tatbestand an- 
erkennen, sind Aszendenten und Deszendenten, ebenso Oe 
schwister strafbar. 

Über diese Verwandtschaft hinaus gehen noch Schweden 
und Finnland, welche die ganze erste Seitenlinie und Schaff- 
hausen-Wallis, welche sogar bis zum dritten Grad der 
Seitenlinie bestrafen. 

Verschwägerte auf- und absteigender Linie sind nicht 
strafbar in Ungarn, in den meisten schweizerischen Kantons- 
gesetzgebungen wie Bern, St. Gallen, Luzern, Schwyz, 
Solothurn, Thurgau, Wallis, Zürich und im Schweize- 
rischen Entwurf. 

Verschwägerte der Seitenlinien werden nur in Oester- 
reich (GG 501), Schweden (18, 8 5), Finnland (20, 8 5), und 
Dänemark (165) bestraft. 

Stiefeltern und Kinder werden bestraft in Schweden 
(ХУШ, 2), Dänemark (162), Obwalden, Glarus, Basel und 
Schaffhausen, hier sind sogar Adoptiveltern (!) und Kinder 
strafbar. 

Die uneheliche Verwandtschaft fällt in den meisten Staaten 
hierbei unter das Gesetz. Uneheliche Schwägerschaft in Däne- 
mark, in diesem ist aber die Strafe gemildert. 

Bei der Geschwisterschaft werden in allen Gesetzen voll- 
und halbbürtige Geschwister bestraft. 

In einigen Gesetzen gilt die Schwägerschaft nur während 
der Ehe, wie in Schaffhausen und Norwegen (208), nicht 
nach der Ehe. 

Fast in allen Gesetzgebungen sind die Strafen sehr hohe 
bei den Aszendenten, milder bei den Deszendenten, Geschwistern 
und Verschwägerten. 

Abkömmlinge sind straffrei in Rußland bis zu 14 Jahren, 
in Aargau, Zürich, Zug (fakultativ), in Ungarn, Norwegen 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 61 


bis zu 16 Jahren, alle Minderjährigen (bis 18 Jahren) in Neuen- 
burg, im Schweizer Entwurf und Norwegen bei Ver- 
führung durch die Großjährigen. 

Kurios ist, daß in Ungarn (244) die Strafverfolgung der 
Blutschande einen Strafantrag der Eltern oder des Kurators 
erfordert. 

Mittermaier, dem ich all diese juristischen Bestimmungen 
entnehme, schlägt vor, den Tatbestand ganz zu streichen, 
„da er nur eine Unmoral und keine besondere Gefahr darstellt 
und da die schwereren Fälle in anderen Tatbeständen wieder- 
kehren. jedenfalls aber würde das Schwagerschaftsverhältnis 
wegzulassen und nur im Verwandtschaftskreise zwischen As- 
zendenten und Deszendenten und zwischen Geschwistern, hier 
aber auch trotz unehelicher Verwandschaft zu strafen sein. 
Der Tatbestand wäre Beischlaf, vielleicht auch widernatürliche 
Unzucht. Der Gedanke, nur bei öffentlichem Ärgernis zu 
strafen, ist zwar gut — aber in praxi herrscht er schon von 
selber. Alle Minderjährigen unter 18 Jahren oder die der 
Verführung Mehrjähriger unterliegen, sollten straffrei sein.“ 

Man sieht aus den angeführten Gesetzgebungen, daß der 
Grundgedanke des Inzestes ein nichts weniger als einheitlicher 
genannt werden kann. Teilweise gingen die Gesetzgeber von 
dem Gedanken der Schädigungen der Nachkommenschaft, teil- 
weise von dem der Abneigung, teilweise von dem der Schädi- 
gung der Sittlichkeit, der Familienreinheit aus. Letztere be- 
sonders war es, die die Verschwägerten in den Begriff des 
Inzestes hereinzog. Mittermaier hält die Bestrafung hier 
„für durchaus unberechtigt und lediglich einem allgemeinen 
Moralgefühl sowie überlebten religiösen Ideen entsprechend.“ 
Man wird hier diesem Autor rückhaltlos auch vom medizini- 
schen Standpunkt nur zustimmen können, denn Verschwäge- 
rung ist keine „Blutsverwandtschaft“. 

Was die 

Lex ferenda in ihrer Stellung zum Inzest 
anbetrifft, so behält 
Deutschland 
in seinem Vorentwurf zu einem deutschen Strafgesetzbuch 1909, 
$ 249 das Verbrechen der Blutschande bei. Nur will es, im 
Gegensatz zum bisherigen Recht, ermöglichen, daß Verwandte 
und Verschwägerte absteigender Linie, die das 18. Lebensjahr 


62 GESCHLECHT UND QESELLSCHAFT 


noch nicht vollendet haben, bestraft werden. Das bisherige 
Recht nahm unbedingte Straflosigkeit Verwandter und Ver- 
schwägerter absteigender Linie an. Diese Gesetzesänderung 
ist deswegen in Vorschlag gebracht worden, weil die prak- 
tische Erfahrung zeigte, daß ein nahe an der Vollendung des 
18. Lebensjahres stehender solcher Verwandter oder Ver- 
schwägerter der Urheber resp. Anstifter zum Inzest sein kann. 
Die Strafbarkeit würde im eventuellen künftigen $ 249 also 
vom einzelnen Fall abhängen. 

Der Standpunkt Mittermaiers, den Tatbestand der Blut- 
schande aus dem Gesetzbuch überhaupt ganz zu streichen, 
weil er nur eine Unmoral, aber keine Gefahr darstelle, scheint 
mir für gewisse Fälle von Inzestdelikten, die nur aus niedrig- 
ster, rohester Gesinnung bei vollständigster Zurechnungsfähig- 
keit begangen werden, so ganz allgemein doch etwas zu 
radikal. Der Richter muß den einzelnen Umständen jedes 
einzelnen Falles gerecht zu werden versuchen. Daß mehrfach 
in Fällen von Inzest psychopathische Belastung des Inkulpaten 
vorliegt, wenn sonst das geistige Verhalten desselben bisher 
noch keine Spur davon gezeigt hat, ist nicht zu leugnen. Be- 
sonders ist dies der Fall bei Aszendenten im höheren Alter, 
wo der Gedanke an Dementia senilis nahe liegt. Andererseits 
wird in vielen Fällen von geistiger Intaktheit nur der momen- 
tane Zustand wie akuter Rausch, Wohnungsmisere usw. das 
Ausschlaggebende gewesen sein. In $ 83 des Vorentwurfs 
zu einem D.St.G. hat der Richter das Recht, in solchen Fällen 
die Strafe zu mildern. Ob und wieweit das eintreten wird, 
müßte die Praxis erst erweisen. Jedenfalls müssen wir 
Arzte darauf hinweisen, daß, wie in meinem oben an- 
geführten Falle, ein psychopathischer Sexualtrieb wie 
die Paedophilia resp. Parthenophilia erotica event. 
selbst bis zum Inzest führen kann und daß in solchen 
Fällen verminderte strafrechtliche Verantwortlichkeit, geringere 
Strafe, selbst Straflosigkeit am Platze wäre. Schließlich wäre 
noch zu bedenken, daß der Inzest meist ein Notzuchtsakt ist. 

Das österreichische Strafgesetzbuch 
hat in einem Vorentwurf vom September 1909 in $ 271 die 
Blutschande als Sittlichkeitsdelikt weiter beibehalten und droht 
mit Gefängnis von vier Wochen bis drei Jahre bei Geschlechts- 
verkehr zwischen Blutsverwandten in gerader Linie und zwischen 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 63 


voll- und halbbürtigen Geschwistern. Straffrei ist die noch 
nicht 16jährige Person, wenn sie zum Fall verführt wurde. 

Was dieser Gesetzentwurf aber, sowie schon das daselbst 
geltende Strafrecht ($ 501 und 132 II) im Gegensatz zum 
deutschen, und zwar mit Recht, hat, ist die Strafbarkeit des 
„Unzuchttreibens“ an einem Blutsverwandten absteigender Linie. 

Der Schweizerische Vorentwurf vom April 1908 zu 
einem Strafgesetzbuch schaltet die Blutschande aus den Sexual- 
delikten aus und reiht sie den Verbrechen gegen die Familie 
ein (Art. 137). Trotzdem aber bestraft er sie wechselweise 
mit Gefängnis oder Zuchthaus. Strafbar ist hier ebenfalls 
Beischlaf zwischen Blutsverwandten in gerader Linie und 
zwischen voll- und halbbürtigen Geschwistern. 

Die Verleitung eines unmündigen Verwandten in gerader 
Linie zum Beischlaf wird mit Zuchthaus bestraft. Wenn die 
Person noch unter 16 Jahren ist, tritt Zuchthausstrafe nicht 
unter 2 Jahren ein. Die der Verführung unterlegenen Un- 
mündigen bleiben straflos. 

Zuletzt möchte ich noch eines Punktes gedenken, der, 
obwohl nicht strikt zur „Zeugung unter Blutsverwandten“ ge- 
hörend, doch oft die Vorstufe dazu bildet, und ihr sehr nahe 
verwandt ist, jedenfalls demselben perversen Triebleben oft 
entspringt, der Unzucht an Blutsverwandten. 

In meinen Vorlesungen über „Geschlechtstrieb und ge- 
samtes Geschlechtsleben des Menschen“, Bd. Il, 39. Vorlesung 
habe ich unter obigem Titel gesagt: „Ebensogut wie man 
Notzucht und Unzucht trennt, d. h. erzwungenen Beischlaf 
und Unzucht an Fremden, sollte man auch Beischlaf (Inzest) 
und Unzucht an Blutsverwandten trennen. Allerdings betrifft 
das deutsche Strafgesetzbuch sowohl den Inzest ($ 173) als 
auch die Unzucht (§ 174) und ebenso das österreichische 
Strafgesetzbuch, aber nicht direkt letztere an Blutsverwandten. 
Ein besonderer Strafparagraph wäre aber deswegen 
angebracht, weil es — wenigstens nach meinem Ge- 
fühl — kein größeres Verbrechen geben kann, keine 
größere sittliche Verworfenheit, Verkommenheit und 
Roheit als jene, welche die eigenen Kinder (oder 
nächsten Blutsverwandten) schändet und vorbereitet 
zum unsittlichen Gebrauch für Fremde gegen Entgelt. 
Nur pekuniärer schmutziger Verdienst der gemeinsten Art 


64 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


veranlassen solche Scheusale von Eltern, an ihrem Liebsten, 
was sie besitzen, an ihren Kindern resp. nächsten Bluts- 
verwandten die unzüchtigsten Handlungen vorzunehmen, meist, 
um sie zu präparieren für die Prostitution.“ 

„Es ist außerordentlich schwierig, die Unzucht an Bluts- 
verwandten gesetzlich zu fassen. Daß dies aber notwendig 
ist, weil in praxi sie leider, wenn auch selten, vorkommt, steht 
für mich fest, um so mehr als hier nicht geistige, sondern 
moralisch-sittliche Defekte der Grund sind, also verworfenste 
Subjekte niedrigster Art die Stupratores sind.“ 

Nach unserem jetzigen Strafgesetzbuch werden derartige 
Handlungen nach $ 176,3 abgeurteilt: 

Mit Zuchthaus bis zu 10 Jahren wird bestraft, wer 

3. mit Personen unter 14 Jahren unzüchtige Handlungen 
vornimmt oder dieselben zur Verübung oder Duldung un- 
züchtiger Handlungen verleitet. 

Dieser Paragraph trifft also nur die unzüchtigen Hand- 
lungen an Kindern unter 14 Jahren schlechthin und ich weiß 
nicht, ob der Gesetzgeber dabei das Vorkommen solcher un- 
züchtigen Handlungen an Blutsverwandten dabei mit im 
Auge hatte, oder ob er solche dabei als überhaupt nicht vor- 
kommend angenommen hat, fast scheint mir das letztere der 
Fall zu sein, denn sonst sollte man meinen, $ 173 (der 
Inzestparagraph) oder wenigstens der Vorentwurf zu einem 
deutschen Strafgesetzbuch hätte dieselben erwähnt; aber der 
8 176, 3 kehrt ohne wesentliche Änderung im $ 244, 4 des 
Entwurfs wieder. 

„Meinem Rechtsgefühl nach sind diese Handlungen an 
Blutsverwandten eine derartige scheußliche Gemeinheit und 
sittiche Verkommenheit, daß ihnen eine stärkere Bestrafung 
zukommen müßte als den unzüchtigen Handlungen an Kindern 
unter $ 176, 3 schlechthin und sie besonders gefahndet 
werden müßten,“ 

Das hat wohl auch der österreichische Gesetzgeber ge- 
fühlt, der in seinem Vorentwurf die Strafbarkeit des „Unzucht- 
treibens“ an einem Blutsverwandten absteigender Linie bestraft 
wissen will. 

Ich muß es den Juristen überlassen, ob nicht vielleicht 
doch de lege ferenda der Blutschandeparagraph folgendermaßen 
zu erweitern wäre: 





SYMBOLISCHE DARSTELLUNG DER EHE. Deutsche 
Handzeichnung (1504). 
Zu dem Aufsatz »Die eheliche Untreue«. Seite 86. 


Ы ата «унан Te a en E ~ 


eom v aueren 
P 
i 





PARTIE CONTRE-CARREE. Anonyme gal. französ. Lithographie. Um 1855. 
Zu dem Aufsatz »Die eheliche Untreue«. Seite 86. 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 65° 


„Der Beischlaf zwischen ehelichen und unehelichen Ver- 
wandten auf- und absteigender Linie, die unzüchtigen 
Handlungen an ehelichen und unehelichen Verwandten 
auf- und absteigender Linie unter 14 Jahren sowie die 
Verübung oder Duldung solcher unzüchtigen Handlungen 
wird an ersteren mit Zuchthaus, .. .. an den letzteren mit 
Gefängnis . .. . bestraft. | 

Die unzüchtigen Handlungen an ehelichen oder unehe- 
lichen Geschwistern unter 14 Jahren sowie die Verübung oder 
Duldung solcher unzüchtigen Handlungen wird mit Gefängnis 
bis... . bestraft. 

Neben der Oefängnisstrafe kann auf Verlust der bürger- 
lichen Ehrenrechte erkannt werden. 

Sogen. Blutschande.“ 

Von der Erziehung der Kinder zur Unzucht seitens 
der Eltern bis zum eigenen sexuellen Gebrauch der 
ersteren ist nur ein Schritt und ein solches Gesetz 
könnte m. E. prophylaktisch sehr segensreich wirken, 
um so mehr, als es sich hier bei der Unzucht an Bluts- 
verwandten fast nie um geistige, sondern nur um rechtlich- 
sittliche Defekte einer der moralisch verkommensten Menschen- 
klasse handelt. Schon Casper hat uns erzählt, wie verworfene 
Mütter in den Großstädten es fertig bringen, ihre kleinen 
Töchter in scheußlicher Weise an den Genitalien zuzubereiten, 
um sie zu sexuellen Untaten seitens der Wollüstlinge gegen 
gute Bezahlung zu präparieren, Taxil, Lombroso („la donna 
delinquente“), Grandpre, Coffignon u.a. ebenfalls. Glück- 
licherweise gehören ja solche Scheußlichkeiten zu den Selten- 
heiten, jedenfalls sind sie seltener als der Inzest. Ich wollte 
hier nur kurz auf die ersteren als Vorstufe zum letzteren hin- 
weisen. 

Jedenfalls ist es m. E. schon als Fortschritt zu bezeichnen, 
wenn ein Strafgesetzbuch (das österreichische, $ 132, IV, sowie 
sein Vorentwurf) diesen Gedanken, den ich schon 1907 in 
meinen „Vorlesungen“, II. Aufl., aussprach, aufgenommen hat, 
dort Kuppelei der Eltern gegen ihre Kinder resp. „Unzucht- 
treiben“ an einem Blutsverwandten genannt. Denn man ver- 
gesse nicht, daß ein solches „Unzuchttreiben“ eine meist leider 
sehr gründliche Vorschule zur Prostitution verderblichster Art 
darstellt, zur scheußlichsten aller Kuppeleien. 

Oeschlecht und Gesellschaft VIII, 2. 5 


66 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Wer Italien resp. Spanien bereist hat, wird wissen, daß 
dort Verkuppelung der eigenen Kinder seitens der Eltern an 
Fremde zu den gemeinsten Sexualverbrechen an der Tages- 
ordnung ist. Ich erinnere nur an Rom und Neapel. Wohl 
fast jedem Fremden, der allein Rom resp. alle größeren, süd- 
lich davon gelegenen Städte, Neapel, Palermo usw. bereist hat, 
wird dies aufgefallen sein. Das geht sogar soweit, daß selbst 
Säuglinge gegen gutes Entgelt Fremden verabreicht werden! 
Mir selbst passierte es in Neapel, daß auf der Via già Roma 
(dem früheren Toledo), als ich in einem Café an der Ecke 
dieser Straße und der Piazza Dante saß, eine Frau mit einem 
ca. vierjährigen Mädchen und dreijährigen Knaben an mich 
herantrat und sowohl sich, als — jedes ihrer Kinder für je 
10 Lire ad libitum anbot. Ich war entsetzt, die Frau fand 
nichts weiter dabei! Forscht man in solchen Fällen weiter, 
kann man häufig erfahren, daß der eigene Vater zuerst sein 
Kind gebrauchte, gleichsam um es zu diesem niederträchtigen 
Kuppeleigeschäft erst zu präparieren. 


SYPHILIDOPHOBIE. 
Von Dr. ALFRED ADLER, Wien. 


ES kommt mir selten ein Fall von Neurose vor, der nicht 
in ausgeprägter Weise Gedankengänge der Syphilisfurcht 
verriete. Bald steht dieses Symptom im Vordergrund, ist oft 
das einzige, dessentwegen der Patient den Arzt aufsucht, bald 
wieder verwebt es sich mit einer Unzahl anderer Symptome 
in der mannigfaltigsten Weise. Meist sind es Patienten, die 
noch keine Infektion durchgemacht haben. Aber auch ehe- 
mals infizierte Neurotiker zeigen zuweilen eine derartige Phobie, 
ersetzen sie jedoch häufiger durch die Furcht vor Gonorrhöe, 
vor Ungeziefer, oder vor Filzläusen, Tabes (Rückenmark- 
schwund) und Paralyse, oder sie zittern vor dem Schicksal 
ihrer noch lange nicht geborenen Kinder. Stets heftet sich 
ein ungeheures Interesse an den Syphiliskomplex, in Wort 
und Schrift jagen sie diesem Thema nach, und nicht selten 
findet man auch, wie sich diese Aufmerksamkeit zeichnerisch, 
malerisch betätigt. 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 67 


Daß die Furchtsamen und Hypochonder vorsichtig sind, 
wäre eine Binsenwahrheit, und es lohnte nicht der Mühe, 
davon zu sprechen, wenn sie diesen Charakterzug nicht 
mit jedem Neurotiker teilten. Eine eingehende Analyse 
dieser Zustände kann jeden leicht belehren, daß die phobischen 
und hypochondrischen Symptome eine ausgezeichnete Eignung 
besitzen, ihren Träger vor einer Gefahr zu sichern, ja daß 
Vorsicht in unserem Sinne fast überflüssig erscheint, da sie 
ganz durch die Phobie ersetzt werden kann. 


Nun entstehen jene Zustandsbilder, deren Auflösung und 
Verständnis so große Anforderungen an den Neurologen stellen. 
Da die Phobie aus der Sicherungstendenz entspringt, 
den Patienten mehr als genugsam behütet, darf er sich schon 
den Luxus erlauben, Unvorsichtigkeiten zu begehen. In der 
Tat kann jeder Syphilidophobe Beweise erbringen, wie unvor- 
sichtig er sein kann. Steckel hat in seinen „Nervösen Angst- 
zuständen“ (Urban und Schwarzenberg, Berlin und Wien 1908) 
auf diese „Bipolarität“ kurz hingewiesen. Der psychische Zu- 
sammenhang dieser, wie Bleuler sagen würde, „voluntären 
Ambivalenz“ ist damit allerdings noch nicht einmal angedeutet. 
Er liegt in der Dynamik des psychischen Hermaphro- 
ditismus mit folgendem männlichen Protest, und die 
kontrollierende, sozusagen zuschauende („sentimentalische“ 
Schiller’s!) Instanz des neurotischen Seelenlebens gerät unter 
den Eindruck: „So unvorsichtig kann ich sein! Ich kenne 
keine Grenzen! Also Vorsicht!“ Dies ist die zwingende 
Seelenregung des Phobikers, die er regelmäßig auftauchen läßt, 
ob er sich nun irgendwelcher Unvorsichtigkeiten erinnert, oder 
ob er sie, was wohl bedeutungsvoller wird, arrangiert. 


In dieses neurotische Arrangement gehört z. B. die 
dauernde oder gelegentliche Abneigung gegen Schutzmaßregeln. 
Als Erklärung für diesen „Leichtsinn“ hört man stets die gleichen 
scheinbaren Ungereimtheiten: „Die Schutzmaßregeln taugen 
nichts!“ — Oder: „Ich bin nicht imstande, ein Kondom zu 
benützen.“ Und ähnliches mehr. 


Daß diese Einwände des leichtsinnig scheinenden Neuro- 
tikers eine gewisse Berechtigung haben, soll nicht geleugnet 
werden. Aber diese Berechtigung sollte doch für alle gelten! 
Und in der Tat überzeugt man sich leicht, daß der Syphili- 

5* 


68 OESCHLECHT UND OESELLSCHAFT 


dophobe dieser Kategorie auch anders kann, daß er auch 
Schutzmaßregeln anzuwenden imstande ist. 

In diesem Gebaren liegt derselbe Sinn, den ich in meinen 
früheren Arbeiten wiederholt beschrieben habe: der Patient 
spielt mit der Gefahr, läuft seinen Ohrfeigen nach, nur um 
sich in sein Sicherungsnetz um so fester einzuspinnen, um 
sich die Gefahren der Außenwelt und seine eigene Minder- 
wertigkeit recht drastisch vor die Seele zu rücken. Ein Patient, 
der kurz nach einer erworbenen Lues wegen anderer nervöser 
Symptome in meine Behandlung kam, drückte dieses Verhältnis 
mit den Worten aus: „Jetzt bin ich erst von meiner Neurose 
erleichtert, seit ich an Lues erkrankt bin. Seit 10 Jahren habe 
ich auf diese Infektion mit Angst und Bangen gewartet!“ 

Die meisten Syphilidophoben rücken allerdings mit ihrer 
Sicherungstendenz direkt gegen die Infektionsgefahr. Sie sichern 
sich auf allen entfernteren und näheren Gebieten, die mit der 
Infektionsmöglichkeit zusammenhängen, vermeiden sogar Be- 
rührungen, Trinken aus fremden Gläsern, schließen sich von 
Gesellschaften ab und können nur den eigenen Abtritt benützen. 
In den weiteren Kreis ihrer Sicherungen gehören Masturbation, 
Ejaculatio praecox, Pollutionen und psychische Impotenz. Auch 
gewisse Charakterzüge werden maßlos verstärkt. So der Geiz. 
Dadurch ist ihnen der Weg zur Frau aufs äußerste erschwert. 
Ihre Ästhetik und ihre ethischen Grundsätze erreichen 
ein unheimliches Maß, ihre Augen, Ohren und Nasen wittern 
überall Unrat und Fehler. Die syphilidophobischen Mädchen 
flirten oft unaufhörlich, schrecken aber vor der Liebe und Ehe 
wie die männlichen Patienten zurück. Wegen des Geruchs, 
wegen der Unreinlichkeit, wegen der Flatterhaftigkeit, Verlogen- 
heit — weil die Männer nicht rein in die Ehe treten —, also 
lauten die bezüglichen Erklärungsversuche. Nicht so selten 
hört man von Mädchen die Befürchtung, vom Manne in der 
Ehe infiziert zu werden. Weitere Sicherungen solcher Frauen 
sind Frigidität, solcher Männer und Frauen Homosexualität 
und Perversionen.!) 


1) Bei der Perversion ist, wie ich in anderem Zusammenhange schon 
öfters ausgeführt habe, ein zweifacher psychischer Modus zu entdecken. 
1. Die Perversion, in der Regel Masochismus, um durch eigene Unterwerfung 
den Partner zu fesseln. Also Pseudomasochismus. Oder 2. Perversion 
als äußerster Grad der Unterwerfung, um vom Partner loszukommen, sich 


70 GESCHLECHT UND OESELLSCHAFT 


Flecken, Schmutz und Staub. Daß dabei den Stuhl- und Harn- 
funktionen ein geradezu rituelles Gepräge gegeben wird, wobei 
nicht selten Obstipation als Zeichen des Reinlichkeits- 
dranges auftritt, liegt auf der gleichen Linie. Organische 
Minderwertigkeitserscheinungen des Darm- und Harnapparates 
(Hämorrhoiden, Schrunden, Mißbildungen der männlichen 
Harnröhre, unfreiwilliger Harnabgang und Erkrankungen der 
beiden Apparate in der Vorgeschichte) sind häufig, und deren 
Äußerungen werden als schreckende Spuren von der Erinne- 
rung bewahrt. 

Die Phantasietätigkeit umrankt fortwährend — entsprechend 
der frühzeitig erregten und eingestellten Aufmerksamkeit — 
Probleme des Krankseins, des Sterbens, der Schwangerschaft 
und des Gebärens (auch bei Männern), heftet sich an Aus- 
schläge, Flecken, Schwellungen, und verwendet sie in sym- 
bolischer Weise ebenso wie Gedankengänge über Kas- 
tration und Kleinheit des Penis. Das Empfinden einer 
nicht erreichten, nie ganz zu vollendeten Männlich- 
keit führt kompensatorisch maßlose Übertreibungen 
herrschsüchtiger, sadistischer und erotischer Reg- 
ungen herbei. 

Ein überaus verschärftes Mißtrauen, die immerwährende 
Sucht, bei anderen Fehler zu entdecken, steht mit der 
Entwertungstendenz im Zusammenhang und hindert jede 
dauernde freundschaftliche und erotische Beziehung. Eine 
weitere Lebensschwierigkeit schafft der aus der Kindheit über- 
nommene Zweifel, ursprünglich aus dem Gefühl der Minder- 
wertigkeit erwachsen, die hervorstechendste Form der ursprüng- 
lichen Unsicherheit. 

Aus Erlebnissen, wie sie jedermann zu Gebote stehen, 
holen die Syphilidophoben ihre Überzeugung von ihrer alles 
überschreitenden Erotik. Diese Überzeugung drückt auf 
ihre Entschließungen, ruft die Phobie hervor und steigert sie 
stetig. Genügt diese nicht vollkommen, um den Patienten zu 
sichern, dann kommt es zu psychischer Impotenz oder anderen 
Sicherungen. Nicht selten gesellen sich weitere Phobien, wie 
Platzangst, Angst vor dem Erröten etc., und andere hysterische, 
neurasthenische und Zwangserscheinungen hinzu und machen 
den Patienten gesellschaftsunfähig, um ihn vor Liebe und Ehe 
zu schützen. Einmal beobachtete ich eine Kombination mit 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 71 


Nieskrampf, in der sich der Patient wie der Held in Vischer’s 
Auch Einer“ benahm, ohne daß er diesen Roman gekannt hätte. 


Syphilidophobe Mädchen zeigen dieselben Symp- 
tome wie die männlichen Patienten. Die Entwertung 
des Mannes erreicht bei ihnen die gleiche Stärke, wie die der 
Frauen bei den männlichen Phobikern. 


Die Bedeutung der Phobie als Sicherung wird ganz 
klar in solchen Fällen, wo der Patient, meist wenn er mit der 
Verheiratung ernst machen soll, einen Hautausschlag oder 
öfters einen gonorrhoischen Ausfluß fälschlich an sich bemerkt 
und die Flucht ergreift. Organminderwertigkeitszeichen, wie 
falsche Harnröhrengänge, Verengung der Vorhaut, kleiner Penis, 
versteckte Hoden oder kleine Testes, vergrößerte Labia minora, 
sind öfters zu konstatieren. 

Die Analyse ergibt, wie so oft in der Neurosenpsycho- 
logie, eine Aufklärung, die dem Standpunkt des Patienten 
gerade entgegengesetzt ist. Der Patient führt an, er fürchte 
die Lues und hüte sich deshalb vor dem Sexualverkehr. Wir 
können ihm nachweisen: er fürchtet die Frau (resp. den 
Mann) und deshalb arrangiert er die Syphilidophobie. 
Immer dringt die Kampftendenz gegen das andere Geschlecht 
durch und läßt sich bis ins früheste Kindesalter zurückverfolgen. 
Ich habe auf die literarische und wissenschaftliche Verwendung 
dieses Problems bereits hingewiesen (Schopenhauer, Strind- 
berg, Moebius, Fließ, Weininger) und will nur kurz auf 
die Allgegenwart dieser Phobie vor der Frau in Dicht- 
kunst und Malerei aufmerksam machen. Wegen der scharfen 
Problemstellung ist mir noch der Dichter Georg Engel („Die 
Furcht vor der Frau“ und „Der Reiter auf dem Regenbogen“) 
aufgefallen, sowie die gedankenreiche Arbeit Philipp Frey’s: 
„Der Kampf der Geschlechter“). 


Schopenhauer läßt sich in den „Aphorismen zur Lebens- 
weisheit“ folgendermaßen vernehmen: „Sie zusammen (das 
ritterliche Ehrenprinzip und die venerische Krankheit) haben 
rege xa pila des Lebens vergiftet. Die venerische Krankheit 
nämlich erstreckt ihren Einfluß viel weiter, als es auf den 
ersten Blick scheinen möchte, indem derselbe keineswegs ein 
bloß physischer, sondern auch ein moralischer ist. Seitdem 


1) Wiener Verlag 1904. 


72 GESCHLECHT UND OESELLSCHAFT 


Amors Köcher auch vergiftete Pfeile führt, ist in das Verhält- 
nis der Geschlechter zueinander ein fremdartiges, feindseliges, 
ja teuflisches Element gekommen; infolge wovon ein finsteres 
und furchtsames Mißtrauen es durchzieht; und der mittelbare 
Einfluß einer solchen Änderung in der Grundfeste aller mensch- 
lichen Gemeinschaft erstreckt sich, mehr oder weniger, auch 
auf die übrigen geselligen Verhältnisse; — —.“ Wir tun dem 
Späherauge des großen Philosophen wohl keinen Abtrag, 
wenn wir auch sein „feindseliges“ Verhältnis zur Frau in Zu- 
sammenhang bringen mit seiner ursprünglichen feindseligen 
Regung gegen die starke Mutter. Daß Schopenhauer auch 
in den übrigen Punkten unserer Schilderung des Syphilido- 
phoben gerecht wird, ist männiglich bekannt. Hervorheben 
will ich sein Beben und sein Erstaunen über die Macht 
des Sexualtriebes, seine Überempfindlichkeit, ѕеіп МіВ- 
trauen und die stark ausgeprägte Entwertungstendenz 
gegen Mann und Frau. Gab er doch seinem Hunde den 
Namen „Mensch“. Seine Verneinung des Lebens ist im selben 
Sinne Verneinung des Sexualtriebes, wie die Syphilidophobie. 
Das Motiv ist das gleiche wie bei unseren Neurotikern: der 
Kampf gegen das starke Weib, die Furcht vor der Frau. 

Ich will noch eine Reihe von Gemälden namhaft machen, 
die aus der gleichen psychischen Dynamik erflossen sind. 
Der in ihnen sichtbare Antrieb führt so deutlich auf die Furcht 
vor der Frau zurück, daß es uns nicht wundern wird, alle 
oben ausgeführten Probleme des Phobikers wieder zu finden. 
Deutlicher bei symbolischen und stilisierten Darstellungen. 
Eine Unzahl oft der herrlichsten Werke folgen dem Kampaspa-!), 
Delila- oder Salomemotiv und stellen bei oberflächlicher Be- 
trachtung oft nur den abstrakten Triumph oder die Macht 
der Liebe dar, oder das Problem ist soweit reduziert, daß bloß 
die räumlichen Maße (große Frau — kleiner Mann) die Furcht 
vor der Frau andeuten. Daß sich das Madonnenmotiv 
dazu sehr gut eignet, ist leicht zu erraten. Unter den Reak- 
tionen auf diese ursprüngliche Furcht fehlt die Entwertung 
der Frau in der überwiegend von Männern geübten Kunst?) 


!) Kampaspa, die Geliebte Alexanders, auf Aristoteles reitend. 

2) Hier liegt offenbar eine der Ursachen für die Überlegenheit des 
Mannes in der Kunst, daß das vielleicht weitreichendste Problem der Malerei 
und Bildhauerei aus den psychischen Regungen des Mannes stammt. 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 73 


gleichfalls nicht. Entscheidend aber ist, daß man, wie beim 
Phobiker, ganze Reihen von Bildern aufstellen kann, seien sie 
nun von einem oder mehreren Künstlern genommen, die fast 
alle die oben angeführten Sicherungstendenzen aufweisen. 
Recht augenfällig ist die umfassende Produktion der Probleme 
bei Rops, und die Identität mit den Problemen des Neuro- 
tikers bedarf keines weiteren Beweises, wenn wir folgende 
Bilder der Betrachtung empfehlen: „La dame au pantin“, 
„Sphinx“, „Pornokrates“, „Cocottocratie“, „Alkoholistin“, „Mors 
syphilitica“. Es klingt wie der Text zu diesen Bildern und 
schildert die Empfindung des Syphilidophoben, wenn Baude- 
laire verkündet: „Ich kann mir eine Schönheit ohne ein 
damit verbundenes Unglück gar nicht vorstellen.“ Und in den 
„Blumen des Bösen“: 

Du wandelst über Tote, Schönheit, lachst sie aus, 

Den Schrecken hast du dir zum schönsten Schmuck erwählt, 

Behängst als liebstes Zierrat dich mit Mord und Graus, 

Der protzig gleißend uns von deinem Stolz erzählt. 

Du bist der Augenblick, der wehend uns verfliegt, 

Die Flamme bist du, wie sie knistert und verblaßt. 

Der Mann, der brünstig schönen Frauenleib umschmiegt, 

Ist gleich dem Sterbenden, der’s eigne Grab umfaßt’). 

Der Künstler ist, wie ähnlich schon oft hervorgehoben 
wurde, aus einem dem Neurotiker verwandten Stoff gefertigt. 
Seine aus dem Organischen abgeleitete Unsicherheit 
begleitet ihn durch das ganze Leben, nie und nirgends fühlt 
er sich ganz heimisch; sein Zagen vor der Handlung, vor der 
Prüfung, das Lampenfieber und die Furcht, nicht zu Ende zu 
kommen, sind ebenso zu weit getriebene Sicherung, wie das 
Zurückweichen des Neurotikers in seiner Höhen- oder Platz- 
angst, wie sein Beben vor dem stärksten männlichen Triumph, 
vor der Liebe. 

In der Praxis ergeben sich meiner Erfahrung nach zumeist 
Bilder, wie die folgenden, die nach dem Obigen leicht zu 
durchschauen sind: 

1. Ein kürzlich verheirateter Fabrikant, der mit seiner Gattin 
in glücklicher Ehe lebt, kommt mit der Klage, daß ihn seit 
einigen Tagen ununterbrochen die Furcht quäle, er werde Lues 


1) Ѕіеһе die entsprechenden Auseinandersetzungen in Gustave Kahn, 
Das Weib in der Karikatur Frankreichs (H. Schmidt, Stuttgart), denen auch 
diese Verse entnommen sind. 


74 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


bekommen. Er könne nicht schlafen und nicht arbeiten; er 
fürchte sich, im Ehebett zu schlafen, seine Frau zu küssen 
oder sein Badezimmer zu benutzen, um nicht auch seine 
Gattin zu gefährden. Auf näheres Befragen ergibt sich, daß 
er kurz vor Ausbruch seiner Phobie ein fremdes Mädchen in 
der Bahn geküßt habe. Die Heilung erfolgte nach zwei Unter- 
redungen, in denen dem Patienten klar gemacht wurde, daß 
er sich durch die Syphilidophobie vor weiteren Seitensprüngen 
sichern wolle. — Die Disposition dürfte dadurch kaum be- 
einflußt worden sein. — 

II. Traum aus einer längeren Kur eines Mediziners, der 
an Zwangsvorstellungen und gehäuften Pollutionen litt. 

„Mir träumte, ich sei bei der Türkenbelagerung Wiens 
anwesend und erwarte die Niederlage und Flucht der Türken. 
Ich wußte im Traume, um welche Zeit die Türken geschlagen 
auf der Bildfläche erscheinen müßten, ich hatte es ja gelesen. 
Um ein Übriges zu tun, nahm ich ein Gewehr und wollte 
den fliehenden Kara Mustapha unter Zuhilfenahme einiger Ge- 
nossen gefangen nehmen. Zur bestimmten Zeit tauchte Kara 
Mustapha mit mehreren anderen auf schwarzen Pferden auf. 
Meine Gefährten liefen davon. Ich sah mich allein einer riesigen 
Macht gegenüber, wollte mich auch zur Flucht wenden und 
erhielt einen Schuß ins Rückenmark. Ich fühlte, wie ich starb.“ 

Die Deutung ergibt als Versuch des Vorausdenkens 
im Traum Gedanken über den Erwerb einer Lues und deren 
Ausgang, Tabes und Tod. Die Einfälle gingen über Türken, 
Halbmond, Halbweltl. Was dem Träumer, einem jungen 
Mediziner, aus dem Buche bekannt war, betraf die Zeit des 
Exanthemausbruchs. Der Reiter auf dem schwarzen ВоВ 
(„Das ist der finstere Thanatos“) ist der Tod. Der Schuß in 
den Rücken bedeutet außer Tabes noch das Erleiden einer 
weiblichen Rolle einem Manne gegenüber (Ein Loch mehr!), 
der gegenüber der Versuch eines männlichen Protestes im 
Ergreifen des Gewehres. Schließlich dringt der männliche 
Protest auf dem Umweg über die Vorsicht durch: Weg von 
den Prostituierten! D. h. weg von jenen Frauen, die für den 
Patienten fast ausschließlich in Betracht kamen. Und ein weiterer 
Protestgedanke: viele Weiber, Türken, Harem! — Ähnliche 
Sicherungstendenz zeigt der zweite Traum, den ich in den 
„Träumen einer Prostituierten“ (Zeitschrift für Sexualwissen- 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 75 


schaft, 1908, Heft 2) analysiert habe. Auch Lenau behandelt 
das gleiche Problem in der gleichen Weise in seiner „War- 
nung im Traum“: 

„Nun ist kein Haus zu schauen mehr; 

Mit arg betroffnen Blicken 

Sieht er nur Gräber rings umher 

Und ernste Kreuze nicken. 

Da wend’t sie sich im Mondenlicht, 

Zu seiner Qualgenesung: 

Mit grau verwischtem Angesicht 

Umarmt ihn — die Verwesung." — 

Von ausführlicheren Analysen sehe ich hier ab. Wo ein 
Patient Syphilidophobie zeigt, kann man sicher sein, daß da- 
hinter die Furcht vor dem Weibe, respektive vor dem Manne, 
meist vor beiden zu finden sein wird. 


DIE PROBLEMATISCHE FRAU. 
Von Dr. ERNST BERNHARD. 


m Grunde genommen ist der Begriff der „problematischen 

Frau“ einerseits zu vielsagend, auf der anderen Seite dagegen 
nicht ausreichend genug für eine Charakteristik, die weniger 
einen bestimmten Seelenzustand, sondern vielmehr die Be- 
deutung der Frau für das zeitgenössische Kulurleben beleuchten 
will. Problematisch ist bis zu einem gewissen Grade — wenn 
man nicht gerade Ibsens Nora als typisch für diese Gattung 
ansieht — eine jede Frau, die über den geistigen Durchschnitt 
ihrer Zeit hinausgediehen ist, problematisch aber auch jedes 
junge Mädchen, das dem unverstandenen Frühling seiner frau- 
lichen Gefühle gegenübersteht. Die Psyche solcher Frauen 
hat für mich nichts Rätselvolles, wenn ich mir auch gern zu- 
gestehe, daß ein gewisser Schuß von „Unverstandensein“ jede 
Frau mit einer reizvollen Pikanterie umwittert. Nur sind der 
„Unverstandenen“, die sich bei näherem Zusehen als sehr 
natürliche und durchaus unkomplizierte Menschen entpuppen, 
so viele, daß für den unbeteiligten Dritten die problematische 
Frau nachträglich zur Nervenqual wird. Ich halte es für über- 
flüssig, Rätsel lösen zu wollen, die zu den beliebtesten Sujets 
der modernen Literatur gehören und die es zu Stande gebracht 


76 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


haben, daß es in der zeitgenössischen Literatur von lauter 
problematischen Frauen wimmelt, aber kein einziges richtiges 
Weib vorkommt. Meine „problematische Frau“ ist kein Klischee, 
sondern ein Ausdruck, der mir lediglich als Notbehelf dient, 
da sich in kein zweites Wort soviel Eindeutiges und dennoch 
Verschiedenes fassen läßt, wie in dieses. Ich bezeichne damit 
die moderne Frau überhaupt, soweit sie Teil an jener groß- 
zügigen Bewegung hat, die im Laufe der Zeit unter dem Namen 
„Frauenemanzipation“ Gesetze und gesellschaftliche Begriffe 
umgeformt hat. In einem Zeitalter, das so offenkundig den 
Stempel der Frauenherrschaft trägt, wird man wohl immer auf 
die alten Themen zurückkommen, deren ältestes und inter- 
essantestes unzweifelhaft die Frau — besser gesagt das Ewig- 
Weibliche, wie es bereits Goethe benannte — ist. Das ewig 
Weibliche, gleichsam die physiologische Seite der Frauen- 
bewegung, soll auch der vorliegenden Skizze Gehalt und Ton 
geben; denn wenn in letzter Zeit ein Gegenstand bis zum 
Überdruß diskutiert wurde, so waren es die Licht- und Schatten- 
seiten der Frauenemanzipation sowie ihre Stellung zu den 
einzelnen Kulturfragen. Den Gegnern des rühmlichst bekannten 
Professors Möbius überlasse ich die Widerlegung der These 
von dem angeborenen Schwachsinn des Weibes und alle, denen 
der langbärtige Jenenser zu forsch ist, finden sich vielleicht 
noch auf dem Wege des Karl Ert zu einem einträchtigen Kom- 
promiß zusammen. Uns scheinen doktrinäre Fragen von der 
Art: ob die Frau vorwiegend produktiv oder reproduktiv ver- 
anlagt sei, ob ihre Intellektualität, losgelöst von der Mutter- 
schaft, sich steigere, ob ihr Gehirn 200 g mehr oder weniger 
wiege, indifferent, wenn nicht gerade müßig, denn die Frau 
hat im Grunde genommen gar keine Geistigkeit, sondern sie 
ist nur ein Komplex von Leidenschaften und Gefühlen und 
will als solcher richtig gewertet werden. Die Frau handelt, 
um paradox zu sprechen, nie mit Überlegung, sondern immer 
impulsiv, ihr ganzes Sein und Denken steht unter dem Ein- 
fluß ihres sexuellen Fühlens.. Man könnte die weiblichen 
Leistungen in allen Fällen als Äußerungen eines gesteigerten 
oder verdrängten Sexualtriebes bezeichnen, auch jene, die 
scheinbar ganz aus dem Rahmen einer solchen Betrachtung 
fallen, weil sie zu banal sind, um unter höheren Perspektiven 
gewertet zu werden. Nun ist das erotische Problem allerdings 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 177 


wiederholt zur Deutung der Emanzipationsgelüste unserer 
Frauen herangezogen worden. Man hat auf den Umstand 
hingewiesen, daß die Frauenbewegung eine groß angelegte 
Propaganda für eine Demoralisation der weiblichen Jugend 
treibe und daß das Ziel der Emanzipation letzten Endes Un- 
zucht und geschlechtliche Promiskuität wären. Das wäre ja 
traurig, wenn die tapferen Vorkämpferinnen dieser neuzeitlichen 
Idee nichts anderes vor Augen gehabt hätten als die Korruption 
der weiblichen Massen und eine folgenschwere Zerstörung 
aller ethischen und moralischen Werte! Man muß schon ein 
Weiberhasser von Schopenhauers oder Weiningers Güte sein, 
um sich zu so extremen und oberflächlichen Maximen zu be- 
kennen. Die Verfechter solchen Unsinns mißverstehen die 
erotische Tendenz, die sich in der Frauenbewegung manifestiert, 
vollständig oder sie umkleiden bestenfalls ein Körnchen Wahr- 
heit mit einem Wust von Ungeheuerlichkeiten, Lügen und 
Übertreibungen. „Armselige Frauen, die so ganz die Be- 
stimmung ihrer Natur und die Größe ihrer Zukunft vergessen 
können!“ sagt Robert Heymann in seinem Essay „Über Liebe, 
Scham und Sünde“, in dem er den modernen Frauen ein recht 
eindringliches Kapitel über ihre derzeitige Verworfenheit liest. 
„An Generationen wird sich die Schuld der Geschlechter 
rächen und ein trauriger Mißwachs wird die Apotheose dieses 
Verbrechens sein. Was sind diese Frauenrechtlerinnen für 
Geschöpfe? Ein drittes Geschlecht, losgelöst aus dem Rahmen 
der Naturbedingungen, selbstschöpferisch gegen die Ästhetik.“ 
Frage: wie kommt ein Autor, der nebenbei ein so augezeichneter 
Romanpsycholog ist, dazu, die Begiffe von dem Wesen der 
Frauenbewegung so ausgiebig und nach allen Regeln der 
Kunst zu mißverstehen? Oder genügt es nicht, wenn er sich 
einfach auf den verneinenden Standpunkt stellt und in einer 
sachkundigen Diskussion eine Idee ablehnt, die unstreitig 
nicht für die Massen gedacht ist? 

Ein Körnchen Wahrheit ist in den Behauptungen der 
Frauenhasser und Emanzipationsgegner unstreitig enthalten; 
‘das ist die Tatsache, daß der Kampf der Frau um eine in- 
dividuelle Weltanschauung weder neu ist, noch anderen als 
erotischen Wurzeln entspringt. Emanzipierte Frauen, die es 
den Männern in allem gleich taten, und auch ihre sexuellen 
Rechte nach allen Regeln der Kunst ausnutzten, hat es eigentlich 


78 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


zu allen Zeiten gegeben, ja in der Vergangenheit relativ noch 
öfter als heute. Problematisch, nicht im landläufigen Sinne 
des Wortes, sondern einfach über den Weibtypus ihres Jahr- 
hunderts hervorragend waren bereits die geistlichen Dichterinnen 
des Mittelalters, die blutrünstige Roswitha von Gandersheim 
das Heer der Mystikerinnen, in deren Briefen und tagebuch- 
artigen Bekenntnissen eine seltsame Verquickung von Erotik 
und Religion niedergelegt ist. Ferner die geistlichen Dichterinnen 
des 17. Jahrhunderts, unter denen wie eine kranke, wundersam 
strahlende Blume eine Anna Ovena Hoyer aufleuchtet. Eman- 
zipierte Frauen waren auch die adligen Romanschreiberinnen 
an den französischen und deutschen Fürstenhöfen, die an 
Pracht der Brutalität der Phantasie einen Boccaccio in den 
Schatten stellten und die in einer einzigen Novelle alle Ten- 
denzen vorweg nahmen, denen später Ellen Key und Andere 
Bücher gewidmet haben. Die Geschichte der Karschin, deren 
problematischen Charakter selbst Friedrich der Große nicht 
bestritten hätte, wenn er für sie mehr als lediglich den be- 
rühmten Taler übrig gehabt hätte, zeigt in unverhüllter Weise 
die innigen Zusammenhänge, die zwischen Sexualtrieb und 
Geistigkeit der Frau bestehen. Über die Frauen der romantischen 
Epoche endlich, die geistreiche Stael, die feinsinnige Sophie 
Laroche, die beiden Schlegel, die kühle und bedeutende Rahel 
Varnhagen, die kleine, wie von tausend Feuern durchsprühte 
Bettina von Arnim, die gleichzeitig eine rege Politikerin war 
und in das Gewirre der damaligen Freiheitskriege und Revo- 
lutionen mit ihren temperamentvollen Schriften handelnd eingriff, 
und später die interessante Henriette Herz: über all die ge- 
nannten Frauen ist in der neueren Literatur nach allen Seiten 
hin Licht verbreitet worden. Die wenigen Beispiele genügen 
jedoch, um die Behauptung zu widerlegen, daß die emanzipierte 
Frau erst ein Produkt der neunziger Jahre des letzten Jahr- 
hunderts ist, und die Frauen der früheren Zeit sich damit be- 
gnügten, ehrbare und züchtige Hausfrauen, wie sie sich etwa 
Chamisso geträumt hat, zu spielen. Allerdings muß man zu- 
geben, daß gerade die berühmten Frauen Ausnahmeerscheinungen 
in ihrer Zeit darstellten und daß den Ideen, deren Vorkämpferinnen 
sie waren, keine generelle Bedeutung zukommen kann. Aber 
sind nicht auch die extrem individuellen Frauen der Moderne 
Repräsentantinnen einer Klasse, die kaum nach Hunderten, 


80 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Frauen in allen Fragen des Sexuallebens zu eigen gemacht. 
Aber alle Erkenntnisse entspringen aus Selbstbeobachtung und 
können nur dann allgemeine Geltung erlangen, wo es sich um 
vollwertige Edelmenschen handelt. Ich will damit nicht sagen, 
daß vielleicht die Urheberinnen der Frauenbewegung ihr Ge- 
fühlsleben nicht objektiv genug eingeschätzt haben, bzw. nicht 
als vollwertige Rasse von Menschen anzusehen sind. Aber 
wenn man die Frauengestalten vergangener und gegenwärtiger 
Zeit, die durch ein Übermaß von Selbständigkeit und Intelligenz 
hervorragten, scharf ins Auge faßt, so machen sich fast durch- 
wegs gewisse Anomalien auf dem Gebiete ihres Sexuallebens 
bemerkbar. Es handelt sich immer um ausgesprochen frigide 
‘oder sexuell überreizte Frauen, deren höhere Geistigkeit gleich- 
sam im Austausch für die Mängel ihres Sexualbefindens vor- 
handen zu sein scheint. Alle Forderungen, die auf eine Reform 
des geschlechtlichen Lebens Bezug haben, entspringen letzten 
Endes dieser verdrängten oder übermäßig vorhandenen Sexu- 
alität. Der optimistische Reformeifer dieser Frauen steht dia- 
metral gegenüber der Reformmüdigkeit ihres Zeitalters und 
wirkt faszinierend auf alle, die mit seinen Trägerinnen in Be- 
rührung kommen. Aber wenn Frauen spaltenlange Essays 
über die sexuellen Rechte des Weibes, über soziale und öko- 
nomische Fragen schreiben, so ist das im letzten Grunde das- 
selbe, wie wenn eine deutsche Prinzessin in zweideutigen 
Tagebüchern ihre nymphomanischen Liebesleidenschaften vor 
einem gierigen Pöbel ausbreitet, oder wenn in früheren Zeiten 
deutsche Fürstinnen galante Abenteuer im Stile des Boccaccio 
veröffentlichen und sich an Schilderungen der obszönsten 
Situationen nicht genug tun konnten. Das, wie jenes, ist ein 
Akt von ideellem Exhibitionismus, indem die Frau ihre in- 
timsten Gefühle, ihre Gedanken von sexuellen Dingen, von 
Mannessehnsucht und Brautschaft, ohne Bedenken prostituiert. 
Wollte man gerecht sein, müßte man zugeben, daß eigentlich 
die gesamte erotische und sexuelle Literatur dem Drang nach 
ideellem Exhibitionismus entspringt. Damit soll nicht gesagt 
werden, daß man besser ohne sie auskäme, ebenso wie auch 
die Frauenbewegung eine Reihe von Problemen angeschnitten 
hat, deren Bedeutung für die soziale Wohlfahrt der Nationen 
von jedem gern zugegeben wird. Die Enthüllung der erotischen 
Triebfeder unserer Frauenrechtlerinnen soll nur zur Aufklärung 





FLAGRANT DELIT. Von JULES GARNIER. Um 1888. 
Zu dem Aufsatz »Die eheliche Untreue<. Seite 86. 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 81 


der Tatsache beitragen, daß die Frauenbewegung immer auf 
einzelne verteilt bleiben wird, und daß es dem normalen weib- 
lichen Gefühle widerstrebt, sein Innerstes so unverhüllt preis- 
zugeben, wie es die emanzipierte Frau tut. Sieht man einmal 
die treuesten Anhängerinnen und Mitläuferinnen der Frauen- 
emanzipation näher an, so erkennt man sofort, daß es sich 
entweder um unreife weibliche Elemente, halb verbildete 
höhere Töchter und vorlaute Backfische, oder um jene Ge- 
sellschaftsklasse, die man schlechtweg mit dem vielleicht etwas 
indiskreten Begriffe „alte Jungfer“ bezeichnet, handelt. Aber 
wenn die Frau ein gesundes Liebesleben begonnen hat und 
auch in diesem verharrt, splittern nach und nach alle indivi- 
dualistischen Ideen von ihr ab und es meldet sich das Be- 
wußtsein, das alle anderen Gefühle übertäubt: Weib zu sein 
und nach uraltem, natürlichen Gesetze dauernd im Manne 
aufzugehen. Fast in allen Fällen, wo die Frau über die ehe- 
liche Verbindung hinaus unbefriedigt bleibt, überall dort also, 
wo bedeutsame Frauen an scheinbar oder wirklich unbe- 
deutende Männer gekettet sind, mag man immerhin ein ab- 
normales Triebleben annehmen. Die freien Eheverbindungen, 
die mit vollem Bewußtsein aller etwaigen Folgen geschlossen 
werden, beweisen nicht das Gegenteil. Gerade in letzter Zeit 
häufen sich die Fälle, wo exaltierte Frauen, Anhängerinnen der 
Emanzipation, ihren Partner auf irgend eine Weise aus dem 
Wege schaffen, weil er ihre hochgespannten Erwartungen nicht 
voll erfüllt hat. Überhaupt wäre es eine dankenswerte Arbeit, 
wenn man die Fäden aufdecken wollte, die Frauenemanzipation 
und Verbrechen verbinden. Vielleicht spräche gerade eine solche 
Arbeit amdeutlichsten für die früher ausgesprochene Behauptung, 
daß die Wurzel der Frauenbewegung im Erotischen oder besser 
gesagt im krankhaft Erotischen liege. Zur Illustration dieses 
Themas müssen dann auch Fälle wie die der Frau Blum, Crespi, 
Lamberjack und anderer, die die Öffentlichkeit in letzter Zeit 
bewegt haben, herangezogen werden. Im Rahmen derselben 
Untersuchung müßte auch der Prostitution gedacht und jene 
Einflüsse festgestellt werden, die die Frauenbewegung auf das 
Abschwellen bezw. die Verbreitung dieser Seuche genommen 
hat. Soviel steht fest, daß manche Maximen über das sexuelle 
Leben, die von Frauen ausgesprochen wurden, bei den Ge- 
schlechtsgenossinnen eine gänzlich falsche Interpretation ge- 
Geschlecht und Gesellschaft, VIII, 2. 6 


82 OESCHLECHT UND OESELLSCHAFT 


funden haben, und daß namentlich in intellektualen Kreisen 
dadurch einer geheimen Prostitution Türe und Tor geöffnet 
wurde. Ich verweise nur auf die Zustände unter der jung- 
russischen Oymnasialjugend, wo der Ssaninismus eine not- 
wendige Folge der durch die Frauenbewegung eingeleiteten 
Aufklärung war und wo die freie Geschlechtswahl sich nach- 
gerade von einer geschlechtlichen Promiskuität in gar nichts 
mehr unterscheidet. „In Rußland hat die sexuelle Evolution“, 
schreibt Wulffen, „ganz eigentümliche Früchte getragen. Im 
Mai 1908 wurden in Woronosch 40 Schüler und Schülerinnen 
des dortigen Gymnasiums und der Realschule verhaftet, darunter 
sieben aus einer Familie. Sämtliche gehörten dem Verbande 
„Freie Liebe“ an und sollen in geheimen Lokalitäten geschlecht- 
liche Orgien gefeiert haben. Ähnliche Nachrichten drangen 
bald aus allen Enden des Zarenreiches. In Minsk hatte sich 
mit der Liga und ihrer Organisation ein Leutnant befaßt. Die 
freie Liebe fand täglich unter der Schuljugend neue Anhänger 
und Anhängerinnen. Gleiche Vorgänge sollen sich in Jeka- 
terinoslaw und Perm zugetragen haben In Kiew hat ein 
Student die Liga eingerichtet, die gegen 100 Mitglieder zählt. 
Diese fröhnt in fünf Wohnungen ihrem unzüchtigen Verkehr, 
erst findet Kneiperei und dann freie Liebe statt. Die Ehe, so 
lautet des Programm, ist eine veraltete Einrichtung. Der Mensch 
ist frei und bedarf auch Freiheit in seinen Begierden. Ent- 
sprechende Lektüre sorgt für nötige Aufklärung und Anregung. 
Die jungen Mädchen werben schamlos für ihren Verein männ- 
liche Mitglieder, die jungen Männer sind auf der Suche nach 
weiblichen Adepten. Die Backfische sind mehr als die Jüng- 
linge bei der Sache. Der Verein besteht zu großem Teil aus 
Mädchen, die beiden weiblichen Gymnasien in Kiew stellen 
das Hauptkontingent. Dazu gesellen sich noch einige Zu- 
hörerinnen der Hebammenschule. Die anständige Jugend hat 
gegen dieses Treiben lebhaft Protest erhoben. Dayn (Zeit- 
schrift für Sexualwissenschaft I, 499) erwähnt, daß er genau 
darüber informiert sei, wie die Schülerinnen der drei bis vier 
höchsten Klassen der verschiedensten Städte im Süden und 
Westen des Landes fast durchgehend in intimem Verkehr mit 
gleichaltrigen jungen Männern standen und daß selbst bei 
denen, die vor dem Geschlechtsakt noch zurückschreckten, 
doch die gegenseitige Berührung der äußeren Genitalien gang 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 83 


und gäbe wäre, wie auch das sogenannte Minettieren häufig 
ausgeübt wurde. Eine allgemeine Erotodämie hat die russische 
Jugend ergriffen, hervorgerufen durch das in der russischen 
Literatur aufgerollte Sexualproblem.“ (Wulffen, Sexualver- 
brecher 410 ff.). 

Man kann die Frauenbewegung nicht allein dafür verant- 
wortlich machen, daß das sexuelle Problem in so ausgiebiger 
Weise aufgerollt wurde, aber zweifelsohne hat sie viel zur 
öffentlichen Diskussion beigetragen. Allein schon diese Be- 
hauptung dürfte genügen, um dem Verfasser dieses den Vor- 
wurf einzubringen, daß er die Frau, die unter mühsamen 
Ringen ihre Persönlichkeit und ihre sexuellen Rechte durch- 
gesetzt hat, wieder auf den Standpunkt der züchtigen Schiller- 
schen Hausfrau zurückführen möchte, darum weil ihm die 
Emanzipation nicht ganz einwandfreien Wurzeln zu entstammen 
scheint. Das ist jedoch keineswegs der Fall; ich verhehle mir 
nicht, daß die aufgeklärte Frau für die soziale Wohlfahrt und 
Ökonomie des Staates, aber auch für eine Wiedergeburt der 
ethischen Grundsätze der Gesellschaft von größter Bedeutung 
ist, und daß namentlich die im öffentlichen Beruf stehende 
Frau eine bei weitem wertvollere Stütze des Mannes darstellt 
als der männliche Gehilfe. Die Frage, ob die geistige, selbst- 
schöpferische Arbeit der Frau über das Niveau des Durch- 
schnitts emporragen kann, und ob die Romane einer Ebner- 
Eschenbach, Viebig, Lagerlöf, die Gedichte einer Janitscheck, 
Ritter, Madeleine usw. doch anderes enthalten als nur nach- 
empfundene Stimmungen und Situationen, möchte ich in diesem 
Zusammenhang unerörtert lassen. Nicht die künstlerische oder 
berufliche Tätigkeit der Frau verschuldet deren problematischen 
Charakter, Schuld daran ist vielmehr das aktive Eingreifen in 
den Streit über die sexuellen, wissenschaftlichen Erkenntnisse 
und die schamlose Propaganda, die einzelne Frauen mit ihrem 
intimsten Gefühlsleben treiben. Die Liebe ist ein Kapitel, das 
die Frau in erster Linie angeht, aber sie birgt soviel Heimlich- 
keiten, Schmerzen und Abgründe, daß sie eine Frau mehr 
noch als ihre kostbarsten Juwelen in ihren geheimsten Fächern, 
das ist die Seele, verschließen sollte. Die modernen Frauen- 
rechtlerinnen reißen diese Fächer auf, streuen — um drastisch 
aber bildlich zu sprechen — die Perlen vor die Säue und ver- 
letzen so die Schamhaftigkeit, die trotz Emanzipation und 

6* 


84 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


beruflichem Wissen immer eine erlesene Zierde des Weibes 
bleiben wird. Man soll nicht dagegen einwenden, daß das 
Weib doch in erster Linie dazu berufen ist, Licht über sich 
selbst zu verbreiten und daß niemand die Frauenpsyche so 
restlos zu analysieren vermag wie die Frau selbst. Über jene 
Dinge, über die ihr von der Natur aus zu schweigen geboten 
wurde, werden auch die wenigen positiven Mitteilungen von 
fraulicher Seite nicht die nötige Klarheit bringen. Typisch ist 
ja, daß alle Forderungen, soweit sie das weibliche Sexualleben 
betreffen, die Idee von dem Rechte auf Mutterschaft, zuerst 
von männlicher Seite ausgesprochen wurden und daß dann 
die Frauenemanzipation eine Bewegung daraus konstruiert hat. 
Auch ohne die Schriften der Frauenrechtlerinnen. über das 
sexuelle Problem wäre die Wissenschaft zu den heutigen Er- 
kenntnissen gelangt, und die Männer hätten wohl in ihrem 
eigensten Interesse darauf gedrungen, die Frau so frei als 
möglich zu machen. Liegt es doch im eigensten Interesse 
des Mannes, eine Moral zu beseitigen, die einer Herrenrasse 
unwürdig und in ihrer engen Verknüpfung mit religiöser Dog- 
matik allen Kulturfortschritt hemmen muß. Es ist ja alles wahr, 
was die Frauenbewegung aufgerührt und zur Sprache gebracht 
hat. Wir brauchen eine Reform des Sexuallebens, um auch 
auf anderen Gebieten zu neuen humaneren Gesetzen zu ge- 
langen. Aber man überlasse doch den Streit darum den Männern, 
denn dieses Gebiet ist für die Frau genau so undankbar wie 
die Politik. Es hat Zeitalter gegeben, die vielleicht noch mehr 
als das gegenwärtige unter der Vorherrschaft des Weibes ge- 
standen haben, aber in keinem anderen haben die Frauen ihre 
Seele so skrupellos vor der Öffentlichkeit seziert wie heute; 
und man würde über diese Tatsache noch hinwegsehen, wenn 
der praktische Erfolg mit dem Aufwand an Scharfsinn und 
Worten in irgend einem Einklang stände. Aber dieselbe Frau, 
die eine halbe Stunde zuvor eineröffentlichen Frauenversammlung, 
in der die Prostitutionsfrage aufgerollt wurde, beigewohnt hat, 
urteilt beim Five o’clocktee oder in der Theaterloge doch nicht 
anders als früher über diese Parias unter den modernen 
Proletariern. Freilich ist es heute modisch, so oft und so 
umfassend wie möglich sich über das sexuelle Problem aus- 
zulassen, und noch modischer für eine mondaine Frau, irgend 
einen Zug an sich zu haben, der verborgene Perversionen 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 85 


wittern läßt. Ich kenne Frauen und Mädchen der Berliner 
Gesellschaft, die ‘es mir als sexualwissenschaftlichen Schrift- 
steller wiederholt zu verstehen gaben, daß sie homosexuell 
veranlagt seien und gleich mit einem Wortschwall geistreicher 
und läppischer Phrasen über den § 175 und ähnliche Gesetzes- 
bestimmungen herfielen. Man kann es wohl ruhig als Un- 
delikatesse, ich möchte beinahe sagen seelische Verrohtheit, 
bezeichnen, wenn Frauen bei einem Fünfuhrtee über den homo- 
sexuellen Paragraphen verhandeln und Worte wie Tribadie, 
Masturbation, mutuelle Onanie usw. in den Mund nehmen. 
Und das hat die aufklärende Propaganda getan, die von den 
Führerinnen leider mit einem phänomenalen Erfolg eingeführt 
wurde. Man staunt darüber, daß in England die Wotes for 
women-campagne so wenig positive Früchte trägt. Man kann 
im Gegenteil sagen, wenn jemals die britische Regierung sich 
mit dem Gedanken getragen hätte, den Frauen das aktive 
Wahlrecht zu gewähren, so ist sie durch diese Bewegung auf 
das gründlichste davon abgeschreckt worden. Ebenso mag man 
berechtigterweise annehmen, daß viele Gesetze, die mit dem 
sexuellen Problem zusammenhängen und augenblicklich eines 
Kulturstaates unwürdig sind, von den maßgebenden Faktoren 
geändert würden, wenn die Anregung hierzu aus ernsten 
fachmännischen Kreisen käme, und wenn nicht die Gefahr 
bestünde, daß die emanzipierten Frauen allmählich zu den 
extremsten Forderungen schreiten. Man glaubt es nicht, was 
eine Frau alles fordern kann, wenn erst ein Teil ihrer Wünsche 
befriedigt wurde. Aber es ist ja Hoffnung vorhanden, 
daß diese ganze Bewegung, die so plötzlich einsetzte, all- 
mählich in gesündere Bahnen einlenkt, und daß wir nicht bei 
jenem gefürchteten Typus des Überweibs anlangen, was nicht 
minder größere Schäden im Gefolge haben könnte, wie etwa 
die Prostitution oder die Durchseuchung des Volkes mit einer 
ansteckenden Krankheit. 


Ө EI 
Ө 


86 GESCHLECHT UND OESELLSCHAFT 


DIE EHELICHE UNTREUE 
Von Dr. I. B. SCHNEIDER. 


L 

as Verbrechen der ehelichen Untreue beginnt in der Mensch- 

heitsgeschichte mit jenem Moment, wo das monogame 
Prinzip sich allgemein durchgesetzt hat. Die historischen und 
sozialen Grundlagen dieses Deliktes, das von ausnehmender 
Bedeutung ist, weil es mit dem brennendsten Problem aller 
Zeiten — dem sexuellen — zusammenhängt, sind dieselben, 
auf denen sich die monogame Ehe aufgebaut hat, und der 
strafrechtliche Tatbestand ist auch nur solange gesichert, als 
das vorgenannte Prinzip seine augenblicklich herrschende Be- 
deutung behält. Die monogame Ehe stellt den Endpunkt einer 
Entwicklung dar, die im Verlauf sich auf eine Reihe von Jahr- 
tausenden erstreckt, An der Schwelle dieser prähistorischen 
Reihe steht jene Gemeinschaftsform, die dem vom Tiere zum 
geistig organisierten Wesen sich entwickelnden Individuum 
zunächst entsprechen mußte: die geschlechtliche Promiskuität, 
d. i. die wahllose Paarung zwischen Mann und Weib, wo die 
Rechte und Pflichten des männlichen Partners mit dem Moment 
der Nachkommenzeugung erlöschen. Einzelne Autoren, wie 
Forel, sind allerdings der Ansicht, daß es eine regelrechte 
Promiskuität mit Ausnahme der modernen Prostitution niemals 
gegeben habe, die Umstände jedoch, die noch heute bei vielen 
Naturvölkern herrschen und die sich wenig von der eigent- 
lichen Promiskuität unterscheiden, sprechen eher für das 
Gegenteil. Von dem vorgenannten primitiven Zustand ge- 
schlechtlicher Gemeinschaft, dessen höhere Stufen die Gruppen- 
ehe, die Polyandrie und die Vielweiberei bilden, gelangte der 
Mensch im Lauf der Jahrtausende zur höchsten Form der 
ehelichen Gemeinschaft, der Monogamie, auf deren Boden sich 
im weiteren Verlauf die Gründung der vorhandenen Familie 
und der Staaten vollzog. In der modernen Ehe finden sich 
alle diese Probleme wiederholt, und sämtliche Stadien, die die 
Ehe durchlaufen und überwunden hat, kehren gleichsam in 
einer Synthese wieder, bilden jene ungesetzlichen Zustände, 
die als Verbrechen gegen das monogame Prinzip gekennzeichnet 
sind. Der Kampf zwischen Mutter- und Vaterrecht, Frauen- 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 87 


raub und Raubehe, Kaufehe und Weibertausch bilden den 
Gegenstand zahlreicher Prozesse, in denen die intimsten 
Familienskandale vor der Öffentlichkeit breit getreten werden. 
Die ideale Lösung des monogamen Eheproblems ist schließ- 
lich heute wie in historischer Zeit nur auf einzelne beschränkt 
geblieben — die Geschichte berichtet überall von nur wenig 
glücklichen, aber um so mehr verfehlten Ehen —, und auch 
unsere Ehe ist wie in anderen Jahrhunderten nichts weniger 
als die dauernde Lebensgemeinschaft zweier freier und gleich- 
berechtigter Menschen, die sie unter Abschätzung aller Kon- 
sequenzen geschlossen haben. Die ganze Bewegung der so- 
genannten freien Liebe wäre nicht entstanden, wenn sich nicht 
allmählich in den weitesten Schichten die Überzeugung fest- 
gesetzt hätte, daß die neuzeitliche konventionelle Ehe einer 
freien und selbtbewußten Menschheit nicht mehr genügen 
kann. Aber noch deutlicher als das Bekenntnis der modernen 
Jugend zu den IForderungen der Emanzipation spricht die 
Kriminalstatistik für die bedenkliche Unsittlichkeit, die unserer 
Ehe den Charakter gibt. Ehebrüche und Scheidungsklagen 
gehören zu keinen Seltenheiten, mehr und recht häufig sind 
die Katastrophen, wo der eine oder der andere Gatte sich 
seines verhaßten Partners einfach auf gewaltsame Weise ent- 
ledigt. Das Kapitel über den Ehebruch gehört unstreitig zu 
den interessantesten, weil es in alle Untiefen der monogamen 
Ehe, wie sie heute gehandhabt wird, hineinleuchtet. Diese 
Untiefen aber sind ungeheuer, grausig und stoßen an die 
Abgründe, wo die widerlichsten Leidenschaften der Mensch- 
heit, Prostitution und Verbrechen, heimisch sind. 

Untersucht man die Ursachen, die das Überhandnehmen 
der unglücklichen Ehen verschulden, so muß man in erster 
Linie die wirtschaftliche Lage dafür verantwortlich machen, in 
der sich die meisten Paare vor und nach der Hochzeit befinden. 
Es geht ein Zug von Nüchternheit durch unsere Zeit, ein all- 
seits fühlbarer Mangel an Idealen, die es verschulden, daß die 
Ehe immer mehr und mehr zu einer bloBen Formsache herab- 
sinkt, aus rein kapitalistischen oder egoistischen Motiven an- 
gestrebt wird. Das Emanzipationsbedürfnis der Frau hat sich 
auch auf die intimsten Vorgänge des Gemeinschaftslebens er- 
streckt, und der Instinkt des modernen Weibes geht mehr 
denn je nach sexueller Freiheit, gleichwie der Mann im Laufe 


88 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


der Zeit das monogame Prinzip immer mehr mißachtet und 
seinen polygamen Neigungen freien Lauf läßt. Man betrachte 
die Ehe der verschiedenen gesellschaftlichen Klassen und man 
wird bemerken, daß es ein richtiges Familienleben eben so 
selten im Hause des Kommerzienrates wie in der Mansarde 
des Gelegenheitsarbeiters gibt. In den Reihen der oberen 
Zehntausend geht man über etwaige Disharmonienstill- 
schweigend hinweg (es wäre shocking, wenn eine mondäne 
Frau am Ende in einem ehrlichen, hausbackenen Verhältnis 
verkümmern sollte), Mann und Frau haben vielmehr ihre 
Passionen, die sie vollständig getrennte Wege führen, und 
während sich der Gatte mit einem kleinen Chormädel oder 
einer Ballettratte tröstet, geht die Frau mit dem Sekretär ihres 
Mannes oder einem Freunde des Hauses shopping. Oder 
der Mann ist an sein Kontor gefesselt, und die Frau macht 
auf eigene Faust Reisen, wobei sie mit eleganter Skrupellosigkeit 
die illegitimen, rentablen Herrenbekanntschaften anbahnt. Selbst 
im eigenen Hause sind die beiden Ehegatten einander fremd 
oder bestenfalls gleichgiltig, da in den meisten Fällen das 
Band, das Mann und Weib erst so recht eigentlich zusammen- 
führt, die Kinder, gar nicht vorhanden oder dauernd an anderer 
Stelle untergebracht sind. Die gesellschaftliche Richtlinie in 
ehelichen Dingen ist nämlich augenblicklich der Neomalthu- 
sianismus, und in fashionablen wie kleinbürgerlichen Familien 
ist das Ein- und Zweikindersystem entgegen der früheren 
Geburtenzunahme Trumph. Wenn aber dauernd keine Kinder 
angestrebt werden, kann eine Ehe, die nicht als Ergänzung 
der gegenseitigen Qualitäten geschlossen wurde, zu keinen 
günstigen Resultaten führen. Aus dem Grunde scheint mir 
auch die sogenannte Vernunftehe, für die neuerdings einige 
Schriftsteller eintreten, und die nur eine geschickt zurecht ge- 
machte Variation der üblichen konventionellen Geldehe ist, 
nicht die reformatorische Bedeutung zu besitzen, die ihr an- 
gedichtet wird. Abgesehen davon, daß ihr das seelische 
Moment, die Werbung der Geschlechter umeinander, abgeht, 
werden solche Vernunftehen gewöhnlich mit Hilfe eines Ver- 
mittlers geschlossen und das Brautpaar lernt sich überhaupt 
nicht näher kennen, so daß bereits vor der Hochzeit die ver- 
hängnisvolle Entfremdung vorhanden ist. So kommt es, daß 
viele Ehen kaum ein Jahr nach der Hochzeit wieder geschieden 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 89 


werden, wenn es die Ehepaare nicht vorziehen, einen offenen 
Skandal zu vermeiden und ein unwürdiges Dasein stillschwei- 
gend weiter zu schleppen. Freilich haftet einer Scheidung 
von heute nicht mehr jenes Odium an wie zu Großvaters und 
Großmutters Zeiten, ja unter dem Einfluß der modernen Lite- 
ratur gewinnt eine Frau, die ein paar Scheidungen hinter sich 
hat, gerade darum an Pikanterie und Interesse für die Lebe- 
welt und besitzt gleichzeitig einen Freibrief für jenes selb- 
ständige Auftreten, das auch zeitlebens das geheime Ideal aller 
ehrbaren Frauen bildet. Wo wie in katholischen Ländern die 
einmal geschlossene Ehe nur unter den größten Schwierig- 
keiten lösbar ist und auch dann der geschiedene Teil bei Leb- 
zeiten des anderen nicht wieder heiraten darf, hilft man sich 
mit der obligaten Heuchelei aus der Situation, bis etwa ein 
Zufall oder ein Verbrechen die Ehe vorzeitig lösen. Für den 
Ehebruch der bürgerlichen Gesellschaft ist unter solchen Um- 
ständen der Boden glänzend vorbereitet, und man kann sagen, 
daß eheliche Untreue auch nirgend verbreiteter ist als in diesen 
Kreisen. Damit soll aber keineswegs gesagt werden, daß die 
Ehe des Proletariers jenes Ideal darstellt, das man in den 
feudalen und bürgerlichen Kreisen vergeblich suchen würde. 
Schon der Umstand, daß die Ehe des kleinen Mannes weitaus 
in der Mehrzahl der Fälle ein auf animalischen Regungen be- 
ruhendes Bündnis darstellt, bei dem die Erwägungen wirt- 
schaftlicher Natur nicht so deutlich in den Vordergrund treten, 
bürgt für ihre kurze Dauer und den weiteren unglücklichen 
Verlauf, der noch durch die schwierige politische Lage, die 
mangelnden Löhne, die Teuerung und die vielen Geburten be- 
schleunigt wird. Allerdings beginnt auch der sozialistisch auf- 
geklärte Arbeiter die Bedingungen, unter denen er eine Ehe 
eingeht, immer sorgfältiger zu wägen, und trotz der Verachtung 
alles Kapitals häufen sich in dem modernen Proletariat die 
Verbindungen, die der kapitalistischen konventionellen Ehe der 
Bourgeoisie gleichkommt. Die aufgeklärten Volksmassen haben 
sich um so mehr die Moral dieser Kaste zu eigen gemacht, 
als sie darin eine bedeutende Handhabe zur Niederringung 
ihrer Bevormunder sehen. So hat bereits der Neomalthusia- 
nismus Eingang in ihren Kreisen gefunden und es gibt 
moderne Arbeiterehen, die gar keine oder höchstens ein bis zwei 
Kinder aufweisen. M.E.ist das Bekenntnis der intelligenteren 


90 * GESCHLECHT UND OESELLSCHAFT 


Arbeitermasse zum Neomalthusianismus mindestens ebenso 
berechtigt, wenn nicht von größerer Bedeutung, wie für die 
bürgerliche Gesellschaft, denn einerseits ist es ein Akt der 
Notwehr gegen die überhandnehmenden Schwierigkeiten des 
Daseinskampfes, der unter den gegenwärtigen Bedingungen 
zur Aufreibung zahlloser wertvoller Elemente führt, andererseits 
beweist es eine steigende Oeistigkeit in den Reihen der Ar- 
beiter, die nicht mehr die Verantwortung für ein elendes oder 
krüppelhaftes Dasein ihrer Nachkommen auf sich laden wollen. 
Daß mit der wünschenswerten Aufklärung andererseits eine 
unvermeidliche Unmoral Hand in Hand geht, wird niemand 
bestreiten, der die Verhältnisse im modernen Proletariat ob- 
jektiv wertet. Eheliche Untreue und ähnliche Vergehen wider 
die Gesellschaft knüpfen an das steigende Kulturbedürfnis an 
und erfordern zu ihrer Ausübung jenen Grad von Raffinement, 
der zur Übertäubung der erkannten ethischen Forderungen ge- 
nügt. Aus dem Grunde rechne ich den Ehebruch zu den 
Vergehen, die erst auf einer gewissen erreichten kulturellen 
und gesellschaftlichen Stufe begangen werden, und glaube 
diese Auffassung aus der Geschichte der ehelichen Untreue 
belegen zu können. Verbrechen gegen die eheliche Treue in 
den Kreisen der gesellschaftlichen Parias, zu denen alle Unbe- 
mittelten, Namenlosen, die Kleinen und die Geknechteten ge- 
hören, sind nicht anders einzuschätzen als die wahllose Pro- 
stitution, bezw. die anderen zahllosen Sittlichkeitsdelikte, die 
durch die ökonomische Notlage und den Mangel an ethischen 
Hemmungen bedingt sind. Schließlich ist eine Ehe, die unter 
den denkbar ungünstigsten Verhältnissen geschlossen wird, 
wo das Wohnungselend, die wachsende Kinderzahl und der 
nicht ausreichende Lohn Mütter und Töchter auf die Bahn der 
Prostitution abdrängen, nicht höher anzuschlagen als die ur- 
sprüngliche Promiskuität, die wahllose Hingabe der Geschlechter 
aneinander. Erfahrungsgemäß gelangen auch die wenigsten 
Fälle von Ehebruch aus dem eigentlichen Proletariat zur An- 
zeige und Abstrafung. Den Zugehörigen dieser Kaste fehlt 
das Verständnis für die Strafbarkeit ihrer Vergehen gänzlich, 
die Frau aus den untersten Schichten prostituiert sich mit 
Einverständnis ihres Mannes, weil es beiden wirtschaftliche 
Vorteile bringt, und wird fast niemals wie die mondäne Frau 
auf Antrag des beleidigten Gatten nach erfolgter Scheidung 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 91 


zur Verantwortung gezogen. So und nicht anders liegen auch 
die Verhältnisse auf dem Lande; der Ehebruch wird kaum als 
ein strafbares Delikt angesehen und im schlimmsten Falle 
übernimmt der beleidigte Ehegatte selbst die Vollstreckung der 
Strafe, die dann einfach in einer ziemlich derben Tracht Prügel 
besteht. Aber das Gesetz wird hier wie dort wenig in An- 
spruch genommen. Wozu auch, da doch für eine unkompli- 
zierte primitive Weltanschauung dieses künstliche Produkt einer 
verfeinerten Ethik, der Ehebruch, gar nicht vorhanden ist? 
Häufiger liegen die Verhältnisse auf dem platten Lande so, wie 
sie Zola in seinem großartigen Roman „Mutter Erde“ schildert 
und das praktische Leben es immer täglich von neuem erweist: 
der Mann geht seine eigenen Wege, die Frau die ihren, und 
wo sie zusammengehen, leisten sie einander die nötigen 
Kuppeldienste, ohne das Unmoralische ihrer Handlung zu 
empfinden. Als Buteau in dem genannten Roman seine junge 
widerstrebende Schwägerin Franziska vergewaltigt, leistet ihm 
deren Schwester Hilfe, indem sie Arme und Beine Franziskas 
festhält. Das ist brutal aber wahr, weil es zu den alltäglichen 
Vorkommnissen auf dem Lande gehört. Ein Prozeß, der vor 
drei Jahren vor einem mecklenburgischen Gericht abgehandelt 
wurde, deckte ähnliche Verhältnisse auf. Bauernmädchen hatten 
einen jungen, schwachsinnigen Knecht unter Anwendung von 
Gewalt ausgekleidet und zum Ehebruch mit der Frau eines 
Akrobaten gezwungen. Dieses Kapitel gehört aber schließlich 
zur Frage der Prostitution des ländlichen Proletariats, bezw. 
den Schilderungen, die sich mit der Beleuchtung der ländlichen 
Unsittlichkeit beschäftigen. Die eheliche Untreue ist eine 
bürgerliche Krankheit und ausschließlich für die Bourgeoisie 
existiert der Paragraph 172 des Strafgesetzbuches, als ein über- 
flüssiges Vorhandenes, das, wie wir noch sehen werden, durch 
kein politisches oder soziales Raisonnement auf die Dauer zu 
halten ist. Die gesetzliche Ahndung der ehelichen Untreue 
ist ein Rest mittelalterlicher Weltanschauung, die zu den Zeiten 
der kirchlichen und unlösbaren Ehe von wesentlicher Bedeu- 
tung sein konnte, die moderne Zeit jedoch hat sich ein anderes 
Eheideal geschaffen, das den ominösen Paragraphen überflüssig 
macht. Erlischt doch bei Ehebruchvergehen mit erfolgter 
Scheidung an und für sich das Recht der Gatten aneinander! 
Daß im übrigen der Ehebruch lediglich eine soziale Erschei- 


92 GESCHLECHT UND OESELLSCHAFT 


nung im Kulturleben der Völker darstellt, und nicht zu den 
tatsächlichen Verbrechen zu zählen ist, werden wir bei der 
Besprechung der verschiedenen Formen der ehelichen Untreue 
sehen. Augenblicklich erübrigt es sich, noch einige Worte über 
das neue Eheideal zu sagen, das im Laufe der letzten Jahre an 
Stelle der kirchlichen und gesetzlichen Zwangsehe getreten ist. 

Die „freie Ehe“ d.i. die dauernde oder vorübergehende 
freiwillige Bindung zweier Menschen unter Hintansetzung des 
gesetzlichen Zwanges und mit bewußter Einschätzung aller 
Konsequenzen, also auch in bezug auf die etwaige Nach- 
kommenschaft, ist die letzte und erhabenste Ausgestaltung des 
monogamen Prinzips, die allein einer freien, erlesenen Kultur 
würdig ist. Wir wollen diesen utopischen Traum gern weiter 
träumen und uns überall freuen, wo sich geistig hervorragende 
Menschen zu diesem edlen und reinen Bunde zusammenfinden. 
Daß die freie Ehe auch in Zukunft nicht Allgemeingut der 
Menschheit werden kann, liegt wohl auf der Hand, denn geniale 
Institutionen haben immer nur für eine geringe geniale Auslese 
Berechtigung. Die Durchschnittsmenschheit wird sich wohl 
voraussichtlich nie zu der höheren Form der monogamen 
Ehe entwickeln, da sie viel zu schwach ist, um eine so un- 
geheure Verantwortung tragen zu können. Die Hindernisse, 
die sich der freien Ehe entgegenstellen, sind m.E. für alle 
Zeiten unüberwindlich, denn der Geist des Kleinbürgertums, 
der doch die Gesetze diktiert, bemüht sich seit Jahrhunderten 
erfolgreich, alle genialen Emanationen der Zeit mit der Fliegen- 
klappe der Dummheit totzuschlagen. Die bürgerliche Gesell- 
schaft wird jede freie Liebesverbindung ewig nach einzelnen 
wertlosen Verhältnissen beurteilen, die infolge irgend welcher 
Skandalaffairen von sich zu sprechen machen, denn die bürger- 
liche Gesellschaft lebt von anrüchigen Sensationen. Es ist 
aber eine Tatsache, daß besondere Menschen ihr Glück nur 
in der freien ehelichen Verbindung, die durch diesen Umstand 
gleichsam die höhere Weihe erwarb, gefunden haben. Goethe, 
Richard Wagner, Franz Liszt u. a. haben in solchen verpönten 
freien Ehen gelebt und unsterbliche Werke geschaffen. Wenn 
man das Liebes- und Eheleben dieser Menschen mit dem anderer 
Heroen, die in kirchlich oder gesellschaftlich genehmigter ehe- 
licher Verbindung lebten, vergleicht, so wird man leicht ent- 
scheiden können, auf welcher Seite die Unmoral liegt. Byron, 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 93 


Bürger, Friedrich der Große, Tolstoi, Oskar Wilde, stehen ап 
der Spitze der endlosen Reihe, die unter unwürdigen Ehefesseln 
geschmachtet hat und deren Tragik in tausend Fällen durch 
diesen Umstand mitverschuldet wurde. Selbstverständlich gab 
es auch glückliche Ehen, früher wie heute, aber die Statistik 
der Ehebrüche und sonstigen Verstöße gegen das sechste 
Gebot beweist, daß die glückhaften Bündnisse fürs Leben nur 
seltene sonnige Ausblicke in einem öden ewig grauen Land 
sind. In unserem Zeitalter der galanten und bureaukratischen 
Sitten gibt es nur eine Wahrheit, und das ist die konventionelle 
Lüge. Von der Kunst aber, schöne Verhältnisse vorzutäuschen, 
die krassesten Disharmonien im ehelichen Zusammenleben als 
einen beneidenswerten Einklang herauszustellen und vor allem 
die weitestgehende Korruption als den Gipfel aller Moralität 
erscheinen zu lassen, von dieser Kunst moderner Menschen 
und Ehen habe ich das Nötige bereits eingangs dieser Zeilen 
gesagt. 

Man muß nun nicht von dem Gifte der roten Weltan- 
schauung angefressen sein, noch einer paradoxen Philosophie 
huldigen, um zu erkennen, daß aus einer freien Eheverbindung 
sich im Laufe der Zeit eine regelrechte, gut bürgerliche, ge- 
setzlich sanktionierte Ehe entwickeln kann. Das war bei den 
meisten großen Männern der Fall, die derartige Bündnisse 
eingingen. Goethe hat seine Christine Vulpius nach elf- 
jährigem Konkubinat schließlich doch geheiratet und auch 
bei Wagner führte das freie Liebesverhältnis später zu einer 
glücklichen und dauernden Ehe. Aber man verlangt ja gar 
nicht von unserer lieben Spießbürgerwelt, daß sie auf einmal 
ihr wohlkonserviertes Eheideal aufgeben und sich zu den 
Grundsätzen der neuen Revolutionäre bekennen soll. Wenn 
der Gevatter Schuster oder Schneider nur in eine Ehe willigt, 
die der Standesbeamte oder der Pastor eingesegnet hat, so ist 
das von ihm sehr löblich und beweist eine schätzenswerte 
Anhänglichkeit an den ererbten Ideenkreis, der seit Jahr- 
hunderten in diesen Gilden herrscht. Warum aber zetert die 
ganze Welt über jene Paare, die ohne die gesetzliche Kopu- 
lation sich in selige Einsamkeit flüchten und ihr Glück genau 
so nach eigenen Prinzipien ausbauen wollen wie etwa der 
vorgenannte Gevatter Schneider oder Schuster? Warum haben 
die Sprossen aus einer derartigen Verbindung nicht dieselben 


94 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


gesellschaftlichen Rechte wie die Nachkommen legitimer Paare, 
obwohl sie doch gleiche oder vielleicht noch wertvollere Exem- 
plare der Spezies Mensch darstellen wie die anderen, wert- 
voller, weil bei ihrer Zeugung sich zwei Menschen in reiner 
Liebe und mit aufrichtigem Willen zum Kinde zusammenfanden? 
Das ist noch ein Rätsel, um dessen Lösung sich die bedeu- 
tendsten unserer Juristen vergeblich die Köpfe zerbrechen 
würden; denn wo Dünkel und Eigennutz ihr Veto aus- 
sprechen, da würde selbst ein Solon vergeblich neue Gesetze 
erfinden. Juristische Autoren verweisen auf den Umstand, daß 
die Gesellschaft freie Geschlechtsverbindungen seit längster 
Zeit stillschweigend duldet und nur den Nachkommen die 
legitimen Rechte verweigert. Allerdings ist in Deutschland 
beispielsweise das Konkubinat nicht mit dem Gesetze bedroht, 
doch ist seine Verfolgung und Bestrafung dem polizeilichen 
Gutdünken überlassen. Man hat nicht gehört, daß die Polizei 
sich auf diesem Gebiet durch eine allzu große Toleranz aus- 
gezeichnet hätte. Gesetzt den Fall, es finden sich zwei junge 
Leute zusammen, er Beamter in bescheidener Position, sie 
Ladenangestellte, zwei junge Leute, die so recht eigentlich zu 
einander passen und doch mangels der wirtschaftlichen Not 
nicht zusammen kommen können: Diese Leutchen schließen 
einen Ehebund ohne Kopulation durch Priester oder Standes- 
beamten, gehen aber nach wie vor ihren getrennten Beschäf- 
tigungen nach und wohnen selbst, solange ein Zusammen- 
ziehen unmöglich ist, bei ihren Eltern bezw. in den Jung- 
gesellenwohnungen. Dem jungen Paar ist es überlassen, ob 
und wie weit eine Nachkommenschaft wünschenswert ist, im 
übrigen werden die Eltern für die standesgemäße Erziehung 
ihrer Kinder die entsprechende Sorge tragen. Es ist nicht 
einzusehen, was an einem solchen Verhältnis unmoralisch sein 
sollte! Schließlich ist die Sittlichkeit identisch mit der Gesund- 
heit des Volkes, und hier wäre ein Weg, die allgemeine Volks- 
gesundheit nach Tunlichkeit zu fördern und zu festigen. 
Soziale Probleme werden eben nicht vom Gefühlsstandpunkt 
aus gelöst, sondern nur nackte Tatsachen rechnen mit; nicht 
das Schöne, allein das Praktische hat Wert. Die Ehe ist eine 
Institution, die für Staat und Familie von einschneidender Be- 
deutung ist, und hier gilt es mehr als anderswo, alles auf eine 
gesunde Basis zu stellen. Darum muß sie vor allem von dem 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 95 


Einfluß der Kirche und der Konvention losgelöst werden; so- 
lange die Ehe religiös angefaßt wird, wird sie niemals als 
gelöstes Problem aus der Betrachtung ausscheiden. Denn — 
wie schon Goethe in seiner Braut von Corinth sagt: „Eurer 
Priester summende Gebete und ihr Segen haben kein Gewicht.“ 


(Fortsetzung folgt.) 


(© ©) 
(© 


DIE MENSTRUATION DER JÜDINNEN. 


ur Frage, ob die Menstruation der Jüdinnen sich von der anderer 

Rassen unterscheide, schreibt Dr. Maurice Fishberg in seinem neuesten 
Buch über „die Rassenmerkmale der Juden“ wie folgt: Man hat mehrfach 
gesagt, daß Jüdinnen früher zu menstruieren beginnen als Frauen anderer 
Glaubensgemeinschaften und Rassen. So fand Weber in Petersburg, daß 
Jüdinnen früher als russische, polnische und deutsche Frauen zu menstruieren 
beginnen und hieraus folgerte er, dies sei ein bedeutendes Rassenmerkmal, 
Oppenheim pflichtete ihm bei auf Grund seiner Untersuchung bulgarischer, 
türkischer, armenischer und jüdischer Mädchen; und Lebrun ermittelte, daß 
unter je 100 Mädchen jüdischer und slawischer Herkunft die Mehrheit der 
Jüdinnen, aber nur ein slawisches Mädchen zu 13 Jahren menstruierte. Nach 
Weißenbergs Statistik beginnt bei den Jüdinnen Südrußlands die Menstruation 
durchschnittlich im Alter von 14 Jahren, das ist früher als unter den Christinnen 
jener Gegend, und Teilhabers Untersuchungen ergaben, daß die deutsche 
Landbevölkerung mit ca. 16 Jahren menstruiert, die Stadtbevölkerung je nach 
dem Wohlstand, mit 14 resp. 15 Jahren, die Jüdinnen aber, und zwar sowohl 
die des Landes wie die der Stadt, zwischen 12!/, und 14 Jahren. Teilhaber 
fand dann auch, daß die Jüdinnen Deutschlands durchschnittlich später als 
die sozial gleichstehenden Frauen Deutschlands oder des Durchschnitts deutscher 
Frauen überhaupt die Menstruation beenden (menopausieren). Soweit meine 
Untersuchungen in Neuyork reichen, besteht zwischen Jüdinnen und Nicht- 
jüdinnen kein auffallender Unterschied in dieser Beziehung. Bei 483 Mädchen 
betrug das Durchschnittsalter zu Beginn der Menstruation 12 Jahre und 
7 Monate; und zwar bei den in Osteuropa geborenen Mädchen 13 Jahre und 
2 Monate, bei den in Amerika geborenen nur 12 Jahre und 1 Monat; der 
frühere Menstruationsbeginn bei Emigrantentöchtern ist von Engelmann an 
Amerika-Einwanderern mehrerer Volksschaften beobachtet worden; darnach 
wäre frühe Menstruation keine jüdische Eigentümlichkeit. Die Menstruation 
wird durch das soziale und geographische Milieu erheblich beeinflußt. 
Stadtbewohnerinnen sind in dieser Beziehung frühreifer als Landbewohnerinnen, 
und das nämliche gilt von den wohlhabenden im Vergleich mit den ärmeren 
Klassen. In Europa sind die Juden fast ausschließlich Städter; es gibt so 


96 GESCHLECHT UND OESELLSCHAFT 


gut wie keine Landwirte unter ihnen; danach ist es nichts Auffallendes, daß 
die Jüdinnen früher als Nichtjüdinnen, welche letztere doch zu 50°), auf 
dem Lande leben, menstruieren. „Rasseneinfluß‘ läßt sich in dieser Funktion 
nicht erkennen. 


EREKTIONEN NACH DEM TODE. 


n der Fortsetzung seiner Abhandlung über „sexuelle Impotenz beim 

Manne‘“ im Februarheft des „A. I. of Urol.“ beschreibt Dr. Blum eine be- 
sondere Art von Priapismen!), die nicht auf nervöse Ursachen zurückgehen, 
sondern durch geschwürige Entzündungen im männlichen Genitalapparat 
hervorgerufen werden. Eine Infektion durch Gonococcen kann mitunter 
eine hartnäckige, bösartige Entzündung der Harnröhrenschleimhaut im Ge- 
folge haben. Die Durchdringung des Corpus spongiosum mit Harn oder 
Eiter, brandige Entzündungen des Schwellkörpers führen fast immer zu 
chronischen Erektionen, indem es zu mechanischer Füllung des Gewebes 
mit der eiterigen Substanz kommt. Eiterungen des Schwellkörpers sind für 
gewöhnlich Folgen von entzündlichen Hämatomen (Blutgeschwülsten) und 
Thrombosen (Bildung von Blutpropfen) in den Gewebegefäßen. Der Ver- 
fasser zitiert den Fall von Rokitansky, wo die Erektion selbst nach dem Tode 
des Patienten andauerte und den vorgenannten Brand der corpora cavernosa 
(Penisschwellkörper) und des spongiosum zur Ursache hatte. Die Ent- 
zündungen, die sich in Geschwüren an der Eichel und dem Präputium an- 
zeigen und die dauernden, schmerzhaften Priapismen zur Folge haben, sind 
unter allen Umständen bedenklich, da es sich zumeist um hartnäckige 
Krebsleiden handelt. In einem Falle Neumanns dauerte die Erektion volle 
31 Tage und nahm auch mit dem Tode kein Ende. Die Obduktion ergab 
ein Krebsgeschwür, das die Blasenwand durchbrochen und Eitererguß in die 
Bauchhöhle verursacht hatte. Die krebsartigen Geschwülste und die Caver- 
nitis waren eine Folge hiervon. Auch bei gummösen (syphilitischen) Ge- 
schwüren sind derartige Priapismen, die bis nach dem Tode andauerten, be- 
obachtet worden. — еї— 


t 


(© ©) 
EI 


1) Vgl. G. u. G. VIII. Bd. Heft 1, S. 48. 





899. 


1 


DER KIRCHGANG. Zeichnung von HYP. GIL BLAS. 


Zu dem Aufsatz »Die eheliche Untreue.. 


Seite 86. 














NACHTMÄRSCHE. Von ADOLF GUILLAUME. Aus den großen Manövern. 
Galante französische Karikatur. 
Zu dem Aufsatz -Die eheliche Untreue. Seite 86. 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 
уш, 3/4. 


пәци әцәцәцә ә 245јпү шәр п7 


16 әйә$ ә 
миәрипцщ[ `0] ѕләуѕ!әүуү 1ә8ләдшпдү вәшә уиицәздоң ‘NYAI ININLIONN 21а 





ererereeerereeerere | 


DIE EHELICHE UNTREUE 
Von Dr. J. B. SCHNEIDER 


II. 


n der Geschichte der ehelichen Untreue gibt es — wie in der 

Menschheitsgeschichte überhaupt — Stagnationen und Aufstieg, 
eine Zu- und Abnahme des Geschehens, die durch den jeweiligen 
Kulturstand der Völker bedingt sind. Weil der Ehebruch ein 
Verbrechen gegen die Gesellschaft im engsten Sinne des Wortes 
bedeutet, also in erster Linie mit der Sittlichkeit der bürgerlichen 
Klasse zusammenhängt, ist seine Verbreitung und gesetzliche 
Ahndung in den Jahrhunderten je nach dem Einfluß dieser 
Klasse verschieden. Primitive Völker und solche, die in den 
ersten Stadien ihrer Entwickelung begriffen sind, besitzen 
naturgemäß keine oder nur geringfügige Verbote gegen die ehe- 
liche Untreue, denn für sie ist die Tradition des Blutes bedeu- 
tungslos, so wenig ausschlaggebend wie die Reinheit des ehe- 
lichen Bettes, jene beiden Faktoren, deren Verletzung im Ehe- 
bruch hauptsächlich geahndet wird. Es wirkt daher nicht 
befremdend, daß der Ehebruch im Altertum gerade dort die 
härtesten Strafen findet, wo das Rassenbewußtsein und der 
Familiensinn am schärfsten ausgeprägt sind, und wo das Pa- 
triarchat seine umfassendsten und dauerndsten Triumphe feiert. 
Das sind namentlich die Juden mit ihrer streng religiösen, 
asketischen Kultur, bei denen an die Verletzung der ehelichen 
Treue staatsrechtliche Konsequenzen geknüpft waren, und die 
Germanen, die aus ähnlichen Gründen den Ehebruch als ein 
Verbrechen ahnden. Nach der mosaischen Gesetzgebung 
wurden die Ehebrecher öffentlich gesteinigt, eine Strafe, die 
«zweifelsohne nicht jüdischen Ursprungs war, sondern zugleich 
mit dem babylonischen Erbe übernommen sein dürfte. Eben- 
so belegten die alten Germanen den Ehebruch mit den 
härtesten Strafen, weil bei ihnen das Familienleben, die 
Herrschaft des Patriarchats, stärker als bei den übrigen Völkern 
entwickelt war. Man kann sagen, der Ehebruch als Vergehen 
gegen die Familien- und Staatsgesetze datiert überall erst von 

Geschlecht und Gesellschaft VIII, 3/4. 7 


98 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


dem Augenblick an, da der Mann das unumschränkte Recht 
über die Familie an sich gerissen hat und der politische Sinn 
in ihm erwacht. Maßgebend für die Art und Häufigkeit der 
Strafe blieb allerdings die Auffassung, die im Volke über den 
außerehelichen Geschlechtsverkehr herrschte, und vor allem die 
Frage, wo, wann und von wem der Ehebruch begangen wurde. 
Obwohl das mosaische Gesetz für den Ehebruch die Steinigung 
vorsah, erhellt es bereits aus der biblischen Sagengeschichte, 
daß Ehebrecher nicht immer in der gleichen Weise zur Ver- 
antwortung herangezogen wurden. König Davids Weib Michal 
brach mit Wissen und Duldung ihres königlichen Gemahls die 
Ehe, und der Psalmist seinerseits beging mit dem schönen Weib 
des Hethiterfürsten Uria Ehebruch. In keinem der genannten 
Fälle gelangte die durch das Gesetz vorgesehene Todesstrafe 
zur Anwendung; und wieviel Mal erst hätte der schöne, rot- 
lockige König Salomo, der Liebling der Königin von Saba und 
tausend anderer Frauen, gesteinigt werden müssen, wenn es 
streng nach den levitischen Vorschriften gegangen wäre! Es 
ist eben ein Unterschied, ob ein Bauer, ein Edelmann oder ein 
König im Ehebette sündigt. Der Bauer wird geköpft, der 
Edelmann bekommt einen Orden und der König schickt den 
lästigen Hahnrei einfach in die Verbannung. Die griechische 
Weltanschauung der homerischen Epoche ähnelt bedenklich 
dem modernen französischen Ideenkreis, der uns als Idealtyp 
der modernen Frau die Ehebrecherin hingestellt hat. Die Ehe- 
brüche, die in den hellenischen Mythen und Heroenlegenden 
straflos begangen wurden, sind Legion. Das hellenische Volk, 
dessen Geschichte und Kultur allerdings unter anderen Be- 
dingungen entstand als unsere heutige und infolgedessen nur 
vergleichsweise aber nicht als vorbildlich herangezogen werden 
kann, hat gleichwohl für gewisse Menschheitsfragen ein tiefes 
Verständnis besessen. Es hat nicht ein Vergehen bestraft, das 
im Grunde genommen niemals sträflich war noch sein kann. 
Denn der Ehebruch ist in vielen Fällen ein Vergehen, das unter 
dem Zwang der Natur ausgeübt wird, die Auflehnung eines 
freien Menschen gegen Hochmut und Konvenienz, und 
erst in letzter Linie ein Bruch gegenseitigen ehelichen Ver- 
trauens. Aber auch die Römer der Königszeit und der Re- 
publik bedrohen die eheliche Untreue mit keiner gesetzlichen 
Strafe; das Recht der Ahndung liegt vielmehr in den Händen 
7 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 99 


des Pater familias, dem die Familie ähnlich wie die Sklaven- 
gemeinde hörig war. Wohl konnte ein gewaltsamer Ehebruch 
einen Tarquinius Superbus um Thron und Herrschaft bringen, 
im übrigen jedoch hat es Frauen vom Schlage einer Lukretia im mo- 
narchisch regierten wie republikanischen Rom nur wenigegegeben. 
Später machte sich das Volk aus den Ehebrüchen seiner Kon- 
suln und Cäsaren ebenso wenig wie diese aus der Untreue 
ihrer Gattinnen. Cäsar, dem hinterbracht wurde, daß seine 
Frau Pompeja mit dem jungen P. Claudius Ehebruch getrieben 
habe, begnügte sich damit, sie zu verstoßen, wohl in der Er- 
wägung, daß er selbst in diesem Punkte alles andere als reine 
Hände hatte. Berichten ja die Geschichtsschreiber seiner 
Epoche einstimmig, daß er keine Frau unbehelligt gelassen 
habe, und seinen Legionären wird eine Parole in den Mund 
gelegt, die besser als alles andere den genialen Wüstling kenn- 
zeichnet: „Romani servate uxores, meochum adducimus cal- 
vum!“ (Römer, schließt eure Frauen ein; denn wir bringen den 
kahlen Cäsar, den großen Ehebrecher.) Im übrigen wird man 
die zahlreichen Ehebrüche Cäsars seiner überentwickelten 
Sinnlichkeit zuschreiben müssen, die zusammen mit der geni- 
alen Anlage unzweifelhaft eine Äußerung seiner epileptischen 
Konstitution war. Es ist bekannt, daß ein anderer genialer 
Epileptiker gleichzeitig ein genialer Ehebrecher war — Na- 
poleon — der mit dem großen Römer auch sonst viele Züge 
gemein hat. Aber auch später, zu einer Zeit, da der Ehebruch 
bereits als ein Kapitalverbrechen gestraft wurde, begnügten 
sich die römischen Patrizier und Imperatoren einfach mit der 
Verstoßung ihrer Frauen, so oft sie sie au flagrant delit er- 
tappten. Solches wird von Octavio Cäsar berichtet, der seine 
Gemahlin Scribonia ihrer Liederlichkeit wegen verstieß, obwohl 
er selbst ein Phänomen an Unsittlichkeit war und Frauen zur 
öffentlichen Tafel lud, wobei es unter den Augen der Gatten 
zu den wüstesten Orgien kam. Ebenso verfuhren Kaiser Caligula 
mit seinen Frauen Livia Hostilia und Tullia Paulina und Claudius, 
der Sohn des Drusus Germanicus, mit seiner Gemahlin Plantia 
Herkulalina, während er den Ausschweifungen der größten 
EhebrecherindesAltertums, derberüchtigtenMessalina,gegenüber, 
einemerkwürdige Duldsamkeitbekundete. Derchristliche Justinian 
bestimmt für den Ehebrecher das Schwert, für die Ehebrecherin 
das Kloster. Selbstverständlich wäre es verfehlt, anzunehmen, 


100 GESCHLECHT UND QESELLSCHAFT 


daß alle Männer, die damals die Ehe brachen, am Kopf gekürzt 
und alle Frauen ins Kloster gesperrt wurden. . Die Geschichts- 
schreiber des byzantinischen Kaiserreiches beweisen, daß sich 
dieses Imperium von dem römischen durch nichts unterschied 
und daß wie in Rom so in Byzanz gekrönte Courtisanen un- 
behelligt ihr Handwerk übten. 

Um die Zeit, da das christliche Mittelalter seine Ge- 
schichte begann, gründete im Orient Mohammed die islami- 
tische Lehre und gleichzeitig ein neues Reich, das auf die 
höfische Kultur des nachfolgenden Mittelalters einen hervor- 
ragenden Einfluß üben sollte Da durch die Berührung mit 
dem Islam zur Zeit der Kreuzzüge vielfach neue Auffassungen 
über Liebe und Ehe in der alten Welt Eingang fanden, und später 
auf die Vorzüge der mohammedanischen Ehe gegenüber der 
christlich abendländischen hingewiesen wurde, dürfte es sich 
lohnen, bei den Verhältnissen des Islams einen Augenblick 
zu verweilen. Bekantlich hat die ba’ahlslehre der Araber, die 
als der Grundstock der islamitischen religiösen und ethi- 
schen Philosophie betrachtet werden muß, für die Frau eine 
andere Stellung vorgesehen als sie in den nachfolgenden 
Jahrhunderten und heute im Orient einnimmt. Die moham- 
medanische Frau war ursprünglich so frei oder noch freier 
als die Okzidentalin, das beweist ihre prominente Stellung, 
die sie noch im arabischen Heldenzeitalter und in der hö- 
fischen Epoche des spanischen Maurentums eingenommen 
hat. Die beiden Fremdlehren, durch die die islamitische 
Weltanschauung von Grund auf verändert wurde, waren die 
Absperrung der Frau und die Einführung des Eunuchen- 
tums, wodurch die Orientalin dauernd auf die Stufe des Skla- 
vinnentums herabgedrückt wurde. Sie stammten einerseits aus 
Persien, das in dem Absperrungssystem dem Mohammeda- 
nismus eine üble Draufgabe zu dem sonstigen großartigen Kul- 
turerbe übermittelte, anderseits aus Byzanz, wo das Eunuchen- 
tum die letzte Phase eines allseitigen und bedenklichen Verfalls 
darstellte. Durch Umdeutungen der Thesen Mohammeds kam es 
später zu der von christlicher Seite vielfach gescholtenen, in 
moderner Zeit dagegen so hoch gepriesenen Polygamie, die 
das Mittelalter hindurch zweifelsohne zahlreich bestanden hat, 
im heutigen Orient dagegen so gut wie ausgestorben ist. 
Eine Polygamie im strengsten Sinne des Wortes bedeutet 


 OESCHLECHT UND OESELLSCHAFT 101 


auch für den wohlhabenden Türken eine materielle Überlas- 
tung, der nur die wenigsten gewachsen waren. Man hatte 
aus diesem Grunde einen einfacheren Ausweg in dem Skla- 
vinnenkonkubinat gefunden, was zugleich die Stellung des 
Mohammedanismus zum Problem der ehelichen Untreue klar 
beleuchtet. Nach dem Gesetz wurde nämlich im historischen 
Orient der Ehebruch ähnlich wie bei den Babyloniern und 
Juden mit Steinigung bestraft. Schon der Umstand, daß die 
Ehescheidung von altersher bis heute mit großer Leichtigkeit 
vorgenommen werden konnte und daß anderseits die konse- 
quente Absperrung der Frau Ehebrüche so gut wie unmög- 
lich machte, spricht dafür, daß diese Strafe nur selten zur An- 
wendung gelangte. Häufiger konnte von beiden Teilen die 
sogenannte i’ langklage angestrebt werden, wo der Mann un- 
ter Eidesformel seine Frau des Ehebruches beschuldigte und 
die Ehe glatt geschieden war; hierbei hatte die Frau das Recht 
auf eine Wiederverheiratung für alle Zeiten verwirkt, wenn 
sie nicht ihrerseits ebenfalls unter Eid ihre Unschuld beteuern 
konnte. Die moderne Praxis im Orient steht diesen Klagen 
ablehnend gegenüber; weit häufiger kommt es vor, daß das 
Gesetz auf öffentlich anerkannten Ehebruch das Scheidungsurteil 
ausspricht. Für die Sittlichkeit im alten Orient ist ferner der 
Brauch des nikahel ästäbda maßgebend. Ein Mann, der mit 
seiner Frau in steriler Ehe lebte — Sterilität ist im Orient bis 
heute kein triftiger Scheidungsgrund, da nach der Lehre des 
Koran der Mann in der Ehe wohl zur Befriedigung seiner 
geschlechtlichen Lust, nicht aber unbedingt zur Kinderzeugung 
gelangen muß — konnte den Beischlaf mit einem andern so 
lange gestatten, bis die Frau geschwängert war. Diese Toleranz, 
die sich im übrigen auch im altjüdischen Gesetz findet — nach 
der mosaischen Auslegung hatte beispielsweise der Schwager 
die Pflicht, seinem verstorbenen Bruder Samen zu erwecken, 
wobei die Nachkommenschaft in allen Punkten als legitim galt — 
steht in einem merkwürdigen Gegensatz zu den sonstigen schroffen 
Bestimmungen in der Ehebruchsfrage und beweist, daß dieses 
Verbrechen immer ein gewisses Imponderabile darstellte, das 
bei allen Völkern nach dem subjektiven Gefühl eingeschätzt 
wurde. Im modernen Orient ist der Ehebruch ähnlich wie das 
Prostitutionswesen verbreitet, der Schutz der Abschließung ist 
ziemlich illusorisch geworden, die sexuellen Verhältnisse liegen 


102 GESCHLECHT UND OESELLSCHAFT 


im Harem nicht besser als im Boudoir der mondänen abend- 
ländischen Frau. In Algier und Tunis, in Kairo und Alexan- 
drien, überall da, wo der Fremdenzustrom ein beträchtlicher 
ist, ist der Ehebruch notorisch. Der Mann aus dem Volke 
schützt sich einfach durch Verstoßung oder im gelinden Fall 
durch eine Auspeitschung seiner Frau, die ihm nach dem Koran 
zum Schutze gegen die überhandnehmende Korruption innerhalb 
der Familie zusteht. Im großen und ganzen liegen die Verhält- 
nisse so, wie sie etwa Raßmussen in seinem ethnographisch 
und sozial hochbedeutsamen Roman „Sultana“ geschildert hat. 
Die heutige Orientalin kennt die Emanzipation bereits ebenso gut 
wie ihre abendländische Schwester, und wenn auch die feinen 
fragilen Constantinopler Haremsdamen dem englischen Suff- 
ragettenrummel ziemlich verständnislos gegenüberstehen, so sind 
sie immerhin von der westlichen Moral genügend beeinflußt, 
um ihre Organisationen und ihren erfolgreichen Kampf um 
öffentliche Ämter zu haben. 

Die mittelalterliche Auffassung von der ehelichen Untreue ist 
entsprechend den beiden historischen Phasen dieses Zeitalters, 
Christentum und Germanentum, eine doppelte, nach der Inter- 
pretation der mittelalterlichen Gemeinschaften jedoch eine so 
vielfache und komplizierte, daß allein die diesbezüglichen juri- 
dischen Erlässe und die Kasuistik der abgeurteilten Fälle ein 
stattliches Kompendium füllen würden. Im germanischen Zeitalter, 
das sich noch unabhängig von der Kirche zeigt, wird der 
Ehebruch verschiedenartig, zumeist aber als ein strafwürdiges 
Verbrechen gewertet. Nach Aventinus waren bei den alten 
Germanen das Begraben im Kot und das Nasenabschneiden die 
strengsten Strafen, diedieEhebrechertrafen. Siedürften wohl ziem- 
lich sporadisch und nur in den Uranfängen gebräuchlich gewesen 
sein; denn schon Tacitus berichtet, daß bei den alten Deutschen 
Verbrechen gegen die eheliche Treue mit Auspeitschung und 
Verstoßung gesühnt wurden. Kompliziert war die altgermanische 
Rechtsfrage dadurch, daß der Ehebruch, wie auch das ganze 
folgende Mittelalter hindurch bis in die Zeiten desSachsenspiegels, 
fast immer nur als ein einseitiges Verbrechen gestraft wurde. 
Der bestrafte Teil war natürlich die Frau. Der Gatte, der seine 
Frau auf frischer Tat ertappte, konnte die Überraschte einfach 
töten, ohne dadurch seine Freiheit oder sein Leben verwirkt 
zu haben. Allerdings waren im Gesetz auch Strafen für den 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 103 


männlichen Teil vorgesehen und es ist sicher, daß solche gegen 
Ehebrecher sporadisch zur Anwendung gelangten. So z. B. 
wurde der Mitschuldige bei den Friesen gesteinigt, bei den 
Sachsen im Sumpfe ertränkt oder auf einem weithin sichtbaren 
Hügel an die Äste eines Baumes geknüpft. Doch besteht zumeist 
die mittelalterliche Auffassung zu Recht, daß der Ehebruch des 
Mannes als ein geringeres Verbrechen zu bewerten sei als der 
der Frau, und eheliche Untreue, die unter gewissen Umständen 
begangen wurde, war nach dem Gesetz überhaupt nicht straf- 
fähig; so war es nicht nur dem freien, sondern auch dem ver- 
heirateten Mann gestattet, straflosen Ehebruch oder gewaltsame 
Notzucht an fahrenden Weibern zu begehen. Die Karolina 
schrieb im Artikel 120 die Strafe des kaiserlichen Rechts, d. i. 
die Todesstrafe, für beide Teile vor, außerdem wurde der 
Schuldige zu einer empfindlichen Vermögensbuße verurteilt 
Bemerkenswert sind die Bestimmungen, die die einzelnen 
deutschen Städte gegen das Verbrechen der ehelichen Untreue 
erlassen haben und die fast durchwegs eine humane Auffassung 
in der Beurteilung des Ehebruchs bekunden. Während das 
Bremer Recht die Ehebrecher einfach in den Schandmantel 
steckte und sie mit einer ihrem Vermögen entsprechenden 
Geldstrafe belegte, bestimmte das Seeligenstädter Recht und 
ebenso das Mannheimer, wie aus der neuerdings erfolgten 
Veröffentlichung eines Ratsprotokolls vom 6. März 1703 hervor- 
geht, daß der Ehebrecher neben der Schandstrafe noch eine 
empfindliche Körperstrafe von Seiten seiner Mitbürger zu erleiden 
hatte. Er wurde an zweimal verschiedenen Sonn- und Feiertagen 
nach dem vormittägigen Gottesdienst vor die Kirche gestellt, 
wobei ihm in die eine Hand eine brennende Kerze, in die 
andere eine Rute gegeben wurde, offenbar zum Zwecke der 
Züchtigung durch die Passanten. In Mannheim wurden die 
Ehebrecher überdies zu Zwangs- bezw. Festungsarbeit 
auf die Dauer von drei Monaten verurteilt, konnten jedoch 
die Strafe mit 20 Talern ablösen. Ziemlich milde und 
selbständig verfuhr die Straßburger Polizeiordnung vom Jahre 
1594, die 1628 noch in wesentlichen Punkten ergänzt wurde, 
mit den Ehebrechern. Danach mußte das Verbrechen der 
ehelichen Untreue öfter, aber mindestens drei Mal begangen 
worden sein, bevor auf die Todesstrafe erkannt wurde. Die 
härtesten Bestimmungen gab es im Fürstentum Sachsen, wo 


104 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


sowohl der doppelte Ehebruch als auch der einfache, wenn 
ein Junggeselle mit einer verheirateten Frau in einem unerlaubten 
Verhältnis stand, mit dem Tode gesühnt wurde. Für den Fall, 
daß der beleidigte Teil dem Beleidiger öffentlich verzieh, wurde 
dem Ehebrecher die Todesstrafe erlassen, beide Gatten jedoch 
für immer des Landes verwiesen. War der beleidigte Gatte 
verstorben, bevor der Ehebruch zur Entdeckung kam, so galt 
der Grundsatz „in dubio pro reo“; man nahm an, daß der be- 
leidigte Gatte, wenn er am Leben geblieben wäre, dem Ehe- 
brecher verziehen hätte. 

Obwohl demnach das ganze Mittelalter hindurch und noch 
bis ins 18. Jahrhundert hinein für Vergehen gegen eheliche 
Treue die härtesten Strafen vorgesehen waren, sind dadurch die 
Ehebrüche niemals seltener geworden, noch wurde das Gesetz 
in seinem vollen Umfang zur Bestrafung der Schuldigen heran- 
gezogen. Es hat Zeitalter gegeben, wo es einfach lächerlich 
wäre, von einem Ehebruch zu sprechen, da der außereheliche 
Geschlechtsverkehr von Frauen und Mädchen als durchaus 
normal, ja mitunter durch die traditionelle Übung geradezu ge- 
geboten war. Das gilt für die höfische Epoche, wo die gast- 
liche Prostitution auf den Höfen der Fürsten und den Ritter- 
burgen, ähnlich wie noch heute bei einzelnen Naturvölkern, 
gang und gäbe war, und der Hausherr dem vornehmen Fremd- 
ling die eigene Gattin, bezw. die Tochter ins Bett legte. Da das 
ganze Mittelalter hindurch Mann und Weib nackt zu Bette gingen, 
die ankommenden Ritter aber von der Hausfrau bezw. deren 
Töchtern oder sonstigen weiblichen Insassen des Hauses zunächst 
ins Bad und dann zu Bett gebracht wurden, ist es selbstver- 
ständlich, daß derartige Gelegenheiten nach Tunlichkeit ausge- 
nutzt wurden. Auch die öffentlichen Bäder, wo beide Geschlech- 
ter völlig nackt nebeneinander badeten, und die Zuschauer sie 
überdies von eigens dazu angebrachten Galerien mit Blumen 
bewerfen konnten, boten mancherlei Gelegenheit zum Ehebruch, 
dessen Andeutung auch als eine pikante Variation jener im 
Grunde ziemlich eintönigen Bilder verwendet wurde, die der- 
artige Ausschnitte aus dem öffentlichen Badeleben bieten. Dazu 
kam das Anschwellen der Prostitution im 14. und 15. Jahr- 
hundert, das im Verein mit andern Faktoren jene Katastrophe 
der bürgerlichen Gesellschaft nach sich zog, die durch das 
Auftreten der Syphilis und den Zusammenbruch des Kapitalismus 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 105 


gekennzeichnet ist. Die mittelalterliche Prostitution, die nach 
Aussage der Chronisten aus Gründen der öffentlichen Moral 
geschaffen wurde, um die Tugend ber Bürgermädchen und 
Frauen vor den Pfaffen zu bewahren, hat den Ehebruch in 
der mittelalterlichen Gesellschaft zu einer alltäglichen und mit 
allen Künsten des Raffinementes ausgestatteten Einrichtung 
gemacht. Obzwar nach den Gesetzen Knaben, Ehemännern 
- und Pfaffen der Besuch der Bordelle, die seit dem 13. Jahrhundert 
in allen Städten wie Pilze nach einem Regen aufschossen, ver- 
boten war, waren es gerade die beiden letzteren Elemente, die 
zu den hauptsächlichsten Frequentanten und Aushältern der 
Prostitution gehörten. Namentlich die Pfaffen wuchsen sich 
allmählich zu einer bedenklichen Gefahr aller ehrsamen Bürgers- 
frauen aus, so daß sie von der Bevölkerung schließlich ge- 
zwungen wurden, eigene Konkubinen zu nehmen, damit das 
Laster des Ehebruchs nicht in die weitesten Kreise getragen würde. 
Trotzdem scheint dieses Radikalmittel nur sporadisch den er- 
wünschten Nutzen nach sich gezogen zu haben; denn in der schrift- 
lichen wie bildlichen Satire tritt uns unzählige Male der geile 
oder ehebrechende Mönch entgegen, der sein Beichtkind an 
den Stufen des Altars oder im Beichtstuhl verführt, und aus 
den Aufzeichnungen der Stadtschreiber wissen wir von Scharen 
unehelicher Kinder, die irgend einen geweihten Herrn, einen 
Domkapitular oder Bischof, zum Vater hatten. So hat Bischof 
Heinrich von Basel bei seinem Tode zwanzig vaterlose Kinder 
hinterlassen, ein Lütticher Bischof soll es sogar auf 61 gebracht 
haben. Die Zahl derer, die in unehelichen Verhältnissen lebten, 
wobei weder das Stadtmädchen noch die Bäuerin, ja selbst 
nicht die verachtete Jüdin verschont blieben, beläuft sich auf 
Hunderte. Man hat die Korruption in der mittelalterlichen Fa- 
milie einerseits auf das Zölibat der Kirche und andrerseits auf 
die Unlösbarkeit der mittelalterlichen christlichen Ehe zurück- 
geführt. Zweifelsohne gehören diese beiden Faktoren zu den 
Hauptträgern der Schuld, aber sie allein haben ebenso wenig den 
sittlichen wie finanziellen Zusammenbruch der mittelalterlichen 
Gesellschaft nach sich gezogen wie etwa das Aufkommen der 
verheerenden Volksseuchen und die zahllosen Bürgerkriege der 
folgenden Zeiten, die alle Geistigkeit und Kultur in deutschen 
Landen auf Jahrhunderte hinaus totgeschlagen hatten. Der 
Grund liegt vielmehr darin, daß der mittelalterliche Staat ein 


106 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


völlig unsoziales Gebilde war, das sich auf dem schroffen 
und ungesunden Gegensatz der vorhandenen Kasten aufbaute. 
Der mittelalterliche Mensch präsentiert sich als eine erbärmliche 
Kreatur der Junker und der Pfaffen und die Folge dieses ein- 
seitigen Systems ist der Zusammenbruch aller bestehenden 
Werte, der überdies durch die völlig geänderte Produktions- 
weise unheimlich beschleunigt wird. Allerdings geht diesem 
Zusammenbruch noch einmal ein grandioses Aufflackern der 
Volkskräfte voran, indem an der Schwelle zwischen Mittelalter 
und Neuzeit jenes faszinierende Gebilde ersteht, das gleich- 
sam Blüte und Abschluß der alten Zeit bedeutet und in seiner 
Gänze erst von der jüngsten Generation begriffen wurde: die 
Renaissance. 

Ohne die vorgeschilderten Zustände, die seitens der Junker 
und Pfaffen maßlos ausgeübte Autokratie und ohne die un- 
moralische Tendenz des mittelalterlichen Staates wäre eine so 
großartige Revolution, wie sie die Renaissance darstellt, nie 
möglich geworden. Sie trägt denn auch alle Züge einer all- 
seitigen Erhebung der Volkskräfte und flaut wie alle kulturellen 
und historischen Tragödien nach einer radikalen Umwandlung 
der vorhandenen Welt ab. Aber es haften ihr auch alle je- 
nen krisenhaften Erscheinungen an, unter denen sich noch 
immer die Geburt einer neuen Kultur vollzogen hat und ge- 
rade der gigantische Freiheitsdrang auf allen Gebieten, dieses 
Wuchern über alle Maßen hinaus, ist es, woran die Renaissance 
schließlich zu Grunde geht, Es ist das Erwachen des Rie- 
sen Simson, der von den Philistern geblendet und in Ketten 
geschlagen, nun mit einem gewaltsamen Ruck die Fesseln zer- 
reißt, dem aber gleichwohl die plötzlich wiedergewonnene 
Kraft zum Verhängnis wird. In der Renaissance nimmt 
die mittelalterliche Unmoral kein jähes Ende, sondern 
steigert sich wie alles, womit diese gigantische 
Epoche in Berührung trat, ins Ungeheure, Maßlose, 
Grotesk-Übermenschliche, dem die Gesellschaft und ihre 
Gesetze aus freiwilliger Initiative machtlos gegenüber stehen. 
Das Kennzeichen der Renaissance ist, daß sie unserm 
Problem der ehelichen Untreue mit jener großartigen 
Naivität entgegentrat, die sie in Dingen der öffentlichen 
Sittlichkeit durchwegs bekundete. Die Volksmeinung ist dem 
Ehebruch günstig, weil aber die Volksmeinung den Ehebruch 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 107 


als ein Verbrechen gegen den Staat und die Gesellschaft nicht 
kennt, so wird die eheliche Untreue in diesem Zeitalter eine 
typische Massenerscheinung. Über die Psychologie der ehe- 
lichen Untreue in der Renaissance geben uns die literarischen 
Dokumente aus jener Zeit wertvolle Aufschlüsse, und da tritt 
uns zum erstenmal die moderne Interpretation des bedenk- 
lichen Problems entgegen: Die Renaissanceliteratur erschöpft 
sich in Lobpreisungen der listigen Frau, die es versteht, ihrem 
Gatten Hörner aufzusetzen, und verspottet den untauglichen 
Ehemann, der den Nachthunger seiner jungen Gattin zu stillen 
nicht imstande ist. Der alte Mann ... die junge Frau... 
der eifersüchtige Ehegatte... . der physisch bevorzugte Lieb- 
haber . . . eine groß vorbereitete Situation, in der womöglich 
der eigene Gatte den Kuppler spielt — das sind die eigent- 
lichen Motive, von denen das Schriftwesen jener Tage beherrscht 
ist. In unzähligen Bildern, Schwänken, Novellen, Fastnacht- 
spielen und satirischen Gedichten werden sie nach allen 
Seiten hin ausgeschlachtet, und die Derbheit des Inhalts ist 
bereits aus den Titelüberschriften erkenntlich. Unter den 
Deutschen sind es die Schwankdichter, wie Bebel, Frey, 
Lindener, unter den Italienern Poggio, Morlini, Cornazzano, 
zu denen später noch Straparola und Sacchetti hinzukommen, 
unter den Franzosen Brantöme, Rabelais und deren geistige 
Erben wie Faublas oder Choderlos de Laclos — und in England 
schließlich die ganze Reihe der Chronisten, die in unzähligen 
Satiren das Recht zum Ehebruch mit allen erdenklichen Spitz- 
findigkeiten verteidigt haben. Aber auch ernste Schriftsteller 
wie der deutsche, schwerblütige Sebastian Brant oder der 
sanfte, elegische Italiener Petrarca haben laute Klagen über 
das Anschwellen der ehelichen Untreue in allen gesellschaft- 
lichen Schichten erhoben. Nach dem einstimmigen Urteil aller 
Zeitgenossen ist die eheliche Treue ein Eintagsblümlein, das 
Kräutlein „Nimmermehr“, das nur in verborgener Einsamkeit 
und wenige Stunden des Jahres blüht. Die Untreue der Frau 
ist eine Alltagserscheinung und so offenkundig, daß Sebastian 
Brant in der „Geuchmatt“ den Männern den Rat gibt: 

Er teile mit ihr (der ehebrechenden Gattin) insgeheim, 

Wenn sie den Raub ihr bringe heim, 

Und sag ihm: Hänslein halt das Licht, 

Einen liebern Mann weiß ich mir nicht. 


108 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Oder wie es derb aber originell in einem französischen Vers 
aus jener Zeit heißt: 


Qui voudroit garder ou une femme 
N’aille du tout à l'abandon, 
Il faudroit la fermer dans une pipe 
Et en jouir par le bondon. 


Von den Gründen, die die Renaissance zur Entschuldigung 
der ehebrechenden Teile geltend macht, sind es auf Seiten der 
Frau der ständige Nachthunger, der von dem greisen impotenten 
Ehegatten nicht befriedigt wird, das Recht der Wiedervergeltung, 
weil der Gatte auf fremden Fluren pürsche, obwohl sein 
Garten daheim (das ist der Leib der Frau) noch wohl bestellt 
sei, ferner die häufige und lange Abwesenheit der Männer, 
die entweder auf Messen ziehen oder Romfahrten unternehmen 
und die arme Frau daheim allen Anfechtungen ihrer Sinne 
wehrlos ausgesetzt zurücklassen. Der Effekt sind jene Kata- 
strophen, wie sie in einzelnen Sprichwörtern in realistischer 
aber treffender Weise charakterisiert sind. „Wenn die Männer 
auf der Romfahrt sind, so geben die Mönche den Weibern 
daheim 270tägigen Ablaß“ oder „Wenn die Männer ziehn nach 
Kompostell, ihre Frauen sich legen auf Pumpernell“. Aber die 
Frauen haben auch hunderterlei Ausreden, die sie ihrer Meinung 
nach zum Ehebruch berechtigen, und gegen die selbst der 
plötzlich zurückkehrende Gatte keinen Einwand vorzubringen 
vermag. „Es ist nur wegen des Kummers,“ sagt die unge- 
treue Hausfrau, „den sie dem Gatten bereiten würde, wenn er 
bei seiner Rückkehr statt des wohlbeleibten Fohlens, so er 
zurückgelassen, ein abgehärmt Knochengerüste im Stalle wieder- 
finden würde.“ Und dann gibt es in der Renaissance einen 
Grund, der für alles gut ist und die sündige Gattin in den 
Augen des strengsten Moralfanatikers zu entschuldigen vermag. 
Das ist die Überzeugung von der ungewöhnlichen physischen 
Kraft des bevorzugten Mannes, von der Allgewalt der Liebe, 
die als ein unabwendbares Opfer von beiden Teilen die voll- 
ständige körperliche Hingabe fordert. So kommt es, daß ent- 
gegen dem Moralkodex anderer Zeiten sich Prinzessinnen mit 
Lakaien, vornehme Herren mit Bauerndirnen und umgekehrt 
vergnügen. Darin besitzt die Renaissance eine gewisse Ähn- 
lichkeit mit der höfischen Kultur des 18. Jahrhunderts, wo 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 109 


namentlich Damen der englischen Aristokratie mit Vorliebe Ver- 
hältnisse mit ihren Reitknechten oder Kammerdienern unter- 
hielten, und wo der Skandal selbst das Bett des königlichen 
Hauses nicht verschonte. Darin hat sie auch Berührungspunkte 
mit der modernen Zeit, die ein Vermischen der verschiedenen 
gesellschaftlichen Stände besonders häufig kennt: die Gräfin 
liebt den Jockey, reiche amerikanische Mädchen sind die 
Maitressen schmutziger Chinesenkulis und Erzherzöge resig- 
nieren um Prostituierter willen auf Rang und Titel; nur mit 
dem Unterschied, daß zwischen der Dame, die beispielsweise 
in Cornazzanos eindeutiger Novelle „Dem Klugen genügen 
wenige Worte“ den Leibmohr ihres Mannes zum Beischlaf 
verführt, und der Geheimratstochter aus Berlin W. oder Leipzig, 
die sich von einem Hagenbeckschen Abessinier schwängern 
läßt, doch ein wesentlicher Gegensatz klaff. Im Falle Cor- 
nazzanos ist das ehebrecherische Verhältnis einer vornehmen 
Frau mit einem Neger nur der Ausdruck elementarer, gesunder 
Sinnlichkeit, die mangels andererKomplemente mit dem hübschen, 
kraftstrotzenden Mohren vorlieb nimmt. Dagegen ist die Schwär- 
merei moderner Frauen für exotische Rassen ein perverser 
Flirt, ein Fetischismus besonderer Art, wobei die Unrein- 
lichkeit und geringwertige Herkunft im Verein mit der 
exotischen Hautfarbe das besondere sexuelle Stimulanz 
bilden. Das erhellt auch daraus, daß diese asiatischen und 
afrikanischen Halbwilden, die als Professionels durch die Aus- 
stellungen ziehen, nicht einmal einen besonders gesunden und 
kräftigen Eindruck machen. Aber in der Gegenwart sind 
die Motive, die zur Unsittlichkeit und mithin auch zum Ehe- 
bruch führen, andere geworden als in der Renaissance. Noch 
im Zeitalter des 30 jährigen Krieges wird der junge Simpli- 
zissimus der Geliebte dreier Prinzessinnen, weil sie durch das 
Hohelied seiner Kraft und Jugend, das sein jungstarker Körper 
verströmt, unwiderstehlich angezogen werden. Felicien Rops’ 
zynische, ich will nicht sagen pornographische Zeichnung 
„Le groom pour tout faire“ beweist unzweideutig, was die 
heutigen Lebedamen an der Jugend schätzen. Die Weltan- 
schauung der Renaissance ist eben optimistisch, wenn auch 
vereinzelt groteske Züge untermischt sind; die psychische 
Konstitution der Moderne ist, um ein paradoxes Wort zu 
gebrauchen, hysterisch, wenn auch andrerseits nicht ge- 


110 OESCHLECHT UND OESELLSCHAFT 


leugnet werden darf, daß gerade die moderne Zeit gesünder 
und natürlicher sein könnte, als alle vorangegangenen Jahr- 
hunderte. Aber woran wir kranken ist die Konvenienz, die 
Mode, der gesellschaftliche Cant, die jedes natürliche Emp- 
finden umbiegen und die Perversion zur Leidenschaft stempeln. 

Über die Wertschätzung der ehelichen Treue seitens des 
Mannes geben dieselben mittelalterlichen Texte und die zahl- 
reichen Drucke der Renaissance erschöpfende Auskunft. Man 
kann sagen, daß weder im Mittelalter noch in der Renaissance 
das Gesetz in dem Umfange zur Bestrafung der ehebrechenden 
Teile herangezogen wurde wie etwa in den Anfängen des 
bürgerlichen Zeitalters, wo die englische Gesellschaft mit ihren 
unzähligen schmutzigen Ehescheidungsprozessen an der Spitze 
steht, oder in neuerer Zeit, wo eigentlich kein Tag vergeht, 
ohne daß eine Scheidungsklage wegen überführten Ehebruchs 
zur Verhandlung kommt. Mittelalter und Renaissance haben 
vielmehr die Bestrafung der Übeltäter dem beleidigten Gatten 
überlassen, und von diesem wurde in der Folge die Justiz 
ganz souverän gehandhabt. Die Rache der betrogenen Frau 
war allerdings primitiver, wenn nicht gerade im Primitiven das 
größere Raffinement liegt; sie tröstete sich einfach mit einem 
jungen Freund, einem hübschen Knappen oder einem fahrenden 
Mönch, wenn sie es nicht vorzog, sich gleichzeitig mit 
mehreren Liebhabern zu vergnügen. Der Gatte seinerseits 
drückte in dem Falle, wo es um eine hübsche Frau ging, die 
von hochgestellen Persönlichkeiten begehrt wurde, gern beide 
Augen zu oder er spielte den wilden Mann, was dann aller- 
dings weniger harmlos, ja mitunter sogar recht tragisch ver- 
lief. Kleine Textbildchen in den mittelalterlichen Handschriften, 
die in ihrer naiven Wiedergabe etwas höchst drastisch Ori- 
ginelles an sich haben, zeigen wiederholt derartige Racheakte, 
die der betrogene Ehegatte an der ungetreuen Frau und ihrem 
Liebhaber vollzieht. Bald überfällt er die beiden im Bade und 
striegelt dann den Liebhaber mit dem Badestriegel zu Tode, 
bald überrascht er sie im Bette und dann sieht man den Ehe- 
brecher in komischer Verzweiflung vor dem Degen des eifer- 
süchtigen Hahnreis zurückzucken. Im gelindesten Falle tragen 
Frau und Liebhaber eine tüchtige Tracht Prügel davon und 
die Tragikomödie endet mit dem Hinauswurf des männlichen 
Partners. Das sind Geschichten, die in ihrem Verlauf und dem 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 111 


katastrophalen Schlußeffekt bereits ganz modern anmuten, wenn 
nicht Menschlichkeiten unberührt von der Mode der Jahr- 
hunderte bleiben, immer aktuell und interessant wirken. Aber das 
Mittelalter und die Renaissance kannten noch andere Strafen, 
die unserer im Grunde genommen toleranten Zeit nicht mehr 
geläufig sind. Das war beispielsweise die Kastration des 
Liebhabers, die eine fatale Ähnlichkeit mit dem altgermanischen 
Brauch des Nasen- und Ohrenabschneidens zeigt und die sich 
z. B. auf einem interessanten Holzschnitt eines anonymen 
Nürnberger Meisters aus dem 16. Jahrhundert in ihrer rea- 
listischen Furchtbarkeit geschildert findet. Von solchen bösen 
Ehegatten, die es sich trotz ihres eigenen lockeren Lebens- 
wandels nicht gefallen lassen wollten, den gutmütigen Kuppler 
oder Hahnrei zu spielen, erzählt auch Brantöme in seinem 
Buch „Vom Leben der galanten Damen“. So wurde der be- 
rühmte Bussy d’Amboise, Louis de Clermont, am 19. August 1579 
bei einem Rendezvous, zu welchem ihn die Komtesse de Mon- 
soreau auf Anstiften ihres Gatten bestellt hatte, meuchlings 
ermordet. Ein anderer Ehemann, Rene des Villequier, tötete 
seine Gemahlin, die schöne und galante Frangoise de le Marck, 
vor versammeltem Hofe, nachdem er ihr 15 Jahre hindurch 
alle möglichen Freiheiten gestattet hatte.!) 


Besonders brutal auf der einen Seite, aber gleichwohl von 
einer leisen poetischen Tragik ist das Schicksal der schönen 
Donna Maria von Avalon, Prinzessin von Neapel, die mit dem 
Prinzen von Venusa verheiratet war und den Grafen Adriano, 
einen der schönsten Männer des Königreiches, liebte. Sie 
wurde mit ihrem Buhlen von Mördern, die der Prinz gedungen 
hatte, im Bette umgebracht. Die beiden schönen Leichen 
fand man am nächsten Morgen unbekleidet auf der Straße 
vor der Haustür liegen, wo sich die Vorübergehenden weinend 


!) In Parenthese sei hier an den Fall Prassalow erinnert, der kürzlich die Petersburger 
Gesellschaft in Atem hielt, und wo die Moral des Ehemannes mit der des Comte des Villequier 
eine merkwürdige Ähnlichkeit aufweist. Der russische Ingenieur Prassalow hatte mehr als ein 
Jahr hindurch die galanten Abenteuer seiner hübschen, wenn auch in den ehelichen Prinzipien 
recht lockeren Frau ruhig mit angesehen, zumal da er selbst etwas wie ein Don Juan in der 
eleganten Oesellschaft an den Ufern der silbernen Newa war. Eines Tages jedoch erwachte 
in ihm das zermürbte und bereits recht abgebrauchte Ehrgefühl, und mitten im Cham- 
pagnertrubel, in einer samtausgeschlagenen Loge und im Kreise junger russischer Gardeoffiziere 
fällt ein Schuß, den der betrogene Ehemann auf seine nichtsahnende Oattin abgibt. In der 
Welt, die sich nicht langweilt, hat dieser moralische Anfall nicht gelinde Aufregung hervor- 
gerufen. Für die Psyche des Kupplers und professionellen Hahnreis dagegen ist ein solcher 
Schritt mehr als charakteristisch; er beweist, daß in 999 unter 1000 Fällen sich hinter der 
glatten Fläche fast immer tiefgehende Anomalien verbergen. 


112 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


und klagend um sie scharten. Vielfach galt auch der Ehe- 
bruch nur als billiger Vorwand, um sich einer Gattin, deren 
man überdrüssig wurde, auf leichte und angenehme Weise zu 
entledigen. Heinrich VIII. ließ seine Gemahlin, die schöne 
Anna Boleyn, enthaupten, weil es ihn nach Abwechslung 
gelüstete; ähnliches wird von Karl IV. behauptet, von König 
Ludwig dem Jungen, von Balduin, dem zweiten König von 
Jerusalem, und von einer Reihe neuzeitlicher Fürsten bis zu 
Napoleon hinauf, mit denen sich die Legende beschäftigt hat, 
und die unter dem Vorwande des Ehebruchs ihre Gattinnen 
verstießen, um andere vorteilhaftere Heiraten schließen zu 
können. Der Rest schließlich, und das gilt besonders von 
dem Mann aus dem Volke, hat sich zumeist mit Resignation 
und Humor in die einmal geschaffene Situation hineingefunden. 
Als charakteristisch für diese vielleicht gesündeste Auffassung 
des Ehebruchproblems möchte ich auf die reizende altdeutsche 
Novelle vom „Schneekind“ hinweisen, die gleichzeitig typisch 
für die ganze Art der altdeutschen Schwänke ist. Ein Kauf- 
mann, der sich Jahre hindurch auf einer Geschäftsreise be- 
funden hat, kehrt plötzlich in sein Heim zurück und findet 
in der Gesellschaft seiner Frau einen kleinen hellhaarigen 
Knaben, der sich als sein Sohn herausstellt. „Ach,“ sagt ihm 
das Frauchen, „im Winter brach ich einmal einen Eiszapfen 
vom Strauch, den schluckte ich herunter und davon wurde 
ich schwanger.“ Der kluge Mann pflichtet dem noch klügeren 
Weibchen scheinbar zu, und nichts ändert sich an dem ein- 
trächtigen Zusammenleben, bis der Kaufmann eines Tages 
wiederum auf eine Reise gehen muß, wobei er den jungen 
Sohn als seinen Diener mitnimmt. Nach Jahr und Tag kehrt 
er wieder in sein Haus zurück, aber der Knabe ist ver- 
schwunden. Auf die Frage seiner Frau erklärt der Wackere 
bieder: „Ja, wir sind in eine Gegend gekommen, wo die Sonne 
sehr heiß geschienen hat, und weil nun doch dein Kind ein 
Schneekind ist, ist es daselbst zerflossen, so daß ich betrübt 
mich allein heimwärts wenden mußte.“ — 
х + * 
* 

Wie ich bereits in der Einleitung zu diesem Artikel hin- 
gewiesen habe, nimmt die Zahl der Ehebrüche in den einzelnen 
Zeitaltern mit dem steigenden Luxus und der verfeinerten 
Lebensweise zu und erhält sich mit der Prostitution auf einer 


16 ӘМә$Ѕ$ ">әпәлӱиг әцәцәцә ә 25ү шәр пу 
yapunyayef "11 "yaysıaydny 1әцоѕ1ѕ02ие14 "IIANHVH ILHIO[YILNN яза 


au Кы ayana ру зиәлитно 


Ee АСТА 


ch 
H A 


’ 





ut 


EE EN 
BE LE a TE EEE Et d \ ЕСА: { Шау NY 








DIE MIT. IHREM GELIEBTEN IN DER HAUSBADE- 
STUBE UBERRASCHTE UNGETREUE EHEFRAU. 


Züricher Fliegendes Blatt. 1560. Zu dem Aufsatz auf $. 97. 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 113 


Höhe, zumal da Ehebruch und Prostitution auch in sonstigen 
direkten Beziehungen zu einander stehen. Nirgends treten 
diese Beziehungen deutlicher zutage als in der historischen 
Epoche, die das Erbe der Renaissance übernommen hat, und 
man kann ruhig sagen, das hohe Lied der Renaissancekultur 
zu einer bedenklichen Farce, die ursprüngliche Idee zur 
Karikatur, herabgewürdigt hat. Der Absolutismus mit seiner 
konsequenten Scham- und Morallosigkeit hat auch auf dem 
Gebiete der ehelichen Untreue den Rekord geschlagen, und 
wenn man auch nicht leugnen kann, daß in keiner Zeit stil- 
voller und mit mehr Raffinement Ehebruch getrieben wurde 
als in der damaligen, so wird man gleichwohl eine solche 
Skrupellosigkeit weniger als einen genialen Zug, sondern als 
das deutliche Anzeichen eines unvermeidlichen Zusammen- 
bruches erkennen müssen. Daß dieser Zusammenbruch in 
der Tat erfolgte, ist aus der Geschichte der französischen 
Revolution und der ihr vorangehenden Stürme hinlänglich be- 
kannt. Man wende nicht ein, daß im ancien regime der Ehe- 
bruch nicht häufiger als in der Renaissance war. Denn nicht 
die Häufigkeit macht es in diesem Falle, sondern die Motive, 
aus denen die Wiederholung derartiger Vergehen resultiert. 
Die Motive des Absolutismus aber sind von denen der Re- 
naissance grundverschieden. War die Ausartung des Ge- 
schlechtsverkehrs im Zeitalter des Humanismus und der Re- 
naissance die Äußerung eines eruptiven Freiheitsdranges, die 
Wiedergeburt zur Kraft und Individualität, die selbst in der 
Sprengung aller Schranken den genialen Instinkt nicht ver- 
leugnete, so handelt es sich im Absolutismus lediglich um die 
wüste Ausschweifung, um ein trunkenes Bacchanal der Sinne, 
in dem der Ehebruch eine - vielleicht die wichtigste — Etappe 
bildete. Nirgends zeigt sich der Zusammenhang, der zwischen 
kapitalistischer Produktion und öffentlicher Moral besteht, so 
deutlich, wie in der genannten Epoche, und nirgends ist das 
Proletariat so radikal aus der Betrachtung ausgeschaltet wie 
hier. Es ist das ein erneuter Beweis, daß der Ehebruch erst 
in der bürgerlichen Gesellschaft als ein Vergehen existent 
wird und daß er den Gipfel eines Raffinements bedeutet, das 
erst auf einer erreichten wirtschaftlichen und geistigen Ent- 
wicklungsstufe denkbar ist. Im ancien régime wird die Ehe 
hauptsächlich nach zwei Seiten hin gebrochen: von der feudalen 
Oeschlecht und Oesellschaft, VIII. 3/4 8 


114 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Gesellschaft untereinander und von den vornehmen adeligen 
Herren mit bürgerlichen Mädchen bezw. Frauen, seltener von 
den Angehörigen der letzteren gesellschaftlichen Klasse mit 
ihresgleichen. Maßgebend für die Häufigkeit der sträflichen 
illegitimen Verhältnisse ist die Mißachtung des monogamen 
Prinzips innerhalb der Familie und die groteske Verzerrung 
aller darauf bezüglichen Institutionen, die notwendigerweise 
die geschilderte Korruption im Gefolge haben mußten. Die 
Ehe gilt im ancien régime als eine Nebensache, die allenfalls 
zur Aufbesserung der augenblicklichen ökonomischen Lage ver- 
wendet wird und der im Leben des einzelnen sowie der All- 
gemeinheit keine Bedeutung beizumessen ist. Für den Mann 
von vornehmer Abkunft und feinen Sitten ist die Ehe ein 
Rechenexempel, wobei die Frau als üble Draufgabe auf die 
Mitgift betrachtet wird und wo es naturgemäß auf geistige 
und physische Qualitäten überhaupt nicht ankommt. Zahllos 
sind die Verhältnisse, wo ein vornehmer Aristokrat sich seiner 
Gattin, ausgenommen in den ersten Tagen nach der Hochzeit, 
das ganze Leben hindurch nicht mehr nähert und sich folge- 
richtig noch weniger um ihre sonstigen Passionen bezw. die 
Skandale, die ihr Verhalten im Gefolge hat, kümmert. Oft 
geht der Edelmann eine Mesalliance ein, indem er sich aus 
praktischen Gründen mit einer Bürgerstochter verheiratet, 
die ihm um der Ehre willen, von einem Adeligen oder einem 
Hofmann einmal geschwängert zu werden, haufenweise sich 
anbieten; die feudalen Herren verschmähen es selbst nicht, ähn- 
lich wie in unserem Zeitalter, aus Utilitätserwägungen heraus 
Verhältnisse mit jungen „Judenschickseln“ anzuknüpfen. Diese 
unwürdige Auffassung der Ehe zieht naturgemäß auch eine Ent- 
würdigung der Trauungszeremonien nach sich, und so kommt 
es, daß in der Epoche des Absolutismus die Ehe mit einer Leicht- 
fertigkeit und in einem so frühen Alter geschlossen wird, wie 
es heutzutage höchstens noch in Amerika vorkommt. Die 
„fleet mariages“, das sind die Hochzeiten, die zur Befriedigung 
der gegenseitigen sinnlichen Begierden und nur auf vorüber- 
gehende Dauer geschlossen werden, haben für diese Zeit eine 
traurige Berühmtheit erlangt und sind zusammen mit den 
romantischen Entführungen lange Zeit hindurch das angestaunte 
Ideal aller unreifen Paare gewesen. Sie haben sich im übrigen 
noch das ganze 18. Jahrhundert hindurch erhalten und in einer 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 115 


Schrift aus dieser Zeit, die von „Wiener Galanterien“ handelt, 
heißt es bezeichnend für die damaligen Verhältnisse der ge- 
nannten Stadt: „Die Ehe ist hier weiter nichts als ein bloßes 
Sakrament; sie ist nicht eine Verbindlichkeit des Mannes und 
Weibes, einander wechselseitige Hilfe zu leisten, ihre Bedürf- 
nisse zu stillen, Kinder zu erzeugen und ihre erzeugten Kinder 
zu ernähren und sie dem Staate nützlich zu erziehen; nein, 
sie ist eine Freiheit, alles das zu tun, was einem beliebt, sie 
ist der Schlüssel zur Verkehrung und der Tausch der Tugend, 
der Eingezogenheit mit dem Laster der Freiheit. Hier wird 
nur geheiratet, damit der junge Mann die Erlaubnis hat, un- 
gestört und ungeahndet einige Wochen mit seinem Weib in 
einem Zimmer und in einem Bett schlafen zu können.“ Es 
ist selbstverständlich, daß solche Zustände noch von anderen 
Übeln begleitet waren, als deren bedeutendstes wohl das 
Überhandnehmen der Ehescheidungen im 17. und 18. Jahr- 
hundert angesehen werden muß. Man ging ebenso aus- 
einander wie man sich gefunden hatte, mitunter waren die 
beiden Partner bereits wieder verheiratet, bevor der erste Bund 
überhaupt gelöst war. Trotzdem für die Bigamie die Strafe 
des Hängens oder Deportation ausgesetzt war, waren solche 
Fälle nicht selten, zumal da eine doppelte Heirat eine zweifache 
Mitgift zubrachte und überdies der Befriedigung des skrupel- 
losen Geschlechtstriebes Vorschub leistete. In diesem Zu- 
sammenhang muß auch noch jener besonderen Entartung ge- 
dacht werden, die die Mißachtung des monogamen Prinzips 
in reinster Blüte zeigt. Das ist der Weiberverkauf, der be- 
sonders in England alltäglich war und von dem Fuchs nach 
einer Darstellung von Dühren nachfolgende Schilderung gibt: 
„Gewöhnlich führte der Mann seine Frau mit einem Strick 
um den Hals an einem Markttage auf den Platz, wo das Vieh 
verkauft wurde, band sie an einen Pfosten und verkaufte sie 
dem Meistbietenden in Gegenwart der nötigen Zeugen. Ein 
Amtsbote oder sonst eine niedrige Gerichtsperson, oft auch 
der Ehemann selbst, bestimmte die Taxe, die selten einige 
Schillinge überstieg; dann band sie der letztere wieder los und 
führte sie am Stricke auf dem Marktplatze herum. Diese Art 
der Verkäufe nannte das Volk the horn-market (Hornmarkt). 
Gewöhnlich waren Witwer und junge Gesellen die Käufer. 
Die betreffende Frau wurde durch einen solchen Kauf recht- 
8’ 


116 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


mäßige Gattin des Käufers und ihre mit diesem erzeugten 
Kinder wurden als legitim erachtet. Doch ließ der neue Ehe- 
mann zuweilen trotzdem die kirchliche Trauung folgen.“ 
Eine so zynische Auffassung von den Tendenzen und 
dem Beruf der Ehe half naturgemäß die Sittenlosigkeit in den 
vermögenden Kreisen nach allen Seiten hin zu befestigen, 
und so kommt es, daß der Ehebruch im Zeitalter des Abso- . 
lutismus das wichtigste, ja man kann sagen, im Verein mit 
den sonstigen Praktiken des außerehelichen Geschlechts- 
verkehrs das alleinige gesellschaftliche Amüsement wird. 
Während aber in der Renaissance der Liebhaber doch nur der 
heimlich Begünstigte war, nimmt der galante „Cicisbeo“ im 
17. und 18, Jahrhundert eine offizielle Stellung in der Familie 
und in der öffentlichen Gesellschaft ein. Die Bezeichnung 
Cicisbeo stammt aus dem Italienischen, wo die meisten vor- 
nehmen Familien einen derartigen Cavaliere servente besaßen, 
der der Signora in hündischer Anhänglichkeit überall auf Schritt 
und Tritt nachfolgte und dem auch das Geschäft oblag, jeder- 
zeit durch galante, im Flüsterton geführte Gespräche die 
Langeweile von seiner Dame fernzuhalten. Die Aufgabe des 
Cavaliere servente im Verhältnis zu seiner Dame schildert 
Gleichen-Rußwurm (Geselligkeit, p. 51 ff.) wie folgt: „Der Cava- 
liere servente, den fast jede Dame des Adels und der besseren 
Bürgerschaft verlangte, erschien zwischen 11 bis 12 Uhr vor- 
mittags, um seiner Angebeteten während der Toilette die Zeit 
zu vertreiben, sah, wie sie ihre Schokolade trank, begleitete 
sie zur Messe und zog sich zurück, ehe sie mit ihrem Gatten 
zum Mittagessen die Sala di pranzo betrat. Eine Stunde nach 
Tisch kam er wieder, nahm an der Trotatta (Wagenfahrt) teil, 
führte die Dame vielleicht in ein elegantes Kaffee, einen Sorbett 
zu nehmen, saß in der Loge hinter ihr und gab ihr den Arm 
bei der Conversazione des Abends. Dann brachte er sie nach 
Hause, um sie dem Gatten wohlbeschützt und unversehrt zu 
übergeben.“ Man sieht, die Mission des Cavaliere servente 
war ursprünglich nur die des harmlosen Freundes oder pla- 
tonischen Liebhabers und erst seine Verpflanzung auf den 
heißen französischen Boden ließ ihn jene intimen Macht- 
befugnisse erlangen, die in der Geschichte jener Tage der 
leichtfertige Freund des Hauses vor dem rechtlich angetrauten 
Gatten besaß. Eine vornehme Dame, die nicht womöglich 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 117 


schon im dritten Monat nach der Hochzeit einen offiziellen 
Liebhaber besaß, setzte sich dem Spott und der Mißachtung 
ihrer Freundinnen aus, die um so größer waren, wenn die 
junge Frau ihrem Gatten in wirklicher Liebe und Ergebenheit 
anhing. Mann und Frau gingen eben ihre getrennten Wege, 
und der Gatte gestattete seiner Frau jedes Verhältnis, sofern 
sie sich nicht mit Leuten unter ihrem Stande abgab. Hatte 
man aber ein derartiges Verhältnis angeknüpft, so trachtete 
man, daß es nach Tunlichkeit rasch unter die Leute kam; denn 
ein Verhältnis mit einem vornehmen Herrn oder mit einer 
hochgestellten Dame war der beste Leumund, den man sich 
in den high-life-Kreisen erwerben konnte. Der Seladon, der 
nach längerem, vergeblichem Schmachten die Gunst seiner 
Dame erwarb, ließ von dem Augenblick an, da seine Wünsche 
erfüllt waren, tagelang seinen Wagen vor der Tür der Geliebten 
stehen, damit alle Welt erführe, daß sie ihm ihre Gunst ge- 
schenkt hatte. Die Dame umgekehrt lud nunmehr ihren Lieb- 
haber zum Lever ein, sie ließ in der ersten Nacht, in der sie 
seinen Wünschen entgegen kam, rings um das Haus Stroh 
auffahren und bemühte sich tagelang danach, recht abgespannt 
und müde auszusehen. Die ganze Welt (eingeschlossen 
den betrogenen Ehegatten) nahm an dem Glück des jungen 
Paares lebhaften Anteil, ja man fand die Sache so natürlich, 
daß man sich über den törichten Hahnrei, der etwa der Über- 
zeugung Ausdruck verliehen hätte, daß eine Frau eigentlich 
für ihn und nicht für den Liebhaber da sei, nach allen Regeln 
der Kunst mokierte. Allerdings waren solche Fälle nur ver- 
einzelt, aber sie kamen dennoch vor, wie aus der Familien- 
geschichte des Markgrafen Heinrich von Preußen erhellt, von 
dem im Jahre 1751 ein Junker Kleist an den preußischen 
Dichter Gleim schrieb: „Sie wissen doch schon die Aventüre 
des Markgrafen Heinrich? Der hat seine Gemahlin auf seine 
Güter geschickt und will sich von ihr separieren, weil er den 
Prinzen von Holstein bei ihr im Bette gefunden hat. Der 
Markgraf hätte wohl besser getan, wenn er den Handel ver- 
schwiegen hätte, statt daß er jetzt ganz Berlin und die halbe 
Welt von sich reden macht.“ (Fuchs, Sittengeschichte II, p. 236.) 
An allen fürstlichen Höfen herrschten damals derartige Zu- 
stände, die Männer hielten sich neben ihren rechtlich angetrauten 
Oattinnen eine Reihe von Maitressen, die oft gleich in dem- 


118 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


selben Hause wohnten. Die eheliche Nachsicht ging so weit, 
daß die Gatten ihren Frauen die Liebhaber selbst zuführten 
und ihre Gattinnen mit deren Einverständnis untereinander 
austauschten. Belegfälle nach dieser Richtung hin ergeben 
sich aus der Memoirenliteratur und aus den geheimen Polizei- 
berichten des 18. Jahrhunderts, die auch eine Reihe vornehmer 
Namen aufdecken, die zu den bekanntesten Courtisanen und 
Ehebrecherinnen ihrer Zeit gehörten. Die galanten Damen des 
ancien régime trieben nicht nur in ihren eigenen Häusern 
offenkundigen Ehebruch, sondern die vornehmsten unter ihnen 
unterhielten eigene, kostspielige und mit raffiniertem Luxus 
ausgestattete Liebestempel, die sogenannten „petites maisons“, 
die unter der Oberaufsicht irgend eines alten kupplerischen 
Weibes standen und wo immer für genügendes Material zur 
Befriedigung der ehebrecherischen Gelüste der eleganten Welt 
gesorgt war. Eine der berühmtesten Kupplerinnen des 18. Jahr- 
hunderts war die Gourdam, die mit Fürsten, Herzögen, Grafen 
und einfachen Edelleuten in Verbindung stand und in deren 
Hause neben den obligaten Ehebruchsverhältnissen alle Arten 
von Perversitäten gepflegt wurden. Zu der ständigen Kund- 
schaft derartiger Kupplerinnen gehörten u. a. die Baronin von 
Bourman, die Baronin von Vaxheim, Marquise de Pierrecourt, 
Madame de Saint-Julien, de Saint-Formin, de Fresnay, de Beaupré, 
de Beauvoisin und eine andere Reihe illustrer Namen, die zu 
den Zierden der damaligen Gesellschaft gehörten. Im übrigen 
ist die Institution der petites maisons auch in der Folgezeit 
keineswegs ausgestorben, sie hat sich in sogenannten maisons 
de rendezvous das ganze 18. und 19. Jahrhundert hindurch 
erhalten und lebt auch noch heute in den großstädtischen 
Absteigequartieren und den feinen Bordellwirtschaften berühmter 
Handelsstädte fort. Stern beschreibt in seiner „Geschichte der 
öffentlichen Sittlichkeit in Rußland“ die Rendezvoushäuser, die 
im 18. Jahrhundert daselbst bestanden, und Talmayer führt den 
Nachweis, daß solche Vergnügungsstätten auch im Paris von 
1900 zu Hause sind. Rendezvoushäuser, die mit allem mög- 
lichen Luxus ausgestattet sind und in denen sich Damen der 
besten Gesellschaft mit zahlungskräftigen Kavalieren vergnügen, 
finden sich auch meines Wissens in Wien und Budapest und 
sind namentlich in der ungarischen Metropole sehr zahl- 
reich. 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 119 


Da im 17. und 18. Jahrhundert auf die eheliche Treue 
kein Gewicht gelegt wird, hört man auch von keinen Strafen, 
die von der Gesellschaft über den Verbrecher verhängt worden 
wären. Vereinzelt scheint es allerdings auch damals Männer 
gegeben zu haben, denen die physische Reinheit ihrer Oattinnen 
bis zu einem gewissen Grad am Herzen lag und die zu Oe 
waltmitteln griffen, um sich der Treue des weiblichen Teiles 
zu versichern. Im Mittelalter und in der Renaissance bedient 
man sich des künstlich gefertigten Metallschlosses, das der 
Mann bei längerer Abwesenheit seiner Frau umlegte, um sie 
auf diese Weise vor jeder freiwilligen oder unfreiwilligen Ver- 
führung zu schützen. Wir wissen, daß dieses mechanische 
Mittel zur Wahrung der ehelichen Keuschheit wenig oder gar 
nichts taugte, und daß der Liebhaber auch in jenen primitiven 
Tagen trotz des künstlichen Verschlusses fast immer zu dem 
ersehnten Ziel gelangte. Von der Anwendung von Keusch- 
heitsgürteln hört man im ancien regime wenig, aber die spo- 
radische Erwähnung dieses schmachvollen Apparates genügt, 
um den Beweis zu führen, daß sie auch damals von wenigen 
Eifersüchtigen erfolglos gebraucht wurden. Einen solchen 
Keuschheitsgürtel soll Voltaire vorgefunden haben, als er sich 
seiner ersten Maitresse, einer Madame de B.... näherte, 
was ihn auch zu seiner Erzählung „Der Keuschheitsgürtel“ 
veranlaßt haben soll. Ebenso wird in dem 1746 erschienenen 
Roman „Der im Irrgarten der Liebe taumelnde Kavalier“ von 
Johann Gottfried Schnabel und in dem berühmten „Frauenzimmer- 
lexikon“ des 18. Jahrhunderts eines Keuschheitsartikels Er- 
wähnung getan. Wir werden im übrigen sehen, daß selbst 
die jüngste Zeit dieses wenig fruchtbare Mittel nicht ver- 
schmäht hat, und daß unter den Annoncen erotischen Charakters, 
die sich in hauptstädtischen Blättern unserer Zeit vorfinden, 
auch solche, die den Gebrauch von Keuschheitsgürteln emp- 
fehlen, anzutreffen sind. 

Die französische Revolution hat wohl dem alten System 
ein radikales Ende bereitet, allein die öffentliche Sittlichkeit 
hat auch sie nicht oder nur sehr wenig gefördert. Schließlich 
haben die Größen der Revolution, ein Robespierre, ein Marat 
und Danton, und der ausschweifende Barras, einen nicht minder 
anstößigen Lebenswandel wie ihre absolutistischen Vorgänger 
geführt, und von dem ersten großen Franzosenkaiser Napoleon 


120 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


weiß man, daß er ein ebenso tüchtiger Feldherr wie routinierter 
Ehebrecher war. Von den skandalösen Verhältnissen der eng- 
lischen und deutschen Könige der nachnapoleonischen Zeit 
geben die charakteristischen Aufzeichnungen englischer und 
deutscher Herkunft ein beredtes Zeugnis. Für die englische 
Gesellschaft ist es typisch, daß der bekannte Lord Hamilton 
sich mit dem Admiral Nelson einträchtig in den Besitz der 
schönen Emma Gunning, nachträglichen Lady Hamilton, teilte. 
Die Königin Karoline von England soll ein obszönes Verhält- 
nis mit ihrem Leibkutscher Bergami unterhalten haben, und 
bekannt ist das Verhältnis Georgs III. zu der Lady Bakshirsheff, 
das der zeitgenössischen Karikatur eine Reihe der dankbarsten 
Vorwürfe geliefert hat. Zu den bedeutendsten Dokumenten 
des 19. Jahrhunderts, das ein bezeichnendes Bild von den ge- 
sellschaftlichen Verhältnissen in den fünfziger und sechziger 
Jahren bietet, gehört unstreitig die famose Klageschrift des 
berühmten Demagogen und Vaters der Sozialdemokratie 
Ferdinand von Lassalle in Sachen der Gräfin Hatzfeld gegen 
ihren Gemahl, deren Wortlaut Fuchs in seinem Ergänzungs- 
band zum bürgerlichen Zeitalter auf Seite 196 ff. mitteilt. Die 
langatmige Aufzählung der zahlreichen Sünden des hoch- 
geborenen Grafen findet ihr Pendant höchstens noch in den 
obszönen Verhandlungen der englischen Gerichte, vor denen 
um die Wende des 18. Jahrhunderts die Ehescheidungsklagen 
abgehandelt wurden. Im übrigen war die Massenunzucht im 
Zeitalter nach der französischen Revolution und namentlich 
im zweiten Kaiserreich gang und gäbe wie in den vorher- 
gehenden Jahrhunderten. Das beweisen die Berichte aus den 
preußischen Garnisonstädten vor und nach den Befreiungs- 
kriegen und später das Aufkommen der galanten Vergnügungen 
in aristokratischen und bürgerlichen Kreisen, von denen die 
sogenannten Nacktbälle in den sechziger Jahren eine traurige 
Berühmtheit erlangten. Eheliche Untreue und außerehelicher 
Geschlechtsverkehr sind eben an keine Zeit gebunden und 
gehören — lediglich in der Bewertung durch die Gesellschaft 
verschieden — zu den großen Invariablen der Kulturgeschichte. 
Nicht, daß sie vorhanden sind, macht sie zu einem Phänomen, 
sondern daß sie in den einzelnen Zeitaltern zu einem System 
ausgebaut wurden, das geeignet war, an den Grundfesten des 
Staates und der Familie zu rütteln; und nur von diesem 


GESCHLECHT UND OESELLSCHAFT 121 


Standpunkt aus ist auch ihre Verfolgung durch die Gesetze 
zu verstehen, wenn auch die gesetzliche Fehme fast immer 
das Gegenteil von dem erreicht hat,.was die diesbezüglichen 
Paragraphen eigentlich bezweckten. Probleme wie das der 
ehelichen Untreue sind eben von dem Gesamtcharakter ihrer 
Zeit abhängig und lassen sich nur im Verein mit anderen 
sozialen und wirtschaftlichen Fragen lösen. Eine trockene 
Paragraphenwirtschaft allein hat viel Unfug, aber noch selten 
eine vernünftige Reform nach sich gezogen. 


(д 


ZUR FUNKTION | 
DES GESCHLECHTLICHEN SCHAMGEFÜHLS ') 
Von Dr. MAX SCHELER, Berlin. 


WE die Scham schon bei der Entstehung eines 
normalen Geschlechtstriebes beteiligt ist, so hat sie auch 
nicht nur für die Frühzeit, sondern während der gesamten 
Lebensdauer schon als „libidinöse“ Scham eine eminente Be- 
deutung). Auch während des späteren Lebens bleibt sie die 
Bedingung dafür, daß der Mensch Freiheit für die Hingabe 
seines Geistes und seiner Arbeit an objektive Inhalte und 
Werte gewinnt, indem sie die zu große, stets bestehende 
Hingabetendenz an die libidinösen Impulse, ja an alle sinn- 
lichen Gefühlsempfindungen einschränkt. „Objektivität“ 
und „Willenskonzentration“, sowie ein durch die Regungen 
der stets beweglichen Mannigfaltigkeit von sinnlichen Gefühls- 
empfindungen nicht durchbrochener seelischer Ablauf ist also 
eine Leistung der Scham, die weit hinausgeht über ihre Funk- 
tion im Verhältnis zum anderen Geschlecht. Hierfür ist auch 
ein strikter Beweis die Tatsache, daß in Fällen geistiger Er- 
krankung bei 50% aller Fälle die Scham mehr als irgend ein 

1) Vorstehender Aufsatz ist einem Kapitel aus einem Buche des Verfassers ,, Das Wesen 
des Schamgefühls‘‘ entnommen, das als erster Teil eines Werkes, betitelt „Über den Sinn des 
emotionalen Lebens" in den kommenden Monaten bei M. Niemeyer in Halle a. S. erscheinen 
wird. Der Aufsatz möchte daher weder die Bedeutung des geschlechtlichen Schamgefühls, ge- 
schweige des Schamgefühls überhaupt, erschöpfen und gibt nur einige Leitgedanken des Ver- 
fassers über die Funktion des geschlechtlichen Schamgefühls wieder, die in dem Buche selbst 
eine breitere und konkretere Ausführung gefunden haben. 


2) Die „libidinöse'‘ Scham ist diejenige, die schon vor Ausbildung eines Triebes zum 
anderen Oeschlecht besteht und durch Unterdrückung und Einschränkung der masturbatorischen 
Regungen die Lenkung der Libido auf das andere Oeschlecht erst möglich macht. 


122 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


anderes der höheren Gefühle eine starke Einbuße erleidet. 
Indem der Zerfall der Einheit des geistigen Lebens, insbesondere 
die Lockerung jener Einheit und jenes logischen Zusammen- 
hanges, der beim Gesunden schon im automatischen Gang 
der psychischen Prozesse herrscht (nicht erst durch Willkür- 
tätigkeiten bedingt) stets von einem starken Ausfall des Scham- 
gefühls begleitet ist, zeigt sich, welche Rolle die Scham bei 
dieser Einheitsstiftung spielt, und daß dies Gefühl die Einheit 
der Person als Lebenseinheit gegenüber der Mannigfaltig- 
keit ihrer sinnlichen Triebregungen gleichsam vertritt und erhält. 
Bei beginnender Paralyse ist oft der Ausfall des Schamgefühls 
das erste Kennzeichen der beginnenden Erkrankung. Und 
umgekehrt ist ein ausgeprägtes Schamgefühl eine eminente 
Mitbestimmung der leiblichen und seelischen Gesundheit. 
Der Grundmangel der bisherigen Arbeiten über die Scham 
ist darin zu sehen, daß gegenüber ihrer sozialen Bedeutung 
(und jener für die Geschlechtswahl) nicht nur ihre physio- 
logische Arbeit (die mit der Aufmerksamkeitsvariation, 
die sie mitbestimmt, einhergehende Blutverteilung im Orga- 
nismus) sondern auch ihre innenpsychische Leistung und 
ihre neben, ja vor ihrer Schutzfunktion bestehende Kraft der 
Vorbeugung von „Situationen“ übersehen wird, in denen ein 
Schutz überhaupt nötig wird. Diese „innenpsychische“ 
Leistung des Schamgefühls besteht darin, daß die sinnlichen 
Gefühlsempfindungen und -Impulse nicht nur dem „Bemerken“ 
und der zweiten Stufe der Aufmerksamkeit, der „Beachtung“ 
und dem beachtenden Verweilen bei ihnen, sondern dem 
Sonderungsbewußtsein überhaupt, zum mindesten soweit 
entzogen bleiben, als sie in den über die einzelnen Moment- 
punkte unseres Lebens hinweggreifenden Sinn unseres Lebens- 
zusammenhangs nicht hineinpassen und hineingehören. So 
reagiert die Scham nicht nur auf vorhandene „Ое- 
danken“ und „Vorstellungsbilder“ und „Fantasieinhalte“ (ja 
selbst Trauminhalte) genau in derselben Weise, wie sie auf 
faktische, die sinnliche Empfindung reizende wirkliche Objekte 
(oder die künstlerische Darstellung solcher) reagiert, sondern 
sie leistet noch viel mehr: Sie macht, daß die erlebten sinn- 
lichen Regungen als gesonderte Tatsachen unseres Bewußtseins- 
lebens unterschwellig bleiben und daß sie zu solchen „Ge- 
danken“ überhaupt nicht führen, resp. daß die Objekte 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 123 


jenen Reiz auch nur in vermindertem Maße auszuüben ver- 
mögen. Die beste und tiefste Schamhaftigkeit erweist sich daher 
an erster Stelle in der „Reinheit“ des. Fantasielebens und 
des Wunschlebens, also da, wo es sich überhaupt noch nicht 
um Wollen und Handeln dreht. Und sie kann so wirklich 
bis zu einem gewissen Grade machen, daß dem „Reinen alles 
rein“ ist! Die „anima candida“ dokumentiert sich nicht an 
erster Stelle durch ihre Schamreaktion gegen ihre „Einfälle“, 
sondern an erster Stelle darin, daß ihr eben so vieles über- 
haupt nicht „einfällt“, was der schamlosen Seele „einfällt“. 
Dieser Tatbestand an sich ist auch Herrn Sigmund Freud 
nicht entgangen. In allen seinen Schriften sieht er im Scham- 
gefühl eine eminente Kraft der „Censur“, worunter er im 
Gleichnis zu einer Zensurbehörde, welche die zu lasciven Stellen 
in literarischen Werken durchstreicht, eine Reihe von Kräften 
versteht, die besonders im Ideenleben, aber auch noch im 
Schlafe und im Träumen all jene Ideen und Gefühle vom 
Eintritt ins „Oberbewußtsein“ abhalten, die zu einer moralischen 
Verwerfung und einem Gefühl moralischer Minderwertigkeit 
des Individuums führen würden. Die Schamzensur mache, 
daß das Individuum „sich nicht eingesteht“, was es sich doch 
tatsächlich wünscht und vorstellt, oder daß es — wie Herr 
Freud sagt — solche Erlebnisse „verdrängt“. In diesen Lehren 
steckt aber — so sehr gewisse Tatsachen dabei, obzwar ein- 
seitig und ungenau, gesehen sind — eine völlig irrige Deutung 
der Tatsachen. Herr Freud kann nach seiner gesamten Auf- 
fassung des geistigen Lebens in jener innerseelischen, auf die 
libidinöse Regung bezogenen Wirksamkeit der Scham näm- 
lich nichts anderes finden, als ein stetes Versteckspiel, eine 
stete Maskerade, die wir mit unserem faktischen Leben spielen, 
und erteilt dem Arzt die — unter dieser Vorraussetzung — 
in der Tat auch gebotene Aufgabe, daß er durch die psycho- 
analytische Technik diese Masken und inneren Kleider unseres 
Lebens entferne, also den Menschen von jener täuschenden 
Scham frei mache. Aber diese Deutung der Sache ist nur 
eine Folge davon, daß Herr Freud in jenen libidinösen Re- 
gungen, welche die Scham verdunkeln, eben die eigentliche Sub- 
stanz und Wirklichkeit unseres Lebens sieht, und im ober- 
bewußten Leben nur eine fernere und verwickelte Symbolik 
für dieses Wirkliche, d. h. ein bloßes „Epiphänomen“. Jeder, der 


124 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


so denkt, muß natürlich die Scham als eine organische Form 
der Selbstbelügung verdammen und ihr die echte Selbster- 
kenntnis gegenüberstellen. Die Sache steht aber genau 
umgekehrt! Es ist unser „überbewußtes“ geistiges Selbst, 
das wir in der inneren Wahrnehmung stets wahrzunehmen 
intendieren, das wir aberfaktisch nur soweit wahrzunehmen und zu 
leben vermögen, als es uns der „innere Sinn“ gestattet, d. h. 
jene Summe von sinnlichen Leibempfindungen und Impulsen, 
die in jedem Augenblick das Ganze unseres Bewußtseins ein- 
zunehmen suchen und uns von einem reinen und wahren 
Blick auf die Tiefe unseres Seins wegzudrängen streben. Was 
wir gemeinhin unser „Bewußtsein“ und seinen Inhalt nennen, 
das ist allerdings nur Zeichen, Symptom, Epiphänomen; 
aber nicht Zeichen unseres unterbewußten Trieblebens, sondern 
ein Zeichen des tiefen fortwährenden Kampfes, den unser 
höheres geistiges Selbst, die „überbewußte“ Sphäre unserer 
Existenz, mit der „unterbewußten“, dem sinnlichen Empfindungs- 
leben, führt. Die „täuschende“, die „verhüllende“ Kraft 
liegt also in jener stets wechselnden Mannigfaltigkeit der 
sinnlichen Regungen. Indem die Scham eben sie ver- 
dunkelt und sie für das gesonderte Bewußtsein fernhält, ver- 
mindert sie ihre täuschende Kraft und erhellt dadurch 
zugleich unser tieferes Sein und Leben; sie befreit uns also 
von der täuschenden Kraft jenes „inneren Sinnes mehr und 
mehr, der alles Erleben nach seiner bloßen Bedeutung für den 
Sinneskitzel seligiert. Ja schon die individualisierte Leidenschaft 
zu einem Weibe ist nur möglich durch die Verdunkelung unseres 
von Reiz zu Reiz schwankenden sinnlichen Impulses. Das 
ist die Liebe, die — wie sich noch genauer zeigen wird — 
von der Scham gegen die Sinne vertreten wird als von einem 
schönen und frommen Anwalte, das ist die Einheit des 
Lebens, welche die Scham emporhebt und bewahrt gegen all 
das, was sie in zerstäubende Empfindungen zu zerbersten 
sucht. Sie ist also keine Form der Selbsttäuschung sondern 
gerade eine Kraft ihrer Aufhebung; sie ist die Wegbahnerin 
zu „uns selbst“. Aber diese prinzipielle nnd philosophische 
Bedeutung der Scham schließt nicht aus, daß Herr Freud 
faktische Tatsachen und Erscheinungen vor Augen hatte, die 
ihm zu jener irrigen Deutung Anlaß gaben. Es ist nämlich 
ein sehr wesentlicher Unterschied, ob die Scham durch Ver- 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 125 


dunkelung und Hemmung der puren libidinösen Regung schon 
das Werden einer ihr entsprechenden Vorstellung, Phantasie 
und Wunschbildung zurückhält und ausschließt, oder ob sie 
erst gegen eine solche bereits entstandene Vorstellungs- 
und Wunschbildung nachträglich reagiert: und der Mensch 
sich nun erst „über solche Gedanken und Wünsche schämt, 
oder (im dritten Fall) wohl gar erst im Hinblick auf das 
mögliche soziale Urteil und seinen Tadel. Es gibt nun In- 
dividuen, die das schamloseste Phantasieleben mit dem korrek- 
testen, praktischen geschlechtlichen Verhalten aus dem Mo- 
tive dieses auch nur „möglichen“ sozialen Tadels heraus ver- 
binden. Imersten dieserbeiden Fälle ist nun aber dieScham durch- 
aus keine Macht der Verdrängung, als die sie Freud über- 
haupt ganz irrig auffaßt. Wirkt sie doch in diesem Falle viel- 
mehr in der Richtung, daß es zu einer „Verdrängung“ der 
Idee oder des Wunsches schon darum nicht kommen kann, 
da die Scham eine solche Ideen- und Wunschbildung schon 
im Keime erstickt und hemmt. Auch die Scham ist aber in 
ihrer ursprünglicheren und reineren Funktion ebenso wie 
andere vitale Grundgefühle nicht das fühlende Reagieren 
gegen ein als vorhanden Gegebenes, sondern ein Vor- 
gefühl eines Kommenden resp. die Gegenwendung gegen 
ein Mögliches. Der schamhafte Mensch hat darum von vorn- 
herein nicht oder nur vermindert die Chance, in Situationen 
zu gelangen, in denen er sich zu „schämen“ nötig hätte; oder 
resp. nicht die Chance, in vorliegenden objektiven Verhältnissen 
einer gewissen Art eine solche „Situation“ zu sehen. Nur die 
schamlosen Frauen z. B. kommen immer wieder in jene be- 
kannten „Situationen“, in denen ihre „Schwäche“ dann nach- 
träglich „verzeihlich“ erscheint. Die schamhaften Frauen gehen 
ihnen nicht etwa „aus dem Wege“, wie die sogenannte „an- 
ständige Frau“ es als ihre Maxime angibt, sondern sie nimmt 
sie von vornherein nicht wahr. Was aber andererseits im 
zweiten und dritten Falle, den Freud allein kennt, zu einer 
faktischen „Verdrängung“ zu führen pflegt (und im Falle, 
daß dieses „Verdrängen“ für die Haltung des Individuums 
konstitutiv wird, auch zu den von Herrn Freud in einer Fülle 
von Fällen aufgewiesenen gesundheitsschädlichen Folgen 
der „Verdrängung“), das ist, genau und scharf analysiert, in 
keinem Falle die echte Scham, sondern nur eine Furcht 


126 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


und Angst vor den möglichen sozialen Folgen, und sei es 
auch nur dem „möglichen“ Tadel des Gewissens, oder (Fall III) 
der Sozietät. Daß sich hierbei das betreffende Individuum 
seine bloß praktische Enthaltung von der seiner Fantasie ent- 
sprechenden Handlung als „Scham“ auslegt und eben hierin 
einer Selbsttäuschung verfällt, das ist freilich häufig richtig. 
Und auch das habe ich häufig gefunden, daß insbesondere 
stark hysterische weibliche Individuen sich ihre tiefe, organische 
innenpsychische Schamlosigkeit, vermöge der ihr Scham- 
gefühl die Vorstellungs- und Wunschbildung, die den libidi- 
nösen Regungen entspricht, nicht im Keime zu hemmen ver- 
mögen lassen, sondern diese sich breit und parasitär ausbreiten, 
diese ihre organische Schwäche als eine besondere „Wahr- 
haftigkeit und Ehrlichkeit gegen sich selbst“ auslegen, 
indem sie bei Anderen analoge Fantasien und Wünsche vor- 
aussetzen; nur seien diese „Anderen“ nicht „ehrlich“ genug, 
sie zu sehen. Da dieser Gedanke auch die Theorie von 
Herrn Freud ist, so scheint hier Herr Freud selbst einer Art 
unbewußter Ansteckung seitens seiner Patienten verfallen zu 
sein. Diese Auslegung der Hysteriker trägt aber den Stempel 
des „Ressentiment“!) an der Stirne und unterscheidet sich in 
nichts Wesentlichem von dem Dirnenressentiment, das die 
Scham der schamhaften Frau darauf zurückführt, daß sie 
„schlechte Dessous“ anhabe. Freilich ist hier und in allen 
Fällen, wo sich diese innenpsychische Schamlosigkeit bei 
äußerlich korrektem oder von der Sozietät so gewertetem Ver- 
halten ausbildet, und zwar zu einer habituellen Haltung 
des Individuums ausbildet, stets eine Reihe eigenartiger Be- 
dingungen die Voraussetzung. Diesekönnen z.B. darin gegeben 
sein, daß sich eine enge, tradierte und mit bloßem Traditions- 
zwang (nicht Gewissensnötigung) empfundene Geschlechts- 
moral (z.B. bei Mädchen von „guter Familie“, die in einer 
die Sinne stark aufreizenden Großstadtumgebung leben) mit 
einer Umgebung verbindet, deren sinnesreizender Kraft 
auch ein normales angeborenes Schamgefühl auf die Dauer 
nicht gewachsen ist. Dann entsteht durch eine Reihe fort- 
gesetzter „Schamverletzungen“ schließlich jene innerpsy- 
chische Schamlosigkeit, die sich durch die Schranke jenes 


1) Vgl. meine Arbeit: „Über Ressentiment und moralisches Werturteil“. Leipzig, W. 
Engelmann 1912, 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 127 


Traditionszwangs gleichwohl nicht nach außen entlädt und 
sich eben hierdurch auf dem Boden der Phantasie und des 
Wunsches noch steigert. Und noch sicherer führt zu diesem 
Zustande eine Stauung und Zentralisierung und Vergedank- 
lichung derlibidinösen Erregung durcheine bestehende Aversion 
gegen die normale Befriedigung, sei es durch vaginale Un- 
empfindlichkeit, sei es durch eine früh entstandene Anti- 
pathie gegen den Mann, resp. das gegengeschlechtliche 
Wesen. Auch in diesem Falle kommen die libidinösen Re- 
gungen mit einer Stärke an das Bewußtsein, daß sie auch 
eine ursprünglich normale Schamschranke durchbrechen müssen. 
Diese und analoge Fälle sind es nun offenbar, die Herrn Freud 
innerhalb des Milieus, das er studierte, mit besonderer Häufig- 
keit entgegentraten und an denen er sich seine Theorie bildete, 
daß die Scham eine Verdrängungsmacht sei. Indem er diese 
Beobachtungen aber auch auf den normalen Menschen gene- 
ralisierte, entstanden seine Irrungen, die übrigens die medi- 
zinische Bedeutung seiner diesbezüglichen Lehren an sich 
nicht notwendig tangieren. 

Erst auf die genannten organischen und physiolo- 
gischen Wirkungen der Scham und auf jene „innerpsychi- 
schen“ — beide dem libidinösen Schamgefühl angehörig — bauen 
sich nun jene Funktionen derselben auf, die sie im Verhältnis 
der Geschlechter und die sie für die Quantität und Qualität 
der menschlichen Fortpflanzung besitzt, ihre biologische 
Bedeutung; auch diese ist von allen bloß sozialen, historisch 
variablen Verhältnissen, z. B. von der Verwendung des 
Schamgefühls zur Aufrechthaltung von „Anstand“, „Sitte“ oder 
irgendwelchen Herrschaftsverhältnissen von Mann und 
Weib wiederum ganz unabhängig. Vor einer Betrachtung der 
weitgehenden Verschiedenheit, die hier zwischen der Geschlechts- 
scham des Weibes und des Mannes bestehen, ist es notwendig, 
diese Funktionen selbst zunächst im allgemeinen zu kennzeichnen. 

Die Hauptsache ist hierbei, daf man von richtigen 
Vorstellungen über die Zahl und Art der Triebe ausgeht, sowie 
von deren Zusammenwirken mit den höheren vitalen und 
geistigen Akten, welche die Wahl des Geschlechtsgenossen 
und das gesamte Geschäft der Fortpflanzung dauernd regeln. 
Diese sind: 1. Die libidinöse Regung, d. h. das auf den 
Kitzel der Wollust gerichtete peripher sinnliche Streben, 2. der 


` 128 OESCHLECHT UND OESELLSCHAFT 


hiervon ganz verschiedene „Geschlechtstrieb“ mit allen 
seinen Möglichkeiten der Abirrung (Perversionen); 3. dieser 
Trieb ist zwar beiden Geschlechtern eigen, aber in der Weise, daß 
er im Weibe dem Fortpflanzungstriebe untergeordnet ist, 
und im normalen Falle sich jede Regung des ersteren auf eine 
solche des letzteren aufbaut; wogegen der Mann einen so 
zentralen Fortpflanzungstrieb überhaupt nicht besitzt, sondern 
für ihn die Fortpflanzung erst auf einem besonderen „Wunsche“ 
und „Willen“ beruht, ein Kind zu haben, die sich überdies 
erst auf die vorhergehende Regung seines Geschlechtstriebes 
einstellen, 4. der Trieb und Instinkt der Brutpflege, der 
im Menschen nur dem Weibe eigen ist und nur eine Modi- 
fikation ihres Fortpflanzungstriebes, ein einfaches Weiterwirken 
des schon zum Zustandekommen einer Konzeption!) und zur 
Durchführung der Schwangerschaft nötigen Fortpflanzungs- 
triebes über die Beendigung des Prozesses des Gebärens hin- 
aus darstellt, 5. die geschlechtlicheSympathie?), die nur eine 
Abart der mit allem Lebendigen gegebenen Fähigkeit ist: 
erstens über die Grenze des Eigenlebens hinaus das Leben 
anderer Wesen auf unmittelbare Weise zu „verstehen“ und „nach- 
zuleben“, und zweitens es mit einer Form der sogenannten 
„Teilnahme“ zu begleiten (Mitfreude, Mitleid und ihre 
Unterarten), 6. die geschlechtliche Liebe. 

Es ist nicht nur für die Erkenntnis der Funktionen des 
Schamgefühls, sondern für alle hierher gehörigen Fragen des 
menschlichen Geschlechtsverhältnisses, seiner biologischen, 
sozialen und geschichtlichen Bedeutung, von äußerster 
Wichtigkeit, daß die genannten Faktoren alle anerkannt werden, 
und daß sie nicht nur in ihrer Verschiedenheit und Unableit- 
barkeit auseinander, sondern auch in ihrer weitgehenden Un- 
abhängigkeit in Dasein und Wirksamkeit voll begriffen 
werden. Insbesondere ist die Scheidung wichtig von Libido 
und Geschlechtstrieb, sowie des Geschlechtstriebes vom 
Fortpflanzungstrieb, aller dieser bloßen „Triebe“ aber von der Ge- 
schlechtsliebe (bezw. der dem Fortpflanzungstrieb ent- 
sprechenden Mutterliebe). Diese „Liebe“ aber ist überhaupt 
kein blinder Trieb, sondern eine wertwählende und „in- 
tentionale“ Funktion des Gemütes, durch die der „Trieb“, 


1) Dieser Satz kann hier nicht erwiesen werden. 


2) Vgl. meine Arbeit: Zur Phänomenologie und Theorie der Sympathiegefühle und von 
Liebe und Haß. Halle a. S. Max Niemeyer, 1913. 


`16 DS anayun aydıaya Ag езү шәр nz 
‘0281 "Чэпѕләјіпу asypsıus sawÄuouy "DONNHISVYANIAN IWYSIITINN 1A 


GC 


e 
Ki 


= 
SU er 


| 








gp UNITA TUE 











DAS LEVER. Französischer Kupferstich nach einem Gemälde von BAUDOUIN. 


Zu dem Aufsatz -Die eheliche Untreue<. Seite 97. 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 129 


der an sich ein nach allen Seiten und weder an Individualität 
nochW ert gebundenes „Treiben“ zuirgendwelcher,Befriedigung“ 
ist, erst positiv wertbestimmte Gegenstände und Ziele 
erhält. Liebe ist also auch als Geschlechtsliebe (nicht erst 
als „Güte“ etc.) niemals bloß ein „verfeinerter Geschlechtstrieb“ 
oder gar (wie Freud meint) eine Form der „Libido“ oder wie 
andere kaum weniger ungenau sagen, der „individualisierte Ge- 
schlechtstrieb“ 1) d. h. ein „hölzernes Eisen“. Die Geschlechtsliebe 
ist, unabhängig selbst von der empirischen Kenntnis des Daseins 
eines anderen Geschlechts und seiner Beschaffenheit, eine 
besondere Art Qualität und Artung der Bewegung der 
Liebe selbst, die ein elementarer, unableitbarer Akt unseres 
Geistes ist; sie ist nicht wie z.B. die „Liebe zur Kunst“, zum 
„Staate“ eine erst durch ihr Objekt, d. h. „Staat“, „Kunst“ u.s.w. 
charakterisierte Liebe, sondern eine besondere Art und Qualität 
des Liebens selbst, die darum und nur darum durch Per- 
sonen gewisser Wertqualitäten auch „erfüllt“ oder „nicht 
erfüllt“ werden kann. Wir sagen nicht, daß — soweit die 
bloße vitale Geschlechtsliebe, die „Liebesleidenschaft“ in Frage 
kommt, — für jedes Individuum nur ein Individuum durch 
sie erwählt wird; diese volle Individualisierung ist erst eine 
mögliche Leistung einer höheren und geistigeren Form der Liebe, 
die von dem Gesamtgebiet der vitalen Liebesregungen — 
also auch der Geschlechtsliebe — unabhängig ist. Aber schon 
die Wahl einer beliebigen Reihe von Individuen, die z. B. 
gewisse Wertqualitäten des Leibes an sich- tragen, Frische, 
Jugend, Reiz, Anmut, Kraft, Schönheit (und deren leibliche 
Erbwertqualitäten für die Art und Qualität, nicht die 
Quantität der Fortpflanzung wünschenswert sind), 
beruht auf der von Libido, Geschlechts- und Fort- 
pflanzungstrieb ganz unabhängigen wertwählenden Kraft der 
Geschlechtsliebe. Denn wie der „Appetit“ in der vor dieser 
Sphäre an Bedeutung weit untergeordneten Sphäre der Er- 
nährung ein von „Hunger“ ganz unabhängiges Vorgefühl für 
den organischen W ert der Speisen und ihrer mit den wechselnden 
physiologischen Zuständen des Organismus (z. B. Krankheit) 
wechselnden Verdaulichkeit und Unverdaulichkeit ist, nicht aber 
eine Reaktion auf die schon gewählte Speise, eine seelische 


1) So z. B. Hirschfeld: Gesetze der Liebe; desgl. J. J. Rousseau, dessen Definition auch 
Prévost in seinen Briefen an Francoise morie aufnimmt. 


Geschlecht und Oesellschaft, VII, 3/4. 9 


130 GESCHLECHT UND QESELLSCHAFT 


Vorprüfung, also was in den Mund gelangen soll, so ist 
die Geschlechtsliebe ein schon die interessierte Wahrnehmung 
der Individuen (aus der Menge der empfindungsmäßig „wahr- 
nehmbaren“) leitendes Vorfühlen der für die Fortpflanzung 
eben dieser Individuen besten und edelsten Qualitäten; dies 
gilt, soweit es sich um die Liebe des Weibes zum Manne 
handelt; und sie ist Vorgefühl der für die vollste und dauerndste 
Befriedigung des Geschlechtstriebes besten weiblichen Qualitäten, 
soweit es sich um die Liebe des Mannes zum Weibe handelt; 
nicht aber ist die Liebe eine bloße nachträgliche seelische 
Reaktion auf einen Gegenstand, der den Geschlechtstrieb und 
durch ihn hindurch die Libido bereits erregt hätte oder eine 
bloße „Begleiterscheinung“ dieser Erregung, oder Etwas, das 
zu dieser bereits bestehenden Erregung „hinzuträte“ und nur 
auf die „Seele“ ginge, ganz gleichgültig, ob sie ein männlicher 
oder weiblicher Mensch besäße! Wir leugnen nicht etwa 
eine solche spezifische „Seelenliebe“ (z. B. Freundschaft); aber 
wir unterscheiden sie streng von der Geschlechtsliebe und 
leugnen auch, daß diese nur eine „Zusammensetzung“ aus einem 
sexuellen Geschlechtstrieb und solcher Seelenliebe (d. h. Freund- 
schaft) sei. Auch die Verschiedenheit von geschlechtlicher 
Liebe von der geschlechtlichen Sympathie muß scharf her- 
vorgehoben werden. Sympathie hat mit Liebe nichts zu 
tun und zerfällt in die zwei verschiedenen Funktionen des bloß 
nachfühlenden Aufnehmens fremder psychischer Erlebnisse, (die 
selbst bei Grausamkeit, Schadenfreude, Neid, Bosheit, Roheit 
usw. vorhanden sein muß), und der Reaktion auf dieses im 
Nachfühlen Gegebene durch Mitfreude und Mitleid. Und 
„geschlechtlich“ ist diese ganz generelle Eigenschaft des 
Menschen (und der höheren Tiere) dann, wenn es sich nicht 
nur um weibliche und männliche Individuen handelt, sondern 
auch um auf den Geschlechtsunterschied aufgebaute 
Differenzen der Erlebnisse und ihrer Arten. In diesem Sinne 
ist siegar keine Bedingung für die Libido und ihre Erregung, wohl 
aber bereits Bedingung für die Bildung eines Geschlechtstriebes; 
keineswegs also ist sie die bloße Folge eines solchen Triebes, 
wie z.B. Ch. Darwin meinte. Fehlt die geschlechtliche Sym- 
pathie wie beim typischen Mysogin, und wird sie besonders 
durch frühe Kindheitserlebnisse (z. B. Abstoßung seitens der 
Mutter, resp. des Vaters, gemeinhin als des ersten Weibes, das 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 131 


dem Knaben, resp. des ersten Mannes, der dem Mädchen 
entgegentritt) in ihrer Bildung gehemmt, so gewinnt die 
Libido auch im selben Maße keine normale, gegengeschlecht- 
liche Richtung und es wird schon die Ausbildung eines 
„Geschlechtstriebes“ gehemmt. Perversionen können darum 
diesen Ursprung haben. Bedingungen solcher Abstoßung sind 
vor allem in mangelhaften Brutpflegeinstinkten der Mutter 
gegeben, die durch kein „Pflichtgefühl“ ersetzt werden können; 
denn dieses muß stets der organischen mütterlichen „Wärme“ 
ermangeln. Dieser Mangel aber zeigt dem Kinde gefühlsmäßig, 
— da jene Instinkte ja nur die Fortsetzung des Fort- 
pflanzungstriebes sind — daß seine Existenz auch nicht 
genügend organisch erstrebt wurde, daß es keine „leere Stelle“ 
im Herzen der Mutter durch seine Existenz erfüllte. Damit ist 
eine Einstellung des Mißtrauens und der primären unterschieds- 
losen Ablehnung schon des „Verstehens“ des Weiblichen über- 
haupt gesäet. So wirkt der mangelhafte Fortpflanzungsinstinkt 
der Mutter indirekt auch auf die Einschränkung der Möglich- 
keit der Fortpflanzung ihres Blutes zurück. Für die normale 
Funktion der Liebe (auch anormale Individuen z. B. Homosexuelle 
können natürlich ihr Objekt mehr oder weniger lieben) in der 
Geschlechtswahl ist daher die geschlechtliche Sympathie eine 
notwendige Bedingung. (Schluß folgt.) 


(б 


DER MÄDCHENHANDEL IN NEW YORK. 
Von Dr. R. FUNKE, New-York. 


an weiß nicht, ob wir Amerikaner infolge der Reinlichkeit 

des Empfindens über geschlechtliche Dinge und einer 
vernünftigen Erziehung als moralisches Vorbild den europäischen 
Rassen gelten können. Dem Europäer scheint unsere Moral- 
auffassung recht komisch. Er wird es als eine Heuchelei be- 
trachten, wenn ein Amerikaner mit einer jungen Dame zu- 
sammen badet, nachts mit ihr in einem Zelt schläft, ohne 
menschliche Triebe zu verspüren. Für den Europäer ist es 
schwer begreiflich, daß bei uns im Lande die schlüpfrigen fran- 
zösischen Schwänke von der Bühne ferngehalten werden und der 

9* 


132 GESCHLECHT UND OESELLSCHAFT 


Import von pikanter Lektüre, Pariser Bildern, pornographischen 
Werken verboten ist. Doch bewahrt der zwanglose Verkehr der 
Geschlechter, verbunden mit den vielen körperlichen Sports- 
übungen und dem Fehlen einer schlechten Lektüre à la Nick 
Carter, dem Amerikaner, besonders der höheren Klasse, eine 
Reinheit der Erotik gegenüber. Auch wird man sich schwer 
hüten, durch pikante Witze gesellschaftlichen Ruhm zu erreichen, 
selbst in intimer Herrengesellschaft unter dem Einfluß des 
Alkohols unter die Säue zu gehen. Der von der europäischen 
Damenwelt so begehrte Don Juan existiert Gott sei Dank 
in Amerika nicht; und wehe dem jungen Amerikaner, der eine 
junge Dame aus seinen Kreisen durch Sitzenlassen kompromittiert, 
er verfällt für immer der Mißachtung seiner Standesgenossen. 
Ein Mädchen der unteren Kreise jedoch, welche einen vor- 
nehmen Amerikaner geheiratet, hat es durchaus nicht schwer, 
von der höheren Gesellschaft als „full“ aufgenommen zu werden, 
vorausgesetzt, wenn sie sich „ladylike“ zu benehmen weiß. 
Die amerikanische junge Dame bezeichnet das „Verhältnis“ 
des Deutschen als shoking und versteht nicht, wie ein deutsches 
junges Mädchen so dumm sein kann, sich selbstlos hin- 
zugeben. Die Amerikanerin fordert viel und gewährt wenig. 
Aber trotzdem hat der wohlerzogene junge Amerikaner sein 
Sweethaart, entweder eine hübsche Typewriterin oder eine char- 
mante Chorgirl. Dieses nimmt man ihm durchaus nicht übel; 
aber wehe ihm, wenn er von seiner Liebschaft ein großes Ge- 
rede macht, oder sie gar in seine Kreise einzuführen versucht. 
Ist dies keine reine Moralauffassung? Und es scheint, daß 
eine Prostitution in Amerika nicht existiert. 

Leider existiert sie nur zu gut, viel mannigfaltiger, als in 
der alten Welt. Aber man löst in Amerika diese öffentliche 
Frage ohne Schwierigkeit, indem man erklärt, daß die Prostitution 
nur „the social evil“ ist, ein Gegenstand, den man, um nicht 
unsittlich zu erscheinen, in der Öffentlichkeit nicht erwähnen 
darf. Die jungen Amerikanerinnen dürfen nichts von der 
Existenz der Prostitution erfahren. Das amerikanische Gesetz 
ist auch sehr weise (?) vorangegangen, indem es „the social 
evil“ totschweigt. Selbst die Presse, das berufene Organ der 
öffentlichen Aufklärung, welche jede Scheidungsgeschichte oder 
jeden gesellschaftlichen Skandal bis ins kleinste Detail berichtet, 
ist für jene traurigen Wahrheiten der Prostitution nicht zu haben. 


GESCHLECHT UND OESELLSCHAFT 133 


Dieses Totschweigen gehört zum nationalen Dogma, und das 
muß respektiert werden. Aus diesem Grunde wurde auch in 
der gesamten nordamerikanischen Tagespresse über die Ent- 
deckung des Ehrlich’schen Heilmittels gegen Syphilis keine Er- 
wähnung getan. 

Die Zahl der freien und kasernierten Prostituierten in den 
Vereinigten Staaten ist ungeheuer groß. Und die Polizei wird 
verantwortlich gemacht, wenn die Öffentlichkeit Einzelheiten 
aus dem intimen Leben dieser Damen erfahren sollte. Die 
Kasernen der Prostituierten, sowie die auf der Straße herum- 
flanierenden Dirnen stehen wohl unter sehr scharfer Aufsicht. 
Viele öffentliche Häuser wieder, die keine polizeilichen Kon- 
zessionen erhalten haben, genießen den Schutz der politischen 
Bosse, die von den Bordellwirtinnen hohe Summen erhalten. 
In den Adreßbüchern werden die Insassinnen dieser Häuser 
als Masseusen, Schneiderinnen, Geschäftsmädchen, Lehrerinnen 
bezeichnet. Trotz alledem gibt es keine offizielle Kontrolle 
der freien Prostitution, denn als echter Demokrat ist der 
Amerikaner zu feinfühlig, um Menschen seinesgleichen, freie 
Mitbürger, in unwürdige Kontrolle zu tun. Darüber eine recht 
bemerkenswerte Stelle aus dem amerikanischen Buche: „The 
Social Evil“ (with special reference to conditions existing in the 
City of New York. A report prepared under the Direction of 
the Commitee of Fifteen. New York 1902 pp 91—92): 

„Männer mit politischem Verstande sind der Ansicht, daß 
jeder Eingriff in die Freiheit des Individuums ein Übel an sich 
ist, und daß er sich nur dadurch rechtfertigen läßt, daß das 
daraus entstehende Gute wirklich sehr hoch anzuschlagen ist. 
Ein System, das es der Polizei ermöglicht, auf einen Verdacht 
hin einen Bürger anzuhalten und ihn einer verletzenden Unter- 
suchung zu unterziehen, nur zu dem Zwecke, eine etwa vor- 
handene Krankheit zu entdecken, und dann ins Gefängnis zu 
stecken, auf den Verdacht hin, daß er unmoralischen Verkehr 
haben könnte, wenn man ihn freiließe, kann unmöglich als mit 
den Prinzipien der persönlichen Freiheit in Übereinstimmung 
bezeichnet werden.“ Die Einkünfte dieser Mädchen weisen 
eine erhebliche Höhe auf. Goodchild bemerkt in seinem Buche 
„Ihe social evil in Philadelphia“, daß die Mädchen in ge- 
wöhnlichen Bordellen eine wöchentliche Rein-Einnahme von 
wenigstens zwanzig Dollar (80 Mark) erzielen, d. h. für Phila- 


134 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


delphia. Für New York, als teure Stadt an und für sich ver- 
dienen solche Damen wöchentlich schon 40—50 Dollar 
(160 —200 Mark). 

Mit dem Bordellwesen hängt der Mädchenhandel aufs 
innigste zusammen. Iwan Bloch sagt mit Recht: „Ohne Bor- 
delle kein Mädchenhandel“. Man macht sich in Europa keinen 
Begriff, wie in den Vereinigten Staaten, besonders aber in 
New York, der weiße Sklavenhandel blüht, üppiger noch als 
in den südamerikanischen Staaten. Die Einwanderungskom- 
mission in New York ist in den letzten Jahren dahintergekommen, 
daß der Mädchenhandel dort ungeheure Dimensionen ange- 
nommen hat, sodaß die Einführung der weißen Sklaven von 
Europa aus fast ganz aufgehört hat, denn auf den Ozean- 
dampfern wachen scharfe Augen über das Benehmen der paar- 
weise Reisenden und wer da keinen unzweifelhaft verheirateten 
Eindruck macht, kann in Hoboken bei der Landung gewärtig 
sein, um seine Trauurkunde ersucht zu werden, und falls er 
eine solche nicht aufweist, vor die Alternative gestellt, entweder 
sofort auf dem Schiff zu heiraten oder mit dem nächsten Schiff 
zurück nach Europa zu dampfen. Nordamerika deckt jetzt 
seinen Bedarf an Mädchen ausschließlich in der Weltstadt 
New York. Mehr als 50000 Mädchen werden jährlich in der 
nordamerikanischen Metropole umgesetzt. Eine derartige hohe 
Zahl kann meines Erachtens nur durch die Konnivenz der 
New Yorker Polizei erreicht werden. Man weiß bestimmt, daß 
die New Yorker Polizisten im allgemeinen nicht von ihrem Gehalt 
so rosig fett und robust werden, sondern von den Schmiergeldern, 
die sie von den dunkeln Ehrenmännern erhalten, die sich mit 
diesem schmutzigen Geschäft befassen. Das weit größte Kon- 
tingent dieser armen weißen Sklaven liefert Irland, dann folgen 
Schottland, Deutschland mit Oesterreich, schließlich Ungarn 
und Rußland. Frankreich und die übrigen europäischen Län- 
der kommen kaum in Betracht. Auch Amerika selbst liefert 
seinen Teil, besonders der schwer arbeitende Norden mit 
seinem rauhen Klima. Die Preise für diese Mädchen sind sehr 
verschieden, aber 1000 Dollar (4000 Mk.) ist kein zu hoher 
Preis, denn man muß bedenken, daß bei diesen Verkäufen viele 
Mittelspersonen verdienen. Die New Yorker Mädchenhändler, 
deren stattliche Zahl auf 25000 gestiegen ist, bilden in New 
York einen Ring für sich. Sie sind ausschließlich rumänische, 


GESCHLECHT UND OESELLSCHAFT 135 


ungarische und galizische Juden und haben sehr enge Be- 
ziehungen zur New Yorker Polizei, die ihr schmachvolles Tun 
und Handeln stets billigt. Sie besitzen in New York ihre eigene 
Börse. Zur Anlockung der Mädchen bedienen sie sich junger 
hübscher Männer, „Kadetten“ genannt. 

Alle Bestrebungen des internationalen Vereins gegen den 
Mädchenhandel in den Vereinigten Staaten sind bis jetzt wir- 
kungslos geblieben. Das beste Mittel zur Beseitigung des 
Mädchenhandels ist erstens der Fortfall aller Bordelle, zweitens 
die Beteiligung der New Yorker Polizei am Kampfe gegen 
diesen für Amerika so schimpflichen Handel und drittens der 
Entwurf eines Gesetzes, welches wenigstens eine zehnjährige 
Zuchthaustrafe mit Zwangsarbeit und Vermögenseinziehung 
auf den Mädchenhandel setzt. Vor einiger Zeit ist unter dem 
Vorsitze von John Rockefeller eine Kommission zusammen- 
getreten, die zu dem für die amerikanische Moral so charak- 
teristischen Resultate gekommen ist, daß New Vork die reinste 
Stadt der Welt sei. Mit anderen Worten, daß in New York 
weder Prostitution, noch Mädchenhandel existieren. Ist dies 
kein Paradoxon? Ist es diesen Herren nicht bekannt, daß die 
25000 New Yorker Mädchenhändler unter dem Schutze der 
demokratischen Partei stehen, in deren Parteikasse jährlich 
hohe Summen aus den schmachvollen Geschäften fließen? Ist 
es diesen Herren tatsächlich nicht bekannt, daß in New York 
die Binde vor den Augen der Gerechtigkeit aus lauter zusammen- 
gefalteten Dollarnoten besteht? Und was sagt diese Kommission 
nun über den vor einiger Zeit erfolgten Selbstmord des 
New Yorker Polizeipräsidenten, dem nachgewiesen war, daß 
er mit den elenden Mädchenhändlern unter einer Decke steckte 
und jährlich dafür Tausende und Abertausende von Dollar ein- 
nahm! Ist also New York wirklich die reinste Stadt der Welt? 

Das amerikanische Dogma aber schreibt vor, an diesen 
schreiendsten Mißständen schweigend vorbeizugehen. Man 
muß schweigen, damit nichts in die Öffentlichkeit dringt, da- 
mit nicht das große Publikum auf diese unsauberen Dinge 
aufmerksam gemacht wird. So läßt man lieber den Politikern, 
Polizisten, Advokaten, smarten Geschäftsleuten und raffinierten 
Hochstaplern ihr gutes Einkommen. 


EI 


136 GESCHLECHT UND OESELLSCHAFT 


TRAUM UND TRAUMDEUTUNG. 
Von Dr. ALFRED ADLER. 

E" uraltes Problem, das bis an die Völkerwiege zurückzu- 

verfolgen ist. Narren und Weise haben sich daran ver- 
sucht, Könige und Bettler wollten die Grenzen ihres Welter- 
kennens durch Traumdeutung erweitern. Wie entsteht ein Traum? 
Was ist seine Leistung? Wie kann man seine Hieroglyphen 
lesen? 

Ägypter, Chaldäer, Juden, Griechen, Römer und Germanen 
lauschten der Runensprache des Traumes, in ihren Mythen 
und Dichtwerken sind vielfach die Spuren ihres angestrengten 
Suchens nach einem Verständnis des Traumes, nach seiner 
Deutung eingegraben. Immer wieder wie eine bannende Ge- 
walt scheint es auf allen Gehirnen zu liegen: der Traum kann 
die Zukunft enthüllen! Die berühmten Traumdeutungen der 
Bibel, des Talmud, Herodots, Artemidorus, Ciceros, des Nibe- 
lungenlieds drücken mit unzweifelhafter Sicherheit die Über- 
zeugung aus: der Traum ist ein Blick in die Zukunft! Und 
alles Sinnen geht den Weg, wie man es wohl anfinge, den 
Traum richtig zu deuten, um Zukünftiges zu erspähen. Selbst 
bis auf den heutigen Tag wird der Gedanke, Unwißbares er- 
fahren zu wollen, regelmäßig mit dem Nachdenken über einen 
Traum in Verbindung gebracht, Daß unsere rationalistisch 
denkende Zeit äußerlich ein solches Streben verwarf, die Zu- 
kunft entschleiern zu wollen, es verlachte, ist nur zu begreiflich, 
machte es auch aus, daß die Beschäftigung mit den Fragen 
des Traumes den Forscher .leicht mit dem Fluch der Lächer- 
lichkeit behaften konnte. 

Nun soll vor allem, um den Kampfplatz abzustecken, her- 
vorgehoben werden, daß der Autor keineswegs auf dem Stand- 
punkt steht, der Traum sei eine prophetische Eingebung und 
könne die Zukunft oder sonst Unwißbares erschließen. Viel- 
mehr lehrt ihm seine umfängliche Beschäftigung mit Träumen 
nur das eine, daß auch der Traum, wie jede andere Erscheinung 
des Seelenlebens, mit den gegebenen Kräften des Individuums 
zustande gebracht wird. Aber im gleichen Augenblick taucht 
da eine Frage auf, die uns darüber belehrt, daß die Perspektive 
auf die Möglichkeit prophetischer Träume gar nicht einfach zu 
stellen war, daß sie vielmehr verwirrend als klärend zu wirken 
imstande ist. Und diese Frage lautet in ihrer ganzen Schwierig- 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 137 


keit: Ist es denn für den menschlichen Geist wirklich aus- 
geschlossen, in einer bestimmten Begrenztheit in die Zukunft 
zu blicken? 

Unbefangene Beobachtung gibt uns da sonderbare Lehren. 
Stellt man diese Frage unverblümt, so wird der Mensch sie 
in der Regel verneinen. Aber kümmern wir uns einmal nicht 
um Worte und Gedanken, die sich sprachlich äußern. Fragen 
wir die anderen körperlichen Teile, rufen wir seine Bewegungen, 
seine Haltung, seine Handlungen an, dann erhalten wir einen 
ganz anderen Eindruck. Obwohl wir es ablehnen, in die Zu- 
kunft blicken zu können, ist unsere ganze Lebensführung derart, 
daß sie uns verrät, wie wir mit Sicherheit zukünftige Tatsachen 
vorauswissen wollen. Unser Handeln weist deutlich darauf 
hin, daß wir — right or wrong — unser Wissen von der 
Zukunft festhalten. Noch mehr! Es läßt sich leicht beweisen, 
daß wir nicht einmal handeln könnten, wenn nicht die zu- 
künftige Gestaltung der Dinge — von uns gewollt oder ge- 
fürchtet — in uns die Richtung und den Ansporn, die Aus- 
weichung und das Hindernis gäbe. Wir handeln ununter- 
brochen so, als ob wir die Zukunft sicher voraus 
wüßten, obwohl wir verstehen, daß wir nichts wissen 
können. 

Gehen wir von den Kleinigkeiten des Lebens aus. Wenn 
ich mir etwas anschaffe, habe ich das Vorgefühl, den Vorge- 
schmack, die Vorfreude. Oft ist es nur dieser feste Glaube 
an eine vorausempfundene Situation mit ihren Annehmlichkeiten 
oder Leiden, der mich handeln oder stocken läßt. Daß ich 
mich irren kann, darf mich nicht behindern. Oder ich lasse 
mich abhalten, um im erwachenden Zweifel!) zwei mög- 
liche künftige Situationen vorauszuerwägen, ohne zur Ent- 
scheidung zu kommen. Wenn ich heute zu Bette gehe, weiß 
ich nicht, daß es morgen Tag sein wird, wenn ich erwache — 
aber ich richte mich darnach. 

Weiß ich es denn wirklich? So etwa, wie ich weiß, daß 
ich jetzt vor Ihnen stehe und rede? Nein, es ist ein ganz 
anderes Wissen, in meinem bewußten Denken ist es nicht zu 
finden, aber in meiner körperlichen Haltung, in meinen An- 
i) Die Funktion des Zweifels im Leben wie in der Neurose ist, wie ich zeigen konnte, 
immer: eine Aggressionshemmung durchzuführen, einer Entscheidung auszuweichen, und dies 


der eigenen Kritik zu verbergen. S. „Zur Rolle des Unbewußten". (Zts. f. Psychol- 
analyse 1913, H. 4—5. 


138 GESCHLECHT UND OESELLSCHAFT 


ordnungen sind seine Spuren deutlich eingegraben. Der rus- 
sische Forscher Pawlow konnte zeigen, daß Tiere, wenn sie 
eine bestimmte Speise erwarten, im Magen beispielsweise 
die entsprechenden, zur Verdauung nötigen Stoffe ausscheiden, 
als ob der Magen vorauswüßte, welche Speise er empfangen 
wird. Daß heißt aber, daß unser Körper in gleicher Weise 
mit einer Art Kenntnis der Zukunft rechnen muß, wenn er ge- 
nügen, handeln will, daß er Vorbereitungen trifft, als ob er die 
Zukunft vorauswüßte. Auch in letzterem Falle ist diese Be- 
rechnung der Zukunft dem bewußten Wissen fremd. Aber über- 
legen wir einmal! Kämen wir denn zum Handeln, wenn wir 
mit unserem Bewußtsein die Zukunft erfassen sollten? Wäre 
nicht die Überlegung, die Kritik, ein fortwährendes Erwägen 
des Für und Wider, ein unüberwindlicher Hemmschuh für das, 
was wir eigentlich nötig haben, das Handeln? Folglich muß 
unser vermeintliches Wissen von der Zukunft im Un- 
bewußten gehalten werden. Es gibt einen Zustand krank- 
hafter Seelenverfassung — er ist weit verbreitet und kann 
sich in den verschiedensten Graden darstellen —, die Zweifel- 
sucht, der Grübelzwang, folie de doute, — wo tatsächlich die 
innere Not den Patienten antreibt, in allem den einzig 
richtigen Weg zur Sicherung seiner Größe, seines Persön- 
lichkeitsgefühles zu suchen. Die peinliche Untersuchung des 
eigenen zukünftigen Schicksales hebt dessen Unsicherheit so 
weit hervor, das Vorausdenken wird soweit bewußt, daß ein 
Rückschlag erfolgt: die Unmöglichkeit, die Zukunft bewußt 
und sicher zu erfassen, erfüllt den Patienten mit Unsicherheit 
und Zweifel, und jede seiner Handlungen wird gestört durch 
eine andersgerichtete Erwägung. — Den Gegensatz bildet der 
ausbrechende Größenwahn, wo ein heimliches, sonst unbe- 
bewußtes Ziel der Zukunft machtvoll hervorsticht und die 
Realität vergewaltigt. 

Daß das bewußte Denken im Traume eine geringere Rolle 
spielt, bedarf keines Beweises. Ebenso schweigt die Kritik der 
nunmehr schlafenden Sinnesorgane. Wäre es undenkbar, daß 
nun die Erwartungen, Wünsche, Befürchtungen, die sich an die 
gegenwätige Situation des Träumenden knüpfen, unverhüllter 
im Traume zutage treten? 

Ein Patient, der an schwerer Tabes erkrankt war, dessen 
Bewegungsfähigkeit und Sensibilität stark eingeschränkt war, 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 139 


der ferner durch die Krankheit blind und taub geworden war, 
war ins Krankenhaus gebracht worden. Da es keine Möglich- 
keit gab, sich mit ihm zu verständigen, muß seine Situation 
wohl eine höchst sonderbare gewesen sein. Als ich ihn sah, 
schrie er unaufhörlich nach Bier und belegte irgend eine Anna 
mit unflätigen Schimpfworten. Sein unmittelbares Streben so- 
wie die Art der Durchsetzung desselben war ziemlich unge- 
brochen. Denkt man sich aber eines der Sinnesorgane funk- 
tionierend, -so ist es klar, daß nicht bloß seine Äußerungen, 
sondern auch seine Gedankengänge ganz anders verlaufen 
wären. Der Ausfall der Funktion der abtastenden Sinnesorgane 
im Schlafe macht sich demnach in mehrfacher Richtung geltend: 
in einer Verrückung des Schauplatzes vor allem, ferner auch 
in einem hemmungsloseren Hervortreten des Zieles. 
Letzteres führt mit Notwendigkeit dem wachen Leben gegen- 
über zu Verstärkung und Unterstreichungen des Wollens, zu 
analogischen, aber schärferen Ausprägungen und Übertreibungen, 
die allerdings wieder infolge der Vorsicht des Träumers von 
Einschränkungen oder Hemmungen begleitet sein können. 
Auch Havelock Ellis („Die Welt der Träume“, Würzburg, 
Kabitzsch, 1911), der andere Erklärungsgründe anführt, hebt 
diesen Umstand hervor. — Von anderen Standpunkten aus 
kann man im obigen Falle, ebenso wie bei den Träumen 
verstehen, daß erst die Einfühlung in die reale Situation zur 
„Rationalisierung“ (Nietzsche) und zur „logischen Inter- 
pretation“ zwingt. 

Immerhin ist die Richtung des Handelns, dievorbauende, 
voraussehende Funktion des Traumes immer deutlich 
erkennbar;!) sie deutet die Vorbereitungen entsprechend 
der Lebenslinie des Träumers einer aktuellenSchwierig- 
keit gegenüber an und läßt niemals die Sicherungsabsicht 
vermissen. Versuchen wir, diese Linien an einem Beispiele zu 
verfolgen. Eine Patientin mit schwerer Platzangst, die an 
Bluthusten erkrankt war, träumte, als sie im Bette lag 
und ihrem Beruf als Geschäftsfrau nicht nachgehen konnte: 

„Ich trete ins Geschäft und sehe, wie die Mädchen Karten 
spielen.“ 
1) Zuerst geschildert im „Aggressionstriebe‘' (Fortschritte der Medizin, Leipzig 1908), 
in der „Psychischen Behandlung der Trigeminusneuralgie‘‘ im ‚Beitrag zur Lehre vom Wider- 


stand‘, in der „Syphilidophobie'' (Geschl. u. Gesellsch. VIII. Bd. Heft 2, S. 66 ff.) und 
im „Nervösen Charakter‘' 1912. 


140 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


In allen meinen Fällen von Platzangst fand ich dieses 
Symptom als ein vorzüglich geeignetes Mittel, anderen, der 
Umgebung, den Verwandten, dem Ehegenossen, den Ange- 
stellten Pflichten aufzuerlegen, und ihnen wie ein Kaiser 
und Gott Gesetze zu geben. Unter anderem geschieht dies 
dadurch, daß die Abwesenheit oder Entfernung gewisser Per- 
sonen durch Angstanfälle, aber auch durch Übelkeit oder 
Erbrechen verhindert wird.!) Mir taucht jedesmal bei diesen 
Fällen die Wesensverwandtheit mit dem gefangenen Papst, 
dem Stellvertreter Gottes, auf, der gerade durch den Ver- 
zicht auf seine eigene Freiheit die Verehrung der Gläubigen 
steigert, ferner auch alle Potentaten zwingt, zu ihm zu kommen 
(„Der Gang nach Canossa“), ohne daß sie auf einen Gegen- 
besuch rechnen dürfen. Der Traum fällt in eine Zeit, als 
dieses Kräftespiel schon offen zutage lag. Seine Interpretation 
liegt auf der Hand. Die Träumerin versetzt sich in eine künftige 
Situation, in der sie bereits aufstehen kann und auf Gesetzes- 
übertretungen fahndet. Ihr ganzes Seelenleben ist durchtränkt 
von der: Überzeugung, daß ohne sie nichts in Ordnung ge- 
schehen könne. Diese Überzeugung verficht sie auch sonst 
immer imLeben, setztjeden herab und bessertmitunheim- 
licher Pedanterie alles aus. Ihr immer waches Mißtrauen 
sucht stets bei anderen Fehler zu entdecken. Und sie ist derart 
mit entsprechenden Erfahrungen in der Richtung des Miß- 
trauens gesättigt, daß sie scharfsinniger wie andere manches 
von den Fehlern anderer errät. O, sie weiß genau, was An- 
gestellte treiben, wenn man sie allein läßt! Sie weiß ja auch, 
was die Männer anstellen, sobald sie allein sind. Denn „alle 
Männer sind gleich!“ 

Sie wird ohne Zweifel nach der Art ihrer Vorbereitung, 
sobald sie genesen ist, eine große Anzahl von Versäumnissen 
im Laden, der an die Wohnung grenzt, entdecken. Vielleicht 
auch, daß Kartenspiele gespielt wurden. Am Tag nach dem 
Traume aber befahl sie dem Stubenmädchen unter Vorwänden, 
ihr die Spielkarten zu bringen, ließ auch die angestellten Mäd- 
chen häufig an ihr Bett rufen, um ihnen immer wieder neue 
Aufträge zu geben, und um sie zu überwachen. — Um die 


1) Vgl. Adler, „Beiträge zum organischen Substrat der Neurosen‘‘, Osterreich. Ärzte- 
zeitung 1912, H. 23 und 24 und einen Ausschnit aus der Krankengeschichte der obigen Patientin 
in „Zur Rolle des Unbewußten (1. c.). 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 141 


dunkle Zukunft zu erhellen, braucht sie bloß im Wissen des 
Schlafes, entsprechend ihrem überspannten Ziel nach Über- 
legenheit, passende Analogien aufzustöbern, die Fiktion von 
der auch in der Einzelerfahrung zutage tretenden Wiederkehr 
des Gleichen!) prinzipiell und wörtlich zu nehmen. Und 
um schließlich nach ihrer Genesung recht zu behalten, war ja 
nur nötig, das Maß ihrer Anforderungen höher zu stellen. 
Fehler und Versäumnisse mußten dann wohl offenkundig 
werden. 


Als ein weiteres Beispiel der Traumdeutung möchte ich 
jenen aus dem Altertume von Cicero überlieferten Traum des 
Dichters Simonides benützen, an welchem ich schon früher 
einmal („Zur Lehre vom Widerstand“ І. с.) еіп Stück meiner 
Traumtheorie entwickelt habe. Eines Nachts, kurz vor einer 
Reise nach Kleinasien, träumte Simonides, „ein Toter, den er 
einst pietätvoll begraben hatte, warne ihn vor dieser Reise“. 
Nach diesem Traume brach Simonides seine Reisevorbereitungen 
ab und blieb zu Hause. Nach unserer Erfahrung in der Traum- 
erkenntnis dürfen wir annehmen, daß Simonides diese Reise 
gescheut habe. Und er verwendete den Toten,?) der ihm 
verpflichtet schien, um sich mit den Schauern des Grabes, 
mit Vorahnungen eines schrecklichen Endes dieser Reise zu 
schrecken und zu sichern. Nach der Mitteilung des Er- 
zählers soll das Schiff untergegangen sein, ein Ergebnis, das 
dem Träumer in Analogie mit anderen Unglücksfällen längere 
Zeit vorgeschwebt haben mag. Wäre übrigens das Schiff glück- 
lich angelangt, wer hätte abergläubische Gemüter gehindert, 
bestimmt anzunehmen, es wäre doch untergegangen, wenn 
Simonides der warnenden Stimme kein Gehör geschenkt hätte 
und mitgefahren wäre? 


1) Die genauere Kenntnis dieser „Fiktion des Gleichen“, einer der wichtigsten Voraus- 
setzungen des Denkens überhaupt und des Kausalitätsprinzipes verdanke ich meinem Freunde 
und Mitarbeiter A. Häutler. S. „Fiktionen des Denkens‘. (Zts. f. Psychoanalyse. Im 
Erscheinen.) 


2) Über die Verwendung solcher bereitgestellter, affektauslösender Erinnerumgsbilder, 
die eben den Zweck haben, Affekte und deren Folgen, vorsichtige Haltungen, aber auch 
Ekel, Übelkeit, Angst, Furcht vor dem geschlechtlichen Partner, Ohnmacht und andere neu- 
rotische Symptome hervorzurufen, wird noch ausführlich abzuhandeln sein, Vieles davon habe 
ich im „Nervösen Charakter‘' (l.c.) als Gleichnis (z. B. als Inzestgleichnis, als Verbrechens- 
gleichnis, als Oottähnlichkeit, als Größen- und Kleinheitswahn) auflösen können oder als 
„Junktim‘‘ beschrieben. Soweit mir bekannt, ist nur Herr Professor Hamburger zu an- 
nähernd ähnlichen Anschauungen gekommen. Eine ausführliche Schilderung dieser neurotischen 
Arrangements erscheint in den „Jahreskursen für ärztl. Fortbildung‘‘, Mai 1913. Verlag von 
Lehmann, München (,Individualpsychologische Behandlung der Neurosen‘'). 


142 GESCHLECHT UND OESELLSCHAFT 


Wir sehen demnach zwei Arten von Versuchen, im Traume 
vorauszudeuten, ein Problem zu lösen, das anzubahnen, was 
der Träumer in einer Situation will. Und er wird es auf 
Wegen versuchen, die seiner Persönlichkeit, seinem Wesen 
und Charakter angemessen sind. Der Traum kann eine der 
іп der Zukunft erwarteten Situationen als bereits gegeben dar- 
stellen (Traum der Patientin mit Platzangst), um im Wachen 
das Arrangement dieser Situation hinterher heimlich oder 
offen durchzuführen. Der Dichter Simonides verwendet ein 
altes Erlebnis, offenbar, um nicht zu fahren. Halten Sie hier 
fest daran, daß es ein Erlebnis des Träumers ist, seine eigene 
Auffassung von der Macht der Toten, seine eigene Situation, 
in der ihm ein Entschluß not tut, zu reisen oder zu bleiben, — 
erwägen Sie alle Möglichkeiten, dann drängt sich unweigerlich 
der Eindruck auf, Simonides träumte diesen Traum, um sich 
einen Wink zu geben, um sicher und ohne Schwanken zu 
Hause zu bleiben. Wir dürfen wohl annehmen, daß unser 
Dichter, auch ohne diesen Traum geträumt zu haben, zu Hause 
geblieben wäre. Und unsere Patientin mit der Platzangst? 
Warum träumt sie von der Nachlässigkeit und Unordentlich- 
keit ihres Personals? Hört man daraus nicht deutlich die 
Fortsetzung: „Wenn ich nicht dabei bin, geht alles drunter 
und drüber, und wenn ich wieder gesund bin und die Zügel 
in die Hand nehme, werde ich schon allen zeigen, daß es 
ohne mich nicht geht.“ Wir dürfen demnach erwarten, daß 
diese Frau bei ihrem ersten Erscheinen im Geschäfte allerlei 
Entdeckungen von Pflichtvergessenheit, von Nachlässigkeiten 
machen wird, denn sie wird ja mit Argusaugen zusehen, um 
ihrer Idee von ihrer Überlegenheit gerecht zu werden. Sie 
wird sicherlich recht behalten — und hat demnach im Traum 
die Zukunft vorausgesehen.!) 

Ich muß nun eine Erörterung einschalten, um einem Ein- 
wand zu begegnen, der gewiß schon vielen auf der Zunge 
sitzt. Wie will ich es denn erklären, daß der Traum auf die 
zukünftige Gestaltung der Dinge Einfluß zu nehmen sucht, wo 
doch die meisten unserer Träume unverständliches, oft albern 


ı) Es läßt sich leicht erraten, daß Simonides, der als Dichter nach der Unsterblich- 
keit zielte diesem Traum gemäß durch Todesfurcht konstelliert war, während die Patientin 
mit t das fiktive Ziel eines Herrschertums, ein Königinnenideal verfolgte. Vgl. für 

Individualpsychologische Ergebnisse über Schlaflosigkeit“ (Fortschritte der 
913), wo unter anderem die Beziehungen kindlicher Todesfurcht zum ärzt- 
rgehoben ist. (Erscheint nächstens.) 


GESCHLECHT UND OESELLSCHAFT 143 


scheinendes Zeug vorstellen? Die Wichtigkeit dieses Ein- 
wandes leuchtet so sehr ein, daß die meisten der Autoren das 
Wesentliche des Traumes in diesen bizarren, unorientierten, 
unverständlichen Erscheinungen gesucht haben, diese zu er- 
klären trachteten, oder, auf die Unverständlichkeit des Traum- 
lebens gestützt, dessen Bedeutsamkeit geleugnet haben. 
Scherner insbesondere von den neueren Autoren, und Freud 
haben das Verdienst, eine Deutung der Rätsel des Traumes 
versucht zu haben; letzterer hat, um seine Traumtheorie zu 
stützen, nach welcher der Traum sozusagen ein Schwelgen in 
kindlichen, unerfüllt gebliebenen, sexuellen Wünschen vor- 
stellen sollte, in dieser Unverständlichkeit eine tendenziöse 
Entstellung gesucht, als ob der Träumer, ungehindert von 
seinen kulturellen Schranken, dennoch verbotene Wünsche in 
der Phantasie befriedigen wollte. Diese Auffassung ist heute 
ebenso unhaltbar geworden wie die Anschauung von der 
sexuellen Grundlage der Nervenkrankheiten oder unseres 
Kulturlebens. Die scheinbare Unverständlichkeit des Traumes 
erklärt sich vor allem aus dem Umstande, daß der Traum 
kein Mittel ist, um die zukünftige Situation zu erhaschen, 
sondern bloß eine begleitende Erscheinung, eine Spiegelung 
von Kräften, eine Spur und ein Beweis davon, daß Körper 
und Geist einen Versuch des Vorausdenkens unternommen 
haben, um der Persönlichkeit des Träumenden gerecht zu 
werden im Hinblick auf eine bevorstehende Schwierigkeit. 
Eine gedankliche Mitbewegung also, in ähnlicher Richtung 
verlaufend wie der Charakter und wie das Wesen der Persön- 
lichkeit es verlangen, in schwer verständlicher Sprache, die, 
wo man sie versteht, nicht deutlich redet, aber andeutet, wohin 
der Weg geht. — So notwendig die Verständlichkeit unseres 
wachen Denkens und Redens ist, weil sie die Handlung vor- 
bereiten, so überflüssig ist sie zumeist im Traume, der etwa 
dem Rauch des Feuers zu vergleichen ist und nur zeigt, wo- 
hin der Wind geht. 

Anderseits kann uns aber der Rauch verraten, daß es 
irgendwo Feuer gibt. Und zweitens kann uns die Erfahrung 
darüber belehren, an dem Rauch über das Holz Aufschluß zu 
gewinnen, das da brennt. 

Zerlegt man einen Traum, der unverständlich erscheint, 
in seine Bestandteile, und kann man von dem Träumer in Er- 


144 GESCHLECHT UND OESELLSCHAFT 


fahrung bringen, was diese einzelnen Teile für ihn bedeuten, 
so muß sich bei einigem Fleiß und Scharfsinn der Eindruck 
ergeben, daß hinter dem Traum Kräfte im Spiel waren, die 
nach einer bestimmten Richtung streben. Diese Richtung wird 
auch sonst im Leben dieses Menschen festgehalten erscheinen 
und ist durch sein Persönlichkeitsideal bestimmt, durch die 
von ihm als drückend empfundenen Schwierigkeiten und 
Mängel. Man erhält also durch diese Betrachtung, die wir 
wohl eine künstlerische nennen dürfen, die Lebenslinie des 
Menschen, oder einen Teil derselben, wir sehen seinen un- 
bewußten Lebensplan, nach welchem er der Anspannungen 
des Lebens und seiner Unsicherheit Herr zu werden strebt. 
Wir sehen auch die Umwege, die er macht, um des Gefühles 
der Sicherheit wegen, und um einer Niederlage auszuweichen. 
Und wir können den Traum ebenso wie jede andere seelische 
Erscheinung, wie das Leben eines Menschen selbst dazu be- 
nützen, um über seine Stellung in der Welt und zu der an- 
derer Menschen Aufschlüsse zu erhalten. — Im Traume er- 
folgt die Darstellung aller Durchgangspunkte des 
Vorausdenkens mit den Mitteln der persönlichen Er- 
fahrung. 


Dies führt uns zu einem weiteren Verständnis der an- 
fänglich unverständlichen Einzelheiten in dem Aufbau des 
Traumes. Der Traum greift selten — und auch dann ist dies 
bedingt — zu einer Darstellung, in der letzte Ereignisse, letzte 
Bilder auftauchen. Sondern zur Lösung einer schwebenden 
Frage klingen einfachere, abstraktere, kindlichere Gleichnisse 
an, häufig an ausdrucksvollere, dichterische Bilder gemahnend. 
So wird etwa eine drohende Entscheidung durch eine bevor- 
stehende Schulprüfung ersetzt, ein starker Gegner durch einen 
älteren Bruder, der Gedanke an einen Sieg durch einen Flug 
in die Höhe, eine Gefahr durch einen Abgrund. Affekte, die 
in den Traum hineinspielen, stammen immer aus der Vorbe- 
reitung und aus dem Vorausdenken, aus der Sicherung für 
das wirklich bevorstehende Problem.!) Die Einfachheit der 
Traumszenen — einfach gegenüber den verwickelten Situa- 
tionen des Lebens — entsprechen nur vollkommen den Ver- 
suchen des Träumers, unter Ausschaltung der verwirrenden 


ı) Verstärken sich aber tendenziös aus dem Traumbild, wern dies erforderlich ist. 





L’EPOUSE INDISCRETE. Französischer Kupferstich von N. DE LAUNAY 
nach einem Gemälde von P. A. BAUDOUIN. 1771. 
Zu dem Aufsatz »Die eheliche Untreue«, Seite 97. 


sanaıyuf) әцәцәцә ә] «zyespny wap nz 


"NYIWWVNASONNAIIHISIH3 UNI LIIHAV 


`6 әйә$ 


"NOSANYTMONX 'HL uoa myeyney әцәзц8ич 





GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 145 


Vielheit der Kräfte, in einer Situation dadurch einen Ausweg 
zu finden, daß er es unternimmt, eine Leitlinie zu verfolgen 
nach Ähnlichkeit der einfachsten Verhältnisse. So wie etwa ein 
Lehrer den Schüler frägt, der einer Frage nicht gewachsen 
ist, der sich zum Beispiel keinen Rat weiß, was er bezüglich 
der Fortpflanzung der Kraft zu antworten hätte: „Was ge- 
schieht, wenn Ihnen jemand einen Stoß gibt?“ Käme zu dieser 
letzten Frage ein Fremder ins Zimmer, er würde den fragen- 
den Lehrer mit dem gleichen Unverständnis betrachten, wie 
wir es tun, wenn man uns einen Traum erzählt. 

Drittens aber hängt die Unverständlichkeit des Traumes 
mit dem zuerst erörterten Problem zusammen, bei welchem 
wir gesehen haben, daß zur Sicherheit des Handelns eine ins 
Unbewußte versenkte Anschauung von der Zukunft gehört. 
Diese Grundanschauung über das menschliche Denken und 
Handeln, derzufolge eine unbewußte Leitlinie zu emem im Un- 
bewußten liegenden Persönlichkeitsideal führt, habe ich in 
meinem Buch „Über den nervösen Charakter“ (Bergmann, 
Wiesbaden, 1912) ausführlich dargelegt. Der Aufbau dieses 
Persönlichkeitsideales und der zu ihm hinführenden Leitlinien 
enthalten das gleiche Gedanken- und Gefühlsmaterial, wie der 
Traum und wie die Vorgänge, die hinter dem Traum stecken. 
Der Zwang, der es ausmacht, daß das eine seelische Material 
im Unbewußten verbleiben muß, drückt so sehr auf die Ge- 
danken, Bilder und Gehörwahrnehmungen des Traumes, daß 
diese, um die Einheit der Persönlichkeit nicht zu ge- 
fährden, ebenfalls im Unbewußten, besser gesagt: unverständ- 
lich bleiben müssen. Denken wir beispielsweise an den Traum 
der Patientin mit Platzangst. Was sie eigentlich kraft ihres 
unbewußten Persönlichkeitsideales anstrebt, ist die Herrschaft 
über ihre Umgebung. Verstünde sie ihre Träume, so würde 
ihr herrschsüchtiges Streben und Handeln der Kritik ihres 
wachen Denkens weichen müssen. Da aber ihr wirkliches 
Streben nach Herrschaft geht, muß der Traum unverständlich 
sein. An diesem Punkte kann man auch begreifen, daß 
seelische Erkrankungen, alle Formen von Nervosität, unhaltbar 
werden und der Heilung entgegengehen, wenn es gelingt, die 
überspannten Ziele des Nervösen ins Bewußtsein zu bringen 
und dort abzuschleifen. 

Geschlecht und Gesellschaft УШ, 3/4. 10 


146 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Ich will nun an einem Traume einer Patientin, die wegen 
Reizbarkeit und Selbstmordideen in meine Behandlung kam, 
auszugsweise zeigen, wie sich die Deutung eines Traumes 
durch den Patienten selbst vollzieht. Ich will besonders her- 
vorheben, daß wir das Analogische der Traumgedanken jedes- 
mal hervortreten sehen in dem „Als-Ob“,!) mit dem die träu- 
mende Person die Erzählung beginnt. Die schwierige Situation 
der Träumerin bestand darin, daß sie sich in den Mann ihrer 
Schwester verliebt hatte. Der Traum lautet: 

Ein Napoleon-Traum.?) 

„Mir träumte, als ob ich im Tanzsaal wäre, ich hatte ein 
hübsches blaues Kleid, war recht nett frisiert und tanzte mit 
Napoleon. 

Hierzu fällt mir folgendes ein: 

Ich habe meinen Schwager zu N. erhoben, denn sonst 
lohnte es sich nicht der Mühe, der Schwester ihren Mann 
wegzunehmen. (D. h. ihr neurotisches Streben ist gar nicht 
auf den Mann gerichtet, sondern darauf, der Schwester über- 
legen zu sein) Um über die ganze Geschichte den Mantel 
der Gerechtigkeit breiten zu können, ferner, um nicht den 
Anschein zu erwecken, als ob mich die Rache, weil ich zu 
spät gekommen bin, zu dieser Handlung veranlaßt hätte, muß 
ich mich als Prinzessin Luise wähnen, mehr als die Schwester, 
so zwar, daß es ganz natürlich erscheint, daß Napoleon sich 
von seiner ersten Frau Josefine scheiden läßt, um sich eine 
ebenbürtige Frau zu nehmen. 

Was den Namen Luise betrifft, so habe ich denselben 
längere Zeit hindurch geführt; es hat sich einmal ein junger 
Mann nach meinem Vornamen erkundigt, und meine Kollegin, 
wissend, daß mir Leopoldine nicht gefällt, sagte kurzweg, ich 
heiße Luise. 

Daß ich eine Prinzessin bin, träumt mir öfters (Leitlinie), 
und zwar ist dies mein kolossaler Ehrgeiz, der mich im Traume 
immer eine Brücke über die Kluft, die mich von den Aristo- 
kraten trennt, finden läßt. Ferner ist diese Einbildung da- 

1) Vgl. Vaihinger, „Die Philosophie des Als-Ob“, Berlin, Reuther u. Reichardt 1911, 
dessen erkenntnis-theoretische Anschauungen auf anderen Gebieten mit meinen Auffassungen 
in der Neurosenpsychologie vollkommen übereinstimmen. 

2) Napoleon, Jesus, die Jungfrau von Orleans, Maria, aber auch der Kaiser, der Vater, 
ein Onkel, die Mutter, ein Bruder etc. sind häufige Ersatzideale der aufgepeitschten Oier nach 


Überlegenheit und stellen gleichfalls richtunggebende, affektauslösende Bereitschaften im Seelen- 
leben des Nervösen dar. 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 147 


rauf berechnet, beim Erwachen es um so schmerzlicher zu 
empfinden, daß ich in der Fremde aufgewachsen und allein 
und verlassen bin; die traurigen Gefühle, die mich dann be- 
schleichen, setzen mich in den Stand, hart und grausam 
gegen alle Menschen zu sein, die das Glück haben, mit 
mir in Verbindung zu stehen. 

Was nun N. betrifft, so will ich bloß bemerken, daß, nach- 
dem ich nun einmal kein Mann bin, ich mich nur vor jenen 
beugen will, die größer und mächtiger als die anderen sind; 
übrigens würde mich dies nicht hindern, am Ende zu behaupten, 
N. sei ein Einbrecher (Einbrecherträume). Auch würde ich 
mich nur beugen, nicht etwa auch unterwerfen, denn ich 
möchte den Mann, wie aus einem anderen Traume hervorgeht, 
an einem Faden halten, und dann, dann will ich tanzen. 

Das Tanzen muß mir gar vieles ersetzen, denn die Musik 
hat einen kolossalen Einfluß auf mein Gemüt. 

Wie oft hat mich bei irgend einem Konzert das sehnende 
Verlangen überkommen, zu meinem Schwager zu eilen und 
ihn halbtot küssen zu dürfen. 

Um nun diesen Wunsch einem fremden Mann gegenüber 
nicht in mir aufkommen zu lassen, muß ich mich mit der 
ganzen Leidenschaft dem Tanze hingeben oder, für den Fall, 
als ich nicht engagiert bin, mit zusammengepreßten Lippen 
sitzen und finster vor mich hinblicken, um jede Annäherung 
eines anderen unmöglich zu machen. 

Ich wollte der Liebe nicht unterliegen, und meines Er- 
achtens gehören Ball und Liebe zusammen. 

Die blaue Farbe habe ich gewählt, weil sie mich am 
besten kleidet, und ich von dem Wunsche beseelt war, einen 
günstigen Eindruck auf N. zu machen; jetzt habe ich doch 
schon das Bestreben, zu tanzen, was ich früher auch nicht 
konnte.“ 

Von hier aus würde die Deutung noch viel weiter gehen, 
um schließlich zu zeigen, daß der unbewußte Plan dieses 
Mädchens bloß auf Herrschaft ausging, derzeit aber so weit 
geändert und abgeschwächt ist, daß sie im Tanzen nicht mehr 
eine persönliche Demütigung erblickt. 

Ich bin am Schlusse angelangt. Wir haben gesehen, daß 
der Traum eine für das Handeln wohl nebensächliche seelische 
Erscheinung vorstellt, daß er aber wie in einer Spiegelung 

10° 


148 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Vorgänge und körperliche Attituden verraten kann, die 
auf das spätere Handeln abzielen. Ist es demnach verwunder- 
lich, daß die Volksseele aller Zeiten mit der Untrüglichkeit 
eines allgemeinen Empfindens den Traum als ein auf die 
Zukunft weisendes Gebilde aufnahm? Ein ganz Großer, der 
wie in einem Brennpunkt alle Empfindungen der Menschen- 
seele in sich vereinigte, Goethe, hat dieses „In-die-Zukunft- 
schauen“ des Traumes und die darin verströmende vorbereitende 
Kraft in einer Ballade herrlich gestaltet. Der Graf, der vom 
heiligen Land in seine Burg heimkehrt, findet diese verwüstet 
und leer. In der Nacht träumt er von einer Zwergenhochzeit. 
Und der Schluß des Gedichtes lautet: 

Und sollen wir singen, was weiter gescheh’n, 

So schweige das Toben und Tosen. 

Denn, was er, so artig, im kleinen geseh’n, 

Erfuhr er, genoß er im großen. 

Trompeten und klingender, singender Schall, 

Und Wagen und Reiter und bräutlicher Schwall, 

Sie kommen und zeigen und neigen sich all’, 

Unzählige, selige Leute. 

So ging es und geht es noch heute. 

Der Eindruck, daß dieses Gedicht des Träumers Gedanken 

auf Hochzeit und Kindersegen gerichtet zeigt, wird von dem 
Dichter laut genug hervorgehoben. 


(© 


KÜNSTLER UND PROSTITUIERTE 
Von LOTHAR EISEN. 


ps ФАигёуШу hat eine grausame Geschichte ge- 
schrieben: Die junge, köstlich schöne Frau eines spanischen 
Granden ergibt sich der Prostitution, weil ihr Gatte einen 
ihrer Anbeter, den sie leidenschaftlich liebte, meuchlings er- 
mordet hat. Nun nimmt das junge Weib auf eine bizarre, 
beinahe möchte man sagen ekelerregende Weise Rache an 
dem Mörder; sie geht in einer schmutzigen Pariser Vorstadt- 
gasse so lange der gewerbsmäßigen Unzucht nach, bis sie 
mit einer fürchterlichen Krankheit behaftet wird und in einem 
Vorstadtspital zu Grunde geht. Dieses Motiv von der Rache 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 149 


der liebenden Frau, das bereits an und für sich typisch 
ist und in die heimlichsten Abgründe der Frauenpsyche 
hineinleuchtet, ist mit einem anderen nicht minder interessanten 
“Problem verbunden, das durch den männlichen Partner des 
Faubourgdramas, den Träumer einer Nacht, der aus dem 
Munde der Prostituierten ihr grausames Erlebnis erfährt, in 
den Sinn der Erzählung hinein getragen wird. Dieser Mann 
ist nämlich ein Künstler, wenn auch weder Dichter noch 
Maler, aber ein Künstler vom Schlage des Gautier'schen For- 
tunio, der auch die ganze Kraft und Schönheit seiner Seele in 
Träumereien und in einem originell stilisierten Alltagsleben 
anwandte. Er hat allerdings etwas Ungesundes an sich, dieser 
Dekadent aus der Schule Mussets und der Sataniker, 
der in der phantastischen Novelle halb als Roman- 
tiker, halb als Epikuräer sein Dasein führt. Aber er ist der 
Typus einer interessanten Gruppe moderner Halbgenies: jener 
jungen Künstler, die noch in irgend einer Mansarde ihr Atelier 
aufgeschlagen haben, die aber bereits anspruchsvoller als die 
ganz Großen träumen, sinnen, komponieren und die größte 
Virtuosität im Verwerfen fremder Stile erlangt haben. Diese 
etwas zahlreiche Jugend gefällt sich noch immer in der Pose 
des Künstlers, der keinen anderen Zwecken als denen der 
Stimmung und des Erlebnisses dient. Zur letzten Vollendung 
fehlt ihnen nur der Balzac’sche Esprit und die Wilde’sche 
Eleganz, denn das ist die Tragik alles Anfängertums: es hat 
meist ein unverwüstliches Kapital an Luftschlössern und ein 
bedauerliches Wenig an realen Gütern. Nur eines haben 
sie, was sie ihren. Vorbildern aus der Schule der Heine, Musset, 
Beaudelaire, Hille, Altenberg u. a. gleichkommen läßt, sie haben 
zumeist ein merkwürdiges und unplatonisches Verhältnis mit 
— Prostituierten, 

In der Geschichte Barbey d’Aurevilly’s, deren Inhalt ich 
oben zitiert habe, sucht der junge Elegant etwas, was man 
allerdings in den Vorstadtstraßen besser findet als auf dem 
glänzenden Asphaltpflaster der Avenuen, nämlich: die Massen- 
psyche, die Seele des Proletariats. Man sieht, es ist ein 
Künstler, der auf solchen Wegen wandelt; denn einem Durch- 
schnittsmenschen würden so extreme Gedanken nicht kommen, 
vielleicht auch keinem Mann, der das Leben aus künstlerischer 
aber keiner so individualistisch ästhetischen Perspektive wertet 


150 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


wie dieser Vertreter der modernsten Generation. Er sucht 
also auf der Straße nach dem reinsten Ausdruck des 
menschlichen Empfindens und findet es verkörpert in 
einer Prostituierten. Ob diese These in Wirklichkeit doch nicht 
etwas mehr bedeutet als die geistreiche Laune eines dämonischen 
Schriftstellers bezw. die Ausgeburt eines genialen aber krank- 
haften Künstlerhirnes? Warum lieben gerade die talentiertesten 
und die empfindsamsten unserer Künstler vielfach diese Ver- 
bindung mit einem Weibe aus der Hefe des Volkes, dessen 
Lebenswandel auf die romantischen Vorstellungen und das 
krankhafte Reinlichkeitsempfinden jedes Aestheten geradezu 
Hohn spricht?! Und haben vice versa große Künstler, die 
nicht Aestheten waren, weil ihre Künstlerschaft stärker als ihre 
Eigenliebe war, jenen normalen — ich will absolut nicht 
sagen gesunden — Abscheu vor dem bezahlten Mädchen der 
Liebe empfunden, der etwa den braven, phantasielosen Gegen- 
wartsbürger auszeichnet? 

Bevor ich diese Frage beantworte, möchte ich auf eine 
andere Geschichte hinweisen, die sich in dem herrlichsten 
Gedichtbuch aller Zeiten, in der unsäglich feinen und menschlich 
tiefen Philosophie der Bibel wie ein leuchtender Juwel einge- 
fügt findet und die eigentlich den Beweis erbringt, daß auch 
dem ganz großen und genialen Künstler die verworfene und 
mißachtete Prostituierte immer ein inniges und bedeutsames 
Problem war. Das ist die Erzählung von dem Nazarener 
Christus und der Büßerin Maria Magdalena, die auf einer aus- 
gezeichneten Seite des neuen Testamentes steht und für die 
u. a. noch ein so feinsinniger Epigone wie Paul Heyse nach 
einem bezeichnenden Ausdruck gesucht hat. Wer möchte den 
Mann aus Bethlehem, der die Prostituierte Magdalena so tief 
und schmerzvoll geliebt hat, einen Sataniker oder Aestheten 
nennen? Wer möchte andererseits in ihm einen jener modernen 
Globetrotter sehen, die die Quartiere des Elends aufsuchen, 
um die Massenpsyche zu studieren, wie es die erzählenden 
Franzosen mit Vorliebe ihre Helden tun lassen! Diese Ge- 
schichte ist von einer erhabenen Tragik und sie muß irgend 
eine Wahrheit, eine Menschlichkeit versinnbildlichen, denn sonst 
stände sie nicht in dem tiefsinnigen Buch der Bücher. Frage: 
fühlt sich demnach der wahrhaft geniale und künstlerische 
Mensch zu einer Prostituierten mehr hingezogen als der nor- 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 151 


male Durchschnittsmann, und wenn dem so ist, ist diese Vor- 
liebe ein Symptom krankhafter Belastung, eine Aeußerung 
pathologischer Instinkte, wie sie dem Künstler in der wissen- 
schaftlichen Literatur in letzter Zeit wiederholt zugesprochen 
wurden? Besondere feinere Instinkte ringen zweifelsohne 
in dieser Hinneigung zu Frauen, deren Phantasie und Gefühls- 
leben dem des Künstlers diametral entgegengesetzt ist, nach 
Ausdruck. Das bedeutet aber keineswegs, daß das Genie, das 
sich mit Vorliebe an eine Prostituierte hängt, femininer und 
masochistischer veranlagt ist als der unbegabte Einzelne, noch 
weniger, daß die Verbindung mit prostituierten Frauen dem 
Künstler zur Aufpeitschung seiner Sinne und zur Befriedigung 
zahlreicher perverser Gelüste dient. Diese Theorie nämlich 
wird auch verfochten und eigentlich bildet sie die heimliche 
Ueberzeugung jedes Philisters, der mit Augenzwinkern und 
einem vielsagenden Lächeln von der derzeitigen Verworfenheit 
der Kunst und Literatur spricht. Künstler suchen nur deswegen 
die Annäherung an Prostituierte, sagt der moraltüchtige Laie, 
weil sie keine Sittlichkeit und keine Religion anerkennen und 
demnach in den Grundzügen ihrer Psyche den gewerbsmäßigen 
unsittlichen Freudenmädchen verwandt sind. Hans Naivus 
aber, der noch nicht die Erfahrung des Alters hat, denkt, daß 
die Künstler Sendlinge der Barmherzigkeit sind, Leute, die eine 
große wirkungsvolle Propaganda unter den Gefallenen anstiften 
wollen, oder daß sie, motivhungrig wie jeder Ausdrucksbegabte, 
nach Stoffen in den Tempeln der Liebe suchen. Denn: was 
erlebt nicht eine Prostituierte in der Vorstellung des biederen 
Bourgeois, welchen Zynismus’ und welcher Verworfenheit ist 
sie nicht fähig, wenn sie doch die Liebe, die nur in ein kirchlich 
und staatlich konzessioniertes Bett gehört, auf die Straße trägt! 
Was erlebt nicht alles eine Prostituierte, die den Abschaum 
der Menschheit zum täglichen Gast an ihrem Körper lädt und 
die mit Hochstaplern, Erpressern, Dieben und Mördern ein 
einträchtiges Bündnis geschlossen hat! Aber das ist das Ge- 
heimnis des Künstlers, daß er gerade dann keine Stoffe sammelt, 
wenn er mit dem Objekt seiner Wahl zusammen ist, denn 
jeder Künstler ruht in der Liebe aus oder hat wenigstens das 
Verlangen danach, auch dann noch, wenn das Weib, das sich 
ihm schenkt, sensationelle Erlebnisse hat und eine Prostituierte 
ist. Das Wieso werde ich begründen, wenn ich von den ge- 


152 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


heimen Ursachen spreche, die den Künstler und die Prosti- 
tuierte vorübergehend mit einander verketten können. Die 
Bekehrungsversuche, von denen jedes Mädchen, das die ge- 
werbliche Unzucht eine Zeit lang ausgeübt hat, erzählen kann, 
gehen zumeist von jenen Jünglingen aus, die noch nicht wissen, 
daß die Prostituierten vielleicht die einzige Kaste sind, aus der 
die wenigsten Proselyten hervorgehen. Keine Prostituierte, 
die einmal in diesem Milieu untergegangen ist, läßt sich voll- 
ständig zu einem sittlichen Lebenswandel wieder bekehren, 
auch nicht durch das Radikalmittel einer Ehe, wie die zahlreichen 
Fälle aus letzter Zeit, u. a. der der Gräfin Strachwitz und der 
Frau Wölfling beweisen. Daß ein echter Künstler an solche Un- 
sinnigkeiten nicht denkt, beweist die „Maria Magdalena“ des 
berühmten slavischen Dichters Johann Swatopluk Machar, 
dessen Heldin sich von einem Phantasten bekehren läßt, und 
die solange keusch bleibt, bis das Getuschel und die Nach- 
rede der Umgebung den verflossenen, anrüchigen Stand ins 
Gedächtnis zurückrufen. Das Ende ist, daß Machars Mag- 
dalena, deren Seele keuscher und reiner als die zahlloser Halb- 
jungfrauen der bürgerlichen Gesellschaft ist, in einer weichen 
Frühlingsnacht in ihr früheres Bordell zurückkehrt. 
Hetärismus, Prostitution und Askese vertragen sich eben 
nur in dem Sinn, als die Askese ein potenziertes, sexuelles 
Raffinement darstellt und die Selbsterniedrigung, die in jeder 
Buße liegt, eines jener masochistischen Reizmittel darstellt, von 
denen das ganze Gefühlsleben der Dirne durchzogen wird, 
In Parenthese möchte ich übrigens bemerken, daß die Frömmig- 
keit unter den Dirnen viel größer ist als wie man allgemein 
annimmt, und daß. die gewöhnlichsten Prostituierten mitunter 
in religiösen Dingen sich eine rührende Naivität erhalten 
haben, die seltsam mit ihrer sonstigen Morallosigkeit kontrastiert. 
Eine Prostituierte hatte über dem Bett, in dem sie ihre Gäste 
empfing, ein Marienbild mit einer ewigen Lampe darunter 
hängen, vor dem sie täglich ihre Andacht verrichtete. Eine 
andere hatte unter den vielen Toilettegegenständen und den 
Utensilien, die zur Ausübung ihres Berufes dienten, auf dem 
Nachttischchen ein silbernes Kreuz stehen. Dirnen, die des 
Morgens zum Abendmahl und in der Nacht darauf bereits 
wiederum ihrem Gewerbe nachgehen, gehören zu keinen 
Seltenheiten. Im großen und ganzen ist freilich so ein 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 153 


Mädchen, das dem Moloch der Prostitution. anheim gefallen 
ist, nie wieder bußfertig zu machen und alle derartigen Be- 
richte, mögen sie sich nun in Büchern moderner Roman- 
autoren und Dramatiker finden oder der Phantasie gewisser 
Idealisten entsprungen sein, gehören in das Reich der Fabel. 
Auch das Mittelalter dachte, jede Prostituierte müßte sich durch 
die Segnungen der christlichen Kultur in eine Heilige um- 
wandeln lassen. Das beweisen die Gründung zahlreicher 
Beghinenhöfe und das Heer der „Reuerinnen“, das sich aus 
bekehrten Dirnen rekrutierte. In Wirklichkeit und obwohl 
ein Rückfall in das Schandgewerbe mit Auspeitschung und 
Todesstrafe bedroht war, waren die Beghinenklöster die rich- 
tigen Stätten der Unzucht und gaben der Obrigkeit, da sie 
unter dem gewaltigen Schutz der Kirche standen, so manche 
harte Nuß zu knacken. Davon sprechen die Fiugschriften 
und die satirischen Gedichte aus jener Zeit Bände. In der 
sozialen und Menschheitsgeschichte der Völker spielt die Dirne 
eine große Rolle und gehört, weil zu den angefeindetsten, 
gleichzeitig zu den unentbehrlichsten Objekten der privaten 
und öffentlichen Wohlfahrt. Würde man eine Definition für 
den Charakter der Dirne suchen, irgend ein Symbol, unter 
dem ihre Erscheinung am besten zu fassen wäre, so müßte 
man sie als die Verkörperung der Brautschaftsidee 
unter der Menschheit aller Zeiten bezeichnen. Sie ist 
dasselbe, was in einer anderen idealisierteren Einkleidung in 
der christlichen Madonna angebetet wird: Die Inkarnation der 
Liebe, der Schönheit, der Besinnlichkeit, der naturgewollten 
Sexualität, von der sich ein Mensch nur dann lossagt, wenn 
in ihm alle heiligen Feuer erloschen sind oder der gesunde 
Instinkt von einem ungeheuren Gespinnst konventioneller 
Lügen gefesselt ist. 

Man müßte die Dirne mehr achten als bisher; denn sie 
ist vielfach der einzige Lichtblick im Leben ungezählter Armer, 
der Traum von Schönheit und Liebe, den auch der von der 
bürgerlichen Gesellschaft Mißachtete und von der Natur stief- 
mütterlich Bedachte träumen darf. Sie ist aber noch mehr 
als das, eine Einrichtung von weittragender Bedeutung für die 
öffentliche Wohlfahrt und Sicherheit, eine Schranke gegen das 
Überhandnehmen des Verbrechens, indem sie viele Kräfte, 
die sich sonst ungezügelt austoben würden, in andere vielleicht 


154 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


gesündere Bahnen lenkt. Das ist ein Paradoxon und steht 
in direktem Widerspruch zu dem, was man sonst über 
Charakter und Schäden der Prostitution zu lesen und zu hören 
gewöhnt ist. Aber es ist trotzdem wahr, wenn auch die 
philiströse Moral unserer gegenwärtigen flachen Zeit durch 
solche nachdenksamen Bonmots einen argen Stoß erfährt. 
Wo soll denn die Jugend ihre gesunden und natürlichen 
Kräfte spielen lassen, wenn nicht in dem gottgegebenen 
Verhältnis zum Weibe, das seit Menschengedenken jenen 
fruchtbaren Boden vorbereitet hat, aus dem später die Kulturen 
hervorgegangen sind? Es ist aber eine alte Erfahrungstatsache, 
daß der Geschlechtstrieb wie alles Große, das sich eruptiv 
äußert, seine umwandelbare Kraft daraus schöpft, daß er 
gleichzeitig auf der anderen Seite niederreißt, daß er also dort 
destruktiv ist, wo die neuen, ungeahnten Möglichkeiten zu 
Tage treten. Im Kleinen offenbart sich das in dem einfachen 
Verhältnis zwischen Mann und Weib, sofern die höchste Be- 
tätigung des Liebesempfindens gleichzeitig mit der Zerstörung 
gewisser physischer Qualitäten Hand in Hand geht: Die 
heimliche Stunde, in der sich zwei Liebende, die sich Monde 
und Jahre hindurch vielleicht mit der ganzen Kraft ihrer Sehn- 
sucht nach einander gesehnt haben, zur körperlichen Hingabe 
aneinander zusammenfinden, bringt gleichzeitig den Gewaltakt 
des Mannes auf die bis dahin unberührte Jungfräulichkeit des 
Weibes mit sich, und dieser Akt ist brutal, schmerzhaft, die 
Vernichtung eines natürlichen Zustandes, aber von weittragender 
Bedeutung für den höheren, unendlich wichtigeren Beruf der 
Frau. Würden nun die destruktiven Tendenzen des Geschlechts- 
triebes, die in ihm tatsächlich vorhanden sind, nicht durch die 
Freiheit der Liebe behoben, so würde die überschäumende 
Kraft sich ein anderes Betätigungsfeld suchen, und es ist wohl 
vorauszusehen, daß sie sich mit dem Verbrechen assoziieren 
würde. Wäre die Prostitution nicht vorhanden, die bei dem 
heutigen gesellschaftlichen Cant und bei der ungeheuren 
Schwierigkeit, mit der sich Ehen anbahnen und vollziehen, 
dem Manne die notwendigen Surrogate im Liebesleben bietet, 
dann gäbe es soundsoviel Unglück mehr in der Welt, 
würden soundsoviel Selbstmorde und Verbrechen mehr an 
einem Tage begangen werden und das Ende wäre eine Kata- 
strophe der Menschheit. Man muß es den Fanatikern, die 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 155 


die Prostitution abschaffen möchten, rechtzeitig vor Augen 
führen, daß wir ohne sie, wenigstens bei dem augenblicklichen 
Stand der Dinge, unmöglich bestehen können, wenn wir 
auch nicht mehr den mittelalterlichen Grundsatz vorschützen, 
daß die Prostitution zur Abwehr der Angriffe auf ehrbare 
Frauen bestehen müßte. Im übrigen mochte der Mann, der 
zuerst den vorgenannten Grundsatz ausgesprochen hat, schon 
damals eine Ahnung besessen haben, zu welcher wichtigen 
Rolle die Prostitution in einer Kultur der Passivität und 
dauernder Konvenienz berufen ist. 

Ich habe diese geringe Abschweifung von dem ursprüng- 
lichen Thema für nötig befunden, um vor allem den Einwurf 
zu entkräftigen, daß die vorübergehende Verbindung Irgend- 
jemands mit der Prostituierten, wenn sie nicht zu Zwecken der 
Kuppelei und des Zuhältertums geschieht, anders als natürlich 
zu werten sei. Die obige Definition der Prostitution wirft 
ferner ein Streiflicht auf das Verhältnis des Künstlers zur Dirne 
und läßt uns ahnen, warum Menschen von einer erlesenen 
Geistigkeit und einem uferlosen Empfinden an Geschöpfen 
einen Gefallen finden können, die von der Gesellschaft als 
Parias und Schädlinge geachtet sind. Ich glaube die Tatsache, 
daß es solche geniale Potenzen, die mit Prostituierten verkehrt 
haben, gegeben hat, nicht aus der Geschichte belegen zu 
müssen. Dichter, Philosophen, Staatsmänner, Gelehrte, Feld- 
herren u. а., die im öffentlichen Leben eine prominente Stellung 
eingenommen haben, haben wiederholt sich solchen Frauen 
in die Arme geworfen, und was mit Rücksicht auf den Moral- 
banausen gerade als tragikomisch bezeichnet werden muß, 
man hört von den wenigsten, daß sie in diesen Verbindungen 
wahrhaft unglücklich gewesen wären. Im Gegenteil haftet den 
Verhältnissen genialer Männer mit Prostituierten nachträglich 
ein romantisch poetischer Schimmer an, wie etwa der be- 
rühmten und berüchtigten Freundschaft des genialen 
Perikles mit der Hetäre Aspasia, den Liebschaften des 
großen Alexander mit den drei schönsten der athenischen 
Kourtisanen Thais, Chloë und Aspasia; der Maitressenwirtschaft 
zahlreicher mittelalterlicher und neuzeitlicher Könige, der Liebe 
des Admiral Nelson zu der Eva Gunning, die eine gewöhnliche 
Hafenprostituierte war, Napoleons glühender Liebe zu der 
skrupellosen Josefine Bauharnais — die nicht anders als eine 


156 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


der größten Dirnen ihrer Zeit gewertet werden kann, wenn- 
gleich sie offiziell dem Schandgewerbe nicht nachging — und 
endlich Goethes zweideutigen, pikanten Abenteuern, von denen 
man nicht weiß, wieviel darunter er mit Dienerinnen der Venus 
vulgivaga erlebt hat. Blättert man in dem Liebes- und Ehe- 
leben großer Männer nach, so findet man sehr viele, die Be- 
friedigung außerhalb einer unglücklichen Ehe suchten und nur 
ganz wenige, die vom Schlage des neuzeitlichen Giganten 
Bismarck waren und ihr Glück in einem lebenslänglichen, ge- 
setzlich unanfechtbaren Verhältnis zu Zweien fanden. Was 
ist nun das Geheimnis, das den Künstler an die Prostituierte 
bindet, und ihn ihre sonstigen zweifelsohne nicht immer ein- 
wandfreien Qualitäten, vor allem die dauernde Unreinlichkeit, 
mißachten läßt? 

Jene Gruppe von Dekadents, die wie die französischen 
Sataniker und die modernen Aestheten aus der Verbindung 
mit Prostituierten einen koketten Spleen machen, möchte ich 
nur bedingt heranziehen, sie sind für die Definition einer so 
ernsten Erscheinung wie dieser nicht normgebend. Gerad de 
Nerval trieb sich die längste Zeit mit Prostituierten herum, 
bevor er sich in einer absinthtollen Nacht an den Laternenpfahl 
einer Pariser Straße hängte. Er gefiel sich in dieser Pose, 
weil sie zu seinem abgründigen Pessimismus wunderbar paßte 
und ihm dauernd zu dem poetisch fruchtbaren Katzenjammer 
verhalf. Die Jüngsten der Moderne finden es apart und 
amüsant, mit Prostituierten intim zu verkehren, zum Teil auch, 
weil bei ihnen wie bei dem hochbegabten und feinsinnigen 
Wiener Peter Altenberg etwas in der Psyche tatsächlich nicht 
in Ordnung ist. Aber abgesehen von den Melancholikern, 
Wahnsinnigen und Absinthadepten ist die Vorliebe der Halb- 
genies für Prostituiertenverhältnisse doch nur eine dämonische 
Pose, wenn nicht — und das halte ich für das Primäre — 
die Aeußerung eines unfruchtbaren Autoerotismus. Die 
jungen Russen, bei denen Verhältnisse mit Prostituierten noch 
häufiger als anderswo sind, zeigen untrüglich diese ungesunde, 
autoerotische Konstitution. Gelegentlich meines letzten Aufent- 
haltes in Prag lernte ich auch die bedeutendsten Köpfe der 
hochmodernen tschechischen Dekadenz kennen, die eine Reihe 
ernstzunehmender Künstler, wie den bizarren Georg Karasek 
von Lwowic und den hochbegabten Arthur Breisky, einen 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 157 


Essayisten vom vornehmen Geiste Wildes, hervorgebracht 
hat. Autoerotiker, mehr kann man auch von dieser talentierten 
Gruppe nicht sagen. Bezeichnend für sie ist das Anhängen 
an die Prostitution und eine selbstgefällige Gefühlsvergeudung, 
die mit Mysticismus und allerhand Perversitäten liebäugelt. 
Von den Motiven dieser Handvoll von Kulturästheten, 
die sich in allen Nationen finden, unterscheiden sich beträchtlich 
die des wahren Künstlers, des wahrhaft genialen Menschen, 
der mitunter für die Prostituierte eine seltsame, scheinbar 
unerforschliche Passion fassen kann. Woher kommt sie, was 
sucht sie? Beantworten wir diese Frage mit einem kurzen 
vielbedeutenden Satz: sie kommt aus der Tiefe des Empfindens 
und sucht — das Weib. Nicht die Frau, die sich mit ihrem 
weiten geistigen Horizont brüstet, oder das Mädchen, dessen 
gesunde Sinnlichkeit durch eine verschrobene und lügenhafte 
Erziehung vorzeitig erstickt wurde; sondern das Weib, das 
nichts anderes als ein solches ist, gleichsam die mensch- 
gewordene Sexualität, die sich trotz gesellschaftlichem Firnis 
und Moralkodex ihr unverfälschtes natürliches Gesicht erhalten 
hat. Den ehrbaren Frauen wird es ungeheuerlich erscheinen, 
wenn ich sage, daß die Prostituierte mehr Weib ist als sie, 
und daß das Liebesleben der Dirnen natürlicher und frucht- 
barer ist als wir in unserer Voreingenommenheit annehmen 
möchten. Es ist aber tatsächlich so und der Künstler hat das Vor- 
recht vor dem Durchschnittsmenschen, daß er das intensiver fühlt 
und klarer sieht, weil er — auch das ein Vorzug und kein 
Kennzeichen etwaiger Degeneration — sinnlicher als der 
normal Veranlagte ist. Diese Sinnlichkeit sucht nach einem 
entsprechenden Komplement, das er in der Prostituierten leichter 
als in dem ehrbaren bürgerlichen Verhältnis findet. Denn die 
Prostituierte ist nichts als Weib, beinahe der Sexus selbst, 
und mithin eine Idee von höchster, faszinierender Bedeutung. 
Der Künstler, der die Schönheit des Gedankens restlos zu 
genießen vermag, muß auch das Leben ebenso restlos ge- 
nießen dürfen, um ausruhen zu können. Es ist das Bekenntnis 
zu dem eigentlichen Beruf des Weibes, das sich in dem 
Gebahren der Prostitutierten uneingeschränkt manifestiert und 
das infolgedessen den feinfühligen, genialen Mann unwider- 
stehlich anzieht. Weil die Sinnlichkeit des Künstlers wie alle 
seine Fähigkeiten intensiver als die anderer Menschen ist, 


158 OE£SCHLECHT UND OESELLSCHAFT 


leidet er unter den Fesseln, die dem Liebesleben der ehrbaren 
Frau von der Gesellschaft auferlegt wurden, und sein mimosen- 
haftes Empfinden fühlt in einem Verhältnis mit einer ehrbaren 
Frau leicht ein Manko, das ihm selbst zum Verhängnis werden 
kann. Es ist dann eine solche Verbindung zwischen dem 
Künstler und dem von ihm geliebten Weibe eine Qual für 
beide Teile, mehr aber noch für den Mann, weil ein unglück- 
liches Liebesleben seine Emotivität und Feinhörigkeit allmählich 
verhängnisvoll abstumpfen kann. Vielleicht ist es auch 
die Erkenntnis von der wichtigen Mission, die die 
Prostituierte im Liebes- und Kulturleben der Mensch- 
heit erfüllt, die den Künstler zu ihr hintreibt und 
vorübergehend in ihren Armen zu fesseln vermag. 
Ganz sicher aber spielt sein ungebändigtes Freiheitsgefühl 
hier mit, das durch das Verhältnis mit einer Prostituierten 
zweifelsohne am wenigsten beeinträchtigt wird. Als Herren- 
mensch verlangt der Künstler absolute Freiheit, um zur vollen 
Entfaltung seiner Kräfte gelangen zu können. Er darf folglich 
auch durch keine Liebe zu einem Weibe, die ihn zum Sklaven 
herabdrücken könnte, in dieser Freiheit gehindert werden. 
Dieser Gefahr ist er in einem Verhältnis zu einem käuflichen 
Mädchen viel weniger als unter anderen Umständen und 
namentlich in der Ehe ausgesetzt, denn die Prostituierte läßt 
ihm seine unbedingte Freiheit, weil sie selbst von ihm eine 
solche fordert. Dem normalen Menschen ist es unverständlich, 
daß er ein Weib, das ihm angehört, gleichzeitig mit noch 
anderen gleichgültigen, vielleicht unsympathischen Personen, 
teilen soll. Aber die Toleranz des Künstlers gegen die Untreue 
seines Verhältnisses ist gleichzeitig das Mittel, durch das er 
sich gegen jede möglicherweise durch das Weib erhobene 
Ansprüche auf seine persönliche Freiheit schützt. Das Be- 
wußtsein der dauernden Untreue des Weibes läßt Sentimen- 
talitäten nicht aufkommen; deshalb vermag der Künstler das 
Weib in seiner Gänze und unabhängig von allen nachfolgenden 
Konsequenzen zu genießen .... 

Eine Ethik, die zweifelsohne eine hohe, Menschlichkeiten 
wägende Urteilskraft bekundet, meldet sich in einer so gearteten 
Praxis zu Worte. Der Künstler weiß, daß es im Charakter 
jedes Weibes liegt, untreu zu sein, und daß die Treue 
unter Umständen die Eigenschaft eines Mannes sein kann, 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 159 


dagegen dem gesunden unverbildeten Weibe immer mangelt. 
Der Beweis dieser These liegt in dem Umstand, daß eine Frau 
einen Mann leidenschaftlich lieben kann, ihn aber gleichwohl 
mit einem anderen hintergeht, ohne sich schuldig zu fühlen, 
wie es so hübsch in der mittelalterlichen Legende vom 
„Sperber“ erzählt ist. Die junge Frau, die ihren Ehegatten über 
alle Maßen liebt, gibt sich dennoch um dreier kostbarer Gegen- 
stände, eines Sperbers, eines Gürtels und eines Reitpferdes 
willen, deren Besitz sie reizen, einem fremden Mann hin. 
Man denkt, der Ehemann wird nun diese ungetreue Frau aus 
dem Hause jagen? O nein; wohl unternimmt er in der 
Bitterkeit seines Herzens eine Tournierfahrt, aber nach Jahr 
und Tag findet er sich mit der ungetreuen Gattin wieder zu- 
sammen und seine Liebe brennt heißer denn zuvor auf. 
Ebenso hübsch, aber mit tieferen menschlichen Perspektiven 
ist der gleiche Gedanke in der Erzählung vom Ritter und 
König herausgestellt, die von der Tragödie der betrogenen 
Ehemänner handelt, einer Tragödie, die im Grunde genommen, 
eine banale Selbstverständlichkeit ist. Ein Ritter, der seine 
Frau auf einer Untreue ertappt, trägt sein Herzeleid in die 
Welt hinaus und trifft auf der Flucht vor seinem Unglück 
einen König, dem dasselbe Leid widerfahren, und der infolge- 
dessen ebenfalls auf die Wanderschaft gegangen war. Beide 
ziehen nun durch die weite Welt, begleitet nur von einer 
Freundin, in deren Besitz sie sich einträchtig teilen. Von der 
Treue dieses Weibes sind beide felsenfest überzeugt, und um 
sie vor Anfechtungen zu schützen, lassen sie sie des Nachts 
in der Mitte ihres Bettes schlafen. Gerade aber dadurch ver- 
mag die Ungetreue die vertrauensseligen Männer zu täuschen 
und einen Dritten in dem eigenen Bette mit ihrer Gunst zu 
beschenken, da jeder der beiden Schläfer immer denkt, es sei 
der andere. Das Ende dieser Komödie menschlicher Irrungen 
ist die Rückkehr der betrogenen Ehegatten zu ihren ungetreuen 
Frauen und die versöhnende Moral, die sich am besten in 
einer knappen Sentenz wiedergeben läßt: Männer sind 
unter Umständen bedingt treu, aber es liegt im Wesen des 
Weibes, daß es immer unbedingt untreu sein muß. Man sieht, 
die mittelalterliche Weltanschauung war in gewissem Grade 
fortschrittlicher als unsere vielgepriesene moderne Kultur, die 
über das Problem der ehelichen Untreue ein Meer von Tinte 


160 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


verschwendet hat und die ungetreuen Frauen mit Paragraphen 
hetzt, die bereits vor 500 und mehr Jahren als lächerlich em- 
pfunden und infolgedessen auch nicht angewandt wurden. 
Und gerade um dieser Untreue willen, die ein wesentlicher 
Charakterzug weiblichen Liebeslebens ist und die sich in den 
Jahrtausenden nicht gewandelt hat, liebt der Künstler das 
Weib und dessen eigentlichste Inkarnation die — Prostituierte, 
in deren unreinen Hülle er reiner als in anderen Frauen die 
gnadenreiche, natürliche, befreiende Sinnlichkeit wittert .... 


(б 


LEBEN, TOD UND DEGENERATION 
IM VERHÄLTNIS ZUR GESCHLECHTLICHEN 
FORTPFLANZUNG. 
Von Prof. Dr. K. F. JORDAN (MAX KATTE). 


D" ganze Welt des Lebenden muß ihren Ausgang von 
gewissen einfachsten Urformen genommen haben, deren 
heutige Repräsentanten wir im Protistenreich Haeckels zu 
suchen haben, wenn sie nicht — in Gestalt eines Urplasmas 
einst vorhanden — den Schauplatz der Erde verlassen haben, 
also dem Tode anheimgefallen sind. 

Dem Tode! Geheimnisvolles Wort; ebenso wie das Leben. 
Zwei Gegensätze, die, sich gegenseitig ausschließend, doch 
eng zusammen gehören; denn jedes Wesen, das ins Leben 
getreten ist, verfällt — so scheint es — früher oder später dem 
Untergang — es stirbt. Und es soll hier in erster Linie nicht 
an den Tod durch Zufall (dieses Wort ohne philosophische 
Hintergedanken verstanden, an den accidentellen oder 
künstlichen Tod gedacht werden, wie er durch äußere Ur- 
sachen bewirkt wird, die nicht in der Organisation des Individu- 
ums und der Art gelegen sind, wie mechanische Vernichtung und 
Krankheit, sondern an den natürlichen oder Alters-Tod; der 
Tod durch Verhungern aus natürlichem Mangel an Nahrung 
möchte — physiologisch — einen Übergang zwischen beiden 
Arten des Sterbens darstellen. 

Worin besteht der Tod? Und worin besteht das Leben? — 
Wenn Emil Dubois-Reymond gesagt hat, daß das Leben eine 


CERVIX-KARZINOM MIT SUBSERÖSEM MYOM DES 
UTERUS. Nach Fehling. Lehrbuch der Frauenkrank- 
heiten. Zu dem Aufsatz »Der Gebärmutterkrebs«, Seite 172. 





BLUMENKOHLARTIGES KARZINOM DER PORTIO 
VAGINALIS. (Nach Martin). 


Zu dem Aufsatz Der Gebärmutterkrebs , Seite 172. 





GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 161 


dynamische Erscheinung sei, dadurch charakterisiert, daß ein 
Strom von Materie durch den Körper des Lebewesens hindurch- 
gehe, so ist diese Definition doch zu allgemein gehalten und 
faßt das Problem nicht tief genug. Denn es müßte weiter 
gefragt werden, welche Ursachen diesen Strom zum Fließen 
bringen und welche ihn hemmen oder ihn versiegen 
lassen. 

Angenommen, das Leben ist auf irgend eine Weise auf 
der Erde erschienen: Warum war es nicht ewig? Oder ist 
es ewig in der Gesamtheit der Lebewelt und führt es in deren 
Teilen, den Individuen, zum Tode? Aber warum stellte sich 
der Tod— wohlgemerkt: der natürliche oder Alters-Tod — 
in den Individuen ein? Oder war er hier immer vorhanden? 
Liegt es von Anfang an in der Organisation und dem physio- 
logischen Gesamtprozeß eines jeden Lebewesens — in seinem 
Vitalismus — begründet, daß das Leben ein endlich begrenztes 
ist? Und welcher Art ist die Wirkung dieser Anlage? 

Diese Fragen haben die Bedeutung, die ihnen von jeher 
zukam, im Unterschied von jener anfangs aufgeworfenen Frage 
nicht verloren. Und es stehen sich wichtige Ansichten hin- 
sichtlich derselben gegenüber, über welche die Entscheidung 
nicht leicht ist. Vor allem sind hier die beiden Forscher 
August Weismann und Götte in Gegensatz zueinander ge- 
treten, indem ersterer die Kontinuität des Lebens, die auf der 
Kontinuität des Keimplasmas basiert sein soll, behauptete und 
den natürlichen Tod als eine Anpassungserscheinung nach dem 
Prinzip der Nützlichkeit, auf dem Wege der Selektion entstanden, 
auffaßte; während Götte den Tod als eine im Wesen des 
Lebens von vornherein gelegene Notwendigkeit erklärte, die 
mit der Fortpflanzung verbunden, genauer: als eine Wirkung 
derselben anzusehen sei.!) Die Fortpflanzung selbst faßt Götte 
als einen Verjüngungsprozeß auf, bei dem das Plasma — sei 
es durch eigene innere Umgestaltung (bei den durch Teilung 
sich fortpflanzenden Lebewesen) oder durch Mischung der 
Keimplasmen zweier verschiedener Wesen, wie sie bei der 
geschlechtlichen Vereinigung stattfindet — von neuem lebens- 
fähig wird; so daß also eine durch alle Generationen hindurch 
andauernde Erneuerung des Lebens und damit gewissermaßen 


1) Vergl. A. Weismann, Über Leben und Tod. 2. Aufl. Jena, 1892. 
Geschlecht und Gesellschaft, VIII, 34. 11 


162 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


der Schöpfung die Natur beherrscht — ein Gedanke, der von 
vornherein etwas Sympathisches an sich hat, weil er das Ge- 
triebe des Lebens nicht wie einen abrollenden Mechanismus 
sich selbst überläßt. Es fragt sich indessen, ob er angesichts 
der Erscheinungen im einzelnen Stich hält und sie ausreichend 
erklärt. 

Auf alle Fälle ist ersichtlich, daß Leben und Tod im Zu- 
sammenhange mit der Fortpflanzung aufgefaßt werden müssen, 
wenn man zu einer befriedigenden Ansicht über sie ge- 
langen will. 

Aber noch eine dritte Anschauung könnte neben denen 
von Weismann und Götte geltend gemacht werden; nämlich 
die, daß überhaupt nicht die Fortpflanzung das Erste, also 
dem Tode Vorhergehende war, sondern daß sie — im Verlaufe 
des Kampfes ums Dasein — erst mit dem Tode eingeführt 
wurde, und zwar in der Weise, daß sie denjenigen Lebewesen 
die Weiterexistenz (als Typen, nicht als Individuen) sicherte, 
bei denen sie — zuerst durch Teilung und später durch ge- 
schlechtliche Vermischung — zufällig auftrat. So hätten sich 
Arten bilden können, denen die Fortpflanzung konstitutionell 
innewohnte und die sich daher nicht nur selbst erhielten, 
sondern auch die Entstehung neuer Arten ermöglichten, 
indem erworbene Eigenschaften bei ihnen erblich wurden. 

Diese dritte denkbare Ansicht setzt aber gleichfalls vor- 
aus, daß in der lebenden Substanz von Anfang an die Ursache 
des Todes gelegen ist. 

Wollen wir zu naturwissenschaftlich befriedigender Klärung 
unserer Fragen kommen, so müssen wir vielmehr noch ein- 
mal an diejenige von ihnen speziell anknüpfen, die im Mittel- 
punkte aller übrigen steht: was ist das Leben? 

Wir sehen unzweifelhaft einen Unterschied zwischen der 
leblosen und der belebten Schöpfung. Und wenn auch die 
neuere Chemie seit Wöhler (1828) gezeigt hat, daß die organi- 
schen Substanzen, die früher nur als innerhalb lebender Wesen 
und durch den Lebensprozeß erzeugt galten, mehr und mehr auch 
außerhalb der Organismen aus organischen Stoffen synthetisch 
aufgebaut werden können, so gilt dies doch nur von diesen 
organischen Substanzen, nicht von dem Leben oder den 
Lebensvorgängen der Organismen selbst, nicht von solchen 
Substanzen im lebenden Zustand. 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 163 


Der gesamte Vitalismus geht von einer Grundsubstanz: 
dem Protoplasma oder Plasma aus; und es ist, wenn auch 
nicht in chemischer, so doch physiologischer Hinsicht ein 
gewaltiger Unterschied zwischen dem lebenden und dem toten 
Plasma. Andererseits wissen wir, daß Leben irgend welcher 
Art oder alle Lebenserscheinungen als Bewegung aufzufassen 
sind. Folglich müssen wir schließen, daß vom lebenden Plasma 
Bewegung verursacht wird. Diese kann aber nur auf be- 
wegten Massenteilchen beruhen. Es ergibt sich somit, daß 
das Plasma die Eigenschaft besitzt, Massenteilchen abzusondern, 
die in Bewegung begriffen sind, also lebendige Kraft repräsen- 
tieren und daher im Stande sind, weitere Bewegungserschei- 
nungen zu bewirken. Mit der Frage: wie und warum das 
Plasma dies fertig bringt, sind wir allerdings an der Grenze 
unseres Erkennens angelangt. Aber ein Blick auf die Summe 
neuerer Ergebnisse im Gebiete der physikalischen Forschung 
gibt uns, wenn auch nicht eine Erklärung unseres Problems, 
so doch eine Stütze für die Stichhaltigkeit unserer auf den 
Tatsachen fußenden Deduktionen: ich meine die Untersuchungen 
über die Radioaktivität. Halten wir uns nur an die Beobach- 
tungen über das Radium selbst, so steht fest, daß die von 
diesem ausgehenden und unabsehbare Zeit andauernden 
Wirkungen auf die Absonderung kleinster Stoffteilchen — die 
sogen. Emanationen — zurückzuführen sind. Manche Forscher 
fürchteten schon, daß die Erscheinungen am Radium das 
Gesetz von der Erhaltung der Energie ins Wanken zu bringen 
geeignet wären; indessen scheint es nach den Experimenten und 
ist außerdem naheliegend anzunehmen, daß dieRadium-Emanatio- 
nen zwar außerordentlich lange, aber nicht unbegrenzt vor 
sich gehen können, so daß schließlich doch einmal eine 
Art physikalischen Todes einer bestimmten Radium-Menge 
eintreten muß — möglicherweise dann erst, wenn diese selbst 
(durch Stoffverlust) völlig zerstört ist. 

Das Wichtige und Wesentliche bei dem Prozesse des 
Lebens bilden nach unseren Ausführungen die Absonderungen 
des Plasmas. Daß solche Absonderungen, denen eine mehr 
oder weniger weitgehende Zersetzung des Gesamtplasmas 
vorhergehen muß, tatsächlich stattfinden, erhält dadurch seine 
Bestätigung, daß das Plasma durch die Lebensvorgänge ver- 
braucht wird. Die Absonderungen nehmen ihren Weg nach 

11° 


164 GESCHLECHT UND QESELLSCHAFT 


außen, da sie in keinem Zusammenhange mehr mit dem übrigen 
Plasma stehen, und dieses ist schließlich nicht mehr fähig, 
weitere Lebenserscheinungen auszulösen. Es muß daher aus 
dem Organismus fortgeschafft werden, was dadurch geschieht, 
daß das Lebewesen atmet, d.h. Sauerstoff aus der Luft in 
sich aufnimmt, der eine Oxydation — eine Art Verbrennung — 
mit dem lebensunfähigen Plasma-Reste vornimmt. Hierbei 
entsteht Wärme und somit neue Energie für die Bewegung 
weiterer Plasma-Absonderungen. Der Ersatz des verbrauchten 
Plasmas erfolgt auf dem Wege der Nahrungsaufnahme. Die 
Nahrungsstoffe werden durch die Wirksamkeit des noch im 
Organismus vorhandenen lebenden Plasmas assimiliert d. h. 
selbst in Plasma-Substanz (sowie die anderweitigen Stoffe 
des Körpers) umgewandelt; wie dies geschieht, ist nur im 
Gröberen bekannt als Verdauung; die genaueren cellularen 
und molekularen Vorgänge sind uns verschleiert. 

Die Assimilation ist nun bei den verschiedenen Lebewesen 
voneinander abweichend, und hierdurch kompliziert sich das 
Phänomen noch mehr und setzt unserm Verständnis erhöhte 
Schwierigkeit entgegen; denn wir sehen das Reich des Lebenden 
in zahlreiche Gruppen: Klassen, Ordnungen, Familien, Gat- 
tungen, Arten und Individuen getrennt; und das Plasma jedes 
Wesens und jeder Wesensgruppe baut den Organismus in 
eigenartiger — spezifischer — Weise auf. Somit müssen äußerst 
mannigfaltige Unterschiede in der Beschaffenheit oder der 
Zusammensetzung der Plasmen sämtlicher Lebewesen vor- 
handen sein, und da dem Chemiker dieselben unbekannt sind, 
ist anzunehmen, daß sie nicht im Molekül des Plasmas, sondern 
in den als Anhänge desselben zu denkenden, unendlich feinen 
und flüchtigen Plasma-Absonderungen liegen, während der 
Plasma-Rest durchweg den gleichen oder nahezu gleichen 
Stoff repräsentiert. 

Durch unsere Betrachtungen sind wir auf eine Hypothese 
geführt worden, die vor ungefähr 35 Jahren Gustav Jäger іп 
seinem „Lehrbuch der allgemeinen Zoologie“ (2. u. 3. Abteilung) 
entwickelt hat. Er unterscheidet den Plasma-Kern von den 
Plasma-Anhängen und bezeichnet die letzteren als Lebensstoffe 
oder Lebensagens; ihnen schreibt er insbesondere die vis 
formativa, die gestaltbildende Kraft des Organismus, zu. Daß 
er auf sie den spezifischen Geruch der Lebewesen, den Klas- 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 165 


sen- und Individualgeruch zurückführt, ändert den entwickelten 
Hauptinhalt der Hypothese nicht. 


Auch August Weismanns Keimplasma-Theorie steht diesen 
Anschauungen nicht fern, wenngleich er Plasma-Kern und 
-Anhänge nicht auseinanderhält. Er nimmt eine Zusammen- 
setzung des Plasmas und zwar speziell des Kernplasmas d. h. 
des Plasmas des Zellkerns, nicht zu verwechseln mit dem 
zuvor genannten Plasma-Kern aus elementaren Bestandteilen 
an, welche er als die Fakoren der Vererbung betrachtet. Der 
plasmatische Inhalt einer Zelle gliedert sich bekanntlich in 
den Zellkern und den übrigen Zellinhalt. In dem Zellkern 
beobachtete man ein oder mehrere Kernkörperchen oder Nuc- 
leoli, denen aber nach neueren Forschungen nicht die ihnen 
früher zugeschriebene hohe Bedeutung innewohnt, sondern 
die vergängliche Gebilde, bloße Ansammlung organischen 
Stoffes — „Zwischenprodukte des Stoffwechsels“ sind. Wohl 
aber spielt nach Weismann!) die wichtigste Rolle bei der 
Vererbung das Chromatin, jener aus feinen Körnchen besteh- 
ende, in das zarte Netzwerk des Zellkerns eingebettete Stoff, 
der sich durch Zusatz von Farbstoffen (Karmin, Hämatoxylin, 
Anilinfarben usw.) tief färbt und daher seinen Namen hat. 
Es ist derselbe Stoff, dessen Existenz Nägeli vorahnte und 
theoretisch annahm und dem er den Namen Idioplasma gab.?) 
Die Chromatinkörnchen treten, was bei der Kern- und Zell- 
teilung zu beobachten ist, zu einem langen, knäuelförmig ge- 
wundenen Faden zusammen, der dann in eine Anzahl gleich- 
langer Stücke zerfällt: Chromosomen genannt. Die Chromo- 
somen der Keimzelle eines Individuums sind nun nach 
Weismann entweder ganz oder in ihren Teilen die Anlagen- 
komplexe für das zukünftige Lebewesen — biologische Ein- 
heiten also, die er Ide nennt. Jedes Id enthält alle Teile zu 
dem werdenden Lebewesen als einzelne Anlagen in sich. Diese 
Anlagen heißen Determinanten, Bestimmungsstücke des 
sich entwickelnden Organismus. Sie sind wiederum zusammen- 
gesetzt aus den Biophoren oder Lebensträgern — Gemengen 
von chemischen Molekülen, die organisiert sind, d. h. nicht 
wie tote Körpermaterie vom Stoffwechsel zersetzt und zerstört 


ı) „Vorträge über Descendenztheorie'. 2. Aufl. Jena, 1904. Bd. 1, S. 234 u. f. 
2) Idioplasma — eine das Wesen (die Gestalt, &ıdog) bestimmende Lebenssubstanz. 


166 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


werden, sondern den Stoffwechsel beherrschen: assimilieren 
und wachsen. 

Die Entwicklung eines einzelnen Lebewesens (die On- 
togenese) denkt sich nun Weismann in der Weise, daß nach 
und nach eine Anzahl Determinanten aktiv werden, indem 
sie sich in die sie zusammensetzenden Biophoren auf- 
lösen, welche durch die Kernmembran hindurch in den Zell- 
körper auswandern. Dort tritt dann zwischen ihnen und den 
schon vorhandenen Elementen des Protoplasmas ein Kampf 
um Raum und Nahrung ein, der zu einer schwächeren oder 
stärkeren Umgestaltung des Zellenbaues führt.!) — Nur solche 
Eigenschaften eines Individuums werden vererbt, welchen be- 
stimmte Determinanten im Keimplasma entsprechen. So wird 
also z. B. das Junge eines männlichen und eines weiblichen 
Hundes, denen die Schwänze abgehauen worden, nicht schwanz- 
los, sondern normal geschwänzt geboren, da die Summe der 
Determinanten in dem von den elterlichen Tieren erzeugten 
Keimplasma, aus dem das Junge entsteht, durch jene äußer- 
liche Körperveränderung keine Modifikation erfahren hat. 

Auf den Zerfall und das Aktivwerden der Determinanten 
muß auch der übrige Lebensprozeß zurückgeführt werden, denn 
die Gestaltbildung bei der Ontogenese ist nur eine Seite des 
Wachstums und dieses ein Teil des Lebensprozesses, da fort- 
gesetzt, auch wenn das Individuum „ausgewachsen“ ist, ein 
Ersatz der verbrauchten Bestandteile des Körpers durch Neu- 
bildungen, also ein Nachwachsen stattfindet. 

Mögen wir uns nun die vorstehend im Umriß wieder- 
gegebene, spezialisierte Lehre Weismanns zu eigen machen 
oder die allgemeiner gehaltene Gustav Jägersche Theorie oder 
endlich eine Kombination beider: immer haben wir es mit der 
Annahme zu tun, daß das eigentliche Leben auf einer Auf- 
lösung, einer Zersetzung lebenerzeugender Substanz beruht. 
Durch das dieser Substanz innewohnende Vermögen der Assimi- 
lation, also der Umgestaltung der aufgenommenen Nahrungs- 
stoffe zu ähnlicher Substanz, vollzieht sich ein andauernder 
Ersatz der verbrauchten Substanz, mit anderen Worten: des 
zersetzten Plasmas, mag es nun nur Kernplasma oder auch 
übriges Zellplasma sein. Hierbei aber liegt die Annahme nahe, 
daß dieser Ersatz nicht bis in alle Ewigkeit der gleiche, voll- 


1) A. Weismann, Vorträge über Descendenztheorie. Bd. 1. S. 310. 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 167 


ständige ist. Im Anfange des Lebens, wo die Eizelle von dem 
frisch gebildeten Plasma erfüllt ist und dessen Zersetzung 
erst beginnt, steigt der Ersatz über das Maß des Verbrauches 
hinaus, und das Individuum nimmt an Größe und Differenzierung 
seiner Formbeschaffenheit zu. Auch nach dem embryonalen 
Zustand vollzieht sich noch ein weiteres Wachstum, bis ein 
Höhepunkt erreicht ist. Das Leben läuft nun eine Zeitlang 
auf gleichbleibendem Niveau, bis der Ersatz geringer wird. 
Wieso kann das geschehen? — Wir müssen immer bedenken, 
daß dasjenige, was von dem lebenden Plasma assimiliert wird, 
toter, ja sogar durch die Verdauung wesentlich vereinfachter 
Stoff ist, aus dem das Lebensagens (bestehe es nun aus 
Jägers „Protoplasma-Anhängen“ oder Weismanns „Determinan- 
ten“ bezw. „Biophoren“) neues lebendes Plasma schaffen soll. 
Weil also die Stoffmenge zunimmt und das Leben sich auf 
die Gesamtheit derselben übertragen soll, so kann dies, da 
ferner ein Teil des Lebensagens in die Umgebung entweiche, 
nach den Gesetzen von der Erhaltung des Stoffes und der 
Erhaltung der Energie nicht ohne allmählichen Verlust an 
Lebensagens und Lebensenergie pro Stoffeinheit geschehen 
und das schließliche Ergebnis muß der Tod sein. 

Es ist dies eine Folgerung, die sich weder mit der Weis- 
mannschen noch mit der Götteschen Ansicht vom Tode völ- 
lig deckt. Fragen wir, ob sie beiden gegenüber Stich hält. 

Weismann betont, wie angegeben, die Kontinuität des 
Lebens, und er sucht dies in seinen Schriften „Über die Dauer 
des Lebens“!) und „Über Leben und Tod“2) sowohl für die 
Protozoen wie die Metazoen nachzuweisen. Zu den Proto- 
zoen stellt er die Monoplastiden oder Einzelligen und dieje- 
nigen Polyplastiden (Vielzelligen), bei denen gesonderte Keim- 
zellen fehlen und die daher als Homoplastiden (Gleichzellige) 
zu bezeichnen sind; die Metazoen sind die Poliplastiden mit 
Keimzellen, auch Heteroplastiden (oder Verschiedenzellige) 
genannt. 

Bei den Monoplastiden, die sich durch Teilung fortpflanzen, 
und den Homoplastiden, deren Fortpflanzung durch Zerfall 
des Zellkomplexes, aus dem sie bestehen, geschieht, schreibt 
Weismann dem Plasma ohne weiteres ewige Dauer zu. Götte 
weist demgegenüber auf den Prozeß der Encystierung (oder 
~ i) Jena, 1882. 2) Jena, 1883; 2. Aufl. 1892. 


168 GESCHLECHT UND OESELLSCHAFT 


Verkapselung) bei den Monoplastiden hin, den er als das 
Aufhören des Daseins, also als Tod, und zugleich als Fort- 
pflanzungsakt ansieht. Das encystierte Individuum sterbe, in- 
dem das Plasma seine spezifische Struktur und Organisation 
verliere und zu einer homogenen Masse werde; es finde nun 
innerhalb der Cyste ein Verjüngungsprozeß statt, der ein 
neues Individuum schaffe, das sich später wieder durch Tei- 
Jung vermehren kann. Dieser Verjüngungsprozeß entspreche 
der Keimbildung der höheren Organismen, und das in ihm 
enthaltene Todes-Moment werde durch Vererbung auf die Meta- 
zoen übertragen. 

Weismann bestreitet die Richtigkeit dieser Anschauung, 
indem er der Encystierung lediglich die Bedeutung einer Schutz- 
einrichtung gegen äußere schädliche Einflüsse, wie Austrock- 
nung oder faulige Verderbnis des Wassers, beilegt und die 
Fortpflanzung einzig und allein in der Teilung erblickt. In 
etzterer Hinsicht muß ihm unzweifelhaft Recht gegeben werden, 
denn neue Individuen gehen immer aus Teilen des elterlichen 
Organismus hervor, wieesja auch bei der geschlechtlichen 
Fortpflanzung der Fall ist. Sonst müßte man auch (nach Götte) 
den Schmetterling als ein Fortpflanzungsprodukt der Raupe 
ansehen, da in dem Zwischenstadium der Puppe ebenfalls 
eine völlige Auflösung und Neugestaltung des Körpers vor sich 
geht. In Wahrheit ist der Schmetterling, wie niemand bestreiten 
wird, dasselbe Individuum wie die Raupe, und es hat nur eine 
Metamorphose im Puppenzustand stattgefunden. 

Anders verhält es sich mit der Götteschen Ansicht über 
die Verjüngung während der Encystierung. Nach meinen Aus- 
führungen über die Zersetzung des Plasmas durch den Lebens- 
prozeß, die schließlich zu einem Absterben desselben — zum 
Tode — führen muß, kann nur eine Erneuerung des Plasmas 
die Erhaltung des Lebens im Verlaufe der Generationen bewirken. 
Diese erfolgt während der Encystierung; denn innerhalb der 
Cyste ist die Plasma-Substanz sowohl vor äußeren Reizen wie 
vor der Aufnahme von Sauerstoff geschützt, so daß sie — bereits 
eines großen Teils ihrer Anhänge beraubt und also nahezu auf 
den Plasma-Kern (nicht zu verwechseln mit dem Zellkern) 
reduziert — mit der zuvor reichlich aufgenommenen Nahrung 
sich chemisch derartig umsetzen kann, daß sich ein neues 
lebensfähiges Plasma bildet. 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 169 


Hiernach ist also der Tod nicht ursächlich mit der Fort- 
pflanzung verbunden, wie Götte meint; aber auch eine ewige 
Dauer des Lebens kann an sich nicht angenommen werden, wie 
es Weismanns Ansicht ist, sondern nur durch die geschilderte 
Art der Verjüngung ist der Fortbestand des Lebens gesichert, 

Es fragt sich nun, ob — wie es im Anfange dieser Dar- 
stellung als denkbar hingestellt wurde — die Fortpflanzung 
im Verlaufe des Kampfes ums Dasein eingeführt wurde, indem 
sich diejenigen Arten unter den Lebewesen erhielten, bei denen 
sie zufällig auftrat. 

Diese Ansicht kann nicht als wahrscheinlich gelten; denn die 
Fortpflanzung ist eine besondere Form des Wachstums, nämlich 
das Wachstum über eine gewisse Grenze hinaus. Bei den 
Monoplastiden ist diese Grenze dadurch gegeben, daß der Körper 
bei einer zu bedeutenden Größe die aufgenommene vom Zell- 
kern aus nicht mehr gleichmäßig zu verteilen und verarbeiten 
imstande ist, so daß seine Trennung erfolgen muß. Bei den 
Polyplastiden muß der Kern der Keimzelle, zumal im Falle der 
geschlechtlichen Fortpflanzung infolge der Vermischung der 
männlichen und weiblichen Zeugungselemente, als zu kompliziert 
betrachtet werden, als daß er sich noch in die Gesamtfunktionen 
des mütterlichen Organismus einfügen könnte. Er vermag 
vielmehr, mit allen ursprünglichen Plasma-Anhängen ausgestattet, 
ein selbständiges Leben zu beginnen, d. h. die Entstehung eines 
neuen Individuums einzuleiten. 

Nach dieser Auffassung erscheint die geschlechtliche Fort- 
pflanzung als ein besonderer Akt der Verjüngung, und zwar 
als eine — wenn man so sagen darf — gesteigerte oderpoten- 
zierte Verjüngung. Dadurch nämlich, daß eine Vermischung 
zweier verschiedenartiger Keimplasmen nebst ihren Anhängen — 
eine sogenannte Amphimixis — erfolgt, wird ein an Plasma- 
Anhängen oder Lebensagens (nach Gustav Jäger) besonders 
reiches Plasma geschaffen, und eine bald eintretende, weitgehende 
Zersetzung desselben, mit anderen Worten: eine Degeneration 
des Plasmas und damit der daraus aufgebauten Lebewesen ist 
nicht zu befürchten. 

Hiermit komme ich auf einen Gedanken zurück, den ich in 
meinem Artikel „Merkwürdigkeiten im Sexualleben der Pflanzen“ 
(vergl. Geschl. u. Ges. 7. Band. 10. Heft. S. 431 ff.) ausgesprochen 
habe: daß die Natur mit der Sexualität nicht den alleinigen 


170 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Zweck der Erhaltung der Lebewelt verfolgt haben könne, sondern 
durch die Vermischung nicht zu ähnlicher Keimstoffe der Ge- 
fahr eines Niederganges der Entwicklung vorgebeugt, ja gerade 
die Fortbildung der Lebewelt zu höheren Formen ermöglicht 
habe; durch die Keimmischung bei der geschlechtlichen Fort- 
pflanzung trete eine Erneuerung des Plasmas ein — ein 
Vorgang, den ich in den obigen Erörterungen mit Götte als 
Verjüngung bezeichnet habe. 

Die Verjüngung ist etwas Notwendiges für den Fortbestand 
der lebendigen Schöpfung. Bei den Monoplastiden vollzieht sie 
sich während der Encystierung, bei den Polyplastiden ganz über- 
wiegend auf dem Wege der geschlechtlichen Fortpflanzung durch 
die Amphimixis. In dieser ist die Möglichkeit mannigfachster 
Kombination von Plasma-Anhängen oder nach Weismannscher 
Auffassung von Determinanten bezw. Biophoren gegeben, d. h. 
also der Entstehung immer neuer Variationen des Keimplasmas 
und der daraus sich entwickelnden Lebewesen. Diese Variabilität 
aber gestattet unter Hinzutritt der durch den Kampf ums Dasein 
geregelten Selektion die Heranbildung vollkommenerer Arten, 

Bei der mit der Entstehung eines neuen Lebewesens ver- 
bundenen Verjüngung kommt es nicht in erster Linie auf die 
Quantität der Plasma-Anhänge oder des Lebensagens, sondern 
auf dessen Qualität, genauer auf die Reichhaltigkeit seiner Struk- 
tur, seiner molekularen Zusammensetzung an. Dadurch 
erklärt es sich denn auch, daß mitInzucht oder gar Inzest, die 
auf der Vereinigung all zu gleichartiger Keimplasmen beruhen, 
trotzdem auch sie eine Art der geschlechtlichen Fortpflanzung 
darstellen, doch eine Degeneration verbunden ist. Daß anderer- 
seits zu weit voneinander abstehende Arten von Lebewesen 
sich nicht zu befruchten und Bastardezu erzeugen vermögen, 
kommt daher, daß ihre Keimplasmen zu unähnlich sind, als 
daß eine haltbare Kombination eintreten könnte, 

Eine Stütze der vorstehend entwickelten Ansicht von der 
Bedeutung der Amphimixis bieten die bewundernswerten Unter- 
suchungen von Maupas, der Kolonien von lufusorien künstlich 
(und zwar besonders durch üppige Ernährung) an der Konjugation 
verhinderte, wodurch allmählich (wenn auch oft nach Hunderten 
von Generationen) eine Entartung eintrat, die Maupas als senile 
Degeneration bezeichnet und die schließlich — nach Monaten 
und Jahren — zu einem völligen Aussterben der Tiere führte.!) 
лу Меге]. А. Weismann, Vorträge über Descendenztheorie. Bd. I. S. 269. 


OESCHLECHT UND OESELLSCHAFT 171 


Mir scheint, daß die vorgetragene Anschauung, solcher- 
maßen auch durch das Experiment erhärtet, klarer und wissen- 
schaftlich eindringender ist als die Ansicht Göttes, der nur im 
allgemeinen von einer mit der Encystierung und der Keimbildung 
verbundenen Verjüngung spricht, die er eine „Umprägung des 
spezifischen Protoplasmas“ nennt,!) und daß anderseits Weis- 
mann die Entstehung des Todes zu äußerlich faßt und zu sehr 
dem Zufall überläßt. Wenn wirklich der Tod, der den Mono- 
plastiden (nach Weismann) noch fehlen soll, bei den Poly- 
plastiden mit Keimzellen, also den Heteroplastiden oder Meta- 
zoen, sich nur dadurch eingestellt hätte, daß eine Abnutzung 
im Laufe des Lebens stattfand, welche die Individuen unvoll- 
kommener und krüppelhafter und daher weniger widerstands- 
fähig im Kampfe ums Dasein machte,?) und wenn dieser Tod 
auf die somatischen oder körperlichen Zellen (im Unterschiede 
von den Fortpflanzungszellen) sich beschränkt hätte, wie es 
Weismann betont,?) so wäre nicht abzusehen, wieso die Anlage 
des Todes sich auf das Keimplasma hätte übertragen und somit 
erblich werden sollen. (Vergl. umgekehrt die untenstehende 
Anmerkung 4.) 


Es erübrigt noch, mit einigen Worten auf die Natur des 
künstlichen Todes im Verhältnis zu dem bisher beleuchteten 
natürlichen Tode einzugehen. Der künstliche Tod stellt sich 
durch eine mehr oder weniger gewaltsame und plötzliche Unter- 
brechung der Lebensfunktionen des Individuums ein. Möge 
diese nun eine Vergiftung durch mineralische Stoffe oder Bak- 
terien, eine Erstickung durch irgendeine Art der Hemmung des 
Atmens oder der Sauerstoff-Zufuhr, eine übermäßige Blutent- 
ziehung oder eine Form des Nervenchoks sein: immer kann 
man hierbei eine verhältnismäßig weitgehende Zersetzung des 
Plasmas und eine Anhäufung der vom Plasma-Kern gelösten 
Plasma-Anhänge annehmen; diese bewirken nach Gustav Jäger 
in ihrer Konzentration, ihrem Maximum ebenso die Hemmung 
der Lebensprozesse, wie ein Minimum ihr Erlöschen herbeiführt; 
das Normale ist eine gewisse mittlere Menge oder ein Opti- 
mum derselben. Werden nun diese Plasma-Anhänge und der 

1) Vergl. A. Weismann, Über Leben und Tod. S. 33. 


2) A. Weismann, Über Leben und Tod. S. 36. 


3) Ebenda. S. 43, 46, 67. — 5.46 nennt Weismann die Fortpflanzungszellen direkt unsterb- 
lich. Wie konnte aber dann von ihnen auf die in der Ontogenese aus ihnen entstehenden soma- 
tischen Zellen der Sterblichkeit übertragen werden? 


172 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Plasma-Kern durch den Lebensprozeß, speziell die Atmung (= Ver- 
brennung), nicht in ausreichendem Maße fortgeschafft, so tritt 
der Tod ein, weil die weitere Plasma-Zersetzung und die freie 
Bewegung der Plasma-Anhänge oder des Lebensagens unter- 
bleibt. 

Ich stelle zum Schluß noch einmal die drei Ansichten, um 
die es sich hier handelt, kurz und scharf nebeneinander: 

Nach Weismann ist das Keimplasma seiner Natur, seiner 
inneren wesentlichen Beschaffenheit nach ewig. Woher? und 
wie ist das möglich? 

Nach Götte ist jede Entstehung eines Lebewesens mit dem 
völligen Tode des Mutterwesens oder eines Teils desselben 
(des Eies) verknüpft. Durch einen Verjüngungsprozeß geht 
in der toten Masse eine vollkommene Neuschöpfung belebter 
Materie vor sich. Wie ist eine solche möglich? welche Kräfte 
sollten sie bewirken? 

Meine eigene Ansicht geht dahin, daß alle lebende Sub- 
stanz durch Stoffzersetzung und Kräfteverlust an sich früher 
oder später dem Tode geweiht ist. Tatsächlich aber stirbt 
das Keimplasma nicht ab, weil dem Tode bei jeder Entstehung 
eines Lebewesens vorgebeugt wird durch einen Verjüngungs- 
prozeß, beidem dienoch nicht gänzlich erloschene Lebens. 
fähigkeit des Plasmas gesteigert wird. 


(© 


DER GEBÄRMUTTERKREBS’). 
Von Dr. PAUL ZIMMERMANN. 


ine Reihe der bösartigsten Erkrankungen, die den weiblichen 
Organismus treffen, äußern sich in hervoragender Weise erst 

in dem Alter, wo die Frau ihren weiblichen Beruf bereits er- 
füllt hat und nunmehr in das Stadium des Ausruhens treten sollte. 
Aber gerade um diese Zeit, wenn die Ovarien ihre Tätigkeit ein- 
stellen und die Konzeptionsfähigkeit unter normalen Umständen 
ihr Ende nimmt, ist der ganze Geschlechtsapparat des Weibes 
infolge der organischen Veränderungen einer Reihe von krank- 
haften Zufällen ausgesetzt, die leider in ihrer ganzen Schwere 
*) Wir kommen den Wünschen einer Anzahl unserer Leser entgegen und geben in dem nach- 


u 
folgenden Zusammenhang eine Beschreibung des Uteruscarzinoms. Die diesbezügl. Antworten 
im Briefkasten erledigen sich hiermit. (Anm. d. Red.) 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 173 


nur selten erkannt werden und bei einem großen Prozentsatz 
zum Tode führen, Hierher gehören in erster Linie die malignen 
Neoplasmen des Uterus und seiner Adnexe, die beinahe typisch 
für die menopausierenden Frauen geworden sind und die schlecht- 
weg unter die Bezeichnung „Gebärmutterkrebs“ gefaßt werden, 
Über das Wesen des Gebärmutterkrebses läßt sich an dieser 
Stelle nichts Neues sagen, da die derzeitige Krebsforschung über 
die Erfahrungen des letzten Jahrzehntes nicht hinausgekommen 
ist und neue Resultate lediglich nach der experimentellen 
Seite hin durch Erschließung der Radiumtheraphie gewonnen 
sind. Eine definitive Erklärung der Ursachen und der Infek- 
tionsquelle des Gebärmutterkrebses läßt sich indessen eben- 
sowenig wie für die anderen carzinomatösen Wucherungen 
geben. Es handelt sich auch hier, wie bei allen Krebsschäden 
um eine das Gebärmutterorgan zerstörende, nach der Aus- 
schneidung fast immer rezidivierende, atypische Neubildung, die 
vondem epithelialen Mutterboden ausgeht und in ihrem gesamten 
Charakter als durchaus bösartig zu bezeichnen ist. Je nach dem 
Sitz der Krebsgeschwulst und nach der Art der Ausdehnung 
unterscheiden wir: das oberflächliche Cancroid der Portio vagi- 
nalis, das in den seltensten Fällen auf die Cervixschleimhaut 
übergeht, sondern sich zumeist auf die Scheide und das para- 
zervikale Bindegewebe fortsetzt; das nicht minder häufige Car- 
zinom der Cervixschleimhaut, das sich auf die Schleimhaut des 
Gebärmutterkörpers ausdehnen kann, und schließlich das Car- 
nizom des Cervix selbst. Diese Dreiteilung des Gebärmutter- 
krebses ist allerdings sofern eine akademische, als sie für die 
Behandlung unmaßgebend ist. Wenn das Krebsgeschwür nicht 
bereits in ein inoperables Stadium getreten ist, wird in allen drei 
Fällen für gewöhnlich die Gebärmutter exstirpiert. 

Die Kenntnis der unterscheidenden Symptome ist nur 
für den Arzt von Wichtigkeit, der auf Grund der in Narkose 
vorgenommenen Untersuchung die Art und den Umfang der 
vorzunehmenden Operation festlegen muß. Im Allgemeinen 
gilt heute, daß eine Exstirpation des Uterus nur dann vorge- 
nommen wird, wenn die Neubildung sich noch nicht auf die 
Ligamenta des Uterus und die Drüsen des Beckens verbreitet 
hat. Ist die Infektion der Beckendrüsen und des Becken- 
bindegewebes soweit vorgeschritten, daß sie sich durch das 
bald nach der Operation eintretende Rezidiv dokumentiert, 


174 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


so bringt auch die Entfernung des Uterus den Kranken in 
allen Fällen nur eine vorübergehende Erleichterung. Jede 
vernünftige Therapie kann hier nur darauf bedacht sein, das 
Leiden zu mildern und das Dasein der Kranken nach Mög- 
lichkeit zu verlängern. Freilich sind die Erfolge in zwei 
Dritteln aller inoperablen Fälle nur vorübergehender Natur 
und werden es solange bleiben, als es der neuzeitlichen 
Medizin nicht gelungen ist, ein wirklich erfolgreiches Palliativ- 
mittel gegen die Krebsinfektion zu finden. 

Daß das Uteruscarzinom allein an das Eintreten der 
Menopause gebunden ist, wird durch die Erfahrung nicht be- 
stätigt. Uterustumoren und krebsartige Neubildungen sind 
in allen Lebensaltern beobachtet worden, und erst kürzlich 
hat Paul Hoffmann in seiner instruktiven Dissertation „Über 
maligne Tumoren im Kindesalter“ (gemeint sind die Jahre 
zwischen 2—12), gehandelt. Statistiken, wie sie Gusserow, 
Tanchon, Sibley, Lebert, Chiari u. a. bieten, verzeichnen das 
Auftreten von carzinomatösen Neoplasmen bei Frauen von 
20—70 Jahren, wobei allerdings die meisten Erkrankungen 
auf die Jahre zwischen 40 und 50 fallen. Es liegt mithin auf 
der Hand, daß in der Menopause die Frau in hervorragender 
Weise für die Erwerbung des Gebärmutterkrebses disponiert 
ist bezw. daß gewisse Krankheiten dem Ausbrechen des Uterus- 
carzinoms im Klimakterium den Boden vorbereiten. So soll 
nach Baer und Leopold eine präklimakterisch oder im Klimak- 
terium auftretende Endometritis fungosa den Übergang zum 
Gebärmutterkrebs bilden. Kisch findet den Grund für das 
häufige Auftreten des Uteruscarzinoms in dieser Periode in den 
anatomischen Veränderungen des Genitale, die zur Zeit der 
Involution für bösartige Wucherungen einen vortrefflichen Nähr- 
boden abgeben, bezw. in dem Verlust der sauren, bakterien- 
tötenden Beschaffenheit des Sekretes der Vagina, wodurch 
gewissen Mikroorganismen die Eingangspforte geöffnet ist. 

Soviel steht fest, daß von allen Frauen, die mit einem 
Uteruscarzinom behaftet, sich der ärztlichen Behandlung dar- 
bieten, die meisten die ersten Symptome erst geraume Zeit 
nach dem Aufhören der Menses und in einem Stadium wahr- 
nehmen, wo eine radikale Ausheilung oder eine örtliche Be- 
schränkung des Wucherungsherdes leider nicht mehr möglich 
ist. Die Sympiome, die das Uteruscarzinom anzeigen, nehmen 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 175 


erst, wenn das Krebsgeschwür bereits lange besteht, einen 
eindeutigen Charakter an. Solange die Neubildung nicht zer- 
fallen ist, zeigen sich überhaupt keine, oder nur ganz gering- 
fügige Beschwerden, die meist auf andere Gründe zurück- 
geführt werden. Das erste typische Symptom ist die Blutung 
aus den Genitalien, die jedoch von den meisten Frauen mit 
Vorliebe als verspätete Regel gedeutet wird. Atypische Blutungen 
in der Menopause jedoch lassen fast immer mit Bestimmtheit 
auf das Vorhandensein geschwüriger Wucherungen schließen. 
Dem blutigen Ausfluß gesellt sich im Laufe der Zeit 
ein fleischwasserähnlicher hinzu, der immer nach dem 
ersteren zu konstatieren ist, und ursprünglich keinen oder 
nur einen ganz geringen Geruch aufweist. Von dem Moment 
an, wo das Krebsgeschwür zu zerfallen beginnt, wird dieser 
fleischwasserähnliche Ausfluß widerlich stinkend, bräunlich 
mißfarben, und ist von schwärzlichen Gewebsbröckeln unter- 
mischt. Während der anfänglichen Blutungen, welche fast 
immer nach stattgehabtem Coitus auftreten und wenig oder 
garnicht beachtet werden, führen das Auftreten des übelriechenden 
fleischwasserähnlichen Ausflusses und die damit verbundenen 
heftigen Schmerzen in Kreuz- und Leistengegend die Patientin 
zum Arzt. Hierbei ist in erster Linie der Schmerz merkwürdig, 
über den die Patientin klagt, obwohl er durchaus kein kon- 
stantes Symptom der Gebärmutterkrebserkrankungen bildet. 
Er kommt durch krebsige Infiltration des Beckenbindegewebes 
zu Stande und nimmt, je nach Verbreitung der Krebsinfiltration, 
an Intensität zu. Vielfach ist er auch garnicht vorhanden. 
Das sind namentlich die Fälle, wo Blutung und Jauchung ohne 
Rücksicht auf therapeutische Maßnahmen fortbestehen und in 
denen nur eine geringe Infiltration des Beckenbindegewebes 
nachweisbar ist. Häufig zeigt er auch eine entstehende Peri- 
tonitis an, die durch das Heranrücken der Krebserkrankung 
an das Peritoneum hervorgerufen wird. Bei Ausbreitung des 
Carzinoms über die Umgebung des ursprünglichen Herdes 
hinaus, kann es ferner zu Blasenentzündungen und Blasen- 
scheidenfisteln, zu Hydronephrose und Urämie kommen. 
Auch Bildung von Blutknoten und Schwellungen an den Füßen 
können mitunter auf den Druck zurückgehen, den die wuchernden 
Krebsmassen auf gewisse Venen ausüben. Nicht selten stellt 
sich ein chronischer Magenkatarrh ein, der von einem heftigen 


176 GESCHLECHT UND OESELLSCHAFT 


Ekelgefühl und Erbrechen der genossenen Speisen begleitet ist. 
Die Folgen der Blutungen, des Ausflusses, der Schmerzen, 
des Katarrhıs und der ungenügenden Speisenaufnahme sind das 
Zusammenfallen des ganzen körperlichen Organismus, die be- 
stimmte Mißfarbe und Schrumpfung der Haut und die sonstigen 
Beschwerden, die ein anschauliches Bild der fortschreitenden 
Krebskachexie bieten. Der Ausgang ist in allen schwierigeren 
Fällen ein tödlicher. 

Häufig vergehen von dem Beginn der ärztlichen Behand- 
lung bis zum Tode der Patientin nur wenige Monate, für 
gewöhnlich stellt sich der Tod ein bis anderthalb Jahre nach 
dem Auftreten der ersten Symptome ein. In der Therapie kommt 
es hauptsächlich darauf an, daß der Arzt die beginnende krebsige 
Neubildung rechtzeitig erkennt und den Krankheitsherd nach 
Tunlichkeit zu beschränken sucht. Jede Frau, die eine ent- 
sprechend lange Zeit nach dem Ausbleiben der letzten Regel 
wieder zu bluten anfängt, ist des Carzinoms verdächtig und 
verlangt eine gründliche Untersuchung in der Narkose, der 
eine entsprehend umfassende operative Behandlung folgen muß. 

Während die ältere Schule inoperable Fälle auf die bekannte 
Weise oder höchstens durch eine Exstirpation des Uterus zu 
korrigieren trachtete, legen jüngere Gynäkologen den Haupt- 
akzent auf eine Therapie, die das Ende nach Tunlichkeit lange 
hinausschiebt und der Patientin die Ertragung der Schmerzen 
leichter macht. Über diesen Gegenstand hat kürzlich Czempin 
im „Ärztlichen Praktiker“ ausführlich gehandelt und eine 
Reihe praktischer, diesbezüglicher Maßnahmen empfohlen. 
Pflicht des Arztes ist nicht, den Kranken über die Unheilbar- 
keit seines Leidens zu belehren, bezw. ihn in die Sicherheit 
zu wiegen, daß ein zeitweise verschwundenes Carzinom nicht 
wieder rezidiert, sondern ihm zu helfen, und alles, was seinen 
Zustand dauernd erträglich schaffen kann, anzubahnen. Denn 
das Gewissen des Arztes ist auch der Maßstab für seine 
Tüchtigkeit und seine Erfolge. Dr. J. S. 


H 8 
EI 









KARZINOM DER PORTIO UTERI. Von der Oberfläche (0) 
GE dringen zahlreiche solide Krebsstränge 
in die Tiefe. 











BLUMENKOHLGESCHWULST DES UTERUSHALSES. 
(Spiegelbild). Nach Fehling, Lehrbuch der Frauenkrankheiten. 


Zu dem Aufsatz »Der Gebärmutterkrebs-, Seite 172. 





DIE JAGD NACH DEM MANN. Von F. von REZNICEK. („Миг {ев 
spritzen, Mama! Mit der Witterung kriegen wir jeden Fuchs ins Eisen“). 


Aus „Verliebte Leute“, Verlag von Albert Langen, München. 
Zu dem Aufsatz »Die Jagd nach dem Mann«, Seite 210. 





ZUR FUNKTION 


DES GESCHLECHTLICHEN SCHAMGEFÜHLS. 


Von Dr. MAX SCHELER, Berlin. 
(Schluß.) 


Mis ordnet sich nun das Schamgefühl dem Spiel dieser 
so verschiedenen Triebkräfte und Akte ein? Daß es schon 
bei der Ausbildung des Geschlechtstriebes und zwar der 
Richtung und Konzentration der libidinösen Regung auf 
1. andere Wesen überhaupt durch Erlösung vom Autoerotismus 
(altruistische Wirkung des Schamgefühls), 2. auf gegen- 
geschlechtliche Wesen (durch Freisetzung geschlechtlicher 
Sympathie) eine unumgängliche Rolle spielt, hatten wir schon 
oben gezeigt. Nennen wir diese seine Leistung seine 
Primärleistung. Sie setzt sich das ganze Leben fort und 
ist an die Phase der Geschlechtsreife so wenig gebunden, als 
sie mit der Beendigung durch Potenzverlust und Verlust der 
Gebärfähigkeit erlischt. Denn die Libido ist von Geburt bis 
Tod vorhanden und nur ihr jeweiliges Maß, die Erregbarkeit 
gegen Wollustreize, schwankt mit diesen Phasen quantitativ 
und örtlich in typischen Grenzen. Die Männer verlieren darum 
mit Eintritt der Altersimpotenz so wenig das sexuelle Scham- 
gefühl wie die Frauen nach Eintritt des Klimakteriums. Dieser 
„Primärleistung“ schließt sich als Sekundärleistung 
zunächst an die Verschiebung des Zeitpunktes der 
normalen erstmaligen Befriedigung des schon gebildeten 
Geschlechtstriebes in die Zeit genügender Geschlechtsreife 
und die zeitliche und zahlenmäßige Regelung der Geschlechts- 
akte (Unterschied der „jungfräulichen“ Scham und der Scham 
der Frau, bezw. des Mannes). Auf die Analyse der jungfräu- 
lichen Scham ist bisher, relativ zu den anderen Arten der 
Scham, eher ein übertriebener als ein zu geringer Wert gelegt 
worden. Viele Forscher sprechen so, als ob die Scham die 
einzige oder doch primärste Funktion habe, die (materielle) 
„weibliche Unschuld“ möglichst lange zu erhalten. Mit dieser 
Oeschlecht und Gesellschaft, VIII, 5. 12 


178 OESCHLECHT UND OESELLSCHAFT 


Übertreibung verfielen sie aber nur einer zum Teil sozial- 
utilistischen Wertung der Scham, die wieder auf die hohe 
Wertung zurückgeht, die der Mann bisher im allgemeinen der 
Unberührtheit bei der Wahl der Ehegenossin beilegte. Denn 
gerade jene besondere „Herbe und Sprödigkeit“, die man der 
jungfräulichen Scham mit Recht beilegt, ist meines Erachtens 
keine Eigenschaft dessen, was die reine Scham bei dem jung- 
fräulichen Verhalten bewirkt, sondern ergibt sich durch die 
stets vorhandene Beimischung von Angst-, Furcht- und Ekel- 
gefühlen zur Scham (im jungfräulichen „Wehren“); dazu 
tritt der natürliche Rhythmus der Koketterie, des automatischen 
rhythmischen Spielens von Hingabe und Entziehung, das, wie 
wir früher sahen, nur makroskopisch den Rhythmus des Kitzel- 
gefühls und der ihm angemessenen Reizart (der rhythmischen 
Bewegung) wiederholt, und im Falle der Jungfrau noch 
gesteigert ist (man beachte hier den Ausdruck des „Scham- 
gelächters“ und „Kicherns“, das weit mehr auf die Koketterie als 
auf die Scham fällt, und den Ausdruck es oft mit ihm ab- 
wechselnden Weinens und Zitterns bis zum Frostgefühl und 
Zähneklappern, die wieder auf die Furcht und Angst-Kompo- 
nente des Gesamtzustandes fallen). Soweit dieser jungfräu- 
lichen Abwehr, Furcht und Angst vor dem „Unbekannten“ 
dessen, was geschehen soll, häufig gesteigert von Furcht vor 
den mit dem Verlust der materiellen Unschuld verbundenen 
Schmerzen und den Resten des vor dem Eintritt der vaginalen 
Empfindung aus der Phase bloßer Clitoriserregbarkeit typisch 
vorhandenen Ekels vor dem Geschlechtsorgan zugrunde 
liegen, ist denn auch charakteristischerr Weise — wo 
über das Vorhandensein der Geschlechtsliebe völlige Klarheit 
besteht — dieses „Wehren“ immer von dem stillen Wunsche 
begleitet, daß es der Mann besiege; und der Mann erfüllt nur den 
tieferen Willen des Weibes, wenn er es auch mit Anwendung 
von einiger Gewalt tut. Dagegen kann ich nur einen tiefen 
Irrtum vieler Forscher darin sehen, wenn sie sagen, es läge 
im Wesen auch des Schamgefühls und seines Ausdrucks, daß 
das jungfräuliche Individuum seine Überwindung wolle. Was 
in solchen Fällen wirkliches Schamgefühl ist, das wird durch 
Gewalt nur und allein — oft unheilbar verletzt. Auch dies 
muß zurückgewiesen werden, daß es den Trieb nach Über- 
wältigung seitens des Mannes steigere (wenigstens innerhalb 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 179 


der normalen Breite); wird das Schamgefühl und sein Aus- 
druck überhaupt „verstanden und nachgefühlt“, so fehlt ihm 
jede Spur dieser Wirkung, deren Ursache vielmehr durchaus 
die natürliche Koketterie der momentanen Entziehung ist. 
Wirkliches und echtes Schamgefühl wirkt zwar — wie 
schon früher gesagt — liebreizend (und wird auch nur durch 
gesteigerte Liebe und sie bedingende Gegenliebe überwunden, 
ohne verletzt zu werden), nie aber trieb- und sinnesreizend; 
und auch diese liebreizende Wirkung hat es nur, soweit ent- 
schiedene Gegenliebe noch nicht zu entschiedenem Ausdruck 
und zur Feststellung gelangte. Ist hingegen diese Feststellung 
erfolgt, so kann zwar jener obengenannte Komplex von Furcht, 
Angst und leisen Ekelgefühlen immer noch da sein, und dies 
in beliebig hohem Grade; und auch bei beliebig starkem 
Wehren wird auch der schamhafteste Mann jenes Wehren mit 
Gewalt besiegen dürfen. Ist hingegen bei also festgestellter 
und geglaubter Gegenliebe faktisch Scham und pure Scham 
im weiblichen Verhalten, so wirkt diese weit eher beleidigend 
als anreizend, da sie als gefühlsmäßig erfaßtes Zeichen der 
Unentschiedenheit und Unsicherheit der Liebe selbst jene 
frühere Feststellung und den Ausdruck, auf dem sie beruhte, 
in berechtigten Zweifel setzt. Es ist aber ein großer Irrtum, 
daß alles jungfräuliche Wehren auf Scham beruhe. Der Jüng- 
ling empfindet das, was dabei faktisch auf Scham beruht, nicht 
minder, ohne doch (abgesehen von der Angst vor dem Neuen 
und Unbekannten) die anderen Gefühlskomponenten zu erleben, 
die im jungfräulichen „Wehren“ liegen. Es ist freilich, wie 
sich z. B. im Vergewaltigungsverbrechen, besonders gegen 
unberührte Individuen, und seiner richterlichen Konstatierung 
zeigt, im konkreten Falle äußerst schwierig, zu entscheiden, 
was bei dem Widerstreben auf Kosten eines kühlen zentralen 
„Nichtwollens“, was auf Kosten jener auch die liebevollste 
Einwilligung der Frau begleitenden Angst, Furcht und leisen 
Ekelreaktionen, und was auf Kosten der eigentlichen Scham 
kommt. Aber es ist auch hier die oft geäußerte Meinung 
abzuweisen, daß bloßes „Schamwehren“ (im Unterschied zu 
entschiedener Ablehnung und kühlem „Ich will nicht“) den 
Tatbestand der Vergewaltigung ausschließe; denn — meint 
man — da Scham eine Regung des Geschlechtstriebes ein- 
schließe und der sich schamhaft Wehrenden nur geschähe, 
12* 


180 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


was sie im geheimen ja doch selbst wolle, gälte hier: Volenti 
non fit injuria. Dies ist irrig. Denn Schamablehnung ist da, 
wo die Scham echt ist und nicht nur Koketterie oder jenes 
auf die Person gar nicht abzielende Furchtwehren stattfindet, 
durchaus auch für das Wollen bestimmend. Darum ist auch 
bei starkem Schamwehren der Tatbestand der Vergewaltigung 
gegeben. Aus diesem Grunde hat das Schamgefühl denn 
auch in seiner Sekundärleistung durchaus nicht bloß für die 
Jungfrau und den Jüngling jene wesentliche Rolle, die ihm 
eine bloß utilitarische Verwendung seiner für eine gute 
Versorgung seitens der Älteren zuzuschreiben pflegt. Wenn 
insbesondere die jungfräuliche Scham in den modernen 
Gesellschaften so viel höher gewertet wird als die Scham des 
Jünglings, so ist dies nur insofern berechtigt, als die Scham 
des Weibes (aus später anzugebenden Gründen) in der Tat 
eine höhere Schätzung darum verdient, da ihre viel wesent- 
lichere und darum auch natürlich verantwortlichere Rolle bei 
der Fortpflanzung (gegenüber jener des Mannes) ihrer Scham 
noch einen Wert hinzufügt, der über den Wert der sinnvollen 
Einschränkung des Geschlechtstriebes noch weit hinausgeht 
(ein Wert, der ihrer Scham ja gleichfalls zufällt); durchaus 
nicht aber darum, weil das Mädchen eine feststellbare 
„Unschuld“ zu verlieren hat, die beim Knaben fehlt. Ja man 
muß im Gegenteil sagen, daß diejenige „Scham“, die mit der 
materiellen Unschuld verschwindet, bestimmt auch vorher keine 
echte Scham, sondern nur jene „Furcht“ und jener „Ekel“ 
war; und daß die Scham der Frau von vornherein das 
Zutrauen verdient, daß sie weit reiner ist als die des Mädchens, 
das sich nur zu oft Furcht, Angst und jene Aversionsreste 
der Zeit vor der Pubertät als „Scham“ auslegt, wenn nicht 
gar bloß utilitarische Berechnung auf den puren Kapital- und 
Nutzwert ihrer Jungfrauschaft Scham vortäuscht.') Nichts 
ist ja klarer, als daß das Mädchen, dessen Herz noch „frei“ ist, 
nach der ernsten und in den Tatsachen gegründeten Moral 
auch eine größere Freiheit verdient, als die Frau, deren Liebe 


1) Es gibt aus diesem Grunde in Paris z. B. sogar „unschuldige‘‘ Kokotten, die bis auf 
all das, was sie jenes Kapitales beraubte, alles nur Gewünschte an sich geschehen lassen und 
dies auch darum vermögen, da sie meist mit impotenten Lebemännern verkehren. Ja, vielleicht 
ist dieser Typ, der schon der ersten Möglichkeit, Mutter zu werden, prinzipiell aus dem Wege 
geht, der reinste Fall der Dirne überhaupt. Der Typ der „demivierge‘‘' bildet dazu einen 
Übergang, der sich meist mehr durch die Größe des Vermögens als durch das Sein des 
Menschen von jenem Typ unterscheidet. 


GESCHLECHT UND OESELLSCHAFT 181 


entschieden is. Wenn und soweit unsere Sozietät anders 
urteilt und z.B. der verheirateten Frau größere Freiheiten 
zuweist als dem Mädchen, so daß die Ehe, die doch — 
wesenhaft — eine auf Liebe gegründete Bindung darstellt, 
häufig gerade umgekehrt als ein Hort größerer Freiheit ge- 
sucht wird, sind die Gründe hierzu natürlich solche der denkbar 
niedrigsten utilitarischen Natur, die mit echtem Scham- 
gefühl auch nicht das mindeste zu tun haben; so sehr häufig 
sie sich in einer höheren Scheinschätzung der jungfräu- 
lichen Scham vor der Scham der Frau auch zu verstecken 
suchen. Das Prinzip, das zu diesem Urteil führt, ist vielmehr 
ein Prinzip der Schamlosigkeit, da es die Scham wie ein 
Etwas darstellt, das man mit seinen Brautkleidern ablegt. Die 
echte Scham dokumentiert aber ihre Echtheit eben darin, daß sie in 
der Ehenicht nur anderen männlichen Personen gegenüberbeharrt, 
— ja sogar sich reinigt —, sondern auch dem geliebten Ehege- 
nossen gegenüber für jede libidinöse Regung, die aus einer gestei- 
gerten Liebesregung herausfällt, verharrt. Denn das innere Ge- 
setz der Scham läßt jede Hingabe ohne momentaneLiebesregung, 
ohne Verlorensein in den Anderen, auch noch dem entschieden 
Geliebten gegenüber als „Schuld“ aufs Gewissen fallen. 
Dies Alles zeigt aber, daß jene der Scham zugeschriebene 
Sekundärleistung, den Termin des Verlustes der Jungfräu- 
lichkeit hinauszuschieben und weiterhin ddeZahl der Geschlechts- 
akte in einer Zeiteinheit zu vermindern, zwar statistisch 
existiert, daß es sich aber hierbei durchaus nicht um eine unmittel- 
bare, kausale Leistung der Scham handelt, sondern nur um 
eine mittelbare, wogegen die wahre Sekundärleistung der 
Scham in etwas Anderem besteht: in der Hemmwirkung, 
den Regungen des Geschlechtstriebes und des Fortpflanzungs- 
triebes nicht ohne vorangehende entschiedene Liebe 
(und momentane Liebesregung) zu folgen. Und nur darum, 
weil die entschiedene Liebe gegenüber einem Menschen so 
viel seltener und unwahrscheinlicher ist, als die Reizung der 
geschlechtlichen Neigung durch einen Menschen, und auch die 
jeweilige Regung der Liebe gegenüber einem entschieden 
geliebten Menschen so viel seltener und unwahrscheinlicher 
ist als die momentane Erregung des Triebes durch ihn, ergibt 
sich für den Durchschnitt der Fälle die Folge, daß das echte 
Schamgefühl einerseits die Jungfräulichkeit länger zu erhalten, 


182 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


andererseits die Zahl der Geschlechtsakte zu vermindern die 
Tendenz hat. 

Damit aber stehen wir erst vor der wahren, großen 
und kaum zu überschätzenden Sekundärleistung des 
Schamgefühls. Mit einem Worte: die Scham ist in dieser 
Richtung das „Gewissen der Liebe!“ Sie ist damit zugleich 
die große und einzige Einheitsstifterin zwischen unseren 
geschlechtlichen Trieben (Geschlechtstrieb und Fortpflanzungs- 
trieb) und aller höheren und höchsten Funktion unseres 
Geistes; das, was — sozusagen — die ungeheure Leere aus- 
füllt, die zwischen Geist und Sinnen gähnt: als habe sie vom 
Geist ihre Hoheit und ihren Ernst; von jener ihre Anmut 
und ihre einladende und zur Liebe verlockende Schönheit! 
Und je größer die Kluft in einem Menschen ist zwischen den 
Aspirationen seines Geistes und der Kraft seines Lebens und 
seiner Sinne, desto größer muß die Scham sein, um das 
Zerbersten der Person zu hemmen. Darum zeugt sie, wo sie 
sich ausgeprägt findet, immer im gleichen Maße von „Geist 
wie von Leidenschaft“. Und eben darin ist sie die reizendste 
und anmutigste Verräterin für die Spannweite der Naturen. 
Naturen von jener großen „Spannweite“ suchen sich vielleicht 
zuerst auf das Zeichen einer großen Scham hin! 

Die volle Bedeutung des Schamgefühls verstehen wir also 
erst dann, wenn wir in der Geschlechtsliebe die allem höheren 
Leben eigene Kraft erblicken, auf Grund der beiden großen 
Triebe (dem wesentlich weiblichen Trieb zur Fortpflanzung und 
dem wesentlich männlichen Geschlechtstrieb) und hindurch 
durch das vermittelnde Medium der geschlechtlichen Sympathie 
die für die Wertsteigerung des Lebens (im Gegensatz 
zubloßerErhaltung und zwar zur Individual- und Arterhaltung) 
geeignetsten Exemplare unter den Geschlechtspersonen aus- 
zuwählen! Geschlechts- und Fortpflanzungstrieb (isoliert 
und rein gedacht), als solche, würden zwar genügen, den 
menschlichen Typus fortzupflanzen. Aber da sie — sofern 
sie in Gedanken von der sie de fakto allerdings immer 
mehr oder weniger, wenn auch in noch so geringem Maße 
begleitenden Liebe streng geschieden werden — wahllos 
fungieren, so wäre in ihnen allein auch niemals eine Garantie 
für Steigerung des Lebens und für Steigerung seiner Macht- 
fülle und seiner Form gegeben. Das Stattfinden einer solchen 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 183 


wäre purer Zufall! Erst die Geschlechtsliebe ist es, die im 
Maße, als sie unvermischt mit anderen motivierenden Fak- 
toren erfüllt wird, und also z. B. keine Verwechslung ihrer 
mit einer vorhandenen bloß stark libidinösen Regung, mit 
allen Arten von utilitarischen Regungen (Geldehe, Klassenehe), 
mit intellektualer, moralischer und ästhetischer „Schätzung“, mit 
Ehrgeiz, Mitleid usw. stattfindet — und im Maße, als sie klar 
und entschieden auftritt, die — sage ich — aus all den- 
jenigen geschlechtlichen Verbindungen, die auf Grund jener 
beiden großen Triebe und der geschlechtlichen Sympathie 
„mögliche Verbindungen“ wären, jene Fälle unter ihnen 
auswählt und verwirklicht, welche die maximale Summe 
der Kombinationen der edelsten Lebensqualitäten zu neuen 
Ansatzpunkten für die Vererbung durch Fortpflanzung machen. 
D. h. erst die Geschlechtsliebe führt zur Hinaufpflanzung 
und zur biologischen Veredlung des Menschentypus. 
Nicht der Geschlechts- und Fortpflanzungstrieb! Die Geschlechts- 
liebe ist nicht wie die bloße „Geschlechtsmoral“ als indivi- 
duale, soziale und Rassenmoral (z. B. das moralische Verbot, 
Individuen mit erblichen Krankheiten, Syphilis, Tuberkulose 
usw. zu heiraten) eine Kraft, welche die individuale, soziale 
und Rassen,„gesundheit“ schafft und zu ihrer Erhaltung bei- 
trägt. Denn „Gesundheit“ ist auch noch als Rassengesundheit 
(die selbst wieder von „Volksgesundheit“ ganz verschieden ist, ja 
oft durch Maßnahmen, die der letzteren dienen und sie fördern, 
gehemmt wird) immer ihrem Wesen nach ein bloßer vitaler 
Erhaltungswert, nicht aber ein Steigerungswert. Ge- 
schlechtsliebe aber ist das, was uns die möglichen 
Steigerungswerteineinem organisations- undartmäßig 
abgegrenzten Lebensspielraum nicht etwa nach objek- 
tiven Merkmalen und „Gründen“ „beurteilen“, sondern 
anticipatorisch vorausschauen und vorausfühlen läßt! 
Darum sind alle sexuelle Moral und Hygiene — so eminent 
wichtig sie sind — doch ihrem Wesen nach negativ, ein 
System, das auch in idealer Vollkommenheit festgestellt und 
praktiziert nur ein System von Verboten wäre, deren ge- 
horsame und gewissenhafteste Ausführung nie mehr gewähr- 
leisten könnte, als die Erhaltung bereits vorhandener 
Erbwerte; niemals aber die Steigerung möglicher Erbwerte 
und die Erwerbung neuer Erbwerte. Alle Moral und Hygiene 


184 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


sagt uns nur, mit wem und wie wir uns nicht vermischen 
dürfen, sollen die gegebenen vitalen Werte unserer Art 
(die Individual-, Sozial- und Erbwerte) nicht vermindert 
werden; aber sie sagt uns nicht und kann uns nie sagen, 
mit wem wir uns vermischen sollen, innerhalb jenes Spielraums, 
der auch bei striktestem Gehorsam und bei ideal richtiger 
Feststellung ihrer Normen noch übrig bleibt, und welche Wahl 
die für die Erhöhung und Veredlung des Menschentypus 
positiv beste sei. Denn eben für diese Wahl gibt es keine 
„moralische“ und „hygienische“ oder auf wissenschaftliche Be- 
trachtung der objektiven Merkmale der Individuen aufgebaute 
Instanz mehr, sondern nur noch die Geschlechtsliebe 
selbst, die den Plan für die besten und schönsten möglichen 
Exemplare des Menschentypus gleichsam vorher entwirft, 
und damit allein das verwirklicht, was noch nie „erfahren“ 
werden konnte, da die Geschlechtsliebe für die bloße Möglich- 
keit solcher Erfahrung die ewige konstitutive Bedingung 
bildet. Wenn die Geschlechtsmoral die Taktik des Lebens- 
prozesses, der sich durch die Individuen hindurch zu immer 
neuen Formen und Gebilden hin bewegt, ist und sein sollte, 
so ist die Geschlechtsliebe sein strategischer Genius! Wenn 
jene eine moralische und hygienische Funktion ausüben, so 
ist es erst diese, die eine eugenetische ausübt. „Nicht die Zu- 
sammensetzung der künftigen Generation“ (wie z. B. Schopen- 
hauer sagt) entscheidet sich in den Regungen der Geschlechts- 
liebe; denn wenn deren Dasein schon durch Geschlechtstrieb 
und Fortpflanzungstrieb garantiert ist, so ist ihre „Zusammen- 
setzung“ überhaupt durch eine ungeheure Menge ganz ver- 
schiedenartiger Motive bestimmt, all jener eben, die über- 
hauptzu außerehelichen und ehelichen Geschlechtsverbindungen 
führen, z. B. auch durch ökonomische, der Sphäre der Eitelkeit, 
des Ehrgeizes usw. usw. angehörige Motive und Kräfte. Was 
die Geschlechtsliebe vielmehr allein in der Zusammen- 
setzung der künftigen Generation entscheidet, das ist deren 
möglicher biologischer Mehrwert über die gegebene 
Generation hinaus oder deren möglicher Steigerungswert 
dieser Generation! Mäße man die Geschlechtsliebe bloß 
im Sinne positiv-wissenschaftlicher Biologie von der Erhal- 
tung der Art als Grundwert, so müßte sie dagegen im 
höchsten Maße als unzweckmäßig erscheinen. Aber die 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 185 


Wissenschaft hat es auch hier immer nur mit dem „Gewordenen“ 
zu tun und das „Werden“ ist für sie nur die künstliche hypo- 
thetische Ergänzung der unterscheidbaren Phasen innerhalb 
einer Strecke des „Gewordenen“. Erst die philosophische 
Biologie lenkt den Blick auf das Werden, auf Form und 
Art des Werdens jedes Gewordenen selbst (auch auf die 
Werdensart des im Reiche der Vergangenheit Gewordenen)! 
Vom Standort dieser Gebanntheit der Wissenschaft auf das 
„Gewordene“ ist es aber klar, daß die Geschlechtsliebe geradezu 
artschädlich erscheinen muß! Ganz abgesehen davon, daß sie 
gerade in ihren reinsten Typen so häufig zum Tode führt 
(wie tief ist von Wagner im Tristan dieses ihr immanente 
tragische Verhängnis dargestellt!) und auch nach den nüchternen 
Zahlen der Statistik gerade die blühendste Jugend vor einem 
Fortpflanzungseffekt dahinrafft, das schöne Bild eines schöneren 
reicheren Lebens, das jene in ihrer Liebe und Not erblickten, 
vor seiner Verwirklichung also — vernichtet, bewirkt sie jaschon 
durch ihr Dasein überhaupt und im Maße als sie vorhanden 
mit der Individualisierung auch eine Ausschließlichkeit 
des geschlechtlichen Anhangens, das die Größe der Menge mög- 
licher Variationen der ohne sie Gezeugten oder derer, die ohne 
Liebe von den betreffenden Individuen zeugbar gewesen wären, 
gewaltig vermindert; eben damit aber auch die artsteigernde 
Kraft der „Selektion des Passenden“ notwendig einschränkt, 
indem sie die Zahl der zufälligen Variationen (der Keim- 
variationen und ÖOrganvariationen) als das Material für die 
Selektion ungemein vermindert. D. h. vom Standpunkt des 
puren Selektionismus ist die Liebe der Geschlechter bis zum 
äußersten dysteleologisch und schädlich. 

Solange man sie daher nur im Dienste der Lebens- 
erhaltung befindlich ansieht, und in der Theorie 
der Lebensentwicklung alle Entfaltungswerte auf Epiphä- 
nomene zu Erhaltungs werten, allequalitative Wertsteigerung 
des Lebens nur auf Erhaltung der „zufällig“ bestangepaßten 
Variationen zurückführt und so die Qualität des Fortschrittes 
(und Rückschrittes) zu einer bloßen Funktion der Quantität 
der Keime und der Erzeugten macht, muß die Geschlechtsliebe 
nur wieeine ganz sinnlose,absurde, zufällige Fixierung des 
Geschlechtstriebes (bezw. Fortpflanzungstriebes) erscheinen —, 
im höchsten Maße abträglich dem biologischen Prozesse 


186 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


der Entwicklung. Faktisch aber ist die Geschlechts- 
liebe nicht eine Funktion des Lebens unter anderen Funk- 
tionen, sondern das Leben selbst in seiner höchsten Po- 
tenzierung und Verdichtung, zu dessen Dienstleistung 
alles andere vitale Tun und Treiben des Individuums da ist; 
nicht also ist sie Mittel für anderweitige vitale Zwecke, 
sondern der tiefste Sinn und höchste Wert des vitalen Pro- 
zesses selbst, gleichzeitig aber auch „Mittel“, — sofern sie 
nämlich nicht auf gegebene Zwecke, sondern auf die mögliche 
Steigerung des Lebens über die Werteigenschaften aller seiner 
bisherigen Träger hinaus bezogen wird. Und faktisch ist Entfal- 
tung und Entwicklung nicht ein „Epiphänomen“ zu bloßen Er- 
haltungsprozessen, sondern alle bloße „Erhaltung“ ist schon 
ein Phänomen des Absterbens, der Entspannung der Lebens- 
energie durch eine lebenfixierende Anpassung an die Welt 
des Toten!!) Daher erscheint unter richtigen Grundauffassungen 
des Lebens und seiner Entwicklung die Geschlechtsliebe ge- 
gerade als die eigentliche Kraft des Vorstoßes zum höheren 
und wertvolleren Rassentypus, als ein Vorstoß, der neue 
Menschenwerte produziert, während Geschlechtstrieb und 
Fortpflanzungstrieb auch im besten Falle nur die vorhandenen 
Menschenwerte zu reproduzieren vermögen. Die Geschlechts- 
liebe istalso das dynamische Prinzip in der Lebenserneuerung, 
wogegen jene Triebe nur deren statische Prinzipien dar- 
stellen! Gewiß ist die entschiedene Geschlechtsliebe wenigstens 
in ihren reinsten und großartigsten Erscheinungen eine über- 
aus seltene Sache, ja im Grunde nur die Sache einer kleinen 
Aristokratie von Menschen, von der außerdem noch ein gut 
Teil an der Verwirklichung des in der Liebe vorgefühlten 
neuen Werttypus scheitert und bei der bestehenden Deckung 
der jeweilig niedrigeren Systeme von Werten mit den jeweilig 
am allgemeinsten verbreiteten auch scheitern muß (worin 
der dauernde Ursprung der ihr immanenten Tragik liegt) 
Und doch ist diese kleine „Aristokratie“ jeweilig der Vormarsch 
innerhalb des Zuges der Rassen und Völker zu höherwertigen 
Arttypen! Und auch alle übrigen Menschen zehren schließ- 
lich vonden(indirektauch dieGeisteskulturfördernden)Leistungen, 
die dieser höherwertige Arttypus vollbringt. Denn schließlich 


1) Viel Richtiges enthält in diesen Grundfragen der Biologie das Buch Henri Bergsons 
„L'’Evolution Creatrice“ (Paris, Felix Alcan). 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 187 


sind alle Kräfte, welche die Umwelt des Menschen aktiv 
formen und erweitern im Unterschiede von jenem In- 
begriff anderer Kräfte, die nur reaktiv sich an gegebene und 
schon von jenen Kräften abgesteckte und geformte „Um- 
welten“ anpassen, Tradirtes bewahren und ausnutzen — d. h.: sind 
die Tüchtigkeiten der „Eden“ und „Herrn“ im Unterschied von 
der Tüchtigkeit der „Gemeinen“ und der „Sklaven“ oder — wie 
ich sie anderen Orts nannte —, die „edlen“ Fähigkeiten gegen- 
über den „gemeinen“, auch die Kräfte und Eigenschaften 
jenes höherwertigen Arttypus, der durch die auf der Geschlechts- 
liebe beruhende Blutmischung erzeugt wird!). Andererseits 
aber darf über jene ausgeprägten und in die geschichtliche 
Erinnerung eingegangenen reinen Beispiele der edlen, groß- 
zügigen, leidenschaftlich bewegten Geschlechtsliebe („amour 
passion“) nicht vergessen werden, was dieselbe Kraft (die ja 
ihrer Natur nach jenseits aller Öffentlichkeit und jenseits des 
kleinen Winkels des Menschenlebens arbeitet, der noch in den 
Kreis der historischen Erinnerung intensiv und extensiv fällt) 
in geringerem Maße — und ohne den ganzen Lebensgang der 
Beteiligten sichtbar zu bestimmen —, immerfort und stündlich 
bewirkt. Die mangelhafte sprachliche Scheidung von Ge- 
schlechtsliebe und Geschlechtstrieb (resp. Fortpflanzungstrieb), 
nach der wir bald „Geschlechtsliebe“ jede stärkere Regung 
des Geschlechtstriebes (ohne ausgesprochenes Fehlen der ge- 
schlechtlichen Sympathie) nennen, wenn nicht gar schon jede 
libidinöse Regung, die als solche doch stets objektlos ist — 
andererseits aber auch schon die — wenigstens — primitiveren 
Wahlfunktionen im Geschlechtsleben dem puren „Triebe“ auf- 
bürden, bringt eine Reihe schwerer Irrtümer mit sich: Einmal 
den von vielen Rassepolitikern ausgesprochenen Gedanken, die 
Geschlechtsliebe könneeinepositivwertige Fortpflanzung nicht 
garantieren, da sie von ganz „unberechenbaren“ Faktoren ge- 
leitet sei, z.B. zwischen ‘gesunden und kranken Individuen 
nicht scheide, einseitig auf sinnliche Reize reagiere usw.; so 
daß man sie weit besser durch eine nach objektiven wissen- 
schaftlich faßbaren Merkmalen ausweitende Politik ersetze. Wo 


1) Mit Recht führt J. Marley die Überlegenheit des angloamerikanischen Typus auf 
den Ausschluß von Geldheiraten zurück. Die Verbreitung der Oeldheirat einerseits, das Über- 
wiegen bloß sinnlicher Genußmotive andererseits bei Blutmischungen ist auch die tiefste Ur- 
sache des langsamen Zusammenbruchs des europäischen Adels und der ihm zugehörigen Werte 
und damit des steigenden Sieges der Werte der Gemeinen. Siehe hierzu mein Buch: „Ressenti- 
ment und moralisches Werturteil“. » 


188 “ GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


aber die Geschlechtsliebe — wie man sagt — „auf sinnliche 
Reize äußerlich reagieren“ soll, da ist es eben faktisch nicht die 
Geschlechtsliebe, die reagiert, sondern die bloße libido — 
auch wenn das Individuum durch eine Selbsttäuschung das 
Gegenteil meint — oder es sind jene „sinnlichen Reize“ gleich- 
zeitig auch Symbolwerte für auch objektiv bestehende posi- 
tive Lebenswerte! Daß es auf individuelle, biologische 
Werte — nicht vererbbare Krankheit — aber der Ge- 
schlechtsliebe nicht ankommt, das liegt — in den Grenzen, 
in denen dies zu sagen berechtigt ist — daran, daß diese als 
solche für die Gestaltung der künftigen Generation so wenig 
Bedeutung hat, wie z.B. auch die „Volksgesundheit“, die von 
der Rassengesundheit ja streng zu scheiden ist, für die Rassen- 
gesundheit hat. Rassenerkrankung oder Degeneration aber 
pflegt in ihren äußeren Symptomen auch für die normale Ge- 
schlechtsliebe schon ein weit sehr starkes Moment der Ab- 
stoßung zu sein; andererseits aber ist sie selbst erst eine Folge 
von Ehen nnd Geschlechtsverbindungen der Vorfahren, in 
denen die Geschlechtsliebe keine genügende motivierende 
Rolle spielte!). Wenn schließlich die Geschlechtsliebe des aus- 
gesprochen kranken Lebens im Individuum (nicht des kranken 
Individuums, das ja auch Träger eines an sich gesunden 
Lebens sein kann) ihrerseits auch wiederum das Kranke sucht 
(nach Charkots „Les nerveuses se cherchent“, das besonders 
für die Geschlechtsverbindung gilt), so ist die Geschlechtsliebe 
auch in diesem Falle eine von der Selektion sehr unter- 
schiedene positive und gleichsam potenzierte Kraft, krankes 
Leben aus der steten Lebenserneuerung auszuscheiden, und 
darum gleichfalls im höchsten Maße biologisch sinnvoll und 
zweckmäßig. 

Will man aber andererseits die ganze positive Leistung 
der Geschlechtsliebe beurteilen, so muß man auch schon ihre 
ganz rohen, einfachsten Leistungen und die Leistungen, die 
schon ihre primitivsten Regungen über die bloßen Triebe 
hinaus besitzen, ihr aufs Konto schreiben. Denn nicht erst 
in der Liebe des Romeo zur Julia, sondern schon in dem 
primitivsten Vorzug, den die Jugend vor dem Alter, die 
Frische vor der Mattheit, die leibliche Schönheit vor der Häß- 


ı) Daß auch der letzte von aller Sitte und wechselnden Rechtsinstitutionen ganz unab- 
hängige natürliche Grund und die natürliche Sanktion der Inzestschranke die Oeschlechtsliebe 
ist, kann hier nicht gezeigt werden. 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 189 


lichkeit, die Eigenrasse vor der Fremdrasse etc. in der 
Geschlechtswahl genießen, liegen Leistungen nicht des 
Geschlechtstriebes oder gar der ihn mitbedingenden Libido 
vor, sondern bereits die einfachsten und primitivsten 
Leistungen der Geschlechtsliebe. Man denke oder versuche 
sich doch nur zu denken eine Menschengruppe, die sich ohne 
diese unmittelbaren Führungskräfte bei auch noch so gesteigertem 
Geschlechts- und Fortpflanzungstrieb auf Grund bloß „wissen- 
schaftlich“ gegründeter Werturteile über den biologischen Wert 
der betreffenden Menschenexemplare; zu behelfen hätte! 
Welcher Abgrund von Komik und Absurdität! Faktisch also 
ist in allen konkreten geschlechtlichen Erlebnissen immer Trieb 
und Liebe (sowie Libido und Sympathie etc.) inirgend welchen 
Maßen gleichzeitig vorhanden und die Erscheinung eines puren 
Geschlechtstriebes, der sich ganz wahllos alles Anders- 
geschlechtlichen zu bemächtigen suchte oder erst vor Motiven 
der Moral, der Gesundheit, der Nahrung usw. eingeschränkt 
wäre, ist eine ebenso seltene und auch dann nur nie ganz 
reine Erscheinung wie die ausschließliche „grande amour“ 
eines Mannes zu einem Weibe, die ihrerseits wieder vom Grade 
der libidinösen Empfindlichkeit, vom Grade des Triebes und 
selbst von dem der geschlechtlichen Sympathie weitgehende 
Unabhängigkeit zeigt. 

Nun aber erst wird die Sekundärleistung des geschlecht- 
lichen Schamgefühls voll verständlich. Sie besteht darin, daß 
das Schamgefühl nur insoweit und solange Ausdruck und 
Auswirkung des Triebes (des Geschlechtstriebes und Fort- 
pflanzungstriebes) zurückhält, als die Geschlechtsliebe diese 
ihre entscheidende Wahl noch nicht eindeutig vollzogen hat. 
So ist die Scham gleichsam die Puppenhülle, in der die 
Geschlechtsliebe bis zu jener Reife wächst, in der sie die 
Scham durchbricht! Und als diese zurückhaltende Kraft nicht 
des Triebes selbst, den sie voraussetzt, sondern der Regung 
des Triebes ist sie die bedeutsamste Hilfskraft für die Er- 
zeugung der edelsten möglichen menschlichen Typen! 
Darum ist die hohe Wertschätzung des Schamgefühls und 
jede Bewahrung seiner vor Verletzung eine eminente sittliche 
Forderung und es ist bis zum äußersten beklagenswert, daß 
die Einsicht in diesen inneren Zusammenhang noch so wenig 
verbreitet ist. Es ist das Schamgefühl an erster Stelle, das 


190 GESCHLECHT UND OESELLSCHAFT 


die Vermischung des edlen Lebens mit dem gemeinen abhält 
und ausschließt und damit erst den Geschlechtstrieb und Fort- 
pflanzungstrieb indirekt für seine möglichen biologischen 
Höchstleistungen „bewahrt“. jeder Verlust und jede Ver- 
minderung des Schamgefühls kommt also einer Rück- 
bildung des menschlichen Typus im Effekte gleich! 
Denn jede solche Verminderung macht, daß die Summe der 
geschlechtlichen Vermischungen biologisch ungleichwertiger 
Individuen anwächst, indem der durch die Scham nicht mehr 
eingeschränkte Trieb sich immer wahlloser und wahlloser reali- 
siert oder anstelle der Liebeswahl eine Wahl nach utilitarischen 
Gesichtspunkten tritt. Die Scham ist also nicht ein bloßer 
Selbstschutz des Lebens des ganzen Organismus gegen 
eine zu große Inanspruchnahme von Libido und Trieb, sondern 
sie ist an erster Stelle ein Selbstschutz des edlen Lebens 
gegen das gemeine. Es gilt daher die strenge Regel, daß 
je edler eine Rasse oder ein generativer Zusammenhang inner- 
halb einer Rasse ist, deren Schamgefühl um so stärker und 
feiner ausgebildet ist und zwar ebenso beim Manne als beim 
Weibe. Von den ritterlichen germanischen Helden werden 
uns fast noch rührendere Züge der Feinheit ihres Schamgefühls 
berichtet wie von den Frauen, bei denen Scham und Züchtig- 
keit den höchsten Preis der Dichter gewannen. 


EI EI 
EI 


VENEZIANISCHE KURTISANEN 
UND DER DICHTER PIETRO ARETINO. 
Von Dr. VALERIAN TORNIUS. 


tendhalerzähltin seiner ‚italienischenReise“ eineamüsantekleine 

Geschichte, die sich in Venedig zugetragen haben soll. In dem 
Teatro San Mos€ wurde eine Tragödie gespielt, und in dieser 
Tragödie kam eine Szene vor, in welcher der Tyranıı seinem 
Sohne das Schwert reicht mit dem Befehl, seine Schwieger- 
tochter zu töten. Über die Wucht dieses finsteren Bildes ge- 
riet das Publikum so sehr in Empörung, daß es von dem 


GESCHLECHT UND OESELLSCHAFT 191 


Tyrannen stürmisch verlangte, er solle sein Schwert zurück- 
nehmen. Darauf trat der junge Fürst vor die Rampe und es 
gelang ihm, allerdings mit großer Mühe, das aufgeregte Parterre 
zu beschwichtigen. Er versicherte nämlich, daß ihm nichts 
ferner läge, als die Gefühle seines Vaters zu teilen, und er gab 
sein Wort darauf, daß die verehrten Zuschauer, wenn sie sich 
nur zehn Minuten gedulden wollten, schließlich sehen würden, 
daß er sein Weib retten werde. 

Diese Anekdote ist sehr bezeichnend für das Empfinden 
der Venezianer. Es gibt vielleicht nirgends auf dem Erdenrund 
einen Ort, wo das Verbrechen mehr auf Schleichwegen 
wandelt, als hier in der Stadt der Lagunen, allein gegen 
einen offenen Mord, und dazu noch den Mord einer schönen 
Dame, und wäre es nur auf der Bühne, empörte sich das 
lebensfrohe Gemüt dieser Inselbewohner. Und so, wie zu 
Stendhals Zeiten, so war es auch zwei oder drei Jahrhunderte 
vor ihm — alles andere durfte man dem Venezianer nehmen, 
nur nicht seine Heiterkeit, seine Sinnenfreude. 

Es liegt eine sinnliche Schwüle über dieser Stadt, die man 
sonst nirgends finde. Wandert man auf den schmalen, irr- 
gartenähnlichen Fußstegen, die sich fortwährend in Sackgäßchen 
verlieren, so glaubt man in das Bereich irgendeiner Kirke ver- 
setzt zu sein und erwartet jeden Augenblick das Auftauchen 
ihres Zauberstabes; gleitet marı in der Gondel auf dem dunklen 
Wasser dahin, scheint es, als ob Nixen aus der Tiefe sängen 
und begehrlich die Arme einem entgegenstreckten; überall sind 
Liebesgötter tätig, das Gefühl des armen Fremdlings zu ver- 
wirren. Ja, es kommt einem immer deutlicher zu Bewußtsein, 
daß diese aus der Adria aufsteigende Märchenstadt mit ihren 
bizarren, architektonischen Formen, mit ihren schimmernden 
Palästen und majestätischen Türmen, mit ihren labyrinthischen 
Kanälen und verschwiegenen Winkeln, mit ihrem Fehlen alles 
Wagengerassels, mit ihren singenden Gondolieren und be- 
rückend schönen Frauen vom Schicksal dazu bestimmt scheint, 
dem Liebestaumel ein Asyl zu bieten. Selbst aus der 
venezianischen Malerei, aus Tizian, Giorgione, Paolo Veronese 
leuchtet dieses Schwelgen in Schönheit, diese Bewunderung 
des Körperlichen, diese Freude an der Farbe und die All- 
gewalt der Liebe hervor, die in dem berühmten „Amor sacro 
e profano“ des Tizian ihre höchste Vollkommenheit erreicht, 


192 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


wobei bezeichnenderweise die nackte Gestalt gerade die gött- 
Hiche Liebe darstellt, also mit anderen Worten das Körperliche, 
das Sinnenfreudige sakrifiziertt wir. Und an Venedig knüpft 
sich auch die Erinnerung an jenen Mann, der — freilich erst 
durch Feuerbachs Gemälde — zu dem Typus eines Wollüst- 
lings und Genießers geworden ist: Pietro Aretino. 

Welche Rolle die käufliche Liebe in Venedig spielte, geht 
aus den Notizen des Chronisten Santo hervor, dem 
wir die Feststellung verdanken, daß im Jahre 1509 bei einer 
Einwohnerzahl von 300000 Seelen nicht weniger als 11654 
Demimondänen hier ansässig waren. Allein der Senat muß sie 
doch besonders geschützt haben, denn in seinen Akten heißen 
sie „le nostre benemerite mecretrici“. Venedig war im XVI. 
Jahrhundert das Dorado aller Kurtisanen. Hier strömten sie 
aus allen Windrichtungen zusammen, selbst aus Rom, wenn sie 
sich dort durch irgendein Verbrechen die Gunst der eleganten 
Herrenwelt verscherzt hatten, wie zum Beispiel die schöne 
Tullia d’Aragona, der man es nicht verzeihen wollte, daß sie 
einen Deutschen in ihrem Boudoir empfangen hatte. Sehr 
verlockend schildert der Dichter Andrea Calmo einer römischen 
Kurtisane, die er gern nach Venedig gezogen hätte, den dor- 
tigen Aufenthalt. Er schreibt: „Ich hätte Euch gezeigt, wo man in 
der Gondel spazieren fährt oder in einem Wagen auf dem 
Festlande. Ich hätte Euch auch zu heimlichen Gelagen und 
Essen geladen, und Ihr wäret Euch dort wie eine Königin 
vorgekommen, wie eine Penthesilea. Hättet Ihr Lust gehabt, 
in geschäftliche Verbindung zu einigen Monsignore zu treten, 
so würde ich Euch nicht im Stiche gelassen haben. Ich kann 
Euch nur dringend raten, hierher nach Venedig zu kommen, 
denn kaum erscheint hier eine Fremde, so ist jeder Mann 
hinter ihr her. Ihr habt eine so gewählte Sprache, so artige 
Bewegungen und einen so züchtigen Gang, daß selbst ein 
eisernes, grausames, hochmütiges Herz vor Liebe umkommt. 
Es wird Euch je nach den Jahreszeiten unter Euren Fenstern 
ein gesungenes oder ein gespieltes Ständchen dargebracht 
werden, Narrenunterhaltungen, Sendungen von Süßigkeiten und 
Trefflichkeiten werden Euch geboten werden, daß Eure Lungen 
vor Freude nur so jauchzen sollen. Und alle werden zur 
Verfügung der Ehre der Herrin stehen, im Namen ihrer Schön- 
heit und zum Nutzen ihres Ansehens usw.“ — 





DER LIEBESMARKT. Von FÉLICIEN ROPS. 


Zu dem Aufsatz »Die Jagd nach dem Mann , Seite 210. 


= 

5 

E 
= 
= 
= 
= 
zu 


ШҮП 


m 
ill 
|| 


Йе” ЖЭ мусу гу УУ 


SE 
RR 





AUF DEM MÄNNERFANG. Von HANS HOLBEIN (?). Deutsche Karikatur aus dem 16. Jahrhundert, 
Zu dem Aufsatz »Die Jagd nach dem Mann«, Seite 210. 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 193 


Nun muß man sich allerdings unter einer Kurtisane nicht 
das vorstellen, was man heutzutage unter einer Halbweltdame 
versteht. Sie entstammten meist gut bürgerlichen Familien und 
waren häufig gebildeter als manche hochgestellte Damen. Der 
Novellendichter Bandello weiß von einer ganzen Reihe solcher 
Frauen zu berichten, die tagsüber mit Wissenschaft und Lite- 
ratur sich beschäftigten und nachts Gott Eros sich verkauften. 
Pietro Aretino, der in die Geheimnisse der Kurtisanen wie 
kein anderer seiner Zeitgenossen Eingeweihte, berichtet von 
Madrenna, einer vielgefeierten Halbweltdame, um deren Gunst 
Herzöge, Diplomaten und Kardinäle warben, daß sie Petrarca, 
Boccaccio und eine Unmenge schöner lateinischer Verse von 
Virgil, Horaz, Ovid und anderen Autoren auswendig gewußt 
hätte. Ebenso war die reizende Imperia ein Weib von Geist 
undBildung, die berühmteste jedoch gewiß Tullia, die Tochter des 
Kardinals d’Aragona und der hübschen Giulia Farnese, die 
durch ihren Gesang alle Herzen in ihren Bann zwang. Nicht 
alle von den 11654 Venuspriesterinnen waren so liebreizend 
und so klug wie diese Kardinalstochter, aber in Venedig gab 
es trotzdem eine ganze Anzahl gebildeter Kurtisanen, die so- 
gar eine tonangebende Rolle in der Gesellschaft spielten. 

Die einflußreichste unter ihnen war zweifellos Veronica 
Franco. Daß sie unter Numero 204 in den „Katalog der 
ersten und sehr ehrenwerten Kurtisanen Venedigs“ eingetragen . 
war, hinderte sie nicht, ein großes Haus zu führen, in dem 
Venedigs Literaten und Künstler rege verkehrten. Es ist nicht 
zu begreifen, wie sie trotz der sehr bescheidenen Honorare, 
die sie für ihre Gunst verlangte — sie verkaufte sich für 
2 Scudi — in solchem Luxus und auf so großem Fuße leben 
konnte. Vielleicht hatte dieser niedrige Preis auch nur für ihre 
literarischen Freunde Gültigkeit, während höhere Persönlich- 
keiten um so tiefer in die Geldkatze greifen mußten. Jeden- 
falls wird der dreiundzwanzigjährige dritte Heinrich von Frank- 
reich, als er der Lagunenstadt seinen Besuch abstattete, für die 
Schäferstündchen in Veronica Francos Boudoir reichlichen Tribut 
entrichtet haben, denn es wurde erzählt, er habe während seines 
achttägigen Aufenthalts in Venedig keine Nacht im Palast ver- 
bracht, sondern sich immer durch irgendein Hintergäßchen in 
die Gegend von Gan Giorgio Grisostimo, wo die viel um- 
schwärmte Kurtisane lebte, fortgeschlichen. 

Geschlecht und Gesellschaft, VII, 5. 13 


194 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Über die Pracht, die in einem Kurtisanensalon herrschte, 
kann man sich heute noch auf Grund von zeitgenössischen 
Berichten eine annähernde Vorstellung machen. Jene sinnliche 
Schwüle, die schon äußerlich Venedig kennzeichnet, kam in 
diesen Räumlichkeiten noch in verstärktem Maße zur Wirkung. 
Die Zimmer wurden natürlich im Hinblick auf die Stimmung, 
welche die Sinne gefangen nehmen sollte, mit dem erdenk- 
lichsten Raffinement ausgestattet. Die Wände waren mit schwerem 
Samt und Seidenstoffen bekleidet, auf dem Fußboden lagen 
kostbare Teppiche. Vasen aus Alabaster, Porphyr und Serpentin 
zierten die geschnitzten Tische. Majoliken und Kunstgegen- 
stände jeder Art prunkten an den Wänden und in allen Ecken 
der Räume. In dem Salon der Imperia wurde die Pracht 
sogar so weit getrieben, daß ein spanischer Gesandter in Er- 
mangelung einer Stelle zum Ausspucken einem Diener ins 
Gesicht spie und mit folgenden Worten sich entschuldigte; 
„Verzeih, aber hier gibt es nichts Häßlicheres als dein Gesicht.“ 

Veronica Franco soll eine sehr schöne Frau gewesen sein. 
Einer ihrer Bewunderer rühmt ihr goldgelbes Haar, ihre gött- 
lichen Augen und ihren herrlichen Teint. Tintoretto hat sie 
porträtiert, aber das Bild ist leider verschollen. Der berühmte 
Maler war einer ihrer glühendsten Verehrer. Von ihm eignete 
sie sich ihr kunstkritisches Wissen an, von dem auch ihre 
Briefe einiges Zeugnis ablegen. Unter den Literaten war es 
besonders Bernardo, der Vater Torquato Tassos, der ihr nahe 
stand. Er ist wohl derjenige gewesen, dessen Urteil sie ihre 
eigenen dichterischen Erzeugnisse — auch sie war der Mode- 
krankheit „Sonette zu dichten“ verfallen — zuerst unterbreitete. 
Aber immerhin erweisen ihre Sonette mehr Befähigung als die 
so vieler anderer Dichterinnen jener Zeit. Veronica war stets 
darauf bedacht, in den freien Künsten etwas zu lernen, wie sie 
überhaupt dem Schöngeist vor allen anderen Männern den 
Vorzug gab. „Ihr wißt sehr wohl“, schreibt sie einmal an 
einen ihrer jungen Verehrer, „daß unter allen denen, die sich 
in mein Herz einzuschmeicheln verstanden, mir die besonders 
teuer sind, welche sich um die Übung der Disziplinen und 
der freien Künste bemühen, für die ich, obwohl nur ein Weib 
von geringem Wissen, nach Wunsch und Neigung so sehr 
schwärme. Und jene, denen es bekannt ist, daß ich, wo nur 
immer sich Gelegenheit bietet, noch zu lernen, es mein ganzes 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 195 


Leben lang tun würde und daß ich, wenn meine Lage es mir 
gestattete, alle meine Zeit in den Schulen wertvoller Männer 
zubringen möchte.“ 

Daraus erklärt sich auch Veronicas Neigung zum geselligen 
Verkehr mit hervorragenden Persönlichkeiten. Jeden Dichter, 
der die Stadt der Lagunen aufsuchte, lud sie in ihr Haus ein. 
War es nicht zu einer größeren Gesellschaft, die dann ge- 
wöhnlich an Disputationen über Literatur und Philosophie 
sich ergötzte und von der holden Gastgeberin in den Pausen 
sich mit Gesang erfreuen ließ, so wenigstens zu einem intimen 
Abendessen. Und der Gast bereute es nicht, mit Ausnahme 
von Montaigne, der sich von einem solchen Souper einen 
gründlich verdorbenen Magen geholt hatte, was allerdings mehr 
dem Küchenmeister als der Gastgeberin zum Vorwurf dient. 

Als dieser illustre französische Essayist die Franco be- 
suchte — es war im Jahre 1580 — stand sie schon nicht mehr 
in der Blüte ihres Lebens. Wie bei vielen schönen Sünderinnen 
jener Zeit, hatte sich schon in ihrer Seele der Wurm der Reue 
eingenistet, der ihr alle bestrickende, süße Anmut nahm. Da- 
mals gründete sie gerade ihr Asyl für Frauen mit lockerem 
Lebenswandel. Sie selbst hat sich ihrer Stiftung nicht lange 
freuen können. Der Tod raffte sie bald darauf hinweg. 


* * 
* 


Als Tullia d’Aragona, wie schon erwähnt, sich durch ihren 
Leichtsinn in Rom unmöglich gemacht hatte, kam sie, nach- 
dem sie einen kurzen Aufenthalt in Ferrara genommen, nach 
Venedig. Die entzückende Blondine mit ihren heißen, flammen- 
sprühenden Augen, mit ihrem graziösen, liebenswürdigen 
Benehmen, die den Römern schon als Verkörperung des weib- 
lichen Schönheitsideals galt, wurde merkwürdigerweise hier 
nicht mit jener überschwenglichen Begeisterung empfangen, 
die man sonst neu ankommenden Kurtisanen entgegenbrachte. 
Obwohl der paduanische Universitätsprofessor Sperone Speroni 
sich für sie in die Schanzen schlug und in einem „Dialog 
über die Liebe“ sie mit einer Heldin des Altertums verglich 
und einer Sappho an die Seite stellte, fand sie doch in Venedig 
keinen Anhang. Die Hauptursache dieses Mißerfolges ist 
Pietro Aretino zuzuschreiben. Dieser gefürchtete Condottiere 
der Feder war nicht nur ein Protektor der Obdachlosen, der 


13° 


196 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Wöchnerinnen, zahlungsunfähiger Schuldner, ruinierter Kauf- 
leute, entlassener Sträflinge, ‘heruntergekommener Edelleute, 
hungernder Poeten, sondern auch der allmächtige Patron vieler 
Kurtisanen. Tullia hatte nicht das Glück, ihm zu gefallen, 
und so konnte sie in Venedig auf keine Karriere hoffen. Sie 
tat deswegen am besten, daß sie kurz entschlossen den Staub 
dieser undankbaren Stadt von ihren Schuhen schüttelte und 
nach Siena reiste. Hier heiratete sie einen biederen Ferraresen 
niederer Herkunft, um unter dem Deckmantel einer verheirateten 
Frau ungestörter ihrem Gewerbe nachzugehen. 

Das eine scheint nur bei dieser ganzen Affaire verwunder- 
lich — der große Einfluß des Aretino. Wenn man sich aber 
vergegenwäfrtigt, welche literarische Machtstellung der Schuster- 
sohn aus Arezzo und ehemalige Buchbindergeselle in der 
damaligen Welt behauptete, eine Machtstellung, die er der 
Bosheit und Schärfe seines Spottes zu verdanken hatte, so 
wird einem dieses leicht erklärlich. Nie ist ein Literat so ver- 
göttert und zugleich so gefürchtet worden. Fürsten, Würden- 
träger, hohe Geistliche, Literaten und Künstler haben um seine 
Freundschaft gebuhlt, nicht etwa um von ihm verherrlicht 
zu werden, sondern mehr aus Furcht, daß er sie zum Ziel 
seiner Invectiven machen könnte oder auch in der Absicht, 
ihn gegen ihre Feinde aufzureizen. „Ich komme mir vor wie 
das Orakel der Wahrheit“, schreibt er einmal, „denn jeder er- 
zählt mir das ihm von dem und dem Fürsten, von dem und 
dem Prälaten widerfahrene Unrecht; ich bin der Sekretär der 
ganzen Welt“ Von allen Seiten flossen ihm die Geschenke 
zu, Geldsummen, Goldstoffe, Gemälde, Kunstgegenstände, so 
daß seine fürstliche Wohnung im Hause des Domenico Bolia, 
in der Nähe des Rialto, die vielen Schätze bald garnicht zu 
fassen vermochte. Maßlose Selbstüberhebung war die Folge 
dieser zweifelhaften Ehrungen. „Mein Bild ist über dem Ein- 
gang der Paläste zu sehen“, rühmt er sich in einem Briefe. 
„Mein Kopf ist auf Kannen, auf Tellern, auf Spiegelrahmen, 
wie die Köpfe Alexanders, Cäsars, Scipios. Einige Kristall- 
gläser, die in Murano fabriziert werden, nennt man aretinische 
Vasen. Eine bestimmte Pferderasse hat den Namen bekommen, 
weil mir Papst Clemens VII. ein solches Pferd geschenkt hat 
und ich es meinerseits an den Herzog Federico weiterverschenkt 
habe. Das Wasser, welches einen Teil dieses meines Hauses 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 197 


umspült, heißt man das aretinische. Meine Weiber wollen 
Aretinerinnen genannt werden. Man spricht sogar von einem 
aretinischen Stil. Die Pedanten können vor Wut sterben, ehe 
sie zu solcher Ehre gelangen.“ 

Aretinos Reichtum, den er sich durch sein literarisches 
Piratentum zusammengeschleppt hat, strömt auf alle Bedürf- 
tigen eine Anziehungskraft aus, denn man weiß, daß er frei- 
gebig bis zur Verschwendung ist. Seine Freunde kommen 
und nehmen viele Kunstgegenstände und kostbare Kleider; 
wenn er in seiner Gondel fährt, drängen sich auf den Brük- 
ken und Stegen Knaben und Mädchen, die um Geld betteln; 
wenn eine Frau in die Wochen kommt, wendet sie sich an 
ihn mit der Bitte um Unterkunft und erhält sie; wenn ein 
Dichter oder Maler nichts mehr zu beißen und zu brechen 
hat, wer istes, der sich dann seiner erinnert? — Pietro Aretino — 
„Wahrlich, mein Lieber”, schreibt er an einen seiner Freunde 
„von den fünfundzwanzigtausend Scudi, die ich frisch aus 
den Eingeweiden der Fürsten durch das Geheimnis meiner 
Feder herausgezogen habe, habe ich nicht einen einzigen, 
wie ihr behauptet, auf die Straße geworfen. Was soll ich 
denn damit machen? Bin ich einmal geschaffen, so zu leben, 
wer kann mich daran hindern?” 

Die „casa Aretino“ glich einem Taubenschlag. Von den 
vielen Besuchern sollen schon die Marmorstufen völlig abge- 
nutzt worden sein. So behauptet wenigstens Areno. Zwei- 
undzwanzig Frauen, darunter Kurtisanen, auch ehrbare Mädchen, 
Mütter mit Säuglingen an der Brust, beherbergt er in seinem 
Palazzo. Und er zeigt sich ihnen gegenüber genau so freigebig 
und gastlich, wie im Verkehr mit seinen intimsten Freunden 
und Freundinnen, zu denen er hin und wieder flüchtet, wenn 
es ihm daheim allzu toll wurde. 

Jeder, der in Venedig war, kennt den stolzen Palazzo 
Loredon am Canale grande schräg gegenüber der Kirche 
San Silvestro. Es ist ein Bau, in dem die Vermengung 
mannigfaltiger Stile besonders auffällig hervortritt. Traditionelle 
byzantinische Formen treten auf vermischt mit lombardischen 
Motiven, ja sogar maurische Elemente machen sich in der 
Schlankheit und Dichtheit der kleinen Säulen und der Höhe 
der Pilaster bemerkbar. In diesem Palazzo residierte damals 
die „schönste, liebenswürdigste Frau in Cupidos Hofstaat“, 


198 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


die Kurtisane Angela Zaffetta. Ihr Salon war ebenfalls 
wie der der Imperia wahrhaft königlich eingerichtet mit fland- 
rischen und türkischen Teppichen, Brokat- und Ledertapeten, 
geschnitzten Möbeln, goldgestickten Samtdecken, Bildern, Vasen 
und schöngebundenen Büchern, die überall auf den Tischen 
lagen. Zaffetta hatte ebenso wie später die Herzogin von 
Mazarin die Angewohnheit, allerlei Tiere, Vögel und Affen 
zu halten. Aber hier kletterten sie nicht so frei herum wie 
in dem Sommerpalast der Mazarin zu St. James. In den 
Salon der Zaffetta zu gelangen war durchaus nicht leicht. 
Nur Kavaliere von höchstem Stande, oder Prälaten und Ge- 
lehrte von ganz besonderer Bedeutung fanden Einlaß. Und 
auch dann mußten sie noch in dem Vorzimmer, wie bei 
einer königlichen Audienz, geduldig warten, bis die Herrliche 
erschien. 

Der einzige vielleicht, der jederzeit eine offene Tür fand, 
war Pietro Aretino. Er blieb bis ins Alter eng mit ihr be- 
freundet. Auch als sie mittlerweile den Zenith ihres Lebens 
überschritten hatte. Aretino kehrte aber auch dann gern bei 
ihr ein und verzehrte mit seinem Freunde Tizian bei ihr hin 
und wieder das Abendessen. Aus dem alten Wüstling war 
jetzt ein Schlemmer geworden, dem nur noch eine gute Tafel 
wahrhaften Genuß bereitete. Bei einem Becher auserlesen 
guten Weines disputierten die drei Alten, zwar nicht mehr 
über Liebe und Frauenschönheit, wohl aber über die Predigten 
des heiligen Markus. .... 


DIE SCHLIMMSTEN. 


Das sind die schlimmsten von allen Tollen 
Hier im menschlichen Narrenstaat, 
Die uns das Leben verleiden wollen, 


Weil’s ihnen selbst nichts zu bieten hat. 


(О. Е. №.) 
Aus Bebheim -Schearzbach, ,, Liebe", 


EI 





DIE EHELICHE UNTREUE. 
Von Dr. I. B. SCHNEIDER. 
Ш. 


Н" Eulenberg, der bekannte Dramatiker, hat im Jahre 
1909 ein kleines Schriftchen unter dem Titel: “Du darfst 
ehebrechen!“ erscheinen lassen. In belletristischer Form hat er 
sich hier mit dem Ehebruchsproblem auseinandergesetzt, indem 
er an Hand einer „Moralischen Geschichte“ den Widersinn 
des Paragraph 172 des Deutschen Reichs-Strafgesetzbuches zu 
brandmarken versuchte. Dieser Paragraph lautet folgender- 
maßen: 

„Der Ehebruch wird, wenn wegen desselben die Ehe ge- 
schieden ist, an dem schuldigen Ehegatten, sowie seinen Mit- 
schuldigen mit Gefängnis bis zu 6 Monaten: bestraft. Die 
Verfolgung tritt nur auf Antrag ein.“ 

Die Eulenbergsche Polemik gegen diesen Paragraphen 
kennzeichnet sich nun dadurch, daß die Lösung dieses so un- 
gemein komplizierten Problems auf rein menschlichem Wege, 
ohne Hinzutreten des rächenden Gesetzes angestrebt und auch 
gefunden wird. Das Vergehen gegen die Reinheit der ehelichen 
Sitten, sagt der Autor, ist eine Angelegenheit, die keinen Staat 
und keine Gesellschaft etwas angeht, sofern kein öffentliches 
Interesse dadurch geschädigt wird. Wenn der Staat oder die 
Gesellschaft derartig intime Vorgänge des Ehelebens mit ihrem 
Eingreifen bedrohen, so ist das gleichbedeutend mit der Bekun- 
dung eines rein egoistischen Interesses und in politischer Hin- 
sicht ein reaktionäres Bekenntnis, ein Versuch im Jahrhundert 
der Freiheit und Toleranz eine mittelalterliche Autokratie aus- 
zuüben. In einer paradoxen Umdeutung des mosaischen De- 
kalogs sagt der Verfasser zu allen, die unter dem Joch einer 
unerträglichen, moralisch längst in Brüche gegangenen Ehe 
seufzen: “Du darfst ehebrechen!“ Und das soll nach Eulen- 
bergs Meinung auch in Zukunft der Leitspruch einer sittlich 
und kulturell reifen Menschheit sein, der selbst durch den augen- 
blicklichen Bestanddes Paragraph 172nicht widerlegt werden kann. 


200 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Eine Diskussion der Machtbefugnis, die den gesetzlichen 
Instanzen innerhalb dieses Paragraphen zugesprochen werden, 
umfaßt auch die Motive und Folgen des Ehebruchs in moderner 
Zeit überhaupt. Er ist eine Schöpfung der Tradition und ein 
Kompliment vor dem zähen Geist des kirchlichen Dogmatismus, 
der auch in der gegenwärtigen Kultur ein System der Bevor- 
mundung und Unduldsamkeit aufgerichtet hat. Entgegen den 
biologischen Tatsachen und einem vernünftigen menschlichen 
Standpunkt, betrachtet nämlich die Kirche den Beischlaf und 
mithin alles, was mit ihm zusammenhängt, noch immer als un- 
sittlich, und stellt sich so in schroffen Gegensatz zu den ethischen, 
natürlichen Prinzipien, die dem Menschen eingeboren sind. Allein 
jedes Gesetz, das mit den Forderungen dieser natürlichen Ethik 
nicht übereinstimmt, ist im Grundeschlechtunderstrebt das Gegen- 
teil dessen, was es schützen, vervollkommnen, reinigen soll. In das 
Ehebruchsgesetz ist durch die traditionelle Allianz des Gesetz- 
gebers mit dem Theologen ein Moment der Lüge und der Un- 
vollkommenheit hineingetragen worden, dem zufolge die Ver- 
gehen wider die eheliche Treue nicht behoben, sondern vielfach 
noch in einem größeren Stile gezüchtet werden. 

Das Grundmotiv, um dessentwillen der Ehebruch in histo- 
rischer und in moderner Zeit mit Strafen belegt wurde, ist die 
Vorstellung von dem Unerlaubten, die sich an den Beischlaf 
als solchen knüpft. Ich habe bereits im einleitenden Kapitel 
dieses Aufsatzes bemerkt, daß eine Verfolgung und Bestrafung 
des Ehebruchs nur in kulturell aufsteigenden Epochen möglich 
ist, da im Seelenleben der Völker erst eine Reihe bestimmter 
Vorstellungen und Assoziationen vorhanden sein müssen, be- 
vor Schamgefühl und Sittengesetz sich entwickeln können. Auf 
primitiven Stufen gelten Prostitution und außerehelicher 
Geschlechtsverkehr nicht anders, als die Nutzung anderer zu 
natürlichen Zwecken bestimmter Körperorgane. In jenem Au- 
genblick, da der Mensch erkennt, daß er aus den beiden vor- 
genannten Faktoren Nutzen oder Schaden ziehen kann, zieht 
er sie in den Bereich seiner philosophischen Spekulation und 
legt in ihnen bestimmte Gegensätze — gut oder böse — fest. 
Anders ausgedrückt: Prostitution und außerehelicher Geschlechts- 
verkehr waren im Grunde gut und sind erst durch die philo- 
sophische Spekulation schlecht geworden. Daraus ergibt sich 
als nächste Konsequenz, daß es auch ein Ehebruchsvergehen 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 201 


nicht gibt, solange der Mensch nichtIndividualist undPoli- 
tiker geworden ist. j 

Die erste Regung des erwachenden politischen Sinnes 
ist die Erfindung eines imaginären obersten Prinzipes und 
der Mißbrauch der Gottesidee zur raffinierten Befriedigung 
selbstischer Gelüste. Der nächste Schritt ist die Mißachtung 
der natürlichen Instinkte und die Schaffung der moralschützenden 
Paragraphen. Die Bestrafung der ehelichen Untreue ist eine 
Herabwürdigung der Liebe, — deren Wesen in der restlosen 
Hingabe zweier Menschen an einander besteht, — zu einer poli- 
tischen Machtfrage, und mithin eine unmoralische und eine 
inhumane Tat. Ein Gesetz aber, das gegen die vitalen Interessen 
der Menschheit gerichtet ist, hat nicht nur keine Berechtigung, 
sondern bedarf einer schleunigen Korrektur, das ist: seiner 
endgültigen, restlosen Entfernung. 

Noch ein anderer Umstand, der nicht minder als unsitt- 
lich bezeichnet werden muß, hat zur Gestaltung des Ehebruchs- 
problems beigetragen. Die Verfolgung der ehelichen Untreue 
durch schamlose Enthüllung und Strafandrohung stellt sich 
alseine rein sexuelle, exhibitionistische Regung dar. In 
allen Fällen, wo das intime Verhältnis zweier Menschen vor 
die breite Öffentlichkeit gezerrt wird und Geheimnisse des 
Alkovens vor dem Gerichtsstuhle breitgetreten werden, handelt 
es sich um Schergendienste, die von der Gesellschaft an dem 
Einzelnen begangen werden, Unzüchtigkeit seitens des Publi- 
kums und mancher gerichtsbefugten Herren und um die ideelle 
Befriedigung eines Gelüstes, das zur Begehung des gleichen 
Deliktes — des Ehebruchs — treibt. Diese erotische Wurzel 
ist ersichtlich aus der Art und dem Ausmaß der Strafen, die 
in historischer Zeit für den Ehebruch aufgewendet wurden, 
aus dem Umfang, zu dem solche Prozesse gediehen, und aus 
der Bereitwilligkeit, mit der alle Details früher und heute vom 
Publikum aufgenommen wurden. Ein erotisches Empfinden 
an und für sich enthält nun allerdings nichts Unsittliches in 
sich, denn Erotik ist gleichbedeutend mit Kraft und Gesund- 
heit. Unsittlich wirkt das Sexuelle nur dann, wenn es zum .- 
Schaden anderer und zur Verletzung der Menschheitswürde 
beiträgt, ferner, wenn dadurch verkehrten Instinkten, die 
rudimentär in jedem Menschen vorhanden sind, zum Durch- 
bruch verholfen und folglich eine Dekadenz der Masse vor- 


202 GESCHLECHT UND OESELLSCHAFT 


bereitet wird. Durch die öffentliche Verhandlung der Ehe- 
bruchsprozesse vor den Gerichten und in der Presse wird 
dieMasse mit sadistischen und exhibitionistischen Empfindungen 
durchseucht, beziehungsweise jenes verhängnisvolle Ressen- 
timent in ihr verbreitet, das dann zur Verübung der gewalt- 
samen Unzuchtsverbrechen und dem Anschwellen der Prosti- 
tution führt. 

Wenn wir uns im übrigen der modernen Gesetzgebung kri- 
tisch gegenüberstellen, so fällt uns auf, wie einseitig der Gesetz- 
geber den Begriff des Ehebruchsvergehens interpretiert. Die 
Handlung, die durch den Paragraph 172 des D. R. Str. G. B. 
getroffen wird, ist allein der zwischen zwei Personen ver- 
schiedenen Geschlechtes, von denen wenigstens die eine 
verheiratet ist, vollzogene Beischlaf. Der eheliche Partner, der 
Beweise zu besitzen glaubt, daß der andere Teil die Ehe 
in der vorgenannten Weise gebrochen habe, ist berechtigt, 
die Ehescheidungsklage einzureichen und binnen einer Frist 
von 3 Monaten von dem Zeitpunkt an, der zur Kenntnis des 
Urteils gelangte, den Strafantrag zu stellen. Zur Begehung 
des Ehebruchs ist demnach der vollzogene Beischlaf un- 
bedingt notwendig und nur dieser wird an beiden schuldigen 
Teilen bis zu 6 Monaten bestraft. Schon für den unkritischen 
Laien ergibt sich hier auf den ersten Blick eine ungeheure 
Lüge, die die Kraft und Moral dieses ganzen Gesetzes um- 
stoßen muß. Eine Frau, die unter Hintansetzung des ehelichen 
Treuversprechens ein Verhältnis hinter dem Rücken ihres 
Mannes anknüpft, darf alles tun; sie darf ihre Seele und ihren 
Körper in jeglicher Weise prostituieren, sie bleibt straflos, so- 
lange sie nicht den Beischlaf mit einem anderen Manne als 
ihrem Gatten vollzieht. Eine Frau kann tausendfach Schmutz 
in eine Ehe hineintragen und kann offenkundig Ehebruch be- 
gehen, ohne sich im Sinne des Gesetzes schuldig zu machen. 
Ein Gleiches trifft von dem Manne zu, der sich allen Arten 
von Perversitäten, Unzüchtigkeiten und Weiberjagd hingeben 
kann, ohne die Schuld, die in dem Paragraphen 172 indiziert 
ist, auf sich zu laden. Es ist eine Argumentation von ge- 
ringer Gegenbeweiskraft, und nicht mehr als ein Zugeständnis 
der eigenen Mangelhaftigkeit, wenn das Gesetz bestimmt, daß 
strafbare Handlungen nach Paragraph 171 und 175 des R. Str 
G. B. zwar nicht als Ehebruch zu betrachten sind, ihre Ver- 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 203 


übung jedoch den anderen Teil ebenfalls berechtigt, die 
Scheidung der Ehe zu verlangen. Aber der Ehebruch kann 
noch nach erfolgter Scheidung mit 6 Monaten Gefängnis be- 
straft werden! Es ist nicht einzusehen, was für ein Unter, 
schied zwischen dem normalen Coitus, und sagen wir, 
— mutueller Onanie bezüglich der Strafbarkeit besteht! 

Von den Verfechtern des $ 172 werden namentlich zwei 
Gründe ins Treffen geführt, die gegen die Abschaffung der 
Ehebruchsstrafen sprächen: Einerseits bringe der Mann durch 
den außerehelichen Geschlechtsverkehr die Ansteckungsgefahr 
ins Ehebett und gefährde die wirtschaftliche Lage der Familie. 
Allein gegen diese Möglichkeit gäbe es einen Schutz, wenn 
die Forderung weiter Kreise nach einer gesetzlichen Bestim- 
mung zum Schutze gegen Infektionsübertragung in einem 
Reformentwurf des Str. G. B. Berücksichtigung fände. Ein 
Gesetz, das die Anzeigepflicht für Geschlechts- 
krankheiten vorschreibt, wäre ein wirksamerer Schutz als 
die Existenz eines Paragraphen, dessen Anwendung doch nur 
im bedingten Maße möglich ist. Andererseits wiege der Ehe- 
bruch bei der Frau doppelt schwer, weil die Nachkommen- 
schaft dadurch unsicher werde und sie die Familie völlig 
aufopfere, während der Mann der Familie trotzdem häufig er- 
geben bleibe. Dieser Einwand ist zweifelsohne berechtigter 
und auch aus wirtschaftlichen Gründen zutreffend. Man kann 
es keinem Mann zumuten, für eine Nachkommenschaft zu 
sorgen, die ohne seine Zustimmung und gegen seinen Willen 
in die Welt gesetzt worden ist. Aber da ein so offener Ehe- 
bruch einen hinlänglich triftigen Ehescheidungsgrund abgibt, 
so ist nicht einzusehen, warum die Frau noch in anderer 
Weise zur Verantwortung gezogen werden soll, zumal vielleicht 
das illegitime Kind ein weit wertvollerer Sproß ist, als wenn 
es im Ehebett gezeugt worden wäre? Mit der vollzogenen 
Scheidung durch Verschulden der Frau erlöschen an und für 
sich ihre Alimentationsansprüche an den Mann, mithin ist eine 
besondere Strafandrohung unsinnig und auch von geringem 
nachträglichen Wert. Ich möchte übrigens bemerken, daß 
sich meine Polemik nicht gegen die Ehescheidung wegen 
Ehebruchs richtet — ich halte offenkundigen Ehebruch für 
einen hinlänglich triftigen Ehescheidungsgrund; ich meine aber, 
daß mit vollzogener Scheidung auch das Recht der Gesell- 


204 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


schaft auf Verfolgung der Schuldigen erlischt. Ist schon die Form, 
wie derartige Prozesse verhandelt werden, die nur dem Bestehen 
des § 172 zufolge möglich ist bedenklich genug, umso bedenk- 
licher sind die Folgen, die eine eventuelle nachträgliche Straf- 
verhängung für sonst vielleicht gänzlich unbescholtene und an- 
gesehene Personen nach sich ziehen kann. In diesem Sinne kann 
sich der § 172 zu einer bedeutenden sozialen Gefahr auswachsen, 
und es wäre dankenswert nachzuweisen, ob und wieviel 
wirtschaftliche und soziale Krisen er in Wirklichkeit bereits ver- 
schuldet hat. Hauptsächlich darum aber besteht der $ 172 
zu Unrecht, weil er eine Tendenz offenbart, die wie gesagt 
auf Entwertung der natürlichen erotischen Anlagen abzielt, 
indem er in einem bei Würdigung der Motive vielleicht durch- 
aus moralischen Verhältnis zwischen einem verheirateten Mann 
und einer ledigen Frau — oder umgekehrt — einen strafbaren 
Tatbestand indiziert. Es ist dasselbe, wie die Strafandrohung 
gegen Verfehlungen im Sinne des $ 175, die noch viel mehr 
beweist, daß nicht die eventuellen Schäden an der Gesellschaft 
bestraft werden, sondern allein die festgesetzte, sexuelle 
Handlung. Und da liegt es auf der Hand, daß durch das 
Bestehen solcher und ähnlicher Paragraphen die Sittlichkeit 
der Gesellschaft weit mehr gefährdet ist, als wenn sie fort- 
fielen: einmal weil sie die bekannten Rattenkönige von Schmutz- 
prozessen nach sich ziehen, dann aber besonders, weil sie 
allerlei Erpressergesindel die nötigen Handhaben zur Ausübung 
ihres zweideutigen Gewerbes bieten. So ist auch das Ehe- 
bruchsgesetz eine kostbare Waffe, die im Dienste der Kuppler 
und Erpresser steht, und es genügt eine genaue Kenntnis- 
nahme der bezüglichen Paragraphen, um die verirrten Leiden- 
schaften der Schwachen und vom Glück Verstoßenen zu 
schmutzigen Geschäften auszubeuten. Hier müßten sich doch 
die Menschen einmütig erheben und einen flammenden Protest 
anstimmen gegen Konvenienz und Dogmatismus, unter deren 
Deckmantel der freie Bürger täglich von neuem vergewaltigt 
wird. Eine Freiheit, die aus trockenem Paragraphengeiste ge- 
boren ist, bedeutet den Niedergang der Kultur und das Ende 
der Humanität. Fromme Gemüter, die Vergnügen an geheim 
geübten Unzüchtigkeiten sammeln, haben zu ihrem Trost das 
Schlüsselloch erfunden, durch das sie die Vorgänge des 
Alkovens und der Toilette beobachten können. Das Ehe- 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 205 


bruchsgesetz ist das Schlüsselloch bureaukratisch gezähmter 
Geister, durch das sie sich an allen den Pikanterien des Lebens 
ergötzen, die sie selbst nicht kultivieren dürfen. 

Aber die Gesellschaft, das ist der Staat, wirkt doch durch 
die Strafandrohung läuternd, abschreckend, die ethischen Hemm- 
nisse unterstützend?! Gäbe es keinen Ehebruchsparagraphen, 
so würden die Ehebrüche ins Unermessene steigen, eine un- 
gedämmte Prostitution den Verkehr der Geschlechter kenn- 
zeichnen, und die öffentliche Moral dadurch kaum mehr als 
eine Farce bedeuten! Ist dem wirklich so? Übt das Gesetz 
tatsächlich eine Wirkung aus und ist diese Wirkung läuternd, 
abschreckend, die ethischen Hemmungen unterstützend? Die 
Antwort läßt sich am besten aus der Kasuistik der Ehebruchs- 
prozesse geben; sie besagt das Oegenteil von dem, was die 
juristischen Interpreten des Paragraph 172 vorschützen. Wo 
ein Ehebruch begangen wird, geschieht es auch auf die Oe- 
fahr hin, daß der beleidigte Gatte eine Ehescheidung und im 
Anschluß daran Strafverfolgung der schuldigen Teile anstreben 
könnte. Ausschlaggebend für das Zustandekommen des Ehe- 
bruchs sind allein die Motive, die in den meisten Fällen von 
so zwingender Natur sind, daß sie sich auch durch das Ein- 
greifen dieses gewaltsam sittigenden Prinzipes nicht zurück- 
dämmen lassen. Häufiger führt diese positive Einflußnahme 
zu Katastrophen der öffentlichen Moral, formt Ehetragödien 
und züchtet, wovon ich schon eingangs dieser Zeilen ge- 
sprochen habe, das skrupellose Verbrechen. So hat sich vor 
kurzem im Mecklenburgischen die Frau eines angesehenen 
Rechtsanwaltes erschossen, weil unsaubere Elemente von ihrem 
Verhältnis zu einem jungen Beamten Kenntnis genommen 
hatten und unter Drohung mit einem öffentlichen Skandal 
erpresserische Versuche an ihr unternahmen. Derartige Vor- 
kommnisse wären unmöglich, wenn eben nicht eine egoistische 
Spekulation das Verbrechen des Ehebruchs, resp. den dazu 
gehörigen Paragraphen konstruiert hätte. Will die Gesellschaft 
tatsächlich die Reinheit des ehelichen Bettes mit ihrer Autori- 
tät schützen, dann muß sie zunächst das Wesen der Ehe re- 
formieren, und es nicht dulden, daß soviel fehlerhafte und a 
priori unsittliche Ehen geschlossen werden. Das tut die Ge- 
sellschaft nicht, denn sie prüft die Bedingungen nicht, unter 
denen sich zwei Menschen zur Ehe zusammenschließen, weil 


206 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


sie ein Interesse daran hat, daß soviel Ehen als möglich ge- 
schlossen werden. Die Gesellschaft hat kein Recht, in das 
Eheleben des Einzelnen einzugreifen, weil sie selbst durch die 
Überschätzung einer legitimen Nachkommenschaft augenblick- 
lich den Boden für die unglücklichen und zerrütteten Ehen 
vorbereitet. Sie ist ferner darum verantwortlich, weil sie durch 
die Art und Weise, mit der sie Ehescheidung und den Ehebruch 
anfaßt, die Schamhaftigkeit der betroffenen Teile untergräbt, 
und auf diese Weise aus einem natürlichen Vorgang ein tat- 
sächliches Verbrechen gegen Anstand und Sitte macht. Es 
ist klar, daß die Fehme, mit der Vergehen wie die eheliche 
Untreue von der Gesellschaft belegt werden, und die im Ge- 
setz vorgesehene Strafandrohung in dem schuldigen Teil 
schließlich Gleichgültigkeit und Cynismus aufkommen lassen 
können: „Ich kann es nicht ändern, daß mich die Welt und 
das Gesetz zum Verbrecher stempeln, weil ich vielleicht einem 
unstillbaren Sehnen in mir Gehör und Erfüllung verliehen 
habe; also ist es mir gleichgültig, ob noch ein wenig mehr 
oder weniger hinzukommt, und ich tue nun offenkundig das, 
was ich früher im geheimen geübt habe“ Im Übrigen maßt 
sich die Gesellschaft ein Verdammungsurteil an, wo ihr die 
ursprünglichen Gründe des Handelns unbekannt geblieben 
sind, die sich letzten Endes doch als durchaus mensch- 
lich und den ethischen Prinzipien konform darstellen 
können. Es gibt unendlich viel Umstände, die zur Verletzung 
der ehelichen Treue führen, die nur im Zusammenhang mit 
der vorhandenen kapitalistischen Kultur und dem daraus re- 
sultierenden heuchlerischen Moralkodex zu werten sind, so 
z. B. wenn der Mann, aufgepeitscht durch die Jagd nach 
Macht und Kapital, in der fressenden Unrast des Alltags, vor- 
zeitig seine besten Nervenkräfte vergeudet und in seinen besten 
Jahren sich zu einem verbrauchten Impotent entwickelt; wenn 
ferner die wirtschaftliche Not den Mann davon abhält, dem 
Willen seiner Frau entgegenzukommen und ihren Wunsch 
nach entsprechender Nachkommenschaft zu erfüllen, resp. 
wenn er sich aus ökonomischen Gründen im Eheleben mit 
dem Coitus reservatus und condomatus begnügt. Ich möchte 
behaupten, daß der präventive Geschlechtsverkehr den 
brutalsten Angriff auf das Gefühlsleben der Frau 
bedeutet und mit zu den Ursachen zu zählen ist, die Ehe- 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 207 


brüche und zahlreiche Verbrechen aus unbefriedigter Sexualität 
verschulden. So führt auch Ferdy ganz bestimmt die meisten 
Ehescheidungsklagen wegen Ehebruchs in Frankreich auf den 
im Übermaß geübten Coitus interruptus zurück. Die kapi- 
talistische Kultur bringt es auch mit sich, daß die Altersgrenze 
für die Eheschließung bei beiden Teilen immer mehr hinauf- 
gerückt wird, beziehungsweise, daß es aus opportunistischen 
Gründen zu Ehen zwischen auffallend ungleichaltrigen Per- 
sonen kommt. Ein Ehebruch, begangen von einem jungen 
Mann, der eine alternde unliebenswürdige Frau besitzt, eine 
Frau, die ihm psychisch und physisch widerstrebt, ist kein 
Ehebruch. Es gibt Verhältnisse —, und das gilt namentlich von 
geistig hochstehenden Männern — wo der Mann gezwungen ist, 
mit einem Objekt seiner Wahl in fortgesetztem Ehebruch zu 
leben, weil er sonst in der Ehe langsam aber sicher seinen 
geistigen Tod erleiden müßte. Ein Ehebruch, unter solchen 
Bedingungen begangen, bedeutet im Gegenteil eine Katharrsis, 
eine rein moralische Tat, seine Verfolgung durch Aus- 
breitung der ehelichen Geheimnisse vor der Öffentlichkeit und 
durch Strafen dagegen eine unzüchtige, aller moralischen und 
humanen Perspektiven entbehrende Handlung. Die Gesell- 
schaft, die an jede Scheidung einen öffentlichen Skandal durch 
die nachfolgende peinliche Untersuchung vor den Gerichts- 
schranken knüpft, kann unter keinen Umständen verlangen, 
daß jeder erst sein ganzes Eheunglück vor einer sensations- 
lüsternen Presse und einem ebenso gestimmten Publikum 
preis gibt, bevor er sich zur Abstreifung der Ehefesseln ent- 
schließt. Es gibt eben mimosenhafte Naturen, deren ästhe- 
tisches Empfinden so kategorisch ist, daß sie lieber in fort- 
gesetztem Ehebruch — den sie normalerweise nicht als solchen 
empfinden können — leben, bevor sie den Schmutz eines 
kurzen Ehescheidungsprozesses auf sich nehmen. 

In Amerika ist kürzlich der Brauch aufgekommen, Probe- 
ehen auf eine bestimmte Dauer zuzulassen, in denen sich 
Braut und Bräutigam gegenseitig auf Herz und Nieren prüfen, 
und die erst nach Ablauf der vorbestimmten Frist als giltig 
geschlossen zu betrachten sind. Der Gedanke ist frappant, 
tiefsinnig, voll gesunder Wahrheit, aber nicht neu, denn schon 
Jahrzehnte früher hat Schleiermacher in seinen philosophischen 
und vermischten Schriften etwas ganz Ähnliches ausgesprochen: 


208 GESCHLECHT UND OESELLSCHAFT 


„Warum, sagt er, soll es mit der Liebe anders sein, als mit 
allem übrigen? Soll etwa sie, die das höchste im Menschen 
ist, gleich bei dem ersten Versuch von den leisen Regungen 
bis zur bestimmtesten Vollendung in einem einzigen Tage 
gedeihen können? Sollte sie leichter sein, als die einfache 
Kunst zu essen und zu trinken, die das Kind lange erst mit 
ungeschickten Objekten und rohen Versuchen ausübt, die 
ganz ohne sein Verdienst nicht übel ablaufen? Auch in der 
Liebe muß es vorläufige Versuche geben, aus denen nichts 
Bleibendes entsteht, von denen aber jeder etwas beiträgt, um 
das Gefühl bestimmter und die Aussicht auf die Liebe größer 
und herrlicher zu machen.“ Dieser mystische Drang, im 
anderen immer das eigene vollkommenere „Ich“ zu suchen, liegt 
auch unzähligen Ehebruchstragödien zu Grunde. Wer kann 
die Frau schuld heißen, die eines Tages aus der Erkenntnis, 
einen wertvolleren Partner gefunden zu haben, sich hingibt? 
Das Gleiche trifft aber in einem noch weit höheren Maße 
für den Mann zu, der Zeit seines Lebens auf der Suche nach 
dem Weibe begriffen ist. Eine alte Volksweisheit sagt, daß 
das Herz des Menschen erst dann erwache, wenn es zum 
ersten Mal das Heimweh fühle. Aber das letzte Heimweh 
des Mannes wurzelt im Weibe. Wie kann die Gesell- 
schaft den Stab über ein Vergehen brechen, das in seinem 
Urgrund einem so großen und erhabenen Gefühl entspringt? 
Freilich, die Gesellschaft hat auch gegen den außerehelichen 
Geschlechtsverkehr und alle Emanationen des Geschlechts- 
triebes überhaupt selbstgefälligen Einspruch erhoben und hat 
als heuchlerische Maske das Prinzip der Keuschheit vor- 
genommen. Aber, ein Weib, das sich 10 Männern hingegeben 
hat, und ein Mann, der dauernd die Ehe bricht, kann noch 
immer keuscher sein, als mancher Vorsitzende eines Sittlichkeits- 
vereins oder mancher jener Landpastoren, die die Sittlichkeit 
behördlich gepachtet haben. Das stärkste Prinzip der Gesell- 
schaft ist ihre absolute Prinzipienlosigkeit, und von diesem 
Standpunkt aus wertet sie alles, was sie nichts angeht. Die 
eheliche Treue ist — ebenso wie die persönliche Keuschheit 
— etwas so Intimes, durch fremde Einflußnahme so leicht 
zu Entweihendes, daß beide immer das brennendste Interesse 
der Moralphilister bilden werden, und wie in den Tagen des 
Zimmermannssohnes aus Nazareth werden sich noch heute 


Re 
ЖӨ, М; Er Se 





WE Ж. у: gi E 
IC ABEVNT, REDEVNTQ ALIAE DE MORE COLVMBAE- 


MÄNNERFANG. Symbolischer Kupferstich von DE BRY. 
Zu dem Aufsatz »Die Jagd nach dem Mann«, Seite 210. 





URIEUSER 


Da [ehzrache Piber Polek. dar nur dar Schwerd im Munde. wann fiten Фе” fish um ein paar hoßen [Magen 
nicht- ın den Јаше har dar Jerit um hopen hier f Sehlugen 100 fit IAR um emen Mann: 
und гт fich darum ame um em bein he hunde dafft-Ihnen Af fud! nur af Sredie nıcht- fragen. 
Jamit ja Leine тое Әт от Schar, verdier жал ‚Ann. verbergen „Р. füeht jřnen toffer an. 
реб уч foam? heme gpd rn SP A ` Aë 


DER KAMPF UM DIE HOSEN. Deutsche Karikatur aus dem 17. Jahrhundert. 
Zu dem Aufsatz »Die Jagd nach dem Mann«, Seite 210. 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 209 


und später solche finden, die bereitwillig jeden Ehebrecher 
steinigen. Und entgegen dem Wort in den Evangelien tun 
es alle gerade darum, weil sie sich selbst schuldig fühlen. 
Praktisch genommen wird auch der Zweck, der den 
meisten Ehebruchsprozessen zu Grunde liegt: Bestrafung und 
Läuterung des schuldigen Teiles, überhaupt nicht oder nur in 
geringem Umfange erfüllt. In den seltensten Fällen sind die 
Richter, die in einem der kompliziertesten Probleme die 
Lösung finden sollen, auch gleichzeitig objektive Psychologen. 
Und doch dürften in solchen Prozessen nur ganz erfahrene 
und ergraute Männer, die vor allen Dingen mit den geheimsten 
Tiefen des Seelenlebens vertraut sind, Recht sprechen, nach- 
dem sie das Maß der Verschuldung auf beiden Seiten in pein- 
licher und gleich gerechter Weise abgewogen haben. Kommt 
aber ein Ehebruchsprozeß zur Verhandlung, so werden der 
angeklagte Teil und seine Mitangeklagten durch alle Untiefen 
des Schmutzes geschleift, während der Kläger nur bedingt 
zur Schuld herangezogen wird und sich bei weitem nicht 
jene demütigende Verspottung seines Seelenlebens gefallen 
lassen muß. Für Gründe, wie ich sie eben angeführt habe, 
und die von weittragendem Gewicht in der richtigen Beur- 
teilung des Ehebruchsvergehens sind, darf der Richter schon 
aus Berufspflicht und als Mandant der Gesellschaft kein Ohr 
haben. Alles andere aber: in welcher Weise, wie oft und an 
welchen Orten die eheliche Treue verletzt wurde, ist be- 
deutungslos im Verhältnis zu den Ursachen, aus denen der 
Ehebruch geflossen ist. Wären unsere Richter in erster Linie 
Psychologen und erst an zweiter Stelle Juristen, dann gäbe es 
kein Ehebruchsproblem und auch keinen Paragraph 172, weil 
er sich als überflüssig herausstellen müßte. Denn, wo kein 
Vergehen ist, da gibt es auch keine Rechtsprechung und kein 
Urteil. Freilich, das Gesetz steht heute und noch auf lange 
Zeit hinaus im Dienste der Sensation, denn das Gesetz ist 
die einzige Form, in der die Masse ihre souveränen und bru- 
talen Instinkte ausströmen lassen kann. Und aus dem Grunde 
können nur durch eine Regeneration der Masseninstinkte 
Probleme, wie das der ehelichen Untreue, zum Schwinden 


gebracht werden. O 9 
EI 


Geschlecht und Gesellschaft, VIII, 5. 14 


EES EES 





DIE JAGD NACH DEM MANNE. 
Von JOHANNES MARR. 


ein mit Witz und Geist Begabter, wohl aber ein Pessimist 

mit scharfen, das Leben durchdringenden Augen hat zu- 
erst das Bild der alten Jungfer gezeichnet; einer, der vielleicht 
allein unter Vielen die Tragödie erfaßt hat, von der jedes Weib 
bedroht ist, wenn die Werbekraft seiner Jugend und Schön- 
heit erloschen ist und die ‘entsetzlichste Krankheit, die den 
Organismus befallen kann, das Alter, sich unerbittlich meldet. . 
Denn das Alter ist härter als alle übrigen Krankheiten, weil 
es kein Mittel gibt, dem physischen Niedergang zu steuern 
und das schmerzlose Verdämmern aller Schönheit und Geistig- 
keit hintanzuhalten. Darum die Sehnsucht aller Völker und 
Zeiten nach Verjüngung, die Idee von der Wiedergeburt zu 
einem ewigen, jugendverklärten Leben im Jenseits, die Philo- 
sophie von der Metempsychose und die Legenden vom Jung- 
brunnen, die im Mittelalter dem ganzen Orient und Occident 
geläufig waren. Aus diesem Haß, dem Abscheu vor dem 
Altern, das beim Weibe noch verhängnisvoller, offenkundiger 
einsetzt, als beim Manne, erklärt sich auch die Satire auf den 
alten Mann und das alte Weib und die grausame, aller Be- 
rechtigung und Menschlichkeit bare Verspottung der alten 
Jungfer. 

Das Weib hat trotz aller schönfärbenden Maximen der 
Emanzipation und der begeisterten Verherrlichung verliebter 
Jugend nur solange positiven Wert für den Mann, als es ihn 
sexuell anzieht und ergänzt. Die ganze Bedeutung und 
Mission der Frau liegt in ihrer hochgespannten Sexualität, in 
ihren erotischen Qualitäten, die den nach dieser Seite stark 
unvollkommenen Mann entscheidend beeinflussen. Das Weib, 
sei es naiv oder emanzipiert, mittellos oder in seiner sozialen 
Position vom Manne unabhängig, erkennt diesen elementaren 
Grundzug seines Charakters und gleichzeitig die Macht, die 
ihm dadurch über den Mann gegeben ist. So kommt es, daß, 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 211 


wo zwei Menschen verschiedenen Geschlechts einander be- 
gegnen, augenblicklich jenes geheime, tiefsinnige Spiel beginnt, 
das als ein Vorpostengefecht der Liebe, das erste vielleicht 
unbewußte Stadium der Liebe bezeichnet werden muß. 
Es gibt keinen Mann, der in Wirklichkeit irgend einem Weibe, 
und wäre es selbst die, die ihn empfangen und geboren hat, 
indifferent gegenüberstände, und umgekehrt fühlt sich jedes 
Weib, selbst dem ärmsten und häßlichsten Manne gegenüber 
als die Gewährende, Umworbene, eine sexuelle Superiorität 
Ausübende Paradox ausgedrückt, befinden sich die Ge- 
schlechter von der Kindheit an bis ins späte Alter hinein in 
einem Zustande dauernder Werbung um einander. Und diese 
Werbung ist es, die dem Leben des Einzelnen Inhalt, Form 
und Bedeutung gibt. Das Weib ist von Natur aus der 
passive Teil, und zweifelsohne ist ihre Passivität die beste 
und erfolgreichste Waffe, mit der es den Mann seinen 
Wünschen gefügig machen kann. Es ist eine erwiesene Tat- 
sache, daß im Leben gerade die Frauen auf die meisten 
Triumphe zurückblicken können, die entweder von ihrer Sexua- 
lität scheinbar sich völlig losgelöst haben, oder der skrupel- 
losen Werbung seitens des Mannes überhaupt keinen Wider- 
stand entgegensetzen. Mit anderen Worten: die vornehmen, 
an Geist und Schönheit hoch über das Niveau emporragenden 
Frauen, deren Kennzeichen zeitlebens eine bewunderungs- 
würdige Kühle war, und die Parias in den Niederungen und 
Sümpfen des Lebens — die Dirnen. In der Werbung der 
Geschlechter um einander siegen nur die Extreme, denn das 
sexuelle Wunschempfinden reagiert letzten Endes doch nur 
auf Perversitäten und Brutalitäten. Allerdings entpuppt sich 
nachträglich Vieles, was als unnatürlich oder häßlich bezeichnet 
wurde, als das direkte Gegenteil davon und man erkennt bei 
näherem Zusehen, daß dieser unüberbrückbare Unterschied 
zwischen Dirne und Madonna garnicht vorhanden ist. 

Wenn im Laufe der Jahrhunderte die Werbung der Ge- 
schlechter umeinander einen anderen Charakter gewonnen hat, 
indem das Weib aus seiner passiven Rolle herausgetreten ist, 
und sich immer mehr als die Angreifende dem Manne nähert, 
so geschieht es darum, weil es an Schamhaftigkeit eingebüßt 
und sich in dem weiblichen Geschlechte eine allseitige Dege- 
neration zur Dirne vollzogen hat. Die geänderten ökono- 

14° 


212 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


mischen Bedingungen, unter denen allein die vorhandene Kul- 
tur lebensfähig ist, und die damit unvermeidliche Umwandlung 
der moralischen Anschauungen haben systematisch und kon- 
sequent das Weib zu einem reinen Handelsobjekt herab- 
gewürdigt und seinen Wert von einer mehr oder weniger ge- 
schickten Reklame abhängig gemacht. Da der Mann nun 
einmal im Weibe immer nur das Instrument zur Befriedigung 
seines Sexualempfindens sucht, finden unter den heutigen Be- 
dingungen jene Frauen die größten Chancen, die sich als 
reine Kaufartikel anbieten und sich demgemäß herausstellen. 
Diese Anschauung ist unserer Generation derartig ins Blut 
übergegangen, daß die Mütter bereits ihre ganz jugendlichen 
und halbmündigen Kinder zum Zwecke der sexuellen An- 
ziehung kleiden, eine verhängnisvolle Eitelkeit in ihnen erziehen 
und mit den kindlichen Leibern schamlose Exhibition treiben. 
Jedes halbreife Mädchen ist heute in der Großstadt eine ganze, 
auf dem Lande, wo noch die vielgepriesene Sittlichkeit herrscht, 
bereits eine halbe Kokotte geworden. Wer das nicht glaubt, 
der mache doch einmal einen Nachmittagsbummel durch irgend 
eine großstädtische Hauptstraße und halte nach rechts und 
nach links fleißig nach den kleinen Mädchen Ausschau. Was 
die Mütter noch an Händen führen, ist so unnatürlich und 
selbstgefällig herausgeputzt, daß man es den kleinen Zier- 
puppen auf den ersten Blick ansieht, in welcher Absicht es 
die junge Mutter so herausstaffiert hat und das eckige Kör- 
perchen in so skrupelloser und unhygienischer Weise blos- 
stellt. Diese Mütter schmücken ihre Kinder nur aus rein 
sexuellen Motiven, einmal, weil das Schmücken und Ankleiden 
für die Frau einen sexuellen Wert bedeutet, zum anderen, 
weil man dadurch vielleicht unbewußt die vorübergehenden 
Männer auf die eigene Persönlichkeit hinlenken möchte. 
Man spricht soviel von der Kultur der Jugend, bildet Ver- 
einigungen für Sport und Jugendspiele, aber das alles ist ein- 
seitig und hat für die Jüngsten unter unseren Mädchen keinen 
praktischen Wert. Man müßte die kleinen Mädchen ihren 
Müttern entreißen und sie wie das Jungholz im Walde frei 
aufwachsen lassen. Vor Allem müßte den Müttern ein Pri- 
vatissimum der Kindererziehung gelesen werden, damit sie 
selbst über den gefährlichen Charakter ihrer Affenliebe zu 
den Sprößlingen aufgeklärt werden; vielleicht, daß wir dann 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 213 


über eine gesündere, spartanisch erzogene Jugend verfügen 
würden. Freilich, das liegt noch in weiter Ferne. 

Ist so ein junges Ding erst einmal konfirmiert, dann be- 
ginnt es sich nach allen Regeln der Kunst mit dem Mann zu 
beschäftigen, kurz, es versucht die ersten tastenden und zu- 
meist von Erfolg begleiteten Schritte in der Jagd auf den 
Mann. Die heranwachsenden Mädchen sind weit gefähr- 
licher als die ganz reifen und aufgeblühten, weil sich ihre Be- 
gehrlichkeit mit einer reizenden Dosis Unschuld, ihre Ver- 
derbtheit mit ebensoviel anmutiger Schamlosigkeit verbindet. 
Was könnte man über dieses Kapitel Neues sagen, das doch 
die Prevöst, Kahlenberg, Tovote, Wedekind, Rideamus u. a. in 
so erschöpfender Weise beschrieben haben? Die Werbung 
geht in diesem Alter in den seltensten Fällen aufs Ganze, — 
das Ganze in dem Sinne verstanden, daß das betreffende 
Mädchen den Mann für sein ganzes Leben an sich fesseln 
will, — sondern allein auf den Flirt. Schließlich ist es auch 
nichts anderes als Flirt, wenn es dann zu Vorfällen kommt, 
die zu den Tragödien des Lebens gezählt werden müssen: 
wenn zum Beispiel ein dreizehnjähriges Mädchen ein Schick- 
sal durchlebt, wie die Wedekind’sche Wendla Bergmann, oder 
zwei halbwüchsige Geheimratstöchter sich von ihrem Chauffeur 
verführen und gleichzeitig mit Syphilis infizieren lassen. Das 
eine ist vor nicht allzu langer Zeit in Prag, das andere in 
Leipzig geschehen. Auch das bedeutet nichts anderes als 
Flirt, allerdings bereits von einer bedenklicheren Form, aber 
charakteristisch für eine Zeit, die eine Reinigung der ethischen 
Prinzipien und eine Reform der sexuellen Sitten anstrebt. 

Geschieht solches am grünen Baum, wie sollte man sich 
darüber wundern, was auf dürrem Holze gedeiht! Die Jagd 
nach dem Manne, d. h. der Versuch, das am meisten taugliche 
männliche Objekt in das Ehejoch zu spannen, wird heute mit 
ganz anderen Mitteln angegangen, wie vielleicht vor einem 
Jahrhundert und noch früher. Ich meine: bestanden hat das 
Werben um den Mann seit vordenklichen Zeiten und die Mo- 
tive sind durch die Zeiten die gleichen geblieben, geändert 
haben sich nur die Mittel. Oder, wenn man will, sind auch 
diese die gleichen geblieben, nur werden sie offenkundiger, 
skrupelloser angewendet als früher. Als der junge Parthenopier 
in der Burg seines Gastfreundes übernachtete, da kam Meliur 


214 GESCHLECHT UND QESELLSCHAFT 


zu ihm ins Bett geschlichen und wurde auf diese Weise sein 
Weib. Die mittelalterlichen Zeichner und Satiriker haben mit 
Vergnügen eine Schar Weiber gemalt, die sich um irgend eine 
Männerhose in den Haaren liegen. Variiert findet sich das 
gleiche Thema in der Satire von der Männerfalle, wo schöne 
Frauen ihre Netze auf allerlei vorüberflüchtendes Männervolk 
erfolgreich aufstellen. Geistreicher, mit grotesk unheimlichen 
Perspektiven behandelt der moderne Satiriker Felicien Rops 
den gleichen Gegenstand, wenn er ein nacktes junges Weib 
auf einem Käfig sitzen läßt, in dem ein Dutzend gefangener 
Männer zappeln. Das Fatum, die immer bereitwillige Kupp- 
lerin, steht daneben und winkt den neuen Scharen zu, die 
sich unsichtbar im Hintergrunde drängen. In einer gewissen 
Umdeutung lassen sich selbst die gewagten Bilder, die von 
den „Liebesgöttern“ handeln, und an die Meister wie Ramberg, 
Kaulbach u. a, ihre Kunst gewandt haben, als Illustration zu 
dem gleichen Thema bezeichnen. Der Mann hat seit Jahr- 
tausenden immer ein Objekt besonders hochgeschätzt und 
unter Umständen mit seiner persönlichen Freiheit bezahlt: das 
ist die physische Jungfräulichkeit am Weibe. Aus dem 
Grunde ist der intakte Hymen eines der geschätztesten 
Agitationsmittel für die heiratslustige Frau geworden. Wir 
wollen hier die Frage nicht untersuchen, inwieweit die Über- 
schätzung der Jungfräulichkeit mit zu den Ursachen einer 
späteren unglücklichen Ehe gehören kann. Ebensowenig 
wollen wir uns hier mit dem Problem des Donjuanismus 
auseinandersetzen, der unseres Erachtens alles andere als ein 
Beweis von erotischer Genialität, von starkem, exzeptionellem 
Persönlichkeitswerte ist. Schon der Umstand, daß der Mann 
seine Liebe auf mehrere Frauen gleichzeitig erstrecken kann, 
macht ihn im Sinne des echten, sublimen Erlebnisses unfähig. 
Die ganze Neurasthenie des modernen Zeitalters geht in ihrem 
Ursprung darauf zurück, daß es unter den modernen Männern 
viel Don Juans aber wenig Charaktere gibt, Charaktere, die 
sich auch in der Liebe als solche offenbaren. 

Der Donjuanismus des modernen Mannes hat es ver- 
schuldet, daß die Frau ihrerseits sich mit Vorliebe auf das 
Niveau einer Kokotte herabfühlt — ich bemerke ausdrücklich, 
einer Kokotte, nicht einer Dirne, denn eine Dirne ist etwas, 
was unter Umständen turmhoch über eine anständige Frau 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 215 


emporragt; aber eine Kokotte ist das stilgerechte und not- 
wendige Komplement zum Don Juan. Unsere jungen Mäd- 
chen, die sich abmühen, unter allen Umständen einen Mann 
zu kapern, haben dieses „Je ne sais quoi“, das sie zur Kokotte 
macht, überraschend schnell herausgefunden. Man braucht 
sich nur in einem Salon, wo man beispielsweise zum Fünf- 
Uhr-Tee geladen ist, mit offenen Augen umzusehen, und man 
wird in jeder Ecke ein solches Kokottchen entdecken. Die 
eine schwärmt von Chopin und läßt sich dabei von ihrem 
Kavalier mit den Knien drücken und pressen, was erfahrungs- 
gemäß in einem Tingel-Tangel selbst die ausgepichte Dirne 
sich nur ungern gefallen läßt. In einer anderen Ecke sitzt 
eine junge Dame, raucht Zigaretten wie ein preußischer Leut- 
nant und liest ihren Zuhörern einen medizinischen Kolleg, 
mit einer Geste, die eine einzige ununterbrochene schamlose 
Enthüllung der Seele bedeutet. Eine dritte weiß pikant von 
ihren Träumen zu schwatzen und flicht dabei ihre eigenen 
Wünsche in Form schwüler geträumter Erlebnisse ein, unge- 
fähr so, wie es Rideamus in seiner entzückenden Erzählung 
„Das Mädchen mit dem schlechten Ruf“ beschreibt: 


Im Wintergarten ist es kühl, 

Ein wunderbares Farbenspiel. 

„Lieber Richard, sagt Annemarie, 

Nicht wahr, Sie verstehn sich auf Psychologie?“ 
Dann flüstert sie leise, man hört es kaum: 
„Ich hatte heut’ Nacht einen Traum. 

Ich stand vor einem hohen Altar, 

Mit weißen Orangenblüten im Haar, 

Mir war so feierlich zu Mut, 

Ich fühlte mich so sanft und gut, 

So rein und glücklich wie nie im Leben. — 
Können Sie mir eine Deutung geben? 
Glauben Sie, daß ich mit einem Mann 

In der Ehe glücklich werden kann?“ 

Und dabei sieht sie den schweigsamen Mann 
Mit Thumannschen Märchenaugen an. 


Aber das sind noch die harmlosen Methoden, mit denen 
das moderne Weib den Mann an sich zu fesseln trachtet, 
gewöhnlicher sind die Fälle, wo das Mädchen dem Manne 
nichts, auch nicht die letzte Gunst verwehrt, sofern sich ihm 
die Aussicht bietet, dadurch unter die Haube zu kommen. 
In frühern Zeiten kam die Frau dem Werben des Mannes 


216 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


entgegen, weil sie es hoch schätzte, um ihrer Jugend und 
Schönheit willen begehrt zu werden. Heute tragen die Frauen 
Jugend und Schönheit auf den Markt, weil mit ihnen unter 
Umständen ein billiges Geschäft, d. i. die Ehe zu machen ist. 
Noch Henri Murger oder der ihm kongeniale Otto Julius 
Bierbaum konnten so entzückend verlogene Sachen wie die 
„Scenes de la vie boh&me“ oder die „Waschermadelhistorie“ 
dichten, wo junge Mädchen Verhältnisse lediglich um der 
Liebe und Torheit willen anknüpfen. Das Verhältnis ist im 
Gegenteil heute der gangbarste Weg, auf dem ein halbwegs 
raffiniertes Mädchen zu dem Endziel ihrer Wünsche, und das 
ist immer die Verheiratung, gelangen kann. Darum suchen 
die meisten Mädchen irgend ein Verhältnis und scheuen kein 
Experiment, wenn es um die Anknüpfung eines solchen geht. 
Ein junger Mann, der eine Zeitungsannonce an eine ihm 
befreundete, persönlich jedoch nicht erreichbare Dame auf- 
gegeben hatte, worin er um ein Rendezvous bat, erhielt auf 
die gleiche Annonce noch 17 andere Briefe, in denen ihm 
ganz unbekannte junge Mädchen unverhohlen ihre Freund- 
schaft antrugen. Überhaupt hat sich der Spieß jetzt umge- 
dreht und der Mann ist das kostbare, umworbene Wild, das 
von der kühnen, keinen Skandal und keine Nachrede scheuenden 
Jägerin erlegt zu werden trachtet. Die einen versuchen es 
auf Bällen, in Konzerten oder im Theater, andere auf einem 
Picknick, beim Rodeln, oder auf einer Landpartie, die dritten 
durch eine geschickt stilisierte Annonce, wieder andere da- 
durch, daß sie sich den Chik, die Eleganz und das sichere 
Auftreten der Halbwelt zu eigen machen suchen; die meisten 
jedoch, indem sie recht freigebig ihre letzte Gunst verschenken 
und sich den Bedürfnissen des Mannes anpassen, der immer 
mehr und mehr in jedem Weibe das Dirnenhafte, die 
Niedrigkeit der Gesinnung und des Empfindens 
sucht. Denn der moderne Dekadent braucht das, um sich 
eine Superiorität über das Weib, irgend einen Persönlichkeits- 
wert vorzutäuschen. Und weil die Frauen seinem Verlangen 
bereitwillig entgegenkommen, schwillt das Heer der Prostitution 
dauernd an, auf der anderen Seite aber glückt es auch so 
manchem Mädchen, zur Ehe zu gelangen. 





ANWENDUNG DER KRAFTPHILOSOPHIE 
AUF DIE SEXUALPROBLEME. 
Von Dr. ROBERT HESSEN’). 

in Volk, das leben will, muß sich fortpflanzen; dies ist 

die oberste aller Existenzfragen. 

Fortpflanzen kann es sich nur durch die Zeugungskraft; 
Verständnis für die Pflege dieser Kraft ist also eine heilige 
Pflicht. 

Es ist unmöglich, daß ein Volk aus kräftigen, lebhaften, 
leistungsfähigen, begabten Vollmenschen besteht, während 
gleichzeitig die Zeugungskraft in Verruf getan wird. 

Ebenso schädlich und unwissenschaftlich ist es, die 
Zeugungskraft halbieren zu wollen in eine eheliche und 
außereheliche, die eheliche zu gestatten, die außereheliche mit 
dem Makel des Lasters zu behaften, sie auf jede Weise zu 
verfolgen oder gar ausrotten zu wollen. Denn aus einem 
solchen Kampf gegen das Notwendigste, das einer Nation 
eignet, wird sich nicht etwa der eheliche Teil desto besser 
abheben, sondern gleichfalls in Verruf geraten. 

Diesem traurigen Tiefpunkt haben wir uns in Deutsch- 
land genähert. Ich spreche dabei nicht vom dritten Orden 
des heiligen Franziskus, der aus Ehepaaren besteht, die das 
Gelübde abgelegt haben, sexuell einander nicht zu berühren, 
und auf Nachwuchs verzichten. Was nicht etwa irgendein 
Prinzip auf die Spitze treibt, sondern lediglich in selbstüber- 
windender Weise das nachahmt, was Christus lebte und 
Paulus mindestens als dasBessere empfahl. Nun wird man, sobald 
sich ein vollsäftiges blühendes Mädchen von Priestern, die gerne 
Kraftproben ihres Einflusses ablegen, bereden läßt eine solche 
Ehe einzugehn, nicht behaupten können, daß es staats freund- 
lich sei, wenn zur Fortpflanzung gut geeignete Personen 
diese nationale Pflicht abweisen. Folgten alle Ehepaare diesem 
„frommen“ Beispiel, so könnten die Nationen abdanken und 
ihr Feld wiederum dem Vieh überlassen. Da dies nicht 
- *) Aus „Philosophie der Kraft‘‘. Sutttgart. Julius Hoffmann. 





218 GESCHLECHT UND OESELLSCHAFT 


wahrscheinlich ist, begnügt man sich wenigstens ideell mit 
Quellenverschüttung, und selbst innerhalb der protestantischen 
Bevölkerung steht inbetreff der Fortpflanzung weitaus die 
Mehrzahl auf dem Standpunkt jenes Bauern, der den mit 
einem Ekelnamen belegten Zeugungsakt nur noch der christ- 
lichen Ehe vorbehalten wünschte. Dagegen sprechen Jung- 
darwinisten mit Fug und Recht von der „generativen Ver- 
sumpfung“, in die wir durch Verherrlichung des kirchlichen, 
will sagen kränklichen, lebenswidrigen Tugendbegriffs hin- 
eingeraten seien, und Schallmeyer (in „Vererbung und Auslese”) 
denkt hierin genau so wie Nietzsche. 

Wirklich ist es ein merkwürdiger Mangel an Logik bei 
unsern Führenden: Nationale Macht anzustreben und gleich- 
wohl die Zeugung als bestenfalls geduldet zu empfinden. 

Um von dem Grade der hier vorwaltenden Unzweck- 
mäßigkeit einen Begriff zu geben, seien noch einige Zahlen 
mitgeteilt. Nach dem Familienstand- und Altersregister von 
1900 — dem jüngsten, dessen Tabellen vorliegen, da das 
„Statistische Jahrbuch des deutschen Reiches” diese wichtige 
Rubrik neuerdings nicht mehr führt, — gab es im Reich 
rund 6,4 Millionen reifer, doch unversorgter Männer (im 
Alter von 18—70 Jahren); es kamen auf rund 9,8 Millionen 
Ehefrauen rund 6,5 Millionen reifer, unversorgter Mädchen 
(von 16—50 Jahren) und jüngerer Witwen. Es standen 
also gegen 19!/, Millionen, die ihre landläufige sexuelle Be- 
stimmung gefunden hatten, 13 Millionen nicht minder be- 
rechtigter unversorgt. 

Da man es nun weder einem Säugling, noch einem 
Heranwachsenden ansehn kann, ob er eines Tages zum 
inneren 'versorgten Zirkel oder zum darbenden Kreise der 
unversorgten gehören soll, werden vorläufig Kinder noch so 
aufgezogen, als ob sie durch die Zugehörigkeit zu einem 
der beiden Geschlechter nicht geradezu geschändet würden. 
Sobald aber die sexuelle Reife sich ankündigt und natürlich 
auch ihre beunruhigenden Forderungen erhebt, pflegt in 
Deutschland jedes Verständnis, jede Duldung aufzuhören, 
und eine rigorose „Moral” mit ihren öden Predigten tritt an 
die Stelle hygienischer Vorsorge. Sind die Folgen elterlicher 
Nachlässigkeit heraufbeschworen, so lautet die Formel: „Das 
Kind macht uns solchen Kummer” Von dem Kummer, den 


GESCHLECHT UND QESELLSCHAFT 219 


moralinsaure Eltern durch Nichthygiene ihren Kindern ver- 
ursachen, wird nicht gesprochen. Daher wünschen die 
Hygieniker, daß anstatt „sexueller Aufklärung” der Kinder 
lieber endlich einmal mit der Aufklärung der Eltern ange- 
fangen werde. 

Es liegt auf der Hand, daß strenge Forderungen der 
Enthaltsamkeit nur dort einen Sinn haben, wo die Sättigung 
der Reifgewordenen in absehbarer Nähe steht. Dies war der 
Fall bei den alten Germanen, wo der Schwertfähige bald 
auch hufenberechtigt wurde und zu dieser Vollnahrung ein 
Weib nahm. Unter solchen Umständen konnte die Zahl 
der unbefriedigten Reifen niemals bedenklich ansteigen wie 
bei uns, deren Zivilisation in diesem Punkte ein grausiges 
Fiasko macht. Beflissen dienen Statistiker, die leider nicht 
statistisch zu denken verstehn, der allgemeinen Verblendung 
und Gewissenshärte. Die Vorspiegelung, daß von sämtlichen 
deutschen Mädchen 90 Prozent nach "und nach unter die 
Haube kämen, ist ein haasträubender Unsinn. Niemals kann 
die Heiratsquote in irgend einem fernen Jahrgang den augen- 
blicklichen Status aufbessern. Alljährlich kommt von den 
etwa 6!/, Millionen unversorgt dastehenden nur eine halbe 
Million zur Wahl; dafür rückt in gleichem Tempo der Nach- 
schub in die Lücken, um die Aussichten der Übriggebliebenen 
wieder zu verschlechtern. Gleich im ersten Rechnungsjahr 
aber sterben von den Unversorgten (im Alter von 16 bis 50) 
an 35000 hinweg; diese Sterbequote steigt in späteren Jahren, 
während sich die Ehequote schon vom 23. Jahr ab ver- 
schlechtert und zuletzt ganz rapide sinkt. Allein diese Milli- 
onen, die unbefriedigt warten mußten und unbefriedigt ins 
Grab sanken, tauchen in jenen geistvollen Statistiken nicht 
auf, sondern werden einfach unterschlagen. Kurz, von den 
deutschen Frauen sind ein für allemal nicht ein Zehntel, sondern 
vier Zehntel dazu verurteilt, ehelich unversorgt zu bleiben, 
während sie doch gleichfalls von der Natur zur Paarung be- 
stimmt und reif gemacht werden. 

Es ist pharisäisch, nach solchen Mädchen, die unter 
diesen ungünstigen Umständen in Versuchung 'geraten und 
straucheln, mit Steinen zu werfen und ihren Nachwuchs 
unter einen derartigen gesellschaftlichen Druck zu setzen, daß 
er daran erstickt. Dieser Massenmord wird nun in Deutsch- 


220 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


land alljährlich in den Reihen von rund 170000 unehelichen 
Säuglingen verübt und rafft fast ein Drittel von ihnen schon 
im ersten Lebensjahr hinweg. 


Zu solcher Gehässigkeit ist überhaupt keine Gesellschaft 
berechtigt; am allerwenigsten aber die deutsche, die sich 
doch so unfähig zeigt, eine ausreichende Zahl Eheschließun- 
gen zu erzielen. Der Hochmut dieser Satten vom inneren 
Zirkel wird leider bis zur Unerträglichkeit gereizt durch be- 
amtete und freiwillige Tugendwächter. Doch wie Baco von 
Verulam einst Metaphysik und Theologie aus der Wissen- 
schaft hinauswarf, gehört es zu den dringendsten Pflichten 
der Hygiene, endlich die „Sittlichkeit” in allen ihren kraft- 
mörderischen Gewohnheiten zu entlarven und sie aus der 
nationalen Gesundheitspflege zu entfernen. 


Das Ideal, das die Hygiene für nationale Kraft auf sexu- 
ellem Gebiet aufstellt, fordert als ersten Punkt: daß eine 
möglichst große Zahl von Mädchen und Knaben zu makel- 
loser Geschlechtsreife heranwächst; als zweiten: daß ver- 
ständige Vorsorge getroffen wird, um gegen den durchaus 
physiologischen Anreiz der Natur Widerstandskräfte zu ent- 
wickeln, die durch bekömmliche Ableitung vorzeitigen Ge- 
brauch verhüten; als dritten: daß eine möglichst große Zahl 
von Mädchen und Männern in der Vollblust ihrer Jugend- 
kraft zur Paarung schreiten kann, während Ehen von Abge- 
welkten, Kranken und Müden für die nationale Arterhaltung 
unerwünscht sind. 


Hier entsteht nun die große. Schwierigkeit: was wird 
aus den Reifen, die nicht sogleich zur Ehe gelangen, sondern 
auf lange Wartezeit gesetzt sind? Auf die Forderung völliger 
Enthaltung als leitendes Prinzip wird hier wegen ihrer be- 
quemen Gedankenlosigkeit garnicht erst eingegangen. Ihre 
Erfüllung mag vorkommen; und sie mag in sehr seltenen 
Fällen sogar ohne Dauerschaden bleiben. Die Erfahrung 
lehrt aber, daß die menschliche Natur bei der ganz über- 
wiegenden Mehrzahl sosehr jener Forderung widerspricht, 
daß sie unpraktisch wird. Zur Widerlegung derer, die dies 
Problem überhaupt garnicht ernst ins Auge fassen, sondern 
sich immer nur mit Redensarten brüsten, seien wiederum 
einige Ziffern angeführt. 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 221 


Wie groß ist z. B. im Deutschen Reich die Zahl der all- 
jährlichen Vermischungen überhaupt? 

Anhaltspunkte gewährt für den ehelichen Zirkel die 
Statistik der Neugeborenen. Ich glaube mich in sehr be- 
scheidenen Grenzen zu halten, wenn ich für jedes Neugeborene 
hundert Vermischungsakte rechne, das bedeutet 100 x 1,8 
Millionen oder 180 Millionen. Denn bei Jungverheirateten 
ist die Ziffer ganz gewiß doppelt und dreifach so groß, ja 
recht häufig noch weit größer, wodurch ein Ausgleich mit 
den Trägeren und Älteren zustandekommt. Da sich in jedem 
Jahre nur ein knappes Fünftel der Verheirateten an der Fort- 
pflanzung beteiligt, und in der Ehe der Trieb, weil die meisten 
Frauen so früh zusammenbrechen, reizlos werden und ab- 
stoßend wirken, vorzeitig erlischt, mag man auf diese vier 
Fünftel, in denen auch die Greisenpaare enthalten sind, nicht 
das vierfache, sondern wenig mehr als ebensoviel berechnen. 
Das gäbe zusammen etwa 400 Millionen ehelicher Vermisch- 
ungsakte im Jahr; es können aber auch weit mehr sein. 

Für den außerehelichen Zirkel der käuflichen und „freien“ 
Liebe habe ich an anderer Stelle!) mit bescheidensten Ansätzen 
die Zahl von 156 Millionen Zusammenkünften im Jahre heraus- 
gerechnet, während der doppelte oder gar mehrfache Betrag 
wahrscheinlicher ist, und hinzugefügt: Wie blind und ver- 
nagelt muß jemand sein, um angesichts einer so enormen 
Zahl, neben der die winzigen Eigentumsdelikte völlig ver- 
schwinden, das tiefe elementare Bedürfnis nicht zu bemerken? 
Wie boshaft, um es zwar zu bemerken, aber zu bestreiten? 
Wie weltfremd, um sich einzubilden, hier mit Phrasen und 
weißer Salbe, mit dünkelhafter Predigt und sonstigem Wort- 
gepränge, mit Verbot und vollends mit Strafen das allermindeste 
auszurichten? Wenn in Deutschland alljährlich 156 Millionen 
Handlungen vorkämen, die von einer kleinen, aber mächtigen 
und tyrannischen Partei hartnäckig Diebstahl gescholten würden, 
sollte es da wirklich noch rationell sein, Gefängnisse zu bauen? 
Wer sollte sie bauen und bewachen, wenn nicht die Ge- 
scholtenen und Verklagten selbst? Aber würden die nicht 
eines Tages hinter die Wahrheit kommen, aufstehn und rufen: 
„Wir sind die Norm, und nun mit euch, die ihr uns belauert 
und quält, die ihr über uns zu Gericht sitzt und heimlich 
selber stehlt, hinein mit euch ins Loch?” 

1) „„Die Prostitution in Deutschland‘ München bei Albert Langen 1910), S. 28 ff. 


222 GESCHLECHT UND OESELLSCHAFT 


Innerhalb einer sozialen Verfassung, die das Eingehn der 
Ehe zumal für die gebildeten Stände immer weiter hinaus- 
schiebt, ist käuflicher und freier Umgang unvermeidbar, not- 
wendig und, wie ich oben nachgewiesen, wirklich, um nicht zu 
sagen alltäglich. Etwas Notwendiges und Wirkliches hat 
aber niemals, wie das unsre Moralisten behaupten, nur Schatten- 
seiten. Auch die Prostitution, sofern sie unvergiftet ist, nützt, 
indem sie sexuell Hungrige sättigt und bei der Natürlichkeit fest- 
hält. Denn ein Volk, das seinen Reifgewordenen weder 
Ehe, noch außerehelichen Umgang bewilligt, stößt sie zur 
Widernatürlichkeit und schaufelt sich damit selber das 
Grab. 

Dies würde, man muß es mit Bedauern aussprechen, 
unsern Sittlichkeitswächtern ganz nebensächlich sein. Deutsch- 
land, so denken sie, mag zugrundegehn, und wenn die Männer 
nur „sittlich” bleiben, mögen alle Ehen unfruchtbar werden! 
Sind Fruchtbarkeit und Kraft schuld daran, daß eine Prostitution 
besteht, so muß man die Kraft schwächen, Perversität und 
Impotenz als das bessere Teil erwählen. So tritt an Stelle 
der gänzlichen Enthaltung das tatsächliche und gelegentlich 
schon unverhohlen in der ‘Öffentlichkeit verkündete Ziel der 
Sittlichen: die 156 Millionen außerehelichen Vermischungen 
jährlich umzuwandeln in ebensoviel Akte der Masturbation 
oder Päderastie. 

Umgekehrt erhebt |die Biologie hier ihre vierte Forderung: 
daß, da die käufliche Liebe unter den heutigen Verhältnissen 
unvermeidbar ist, sie nicht sowohl moralisch angefeindet, als 
vielmehr hygienisch reguliert werden müßte, damit junge 
Männer, wenn sie mit ihr in Berührung kommen, sich nicht 
infizieren, dieses Gift nachher in ihre Ehe schleppen und Frau 
und Kind anstecken. Denn daß die Ehe an sich einen Hafen 
der Sicherheit, eine Gesundheitsgarantie bedeute, ist eine hohle 
Lüge. 

Die nationale Fortpflanzung mit vergiftetem Keim aber 
mißlingt und züchtet nur herab. Das einzige Mittel, diese 
Quelle zum Versiegen zu bringen, heißt Reinlichkeit. Wes- 
halb auch Reinlichkeit im sexuellen Verkehr unsern Sittlichen 
so zuwider zu sein pflegt wie schmutzigen Buben, die sich 
nicht waschen wollen. 

Handelt es sich hier um Vorbeugungen und Sicherheits- 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 223 


maßregeln, die bei etwas mehr hygienischemVerstand und gutem 
Willen ohne große Mühe wohl erzielbar wären, so erfordern 
jene Abteilungen, durch die heranreifende Knaben oder Mädchen 
makellos und rein bis zur Geschlechtsreife und über sie hinaus 
‚erhalten werden sollen, nicht nur eine weit sorgerlichere Mit- 
wirkung vonseiten der Eltern oder deren Stellvertreter, sondern 
auch Organisationen auf breitester Basis. 

Es gibtnichts, was dernationalenKraftso zuwider- 
läuft, wie dieMasturbation derHalbreifen. Die Gefähr- 
dung ist weit ausgedehnter, als der Schlendrian wahr haben 
will, betrifft unsre Schulmädchen schon vom zehnten Jahr ab 
und in den Knabenscharen leider zumeist die begabteren, auf- 
geweckteren mit empfänglichen Sinnen und künstlerischer 
Phantasie. 

Auf die Einrede, daß hier stets entweder tuberkulöse Dispo- 
sition oderschlummernde Psychopathie die wahre Ursache bilden 
und nur auf irgend eine zufällige Auslösung warten, ist nichts 
zu geben. In Wahrheit hat dieNatur den Menschen ein zwei- 
deutiges Geschenk damit gemacht, daß sie die fakultative Ge- 
schlechtsreife (das Unwohlsein bei den Mädchen, die Samen- 
bildung beim Jüngling) oft Jonge Jahre vor Erlangung der 
körperlichen Vollreife schon eintreten läßt. Esliegt hierin wohl 
eine Mahnung zu den hygienischen Pflichten der Schonung, 
Hütung, Mäßigung und Selbstbeherrschung, aber es lauern 
auch im Stande hoher Zivilisation auf die heranblühenden Ge- 
schlechter schwere, durchaus unverschuldete Gefahren. Diese 
Gefahren heißen gewürzte Fleischkost, unbekömmliche Ein- 
drücke durch Lektüre und künstlerische Darbietungen, Ver- 
führung durch schlechte Kameraden, Mangel an frischer Luft 
und alltäglicher muskulöser Ermüdung. Weniger gefährdet 
sind phantasielose, derbe Knaben ohne reges Innenleben, aber 
die sind gerad auch wieder die Minderbegabten. Der Hygieniker 
führt, wie die sinkende Lebenskraft der deutschen Mädchen- 
und Frauenwelt auf Masturbation, so auch den heut auffallenden 
Mangel an Originalität und männlicher Schöpfungskraft, die aus 
einem Volk von 65 Milionen, falls die alte gesunde Begabung 
noch vorhanden wäre, in Lichtgarben hervorschießen müßte, 
‚hauptsächlich auf die dem Nationalkörper in der Jugend bei- 
gebrachten Verluste an Saft und Nervenkraft zurück. 

Die Rettung heißt: frühes Erwecken, Dulden und Er- 


224 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


muntern körperlichen Ergeizes, der aber den Stachel der Sieges- 
möglichkeiten, der Auszeichnung nicht entbehren kann; daher 
Freiluft, Sport und Athletik jeder Art für Knaben wie für Mädchen; 
dazu eine reizlosere Nahrung als bisher. Bei den Knaben, die 
schon einsam vor sich hinzubrüten angefangen haben, bei den 
Mädchen, die schon an den Sofalehnen stehn und sich scheuern, 
oder auf den verruchten kinderverderbenden Schaukeln, deren 
Sitz nicht aus einem Brett, sondern aus einem rundem Knüppel 
besteht, stundenlang sich herumsielen, können häufig auch 
milde Kaltwasserprozeduren und schroffer Übergang zu reiner 
Pfanzenkost nicht mehr helfen, zumal wenn das Hauptübel, 
die Schule, fortdauert und Freiluft-Beschäftigung unmöglich ist. 
Ganz töricht und unnütz bleiben die leider allgemein üblichen 
Anwendungen von Prügel und Strafpredigt. Ebenso hilft 
„Aufklärung“ rein garnichts. Jedes Kind weiß von selber, daß 
es das, was es da tut, nicht tun soll; es kann aber den in der 
Tiefe wirkenden, ihm von seinen Eltern angezüchteten Ursachen 
nicht entfliehen. 

Auch gegenüber schädigenden Sinneseindrücken glauben 
die Moralprediger durch Anwendung der beiden Worte „sittlich“ 
und „unsittlich“ alles erschöpft und erledigt zu haben. Doch 
sind besonders Kunstgegenstände auf diese Weise nicht zu 
fassen. Es gibt eine große Zahl herrlichster, edelster Bildwerke, 
die dennoch auf halbwüchsige Knaben ungünstig wirken und 
sexuelle Regungen erzeugen, die besser unterblieben wären. 
Künstler nun durch ein ewiges Belauern und einen tosenden 
Kampf „gegen Schmutz in Wort und Bild“ dazu zwingen zu 
wollen, ihr ganzes Schaffen nur noch für die Kinderwelt ein- 
zurichten, ist unmöglich. Daher sollten die Eltern lieber ihre 
heutige Nachlässigkeit aufgeben und Bildwerke, die geeignet 
sind, in die Phantasie von Halbwüchsigen den Feuerbrand zu 
werfen, der die Säfte austrocknet, wegschließen oder sonstwie 
fernhalten. 

(Schluß folgt.) 


EI EI 
EI 


Miütterlicher Nath. 





MUTTERLICHER RAT. (,„Luise, mach’ dich interessant“). Aus den „Fliegenden Blättern“. 


Zu dem Aufsatz »Die Jagd nach dem Mann:, Seite 210. 


r 5: — —— pa 


ROBES 


NIANTEAUKX 


| Part Wan КУ 


19 Genthinerstr. 


REKLAMEKARTE von MARQUIS DE BAYROS, 


-——- а — ——- 





КОЛЕП ЕЗ. 
LANGER UN 





y 


Ха рер 


(Zu dem Aufsatz ‚Die erotische Bildreklame‘', Seite 236.) 


Е 





MASTURBATION UND VERBRECHEN. 
Von Dr. PAUL ZIMMERMANN. 


weck der vorliegenden Studie ist die Darstellung der Mastur- 

bation und ihrer Folgen, soweit sie das Gebiet der Krimi- 
nalität berühren, obwohl ich gleich vorweg bedeuten möchte, 
daß meines Erachtens kriminelle Handlungen nie eine direkte 
Folge kurz oder lang geübter Masturbation sein können, sondern 
daß es sich hier zumeist um andere Prämissen handelt, die im 
Verlauf dieser Darstellung noch des näheren zu erörtern sein 
werden. Der Titel, der die Masturbation in ein direktes Ver- 
hältnis zum Verbrechen bringt, ist nur insofern berechtigt, als 
ег ein Problem schafft, das von der Sexualpsychologie noch’ 
unzureichend diskutiert erscheint und gerade darum allerhand 
Theorien und unkritischen Kombinationen Spielraum läßt. 

Von einer ursächlichen Beeinflussung der Verbrechens- 
verübung durch die Masturbation findet sich eine zusammen- 
hängende Darstellung außer bei Wulffen (Der Sexualverbrecher, 
Seite 183) an keiner anderen Stelle. Lombroso hat in seinem 
Werk über „Das Weib als Verbrecherin und Prostituierte“ 
tabellarische Darstellungen der Masturbation an den von ihm 
beobachteten Individuen gegeben, und Rohleder begnügt sich 
in seiner ausgezeichneten Monographie über die Masturbation 
mit dem Hinweis auf die Möglichkeit einer solchen Beein- 
flussung, sofern die Onanie eine krankhafte Inanspruchnahme 
der Phantasietätigkeit überhaupt und eine Herabsetzung der 
Energie zur Folge hat. Demgegenüber möchte ich allerdings 
betonen, daß ich die überwuchernde Einbildungskraft, sowie die 
geschwächte Willenstätigkeit nicht auf anhaltende Masturbation 
zurückführen möchte, sondern die Masturbation, wie alle Äuße- 
rungen des Autoerotismus, den Bekundungen intensiven Phantasie- 
lebens und einem Minus an Energie als coordiniert betrachten 
möchte.. Mir scheint die Masturbation von der Einbildungskraft 
als solcher auszugehen und nur dann möglich zu sein, wenn die 
Summe erworbener oder latenter Prinzipien durch sie in ge- 
nügender Weise gelockert worden ist. Dem widerspricht weder 

Geschlecht und Gesellschaft VIII, 6. 15 


226 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


die Tatsache, daß die Masturbation zumeist in einem Alter 
auftritt, wo das Seelenleben noch einem Chaos unbestimmter 
und zielloser Empfindungen vergleichbar ist, noch die Häufigkeit, 
mit der sie bei beiden Geschlechtern, scheinbar ohne alle 
Zwecke, einzig dem Nachahmungstrieb entspringend, oder als 
üble Gewohnheit geübt wird. 

Bekanntlich hat Freud und mit ihm eine ganze Gruppe 
neuzeitlicher Sexualforscher bereits das Vorhandensein mastur- 
batorischer Gewohnheiten im zarten Säuglingsalter konstatiert, 
womit auch die Erfahrungen des Verfassers dieses überein- 
stimmen. Sie betrafen u.a. ein dreizehnmonatliches Kind, das 
unzweideutig masturbatorische Gewohnheiten pflog und sie bis 
in das siebente Lebensjahr fortsetzte, wo es, ähnlich dem Falle 
von Fournier, an vorzeitigem Marasmus zu Grunde ging. Zu 
bemerken wäre, daß es sich um das Kind einer Prostituierten 
und eines Trunkenboldes gehandelt hat, wo die hereditäre 
Veranlagung eindeutig erkenntlich war. 

Fälle dieser Art scheiden ganz aus unserer Betrachtung aus, 
weil es sich hier um instinktive Vorgänge handelt und die krank- 
hafte Basis nicht immer ohne weiteres nachweisbar ist. Generell 
kommt ihnen, entgegen den Theorien Freuds, keine Bedeutung 
zu, da das gesamte Beobachtungsmaterial an Säuglingen und 
Jugendlichen für den Umstand spricht, daß es unter normalen 
Bedingungen Masturbation im Säuglingsalter nicht gibt. 

Rohleder hat eine Reihe äußerer und innerer Gründe als 
ursächlich für die Masturbation angegeben, unter denen mir 
namentlich der letzte von Bedeutung scheint, der von der 
moralischen Schwäche, der Willensschwäche, als Ursache der 
Onanie handelt. Soweit es überhaupt der erste und bedeutendste 
aller Gründe ist, zu dem sich alle Einflüsse von innen und 
außen in ein sekundäres Verhältnis stellen, bedarf er einer 
weiter fassenden Beleuchtung, als es der genannte Autor in 
den wenigen, allerdings prägnanten Sätzen seiner Studie getan 
hat. Die moralische Schwäche, das ist die Lähmung und 
Herabsetzung des vernünftigen Wollens und Handelns, liegt 
allen Handlungen des Masturbanten zu Grunde, der das Laster 
nicht mehr sporadisch, sondern dauernd und als eine bewußt 
widervernünftige Handlung übt. Da die Masturbation in einem 
Zeitpunkt begonnen wird, der fast immer knapp in die Pubertät 
oder nach der kaum vollzogenen Geschlechtsreife fällt, wird 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 227 


man häufiger den Einfluß eines unwillkürlichen, nur auf eine 
Auslösung des Reizes gerichteten Triebes annehmen müssen, 
auch dann, wenn mechanische Vorgänge mit Bestimmtheit als 
Ursache der masturbatorischen Handlungen angegeben werden. 
Zur Beurteilung des Materials, das in der ärztlichen Sprech- 
stunde sich der Beobachtung darbietet, sei auf die größtenteils 
recht mangelhaften Ergebnisse hingewiesen, die der Arzt inner- 
halb einer langjährigen Tätigkeit zu sammeln im Stande ist. 
Krankengeschichten und Епдиёќеп hätten nur dann unbedingten 
Wert, wenn nicht die Patienten aus Scham oder infolge Selbst- 
täuschung in der Mehrzahl der Fälle falsche Angaben machen 
würden. Zu den häufigsten Handlungen, die von den Mastur- 
banten als ursächlich für den Beginn der üblen Gewohnheit an- 
geführt werden, gehört neben nervösen Störungen und körper- 
lichen Gebrechen die Verführung in jugendlichem Alter, zumeist 
in der Pubertät. Allein in Wirklichkeit gelangt der größere Teil 
der Patienten durch Selbstbeobachtung unter dem Ansturm früh- 
linghafter Triebe zur Selbstbefleckung, noch ein anderer Teil, der 
masturbatorische Neigungen überhaupt leugnet, hat im Gegenteil 
mit dem Laster sehr frühzeitig begonnen, jedoch vielleicht unter 
Umständen, die ihm gar nicht zum Bewußtsein brachten, daß ein Akt 
von Masturbation vorlag. (In Parenthese möchte ich an dieser 
Stelle darauf hinweisen, daß der erfahrene Arzt den Fällen von 
sogenannter absoluter Keuschheit bis zu einem gewissen Grade 
mit Mißtrauen begegnet, da es eine solche absolute Keuschheit 
unter normalen Umständen nur schwerlich geben dürfte. Ich 
bezeichne jede lebhafte Tätigkeit der Phantasie, die auch un- 
bewußt auf Erregung der geschlechtlichen Sphäre abzielt und 
zum vollständigen Orgasmus führt, als Onanie, deren ursäch- 
liches Auftreten und Häufigkeit leider in den Enquäten noch 
nicht berücksichtigt wurde. Wenn man aber bedenkt, daß 
diese Form der Masturbation die beliebteste und fast nie als 
solche empfunden ist, wenn man ferner die verschiedenen 
Masken der Masturbation und die Selbstbefleckung im somnam- 
bulischen Zustande hinzunimmt, so wird man leicht erkennen, 
daß es eine absolute Keuschheit nie gegeben hat und auch 
niemals geben wird.) 

Die Ausschaltung des vernünftigen Wollens und Handelns 
resp. deren teilweise Herabsetzung sind vor allen Dingen ver- 


antwortlich für das Auftreten und die Fortdauer der Mastur- 
15° 


228 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


bation. Das Einsetzen mechanischer Einflüsse und krankhafter 
Prozesse im Organismus können das vernünftige Wollen so- 
weit schwächen, daß es zur ersten Vornahme der masturba- 
torischen Handlung kommt. In der Pubertätszeit sind an und 
für sich alle Hemmungen vernünftiger Art geschwächt, die 
Handlungen präsentieren sich als instinktmäßige Reaktionen 
auf den Befriedigung suchenden Geschlechtstrieb. Ergibt sich 
die Masturbation als Folge eines Gehirn- oder Nervenprozesses, 
einer Hautkrankheit, der Menstruation, parasitärer Erkrankungen, 
Faulheit oder Müßiggang, dann liegt a priori eine Schwächung 
des Widerstandsgefühles vor, die mit einer Äußerung unbewußten 
Ressentiments gegen das eigene Ich verbunden ist. Ohne eine 
vorhergehende Verminderung dieses Widerstandsgefühles je- 
doch, ohne eine Zielumwertung des vernünftigen Handelns ist 
Masturbation nicht möglich. Onanie ist demnach niemals eine 
Ursache der soeben geschilderten Ausschaltung des vernünftigen 
Wollens, sondern gerade das Umgekehrte trifft hier zu: Auf dem 
Umweg einer ins Abnorme gesteigerten Einbildungsfähigkeit, 
aus einer Schwächung der psychischen Urteilskraft unter dem 
Einfluß äußerer und innerer Vorgänge, ergibt sich der erste 
Anstoß und in der Folge der dauernde Hang zur Masturbation. 
Die Deduktion, die bei konsequenter logischer Denkweise 
unumgänglich scheint, führt uns aber auf andere Wege, als 
Wulffen zur Erklärung des Zusammenhanges zwischen Mastur- 
bation und Verbrechen beschritten hat. 

Die Frage, ob ein Zusammenhang zwischen den beiden 
zuletztgenannten Faktoren in Wirklichkeit besteht, wäre nun 
am besten aus den kriminalpsychologischen Akten der Straf- 
anstalten und aus der Geschichte berühmter Verbrecher zu be- 
antworten. Allerdings ist das Sexualleben der Verbrecher in 
neuerer Zeit zum Gegenstande eingehender Erörterungen ge- 
worden, und die psychiatrische Anamnese bildet den inter- 
essantesten und mitunter bedeutungsvollsten Teil der krimina- 
listischen Voruntersuchung. Für das Verhältnis jedoch zwischen 
Masturbation und Verbrechen ergibt sie nur ganz sporadisches 
Material. Positive Anhaltspunkte bietet auch die Geschichte nam- 
hafter Verbrecher nicht, obwohl sie lückenlose Argumente für das 
intime und fruchtbare Verhältnis zwischen Sexualleben und Ver- 
brechen erbrachthat. Lombroso hat in seiner Aufzählung berühmter 
Prostituierter auf die Häufigkeit von ihnen geübter Masturbation 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 229 


hingewiesen, ebenso fand Marro, daß von 458 erwachsenen 
männlichen Verbrechern 386 masturbierten, wovon 140 die 
üble Gewohnheit schon vor dem 13. Lebensjahre kannten. 
Einen ähnlich hohen Prozentsatz konnte Moraglia bei weiblichen 
Verbrecherinnen konstatieren. Für den Umstand jedoch, daß 
Masturbation direkt Verbrechen verschuldet hat, genügen 
diese wenigen Angaben von allgemeiner Bedeutung nicht. Auf 
welchem Wege gelangen überhaupt die Masturbanten zur Ver- 
übung des Verbrechens, von Verfehlungen ähnlicher und 
anderer Art gegen das legale Prinzip? 

»Zu den sexuellen Perversionen«, schreibt Wulffen loc. сії, 
»führt die Onanie deshalb leicht, weil der Onanist, wie schon 
angedeutet wurde, bei langgeübter Masturbation zur Erreichung 
der Ejakulation die Phantasie zu Hilfe nehmen und sich als 
sexuelle Anreize absonderliche Variationen vorstellen muß. 
So gelangen die Masturbanten zur latenten Verbrechens- 
verübung, indem sie sich vorstellen, die Scham eines kleinen 
Mädchens zu betrachten oder zu betasten, des weiteren, daß 
sie das Kind verlocken, mit sich nehmen, es einschließen, 
vergewaltigen, schließlich töten, im Keller — alles in der 
Phantasie — vergraben, endlich sogar weiblichen Leichen den 
Bauch aufschlitzen, mit Tieren den Beischlaf vollziehen, nackte 
weibliche Statuen zerschlagen usw. Auch vorhandene latente 
homosexuelle Veranlagung kann auf solche Weise ans Licht 
gezogen, ebenso können einzelne homosexuelle Akte in die 
Vorstellung aufgenommen werden. Es ist klar, daß von der 
oft wiederholten Vorstellung einer solchen perversen und ver- 
brecherischen Handlung bis zur wirklichen Verbrechensverübung 
und Betätigung der Perversion kein zu großer Schritt ist. 
Auch hier tritt also wieder der Zusammenhang zwischen Onanie 
und Verbrechen deutlich hervor.« 

Der Gedankengang des Autors in den obigen Zeilen stellt 
sich demnach folgendermaßen dar: Masturbation als Ursache 
erhöhter nervöser Reizzustände, einer ins Abnormale gesteigerten 
Phantasietätigkeit, — Ausschaltung aller hemmenden Asso- 
ziationen auf diesem Wege, — Verbrechensverübung als äußerste 
Variation eines sich dauernd wiederholenden, einseitig be- 
stimmten Empfindungskomplexes. 

An einem Beispiel ausgeführt, präsentiert sich der Vorgang 
folgendermaßen: durch andauernde und heftige Masturbation 

/ 


230 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


wird bei X. eine allgemeine Neurasthenie hervorgerufen, die 
unter Einsetzung einer lebhaften Phantasietätigkeit nach 
raffinierten Steigerungen des Masturbationseffektes verlangt. 
X. masturbiert unter der Vorstellung sodomitischer und in- 
cestuoser Handlungen, die allmählich bei ihm einen zwangs- 
förmigen Charakter annehmen. Schließlich begeht X. ein Ver- 
brechen der eben geschilderten Art, zu dem er zweifelsohne 
nicht gelangt wäre, wenn die konsequente Masturbation eine 
Umbiegung seines normalen Empfindens nicht nach sich ge- 
zogen hätte. Demgegenüber möchte ich zunächst betonen, daß 
m.E. X. nur deshalb die Masturbation begonnen und sie so 
intensiv fortgesetzt hat, weil die psychische Disposition hierzu 
von Haus aus bereits vorhanden war. Bei normaler psychischer 
Konstitution hätte X. die Wiederholung des Aktes nicht häufiger 
angestrebt, als die üibrigen 99°/, verschiedenaltriger Individuen, 
die nach meinen Erfahrungen sich der Masturbation tatsächlich 
hingeben. Aber die Konstitution des X. war infolge erblicher 
Belastung, einer allgemeinen degenerativen Anlage, dem exzessiv 
betriebenen Laster besonders günstig und das übermäßige 
Gefühlsleben, verbunden mit einer ausschweifenden Phantasie- 
tätigkeit, war ein Symptom, das sich bereits im Knabenalter 
bemerkbar machte und mit anderen Erscheinungen psychischer 
Art, beispielsweise epileptischen Anfällen, verbunden war. Nun 
beginnt X. zu masturbieren unter Vorstellungen, die einen 
verbrecherischen Charakter an sich tragen, deren Auftauchen 
jedoch auch ohne das Hinzutreten der Masturbation denkbar 
wäre. Es ist zu erwarten, daß X. auch wenn er nicht 
masturbiert hätte, zur Verbrechensverübung gelangt wäre. 
Der Umstand, daß er gleichwohl Masturbant war, hat nur die 
Tat an einen anderen Zeitpunkt und in eine andere 
Beleuchtung gerückt. Mithin ist die Onanie weder für die 
ausschweifende Phantasietätigkeit des X. noch für das be- 
gangene Verbrechen selbst verantwortlich zu machen. Von den 
gleichen Vorstellungen ist der größte Teil nicht minder exces- 
siver Masturbanten und Neurastheniker beherrscht. Bis zu 
einem gewissen Grade ist jede Masturbation, die mit der 
Vorstellung eines gewaltsamen oder freiwillig ge- 
statteten Koitus verbunden ist, als Verbrechen zu be- 
trachten, solange der außereheliche Geschlechts- 
verkehr unter die Fehme des Gesetzes und der Ge- 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 231 


sellschaft fällt. Jeder Masturbant, der nicht ohne Mittätig- 
keit seiner Phantasie sich der üblen Gewohnheit hingibt, muß 
aus vernünftigen Gründen dem X. gleichgestellt werden. Will 
man deswegen ein Geschrei über den Niedergang der gegen- 
wärtigen Kultur erheben und die Menschheit in ihren vitalen 
Interessen bedroht sehen, weil die allgemein gültigen Prinzipien 
der Öffentlichkeit dem ethischen Prinzip im Individuum wider- 
sprechen? — Die Tausende, die da masturbieren, befreien sich 
von einer Spannung, die bei peinlicher Beobachtung der gesetz- 
lichen Vorschriften und des gesellschaftlichen Cants sich zu 
einem drückenden Alp für den Einzelnen ausbilden müßte. Der 
Egoismus des Staats und der Gesellschaft, — der ja im Prinzip 
nicht unberechtigt ist, — läßt außerehelichen Geschlechtsverkehr 
nicht zu. Aber die Masturbation hat er gleicherweise zu einem 
antisozialen Akt gestempelt. Ist nicht vielmehr dieses Laster, — 
wenn man von seiner unästhetischen Seite und der zwecklosen 
Vergeudung edler Gefühle, die damit verbunden ist, absieht, — 
ebenso sozial, wie die Arbeit im Betriebe des Tagewerks, weil sie 
die gesunde und drängende Kraft vom Müßiggang und einer un- 
gesunden Betätigung ablenkt? Den gleichen Gedanken hat bereits 
Steckel in einem neueren Hefte derSexualprobleme ausgesprochen, 


‘wo er über die Berechtigung der Onanie geschrieben und an Hand 


von Krankengeschichten den nach Umständen sogar nützlichen 
Einfluß der Masturbation auf den Organismus nachgewiesen hat. 
Auch Naecke, Löwenfeld, Forel, Bloch, Svenson u. a. haben die 
Schädlichkeit der Onanie nur dann betont, wenn sie andauernd 
und bei vorheriger abnormaler Konstitution betrieben wird. So 
schreibt Bloch in seinem Buch »Sexualleben unserer Zeit« in 
dem Kapitel über Autoerotismus wie folgt: »Nunmehr sind alle 
erfahrenen Ärzte, die sich mit dem Studium der Onanie und 
ihrer Folgen beschäftigen, der Ansicht, daß mäßige Onanie bei 
gesunden Individuen keine schädlichen Folgen zeitigt, nur 
Unmäßigkeit schadet, denn es ist nicht die »Onanie«, welche 
schädlich ist, sondern der »Onanismus«, d. h. jahrelang und 
unmäßig betriebene Gewohnheitsonanie schädigt die Gesundheit 
ganz entschieden.« 

Im weiteren Verlauf seiner Darstellung fügt dann Bloch 
hinzu, daß allerdings die Wirkungen in der Onanie verschieden 
sind, und daß die Grenze, wo die ungefährliche Onanie auf- 
hört und der schädliche Onanismus beginnt, im Allgemeinen 


232 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


sich nicht bestimmen lasse. Diese Forscher sind in ihren ein- 
seitigen Diskussionen des gleichen Themas von Nyström als 
Onanieadvokaten bezeichnet worden. Bedeutet jedoch die 
Onanieadvokatur nichts anderes, als die Entschleierung so 
eminenter, für die Beurteilung der individuellen Psyche folgen- 
schwerer Erkenntnisse, dann ist sie berechtigter als die platten 
Wahrheiten, denen Herr Nyström in seinem Kapitel über die 
Onanie Ausdruck gibt. 

An ihrer Häufigkeit und dem verschwindenden Bruchteil 
der schädlichen Folgen gemessen, übt die Masturbation nicht 
anders einen fördernden Einfluß auf die Zahl der begangenen 
Verbrechen, als die anderen sozialen und ökonomischen Be- 
dingungen, unter welchen das Individuum zur Begehung der 
widergesetzlichen Tat heranreif. Charakter und Milieu, Er- 
ziehung und Lebensweise, das mangelnde Verständnis für die 
ethischen Forderungen der Gesellschaft und die zufällig günstige 
Situation sind die zahlreichen Komponenten, die einer ver- 
brecherischen Anlage zum Durchbruch verhelfen. Primär ist 
nur die ererbte Disposition, die latente moralische Schwäche, 
die einer unter Umständen nur ganz unscheinbaren Anregung 
bedarf, um als verhängnisschaffender Faktor ins Leben des 
Einzelnen zu treten. 

Aus den Statistiken, die sich mit dem Überhandnehmen 
der Masturbation im Gefängnis und den Verbrecherkreisen be- 
schäftigen, geht somit dieser intime Konnex zwischen Mastur- 
bation und Verbrechen nicht hervor. Die Beobachtungen der 
Praxis ergeben gleichfalls keine positiven Anhaltspunkte dafür, 
daß die ausschweifende Phantasie, beziehungsweise der ver- 
brecherische Akt, auf eine zügellose und dauernd geübte 
Masturbation zurückzuführen wären. Immerhin könnte ein 
Verbrechen als Tat eines excessiven Masturbanten vorkommen, 
Dann aber handelt es sich m. E. gerade um das Gegenteil 
dessen, was Wulffen in seiner Ausführung über den Zusammen- 
hang von Masturbation und Verbrechen sagt. Die Masturbation 
stellt das letzte Moment in dieser Verquickung von verbrecher- 
ischem Trieb und moralischer Schwäche dar und ist der be- 
freiende Akkord, in dem diese im Unheimlichen brauenden 
Kräfte abklingen. Die Masturbation schafft nicht das 
Verbrechen, sondern sie ist dafür im Sinne der Pro- 
phylaxe tätig, sie verlegt die Entspannung auf ein 


A 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 233 


natürliches. Gebiet und lenkt so den destruktiven 
Hang von der Allgemeinheit auf das eigene Ich ab, 
In diesem Sinne präsentiert sich der masturbatorische Akt als 
eine Tat des Ressentiments gegen das eigene Ich und zeigt, 
daß ein Heraustreten des Masturbanten aus der Sphäre des 
eigenen Ichs weder gewollt, noch im logischen Sinne vorhanden 
ist. Wenn ein Masturbant trotzdem ein Verbrechen begeht, 
das sich in einen Zusammenhang mit seiner heimlichen sexuellen 
Gewohnheit bringen läßt, dann ist es sicherlich nicht eine 
Folge der übereifrig betriebenen Masturbation, sondern einfach 
ein verdrängter masturbatorischer Akt, also das reine Gegenteil 
davon. Die Begehung des Verbrechens setzt in diesem Falle ein 
‘vorheriges Aufhören der masturbatorischen Gewohn- 
heit voraus, womit natürlich nicht gesagt ist, daß dieses Aufhören 
mehr als ein intermittierendes oder nur eine Verminderung des 
excessiven Charakters sein muß. Ich halte es, wie gesagt, für 
fraglich, ob tatsächlich Verbrechen aus Gründen übertriebener 
Masturbation begangen werden, bin jedoch überzeugt, daß sie 
unter keinen anderen, als den oben angeführten Umständen 
möglich wären. Dafür scheint mir auch die Beobachtung zu 
sprechen, daß für gewöhnlich eingefleischte Masturbanten nicht 
die üblen Seiten ihres Charakters zeigen, solange die mastur- 
bieren, sondern erst dann, wenn sie sich mit Skrupeln über 
ihre Gewohnheit abgeben und aus Angst vor etwaigen Folgen 
die Häufigkeit der Akte reduzieren. Dem Psychiater und dem 
erfahrenen Hausarzt sind diese Symptome, die namentlich in 
der Pubertätszeit deutlich zu Tage treten, bekannt; sie werden 
jedoch zumeist auf andere als die eben angeführten Gründe 
zurückgeführt. 


Ich möchte den ganzen Komplex von Erscheinungen, die 
aus der Verdrängung masturbatorischer Triebe resultieren, als 
»masturbatorische Hysterie« bezeichnen. Das Verbrechen, so- 
fern es von exzessiven Masturbanten tatsächlich begangen 
wurde, ist ebenfalls nur eine Erscheinungsform dieser Hysterie 
und ein Symbol des masturbatorischen Aktes. Die Be- 
stätigung meiner Ansicht ergibt sich mir aus der Kranken- 
geschichte eines jungen Mannes, den zu beobachten ich Ge- 
legenheit hatte. Ich teile sie nachstehend in der Hauptsache mit: 


L., 29 Jahre alt, Sohn eines deutschen Gymnasialdirektors, erblich be- 
lastet, Student der Jurisprudenz, ist seit ungefähr dem 10. Lebensjahr der 


234 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Masturbation ergeben. Im Alter zwischen 14 und 17 onaniert er durchschnitt- 
lich täglich einmal, mitunter auch zwei- und dreimal, gegen Schluß noch 
häufiger, derart, daß er körperlich auffallend verfällt und dauernde Er- 
schöpfungskrisen sich bei ihm einstellen. Er wird in einem Sanatorium unter- 
gebracht, wo mit Hilfe radikaler Kuren (Kaltwasserbehandlung, Suggestions- 
therapie) versucht wird, ihm die üble Angewohnheit abzugewöhnen. Tat- 
sächlich gelingt es, ihn für längere Zeit von Masturbation freizuhalten. In 
dieser Periode zeigen sich zum erstenmal Merkmale von Kleptomanie, in- 
cestuose Delirien, Versuche von sodomitischen Akten an den dem Arzte der 
Anstalt gehörigen Haustieren. L. wird darauf entlassen und kehrt wieder zu 
seiner Familie zurück. Mit 20 Jahren Abiturium, hierauf Inskription an einer 
reichsländischen Universität, der jedoch kein Besuch der Kollegien nach- 
folgt. Wiederaufnahme der masturbatorischen Handlungen, die solange 
andauern, bis L. die Bekanntschaft einer Prostituierten macht. Er knüpft 
jetzt ein Verhältnis mit ihr an, das zur Lösung aller Beziehungen zu seiner 
Familie führt, und zieht mit dem Weibe zusammen unter gleichzeitiger 
Übersiedelung in eine andere größere Universitätsstadt. Während der 
Dauer des geregelten Geschlechtsverkehrs sucht L. Beschäftigung in kauf- 
männischen Betrieben und findet nacheinander Stellung bei einer Auto- 
mobilfabrik und in einer Druckerei, die er zur leidlichen Zufriedenheit 
seiner Vorgesetzten ausfüllt. Der kriminelle Charakter offenbart sich 
jedoch dauernd darin, daß die Frau die ganze Zeit über mit seinem 
Wissen und Willen der heimlichen Prostitution ergeben ist. Nach ein- 
jährigem Zusammenleben stirbt das Weib an einer Peritonitis, L. verliert 
seine Stellung infolge plötzlich auftretender Händelsucht und kehrt reumütig 
zu seinen Eltern zurück, die ihn in einer Korrektionsanstalt unterbringen. 
Während dieser ganzen Zeit abermals exzessive Masturbation, die in der 
Anstalt infolge der Einflußnahme des Hausarztes aussetzt. Von diesem 
Zeitpunkt an wiederholte Diebstähle, Brandstiftungsversuche, unzüchtige 
Angriffe auf Anstaltsgenossen. Schließlich Flucht und abermaliges Unter- 
tauchen in der Hefe der großstädtischen Bevölkerung. Im Februar dieses 
Jahres hat ihn Verfasser gelegentlich eines Besuches zu Studienzwecken 
in einem Asyl für Obdachlose wiedergefunden. Er ist seiner üblen Ge- 
wohnheit wieder wie früher ergeben und nebenbei dem Alkohol verfallen, 
Im Übrigen empfindet er Reue über sein verfehltes Dasein und sucht 
eine Möglichkeit, auf anständige Weise in die Gesellschaft wieder ein- 
zutreten. 

Aus der vorliegenden Lebensbeschreibung eines exzessiven 
Masturbanten erhellt die Wechselbeziehung, die zwischen Mastur- 
bation und Verbrechen besteht. Primär ist die degenerative An- 
lage, die sich in moralischer Willensschwäche und einem daraus 
resultierenden Hang zum Verbrechen äußert; eine Folge dieser 
hereditären Belastung ist die frühzeitig einsetzende Masturbation, 
die mit der üblichen ausschweifenden Phantasie einhergeht. 
Während der Dauer der Masturbation bleiben die verbrecher- 


ischen Triebe verborgen, gelangen aber sofort zum Durchbruch, 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT Н 235 


sobald die gewohnte Entspannung teilweise oder vollständig 
aussetzt. Die erotische Basis der wiederholten Verbrechens- 
verübung liegt hier unzweideutig zu Tage. Die Handlungen 
des L. haben einen symbolischen Charakter, der um so deut- 
licher zu Tage tritt, je intensiver die gewollte oder unfreiwillige 
Enthaltsamkeit von masturbatorischen Manipulationen anhält. 
L. ist im gewöhnlichen Verkehr von einem schüchternen, ständig 
bedrückten Wesen und würde es zu normalen Zeiten nicht wagen, 
fremdes Gut zu berühren oder einem Unbekannten näherzu- 
treten. Die autoerotische Gefühlsrichtung offenbart sich ferner 
in seiner Vorliebe für sexuelles Tagträumen, seinem über- 
spannten Persönlichkeitsbewußtsein, seiner Vorliebe für Mystizis- 
mus und verschwommene, Iyrische Situationen, endlich in seiner 
Hinneigung zu literarischer und künstlerischer Betätigung, wo- 
bei er von seiner exzeptionellen Begabung überzeugt ist. Die 
gleichen Symptome treten nach Ellis an allen typischen 
Masturbanten zu Tage, und gerade um dieser Eigenschaften 
willen ist nicht anzunehmen, daß ein Masturbant ohne die 
von Haus aus kriminelle oder pathologische Veranlagung gegen 
die Bedingungen des sozialen Prinzips verstoßen würde. Der 
typische Masturbant hat kein Verlangen, mit der Gesellschaft 
in irgendeine direkte Beziehung zu treten, aus dem Grunde 
sind auch die Bedingungen, die dem Verhältnis der Gesellschaft 
zum Einzelnen Grund und Farbe geben, Liebe und Haß, für ihn 
sub specie sui ipsius umgewertet. Erst, wenn der monosexuelle 
Trieb infolge irgendwelcher Phobien unterbrochen ist, kann sich die 
aufgestapelte Energie, die nach einer entsprechenden Entladung 
sucht, gegen die Gesellschaft wenden, aber auch dann noch 
ist die Tat nicht anders als ein monosexueller Akt zu be- 
werten, der im letzten Grunde immer gegen das eigene Ich 
gerichtet ist. 

Ich möchte zum Schluß noch auf einen Umstand hinweisen, 
der mir für den Selbstmord gewisser Liebespaare typisch er- 
scheint und in einer Studie über den Zusammenhang zwischen 
Autoerotismus und Verbrechen nicht unerwähnt bleiben mag: 
In den meisten Fällen, wo es sich um den Selbstmord zweier 
Liebenden handelt, pflegt einer der Partner autoerotisch 
veranlagt, resp. Masturbant zu sein, der in einem Verhältnis 
zu zweien instinktiv Abwehr gegen seine monosexuellen Triebe 
sucht. Ich glaube, daß ein Teil der Selbstmorde unglück- 


236 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


lich Liebender bestimmt darauf zurückzuführen ist, daß dann 
der -monosexuelle Partner seine autoerotischen Neigungen 
zurückdämmt, weil er ihre Betätigung mit Rücksicht auf 
den anderen Teil für unwürdig und ungesund hält. Da- 
durch aber bereitet er jenen Zustand vor, der allein den 
Autoerotiker und Masturbanten zur Verbrechensverübung hin- 
zuleiten scheint. Der unglücklich Liebende, der sich selbst 
tötet und andere zum Selbstmord bestimmt, handelt aus den- 
selben Motiven heraus wie der pathologische Masturbant, der 
zufolge Unterdrückung seiner Leidenschaft zu kriminellen 
Taten gelangt. Die meisten Doppelselbstmorde unglücklich 
Liebender sind mithin autoerotische Akte und es ist vielleicht 
im Sinne einer gesunden Rassengenese vorteilhaft, daß die 
Natur einer Fortpflanzung krimineller Triebe auf diese Weise 
entgegenarbeitet. 


Ө E 


DIE EROTISCHE BILDREKLAME. 
Von Dr. ERNST BERNHARD. 

Va den reichsländischen Gerichten stand kürzlich ein 

Redakteur aus Hannover unter der Anklage, unzüchtige 
Heiratsannoncen im Inseratenteil veröffentlicht zu haben. Das 
immerhin strenge Urteil, das trotz aller Einwände über den 
Beschuldigten verhängt wurde und auf 400 Mark Geldstrafe 
lautete, beweist, daß die Staatsanwaltschaft jederzeit geneigt ist, 
die Öffentlichkeit vor der Korruption gewisser Presseerzeugnisse, 
zu denen die Kuppelannonce zweifelsohne zu rechnen ist, nach 
Tunlichkeit zu schützen. Allerdings ist dieser Schutz ein ganz 
relativer, da es sich nicht immer leicht feststellen läßt, wie 
weit eine Annonce als harmlos, zweideutig oder direkt porno- 
graphisch angesehen werden muß. In der Mehrzahl der Fälle 
entscheidet der Richter nach seinem subjektiven Empfinden, 
und soviel steht fest, daß in jeder Nummer der hauptstädtischen 
Tageszeitungen eine Reihe von Annoncen passiert, die keinen 
anderen Zwecken als der Anbahnung außerehelichen Geschlechts- 
verkehrs dienen. Noch deutlicher zeigt sich das Unvermögen 
der Zensur gegenüber der Bild-Annonce und dem Reklame- 
plakat, bei denen es viel schwerer fällt, die Grenze zu be- 
stimmen, wo die künstlerischen Qualitäten aufhören und sich 


Die beilebteste Marke des 047, fi 1 Fülle, Kraft, Frische und 
vornehmen Geschmacks köstlich diskretes Aroma sind 


In Qualität unübertroffen бай de Cologne ihre anerkannten Vorsüge 





REKLAMEZEICHNUNG FÜR EIN PARFÜM-INSERAT. 
Von MARQUIS DE BAYROS. _ 


238 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


die nackte, erotische Spekulation kenntlich macht. Die erotische 
Bildreklame bildet heutzutage den wertvollsten Bestandteil des 
Presse- und Anzeigenwesens und der geschäftliche Aufschwung 
der Gegenwart hängt mit ihr auf das engste zusammen. Be- 
trachtet man beispielsweise die Litfassäulen an den einzelnen 
Straßenecken, die illustrierten Journale, Prospekte und Rück- 
seiten der täglich erscheinenden Bücher, so findet man, daß 
das gesamte Anzeigenwesen eine großzügige Spekulation auf 
die erotischen Instinkte im Publikum bedeutet. Die meisten 
Reklameplakate, die sich nicht mit der Wiedergabe des Textes, 
der zumeist in auffallenden Buchstaben gedruckt ist, begnügen, 
weisen, wenn nichts anderes, eine allegorische Frauengestalt, 
irgend einen Mädchenkopf oder bei raffinierterer Ausgestaltung 
eine Situation auf, deren erotische Tendenz unverkennbar zutage 
tritt. Eine zeitlang kam es namentlich in Paris und Wien zu 
den größten Gewagtheiten auf diesem Gebiet und es ist 
wiederholt vorgekommen, daß das Publikum sich durch 
die schreiende Straßenreklame auf das Gröblichste beleidigt 
fühlte. Der Polizei steht in Fällen, die das Reklameplakat 
betreffen, keine direkte Initiative zu, da Reklameplakate als 
Presseerzeugnisse im Sinne des $ 2 des Reichs-Pressegesetzes 
der polizeilichen Präventive entzogen sind. Trotzdem kommt 
es häufig genug zu Konfiskationen, die auf Antrag Einzelner 
erfolgen und die der Schwierigkeit des Gegenstandes halber 
mitunter neben dem Richtigen auch das Harmlose und rein 
Künstlerische treffen. So wurde im verflossenen Winter die 
Polizeibehörde gegen ein Plakat der Grete Wiesenthal mobil 
gemacht, das die Künstlerin in der Stellung der Creuzeschen 
Madonnen zeigte und wo die feine Sinnlichkeit des Gesichts- 
ausdruckes zwar fesselnd, aber durchaus nicht beleidigend 
wirken konnte. In ähnlicher Weise machten seinerzeit einige 
konfessionelle Schreier in Wien die Polizei gegen ein Plakat 
von Kokoschka mobil, das eine nackte, stilisierte Frauengestalt 
aufwies und in seinen ungeheuerlichen Verkürzungen und der 
aparten Tongebung eher grotesk als aufreizend wirkte. Zwei 
Gesichtspunkte gibt es, die das Einschreiten der Behörde in 
gewissen Fällen den Reklameplakaten gegenüber rechtfertigen. 
Zunächst da, wo es sich um eine grobe Verletzung des 
ästhetischen Empfindens handelt, und dann überall dort, wo 
mit den Reklameplakaten zu politischen Zwecken Mißbrauch 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 239 


Desondens Бетта бгу 
gepen Haarausfall, 
Shuppenbildung 
und des dadurch 
serofsachte Juchen 

Ж der Kopfhaut 
aarwasser Фк große йен 
Auf wissenschaftlicher freiwilliger Anere 
Grundlogemach Angaben (U kennungaschreiben 
des Herra Sanitdterat erster dratlicher 
2 Autorıtdien und 
der einsige Crfolg 
dokumentieren die 
Versöglichken die 

geg 





REKLAMEZEICHNUNG FÜR EIN HAARWASSER-INSERAT. 
Von MARQUIS DE BAYROS. 


getrieben wird. Das ästhetische Empfinden der Allgemeinheit 
wird durch alles verletzt, was einen Mangel an künstlerischen 
Qualitäten und einen Überfluß an erotischen Details aufweist. 
Es ist ebenso unangebracht, wenn im Straßenbild ein großes, 
in indiskreten Farben gehaltenes Plakat auftaucht, das durch 
eine pikante erotische Szene die unübertreffliche Güte eines 
Korsetts, einer bestimmten Matratzenart oder eines kosmetischen 
Mittels anpreist, wie die Ausbeutung namhafter Künstler im 
Dienste einer erwerbsbeflissenen Industrie, die mitunter Bild- 
nisse großer Meister zu einer profitsicheren, auffallenden 
Karikatur herabwürdig. So hat kürzlich irgendeine groß- 


240 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


städtische Firma Tizians »Irdische und himmlische Liebe« als 
Klischee für ein Plakat benutzt, das irgendein indifferentes 
Bekleidungsstück anpries. Ich habe Plakate und Annoncen 
gesehen, die Hodlersche, Klingersche, Hoffmannsche und Klimt- 
sche Motive in einer grotesken Verballhornung zeigten und die 
im Straßenbild nicht nur unästhetisch, sondern direkt abstoßend 
wirkten. Der Passant hat hier mindestens das Recht, daß 
seine Sinne, die in der Großstadt einer dauernden Ver- 
kümmerung ausgesetzt sind, nicht noch durch Reklameunfug in 
grober Weise beleidigt werden. Die Behörde bemüht sich ja, 
die öffentlichen Plätze und Straßen nach Tunlichkeit zu ver- 
schönern, eine großzügige Gartenstadtbewegung kennzeichnet 
die Kultur der neueren Hauptstädte, man trägt, wie in Brüssel 
und anderswo, Blumen in die Mansarden der armen Mädchen, 
aber die Reklame ist bis auf den heutigen Tag so häßlich und 
charakterlos wie früher geblieben. Wäre es nicht an der Zeit, 
daß die städtische Behörde sich um das Reklamewesen ein 
wenig mehr bekümmert und vor allem das Treiben der Plakat- 
institute sowie verwandter Unternehmungen auf das Schärfste 
beobachtet? Wenn die städtischen Behörden überall dort, wo 
es sich um größere behördliche Ankündigungen handelt, ähn- 
lich wie bei Ausstellungs- oder Theaterbauten, auch eine nach 
Möglichkeit ausgedehnte Konkurrenz unter namhaften Künstlern 
veranstalten würden, würden die Industrie- und Privatunter- 
nehmungen ebenfalls für eine mehr künstlerische Reklame 
sorgen als es bis jetzt geschieht. 

Ein Schuß Erotik ist für das Reklameplakat und die 
illustrierte Annonce nicht unwesentlich. Das farbige Reklame- 
plakat soll stärkere Assoziationen ermöglichen, als es die 
Lektüre des einfachen begleitenden Textes imstande ist. Wenn 
die österreichische k. k. Tabak-Regie als staatliche Behörde 
ihren Tabak, das sind die Erzeugnisse ihrer Industrie, auf 
einem Plakat anzeigt, das mit einem hübschen, blondlockigen 
Mädchenkopf geschmückt ist, so gibt sie indirekt zu, daß eine 
gewisse Erotik im Bilde wirksamer als das glänzendste Urteil 
von einem Dutzend Fachgelehrten ist. Der Name einer Sekt- 
marke prägt sich viel leichter ein, wenn sich gleich daran die 
Erinnerung an ein Bild knüpft, das mit der Pikanterie eines 
Reznicek die Freuden einer Ballnacht illustriert. Die Mehrzahl 
der Kunden kauft einen Reform-Büstenhalter nur darum, weil 


(NOS) SISAYHNIAYM REES (әнәвдәрлод) SISNYHNIAYM 
YINI SANI OVTHISWNLNIISONd wen: MINITIAE SANIA OVIHOISWALNAISONA 


© 





әцәзцолә Ge SE Zu 

aa“ nee, 6) у, 2, 
КРУГУ {1/1 

түезупү f ад ës Ké - 

шәр п7 ў ns э 


> 


А 
Пе 


E 
Gs 


KE 


(e 
vi 
7 
VM 

Sg yi 
L 
WI 
W 

IW 
Y 


EE 


| 
| 
| 
| 
| 


f 
Ё 
H 


j 


Ds 


EH 


ch 


d 


E EH 








с УЕ eren, 
МАРР N E ba EC 


REKLAMEZEICHNUNG FÜR EIN SEKT-INSERAT. 


Steckenpferd Lilienmilch-Seife 


erzeugt weisse sammetweiche Haut und zarten.blendend schönen Teint - 5 sTuck sopr 





REKLAMEZEICHNUNG FÜR EIN SEIFEN-INSERAT. 


(Zu dem Aufsatz „Die erotische Bildreklame‘', Seite 236.) 





GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 241 





REKLAMEZEICHNUNG FÜR EIN CIGARETTEN-INSERAT. 


sie die üppige Frauengestalt gereizt hat, die der betreffenden 
Annonce ihre wirksame erotische Note verliehen hat. Die Er- 
folge der Ullsteinbücher beruhen auf der unübertrefflichen 
Findigkeit und Eleganz, mit der die betreffende Firma die 
Reklame in Szene setzt. Die feinen, erotischen Zeichnungen 
dekadenter Künstler, wie Heilemann, Gestwicki, Bayros, Koch- 
Gotha u. a. sind wirksamer als spaltenlange Feuilletons, in 
denen der Wert und Unwert einer solchen Sammlung erörtert 
wird. Im übrigen ist die vorbesprochene Art der Reklame 
typisch für den Gesamt-Charakter, in welchem sich das 
moderne Anzeigenwesen bewegt. Es ist ein gewaltiger Unter- 
schied in den illustrierten Annoncen der modernen Künstler 
und beispielsweise denen der 80er bis 90er Jahre des ver- 
flossenen Jahrhunderts. Was hier grobe, auf Effekte berechnete 
Technik war, steigert sich dort zu einer raffinierten und auf 
subtile Details ausgehenden Kunst, wo der Erfolg nicht allein 
durch die gröbliche Ausbreitung von Obszönitäten angestrebt 
wird. Noch Aubrey Beardsley hat im Jahre 1894 ein Buch- 
händlerplakat, in dem Kinderbücher empfohlen wurden, ge- 
zeichnet, das trotz der Feinheit der Komposition und der 
Geschlecht und Gesellschaft VIII, 6. 16 


242 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


merkwürdigen Farbentöne eine höchst ungesunde, hyper- 
ästhetische Sinnlichkeit offenbart. Dieses Plakat ist damals in 
dem prüden England unbeanstandet geblieben. 2 Jahrzehnte 
später hat Berlin das harmlose Porträt der Grete Wiesenthal, 
das an den Litfassäulen auftauchte, konfiszier. Prospekte und 
Umschläge, wie die gewisser Berliner Warenhäuser, bei denen 
sich in den 90er Jahren die Afterkunst einer obszönen 
Illustration breit machte, wären heutzutage unmöglich. Anderer- 
seits freilich ist gerade der Buchhändlerprospekt und die 
Umschlagseite der illustrierten Zeitungen, die ebenfalls in 
die Bildreklame einbegriffen werden müssen, heute erotischer 
denn je und was hier an Intimitäten enthüllt wird, unter- 
scheidet sich von der Praxis früherer Zeiten nur dadurch, daß 
die Grenze des Erlaubten nicht läppisch überschritten, sondern 
genial umgangen wird. Man braucht daraufhin nur die be- 
deutendsten deutschen Witzblätter zu untersuchen und man 
wird staunen, wieviel Schmutz sich hier in einem ehrbaren 
Mäntelchen breit macht. Ich meine nicht Kunstblätter vom 
Schlage der »Jugend« und des »Simplizissimus«, gegen die 
erst im letzten Karneval die puritanische »Staatsbürgerzeitung« 
eine geharnischte Buß- und Schimpfpredigt losgelassen hat; 
obzwar namentlich im »Simplizissimus« die Variationen der 
erotischen Motive mir immer monotoner und eindeutiger zu 
werden scheinen. Aber die ganze Reihe der aus Wien 
importierten Witzblätter, die »Bombe«, die »Wiener Karika- 
turen«, der »Sekt«, die »Pschütt-Karikaturen«, bedeuten nichts 
anderes als die Ausbreitung pornographischer Instinkte im 
Leserpublikum. Was hier auf den Bildseiten sich abgelagert 
findet, sind wüste Orgien unbedeckten weiblichen Fleisches, 
und die geistreichsten Witze drehen sich einzig um die weib- 
liche Unterwäsche. 

Vor den Berliner Gerichten fand im April 1912 ein objek- 
tives Verfahren gegen eine Anzahl wegen Unzucht verdächtigter 
Nummern der Wiener humoristischen Wochenschrift »Wiener 
Karikaturen« statt, das mit Unbrauchbarmachung und Ver- 
breitungsverbot dieser Zeitschrift endigte. Es ist unfaßlich, daß 
gewisse Kreise sich gegen das Urteil auflehnten und die 
»Wiener Karikaturen« sogar in ernsten und angesehenen 
Berliner Zeitungen ihre Verteidiger fanden. Für den Wert 
dieser Blätter spricht schon der Umstand, daß sie in der 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 243 


Donau-Metropole von niemandem außer der Gymnasialjugend 
und dem Stammpublikum der Prostituierten-Caf&s geschätzt 
werden. Für die Berliner Blätter ist es bezeichnend, daß sie 
den Witz, der in den Spalten der »Wiener Karikaturen«, der 
»Bombe« und ähnlichen kulturellen Unternehmungen vergeudet 
wird, für den Wiener Witz überhaupt nehmen und danach ihr 
Urteil über den Charakter des leichtlebigen Völkchens da unten 
formulieren. Aber der volkstümliche Wiener Witz hat ein 
Charakteristisches, das ihn vollständig von einer anerzogenen 
Dekadenz unterscheidet. Er ist unpolitisch und in hohem Maße 









Damen-Strümpfe 
Trama-Seide = 1.95 


Seidenllor Jacauard 


6 Paar 290 45.» 







E Dm Pen ——— 
Herren-Oberhemden 
7 Det Werba um wa 2.65 








M.BUNEPT., | 
6 BERLIN ми. $ 
UNKSTO 9 


ILLUSTRIERTES-INSERAT EINES BERLINER 
STRUMPFGESCHÄFTES. 


16* 


244 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


unerotisch, es ist der zahme, behäbige Situationswitz des 
Philisters, der sich mehr in der gesamten Persönlichkeit des 
Sprechers als in einzelnen Ausdrücken markiert. Mit dem 
Wiener Witz ist es so wie mit dem Wiener Halbweltleben und 
der Moral da unten überhaupt. Wien ist im großen und ganzen 
eine recht harmlose, ins Großstädtische umgedeutete Provinz- 
stadt, banausisch und moraltüchtig, die zeitlebens eine große 
Sehnsucht kennt, d. i ein zweites Paris an Eleganz und Laster- 
haftigkeit zu werden. Eine Halbwelt, wie sie der Pariser oder 
Berliner kennt, gibt es da unten überhaupt nicht und wird es 
auch, solange die Stadt ihren spezifisch österreichischen 
Charakter bewahrt, überhaupt nicht geben. Die Wiener Halb- 
welt spukt nur in den Köpfen der Dörrmann, Schnitzler und 
Auernheimer herum und in Wirklichkeit konzentriert sie sich 
in den drei Bordellstraßen des VI. Bezirks, der Kirchberg-, 
Gutenberg- und Spittelberggasse. Man muß diese Gassen ge- 
sehen haben, um zu erkennen, daß Wien im Grunde genommen 
urgesund ist und daß es eine so elegante Prostitution wie 
in Berlin und anderswo in absehbarer Zeit unten nicht geben 
wird. — 

Die Bildreklame mit ihren Auswüchsen und dem Über- 
wuchern des phantastisch-erotischen Elements ist eine notwendige 
Folgeerscheinung des gegenwärtigen Industrialismus aller 
Unternehmungen und des dauernden Konkurrenztaumels, der 
sich in der geschäftlichen Welt überall bemerkbar macht. In 
dem Sinne repräsentiert sie sich als ein reines Produkt der 
Neuzeit, obzwar sie bis zu einem gewissen Grade bereits im 
früheren Jahrhundert wirksam bestanden hat. Das Reklame- 
plakat ist eine direkte Fortsetzung der satirischen Flugblätter 
und Holzschnitte des 16. und 17. Jahrhunderts und dient in 
einer gewissen Umdeutung denselben Zwecken, die von der 
gesamten pamphletischen Literatur jener Zeit verfolgt wurden. 
Neben der Ausbreitung neuer Ideen, die sich auf kulturelle 
Vorgänge oder einfach nur Gebrauchsgegenstände beziehen, 
offenbart sich auch eine politische Absicht in ihnen, sofern 
durch sie die Revolutionierung der Masse angestrebt wird. 
Soll die Masse für eine neue Idee gewonnen werden, so muß 
ihr erst die Einsicht von der Nützlichkeit des Neuen geschickt 
suggeriert werden. Es ist begreiflich, daß die stärkste Waffe 
zur Zerstörung eines eingewurzelten Konservativismus die 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 245 


Verquickung der Politik mit der Erotik ist. Nur dann, wenn 
das Neue mit einer entsprechend lebhaften Erweckung lust- 
betonter Instinkte einher geht, vermag es sich mit Bestimmtheit 
durchzusetzen. Man wird aus diesen Gründen die Erotik aus 
dem Reklameplakat und der illustrierten Annonce, vornehmlich 
aber aus den illustrierten Zeitungen nicht ohne einen beträcht- 
lichen Schaden für die gesamte Entwicklung des geistigen und 
technischen Fortschrittes entfernen können. Eine Dosis Erotik 
in der öffentlichen Propaganda ist auch vom ästhetischen 
Standpunkt aus niemals anfechtbar, solange nicht das erotische 
Element zum Zynismus und zur Pornographie herabsinkt. Man 
kann sagen, die moderne Plakatkunst hat sich bis auf die 
allerdings schauderhafte Kinoreklame von dem letzteren Element 
zu reinigen gewußt. Daß es im übrigen schädliche und häß- 
liche Auswüchse auch auf diesem Gebiete gibt, liegt nicht an 
einer Dekadenz der künstlerischen Sitten bezw. an Geschmacks- 
verderbtheit unserer Zeit, sondern an der rohen Spekulation 
einzelner Unternehmer. Dem Treiben dieser Leute müßte die 
Behörde allerdings von Zeit zu Zeit im Interesse der Volks- 
gesundheit einen recht derben Riegel vorschieben. 


8 E 


ANWENDUNG DER KRAFTPHILOSOPHIE AUF 
DIE SEXUALPROBLEME. 
Von Dr. ROBERT HESSEN. 
(Schluß). 


ңе Aufmerksamkeit erfordert auch die Lektüre. Es 
ist eine der schändlichsten Roheiten, Tertianern oder gar 
Quartanern schon das Alte Testament in die Hand zu geben 
mit seinen zumteil entsetzlichen Schmutzereien. Was brauchen 
halbreife Jungen denn zu wissen, wie es der lüsterne König 
David mit Bathseba trieb, oder die Töchter Loths mit dem 
eigenen Vater? Knaben finden diese Stellen, nicht weil sie 
verworfen, sondern weil sie lebhaft sind. Es ist manches 
gegen die Gründe zu sagen, aus denen der Katholizismus dem 
Laientum die Bibel heute noch vorenthält, allein in diesem einen 
Punkt ist er hygienischer als die Protestanten. 


246 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Leider gibt es nun aber sehr formvollendete Bilder und 
Statuen, die nicht einer naiven Freude an der Schönheit ent- 
sprungen sind, sondern zweideutig auf die Phantasie wirken 
wollen, um schlüpfrige Situationen auszuspinnen. So sah man 
vor etlichen Jahren auf der Berliner Kunstausstellung die Marmor- 
figur eines hübschen Mädchens, das nicht sowohl einen nackten, 
als vielmehr einen entblößten Eindruck machte. Sie saß, mit 
einem Opernglas in der Hand, und blickte, während ihr Mund 
zu plaudern schien, lächelnd empor. Doch zu wem? Zu einer 
Kameradin? Oder zu einem Herrn? Im Freien? Selten war 
der Unterschied zwischen naiver Nacktheit und absichtlicher 
Enthüllung so deutlich abzulesen. Derartige Bildwerke, mag 
ihre Technik noch so glänzend sein, eignen sich nicht für die 
Öffentlichkeit und am wenigsten für Halbwüchsige. 

Wie stellt sich der Feminismus zur deutschen Kraft? 
Wir haben diesen bösen Debetposten an anderer Stelle schon 
berührt. Erfreut sich selbst beim deutschen Spießbürger noch 
die Kraft einer gewissen Beliebtheit, die »bewegte« Frau ist 
deren wenn auch stille, so doch abgesagte Feindin. Ich rechne, 
daß von der heutigen deutschen Weiblichkeit ein Fünftel noch 
Kraft hat und sie auch liebt; ein zweites Fünftel zwar Kraft 
hat, aber es nicht weiß und nichts von ihr versteht, weder von 
ihren Vorzügen, noch von ihren Bedürfnissen der Instandhaltung. 
Drei Fünftel sind kraftlos und gleich der ebengenannten Kate- 
gorie durch ihr Kleidertum für alles Natürliche abgestumpft. 
Sie empfinden den Leib garnicht mehr und pendeln, soweit 
sie wohlhabend sind, in ihren biologischen Gedanken zwischen 
der Modistin und der »Sittlichkeit«, mit der bekannten Schattierung 
zur Prüderie. 

Die bewegten Frauen aber wittern hinter der Kraft eine 
nationale Anforderung, also genau das, was sie sich abzuschaffen 
wünschten. Die Frauenbewegung hat keine nationalen Ziele, 
sondern individuelle; sie strebt nach Vermehrung der weiblichen 
Rechte, Verminderung der weiblichen Pflichten, somit nach 
Freiheit von Leistung. In der Arterhaltung verabscheut sie die 
zeitweilige Minderung der Ungebundenheit; denn Kinder sind 
lästig. Man spricht wohl von freier Liebe, doch ebenso gelehrt 
von Prävention und Abortion, um sich den Pflichten der Art- 
erhaltung zu entziehen. Kräfte, den Mann zu fesseln und zu 
ihrem Unterhalt zu zwingen, wären den Frauen schon recht. 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 247 


Aber die haben wenig zu tun mit jener Kraft, die der Hygie- 
niker meint. 

Es gibt ein paar bewegte Frauen, die hiermit nicht einver- 
standen sind und nichts gegen wirkliche Kraft haben. Die 
bilden dann, wenn drei zusammenkommen, einen «Flügel» der 
Frauenbewegung und füllen lange Spalten mit dem, was sie 
alles wollen. Von dem, was sie tatsächlich können, pflegen 
sie keine Vorstellung zu haben. 

Bei aller Sympathie, die jeder gesund empfindende Mann 
in dem aufgezwungenen ökonomischen Ringen um eine selb- 
ständige Existenz alleinstehenden Mädchen und Frauen entgegen- 
bringt, wird er doch auf die Dauer stutzig vor der systematischen 
Verlogenheit in majorem feminae gloriam. Kein gegen alle 
Wirklichkeit verbarrikadierter Marxist alten Schlages kann z. B. 
‚so hartnäckig — bei 17 bis 18 Milliarden Spareinlagen — von 
der zunehmenden »Verelendung« deutscher Arbeiter sprechen 
wie eine bewegte Frau von der »doppelten Moral«. Obwohl 
es feststeht, daß der abgebende Mann, bei Gesundheit der 
Beteiligten, auch nach einem «Fehltritt» derselbe bleibt, der er 
vorher gewesen war, dagegen die aufnehmende, empfangende 
Frau durch Zulassung fremden Gewebes und fremder, ent- 
wickelungsfähiger Keime stets die eigne Ehe besudelt; obwohl 
es ferner feststeht, daß die sexuellen Bedürfnisse zwischen 
Mann und Weib ungleich verteilt sind und der Mann zeitlebens 
durch seine Natur. in einer viel schärferen Versuchung steht, 
fordern die hundertmal widerlegten Frauen dennoch im Punkte 
der Untreue «völlige Gleichheit». Und zwar mit weiblicher 
Logik in dem Sinne, daß der Mann im Fall der Untreue künftig 
ebenso streng wie bisher die Frau beurteilt werden soll, die 
untreue Frau dagegen künftig ebenso milde wie bisher der Mann. 

Denn das Volksgewissen entschuldigt jeden gesunden und 
kräftigen Ehemann, der seinen natürlichen und an sich durch- 
aus ehrenvollen, weil arterhaltenden Trieben nachgibt, nachdem 
seine Gattin reizlos und untauglich wurde. Die bewegten 
Frauen ganz im Gegenteil, da sie längst gemerkt haben, wie 
sehr es mit Schönheit und Reiz bei ihren Geschlechts- 
genossinnen bergab ging, haben einen zielbewußten Feldzug 
eröffnet, um dem deutschen Mann »die Sinnlichkeit aus- 
zutreiben«. Nur die Ehen, wo die Gatten einander kalt lassen und 
ohne Wunsch beisammen leben, sollen die Vollendung bedeuten. 


248 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Es war dies die zweite schwere Versündigung der Frauen 
an der deutschen Arterhaltung. Die erste geschah, als durch 
das Schlagwort »Muttertier« Fruchtbarkeit und natürliche Auf- 
zucht im Volk verächtlich gemacht wurden. Dieser Schlag 
gegen unsere politische Gesamtexistenz ist, man muß es mit 
Schmerzen zugeben, in weitestem Umfang von zerstörender 
Wirkung gewesen, die biologische Vollwertigkeit des deutschen 
Menschenmaterials hat sich in reißendem Tempo verschlechtert, 
seit schon in der Wiege damit angefangen wird. Das Ver- 
hältnis von Mutter und Kind lockerte sich; auch die Mütter, 
die hätten stillen können, empfanden diese Pflicht nunmehr 
als lästig. Damit veränderte sich die ganze Haltung der Säug- 
linge, nicht nur für die Kost, zum Nachteil. Kinder, die regel- 
mäßig an die Brust genommen werden, sind immer nur lose 
bedeckt, da es jeder Mutter Freude macht, das glatte Leibchen 
ihres Kleinen zu streicheln und an ihre Mutterwärme zu 
drücken. Dabei genießen die Säuglinge die bekömmlichen 
Luftbäder, die durch gute Ausdünstung eine reine Haut schaffen. 
Verpuppte Wiegenkinder, denen man die Flasche reicht, ent- 
behren auch dieser Vorteile. 

Besonders machten sich die Hebammen zu Verkünderinnen 
des neuen, modernen Prinzipes, das bis in die kleinsten Dörfer, 
die fernsten Hütten eindrang. Sie rissen den Müttern die 
Kinder von der Brust mit der Belehrung, das sei jetzt nicht 
mehr. Ein geschäftliches Kalkül spielte mit: eine stillende 
Frau empfängt nicht so leicht wieder, liegt also für die Hebamme 
gewissermaßen brach. Eine Frau dagegen, die ihr Kind mit 
der Flasche aufzieht, kann schon nach zehn Monaten aufs 
Neue niederkommen. Und je mehr Entbindungen, desto mehr 
Einnahmen für die Wehmutter. 

Seither diese Lieblosigkeit gegen Säuglinge in Fabrik- 
arbeiterkreisen. In manchen Ehen ist es, als ob die Kinder 
gegen die Wand geworfen würden. Zwei-, drei-, viermal 
hintereinander dieselbe Geschichte: das Kind wird geboren, 
in Kost gegeben, begraben. Die Frau rennt, kaum daß sie 
stehen kann, auch schon in die Fabrik, wegen des »Verdienstes«, 
d.h. wegen der Sparkasse. Oft verschlingen zwar Kost, ärzt- 
liche Behandlung, Apothekerrechnung, Begräbnis die ganzen 
Spargroschen; doch es bleibt eben ein »modernes Prinzip«. 

Erst neuerdings haben die Ärzte begonnen, solchen exa- 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 249 


minierten und mit Gewerbeschein ausgerüsteten Kindsmörder- 
innen aufs Handwerk zu passen. Meistens, nachdem sie 
wiederholt in ihrer Praxis folgende Erfahrung gemacht hatten: 
das Erstgeborene einer Frau, die, obwohl sie hätte stillen können, 
sich doch durch ihre Hebamme davon abbringen ließ, rhachitisch, 
drüsig, kurzatmig, bleichsüchtig, bresthaft, ewig krank; das 
zweite Kindchen, das die Mutter gegen den Rat jener »Bewegten« 
an die Brust nahm, glatt, fest, mit gesunden Knochen und 
feinen Gelenken, frisch und rosig wie ein Engel von Murillo. - 

Doch die hygienische Stupidität geht ja mitunter so weit, 
daß nach fünfundzwanzigjähriger Tätigkeit zur Verschlechterung 
der deutschen Rasse solche Sünderinnen auf dem Stadthause 
öffentlich für ihre treuen Dienste belobt werden. 

Kenner behaupten, daß höchstens noch zehn Prozent 
deutscher Säuglinge ganz frei von Rhachitis bleiben. Es werden 
diejenigen sein, die als reine Brustkinder auf dem Lande auf- 
wachsen. Alle »Flaschenkinder« sind gefährdet, zumal in der 
Stadt. Hier haben manche Frauen wohl noch Milch, aber sie 
taugt nichts; weshalb nennenswerte Besserungen auf diesem 
Gebiet auch nicht mehr zu erzielen sind. Der Deutsche hat 
sich eben etwas Übles eingebrockt mit seiner Hochzivilisation. — 

War die erste Versündigung der bewegten Frauen gegen 
die Volksgesundheit roher, so war die zweite abgefeimter, doch 
gerade wegen der Einstellung der modernen deutschen Psyche 
gegen alles Natürliche nicht minder wirksam. Denn wenn man 
deutschen Mädchen einredet, sie brauchten gar nicht stark und 
gesund sein; die Männer würden jetzt bald zwischen schön und 
häßlich keinen Unterschied mehr kennen, nur »der Geist« 
würde von ihnen noch geschätzt, so untergräbt das natürlich 
den letzten Rest gediegenen Pflichtgefühls zur körperlichen 
Instandhaltung. Die Frauenrechtlerinnen aber, sobald sie die 
Worte »hübsch und stark« vernehmen, murren: »Wozu? Das 
könnte ja höchstens die Sinnlichkeit anfachen, die wir doch 
ausrotten wollen«. 

Sinnlichkeit bedeutet das Gefallen des einen Geschlechtes 
am andern. Sie ist somit die Wurzel der Arterhaltung, da es 
nicht einleuchtet, weshalb jemand überhaupt zur Fortpflanzung 
schreiten wollte, wenn bei diesem Akt ein Widerwille zu über- 
winden wäre. Weil ruinierten und perversen Frauen dieser 
Verkehr in der Tat lästig ist, sollte die Nation nicht gleich 


250 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


eine der wichtigsten Voraussetzungen ihres Weiterbestehens in 
Verruf tun. 

Es gab eine Zeit, als deutsche Mädchen fast durchweg 
schön und warmsinnlich waren. Unser größter Dichter hat 
ein solches Geschöpfchen in seinem berühmten Nationaldrama 
mit unvergänglichen Zügen gezeichnet. 

»Seh’ ich dich, bester Mann, nur an, 

Weiß nicht, was mich nach deinem Willen treibt« ... 
Diese Zeiten sind vorüber. Schöne Mädchen fallen heute so 
sehr auf wie früher häßliche. Giftkatzen vom Typ des be- 
rüchtigten »Nixchens« bezeugen in gebildeten Kreisen die Art- 
verschlechterung. Und in den sogenannten niederen Schichten 
geht es ebenfalls bergab, wenn auch langsamer. 

Sind Häßlichkeit und kleinlicher Egoismus das Erbteil 
schwächlicher Verkömmlinge, Güte dagegen, die gern auch für 
andere sorgt, fast immer ein Zeichen von Überschuß an Kraft, 
so werden wir gewisse sehr schmerzliche Warnsignale natio- 
nalen Verfalles beherzigen, wie z.B. den in letzter Zeit viel- 
genannten Geburtenrückgang. Es ist ganz klar, daß eine Nation 
ärmer an Nachwuchs werden muß, wenn hunderttausende ihrer 
jungen Mädchen, gemütsleer, saftlos und verdorben, unver- 
hohlen äußern, daß sie Kinder verabscheuen, und über das alte 
heilige Verhältnis der Mutterschaft die Nase rümpfen. 

Der Geburtenrückgang selbst begann schon 1898, d. h. in 
dem nämlichen Jahr, da zum erstenmal die absolute Geburten- 
ziffer die Zahl von 2 Millionen um ein weniges überstieg. Sie 
hat sich durch die nächsten zwölf Rechnungsjahre mit kaum 
nennenswerten Schwankungen auf dieser Höhe gehalten, während 
sie bei wachsender Bevölkerung doch stetig hätte ansteigen 
müssen. Das Publikum begann sich aber im Jahre des Heils 
1912 nicht etwa darüber aufzuregen, daß die Geburtenzahl so 
viel weniger betrug, wie sie eigentlich hätte betragen müssen, 
falls die alte Fruchtbarkeit der Nation treu geblieben wäre; 
sondern darüber, daß die absolute Geburtenzahl im Jahre 1910 
dicht unter zwei Millionen gesunken war, nämlich auf 1 982 836, 
nachdem sie (1902) mit 2089414 den absoluten Höchststand 
erreicht hatte. 

Die Gründe für diese Erscheinung sind freilich nicht rein bio- 
logisch, sondern auch wirtschaftlich und nicht selten eigenwillig. 

Es gewährt beiden Geschlechtern heut augenscheinlich 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 51 


eine Art von Genugtuung, ein früher für unabwendbar geltendes 
Verhängnis in die Gewalt zu bekommen, zu regulieren oder 
ganz auszuschalten. Elementarbildung, sagt Julius Wolf, reicht 
hin, um die Kinderzahl zu beschränken; und, so muß man hinzu- 
fügen, ein Mindestmaß von Aufgewecktheit und Entschlußkraft. 

Bei den Frauen aber wirkt ganz in der Tiefe wohl noch 
eine Art von Trotz. Sie sind früher in rücksichtslosester Weise 
ausgenützt worden, haben ihr Letztes drangeben müssen, um 
die Torheiten männlicher Politik, unglücklicher Kriege mit 
Fremdherrschaft und Seuchen, dazu die Folgen wirtschaftlicher 
Entvölkerung wettzumachen durch Hinstellung immer neuen 
Menschenmaterials. Niemand hat ihnen dafür gedankt; immer 
sollten es männliche Leistungen gewesen sein, durch die die 
Nation schließlich wieder hochkam. Was ist allein in den 
napoleonischen Kriegen der deutsche Mutterschoß bemüht 
worden für französisches Kanonenfutter! Hunderttausende 
mußten geboren werden, um andere Deutsche zu fällen oder 
von ihnen gefällt zu werden. Wär es ein Wunder, wenn viele 
Frauen heut im Іппегѕіеп dächten: »Wozu das? ... Wir 
wollen uns nicht länger so verbrauchen lassen, wir wollen uns 
selbst bestimmen?« 

Eine sehr gefährliche Politik freilich; denn sie muß eines 
Tages den Männern die Gegenfrage auf die Lippen legen: 
»Wozu sorgen für solche schlechte Kameradinnen, die die Arter- 
haltung ablehnen? Ist ihnen der Begriff Nation eine Null?« 
Aber verstehn läßt es sich unter diesem Gesichtswinkel, wenn 
zur Zeit etwa 800000 Frauen alljährlich sich an der nationalen 
Fortpflanzung nicht mehr beteiligen, obwohl sie es tun könnten 
und müßten, falls wir die Fruchtbarkeit der siebziger Jahre 
noch besäßen. 1875 und 76 buchten wir im Reichsdurchschnitt 
42 Geburten auf 1000 Einwohner; 1910 noch 30. Heut sind 
es mit Sicherheit nur noch 28 oder weniger, denn gerad in den 
letzten Jahren ist es reißend bergab gegangen. Die Ziffer mag 
bis zum nächsten Jahrzehnt auf 20 und noch tiefer herunter ge- 
gangen sein. Auch die Sterbeziffer sinkt andauernd, es ist 
richtig; aber sie hat eine Grenze, jenseits derer die verminderte 
Auslese durch den Tod in Herabzüchtung umschlägt. Es star- 
ben 1910 nur noch 17 auf 1000 im Reichsdurchschnitt; die 
Ziffer kann erwünschter Weise bis höchstens auf 13 sinken, 
und sank die Geburtsziffer gleichzeitig bis auf 14, um hier Halt 


252 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


zu machen, so wären uns Wachstum und Zukunft immer noch 
gesichert. Allein es ist sehr fraglich, ob dieser Ausblick die 
Dinge nicht zu rosig nimmt, schon weil biologische Verküm- 
merung die Vorteile der Zahl aufheben kann. 

Daß hohe Zivilisation mit ihren Verfeinerungen allem Ro- 
busten, Säugetierischen abträglich ist, steht seit Jahrhunderten 
fest; schon Adam Smith wies darauf hin, wie eine hagere, 
hungernde, «abgerackerte» schottische Bäuerin ihre zwanzig Kin- 
der zur Welt bringe, während eine Herzogin mitten im Luxus 
zwei oder drei habe. So herrscht auch innerhalb der deutschen 
Grenzen der größte Kindersegen beim polnischen Element allein 
deshalb, weil hier Verfeinerung und Kapitalreichtum noch auf 
niedriger Stufe stehen. Der Kreis Münster zwar hat zur Zeit 
mit 45 auf tausend Einwohner den höchsten deutschen Geburten- 
stand. Aber die in den westfälischen Kohlendistrikten zutage 
tretende Fruchtbarkeit ist keine Eigenschaft der «roten Erde» 
mehr, sondern kommt auf das Konto der in die Bergwerke zu- 
gewanderten Polen. 

Umgekehrt wirkt größere wirtschaftliche Reife, wirken Besitz 
und Verständnis für sein Risiko hemmend auf die früher ein- 
mal unbekümmerte Fortpflanzung ein. Noch ist der deutsche 
Bauer dem französischen hierin nicht überall gefolgt; aber er 
hat langsam damit angefangen. Wozu viele Kinder auf einem 
Hof ansammeln, den doch nur Einer erben und bewirtschaften 
kann? Parzellierung des Bodens in lauter Zwergbetriebe lie- 
fert auch nichts weiter als ein verkümmertes Proletariat. Hier 
sind zumal im Westen, wo der bäuerliche Acker vorherrscht, 
die aufnahmefähigen Industriestädte zu Hilfe gekommen. Sie 
haben an Stelle der einst riesenhaften Auswanderung das An- 
wachsen der deutschen Kopfzahl im Lande überhaupt erst er- 
möglicht. Früher exportierten wir Menschen, heute exportieren 
wir Waren. 

Nur daß diese industrielle Lösung des Problemes nicht 
einwandfrei blieb. Gerade die großen Städte machen unfrucht- 
bar und verschlechtern die Rasse. Berlin hat heute die nied- 
rigste Geburtenquote im ganzen Reich, nämlich 20,83 Lebend- 
geborene auf tausend Einwohner, gegen 46,9 Lebendgeborene 
im Jahre 1876. 

Freilich muß man sagen: »sämtliche heutigen Großstädte 
belegen Kindersegen mit Strafe«. Mieter mit mehr als zwei 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 253 


Kindern sind bei den Hauswirten unbeliebt, finden schwer Woh- 
nung und noch schwerer in guten, gesunden Quartieren. So will 
man beobachtet haben, daß kinderreiche Arbeiterfamilien in 
größeren Städten fast immer heruntergekommen seien. Die 
arme Frau muß sich zu Schanden plagen, ohne es recht machen 
zu können; der Mann, der seine Hoffnung auf »Selbständigkeit« 
für immer abgeknickt sieht, wird unwirsch und roh, beginnt zu 
trinken oder zieht heimlich davon. Gerade die ärmsten Weiber, 
die ehrlich niederkommen, haben die Hölle auf Erden, und herz- 
brechende Szenen spielen sich ab wie die folgende. Mutter 
liegt im sechsten Wochenbett. Eine kleine Tochter von acht 
Jahren tritt zu ihr. »Elschen«, sagt Mutter, »du hast ein 
Brüderchen bekommen.“ Worauf die Kleine bitterlich zu 
weinen anfängt und klagt: „Ach, Muttchen, jetzt mußt du ja 
immer noch mehr für uns arbeiten .. . Na warte man, vielleicht 
stirbt eins von uns diesen Winter.“ Denn hier kommen die 
Kinder als ökonomischer Fluch, der Tod als ein Segen. 

Wirkt nun bei den Frauen der sogenannten niederen Klassen 
größere Verständigkeit zur Niederhaltung der Geburten, so bei 
den Frauen der sogenannten höheren doch eben körperliche 
Unlust bis zur absoluten Unfähigkeit, Nachwuchs zu haben. 
Ehen mit vier bis sechs Kindern sind hier längst zur Selten- 
heit geworden, Ehen mit ein bis zwei Kindern zur Norm, weil 
der Zusammenbruch der weiblichen Konstitution mit dem Ab- 
scheu vor der Mutterschaft an sich kulminiert. Die gebildeten 
Mädchen, wenn sie heiraten, fürchten Schwangerschaft. Sie 
machen dem Mann zuliebe, der einen Stammhalter und Erben 
haben will, einen Versuch, behalten aber meistens von ihm 
einen derartig bittern Nachgeschmack, auch einen so peinlichen 
Abbruch an Kraft und Frische, daß sie erfolgreich auf fernere 
Verhütung der Empfängnis hindrängen. Es ist auch ganz klar, 
daß bei Mädchen, die auf der Schule vom zehnten oder elften 
Jahr ab masturbiert und es bis zur Einleitung geschlechtlichen 
Verkehres fortgesetzt hatten, die Sexualkraft sich für so frühe 
Anleihen rächt und bei den ersten ernsthaften Anforderungen 
Erschöpfungszeichen gibt. 

Um so seltsamer berührt hiernach die unter der Aegide 
prüder hoher Betschwestern und ihres Anhanges niedergelegte, 
von der Öffentlichkeit im allgemeinen gutgeheißene und auf- 
genommene Politik: die Sinnlichkeit da, wo sie hingehört, näm- 


254 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


lich im Verkehr der Erwachsenen, zu »bekämpfen« und womög- 
lich durch einen kleinlichen gehässigen Neid auf die Geschlechts- 
empfindungen anderer Menschen zu ersetzen; dagegen Sinnlich- 
keit bei Halbwüchsigen, die sie nicht brauchen können, durch 
falsche Kost, verkehrte Lebenshaltung, mangelnde Aktivhygiene 
gedankenlos und rücksichtslos zu fördern, bis sie vor der Zeit 
wach ist und ihre Schäden anrichtet. 


8 8 


BRIEFE EINES HOMOSEXUELLEN. 
Mitgeteilt von Dr. J. B. SCHNEIDER. 


D! nachstehenden Briefe eines Homosexuellen sind mir im 

Herbst des Vorjahres von dem Adressaten übergeben 
worden mit der Erlaubnis, sie durchzusehen und das, was für 
wissenschaftliche Zwecke passend scheint, evtl. im Rahmen 
dieser Zeitschrift zu veröffentlichen. Ich hatte nach der Lektüre 
der ersten Bogen die Empfindung, daß sich hier eine so starke 
und originelle Persönlichkeit zu Worte meldet, daß ich mich 
entschlossen habe, einen Bruchteil der Briefe ungekürzt, auch 
mit seinem unsachlichen und intimen Wortlaut der Öffentlich- 
keit bekannt zu geben. Dokumente dieser Art tragen meines 
Erachtens mehr zur Aufklärung der homosexuellen Psyche bei 
als dickleibige Schriften über den gleichen Gegenstand und 
decken gleichzeitig den ganzen Mangel unseres bestehenden 
Strafgesetzes mit Rücksicht auf diesen Gegenstand auf. Die 
landläufige Ansicht, daß Homosexualität identisch mit Unsitt- 
lichkeit und Erpressertum sei, kann auf keine Weise radikaler 
widerlegt werden als durch das persönliche Bekenntnis eines 
konträr Veranlagten, der sich der ganzen Wucht eines homo- 
sexuellen Triebes und der Tragweite seiner Handlungen mit 
erschütternder Klarheit bewußt wurde. Leider werden gerade 
so wichtige Argumente von den Gegnern der Abschaffung des 
8 175 geflissentlich übersehen. Erst kürzlich hat einer der 
feinsten Köpfe Frankreichs, Camille Mauclair, in seinem Werk 
»De P’amour physique« einen merkwürdig engherzigen Stand- 
punkt in der Beurteilung der männlichen Homosexualität be- 
kannt. Man ist eine so krasse Ignoranz nur von seiten der 
Revolverpresse gewöhnt, die homosexuelle Affären mit Vorliebe 


256 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


und Äußerungen allenfalls — ein ironisches Lächeln bei Dir erzielen 
konnte — — —?! 

Dir hat das Schicksal alles gegeben, Dich hat es zum Stämmling 
einer großen und mächtigen Nation gemacht, einer siegreichen und stolzen, 
hat Dich in eine intelligente Familie und vor allem in den Kreis normal 
empfindender Menschen gesetzt und Dir in einem talentierten Haupt zwei 
kluge, alles verstehende Augen geborgt. Und warum hat in einer gro- 
tesken Laune dieses gleiche Schicksal mich neben Dich gestellt, warum 
mich, der ich in aller Hinsicht so unaussprechlich elend bin? Wollte 
dieses boshafte Unbekannte eine Karikatur zu Dir schaffen, damit auf so 
dunklem Untergrunde Dein helleuchtendes Bild noch deutlicher und nieder- 
schmetternder zutage träte? 

Ach, Du kannst Dir nicht vorstellen, wie sehr ich leide! Ich weiß 
nicht, wie so überfließende und intime Worte in meinen Brief kamen, 
aber ich sehe schon, dieses ganze Schreiben will sich zu einer aufrichtigen 
Beichte meines banalen, groben Herzens auswachsen. — Nun denn, es 
möge so sein! Die Zeilen werden Dir wenig oder garnichts Neues be- 
richten. Eine unaussprechliche und zugleich schmerzende und verzehrende 
Leidenschaft hat sich meiner bemächtigt als ich das Seminar verließ. Ich 
kann und will nicht behaupten, daß diese Leidenschaft neu, in meinem 
Herzen vorher nicht vorhanden gewesen wäre, ich glaube vielmehr — und 
das scheinen meine Erlebnisse in frühen Jugendjahren zu bestätigen — 
daß nur eine alte Neigung, durch äußere Umstände begünstigt, sich in 
ein unauslöschliches, qualvolles Feuer verwandelt hat. Ich meine hier die 
leidenschaftliche Neigung zum männlichen Geschlecht, zu jungen Knaben 
und Männern, von der ich nicht weiß, was sie stillen oder mäßigen 
könnte. Ich binde mich überhaupt nicht an einen bestimmten Menschen, 
sondern ich wandere ruhelos durch die Gassen der unfreundlichen Stadt 
und leide darunter, daß ich einen schönen Knaben nicht gleichgültig an- 
sehen kann. Ich kann überhaupt nicht mehr an ganz gewöhnlichen, viel- 
leicht sogar häßlichen Burschen ruhig vorübergehen. Durstig betrachte 
ich die schlanken Gestalten, ich muß die ganze Energie meines Willens 
aufbieten, um nicht den Einen oder Anderen in meine Arme zu fassen 
und zu küssen. O, wie sehne ich mich nach einer Liebkosung, wie wollte 
ich die Ursache meines Elends umarmen, streicheln und ihnen ungezählte 
liebe Worte zuflüstern. Und das dauert schon so lange, daß es mich 
schier endlos anmutet und oft frage ich mich; wohin soll denn eigentlich 
dieser Zustand führen? Aber dafür gibt es keine Antwort sondern nur 
Trauer und einen schrankenlosen Schmerz in der Brust. Das ist mein 
Konfiteor — unendlich traurig, aber nichts neues für Dich! 

O glaube es nicht, was ich Dir schreibe; glaube es nicht, zerreiße 
den Brief und vergiß den Menschen, so wie ich meinen Namen und meine 
Existenz vergessen wollte! Manchmal, wenn ich mir das alles recht klar 
vorstelle und auseinandersetze, bin ich der Verzweiflung nahe, aber auch 
dieses glaube mir nicht! 

Ich grüße Dich vielmals. Ich wollte Dir viel Zärtlichkeiten sagen — 
ich weiß sie nicht auf deutsch. Du mußt mit den wenigen, gewöhnlichen 
Worten fürlieb nehmen. 





Ulfteinbücher, die beliebiefte Leftüre in Bädern 


Neucfte Bände 
Ludrorg Ganghofer, Rachele Scarpa 
Хаи 2 фопрегс, Tiroler Auauerntdmänfe 
Rudolf Hans Bartih, Der legte ырс 


REKLAMEZEICHNUNG für den Verlag Ullstein. 
(Zu dem Aufsatz „Die erotische Bildreklame‘‘, Seite 236.) 


% = IEN 


VE H dange АК 


Weir 


mit übera 


GIN 


(4 A Chr. Ad! Küpferberg & ( 
„ж. P KupferbergRes 


REKLAMEZEICHNUNG FÜR EIN WEIN-INSERAT. 


DOMEN 
(Gar 


DEUTSCHES CIGARETTEN-PLAKAT. 
(Zu dem Aufsatz „Die erotische Bildreklame‘‘, Scite 236.) 








aan ef 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 257 


Prag, den 8, Mai 1907. 

Entschuldige, daß ich erst jetzt schreibe. Ich hatte nämlich in der 
letzten Zeit eine Periode, die auch Dir nicht unbekannt sein wird, eine 
Zeit, wo man eine Feder und überhaupt das Schreibzeug nur mit Wider- 
willen ansehen mag. Man liest wenig, bekommt keine Briefe, schreibt 
auch nichts, kurz, man lebt während dieser Zeit fast wie ein vernunftloses 
Wesen. Und dann hielt mich von dem Brief an Dich eine gewisse Angst 
ab, als könntest Du die Menschlichkeiten, die sich darin hüllenlos aus- 
breiten, mißdeuten, ja, was mir zur Qual und Schande wäre, als unan- 
genehm empfinden. Aber ich kann nicht nach einer bestimmten Schablone, 
in korrekter, gesellschaftlicher Manier mich ausdrücken und kann es noch 
viel weniger in einem Brief als Auge in Auge. Wohl vermag ich mich 
mitunter vollständig zu beherrschen, aber dann wirbelt etwas in mir auf, 
und der nächste Effekt ist einer von den vulkanartigen Ausbrüchen, 
die Dir so unendlich verhaßt sind. 

Übrigens habe ich mir ernst vorgenommen, ich werde Dir von nun 
an keine leidenschaftlichen Regungen mehr melden, denn ich habe mich 
überzeugt, was Ihr normal empfindenden Menschen von uns Ausgestoßenen 
haltet, und ich werde mich nicht anstrengen, jemandem — und wäre er 
mir lieber als mein Leben — diese Auffassung korrigieren zu wollen. 
Ihr Weibliebenden habt für die Homosexuellen sehr viel vernünftige Worte 
übrig, aber trotzdem schaut Ihr mit einem gewissen permanenten Despekt 
auf sie herab. Menschen, die durch ein Versehen in die Welt gekommen 
sind, mit denen man aus Mitleid über alltägliche Dinge, schönes Wetter 
und gutes Essen plaudern kann, aber sie für vollwertig zu nehmen, das 
kommt keinem von Euch in den Sinn! Ihr müßtet das den Herren sagen, 
damit sie sich nicht länger über Euch täuschen. Ich für meinen Teil 
danke für eine so Ekel erregende Liebenswürdigkeit und Unterschätzung. 
Deshalb werde ich Dir behaglich schreiben, daß ich sehr froh bin, daß 
das abscheuliche Wetter nachgelassen hat und der „wunderschöne Monat 
Mai“ mit all seiner oft besungenen Banalität wieder hereingebrochen ist. 
Ich möchte dem lieben Herrgott beide Hände für diese Gnade küssen 
und es wirbelt eine solche Ausgelassenheit in meinem Blut auf, daß ich 
mich nur mit Mühe bezwingen kann, nicht mit den Lauskerlen auf die 
Schanzen zu springen und mit ihnen durcheinander zu raufen; und wenn 
mich gerade niemand sieht, so breite ich meine Arme aus und laß ein 
Paar Tränen aus den Augen fallen. Mitten hinein in die grünenden 
Saaten, wo ich stehe. Denke aber nicht, daß etwas anderes daran Schuld 
sei als dieser frischgrüne, lächelnde Mai, von dem ich Dir eben geschrieben 
habe! Oder sind Sentimentalitäten nur den Dichtern gestattet und nicht 
eineyı jeden, der tausend geknebelte Leidenschaften, Regungen, Wünsche 
und Hoffnungen in der Brust trägt? Aber nichts von diesen Dingen, wir 
wollten doch nur vom schönen Wetter plaudern. 

Und so melde ich Dir weiter gehorsamst, daß ich heute viel spazieren 
gegangen bin und nun ist es Abend und ich sitze an meinem Schreibtisch, 
bin sehr müde, doch der rege Geist diktiert mir das Schreiben. Ja, willst 
Du ein Werk wirklich christlicher Barmherzigkeit üben, so schicke mir, 
ich bitte Dich darum, die Gedichte von Kitir oder von Ad. Brandt, deren 

Geschlecht und Gesellschaft 6, VIII. 17 


258 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


beider Du letzthin Erwähnung in Deinem Briefe getan hast! Kannst Du 
sie gedruckt nicht abgeben, dann sende sie mir auf geschmackvollem 
Format schön abgeschrieben, damit der Genuß vollständig sei. Ich finde 
zwar, auch das ist eine Sentimentalität, die Dich als impertinent und ge- 
schmacklos anmuten wird, aber tue es vielleicht aus dem Gedanken heraus, 
daß Gedichte die Leute bilden. Ich habe ja die Hoffnung noch nicht 
aufgegeben, daß ich es im Laufe der Zeit zu einem zivilisierten Menschen 
bringen werde. 

Genug! Mit vielen und tiefinnigen Grüßen aus dem blühenden, 
sonnüberglasteten, duftigen, ratternden, schmutzigen, boshaften und doch 
am Ende so unsäglich lieblichen Prag. 


Königl. Weinberge, im September 1907. 


Was Du mir in deinem verflossenen Brief von meinen Bekannten 
geschrieben hast, dafür sei Dir gedankt, denn es ist sicher in guter Ab- 
sicht geschehen. Es wäre jedoch besser gewesen, Du hättest es unterlassen. 
Denn ich stehe mit keinem von ihnen mehr in brieflichem Verkehr, wünsche 
es auch nicht und will überhaupt von ihnen nichts mehr wissen. Ich habe 
an einem Bußtag,*) den ich mir setzte, Gericht mit meiner Vergangenheit 
gehalten und mit allem, was mir nahe stand, abgerechnet. Nur mit H. 
war mir die Trennung schmerzlich, ja, im ersten Moment habe ich geglaubt, 
ich würde es nicht ertragen können. Nun, da es vorüber ist, weiß ich es 
ganz genau: Ich habe den Menschen geliebt. — Es war in seinem Wesen 
ein Reiz von Jugend, der mich unwiderstehlich zu ihm hinzog und mich 
gleichzeitig nervös machte. Dieser Zauber wirkte auf mein Gemüt desto 
stärker, je mehr der Junge von schlechten Gesellen verlockt und von 
eigenen Leidenschaften verführt, niederging. Degeneration hat immer mein 
Blut leidenschaftlich erregt und ein verkommener Mensch, dessen Glieder 
welk und schlaff waren, dessen Züge aber noch Überreste eines schönen 
und reinen Frühlings andeuteten, erregte mich mitunter mehr und war 
meiner Willensstärke gefährlicher als eine junge, unberührte Blüte. Nun 
ist es, glaube ich, zwischen mir und H. endgültig aus und ich konstatiere 
das mit einem traurigen Siegesstolze. Ein Pyrrhus-Sieg! Und da ich nun 
doch schon einmal darüber spreche, so will ich noch ein Wort über die 
mir geläufigen Begriffe, Liebe und Freundschaft verlauten lassen. Ich 
brauche Dir den Unterschied wohl nicht auseinander zu setzen, den ich 
zwischen den beiden mache, weil Du es bist, dem ich meine Definition 
verdanke. H. und andere habe ich geliebt und liebe sie bis jetzt noch! 
In einem solchen Verhältnis ist von einem Höherstellen und Überschätzen 
keine Rede, eben weil ich die Knaben liebe; die Liebe macht blind. Es 
sind meine Götter, einen Gott kann man nicht kritisieren, zu den Göttern 
kann man nur beten, kann sich nach einer Gemeinschaft mit ihnen sehnen, 
kann ihnen Altäre bauen und Opfer darbringen, kann um die Götter, die 
hart wie Marmor sind, vor Sehnsucht verbrennen, aber sie anders wollen, 
— und das liegt doch in jeder Kritik, — hieße das Gleiche, wie Eulen 
nach Athen tragen. — Ich bin unglücklich, weil es mir nicht vergönnt ist, 


*) Im Original steht »Allerseelentag«, ich habe es des leichteren Verständnisses 
halber durch das deutsche »Bußtag« ersetzt. 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 259 


mich in Leidenschaft zu vernichten. — Ich hatte seit jeher eine bedeutende 
Willenskraft, ich war imstande, mein Inneres zu bändigen, obwohl manch- 
mal das Herz arg blutete und die Sinne vor Schmerz mir fast vergingen. 
Ich habe mich beherrscht! Nie habe ich in die Welt geschrieben: ich bin 
homosexuell. Nicht, weil ich das Lachen der Menge fürchtete oder mich 
des »Homo« schämte; nein, weil ich überhaupt den Geschlechtstrieb, mag 
er auf das eigene oder andere Geschlecht gerichtet sein, für die schwächste 
Seite des menschlichen Lebens halte. Der Geschlechtstrieb ist die gefähr- 
lichste und ich glaube die einzige Waffe, welche die Götter gegen die 
Menschen haben — und allein er ist geeignet, auch den größten Menschen 
in den Kot der Niederträchtigkeit und Gemeinheit herabzuziehen. Sich 
vom Geschlechtstrieb zu emanzipieren, wäre die genialste Tat, die in 
Äonen Einer zustande brächte; aber es hat keinen Menschen gegeben, der 
nicht tausendmal lieber mit seinen starken Trieben geprahlt als sie unter- 
drückt hätte. Und weil ich den Oeschlechtstrieb hasse, bin ich nie mit 
meiner Homosexualität herausgerückt. Ja, manchmal konnte ich es nicht 
ertragen, ich mußte mit einem Liebesbrief mein Leben retten, denn sonst 
wäre ich wahnsinnig geworden. Das aber gehört zu meinen Privat- 
angelegenheiten und wenn von solchen Briefen im Umkreis meiner Freunde 
die Rede war, dann lag es daran, daß sie nur den pikanten Reiz, nicht 
aber die Menschlichkeiten darin erkannt hatten. Das ist die Tragödie 
meines Lebens, daß die Menschen, die mir am nächsten standen, sich nur 
darum unter der Maske wärmster Anteilnahme in meine Geheimnisse ein- 
geschlichen haben, um meine heiligsten Gefühle zu mißdeuten, sie zu 
profanieren, ja sogar dreist als alltägliches Unterhaltungsfutter zu benutzen. 
Wer hat solche Leute angestellt, daß sie über mich urteilen? Solche Indi- 
viduen, die nur ein animalisches Dasein führen, die überall das nackte 
Fleisch sehen und sich nur mit Dingen befassen, die sich um die Ge- 
schlechtsorgane drehen! Diesen geschlechtskranken Monstren würde ich, 
der Ausgestoßene, nur mit Widerwillen meine reine Rechte reichen, weil 
ich fürchte, sie könnten mich anstecken! Ist es von Bedeutung, wenn 
solche Leute keinen Sinn für das geistige Ringen und Kämpfen eines aus- 
geprägten Charakters aufbringen und wenn sie mich nach ihrem kurzsich- 
tigen Katechismus einfach verdammen? Wie könnte mich so etwas ver- 
stimmt machen? Es ist, als wollte eine Meute kläffender Köter an mir 
emporspringen, aber dann streckt man die Hände aus und die eine Geste 
genügt, um sich die feige Schar vom Leibe zu halten. Ich glaube mich 
nicht zu überheben, wenn ich sage, daß ich hoch über dem moralischen 
Niveau dieser Durchschnittsmenschen stehe und daß ich sie verachte. 
Sapienti sat! 

O Freund, es schmerzt mich unendlich und scheint mir ein dämo- 
nisches Spiel der Natur, daß im Verhältnis zum Weibe alles erlaubt ist, 
jede wirkliche Schweinerei ganz ruhig geduldet wird, ja, daß es als etwas 
ausgesucht Ritterliches und Geniales gilt, die Weiber recht zynisch zu be- 
handeln — bei Unglücklichen von meinem Schlage jedoch die gleichen 
Dinge einem schändlichen Frevel gleichkommen. Ich habe heiß geliebt, 
aber — Christus oder Satan können meine Zeugen sein! — ich habe mich 
nie nach geschlechtlichem Umgang mit meinen Lieblingen gesehnt, ich 

17° 


260 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


hätte es für die größte Sünde gehalten, ihnen nur ein zweideutiges Wort 
zu sagen, um ja nur nicht ihre reinen Seelen zu beflecken, obwohl Du 
weißt, daß sie häufig alles andere nur nicht so ideal waren; und da will 
jemand kommen und mir Schamlosigkeit vorwerfen! Wie elend, wie un- 
glücklich macht mich dieses Bewußtsein! 


Du schreibst mir von Deinen stolzen Plänen, von dem Evangelium 
des Wollens und von der göttlichen Gnade der selbstgeschaffenen Kraft, 
die Du in Dir fühlst und nun auch von mir verlangst. Ich lese das alles, 
denke darüber nach und aufrichtige Bewunderung bemächtigt sich meiner. 
Du bist wie Narziß, der sich an seinem eigenen Bilde berauscht, aber 
nicht wie der Unglückliche in dem althellenischen Mythos. Mit fester 
Hand lenkst Du das Gespann Deiner Gedanken, stolz bewußt des lorbeer- 
geschmückten Zieles, auf sicheren Wegen in das sonnumlächelte Reich der 
Märchen und, gütig wie Du bist, wirfst Du von den wärmenden Sonnen- 
strahlen einige in mein Herz, das am Wegrand verdorrt. Ich danke Dir! 
Entschuldige, daß ich Deine Worte hier ein bischen paraphrasiere, aber 
treffender konnte ich Dich und Deine Zukunft nicht charakterisieren. Viel- 
leicht wirst Du Dich meiner Worte erinnern, wenn Du und andere mich 
suchen werden und ich nicht mehr zu finden bin. Denn wie Dein Weg 
ein Aufstieg ohnegleichen, so bedeutet der meine einen stillen langsamen 
Niedergang in namenlose Einsamkeit. Ich habe diese Beichte vor Dir 
abgelegt, damit auch Du nicht einmal leichtfertig über mich urteilst. Was 
auch geschehen mag, laß die Leute reden, Du kennst mich! Und wenn 
ich in Situationen kommen sollte — die Leidenschaft ist mächtig! — der- 
art, daß mich alle beschimpfen und verfluchen, sei Du überzeugt, daß ich 
einen ehrlichen Kampf gekämpft habe und zürne mir nicht. Lebe wohl! 


Kgl. Weinberge, im November 1907. 


Solch ein Brief! Früher hätte ich im Herbst alles andere erwartet 
als lächelnde warme Sonnenstrahlen, aber sieh’, manchmal ist auch der 
Herbst barmherzig! Oder war es noch ein Nachklang vom Mai? Gott 
im Himmel, wie bin ich froh! Denn die Vorahnung, daß die rückhaltlose 
Enthüllung meiner kummervollen Seele Dich, den Weibliebenden, ein für 
alle Male abstoßen würde, war natürlich falsch und der graue, dämmernde 
Herbst hat sich plötzlich zu einem lachenden, hellen Frühling gewandelt. 
Die Zeit, da ich auf Deine Antwort wartete, war schrecklich und manchmal 
schlich etwas an mich heran, das wollte die Hände um meinen Hals 
krampfen und mir für immer den Atem benehmen. Hättest Du mir nicht 
geschrieben, dann hätte ich mir zuvor einen endlosen Rausch angetrunken 
und vielleicht wäre ich dann in die Moldau gegangen. Ach, wie bedaure 
ich, daß ich kein Alkoholiker bin, wie dumm ist das! Ein intelligenter 
Mensch und kein Alkoholiker! — Das heißt — intelligent?! Ach nein, 
das bin ich nicht, denn diese begnadete Kaste der Menschen verfügt über 
eine bedeutende Willenskraft, ich aber bin einer von den Törichten, die 
vergebens nach Kraft und Verschwiegenheit beben ... 

Solch ein Brief! Wofür? Dafür, daß ich mich gedrängt habe zu 
dem Weg, auf welchem Du wandelst, zu dem beneidenswerten, stolzen 
Weg, und weil ich wie ein verwundetes Tier aufschrie: »Erbarmen!! 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 261 


Erbarme Dich meiner, Du!? . ...« Aber nicht wahr, das magst Du nicht 
hören, denn das hat einen fatalen Geschmack nach dem Psalmisten ... 
Nicht mehr aus dem Herzen schreiben, sondern ruhig und gefaßt 
von Dingen, die täglich geschehen, erzählen! — Kann ich das wirklich 
nicht? Ich will es versuchen, ich möchte einmal wirklich vernünftig sein 
und das Maß, das Knigge vorschreibt, einhalten. Mein Herr, Sie wissen, 
wie mir scheint, nicht, was das Wort Elegantia heißt? Elegant sein heißt: 
Tut Ihnen das Herz weh, so halten Sie gefälligst Ihr Maul oder reden Sie 
banal; noch besser, Sie haben irgend ein paar obszöne Witzchen am 
Lager! Steigert sich aber Ihr Schmerz, dann lachen Sie so tüchtig aus 
Herzensgrunde und können Sie es nicht mehr aushalten, derart, daß Ihre 
Umgebung Witterung bekommt, dann gehen Sie, mein Lieber, und hängen 
Sie sich schleunigst auf! Seien Sie unbesorgt, es wird Sie kein guter 
Freund hindern! Nur — möchte ich bitten — tun Sie das irgendwo in 
der Einsamkeit, damit Ihr geehrter Leichnam nicht den Übrigen die Luft 
verpestet. Oder noch besser, gehen Sie in die Dolomiten! So eine Reise 
-ist amüsant und hinterläßt einen guten Geschmack bei allen, die von 
Ihnen wissen — und stürzen Sie dort zufällig in irgend einen Abgrund! 
In den Dolomiten verschwinden ja viele Menschen, und dort sind Sie 
sicher, daß Sie niemandem Unannehmlichkeiten bereiten. Nur wenn Sie 
nicht mehr existieren, sind Sie ein vollkommener und liebenswürdiger 
Mensch, über den jedermann ein gutes Wort im Munde führt. — 

Lieber Freund, Du sandtest mir einige Gedichte in dem letzten Brief. 
Zwar nicht die, welche ich gewünscht hatte, aber um so wertvollere, weil 
sie aus Deiner eigenen Feder stammen. Sie sind herrlich, prächtig, wunder- 
sam! Aber das sind alles nicht die richtigen Worte dafür — wenigstens 
für mich nicht. Für mich sind sie so etwas wie das Solo eines gewissen 
Instruments im Orchester — (ich weiß nicht, wie dieses Instrument heißt, 
ich bin ein Barbar),*) — wie es im Orchester gewöhnlich vor der Kata- 
strophe zu weinen beginnt. Zuerst seufzt das Eine auf, dann antwortet 
das Zweite und Dritte, und dann hebt im Orchester ein Schluchzen an, 
so still, so wehmütig, so seltsam und tieftraurig. — Aber nichts mehr von 
solchen Stimmungen, sie sind lyrisch geschraubt und das verstößt gegen 
den Charakter eines normalen Briefes, Ich danke Dir tausendmal für 
Deinen prächtigen Brief und Deine anmutigen Verse. 


Kgl. Weinberge, im November 1907. 


Ich weiß nicht, warum ich Dir schreibe. Ich fühle zwar, ich bin so- 
gar überzeugt, daß ich Dir schreiben muß, aber von welch möglichen und 
unmöglichen Dingen wollte man nicht überzeugt sein?! Du hast wohl von 
den skandalösen Affären in Berlin gelesen?**) Gott im Himmel, so ekelhaft 
ist das alles, daß man fluchen und schimpfen möchte, wie nur ein Barbar 
fluchen und schimpfen kann. Denn was bleibt einem anderes übrig, will 
man nicht gerade verrückt werden, lachen und an den Wänden empor- 
klettern? Immer vorausgesetzt, daß man das Letztere auch wirklich kann. 


*) Der Schreiber meint zweifelsohne die Viola. 
**) Gemeint ist die Affäre des Fürsten Eulenburg und die darauf bezüglichen 
Artikel Maximilian Hardens. 


262 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Und das Niederträchtigste ist, daß man als Journalist selbst über diese 
Sache berichten muß, und ich habe doch seit der Zeit, da ich Journalist 
geworden bin, einen so unsäglichen Abscheu vor jeder Infamie und 
Niedertracht. Ich glaube das datiert daher, daß meine Leidensgenossen 
vor Gott und der Feder durch die Bank so infame und anrüchige Kerle 
sind. Die Journalistik, das ist noch immer ein ungelöstes Problem! Im 
übrigen, was kümmert mich der Schmutz, der in Berlin auf allen Seiten 
breitgetreten wird? Ich esse ja wie gewöhnlich, trinke auch — zumeist 
Wasser, wenn ich Geld habe auch Bier — (Du wirst nicht glauben, ein 
wie ausgezeichnetes Bier wir hier in Prag haben) — ja, also ich esse und 
trinke und daneben schreibe ich Referate und Artikel, wie man das so zum 
Zeitvertreib und des Geldes halber tut. Ich führe jetzt eine sehr scharfe 
Feder, das tue ich immer, wenn ich über Alltägliches schwätze, denn ich 
schreibe ja für die breite Masse und es erfüllt mich mit Wut für Leute 
zu schreiben, die sich für unendlich klug halten und in Wirklichkeit doch 
die Dümmeren von uns beiden sind. 

Ich möchte überhaupt nichts mehr schreiben, ich möchte auch keine 
Zeitungsberichte mehr lesen, mögen sie nun aus Berlin, Wien oder Peters- 
burg kommen. Ich möchte einfach sterben und ich glaube, das wäre das 
witzigste Bonmot, das ich mir in meinem Dasein geleistet hätte. Aber 
wenn ich sage, ich möchte sterben, so wollen mir das die Leute auch 
nicht glauben, ebenso wie ich es selbst mir nicht glaube, denn in Wirklich- 
keit fürchte ich den Tod und hasse ihn, weil ich weiß, daß ich so un- 
säglich banal, so plebejisch aus diesem Leben scheiden werde. Du gibst 
mir den Rat, ich möchte meine grauen Oedanken beschwichtigen und die 
Natur in ihrer befriedigenden Ruhe und erlösenden Schönheit aufsuchen. 
Erteile mir nie mehr einen Rat, Ratschläge sind so zweideutig und traurig! 
Stirbt jemand, so raten ihm noch in dem Augenblick, wo er die Seele 
schon auf der Zungenspitze hat, die Ärzte zu einer neuen Medizin und 
die umstehenden Freunde trösten ihn und weinen. Bei meinem Sterbebett 
dürfte niemand weinen oder auch nur ein besorgtes Gesicht machen. Ich 
stelle mir vor, daß ich in jungen Jahren sterben werde. An meinem Sterbe- 
bett stehen meine Freunde — Frauen haben keinen Zutritt, Frauen sind 
zu neugierig und dann reden sie einem gern Übles nach — also, meine 
Freunde stehen an meinem Bett, sind mit Rosen bekränzt, trinken guten 
Wein und singen. Und dann möchte ich ihnen so gern die heißen Hände 
küssen, aber ich würde wohl kaum noch Kraft dazu haben und überdies 
ließen sie sich gewiß auch von einem Sterbenden nicht küssen. Denkst 
Du, solche Träume lassen sich nicht durchführen? Du irrst Dich, die 
Herren im Altertum haben das alles schon gekannt. Freilich, die Herren 
im Altertum waren bei allem Zynismus geniale Kerle. Ich bin trotz aller 
genialen Träume nicht Zyniker genug! 

Nein, meine Sehnsucht hat sich anders entschlossen. Ich möchte gern 
in ein Kloster gehen und dort, unberührt von dem Schmutz verschiedener 
Hardens, mit gebrochenem Herzen, aber mit ruhigem Sinn die heiligen 
Väter lesen, aber nur die älteren! ..... 

Entschuldige, ich bin schon zu Ende und die Uhr zeigt 2 nach Mitternacht. 
Sieh’, wir haben miteinander in tiefer Nacht gesprochen und niemand war da! 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 263 


Kgl. Weinberge, im Januar 1908. 

War man abends lustig, so erwacht man gewöhnlich am nächsten 
Morgen mit wüstem Kopf. — Du, ich will nicht, daß Du mein Bruder bist! 
Willst Du mein bester Bekannter sein? Nicht Freund, denn das Wort hat 
einen anrüchigen Klang für Dich; also sagen wir mein bester Bekannter, 
dann will ich es gern von Dir annehmen. Aber nenne Dich nicht meinen 
Bruder. Weißt Du warum? Es ist mir unerträglich, wenn Leute, die ich 
hochschätze, zu mir sprechen und mich behandeln wie ihresgleichen, wie 
einen gereiften, in sich gefestigten Mann. Denn sie fordern von mir dann 
auch, daß ich mich ebenso wie ein gereifter, erwachsener, charaktervoller 
Mensch benehme. Erwachsen bin ich ja, aber vernünftig?! — Nein! Das 
ist mir schier unbegreiflich, wie jemand bei einem, der 18 Jahre Schulbank 
gedrückt hat, noch Vernunft suchen kann. Das letzte Quäntchen Vernunft, 
das ich hatte, ging mir bei meinem theologischen Examen verloren. Nein, 
ich will lieber unvernünftig lachen über alles, was mir in den Weg kommt 
und will mich von meinem Dämon böse zurichten lassen. Ich will in den 
Kaschemmen der Vorstadt sitzen und Alkohol trinken, denn das ist das 
Geistreichste, was der Prager Journalistenklüngel augenblicklich ausfindig 
gemacht hat. Geist und Temperament liegen zweifelsohne in dem Protest 
der Intellektualen gegen die Bestie der Abstinenz, die beinahe die ganze 
Welt mit ihren abscheulichen, moralischen Krallen zu umschlingen droht. 

Die Kritik findet, daß ich stark, interessant und unterhaltend geworden 
bin, aber ich lebe wie ein Komödiant in einer ständigen Verstellung und 
allmählich werden selbst die Worte, die ich hier schreibe zu einer reinen 
Lüge, denn ich glaube, ich bin nicht mehr imstande, die Maske der Ver- 
stellung vor jemandem abzulegen. Dadurch, daß Du Dich meinen Bruder 
nennst, stellst Du Dich auf das gleiche Niveau mit mir und sprichst zu 
mir wie zu Deinesgleichen und verlangsi aber auch von mir wie von 
Deinesgleichen frohen Mut, Witz, Selbstbeherrschung usw. Und siehst 
Du, das gerade kann ich nur, wenn ich mich verstelle. Darum verlange 
ich auch von Dir, nicht mehr als das, was man von guten Bekannten ver- 
Jangt: ein bischen Geduld, Nachsicht, Sanftmut und wie sonst derartige 
liebe Worte noch heißen. Heilsame Winke, Ratschläge usw. brauche ich 
nicht. Ich teile mir die Menschen der ganzen Welt in drei Kategorien 
ein, solche, die mir fremd und gleichgültig sind und zu denen man am 
freundlichsten und entgegenkommendsten ist. »Wie geht es Dir«, »Das 
ist heute ein abscheuliches Wetter< usw. Diese Menschen raten Dir mit 
Vorliebe, warnen Dich sorgfältig, indem sie Dein Herz durch diplomatische 
Worte tödlich verwunden, sie wachen über Deinem Benehmen, um Dich beim 
ersten falschen Tritt zu kompromittieren und unmöglich zu machen. Leute 

- dieses Schlages freuen sich scheinbar mit Dir über Deine Erfolge, trauern 
mit Dir, wenn Du traurig bist und helfen Dir mit tausend Vergnügen in 
die Hölle. Diese Leute habe ich eigentlich am liebsten, weil ich ihnen 
gegenüber das für das Leben so notwendige Quantum Haß aufzubringen 
vermag. 

Nicht so lieb sind mir meine Freunde, denn sie kennen meine 
Schwächen, vor ihnen stehe ich ganz entblößt und gegen sie habe ich 
nicht die Waffe meines Hasses. Darum bin ich gegen meine Freunde 


264 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


grob, launisch, stelle an sie harte Forderungen, die unerfüllt bleiben müssen, 
und sehe ihre Fehler tausendmal vergrößert, kritisiere sie unbarmherzig — 
und im Grunde sind es die einzigen, die ich schätze und für die ich 
Gott danke. 

Und nun die Einzigen, die mir überall in der Welt zu süßer Last 
sind, meine Lieblinge, meine bösen Geister oder Dämone, meine Fata und 
— wie ich Dir schon einmal schrieb — wenn ich richtig voraus sehe, 
mein Verderben. An ihnen erblicke ich keine Gebrechen, alle Kritik ist 
ihnen gegenüber machtlos und unfaßbar, sie scheinen mir wie dem 
Wanderer in der alten Sage das Gorgonenhaupt, erhaben, faszinierend schön 
und schrecklich. Vor ihnen allein möchte ich mir das Dekorum eines 
makellosen Menschen wahren, aber mehr und mehr finde ich, daß sie 
mich von meinem Piedestal hinabstoßen und in den Kot der Gemeinheit 
schleppen werden. Aber das Eine habe ich mir fest vorgenommen: ich 
werde nicht allein zugrunde gehen, sondern wenn es sein muß, will ich 
unbedingt ein Opfer mit mir nehmen. In meinem Herzen lodern für 
meine Lieblinge Flammen des Opfers; ich bin jedoch bereit, unverzagt 
sie selbst, die Altarbilder, für welche das Opferfeuer brennt, in das Feuer 
des Untergangs mit hinein zu reißen, sie zu versengen, ohne eine einzige 
Träne im Auge und ohne Gewissensbisse. 

Sieh, gestern Abend war ich so lustig, ich sang und sprang und 
jemand sagte mir, ich sei von Küssen vergiftet, wie man sie nur bei 
prostituierten Frauen erlebt. Aber das ist nicht wahr. Warum dürfte 
nicht auch ein Paria unter den mit normalem Geschlechtsbetrieb Beglückten 
für Augenblicke unbändig lustig und froh sein? Die Wahnsinnigen 
im Irrenhause dürfen auch ungestraft lärmen, und wo ist die Grenze, die 
zwischen denen und unsereinem verläuft? ..... Wärst Du jetzt in Prag, 
so wollte ich Dich jeden Tag sehen; sprechen brauchtest Du nicht, nur 
eine Weile mir Deine Hand auf die Stirne halten, und dann möchte ich 
zum Dank dafür Deine Hand küssen. Sei nicht böse! Die Freundschaft 
erlaubt es, Freunden küßt man die Hände, Liebe küßt man auf den Mund. 

Das alles wollte ich Dir nicht schreiben, aber es wird, glaube ich, 
ebenso wie ein unwandelbares Motiv in einer tieftraurigen Symphonie in 
meinen Briefen wiederkehren, solange ich noch eine Feder zu halten ver- 
mag. Eigentlich wollte ich Dir schreiben, daß ich vorgestern im Deutschen 
Theater war und Kainz auftreten sah. Er hat mir ganz gut gefallen, in 
jedem Zug sieht man einen genialen Künstler. Schließlich kam ich aber 
doch zu der Ansicht, daß er ein großer Komödiant ist. Er tritt zunächst 
in einem Stückchen »Der goldene Schlüssel« von M. Bernstein auf, wo er 
alle Phasen der Schauspielkunst vom höchsten Pathos und Iyrischem 
Schwung bis zur Groteske und zur possenhaften Situation durchzuleben 
hat. Das Stückchen ist mehr harmlos als geistreich, aber die Sprache 
hört sich in Kainz’ Mund ganz merkwürdig blühend, voll reifen klingenden 
Goldes an. Aber nun kommt das, worüber ich mich empört habe und 
das mich zu dem ungünstigen Urteil über ihn verleitet: daß er sich nicht 
schämt, so offenkundig vor dem stumpfsinnigen Publikum Komödie zu 
spielen. Er selbst muß es wohl genau gewußt haben, daß er nichts als 
Komödie gab, denn er hat etwas an sich, was fast unwillkürlich erscheint. 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 265 


Er ist todgezeichnet, das habe ich am meisten empfunden in dem Bahr- 
schen Einakter »Der arme Narr«, wo er Momente hatte, in denen er mich 
fast wie Hamlets Geist anmutete, und das gefällt mir nicht. — Przybys- 
zweski war bei der Premiere seines Stückes »Das goldene Vließ« am 
neuen Weinberger Theater zugegen. Aber es wurde so entsetzlich gespielt, 
daß ich keinen Grund hatte auszuharren, obwohl ich die ungebändigten 
Leidenschaften dieses Autors sehr liebe und ihn unter die Besten der 
Gegenwart zähle. Genug, lebe wohl! 


Von den weiteren Briefen, deren noch eine ganze Anzahl 
vorliegt, vermag ich der allzu intimen Details wegen und mit 
Rücksicht darauf, daß sie einzelne sehr scharfe Kritiken über 
Politiker und Künstler des gegenwärtigen Österreich enthalten, 
augenblicklich nichts Passendes mehr herauszufinden. Die 
knappe Auswahl dürfte jedoch genügen und den Zwecken, die 
ich damit verfolgte, einen interessanten Einblick in die Psyche 
eines hoch kultivierten und seiner konträren Anlage wohl be- 
wußten Homosexuellen zu bieten, vollauf dienlich sein. 


8 E 


DAS CHRISTENTUM 


UND DIE UNEHELICHEN KINDER. 
Von JOSEF LEUTE. 

р“ nun endgiltig feststehende Tatsache des Geburtenrück- 

ganges in Deutschland hat unter den Hütern deutscher 
Zucht und Sitte eine nicht geringe Panik hervorgerufen. Während 
man bisher nur drohende Rufe vernehmen konnte: »Wir treiben 
französischen Zuständen entgegen«, hört man jetzt die resig- 
nierte Klage: »Wir stehen mitten darin, Vor wenigen Jahren 
tat der bekannte Reichstagsabgeordnete Roeren den Ausspruch, 
daß Deutschland durch und durch verseucht sei. Man hat 
den Ausspruch damals allgemein als Übertreibung zurück- 
gewiesen, zumal da Roeren in der Verfechtung der Sittlichkeits- 
fragen Wege ging, die nicht nach Jedermanns Geschmack waren. 

Den berufenen Vertretern des Christentums, insbesondere 
den Geistlichen der verschiedenen Konfessionen wird nicht das 
Recht bestritten, sich der Sittlichkeit des Volkes anzunehmen. 
Im Gegenteil, das gehört zu ihren beruflichen Pflichten. Es 
läßt sich aber trotz aller wohlwollenden Bestrebungen nach 
Anerkennung dieser Tätigkeit die Tatsache nicht leugnen, daß 
es mit der Sittlichkeit weiter Kreise doch nicht am besten 


266 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


bestellt ist. Da legt man sich die Frage vor: ist das Christen- 
tum wirklich nicht imstande, die Sittlichkeit unseres Volkes 
auf ein höheres Niveau zu bringen? 

Seitens der Vertreter des Christentums macht man sich 
die Beantwortung der Frage mitunter recht leicht. Sie sagen 
einfach: Die mindere Sittlichkeit herrscht in jenen Kreisen, 
welche der Kirche und dem Christentum fremd geworden sind, 
oder ihr gar den Rücken gekehrt haben. Für die kirchlich 
gutgesinnten Kreise wird auch eine höhere Sittlichkeitsstufe 
reklamiert. 

Wir vermögen die Logik dieser Beweisführung nicht recht 
anzuerkennen. Das sittliche Leben des einzelnen Menschen 
ist etwas derartig Persönliches, daß es gar nicht möglich ist, 
darüber etwa eine Statistik aufzustellen und Folgerungen aus 
ihr zu ziehen. Es bleiben nur die in die Öffentlichkeit tretenden 
Folgeerscheinungen zur Beurteilung möglich, so etwa eine 
Statistik über Sittlichkeitsverbrechen, über die geschlechtlichen 
Erkrankungen, über uneheliche Kinder, Ehescheidungen usw. 

Aber auch hier heißt es vorsichtig urteilen, um keine 
falschen Schlüsse zu ziehen. Es genügen z. B. zur Beurteilung 
der Sittlichkeit einer Stadt nicht bloße Feststellungen über die 
Zahl der unehelichen Geburten, man muß auch deren Ursachen 
nachgehen, um ein Verständnis für diese üble Erscheinung des 
Lebens zu haben. Und darin lassen es die Vertreter der Kirche 
vielfach fehlen. Sie begnügen sich mit der äußeren Konsta- 
tierung einer Ziffer und das Urteil ist fertig. 

Es leuchtet aber jedem vorurteilsfreien Forscher ein, daß 
sexuelle Fragen nicht etwa mit Nasenrümpfen von oben herab 
behandelt werden dürfen. Und daran hat es bisher vielfach 
gefehlt. Die selbstbewußte Tugendwächtermiene war bisher 
kein wirksamer Faktor auf dem Gebiet der Hebung der sexu- 
ellen Sittlichkeit des Volkes. Gerade sie ist es, die von 
unserem Volke abgelehnt wird. Unser Volk fühlt sich mündig 
und frei und will auch in Fragen der Sittlichkeit sich nicht 
von der Geistlichkeit bevormunden lassen. Das ist einfach 
eine Tatsache, deren Verkennung dann die Überraschung bietet, 
daß alles Bemühen doch keinen Erfolg hat. 

Die christliche Kirche ist nun an die zweitausend Jahre 
alt, sie vermochte aber sexuelle Probleme, wie die Frage der 
Prostitution, der unehelichen Kinder, bis heute nicht aus der 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 267 


Welt zu schaffen. Es wird ihr das überhaupt nie gelingen, 
weil ihre Einflußsphäre nicht soweit reicht, daß sich die Völker 
ihr darin unterwerfen. Auf dem Lande, in kleineren Ortschaften, 
mag es möglich sein, daß der Geistliche das sittliche Leben 
seiner Gemeinde zum Guten leiten kann, weithin aber, namentlich 
in den Städten, ist jeder Einfluß und jede Kontrolle unmöglich. 

Das sexuelle Leben des Einzelnen ist an eine solche Fein- 
fühligkeit gebunden, daß ein barsches Eingreifen von geistlicher 
Seite, zumal wenn es in täppischer Art geschieht, nur von 
Schaden sein kann. Die Betonung mittelalterlicher Gehorsams- 
pflicht ist aber heute z. B. in der katholischen Kirche noch 
üblich. Dort stehen dem Geistlichen noch ganz vorsintflutliche 
Zwangsmaßregeln zur Seite, um die. Sittlichkeit seiner Ge- 
meinde zu bessern. Mit welchem Erfolg, mag manchmal 
dahingestellt bleiben. 

Wir wollen das an dem Verhältnis der christlichen Kirchen 
zu der Frage der unehelichen Kinder erörtern. Ganz besonders 
charakteristisch ist das Verhalten des katholischen Klerus. 

Der Prozentsatz der unehelichen Geburten ist in den 
einzelnen Ländern ein äußerst verschiedener. 

Österreich hat den höchsten Prozentsatz (14,7); dann folgt 
Schweden mit 10,6, Dänemark hat 9,5, Ungarn 9,4, Deutsch- 
land 9,3, Belgien 9, Frankreich 8,9, Schottland 7,3, Norwegen 
72, Italien 6,8, Finnland 6,4, Rumänien 6,1, Schweiz 4,7, 
England 4,3, Holland 3,1, Irland 2,7, Serbien 1,1. 

Daß aber z.B. Serbien das sittlichste Land der Welt sei, 
wird man nicht behaupten wollen. Die Greuel der letzten 
Balkankriege haben uns eines andern belehrt. Vielleicht ist 
diese statistische Angabe auch nur deswegen so günstig 
gehalten, um dieses Land in die Reihe „erster“ Kulturstaaten 
zählen zu können. 

Österreich steht obenan. Doch sind in seinen Landesteilen 
die Ziffern verschieden. Während in Istrien der Prozentsatz 
auf 2,6 fällt, steigt er in Kärnten auf 44°|,. 

Unter den deutschen Bundesstaaten steht obenan Sachsen 
mit 14°), dann folgt Bayern, das 12,2 aufweist; Mecklenburg 
hat 12, Schwarzburg - Rudolstadt 11,7, Braunschweig und 
Sachsen-Altenburg 11,3, Sachsen-Meiningen und Anhalt 11,2, 
Sachsen-Koburg-Gotha und Reuß 10,3, Schwarzburg-Sonders- 
hausen 9,5, Württemberg 8,2, Preußen 7,5, Baden 7,3, Hessen 


268 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


7,1, Elsaß-Lothringen 7,1, Oldenburg 5,4, Waldeck 5,3, Lippe 
4,7, Schaumburg-Lippe 4,1°/,. 

Unter den preußischen Provinzen hat Ostpreußen 9,5, 
Westpreußen 6,7, Berlin 186, Provinz Brandenburg 10,4, 
Pommern 10,2, Posen 5, Schlesien 9, Sachsen 11,3, Schleswig- 
Holstein 9,3, Hannover 6,9, Westfalen 2,9, Hessen-Nassau 6,3, 
Rheinland 4, Hohenzollern 4,1°],. 

Während das rechtsrheinische Bayern 12,2°/, aufweist, 
zeigt das linksrheinische nur 5,7. 

Wenn wir auch zugeben müssen, daß die statistischen 
Angaben alle Jahre andere Ziffern aufweisen, so ist der Durch- 
schnitt im großen Ganzen wohl immer derselbe. An der Spitze 
stehen, abgesehen von dem klerikalen Österreich, in Deutsch- 
land das orthodoxe Sachsen und das klerikale Bayern. Da- 
gegen hat, obwohl aus französischen Zuständen erworben, Elsaß- 
Lothringen eine verhältnismäßig günstige Ziffer aufzuweisen. 

Das eine läßt sich aus den Zahlen der Statistik ohne Vor- 
urteil folgern: in den Ländern, in denen die Vertreter der Kirche 
sozusagen das Regiment im Lande haben, ist der Prozentsatz 
der unehelichen Geburten ein hoher, also ist der Einfluß der 
christlichen Kirche kein Schutzmittel gegen uneheliche Geburten. 

Die Vertreter der Kirche stellen sich nun auf den Stand- 
punkt, als wären religiöse Maßnahmen das einzig Richtige. Be- 
sonders in der katholischen Kirche ist das ganze Sexualleben 
des Menschen der Aufsicht des Geistlichen unterstellt. Die 
Kontrolle wird im Beichtstuhl ausgeübt. Insoweit aber das 
Sexualleben in ungehörigen Folgeerscheinungen den Unwillen 
der Kirche erregt, und dahin gehören die unehelichen Geburten, 
sind auch Öffentliche Maßnahmen vorgesehen. 

Hierbei ist aber der persönlichen Willkür des einzelnen 
Geistlichen mitunter ein sehr weiter Spielraum gelassen. 

Die katholischen Geistlichen müssen alle Jahre in der 
kirchlichen Statistik an den Bischof berichten, wieviele unehelich 
Geborene das Jahr aufzuweisen habe. Da ist es das erklärliche 
Bestreben der Einzelnen, ihre Unehelichenziffer möglichst nieder- 
zuhalten, im Interesse des sittlichen Ansehens ihrer Gemeinden. 
Da erinnere ich mich der Erzählung eines alten Pfarrers, der 
untröstlich darüber war, daß noch im letzten Monat des Jahres 
in seiner Gemeinde eine uneheliche Geburt treffen sollte. Er 
wußte sich aber dadurch zu helfen, daß er die außereheliche 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 269 


Mutter, ein Dienstmädchen, so drangsalierte, bis sie ihre Stelle 
aufgab und in eine Nachbargemeinde übersiedelte. Über diese 
unwillkommene Seelenvermehrung war aber der dortige Pfarrer 
noch weniger erbaut und er dachte an Vergeltung. Der Zufall 
stand ihm zur Seite, daß es glückte, dem ersteren Kollegen 
noch kurz vor Jahresschluß zwei uneheliche Mütter zur Ent- 
bindung in die Gemeinde einzuschmuggeln, so daß jener der 
bösen Einträge in sein Kirchenbuch gar zwei bekam. 

Wieviele derartige persönliche Motive, die sich der Be- 
urteilung der Öffentlichkeit entziehen, mögen nicht das Leben 
unehelicher Mütter verbittern! Gerade der Geistliche, der nach 
dem Vorbild Jesu sich der Sünderinnen in Liebe annehmen 
sollte, ist in Wirklichkeit ihr geschworener Feind. Wenn in 
kleinen Gemeinden Mädchen ihre Schwangerschaft nicht länger 
mehr verbergen können, ist es für sie oft die einzige Rettung 
vor den Plackereien der Geistlichen, daß sie einen anderen 
Ort aufsuchen oder etwa im Gewühl der Großstadt verschwinden, 
wo sich niemand um sie kümmert. Dadurch wird ja auch das 
erwünschte Ziel erreicht, die kleinen Gemeinden bleiben ohne 
uneheliche Geburten, deren Ziffern nun der sittenlosen Groß- 
stadt angekreidet werden. 

Manche Geistliche sind schon ganz außer sich, wenn ihnen 
die Geburt eines unehelichen Kindes gemeldet wird, das sie 
taufen sollen. In Bayern wurde ein Pfarrer zu acht Tagen 
Gefängnis verurteilt, da er dem Vater, der meldete, daß seine 
Tochter unehelich geboren habe, vor Zorn die Worte ins 
Gesicht schleuderte: »Von Euren Töchtern katzelt aber auch 
alle Jahre eine andere, Das wurde vom Gericht als Be- 
leidigung erklärt. 

Die Geistlichen rächen sich für die »Schande« der unehe- 
lichen Geburt bei der Taufe des Kindes. Sie lassen nicht, 
wie sonst üblich, bei der Taufe ein Glockenzeichen geben, 
taufen auch uneheliche Kinder an keinem Sonntag. Lange Zeit 
hindurch war es üblich, den unehelichen Kindern ganz auf- 
fallende Namen aus dem Alten Testamente beizulegen, sodaß 
diese zeitlebens gekennzeichnet waren. Neuerdings ist dieser 
Brauch aber untersagt. 

Eines komischen Beigeschmackes entbehrt nicht eine 
Geschichte, die sich in dem oberelsässischen Dörfchen Wün- 
heim zutrug. Dort sollte auch ein uneheliches Kind zum 


270 GESCHLECHT UND [GESELLSCHAFT 


Verdruß des Seelsorgers getauft werden. Der aber ließ des 
Abends, als man das Kind zur Taufe in die Kirche trug, in 
den anliegenden Straßen die Beleuchtung abstellen. Das Kind 
wurde von der Hebamme unter dem Mantel verborgen getragen; 
so war es als Kind der Finsternis und der Sünde gekennzeichnet. 


Während sonst die katholische Mutter nach der Geburt 
eines Kindes in der Kirche »hervorgesegnet« wird, indem der 
Geistliche sie mit Gebeten wieder in die Kirche einführt, ist 
dieser Segen der unehelichen Mutter verwehrt. Sie darf nicht 
zur Kirche kommen und Gottes Segen für sich und ihr Kind 
begehren. Gestorbene uneheliche Kinder werden daher gerne 
in der Ecke des Friedhofs bei den Selbstmördern begraben, 
als ob der Fluch Gottes auf ihnen lastete. 


Bei dem jährlichen Bericht über den Bevölkerungsstand 
ist es (in katholischen Gemeinden zum Oster-, in evangelischen 
zum Neujahrstermin) vielfachSitte, dieNamen der »Gefallenen« von 
der Kanzel bekanntzugeben. Das soll für die übrigen Gemeinde- 
glieder ein Abschreckungsmittel sein. Es ist aber eher wahr- 
scheinlich, daß dieser Brauch im Falle gerichtlichen Belangens 
als Beleidigung erfunden würde. 

An Ostern müssen die »ledigen Mütter«, wie eigens ver- 
kündet wird, an besonderen Tagen zur Beichte gehen, sie 
dürfen sich weder unter die Mütter noch unter die Jungfrauen 
mischen. Mitunter haben die »Gefallenen« in der Kirche einen 
eigenen Stuhl und sie dürfen keinen anderen Platz einnehmen. 
Dieses An-den-Pranger-stellen ist noch ein echt mittelalterliches 
Überbleibsel. 

Die Proklamation von Eheversprechen lautet für gewöhn- 
lich: »Zum heiligen Sakrament der Ehe haben sich versprochen 
der ehr- und tugendsame Jüngling N. N. und die ehr- und 
tugendsame Jungfrau N. N.« Bei unehelichen Müttern heißt 
es einfach »die ledige N. N.« Da auch stets der Stand der 
Eltern mitverkündet wird, so fällt es der Gemeinde sofort auf, 
wenn in dieser Verkündigung die uneheliche Abstammung der 
ganzen Welt geoffenbart wird. Dieses brutale Eingreifen in 
die Achtung bei den Mitbürgern soll eben ein Hinderungs- und 
Strafmittel zur Abschreckung für andere sein. 

Bei der Trauung der unehelichen Mutter ist der Ritus der 
Zeremonien viel einfacher. Auch hier wird der »Segen« — ein 


GESCHLECHT UND "GESELLSCHAFT 271 


Gebet, in welchem der besondere Schutz Gottes auf die junge 
Ehefrau herabgerufen wird — einfach gestrichen. 

Das uneheliche Kind ist der römischen Kirche zeitlebens 
ein Dorn im Auge. Daher lastet auf den unehelich geborenen 
Knaben das kirchenrechtliche Hindernis, daß sie nie zur Priester- 
weihe zugelassen werden dürfen. Das kirchliche Recht nimmt 
an, daß ein Knabe unehelicher Abstammung auch in seinem 
späteren Leben dem »unenthaltsamen« Beispiel der Mutter 
folgen würde und sich daher für den Stand des Cölibates 
nicht eigne. 

Manche bischöfliche Behörden, zumal in Bayern, haben 
Instruktionen erlassen, wie sich die Pfarrer unehelichen Müttern 
gegenüber zu verhalten haben. So erließ das Bischöfliche 
Ordinariat Regensburg am 23. November 1907 eine Verordnung, 
derzufolge der Pfarrer eine ledige Mutter vorzuladen und zu 
vermahnen hat. Über das gegebene Versprechen der Besserung 
hat der Pfarrer ein kurzes Protokoll aufzunehmen und in einen 
eigens hierfür dienenden Akt einzulegen. Diesen Vermerk hat 
die vermahnte Person zu unterschreiben. Kommt die Vermahnte 
zum zweiten Mal zu Fall, so wird das Verfahren wiederholt. 
Beim dritten Mal muß an die oberhirtliche Stelle berichtet 
werden. Alsdann kommen die üblichen Kirchenstrafen zur 
Anwendung, zuerst die Androhung, dann der tatsächliche Aus- 
schluß vom Empfang der Sakramente, im Falle eines »besonders 
schweren Ärgernisses« sogar die Öffentliche Bekanntmachung 
dieser Strafe von der Kanzel. 

Ob ein derartiges Strafverfahren geeignet ist, die unehelichen 
Geburten zu vermindern, wollen wir nicht untersuchen. Eine 
vielleicht ungewollte Folge dürfte eher die Verbitterung einer 
solchen Person sein, die durch ein derartiges Verfahren kirch- 
lichem Einfluß erst recht entzogen wird. Ist eine solche Person 
einmal in den Augen der Mitmenschen degradiert, gilt sie bei 
den übrigen Gemeindebewohnern als minderwertig, so wird es 
auch vergeblich sein, sie in ihren Auffassungen von Sitte und 
Sittlichkeit zu fördern. Nicht die strafende und rächende, viel 
eher die helfende Hand des Geistlichen wäre in der Lage, 
unehelichen Müttern aufzuhelfen und sie, die oft genug ein 
erbarmungswürdiges Schicksal vor sich haben, der Gesellschaft 
als nützliche, brauchbare Glieder zu erhalten. Das wäre eine 
Aufgabe, die so ganz dem Charakter des geistlichen Amtes 


272 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


entspräche, wie auch der Auffassung, die Jesus von der Be- 
handlung der sexuellen »Vergehen« hatte. 

Der Widerspruch dieser gekünstelten Auffassung trat in 
charakteristischer Weise an einem Falle hervor, der sich im 
Juni 1912 in Bayern zutrug. Für das uneheliche Kind einer 
Frau in Mannheim war der in Bayern wohnende Großvater 
als Vormund bestellt worden. Das Kind war bei ihm unter- 
gebracht. Später verheiratete sich die Mutter mit einem 
Protestanten und verlangte nun ihr Kind zurück. Das Amts- 
gericht Dachau wies sie ab. Die Mutter holte sich nun selbst 
ihr Kind und richtete eine neue Eingabe an das Amtsgericht 
Dachau. Auf Antrag des Vormundes verlangte das Gericht 
die Zurückbringung des Kindes und drohte seine Forderung 
eventuell mit polizeilicher Hilfe durchzusetzen. 

Aus diesem Gerichtsbeschluß sind folgende Sätze interessant: 
Es hieß darin, es bestehe für das Vormundschaftsgericht zurzeit 
kein Anlaß, von den getroffenen Anordnungen abzugehen, schon 
mit Rücksicht auf die tief verletzten religiösen Gefühle des für 
das katholische Kind bestellten katholischen Vormundes, welcher 
nach eigenem Vorbringen und nach Brief der Kindsmutter diese 
immer noch auffordere, ihren Ehemann zu verlassen. Die 
gesetzlich giltige Ehe der Kindsmutter sei nach den durch 
§ 1588 B.-G.-B. gedeckten kirchlichen Anschauungen des Vor- 
mundes ein Konkubinat und ehebrecherisches Verhältnis, wes- 
halb der Vormund im Zusammenhalt mit früher geltend 
gemachten Anschauungen auf der Zurückführung des Kindes 
bestehe. 

Auf die in der Öffentlichkeit entstandene Empörung über 
eine solche Auffassung der Eheschließung sah sich die 
Berufungsinstanz doch veranlaßt, den Beschluß des Amtsgerichts 
aufzuheben und es ließ die »kirchlichen« Anschauungen des 
katholischen Vormundes nicht mehr gelten, der in seiner Naivität 
übersehen hatte, daß wir nicht in einem mittelalterlichen Kirchen- 
staat leben. Aber die Geschichte zeigt, mit welchen Vorurteilen 
man auf dem Gebiet sittlicher Bestrebungen noch operiert. 


O E 










с=т 


chlafzimmer 


en der 
Möbel-Fabrik 


H Wolffs@ 


Engros 
Export 


| | Gegründet 1867. 
| Detail-Verkauf BERLIN sw 
Ritterstr.59. 


| Ständige Ausstellung 
von 100 Musterzimmern in allen Preislager. 


ТЕУ Ме 2629 „10722, 





REKLAMEPLAKAT FÜR EINE MÖBELFABRIK. Моп Е. HEILEMANN. 
(Zu dem Aufsatz ‚Die erotische Bildreklame‘', Seite 236.) 














TITELSEITE DER PARISER ZEITSCHRIFT „L’AMOUR“. 


(Zu dem Aufsatz „Die erotische Bildreklame‘‘, Seite 236). 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 
ҰШ, 7. 





internum, oe = Ostium externum. 





ж б 2 


NORMALE FORM DER KONOIDE FORM DER 
PORTIO VAGINALIS PORTIO VAGINALIS 
(Nach Kisch). (Nach Kisch). 


Zu dem Aufsatz „Die Unfruchtbarkeit des Weibes‘‘, Seite 273. 





DIE UNFRUCHTBARKEIT DES WEIBES. 
Von Dr. JOHANNES MARR. 


rl den populär medizinischen und pseudo-wissenschaftlichen 

Schriften wurde in neuerer Zeit wiederholt die Behauptung 
aufgestellt, daß die Unfruchtbarkeit des Weibes eine typische 
Krankheit des letzten Jahrhunderts wäre. Obwohl in der gegen- 
wärtigen Periode die Vorbedingungen für einen Geburtenrück- 
gang die denkbar günstigsten sind, und die Bevölkerungszahl 
auf dem europäischen Kontinent tatsächlich dauernd abnimmt, 
so wirken doch hier eine ganze Reihe verschiedener Faktoren 
mit, zu denen allerdings auch die Sterilität unserer Frauen ge- 
rechnet werden muß. Allein, wie wir aus den gynäkologischen 
Statistiken ersehen können, ist der Prozentsatz steriler Frauen im 
Verhältnis zu den Empfangenden, wenn auch groß genug, so doch 
bei Weitem nicht so übertrieben hoch, wie er von mancher 
Seite angegeben wird, und er hält sich auch dauernd so ziem- 
lich auf der gleichen Höhe. Die genaue Kenntnis der Ursachen 
der Sterilität und die damit verbundene umfassende Therapie, 
die erst der jüngsten Gegenwart angehören, haben es auch 
mit sich gebracht, daß die Zahl der absolut sterilen Frauen 
immer mehr zusammenschmilzt. Die größere Gefahr liegt im 
Gegenteil in der künstlichen Verhütung der Schwangerschaft, 
die aus ökonomischen Gründen von vielen jungen Ehepaaren 
angestrebt wird. Trotzdem möchte ich behaupten, daß das ganze 
Geschrei von einer bedrohlichen Abnahme der Bevölkerungs- 
dichte zufolge der Beschränkung der Geburtenzahl höchst über- 
flüssig ist, und daß der konstatierte Geburtenrückgang noch 
nicht im Stande ist, die Wehrkraft und Expansionsfähigkeit der 
Deutschen auf die Dauer zu beeinträchtigen. Ein gut Teil des 
ganzen Geburtenrückgangrummels ist auf das Konto der egois- 
tisch-politischen Propaganda zu buchen. Unzweifelhaft hat sich 
für gewisse Kreise durch die Feststellung der Tatsache, daß 
innerhalb des letzten Jahrzehntes die Geburten abgenommen 
haben, die erwünschte Gelegenheit ergeben, der gegenwärtigen 
Kultur und namentlich der ganzen liberal-aufklärerischen Be- 

Geschlecht und Gesellschaft VIII, 7. 18 


274 . GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


wegung etwas am Zeuge zu flicken. Würde man aber die Be- 
völkerung auf ihre Nachwuchsdichtigkeit untersuchen, dann käme 
man wohl zu dem überraschenden Resultat, daß die geringere 
Kinderzahl nicht in den Großstädten und in den Kreisen des 
Proletariats zu finden ist, sondern, daß sie vornehmlich den 
wohlhabenden und agrarischen Kreisen zur Last gelegt werden 
muß. Ich habe in Hunderten von Fällen aus dem Munde von 
Bauern gehört, daß man wohl darauf achten müsse, den Kinder- 
reichtum nach Tunlichkeit zu beschränken, weil dadurch eine 
Teilung des Familiengutes hintangehalten würde. Da der Bauer 
zumeist seine Söhne, wenn sie die Volksschule absolviert haben, 
auf seinem Grundstücke als billige Arbeitskräfte behält, muß 
später, wenn die Söhne herangewachsen sind, das Erbgut ge- 
teilt werden. Selbstverständlich vermindert sich auf solche 
Weise der Besitz und darum hat der Bauer ein Interesse daran, 
nicht überflüssig viel Kinder in die Welt zu setzen. Der Prä- 
ventivverkehr wird auf dem Lande viel häufiger geübt, als es 
die Verteidiger der ländlichen Sittlichkeit annehmen möchten, 
und noch häufiger kommt es vor, daß der Bauernsohn eine 
Städtische heiratet, die bereits die nötige Erfahrung in die Ehe 
mitbringt. Was aber für den Bauer und Pächter Regel ist, das 
ist für den Großgrundbesitzer und souveränen Gutsherrn keine 
Ausnahme. Es wäre interessant, aus der Statistik festzustellen, 
wie viel die feudalen und groß-agrarischen Herren zurRegeneration 
des Volkstums und der Wehrkraft beitragen. Man schiebt die 
ganze Verantwortung nur zu gern auf die Schultern der Bürger- 
lichen und des minderbemittelten Proletariats ab, aber die 
Korruption hält sich auf beiden Seiten so ziemlich die Wage, 

Damit soll jedoch nicht gesagt werden, daß die ländlichen 
und Grundbesitzerkreise an unserem Problem, an der Un- 
fruchtbarkeit des Weibes, mehr beteiligt wären, als andere Be- 
völkerungsschichten, wenn auch nicht geleugnet werden kann, 
daß die Sterilität bei den Frauen des Landadels und Groß- 
grundbesitzes überaus häufig, ja, im Verhältnis häufiger als bei 
der städtischen Bourgeoisie, angetroffen wird. Von sieben 
Grundherren im Umkreise einer ostpreußischen Kreisstadt habe 
ich fünf angetroffen, die in steriler Ehe lebten, wobei es sich 
in drei Fällen um primär-sterile Frauen handelte. Der Rest 
hatte vor Jahren einfache Schwangerschaft durchgemacht. Se- 
kundäre Sterilität ist überhaupt eine Erscheinung, die man am 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 275 


Lande ebenso häufig antrifft, wie in der Stadt, da das länd- 
liche, unrationelle Leben zahlreiche Prämissen schafft, aus denen 
die sekundär-sterile Veranlagung erfolgt. Überhaupt wäre es 
interessant, einmal festzustellen, in welcher Weise sich die Ur- 
sachen, die Sterilität verschulden, in städtischen und in länd- 
lichenKreisen differenzieren; denn daß dieBeschäftigung, Lebens- 
weise und Umgebung für die Erwerbung der Sterilität nicht 
unwesentlich sind, liegt wohl klar zu Tage. Die Statistiken, 
die die Schwankungen in dem Prozentsatz steriler Frauen in 
den einzelnen Jahren tabellarisch verzeichnen, liefern den Be- 
weis dafür, daß die Sterilität in ?/, aller Fälle erworben ist. 
Eine Beschränkung dieses Zustandes läßt sich auf die Dauer 
durch die Ausbreitung der sexuellen Aufklärung und Hygiene 
erzielen. Vor allem muß in Laienkreisen der Erkenntnis Raum 
geschaffen werden, daß eine Ehe, selbst, wenn sie jahrelang 
steril geblieben ist, dennoch fruchtbar werden kann, wenn eine 
Konzeptionsfähigkeit durch mangelhafte Bildung oder sonstige 
Atrophie des weiblichen Geschlechtsapparates nicht von vorn- 
herein ausgeschlossen ist. Aber häufig findet sich eine Frau, 
die in den ersten drei, vier Jahren nicht geboren hat, mit dem 
Gedanken ab, überhaupt nicht mehr zu konzipieren, und ver- 
zichtet demzufolge auf eine peinliche ärztliche Untersuchung, 
die vielleicht gerade das Gegenteil der Annahme bestätigen 
würde. Noch häufiger wird von den Frauen die gynäkologische 
Untersuchung verabscheut, oder zum Mindesten gefürchtet, und 
sie geben sich lieber allerlei Aberglauben hin, operieren mit 
Gebeten, Beschwörungen und natürlichen Medikamenten, die 
selbstverständlich an der Sache nichts ändern können. Es gibt 
Frauen, die in eine Wallfahrt nach Mariazell oder Lourdes weit 
mehr Hoffnung setzen, als in eine ärztliche Konsultation, und 
die dann, selbst wenn eine solche stattfand, sich den Anord- 
nungen des Arztes nur ungern oder gar nicht fügen. Der weit 
verbreitete Glaube ist, daß die Unfruchtbarkeit der Frauen einen 
Zustand bedeutet, der von selbst kommt und nur aus sich selbst 
wieder behoben wird. 

Trotzdem empfindet eine jede Frau, heute wie früher, die 
Unfruchtbarkeit als eine Plage, ja noch mehr als das. Viele 
an sich glückliche Ehen sind für längere Zeit durch das Aus- 
bleiben des Nachwuchses in ihrem Glück bedroht. Die Mission 


des Weibes beruht in ihrem Mutterschaftsberuf und ihr eigent- 
18* 


276 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


licher Wert ist erst in ihrer Fruchtbarkeit gegeben. Durchläuft 
man die Sitten- und die Kulturgeschichte verflossener Völker 
und Jahrhunderte, so bemerkt man, daß das Leben der sterilen 
Frauen im großen und ganzen immer einer Tragödie geglichen hat. 
Bereits bei den alten Juden stand dem Manne, der eine unfrucht- 
bare Frau besaß, das Recht zu, sich ein Nebenweib zu halten 
und mit ihm erbberechtigte Kinder zu zeugen. Da die weib- 
liche Unfruchtbarkeit als ein unehrenhafter Zustand angesehen 
wurde, suchte man dem durch allerlei Mittel abzuhelfen, und 
die spätere rabbinische Literatur schreibt eine ganze Reihe 
diesbezüglicher Pflanzen und Medikamente vor. Das alt- 
deutsche Recht ermächtigte den Mann, die unfruchtbare Frau 
zu verstoßen, und die Justinianische Gesetzesordnung sah eine 
Ehe als ungeschlossen an, wenn der Gatte nicht innerhalb zweier 
Jahre Nachwuchs erzeugt hatte. Auch die Römer sahen in der 
Sterilität ein Verschulden der Frau. Eine Frau, die bis zum 
zwanzigsten Lebensjahre nicht konzipiert hatte, durfte nach 
römischem Recht sogar am Leibe bestraft werden. Ebenso 
stand das ganze Mittelalter unter der Anschauung, daß bei 
einer unfruchtbaren Ehe die Schuld in erster Linie die Frau 
träfe, der Mann dagegen nur bedingt herangezogen werden 
dürfte. Der Grundirrtum dieser Anschauung bestand darin, 
daß allgemein ein Mann, der begattungsfähig war, auch gleich- 
zeitig als fruchtbar angesehen wurde. War eine augenschein- 
liche Impotenz nicht vorhanden, dann konnte die Kinderlosigkeit 
nur durch die Frau verschuldet sein. Wie hartnäckig dieser 
Trugschluß sich behauptete, geht aus der Einrichtung des 
öffentlichen Beischlafes hervor, der noch im 17. Jahrhundert 
vorgeschrieben wurde, wenn eine Ehe wegen Unvermögen des 
Mannes geschieden werden sollte. Erst am 18. Februar 1677 
wurde zuletzt in Frankreich die Probe des öffentlichen Bei- 
schlafes verboten. Auch die meisten neuzeitlichen Völker be- 
trachten Sterilität als triftigen Scheidungsgrund, und die Mittel, 
die von unfruchtbaren Frauen zur Wiederherstellung ihrer 
Konzeptionsfähigkeit angewandt werden, entbehren manchmal 
nicht des grotesken und lächerlichen Beigeschmacks. Die 
Chinesen, Japaner, Perser und ein Teil der indischen Stämme 
setzen die unfruchtbare Frau nicht nur einer Reihe von 
Demütigungen aus, sondern nach dem Gesetz ist der Mann 
berechtigt, die Frau zu verstoßen. Dasselbe gilt von der 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 277 


mohammedanischen Lehre, wo die Unfruchtbarkeit als eine 
harte Fügung Allahs angesehen wird und der Mann nach 
Ablauf einer gewissen Frist die Ehescheidung aussprechen 
kann. In den slavischen Ländern, namentlich in Istrien, 
Bosnien, in der Herzegowina, in Rußland und Bulgarien wird 
die Unfruchtbarkeit der Frauen auf geschlechtlichen Verkehr 
mit dem Bösen oder auf einen Zauber seitens feindlich ge- 
sinnter Nachbarn zurückgeführt. Zahlreiche Naturvölker sehen 
auch die Unfruchtbarkeit als eine Folge ehelicher Untreue an 
und bestimmen ihre Strafen darnach, die zumeist recht grau- 
samer Natur sind. Entsprechend dem Aberglauben sind auch 
die Mittel, die von den einzelnen Völkern gegen die Unfrucht- 
barkeit angewendet werden, verschiedenster Art. Neben Stoffen 
aus dem Tier- und dem Pflanzenreich bildet der Gebrauch von 
Brunnen- und Badekuren eines der wichtigsten Mittel zur Be- 
seitigung der Sterilität der Frau. Schon die Hulda der alten 
Deutschen hatte in einem wunderkräftigen Brunnen ihren Wohn- 
sitz, ebenso galten im alten Griechenland der Fluß Elatus in 
Arkadien und der Thespische Quell am Helikon als heilsame 
Quellen zur Behebung der Unfruchtbarkeit. Die vornehmen 
Römerinnen, die sich nach einem Kinde sehnten, verbrachten 
eine Zeit des Jahres in Bajä, ähnlich wie die modernen Frauen 
Reisen in mondaine Bäder unternehmen, die oft von dem ge- 
wünschten Erfolge begleitet sind. Aber auch göttliche Hilfe 
wurde gegen die Unfruchtbarkeit in Anspruch genommen und 
zahlreiche Feste der Antike, wie die Luperkalien bei den Römern 
und die Mysterien zu Ehren der Demeter bei den Griechen, 
hatten einzig den Zweck, unfruchtbaren Frauen das Familien- 
glück zu verschaffen. Ploß-Bartels bezeichnet das Aufpeitschen, 
das die jungen Burschen im Vogtlande und in anderen Teilen 
Deutschlands am ersten Osterfeiertage in der Frühe vornehmen, 
indem sie mit frischen grünen Reisern die Mädchen aus dem 
Bette jagen, sowie das Niederlausitzer »Zempern« und das 
Budissiner »Semperlaufen« als eine Art der ins Deutsche über- 
tragenen antiken Luperkalienfeste. Auch einzelne Götter, wie 
Hermes, der namentlich seiner starken Männlichkeit wegen als 
der befruchtende Gott bei den Griechen galt, oder die Wasser- 
götter der Dajaken, der Gott Hännuman der Inder, die Göttin 
Kuan Yin der Chinesen konnten nach dem Glauben der be- 
sagten Völker Fruchtbarkeit bewirken. Eine ähnliche Tendenz 


278 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


offenbart sich in der Verehrung der Madonna, die namentlich 
der katholischen Landbevölkerung sehr geläufig ist; auch in 
der Kirche wird die Heilandmutter als ein Symbol der Mutter- 
schaft und Fruchtbarkeit offenkundig verehrt. Neben der 
Heiligen- und Götterverehrung spielt auch der Fetisch oder 
das zauberkräftige Amulett in der naiven Therapie des Volkes 
gegen die Unfruchtbarkeit eine wichtige Rolle. Schon das 
Altertum hat in dem aufgereckten männlichen Phallus die 
zeugende und mithin befruchtende Kraft erblickt, und der 
gesamte Phalluskult orientalischer und abendländischer Völker 
zeugt von der eminenten Bedeutung, die man dem Zeugungs- 
und Befruchtungsvorgang zugeschrieben hat. In den slavischen 
Gegenden tragen die Bäuerinnen, die unfruchtbar sind, ständig 
kleine Amulette in Form des männlichen Gliedes mit sich 
herum. In Tirol werden nach Zingerle Mirakelbildern, 
die in Form von kleinen Kröten aus Wachs gebildet sind 
und »Muettern« heißen, übernatürliche Kräfte zugeschrieben. 
Ein moderner Phalluskult ist auch die Anbetung des heiligen 
Francesco di Paolo, die namentlich in der süditalienischen 
Provinz Bari häufig ist, und die des heiligen Cosimo, 
der in der Gegend von Neapel in großem Ansehen 
steht. Bei den Prozessionen zu seinen Ehren verkaufen die 
Händler unterwegs an die sich beteiligenden Mädchen und 
Frauen phallische Wachsfiguren, die dann als Liebesgabe dem 
heiligen Cosimo dargebracht werden. Die Gegenleistungen, 
die von ihm erfleht werden, sind neben der Befreiung von 
Sterilität die wiederkehrende oder noch stärkere Potenz ihrer 
Liebhaber und Männer. Wie in den katholischen Ländern die 
Pilgerstätten der wundertätigen Madonna, so gibt es in China 
Tempel der Fruchtbarkeit, ebenso in Indien, wo in der heiligen 
Stadt Benares zu dem Zwecke jährlich Tausende von Pilgern 
zusammenströmen. Eine anschauliche Schilderung dieser Pro- 
zessionen hat erst kürzlich Ewers in seinem Reiseskizzenbuch 
»Indien und Ich« geboten. Auch viel abergläubische Manipu- 
lationen gehören hierher; so erwähnt Ploß eine alte holländische 
Kanone, die bei Batavia auf freiem Felde liegt, auf der die 
unfruchtbaren Weiber in ihren besten Kleidern, mit Blumen 
geschmückt, zu sitzen pflegen. Daß die Kanone in den Ruf 
der Fruchtbarkeitsbringerin gekommen ist, geht darauf zurück, 
daß der nach hinten den Abschluß des Laufes bildende Kopf 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 279 


die Form einer menschlichen Hand hat, deren Finger die 
sogenannte »Fica« bilden, d. h. sie sind zur Faust geballt und 
der Daumen ist dabei zwischen dem Zeigefinger und Mittel- 
finger vorgestreckt. Bekanntlich bildet aber diese Daumen- 
stellung die Allegorie für den Coitus, daher wohl die über- 
natürliche Kraft, die dem Kanonenrohr zugeschrieben wird. 
Auch die Beschwörung der Toten, die Seelen der Bäume, 
Feuerfunken, Frühlingsregen u. a. werden bei einzelnen Völkern 
als gegen die Unfruchtbarkeit wirksam betrachtet. 

In der alten medizinischen Literatur findet die Unfruchtbar- 
keit des Weibes eine eingehende Erörterung, und sowohl bei 
Hyppokrates als bei Plinius und Aristoteles sind die Ursachen 
und die Mittel zur Verhütung der Sterilität genau beschrieben. 
Begreiflicherweise wird das Hauptgewicht nach der ethischen 
Seite hin verlegt, und nur bei Hyppokrates sind eine Reihe 
mechanischer Ursachen, die auch von der neueren Medizin 
als richtig anerkannt wurden, angegeben. Eine Zusammen- 
stellung der diesbezüglichen Sentenzen findet sich in der noch 
immer unübertroffenen Darstellung der weiblichen Sterilität 
von Professor Kisch-Prag, der wir auch in der nachfolgenden 
Skizze über die Ursachen der Sterilität in den Hauptzügen 
folgen. Professor Kisch unterscheidet zunächst zwischen 
kongenitaler oder absoluter und aquisiter oder auch relativer 
Sterilität, und versteht unter ersterer das Ausbleiben einer 
Schwangerschaft trotz längerer, mindestens seit drei Jahren 
stattgehabter Kohabitation. Aquisit steril sind nach Professor 
Kisch jene Frauen, die nach ein- oder zweimaliger normaler 
Schwangerschaft im Verlauf von mehreren Jahren, trotzdem sie 
noch in geschlechtsreifem Alter stehen, nicht mehr konzipieren. 
Eine Unterabteilung der aquisiten Sterilität ist die so häufige 
»Ein-Kinder-Sterilität«, die von englischen Ärzten zuerst als 
solche bezeichnet wurde, und deren Ursachen parallel denen 
der erworbenen Sterilität verlaufen. Fränkel-Breslau verwirft 
die Bezeichnungen »kongenital«e und »aquisit« und schlägt 
dafür die zutreffenderen Unterscheidungen » primär« und 
»sekundär« vor, wobei er unter primär-sterilen Frauen solche 
bezeichnet, bei denen trotz längerer Ehezeit eine Empfängnis 
noch nicht eingetreten, aber immerhin in Zukunft doch nicht 
unmöglich ist. Sekundär-steril dagegen scheint ihm eine Frau, 
die nach ein- oder mehrmaliger Empfängnis ihre Konzeptions- 


280 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


fähigkeit durch eine puerperale oder extrapuerperale Erkrankung 
eingebüßt hat. Demzufolge steht auch Fränkel auf dem Grund- 
satz, daß für die sekundäre Sterilität ein viel längerer Zeitraum 
als von drei Jahren, zum mindesten aber fünf Jahre nach der 
letzten Schwangerschaft angesetzt werden müßten, bevor über- 
haupt von einer sekundären Sterilität die Rede sein könne. 
Was die Häufigkeitsverhältnisse der einzelnen Sterilitätsformen 
anbelangt, so hat Bumm in einer einsichtigen und auf Grund 
langjähriger tabellarischer Vergleiche authentischen Studie über 
Behandlungs- und Heilungsaussichten der Sterilität bei der 
Frau festgestellt, daß die Sterilität der Ehen, welche in krank- 
haften Zuständen der Frau ihren Grund hat, in zwei Dritteln 
aller Fälle auf angeborener mangelhafter Entwicklung der Genita- 
lien beruht, im übrigen Drittel, die erworbene Sterilität umfassend, 
sehr oft durch Gonorrhoe bedingt ist. Dieser Grundsatz deckt 
sich trotz verschiedener Einwände, die von anderer Seite gegen 
ihn erhoben wurden, auch mit den Erfahrungen anderer be- 
deutender Kliniker auf diesem Gebiete, und es spricht nicht 
dagegen, wenn beispielsweise Fränkel bei einem durchaus be- 
schränkten und artgleichen Material Abweichungen von dieser 
Regel konstatiert hat. Der zweite Teil der Bumm’schen These, 
der Gonorrhoe in der Mehrzahl der Fälle für Sterilität verant- 
wortlich macht, wird durch die Erfahrungen von Grünewald, 
Bockelmann, Kisch, Fränkel und anderen bestätigt. Des leichteren 
Verständnisses halber möchte ich die Einteilung der Ursachen 
der Sterilität, so wie sie Kisch zum Zwecke der aetiologischen 
Erörterung in drei Hauptgruppen vereinigt, beibehalten. Dem- 
nach sind die drei Hauptbedingungen der weiblichen Un- 
fruchtbarkeit: 

a) Die Unfähigkeit zur Keimbildung. 

b) Die Behinderung des Kontaktes von normalem Sperma 

und Ovulum. 

c) Die Unfähigkeit zur Bebrütung des Eies. 
In der ersten Gruppe kann es sich um einen vollkommenen 
Defekt der Ovarien, um angeborene oder vorzeitige Verkümme- 
rung der Eierstöcke, letzteres infolge schwerer Erkrankungen 
oder auch toxischer Einwirkungen, um Neubildungen im Eier- 
stock und in der Follikelanlage handeln. Fälle dieser Art sind 
unheilbar und schlieĝen eine Konzeption von vorneherein aus. 
Dagegen kann die Sterilität nur eine vorübergehende sein, wenn 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 281 


es sich um ungenügende Entwicklung der Ovarien, um eine 
teilweise Vernichtung der Eierstöcke durch Tumoren, durch syphi- 
litische Infektion handelt, oder wenn eine übermäßige Fettbildung, 
Anämie, Skrophulose, vorhanden sind. Daß auch Alter, Klima und 
Ernährung für die Fruchtbarkeit nicht unmaßgebend sind, be- 
weist die Tatsache, daß sich die Ehen zwischen allzu ungleich- 
altrigen Personen, bezw. zwischen allzu Jugendlichen wiederholt 
als unfruchtbar erwiesen haben. Das beste Konzeptionsalter der 
Frau ist das zwischen dem 20. und 24. Lebensjahr. Ehen, die 
vor dem 20. Lebensjahre geschlossen werden, erweisen sich zum 
größten Teil als vorübergehend steril, obgleich, je nach der 
physischen Konstitution der Gatten, Schwängerungen bereits 
knapp nach vollendeter Pubertät vorgekommen sind. Hier spielt 
namentlich das Klima und die Rassenzugehörigkeit eine große 
Rolle. Frauen, die leicht und frühzeitig menstruieren und auch sonst 
alle Symptome der Geschlechtsreife zeigen, haben mehr Aussicht, 
auch in jugendlichem Alter zu konzipieren, als solche, bei denen 
die Menstruation spät, spärlich und unter erschwerenden Um- 
ständen eintritt. Immerhin gibt das spärliche und unregelmäßige 
Erscheinen oder völlige Ausbleiben der Menstruation noch keinen 
Grund für Sterilität ab. Während eine Reihe von Frauen, die 
niemals menstruiert waren, sich als sekundärsteril erwies, haben 
andere nacheinander bis zum Eintritt der Menopause ganz nor- 
male Schwangerschaften und Geburten durchgemacht. Anderer- 
seits ist oft trotz ausgiebiger Monatsreinigung die Schwanger- 
schaft dauernd unterblieben, wenn es sich um gewisse infektiöse 
Erkrankungen des inneren Geschlechtsapparates beim Weibe 
gehandelt hat. Die Befruchtung ungünstig beeinflussende 
Momente ergeben sich ferner aus der Lebensweise, dem Genuß 
von Alkohol und chemischen Stimulanzien, häufigen Gemüts- 
affekten, Inzucht und hereditärer Veranlagung. Allgemein ver- 
breitet ist die Meinung, daß Fettsucht dauernde Sterilität ver- 
ursachen kann. Die Therapie dieses krankhaften Zustandes hat 
jedoch das Gegenteil zu Tage gefördert, indem Frauen nach 
einer erfolgreichen Abmagerungskur leicht und wiederholt 
geboren haben. Ein weiteres Kapitel, das noch einer Erwähnung 
bedarf, ist die Zerstörung der Keimanlage durch allzu häufig 
geübten Coitus, ein Zustand, der namentlich bei jung verheirateten 
Eheleuten sehr häufig angetroffen wird. Bockelmann hat auf 
die Gefahr des Flitterwochenabortes hingewiesen und sie aus 


282 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


dem Überhandnehmen gewisser endometritischer Wucherungen 
zufolge der dauernden Aufregungszustände erklärt. Auch eine 
sekundäre Sterilität kann auf diese Weise verschuldet werden. 
In die zweite Gruppe, die die organischen Veränderungen 
umfaßt, durch die der Kontakt von normalem Sperma und Ovulum 
verhindert wird, gehören namentlich Bildungsfehler oder der 
gänzliche Mangel der Tuben, auch das Fehlen oder die nur 
rudimentäre Entwicklung des Uterus (angeborene Atresie), ent- 
zündliche Zustände der Tuben, durch die es zur Schwellung 
der Schleimhaut und zur übermäßigen Absonderung von Sekreten 
kommt, wodurch das Vordringen des Spermas auf unüberwind- 
liche Schwierigkeiten stößt. Dieses gilt vor allem von Er- 
krankungen, die sich entweder auf tuberkulöser Basis oder durch 
gonorrhoische Infektion entwickeln. Die Krankheiten des Uterus 
sind sehr zahlreicher Natur und können sich auf eine Reihe von 
Erscheinungen ausdehnen, von denen namentlich die Lage- 
veränderung und die pathologischen Strukturveränderungen die 
Einpflanzung und Entwicklung des in die uterine Höhle ge- 
langten befruchteten Eichens beeinträchtigen. Ebenso kann der 
Uterus häufig vollkommen fehlen, die Vagina überhaupt nicht 
oder nur als ein kurzer Blindsack vorhanden sein, während die 
Tuben entwickelt oder ebenfalls nur rudimentär sind. Die 
Mehrzahl der angeführten Fälle, darunter auch die angeborene 
oder durch Rachitis und Skrophulose erworbene Becken- 
verengerung, schließen naturgemäß eine Befruchtung und 
Schwangerschaft unbedingt aus. Reinhold Gerling hat in seinem 
„Goldenen Buch der Frau“ auf die konträr-sexuelle Veranlagung 
der Frau hingewiesen, die nach seiner Meinung in vielen Fällen 
primäre Sterilität verschuldet. Soweit es sich um die psychische 
Veranlagung handelt, kann die Homosexualität nur bedingt 
herangezogen werden, wenn auch die infolge des konträren 
Geschlechtstriebes verursachte Dyspareunie die Konzeption 
zweifelsohne erschwert. Dyspareunie als solche, auf welche 
Gründe sie immer zurückzuführen sei, schließt eine Konzeption, 
wenn nicht andere organische Fehler vorliegen, keineswegs aus, 
und es ist nachgewiesen, daß eine große Zahl von Frauen, die 
nicht eine Spur von Libido in actu aufwiesen, trotzdem schwanger 
wurden und vollständig normale Kinder zur Welt brachten. 
Daß im Übrigen die geschlechtliche Erregung des Weibes 
bei der Konzeption eine wesentliche Rolle spielt, ist von der 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 283 


neuzeitlichen Medizin niemals bestritten worden. Instinktiv ist 
auch das Volk von derselben Meinung beherrscht, wenn es 
beispielsweise durch die in manchen Gegenden üblichen Probe- 
ehen, wie sie auch neuerdings in amerikanischen Gesellschafts- 
kreisen eingeführt wurden, eine vorherige genaue Kenntnis- 
nahme der Verlobten fordert. Auch das „FensterIn“ und die 
Probenächte der deutschen Bauernmägde verfolgen denselben 
Zweck. Daß sexuelle Anästhesie oder zum Mindesten 
eine nicht genügend stark entwickelte Libido die Konzeption 
beeinträchtigen, beweisen zahlreiche historische Fälle, unter 
anderen der der Kaiserin Maria Theresia, die anfänglich nicht 
konzipierte, dann aber ihrem Mann in rascher Aufeinanderfolge 
16 Kinder gebar. Bekannt ist hierbei die treffende Diagnose 
des Leibarztes van Swieten, der nach den anfänglichen frucht- 
losen Versuchen das Catonische: „ceterum censeo vaginam 
sanctissimae majestatis magis esse titillandam“ aussprach. Hier- 
her gehört auch der Mangel einer seelischen Harmonie zwischen 
den Ehegatten, der ebenfalls unter Umständen eine relative 
Sterilität verursacht. So blieb die Ehe Napoleons I. mit der 
schönen Josephine Beauharnais kinderlos, obwohl Josephine aus 
ihrer ersten Ehe Kinder besaß und auch Napoleon in seiner 
zweiten Ehe mit Maria Luise von Österreich einen Sohn zeugte. 
Ein absichtlich passives Verhalten seitens des Weibes führt zur 
Zurückhaltung gewisser Sekrete, die für die Fortbewegung der 
Spermatozoen wichtig sind, und läßt es zum Eindringen des Sper- 
mas in die Gebärmutter nicht so leicht kommen, weil der Samen 
post actum sofort abfließt. Die Kenntnis dieses Umstandes soll 
von einzelnen Naturvölkern zur Verhinderung der Empfängnis 
verwendet werden. Auch die Tatsache, daß Dirnen und solche, 
die sich aus gewerbsmäßigen Gründen prostituieren, nicht so 
leicht konzipieren, dürfte zum Teil auf ihr passives Verhalten 
während der Dauer des Geschlechtsaktes zurückzuführen sein. 

Geht die konträr sexuelle Anlage Hand in Hand mit einem 
ausgeprägten physischen Hermaphroditismus, dann ist allerdings 
eine Befruchtung ausgeschlossen. Fälle jedoch, wo neben rudimen- 
tär vorhandenen männlichen Geschlechtsorganen gleichzeitig ein 
vollständig entwickelter Uterus vorhanden wäre, derart, daß 
eine Schwangerschaft möglich wäre, sind bislang in der medi- 
zinischen Literatur nicht nachgewiesen. 

Die Zahl der Kraffkheiten des weiblichen Geschlechts- und 


284 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Gebärapparates, dievorübergehende Sterilität erzeugen, ist eine 
überaus große. Wir nennen neben entzündlichen Prozessen 
der Ovarien und der Tuben, die zur Verengung und Verlötung 
an den Ostien führen können, die Neubildungen im Gebär- 
mutterinneren, Verhärtung und Gebärmutterschwund, alle Arten 
infektiöser Prozesse, die nach dem Puerperium zurückbleiben, 
Dysmenorrhoe, d. i. der schmerzliche Menstrualfluß, der selbst 
Erkrankungen des Genitalapparates zur Ursache hat, die über- 
aus häufigen Lageveränderungen der Gebärmutter, die soge- 
nannten Versionen und Flexionen, abnorme Windungen der 
Vagina, Harn- und Mastdarmfisteln, sowie Hyperthrophie und 
Tumoren an den äußeren und inneren Schamlippen und an der 
Vulva. Eine andere überaus häufige Erscheinung, die vorüber- 
gehende Unfruchtbarkeit bewirkt, ist die abnorme Beschaffen- 
heit des Hymens, der oft erst nach einem operativen Eingriff 
die normale Vollziehung des Coitus und die damit verbundene 
Schwängerung zuläßt. So gelang es einem Ehemann erst nach 
zweijähriger Kohabitation den Hymen seiner Gattin zu perforieren, 
worauf sofort Schwängerung erfolgte. Durch eine allzu skrupellos 
ausgeführte Defloration in der Hochzeitsnacht kommt es bei 
jungen Frauen in zahlreichen Fällen zu den als Vaginismus ge- 
fürchteten krampfartigen Zusammenschließungen der Vagina, 
die oft erst durch eine monatelange örtliche und psychische 
Behandlung sich beseitigen lassen. Schließlich kann es auch 
zu pathologischen Veränderungen der Genitalsekrete kommen, 
wobei vorzeitige Abtötung der befruchtungsfähigen Spermatozoen 
die Folge ist. Auch Unreinlichkeit, die zur Zersetzung der 
Scheidenprodukte und zur Ansammlung der für die Sperma- 
tozoen so gefährlichen Säuren führt, muß vielfach für eine 
erschwerte Konzeption verantwortlich gemacht werden; gilt es 
ja heute noch in den niederen Ständen als unhygienisch, eine 
häufige Spülung der Genitialen vorzunehmen. In manchen 
slavischen Gegenden herrscht der Aberglaube, daß eine Wasch- 
ung der Geschlechtsteile die Anziehungskraft des Mädchens auf 
den Burschen herabsetze. Gonorrhoe und krankhafte Ausflüsse, 
die namentlich bei dem durch Tripperinfektionen so häufig 
verursachten Cervical-Katarrh auftreten, können die Befruchtungs- 
möglichkeit auf eine geraume Zeitlang hinaus unterbinden. 
Will man von allen den Umständen absehen, die auf Seiten 
des Mannes ausschlaggebend für ein Ausbleiben der normalen 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 285 


Schwangerschaft der Frau sein können, zu denen neben den 
verschiedenen Formen der Impotenz namentlich die Atrophie 
der Hoden, teilweiser oder vollständiger Mangel an lebenden 
Spermatozoen, gonorrhoische und syphilitische Infektion gehören, 
so bleibt noch die Besprechung der Gründe übrig, die Sterilität 
durch Unfähigkeit zur Bebrütung des Eies nach sich ziehen. 
Hierher gehören alle Hemmungsbildungen des Uterus, voll- 
ständige Entartung der Uterusschleimhaut, die bei primär 
sterilen Frauen sich zu einem hohen Prozentsatz konstatieren 
lassen. Ferner verursachen alle Arten metritischer Wucherungen, 
sowie Geschwulstbildungen der Gebärmutter und die bereits 
erwähnten Lageveränderungen eine mehr oder minder lang 
andauernde Unfähigkeit zur Bebrütung des Ovulums. An- 
schließend an diese Feststellungen möchte ich auch des 
Carzinoms der Gebärmutter gedenken, das irrtümlich für viele 
ausgebliebene Schwangerschaften verantwortlich gemacht wird. 
Eine krebsige Entartung der Gebärmutter läßt nicht nur im 
Anfangsstadium, sondern auch noch dann, wenn es bereits zur 
Eiterung und zum jauchigen Zerfall der krebsigen Masse ge- 
kommen ist, noch immer die Konzeption zu, so lange überhaupt 
ein Geschlechtsverkehr stattfinden kann und der Kontakt 
zwischen Ei und Samen nicht von vornherein verhindert ist. 
Winkel hat diese Erfahrungen über den Einfluß von Gebär- 
mutterkrebs auf die Empfängnis folgendermaßen fixiert: „Der 
weitaus größte Teil der an Uteruskarzinom leidenden Frauen 
ist verheiratet, dieselben leben nur sehr selten in steriler Ehe 
und haben sich meist als ungewöhnlich fruchtbar erwiesen.“ 

Zum Schluß wollen wir noch der operativen Verfahren 
gedenken, die sich in manchen Fällen als notwendig erweisen, 
und soweit sie sich auf die Tuben und auf die Eierstöcke 
ausdehnen, notwendigerweise die Sterilisation der Frau nach 
sich ziehen. Man bezeichnet die zufolge von Ovariotomie, 
Kastration und Entfernung der Adnexe eintretende Unfruchtbar- 
keit als operative Sterilität. Unfruchtbarkeit ist überall da eine 
vollständige, wo es sich um gänzliche Entfernung der Eierstöcke, 
beziehungsweise wo es sich um eine Amputation der Vaginal- 
portion handelt, wenn bei letzterer die nach der Operation 
eintretende Vernarbung eine vollständige Stenosierung (Ver- 
engung) des Orificium externum (äußerer Gebärmuttermund) 
zur Folge hat. Die Ausschneidung der Eierstöcke zum Zwecke 


286 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


der Entfernung von Eierstockgeschwülsten wurde zum ersten 
Mal im Jahre 1809 in England vorgenommen. Die Kastration, 
d. i. die Extirpation gesunder oder wenigstens nicht bedeutend 
affizierter Eierstöcke, zu therapeutischen Zwecken datiert seit 
dem Jahre 1869 und hatte eine Zeit lang besonders in Amerika 
sich zu einer wahren Epidemie herausgebilde. Den amerika- 
nischen Ärzten genügte bereits die Konstatierung von Migräne, 
die nach den neueren Forschungen auf gewisse sekretorische 
Vorgänge in den Eierstöcken zurückgeht, um den Patientinnen 
die Kastration anzuempfehlen. Selbstverständlich ist nach einer 
restlosen Entfernung der Eierstöcke eine Konzeption für immer 
ausgeschlossen und manche junge Ehefrau, die sich zu einem 
früheren Zeitpunkt leichtsinnig zu dieser Operation bewegen 
ließ, hat es nachträglich in einer unglücklichen Ehe schwer 
gebüßt. In jüngster Zeit ist die Kastration in den Hintergrund 
getreten, und die Paare, die eine Schwängerung verhindern 
wollen, bedienen sich der weit harmloseren Präventivmittel, die 
allerdings nicht in allen Fällen unbedingten Erfolg verbürgen. 
Man kann sagen: der größere Teil sekundär steriler Frauen 
wird in dem Moment schwanger, wo der Präventivverkehr 
nicht mehr nötig scheint und eine Schwängerung unter normalen 
Bedingungen möglich ist. Gerade die fakultative, d. i. die mit 
Wissen und Willen beider Gatten bewirkte Sterilität der Frau 
bedeutet die größere Gefahr für die Rassengenese und die 
Produktionsfähigkeit der künftigen Generation, und wenn auf 
irgend eine Weise dem drohenden Geburtenrückgang gesteuert 
werden soll, dann ist dies nur durch eine Verbesserung der 
sittlichen und ökonomischen Grundlagen der modernen Ehe 
möglich, die den Präventivverkehr als überflüssig und gesell- 
schaftsfeindlich auf ein Minimum reduziert. — 


8 E 
9 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 287 


SEXUELLE DIÄTETIK. 
Von Geheimrat Prof. Dr. ALBERT EULENBURG. 


е Diätetik ist in diesem Zusammenhange selbstverständlich 
nicht bloß die wissenschaftliche Ernährungslehre, sondern 
der Inbegriff aller auf die gesamte Lebenshaltung und Lebens- 
führung bezüglichen gesundheitlichen Lehren und Vorschriften 
zu verstehen. Unter sexueller Diätetik also der Inbegriff dieser 
Lehren und Vorschriften, soweit sie der gesunden, normalen 
Entwicklung des Geschlechtslebens im kindlich-jugendlichen 
Alter zu dienen, einer verfrühten Ausbildung oder abnormen 
und krankhaften Triebrichtung vorzubeugen und schädigenden 
Auswüchsen und Ausartungen entgegenzuwirken bestimmt sind. 

Es erwachsen auf diesem Gebiete für den Arzt, den Hygie- 
niker und Pädagogen gleich bedeutsame und schwer zu erfüllende 
Aufgaben. Als Arzt und Nervenarzt möchte ich nur darauf 
hindeuten, wie wir es hier mit einem für die Verhütung schwerer 
Erkrankung und Zerrüttung des Nerven- und Seelenlebens über- 
aus wichtigen, oft geradezu entscheidenden Faktor zu tun haben. 
Ich erinnere nur an die zumal bei nervös veranlagten Kindern 
oft schon lange vor der eigentlichen Pubertät einsetzende Ent- 
faltung des geschlechtlichen Triebes, mit ihren gefürchteten 
Äußerungen und Begleiterscheinungen des gesteigerten ona- 
nistischen Dranges, von dessen wirklichen und durch die Vox 
publica wissentlich oder unwissentlich übertriebenen Gefahren 
noch weiter die Rede sein wird. Aber auch für andere auf 
sexuellem Gebiete liegende Verirrungen, namentlich für die 
gleichgeschlechtige (homosexuelle) Triebrichtung, ebenso für die 
sadistische, masochistische und fetischistische Neigung werden 
in diesem Alter zumeist die Keime gelegt, bei vorbestehender 
Anlage mindestens die letzten entscheidenden Gelegenheitsanstöße 
geboten; hier sind daher noch Vorbeugungs- und Schutzmaß- 
regeln am Platze, die in späteren Lebensabschnitten bekannter- 
maßen nur zu oft vollständig versagen. 

Als Ausgangspunkt unserer Betrachtungen muß die Erfah- 
rungstatsache gelten, daß wir es unter dem Einflusse der Kultur- 
bedingungen und Kulturformen der Gegenwart, und zumal unter 
den eigenartigen großstädtischen Lebensverhältnissen, bei der 
heranwachsenden Jugend vielfach schon von vornherein nicht 
mehr mit einer normalen, gesunden und natürlichen, sondern 


288 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


mit einer in anormaler Weise überreizten, überhasteten und 
verfrühten geschlechtlichen Entwicklung, einer demnach künst- 
lich gezüchteten Steigerung des sexuellen Trieblebens zu tun 
haben. Mit dieser Tatsache, so schmerzlich sie sein mag, 
müssen wir ein für allemal rechnen. Was wir demgegenüber 
wollen und anstreben, kann und darf selbstverständlich nicht 
etwa Bekämpfung des gewaltigsten und berechtigsten aller 
Naturtriebe in seiner als normal und typisch anzusehenden 
Entwicklungsform sein — sondern ganz im Gegenteil nur die 
Herstellung und Geltendmachung dieser natürlichen Entwicklung 
gegenüber ihrer durch das heutige Kulturleben vielfach aufge- 
drungenen Entstellung und Fälschung. Nicht die Natur zu er- 
sticken, sondern ihr zu Hilfe zu kommen und einem gewalt- 
samen Ein- und Vorgreifen in ihre Rechte zu wehren — das 
muß auch hier, wie allenthalben in hygienisch-ärztlichen Dingen, 
unser Programm bilden. 

Hier ist nun freilich die schwierige Frage nicht zu um- 
gehen, was denn eigentlich auf diesem Gebiete als „natürlich“ 
und „normal“ gelten soll — worin die ersten, unzweifelhaften 
Äußerungen des geschlechtlichen Trieblebens zu erkennen und 
mit welchem Lebensalter sie in naturgemäßer Weise verknüpft 
sind. Auf diese Fragen lautet die Antwort nichts weniger als 
übereinstimmend. Es gibt ja eine Richtung heutzutage — und 
sie ist sogar durch bedeutende Namen vertreten — die über- 
all nichts als erotische Probleme und sexuelle Lebensäußer- 
ungen wittert, und die folgerichtig schon den noch halb oder 
ganz unbewußten Betätigungen des frühesten kindlichen Alters, 
sogar der Säuglingszeit, den Ausdruck erotischer, wenn auch 
dunkler Gefühle und Antriebe ein- und beigemischt findet. Es 
handelt sich hier um teilweise recht verwickelte und zurzeit 
wohl kaum entscheidungsreife Fragen — auf die ein näheres 
Eingehen von dem eigentlichen Gegenstande zu weit abführen 
dürfte. Uns kann vorzugsweise nur der seiner selbst sich be- 
wußt werdende und dadurch in Zwiespalt mit anderen Momenten 
der Persönlichkeit und mit den äußeren Lebensverhältnissen 
geratende Trieb der kindlich-jugendlichen Übergangsperiode 
an dieser Stelle beschäftigen. Auch dafür ist der Versuch 
einer genaueren zeitlichen Fixierung sehr schwierig; Rasse und 
Klima, Geschlecht und Individualität führen für sich allein, 
ganz abgesehen von den durch die Umgebung, durch die äußeren 









SCHNABELFÖRMIGE 
VAGINAL - PORTION 
(Hintere Ansicht). 


Zu dem 
Aufsatz 
„Die 
Unfrucht- 
barkeit des 
Weibes‘‘ 
Seite 273 


REINE HYPERTROPHIE 

DER AUS DER VULVA 
HERVORRAGENDEN 
VAGINALPORTION. 





SCHURZENFORMIGE 
VAGINAL - PORTION. 
(a die längere, b die 
kürzere Muttermundslippe). 





AUFWARTSKRUMMUNG 
DES ELONGIERTEN 
CERVIX. 

-|(Nach Kisch). 


Zu dem 
Aufsatz 
„Die 
Unfrucht- 
barkeit des 
Weibes‘‘ 
Seite 273 






VORBEUGUNG DER:GEBÄRMUTTER. RÜCKWÄRTSBEUGUNG DER GEBÄRMUTTER. 
(Nach A. Martin). (Nach A. Martin). 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 289 


Reizquellen künstlich geschaffenen Veränderungen, schon zu 
weitgehenden Unterschieden des natürlichen Verhaltens. Aber 
im allgemeinen scheint das Aktivwerden und deutliche, zielbe- 
wußte Hervortreten des geschlechtlichen Triebes unter normalen 
Umständen einer nicht unerheblichen späteren Jugendperiode 
anzugehören, als von der herrschenden Meinung vielfach an- 
genommen und von ihren literarischen Wortführern in zornigem 
Prophetentone als unfehlbare Offenbarung mystischen Natur- 
willens verkündet wird. Die 14jährige Wendla Bergmann 
und ihr nicht viel älterer Genosse aus Wedekinds zu so 
zweifelhafter Berühmtheit gelangtem „Frühlings-Erwachen“ 
und ihre zahlreichen Vor- und Nachbilder in Romanen und 
Dramen sind doch, so individuell wahr sie immerhin sein 
mögen, glücklicherweise nicht als typische Normalgeschöpfe, 
sondern als krankhafte Ausnahmeerscheinungen zu betrachten, 
deren überreife Erotik ihrem natürlichen Entwicklungsgange 
mindestens um fünf, vielleicht auch noch mehr Jahre vorauf- 
geeilt ist. Wenn man von der eigentlich am nächsten liegenden 
Annahme ausgeht, die vollendete Entwicklung auch in psycho- 
sexualer Hinsicht mit der vollen Ausbildung der Geschlechts- 
reife zeitlich zusammenfallen zu lassen — so gelangt man 
zu einer für beide wesentlich späteren Grenzbestimmung. 
Die zusammengefaßten Ergebnisse der Statistik und der 
ärztlichen Erfahrung sprechen im allgemeinen dafür, wenig- 
stens innerhalb unserer klimatischen und Rassenverhältnisse 
die volle Geschlechtsreife im Durchschnitt beim weiblichen 
Geschlecht nicht vor vollendetem 20., beim männlichen sogar 
nicht wesentlich vor dem 25. Lebensjahr anzusetzen. Dies wird 
manchem überraschend erscheinen; es ist aber der sich auf- 
drängende Schluß aus großen und wichtigen Tatsachenreihen, 
wie z.B. der bedeutend größeren Lebensfähigkeit der Kinder, 
die von Müttern nach dem 20. und von Vätern nach dem 
25. Lebensjahre erzeugt werden. Hiernach dürfte also auch 
der Abschluß der natürlichen Entwicklung des geschlechtlichen 
Trieblebens im allgemeinen kaum vor Ende des zweiten und 
Beginn des dritten Lebensdezenniums anzusetzen sein. Dem 
entspricht die »Sera juvenum Venus«, die bekanntlich Tacitus 
unseren germanischen Vorfahren — wohl in bewußtem Gegen- 
satz zu dem dekadenten Römertum seiner Zeit — nachrühmt. 
Nun ist es in einem Teile unserer, den sexuellen Problemen 
Geschlecht und Gesellschaft VIII, 7. 19 


290 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


überhaupt mit allzueinseitigem Eifernachspürenden Tagesliteratur 
leider üblich geworden, die unklaren und unfertigen Gefühle 
und unbestimmt sehnsüchtigen Dränge der einsetzenden Pubertät 
mit den bewußt erkannten und erstrebten Geschlechtszielen 
späterer Jahre unterschiedlos zu konfundieren. Unter dem Banne 
solcher Modeströmungen hat sich auch bei einem großen Teile 
unseres lesenden und Theater besuchenden Publikums die 
schlaffe und weichlich sentimentale Auffassung Bahn gebrochen, 
die männlichen und weiblichen Angehörigen dieses Lebensalters 
als prädestiniert unglückliche und beklagenswerte Opfer ihres 
naturberechtigten, aber unter den obwaltenden Verhältnissen in 
unlösbare Konflikte hineintreibenden Sinnendrangeszu betrachten. 
Einer solchen Auffassung muß doch auf das Entschiedenste 
widersprochen werden. Im großen und ganzen gilt glücklicher- 
weise für dieses Frühalter immer noch das Schillersche »Vom 
Mädchen reißt sich stolz der Knabe« — die Geschlechter fliehen 
sich in dieser Zeit eher als daß sie sich suchen — und in 
weitaus überwiegendem Maße haben wohl auch unsere Unter- 
und Obersekundaner und selbst unsere Primaner doch den 
Kopf voll von anderen Interessen als den ihnen in modernen 
Kinderstuben- und Kinderseelendramen, »Kindertragödien«, 
»Gymnasiastentragödien« und »Kindheitsuntergängen« aus- 
schließlich zugeschriebenen, und sind die in unstillbarem 
erotischen Drang vorgehenden Hänschen Rielows, Melchior 
Gabors und Moritz Stiefels einstweilen immerhin aus ungünstigen 
Anlagen und traurigen Erziehungsverhältnissen hervorgegangene 
Abnormitäten. Aber freilich — sie sind; darüber sollen und 
können wir uns nicht hinwegtäuschen — das Leben drängt sie 
uns immer und immer wieder vor Augen — die tägliche Unglücks- 
chronik meldet von ihnen — ich selbst habe in der von mir 
nach amtlichen Quellen bearbeiteten Statistik der Schülerselbst- 
morde im preußischen Staate (von 1880—1903) nur allzu reich- 
liche Gelegenheit gehabt, betrübende Beispiele in solcher Weise 
verunglückter und zerstörter jugendlicher Existenzen aus den 
verschiedensten Lebenskreisen in reicher Fülle zu sammeln. 
Nur das also muß festgehalten und nachdrücklich betont 
werden: Nicht um naturgemäße, gesunde und normale Trieb- 
äußerungen handelt es sich in derartigen Fällen, sondern um 
ungesunde,unnatürliche und künstlich verrohte — um die traurigen 
Endprodukte einer namentlich durch die ungeheure Anhäufung 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 291 


von Sinnesreizen in Großstädten erzeugten und unterhaltenen 
geschlechtlichen Überreizung. Mit diesen Endprodukten einer 
künstlich geschaffenen und aus mannigfaltigen Reizquellen ständig 
genährten geschlechtlichen Überreizung haben wir es als Körper- 
und Seelenärzte vielfach zu tun; hier vorbeugend und abhelfend 
einzugreifen ist die damit von selbst sich ergebende, dringlichste 
sexual-diätetische Aufgabe. Natürlich darf diese Aufgabe nicht 
bloß dahin verstanden werden, alles, was verfrühter sinn- 
licher Erregung dienen kann, der heranwachsenden Jugend nach 
Möglichkeit fern zu halten. Damit würden wir wohl nicht allzu- 
weit kommen; vielmehr muß der wichtigere und schwierigere 
Teil unserer Aufgabe darin gipfeln, die Jugend gegen die unter 
den heutigen Lebensverhältnissen in so verstärktem Maße heran- 
drängenden Sinnesreize und die daraus erwachsenden Gefahren 
in höherem Grade zu festigen und wehrhaft zu machen. 

Zu diesem Zweck bedarf es auf allen Stufen des kindlich- 
jugendlichen Alters einer die klar erkannten Anforderungen von 
Hygiene und Sittlichkeit fest im Auge behaltenden, ihrem Ziele 
unverwandt zustrebenden, klugen und energischen Leitung des 
Sexualwillens. Die individuellen Triebe, Teperamentäußerungen 
und Affekte dürfen und sollen weder künstlich ausgeschaltet, 
noch in kurzsichtiger Feindschaft bekämpft oder unberechtigter- 
weise verkürzt werden; aber sie sollen und müssen von Anfang 
an zielbewußt derartig gelenkt werden, daß sie den in höherem 
Interesse zu erhebenden sozialhygienischen und sittlichen 
Anforderungen sich widerspruchlos einzuordnen und ihnen frei- 
willig unterzuordnen vermögen. Das betrifft also einen wesent- 
lichen Teil der gesamten Charakterbildung — und auch auf 
diesem Gebiete fallen, wie wohl überall sonst, die klar erkannten 
pädagogisch-ethischen und hygienisch-ärztlichen Ziele durch- 
weg zusammen — ja sie können dieser Erkenntnis entsprechend 
nur in engstem Zusammenschluß pädagogisch- und hygienisch- 
ärztlicher Bestrebungen überhaupt in befriedigender Weise 
erreicht werden. 

Wenn dabei gerade in sexualdiätetischer Hinsicht auf 
Charakter- und Willensstärkung der Hauptnachdruck gelegt wird, 
so soll damit, ich wiederhole es, nicht im geringsten einer 
asketischen Form der Selbstüberwindung das Wort geredet 
werden, die etwa in letzter Instanz auf eine sittlich unfruchtbare 


und auch physisch unvollziehbare Willensabtötung hinauslaufen 
19* 


292 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


würde — sondern im Gegenteil einer tatkräftigen und tatfreudigen 
Willensbejahung im Sinne eines durch Erziehung und Lebens- 
führung erstarkten und befestigten sittlich-hygienischen Wollens. 
Allerdings müssen zur Erreichung dieses Zieles auch Opfer ver- 
langt und bereitwillig gebracht werden können — Opfer des 
Wohlbehagens, der Bequemlichkeit, Opfer nicht bloß des unzu- 
lässigen, sondern selbst des an sich erlaubten und berechtigten 
individuellen Genusses; und die Willenserziehung gestaltet sich 
gerade durch diese zu vernünftigen Zwecken in Anspruch ge- 
nommenen und willig gebrachten Opfer erst zu einer plan- 
mäßigen, ethisch-hygienischen Willenstrainierung. Diese Genuß- 
opfer, die von der Jugend im wohlverstandenen individual- und 
sozialhygienischen Interesse gefordert werden müssen, liegen 
nun u. a. einerseits auf dem Gebiete der sogenannten Genuß- 
mittel, vor allem des Alkohols — andererseits in der damit so 
eng zusammenhängenden Sphäre verfrühten erotischen Genießens. 
Um die Jugend zum freudigen Darbringen dieser Opfer, zu er- 
höhter Selbstdisziplin und zum Widerstande gegen immer er- 
neute Versuchungen methodisch zu erziehen, muß ihr für das 
Vorenthaltene freilich ein vollwichtiger, von ihr selbst begierig 
und sogar enthusiastisch und leidenschaftlich ergriffener Ersatz 
geboten werden. Denn das schöne, um keinen Preis zu ver- 
kümmernde Anrecht der Jugend ist es, in Enthusiasmus zu 
schwelgen und ein mit Begeisterung erfaßtes Ziel leidenschaftlich 
zu verfolgen — sei dieses Ziel nun ein echtes Ideal, oder nur 
ein verlockendes Idol, und selbst nur ein dürftiger Fetisch. Mit 
mageren Vernunftgründen wird man weder den Lockungen des 
verstohlenen Kneip- und Verbindungstreibens mit ihren Alkohol- 
und Tabakgenüssen, noch dem künstlich aufgestachelten Erotis- 
mus Terrain abgewinnen — sondern nur indem man diesen 
Objekten gierig ersehnter Befriedigung andere, sie ausschließende 
aber nicht minder begehrenswerte, in hygienischer und sitt- 
licher Beziehung einwandfreie Leidenschaftsziele entgegenstellt. 
Solche der heranwachsenden Jugend als erstrebenswert er- 
scheinende Ziele sind, wie unsere Kultur- und Lebensverhält- 
nisse sich heutzutage gestaltet haben, vor allem auf dem 
unermeßlichen Arbeitsfelde wetteifernder Spiel- und Sport- 
ausübung zu suchen und zu finden. In dem Körper und 
Geist stählenden, den Ehrgeiz beflügelnden Spiel- und Sportbe- 
trieb der Jugend haben wir noch jetzt wie zu allen Zeiten die 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 293 


besten und zuverlässigsten Waffen gegen alle verderblichen 
und schädigenden Einflüsse, namentlich gegen Alkohol und ver- 
frühten und krankhaften Erotismus. Schon auf der Schulbank 
lernen wir ja aus dem alten Horaz, daß auch zu dessen Zeit, 
wer es im Sport zu hervorragender Leistung bringen wollte, 
sich nicht nur in jeder Weise körperlich abhärtete, sondern auch 
auf Alkohol und Geschlechtsgenuß verzichtete: » Abstinuit 
venere et vino«. Freilich müßten sich Spiel- und Sportbetrieb, 
um die erwünschte Wirkung in größerem Maßstabe zu erreichen, 
dem Gesamtplan der Jugendbildung harmonisch eingliedern. 
Sie dürfen nicht als bloßer Zeitvertreib betrachtet, nicht ver- 
einzelt und gelegentlich nach individuellem Ermessen geübt, 
sondern müßten als wichtiger, unentbehrlicher Bestandteil des 
Unterrichtes anerkannt und auf allen seinen Stufen methodisch 
gepflegt werden. Ich denke hierbei namentlich und in erster 
Reihe an die Volksschule und wage zu hoffen, daß einsichts- 
volle Kommunen sich durch die Hergabe von größeren Spiel- 
plätzen, von Lehrkräften und Materialien mehr und mehr in 
dieser Richtung verdient machen und den Vorbildern nach- 
eifern werden, mit denen einzelne Großstädte, wie z. B. 
Hamburg, Berlin und Düsseldorf schon jetzt in erfreulicher 
Weise vorangehen. Auch der, Gott sei Dank, immer noch 
nicht ganz erloschene, echt deutsche Wandertrieb*) unserer 
Jugend ließe sich wohl in noch ausgiebigerer Weise als bisher 
nutzbar machen; die zugleich den Sinn für Naturgenuß, für 
Natur- und Heimatskunde so mächtig anregenden Ausflüge, 
Ferienheime und Ferienreisen zumal bedürfen zu diesem Zweck 
nur einer den heutigen gesteigerten Verkehrsmitteln entsprechen- 
den weiteren Ausgestaltung und Förderung. Ein viel größeres 
und höheres, vorläufig freilich noch in unerreichbarer Ferne 
winkendes Ziel bestände darin, mit der Zeit und allmählich 
unsere bisher fast ganz einseitigen Unterrichtsschulen zu wirk- 
lichen Erziehungsschulen umzuwandeln — wozu von den neuer- 
dings hier und da angeregten oder ins Leben gerufenen »freien 
Schulgemeinden« mit ihren entsprechend gemischten Lehrplänen 
die allerersten schüchternen Vorversuche gewagt werden! — 


*) Trotz aller Angriffe, die gerade die Wandervogelbewegung in 
ihrer Bedeutung als erotisches Phänomen in letzter Zeit erfahren hat, 
halten wir sie nach wie vor für eines der wertvollsten Erziehungsmittel 
unserer Jugend. Anm. d. Red. 


294 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Aber nicht bloß für die schulbesuchende, sondern auch für die 
schulentlassene Jugend unserer Volksschulen bleibt in dieser 
Richtung noch viel zu tun übrig, und es wird geboten sein, 
alle die hier zwar bereits in ansehnlicher Zahl, aber vereinzelt 
und getrennt zutage tretenden Bestrebungen — ich erinnere 
nur an die Einrichtungen der Jünglingsvereine, des Jugend- 
schutzes usw. — in ihrem verdienstlichen, sozialen Wirken 
nicht bloß zu unterstützen, sondern auch auf ihre Vereinigung 
und zu gesteigerter Leistungsfähigkeit erforderliche Fortent- 
wicklung mit Nachdruck hinzuarbeiten. 

Der weitaus größere und schwierigere Teil der Aufgaben 
auf dem uns hier beschäftigenden Gebiet muß der häuslichen 
Erziehung anheimfallen, und dieser bietet sich hier ein fast 
unabsehbares Arbeitsfeld — denn mehr oder weniger gehört 
fast alles hierher, was einer rationellen Hygiene der Wohn- 
räume, der Ernährung, der Kleidung, der Hautpflege, der Ruhe 
und Bewegung, des Schlafes und der Arbeit in Anpassung an 
das Wohl der heranwachsenden Jugend zu dienen bestimmt 
ist. Ich kann auf die Fülle der sich hier eröffnenden Aus- 
blicke unmöglich eingehen; nur einzelnes, das besonders 
wichtig erscheint, möchte ich wenigstens kurz andeuten. Da- 
hin gehört in erster Reihe das Kapitel der Ernährung, also 
gerade die »Diätetik« im engeren Wortsinne — wobei leider 
meist noch recht fahrlässig und gedankenlos verfahren und 
vielfach in geradezu sträflicher Weise gesündigt wird. Über 
die Verwerflichkeit der sogenannten Genußmittel — nicht bloß 
des Alkohols in jeder, auch der scheinbar erträglichsten Form, 
sondern fast ebenso sehr der koffeinhaltigen Getränke (Kaffee 
und Tee) und des Tabaks für das kindlich jugendliche Alter 
sollte nachgerade, nach allem was schon darüber von ärztlich- 
hygienischer Seite geredet und geschrieben worden ist, jeder 
vollständig im klaren sein; leider fehlt aber, wie die tägliche 
Erfahrung lehrt, auch hier noch sehr viel an ausreichender 
»Aufklärung« des Publikums, und es muß unverdrossen noch 
weiter aufgeklärt und gewarnt werden. 

Das gleiche wie für diese „Genußgifte“ gilt aber auch für 
die Verwendung der sogenannten Würzstoffe und schließlich 
für die heutigentags vielfach übertriebene Fleischdiät überhaupt; 
es ist daher einer gewissen Einschränkung der allzu eiweiß- 
reichen und üppigen Kost und speziell der überwiegenden 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 295 


Fleischnahrung zugunsten einer mehr vegetabilischen Ernährungs- 
weise im allgemein-hygienischen und namentlich gerade im 
sexualhygienischen Interesse besonders bei den besser situierten 
Klassen das Wort zu reden. — In der Kleidung ist jeder be- 
engende und schädigende Zwang, jede Verwendung hautreibender 
und reizender Stoffe nach Möglichkeit zu vermeiden. Das gilt 
auch von der Nachtkleidung und von den Bettstücken, die ja 
im Grunde nur eine erweiterte Nachtkleidung darstellen; Lassar 
hat mit Recht die Forderung aufgestellt, daß der Körper während 
der Nacht ganz und gar nur mit Leinen in Berührung kommen 
dürfte. Der Schlaf muß ausreichend, dem wirklichen Bedürfnisse 
entsprechend, aber nicht übertrieben lang sein, je nach Alters- 
stufe und Individualität, also 10 bis 9, mindestens bis 8 Stunden; 
von besonderer Wichtigkeit ist die Gewöhnung an regelmäßige 
Einhaltung der Schlafzeit, an sofortiges Einschlafen, sowie an 
regelmäßiges Erwachen und sofortiges Erheben. Sorgfältige 
Hautpflege durch Luft- und Wasserbäder und häufige Wasch- 
ungen, rationell von früh auf betriebene und zur Gewohnheit 
gewordene Körperpflege überhaupt sind natürlich unerläßlich. 
Die gar nicht hoch genug zu veranschlagende sittlich-hygienische 
Bedeutung der Wohnungsfrage, namentlich in den wirtschaftlich 
schwächeren Bevölkerungsklassen, ist in unserer Gesellschaft 
gerade mit Rücksicht auf die heranwachsende Generation so 
häufig und in so beredter Weise geschildert worden, daß ich 
es mir wohl ersparen darf, oft Gesagtes an dieser Stelle noch- 
mals zu wiederholen. — Aber der Kreis der dem Hause ob- 
liegenden prophylaktischen Pflichten und Aufgaben ist damit 
noch nicht geschlossen; er umfaßt, um nur zwei wichtige 
Einzelpunkte hervorzuheben, insbesondere auch die Behütung 
vor gefährlicher Lektüre, sowie vor den Gefahren und Ver- 
lockungen öffentlich in den verschiedensten Formen zur Schau 
stehender Unsittlichkeit, zumal im großstädtischen Verkehrs- 
- leben. Der Lektüre ist, in positivem wie in negativem Sinn, 
die ernsteste Beachtung zu schenken; gerade damit können 
wir auf die Entwicklung eines sittlich gefesteten Sexualwillens 
und auf die Verhütung krankhafter Abirrungen am nachhaltigsten 
hinwirken. Bei Beurteilung der zu wählenden oder zu bevor- 
zugenden Jugendlektüre werden wir im allgemeinen davon 
ausgehen dürfen, daß sie imstande sein müsse, neue und im 
besten Sinne bildende, ethisch und ästhetisch wertvolle Vor- 


296 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


stellungselemente in den Kreis der schon vorhandenen ein- 
zufügen — daß sie somit den Charakter der heranreifenden 
Persönlichkeit zu entwickeln und zu vervollkommnen beitrage — 
jedenfalls aber in dieser Hinsicht Gefährdendes und unmittelbar 
Schädigendes nach Möglichkeit ausschließe. Innerhalb der so 
grundsätzlich festzulegenden Grenzen wird sie immerhin der 
Eigenart des Kindes, seinen besonderen Liebhabereien, Neig- 
ungen, Fähigkeiten, Instinkten in weitestem Umfange gerecht 
werden dürfen. Diese Anforderungen müssen für die Lektüre 
bei beiden Geschlechtern in gleicher Weise maßgebend sein; 
während bei der Knabenlektüre vielfach durch zu weitherzige, 
leicht zur Zügellosigkeit ausartende Liberalität gefehlt wird, so 
bei der Mädchenlektüre umgekehrt durch zu strenge Gebunden- 
heit, durch die geflissentlich festgehaltene Enge des Gesichts- 
kreises, durch die oft verweichlichende und verdummende, ein 
völlig verzerrtes Bild der Wirklichkeit gebende Schilderung, 
wie sie gerade die speziell für die „weibliche Jugend“ ge- 
schriebenen Sachen und Sächelchen meist mit Vorliebe bieten. 

Auch die Bekämpfung der aus den zahlreichen Schau- 
stellungen öffentlicher Unsittlichkeit sich ergebenden Schwierig- 
keiten ist für alle bei der Jugenderziehung beteiligten Faktoren, 
namentlich unter Großstadtverhältnissen, eine nicht leicht zu 
nehmende Sache. Ich will in der Ausmalung der heutigen 
Großstadtgefahren nicht so viel Schwarz verbrauchen, wie vor 
längerer Zeit ein von den Witzblättern vielfach mitgenommener 
Redner des preußischen Abgeordnetenhauses, in dessen speziell 
dem „Berliner Nachtleben“ geltenden Ausführungen aber doch 
ein nur allzu berechtigter Kern keineswegs zu verkennen war. 
In seiner diesen Ausführungen gewidmeten Replik hat der 
damalige preußische Minister und jetzige Reichskanzler Herr 
von Bethmann Hollweg u. a. in dankenswerter Weise auf 
die Möglichkeit gesetzgeberischer Maßregeln hingewiesen nach 
dem Muster der in Dänemark (besonders durch das Gesetz 
vom 30. März 1906) geschaffenen, die sich dort auch gerade 
im Interesse des Jugendschutzes als recht wirksam bewährt 
zu haben scheinen. Das Beste und Wichtigste wird aber wohl 
auch in dieser Beziehung vorbeugend im engeren Kreise des 
Hauses, der Familie, geleistet werden müssen. Dabei werden 
die entgegenstehenden Schwierigkeiten natürlich je nach Anlage 
und Temperament der Kinder außerordentlich verschieden, bei 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 297 


bestehender krankhafter Disposition und Belastung fast unüber- 
windbar sein können. Sie erfahren u. a. eine besondere 
Steigerung, wo es sich um das isolierte Aufwachsen einzelner 
Kinder im Hause handelt, weil bei solchen Kindern, denen der 
nivellierende Einfluß eines Geschwisterkreises fehlt, Charakter- 
schäden und antisoziale Eigenschaften überhaupt leichter Wurzel 
fassen und die in früher Jugend aufgenommenen Eindrücke 
daher weit stärkere Bedeutung gewinnen, auch in sexueller 
Hinsicht mehr bestimmend wirken. Einen ähnlichen relativen 
Schutz, wie ihn somit das Aufwachsen und Erzogenwerden 
innerhalb eines Geschwisterkreises bietet, scheint auch die 
neuerdings so viel erörterte Ko@dukation, d.h die gemeinsame 
schulmäßige Unterweisung und Ausbildung der beiden Ge- 
schlechter, in gewissem Grade zu gewährleisten. Es sind mit 
deren allgemeiner Durchführung bekanntlich seit mehr als 
30 Jahren in den nordamerikanischen Unionstaaten im ganzen 
recht günstige, wenn auch neuerdings nicht unbestrittene Er- 
gebnisse erzielt worden, und nachahmende und nachprüfende 
Versuche haben in England, in den skandinavischen Ländern, 
in Holland, in der Schweiz zur Zufriedenheit stattgefunden. 
Bescheidene Anfänge, wenigstens auf der untersten Stufe, liegen 
ja auch in einem Teile unseres Schulwesens bereits vor. Es 
scheint denn doch nach allen, selbst von den Gegnern der 
„Koödukation“ nicht geleugneten Erfahrungen, daß dieses 
System gemeinsamer Erziehung so wie nichts anderes imstande 
ist, die gleichalterigen Angehörigen beider Geschlechter an- 
einander, an gegenseitige Achtung und Duldung, an ein so 
wünschenswertes freundschaftlich-kameradschaftliches Verhält- 
nis im besten Sinne zu gewöhnen, und eben dadurch erotischen 
Reizungen und Verirrungen kräftig entgegenzuwirken. Daß 
andererseits aus psychologischen und pädagogischen Gründen 
eine allgemeine Durchführung des Prinzips der Koödukation 
bei uns zunächst auf manche Schwierigkeiten und Bedenken 
stoßen würde, soll natürlich in keiner Weise verkannt werden. 

Bei einer Erörterung der sexuellen. Diätetik können wir 
unmöglich an der Onaniefrage, diesem alten Kreuz der Eltern, 
Erzieher und Ärzte vorbeigehen — ebensowenig aber auch 
diese Frage ihrem ganzen Umfange nach aufrollen. Uns 
interessiert hier vorzugsweise die praktische Seite der Ver- 
hütung dieser durch den Ausdruck genügend gekennzeichneten 


298 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


»Jugendsünden« und ihrer mit Recht oder Unrecht befürchteten 
körperlich und seelisch schädigenden Folgen. Den Begriff der 
Onanie und die verschiedenen Arten und Formen ihrer Aus- 
übung, sowie ihre Erkennung muß ich als bekannt voraus- 
setzen, so wenig sie es im Grunde auch wirklich sind; denn 
man trifft in dieser Beziehung oft eine ganz unvermutete und 
überraschende Unkenntnis, keineswegs ‚bloß in Laienkreisen, 
sondern nicht selten (speziell was die Onanie beim weiblichen 
Geschlecht anbetrifft) selbst unter Ärzten. Wieviele Kinder 
unter den heutigentags gegebenen Verhältnissen ganz von 
onanistischen Versuchungen und Antrieben verschont bleiben, 
entzieht sich unserer Feststellung; ein sehr großer Prozentsatz 
dürfte es aber leider wohl schwerlich sein. Im allgemeinen 
muß man unbedingt mit der Tatsache rechnen, daß die weit- 
aus liberwiegende Mehrzahl der Kinder mindestens eine Zeit 
lang dieser Versuchung anheimfällt; und zwar entwickelt sich 
der Hang dazu in verschiedenen Altersstufen, zum Teil schon 
außerordentlich früh und anscheinend ganz spontan, zum Teil 
erst in den Jahren der Pubertätsgrenze oder noch später unter 
dem Einflusse fremder Anleitungen und Beispiele, also auf dem 
Wege psychischer Infektion, direkter Verführung und Nach- 
ahmung. Eine solche muß natürlich ganz besonders in größeren 
gemeinsamen Unterrichts- und Erziehungsanstalten, in Schulen 
und Pensionaten wirksam werden, die sich daher in dieser 
Beziehung — ich erinnere nur an die Kadettenanstalten und 
Konvikte — als Brutstätten mutueller Onanie von jeher eines 
besonders ungünstigen Rufes erfreuen. Gewiß in diesem Sinne 
nicht mit Unrecht, nur darf eben nicht übersehen werden, daß, 
wenn diese Anstalten auch naturgemäß einen hervorragend 
günstigen Nährboden für Züchtung der Onanie abgeben, sie 
diese doch nicht autochthon bei sich erzeugen, vielmehr immer 
nur den schon irgendwoher von außen eingeschleppten Keim 
durch Übertragung verbreiten. Also das Haus bleibt immerhin 
doch die erste und ursprüngliche Pflanzstätte der Onanie, und 
hier müssen die auf ihre Verhütung abzielenden Bestrebungeu 
sich in erster Linie von Anfang an konzentrieren. Es soll 
damit nicht gesagt sein, daß nicht auch die Schule zur Ver- 
hütung des Eindringens und der Weiterverbreitung dieses 
Pestkeimes manches tun könne. Was in dieser Beziehung 
von der Schule gefordert werden kann, hat bekanntlich schon 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 299 


vor einer Reihe von Jahren der verstorbene Breslauer Augen- 
arzt und Schulhygieniker Hermann Cohn*) in seiner verdienst- 
vollen Monographie dieses Gegenstandes zusammengefaßt, und 
er ist in seinen als »Thesen« formulierten Wünschen und An- 
forderungen sogar ziemlich weit gegangen, weiter als man 
ihm vielleicht durchweg zu folgen vermag (wenn er z. B. die 
Schüler unter dem ausdrücklichen Versprechen der Straflosig- 
keit zur Anzeige mutueller Onanie angeregt wissen will). 
Immerhin ist das, was seitens der Schule auf diesem Gebiete 
füglich erwartet und geleistet werden kann, nur ein verhältnis- 
mäßig kleiner Bruchteil der dem Hause und der Familie zu- 
fallenden pädagogisch-hygienischen Aufgabe. Die Arbeit an 
dieser Aufgabe ist freilich unendlich mühsam, stellt aber auch 
lohnenden Ertrag in Aussicht. So schwer es bekanntlich ist 
und so selten es gelingt, die schon zur eingewurzelten Gewohn- 
heit gewordene Onanie ärztlich zu »heilen«, so viel läßt sich 
doch in vorbeugender Hinsicht durch ernste, zielbewußte Sorg- 
falt und durch unermüdliches Wachrufen der Einsicht und des 
festen sittlichen Wollens neben entsprechenden hygienischen 
Maßregeln in immerhin zahlreichen Fällen erreichen. Von 
noch größerer Bedeutung erscheint mir aber ein anderes, immer 
noch viel zu wenig gewürdigtes Moment — die Notwendigkeit 
nämlich, bei Bekämpfung der Onanie von einer richtigen Er- 
kennung und Abschätzung ihrer wirklichen Gefahren auszugehen, 
nicht aber diese sich und anderen (in welcher Absicht oder wie 
absichtslos es immer sei) chimärisch zu übertreiben! Man muß 
leider bekennen, daß durch eine ganz unvernünftige, phantastische 
Darstellung der vermeintlichen Onaniefolgen in Wort und Schrift 
mindestens eben so viel, wenn nicht mehr Unheil angerichtet 
wird als durch die Onanie selbst. Der Nervenarzt hat wohl 
mehr als andere Gelegenheit, sich davon zu überzeugen. Es 
vergeht kaum ein Tag, an dem nicht jüngere oder ältere Leute 
zu mir kommen, halb wahnsinnig vor Angst, durch mehr oder 
weniger weit zurückliegende „Jugendsünden“ ihr ganzes Leben 
zerstört ‘und zerrüttet zu haben und unheilbarem Siechtum, 
schwerster Rückenmarks- und Gehirnkrankheit schon verfallen 
zu sein oder künftighin zu verfallen. Derartige Phantasmen 


*) Hermann Cohn: Was kann die Schule gegen die Masturbation 
der Schulkinder tun? Berlin 1894. 


200 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


herrschten bekanntlich vor 60—70 Jahren noch in der ärztlichen 
Welt, wie u. a. Lallemands seinerzeit berühmtes und vielüber- 
setztes Buch „des pertes séminales involontaires“ genügend 
beweist; die wissenschaftliche Diagnostik war damals noch nicht 
weit genug fortgeschritten, um rein funktionelle Störungen der 
Nerventätigkeit von schweren degenerativ-organischen Formen 
der Gehirn- und Rückenmarkserkrankung, so wie wir es jetzt 
tun, mit Sicherheit zu unterscheiden. Aber diese alten und ver- 
alteten Vorstellungen spuken mit der Zählebigkeit, die so vielen 
wissenschaftlichen und unwissenschaftlichen Irrtümern eigen zu 
sein pflegt, in weiten Kreisen noch fort — und sie werden, was 
sie besonders gefährlich macht, fortwährend auf das Schamloseste 
und Raffinierteste industriell ausgebeutet, mit den Mitteln einer 
pseudopopularisierenden Schundliteratur, die kaum auf einem 
zweiten Gebiete so üppig und so verderblich emporwuchert. 
Das wenig verhüllte Ziel dieser Bestrebungen ist, die armen 
Opfer früherer „Jugendsünden“ durch die fürchterlichste, grellste 
Ausmalung der davon für Körper und Seele zu gewärtigenden 
Folgen erst in tiefste Verzweiflung zu stürzen, um sie dann für 
eine, meist ganz absurde und zwecklose, stets aber mit be- 
deutendem Aufwande von Geld und Zeit verbundene Scheinkur 
unter den unsinnigsten Vorspiegelungen widerstandslos einzu- 
fangen. Es genügt, als allbekannte literarische Musterbeispiele 
die Namen Laurentius, Bernhardi, Retau und Damm hier fest- 
zunageln. Demgegenüber erscheint vor allem eine unbefangene 
Feststellung und Würdigung des wirklichen Sachverhaltes un- 
umgänglich geboten. Und da muß man doch sagen, daß etwas 
robuster angelegte Naturen die Nachwirkungen selbst lange 
betriebener „Jugendsünden“ oft anscheinend fast spurlos über- 
stehen — während in anderen Fällen allerdings nervöse und 
„neurasthenische* Folgezustände von sehr verschiedener Art 
und Schwere sich ausbilden, oder, wohl richtiger, bei schon 
vorhandener Anlage durch den gewohnheitsmäßigen Onanie- 
betrieb und die daran geknüpften Befürchtungen erst evident 
werden. Was die Onanie im Gegensatz zur „normalen“ Ge- 
schlechtsbefriedigung in der Tat so bedenklich erscheinen läßt, 
ist ja wesentlich zweierlei; einmal der verfrühte Beginn und die 
oft unmäßige Ausführung, infolge der fast schrankenlos sich 
darbietenden Gelegenheit und entsprechend vermehrten An- 
reizung zu Exzessen — sodann die, besonders mit gewissen 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 301 


Betriebsformen der Auto-Onanie verbundene maßlose Erregung 
der Phantasie, deren einseitiges Arbeiten und Hineindrängen in 
erotische Bahnen, wodurch anderen Dingen, ernsthafteren Be- 
schäftigungszielen vielfach der Boden entzogen wird. Ich möchte 
dabei an den sehr charakteristischen, bei den Aufführungen 
wegbleibenden Monolog des Hänschen Rielow in „Frühlings 
Erwachen“ erinnern. Dazu gesellen sich dann weiter die 
seelischen Verwüstungen, die — meist unter dem Einflusse der 
eben geschilderten Literatur — durch quälende Selbstvorwürfe, 
Reue und Gewissensnot herbeigeführt werden und sich bei 
minder widerstandsfähigen Naturen bis zu hilfloser Angst, zu 
schwer melancholischer Gemütsdepression steigern. Ein Unter- 
schied im Verhalten der Geschlechter tritt dabei auffällig zutage. 
Wenn Mädchen, die aller Wahrscheinlichkeit nach ebensoviel 
und in mindestens eben so schlimmer Weise „sündigen“ wie 
Knaben, dennoch unter den Folgen der Onanie anscheinend so 
viel weniger zu leiden haben, so mag das wohl zum nicht ganz 
geringen Teile darauf beruhen, daß man davon weniger Auf- 
hebens macht, daß sie speziell Bücher der vorbeschriebenen 
Art nicht so leicht in die Hände bekommen, die übrigens auch 
kaum zu ihrer Benutzung, sondern für das männliche Geschlecht 
fast ausschließlich geschrieben werden, und daß sie daher vor 
den hieraus erwachsenden seelischen Erschütterungen in der 
Regel bewahrt bleiben. Freilich gibt es auch darin Ausnahmen; 
und daß bei Mädchen anderweitige, oft recht unerquickliche 
Folgeerscheinungen auftreten, daß zumal während der Pubertät 
das Seelenleben in recht bedenkliche, abschüssige Bahnen 
gerissen werden kann, ist unbestreitbar und auch von mir bei 
anderen Anlässen nachdrücklich hervorgehoben worden. 
Bezüglich der männlichen Jugend dürfen und können wir 
trotz noch so hoher Bewertung der nachteiligen Folgen onanisti- 
scher Betätigung des Sexualtriebes füglich nicht außer acht 
lassen, daß alle diese Dinge denn doch immer noch verhältnis- 
mäßig leicht wiegen gegenüber den ungeheuren Gefahren der 
Prostitution und der auf diesem Wege vorzugsweise vermittelten 
Übertragung von Geschlechtskrankheiten, deren zunehmende 
Häufigkeit ja uns hier als nationale und soziale Kalamität in 
erster Reihe beschäftigt. Gedenken wir der hieraus für Individuen, 
Staat und Gesellschaft erwachsenden furchtbaren Übel, so möchten 
wir fast in Versuchung kommen, im Vergleiche damit die Onanie 


302 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


als ein unter den Bedingungen des heutigen Kulturlebens un- 
vermeidbares, notwendiges Übel, als ein freilich unerwünschtes 
Schutzmittel und natürliches Ventil des in allzu starker Spannung 
niedergehaltenen Triebes zu betrachten. Eine solche, schon 
hier und da laut gewordene und wohl öfter noch stillschweigend 
geteilte Auffassung kann freilich aus den dargelegten Gründen 
nicht unsere Billigung finden; wir sind hier einstweilen noch 
in der mißlichen Lage, den Kampf nach beiden Fronten hin 
aufnehmen und durchführen zu müssen. 

Zum Abschluß dieser notgedrungen in so viel Kleines und 
Unerfreuliches, in die trüben Nachtseiten des Lebens aus- 
laufenden Betrachtungen sei es mir vergönnt, auf einen freieren 
und höheren, die Dinge etwas mehr sub specie aeterni er- 
fassenden Standpunkt wenigstens hinzudeuten. 

Durch das geistige Leben der Gegenwart geht — wie wir 
das alle wohl schon oft und schmerzlich empfunden haben — 
ein weitklaffender Riß, ein unlösbar scheinender Widerspruch, 
unter dessen Schärfe und Härte vor allem die heranwachsende 
Jugend. in ihren inneren und äußeren Entwicklungskämpfen 
schwer zu leiden hat. Auf der einen Seite die alte, noch lange 
nicht überwundene religiöse und poetisch-phantastische Welt- 
anschauung mit ihren allmählich erbleichenden Kulturidealen, 
womit die Jugend herkömmlich in einseitiger Weise aufgezogen 
und geistig genährt wird. Auf der anderen Seite die in diesen 
abgesperrten Erziehungsraum doch gleich der Luft unaufhaltsam 
von allen Seiten zuströmende wissenschaftliche Erfassung der 
Wirklichkeit, und die dem Wesen des modernen Geistes ent- 
sprechende schrankenlose Entfesselung der Individualität, mit 
ihren sich immer weiter ausbreitenden Folgewirkungen im staat- 
lichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben, in Wissen 
und Kunst, in Philosophie und Moral. Diese dem Anschein 
nach unausgleichbaren Gegensätze hat wohl keiner tiefer erfaßt 
und berufener geschildert als der Heidelberger Theologe Ernst 
Troeltsch („Das Wesen des modernen Geistes“. Preußische 
Jahrbücher, Band 81, Heft 1, April 1907). Aber dieser Wider- 
spruch, mit dem wir Erwachsenen uns abfinden, in dem wir 
uns irgendwie unsern Weg suchend zurechtfinden müssen — 
dieser Widerspruch geht, wie Paulsen mit Recht sagt „vor 
allem verwüstend durch das Herz unserer Jugend; er läßt sie 
nicht zu festen Überzeugungen kommen, so daß die meisten 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 303 


lange Zeit und viele ihr Leben lang an den Klippen nichtiger 
Negationen hängen bleiben“. — Und in diesem trostlos öden, 
hoffnungsleeren Zustande des versunkenen Glaubens und des 
immer vergeblichen Ringens nach einem ausfüllenden und be- 
friedigenden Ersatz gehen so viele Jugendseelen verloren, die 
den Sirenenlockungen der Sinnlichkeit, den Verführungskünsten 
eines mit frivolen Nichtigkeiten oder mit gefährlichen Lüsten 
aufgeputzten selbstzerstörerischen Genußlebens zum Opfer fallen. 
Hier vor allem werden noch auf lange hinaus die Hebel anzu- 
setzen sein; hier werden die um Volks- und Jugendgesundung 
ernstlich bekümmerten Mächte vereint Hand anlegen müssen, 
um im Wirbel dieser sich wild durchkreuzenden und befehlenden 
Kulturströmungen das noch Rettbare und Erhaltungsfähige 
wenigstens zu retten und zu erhalten. Hier gilt es, soweit 
unsere Epigonenkraft das vermag, diesen Widerspruch für die 
Bedürfnisse der Jugenderziehung aufzuheben und in einer höheren 
Einheit zusammenzufassen — jenes unverwelkbare klassische 
Bildungsideal der Harmonie von Geist und Körper, von Pflicht 
und frohem Genießen, von „Sinnenglück und Seelenfrieden“ in 
einer der heutigen Welt erfaßbaren Gestalt neu herauf zu be- 
schwören, oder doch als erreichbares schönes Zukunftsziel 
nachwachsenden Generationen fern aufleuchten zu lassen. 


PRÜDERIE. 


Wi die Unbefangenheit geschwunden, wer Natürliches nicht natürlich 

anschauen oder besprechen kann, der ist unfähig, in Dingen des 
Geschlechtslebens zu urteilen. Nur die Prüderie ist es, die es seiner 
Reinheit beraubt und ihm erst den pikanten Anschein gibt, den es — mit 
dem Ernste betrachtet, den wir jeder großen Gabe der Natur schulden — 
gar nicht hat, und den es sofort verliert, sobald man den wahren Charakter 
jener Verhüllung erkannt hat. — Pflicht jedes sittlich rein denkenden 
Menschen ist es daher, der Prüderie, dieser Säugamme der Unsittlichkeit 
und all ihrer verheerenden Folgen, aufs schärfste entgegenzutreten und 
ihr die wahre Reinheit gegenüberzustellen, deren häßliches Zerrbild sie ist. 

BRUNO BEHEIM-SCHWARZBACH. 


(Aus „Liebe und was drum und dran ist.*“) 


© B 


204 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


DER URSPRUNG DER PORNOGRAPHIE. 
Von Dr. PAUL ZIMMERMANN. 


ürde man irgend einen namhaften Kunstkritiker darnach 

fragen, wo die Grenze zwischen ernster Kunst und por- 
nographischen Darstellungen verläuft, so bekäme man zweifels- 
ohne je nach der Parteizugehörigkeit des Betreffenden eine 
grundverschiedene Antwort, die imstande wäre, das Problem 
statt zu lösen nur noch weiter zu verwirren. Der bekannte 
Berliner Zensor Dr. Brunner, dessen politische Gesinnung aller- 
dings auch für seine Kunstauffassung maßgebend ist, hat sich 
einmal bemüht, den Begriff der pornographischen und Schund- 
literatur scharf zu umgrenzen. Aber es ist ihm ebensowenig 
gelungen, wie etwa den Verteidigern des Hyan’schen Romans 
»Die Verführten« oder allen denen, die gegen die jüngste Be- 
schlagnahme zweier Bilder von Otto Greiner und W. Müller- 
Schönefeld so lebhaften Protest erhoben haben. Die einen er- 
blicken selbst in der realistischen Darstellung des Nackten, in 
der öffentlichen Behandlung geschlechtlicher Probleme kein 
anstößiges Moment — das sind die Klügeren, die erkannt 
haben, daß ein Kunstwerk bei genauer Betrachtung un- 
möglich von Geschlechtlichem völlig losgelöst werden kann. 
Aber anderseits gibt es auch in jenen Kreisen, die gleich den 
biederen Züricher Stadtvätern schon ein unbekleidetes Bübchen 
für öffentliches Ärgernis gebend erachten, Kunstkritiker von 
Rang, die in der Darstellung des Nackten ein Kunst und 
öffentliche Kunstauffassung gefährdendes Moment erblicken 
können. So schrieb kürzlich Carl Neumann, der berühmte 
Heidelberger Kunsthistoriker, im Kunstwart: »Unsere Plastik 
ist Darstellung des Nackten, so wollen es die Gesetze der 
Antike, die die Akademie und eine überlebte Ästhetik galvani- 
siert hat. »Das Nackte, Hauptaufgabe der Kunst!« Haben 
wir nicht diese Trivialität vor der Reichstagstribüne aus verkünden 
hören? Unsere nackte Plastik ist aber Arbeit nach abgerichteten 
Modellen, denn ein natürlich Nacktes bietet das moderne Leben 
nicht. Dieses moderne Leben zeigt nur die bekleidete Figur, 
das Nackte ist Schulaufgabe, Drill, Mittel und nicht Selbstzweck. 
Die Monumental-Aufgaben sind das Unglück unserer Plastik, 
sie verderben ihr Gesundwerden und ihre Zukunft. Wohin wir 
auf unsere Straßen und Plätze sehen, was da auf hohen Sockeln 


"ELZ IPS SAPA Sp Uaiponun a" rain шәр пу 
"цәцәийпуү ш ңәцуоўаАугу ләр ш уәцәч Uagngzeiatu gn) LUNA NITIA NON" 








ALTES HOLLÄNDISCHES KANONENROHR BEI BATAVIA, das 'den ‚Weibern 
Kindersegen bringt. (Nach Ploss-Bartels, Das Weib). 





VOTIVKRÖTE AUS WACHS 
(Salzburg). 


Zu dem Aufsatz ‚Die Unfrucht- 
barkeit des Weibes‘‘ Seite 273. 





MENSCHLICHE HOLZFIGUREN, von un- 
fruchtbaren Weibern auf dem Rücken getragen 
(Sumatra). 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 305 


sich streckt, es ist geliehene Kunst, Kunst einer fremden Formen- 
sprache, die aus den ernsten Menschen die elendsten Probleme 
macht. Man mag sich fragen, ob das nicht anfängt gemein- 
gefährlich zu werden, diese Fälschung und Verbildung des 
natürlichen Urteils, der gesunden Anschauung. Bestenfalls wird 
man gleichgültig und verlernt es, sich aufzuregen, ob nun die 
gesammelten Millionen für brüllende Löwen und halbnackte 
Allegorien oder für mäßige Architekturen, an die sich die Plastik 
nur eben annistet, verschwendet werden. Die Künstler, die 
heute nur die Nacktsprache reden, und die Laien, die vielleicht 
zum Teil aus hygienisch-reformerischen Rücksichten eine Nackt- 
kultur fordern, fordern, weil sie eben nicht da ist und in der 
modernen Welt außer in Bereichen, die mit Kunst schlechter- 
dings nichts zu tun haben, nicht da sein kann, halten die Kunst 
auf ausgefahrenen Geleisen fest, die von dem modernen Leben 
weit weg führen«. Man sieht, selbst von der hohen Warte der 
Universitätskanzel herab vermag ein staatlich angestellter Pro- 
fessor der Kunstgeschichte viel Unsinn zu reden und eine be- 
trübliche Mißachtung moderner Kunstbestrebungen aufzudecken. 
Es ist selbstverständlich, daß eine Bewegung, die so viel 
Liberales und Demokratisches an sich hat wie die nach neuen 
Kunstidealen, in ultramontanen und konservativen Kreisen schon 
aus politischen Gründen keinen Anklang finden wird. Es ist 
genug, daß der liebenswürdige Herr Professor nicht noch von 
der Verjudung der modernen Kunst gesprochen hat und die 
Nacktkultur den Nachkommen Sem’s wie manches andere in 
die Schuhe geschoben hat. Wenn irgend eine Kunstrichtung 
oder eine Partei in künstlerischen Dingen mit Erfolg totgeschlagen 
werden soll, dann ist es am leichtesten, wenn irgend ein Kunst- 
historiker oder Universitätsprofessor die semitische Wurzel 
darinnen nachweist. Man braucht aber weder Sozialdemokrat 
noch Antisemit zu sein, um Dinge der Kunst mit objektiven 
Augen zu betrachten und nach wie vor die Darstellung des 
Nackten als ein wichtiges kunstästethisches Mittel zu betrachten. 
Das geistige Eunuchentum, das bereits vor Zelluloidpuppen die 
Augen verschließt, weil die Farbe an die nackte Menschenhaut 
erinnert, und an den Kniehosen der bayerischen Gebirgsvereinler 
Anstoß nimmt, weil ein Stück des nackten Fußes sichtbar wird, 
hat letzten Endes vollständig recht, wenn es Giorgiones schla- 
fende Venus oder Tizians Danaë als ein Werk der unzüchtigen 
Geschlecht und Gesellschaft VII, 7. 20 


306 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Kunst brandmarkt. Ist Erotik gleichbedeutend mit Pornographie, 
dann waren die alten Meister, die leidenschaftdurchschütterten 
Renaissancebildner, vollendete Pornographen. Wer demnach 
künftig eine Venus darstellen will, die dem Schönheitskanon der 
Dunkelmänner entsprechen soll, darf nicht vergessen, ihr ein 
paar dicke, lederne Hosen anzuziehen. 

Wollte man sich selbst ein Urteil darüber fällen, was künst- 
lerisch und was pornographisch ist, so genügt es nicht, nach 
den Motiven zu sehen, aus denen eine bildliche Darstellung 
oder ein geschriebenes Wort geflossen sind, sondern maßgebend 
allein sind die Mittel, mit denen der Effekt erzielt wird und die 
vornehme, menschlich hochbedeutsame Idee, die sich verbild- 
licht findet. Denn die Motive der ernstesten Kunst und der 
Pornographie sind im Grunde genommen dieselben. Jede 
plastische Darstellung, das Drama und die feinsinnige epische 
Dichtung hängen mit dem Erotischen im Künstler auf das 
innigste zusammen. Kunst ist immer ein Akt von Selbstdar- 
stellung und dieser liegt eine erotische Empfindung zu Grunde. 
Über den engen Zusammenhang zwischen schöpferischer Kraft 
und erotischem Erleben orientieren uns die Art und Weise, wie 
eine künstlerische Inspiration zu Stande kommt, sowie die 
Form des Erlebnisses, das ein wuchtiges Kunstwerk im Be- 
schauer zu hinterlassen vermag. Kunst ist ideale Exhibition, 
die Künstler sind Autoerotiker und die kritischen Laien Feti- 
schisten. Das ist in dürren, widerspruchsvollen Worten die 
Lösung des ganzen, eminenten Problems, das seit Jahrtausenden 
zur Diskussion steht. Die Antike und die Renaissance haben 
diesen Grundsatz unverhüllt vertreten und den erotischen Ursprung 
ihrer Kunst absolut nicht zu bemänteln versucht. Es ist ein 
Bacchanal der Lebensfreude und des kraftvollen Sinnesgenusses, 
was sich in den Werken dieser beiden, künstlerisch vielleicht 
bedeutsamsten Epochen aller Zeiten ausspricht. Gleichwohl 
liegt so viel Unschuld und Naivetät in der Anbetung des nackten, 
menschlichen Körpers, ja selbst in der gröberen Verherrlichung 
der Sexualität, die man bei den Mantegna, Aldengrever, Rem- 
brandt, Giulio Romano u. a. wiederholt in den schönsten Plastiken 
und Gemälden findet. Es ist typisch, daß diese gesunde Erotik 
für uns Epigonen gleichbedeutend mit Pornographie ist, weil 
wir sie mit unserer verkümmerten Ethik und unserer nüchternen, 
ins Alltäglich-Kleinliche umgemünzten Weltanschauung nicht mehr 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 307 


begreifen können. Für den Geist jener und unserer Zeit ist 
es bezeichnend, wenn das Ministerium in Bayern dem Herrn 
Joseph August Lux einen Auftrag für ein patriotisches Festspiel 
erteilt und wiederum entzieht, weil es sich herausstellte, daß 
der Betreffende früher einmal einen »Lola Montez-«Roman ver- 
brochen hat. Die Päpste der Renaissance stellten Giganten und 
Erotiker vom Schlage der Michel Angelo und Raphael in ihre 
Dienste, und Kardinäle, wie der berühmte Bibiena (+ 1520) 
verfaßten tolle, übermütige Lustspiele, die in den vatikanischen 
Gemächern aufgeführt wurden. Es ist kaum anzunehmen, daß 
in der Zeit, wo schon harmlose Dinge wie das »Korallen- 
kettlin« das Gemüt des deutschen Zensors bedräuen, eine über- 
mütige Farce wie z.B. die »Calandria« über die Bretter gehen 
könnte. Auf dem Wege, den die neuzeitliche Kunst unter der 
Herrschaft des Puritanertums und der konventionellen Lüge 
beschritten hat, müßten wir eigentlich allerdings sehr bald bei 
der nackten Pornographie landen, und die Entwickelung 
des modernen Witzblattwesens zeigt, daß wir dieser Periode 
des Niederganges tatsächlich nicht mehr allzu entfernt sind. 
Aber wenn die Karikaturisten der illustrierten Wochenblätter 
immer mehr die bekleidete Unzüchtigkeit pflegen und der 
gemeinen Spekulation auf die animalischen Instinkte Raum 
geben, so sind nur jene Kreise daran schuld, die bei einer 
noch so harmlosen Darstellung des Nackten ein zeterndes Ge- 
schrei zu erheben pflegen; denn dadurch kennzeichnet sich die 
reine Pornographie, daß sie eine Verzerrung des erotischen Ur- 
elements in der Kunst darstellt, und zu einer Kunst wird, die nicht 
mehr den gesunden, erotischen Überschwang und ideale Sinnlich- 
keit, sondern ein anormales, tierisches Triebleben symbolisiert. 

Die medizinisch-psychiatrische Forschung der Neuzeit hat 
nachgewiesen, daß die Wurzel der Pornographie im Sadismus 
zu suchen sei und daß der Pornograph auf eine gewaltsame 
Aufpeitschung der Geschlechtslust beim Leser oder Beschauer 
abziele. Meines Erachtens spielt hier nicht nur allein der 
Sadismus eine wichtige Rolle, sondern es verschmilzt eine 
Reihe perverser Triebe zu einem einheitlichen Akkord. Zu- 
mindest scheinen der pollutionistische Trieb und ein maso- 
chistisches Empfinden ebenso stark wie die sadistische Anlage 
ausgeprägt zu sein. In der obscönen Bilder-Fabrikation, wie 


sie namentlich von Paris herüberflutet, finde ich dieselben 
20* 


308 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Motive tätig, die beispielsweise gewisse intellektual tiefstehende 
Elemente veranlassen, die Wände der öffentlichen Bedürfnis- 
anstalten zu beschreiben, bezw. Briefe schmutzigen Inhalts an 
Personen der Gesellschaft abzusenden. Auch der Pollutionist 
zielt auf die geschlechtliche Aufregung der nach ihm die öffent- 
lichen Orte betretenden Personen ab, aber gleichzeitig bietet 
ihm die Beschäftigung mit dem Schmutz die zur Befriedigung 
seines Trieblebens nötigen Aequivalente.e Noch häufiger ist 
eine masochistische Anlage bei den Pornographen nachweis- 
bar, die sich in schwereren Fällen auch mit sonstigen ver- 
brecherischen Instinkten verbinden kann, sodaß die Minder- 
wertigkeit des betreffenden Individuums sofort erkenntlich ist. 
Gerade bei dieser Gruppe von Pornographen halte ich die 
Produktion des Schmutzes in Wort und Bild für ungemein 
charakteristisch und für eine Handlung, durch die sich andere 
gewaltsame Vergehen wider das Strafgesetz kompensieren. Es 
ist dasselbe, was ich in meinem Aufsatz über Masturbation und 
Verbrechen ausgeführt habe. Die angeborene verbrecherische 
Anlage schützt sich durch diese Art geistiger Selbstbefleckung 
vor sich. selbst und gelangt dennoch zur vollen Befriedigung. 
Der Pornograph kostet in den seitenlangen Schilderungen 
schmutzigster Situationen ein Gefühl von extremer Demütigung 
und Selbsterniedrigung, verbunden mit dem eines vollendeten 
erotischen Erlebnisses aus. Ich stehe nicht auf dem Stand- 
punkt, daß dasjenige, was den Pornographen reizt, in erster Linie 
die sexuelle Wirkung auf seine Umgebung ist, sondern es ist 
vielmehr die Befriedigung der eigenen, masochistischen, bezw. 
autoerotischen Triebrichtung. Eine Analogie dazu finde ich 
in der Praxis der studentischen Jugend, die mit Vorliebe sich 
zeichnerisch und textlich auf dem Gebiete der Pornographie 
betätigt. Diese pornographischen Produkte der Sechzehn- und 
Siebzehnjährigen sind nichts anderes als erotische Fantasieen, 
wodurch die in der Pubertät stehenden Knaben ihren erotischen 
Gelüsten die Zügel schießen lassen, also eine larvierte, psychische 
Onanie. Der Grundcharakter jeder Onanie aber ist, schon mit 
Rücksicht auf die sie begleitenden Umstände von Ekel, Scham, 
Reue und physischem Unbehagen, ein masochistischer. Ein 
siebzehnjähriger Untersekundaner schrieb vollendete porno- 
graphische Verse, in denen sich eine ganz ungeheuerliche, zügel- 
lose Fantasie bekundete. Die Verse trug er mit sich herum 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 309 


und las sie immer und immer wieder von neuem, um sich 
selbst an ihnen aufzuregen. Selbstverständlich las mitunter die 
ganze Klasse mit und die Pamphlete wanderten sehr bald von 
Hand zu Hand. Aus meiner Gymnasiastenzeit erinnere ich 
mich an 2 Klassendichter, die massenhaft solchen Schund 
fabrizierten und auch im Inland bei gewissen Blättern von 
Zeit zu Zeit absetzten. Es ist typisch, daß beide Jungen neben- 
bei auch exessive Onanisten waren und die Gedichte schrieben, 
um uns anderen die Ueberzeugung von ihrem sexuellen 
Athletentum aufzudrängen. Und da kommt der dritte Punkt 
hinzu, der mir sowohl für den berufsmäßigen Pornographen als 
auch für den Künstler, der sich mit gemeinen, obscönen Motiven 
abgibt, maßgebend zu sein scheint. Es steckt viel von sexu- 
eller Renommiererei in diesen Zeichnungen, Gedichten und 
Erzählungen, die sich mit platten Verherrlichungen der Venus 
vulgivaga abgeben. Der normale Gedankengang des Porno- 
graphen ist der: Den Leuten gelangt mein Blatt oder meine 
Zeichnung in die Hände, sie sehen die Gewagtheit des Vor- 
wurfs und werden denken „Was ist das für ein Kerl, der solche 
Sachen macht, was alles muß der Mann erlebt haben, wie 
genußfähig muß er sein!“ Ein Künstler, der in seinem Kreise 
allgemein als sehr genußsüchtig und als Lebemann galt, malte 
im Kaffeehaus und bei jeder Gelegenheit obscöne Karikaturen 
auf die Marmortische. Etwas von dieser sexuellen Renommiererei 
steckt auch in der Literatur der modernen Sataniker und Deka- 
denten, die ja bekanntlich mit Vorliebe Motive wählen, die auf 
der Schneide zwischen wahrer Kunst und Pornographie balan- 
zieren. Sexuelle Renommiererei steckt in vielen Produkten der 
galanten Epochen, in den Gedichten der ersten Schlesier, der 
verskundigen Hofdichter des 17. und 18. Jahrhunderts und in den 
Bildern der galanten Maler, mit denen französische und deutsche 
Fürsten ihre Privatgemächer schmückten. Von den Logau, 
Hoffmannswaldau, Besser, König und wie sie alle hießen, weiß 
man, daß sie in Wirklichkeit recht ehrbare, zopfige Philister 
waren, die mit den Ausschweifungen, die sie in ihren Liedern 
besangen, auch nicht das geringste zu tun hatten. Die sexuelle 
Renommiererei ist im Grunde genommen nur die Bekundung 
einer psychischen und teilweise auch physischen Im- 
potenz und wird um so krasser, je mehr sich die Kurve der 
Geschlechtsempfindung herabneigt und unter den Nullpunkt zu 


210 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


verlaufen droht. Dieser Umstand trägt vielleicht zu der Er- 
klärung bei, warum die Pornographie ihre treuesten Anhänger 
in Kreisen Jugendlicher oder ganz alter Personen findet, und 
warum der ganze Sturm, der gegen ernste Werke der bilden- 
den und Schriftkunst gelaufen wird, vielfach von senilen oder 
zu einer unfreiwilligen Geschlechtsabstinenz verdammten Per- 
sonen vertreten wird. 

Echte Pornographie unterscheidet sich ferner von wahrer 
Kunst durch die grobe, jeglicher ästhetischen Qualitäten ent- 
behrende Technik und durch den Mangel einer tieferen, 
Menschlichkeiten wägenden Idee. Ich sprach schon davon, 
daß die Künstler der Renaissance die gewagtesten Probleme 
mit einer Großartigkeit behandeln, daß neben dem Staunen 
über die hier bis in die Details verschwendete Kunst ein 
direkt unlauteres Gefühl nicht aufzukommen vermag. Auch 
moderne Künstler haben erotische Probleme, die zu den 
intimsten gehören, mit großer Kunst und Genialität behandelt. 
Ich erinnere nur an Felicien Rops’ »Calvaire«, seine Illustrationen 
aus »Les Sataniques«, Aubrey Beardsley’s Illustrationen zur 
Lysistrata, Otto Greiners Zyklus »Vom Weibe«, sowie seine 
überwältigende Zeichnung »Der Mörser«, die Zeichnungen 
der Berneis, Kubin, Klinger, Willy Geiger usf. Es ist selbst- 
verständlich, daß solche Werke nicht der Allgemeinheit zu- 
gänglich gemacht werden können, da sie eine gewisse Reife 
des Intellekts und der Empfindung voraussetzen. In allen diesen 
Werken sind ideenreiche Karikaturen auf das Geschlechts- und 
Kulturleben der vorhandenen Menschheit enthalten. Mit un- 
heimlicher Virtuosität werden hier die Abgründe der mensch- 
lichen Seele und das darin brodelnde Durcheinander aufgedeckt. 
Solche Werke haben nichts zu tun mit den Erzeugnissen 
der Kolportage-Literatur, der Filmdramatik und der Bordell- 
bilderkunst, in denen sich die ganze pornographische Produktion 
erschöpft. Pornographisch im engsten Sinne des Wortes ist 
auch das gewagteste Erzeugnis irgendeines wirklich genialen 
Künstlers nie gewesen. Selbst in den berühmten Bildern des 
berüchtigten Giulio Romano, die als Illustrationen zu den woll- 
lüstigen Sonetten des Aretino gedacht waren, in der Literatur 
eines Boccaccio und Casanova findet sich so viel Kunst, daß 
der pornographische Nebencharakter dieser Blätter vollständig 
verloren geht. Daß es sich hier um hochstehende und geistig 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 311 


übernormal entwickelte Männer handelt, beweisen die vielen 
Interessen, denen die Genannten neben ihren erotischen Pro- 
duktionen dienten. Ich hatte diesen Sommer Gelegenheit, den 
gesamten handschriftlichen Nachlaß von Casanova bei Herrn 
Bernhard Marr in Dux einsehen zu dürfen, und es ist einfach 
staunenswert, überwältigend, womit sich dieser glatte Hofmann 
beschäftigt hat. Die schwierigsten Probleme aller Zeiten auf 
dem Gebiete der Mathematik, Philosophie und Naturwissen- 
schaften sind hier angeschnitten und für jedes wird eine eigen- 
willige, interessante Lösung versucht. Aus dem noch un- 
erschöpften Material dieses Nachlasses könnte ein Dutzend 
nachgeborener Dichter schöpfen und ein jeder von ihnen 
würde gleichwohl zu internationaler Berühmtheit gelangen. 
Allerdings hat es ja auch Skribenten gegeben, die eine 
Zeit lang Anspruch auf Öffentliche Beachtung erhoben haben 
und dank der Reklame, die von politischen Parteien für sie 
getrieben wurde, auch die längste Zeit für vollwertig erachtet 
wurden. Der krasseste Fall dieser Richtung ist wohl der des 
Jugendschriftstellers Karl May, über den eine vom Staatsanwalt 
verbotene Monographie aus der Feder des gelben Arbeiter-' 
führers Rudolf Lebius existiert. Diese Broschüre ist ein 
Dokument von ernster, auch nach der sexuell-psychologischen 
Seite hin interessanter Bedeutung. Auf Karl May, der zu 
gleicher Zeit pornographische Romane, wie »Die Liebe des 
Ulanen«, »Waldröslein« u. a, und eine Reihe widerlicher, von 
frömmelnder Tendenz getragener Jugendschriften verfaßte, paßt 
genau die Definition, die ich für den masochistisch veranlagten 
Pornographen gegeben habe. Bei May äußert sich neben der 
masochistischen Triebrichtung noch ein auffallend stark aus- 
geprägter Hang zum Mystizismus, der im übrigen bei einer 
großen Anzahl geborener Verbrecher merkwürdig häufig ge- 
funden wird. Über die Verquickung von Mystik und Erotik 
einerseits und Mystik und Verbrechen andererseits ist an dieser 
Stelle wiederholt gehandelt worden. Kürzlich erst in einem 
Aufsatz »Künstler und Prostituierte«, in dem vom Verfasser 
auf die häufig zu beobachtende Frömmigkeit bei notorischen 
Prostituierten hingewiesen wurde. Für das Kapitel Mystik und 
Verbrechen scheint mir May eines der interessantesten Objekte 
abzugeben und es würde sich gewiß noch lohnen, seine Bio- 
graphie nach dieser Seite hin genauer durchzuforschen. Daß 


312 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


im übrigen May eine stark masochistisch veranlagte Persönlich- 
keit war, erklärt auch den ungeheuren Einfluß, den seine 
zweite Frau und ehemalige Wirtschafterin, Emma Pollmer, auf 
ihn übte. Seine pornographischen Erzählungen waren Be- 
kundungen derselben Triebverirrung, die ihn in anderen Fällen 
zum Diebstahl, zum Betrug und zu dem romantischen Räuber- 
leben verleitete, das durch das Zuchthaus vorübergehend unter- 
brochen wurde. Die gleiche Tendenz macht sich auch in 
seinen späteren Reiseromanen bemerkbar, nur daß der porno- 
graphische Charakter diesmal maskiert auftritt und die Wenigsten 
unter der May’schen Kraftgenialität die erotische Anomalie wittern. 

Ich möchte zum Schluß noch auf den Umstand hinweisen, 
daß die Pornographie weit häufiger dort zu suchen ist, wo sie 
am wenigsten vermutet wird, nämlich in den Produkten einer 
überspannten patriotischen oder politischen Literatur, die his- 
torische Ereignisse und solche politischer Natur zu demagogischen 
Zwecken ausnutzt. In der Revolutionierung der Massen, sei 
es im staatsfördernden oder staats-feindlichen Sinne, machen 
sich immer versteckte erotische Gelüste breit, und je skrupel- 
loser eine solche Literatur vorgeht, desto größer sind die Ge- 
fahren. Derartigen Schriften, die sich absolut nicht immer mit 
sexuellen Problemen beschäftigen müssen, liegen gleichwohl 
ausgesprochene sexuelle Motive zu Grunde. Denn daß in der 
Absicht, Einfluß zu üben durch brutales Eingreifen in das In- 
stinktleben des Einzelnen, in der Verhöhnung politischer Gegen- 
parteien, in der Entwürdigung eines vielleicht ebenso berech- 
tigten Ideals Andermanns — immer vorausgesetzt, daß diese 
Art des Kampfes über die normale Grenze hinausgeht — ver- 
brecherische und erotische Gelüste nach der gleichen fraglichen 
Befriedigung suchen, wie in der nackten, grobschlächtigen Porno- 
graphie, liegt unzweideutig zu Tage. 


Kä E 
EI 





DIE BEMÄKELUNG DER GESCHLECHTSLUST. 
Von JOHANNES GUTTZEIT. 


$ lächerlich auch manchem die Frage erscheinen mag, ob 
die mit der Geschlechtstätigkeit verbundene Lust an und 
für sich einen Makel enthalte, so ist es doch keineswegs über- 
flüssig, sie aufzuwerfen. Denn würde die Verneinung dieser 
Frage allgemein als selbstverständlich betrachtet, dann wäre 
die häufig gehörte Mahnung unverständlich, daß die Geschiechts- 
tätigkeit nur zum Zwecke der Fortpflanzung ausgeübt werden 
dürfe, Dieser allein gestattete Zweck muß in den Augen derer, 
die sie mit einem Makel belegen, ihre Ausübung wohl oder 
übel rechtfertigen — bis auf die ganz Folgerechten, welche 
(mit Tolstoi) lieber die Menschheit aussterben lassen als die 
verhaßte Geschlechtstätigkeit fortgesetzt sehen wollen. 

Worin liegt nun der Grund, warum außerhalb des Fort- 
pflanzungszweckes die Ausübung des Geschlechtstriebes, soweit 
ein gesundheitlicher Nachteil sich nicht nachweisen läßt, dennoch 
vielfach gemißbilligt wird? Mit dem gesundheitlichen Nach- 
teil meine ich einen solchen gleichviel auf welcher der beiden 
Seiten, womit auch ein sehr großer Teil der »Prostitution« be- 
zeichnet ist. Woher also käme der Makel, wenn dieser Nachteil 
wegfällt? 

Wäre die Geschlechtstätigkeit nicht mit einer besonderen 
Lust verknüpft, so würde es gewiß Niemandem einfallen, ihr 
diesen Makel beizulegen. 

Im Berliner Museum, in dem Gange, der das alte mit dem 
neuen verbindet, findest du den Kopf eines Mannes, der dir 
mit seinen strengen, mißgünstigen Zügen, seiner schmalen Stirn 
und Nase, gleichsam sich selbst zusammenkneifend, als der- 
jenige eines Büßermönches erscheint. Es ist Zeno, der Be- 
gründer der stoischen Schule, deren strenger, der Natur ent- 
gegentretender Geist dann unter anderen Namen durch Paulus, 
Augustin und — um die vielen sonstigen Vertreter zu übergehen — 
auch namentlich durch Kant weiter gepflegt worden ist. Sie 
hat Großes geleistet, diese Beherrschung der Natur. Allein 


314 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Beherrschung ist nicht ohne Abtötung möglich. Darum werden 
durch die Beherrschung, in je strengerem Sinne sie dies ist, 
um so mehr Kräfte des Beherrschten an ihrer freien, natur- 
gemäßen Wirksamkeit gehindert. Und da sich in der Natur 
keine Kräfte — so wenig wie Stoffe — vernichten lassen, so 
läuft die »Beherrschung« darauf hinaus, daß die vorhandenen 
Kräfte aus der gesunden und im Ganzen genommen nützlichsten 
Bahn in eine krankhafte gezwängt werden, die zwar mitunter 
einesteils nützlich, immer jedoch mehrenteils schädlich sein wird. 
Das ist der Irrweg Zeno’s und seiner geistigen Nachfahren. 

Nicht weit von dem seinigen findest du einen anderen Kopf. 
Da ist ein in sich selbst ruhendes Wesen, ein Mensch, der 
mit seiner ganzen Natur, keinen Trieb ausgeschlossen, im Ein- 
klange steht. Er atmet gesundes Wohlbehagen, das auf Andere, 
die ebensowenig wie er mißgünstig sind, wohltuend wirken muß. 
Es ist Epikur, den man wohl mit Unrecht durch die Bedeutung, 
die man dem Worte Epikuräer beilegte, zum Genießlinge 
stempelte. Sein Lebensalter von über siebzig Jahren spricht 
ebenfalls gegen eine solche Darstellung seiner Lehre; denn wer 
sie so darstellt, der scheint einen Lebensgenuß, der sich auf 
weises Maßhalten gründet und schon hierdurch ein mehr ver- 
geistigter ist, beinah’ für unmöglich zu halten. Nein, das dem 
Selbstpeiniger gegenüberstehende Extrem des grobsinnlichen 
GenießBlings vertritt Epikur nicht, sondern zwischen beiden die 
natürliche Mitte. Aber wenn auch Plutarch, der ihm an mehreren 
Stellen jenen Charakter beilegen möchte, darin Recht hätte, was 
liegt daran? Zufällige Geschichtswahrheiten können, wie Lessing 
bemerkt, niemals den Beweis notwendiger Vernunftwahrheiten 
abgeben. Genug, daß es zwischen dem Selbstpeiniger, der 
gewisse zur Lust führende Triebe im Menschen unterdrücken 
will, und dem Genießlinge, der sie aus einem krankhaften Hange 
nach Lust möglichst ausbeuten will, einen Mittelstandpunkt gibt 
und daß dieser der im höheren Sinne gesündeste und menschen- 
würdigste ist. 

Wenn selbst dieser Standpunkt von den Vertretern der 
erstbezeichneten Schule als genußsüchtig gebrandmarkt wird, 
so hat das einen leicht ersichtlichen Grund. Denn diese müssen, 
um den Ausfall, den sie sich selbst verursachen, zu decken, sich 
eine konventionelle Ehre sichern, eine Ehre, die denen aberkannt 
wird, welche sich der Lust eingestandenermaßen hingeben. 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 315 


So ist die Lust, die heilige Lust in Verruf gekommen, und 
wer sich in einer von jener Lustbemäkelung angekränkelten 
Gesellschaft der Lust überläßt, der glaubt das verbergen, ver- 
leugnen oder sich als leichtfertig vorkommen zu sollen. Viele 
tadeln sich darum noch keineswegs, aber sie haben doch das 
Gefühl, als täten sie Unrecht. Ihr Gewissen ist verfälscht, sie 
haben die Grenzlinie zwischen Recht und Unrecht, zwischen 
Unschuld und Sünde verschieben lassen: denn während diese 
dort gesehen werden sollte, wo die Vergeudung der Kraft, die 
Schädigung seiner selbst oder Andrer beginnt, wird sie nun 
dort gesehen, wo die Lust beginnt, wenn sich dies nicht etwa 
durch einen Zweck wie »Sorge um den Fortbestand der Gattung« 
entschuldigen läßt! 

Daß aber die Natur die Lust an sich will, geht schon aus 
der Notwendigkeit von Reizen zur Erhaltung unseres Daseins 
hervor, z. B. der Gaumenreize, um die Speicheldrüsen zur Her- 
gabe des für die Verdauung erforderlichen Speichels zu ver- 
anlassen. Und wer nicht die Kultur in Pausch und Bogen für 
unberechtigt erklären will, der wird ihr das Recht nicht ver- 
sagen dürfen, hinsichtlich der Reize die Natur zu verfeinern. 

Nur die Irrtümer und Unsitten gilt es zu beseitigen, wo- 
durch die Menschen und Völker unglücklich, schwach, krank 
und einem verfrühten Untergange entgegengetrieben werden. 
Aber der wahre, reine, unschädliche Lebensgenuß .wird nur von 
einer Genußunfähigkeit bekämpft, welche durch Übermaß ent- 
standen und nun mißgünstig ist. Und am liebsten geschieht 
die Bekämpfung unter der Maske der Frömmigkeit. 

Hier spielt uns nun die von der Kirche so lange gepflegte 
stoisch-mönchische Auffassung, wonach die Lust nicht an sich, 
sondern allein als unumgängliches Mittel zur »Pflicht-Erfüllung« 
Berechtigung hat, einen Streich, indem sie uns den Blick zur 
Erkennung der einfachsten Natur-Erscheinungen trüben will. 
Es ist eine Auffassung, die sich nicht ohne Selbstbetrug und 
Heuchelei aufrecht erhalten läßt. 

Oder wäre sonst wirklich die Fortpflanzung, d. h. die 
Schaffung immer neuer Formen des Lebens, in denen die unsre 
sich fortsetzen soll, der einzige vernünftige Zweck eines so 
häufig hervortretenden Triebes? Was hätte denn die beständige 
Schaffung neuer Formen des Lebens für einen Zweck, wenn 
der Inhalt des Lebens nicht einen entschiedenen Wert hätte? 


316 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Diesen Wert gibt ihm aber schließlich doch nur die Lust. Daß 
die Lust an sich in Verruf gekommen — es begann schon mit 
Manu, das Griechentum war eine Oase in dieser Wüste — daß 
die Lust in Verruf gekommen, ist nur ein Beweis für den ein- 
gerissenen Hang zum Übermaße. Aber es bleibt doch wahr, 
daß das Dasein, gemäß dem jedem Geschöpf in andrer Gestalt 
zur Leitung mitgegebenen Gesetzen, eine Lust ist, und insofern 
man überhaupt in der Natur Zwecke annehmen darf, muß diese 
Lust als Zweck des Daseins betrachtet werden. 

Die Lehre von der Fortpflanzung als dem alleinigen Zwecke 
der Geschlechtslust hat zur Voraussetzung die Annahme, daß 
zur Fortpflanzung die Teilung in Geschlechter und der Ge- 
schlechtsverkehr zwischen den beiden notwendig sei. Daß 
diese Notwendigkeit jedoch nicht besteht, zeigt die Natur in 
verschiedenen Tier- und Pflanzenarten, wo Fortpflanzung ohne 
jede Art von Zeugung, durch »Parthenogenesis« erfolg. Zum 
Zwecke der Fortpflanzung braucht also eine Spaltung in zwei 
Geschlechter keineswegs zu erfolgen. Der Zweck einer Er- 
höhung der Daseinslust hat mehr für sich. Sind beide Zwecke 
anzunehmen, so doch, aus beregtem Grunde, der letztgenannte 
als der vorwiegende. Und zwar könnte er in dem Verhältnisse 
vorwiegen, wie der vor der Fortpflanzung unmittelbar be- 
anspruchte Teil der Geschlechtskraft überwogen wird durch den 
Rest, den sie nicht beansprucht und der, wenn er ihr dennoch 
(unmittelbar) gewidmet wird, zur »Übervölkerung« führen müßte. 

Die naturwidrige Teilungssucht trat noch der (durch Hang 
zum Unmaß erklärten) Lustbemäkelung hinzu und verschuldete, 
daß der Geschlechtstrieb abgesondert von den übrigen Trieben 
des Lebewesens, und so insbesondere des Menschen beurteilt 
wurde. Man hat es so dargestellt, als ruhe er für gewöhnlich 
ganz und trete nur zu Zeiten, bei besonderen äußeren Eindrücken 
und auch wohl inneren Zuständen, mit Macht hervor, wo ihm 
dann, je nach der Sitte, entweder willfahrt oder widerstanden 
werden müsse. Aber man übersah völlig, daß er in der hierbei 
ins Auge gefaßten Form nur eine Steigerung der gegenseitigen 
Anziehung bedeutet, welche die körperliche Unterlage der Ge- 
selligkeit ganz allgemein ist. Und so kann er als Potenzierung 
einer Kraft angesehen werden, die, sei es in ihrer Latenz (als 
Energie), sei es in unmittelbarer Wirkung, der Geselligkeit oder 
wohl genauer der Verbindung der Seelen dient. 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 317 


Ja, das ist sein hoher natur- und kulturgemäßer Zweck, wie 
es derjenige aller Lust und alles Verlangens nach Lust ist. Denn 
freilich gibt es zwei Arten von Lust — und hier trennen sich 
die Wege des mit seinen Empfindungen über die engen 
Schranken des Einzelwesens Hinausgehenden und des Selb- 
süchtlings, der nur nehmen, aber nicht geben möchte, der nur 
gibt, um, wie er meint, desto mehr für sich allein zu erraffen. 
Hier handelt sich’s nicht um den Unterschied zwischen roher 
Natur und edler Kultur, sondern zwischen dem Edeln (in Natur 
und Kultur) und dem Gemeinen, Selbstsüchtigen. Der edlere 
Mensch, wenn er sich herzlich über etwas freut, wünscht diese 
Freude mit seinen Lieben zu teilen. Hat er sie nicht um sich, 
so zieht er sie im Geiste heran, und steht er vereinsamt, so 
zieht er gleichfühlende Geister an; denn im Charakter seiner 
Freude liegt das Gefühl der Gemeinsamkeit, ja mehr, die 
zeugende Verbindung mit einem Zweiten zur Hervorbringung 
eines Dritten, das aber keineswegs körperlich zu sein braucht. 
(Vgl. meine »Unsterblichkeit auf Erden.« 2. Aufl., S. 18 f.). Der 
Selbstsüchtling dagegen will nur für sich genießen; geteilte Freude 
ist ihm nicht doppelte, sondern verminderte Freude, und wenn 
er auch, um seine Freude gespiegelt zu sehen, im Augenblick 
Mitgenießer heranzieht, sein Anteil geht nicht tief, ist nicht an- 
dauernd. Die Selbstsucht aber beherrscht unsere Gesellschaft 
in ihren wirtschaftlichen, staatlichen, ehelichen Verhältnissen. 
Hier liegt der andauernde, nicht wegzutäuschende Mißklang 
zwischen dem natürlichen Menschenadel, auf den sich auch 
eine wahre Kultur zu stützen hat, und unserer Scheinkultur, bei 
welcher der erkünstelte Schein des Edlen jederzeit und überall 
von der herkömmlich gezüchteten Selbstsucht niedergerissen 
zu werden droht. | 


318 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


DIE ÄSTHETIK DES BRAUTGEMACHS. 
Von ALFRED SCHLEYER. 


Е verlohnt es sich nicht, zu diesem Thema, das so- 

wohl vom kulturhistorischen als auch sexuell-ästhetischen 
Standpunkt aus wiederholt besprochen wurde, neue Gedanken 
zu äußern. Das Brautgemach ist genau so wie die Hochzeits- 
reise etwas, was in die intimste Sphäre der Persönlichkeit 
hineingehört und zu dem ein jeder nach seinem Gutdünken 
verschiedene Stellung nimmt. Die einen verwerfen die alther- 
gebrachte Form der Eheschließung mit Hochzeitsreise und der 
geheimnisvollen Feierlichkeit des ersten Beilagers, die anderen 
möchten das erstere nicht missen und können das letztere 
nicht lassen. So lange im übrigen Eheschließung und Hoch- 
zeitsfeierlichkeiten von der Tradition beherrscht sind, wird ein 
junger Bund immer von dem derben, philiströsen Polterabend, 
dem unästhetischen und auch unhygienischen Hochzeitsschmaus 
begleitet sein und mit der unökonomischen und überflüssigen 
Hochzeitsreise abgeschlossen werden. Von einer Ästhetik des 
Brautgemachs kann man unter solchen Umständen nicht sprechen, 
es wäre denn, unsere im Zeitalter des Dampfes und des 
nervösen Vorwärtsstürmens lebende Jugend zöge die Braut- 
nacht im dahinratternden Eisenbahnzuge oder in dem übel 
berüchtigten Zweibettenzimmer irgend eines Hotels dem innigen, 
poetischen Beisammensein im selbstgeschmückten und ge- 
schaffenen Heim vor. Wenn Dr. Gustav Adolf Müller in seiner 
kritisch-ästhetischen Schrift »Über Liebe, Ehe und Schlaf- 
gemach«*) auf dem Wege des vorgeschilderten Gedankenganges 
schließlich auch zu den gleichen Resultaten wie oben gelangt, 
so ist entschieden nichts dagegen einzuwenden. Gewiß leidet 
die Poesie des Brautgemachs ganz erheblich unter der Emp- 
findung des »auf dem Wege Seins«, deren sich junge Hoch- 
zeitsreisende niemals werden entschlagen können, und der 
ersten Hingabe des Weibes an den Mann in irgend einem 
Absteigequartier wird immer etwas vom »Verhältnis« oder gar 
von »erwerbsmäßig erkaufter Liebe« anhaften. Im Übrigen 
jedoch identifizieren wir uns garnicht mit den Ausführungen 


*) Liebe — Ehe — Schlafgemach. Sexualästhetische Gedanken und Rat- 
schläge von Dr. Gust. Ad. Müller. Verlag Dr. Basch u. Co., G. m. b. H., 
Berlin. 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 319 


Müllers, der nach schönem, altgeübtem Brauch für die Ästhetik 
der Hochzeitsreise und des Brautgemachs die geschlechtliche 
Unberührtheit der jungen Frau als selbstverständlich voraus- 
setzt. Also, die Brautleute müssen vollständig keusch in den 
Stand der Ehe treten, um Anspruch auf ein ideales, ästhetisch 
einwandfreies Brautgemach zu haben. Dem gegenüber muß 
doch gesagt werden, daß nach unserem Ermessen das Braut- 
gemach nicht nur allein einen konkreten Raum, sondern auch 
einen abstrakten Begriff umfaßt. Die Ästhetik des Brautgemachs 
besteht darin, daß sich zwei Menschen zur gegenseitigen Hin- 
gabe an einander zusammen finden, deren Seelen vollständig 
harmonisch aufeinander abgestimmt sind, und die kraft dieses 
innigen Zusammenstrebens auch ihre Umgebung als harmonisch 
und demzufolge ästhetisch empfinden. Es ist selbstverständlich, 
daß dieser harmonische Eindruck innerhalb der vier Mauern, 
die man bereits lange vorher einträchtig für die Brautnacht 
geschmückt hat, intensiver sein wird, als in irgend einem in- 
differenten Raume auf der Reise, aber dazu ist weder die 
obligate, jungfräuliche Scham seitens des Weibes, noch der 
naive, sentimentale Don Juanismus beim Manne notwendig, 
mit dem die so beliebten Hochzeits- und Brautnachtnovellen 
das junge Paar auszustatten pflegen. Dazu ist es auch ganz 
und gar nicht notwendig, daß beide Teile keusch in die Ehe 
treten, um jene Sensation erleben zu dürfen, die die erste Hin- 
gabe zweier Liebender aneinander unzweifelhaft bedeutet. Es 
kommt nicht darauf an, ob das Brautbett wie im Mittelalter 
zur Zeit des Öffentlichen Beilagers mit Blumen geschmückt 
ist und das Brautgemach in den erlesensten, einträchtig zu- 
sammenklingenden Farben prangt; die Kunst besteht vielmehr 
darin, daß Mann und Weib in dem Heim, das sie sich ge- 
schaffen haben, sich auch dauernd als Brautleute fühlen und 
der Geschlechtsverkehr noch nach Jahren an Wirkung jenem 
mystischen Opfer der ersten Nacht gleichkommt; mit anderen 
Worten, daß der Geschlechtsverkehr nicht als ein Mittel zur 
krampfhaften Zusammenkittung einer innerlich zer- 
rütteten Ehe dient, sondern, daß die Ehe die gegenseitige 
geschlechtliche Hingabe als einen natürlichen, edlen und zweck- 
mäßigen Tribut fordert. Unter solchen Umständen wird das 
Schlafgemach auch noch nach Jahren als Brautgemach und 
durchaus ästhetisch wirken, mag es so oder so beschaffen sein, 


230 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


und Eltern, die es von dieser Seite kennen gelernt haben, 
werden sicher ihre Kinder nicht, damit. sie sich finden, auf 
eine Hochzeitsreise schicken. Was aber die Forderung der 
physischen Jungfräulichkeit anlangt, die unser Autor zwar nicht 
ausspricht, aber für das bräutliche Weib stillschweigend als 
selbstverständlich voraussetzt, so scheint uns hier noch die 
traditionelle Vorstellung zu walten, daß Ehe und Beilager 
eigentlich ein und dasselbe seien. Hat demnach ein Mädchen 
bereits vor der Ehe mit einem Manne sich einem anderen 
hingegeben, so ist sie nach kirchlicher und nach der Moral- 
auffassung bürgerlicher Kreise zur Ehe eigentlich untauglich 
geworden. Heiratet ein solches Mädchen dennoch, dann fällt 
bei ihr die Poesie der Brautnacht, des Brautgemachs zusammen. 
Man sieht, daß diese beiden Begriffe Brautnacht und Braut- 
gemach im großen ganzen nur einen relativen Gefühlswert be- 
sitzen, denn, daß ein Mädchen, das den geschlechtlichen Ver- 
kehr bereits vor der Ehe kennen gelernt hat, nichtsdestoweniger 
sich voll und ganz als Braut fühlen kann, und ihrem An- 
getrauten in der Brautnacht mehr bieten kann, auch ethisch 
genommen, als manches naive »unschuldige« Gänschen, wird 
wohl niemand, der einsichtig genug ist, bestreiten. Im Übrigen 
setzen wir einmal, ehe wir über dieses Thema zur Tages- 
ordnung übergehen, ein großes Fragezeichen an den Schluß 
unserer Folgerungen: wieviel Mädchen, die noch ihren intakten 
Hymen besitzen, treten wirklich rein und keusch in die Ehe, 
und wie vielen von ihnen ist die Brautnacht ein tatsächliches 
ideales Erlebnis und nicht bloß eine pikante Sensation, deren 
Reiz durch die ganze, weitläufige Ehezeremonie entsprechend 
erhöht erscheint? Wie vielen von den jungen Bräuten tritt 
es ins Bewußtsein, daß sie hier in Gemeinschaft mit ihrem 
Auserwählten den Beginn eines neuen, großartigen Lebens und 
nicht den banalen Abschluß irgend einer erfolgreichen Liebes- 
episode durchkosten? Vielleicht sind gerade viele der Mädchen, 
die bereits physisch geliebt haben, wertvoller, weil sie gereift 
und wissend in die Ehe treten, und vielleicht ist das Glück, 
das sich auf Scherben aufbaut — gerade der vorhergegangenen 
Bitterkeit wegen — ein viel dauernderes und intensiveres. 


о E 





CHINESISCHE ZAUBERPRIESTERIN, welche den Weibern Kindersegen verschafft. 
(Nach ‚einem chinesischen Holzschnitt). 


Zu dem Aufsatz „Die Unfruchtbarkeit des Weibes‘‘ Seite 273. 





EINE FRAU, WELCHE KEINE KINDERERZEUGEN 
WIRD. (Aus einer japanischen Encyclopädie). 


Zu dem 
Aufsatz 
„Die 
Unfrucht- 
barkeit des 
Weibes‘‘ 
Seite 273, 





EINE FRAU, WELCHE KINDERERZEUGEN WIRD. 


(Aus einer japanischen Encyclopädie). 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 
VIII, 8. 


DIE NEUVERMÄHLTE. Von GIOV. DA S. GIOVANNI. 
(Zu dem Aufsatz ‚Das öffentliche Beilager‘‘ Seite 342) 


(Florenz, Uffizien). 





Phot. Brogi. 


В ГИ ЫИ ГИ ГИЙ Е 





SEXUELLE ENTWERTUNG. 
Von Dr. J. B. SCHNEIDER. 


М" spricht in der neueren Literatur viel von der Sterilität 

des Liebesempfindens, die neben der Behinderung der 
Fortpflanzung einen erschreckenden Mangel von Lebenskraft 
und Produktivität verschuldet haben soll. Bei der Erörterung 
der Gründe, die zu dem Niedergang der gegenwärtigen Mensch- 
heit beigetragen haben sollen, ist man unter anderem auch auf 
den durch die entwickelte Kultur gesteigerten Luxus gestoßen 
und hat die schrankenlose Genußsucht, sowie den Mangel 
an Energie in der heutigen Männerwelt zu den Hauptstützen 
der Anklage gemacht. Zweifelsohne hat das zwanzigste Jahr- 
hundert infolge seiner überraschenden Entdeckungen und Er- 
folge auf dem Gebiete der Technik, seines riesenhaften Auf- 
schwunges der Industrie und des Handels auch eine Reihe von 
Umständen gezeitigt, die nicht überall zur Beglückung der Mensch- 
heit beigetragen haben. Vor allem hat sich im Anschluß an die 
kulturelle Verfeinerung eine gewisse Trägheit der Sitten und eine 
Erschlaffung des Empfindens in der Mehrheit, insonderheit in 
den wirtschaftlich besser gestellten Schichten, ausgebildet. Diese 
Effemination des modernen Zeitalters, das ich an dieser Stelle 
in einem anderen Aufsatz als auffallend masochistisch gekenn- 
zeichnet habe, hat gleichzeitig mit dem Mangel an Idealen eine 
unzweideutige Hinabentwicklung in Dingen der Liebeserlebnisse 
gezeitigt. Es wäre vielleicht jetzt der richtige Augenblick, der 
männlichen Jugend ihre allgemeine Flachheit und Unintelligenz 
vorzuhalten, der allein sie es zu verdanken hat, wenn die Frau 
in einer ungesunden Bewegung sich von ihr zu emanzipieren 
beginnt und in Zustände hineingedrängt wird, die für sie eine ver- 
hängnisvolle sexuelle Entwertung zur Folge haben. Ich meine 
nicht Unintelligenz in dem Sinne, als bestände die Mehrzahl der 
jungen Männer aus Analphabeten, aus Outsidern an Bildung und 
Geschmack; das ist ja seit dem Augenblick, wo sich die groß- 
städtische Straße als die wirksamste Lehrerin unserer Jugend 

Geschlecht und Gesellschaft VIII, 8. 21 


322 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


erwiesen hat, nicht mehr so leicht möglich; aber es gibt auch 
eine natürliche Intelligenz, die sich von der erworbenen streng 
unterscheidet und namentlich in der Kunst, eine Persönlichkeit 
zu besitzen, sich äußert. Diese natürliche Persönlichkeitsbegabung, 
die sich gleichzeitig mit einem ausgeprägten Charakter ver- 
schwistert, fehlt dem Nachwuchs von heute, er ist wie die moderne 
Baukunst, wie der durch Industrialismus und die Hegemonie des 
Kapitals geschaffene Stil der neuen Zeit, im höchsten Grade 
unpersönlich und charakterlos. Das zeigt sich in erster Linie 
an dem Mangel einer einheitlichen Weltanschauung, der sich 
überall fühlbar macht und der sich nirgends so deutlich wie 
in dem Verhalten des Mannes zum Weibe, ausprägt. Das 
Verhältnis vom Manne zum Weibe ist mehr denn je auf 
das des Zuhälters zur Kokotte gestellt. Der Mann ist mit 
Erfolg durch die aretinische Schule gegangen, —- worunter ich 
nicht unbedingt den graziösen Wollüstling aus dem Renaissance- 
zeitalter verstanden haben möchte, sondern aretinisch ist mir 
nur die Bezeichnung einer Gefühlsrichtung, nach der sich der 
neuzeitliche Ästhet entwickelt hat — ohne jedoch mit der un- 
mäßigen Gefühlsvergeudung gleichzeitig jene Erneuung der Kräfte 
zu erzielen, die der Renaissancemensch überall gesammelt hat. 
Der Lebenskünstler des zwanzigsten Jahrhunderts ist im Grunde 
genommen ein Lebensversager, die Karrikatur des Genies, als 
das er sich mit Vorliebe fühlen möchte. Das zeigt sich zu- 
nächst in seiner Unfähigkeit zu lieben und Liebe zu erwecken, 
dann in seinem daraus resultierenden Abscheu ‚vor dem mono- 
gamen Verhältnis und in seiner konsequenten Mißachtung der 
Frau; denn daß ein Zeitalter, das einen so perversen Kultus 
mit der Frau treibt, wie das gegenwärtige, sie im Grunde miß- 
achtet und als inferior ansieht, steht wohl fest. Diesem Kultus 
ist es auch zu verdanken, daß die Frau eine Entwicklung ge- 
nommen hat, die für sie im höchsten Grade ungesund ist und 
die zur sexuellen Entwertung des größten Teiles der weiblichen 
Jugend geführt hat. 

Die Tatsache ist nicht aus der Welt zu schaffen: die sexuell 
vollwertigen Frauen werden immer weniger, es vollzieht 
sich auch in ihren Reihen allmählich der gleiche Degenerations- 
prozeß, der zur augenblicklichen Minderwertigkeit und Un- 
produktivität der Männerwelt geführt hat. Eine solche ist un- 
streitig vorhanden, auch wenn man tausendmal die Errungen- 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 323 


schaften der modernen Kultur dagegen hält. Degeneration ist 
immer vorhanden, wo das Kapital in den Händen einzelner, 
sozial hochgestellter, aber geistig minderwertiger Elemente zu- 
sammenfließt, während die Masse, in der die eigentliche Quelle 
der Volkskraft zu suchen ist, zum belanglosen Objekt herab- 
gedrückt wird. Auf dieser Basis entwickeln sich dann jene Er- 
scheinungen, die sich im Verlauf als ungeheure soziale Schäden 
darstellen, das proletarische Elend, die Tuberkulose, die Pro- 
stitution, die venerischen Krankheiten und das Verbrechen, 
die den wertvollsten Kräftebestand einer Nation mit Leichtigkeit 
dahinraffen können. Man hat das letzte Jahrhundert als das 
einer dauernden sozialen Krise bezeichnet, hervorgerufen durch 
die ökonomischen Bedingungen, das ist die einseitige wirt- 
schaftliche Tendenz des bestehenden Staates. Die soziale Krise 
wird noch durch andere Umstände verschuldet, die jenseits der 
kapitalistischen Entwicklung zu suchen sind. Abgesehen von 
den politischen Gründen, wirkt der allgemein fühlbare Mangel 
an Religiosität und die damit verbundene Umbiegung der Ideale 
im Volke verhängnisvoil. Die Reinheit der ethischen Prinzipien 
eines Volkes ist maßgebend für den Grad und die Grenze seiner 
schöpferischen Leistungsfähigkeit. Das zwanzigste Jahrhundert 
ist darum so auffallend steril, weil es ein empfindliches Manko 
an Charakter und Weltanschauung aufdeckt*). 

Parallel der moralischen Entwertung der Männerwelt 
geht die sexuelle der weiblichen Jugend, die für den Fort- 
bestand einer gesunden Rasse noch weit verhängnisvoller ist 
als Korruption zufolge ungünstiger, wirtschaftlicher Bedingungen. 
Unter sexueller Entwertung verstehe ich die Abnahme der 
Liebes- und Mutterschaftssehnsucht in den Kreisen der Weib- 


*) Ich möchte hier gleich vorweg bedeuten, daß der obige Satz, wo 
ich den Mangel an Religiosität konstatiert habe, nicht so gemeint ist, daß 
ich es für die moderne Menschheit als außerordentlich wünschenswert er- 
achte, daß sie die fortschreitende Emanzipation von dem kirchlichen 
Dogmatismus mit einem Schlage aufgibt und wieder so reaktionär wird, 
wie es gewisse Kreise vielleicht wünschen möchten. Ich bin dazu weder 
kurzsichtig noch intolerant genug. Aber es gibt eine Religiosität, die un- 
abhängig von dem Zeremonien- und Formenkram der konfessionellen 
Kirche besteht und die ich als eine Summe ganz bestimmter, ethisch wert- 
voller Prinzipien bezeichnen möchte. In diesem Sinne stehe ich nicht an, 
selbst die Existenz eines normgebenden obersten Guten anzuerkennen, in 
das sich mir der überlieferte Gottesbegriff vorteilhaft aufzulösen scheint. 

21° 


324 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


lichkeit, verbunden mit einer verminderten Anziehungskraft und 
Reizvortäuschung auf den Mann. Das Schwergewicht der 
weiblichen Intelligenz ruht — wie auf Seiten des Mannes in 
der geistigen Energie — in dem Überwiegen ihrer sexuellen 
Werte. Damit ist nicht gesagt, daß die Frau lediglich Sexual- 
objekt ist. Mit diesem Grundsatz hat die zum Teil berechtigte 
Emanzipation der modernen Frau radikal gebrochen, allein die 
Sexualität der Frau muß trotzdem unter einem ganz anderen 
Gesichtswinkel betrachtet werden, als die des Mannes. Der 
Mann vermag sein Geschlechtsempfinden seiner Persönlichkeit 
unterzuordnen; die Persönlichkeit der Frau dagegen besteht 
in ihrem mehr oder minder ausgeprägten Geschlechtsgefühl. 
Die Sexualität des Mannes ist peripher, die der Frau hingegen 
zentral, derart, daß allem, was neben den Bekundungen ihrer 
Geschlechtsempfindung einherläuft, mag es nun künstlerische, 
wissenschaftliche oder rein mechanische Beschäftigung sein, 
eine sekundäre Bedeutung zukommt. Der grandiose Prozeß, 
als der sich die weibliche Geschlechtsreife bekundet, die Art 
und Weise, in der sich bei einer Frau die erwachenden Sinne 
äußern, bis zu dem Moment hinauf, der den Höhepunkt im 
Leben jedes einzelnen Weibes bedeutet, der Mutterschaft, deuten 
auf eine ganz andere psychische und auch körperliche Kon- 
stitution, wie sie beim Manne vorliegt, und geben bündig 
darüber Aufschluß, auf welcher Seite die größte Wertkomponente 
der Frau zu suchen ist. Obwohl diese Tatsachen unumstöß- 
lich feststehen, hat der männliche Geist der letzten Epoche die 
natürliche Begabung der Frau, ihre angeborene geschlechtliche 
Intelligenz, zu Gunsten einer fremden, erworbenen, die männ- 
lichen Qualitäten nachformenden Anlage zurückgedrängt. Es 
ist ganz falsch, den Frauen vorzuhalten, sie hätten ihre sexuelle 
Entwertung selbst verschuldet. Die Schuld liegt vielmehr auf 
Seiten des Mannes, der so verweichlicht und effeminiert ge- 
worden ist, daß er nicht mehr das gesunde und sexuell voll- 
wertige Weib, sondern den halbfertigen Typus der Androgyne, 
oder das andere Extrem, die Dirne, zu seiner Ergänzung braucht. 
Ich habe seiner Zeit in einem Aufsatz über die »problematische 
Frau: den Ausspruch getan, daß das Programm der Moderne 
in der Erziehung des Weibes zum Mannweib oder Halbweib 
gipfelt. Es ist leicht begreiflich, daß die Frau, deren Energie 
in allen Fällen eine unselbständige, erworbene ist, die Tendenz 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 325 


zu einer solchen Erziehung zeigt, und daß die äußeren Um- 
stände die sexuelle Entwertung nach Tunlichkeit begünstigen. 
Zufolge der schwierigen wirtschaftlichen Lage ist eine große 
Anzahl von Mädchen, die keinerlei pathologische Anlagen in 
sich vereinigen müssen, genötigt, sich dem Berufsleben zu 
widmen und dadurch indirekt eine vorzeitige Entwicklung in 
körperlicher, besonders aber in sexueller Hinsicht, herbeizu- 
führen. Das Berufsleben der Frau hat neben den vielen Vor- 
teilen, die es hauptsächlich den minderbemittelten Schichten 
zubringt, eine partielle Zerstörung des wertvollsten Bestandes 
weiblichen Empfindungslebens nach sich gezogen. Durch das 
Berufsleben und die damit verbundene Berührung der jungen 
Mädchen mit dem nackten, brutalen Tatsachenleben ist vielfach 
das weibliche Schamgefühl und die daraus resultierende sexu- 
elle Bescheidenheit verloren gegangen. Die Zertrümmerung 
des weiblichen Schamgefühls aber ist das erste und wichtigste 
Moment der sexuellen Entwertung, denn alles Übrige, der 
Zynismus dem werbenden Manne gegenüber, die Ausbeutung 
der eigenen sexuellen Talente zu wirtschaftlichen Zwecken und 
schließlich die Mißachtung der Mutterschaft, ergeben sich nur 
als Folgezustände der mangelnden weiblichen Scham. Damit 
ist jedoch nicht gesagt, daß die Frau nicht im Berufsleben 
stehen dürfte, denn dessen bin ich mir wohlbewußt, ohne die 
berufstüchtige Frau ist eine Entwicklung zukünftiger Kultur nur 
schwer oder überhaupt nicht zu denken. Um was es sich hier 
handelt, sind die Umstände, die den Beruf für die Frau augen- 
blicklich zu einer Kalamität machen und die allein einer durch- 
greifenden Reform bedürftig erscheinen. Gegenwärtig liegen 
die Dinge so, daß der im öffentlichen Erwerbsleben stehenden 
Frau als ein Überbleibsel einer rückschrittlichen Periode ein 
gewisses Odium anhaftet, wenn man nicht gerade den Lehr- 
stand als den einzigen von dieser allgemeinen Mißachtung aus- 
nehmen will. Aber das Geschäftsmädchen ist in bürgerlichen 
Kreisen ebensowenig geachtet, wie die gewerblich tätigen un- 
verheirateten Mädchen oder die Angehörigen der dienenden 
Klasse. Man setzt es hier als selbstverständlich voraus, daß 
Gewerbstüchtigkeit identisch mit teilweiser Moraluntüchtigkeit 
ist, und in der bürgerlichen Rangeinteilung stehen die im kauf- 
männischen und in gewerblichen Berufen angestellten Mädchen 
gleich hinter den Schauspielerinnen, Künstlerinnen, Tänzerinnen, 


326 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


die selbst wiederum nur als die Übergangsstufe zur Prostitution 
angesehen werden. Eine Heirat zwischen einem Manne aus 
wohlhabender bürgerlicher Familie und so einem kleinen 
Kontormädchen wird heute genau so als Mesallianz empfunden, 
wie in höher gestellten Kreisen die Verbindung eines Aristo- 
kraten mit einer Bürgerlichen. Mädchen, die im Berufsleben 
stehen, sind demzufolge Freiwild und werden auch als solches 
von der männlichen Lebewelt betrachtet. Man liebt sie für 
Verhältnisse, man bemüht sich, ihnen nach allen Regeln der 
Kunst die immerhin vorhandene Scham zu zerstören, und man 
läßt sie, wenn sie durch eine Reihe von Händen gegangen 
sind, vorzeitig verblühen und verwelken oder schlimmstenfalls 
der Prostitution anheimfallen. Im Kampfe gegen eine solche 
Behandlung entwickelt sich das vernunftbegabte Weib leicht 
über die ihr gesteckten Grenzen und männliche Instinkte ent- 
falten sich auf Kosten anderer, die die Natur als für das Weib 
geeigneter vorgesehen hat. Die Frauenemanzipation ist eine 
naturnotwendige Folge überlebter, bürgerlicher Vorurteile und 
männlicher Minderwertigkeit, die das sexuell vollwertige Weib 
nicht begreift und an der sexuell Halbfertigen ein perverses 
Wohlgefallen findet. So ist es leicht verständlich, daß die Frau 
in Kenntnis der Bedingungen, die ihm beim männlichen Ge- 
schlecht die meisten Chancen geben, sich immer mehr und 
mehr von ihrer Passivität loslöst und dem Ideal des Mannes, 
das androgynisch ist, sich nach Tunlichkeit zu nähern sucht 

Das moderne männliche Geschlecht ist autoerotischer 
als zu früheren Zeiten veranlagt und daraus erklärt sich wohl 
auch seine erschreckende Energielosigkeit, seine Unproduktivität 
und sein Hang zu sexuellen Tagträumen, der sich namentlich 
in der Literatur der jüngsten Periode so deutlich ausspricht. 
Auch darin bekundet sich wiederum der feminine masochis- 
tische Zug unserer Zeit, sofern Autoerotismus immer mit einer 
masochistischen Konstitution Hand in Hand geht. Dieser all- 
gemeine Autoerotismus erklärt den vorerwähnten Abscheu vor 
dem monogamen Verhältnis und das Hinneigen zur Prostitution 
bezw. zu Umständen, die einer solchen in verschleierter Form 
entsprechen. Er ist eine Umkehrung der Eigenschaften, die das 
Genie der Prostitution in die Arme treiben und es, zum großen 
Teil wenigstens, unfähig für eine dauernde legitime Ehe machen. 
Das künstlerische Genie heftet sich an die Prostitution, weil 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 327 


es seine Energie auf anderem Gebiete festlegt und das Liebes- 
verhältnis nur als eine erholungsreiche Pause empfindet. Der 
Autoerotiker haßt das monogame Verhältnis, weil er seine 
Kräfte dafür nicht ausreichend fühlt und weil jedes Verhältnis 
zu einer Frau nur einem Fluchtversuch vor dem eigenen »Ich« 
gleichkommt. Dieses Versteckspielen vor dem eigenen Ich 
wiederholt sich aber notgedrungen immer bei einem anderen 
Weibe, weil sich der Autoerotiker nirgends vor seinen Phobien 
sicher fühlt. Polygamie ist also im Grunde nichts anderes 
als die Suche nach Lösung eines schwerwiegenden monosexu- 
ellen Konfliktes und beweist, wo es sich nicht um das Gefühls- 
leben eines über den Durchschnitt begabten Menschen handelt, 
Mangel an innerer Harmonie, ein ungesundes, entartetes Trieb- 
leben. Der harmonische Mensch kann nicht anders als 
ineinem monogamen Verhältnis leben. Weil die Sexualität 
des Mannes eine periphere ist, braucht er die weit stärkere 
richtunggebende des Weibes als notwendiges Komplement 
und kann sich unter normalen Bedingungen nur von einem 
sexuell vollwertigen Weib dauernd angezogen fühlen. Das 
offenbart sich schon in dem bloßen Geschlechtsverkehr, wo 
die starke Sexualität des Weibes gleichsam die Bedingung für 
die produktive und längere Zeiträume überdauernde Liebe des 
Mannes ist. Der Mann, der selbst ein Rassemensch ist, wird 
vielleicht zu zwanzig Prostituierten gehen, aber nur ein einziges 
Weib für Jahre hinaus lieben; und er wird auch den Wunsch 
haben, nur in diesem einen Weibe sich fortzupflanzen. Denn 
der Rassemensch hat ein instinktives Gefühl für sexuelle Voll- 
wertigkeit und vor allem für die Umstände, die einer Fort- 
pflanzung seines Wesens und seiner Persönlichkeit günstig 
erscheinen. Daß die Männer von heute auf die echt weib- 
liche Frau mit zu wenig Achtung herabblicken und sich 
lieber für die Halbwelt und die Mannweiber begeistern, liegt 
darin, daß die moderne Kultur Vollmenschen nicht in ge- 
nügender Anzahl aufbringt. 

Ich habe hier versucht, auf die verhängnisvollen Folgen 
des Berufslebens für die Entwertung des Weibes in sexueller 
Hinsicht hinzudeuten, und möchte mich nun noch ein wenig 
mit der sexuellen Entwertung der verheirateten Frau 
beschäftigen, die ebenfalls in nicht geringerem Maße als bei 
dem ledigen Mädchen vorhanden ist. Der Höhepunkt, den die 


328 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Frau in ihrem Geschlechtsleben erreicht, liegt in unmittelbarer 
Nähe ihrer ersten Mutterschaft, und die Zeit, die dieser voran- 
geht, ist, wenn es sich um die Abwicklung des Mutterschafts- 
aktes unter normalen Bedingungen handelt, die glücklichste im 
Leben des Weibes. Das Weib muß also sich aus Liebe und 
mit vollem Bewußtsein der Konsequenzen, ja noch viel mehr, 
mit direkter Anstrebung des Kindes hingegeben haben. 
Selbstverständlich werden alle diese Bedingungen nur bei einem 
intelligenten, körperlich und geistig ausgereiften Weibe in vollem 
Umfange erfüllt werden können. Der Wille zur Mutterschaft 
kann hierbei auch unabhängig von einem ehelichen Verhältnis 
einhergehen. Er kann so stark ausgeprägt sein, daß ein Weib 
selbst die Schwierigkeiten der außerehelichen Schwangerschaft 
auf sich nimmt, nur um dem in ihr lauten Naturgesetz Genüge 
zu leisten. Adele Schreiber, die bekannte Vorkämpferin der 
Frauenrechte, hat neulich in einem Aufsatze ihres großen 
Sammelwerkes »Mutterschaft« auf den hohen Prozentsatz hin- 
gewiesen, den gerade die intelligente weibliche Bevölkerung 
zum Kontingent der unehelichen Mütter stellt. Eine vernünftige 
Konsequenz, die wir im Verein mit der Autorin dieser Fest- 
stellung angliedern möchten, ist das Verlangen nach einer 
Statistik, in der der Grad der Intelligenz und der körperlichen 
Leistungsfähigkeit unehelicher Kinder, die von intelligenten 
Eltern stammen, zahlenmäßig ersichtlich ist. Wir glauben, daß 
sich dadurch mancherlei in den Anschauungen zu Gunsten der 
unehelichen Kinder verschieben würde. Uneheliche Mutterschaft 
ist nicht selten ebenso eine Bekundung sexueller Vollwertigkeit, 
wie das Überhandnehmen der sterilen Verhältnisse der ge- 
werbsmäßigen Prostitution für eine viel umfangreichere sexuelle 
Entwertung. Die unehelichen Mütter stehen aber unter Um- 
ständen auch viel höher als viele andere, die in einem legitimen 
Verhältnis leben und dennoch, oder vielleicht gerade darum, 
es scheinbar nicht mehr für nötig halten, ihre wertvollen sexu- 
ellen Anlagen wie früher zu pflegen. Die sexuelle Entwertung 
der Frauen in der Ehe gehört mit zu den häufigsten geheimen 
Gründen, warum ein solches Verhältnis unverhofft rasch in 
Brüche geht, und warum die meisten Ehemänner nach mehr- 
jähriger Ehe wiederum geschworene Anhänger des Junggesellen- 
lebens werden. Man hat in neuerer Zeit dafür plädiert, daß 
die Männer in jungen Jahren heiraten und zum Mindesten eine 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 329 


gleichaltrige oder noch besser eine ältere Genossin nehmen 
sollen, weil aus solcher Verbindung die besten, mit ausnehmender 
Lebenskraft und Intelligenz begabten Kinder hervorgingen. 
Ohne diese Hypothese auf ihre Berechtigung, bezw. Leicht- 
fertigkeit untersuchen zu wollen, scheint der Mann wertvoll erst 
nach Vollendung seiner geistigen und körperlichen Reife, also 
nicht vor dem sechsundzwanzigsten Lebensjahre zu sein. Die 
sexuelle Reife, als vollendeter Zustand genommen, tritt aber in 
der Regel viel später als um das sechsundzwanzigste Jahr 
еіп. Sie fällt am häufigsten zu Beginn des vierten 
Decenniums des männlichen Lebensalters. Verhältnisse, die 
sich in dieser Zeit anbahnen, sind infolgedessen von ungleich 
längerer Dauer und von einer viel fruchtbareren Intimität 
für beide Teile, weil sie schwerer geschlossen werden 
und zufolge des gesteigerten Verantwortlichkeitsgefühls sich 
auch schwer lösen. Ist aber die Ehe in einem Zeitpunkt 
vor der vollendeten sexuellen Reife des Mannes (ich be- 
merke hier noch einmal zur Vermeidung aller Mißver- 
ständnisse, daß ich darunter nicht die bereits in ein früheres 
Stadium fallende Pubertät verstehe), geschlossen worden, 
dann nimmt die Frau eine schwierige Aufgabe auf sich, der 
sie, wenn sie sexuell über- oder nur halbwertig ist, nicht ge- 
wachsen sein wird. Dasselbe Unfertige, halb Kindliche, halb 
Dirnenhafte, die Bekundung männlichen Geistes, die den 
gährenden Jüngling begeistern konnten, werden in einer leicht- 
fertig geschlossenen Ehe früher oder später zur Qual des reifen 
Mannes. Ich habe eine große Anzahl derartiger Ehen gesehen, 
die überspannte Jünglinge mit Überweibern geschlossen haben. 
Sie sind nach kurzem Bestand in Brüche gegangen. Das Weib 
muß den Mann in der Ehe fesseln, sie muß ihm alles bieten 
können, worauf er in seinem sexuellen Leben durch die Ent- 
schließung zu einem monogamen Verhältnis verzichtet. Daß, 
um bildlich zu sprechen, eine Frau, die dem Manne im Ehe- 
bett ein Kapitel über die Simmelsche Philosophie liest, oder 
ihm an ihrem eigenen Geschlechtsleben das Wesen des Hirsch- 
feldschen Hermaphroditismus erklärt, zur Qual werden kann, 
darüber dürfen sich auch die Anhänger der Emanzipation nicht 
im Unklaren sein. Aber das sind ja Extreme, mit denen wir, 
Gott sei Dank, nicht immer zu rechnen haben, und selbst in 
der heutigen Zeit, soviel an ihr auszusetzen ist, gehören sie 


330 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


noch immer zu den Ausnahmeerscheinungen, denn die Ange- 
hörigen dieser „intellektualen“ Kaste begeistern sich lieber für 
das freie Eheideal und verabscheuen die monogame Ehe. 
Aber selbst die Ehe zwischen einer sexuell vollwertigen 
Frau und einem ebensolchen Manne kann durch die allmählich 
eintretende sexuelle Entwertung der Frau in Brüche gehen. Die 
Frau streift in der Ehe nach und nach alle Scheu vor dem 
Manne ab. Sie entwickelt sich eben auf der einen Seite zu 
seiner reinen Maitresse und suggeriert ihm auf diese Art und 
Weise ein Zusammenleben, das sich schließlich in Nichts von 
einem Aufenthalt im Bordell unterscheidet; oder sie wird zu 
einer so nüchternen und hausbackenen Gefährtin, daß der 
ganze Reiz aus früheren Tagen verblaßt und das Gegenteil 
der Liebe, die Gleichgültigkeit, sich entwickelt. Diese Art der 
sexuellen Entwertung nach der einen oder anderen ‚vorge- 
schilderten Seite hin, ist nicht durch die Verfeinerung der 
Kultur, durch die Bekundung männlicher Sitten bewirkt, sondern 
sie wird allein vom Weibe verschuldet und ist wohl im Inte- 
resse der Erhaltung der Monogamie auf das tiefste zu beklagen. 
Frauen, die vor der Ehe und bis zu ihrer ersten Mutterschaft 
in jeglicher Beziehung als wertig angesprochen werden mußten, 
entwerten nach glücklich verlaufener Schwangerschaft auffallend 
rasch, lassen ihr eigenes Sexualleben zufolge der allgemeinen 
Trägheit verdämmern, werden nachlässig und unrein und er- 
sticken den Mann durch die ständigen Vorstellungen ihrer 
kleinlichen Sorgen und Launen. Die Tragödie der Jungfrau ist 
ihre Verkümmerung zur alten Jungfer, was umsomehr zu be- 
klagen ist, wenn es sich um Mädchen handelt, die junge, 
kräftige und gesunde Frauen und Mütter hätten abgeben können. 
Die Tragik der verheirateten Frau liegt sehr oft in ihrer Selbst- 
erniedrigung zur Kokotte oder zu einer lästigen Ehebürde und 
„Nur-Gebärmaschine“. Eine solche Frau altert wider die 
natürlichen Bedingungen auffallend rasch, die nachfolgenden 
Schwangerschaften haben nicht immer die besten Kinder zur 
Folge, und der Mann, der bei ihr nichts mehr findet, löst sich 
von ihr, um seine sexuellen Bedürfnisse außerhalb des Hauses 
zu tragen. Dadurch kommt es zur bekannten, im obszönen 
Volkswitz am treffendsten charakterisierten moralischen Ent- 
wertung der Ehemänner, zur Einschleppung der Geschlechts- 
krankheiten ins Ehebett und vielfach zur völligen Zerrüttung 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 331 


der Ehe und häuslichen Katastrophen, die nur zu oft selbst 
für die unschuldigen Kinder verhängnisvoll werden. Dieser 
sexuellen Entwertung der Frauen durch eigenes Verschulden 
in der Ehe ist von außen nicht abzuhelfen. Auch der tüchtigste 
Hausarzt vermag hier nichts auszurichten, die Ehegatten müssen 
eben das Joch weiter schleppen. Deshalb ist die Institution 
der Probeehen, die in Amerika eingeführt wurde, und von der 
wir noch nicht vernommen haben, ob und wie sie sich bewährt 
hat, im Prinzip durchaus nicht verwerflich. Hat ein Mann ein 
Mädchen gefunden, das ihn als sexuell vollwertig anzieht, 
dann wird eine solche Probeehe am leichtesten ergeben können, 
ob ein Bund fürs Leben wünschenswert und auch im Sinne 
der Nachkommenschaft förderlich wäre. Der Mann müßte ein 
Recht besitzen, vor allem abzuwarten, von welcher Art die tief- 
greifenden Veränderungen im Gefühlsleben der Frau unter dem 
Einfluß der Schwangerschaft sein würden, und ob sich aus 
ihnen eine Gefährdung des günstigen Zusammenlebens auch 
auf sexueller Basis ergibt. Instinktiv üben das bereits jene 
Paare, die freiwillig ihrem Liebesverhältnis ein Kind ent- 
sprossen lassen, das sie dann in die spätere Ehe mitnehmen. 
Die Erfahrung hat auch bestätigt, daß gerade diejenigen Ehen, 
die trotz oder neben dem Vorhandensein eines Kindes ge- 
schlossen wurden, sich in der Mehrzahl als die glücklichsten 
erwiesen haben. Leider finden jedoch heute die meisten Ver- 
hältnisse, wo bereits ein Kind auf dem Wege ist, einen gewalt- 
samen Abschluß dadurch, daß das junge Paar mit Hinblick 
auf die gesellschaftliche Moral gezwungen wird zu heiraten, 
bevor noch das Kind zur Welt kam und die Folgen der über- 
dauerten Schwangerschaft an dem Mädchen sich beobachten 
lassen. Gerade das bereitet in vielen Fällen die unglücklichen 
Ehen vor, indem minder wertvolle weibliche Elemente es direkt 
darauf anlegen, sich schwängern zu lassen, um auf diese Weise 
an den Mann zu kommen. Das Gesetz zum Schutze der un- 
ehelichen Mutterschaft müßte so gehalten sein, daß bei Wahrung 
aller Interessen des Kindes der Mann trotzdem nicht empfind- 
lich an Ehre und Vermögen geschädigt wird. Würde das 
Gesetz es vorsehen, daß das Kind eo ipso, von dem ersten 
Momente seiner Geburt an, nicht den Namen der Mutter, 
sondern den des Schwängerers führt, wodurch selbstverständ- 
lich auch die Pflichten der Alimentation festgestellt werden, 


332 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


dann würden manche Mädchen und die Eltern dieser Mädchen 
darauf verzichten, das Paar in eine Ehe hineinzutreiben, die 
sich von vorneherein als unglücklich erweisen muß. Dieser 
Vorschlag der Namensnennung des Kindes nach dem Schwängerer 
ließe sich im Übrigen auch dann noch durchführen, wenn man 
bedenkt, daß ein großer Teil der Geschwängerten den Vater 
garnicht anzugeben weiß. Für solche Fälle würde dem Kinde 
von behördlicher Seite ein anderer als der Name der Mutter 
zugelegt werden, der dem Kinde gleichzeitig eine selbständige 
Existenz verbürgen und der unehelichen Mutter es ermöglichen 
würde, besonders wenn sie im Öffentlichen Berufsleben steht, 
leichter ihre sogenannte Verfehlung zu verbergen. Diese Ver- 
fügung könnte unbeschadet den sonstigen Verhältnissen zwischen 
Mann und Weib bestehen, denn in Fällen, wo es sich um 
wahre Zuneigung zwischen zwei Menschen, die auch sonst 
zueinander passen, handelt, würde der Mann nachträglich das 
Verhältnis und mithin auch das Kind trotzdem legitimieren. 

Zum Schluß möchte ich bemerken, daß den in dem obigen 
Aufsatz ausgesprochenen Gedanken lediglich ein Konstatierungs- 
wert zukommt. Ich möchte nicht die Notwendigkeit eines 
„Revirement social“ betonen, ohne unsere Kultur als genügend 
stark zu bezeichnen, alle diese Schäden aus sich selbst zu 
beheben. Auch die so beklagte sexuelle Entwertung der Frau 
gehört im Grunde genommen nicht zu den generellen Er- 
scheinungen unseres Zeitalters, aber der Hinweis auf sie ist 
berechtigt zur Verhütung, daß sie typische Bedeutung gewinnen 
könnte. Denn, wenn es einmal soweit ist, daß wir uns sagen 
müssen, unsere Frauen und Mädchen sind tatsächlich sexuell 
entwertet, dann haben wir von einem gegenwärtigen und zu- 
künftigen Geschlechte mit Hinsicht auf Kultur und Geistigkeit 
auch nichts mehr zu hoffen. Wir aber befinden uns trotz der 
Sterilität an Lebenskraft und Produktivität immerhin noch nicht 
jenseits der Grenze unseres nationalen Aufstieges. 


8 8 
EI 





DER KAMPF DER GESCHLECHTER. 
Von Dr. WILHELM STEKEL, Nervenarzt in Wien.*) 


р“ Liebe ist die Poesie der Poesielosen. Wo erotische 

Untertöne mitschwingen, da stellt sich leicht jene Stim- 
mung ein, die wir poetisch zu nennen pflegen. Und verliebte 
Leute sind immer poetisch. Sie wandeln entzückt in den 
rosigen Dämmerungen eines Traumlandes, dem alle Realität so 
fern und unmöglich erscheint, weil der Traum für sie Wirk- 
lichkeit ist. Der echte Poet kann, auch ohne verliebt zu sein, 
aus den kleinsten Erlebnissen des Alltags Stimmungen destil- 
lieren. Er sieht überall Probleme und Konflikte, wo die anderen 
Sterblichen graue Nüchternheit konstatieren. Die Liebe sieht 
keine Probleme und nährt sich von den Stimmungen der un- 
befriedigten Sehnsucht. 

Am Anfange einer glücklichen Ehe steht die Liebe. Glück 
heißt fremde Interessen zu den seinigen machen. Das kann 
eigentlich nur der Verliebte, nicht mehr der nur Liebende. Der 
Verliebte identifiziert sich mit dem Objekt seiner Liebe. Der 
Liebende hat noch einen Rest seines Ich gewahrt. Er hat 
noch eigene Interessen. Jede Ehe gründet sich auf irgendeine 
Interessengemeinschaft. Wenn es auch die erotische Beziehung 
ist. Sie ist ja auch eine Interessengemeinschaft — und nicht 
die unwichtigste. 

Es ist schon vielen Beobachtern aufgefallen, daß die 
Liebesehen gerade nicht die glücklichsten sind. Oder nur in 
den seltensten Fällen. Woher mag das kommen? Man sollte 
glauben, daß der Instinkt der sicherste Führer für die Liebe 
ist. Ja — für die Liebe ist er der beste Führer. Aber Liebe 
und Ehe sind eben nicht identisch. Wir müßten erst das 
Rätsel der Liebe erklärt haben. Man lächle nicht. Es gibt 
noch mehr Rätsel in der Alltagswelt als wir glauben. Schon 


*) Aus »Das liebe Ich.< Berlin 1913. Verlag Otto Salle 


334 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


das Thema der Liebeswahl fordert den Scharfsinn aller Psycho- 
logen heraus. Erst das ganze Problem der Liebe. 

Was für sonderbare schematische Vorstellungen haben wir 
bisher von der Liebe gehabt! Sie trug zwar immer etwas 
Rätselhaftes und Unerklärliches an sich. Sie trifft den Menschen 
wie ein Blitzschlag; sie macht ihn blind für alle Strahlen der 
Erkenntnis und taub für alle Stimmen der Vernunft. Ja, Lieben 
heißt Fühlen — und wo Gefühle herrschen, wird der Intellekt 
ein hilfloser Sklave. Nun sind wir Menschen derart geartet, 
daß wir nicht zugeben wollen, daß wir diese oder jene Hand- 
lung aus einem dunklen und unverständlichen Gefühl heraus 
begehen. Wir suchen immer intellektuelle Gründe, »Ratio- 
nalisierungen« für unser Gefühlsleben. Wir durchsetzen unsere 
Gefühle mit Denkvorgängen. So entdeckt der Liebende an 
dem geliebten Objekt alle möglichen und unmöglichen Vor- 
züge, um seine Liebe vor sich selbst zu entschuldigen. Diese 
Vorzüge brechen in sich wie ein Kartenhaus zusammen, wenn 
der Affekt der Liebe schwindet und das geschärfte Auge des 
Hasses die Fehler vergrößert, die bisher so leicht und so gern 
übersehen wurden. 

Ich spreche schon von Haß und habe erst von Liebe 
gesprochen. Gibt es überhaupt eine Liebe, die zugleich hassen 
kann? 

Es gibt im menschlichen Leben keinen Affekt, der nicht 
durch einen Gegenaffekt, keinen Trieb, der nicht durch einen 
Gegentrieb gebunden und im Gleichgewichte gehalten wird. 
Am schönsten läßt sich diese Erscheinung an einem Beispiele 
aus der organischen Welt erklären. Unsere Gesundheit wird 
garantiert durch ein System von Blutdrüsen, von denen mehrere 
die Rolle von Antagonisten spielen. Die eine Drüse sondert 
einen Stoff ab, der zum Gift würde, könnte er nicht vom Stoffe 
einer anderen Drüse unschädlich gemacht werden. Entfernt 
man eine der Drüsen, so entsteht infolge der übermäßigen 
Absonderung des einen Stoffes ausnahmslos eine Erkrankung, 
es sei denn, daß eine dritte Drüse hilfreich beispringt und die 
Rolle des Antagonisten übernimmt. Ähnlich ergeht es uns 
auch mit unseren Trieben. Wie ein Uhrwerk greifen die ver- 
schiedenen Triebe ineinander. Jedem Trieb entspricht ein 
Gegentrieb, der ihn in: Schranken hält. Es ist ein ewiges 
Auf- und Niederwogen, wobei bald die einen, bald die anderen 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 335 


Triebe die Oberhand erhalten. Alles im menschlichen Leben 
ist »bipolar«*). 

Es gibt also keine Liebe ohne Haß, und es gibt keinen 
Haß ohne Liebe. Der Gegensatz von Liebe ist nicht Haß, 
sondern Gleichgültigkeit; der Gegensatz eines Gefühls kann 
nur die Gefühllosigkeit sein. Die Abneigung, die affektativ 
gefärbt ist, dient häufig nur dazu, eine Neigung zu verbergen 
und sich gegen eine Neigung zu schützen. Liebe und Haß 
müssen Hand in Hand gehen und wir müssen den Menschen, 
den wir lieben, zugleich hassen, weil dieser Haß schon in der 
Natur der Liebe begründet ist. »Plus on aime une maitresse, 
plus on est pres de la hair« — sagt Rochefoucauld. 

Freilich ist dabei eines zu bedenken. Dieser Haß wird 
sich nie offen zeigen. Er wird unterirdisch sein Wesen treiben, 
sich anstauen, sich in Träumen austoben, bis er bei irgend- 
einer Gelegenheit riesengroß und übermächtig hervorbricht, so 
daß wir fassungslos und überwältigt diesem Phänomen gegen- 
überstehen, und alle unsere intellektuellen Erkenntnisse der 
tosenden Urgewalt des Affektes gegenüber vollkommen versagen. 


Man wird nach diesen Ausführungen besser verstehen, 
wenn ich betone, daß zwischen beiden Geschlechtern ein un- 
aufhörlicher Kampf besteht, den ich den »Liebeskampf« nenne. 
Die stärkste Tendenz des Menschen ist, wie Nietzsche es sehr 
treffend betont, sein Wille zur Macht. Jeder Mensch will 
herrschen, jeder will König sein, wenigstens in seiner Jugend, 
ehe die unbarmherzige Zeit seinen Rücken gebeugt und ihn 
ans Dienen gewöhnt hat. Diese Herrschsucht der Menschen 
zeigt sich nirgend so deutlich, als im kleinen Kreise. Man 
betrachte einmal, welch erbitterter und lächerlicher Kampf in 
kleinen Verbänden um die Herrschaft geführt wird. Wer nicht 
daheim herrschen kann, versucht es draußen in der Welt, er 
wird Obmann eines Vereines und erliegt schließlich der 
Herrschsucht seiner Freunde. 

Ich habe Familientragödien gesehen, die ihre Wurzeln in 
diesem Willen zur Macht haben. Und welche kleinliche An- 
lässe! Ich erinnere mich besonders eines Falles, in dem eine 


*) Ich habe dies Gesetz der Bipolarität in meinem Buche »Die 
Sprache des Traumes« (Verlag J. F. Bergmann, Wiesbaden, 1911) eingehend 
begründet. 


336 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Schwiegermutter und eine Schwiegertochter gemeinsam den 
Haushalt führen sollten. Ein erbitterter Kampf hatte sich 
zwischen den beiden Frauen entsponnen, wer dem Dienst- 
mädchen etwas »anzuschaffen« hätte. Ein banales Beispiel. 
Aber es illustriert besser meine Behauptungen, als das Er- 
habenste, was ich finden könnte. Hatte die junge Frau be- 
stimmt, der Waschtag werde am Dienstag stattfinden, sah die 
alte Frau darin eine Umgehung ihrer Herrscherrechte und setzte 
den Freitag fest. Hatte die alte Frau bestimmt, daß morgen 
Erdäpfelsuppe und Nierenbraten zu Tische kommen sollte, so 
empörte sich die junge dagegen und versuchte eine Nudel- 
suppe und ein Rindfleisch durchzusetzen. Beide Aufträge 
prasselten auf das Haupt des Dienstmädchens, und der Sohn, 
der zugleich Gatte war, sollte die oberste Instanz spielen. 
Man wäre versucht, über diese kleinen Komödien zu lächeln, 
wenn sie sich nicht so häufig in Tragödien verwandeln würden. 
Die Junge ging an diesen Kleinigkeiten zugrunde. Sie ver- 
blutete innerlich, als sie aufhörte, ihrem Mann davon Mitteilung 
zu machen. Sie wollte ihn nicht kränken. Warum suchen wir 
immer für die Tragödien des Lebens große heroische Motive? 
Oft führen große Motive zu kleinen Handlungen, und kleine 
Anlässe haben schon die größten Ereignisse herbeigeführt. 
Solchen kleinen Kämpfen opfern edle Herzen ihre besten Kräfte. 
Aber der Kampf ist uns Bedürfnis. Ohne Kampf ist das Dasein 
unmöglich. Wo die Gelegenheit fehlt, kommt es zum Kampfe 
gegen das eigene Ich. Der Wille zur Macht zerschellt meistens 
an diesem steinharten Ich. Selbstbeherrschung lernen die 
Menschen am schwersten. 

Doch kehren wir zu unserem Thema zurück. Der Wille 
zur Macht verläßt den Menschen niemals. Und da er ihn in 
großen Verhältnissen da draußen nicht anwenden kann, so übt 
er ihn im kleinen. Und wenn es nur ein Hund oder Pikkolo 
ist, etwas zum Beherrschen muß jeder Mensch haben. Leider 
werden meistens die Kinder unter dem Vorwande einer guten 
Erziehung die Opfer dieser unausbleiblichen Herrschergelüste. 
Die »gute Erziehung« ist oft genug ein Vorwand, Macht zu zeigen. 

Doch wie weit bin ich von der Liebe abgekommen? Und 
doch, ich war auf dem rechten Wege. Ich wollte nur den Be- 
weis liefern, daß der Mensch, der sich in einen zweiten ver- 
liebt, so verliebt, daß er allen seinen Fehlern gegenüber blind 





ÖFFENTLICHES BEILAGER UND EINSEGNUNG DES EHEBETTES 
(Holzschnitt aus dem Jahre 1483) 


(Zu dem Aufsatz ‚Das öffentliche Beilager‘‘ Seite 342) 


PD L G 
WE e 








Й 


KT E NERA 





HOCHZEIT AUF MAGINDANO (einer der Philippineninseln) im Jahre 1792. 


(Nach,einem auf Grund der Originalzeichnung entworfenen älteren Kupferstich.) 





ÖFFENTLICHES BEILAGER. Kupferstich von PICART. (Um 1720). 
(Zu dem Aufsatz ‚Das öffentliche Beilagrer‘' Seite 342) 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 337 


wird und seine Vorzüge vergrößert, diesen zweiten Menschen 
als seinen Herrscher anerkennt, als einen unbeschränkten Herr- 
scher über seine Gefühle und ihm zuliebe den Willen zur Macht 
aufgibt. Der Liebende unterwirft sich seinem geliebten Objekte. 
Damit ist aber der Wille zur Macht nicht gebrochen, sondern 
nur zurückgedrängt. Der Haß, der sich an diese Unterdrückung 
der Individualität knüpft, wird unter die Schwelle des Bewußt- 
seins gestoßen und dem Lichte des Tages fern gehalten. Aber 
diese Unterwerfung unter den Willen eines zweiten Menschen 
trägt in sich schon den Keim der Empörung. Der Haß nährt 
sich von den kleinen Abfällen der Erkenntnis der Fehler des 
anderen und wird immer feister und stärker, und droht, bald 
die Riegel seines Gefängnisses zu sprengen. Er sucht nach 
Entladung. Und er verbündet sich mit der Herrschsucht und 
führt einen stummen, aber desto erbitterteren Kampf gegen die 
Liebe. Das ist der Grund, daß das Verliebtsein, dieser patho- 
logische Rauschzustand, ein Ende nehmen muß. Wir sind nicht 
geschaffen, immer auf den Höhen der Ekstase zu wandeln. 
Wir brauchen die Tiefen ebenso, wie wir die Höhe nicht ent- 
behren können. Dem Rausche muß die Ernüchterung folgen 
und der Ernüchterung ein neuer Rausch. Ein ewiges Auf und 
Nieder ist das Spiel der Seele und ihrer Kräfte. 

Und nun setzt in der Liebe, mag sie nun zur Ehe führen 
oder nicht, der stille Kampf der Geschlechter um die Herrschaft 
ein. Hier gibt es keine Kompromisse. Es gibt nur ein Ent- 
weder-Oder. Hammer oder Amboß, das ist die Frage einer 
jeden Ehe. In der Ehe findet der Haß neue Nahrung, weil 
der stärkste Hang des Menschen, sein Wille zur Macht, eigent- 
lich der Trieb zur Unabhängigkeit ist. Nicht ohne Grund 
sprechen die Menschen so viel von der Freiheit und bringen 
ihr die schwersten Opfer. Die persönliche Freiheit ist und 
bleibt unser größtes Ideal. Sie ist nur der Ausdruck eines 
Triebes, den man den Unabhängigkeitstrieb bezeichnen könnte. 
Eigentlich ist im Grunde seiner Natur jeder Mensch Anarchist, 
und Stirner hat ein Recht, wenn er vom »Einzigen« spricht. 
Jeder Mensch ist sich der einzige Mensch. Und all die Unter- 
werfung, die die Kultur von uns fordert, das Aufgeben des 
Persönlichen und Unabhängigen, das Einfügen in eine Gemein- 
schaft, all das ist ein Opfer. So ein Opfer ist auch die Ehe! 
Wir opfern unsere polygamen Instinkte zu Ruhm und Frommen 

Geschlecht und Gesellschaft VIII, 8. 22 


338 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


eines Wesens. Wir opfern gern, so glauben wir, aber im 
Innern des Menschen, wo die bösen Triebe (oder wollen wir 
sie nicht lieber die uralten, vielleicht sogar heiligen Urtriebe 
des Menschen nennen?) schlummern, da empört sich ein ge- 
heimes Etwas gegen dieses Opfern der Persönlichkeit, beginnt 
sich des Hasses zu bedienen und bohrt in dunklen, geheimnis- 
vollen Gängen gegen die Oberfläche. 

Und so ist jede Ehe ein geheimer Kampf zwischen Mann 
und Frau. Ein Kampf, der nie an den Stellen ausgefochten 
wird, wo die Gegensätze aufeinanderprallen sollten. Es sind 
Kleinigkeiten, die als symbolischer Ersatz viel wichtigerer 
Kräfte den Sieg bedeuten sollen. Eine glückliche Ehe ist wohl 
diejenige, wo der Kampf mit der völligen Unterwerfung des 
einen Teiles geendet hat. Oder es wird nach vielen müh- 
seligen Kämpfen das Reich des Herrschens für beide Teile 
festgestellt, und so ein Kompromiß geschaffen, eine Art Aus- 
gleich, gegen den aber immer unzufriedene oppositionelle Re- 
gungen revoltieren. In keiner Ehe ruht dieser Kampf gänzlich. 
Die friedlichste Ehe gleicht dem modernen Weltfrieden: sie ist 
ein bewaffneter Friede. Dieser Liebeskampf erklärt uns manche 
rätselhafte Erscheinungen des Daseins. Wir werden sehr 
häufig Frauen bedeutender Männer begegnen, die die Größe 
ihres Mannes nicht anerkennen. wollen und seine schärfsten 
Kritiker sind. Wir werden Männer finden, die eine von aller 
Welt vergötterte Frau, welche gerade die ihre ist, niemals 
schön finden wollen; wir werden sehen, daß Ehen in die 
Brüche gehen, weil sich die Menschen zu viel lieben und 
keiner sich dem andern unterwerfen will. 

Auch auf das soziale Leben überträgt sich dieser Kampf 
der Geschlechter und tobt heute wohl stärker denn je. Wie 
wußte sich die ganze Männerwelt zu empören, als sich die 
Frauen das heilige Symbol der Männlichkeit, die Hose, an- 
maßen wollten! Und wie erbittert kämpfen die Suffragetten 
Londons um das bißchen Macht, das ihnen das Stimmrecht 
verleiht! Der Kampf der Geschlechter hat groteske Formen 
angenommen, seit er sich von der Liebe auf das soziale Gebiet 
übertragen hat. 

Noch wissen wir nicht, was uns die Zukunft bringen wird. 
Das Weib war viel zu lange unterdrückt und mußte gehorchen, 
nun hat sich ein Haß im Laufe der Jahrtausende angesammelt, 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 339 


der mit explosiver Gewalt hervorbricht und alles zerstören will, 
was sich ihm in den Weg stellt. Die Kraft, welche jetzt eine 
Fensterscheibe zertrümmert und einen Policeman vom Pferde 
reißt, ist die angesammelte Kraft von ruhmlosen Vergangen- 
heiten, die nichts als das Märchen eines Amazonenreiches 
überliefert haben. Wie groß müssen diese Frauen im Lieben 
sein, wenn sie so hassen können! Und wie weit sind sie von 
der Erkenntnis, die wir aus unseren Betrachtungen gewonnen 
haben: »Ich hasse dich, weil ich dich so liebe, und ich liebe 
dich, weil ich dich so hasse!« 

Es erhellt aus dem Wesen der Bipolarität, daß dieser 
Kampf niemals enden wird. In diesem Streite kann es weder 
Sieger noch Besiegte geben. Jede Niederlage ist zugleich ein 
Sieg, der den Unterlegenen mit roten Rosen kränzt. Und jeder 
Sieg zahlt sich mit bitteren Tränen. Das ist das uralte Märchen 
von dem Kampf der Götter mit den Riesen. Es ist die Er- 
kenntnis, die mit den Trieben ringt. Und leider hat jeder 
Mensch seine Stunde, da er die Götterdämmerung erleben muß. 
Jeder Liebe, und sei sie noch so groß — ist ein Ende be- 
schieden. Es ist das Zeichen großer Menschen, daß sie sich 
dazu bekennen, große Gefühle in Schönheit sterben zu lassen. 
Es wäre also eine Bedingung für das Glück der Ehe, mit einer 
gewissen Resignation an sie heranzutreten. Oder sollte man 
sich gründlicher für diesen Kampf vorbereiten und sich beizeiten 
gegen sein eigenes Kämpfer-Ich zur Wehr setzen? Seine An- 
sprüche zu einem ehrenvollen Frieden herabstimmen, in dem 
es wahrhaft weder Sieger noch Besiegte gibt? 

Es spielen ja so viele Momente in dieser Frage eine Rolle, 
die ich aus leicht begreiflichen Gründen hier nicht ausführen 
konnte. Daß die erotische Gemeinschaft auch eine Überein- 
stimmung der erotischen Tendenzen verlangt, wäre schon fast 
ein Gemeinplatz, würde er nicht so leicht bei der Frage der 
Ehe vergessen werden. Aber je höher die erotische Kraft sich 
ausdrückt, je stärker ihre Beteiligung in der Ehe ist, desto 
leichter kommt es zu jenem verderblichen Kampfe, den ich zu 
schildern mich bemüht habe. Gerade in den sexuellen Be- 
ziehungen spielt der geheime Kampf der Geschlechter eine 
große Rolle. Ich kenne viele Menschen, welche die Erfüllung 
ihrer Liebe fliehen, weil sie für sie eine vollständige Unter- 
werfung und ein Aufgehen ihrer Individualität bedeuten würde. 

22° 


340 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Hebbel, der geniale Dichter und unübertroffene Psychologe, hat 
das in seinem Erstlingsdrama »Judith« trefflich ausgedrückt. 
Judith, die Holofernes ebenso liebte als sie ihn haßte, sagt 
zu Mirza: 

»Daß er mich mit sich fortzerrte, daß er mich zu sich riß 
auf sein schändliches Lager, daß er meine Seele erstickte, alles 
dies duldetest du? Und nun ich mich bezahlt machen will 
für die Vernichtung, die ich in seinen Armen empfand, nun ich 
mich rächen will für rohen Griff in meine Menschheit hinein, 
nun ich mit seinem Herzblut die entehrenden Küsse, die noch 
auf meinen Lippen brennen, abwaschen will, nun errötest du 
nicht, mich fortzuziehen?« Sie muß Holofernes töten, um ihre 
Schmach zu tilgen. Sie empfindet ihre sexuelle Hingabe als 
Niederlage ihrer Persönlichkeit, sie denkt nur an sich und 
sieht sich »kleiner und kleiner werden, bis sie in Nichts ver- 
„schwindet.«e — — 

Wir werden eine ganze Zeitkrankheit begreiflich finden. 
Wir werden verstehen, daß es Neurotiker gibt, die vor jeder 
Liebe als einer sie bindenden Liebe zurückscheuen, weil sie 
das fremde Imperium fürchten. Die tiefste Ursache vieler 
Störungen der Liebesfähigkeit! 

Sich einem ganz geben, heißt sich aufgeben und sich ver- 
lieren. Ich kenne eine geistig sehr hochstehende Frau, die 
zwei Männern gehört. Der eine läßt sie alle Wonnen der 
Sexualität empfinden. In seinen Armen wird sie zu »Nichts« 
und zerfließt vollkommen. Und sie badet sich — nach ihrem 
Ausspruche — wie in einem Jungbrunnen für Wochen gesund. 
Aber diesen Mann haßt sie und flieht seine Nähe, weil sie 
jede Umarmung als eine Niederlage wertet. Dagegen liebt sie 
schwärmerisch einen Künstler, in dessen Umarmungen sie 
vollkommen kalt bleibt. Da ist sie die Herrscherin und fühlt 
nur die Ekstasen des Herrschens ... 

Dieser Kampf zwischen Erotik und Sexualität, zwischen 
sinnlichem Begehren und geistigem Durchdringem, ist eine 
Zeitkrankheit. Emil Lucka spricht in seinem geistreichen Werke 
von den »drei Stufen der Erotik«: Von der ersten, der rein 
sinnlichen Liebe, der zweiten, der rein geistigen Liebe und der 
dritten Stufe, der Verschmelzung von Sinnlichkeit und ver- 
geistigter Liebe. Dieses dritte Stadium ist die Sehnsucht aller 
höher differenzierten Kulturmenschen. Aber wie wenigen Aus- 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 341 


erwählten ist es beschieden, dies Ideal zu erreichen? Der 
Kulturmensch müßte sich durch eine unendliche Reihe von 
Enttäuschungen zur Erfüllung dieser Sehnsucht durchlieben. 
Es ist wohl der seltenste Zufall, daß eine Ehe diese Erfüllung 
bedeutet. Wo sie es ist, da kann der Kampf schweigen und 
der Haß sich für alle Zeiten zurückziehen. 

Man begreift die Liebestragödien unglücklicher Menschen, 
welche dies Ideal gefunden haben und es nicht besitzen können. 
Man begreift den Liebestod, da das grausame Leben das 
höchste Liebesleben versagt. 

Doch die meisten Menschen müssen ihre Forderungen auf 
ein bescheidenes Maß reduzieren. Sie müssen sich entweder 
mit der erfüllten Sexualität oder mit dem geistigen Bande be- 
gnügen. Sexualität oder Erotik, das ist das Ende unserer 
Irrfahrten nach dem dritten Stadium der Liebe. 

Wie aber in einem solchen Falle über die Schwierigkeiten 
hinwegkommen, wie die gefährlichen Klippen umschiffen, wenn 
der Geist sich gegen den Körper empört, wenn der Körper 
dem Geiste den Gehorsam kündigt? Wie kann in solchen 
Kompromißehen ein Zustand des Friedens zu stande kommen, 
in dem der Kampf der Geschlechter wenigstens scheinbar 
ruht? Hier helfen nur die Selbsterkenntnis und ein reiches 
gemeinsames Feld großer Interessen. Wir ersticken alle in 
einem Sandmeer von Nichtigkeiten. Wir leiden unter Kleinig- 
keiten und verlieren dabei die Fähigkeit, uns über das Große 
zu freuen und es in seiner vollen Größe zu erfassen. 

Das Glück der Ehe beruht auf der Fähigkeit, die klein- 
lichen Objekte beharrlich zu übersehen und seine Kampflust 
auf die Welt einzustellen. Große Ziele machen große Menschen. 
Man verlange nicht alles von der Liebe, man überschätze seine 
Liebe nicht. Die Liebe kann nicht alles leisten, wenn man 
auch geglaubt hat, sie versetze Berge. Eine solche Liebe ist 
sehr selten. Wir sind heroischer Gefühle nicht mehr fähig. 
Die Zeit des Heldentums ist vorüber. Kleine Menschen haben 
auch kleine Gefühle. Allein man kann auch bei kleinen Ge- 
fühlen glücklich sein, wenn man sich bescheidet. Manche 
Ehesuppe wird nicht warm, weil man für ein kleines Feuer zu 
große Töpfe verwendet. 

Den Glücklichen aber, die ihre körperliche und geistige 
Ergänzung gefunden haben, blüht das Leben in seinen reichsten 


342 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Farben. Sie kennen nicht die Demütigungen der Unterwerfung 
und nicht die Triumphe des Herrschens. Sie haben das große 
Wunder vollbracht, zu siegen und zu unterliegen, zu gehorchen 
und zu befehlen. Aus zwei Menschen wurde ein Doppelwesen, 
das alle Möglichkeiten der Zukunft in sich schließt ...... 


8 8 


DAS ÖFFENTLICHE BEILAGER. 
Von Dr. JOHANNES MARR. 


ürde man den volkstümlichen Büchern, die sich mit der 

Schilderung des Mittelalters beschäftigen, glauben, dann 
waren die sittlichen Zustände auf der Frühstufe unserer 
Kultur weit besser, als in unserem Zeitalter, das durch den 
ungeheuren Aufschwung von Wissenschaft und Technik eine 
der größten Epochen in aller Zukunft wohl bleiben wird. 
Namentlich in den Beschreibungen deutscher Sitte und Zucht 
können sich die Verherrlicher des Mittelalters nicht genug tun, 
und heute, hundert Jahre nach der Romantik, erleben wir bei- 
nahe eine ebenso kritiklose Überschätzung der guten, alten 
Zeit wie damals, wo es noch keinen Dampf und keine Elek- 
trizität gab und Deutschland ein uneiniger, zerrissener, von 
tausendfältigen fremden Einflüssen beherrschter Staat war, in 
dem neben Gott und Papst der Korse die wichtigste und aus- 
schlaggebende Rolle spielte. In Wirklichkeit läßt sich die 
Sittlichkeit so grundverschiedener Epochen wie des Mittelalters 
und der Neuzeit miteinander nicht nur nicht vergleichen, sondern 
es ist geradezu lächerlich, Zustände zu preisen, die aus ganz 
anderen wirtschaftlichen und geistigen Bedingungen flossen, 
und die der Ausdruck nicht nur einer anderen Weltanschauung, 
sondern auch einer ganz verschiedenen Rasse waren. Das 
germanische Mittelalter, als ein Gebilde der Junker und Pfaffen, 
hatte die unverdauten Reste antiker Kultur mit heimischer 
Barbarei zu einem Ganzen verschmolzen und seine geringe 
Geistigkeit, sein politischer Krämersinn und seine ethische 
Unzulänglichkeit erklären sich aus diesem chaotischen Durch- 
einander. Mit der Sitte des Mittelalters ist es so wie mit der 
politischen Überzeugung der Neuzeit. Ihr Antlitz ist charakter- 
los, weil zuviel fremde Spuren darinnen herumgewischt haben. 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 343 


Das Leben und Treiben sowohl auf den junkerlichen Burgen, 
als auch in den Robot treibenden Schichten des Landes ist 
ein unsäglich primitives und entbehrt jeder geistigen Perspek- 
tive. Einzig die erotische Gefühlsseite erfährt eine stärkere, 
individuelle Betonung. Aber auch die vereinzelten Äußerungen 
von Persönlichkeitsbewußtsein tragen unendlich rohe Züge, 
indem nämlich alles, was mit der Erotik zusammenhängt, ins 
Hanebüchen-Handgreifliche umgedeutet wird und Sinnlichkeit 
in diesem Zeitalter nichts anderes als einen Triumph der 
nackten Sexualität bedeute. Wenn man sich diese Tatsachen 
vor Augen hält, dann vermag man sich schließlich über gewisse 
Bräuche und sexuelle Gewohnheiten des Mittelalters nicht zu 
wundern, auch wenn sie dem normalen Empfinden des im 
20. Jahrhundert lebenden Menschen widerstreben oder von ihm 
als lächerlich befunden werden, weil ihnen in unserer Vor- 
stellung etwas Unsauberes апһайе Der Grundirrtum aller 
nachträglichen Wertung des Mittelalters liegt darin, daß Men- 
schen mit anderer Bildung und mit einem, bis zur sublimen 
Höhe verfeinerten Geschmack und Reinlichkeitsgefühl Be- 
rührungspunkte mit einer Kultur suchen, in der nach unseren 
Begriffen auch der Stämmling eines uradeligen Geschlechts 
noch ein derber, grobschlächtiger und zynischer Knecht war. Heine 
hat auf diesen Widerspruch in seiner geistreich-boshaften 
„Geschichte der Romantik“ hingewiesen, wenn er dem liebens- 
würdig-sentimentalen Herrn Fouque in seiner naiven Spötterart 
zu verstehen gibt, daß seine eisengepanzerten, von Tapferkeit 
und Edelmut triefenden Ritter in Wirklichkeit recht unangenehme 
und übelriechende Lederhosen unter ihrem Harnisch getragen 
hätten. Die Romantiker alten Schlages und die Romantiker 
des letzten Jahrhunderts, die die mittelalterliche »Großzügigkeit 
der Sitten« neu beleben wollten, waren und sind noch heute 
Operettengestalten.. Es ist dasselbe, wie wenn ein anderer 
geistreicher Epigone die Kultur der Papuas oder der Südsee- 
insulaner für den westlichen Kontinent adoptieren wollte, 

So ein vielbesprochenes Kapitel aus der mittelalterlichen 
Sittengeschichte ist die Eheschließung unserer Vorfahren mit 
allen den Zeremonien, die zum Teil sehr merkwürdig und zum 
Teil nach unseren Begriffen recht abstoßend waren. Dazu 
gehört unter anderem die Sitte des öffentlichen Beilagers, der 
symbolischen Vollziehung des intimsten Liebesaktes vor den 


344 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Augen der umstehenden Verwandten und womöglich eines noch 
recht zahlreich zusammengeströmten Hochzeitspublikums. Dieser 
Brauch hat das ganze Mittelalter hindurch bestanden, und seine 
Abschaffung fällt erst in das siebzehnte Jahrhundert, als 
die Sitten sich im allgemeinen zu ändern und zu verfeinern 
begannen. Gänzlich ist ja der Brauch des öffentlichen Bei- 
lagers bis auf den heutigen Tag noch nicht erloschen, und 
manche Hochzeitsscherze auf dem platten Lande deuten, wie 
wir noch sehen werden, auch heute noch auf die »glorreiche«, 
alte Zeit zurück. Im Mittelalter jedoch war das öffentliche 
Beilager ein Teil der Hochzeitszeremonien überhaupt und 
selbstverständlich ist es keinem Menschen eingefallen, irgend 
etwas Besonderes oder gar Anstößiges darin zu finden. Geht 
man dieser zweideutigen Sitte auf den Grund, so entdeckt 
man hier eine zweifache Wurzel. Zunächst die lose Form der 
mittelalterlichen Eheschließung an und für sich und dann das 
Beispiel der hochadeligen und fürstlichen Kreise, bei denen 
das öffentliche Beilager erst seine historisch interessante und 
ausgedehnte Bedeutung gewann. Die mittelalterliche Form der 
Eheschließung war eigentlich sehr einfach. Mann und Weib 
verlobten sich und räumten von dem gleichen Moment an 
einander alle wünschenswerten Gattenrechte ein. Staat und 
Kirche hatten ursprünglich sehr wenig mitzureden. Das Treu- 
versprechen, das sich das junge Paar gab, galt als das richtige 
Band, dem die Kopulierung in der Kirche oft erst nach Monaten 
oder Jahren nachfolgte. Für das mittelalterliche Eherecht be- 
standen keine bestimmten Formen und so kam es, daß sich 
hier mitunter die größten Schwierigkeiten und Übelstände 
geltend machten. So wurden Winkelehen, Doppelehen, Ehen 
zwischen Blutsverwandten, unmündigen Kindern und was 
dergleichen mehr ist, geschlossen, und die Kirche hatte dann 
unter Umständen eine recht schwierige Entscheidung bezüglich 
der Gültigkeit solcher Ehen zu fällen. Bekannt ist ja die 
Stelle aus den Tischreden Luthers, wo er die Skrupel eines 
derartigen Bigamisten, der sich mit zwei Weibern auf ganz 
richtige Weise verlobt hatte, wiedergibt, um eine seiner gehar- 
nischten Bußpredigten daran zu knüpfen. Man sieht, noch zu 
Zeiten des Eislebener Mönches, also an der Schwelle des 
16. Jahrhunderts, steht es mit der Ehereform im geheiligten 
römischen Reich deutscher Nation oberfaul. Diese Mißstände 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 345 


haben auch die katholische Kirche bewogen, auf dem Triden- 
tinum das dreimalige Aufgebot mit der daranschließenden 
kirchlichen Trauung als Bedingung für eine gültige Ehe auf- 
zustellen. Gleichzeitig wurde die Sitte des öffentlichen Bei- 
lagers nach Möglichkeit eingeschränkt, ohne selbstverständlich 
zum Schwinden gebracht zu werden, denn dem stand, wie gesagt, 
die Praxis der junkerlichen und hochadeligen Kreise entgegen. 


Das Wesen des öffentlichen Beilagers ist eigentlich mit 
wenigen Worten zu kennzeichnen. Das Paar, das sich gegen- 
seitig fürs Leben versprochen hatte, wurde von seinen Eltern, 
Verwandten und Bekannten in die Brautkammer geleitet, hierauf 
gingen Bräutigam und Braut gemeinschaftlich zu Bette, während 
die Verwandten die Bettdecke über sie legten, Hochzeitslieder 
sangen und ein Priester, wenn ein solcher vorhanden war, über 
dem ehelichen Lager den Segen sprach. Der ganze Vorgang 
ist uns auf einzelnen Holzschnitten und Miniaturzeichnungen 
in handschriftlichen Liedersammlungen überliefert. Daß es 
hiebei nicht gerade sehr keusch zugegangen sein mag, dürfte 
schon daraus ersichtlich sein, daß im Mittelalter Männlein und 
Weiblein splitternackt durcheinander schliefen, und selbst in den 
vornehmsten Familien die wohltätige Einrichtung eines Nacht- 
hemdes nicht bekannt war. Da mag denn die symbolische 
Handlung, die in dem gemeinschaftlichen Zubettegehen der 
Neuvermählten gipfelte, mitunter zu einer recht realistischen Posse 
ausgeartet sein, an der das Brautpaar sowohl als auch die Zu- 
schauer, ein weidliches Vergnügen gehabt haben dürften. Von 
derartigen Hochzeitsfeierlichkeiten, die mit einem Öffentlichen 
Beilager abschließen, erzählen uns die höfischen Epen und 
zahlreiche Minnelieder das Nähere. Eine Beschreibung finden 
wir beispielsweise in Frischlins »Drey schöne vnd lustige 
Bücher«, wo die Hohe Zollerische Hochzeyt im Jahre 1599 mit 
einem großen Aufwand von Details geschildert wird: 

Rheingraff Ottho führt sie (die Braut) hinauf mit fleys 
Jn jr gezimmer hüpsch und weyss. 

Da wartet sie biss zu jr kam 

Der junge Herr und Bräutigam 

Mit allen Fürsten, Graffen, Herren, 

So folgen theten willig geren. 

Vor jnen her Trommeter bliesen, 

Die stark in jre Pfeiffen stiessen. 

Als nun der Hochborn Bräutigam 


346 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Hinauff in sein Schlaffzimmer kam, 
Sein Mantel und Kranz legt von sich, 
Sein Wöhr und Ketten und gabs gleich 
Seim Hofmaister, solches zu bewaren; 
Derselbig thet den Fleys nicht sparen. 
Als nun die Fürsten, Herren, Frawen 
Stunden in diesem Gemach zu schawen, 
Die zween Brautführer tratten her, 

Die Gespons sie brachten höflich hehr 
Und legten sie hinein inns Betth, 

Jr weysse Kleider noch an hett. 

Dann legten sie den Bräutigam 

Zu seiner Gesponns also zusam, 

Die Döcken überschlagen theten, 

Biss sie ein Weyl gelegen hetten. 

Gar bald sie wieder auffgestanden, 

Die Fürsten, Herren seind vorhanden, 
Wünscht jeder da für seinen theyl 
Dem Bräutigam und Braut vil heyl 
Viel glücks und guten segen reich; 
Darnach lugt jeder, das er weich 

Und selber in sein Kammer kumb, 

An seinem Schlaff auch nichts versumb, 


Der Brauch des öffentlichen Beilagers ist zweifelsohne ein 
rein germanischer, wenn sich auch darüber in den Berichten 
des Tacitus nichts findet. Er dürfte sich aber auf germanischem 
Boden als ein echt volkstümliches Element entwickelt haben und 
scheint von den Fürsten und Adeligen für ihre Zwecke über- 
nommen worden zu sein. In dem Gedicht »Lohengrin«, das 
bereits ziemlich früh anzusetzen ist, wird des Langen und 
Breiten von der Vermählung Frau Elsas von Brabant mit dem 
Schwanenritter erzählt, und die Hauptpunkte bildet die Be- 
schreibung des öffentlichen Beilagers, das der Gralsritter mit 
der schönen brabantinischen Herzogstochter hielt. Auch in 
anderen höfischen Epen findet sich eine Erwähnung dieser 
Sitte. So in dem Nibelungenlied, wo Siegfried das Beilager 
mit der züchtigen Krimhilde abhält, und in Konrad von Würz- 
burgs sentimental-breitspuriger Erzählung »Engelhart und Engel- 
trut«, wo ebenfalls dieser Sitte Erwähnung getan wird. 


Wie tief eingewurzelt im Volke die Anschauung von der 
Gültigkeit des Beilagers war, beweist der Umstand, daß sich 
die Kirche wiederholt gegen den Unfug wenden mußte, der 
mit dieser Einrichtung getrieben wurde. Bräute, deren Ver- 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 347 


lobter noch vor oder knapp nach der Hochzeit gestorben war, 
legten sich zu seinem Leichnam unter eine gemeinschaftliche 
Decke und betrachteten sich von diesem Moment an als recht- 
mäßig getraute Frauen. Nicht Vollziehung des Beischlafs 
war nach mittelalterlicher Anschauung das Ausschlag- 
gebende, sondern es genügte schon das gemeinschaftliche 
Schlafen mit dem Geliebten unter einer Decke. Diese An- 
schauung mag, wie schon Christoph F. Fischer im 18. Jahr- 
hundert nachgewiesen hat, sich aus der Sitte der Probenächte, 
die im Mittelalter im ganzen deutschen Volke verbreitet war, 
entwickelt haben. Die Probenächte bestanden darin, daß die 
Mädchen nach Ablauf einer Vorbereitungsfrist den Geliebten 
zu sich ins Bett ließen, ohne daß es jedoch zu einem tatsäch- 
lichen geschlechtlichen Verkehr kommen mußte. Zur rechts- 
gültigen Verlobung genügte allein der Umstand, daß die Magd 
mit dem Jüngling in einem Bette zusammen schlief. »Ist das 
Bett beschritten, so ist das Recht erstritten. Die Decke über 
dem Kopf, so sind die Eheleute gleich reich.« Hatte einmal 
das Mädchen den Burschen so weit kommen lassen, dann 
galten sie so gut wie verlobt, das Verhältnis konnte oft nur 
unter erheblichen Schwierigkeiten rückgängig gemacht werden. 
Ein Dokument, das sich mit einem solchen Verlöbnis be- 
schäftigt, ist der Prozeß des Sigmund Stromer gegen Barbara 
Löffelholz, die Mutter des nachträglich so berühmt gewordenen 
Willibald Pirkheimer. 

Sigmund Stromer klagt in dem Prozeß gegen die schöne 
Barbara Löffelholz, daß sie ihm trotz der bewilligten Probe- 
nächte nicht das gegebene Eheversprechen gehalten habe. 
Wie weit die Intimitäten dieser beiden gegangen waren, erhellt 
aus den Einzelheiten des Prozesses, wo die Art des »Probiers« 
und die Teilnahme der Hausgenossen der Barbara Löffelholz 
von dem jungen Paar eingehend geschildert werden. 

Im übrigen waren die Probenächte nicht nur in den 
unteren Volksschichten beliebt, sondern sie fanden auch bei 
den Angehörigen der Patrizierfamilien, bis in die fürstlichen 
und königlichen Häuser hinauf reichen Anklang. So kommt 
im Parzival die jungfräuliche Königin Kondwiramur zu dem 
schlafenden Helden und teilt mit ihm sein Lager. »Doch ist 
dies bedungen, dass nicht berühren darf der eine des anderen 
Bauch, Aus dem Jahre 1378 ist ein Dokument überliefert, 


348 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


das auch Fischer in seinen »Probenächten der deutschen 
Bauernmädchen« im Wortlaut mitteilt. Darin wird erzählt, das 
Kaiser Friedrich III, als er sich mit der Prinzessin Leonore 
von Portugal durch seine Verwandten verlobt hatte, jedoch mit 
der Vollziehung der Ehe zauderte, von dem Onkel der Braut, 
dem König Alfons von Neapel, ein Schreiben folgenden Wort- 
lautes erhielt: »Du wirst also meine Nichte nach Deutschland 
führen und wenn sie Dir dort nach der ersten Nacht nicht 
gefällt, mir wieder zurücksenden oder vernachlässigen und 
Dich mit einer anderen vermählen. Halte die Brautnacht mit 
ihr deshalb hier, damit Du sie, wenn sie gefällt, als angenehme 
Ware mit Dir nehmen, oder wenn nicht, die Bürde uns zurück- 
lassen kannst.« Das Dokument ist auch nach einer anderen 
Seite hin bemerkenswert, weil sich die lateinische Wiedergabe 
einer Stelle aus dem Memoirenwerk des Papstes Pius II. daran 
knüpft, in der erzählt wird, wie der Kaiser darauf hin mit der 
Prinzessin von Portugal das öffentliche Beilager vollzog. »Es 
hat sich zwar«, heißt es in dieser Niederschrift, »nichts anderes 
zugetragen, außer daß sich das Paar küßte. Sie waren beide 
bekleidet, und ‘gleich nach Vollzug der Ceremonie erhoben sie 
sich vom Lager. So ist es bei den Deutschen Brauch, wenn 
die Fürsten eine erste Ehe eingehen. Die spanischen Frauen, 
die zugegen waren, dachten, daß es aufs Ganze ginge, als sie 
sahen, daß sich der Zug nach dem Brautlager hin bewegte, 
und brachen in ein Geschrei aus, daß sich hier eine schänd- 
liche Tat vorbereite und schalten den König, der derartiges 
zuließ. Dieser jedoch betrachtete nicht ohne Gelächter und 
Vergnügen den fremdländischen Brauch.« In der Nacht darauf 
wurde dann das Beilager tatsächlich in Gegenwart des ganzen 
Hofstaates von Portugal und des Königs vollzogen, worauf 
dann Friedrich III. seine junge Gemahlin nach Deutschland 
führte. 

Eine andere historische »Probier« ist die Johanns IV. von 
Habsburg mit Herzlaude von Rappoltstein, die im Übrigen 
nicht so harmlos verlief, wie andere fürstliiche Verlobungen 
jener Zeit. Der Graf holte sich nach halbjährigem Verkehr 
mit der temperamentvollen Herzlaude einen Korb, weil es sich 
angeblich herausgestellt hatte, daß ihm alle zur Ehe tauglichen 
Qualitäten abgingen. Ebenso hielt Herzog Albrecht IV. von 
Bayern mit der Tochter Friedrichs Ill. bereits in Innsbruck das 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 349 


öffentliche Beilager ab, während die Hochzeit erst später in 
München erfolgte. 

Bei den fürstlichen Hochzeiten hatten sich im Laufe der 
Zeit eine Reihe von erstarrten Formen ausgebildet, die in der Ein- 
holung der Braut aus der Ferne und in der Hochzeit per procura 
gipfelten. Diplomatische Gründe bewogen die mittelalterlichen 
Fürsten in der Mehrzahl der Fälle Ehen einzugehen, wo beide 
Teile noch gar nicht im mündigen Alter waren oder einander 
völlig fremd gegenüber standen. Da der Fürst auch selten auf 
eine Herzensneigung Gewicht legte, sondern nur die Ver- 
mehrung des Reiches vor Augen hatte, andererseits die Staats- 
geschäfte häufig seine persönliche Abwesenheit auf die Dauer 
nicht zuließen, so betraute er irgend einen Höfling oder Diplo- 
maten mit seiner Stellvertretung, der dann um die Braut warb 
und nach erhaltenem Jawort die Hochzeit mit ihr gleich auf 
der Stelle vollzog. Die Vermählung wurde gewöhnlich mit 
großem Pomp gefeiert und das Beilager mit dem Spezial- 
gesandten, der in eine schwere Prunkrüstung gehüllt war, 
öffentlich vollzogen, wobei zum Zeichen der bewahrten Keusch- 
heit das scharfe Schwert zwischen ihn und die Herrin gelegt 
wurde. Der österreichische Chronist Jacob Unrest beschreibt 
ein solches Beilager, das anläßlich der Vermählung Maximilians I. 
mit der Prinzessin Anna von Bretagne stattfand: »Kunig 
Maximilian schickt seiner Diener einen genannt Herbolo von 
Polhaim gen Britannia zu empfahen die Kunigliche Braut; der 
war in Stat Remis (Reims) erlichen empfangen, und daselbs 
beshluff der von Polhaim die Kunigliche Brauet mit ein gewapte 
Man mit den rechte Arm und mit dem rechten fus blos und 
ein blos schwert dazwischen gelegt, beschlaffen. Also haben 
die alten Fürsten gethan, und ist noch die Gewonhait. Da das 
alles geschehen war, war der Kirchgang mit dem Gottesdienst 
nach Ordnung der heiligen Kahnschafft mit gutem fleiss vollpracht.« 

Daß die bürgerliche Gesellschaft die Beilagersitte des 
Hochadels nachäffte, beweist eine Dresdener Hochzeitsordnung, 
die aus dem letzten Viertel des 15. Jahrhunderts stammt. Nach 
dem Wortlaut des genannten Schriftstückes durften die Hoch- 
zeitsgäste das neuvermählte Paar zu Bett bringen, mußten aber 
dann das Gemach verlassen, während das Brautpaar dann auf- 
stand und mit den Gästen weitertafelte. 

Obwohl das öffentliche Beilager in der »Probier« eine 


350 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


verwandte Institution besitzt und bei dem offiziellen Zubettgehen 
der Neuvermählten die nächsten Verwandten und Gäste genau 
so zugegen waren, wie bei dem Besuch des Bräutigams in der 
Kammer der Braut, so ist doch ein wesentlicher Unterschied 
zwischen diesen beiden Bräuchen schon deshalb vorhanden, 
weil bei dem öffentlichen Beilager, abgesehen von den bäuer- 
lichen Kreisen, es immerhin ganz züchtig zuging. Das Be- 
schlafen auf Treu und Glauben dagegen war, wie noch heute 
in den Alpenländern und auch in den slavischen Gegenden, 
durchaus nicht immer eine symbolische Handlung, und sehr 
oft gewährte das Mädchen dem Burschen alles, ohne dadurch 
bei etwaigen Nachfolgern an Wert zu verlieren. Allerdings 
durften sich beide Teile nicht ungeschickt benehmen, derart, 
daß vorzeitig eine Schwängerung erfolgte, oder das Mädchen 
durfte nicht mehrere Probenächte mit mehreren Burschen er- 
folglos abgehalten haben. Daß jedoch auch der Beischlaf 
mitunter coram publico vollzogen wurde, ja nach dem Gesetz 
sogar befohlen war, ist bis in das 17. Jahrhundert hinein er- 
wiesen. Das Mittelalter und die Renaissance kannten nur eine 
Eigenschaft, die dem Knecht vor dem Ritter eine Sonderstellung 
verlieh: die geschlechtliche Aktivität. Dementsprechend galt in 
der Ehe allein derjenige Partner als vollwertig, der die Ansprüche 
des anderen Teiles voll und ganz befriedigen konnte. Ein 
Ehebruch, der wegen Impotenz des Gatten begangen wurde, 
galt nicht als solcher, und auch die Richter, die über einen 
derartigen Fall zu urteilen hatten, ließen hier für gewöhnlich 
größere Milde als nötig walten. Nur eine Zeit, die das Ver- 
sagen der männlichen Potenz im Ehebette als die größte 
Schande empfand, konnte auf den Gedanken verfallen, das 
Gegenteil durch ein öffentliches Beilager zu beweisen. Tat- 
sächlich wurde diese schändliche Gewohnheit, in der sich alle 
möglichen perversen Eigenschaften Raum und Augenweide 
schufen, geübt, wenn der Gatte den Vorwurf der Impotenz 
dadurch zu entkräften suchte und die Berechtigung der Frau 
zum Ehebruch durch den öffentlich vollzogenen Beischlaf 
widerlegt werden sollte, Noch am 18. Februar 1677 wurde 
in Frankreich zuletzt das öffentliche Beilager aus dem vor- 
genannten Grunde vollzogen. Der Ausklang des 17. Jahr- 
hunderts hat auch ein Ende der unnatürlichen Institution ge- 
bracht, wenngleich er die Neugier nicht abschaffen konnte, mit 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 351 


der immer der Liebesakt der Neuvermählten von ihrer Umgebung 
verfolgt wurde. Öffentliches Beilager waren schließlich auch 
die Orgien, die der Papst Alexander VILL. der Vater Cäsars 
und Lucretia Borgias, in den vatikanischen Gemächern ver- 
anstaltete, wobei, wie in Rom zu den Zeiten Neros oder des 
ausschweifenden Heliogabal unbekleidete Männer und Frauen 
rasende Liebeskämpfe aufführten. Öffentliches Beilager war es 
ferner, wenn im Paris des Louis XIV. vor einem Parkett von 
Wüstlingen das große Mysterium der Liebesvereinigung von 
gemieteten Dirnen und ihren Zuhältern entweiht wurde. Die 
Offenheit, mit der sich überhaupt der geschlechtliche Verkehr 
in der absolutistischen Periode vollzog, ist noch viel roher 
und eindeutiger als die mittelalterliche Sitte, bei der doch im 
Großen und Ganzen wenigstens der äußere Anstand gewahrt 
wurde. Auf dem flachen Lande hat sich, wie gesagt, der 
Brauch des öffentlichen Beilagers in einer symbolischen Form 
bis auf den heutigen Tag erhalten. Rudeck (»Geschichte der 
öffentlichen Sittlichkeit in Deutschland«) weist auf gewisse 
Hochzeitssitten in einigen Gegenden Deutschlands hin, in denen 
er einen Rest der urgermanischen Eheschließung erblickt. In 
der Oberpfalz wirft beispielsweise der Bräutigam bei dem 
Umzug die Braut vor aller Augen auf das zweischläfrige Bett 
und gibt ihr einen Kuß. Ähnliche Bräuche herrschen in der 
Altmark und Schwaben vor, wo der Vater der Braut oder sein 
Stellvertreter die Braut in des Bräutigams Kammer führt, sie 
zu ihm hinlegt und spricht: »Ich befehle Euch meine Tochter, 
daß Ihr mit ihr tut, wie Gott mit Eurer Seele«. In dem »Ehe- 
spiegel oder den siebzig Brautnächten« des Cyriakus Spangen- 
berg aus dem Jahre 1778 heißt es unter anderem: »So ist auch 
an etlichen Orten Brauch, daß man nach vollbrachter Freude 
Braut und Bräutigam zu Bette bringt. Da ist unnötig, daß man 
mit Trommeln und Pfeifen groß Wesen mache und alle Voll- 
zapfen mit laufen und ihren Unfug treiben. Ja, wenn nun die 
guten jungen Leute einmal aus dem Gewühl zur Ruhe kommen, 
so findet man solche unbändige Leute, welche rottenweise vor 
die Kammer ziehen, daselbst wüste und grobe Lieder singen, 
bisweilen gar die Kammer aufbrechen, sie wieder aufheben 
und zum Trunk mit Gewalt führen. Das sind nicht Menschen, 
sondern Teufel.«e Rudeck bemerkt hierzu, daß es auffallend 
sei, daß die Schärfe des Predigers sich nicht gegen das Zu- 


352 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


bettbringen, sondern gegen den dabei verübten Unfug richtete. 
— Ähnliche Sitten herrschten noch im 18. Jahrhundert bei den 
Kurländern und Livländern. Auch auf den Philippinen und 
den Malebaren soll lange Zeit hindurch das öffentliche Beilager 
üblich gewesen sein und Stern erzählt in seinem Buch »Medizin, 
Aberglaube und Geschlechtsleben in der Türkei« von gewissen 
Entjungferungsbräuchen bei den Fellachen in Ägypten, die eine 
große Ähnlichkeit mit der mittelalterlichen Beischlafssitte auf- 
decken. Der Zweck der öffentlichen Entjungferung ist nach 
Stern die Konstatierung der Virginität, da anderenfalls der 
Bräutigam berechtigt ist, die Braut ihren Eltern zurückzugeben. 


8 8 


DER GESCHLECHTSTRIEB. 
Von EMIL LUCKA.*) 

Us Generationen, die aus dem namenlosen Dunkel der Zeiten 

langsam zum Dämmerlicht des Mythos aufsteigen, hat sich 
unter allen Bedürfnissen und Trieben der Geschlechtstrieb am 
leichtesten erfüllt. Mit jeder unvorbedacht und rasch voll- 
zogenen Vereinigung war der Trieb auch schon wieder aus dem 
Bewußtsein geschwunden, das sich sogleich anderen, mühsamer 
zu stillenden Bedürfnissen zuwenden konnte. Der primitive vor- 
historische Mensch dachte nicht über den Augenblick hinaus; 
gewann er eine reiche Mahlzeit, so praßte er bis zum dumpfen 
Hinsinken und sorgte nicht für den Hunger von morgen und 
übermorgen. Daß eine jähe und gleich vergessene Umarmung 
in irgendeinem Zusammenhang damit stehen könnte, wenn eine 
Frau der Horde nach unermeßlich langer Zeit ein Kind ans 
Licht brachte — solch ein überschauender Gedanke hat ganz 
andere, reichere Voraussetzungen, als beim primitiven Menschen 
erfüllt gewesen sind. Irgendein Zauberer befaßte sich wohl 
damit, den Mädchen Jahr für Jahr ein kleines Kind in den Leib 
zu hexen; noch heute kennen die Bewohner von Zentral- und 
Nordaustralien den Zusammenhang von Zeugung und Geburt 
nicht. Man wußte auch nachher in der Regel, daß dieses Kind 
von jener Frau zur Welt gebracht worden war, denn sie trug 


*) Aus »Die drei Stufen der Erotik<. Berlin, Verlag Emil Schuster 
& Loeffler. 





























DIE EINSEGNUNG DES EHEBETTS. Von B. PICART. 


(Zu dem Aufsatz „Das öffentliche Beilager‘‘ Seite 342). 


E GE 


LES PLAISIRS DE LHIMEN 


Bee Je. 


Au tendre empressement pion ont en ct Epua En efrt.ılest tms retirons naus sans bruit , 
4 Uar mguiet de Sime Lwrons ce jeune homme a sa flamme, 

On juge диш, sont pres du moment le plus агиғ Тоу qa prens cc ruban, depeche, il est minuit , 
Quon puäste trouwer dans la тте Cette fille doit ĉtre femme 


A Paw ha Damat ros de la Lavoe . 
DAS ZUBETTGEHEN DER NEUVERMÄHLTEN. 
Französischer Kupferstich aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts. 
(Zu dem Aufsatz „Das öffentliche Beilager‘' Seite 342). 





GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 353 


es lange mit sich herum und säugte es. Bei anderen Kindern 
war wohl die Mutter in Vergessenheit geraten; vielleicht war 
sie schon gestorben, vielleicht kannte sie dieses Kind unter 
so vielen anderen selbst nicht mehr heraus, wenn es sich für 
ein paar Tage verloren hatte. Eine »Mutter« gab es immer- 
hin zu jedem Kinde, das wurde nicht in Zweifel gezogen. Die 
Vorstellung des »Vaters« aber war noch nicht gebildet worden. 
»Frauen gebären Kinder« und »jeder Mensch hat eine Mutter« 
— diese Erfahrungen hatten sich gefestigt, andere gab es über 
den Gegenstand nicht. 

Man muß annehmen, daß das Geschlechtsleben der Menschen 
bis in geschichtliche Zeiten hinauf ungeordnet und wahllos ge- 
wesen ist. Jede Frau — wahrscheinlich innerhalb eines Stammes 
— gehörte jedem Manne an. Ob solche Verhältnisse auf der 
ganzen Erde bestanden haben, ist zweifelhaft und wird von 
neueren Ethnologen, besonders von Westermarck, bestritten, weil 
sie bei den unzivilisierten Völkern der Gegenwart nicht durch- 
aus nachzuweisen sind. Herodot berichtet von Männer- und 
Weibergemeinschaft noch aus historischer Zeit, zumindest bei 
einigen weit von einander lebenden Völkern, wie Massageten 
und Äthiopiern. Über jeden Zweifel ist erhaben, daß geschlecht- 
liche Vermischung in irgendwelchen, sei es auch eingeschränkten 
Formen, wie der Gruppenehe, dem Tauschen und Verleihen der 
Frauen oder sonstwie bestanden habe. | 

Da die Verwandtschaft der Mutter mit ihren Kindern von 
Natur gegeben war, mußte die erste menschliche Familie um 
die Mutter geschart sein, die Mutter als das natürliche Ober- 
haupt anerkennen. Und auch später, als schon der ursächliche 
Zusammenhang der väterlichen Zeugung mit der Geburt er- 
kannt war, ist es lange so geblieben. In allen Ländern der Mittel- 
meerkultur, besonders in Lykien, Kreta und Ägypten, ist die 
Vorherrschaft des Mütterlich-Weiblichen vor dem Männlichen in 
Familie und Staat gut bezeugt, sie hat ihre Abspiegelung in 
den orientalischen Naturreligionen sowohl bei Semiten als auch 
bei Indogermanen gefunden und ist in die griechische Götter- 
lehre mit aufgenommen worden. Es ist das Verdienst Bach- 
ofens, dieses wichtige Stadium im Geschlechtsverhältnis der 
Menschen erkannt und nachgewiesen zu haben. »Ausgehend 
von dem gebärenden Muttertum, dargestellt durch ihr physisches 
Bild, steht die Gynäkokratie ganz unter dem Stoff und den 

Geschlecht und Gesellschaft VIII, 8. 23 


354 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Erscheinungen des Naturlebens, denen sie das Gesetz ihres 
inneren und äußeren Daseins entnimmt, fühlt sie lebendiger als 
spätere Geschlechter die Unität alles Lebens, die Harmonie des 
Alls, welcher sie noch nicht entwachsen ist... . In allen den 
Gesetzen des physischen Seins gehorsam, wendet sie ihren Blick 
vorzugsweise der Erde zu, stellt die chthonischen Mächte über 
die des uranischen Lichts«. — Die Kinder sind der Mutter 
entsprossen wie die Pflanzen der Erde, und die mütterlichen 
Gottheiten, die Mächte der unerschöpflichen Fruchtbarkeit, Gäa, 
Demeter und Isis, werden verehrt. Diese Menschen fühlen 
sich noch durchaus als Teile der Natur, sie haben den Gedanken, 
aus der Natur herauszutreten und selbständig etwas gegen sie 
zu erschaffen, noch nicht gefaßt, sie neigen sich gehorsam dem 
allgemeinen Kreislauf, denn sie empfinden sich selbst nicht als 
einzelne, ringsum abgeschlossene Individuen, sie sind Glieder 
des Stammes, vor dessen Leben das fragmentarische Leben des 
einzelnen nichts bedeutet, die Familie, die um die Mutter auf- 
wächst, und der Stammesverband sind die eigentliche Einheit — 
wie der Bienenschwarm und nicht die einzelne Biene erst ein 
Ganzes ausmacht. Ihre Gemeinschaften stehen noch durch- 
aus innerhalb der Natur, sie haben kein geistiges Leben und 
keine Geschichte; denn geistige Wertschöpfung und Kultur, die 
das historische Leben erst begründen, sind an die Überwindung 
des naturhaften Daseins geknüpft. Die Differenzierung der 
Menschen voneinander hat noch kaum eingesetzt, einer gleicht 
dem andern in seinem Aussehen, aber auch in seinem Fühlen 
und Tun (vergleichbar den heutigen zivilisierten Ostasiaten). 

In den Mittelmeerländern (ebenso wie in Indien und Baby- 
lonien) findet das erste Stadium des sexuellen Verhaltens, die 
regellose, unpersönliche Vermischung, ihren durch die Religion 
geheiligten Ausdruck in den jährlich wiederkehrenden Frühlings- 
festen des Adonis und Dionysos, der Mylitta, Astarte und 
Aphrodite. Die absolute geschlechtliche Zügellosigkeit, die sich 
wahllos ergießende Fruchtbarkeit wurde gefeiert. Jede Frau 
mußte sich dem Manne hingeben, der Mensch beging die 
wiedererwachende Zeugungskraft der Erde, als Geschöpf der 
Natur in hemmungsloser Brunst. Er wollte nichts anderes sein 
als die Pflanzen, die ihren Samen in die Winde streuen — wo 
neues Leben, entstand, wurde nicht gefragt, durfte nicht gefragt 
werden. Je intensiver die allgemeine Vermischung stattfand, 


GESCHLECHT UND (GESELLSCHAFT 355 


desto vollkommener wurde der Sinn dieser unpersönlichen 
Geschlechtlichkeit erfüllt. Die gestaltlosen Mächte der Lust 
und der wuchernden Vegetation hätten die Individualisierung 
des Triebes nimmer geduldet. Nicht das Verhältnis eines Mannes 
zu einer Frau, die an Individuen gebundene, von Individuen 
beherrschte Geschlechtlichkeit wird bei diesen Orgien begangen, 
sondern die möglichst vollständige Vereinigung des Männlichen 
und des Weiblichen, das sich im Menschen wie in der Natur 
offenbart. Und diese Entfesselung des Triebes wird nicht etwa 
symbolisch empfunden; dazu hätte der Mensch als geistiges 
Wesen der Natur gegenüber treten müssen und ihr Walten 
durch sein eignes Tun bildlich und umformend widerspiegeln: 
er will vielmehr die Natur in sich selbst erfüllen. Vor der 
Majestät des Geschlechts, das in den gestaltlosen Urmüttern 
Rhea, Demeter, Kybele und ihren menschlichen Sprößlingen, 
dem phallischen Dionysos und der hundertbrüstigen ephesischen 
Göttin angebetet wird, verschwindet der einzelne Mensch in 
seiner jämmerlichen, hinfälligen Begrenztheit — das Geschlecht 
ist unsterblich, das Geschlecht und der Urstoff, die #27, die 
Aristoteles dem eidos, der Gestalt, entgegensetzt. »Der Körper 
stammt vom Weiblichen her, die Seele vom Männlichen.« — 
Entstehen und wieder Vergehen, ohne Sinn, ja ohne bestimmte 
Richtung, das ist der Inhalt dieser alten Kulte, unermüdliche 
Vereinigung der Geschlechter ihr Gottesdienst. Zwischen den 
Generationen aber gibt es nur das natürliche Band der Mutter- 
schaft, das erste, das die Menschheit kennt und das sie nicht 
als konkrete Beziehung zwischen einzelnen Individuen, sondern 
als allgemeine mütterliche Naturkraft fühl. Die Herrinnen 
dieses Kultes, das sind die Mütter im Faust, die grenzenlosen, 
formlosen, außer Zeit und Raum thronenden und daher un- 
sterblichen Gebärerinnen und Hüterinnen alles Menschenseins, 
Vor ihrer schweigenden Größe wird der Wunsch des Mannes, 
seine Grenzen zu finden und zu wahren, Form und Individualität 
zu gewinnen, Frevel; sie gewähren Unsterblichkeit im Geschlecht 
— über das persönliche Eigenleben haben sie den Fluch des 
Todes verhängt. 

Diesem Stadium der vaterlosen Naturzeugung entsprechen 
die philosophischen Lehren, die alles Geschaffene aus den 
Elementen, aus Erde oder Wasser, hervorgehen lassen. Die 
spätere Zeit findet ein geistiges Prinzip, ein Werden oder ein 

23* 


356 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


unveränderliches Sein, endlich den Widerstreit zwischen Geist 
und Materie. 

Jeder Versuch, die allgemeine Sexualität einzuschränken, 
mußte in diesem Stadium als verbrecherisch und irreligiös 
empfunden werden. Jungfräulichkeit wurde von den Göttern 
der Lust und der Zeugung nicht geduldet, ihr Opfer war — 
besonders bei den semitischen Völkern und den Indern — Pflicht, 
der Gott selbst nahm in Gestalt seines ehernen männlichen 
Bildnisses den Erstling der Mädchen in Empfang. Sein Amt 
wurde später von den Priestern übernommen und lange ausgeübt. 

Gegen die Sexualität, die nicht auf dem Verhältnisse zwischen 
Mann und Frau, sondern auf der Vereinigung von Männlich- 
keit und Weiblichkeit beruhte, erhoben sich in dem Augenblick 
Widerstände, als es Menschen gab, die anfingen, sich als ab- 
geschlossene Individuen zu fühlen. Solange die Ähnlichkeit 
zwischen den Stammesgenossen so groß war, daß sie alle in- 
dividuellen Unterschiede bis zur Gleichförmigkeit überdeckte, 
lag kein Grund vor, beim Geschlechtsverkehr zu wählen. Jede 
Frau war jedem Manne recht, wobei eine gewisse, physiologisch 
begründete Auswahl wirksam gewesen sein wird, die gesunden, 
jugendlichen und kräftigen Individuen werden immer bevorzugt 
worden sein. Doch hiervon abgesehen muß der Instinkt, sich 
nicht mit jedem Partner zufrieden zu geben und unter mehreren 
auszuwählen, historisch mit der äußeren und dann mit der 
inneren Differenzierung der Menschen zusammengefallen sein. 
Ich kann dies nicht aus antiken Schriftstellern belegen, aber es 
leuchtet wohl ein, daß erst dann das Gefühl entstehen wird: 
diese ist mir lieber als jene, wenn sich diese von jener merk- 
lich unterscheidet. So tritt also zugleich mit der wachsenden 
Differenzierung der Menschen ein, wenn auch in sehr beschei- 
denen Grenzen stehendes, auswählendes Moment ins Geschlechts- 
leben. Mit dieser allmählichen Bildung der Individualität ist 
aber auch schon das neue Motiv gegeben, das sich wie gegen 
die allgemeine sexuelle Vermischung, so auch gegen die Gynäko- 
kratie überhaupt auflehnt. Männer kamen, die sich ihre Welt 
selber schaffen wollten; waren sie doch von der Unsterblich- 
keit des mütterlichen Lebens ausgeschlossen, als (relativ) Ver- 
einzelte standen sie dem stofflichen Zusammenhang der in der 
Kette der Mütter lebenden Generationen gegenüber. Halbgöttern, 
Söhnen von Lichtgottheiten und irdischen Müttern, wird die 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 357 


Erhebung der Menschheit aus chaotischem, unpersönlichem Da- 
sein zu der neuen Existenzform zugeschrieben, die nicht mehr 
auf dem Naturleben, sondern auf der gestaltenden Kraft des 
Menschen beruht. An Herakles, Theseus, Perseus hat der 
Mythos die Überwindung der alten Mächte geknüpft, sie haben 
die Tat des Menschen, die Kultur, gegründet und zuerst den 
Lichtgottheiten geopfert. »Sie werden dadurch für die ganze 
Menschheit Befreier von der ausschließlichen Stofflichkeit, der 
sie bisher verfallen war, Begründer einer geistigen Existenz, 
die höher ist als die körperliche, inkorruptibel wie die Sonne, 
aus der sie stammen, Heroen einer durch Milde und höheres 
Streben ausgezeichneten Gesittung, eines ganz neuen Rechtes.« 
(Bachofen). Die Lehren des Pythagoras und des Platon von 
der Seelenunsterblichkeit und der Seelenwanderung sind die 
späte philosophische Vollendung dieses veränderten Grund- 
gefühles, das den Mittelpunkt des Daseins in die Seele hinein- 
verlegt und die Grundlage des europäischen Kulturgeistes 
werden sollte. 

Heinrich Schurtz hat — nicht im Hinblick auf das Mutter- 
recht — gezeigt, daß sich frühzeitig und an sehr vielen Stellen 
der Erde nachweisbar neben der Familie Bünde unverheirateter 
Männer bildeten, die gegenüber dem in der Mutterfamilie ver- 
tretenen Blutsverband einen freieren und leichter beweglichen 
Geselligkeitsverband darstellten. Da die Knaben, die der mütter- 
lichen Pflege entwachsen waren, sich zu Spiel- und später zu 
Jagd- und Kriegszwecken zusammentun mußten, beruhte die 
Bildung solcher Männerverbände auf notwendigen Lebens- 
bedingungen; und es ist ebenso einleuchtend, daß vom Männer- 
haus Neuerungen und Erfindungen aller Art gegenüber den stets 
konservativen Frauen ausgegangen sind, daß hier der Keim zu 
allen geistigen und kulturellen Entfaltungen gelegt werden mußte. 
Dieses Sichzusammentun der Männer, die Bildung von Ver- 
bänden, die nicht auf natürlicher, auf Blutsgemeinschaft beruhen, 
sondern auf dem Gefühl der Kameradschaft oder Freundschaft, 
sieht aus wie gegen das natürliche Gebundensein in der Fa- 
milie gerichtet, vielleicht wie Feindschaft gegen die Frau, Ver- 
achtung der Frau; es dürfte sicherlich mit der so verbreiteten 
Männerliebe der alten Welt zusammenhängen. 

Von Männerverbänden — sie mögen nun in alter Zeit so 
gewesen sein, wie sie Schurtz beschreibt, oder anders — ist 


358 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


der Kampf gegen die Mutterfamilie ausgegangen und hat endlich 
zum definitiven Sieg des männlichen Prinzipes geführt, zur Er- 
richtung der väterlichen Familienhoheit, des antiken Männer- 
staates, in dem die Frauen rechtlos gewesen sind, und endlich 
zur Herrschaft des Geistigen, zum Sieg der Lichtgottheiten über 
die irdischen Mächte der Fruchtbarkeit. Diese Umwälzung ist 
eine überaus prinzipielle, vielleicht die prinzipiellste aller mensch- 
lichen Umwälzungen. Bevor jedoch die Einehe hergestellt war 
— neben der es immer noch eine freie Prostitution gegeben hat 
— sind verschiedene Kompromißformen zwischen ihr und der 
regellosen Vermischung sanktioniert gewesen, Einschränkungen 
und Regeln, die alle die Absicht verfolgten, den von den Göttern 
geheiligten allgemeinen Geschlechtsverkehr eine Zeitlang frei 
zu geben und durch dieses Opfer die alte Sitte mit der neuen 
zu versöhnen. Hierher gehört vor allem die Tempelprostitution, 
die bei vielen Völkern Kleinasiens, der griechischen Inseln, Ba- 
byloniens und Indiens bezeugt ist. Sie bestand darin, daß sich 
an dem großen Frühlingsfest der Liebesgöttin jedes Mädchen im 
Tempel darbot und sich jedem Manne gegen ein Geldgeschenk 
hingeben mußte. Manche gewann auf diese Weise die Mitgift 
für ihre später strenge gewahrte Ehe mit einem einzigen Manne. 
So war der religiösen Forderung Genüge getan, zuerst jedes 
Jahr aufs neue, später einmal für alle Male. »Die jährlich 
wiederholte Darbietung wich der einmaligen Leistung, auf den 
Hetärismus der Matronen folgte jener der Mädchen, auf die Aus- 
übung während der Ehe die vor derselben, auf die wahllose 
Überlassung an alle die an gewisse Persönlichkeiten« (Priester). 
— »Dem Naturgesetz des Stoffes ist eheliche Verbindung fremd 
und geradezu feindlich. Die eheliche Ausschließlichkeit beein- 
trächtigt das Recht der Mutterliebe — darum muß das Weib, 
das in die Ehe tritt, durch eine Periode des freien Hetärismus 
die verletzte Naturmutter versöhnen und die Keuschheit des 
Matrimoniums durch vorgängige Unkeuschheit erkaufen. Der 
Hetärismus der Brautnacht beruht auf dieser Idee. Er ist ein 
Opfer an die stoffliche Naturmutter, um diese mit der späteren 
ehelichen Keuschheit zu versöhnen. Darum wird dem Bräutigam 
erst zuletzt die Ehre zuteil. Um das Weib dauernd zu besitzen, 
muß es der Mann erst anderen überlassen«. (Bachofen.) — Später 
wurden an Stelle aller Mädchen nur einige als Hierodulen 
geweiht und dadurch alle anderen vom Jungfrauenopfer losgekauft. 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 359 


Nicht auf erotischem Gebiet, sondern auf politischem und 
sozialem liegen die eigentlichen Gründe für die Einführung und 
Sanktionierung der Monogamie, der Voraussetzung des grie- 
chischen Staates. Das Bedürfnis des Mannes, sicher bezeugte 
Kinder zu haben, damit er ihnen sein Gut hinterlassen könne, 
war das entscheidendste; die Erbfolge von Vater zu Sohn ent- 
stand, die im römischen Recht ihre klassische Vollendung ge- 
funden hat. Das andere Motiv, daß jeder Mann einen Sohn 
wünschte, war in der religiösen Vorstellung begründet, daß der 
Schatten nach dem Tode des Körpers Opfernahrung braucht, 
die ihm von den leiblichen Nachkommen gespendet werden muß. 
(Ebenso bei den Indern und Ostasiaten.) In mehreren grie- 
chischen Staaten ist die Ehe gesetzlicher Zwang gewesen, Ehe- 
lose verfielen der Strafe. Irgendeine innere oder äußere Ge- 
bundenheit war damit für den Mann nicht gegeben, er konnte 
bei den gebildeten Hetären geistige Anregung finden (wenn er 
nicht Männerfreundschaft vorzog), bei den Sklavinnen sinnlichen 
Genuß; die Frau aber war als Hüterin des Herdfeuers und der 
Nachkommenschaft geehrt, wenn auch nicht frei. Für die Ehe- 
scheidung gab es nur einen gesetzlichen Grund: Unfruchtbar- 
keit, weil ja so der einzige Zweck der Ehe verfehlt worden wäre, 
Von ehelicher Liebe in unserem Sinn war nicht die Rede — 
wie dieses Gefühl ja überhaupt dem Altertum unbekannt gewesen 
ist. — Alles das hat sich bis zum Ausgang der Antike nicht 
geändert, nur die religiösen Vorstellungen büßten im späteren 
Rom ihre Macht ein. Hierüber sagt Otto Seeck: »Die Frau er- 
füllte also wirklich gar keinen anderen Zweck, als dem Haus 
ebenbürtige Nachkommen zu verschaffen; und dabei stellte sie 
Prätensionen und machte dem Manne mit Eifersucht und böser 
Laune das Leben sauer, oder sie brachte ihn gar durch Un- 
treue in der Leute Mäuler. Daß man da die Ehe nur als eine 
Pflicht gegen den Staat betrachtete, der man sich seufzend unter- 
zog, ist wohl begreiflich; und begreiflicher, daß so viele nicht 
patriotisch genug waren, um diese Last auf sich zu nehmen«. 
Daneben gab es »eine Prostitution von größter Verbreitung und 
unglaublicher Wohlfeilheit«. 

So folgt der unpersönlichen, allgemeinen geschlechtlichen Ver- 
mischung durch den Sieg des männlichen Geistprinzipes über 
das naturhafte weibliche das zweite Stadium, das den Ge- 
schlechtstrieb auf einzelne Individuen einschränkt (was mit 


360 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


»Liebe« nichts zu schaffen hat). Die Vermischung wird, wenig- 
stens prinzipiell und als Desiderat, durch die Einehe ersetzt. 
Die mächtigste der auf uns gekommenen griechischen Tragödien, 
die Orestie des Äschylos, birgt als tiefen mythischen Kern den 
Sieg der neuen Gottheiten des Lichtes über die alten mütter- 
lichen Mächte. Orest hat sich gegen das alte Recht vergangen 
und durch Muttermord den Mord am Vater zu sühnen gewagt. 
Um das Recht dieser Tat entbrennt der Kampf zwischen den 
Erinnyen, den Vertreterinnen des alten mütterlichen Rechtes, und 
dem Sonnengott Apollon. Den namenlosen nächtigen Erin- 
nyen gilt als schwerstes aller Verbrechen der Muttermord, weil 
das Kind mit der Mutter am innigsten verwandt sei. Apollon 
aber hat Orest die Tat geboten, damit der Mord am Vater 
nicht ungerächt bleibe. Er verkündet: 
»Nicht ist die Mutter ihres Kindes Zeugerin, 


Sie hegt und trägt das auferweckte Leben nur; 
Der Vater zeugt, sie aber wahrt ihm nur das Pfand«. 


Und die Erinnyen klagen: 
»So stürzest du die Götter alter Zeit hinab !« 


Athene aber, die jungfräuliche Göttin, tritt als Versöhnerin 
zwischen die Parteien, sie, die mutterlos aus dem Haupte des Zeus 
Geborene, entscheidet zugunsten derneuen Ordnung, die den Vater 
über die Mutter stellt. Orest geht frei aus, seine Tat ist gut 
nach dem neuen Recht. — Mit dieser Tragödie ist der Sieg 
des männlichen Prinzipes in Griechenland symbolisch verewigt. 
In Athene aber verkörpert sich das neue hermaphroditische 
Ideal der Griechen, das mit ihrer Homosexualität zusammenhängt. 


Es ist ein Gesetz des Seelenlebens: was jemals im Gefühl 
der Menschheit lebendig gewesen ist, kann nicht ganz verloren 
gehen. Aller zunehmende Reichtum der Seele beruht auf dieser 
Wahrheit. Neues wird erschaffen, aber das Alte bleibt bestehen; 
es wird meistens in eine niedrige Sphäre des Wertes verwiesen, 
sinkt in tiefere soziale Schichten, aber es lebt fort und geht 
mannigfache Verbindung mit dem Neuen ein. Für das Ver- 
hältnis der Geschlechter gilt dieses Gesetz ausnahmslos. In 
der zweiten Periode, welche durch die dem Altertum fremde 
seelische Liebe charakterisiert ist, lebt die bloße Geschlecht- 
lichkeit als ungebrochene Macht weiter fort; aber sie hat ihre 
maßgebende Stellung verloren und wird nicht nur als unedel 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 361 


und niedrig entwertet, sondern auch als sündhaft und dämonisch 
stigmatisiert, weil die Zeit von einem Neuen bewegt ist. 

Ein ähnliches, wenn auch nicht so schroffes Verhalten — ent- 
sprechend der geringen Schroffheit der Gegensätze — bestand 
im klassischen Griechentum. Das höhere, bewußte Geistesleben 
hatte sich von der chaotischen Geschlechtlichkeit abgewendet, 
es hatte den Trieb in geregelte Bahnen gelenkt und im plato- 
nischen Eros — der gleich zu besprechen sein wird — sogar 
eine neue Erotik geschaffen. Aber unter dieser Schichte bestand 
die naturhaft wuchernde Sexualität weiter fort, und es entsprach 
durchaus der Weisheit des Griechengeistes, daß sie nicht über- 
sehen und hysterisch versteckt wurde, sondern ihre Stelle inner- 
halb des neuen Systems erhielt. Die unpersönliche Sexualität 
wurde in das Dunkel der Mysterien zurückgedrängt, wo sie, dem 
Auge der neuen Lichtgottheiten entzogen, ihren unlöschbaren 
Durst zu büßen suchte. Die Mysterien waren der Tribut, den 
das apollinisch gewordene Griechentum dem chaotischen Asien 
Jahr für Jahr darbrachte, um sich für seine höheren geistig- 
seelischen Zwecke loszukaufen. Die Lichtkultur Athens ruht auf 
dem Nachtkult der sexuellen Mysterien. An den Festen des 
doppelgeschlechtigen Dionysos und der Demeter, die als Fort- 
setzungen des Adonis- und Mylittakultes zu betrachten sind, 
wurde das unpersönliche zeugende Element, der Phallus, und 
der blind empfangende Schoß verehrt. Hier, unter der Ober- 
fläche des nach männlichen Werten geordneten Griechenstaates, 
dessen Ideal Platon aufgestellt hatte, und der den Geschlechts- 
trieb im Dienst einer geregelten Fortpflanzung einzudämmen 
bestrebt war — hier lebte wie ein wilder Protest der orgiastische 
Kult der alten asiatischen Gottheiten fort, die dem Sterblichen 
in der brünstigen Lust der Zeugung und Empfängnis etwas vom 
Urgeheimnis alles Lebens übergeben hatten. Frauen hatten den 
Kult der nicht über sich hinaus wollenden Lust bewahrt, Bacchan- 
tinnen, Männer in Weiberkleidern und Kastratenpriester opferten 
den wahllos spendenden gnädigen Göttern. Soll doch Diony- 
sos selbst die Amazonen, die wilden Feindinnen der Männer, 
bezwungen und zu seinem Dienst bekehrt haben. Am Anfang 
der Euripideischen »Bacchen«, die den Kampf zwischen der 
wilden Naturgeschlechtlichkeit und der neuen Ordnung zum 
Gegenstand haben, schildert Dionysos, wie er über ganz Asien 
hingezogen und endlich nach Griechenland gekommen ist, von 


302 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


einem wilden Frauenschwarm gefolgt. Sein Kult war aber nicht 
nur ein Kult der Sinnlichkeit und der Rausches, sondern auch 
ein milder Naturdienst, der die Schranken zwischen Mensch und 
Tier aufhob — die für den Kulturgeist unüberschreitbar sind —, 
der alles Lebendige liebevoll einschloß. In den »Bacchen« 
heißt es, daß die Frauen, die aus der Stadt entflohen sind, um 
dem bezaubernden Fremdling Dionysos zu folgen, nun auf 
Bergen hausen, sie haben sich zahme Nattern ins Haar gefloch- 
ten, tragen die Brut der Wölfe und Rehe in den Armen und 
nähren sie an der eigenen Brust, Wein und Milch fließt, wenn 
sie mit dem Thyrsos an die Erde schlagen, usf. — Dionysos 
warnt den Pentheus, den Vertreter der hellenischen Männerord- 
nung, sich in männlicher Kleidung unter die Mänaden zu wagen. 


»Du wirst ermordet, wenn du dort als Mann erscheinst!« 
Und der Gott weiß das Geheimnis der männlichen und der 
weiblichen Art: 

»Erst verrücke 
Ein leichter Wahnsinn sein Gemüt; denn ist er sein 
Bewußt, so legt er’s nimmer an, das Frauenkleid; 
Doch ist er wirr im Geiste, legt er’s sicher an.« 

Pentheus erkennt in Dionysos, dem »weibischen Fremdling«, 
der die Frauen zur Raserei hinreißt, den Feind der höheren 
Gesetzlichkeit — und er wird von den Schwärmen der Bacchen, 
zuerst von seiner eigenen Mutter Agave in Stücke gerissen und 
dem »Stiergott« Dionysos als Opfer dargebracht. Am Schluß 
dieser merkwürdigen und tiefen Dichtung weicht der Wahn von 
Agave, sie verflucht alles, was sie in ihrer Besessenheit getan 
hat — das Weib unterwirft sich der neuen geistigen Ordnung 
der Dinge. — Wir verstehen nun auch, warum Hera, die 
Schützerin der neugeordneten Einehe, den Dionysos haßt und 
schon ungeboren zu töten trachtet. — 


Die schöne Sage von Orpheus hat das Verhältnis zwischen 
dem primitiven unpersönlichen Geschlechtstrieb und seiner 
Individualisierung auf einen einzigen Menschen zum Gegenstand. 
Orpheus klagt sieben Monate lang um den Tod der Euridike 
und wendet sich feindlich von allen anderen Geschöpfen der 
Erde. Diese Treue beleidigt und empört die thrakischen Weiber, 
sie sehen hier etwas Neues, dem naturhaften Dasein Verderb- 
liches, und bei einer nächtigen Dionysosfeier stürzen sie sich 
auf den Sänger — den Vertreter höherer hellenisch-musischer 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 363 


Werte — und zerreißen ihn in Stücke. Aber noch sein totes 
Haupt schwimmt die Fluten hinab und spricht: Euridike! — 
Es ist gewiß, daß zu jener mythischen Zeit solch eine Liebe 
nicht bestanden hat. Aber der griechische Genius hat vorahnend 
dieLiebe zu einer einzigen Frau gegen die allgemeine Geschlechter- 
vermischung gestellt. 

Wir haben bisher einen allgemeinen, nicht auf eine bestimmte 
Person gerichteten Geschlechtstrieb vorgefunden, gegen den 
sich die Tendenz zur Individualisierung, wenigstens in ein- 
geschränktem Maße, durchzusetzen trachtet. Aber auch bei 
dieser Individualisierung handelt es sich nur um den Geschlechts- 
trieb und nicht etwa um »Liebe«. Sie ist in der alten Welt 
noch nicht vorhanden, und wenn auch die Mythe von Orpheus 
ein Gefühl birgt, das an die moderne Liebe anklingt, so bleibt 
dieser Fall meines Wissens im griechischen Altertum vereinzelt 
— und mag immerhin als Vorahnung von etwas Neuem an- 
gesehen werden, wie sich ja auch deutliche Antezipationen des 
Christentumes bei Platon finden. Solche Erscheinungen — 
deren Existenz ich auf meinem Gebiete dahingestellt sein lasse, 
aber im ganzen doch für unwahrscheinlich halte — begegnen, 
wie man weiß, im Lauf der Geschichte nicht selten, bleiben 
aber kulturhistorisch betrachtet wirkungslos, Vorausahnungen 
der Zukunft, die in ihrer Zeit nicht verstanden und vielleicht 
als Kuriositäten aufbewahrt werden. 

Wenn auch das Altertum die seelische Liebe des Mannes 
zur Frau noch nicht kennt, so wird doch bei Platon mit 
vollem Bewußtsein der Sexualität, dem »niedrigen und gemeinen 
Eros«, ein »himmlischer Eros«, eine seelische Liebe entgegen- 
gestellt. Pausanias sagt im »Gastmahl«: »Die gemein Liebenden 
lieben Weiber nicht weniger als Knaben. Ferner sind sie mehr 
verliebt in die Leiber als in die Seelen ... Sie streben nur, 
das Ziel ihres Verlangens zu erreichen, ohne Sorge, ob es schön 
sei oder nicht. Ihr Eros ist ein Gespiele jener jüngeren Göttin, 
deren das weibliche und das männliche Geschlecht teilhaft 
war. Der andere Eros aber ist der himmlischen Göttin (Aphro- 
dite Urania) Genoß; sie ist nicht aus der Vermischung des 
Männlichen mit dem Weiblichen, sondern aus dem Männlichen 
allein entstanden, sie ist die Ältere und nicht mit Wollust Be- 
fleckte . . . Schlecht ist jener gemeine Liebhaber, welcher den 
Leib mehr als die Seele liebt. Auch hat seine Liebe sehr wenig 


364 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Bestand, wie der Gegenstand seiner Liebe. Dieser Eros, der 
himmlischen Göttin Genoß, ist es, welcher dem Liebenden und 
dem Geliebten das Streben nach Tugend mit Gewalt ans Herz 
legt. Jeder andere Eros ist der anderen Göttin, der gemeinen 
Aphrodite, Gespiele. — Und ein anderer Teilnehmer am Gast- 
mahl, Aristophanes: »Dieses Sehnen scheint nicht ein Verlangen 
nach sinnlicher Lust zu sein, als ob darum der eine sich des 
Umgangs mit dem andern so inbrünstig erfreute; nein, es ist 
offenbar, daß jede dieser beiden Seelen etwas will, was sie 
nicht aussprechen, sondern nur ahnen und andeuten kann«. 
— Und die geheimnisvolle Diotima hat den Sokrates das ge- 
lehrt, was über den gewöhnlichen Sinnentrieb hinausführt und 
zu etwas Seelischem, Göttlichem durch die Liebe hinleitet — 
ein ganz neues Element im erotischen Leben. »Die nun frucht- 
bar am Leibe sind, gehen vorzüglich den Weibern nach; die 
aber in der Seele lieben und unsterblich werden wollen durch 
Weisheit und Tugend, die suchen eine schöne, edle und reiche 
Seele, sich ihr ganz hinzugeben«. — Die edle Seele aber war 
nach der Auffassung des klassischen Griechentumes nur den 
Männern eigen. Die Frau gehörte den niedrigen animalischen 
Kreisen an und war zur Wollust und zur Fortpflanzung bestimmt. 
Bedeutet doch die platonische Ideenlehre den philosophischen 
Sieg des männlich-geistigen Prinzipes über die Natur, die Materie 
und ihre Hüterin, die Frau (vielleicht sogar die Rache des 
Griechengeistes an der ursprünglichen naturhaften Gebundenheit 
des Menschen). »Daher hat sie (die Männerliebe) einen engeren 
Bund, als die Gemeinschaft der Kinder geben kann, und festere 
Freundschaft, weil sie an schöneren und unsterblichen Kindern 
gemeinsamen Anteil hat«, fährt die Seherin fort. Und sie lehrt 
den Sokrates weiter, daß die herrlichsten Erzeugnisse des Geistes 
aus solcher hohen Liebe entstehen wie aus der niedrigen Liebe 
Kinder. Man muß zuerst einen einzigen Leib recht lieben, bis 
man gewahr wird, »daß jedes Leibes Schönheit mit der Schön- 
heit jedes anderen Leibes verschwistert ist. Denn woferne man 
der Schönheit im allgemeinen nachjagen will, ist es eine große 
Albernheit, die Schönheit aller Leiber nicht für eine und dieselbe 
zu halten. Hat er dies einmal wahrgenommen, so muß er Lieb- 
haber aller schönen Leiber werden und in der heftigen An- 
hänglichkeit an einen einzigen nachlassen, das einzelne ver- 
schmähend und für klein achtend«. 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 365 


Wir sehen, wie durch die griechische Knabenliebe ein neues, 
der ursprünglichen und natürlichen zweigeschlechtigen Sinnlich- 
keit vollkommen fremdes und sogar feindliches Moment ins 
erotische Leben der Menschheit tritt; es hat in den plato- 
nischen Dialogen »Gastmahl« und »Phädros« seine klassische 
Darstellung und Deutung gefunden. In bewußter Gegnerschaft 
zu aller Sexualität wendet sich die platonische Liebe — was 
gewöhnlich so genannt wird, beruht ja nur auf einem hart- 
näckigen Mißverständnis — einem Reingeistigen zu, nämlich 
den Ideen des Schönen, Wahren und Guten, sie begehrt Über- 
irdisches und erkennt sich als den Weg zu ihm. In der Liebe 
der edlen Seelen zueinander liegt der Keim alles Höheren, der 
Weg zu den Lichtgottheiten, die hier philosophisch als Ideen, 
aber doch immerhin hellenisch als anschaubare Ideen, Urbilder 
und Gipfelpunkte alles Menschlichen, gedacht werden. Zum Ver- 
ständnis dieser platonischen Liebe ist es außerordentlich wichtig, 
daß sie nicht (wie die seelische Frauenliebe des Mittelalters) 
auf einen Menschen gerichtet ist, von ihm ausgeht und in ihm 
endet; die Liebe zum einzelnen Persönlichen ist vielmehr echt 
platonisch nur ein Anfangsstadium, der Weg zu der Liebe, die 
sich auf das „Schöne überhaupt“, auf die ewigen Ideen bezieht. 
Diese metaphysische Erotik Platons, die erste, die es ge- 
geben hat, besteht also in der Liebe zu etwas Allgemeinem, 
nicht in der Liebe zu einem Menschen; letztere wird uns 
später als das eigentliche Charakteristikum der wahren — oder 
sagen wir bescheidener, der spezifisch europäischen — Liebe 
erscheinen. Die platonische Liebe ist schließlich Erkenntnis 
des Vollkommenen, das sokratische Wissen, sie ist nicht wie 
die Liebe des Mystikers und des wahren Erotikers im Elan 
und in der Dynamik des Liebens selbst, in der eigenen Fülle 
und Wesenheit beschlossen. Sie hat ein fremdes Ziel, nämlich 
Erkenntnis, allerdings Erkenntnis der himmlischen Dinge, was in 
der späteren christianisierten Platonik als Anschauung der gött- 
lichen Geheimnisse aufgefaßt wird. Für Platon, den Höhepunkt 
und Extrakt aller antiken und vorchristlichen Kultur, darf alles 
einzelne, auch der Geliebte, nur Vorbereitung, Mittel für die 
höchste Erkenntnis des Urschönen sein. Aus der höchsten 
Einsicht entspringt die wahre Tugend, sie macht die Menschen 
den Göttern gleich. Diese Sehnsucht, durch die Liebe zu einem 
einzelnen Menschen gut und vollkommen zu werden, wird uns 


366 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


wieder in der rein-seelischen Frauenliebe begegnen. Es sei 
festgehalten, daß sie schon im platonischen Eros vollkommen 
ausgeprägt ist und mit Bewußtsein angestrebt wird. — 

In der Nachterotik der Mysterien war die Schönheit des 
menschlichen Leibes bedeutungslos, Wollust und Taumel herrsch- 
ten. Denn wie hätte in den asiatischen Geschlechtskulten Schön- 
heit, ein Moment der Auswahl des einen vor dem andern, eine 
Stelle finden sollen? Die Griechen haben als erste die mensch- 
liche Schönheit bewußt entdeckt. Ihre Tageserotik ist eine Erotik 
des wohlgestalteten menschlichen Leibes, die Schönheit weckte 
ihre Liebe, sie war das Prinzip, wonach sie erotisch werteten. 
Ein Schöner an Leib und Seele, ein Kalokagathos, das ist ihr 
Ideal gewesen. Noch viel schroffer als im »Gastmahl« stellt 
Sokrates im »Phädros« dem, »der gleich den Tieren lüstern nach 
sinnlichem Genuß ist«, den andern gegenüber, der Vollkommen- 
heit und Schönheit erringen will. »Ihm ist das Antlitz des Ge- 
liebten das treue Nachbild des Urschönen«. Ja, er mochte 
dem Geliebten opfern, wie den unsterblichen Göttern. Denn für 
Platon löste sich von allen schönen Leibern mehr und mehr 
die Idee der formalen Schönheit ab, der wieder die Idee der 
Seelenschönheit übergeordnet ist. Sie leitet zur metaphysischen 
Schönheit, zur ewigen und unvergänglichen Idee des Menschen 
hin. Sokrates durfte die Schönheit des einzelnen Leibes sogar 
verachten, weil er in ihr doch nur ein mangelhaftes Abbild der 
vollendeten Idee der Schönheit erkannt hatte Und so ist im 
tiefsten Sinn der platonische Eros unpersönlich, er ist nicht 
wahre Seelenliebe zu einem Menschen, sondern eine besondere 
Art des griechischen Schönheitskultes. Dieses Motiv der Schön- 
heitsanbetung wird uns in der echten metaphysischen Liebe, in 
der Verehrung der Frau wieder begegnen, es ist durch Platon 
dem höchsten Schatz des menschlichen Gefühles für immer ein- 
verleibt worden, und auch das Streben über alles einzelne hin- 
aus findet später seine Wiederbelebung. Aber den Mittelpunkt 
bildet dort immer die Liebe zu der einen Geliebten, das modern- 
europäische Grundmotiv gegenüber dem antik-platonischen Ideen- 
kult. So ist auch noch Platon ein Bürger der alten Welt: an 
ihrem Anfang steht die allgemeine sexuelle Vermischung, die 
kein Individuelles duldet, die keine einzelnen Menschen kennt, 
sondern nur den wild wuchernden Trieb; ihr Ende wird durch 
die wieder völlig unpersönlich gewordenen Ideen bezeichnet. 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 367 


Und die alte Zeit hat den Weg alles Menschenseins in einem 
großen Kreis durchmessen: Vom unbewußten Leben der Natur 
durch den persönlich gewordenen Menschen zur höchsten 
geistigen Unpersönlichkeit der Ideenwelt. — 

Was ist aber der Grund, daß die Schönheit fast durchweg 
nur im männlichen Körper gefühlt wird? Man muß hier an 
den eigentümlichen Hermaphroditismus der antiken Plastik 
denken, der uns trotz aller Begeisterung für diese Kunst doch 
innerlich fremd ist. Sowohl Dionysos als auch Apollon sind 
Wesen zwischen Mann und Weib, die Frauengestalten dagegen 
erscheinen in den Proportionen des Körpers, wie auch im 
Schnitt des Gesichtes dem Männlichen angenähert. Und die 
Griechen haben gern das Mannweib, den Hermaphroditen, ge- 
bildet, ein Wesen, das ihrem Ideal des mittleren Menschen am 
nächsten gekommen ist. Dieses Ideal tritt aber stets — auch 
in der Renaissance und in der Gegenwart — mit Knabenliebe 
zusammen auf. Denn nur der heranwachsende Knabe vereinigt 
in seinem Körper männliche und weibliche Linien, und die 
Durchdringung beider zu einem einzigen Geschlecht ist der 
Traum des klassischen Griechenlands gewesen. Alles Extreme 
war diesen Menschen verhaßt und galt ihnen, nicht nur auf 
geschlechtlichem und körperlichem Gebiete, als barbarisch, die 
ueoörns, das edle Maß, wurde einzig gewertet. Und hierzu ist 
die reichere geistige Veranlagung der Knaben gekommen, die 
ein vernünftiges Gespräch, das Ideal der Athener, möglich 
machte, wo man mit Mädchen nur hätte scherzen können. Die 
Griechen klassischer Zeit verachteten die Frau, sie verbanden 
mit ihr den Gedanken der niedrigen Sinnlichkeit, die zur Fort- 
pflanzung führt, auch wo diese unerwünscht ist; aber in ihrer 
Geringschätzung der Frauen lag wohl auch ein Gefühl des 
Grauenhaften, die Zeiten der Mutterherrschaft waren noch allzu 
nahe, sie lebten in vielen Nationalsagen und wohl auch in der 
Seele der Männer fort, die Nachtseite des Erotischen ist für 
sie in der Frau verkörpert gewesen — und es war nur die 
konsequente Vollendung dieser Gefühlsweise, wenn später die 
Frau als Werkzeug des Teufels angesehen worden ist. Der 
Keim hierzu hat sicherlich schon in den Griechen der platonischen 
. Zeit gelegen, sie ahnten in der Frau das dumpf naturhafte Da- 
sein, dem sie selber unter Kämpfen entwachsen waren, und sie 
flüchteten nicht nur gesellig, sondern auch erotisch zu den ver- 


368 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


trauteren Geschlechtsgenossen. Mußte die Liebe zu Männern 
nicht vom Niedrigsinnlichen losreißen und seelisch machen, ja 
zu den Göttern hinaufführen? In diesem Sinne wird Zeus im 
Phädros giAıos, der Freundschaftsstifter, genannt. Platon hat 
es gelehrt und er hat damit die radikalste Konsequenz des 
neuen, scheinbar männlichen, aber im tiefsten doch herma- 
phroditischen Kulturideales gezogen, das im Heroenzeitalter an- 
gebahnt worden war und von den Griechen der klassischen 
Zeit vollendet wurde. Die Knabenliebe der Griechen ist ein 
Sieg des geistig-seelischen Prinzipes über gestaltlose Sexualität 
und erdenhafte Fortpflanzung, und ganz im Geiste des Griechen- 
tumes wurde sie wieder auf den Körper zurückbezogen. Ich 
glaube, daß diese beiden Momente — angeborenes herma- 
phroditisches Fühlen und kulturelle Verachtung der Frauen — 
die wichtigsten Ursachen der so auffallenden griechischen Homo- 
sexualität sind; sie entstammt jedenfalls einer ganz anderen 
Gefühlssphäre als die weit verbreitete der Orientalen und die 
sporadische moderne. Die Knabenliebe der platonischen Griethen 
entspricht so ihrer Idee nach vollkommen der rein seelischen 
Frauenanbetung des späten Mittelalters — beide sind ein Weg 
aus dem dumpfen Sinnenleben in die Freiheit des Seelischen. — 

Weil die Alten keine individuelle Liebe kannten, sondern 
nur den ewig unveränderlichen Trieb, darum haben sie ihre 
Sarkophage mit Symbolen des ekstatisch flammenden Lebens, 
mit Mänaden und Faunen in Tanz und Umarmung, geziert. Die 
Generationen vergehen, aber neue sind da und umfangen und 
zeugen — das Leben ist unsterblich. Im Taumel der Namen- 
losen ist der Tod wahrhaft überwunden, denn nicht in der ein- 
zelnen Seele, sondern in der Gattung liegt der eigentliche, der 
wahre Sinn. Der Mittelpunkt und höchste Wert mußte erst 
in die Seele versetzt werden, damit der Tod des einzelnen eine 
tiefe und entscheidende Bedeutung gewinne. Ein Mensch ist 
dahin für immer, keine Zeugung kann ihn wiederbringen. Der 
Tod wird das Endgültige und Schreckliche, weil er das Höchste 
fällt, den in sich selbst ruhenden Menschen. Aber auch die 
Liebe wird etwas anderes: nicht mehr Sinnlichkeit, die am Leibe 
hängt und mit ihm vergeht, sondern Sehnsucht der Seele, ihrer 
selbst gewiß und über die Erde hinausgreifend. Eine neue 
Tragik kommt in die Welt, aber auch eine neue Versöhnung. — 


D D 





Я 


(E e 
D N 


Ki NINE. 8 


GE 


Dt 


ТТ 





S 
© 
E 
Ы 
$ 
E 
С 
| 


EN 
Kë KH 


E: 


<= 








f | rn er nun INEN 


f 
| 
Ё 
f 
| 
E 


DAS ZUBETTGEHEN DER NEUVERMÄHLTEN. 
Französischer Kupferstich von DAMBRUN nach QUEVERDO, 


(Zu dem Aufsatz „Das öffentliche Beilager‘‘ Seite 342). 








j àz РБ С 
Рура E d ke 


| 
H 
N 
ү 


DAS AUFSTEHEN DER NEUVERMÄHLTEN. 
Französischer Kupferstich von DAMBRUN nach QUEVERDO. 


(Zu dem Aufsatz ‚Das öffentliche Beilager‘‘ Seite 342). 





GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 
УШ, 9. 





MUTTER. Von JEAN HONORE FRAGONARD. (1732—1806) 
Zu dem Aufsatz Die Mutterschaft:. S. 397 


EE 





DAS GESCHWISTERPROBLEM. 
Von Dr. J. B. SCHNEIDER. 

E: ist eines der schwersten Probleme, mit dem sich das 

letzte Jahrhundert beschäftigt hat, wenn auch seine Be- 
deutung auf einem anderen Gebiete liegt als dem von der 
Sexualforschung bislang allein betretenen. Die Sexualpsycho- 
logen haben es lange Zeit bei Seite geschoben, einmal, weil 
es undankbar ist, an Dinge zu rühren, die durch die Tradition 
der Jahrhunderte sakrosankt geworden sind, und dann, weil 
lange Zeit hindurch aus dem Geschwisterproblem höchstens 
das rassenbiologische Moment als beachtenswert heraus- 
gegriffen wurde. Die Literatur, die sich mit der blutsverwandten 
Ehe, mit Inzest und der Vererbungstheorie beschäftigt hat, 
enthält eine genaue Beschreibung der ungünstigen Folgen, die 
Sich aus Geschwisterehen möglicherweise ergeben, und streitet 
im übrigen um den Grad dieser Nachteiligkeit, ohne dem 
Problem nach der sexual-ethischen und psychologischen Seite 
näher zu kommen. In dem Verhältnis der Geschwister zu- 
einander aber und besonders in der Zweiheit Bruder und 
Schwester, schwingt eine der tiefsten Seiten menschlichen 
Seelenlebens mit, webt eines der tiefsinnigsten erotischen 
Probleme, und liegt soviel Lüge darum gebreitet, daß es bei- 
nahe zur Unmöglichkeit wird, alle diese klaffenden Abgründe 
zu überbrücken. Medizin und Jurisprudenz klammern sich ledig- 
lich an die nackten Tatsachen, die den Verkehr zwischen Bruder 
und Schwester, beziehungsweise zwischen Blutsverwandten über- 
haupt, beweisen und neigen leicht dazu, überall eine Gesetzes- 
übertretung zu wittern, wo, bei Lichte besehen, es sich um Be- 
kundungen der Natur, um die Fundamente des erotischen 
Empfindens selbst handelt. So haben auch diejenigen, die das 
Blutsverwandtenproblem und das Gebilde des Inzestes konstruiert 
haben, so weit es sich um Bruder und Schwester handelt, einen 
falschen Schluß aus richtigen Prämissen gezogen, denn das 
Verhältnis zwischen Bruder und Schwester ist zum mindesten 
so uralt, wie das zwischen Mann und Weib, ja, Mann und Weib 
standen sich ursprünglich als Bruder und Schwester gegen- 

Geschlecht und Gesellschaft VIII, 9. 24 


370 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


über und die Liebe, als Verschmelzungsprodukt zwischen einer 
männlichen und weiblichen Energie, ist, man verzeihe den 
paradoxen Nebensinn des Wortes, aus dem Inzest geboren. 
Diese Empfindung liegt auch der biblischen Sage zu Grunde, 
die das gesamte Menschengeschlecht von einem einzigen 
Menschenpaare abstammen läßt, und die mystische Verball- 
hornung, die das erste erotische Verhältnis in der Schöpfungs- 
sage erfährt, ist nur ein Kunstgriffl, um eine nachgeborene 
Menschheit das Eigentliche, Natürliche dieses Verhältnisses 
nicht erkennen zu lassen. Aus dem gleichen Grunde haben 
die Priester in der Schöpfungssage Gott selbst herabsteigen 
lassen, der auf umständliche Weise den Mann Adam schaffen 
mußte, aus dessen einer Rippe wiederum das Weib Eva ge- 
staltet wurde. Aber der Instinkt läßt sich nicht täuschen, und 
wir werden es gerade aus dem altjüdischen Testament be- 
weisen, wie objektiv bereits in frühster Zeit das erotische Ur- 
element der Geschwisterliebe im Volksbewußtsein gewertet wurde. 
Die indische Schöpfungslegende ist hier viel naiver und offener, 
indem sie von Anfang an die Zweieinigkeit Isis und Osiris als 
eine erotische darstellt. Der Götterknabe Osiris knüpft mit 
seiner Zwillingsschwester Isis bereits im Mutterleibe sexuelle 
Beziehungen an, und die indische Göttin ist bereits geschwängert, 
bevor sie noch auf die Welt kommt. Für die Volksphantasie ist 
es aber verständlicher, wenn alles gewordene von einem Menschen- 
paar abstammt, das sich gleichzeitig geschwisterlich verwandt 
ist, als wenn erst der mythologische Olymp herbeigeholt wird, 
von dem die Bevölkerung der Welt ausgeht, die sich übrigens 
in ihrer Zusammensetzung als recht ungöttlich und mangelhaft 
zeigt. Die Abstammung von einem Göttermenschenpaar, das 
gleichzeitig Bruder und Schwester ist, offenbart in verhüllter Form 
bereits jene neuzeitliche Auffassung von der Genesis des 
Menschen, zu der wir erst auf dem Umweg über Darwin und 
Haeckel gelangt sind; denn auch in der Schöpfungslegende 
befindet sich das erste Menschenpaar auf der gleichen primi- 
tiven Stufe, wie die es umgebende Tierwelt. Die Menschen 
werden mit Tieren redend eingeführt und die Tiere empfinden 
sie andererseits als ihresgleichen. Dieser paradiesische Zustand 
ist nichts anderes als die moderne Darwinistische Abstammungs- 
lehre in den biblisch-hebräischen Jargon übertragen. Mit ge- 
wissen Variationen wiederholt sich die gleiche Anschauung in 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 371 


der religiösen Mythologie aller Völker, kurz, an der Schwelle 
aller Kulturen steht überall die mythisch-erotische Verbindung 
Mann und Weib, oder in unserer Umdeutung: Bruder und 
Schwester. Wenn demnach eine derartige Erkenntnis der 
Psyche naiver Völker ganz selbstverständlich war, so beweist 
das erstens, daß in dem Verhältnis männlicher und weib- 
licher Geschwister zueinander immer ein erotischer 
Unterton vernommen wurde, daß dieser erotische 
Grundton die erste Schwingung bedeutet, die dann 
hundert- und tausendfach verstärkt sich zu der Liebe 
der Geschlechter entwickelt, und daß eine raffinierte 
politische Spekulation entwickelterer Zeiten den verstärkten 
Akkord angenommen, den ursprünglichen naiven Ton aber ver- 
fälscht und verfehmt hat. Zweitens ergibt sich daraus, daß 
die Gesetze, die von der rassenbiologischen Forschung für die 
geschlechtliche Liebe und Ehe zwischen Blutsverwandten auf- 
gestellt wurden, nur in bedingtem Umfang zu recht be- 
stehen können, und daß das sogenannte Inzuchtproblem viel 
mehr mit äußeren Umständen arbeitet, als zugegeben wird. 
Das, was man allgemein als Inzucht bezeichnet, ist im 
Grunde nichts als ein Komplex von zahlreichen noch 
näher zu beschreibenden Phobien, an deren Ent- 
stehung weniger das einzelne Individuum, als viel 
mehr die Gesellschaft und ihr durch Jahrhunderte 
genährter wirtschaftlicher Egoismus Schuld tragen. 
Nach den biogenetischen Grundsätzen hat der Mensch eine 
Reihe von Entwicklungsstufen durchmachen müssen, bevor er 
zu einem Grad geistiger und körperlicher Vollkommenheit 
gelangt ist, die das unterscheidende Merkmal zwischen ihm 
und seinen tierischen Ahnenstufen ausmachen. Innerhalb dieser 
Entwicklung liegt zunächst jener primitive Zustand, wo die 
Vernunft zu Gunsten des animalischen Trieblebens noch ein- 
gedämmt ist und die Instinkte frei walten. Die Geschlechts- 
verhältnisse sind auf dieser Stufe denen der höheren Säuge- 
tiere gleich, und erst die Differenzierung durch die zunehmende 
Seßhaftigkeit und die dadurch bedingte Arbeitsverteilung führen 
zur nächst höheren Phase im Entwicklungszustand der ur- 
menschlichen Gruppen. Wenn in diesem Zeitraum nicht mehr 
die wahllose geschlechtliche Promiskuität herrscht, so istes darauf 
zurückzuführen, daß der geschlechtlichen Durcheinander- 
24* 


372 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


mischung bereits in früher Zeit gewisse instinktive Grenzen 
gesetzt waren, die durch das Wirken einer sexuelle Auslese 
anstrebenden Kraft hervorgerufen wurden. Durch die über- 
wiegende Betonung besonders reizerhöhender sexueller Quali- 
täten an dem gegenseitigen Partner hat die Natur darauf hin- 
gearbeitet, eine Rückentwicklung zu bereits überwundenen 
Stadien hintanzuhalten und gleichzeitig durch die Verstärkung 
der wertvollen Anlagen immer wertvollere Exemplare zu 
züchten. Die Überwindung des Matriarchats und das Einsetzen 
individualistischer Tendenzen sind die Folgen dieses natürlichen 
Auslese- und Aufzuchtprogrammes, dessen Durchführung unter 
unsäglich erschwerenden Umständen geschieht und auf unab- 
sehbare Reihen von Jahrtausenden verteilt ist. Es dürfte nicht 
unwahrscheinlich sein, daß die erotische Anhänglichkeit der 
Geschwister untereinander, die sich bis in die Urzeiten logisch 
rekonstruieren läßt, ein wichtiges Hilfsmittel im Sinne der 
natürlichen Auslese dargestellt hat. Wir haben bereits gesehen, 
daß Mann und Weib zuerst in ihrem gleichzeitigen Verhältnis 
als Bruder und Schwester aneinander ein erotisches Wohl- 
gefallen finden. Es ist nun wahrscheinlich, daß der primitive 
Mensch ähnlich wie bei seinen höheren tierischen Verwandten 
einen bestimmten Zeitraum in der ersten Jugend zusammen mit 
seinen weiblichen Geschwistern verlebt hat, und daß sich ihm 
hierbei gewisse physische Momente, Qualitäten und Gewohn- 
heiten an diesen besonders eingeprägt haben, deren er sich in 
dem Moment, da sein geschlechtliches Verlangen nach einer 
Gesellin erwacht, instinktiv aber deutlich erinnert. Mit anderen 
Worten ausgedrückt: es scheint das Bildnis der Schwester zu 
sein, was der primitive Mensch in anderen Partnerinnen sucht, 
und bei der Auswahl wird jene vor allen reüssieren, die für 
ihn ein Übergewicht an den begehrten lustbetonten Eigen- 
schaften besitzt. Es kann aber auch das Umgekehrte dieser 
Hypothesen — und wer wollte ihre Möglichkeit unbedingt 
bestreiten? — eintreten, daß nämlich der Mensch auf der Suche 
nach der für ihn wertvollsten Partnerin unbewußt auf seine 
eigenen Geschwister stößt und so gerade jene Elemente 
fortpflanzt, die einem Emporsteigen zu immer höheren Stufen 
dienstbar und förderlich sind. Nachdem Galton, Haacke, Mayet, 
Spencer, Rohleder und andere das Inzuchtproblem nach allen 
Seiten hin zum Teil in widersprechendster Weise durchleuchtet 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 373 


haben, wissen wir, daß Inzucht nur insofern Bedenken recht- 
fertigt, als durch die Vermischung im engen Blutsverwandten- 
kreise gewisse physische und somatische Merkmale der Rasse 
eine dauernde Verstärkung erfahren, während andere vielleicht 
nicht minder wichtige Fähigkeiten ebenso dauernd verkümmern. 
Der äußere Habitus, die Geistigkeit und auch die Disposition 
zu gleichen oder ähnlichen Leistungen, die mitunter in einer 
alten Familie sich auffallend wiederholen, sind das Endprodukt 
der häufig geübten Inzucht, die ebenso eine hervorragende 
künstlerische Anlage wie verbrecherische Keime beider Eltern 
im Kinde zu potenzieren vermag. Damit ist aber nicht gesagt, 
daß Inzucht allein Degeneration im schlimmsten Sinne bewirkt, 
denn dann müßten Kultur und Geistigkeit überhaupt die 
eigentlichen Kennzeichen bereits begonnenen Niedergangs be- 
deuten und unter solchen Annahmen wären für die praktische 
Rassenveredelung nur zwei Wege offen: entweder führen wir 
die Ideale des Mittgardbundes und ähnlicher reformfreudiger 
Optimisten durch und erzielen eine Rasse, die in allem und 
jedem Kraft und Gesundheit bedeutet — wir hätten also als 
nächstes Ziel in der Zukunft die Rückkehr zum Urmenschen, 
der nur seinen Trieben gehorcht und eine Kultur darüber 
hinaus nicht anerkennt, vor uns, und wir gewännen damit die 
Gewißheit, daß uns nicht das gleiche Verhängnis ereilt, das in 
antiker Zeit der byzantinischen und lateinischen Rasse ihr Ende 
bereitet hat; — oder wir lassen der Kunst und Kultur nach 
wie vor offene Tore und begnügen uns damit, auf den 
beiden vorgenannten Gebieten den höchsten Gipfel 
zu erklimmen. Dann ist Inzucht der einzigste und wertvollste 
Weg zur Erreichung der vorgesteckten Ziele und das Ge- 
schwisterproblem behält seine ursprüngliche eminente kultur- 
fördernde Bedeutung. Variieren wir also zusammenfassend das 
biblische Wort im Sinne der prähistorischen Menschhejts- und 
Kulturentwicklung: im Anfange sah der Mann das Weib und 
das Weib war seine Schwester. Und der Bruder sah seine 
Schwester und der Oheim seine Nichte, der Schwäger die 
Schnur und der Enkel die Enkelin; und sie sahen, daß sie alle 
wie eine Familie waren, und daß ihr Glück und ihre Kraft 
darin lag, wenn sie wie eine Familie blieben; und das taten 
sie und blieben wie eine Familie. Der Mensch horchte zu 
Beginn auf die Stimme seines Blutes und die wies ihn auf die 


374 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Schwester hin, in einer Ausdehnung auf die nächsten Ver- 
wandten, d. h., der Instinkt erwies sich als der erste Kultur 
schaffende Faktor. - 

Mit dem Bruch des Mutterrechtes jedoch hat sich nicht sofort 
die neue Gesellschaftsordnung vollzogen, sondern es bedurfte 
einer langwierigen, Jahrtausende währenden Reife, bevor sich die 
individualistische Umwertung des Mannes vollzogen hatte und 
das Verhältnis der Geschlechter in jenes Stadium getreten ist, 
dessen Zielpunkt sich in der Richtung des monogamen Prinzips 
findet. Nach dem Sieg des monogamen Prinzips aber fällt gleich- 
zeitig zum erstenmal die Erkenntnis der erotischen Grundwurzeln, 
die in dem Geschwisterproblem ruhen. Sie leuchten in der antiken 
semitischen und hellenischen Sagengeschichte auf und beweisen, 
wie ich bereits erwähnt habe, den Bekennermut, mit dem die antiken 
Völker unserem Problem gegenüber standen. Die altgriechische 
Sage erfindet das Verhältnis zwischen Phryxos und Helle, ein Ge- 
heimnis von wunderbarer Zartheit, das mit dem Tod Helles in 
dem nach ihr benannten Hellespont ein tragisch düsteres Ende 
nimmt. In direkter Fortführung dieser Sage findet sich dann 
der merkwürdigste Versuch um die Lösung des Geschwister- 
problems in der althellenischen Mythe, die Verbindung Orestes 
und Iphigenie, die in den gewaltigen Komplex der Tantaliden- 
sage mit ebensoviel Geschick wie ernster Bedeutung hinein- 
geheimnist ist. Man muß den Sinn der Orestie, so wie sie 
durch Aischylos überliefert ist, richtig verstehen, um den 
Schlüssel zu dem Rätsel Orest und Iphigenie zu finden. Der 
Sprößling Agamemnons, der das Blut seines Vaters an seiner 
ehebrecherischen Mutter Klytämnestra rächt und dafür von den 
Erinnyen, als den Vertreterinnen des beleidigten Mutterrechtes, 
verfolgt wird, sinkt matt und zu Tode gehetzt in die Arme 
seiner Schwester, durch die ihm die Erlösung zu teil wird; 
Orest ist der Triumph des männlichen Prinzips über das 
weibliche, der Sieg einer neuen individualistischen Ordnung 
über die dunklen chtonischen Urmächte, als deren letzte 
symbolische Repräsentantin Klytämnestra dasteht. Das ani- 
malische, nur Mutter seiende Weib tritt in der neuen 
Ordnung zurück und wird durch einen neuen Typus: 
die Schwester, das ist Iphigenie, ersetzt. Eine beginnende 
Kultur meldet sich zu Worte, die unumwunden auf das 
Geschwisterverhältnis als ihr fruchtbares Grundelement, hin- 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 375 


weist. Die priesterliche Heiligung, die die Schwester als solche 
zum ersten Male in der Menschheitssage erfährt, ist ein in 
Ehrfurcht und Staunen erschauerndes Einbekenntnis, daß die 
Menschheit sich jener geheimen Kräfte bewußt wurde, die durch 
die Fortpflanzung innerhalb der eigenen Sippe eine ungenannte 
Steigerung erfahren. So wird die Schwester die Trägerin 
des Kulturgedankens, seine Hüterin und Pflegerin, wie 
die Mutter die nackte animalische Fortpflanzung 
symbolisiert hat. Gleichzeitig aber findet sich in der Ver- 
bindung Bruder-Schwester bereits die geistige, individualistische 
Liebe vorgeahnt, die wir erst als eine Leistung der modernen 
Höhenkultur für uns in Anspruch nehmen. Das platonische 
Verhältnis zwischen Bruder und Schwester, das gleichwohl auf 
dem erotischen aufgebaut ist, enthält als erstes die Elemente 
der höchst-kultivierten, komplizierten modernen Liebe in sich. 
In der griechischen Sage tritt es uns zwar noch nicht so 
deutlich entgegen, dagegen findet es sich in der Bibel bereits 
in unzweideutiger markanter Form wiedergegeben. 

Die Bibel hat für das Geschwisterproblem eine tiefsinnige, 


wuchtige, und von einer tragischen Atmosphäre erfüllte Inter- V `’ 


pretation gefunden. Im 2. Buch Samuelis wird im 13. Kapitel 
die Geschichte von Davids Sohn Amnon und der Königstochter 
Thamar geschildert, worin die althebräische Psychologie ein 
Meisterstück ihrer Art leistet. Davids Sohn Amnon liebt seine 
Schwester Thamar mit einer leidenschaftlichen, hoffnungslosen 
Liebe, die ihm das Mark aus den Knochen saugt und seine 
Wangen täglich hagerer und blasser erscheinen läßt. Das be- 
merkt sein Oheim Jonadab, ein Sohn Simeas, Davids Bruder, 
und spricht zu ihm: »Warum wirst Du so mager, Du Königs- 
sohn, von Tage zu Tage? Magst Du es mir nicht ansagen?« 
Da sprach Amnon zu ihm: »Ich habe Thamar, meines Bruders 
Absalom Schwester lieb gewonnen.« Jonadab sprach zu ihm: 
»Lege Dich auf Dein Bett und mache Dich krank. Wenn dann 
Dein Vater kommt, Dich zu besehen, so sprich zu ihm: Lieber, 
laß meine Schwester Thamar kommen, daß sie mich ätze und 
mache vor mir ein Essen, daß ich zusehe und von ihrer Hand 
esse.« So geschieht es auch, die Königstochter Thamar kommt 
zu Amnon, um ihm das Essen zu bereiten. Da schickt er alle 
Knechte und Mägde hinaus und bittet Thamar, ihm das Essen 
vor das Bett in seine Kammer zu bringen. Als er aber mit 


376 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Thamar allein zusammen ist, bittet er sie, sich ihm hinzugeben. 
»Sie aber sprach zu ihm: Nicht, mein Bruder, schwäche mich 
nicht, denn so tut man nicht in Israel, rede aber mit dem 
Könige, der wird mich Dir nicht versagen«. Amnon aber hörte nicht 
auf sie und beging gegen ihren Willen das Verbrechen an ihr. 

Es folgt der zweite Teil der großartigen Tragödie, 
der nicht nur psychologisch höchst interessant ist, sondern 
auch eine Reihe neuer Probleme zu dem ursprünglichen hinzu- 
bringt. Als Amnon seine Schwester geschwächt hatte, »da 
wurde er ihr überaus gram, daß der Haß größer war, denn 
vorher die Liebe war und Amnon sprach zu ihr: Mache Dich 
auf und hebe Dich. Sie aber sprach zu ihm: Das Übel ist 
größer, denn das andere, das Du an mir getan hast, daß Du 
mich ausstößest. Aber er gehorchte ihrer Stimme nicht, sondern 
rief seinen Knaben, der sein Diener war, und sprach: Treibe 
diese von mir hinaus und schließe die Tür hinter ihr zu.« 
Der Diener Amnon’s treibt die Prinzessin aus dem Hause 
seines Herrn und diese betritt wehklagend die Straße, auf der 
ihr Davids zweiter Sohn, Absalom, begegnet. Der bunte Rock 
Thamars, den die königlichen Töchter, die noch Jungfrauen 
waren, trugen, ist zerrissen. Weinend und Asche auf ihr Haupt 
streuend, tritt sie Absalom entgegen. Dieser tröstet sie und 
nimmt sie bei sich auf. Aber seit dem Tage sinnt er auf 
Rache und bereitet langer Hand einen kühnen Anschlag vor, 
der dem blutschänderischen Amnon das Leben kostet. Er 
lädt zum Feste der beendeten Schafschur alle Königskinder zu 
sich heraus, inszeniert bei dieser Gelegenheit einen Auflauf 
und läßt durch seine Hirten Amnon erschlagen. »Also taten 
die Knaben Absaloms dem Amnon, wie ihnen Absalom geboten 
hatte. Da standen alle Kinder des Königs auf und ein jeglicher 
saß auf seinem Maultier und flohen... Absalom aber floh 
und zog zu Thalmai, dem Sohne Ammihuds, dem König zu 
Gesur. Er (David) aber trug leid über seinen Sohn alle 
Tage.« 

Den Schluß bildet die Erzählung von Absaloms Leiden in 
der Verbannung, von seiner Begnadigung auf Fürbitte des 
Weibes von Thekoa hin, sein neuerlicher Aufruhr und schließ- 
lich die abstoßende Szene, wo Absalom auf dem Dache seines 
Palastes sich eine Hütte baut und vor den Augen des ganzen 
Israel die Kebsweiber seines Vaters beschläft. Dafür stößt 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 377 


Joab, der Heerführer Davids, dem mit seinen langen Haaren in 
einer Eiche hängen gebliebenen Absalom einen Wurfspieß ins Herz. 

Der für uns interessante Teil der Absalom-Legende ist die 
Erzählung von Amnons und Thamars Butschande und die 
Rache, die der andere Bruder an dem Blutschänder nimmt. 
Wichtig ist zunächst die Feststellung: Amnon liebt seine 
Schwester. Er begehrt sie nicht nur, sondern in seiner Seele 
hat ein Gefühl Platz gegriffen, das an keiner anderen Stelle 
der hebräischen Sagengeschichte so kunstvoll und mit Ver- 
schwendung psychologischer Details beschrieben wird. Іт 
Wesen der modernen Liebe liegt es, daß neben dem rein sinn- 
lichen Element das übersinnliche ebenso stark zu Tage tritt, 
und daß die Liebe auch nach erreichter Erfüllung entweder in 
ihrer reinen Form oder in ihrem anderen Extrem, dem Haß, fort- 
besteht. Das Wesen des animalischen Geschlechtstriebes hingegen 
kennzeichnet sich in seiner Einförmigkeit, in seinem eruptiven 
Aufflackern und dem ebenso raschen Erlöschen nach erlangter 
Befriedigung. Der rein sinnliche Geschlechtstrieb vermag daher 
ganz vorbereitungslos ein Objekt zu umfassen. Der Einzelne 
läßt alle seine Kräfte spielen, um in den Besitz des reizaus- 
übenden Objektes zu gelangen und ebenso plötzlich erlischt 
alles weitere Interesse an dem Gegenstand der Begierde, wenn 
der Zweck der Werbung erfüllt worden ist. Geschlechtstrieb 
und Liebe unterscheiden sich aber streng genommen deutlich 
voneinander, indem nämlich eines unabhängig vom anderen 
oder aber beide gleichzeitig nebeneinander bestehen können. 
Bei psychisch differenzierten Personen ist es keine Seltenheit, 
daß sie in einem doppelten Verhältnis leben, d. h., sie befinden 
sich in einer intensiven geschlechtlichen Abhängigkeit von zwei 
verschiedenen Personen. Zu einer Person treibt sie das Ver- 
langen nach Befriedigung, nach einem möglichst kompletten 
Sexualgenuß, nichtsdestoweniger vermögen sie den Gegenstand 
ihrer Begierde direkt unangenehm empfinden, ja geradezu 
hassen. Der andere Freund wird dagegen schwärmerisch ver- 
ehrt, oft mit rührender Liebe umgeben, ohne daß es zu einem 
direkten Geschlechisverkehr kommen muß. Nun liegt es ja im 
Wesen des Geschlechtstriebes, daß er, wie Steckel sich aus- 
drückt, »bipolar« ist, daß einer entsprechend starken Liebe ein 
ebenso wuchtiger Haß gegenüber steht, und daß nach uraltem 
Naturgesetz diese beiden wichtigsten Strömungen menschlicher 


378 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Leidenschaft ständig abwechseln müssen. Treten diese beiden 
Gegenkräfte ins Bewußtsein, dann hat sich der Geschlechts- 
trieb von seiner animalischen Stufe emanzipiert und tritt in 
jenes Stadium ein, das wir schlechtweg als Liebe bezeichnen. 
Da der Erkenntnis der Liebe eine spekulative Beschäftigung 
mitihren Elementen vorangegangen sein muß, so setzt das eine 
bestimmte Reife des Intellekts, eine erreichte Kulturhöhe voraus, 
die natürlicherweise dort am höchsten ist, wo die Liebe zu 
dem innersten und tiefsten Problem der Zeit geworden ist. 
Um auf die biblische Legende zurückzukommen: Amnon liebt 
seine Schwester Thamar mit der ganzen Kraft seiner Seele, er 
wird um ihretwillen krank, und zwar in einer so bedenklichen 
Weise, daß sein Oheim ihm selbst die Hand zu dem Komplott 
gegen die leibliche Schwester biete. Die Liebe Amnons ist 
keine augenblickliche Laune, keine vorübergehende Begierde; 
sie hat nicht den Zweck der Fortpflanzung im Auge, sondern 
ist mit intellektuellen Momenten gepaart und bedeutet, praktisch 
genommen, das Anstreben einer unproduktiven Verbindung. 
Sie läuft alle Phasen bis zu dem anderen Extrem, dem Haß, durch 
und ist in ihrer gewaltigen Entwicklung bereits dem kompli- 
zierten modernen Gefühl vergleichbar. Man hat in der neueren 
Sexualliteratur mit einem großen Aufwand von Scharfsinn den 
Beweis zu führen versucht, daß es Liebe in unserem Sinne bei 
den alten Kulturvölkern kaum gegeben haben dürfte. Wenn 
man von der griechischen Mythologie, in der sich im Übrigen 
manche interessanten Verhältnisse finden, die wie eine Vorahnung 
moderner Liebe anmuten, — ich erwähne beispielsweise die 
tiefsinnige Mythe von Orpheus und Eurydike, von Hero und 
Leander, Dido und Aeneas, die menschlich hoch bedeutsame 
Komödie zwischen dem Spartanerkönig Menelaus und seiner 
ungetreuen Gattin Helena, die Episode Hektor und 
Andromache und so fort, die alle bereits die Spannweite 
modernen Liebesgefühls aufzuweisen scheinen — absieht, so 
enthält die Bibel ein derartiges rauschendes Register mensch- 
licher Süchte und Leidenschaften, daß dadurch das Märchen 
von der individualistischen modernen Liebe bis auf gewisse 
Feinheiten, die eine Errungenschaft der jüngsten Zeit bedeuten, 
gründlich widerlegt wird. Wer die Liebe richtig verstehen 
lernen will, muß in die Abgründe menschlicher Leidenschaften 
hineinleuchten und muß die gewaltigen Einzelgefühle auf ihren 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 379 


Zusammenhang mit der Ewigkeit prüfen. Nirgends tritt dieser 
Zusammenhang deutlicher zu Tage als in der Bibel, diesem ge- 
dankenreichsten Gedichtbuch aller Zeiten. Die hier geschilderten 
Ereignisse stehen, was Großzügigkeit der Idee und Pracht der 
Darstellung anbelangt, den größten epischen und dramatischen 
Dichtungen der Weltliteratur in nichts nach. Es ist fraglich, 
ob die Erzählung von Amnon und Thamar so bildhaft, 
so holzschnittmäßig, voll innerer Kraft und glühendster 
Beseelung gewirkt hätte, wenn sie einer unserer erfolg- 
reichen Dramatiker komponiert hätte. Allerdings werden 
die Ideen, die Gefühle, die Visionen der Leidenschaft, einfach 
mit einer erschütternden, souveränen Offenheit hingeschleudert 
und es wird keine psychologische Detailkünstelei getrieben. 
So kommt es, daß die Bibel auch den Geschlechtstrieb, be- 
ziehungsweise die Liebe, dort, wo sie vorkommt, gleichsam 
der letzten Hüllen entkleidet und ihn in seiner nackten Pracht 
auflodern läßt. Mochten die antiken Kulturvölker nicht jenes 
ungesund verfeinerte Aesthetengefühl in der Liebe erblicken, 
das von den jüngsten Epigonen als moderne Liebe gepriesen 
wird, — sie kannten die Liebe ebensogut wie wir und 
hatten überdies den einen Vorzug vor uns, daß sie heroischer 
als wir empfanden. Ich möchte in Parenthese die Frage auf- 
werfen, ob es für uns doch nicht ein größerer Vorteil wäre, 
wenn auch wir größerer, tiefer schürfender Leidenschaften fähig 
wären, wenn unser Innenleben nicht einer ständigen Zerpflückung 
der wertvollsten Gefühle gliche, einer unseligen Aufeinander- 
häufung tausendfältiger Gefühlchen und Träumchen?! Wir haben 
in die Liebe so viel Ideen, so viel Nebensächliches und Selbst- 
gefälliges hineingetragen, daß darüber das große, ursprüngliche 
Gefühl beinahe ganz verloren gegangen ist. 

Amnon begehrt also seine Schwester Thamar nicht nur 
zur sexuellen Befriedigung, sondern er liebt sie, was man im 
modernen Sinne »lieben« heißt. Der biblische Dichter unter- 
stützt diese Annahme durch die Erzählung des Hasses, den 
Amnon nach vollbrachter Tat auf seine Schwester Thamar 
wirft. Die hochdramatische Wendung in dem altbiblischen 
Drama beweist ferner klipp und klar, daß Amnon bereits die 
Tragweite seines Verbrechens erkannt hat und sich dafür einer 
entsprechenden Strafe gewärtig ist. Die Strafe bleibt nicht aus. 
Sein Bruder Absalom wirft sich zum Rächer der verletzten 


380 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Schwesternehre auf und läßt durch seine Hirten den Königs- 
sohn auf einer ländlichen Feier erschlagen. In dieser Schluß- 
szene ringt ein doppeltes erotisches Problem nach Aus- 
druck. Es kennzeichnet sich in der Stellung der beiden Brüder 
zueinander und in der Auffassung, die Absalom für Amnons 
Tat und Thamars Schuld beibring. Absalom fühlt sich 
gleichzeitig mit seiner Schwester auf das gröblichste beleidigt 
und ist überzeugt, daß die Schwere der Beleidigung Amnons 
Blut zur Sühne erfordert. Diese Wendung ist ein großartiges 
Zeugnis für den biblischen Dichterpsychologen, weil sie mit 
einem Schlag das erotische Band zwischen Bruder und Schwester 
enthüllt. Absalom tötet Amnon, weil er seine Schwester 
Thamar in ihrer intimsten Sphäre, in ihrer geschlecht- 
lichen Ehre nämlich, beleidigt hat. Er tötet ihn nicht 
etwa darum, weil es der Ehrenkodex der alten Hebräer vor- 
schrieb, sondern weil er sich in seinem eigenen erotischen 
Verhältnis zu Thamar angegriffen fühlt. Überall, wo der 
Bruder die beleidigte schwesterliche Ehre mit der 
Waffe in der Hand wiederherzustellen sucht, spielt 
nicht die Rücksicht auf den eigenen Namen, auf die 
Familientradition und auf die Gesellschaft die aus- 
schlaggebende Rolle, sondern der Umstand, daß hier 
ein junges Weib, zu dem man in uneingestandenen 
innigen erotischen Beziehungen stand, auf das gröb- 
lichste beleidigt wurde. Der Rächer der schwesterlichen 
Ehre, eine Erscheinung, die auch unserer weniger idealen 
Gegenwart nicht fremd ist, handelt aus verdrängten sexuellen 
Motiven, aus Eifersucht und geheimer Leidenschaft, deren 
Gegenstand nach uralten menschlichen Prinzipien die eigene 
Schwester ist. In dem Moment, da der Bruder dem Schänder 
seiner Schwester gegenüber steht, fühlt er sich nicht als Glied 
seiner Familie, sondern als Begünstigter, als geheimer Liebhaber 
der Schwester. Dieses Problem ist so unendlich zart, so 
unsagbar fein, daß es noch niemand eingefallen ist, darüber 
nachzudenken und es ist auch so delikat, daß es jeder lieber 
von der Hand weisen als anerkennen würde. Es ist aber 
vorhanden und läßt sich durch nichts aus der Welt schaffen, 
weil, so lange Menschen existieren, die geheimen erotischen 
Wechselbeziehungen zwischen Bruder und Schwester wirksam 
bleiben werden. 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 381 


Aber weiter.. Absalom wirft von dem Moment an, da er 
seiner Schwester Thamar in dem traurigen Aufzug in den 
Straßen der Königstadt begegnet, seinen Haß auf Amnon, und 
dieser Haß ist so leidenschaftlich, daß jedes andere Gefühl, 
vor allem die Stimme des verwandten Blutes, daneben zum 
Schweigen kommt. Man sieht, das erotische Empfinden ist im 
Menschen so überwiegend, daß es von keiner Grenze, selbst der 
durch die Verwandtschaft gegebenen, zurückschreckt, und daß 
der Haß Absaloms wie die Liebe Amnons im Grunde genommen 
das gleiche Gefühl darstellen. Absalom rächt ein Vergehen seines 
Bruders, das er unter günstigen Umständen ebenfalls hätte 
begehen können. Ja, wenn wir bis zur äußersten Konsequenz 
schreiten wollen, so müssen wir sagen: Absalom erschlägt nur 
deshalb seinen Bruder Amnon, weil es ihm unbewußt leid tut, 
daß Amnon bei Thamar der Glücklichere gewesen war. Daher 
auch sein Haß auf den brüderlichen Nebenbuhler, der mit der 
bekannten Katastrophe endet. 

Die Weltliteratur kennt dieses Motiv der feindlichen Brüder 
als ein bevorzugtes, wenn auch die Deutung des eigentlichen 
Problems, das sich darin birgt, meines Wissens noch von keinem 
Dichter geboten wurde. Epochen, deren skrupellose Genialität 
instinktiv der Bedeutung des Geschwisterproblems nachforschte, 
haben mit besonderer Vorliebe diesen Stoff gestaltet. In 
Deutschland waren es die Stürmer und Dränger, darunter 
. Klinger, Leisewitz und später Schiller, in deren Dramen das Motiv 
wohl die bekannteste Verherrlichung gefunden hat. Selbst- 
verständlich ist der Grund, warum die Brüder streiten, immer 
im verletzten Ehrgeiz und in entfachter Eifersucht zu suchen, 
dagegen wird auf die geheime Erotik, die in dem Motiv 
webt, nur zum Teil hingewiesen. Aber die feindlichen 
Brüder bekämpfen sich nicht nur um äußerer Gründe willen, 
um die Liebe einer erlesenen Frau zu erstreiten, sondern 
auch darum, weil in ihrem Blute ein uralter geheimer 
Antagonismus, der auf erotische Wurzeln zurückgeht, 
lebendig ist. Der jüngere Bruder pflegt auch im gewöhn- 
lichen Leben bereits äußerlich dem älteren irgendwie ähnlich 
zu sein. Er ist gleichsam das lebendig gewordene Spiegelbild 
des brüderlichen »Ich’s« und darum auch ein Nebenbuhler in 
allem und jedem, was jener sieht, fühlt und denkt. Jeder 
Mensch aber ist bis zu einem gewissen Grade autoerotisch 


382 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


veranlagt, ja man kann den Autoerotismus direkt als die Grund- 
lage des erotischen Empfindens bezeichnen. Das Verhältnis 
des älteren zum jüngeren Bruder ist analog dem des Auto- 
erotikerss zu sich selbst. Je größer die Ähnlichkeit 
zwischen den beiden Brüdern ist, je inniger das 
Familienband, das sie zusammenschließt, um so ein- 
deutiger erotisch verfärbt stellt sich die Zweiheit 
Bruder-Bruder, in einer anderen Umdeutung auch 
Schwester-Schwester, dar. Man wundert sich oft über 
das innige Gefühl, das zwei Brüder einander entgegenbringen, 
beziehungsweise über die Gefühlsduselei älterer verschwisterter 
Mädchen, die beinahe wie ein sexuelles Verhältnis anmutet. 
Es ist das ein interessantes autoerotisches Problem, das aller- 
dings außerordentlich kompliziert ist und dem ich mich hier 
nur andeutungsweise nähern kann. Aber alle Symptome, sowohl 
das innige Aneinanderhängen, als auch der tiefe Haß aus 
scheinbar nichtigen Ursachen im gewöhnlichen Leben, dann 
die Herrschsucht, die der Ältere dem Jüngeren entgegenbringt, 
die Unduldsamkeit, mit der der Jüngere die Überlegenheit des 
Älteren entgegennimmt, die kleinen Zwistigkeiten des Alltags, 
das gemeinsame Interesse an den gegenseitigen erotischen Er- 
lebnissen, das alles weist auf geheime erotische Beziehungen, 
die vom Bruder zum Bruder hinüber währen. In der zeit- 
genössischen Sexualliteratur soll dieses Thema von einem 
Wiener Arzt Frischauf angeschnitten worden sein. Wenigstens 
schließe ich es aus dem Titel eines Bändchens, das 
Dr. Alfred Adler in seinen »Schriften des V. f. freie psycho- 
anal. Forschung« hat erscheinen lassen.*) Leider ist mir diese 
Abhandlung noch nicht zu Gesicht gekommen, so daß ich 
Frischaufs Ergebnisse in meiner Arbeit nicht mehr berück- 
sichtigen konnte und mich mit den eigenen aphoristischen 
Deduktionen begnügen muß. — 

Die Liebe, die hohe, ethisch entwickelte und auf der Er- 
kenntnis gegenseitiger Werteigenschaften aufgebaute Liebe, 
existiert also erst von jenem Moment an, wo die nackte 
Sexualität des Weibes ausgeschaltet wird, und dem Weibe über 
seine Bedeutung hinaus eine priesterliche, sakrale Stellung 
eingeräumt wird. Auf welchem Wege das geschah, haben wir 


*) H. Frischauf: Zur Psychologie des jüngeren Bruders. 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 383 


bereits andeutungsweise auf den vorhergehenden Seiten dar- 
gelegt. Der Mann, der sich auf der Suche nach sexueller 
Befriedigung befindet, sucht an seiner Partnerin die reizbetonten 
Qualitäten, die ihm besonders an den Frauen auffielen, mit 
denen er zuerst in Berührung kam. Das sind Mutter und 
Schwester. Das Problem der Mutter möchte ich in dieser 
Darstellung unerörtert lassen, da einerseits bereits genügend 
tief hineingeleuchtet worden ist, andererseits das erotische 
Verhältnis zwischen Mutter und Kind viel unkomplizierter und 
eindeutiger als das zwischen Bruder und Schwester scheint. 
Otto Weininger hat als einer der ersten auf die erotischen 
Nebenumstände des Verhältnisses zwischen Mutter und Kind 
hingewiesen und aus richtigen Prämissen eine Reihe blendender 
aber paradox unwahrer Schlüsse gezogen. Richtig ist, daß 
unter ungewöhnlichen Umständen Mutter und Sohn in ein in- 
zestuöses Verhältnis zueinander treten können, wie es wieder- 
holt in Trinkerfamilien, bei Epileptikern und extrem degene- 
rierten Menschen vorgekommen ist; oder in Fällen wie dem 
Ninons de Lenclos’ und ihres Sohnes, des Chevaliers von Villiers, 
jenem klassischen Beispiel eines in seine eigene Mutter un- 
glücklich verliebten Sohnes. Aber wenngleich Ninon de Lenclos 
eine der geistreichsten und begabtesten Frauen ihres Zeitalters 
war, die degenerative Anlage läßt sich hier noch weniger als 
anderswo bestreiten, und der Chevalier von Villiers war trotz 
seiner Abstammung von dem Grafen von Gersey doch nur das 
Kind einer — Prostituierten. Dagegen ist es nicht zu be- 
streiten, daß auch die reine Mutterliebe eine erotische Wurzel 
hat und daß ebenso die Anhänglichkeit des Kindes an die 
Mutter erotische Momente in sich birgt. Humanität und 
Familie, als die wichtigsten Kultur schaffenden Faktoren, sind 
ja nur Kraft der erotischen Grundgesetze möglich und brächen, 
würden diese aufgehoben, unfehlbar in sich zusammen. Daß 
innerhalb der Familie der Sohn der eignen Mutter sich nicht 
nähert, dafür hat die Natur bereits durch die Altersschranke 
gesorgt, aber sie hat es nicht verhindert, daß das Jugendbild 
der Mutter, ihr besonders reizausübendes Geheimnis, in der 
Tochter eine Neubelebung erfährt. Dazu kommt, daß die 
kindlichen Spiele die Geschwister einander näher bringen, und 
daß das Erwachen der Sinne beiderseitig sich mit den Ein- 
drücken verknüpft, die Brüderchen und Schwesterchen auf- 


384 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


einander ausüben. Die sexuelle Pädagogik hat sich eingehend 
mit allen Symptomen der kindlichen Pubertät beschäftigt und 
die fremden Einflüsse, denen die kindliche Psyche unterliegt, 
nach Möglichkeit einzudämmen gesucht. Auch auf die enorme 
Wichtigkeit der geschwisterlichen Spiele hat sie mit gewissen 
Einschränkungen hingewiesen, obwohl die geschwisterlichen 
Spiele gerade eine erhöhte Aufmerksamkeit erfordern, weil die 
erwachenden Sinne des Kindes sich im Verborgenen und von 
der kindlichen Intimität begünstigt immer zunächst auf die 
eigenen Geschwister werfen. Eines der beliebtesten Kinder- 
. spiele, das bereits bei den Kleinsten von sechs und sieben 
Jahren sehr verbreitet ist, ist »das Vater und Mutter spielen«. 
Andere Bräuche der Großen, wie Verlöbnis, Hochzeit, Taufe 
und dergleichen werden nachgeahmt und geben der kindlichen 
Phantasie Gelegenheit zu unbewußt erotischen Kombinationen. 
Sehr häufig ahmen die Kinder Vater und Mutter nach, indem 
sie sich einfach nebeneinander hinlegen, und die Geste des 
gemeinsamen Schlafens führt dann leicht zu Berührungen und 
Gefühlen, die die tieferen Beziehungen des gemeinsamen Lagers 
blitzartig empfinden lassen. Ist der Knabe erst einmal in das 
Stadium der eigentlichen Geschlechtsreife getreten, dann richtet 
sich die ganze Neugier seiner aufglühenden Sinne auf seine 
nächste weibliche Umgebung, die Dienstboten und die weib- 
lichen Geschwister. Während die Dienstboten oft gewissenlos 
genug sind, den Wünschen des Knaben aus egoistischer 
Anteilnahme entgegenzukommen, duldet das Schwesterchen die 
unzüchtigen Berührungen, die Manipulationen an seinem Körper 
und das neugierige Beschauen dessen, was die Natur verhüllt, 
mehr aus Gründen der Unerfahrenheit als der Lüsternheit, 
schlimmsten Falles macht sich hier nur eine leise instinktive 
Erotik geltend, denn zu der Zeit, da bei den Knaben bereits 
die Sinne tüchtig an der Arbeit sind, ist das Mädchen über 
die seinen noch wenig oder gar nicht orientiert. Es ist be- 
greiflich, daß das geheime erotische Einverständnis, das von 
Natur aus den Bruder zu seiner Schwester treibt, auf solche 
Weise nur eine Verstärkung erfährt, daß der Knabe bei allen 
späteren Werbungen uneingestandener Maßen immer das 
Bildnis seiner Schwester im Herzen trägt, und seine neue 
Partnerin daran mißt; denn die Erlebnisse der Pubertät über- 
wiegen die des mannbaren Alters. Daher auch das Interesse, 





DIE FREUDEN DER MUTTERSCHAFT. Von ISIDOR STANISLAUS HEL- 
MANN. Kupferstich nach J]. MOREAU LE JEUNE. (1777) 
Zu dem Aufsatz »Die Mutterschaft-. S. 397 





SEGNUNG DES WOCHENBETTS DURCH DEN PRIESTER. Von PIETER 
BREUGHEL d. Ä. (etwa 1530—1563) 








MATERNITAS. Von S. WYSCIANSKI. (Aus Adele Schreiber, Mutterschaft.) 
Zu dem Aufsatz Die Mutterschaft „ S. 397 


386 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


die Brüder nur ihre Schwestern, die Eltern ihre direkten Des- 
zendenten geehelicht haben, um auf diese Weise nicht nur 
einer Teilung des Erbgutes, sondern auch der Heranziehung 
neuer Geschlechter zur Erbfolge vorzubeugen, und den Gott- 
Ähnlichkeits-Begriff, der sich durch die Prävalenz bestimmter 
Eigenschaften bei den Stammesgenossen herausgebildet hatte, 
durch planvolle Züchtung der Familienmerkmale aufrecht zu 
erhalten. So heiratete unter den Ägyptern Amosis, ein Herr- 
scher der 17. Dynastie, seine Schwester Nefertere, Duthomosis 1. 
seine Schwester Amosis, Duthomosis IV. seine Schwester Arat 
und so fort. Bei den Peruanern war es Hausgesetz, daß ein 
Inka nur seine leibliche Schwester heiraten durfte, um das Blut 
der Sonne, von der sie zu stammen glaubten, rein zu halten. 
Von den Juden gilt das, was Thamar ausdrückt, wenn sie zu 
Amnon, der um sie wirbt, sagt: »Rede aber mit dem Könige, 
der wird mich Dir nicht versagen«. 

Daß die alten Griechen kein Inzuchtvolk waren und die 
Römer trotz der blutsverwandten Ehen, die in den Patrizier- 
familien sehr häufig waren, Inzucht gesetzlich nicht schützten 
und den Inzest sogar bedingt bestraften, spricht keineswegs für 
den Umstand, daß Inzucht als eine Begleiterscheinung bereits 
den politischen Zusammenbruch vorbereitender Degeneration 
zu werten sei. Das römische Reich ging trotz der Freiheit 
der Ehegesetze vorzeitig zu Grunde, die Juden dagegen, die 
trotz der Diaspora ein Inzuchtvolk reinsten Stiles darstellen, 
haben bis heute ihren Nationalcharakter gewahrt und müßten, 
auf einen einheitlichen staatlichen Komplex zusammengedrängt, 
ein Kulturvolk ersten Ranges mit ausnehmender Begabung 
bedeuten. Daß gleichwohl die Inzucht und der Inzest bei dem 
ungelehrten Volke in Mißkredit gekommen sind, und die 
gelehrten Kreise sich über ihre juristische Zulässigkeit, be- 
ziehungsweise über ihren rassengenetischen Wert und Unwert 
streiten, ist wohl darauf zurückzuführen, daß auch in dieses 
Problem die egoistische politische Spekulation hineingetragen 
wurde. Wie die Völker der Antike die Inzucht gefordert haben, 
um ihren Stamm rein zu erhalten, beziehungsweise die prä- 
valenten physischen und intellektuellen Eigenschaften kunstvoll 
züchteten, so haben die nachkommenden Völker, die das Erbe 
der alten Welt übernahmen, aus egoistischen Motiven den 
Spieß einfach umgedreht. Staaten, in denen die Ochlokratie 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 387 


maßgebend war, hatten selbstverständlich ein Interesse daran, 
daß nicht eine bevorzugte Kaste, deren über den Durchschnitt 
emporragende Intelligenz sich gleichzeitig mit dem Blute weiter 
erbte, sie in absehbarer Zeit der Herrschaft wieder beraubte. 
In republikanischen Gemeinwesen wird daher für die Inzucht 
wenig übrig sein und die entgegengesetzte Tendenz wird sich am 
deutlichsten in der Prägung von Gesetzen gegen inzestuöse 
Handlungen aussprechen. Aus demselben Grunde mag auch 
das Christentum, das eine Schöpfung von Fischern und An- 
gehörigen der niedersten jüdischen Stände war, die Inzucht 
verworfen und die Schranken gegen die leibliche Verbindung 
zwischen Bruder und Schwester aufgerichtet haben. Denn trotz 
seiner vielgerühmten Toleranz, trotz seiner grandiosen Schöpfung 
des Humanitätsgedankens atmet durch das ganze neue Testa- 
ment ein großer Haß gegen die Reichen und Mächtigen dieser 
Erde, gegen die Bevorzugten an irdischen Gütern und am 
Geiste, von denen gesagt ist, daß eher ein Kamel durch ein 
Nadelöhr, denn ein Reicher ins Himmelreich еіпріпре. Ап einer 
der tiefsinnigsten Stellen der neutestamentlichen Legende, 
in der Bergpredigt, verwirft Christus den irdischen und geistigen 
Besitz und lobpreist die „Armen im Geiste, denn ihrer ist das 
Himmelreich“. Die Lehre des Nazareners war die erste 
erfolgreiche Revolution gegen die Traditionen des jüdischen 
Adelswesens, gegen Inzucht und Oligarchie, eine Auflehnung 
des elenden Zöllnertums gegen die zu Reichtum und Macht 
gelangten Pharisäier. Daß es da in erster Linie hieß, die 
Gesetze zu brechen, auf denen sich der Einfluß einer bevor- 
zugten Klasse aufbaute, das liegt wohl in der Tendenz selbst, 
die in jeder revolutionären Auflehnung nach Ausdruck ringt. 
Das Mittelalter, als ein Gebilde der Kirche und des mit ihr 
verbündeten Adels mußte zwar naturgemäß die Traditionen der 
Apostel forterben und wir sehen auch, daß der Inzucht und dem 
Inzest im Mittelalter allenthalben Schranken aufgerichtet sind. 
Aber da die Päpste einsahen, daß sie wohl sehr gut mit, dagegen 
nicht gegen die Junker und Könige, regieren konnten, der Adel 
anderseits der Steigerung, die seine Macht durch die Inzucht 
erfuhr, sehr wohl bewußt war, so regnet es das ganze Mittel- 
alter hindurch von Dispensen, und das Gesetz, das die bluts- 
verwandten Ehen verbot, erwies sich im Großen und Ganzen 
als illusorisch. 
25* 


388 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Wenden wir uns nunmehr der jüngsten Zeit zu und suchen 
wir nach den Gründen, die uns ein Inzuchtproblem lebendig 
gemacht haben, so muß man nach genauer Prüfung der Um- 
stände gestehen, daß es ein Inzuchtproblem eigentlich nicht 
nur nicht gibt, sondern daß das, was allgemein als Inzucht 
bezeichnet wird, einen Komplex von Phobien bedeutet, 
von Wünschen, Befürchtungen und Handlungen, die 
gegen das eigene Ich gerichtet sind. Kraft des geheimen 
erotischen Gesetzes, das jedem Menschen inne wohnt und im 
Dienste einer ewig dauernden natürlichen Auslese tätig ist, ist es 
begreiflich, daß Blutsverwandte untereinander zum mindest 
ebenso häufig heiraten, als es aus Gründen der falschen Scham, 
der Angst vor etwaigen Folgen, vor einer Zerstörung der 
Familie und Beeinträchtigung der Nachkommen unterlassen wird. 
Rohleder hat bereits in seiner ausgezeichneten Studie über 
die Zeugung bei Blutsverwandten darauf hingewiesen, daß eine 
Ehe unter völlig gesunden blutsverwandten Personen keine oder 
im Gegenteil vorteilhafte Folgen nach sich zieht. Selbstver- 
ständlich werden Menschen, die anormal veranlagt sind, 
Krankheiten aufweisen, aus Familien stammen, die von Alkoho- 
lismus, Epilepsie und Geisteskrankheiten heimgesucht sind, 
nach wie vor durch Has Gesetz an einer Vermischung ver- 
hindert werden müssen. Aber dieser Grundsatz gilt ebenso 
für Personen, die nicht untereinander verwandt sind, wenn er 
auch nicht durch das Gesetz geschützt wird, was leider zur 
Folge hat, daß jährlich eine Unzahl körperlicher und geistiger 
Krüppel mehr in die Welt gesetzt werden. Es kommt nicht 
darauf an, daß die Menschen, die zur Ehe zugelassen 
werden, nicht in direkter Linie verwandt, sondern 
daß beide Teile gesund, an Körper und Geist völlig 
gesund sind und im Übrigen auch aus einer nach- 
weisbar gesunden Familie stammen. 

Die Stellung der Moderne zum Inzuchtproblem und im 
Vereine damit auch zum Geschwisterproblem ist mithin nicht 
durch die Vernunft, sondern durch das Gefühl diktiert. Im 
Großen und Ganzen wird es ja immer so bleiben wie heute, 
daß die Blutsverwandtschaft in ihrer extremsten Form, ich 
meine die von Bruder und Schwester, bei Eheschließungen 
vermieden wird. Dazu liegt uns allzusehr die zwei Tausend 
Jahre alte Erziehung durch die christliche Weltanschauung im 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 389 


Blute. Das Christentum hat aus entgegengesetzten Motiven 
wie die alten Inzuchtvölker die Schwester als sakrosankt er- 
klärt. Wir haben uns allzusehr daran gewöhnt, eine Verletzung 
dieses priesterlichen Charakters der Schwester zu vermeiden. 
Aus diesem Grunde gibt es normaler Weise für uns kein Ge- 
schwisterproblem. Aber das Blut ist stärker als wir und es 
zeigt uns tausendmal im Leben, daß die geheimen Beziehungen 
dennoch vorhanden sind. Vielleicht trägt ihre teilweise Er- 
kenntnis dazu bei, uns als Wegweiser bei der Beurteilung 
mancher Geheimnisse im Leben, mancher verborgenen Wurzeln 
bei Inzestverbrechen zu dienen. 


8 E 


PSYCHOLOGIE DES WARENHAUSES. 
Von LOTHAR EISEN. 


wk dem Charakter dieser Zeit ist es etwas eigenes; sie hat 
die sanfte Poesie des Biedermeiertums, die schrullenhafte 
Romantik, in der sich männiglich noch vor wenigen Jahrzehnten 
gefiel, in einer überraschen Entwicklung abgestreift und hat die 
harte, nüchterne Prosa des Alltags zur Norm der Allgemeinheit 
erhoben. Aber auf der anderen Seite quillt ihr die Erfindung 
reicher als allen Jahrhunderten, die ihr voran gingen, sie zeigt 
eine Pracht und Originalität der Phantasie, die ans Orientalische 
grenzt und alles, was mit ihr in Berührung kommt, wächst 
ins Gigantische, Unermeßliche hinein. Die Formen vergangener 
Kulturen waren vielleicht eindeutiger, die Bräuche verrieten 
offenkundiger ihre Zwecke, die Handlungen mochten weniger 
Symbol gewesen sein als in der Gegenwart. Alles, was heute 
lebt und irgend eine Bedeutung besitzt, ist viel komplizierter 
geworden, äußerlich scheinbar eintöniger, aber in Wirklichkeit 
lebt der Geist der jüngsten Epoche darinnen, und dieser Geist 
besitzt die Beweglichkeit und Farbenpracht eines Kaleidoskops. 
Allerdings muß man sich die Mühe nehmen, die tiefernsten, 
genialen Gedanken hinter den Symbolen, die sie verschleiern, 
hervorzusuchen. 

Das 20. Jahrhundert ist das Zeitalter der Technik und der 
strengen Wissenschaften; kein Jahrhundert genußfrohen Über- 
schwangs und einer leichtfertigen, aus Kunst und Sorglosigkeit 


390 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


verschmolzenen Lebensanschauung. In Umdeutung einer antiken 
Fabel könnte man diese Zeit als die eiserne bezeichnen, soviel 
Härte und Unzugänglichkeit liegt in ihr, soviel kraftvoller Auf- 
schwung, aber auch soviel angstvolles Verbergen aller Ideale 
und des Schönen, in dem sich die Sinne der Menschheit zu 
neuer Kraft und Produktivität baden. Der Gesichtspunkt, von 
dem aus die Dinge gewertet werden, ist der des Zwecks und 
des Erwerbes, das Wirtschaftliche steht über dem Harmonischen, 
und selbst das Pachtgut der Musen Musik, Tanz und Spiel 
sind von einem unbarmherzigen Kapitalismus industrialisiert 
worden. Das Geschäft ist der Hauptzweck. Ihm werden 
Philosophie und Technik, Kunst und Wissenschaft dienstbar 
gemacht. Woher stammt diese Angst vor dem Nichtgenughaben, 
dieser Drang über die dem Einzelnen gesteckten Grenzen 
hinaus, der sich ebensogut beim Proletarier wie beim Multi- 
millionär offenbart? Er entstammt einer bedeutungsvollen, 
erotischen Wurzel: der Sucht nach sexueller Befriedigung, 
nach dem Sinnenrausch, den man in den Sorgen des Alltags 
zu verlieren droht. Andere Zeiten haben sich Tempel der 
Liebe gebaut, haben ihre Gärten geschmückt und das Lager be- 
kränzt, wo sie das Geheimnis der Liebe zu erleben suchten, noch 
andere Zeiten haben ihren Sexualrausch in wilden, bacchan- 
tischen Orgien, in obszönen Theaterdarstellungen, in einem 
maßlosen Genußleben austoben lassen. Die Gegenwart ist 
ernster, tiefer veranlagt und sie begnügt sich aus einem 
instinktiven Schamgefühl heraus mit Symbolen. Die Wunder- 
werke der Technik, die kilometerlangen Tunnels, die ungeheuren 
Abgründe überspannenden Brücken, die unheimlich "dahin- 
flitzenden Eisenbahnen und Expreßzüge, und schließlich die 
gewaltigen, in das lautlose Luftmeer eindringenden Flugwerk- 
zeuge, das alles sind Offenbarungen des in dem Urgrunde der 
Seelen brauenden Sexualtriebes, Träume, wie sie nur ein vom 
heißesten Opium durchglühtes Hirn zu erleben vermag. Und 
Hand in Hand mit diesen eruptiven, aber nur in symbolischen 
Verkleidungen wirkenden Geschlechtsträumen geht das ge- 
waltige, allumfassenden Schamgefühl, das den Gegen- 
wartsmenschen anhaftet und das ein Zeichen ihrer titanenhaften, 
an die Grenzen des Ewigen fußenden Kultur ist. Denn das 
Schamgefühl ist etwas, das aus der Kultur entspringt, mit ihr 
wächst und mit ihr zu Grunde geht und das umso mimosen- 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 391 


hafter ist, je tiefer die zeitgenössische Forschung in das 
Sexualproblem eindring. Wenn wir alles entschleiert haben 
werden, was sich hinter diesem Problem verbirgt, dann werden 
wir am keuschesten geworden sein. Denn der Aufstieg zum 
Wissen ist in diesem Falle nicht gleichbedeutend mit dem 
Abstieg zum Laster. 

Eine originelle Erfindung der modernen, drängenden, das 
Einfache im Großzügigen anstrebenden Zeit und ebenfalls ein 
Symbol ihrer abgründigen Erotik ist das großstädtische Waren- 
haus. Auf irgend einem Platz, wo sich mehrere wichtige 
Straßen kreuzen, in einem Kolossalbau, an den die Königs- 
schlösser der absolutistischen Periode nicht heranreichen, was 
Pracht und Raumentfaltung anbelangt, von außen Glas, von 
innen Gold und Marmor, mit wunderbaren, hängenden Gärten 
und tropischen Gewächshäusern, liegen die Schätze aufgestapelt, 
die Industrie und Gewerbe im Verein mit dem Handel aus 
allen fünf Weltteilen zusammenhäufen. Man kauft hier alles 
und man lebt hier auch alles. Ja, man lebt hier noch viel 
mehr, als in den Märchen von Tausend- und Eine Nacht, denn 
hier verbindet sich der Orient mit dem Okzident, und während 
man in einem Palmenhain bei dem Rauschen eines Spring- 
brunnens sitzt, duften in greifbarer Nähe alle Süßigkeiten der 
Welt, türmt sich neben Brokat und Seide die schneeigste 
Linnenwäsche, und Träume von Glanz und Herrlichkeit, die 
sonst nur einzeln zu kommen pflegen, rauschen hier auf in 
wuchtigen Akkorden, verrinnen zu einer grandiosen Symphonie, 
die einen bis zu den Sternen emporträgt, aber auch die größte 
Anspannung und Müßigkeit zu hinterlassen vermag. Das 
Warenhaus ist die poetischste, und mit einer ganz eigenen 
Romantik verkleidete Offenbarung moderner Erotik. Schon die 
Atmosphäre ist von dem ersten Moment an, da man über die 
Schwelle tritt, eine sinnliche, sie hat den heißen, wogenden, 
berauschenden Atem exotischer Paläste an sich; man fühlt in- 
stinktiv, daß man hier einen modernen Tempel der Liebe be- 
tritt. Die Menschen, die hier durcheinander wogen, sind alles 
Suchende. Nicht nur Käufer, die nach einer passenden Ware 
fahnden, sondern Menschen, die ihr Glück, ein Erlebnis, oder 
auch nur eine harmlose erotische Emotion suchen. Man hat 
das Warenhaus in den 60er und 70er Jahren des verflossenen 
Jahrhunderts zur Bequemlichkeit des kauflustigen Publikums 


392 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


erfunden; und man hat ihm mit Rücksicht auf die geheime 
erotische Welle, die unsere Zeit durchströmt, den jetzigen 
üppigen femininen Stil gegeben. Das Warenhaus gehört den 
Frauen. Das zeigt sich äußerlich schon darin, daß alle Räum- 
lichkeiten zu jeder Tageszeit mit unendlich viel Frauen erfüllt 
sind, die alle ein geheimes, einheitliches Zeichen auf der Stirn 
tragen, so verschieden auch ihre Gesichter sein mögen, das 
Zeichen ihres Wunschempfindens, der verhüllten, nach Erfüllung 
suchenden sexuellen Begierde. Und die Atmosphäre, die in 
dem Warenhaus bebt, kommt diesem Wunsch auf allen Wegen 
entgegen, sie schafft die Möglichkeiten, unter denen sich Ver- 
hältnisse anbahnen, und räumt vor allem Gegensätze und gesell- 
schaftliche Schranken aus dem Wege, die den erotischen Er- 
lebnissen hindernd im Wege stehen. So ist das Warenhaus 
das erfolgreichste und meistbesuchte Kuppelinstitut, das die 
moderne Zeit, die wahrlich an solchen Sehenswürdigkeiten nicht 
arm ist, aufgebracht hat. 

Unter den Warenhausbesuchern gibt es eine bestimmte Sorte 
Frauen, die täglich ein und aus geht und sich stündlich in den 
glänzenden Räumen aufhält, nur um bewundern, ansehen, sich 
in die Dinge hineinträumen zu können. Jede Frau ist nämlich 
von ihrem Sexualleben so beherrscht, daß sie überall und zu 
allen Tageszeiten von dem Drange nach sexueller Entspannung 
verfolgt wird. »Sich Schmücken« und »Kaufen«, das sind 
die beiden Hauptrichtungen, in denen sich ihr verdrängter 
Sexualtrieb austobt, und zu ihrer Befriedigung genügt bereits 
die Geste des Kaufens, auch wenn der angestrebte Gegenstand 
schließlich gar nicht erworben wird. Aber die Frau schmückt 
sich nicht um den Männern zu gefallen, sondern weil ihr das 
Schmücken des eigenen Körpers ein sexuelles Raffinement be- 
deutet, weil eine Frau, die sich umkleidet, sich wäscht, kämmt, 
sorgfältig frisiert und sich in so und so viele Kleider hüllt, 
dabei eine angenehme ausgesprochen sexuelle Emotion emp- 
finde. Ein Mann kann es nie begreifen, daß eine Frau zum 
An- und Auskleiden Stunden braucht. Die Männer sind immer 
ungeduldig und viele Zerwürfnisse, das vorzeitige Ende manchen 
glücklichen Verhältnisses, sind auf die Unpünktlichkeit der Frau 
zurückzuführen. Aber die Männer müßten wissen, daß jeder 
Frau, die sich um 11 Uhr zum Morgentee ansagt und um 
1/1 Uhr mit ihrer Toilette noch nicht fertig ist, die 21/ Stunden 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 5 393 


Ankleidens ein erotisches Erlebnis waren, das an Intensität 
dem Zusammensein mit dem Geliebten nichts nachgibt. Wenn 
eine Frau pünktlich wird, wenn sie nicht mehr auf ihre Frisur 
achtet, in gleichgültigen oder in unindividuellen Kleidern ein- 
hergeht, dann ist sie bereits sexuell wertlos geworden. Ein 
Kenner der Frauen-Psyche wird, wenn er eine schöne Frau 
erwartet, immer über die vereinbarte Zeit hinaus noch ein 
halbes Stündchen zugeben. 

Ebenso ist das Kaufen, das Abwägen und das Prüfen der 
Ware eine Herzensangelegenheit der Frau, das heißt, es besitzt 
dieselbe Bedeutung für sie, wie das Sichschmücken, Ankleiden, 
Flanieren oder Theaterbesuchen. Eine Frau, die zehn bunt- 
schillernde Seidenstoffe ansieht, bevor sie sich für den elften 
entschließt, zwei Dutzend Paar Schuhe anprobt, um dann 
resultatlos das Geschäft zu verlassen, mit der Verkäuferin über 
die Güte einer Spitzengarnitur minutenlang hin und her feilscht, 
die sich in jeden neuen Hut, in jedes neue Pelzwerk mit einer 
anderen Nuance von Begeisterung verliebt, diese Frau geht 
nicht in das Warenhaus, um zu kaufen, sondern nur, um so 
zu tun als ob sie kaufte, kurz, um den Rausch des Betrachtens 
und Begreifens, um die Geste des Kaufens zu erleben. 
Denn da die Kleidung für die Frau einen hohen, nach der 
Liebe vielleicht den höchsten sexuellen Wert besitzt, so liebt 
sie alles, was mit dieser in irgend einer Weise zusammenhängt, 
und vor allem wird sie nie müde, zu ihrer Schneiderin oder 
ins Warenhaus zu gehen, um durch neue Kombinationen ihrer 
Kleidung sich begehrenswerter und interessanter zu machen. 
Aus dem Grunde ist das Warenhaus immer von Frauen be- 
lagert, die ohne Kaufabsicht, rein um des Betrachtens und 
Prüfens willen, die Mühe des endlosen Treppensteigens auf 
sich nehmen. Einen Mann, der gezwungen ist, mitzugehen, 
kann das mitunter zur hellen Verzweiflung treiben. Aber würde 
er in solchen Minuten seiner Begleiterin in die Augen sehen, 
dann müßte er erkennen, welchen ungeheuren Dienst er ihr durch 
den Rundgang um die aufgestapelten Warenberge leistet. 

Das Warenhaus hat nicht nur die kleinen Spezialgeschäfte 
in sich aufgenommen, sondern es hat auch die Stätten zum 
Teil überflüssig gemacht, wo sich früher Liebesverhältnisse 
anbahnten und vollzogen. Mit seiner sinnlich überhitzten Atmo- 
sphäre, seiner blendenden Umgebung, den zahlreichen Schlupf- 


394 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


winkeln und der ständigen Ausstellung hübscher Frauen und 
Mädchen, ist es der erste und wichtigste Liebesmarkt der 
Großstadt geworden. Die Präliminarien des Geschlechtaktes, 
das langsame gegenseitige Umwerben, die Spaziergänge in 
romantischer Landschaft, das trauliche Zusammensein in irgend 
einer Konditorei, einem Cafe oder in der anschmiegsamen Ecke 
eines Restaurants, Theater und Musik, das alles findet sich 
jetzt auf einmal innerhalb der vier Wände jedes erstklassigen 
Warenpalastes zusammen. So kann sich ein Roman, der früher 
vielleicht Monate lang dauerte, in ganz korrekter Form in zwei 
bis drei Stunden abspielen. Man begegnet einander in der 
untersten Etage, der Mann liest in der Seele des Mädchens, 
beziehungsweise der Frau, in ihren sehnsüchtig nach rechts 
und links blickenden Augen die geheimsten Wünsche, man 
geht an blitzenden Geschmeiden und Stapellagern von kost- 
barer indischer Seide vorüber in den Erfrischungsraum, und 
wenn man hier seinen Kaffee getrunken hat, wandert man 
weiter, langsam nach der dritten Etage, um dort oben in irgend 
einem Eckchen die Worte verstummen und die Lippen ihr 
schweigendes Spiel beginnen zu lassen. Dazu klingt eine 
schöne Musik, ganz heimlich hinter undurchsichtigen Wänden 
hervor, und die Töne scheinen wie Falter von der hohen 
Kuppelwandung des Daches herabzufallen, sie wandeln sich 
unten zu den rosenfarbigen Cyclamen und duftkranken Tuberosen, 
die in diesem steinernen Feenreich ihre Blütenpracht ausstreuen. 
Nichts von der Romantik verflossener Wertherzeiten, nichts 
von der Heidestimmung der Marlittschen Prinzessinnenromane, 
aber der Effekt ist hier der gleiche wie dort, ja das Erleben 
ist vielgestaltiger und intensiver, weil es eben modernen 
Menschen begegnet. 

Vor mehr als Jahresfrist stand der Aufsichtsherr eines 
großen Warenhauses als Angeklagter vor den Gerichtsschranken, 
weil er angeblich mit mehreren seiner Angestellten zarte Be- 
ziehungen angeknüpft hatte und ein weiteres Engagement von 
ihrer bedingungslosen Unterwerfung abhängig machte. Eine 
Reihe angesehener Tageszeitungen hatte damals des Langen 
und des Breiten über die Warenhäuser geschrieben, sie als 
richtige Lasterhöhlen bezeichnet und die gesetzlich zulässige 
Höchststrafe für den unsauberen Vorgesetzten gefordert. Und 
es ist selbstverständlich, daß derartige Vorkommnisse nicht zu 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 395 


verteidigen sind, aber ebenso klar ist es, daß die Aufsichtsherrn 
der Warenhäuser, sowie das übrige männliche Personal vor ihren 
weiblichen Gesellinnen einen ziemlich schweren Stand haben. 
Man denke sich die kleinen Konfektionsmädchen, Verkäuferinnen 
und Kassiererinnen, die Tags über an die überhitzten, mit den 
schwersten sinnlichen Düften erfüllten Räume gebunden sind, 
und deren Gefühlsleben sich gleichsam in einem Zustand 
dauernder Versuchung befindet. Ich habe mit eigenen Augen 
gesehen, wie Verkäuferinnen die männlichen Angestellten in 
auffallender Weise umwarben und wie sich in einer Abteilung 
sämtliche zwölf Köpfe instinktiv nach dem Wandelgang wandten, 
wenn irgend ein hübscher, elegant gekleideter junger Mann 
durchging. In der Geschichte der Prostitution wird so viel 
über die Neigung zur beruflichen Unzucht gerade in dieser 
Klasse gesprochen. Das Warenhausfräulein ist auch ein Typ, 
der in der belletristischen Literatur mit Vorliebe in der 
Rolle der Verführten geschildert wird. Die Psychologie der 
Romanautoren hat überall als Entschuldigungsgrund die Be- 
schäftigung des Warenhausfräuleins mit den kostbaren und 
schönen Sachen angegeben. Das tägliche Sehen der Gegen- 
stände lasse in den betreffenden Mädchen allmählich den 
Wunsch reifen, sich in den tatsächlichen Besitz solcher Herrlich- 
keiten zu setzen. Und da der einfachste Weg dazu der der 
heimlichen oder offenen Prostitution ist, so sind eben die 
meisten Warenhausfräulein im Nebenberuf klandestine oder 
kontrollmäßig eingetragene Prostituierte. Die Rechnung stimmt 
nur in Einzelheiten, sofern es feststeht, daß ein großer Prozent- 
satz der weiblichen Warenhausangestellten der Prostitution 
anhängt oder seine reellen Verhältnisse ziemlich häufig wechselt. 
Aber nicht um sich in den Besitz der Kostbarkeiten zu setzen, 
die sie Tags über verkaufen, gehen diese Mädchen ihren 
galanten Abenteuern nach, sondern einfach darum, weil das 
Warenhaus mit der Zeit in jeder Frau, die sich dauernd darin 
aufhält, eine brennende Sinnlichkeit großzüchtet, die geschlecht- 
liche Begierde zu immer neuer Aktivität aufpeitscht und die 
Widerstände moralischer und logischer Art auf das Minimum 
herabsetz. Dazu kommt, daß Liebenswürdigkeit mit dem 
Kunden die erste und oberste Bedingung ist, die von dem 
Chef des Hauses seinen Angestellten empfohlen wird. Aber 
jemand, der es gewohnt ist, immer sein Gesicht in liebens- 


396 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


würdige Falten zu legen, wenn er mit einer dritten, indifferenten 
Person verhandelt, wird schließlich diese angenehme Eigenschaft 
in allen Lebenslagen beibehalten. Eine Frau, die die jungen 
Herren aus beruflichen Gründen immer in entgegenkommender, 
Weise behandeln muß, wird auch draußen auf dem Asphalt- 
pflaster, wenn die Tür des Warenhauses sich hinter ihr ge- 
schlossen hat, nicht schwer zugänglich sein. 

Das Warenhaus mit seinem Dunst von menschlicher und 
pflanzlicher Wärme, mit seinem bunten, traumhaften uud farben- 
schillernden Durcheinander der Gegenstände und Lichter, schleift 
die Individualitäten ab und züchtet die Gefühle der Mädchen 
um — ins Dirnenhafte.e Keine Frau aber steht so hoch, daß 
sie nicht einen leisen, wenn auch noch so unmerklichen Ein- 
schlag zur Dirne in sich trüge. Es kommt ganz und gar nur 
auf die Situation an, in die sie hineingestellt wird, wenn be- 
stimmte Seiten ihres ursprünglichen Talentes verkümmern und 
die anderen, vielleicht besseren, zum Leben erwachen. Deshalb 
ist es auch lächerlich, über eine Frau schlankweg den Stab zu 
brechen, weil sie Dirne geworden ist. Sie ist es nicht aus 
sich selbst geworden, sondern durch die Ungunst der Ver- 
hältnisse, und hätte unter anderen Umständen vielleicht eine 
ebenso züchtige und ehrbare Hausfrau wie vortreffliche Mutter 
abgegeben. Wenn man bedenkt, daß eine Frau wohl tausend- 
mal fallen, aber kaum einmal sich aus dem Sumpf wieder 
erheben kann, dann wird man die übelbeleumdete Kaste der 
Dirnen nicht mit noch größerem Schmutz überhäufen, denn 
der ehrliche Mann muß sich sagen, daß unter anderen Um- 
ständen seine Frau, seine Schwester oder seine Geliebte ein 
gleiches Schicksal hätten erfahren können. 

Diese Einwände sollen jedoch keineswegs eine Anklage 
gegen das Bestehen der modernen Warenhäuser bedeuten. Ich 
habe bereits Eingangs des Aufsatzes klar gelegt, welch eine 
großartige Manifestation des erotischen Empfindens die gewal- 
tigen Schöpfungen der Neuzeit, und unter ihnen auch das 
Warenhaus, bedeuten. Schatten ist überall, wo sich Licht aus- 
breitet, und in dem wertvollsten Buch finden sich neben den 
besten Gedanken auch solche, die banal und alltäglich klingen. 
Das Warenhaus ist mit Hinsicht auf den vorwärts drängenden, 
Minuten und Sekunden wägenden Geist unserer Zeit zweifels- 
ohne eine der wohltätigsten Einrichtungen, die in jeder Nation 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 397 


und Großstadt, wo sie vorhanden sind, einen wirtschaftlichen 
Reichtum aufdecken. Die Psychologie solcher Institutionen jedoch 
erfordert es, daß alle darin enthaltenen Vorzüge und Fehler in 
gleichmäßiger Verteilung ausgesprochen werden; so trägt auch 
das Warenhaus gleicherweise zur Erhebung wie zum Ruin der 
Gesellschaft bei. Das ist schließlich ein Naturgesetz: mit der 
Erhabenheit paart sich oft ein lächerliches Pathos, mit dem 
Gedanken die Ironie, mit der Tragik die Groteske, und wo 
auf der einen Seite gewaltsam aufgebaut wird, da beginnen 
bereits auf der anderen Seite die Fundamente zu schüttern. 


8 E 


MUTTERSCHAFT. 
Von Dr. JOHANNES MARR. 


eitdem die wirtschaftlichen Kämpfe der Gegenwart auch auf 

die Frau übergegriffen und sie zu einer selbständigen Teil- 
nahme am Berufsleben gezwungen haben, hat sich auch in 
der Wertung der Frau durch die Öffentlichkeit und in ihrer 
Stellung dem Mann als dem Werbenden gegenüber ein Um- 
schwung vollzogen. Die Frau ist aus ihrer passiven Rolle, in 
die sie durch die Jahrtausende währende Entwicklung der 
Familie hineingedrängt worden war, — eine Passivität, die 
allerdings nicht immer die gleichen Formen bewahrte, sondern 
mannigfachen Abänderungen unterlag und vielfach der Frau, 
so besonders im Schoße der Familie, ein Übergewicht vor dem 
Manne einräumte, — immer deutlicher herausgetreten und 
nimmt heute sowohl politisch, als auch inter lares beinahe die- 
selben Rechte für sich in Anspruch, die kraft gesetzlicher 
Überlieferung nur dem Manne zustehen. Die Frauenemanzi- 
pation als eines der wichtigsten sozialen Probleme der Gegen- 
wart hat für den Begriff »Weib« neuen Klangwert und Inhalt 
geschaffen, sie hat eine gewaltige Umwälzung im Sexualleben 
der Frau angebahnt und für sie neben der politischen Mission 
das Recht auf Liebe und Mutterschaft neu entdeckt. Aber 
wenn man auch die Frauenemanzipation als ein Gebilde der 
Neuzeit betrachten muß, so greifen doch ihre Anfänge, die 
geheimen Wurzeln der erotischen und sozialen Wiedergeburt 


398 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


der Frau, bereits in die ältesten Zeiten zurück, und im Verlauf 
der Geschichte kann man überall den mehr oder weniger er- 
folgreichen Kampf zwischen AMutterschaftsidee, weiblicher 
Liebessehnsucht und einer gesetzlich sanktionierten, alle Rechte 
der Autorität ausübenden männlichen Ordnung vorfinden. Die 
Bedeutung der Mutterschaft für die Entwicklung der Mensch- 
heit erhellt bereits auf Ahnenstufen, zu jenen Zeiten also, wo 
der Mann sich noch als völlig abhängig von der »Mutter« 
zeigt, und die Rechte der Familie durch die mütterliche Ein- 
flußsphäre begrenzt sind. Erst von dem Moment an, wo die 
Herrschaft des Mutterrechtes gebrochen ist und der Egoismus 
des Mannes zusammen mit dem Durchbruch persönlicher In- 
stinkte eine neue Ordnung schafft, tritt das Weib als Gebieterin 
und Mutter in den Hintergrund und wird zur Sklavin und 
Gebärerin herabgedrückt. Durch alle familiären Phasen der 
nachfolgenden Zeiten bleibt die Frau in dieser untergeordneten 
Stellung und besitzt keinerlei Rechte, mit Ausnahme jener, die 
der von Mannes Gnaden legitimen Beischläferin zustehen. 
Denn die Erkenntnis von der überragenden Sexualität der 
Frau wird von dem beobachtenden Manne zu ihren Ungunsten 
ausgebeutet und die Entwicklung der Frau durch die Fest- 
legung auf diese Sexualität für Jahrtausende hinaus gehemmt. 
Die Frauen des Altertums, der glanzvollsten Epochen ver- 
sunkener Kulturen, das Weib des Mittelalters und der älteren 
Neuzeit werden nur dort im Zusammenhang mit der Geschichte 
genannt, wo sie infolge ihrer ausgesprochenen Erotik hindernd 
oder fördernd in die Abwicklung der Ereignisse hineingegriffen 
haben. Aber sonst ist ihre Stellung die denkbar niedrigste, sie 
unterscheidet sich in nichts von der noch heute üblichen 
Wertung der Frau bei manchen orientalischen und eingeborenen 
Völkern, und es bedurfte erst eines so gewaltsamen und tief- 
greifenden Umschwunges in der Gesellschaftsordnung, wie der 
französischen Revolution, um den Boden für die moderne Ent- 
wicklung der Frau zu bereiten. Allerdings haben das Mittel- 
alter besonders in der Epoche des höfischen Minnedienstes 
und der Maitressenkult der Renaissance die moderne Gynäko- 
kratie scheinbar vorgeahnt. Aber die Superiorität der Frau 
war auch in diesen Zeiten wiederum eine rein sexuelle. Der 
höfische Minnedienst betrachtet die Anbetung der Frau als 
ein Gebot der Höflichkeit, in rechtlicher Beziehung war jedoch 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 399 


die Frau durchaus hörig und mithin ganz anders geartet, 
als sie sich in den Gedichten der schönfärbenden Trou- 
badours ausnimmt. Die Renaissance und deren direkte Fort- 
führung, das galante Zeitalter hinwiederum standen im Gegen- 
satz zu dieser Auffassung auf dem platonischen Grundsatz, daß 
eine Frau ausschließlich für rein erotische Verhältnisse und 
zur Zeugung legitimer Erben geschaffen sei, für Wissenschaft, 
Politik und Kunst dagegen vollständig ausschalten müsse. 
Namentlich die Renaissance, die das Ideal des antiken Eros 
neu beschworen hat und sich wie die perikleische Kultur in 
der Männergemeinschaft gefiel, hat die Frau für lange Zeiten 
hinaus diskreditiert und ihr durch die Verleihung von Schein- 
rechten die Möglichkeit der persönlichen Entwicklung für Jahr- 
hunderte hinaus genommen. In der Kunst des 15. und 16. 
Jahrhunderts und noch später findet sich wohl eine so 
schrankenlose Verehrung der Frau und Mutter, daß man leicht 
irrigen Anschauungen mit bezug auf die Stellung der Frau bei 
unseren Vorfahren zum Opfer fällt. Der übereifrige Madonnen- 
kult mittelalterlicher und neuzeitlicher Kreise hat aber keines- 
wegs der Verherrlichung der Mutterschaftsidee und dem Beweis 
der Gleichstellung der Frau mit dem Manne gedient, sondern 
ist nur das Dokument einer bestimmten erotischen Richtung, 
bei der nicht das rein Mütterliche, Weibliche der Madonnen, 
sondern der mystisch-transzendentale Begriff ausschlag- 
gebend war. Die Madonnenanbetung des Mittelalters und der 
Renaissance hat mit der Emanzipation der Frau nichts zu tun 
und ist vielmehr einer Abneigung gegen diese, einer Vorein- 
genommenheit gegen die irdische Frau und Mutter entsprungen. 
Es ist ein rein ideales Experiment, das in den Madonnen- 
bildern nach Ausdruck und Formen ringt. Ebenso ist der 
Frauenkult der Renaissancekunst, der in der Bevorzugung des 
Schwangerschaftsmotives seinen Gipfelpunkt findet, ebenfalls 
ein rein erotisches Problem, das keineswegs auf eine veränderte 
Stellung gegenüber der Frau deutet. Das beweist schon der 
‚Umstand, daß die Frau bis in die jüngste Zeit hinauf nie 
anders als die Geliebte, Dirne oder Maitresse dargestellt wurde, 
auch dort, wo sie in häuslichen Kreisen oder bei Ausübung 
mütterlicher Pflichten gezeigt wurde. Die Entdeckung der 
Mutter in dem heutigen Sinne, die Veredelung des Begriffes 
also und die Befreiung der Frau aus den hemmenden Maschen 


400 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


politischer und konfessioneller Dogmen, ist erst ein Verdienst 
der jüngsten Gegenwart und nicht zuletzt durch die veränderten 
wirtschaftlichen Veränderungen der Gegenwart bedingt. Es ist 
ein Vorrecht der anglo-amerikanischen Rasse, daß sie zuerst 
für die Frau die Notwendigkeit einer Anpassung an die ge- 
änderten wirtschaftlichen Bedingungen erkannt hat. Die Frauen- 
emanzipation und mit ihr die ganze Mutterschaftsbewegung, 
sofern sie heute als ein in sich Abgeschlossenes dasteht, ist 
keine Erfindung deutschen Geistes und kämpft wohl auf 
deutschem Boden so ziemlich mit den größten Schwierigkeiten, 
wenngleich vorauszusehen ist, daß sie hier andererseits ihre 
reichsten Früchte ernten wird. Einstweilen stehen noch die 
Gesetze aus, die das berechtigte Verlangen der Frau nach 
Gleichstellung im öffentlichen Leben und nach einer unge- 
hinderten Erfüllung ihres Liebes- und Mutterschaftsberufes ent- 
gegen kommen. In Wirklichkeit ist ja die Frau bereits auf 
dem Wege zur Durchsetzung ihrer ureigensten Rechte, sie 
hat nach und nach alle privaten und öffentlichen Berufe für 
sich erobert, und es ist nur eine Frage der Zeit, ob ihr auch 
das politische Stimmrecht zugestanden wird. 

Daß diese Entwicklung Schritt für Schritt gegangen ist, 
daß es hier einen ganzen Wust von Lügen und Aberwitz tot- 
zuschlagen galt, bevor die Frau dahin gelangte, wo sie heute steht, 
und daß sie heute zäher als je in dem Kampf gegen die Widersacher 
ihrer Rechte beteiligt ist, das alles erfährt man aus dem groß- 
angelegten Sammelwerk Adele Schreibers »Mutterschaft« (Mün- 
chen, Verlag Albert Langen), das kürzlich in der Öffentlichkeit 
berechtigtes Aufsehen erregt hat. Adele Schreiber hat hier 
alles zusammengetragen, was zu dem Problem der Mutter in 
irgend einem direkten Zusammenhang steht und hat eine 
Anzahl gewichtiger Stimmen, die nicht von den maßgebenden 
Instanzen überhört werden können, für die von ihr geleitete 
Bewegung gesammelt. Es ist selbstverständlich, daß bei einem 
so umfassenden Werk mancherlei weniger Gutes neben Vor- 
züglichem unterlief und wenn namentlich die kulturelle und, 
juristische Seite des Problems nicht nach allen Seiten hin ge- 
nügend durchleuchtet scheint, so ist hier dennoch ein ganz 
ungeheures positives Material zur Frauenfrage, zur Sexualreform 
und Pädagogik der Gegenwart und zu einer Neuregelung der 
diesbezüglichen Gesetze geboten. Es behandelt nur die echt 


L6E 'S ">щецоѕләцпүү ә: 23е5пү wap nz 
(Hepsipnw “qS APY snY) "DIAOULSIW NVf UoA 'IJANI0I1 IHOISIAVIS 








VENEZIANISCHE KINDERSTUBE. Von SCARSELLA. 
(Hannover, Provinzial-Museum.) 





DARSTELLUNG DER WOCHENSTUBE EINER VORNEHMEN 
FLORENTINERIN. Von MASACCIO. (1401—1428) 
Zu dem Aufsatz Die Mutterschaft. S. 397 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 401 


frauliche Bewegung, in scharfer Umgrenzung des Gebietes, auf 
dem die Frau ihre eigentliche Stärke bekundet, und für die neue 
ergänzende Resultate in dem vorliegenden Sammelwerk bei- 
gebracht sind. 

Verhehlen wir es uns nicht: Es ist eine ungeheure Lüge 
in unserer Zeit an der Arbeit, eine Lüge, die das gesamte 
Privatleben, weil es so innig mit dem öffentlichen verknüpft 
ist, in seiner intimsten Sphäre, der sexuellen, bedroht. Die 
gleiche doppelte Moral, die vergangenen Epochen ihr ver- 
nichtendes Gepräge gegeben hat, übt noch immer ihren Ein- 
fluß auf die gesamte Gesetzesformulierung der Gesellschaft. 
Liebe, Sexual-Ethik, Ehe, uneheliche Mutterschaft, Mutterschutz 
und Kindererziehung, das alles unterliegt der Einflußnahme 
dieser doppelten Moral, die allerdings aus ihren historischen 
Wurzeln leicht verständlich ist, der aber im Interesse einer 
zukünftigen Kultur Kampf bis an das Messer angesagt werden 
muß. Auf dem Gebiete der Liebe und Ehe ist durch die neu- 
zeitlichen Bestrebungen, namentlich aber durch die mißver- 
standene Propaganda der Frau vielfach Unheil gestiftet worden, 
und es ist begreiflich, daß gerade von fraulicher Seite alle 
Anstrengungen gemacht werden, die vorhandenen Mißverständ- 
nisse aus der Welt zu schaffen. Täuschen wir uns nicht, daß 
es damit genau so seine Schwierigkeiten haben wird, wie bei- 
spielsweise mit der Frage der modernen aufklärerischen Kinder- 
erziehung, jener brennenden Sorge aller sich verantwortlich 
fühlenden, verständnisvollen Eltern. 

Gerade zu diesem letzteren Gegenstand äußert sich Hedwig 
Bleuler-Waser in dem Sammelwerk in einsichtiger Weise; 
die Kapitel über „Erziehung zur Mütterlichkeit“ und „Das 
Zwischenland“ berühren die elementarsten Fragen der Sexual- 
Pädagogik in eindringlicher Beleuchtung, wenn es auch schwer 
ist, alle Fäden, die sich hier ineinander schlingen, aufzudecken. 
Liegt doch die ganze Zukunft, die Möglichkeit, die idealen 
Forderungen der modernen Frauen- und Mutterschaftsbewegung 
durchzusetzen, in den Händen der Jugenderziehung, die nur 
dann von Wert sein kann, wenn sie mit den gegebenen sozialen 
und ökonomischen Bedingungen rechnet. Der alten Garde wird 
es selbstverständlich schwer fallen, noch einmal umzulernen 
und sich ein neues Frauenideal, neue Sittlichkeitsbegriffe, an- 
zueignen, denn jeder Mensch glaubt, so lange er atmet, an den 

Geschlecht und Gesellschaft VII, 9. 26 


402 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Vorzug der alten Zeiten und an die Unzulänglichkeit der 
kommenden. Die Jugend ist ja anders geartet. Sie kann 
leichter mit, weil ihr — sagen wir unumwunden — „Gott sei 
Dank“, die alten Zeiten mit ihrer souveränen männlichen Moral 
fremd geblieben sind. Die Jugend wird es auch lernen, die 
Ehe auf anderen, gesünderen Grundlagen als den bestehenden 
aufzubauen, sie wird sich in das System des Großhaushaltes 
hineinpassen, und wird vielleicht auf diese Weise die unglück- 
selige Spätehe vermeiden, die sowohl an der Moral als auch 
an der Fortpflanzungsfähigkeit der gegenwärtigen Nationen 
її. Die Reform der Mutterschaftsgesetze, von der sowohl 
die ehelichen als auch die unehelichen Mütter betroffen werden, 
muß aber besonders für letztere von einschneidender Bedeutung 
werden. Das Problem der unehelichen Mutterschaft ist, wie es 
heute besteht, eine Kulturschande und ein Verbrechen am 
Volkskörper. Die wohlhabenden Kreise werden ja davon 
weniger betroffen und aus diesem Grunde erklärt es sich auch, 
daß alle diesbezüglichen Reformbestrebungen fruchtlos bleiben. 
Das Problem der unehelichen Mutterschaft gehört dem Prole- 
tariat an und es ist umso verhängnisvoller, je mehr gerade 
dadurch die im Beruf stehenden weiblichen Angehörigen des 
Proletariats betroffen werden. Uneheliche Mutterschaft und 
Beruf schließen sich nach den gegebenen gesellschaftlichen 
Grundsätzen so vollständig aus, daß es der unehelichen Mutter 
nahezu unmöglich wird, nach überstandener Schwangerschaft 
und Entbindung abermals in der bürgerlichen Gesellschaft 
unterzukommen. Die nächste Folge davon ist das Anschwellen 
der Prostitution, die dauernde wirtschaftliche Krise in der 
minder bemittelten Schicht und die damit verbundene Zunahme 
der kriminellen Fruchtabtreibung bezw. die Abnahme der Be- 
völkerungsdichte. Geburtenrückgang und uneheliche Mutter- 
schaft stehen in einem so engen Zusammenhang, daß schon 
um dieser Verbindung willen eine Änderung der herrschenden 
Anschauungen wünschenswert erscheinen. Freilich, die Gesell- 
schaft ändert ihre Anschauungen nicht gern, wenn mit dem 
Wechsel der Gesinnung auch die Notwendigkeit neuer sozialer 
Pflichten an sie herantritt. Mutterschaftsversicherung und 
Säuglingsschutz, staatliche Alimentation der unehelichen Nach- 
kommenschaft, Jugenderziehung und -Fürsorge, das alles drängt 
sich als Schreckgespenst derartigen Reformen nach. Darum 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 403 


hilft sich die Gesellschaft lieber mit unhaltbaren Vorwänden 
und geht an die Lösung dieser Probleme erst gar nicht heran, 
obwohl die Zahlen der diesbezüglichen Statistiken ein wuch- 
tiges Anklagematerial bedeuten. So kommt es auch, daß die 
notwendigsten Wohlfahrtseinrichtungen auf dem Gebiete des 
Mutterschutzes und der Mutterschaftspflege noch immer zum 
größten Teil aus Privatmitteln bestritten werden, und daß sich 
demzufolge manche erheblichen Schwierigkeiten für die Auf- 
nahme und Versorgung der werdenden Mütter beziehungsweise 
des Säuglings ergeben. Man lese die diesbezüglichen Aufsätze 
von Adele Schreiber nach, die sich mit den unehelichen Müttern, 
mit den kinderlosen Stief- und Adoptivmüttern und mit der 
offenen und geschlossenen Fürsorge für Mütter beschäftigen. 
Besonders wertvoll sind die Angaben über die Wirksamkeit 
der Mütterheime in Deutschland, die durch die anschließenden 
Kapitel „Zur Ammen- und Hebammenfrage“ wertvoll ergänzt 
werden. 

Eine Übersicht über die Lage der Frau als Mutter in den 
verschiedenen Ländern zeigt im übrigen, daß Deutschland bis 
auf einzelne Sonderbestrebungen, die sich in England, Frank- 
reich und den skandinavischen Ländern erfolgreich geltend 
machen, auf dem Gebiete der Mutterschaftsbewegung ganz 
überraschende Ergebnisse zu verzeichnen hat. Die Mutterschafts- 
bewegung ist, wie bereits erwähnt, keine deutsche Bewegung, 
aber sie ist bei dem jetzigen Stand der Dinge auf dem Wege, 
eine solche zu werden. Wir glauben nicht, daß sich in der 
anderssprachigen einschlägigen Fachliteratur ein gleiches Werk 
von dem Umfang und der überzeugenden Eindringlichkeit der 
Schreiberschen „Mutterschaft“ findet. Es orientiert den Leser 
nicht nur über den gegenwärtigen Stand der Frauenfrage, deren 
Vorzüge und Bestrebungen es objektiv bewertet, sondern es ist 
das Buch der Frau katexochen, aus dem sie alles über sich 
Wichtige und für ihre Mission als liebendes Weib und Mutter 
Erforderliche erfährt. Es ist ein Buch, das aus dem Zeitgeist 
geflossen ist, als ein Dokument tiefster weiblicher Sehnsucht 
und männlichen Erkenntnismutes, daß für jede künftige frucht- 
bare Kultur zunächst eine Neuordnung der Sexualgesetze und 
ihrer sozialen Grundlagen unbedingt notwendig ist. 


Hä E 


26* 


UNTERSCHIEDE DES GESCHLECHTSLEBENS, 
Von Dr. CONSTANTIN J. BUCURA.*) 


U" Geschlechtsleben verstehen wir Körperfunktionen, 
insoferne diese von den Geschlechtsorganen ausgehen 
oder mit ihnen in einem Kausalnexus stehen. Mit Geschlechts- 
leben im eigentlichen und engeren Sinn aber bezeichnen wir 
das Gemüts- und Körperleben, insoferne dasselbe mit dem 
Zeugungsakt in direkter Beziehung steht. Im ersten Begriffe 
subsumiert man die Geschlechtsreife, die Menstruation, die 
Schwangerschaft, die Geburt, den Wechsel usw. Der zweite 
Begriff schließt in sich den Geschlechtstrieb und den eigentlichen 
Geschlechtsakt. Nur von dem Geschlechtsunterschiede des 
Geschlechtslebens im engeren Sinne soll hier die Rede sein. 

Das Bestreben, eine Definition des Geschlechtstriebes zu 
geben, hat zu den disparatesten Äußerungen geführt. Denn 
unhaltbar ist es, den Geschlechtstrieb als Entleerungstrieb hin- 
stellen zu wollen. Dies träfe überhaupt nur für den Mann zu, 
und für ihn auch nur im geschlechtsreifen Alter, da nur zu 
dieser Zeit sich die Spermaflüssigkeit ansammelt, welcher Um- 
stand allenfalls von einem Einfluß auf den Geschlechtstrieb sein 
kann. Weder bei der Frau, noch bei dem Manne vor der 
Geschlechtsreife oder bei dem Kastraten kann diese Definition 
auch nur im entferntesten zutreffen. Auch nicht zutreffend ist 
die Annahme, der Geschlechtstrieb sei nichts anderes als der 
Fortpflanzungstrieb. Ebensowenig wie man bei Hunger und 
Durst sich nährt und tränkt in der Absicht, dem Körper die 
nötigen Stoffe zum Wachsen und zur Erhaltung zuzuführen 
(am klarsten springt dies bei der Beobachtung dieser Handlung 
beim Säugling ins Auge), ebensowenig übt die überwältigende 
Mehrzahl der Menschen den Geschlechtsakt aus, um Kinder zu 
zeugen. Das Resultat des Stillens des Hunger- und Durst- 
gefühls ist allerdings die Körperernährung, ebenso die Folge 
des Geschlechtstriebes die Erhaltung der Art. Mit der Hervor- 
hebung des Endresultates ist aber eine Definition nicht gegeben. 

Der Geschlechtstrieb ist nichts anderes als die Haupt- 
funktion der inneren Sekretion der Keimdrüsen, nichts anderes 
als eine oft nur temporäre Überladung des Organismus mit 


*) Aus „Geschlechtsunterschiede beim Menschen“. Verlag Alfred Hölder, 
Wien und Leipzig. 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 405 


Stoffen, die aus den Keimdrüsen stammen. Diese Keimdrüsen- 
hormonwirkung äußert sich, indem sie, wie kaum zweifelhaft, 
auf das Nervensystem wirkt, und durch dasselbe den ganzen 
komplizierten Vorgang der Äußerung des Geschlechtstriebes 
auslöst. Dies zeigt sich deutlich beim Säugetier, wo der 
Geschlechtstrieb mit Ausnahme krankhafter Zustände an die 
Brunstzeit gebunden ist, in der Zwischenzeit aber vollständig ruht. 

Das Heranziehen der Tierwelt zum Vergleiche zeigt aber 
noch etwas sehr Wichtiges. Das weibliche Tier äußert den 
Geschlechtstrieb nur zu den erwähnten bestimmten Zeiten und 
bringt der Begattung in der übrigen Zeit nicht einmal einfache 
Duldung entgegen. Bei dem männlichen Tiere, wie dies haupt- 
sächlich vom Wilde feststeht, zeigt sich in der Brunst eine 
Abhängigkeit vom Weibchen, und trägt dieselbe gewissermaßen 
einen sekundären Charakter, indem die Brünstigkeit des männ- 
lichen Tieres erst durch die Brunst des weiblichen hervor- 
gerufen wird. In der übrigen Zeit hört die Samenbildung auf 
und die Hoden zeigen auch morphologisch den Zustand der 
Ruhe. Bewiesen durch die Erfahrung ist es, daß, wenn das 
weibliche Wild einmal zur unrechten Zeit brünstig wird, das 
männliche ebenfalls mit Brünstigkeit antwortet. Jedenfalls ist 
beim Wilde die Spermienbildung etwas Sekundäres im Ver- 
gleiche zur Tätigkeit der weiblichen Keimdrüsen (Schmalz). 

Ebenso verhält sich, allerdings etwas weniger deutlich, 
aber trotz der »Zivilisation« doch noch nachweisbar, der 
Geschlechtstrieb auch bei dem Hunde, dessen Beobachtung 
leichter zugänglich ist. Jeder Besitzer eines Hundepaares wird 
bestätigen können, daß Hund und Hündin monatelang als gute 
Kameraden ruhig nebeneinander leben, ohne daß es zu irgend 
einer geschlechtlichen Betätigung kommt. Erst während der 
Läufigkeit der Hündin ändert sich ihr Gebaren vollkommen. 
Mit dem Moment, als bei der Hündin die blutige Sekretion 
beginnt, ist der Hund geschlechtlich erregt und verfolgt die 
Hündin mit seinen Liebesbezeigungen. Auch die Hündin, die 
bei ihrem Gefährten durch ihre Läufigkeit den Geschlechtstrieb 
geweckt hat, verhält sich anders als früher; sie reizt ihn und 
erhöht seine geschlechtliche Erregtheit, indem sie ihm bis zu 
einem gewissen Grad entgegenkommt; den Geschlechtsakt aber 
läßt sie erst zu, wenn die blutige Sekretion zu versiegen beginnt. 

Bei dem Menschen sind diese Verhältnisse allerdings andere 


406 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


geworden. Der Geschlechtstrieb ist im großen und ganzen 
nicht an gewisse Zeiten gebunden und die Hervorrufung solcher 
bei dem Manne durch das Analogon der Brunst, die Menstruation, 
ist nicht nachweisbar. Wenigstens nicht ohne weiteres. Ana- 
logien finden sich aber in beiden Punkten. Was die Periodizität 
anbelangt, so ist diese bei der Frau ganz deutlich ausgesprochen, 
und zwar abhängig von der Menstruation. Die Angaben über 
die Zeit des stärksten Geschlechtstriebes des Weibes variieren 
in engen Grenzen. Fast alle Autoren, die sich darüber aus- 
sprechen, geben an, daß der Geschlechtstrieb am stärksten in 
den letzten Tagen der Menstruation auftritt oder knapp nach 
derselben; seltener knapp vor derselben, noch seltener am 
Beginne der Menstruation. Es dürfte nun, nach Analogie bei 
den Säugetieren, sich dies wohl so verhalten, daß die physio- 
logische Steigerung des Geschlechtstriebes nur diejenige ist, 
die knapp nach der Menstruation auftritt, und daß die ante- 
und intramenstruelle Steigerung, wenn sie überhaupt regel- 
mäßig vorkommt, nur der Ausdruck des mechanisch-chemischen 
Reizzustandes ist, durch die erhöhte Blutfülle und stärkere 
Sekretion, ähnlich wie sie auch bei anderen pathologischen 
Hyperämien und Ausflußarten zur Beobachtung kommt. Im 
Einklange damit, daß nämlich postmenstruell der Geschlechts- 
trieb am stärksten ist, steht die verschiedentlich gemachte 
Beobachtung, daß bei den Frauen der Orgasmus am leichtesten 
und schnellsten knapp nach dem Unwohlsein auszulösen ist, 
und je mehr sich die Zeit des nächsten Unwohlseins nähert, 
derselbe desto schwerer und langsamer auftritt. Frigidäre 
Naturen geben direkt an, beim Verkehre nur knapp nach dem 
Unwohlsein zur Befriedigung gelangen zu können; später 
überhaupt nicht mehr. , 

Es häufen sich die Angaben, daß auch beim Mann eine 
gewisse Periodizität des Geschlechtstriebes in monatlichem 
Zyklus vorhanden sei. Die Beobachtung erstreckt sich haupt- 
sächlich auf unwillkürliche Samenergüsse während des Schlafes. 
Schon diese Tatsache dürfte die Beweiskraft der Fälle sehr 
mindern, da hier die Fülle des angesammelten Ejakulates für 
die Entleerung von Einfluß sein dürfte, ohne daß der Geschlechts- 
trieb an und für sich irgendwie primär mitbeteiligt wäre. Daß 
aber körperliche Funktionen bei langem Bestehen eine Perio- 
dizität erlangen, ist ja allbekannt und für alle möglichen Organe 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 407 


und Lebewesen nachgewiesen. Die Angaben, daß der Geschlechts- 
trieb als solcher in wechselnden Perioden (mit Vorliebe wird 
der Samstag und Sonntag angegeben) Steigerungen aufweist, 
dürften so zu deuten sein, daß hier nur Lebensgewohnheit und 
soziale Verhältnisse mitspielen, nicht aber innere Ursachen. 

Der Geschlechtstrieb des Mannes kann physiologisch (außer 
durch gewisse Genuß- und Arzneimittel, was ja auch nicht 
mehr als physiologisch zu bezeichnen ist), hauptsächlich durch 
zwei Momente zur geschlechtlichen Betätigung drängen: durch 
stärkere Ansammlung der Samenflüssigkeit und durch die 
Sinnesreize, die von der Frau ausgehen. Mächtiger ist der 
zweite Faktor. Der erstere unterliegt mehr der Angewöhnung, 
der Übung, und ist durch den Willen mehr beeinflußbar als 
der letztere. 

Schon dieser Umstand, daß nämlich beim Manne der 
mächtigste Antrieb zur geschlechtlichen Betätigung von den 
Sinnesreizen ausgeht, die ihm die Frau gibt, erweist den männ- 
lichen Geschlechtstrieb als etwas mehr Sekundäres, ähnlich wie 
beim männlichen Tiere; während bei der Frau, wie wir später 
noch hervorheben werden müssen, das auslösende Moment 
mehr ihr eigener, von innen kommender Trieb ist. Daß aber 
beim Manne der „induzierte“ Geschlechtstrieb im gleichen Aus- 
maße wie beim Tiere nicht mehr nachweisbar ist, dürfte unter 
anderem auch davon abhängen, daß unter den Lebensverhält- 
nissen des Menschen den Mann stetig mannigfache Reize 
treffen, die von außen kommen. 

Eine interessante Beobachtung teilt Ahlenstiel in den 
»Sexualproblemen« mit, nämlich, daß beim Mann der männliche 
Genitalapparat, einmal in Gang gesetzt, das Bestreben hat, auf 
einmal möglichst viel zu leisten, in möglichst kurzer Zeit eine 
möglichst häufige Spermaabgabe zu ermöglichen, dann zu 
ruhen, bis alles ergänzt und genügend Neues aufgespeichert ist. 

Stellt man sich einen Mann und eine Frau, abseits von 
der Zivilisation mit ihren aufreizenden Schädlichkeiten, einsam 
auf dem Land ohne Sinnesreizung, ohne aufregende Getränke 
und Gerichte lebend, vor, so möchte ich glauben, daß sich bei 
körperlich und psychisch gesunden Individuen ein Typus des 
Geschlechtsverkehrs entwickeln würde, der große Ähnlichkeit 
hat mit dem Verhältnisse beim Tiere; ein Typus, der vom 
größeren Verlangen der Frau nach der Menstruation diktiert 


408 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


würde. Der in freier Natur körperlich angestrengt lebende, ge- 
sunde Mann würde in seinen Geschlechtsansprüchen sehr 
genügsam sein; bei seiner unverbrauchten Kraft aber würde er 
dem leisesten Zuvorkommen der von innen aus physiologisch 
geschlechtlich erregten Frau willig Gehör leisten und in dieser 
Zeit des weiblichen Verlangens entsprechend der Beobachtung 
Ahlenstiels in einer umgrenzten Zeit den Geschlechtsakt öfters 
ausführen, um dann, nachdem er ermüdet ist und das Verlangen 
der Frau nachgelassen hat, längere Zeit, vielleicht bis wieder 
erst nach dem nächsten Unwohlsein seiner Partnerin, zu 
pausieren. 


Trotzdem dies natürlich nur eine Hypothese ist, haben 
mich manche Beobachtungen und Erzählungen von Leuten, die 
in den obenangeführten ähnlichen Verhältnissen leben, dann die 
Erwägung der Verhältnisse bei den Tieren, zur Überzeugung 
gebracht, daß Obiges dem primär Physiologischen entspricht; 
daß also das Primäre, das den Geschlechtstrieb -auch im 
Einzelfalle Auslösende die Frau ist, daß die primäre Werbung 
von der Frau ausgeht, wenn auch meistens bemäntelt und 
vielleicht von beiden Seiten unbemerkt, daß demnach die Frau 
weniger passiv ist, als im allgemeinen angenommen wird, und 
weiter, daß die Periodizität ebenfalls von der Frau ausgeht 
und auch bei dem Menschen als physiologische Grundlage 
noch immer zu Recht besteht. Ich zweifle nicht, daß diese 
Äußerungen etwas befremdend wirken, und doch glaube ich, 
aus mehreren Äußerungen über den Geschlechtstrieb, die von 
Frauen selbst herrühren, entnehmen zu dürfen, daß die obigen 
Annahmen auf Richtigkeit beruhen. 

Einige Sätze, die darauf einen gewissen Bezug haben, möchte ich 
wörtlich zitieren; sie entstammen dem Kapitel »Das Geschlechtsgefühl des 
Weibes: von Johanna Elberskirchen im Werke :Mann und Weib« von 
Kossmann und Weiß. »Sobald die Geschlechtsreife des Weibes sich 
ihrer Vollendung nähert, sobald sich mit der seelischen Geschlechtlichkeit 
der Liebeskraft die körperliche Geschlechtlichkeit verbindet, beginnt das 
Weib aufmerksam zu werden auf den Mann. Seine Sinne, bis dahin ge- 
schlechtlich stumpf und tot, äußern sich geschlechtlich, wachsen dem 
Manne langsam entgegen, strecken sich langsam nach ihm aus und das 
Weib antwortet auf den von dem Mann ausgehenden Reiz bald mehr, 
bald weniger stark, je nach der Größe des Reizes, ohne sich jedoch zu- 
nächst dieses Reizes als eines Geschlechtsreizes bewußt zu werden und 
ohne sich zunächst klar darüber zu sein, daß dieses Wohlgefallen dem 
Manne gilt .. . Dann fällt es wie Schuppen von den Augen des Weibes; 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 409 


plötzlich sieht sie da einen Menschen vor sich, der so mächtig ihre 
Sympathie erregt, den Mann; und ihre Liebe, bis dahin ihr selbst ver- 
borgen, wird ihr mit aller Urgewalt offenbar, erfaßt sie mit elementarer 
Kraft und trägt sie mit plötzlich losbrechender Gewalt in das weltentrückte, 
selige Reich der Liebe. Die Geschlechtserfüllung, die Begattung ist nun- 
mehr nur noch eine Frage der Verhältnisse und allenfalls je nach den Ver- 
hältnissen eine Frage der persönlichen Stellungnahme der Frau zur ge- 
sellschaftlichen Geschlechtsmoral . . . Alles im Weibe drängt hin zu 
dem geliebten Mann und will nur eines: »ihn«. Ein großer geschlecht- 
licher Tätigkeitstrieb ist in der Frau wirksam, der mit der Sicherheit und 
Genauigkeit einer Magnetnadel auf den Mann, den einen, geliebten, zeigt 
und sie unweigerlich in seine Arme treibt, unweigerlich aus eigenster, 
innerster Kraft. Diese Kraft macht sich besonders auch in den Geschlechts- 
organen geltend. Auch dort ist alles auf den Mann gerichtet, häufig in 
fast unerträglicher Spannung und bereit, die Geschlechtsoffenbarung zu 
feiern... Dieser Zustand kann unabhängig von jeder Erfahrung, un- 
abhängig von der Begattung, also ehe überhaupt die erste Begattung statt- 
hatte, bestehen . .. Der Eintritt der geschlechtlichen Spannung ist nach 
der Sturm- und Drangperiode der Jugend- und Liebeszeit einer gewissen 
regelmäßigen Wiederkehr unterworfen. Die geschlechtliche Spannung 
tritt bei dem gesunden Weibe mit der monatlichen Regel ein und ist am 
stärksten am dritten und vierten Tag, unmittelbar bei oder nach Abschluß 
derselben. In dieser Zeit ist auch die Befriedigung der Geschlechtslust am 
stärksten und wohltuendsten und mit keinerlei Anstrengung verknüpft, 
kräftigt im Gegenteil den Organismus erheblich. In der Jugendzeit da- 
gegen, in der Sturm- und Drangperiode der Frau, ist der Eintritt der ge- 
schlechtlichen Spannung unabhängig von der monatlichen Regel und sie 
tritt unabhängig vom Werben des Mannes ein, lediglich als Folgezustand 
geschlechtlicher Reife einerseits und dem, vom geliebten Mann ausgehenden 
seelisch-geschlechtlichen Reiz andererseits... Aus diesem Zustande heraus 
erfolgt das Werben der Frau um den Mann. Ja, das Werben der Frau. 
Nicht nur der Mann wirbt, nein, auch die Frau. Ihr Werben versteckt 
sich nur häufig, wagt sich selten offen heraus, wie das des Mannes, unter 
dem Drucke der üblichen Geschlechtsmoral, oder wird schnöde zurück- 
gedrängt als »unschicklich«. Aber es ist vorhanden als mächtige Kraft, die 
unter dem Druck um so machtvoller aus dem Weibe hervordringt, in 
jedem Blicke, jedem Klange der Stimme, jeder Bewegung, jeder möglichen 
Berührung ... Auch das sogenannte Kokettieren des Weibes ist eine 
Form des Werbens um den Mann .. .« 


Daß sich die oben besprochenen, sagen wir physiologischen 
Verhältnisse, die der tierischen Brunst beider Geschlechter ent- 
sprechen, im heutigen Leben des Menschen geändert haben, 
ist eigentlich kein Gegenbeweis wider ihre Richtigkeit; es ge- 
nügt, wenn sich auch im menschlichen Leben nur eine An- 
deutung des primären Verhältnisses nachweisen läßt; und dies 
ist, wie oben gesagt, wohl der Fall. 


410 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Daß es beim Manne im allgemeinen anders geworden, 
hängt mit der ganzen Zivilisation, mit der ganzen Lebensführung 
zusammen. Der Mann bekommt unentwegt verschiedenartige, 
nichtphysiologische Stimulantien des Geschlechtstriebes in 
Schaustellungen, Theater, Lektüre, Bildern usw. Dadurch wird 
sein Verlangen ebenso geweckt wie physiologisch durch das 
Gebaren der Frau knapp nach der Menstruation. Durch die 
ihm allenthalben gebotenen leichten Möglichkeiten, seinen ge- 
weckten Geschlechtstrieb zu befriedigen, kommt er in ein ge- 
wisses Training, welches dann auch seinerseits das Verlangen 
und die Ansprüche erhöht. Dadurch wird der Mann auch 
gegen Frauen aggressiv, die ihrerseits zu seiner Ermunterung 
nichts beigetragen haben. Ich glaube, nur dadurch entwickelt 
sich das Verhältnis, wie es heutzutage im allgemeinen sichtlich 
besteht und als normal und physiologisch aufgefaßt wird, und 
durch welches der Mann als der einzig aktive Teil imponiert. 
Doch für die Frau ist dies (in der Monogamie) nicht zweck- 
mäßig, denn sie wird hierdurch gar oft gezwungen, den 
Geschlechtsakt auszuführen, ohne hierfür das geringste Ver- 
langen zu haben. 

Es ist andererseits wohl selbstverständlich, daß der einmal 
aggressiv gewordene Mann den Geschlechtstrieb der Frau 
wecken kann und dann auch, ohne daß ihr Verlangen das 
Primäre wäre, imstande ist, sie gefügig zu machen. 

Weniger als beim Manne scheint sich das primäre Ver- 
hältnis bei der Frau geändert zu haben. Nicht gar oft wird 
man in das Geschlechtsleben der einzelnen Frau eindringen 
können und sicher sein, die Wahrheit zu erfahren. Es mehren 
sich aber heute die Angaben von schriftstellernden Frauen über 
das weibliche Sexuelle immer mehr. Aus diesen vorhandenen 
Angaben und aus gelegentlichen!Äußerungen läßt sich entnehmen: 

1. daß es unrichtig ist, daßfder Geschlechtstrieb beim 
Mädchen erst »geweckt« werden muß, um in Erscheinung zu 
treten; es tritt vielmehr die Geschlechtslust ebenso von selbst 
auf, wie die Pubertät, wie die erste menstruelle Blutung, wenn 
auch die meisten Mädchen den in der Pubertät erwachenden 
Geschlechtstrieb nicht als solchen zu deuten vermögen, sondern 
meist in andere Gefühle umwerten; 

2. daß der Geschlechtstrieb, wenn auch mißdeutet, sich in 
der Pubertät auch unabhängig, später aber regelmäßig nach 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 411 


der menstruellen Blutung spontan fühlbar macht: erotische 
Träume mit Orgasmus, auch bei Mädchen, die niemals ge- 
schlechtlich verkehrt haben; unwillkürliche Akte, die den 
Orgasmus herbeiführen, oft ohne daß das Mädchen genau weiß, 
um was es sich handelt; 

3. daß der Geschlechtstrieb unter normalen Verhältnissen 
im übrigen Intermenstruum, hauptsächlich in der zweiten Hälfte, 
viel seltener oder kaum je spontan auftritt, sondern haupt- 
sächlich nur, wenn er irgendwie künstlich geweckt wird; und 

4. daß die spontane Äußerung des Geschlechtstriebes knapp 
nach der Menstruation auftritt und dann nur durch die ver- 
schiedentlichen Hemmungen unterdrückt wird. 

Daß bei der Frau viel mehr Hemmungen einwirken als beim 
Manne, ist eine bekannte und allseits gewürdigte Tatsache. Diese 
Hemmungen sind nicht immer bewußt; die hauptsächlichsten 
sind: Erziehung, Beispiel, Religion, ethische Grundsätze, Angst vor 
Schande, vor Schwangerschaft, vor Geschlechtskrankheiten usw. 

Für die Tatsache, daß es bei der Frau keine eigentliche 
Brunst mehr gibt, d. h. daß nach vorheriger Anregung des 
Geschlechtstriebes der Geschlechtsakt eigentlich zu jeder Zeit 
mit Erfolg, mit Hervorbringung des Orgasmus, ausgeführt 
werden kann, gibt es zwei Erklärungen: vor allem den Um- 
stand, daß die menstruelle Evolution ohne Ruhestadium, wie 
ein solches hauptsächlich bei den wild lebenden Tieren 
monatelang andauert, vor sich geht, daß somit, wenn die eine 
„Brunst“ " abklingt, gleich wieder die nächste ihren Einfluß 
geltend macht; hauptsächlich aber die Cerebralisierung des 
Geschlechtstriebes beim Menschen, welche den Geschlechts- 
trieb durch zentrale Vorgänge wach erhält, zum Teil auch ganz 
unabhängig von den Geschlechtsorganen. 

Durch die grundlegenden Untersuchungen K. Kellers über 
das Endometrium des Hundes wissen wir heute, daß sich ganz 
ähnliche Vorgänge wie bei der Menstruation des Menschen 
auch bei der Tieruterusschleimhaut während der Brunst nach- 
weisen lassen, daß somit die Brunst beim Tiere nicht nur das 
Äquivalent, sondern eigentlich der ganz gleiche Vorgang ist wie 
die Menstruation beim Weibe. Der hauptsächliche Unterschied 
zwischen Weib und Tier in der Evolution der Uterusschleim- 
haut besteht in dem schon früher angedeuteten Umstande, daß 
im Zyklus des Tieres ein wochen- oder monatelang dauerndes 


412 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Ruhestadium sich einschiebt, welches beim Menschen ganz 
fehlt. Läßt man das Ruhestadium des Tieres, speziell in 
unserem Falle des Hundes, entfallen, so bildet sich in der 
Aufeinanderfolge der Schleimhautveränderungen ein Zyklus 
heraus wie beim Menschen. Beim Menschen entspricht die 
menstruelle Blutung Heapes Prooestrus; das Auftreten des 
Geschlechtstriebes knapp nach der Menstruation dem Oestrus, 
die antemenstruelle Drüsenhyperplasie dem Metoestrum, während 
das Dioestrum bei dem Menschen fehlt. Die Gegenüberstellung 
der Verhältnisse beim Hunde geht aus folgender Tabelle hervor. 


Gegenüberstellung der Menstruation und Brunst. 





Beim Hund Heapes Einteilung 
Palm Menschen (nach K. Keller) der tierischen Brunst 
Menstruelle Blutung Blutige Sekretion bei der | Prooestrus 


Läufigkeit (Schwellung 
und Sekretion der Epi- 


thelien) 
Knapp postmenstruell Belegzeit Oestrus 
Antemenstruelle Drüsen- | Drüsenhyperplasie Metoestrum 


hyperplasie ж (5 
Drüsenrückbildung (wenn | Drüsenrückbildung 
keine Gravidität) 
Fehlt Ruhestadium Dioestrum 


Biologisch ist die Gleichheit der Prozesse ohneweiters 
verständlich, vorausgesetzt, daß man das Fehlen des Ruhe- 
stadiums beim Menschen genügend berücksichtigt. Morpho- 
logisch ergeben sich in den einzelnen Details vielleicht noch 
gewisse Verschiedenheiten, die aber nach meiner Überzeugung 
bei genauerer Kenntnis und ausgiebigerer Einsichtnahme in die 
vergleichende Histologie schwinden werden. 

Was die Cerebralisierung des Geschlechtstriebes 'anlangt, 
so ist es Tatsache, daß beim Menschen die cerebrale Kompo- 
nente als Reiz des Geschlechtstriebes eine ganz besondere 
Rolle spielt, während beim Tiere davon eigentlich nur die 
periphere Reizwirkung des Riechnerven in Erscheinung tritt 
und alle übrigen diesbezüglichen cerebralen Momente stark 
zurücktreten oder auch ganz entfallen. 

Wir stellen uns nämlich heute, wie oben schon angedeutet, 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 413 


vor, daß bei dem Tiere zur Zeit der Brunst Keimdrüsenhormone 
das Zentralnervensystem in für den Geschlechtstrieb spezifischer 
Weise reizen, daß dieser Reiz zentrifugal auf die peripheren 
Organe, beim Männchen vielleicht via Zwischenzellen des 
Hodens, auf die Geschlechtsorgane geleitet wird und dort den 
für die Begattung nötigen Zustand hervorbringt; daß also beim 
Tiere der ganze Vorgang direkt abhängig vom Einflusse der 
Keimdrüsensekrete ist, indem erst durch diese die Nervenbahnen, 
die zu anderen Zeiten, also außerhalb der Brunst, ruhen, in 
Aktion gesetzt werden. 

Beim Weibe hingegen sind durch die ununterbrochen 
vorhandene menstruelle Evolution, die eigentlich keine Ruhe- 
pause zeigt, durch die kontinuierlich periodische Hormonwirkung 
diese Bahnen permanent funktionsfähig, mit vielleicht nur 
quantitativen periodischen Unterschieden, die sich, soweit uns 
bekannt, auch nur bei der Frau geltend machen. — 

Der Geschlechtstrieb kann von verschiedenen Seiten her 
geweckt werden, wenn nur das Nervensystem unter der Ein- 
wirkung der spezifischen Keimdrüsensekretion steht; so reflek- 
torisch durch Reizung bestimmter Stellen der äußeren Ge- 
schlechtsorgane oder bestimmter Stellen des übrigen Körpers, 
die wir erogene Zonen nennen und die hauptsächlich Über- 
gänge der äußeren Haut auf die Schleimhaut betreffen; durch 
Reize, die die Hirnnerven empfangen (beim Menschen kommt 
hauptsächlich das Auge in Betracht, weniger das Ohr und die 
Nase, welch letztere beim Tiere die Hauptrolle spielt), durch 
Reize, die direkt bestimmte Teile des Rückenmarks oder des 
Gehirns treffen, hauptsächlich aber durch Reize, die von höheren 
Funktionen des Gehirnes ausgehen, wie die verschiedenen 
Vorstellungen, Erinnerungsbilder usw. Das Prävalieren der 
cerebralen Auslösung des Geschlechtstriebes und die dadurch 
entstandenen besseren und stets funktionierenden Bahnen der 
entsprechenden Nervenleitungen erklärt nicht nur die stetige 
Bereitschaft und Auslösbarkeit des Geschlechtstriebes beim 
menschlichen Weibe, sondern auch das Weiterbestehen des 
Geschlechtstriebes beim Menschen nach der Kastration. 

Wollte man aus obigen Erwägungen einen Unterschied 
des Geschlechtstriebes zwischen Mann und Weib konstruieren, 
so würde sich ergeben, daß bei oberflächlicher Betrachtung ein 
Unterschied nicht nachweisbar ist, weil bei beiden Geschlechtern 


414 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


dieser fundamentale Trieb allzeit vorhanden ist, wenigstens 
durch gegenseitige Erregung jederzeit bis zur erfolgreichen 
Ausführung des Geschlechtsaktes angefacht und gesteigert 
werden kann. Bei näherer Betrachtung aber scheint ein Unter- 
schied doch zu bestehen. Bei der Frau überwiegt, ähnlich wie 
beim weiblichen Tiere, die spezifische Wirkung der Keim- 
drüsen, wodurch eine deutliche Periodizität des Geschlechts- 
triebes in Erscheinung tritt, vielleicht hauptsächlich in quanti- 
tativer Beziehung. Je mehr dieses Thema erörtert wird, desto 
mehr häufen sich auch die Angaben, daß außerhalb der 
Steigerung des Geschlechtstriebes knapp nach der Menstruation 
die Auslösung des Orgasmus mit direkter Anstrengung ver- 
bunden ist, wodurch dem Geschlechtsakt eine gewisse Ab- 
spannung und Ermüdung folgt, während derselbe zur richtigen 
Zeit nach der Menstruation eine nachträgliche wohltuende Er- 
quickung mit sich bringt. Jedenfalls ist aber bei der Frau 
eine Ursache des Geschlechtstriebes von innen heraus gegeben, 
eine innere organische Ursache, die von ihr selbst stammt, so 
daß der Geschlechtstrieb der Frau etwas mehr Primäres, viel 
mehr Elementares aufweist als der Geschlechtstrieb des Mannes 
der nach diesen Erwägungen mehr als induziert, als sekundär 
angenommen werden muß, ähnlich wie dies Schmalz für die 
wild lebenden Tiere hervorhebt, trotzdem der Mann, wenn 
einmal sein Geschlechtstrieb angefacht ist, aktiver und aggres- 
siver ist als die Frau, und zwar nicht deswegen, weil sein 
Geschlechtstrieb stärker ist als der der Frau (darüber wird 
noch später die Rede sein), sondern weil er weniger unbewußte 
und bewußte Hemmungen zu überwinden hat. 

Daß auch beim Manne der Geschlechtstrieb angeblich 
periodische Steigerungen zeigt, beweist gar nichts, weil die 
Periodizität, wie schon hervorgehoben, etwas ist, was alle Lebe- 
wesen zeigen und auf jede Funktion des Körpers ausgebreitet 
ist; es beweist dies keinesfalls, daß diese Periodizität beim 
Mann aus einer inneren Ursache, einer periodischen Funktion 
der Keimdrüsen, resultiere; hiefür haben wir bis heute nicht 
die geringsten Anhaltspunkte. 

Aus dem Umstande, daß der Geschlechtstrieb der Frau 
etwas Primäres ist, beim Mann aber mehr induziert, würde 
nun folgen, daß der geschlechtliche Verkehr für das Weib mehr 
eine natürliche Notwendigkeit bedeute als für den Mann, daß 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 415 


die Frau unter der Abstinenz mehr zu leiden habe als der 
Mann. Und ich glaube, daß dies im Grunde genommen, wenn 
man von den Kulturverhältnissen abstrahiert, sich tatsächlich so 
verhalte. Wir sehen dies an den domestizierten Tieren. Ein 
allein gehaltenes männliches Tier wird kaum je durch seine 
geschlechtliche Appetenz auffallen oder Unannehmlichkeiten 
bereiten, wenn es nicht irgendwie Gelegenheit hat, mit einem 
brünstigen Weibchen in direkte Berührung zu kommen, be- 
ziehungsweise ihre Exkrete, die von der Brunst stammen, zu 
riechen. Nicht so das weibliche Tier; dieses wird zur Zeit 
der Brunst geschlechtlich erregt sein, auch ohne daß ein 
andersgeschlechtliches Tier zugegen ist; es wird durch sein 
nicht mißzuverstehendes Gebaren seine geschlechtliche Erregung 
zur Schau tragen und gar oft auch Geschlechtsverkehrs- 
bewegungen ausführen (Bespringen, was dem Umklammerungs- 
reflex des Frosches ganz analog ist, demnach, da es regelmäßig 
auch bei Weibchen beobachtet wird, nicht als absoluter männ- 
licher Geschlechtscharakter gelten kann), die dem männlichen 
Tiere zukommen. Ob die Abstinenz beim normalen Menschen 
von nachweisbar nachteiligen Folgen begleitet ist, hauptsächlich 
die Beteiligung der Geschlechter an diesen Folgen, ist schwer 
oder überhaupt nicht zu entscheiden; dies beweisen auch die 
sich widersprechenden Äußerungen darüber. Gleichwertiges, 
also vergleichbares Material könnte man nur erzielen, wenn 
man vollwertige Individuen beiderlei Geschlechtes gegenüber- 
stellen könnte, die ferne von jeglichen geschlechtlichen Reizen 
leben. Daß hauptsächlich männliche derartige Individuen heute 
schwer zu finden sind, ist einleuchtend; und an dem männ- 
lichen Material scheitert auch aus anderen Gründen ein der- 
artiger Vergleich.” Die Folgen der sexuellen Abstinenz beim 
normalen, vollwertigen, geschlechtlich nicht gereizten Manne 
kennen wir kaum; denn es gibt nicht viele Männer, die keinen 
geschlechtlichen Verkehr in irgend einer Form ausüben, und 
von denen, die dies nicht tun, läßt sich mit Sicherheit schwer 
feststellen, ob sie wenigstens sexuell als vollwertig zu be- 
trachten sind. Frauen aber gibt es, die keinen geschlechtlichen 
Verkehr ausüben, und die Folgen an ihnen sind auch sichtbar. 
Denn, daß es sowohl körperliche als auch psychische Unter- 
schiede zwischen einer im geschlechtlichen Verkehr lebenden 
Frau und einer »alten Jungfer« gibt, wird kaum jemand ernst- 


416 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


lich bestreiten wollen. Ich glaube nicht, daß das Fehlen des 
Typus der »alten Jungfer«e beim Manne dadurch bedingt sei, 
daß es eben keine Männer gibt, die abstinent leben. Ich bin 
vielmehr überzeugt, daß das oben Gesagte auch für den 
Menschen zurecht besteht, daß nämlich die Frau des geschlecht- 
lichen Verkehrs weniger entraten kann als der Mann, ohne 
dies an Leib und Seele zu spüren; die Frau ist nämlich sexueller, 
auf das geschlechtliche Leben mehr eingestellt als der Mann, 
der unter günstigen Verhältnissen ohne sexuelle Reize u. ä., 
bei körperlicher und geistiger Arbeit und Ablenkung seine 
Kräfte anderwärts auszugeben in der Lage ist. Dies ist auch 
die richtige Folge unserer Überzeugung, daß der Geschlechts- 
trieb des Weibes etwas Primäres ist, von der Funktion der 
Keimdrüse direkt Ausgehendes, während der Geschlechtstrieb 
des normalen, nicht geschlechtlichen Reizen ausgesetzten Mannes 


induziert ist, mehr der Erweckung bedarf. 

Hier sei noch des Einflusses des geschlechtlichen Verkehres der 
Frau auf ihre körperliche und psychische Entwicklung gedacht. Daß ein 
solcher Einfluß besteht, wird kaum angezweifelt. Unter dem Einflusse 
der geschlechtlichen Betätigung kommen — und dies beobachtet man 
hauptsächlich bei sehr jugendlichen oder in der Entwicklung zurückge- 
bliebenen Individuen — die meisten weiblichen Geschlechtsmerkmale 
rascher und auffälliger zur Entwicklung. Die Brüste nehmen an Umfang 
rasch zu, die unregelmäßig auftretende oder (bei infantilen Individuen) 
überhaupt noch nicht erfolgte menstruelle Blutung wird geregelt, die 
Körperbehaarung kommt zu rascherer Entwicklung, überhaupt die ganze 
Erscheinung entwächst dem kindlichen Habitus rasch und entwickelt sich 
zum frauenhaften Aussehen. Über diese Tatsache herrscht wohl Einig- 
keit, man findet darüber bei vielen Autoren ganz ähnliche” Angaben 
(Blumenthal, Holst, Lombroso, Ploß-Bartels u.v.a.). Nicht die gleiche 
Einigkeit herrscht über die Ätiologie dieser Erscheinungen, und von 
manchen Autoren wurde dieses »Aufblühen« bei geschlechtlichem Verkehr 
als eine direkte Folge der »Resorption« von Spermaflüssigkeit aufgefaßt. 
Diese Annahme ist aber unhaltbar. Ich verfüge über mehrere Beobach- 
tungen von sehr jungen, zum Teil auch unterentwickelten Mädchen, die 
nach der Verheiratung in kürzester Zeit, man kann ohne weiteres behaupten 
in einigen Wochen, zu vollentwickelten Frauen aufgeblüht sind, ohne daß 
eine Resorption von Spermaflüssigkeit stattgefunden hätte, da, wie mir 
vom Manne versichert wurde, ein derartiger Präventivverkehr stattfand, 
daß das Sperma mit der Frau in gar keine Berührung kommen konnte. 


(Schluß folgt.) 


H 8 





AUS DEM SÄUGLINGSHEIM DÜSSELDORF. 
Zu dem Aufsatz »Die Mutterschaft«. S. 397 





ANATOMISCHE ZEICHNUNG MIT EMBROY. Von JOST 
AMMANN. Nach Albertus Magnus, Daraus man alle Heimlich- 
keit deß weiblichen Geschlechts erkenen kan. Frankfurt 1592. 


Aus Adele Schreiber, Mutterschaft. Zu dem Aufsatz »Die Mutterschaft-. 
S. 397 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 
уш, 10. 


„= +5 


\\ A? 





SALOME EMPFÄNGT DAS HAUPT DES JOHANNES. Von LOVIS CORINTH 
Zu dem Aufsatz »Salome«. S. 342 





UNTERSCHIEDE DES GESCHLECHTSLEBENS. 
Von Dr. CONSTANTIN J. BUCURA. 
(Schluß). 
Е" in der Sexualliteratur öfters diskutiertes Thema ist die 

‘Stärke des Geschlechtstriebes der Frau, beziehungsweise 
die Frage des Geschlechtsunterschiedes der geschlechtlichen 
Bedürfnisse. 

Eine Gruppe von Autoren ist der Ansicht, daß der Ge- 
schlechtstrieb des Mannes viel stärker ist; sie sehen in dem 
ausgesprochenen geschlechtlichen Verlangen des Weibes etwas 
Pathologisches, Unnatürliches, so Lawson-Tait, Lombroso und 
Ferrero, Fehling, Krafft-Ebing, Windtscheidt, Moll, Löwenfeld, 
Adler u.a. Andere Autoren wieder bezeichnen den weiblichen 
Geschlechtstrieb als stärker als den des Mannes (Ellen Key, 
Gutzeit, Mantegazza, Ellis, Blackwell). Eine Reihe anderer 
Autoren ist vorsichtiger in der Bestimmung des Unterschiedes 
der Intensität des Geschlechtstriebes und weist nur die Behaup- 
tung zurück, das Fehlen geschlechtlichen Bedürfnisses beim 
Weib entspräche der Norm, so Kisch, Eulenburg, Koßmann, 
Nyström, Bloch u. a. m. 

Ein Intensitätsunterschied, der Geschlechter im Geschlechts- 
triebe besteht wohl kaum, vorausgesetzt, daß man nur normale 
und gleichwertige Individuen miteinander vergleicht. Ebenso 
falsch ist es, dem Weibe den Orgasmus abstreiten zu wollen. 
Andrerseits wird man aber Raciborsky (zitiert nach Ellis) ohne- 
weiters beipflichten müssen, welcher der Ansicht ist, daß drei 
Viertel aller Frauen die Annäherung des Mannes nur dulden. 
Diese Verhältnisse dürften nicht in bezug auf die Anzahl der 
Frauen stimmen, sicherlich aber auf die Zahl der Geschlechts- 
akte. Ja, den Tatsachen entsprechend wird es sein, die Zahl 
der Geschlechtsakte, wo die Frau vor denselben ein wirkliches 
Verlangen und bei denselben eine wirkliche Befriedigung hatte, 
noch viel geringer zu schätzen als ein Viertel, aber nicht, weil 
die Frau ein geringeres Geschlechtsbedürfnis hat, eine geringere 
Libido, nicht, weil sie frigider ist, sondern hauptsächlich, weil 

Geschlecht und Gesellschaft VIII, 10. 27 


418 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


die Frau zum Geschlechtsakt, wie oben erwähnt, von sich 
selbst heraus nur zu bestimmten, umgrenzten Zeiten disponiert 
ist, die der Mann entweder nicht kennt, nicht merkt oder nicht 
berücksichtigt, weil er durch äußere Momente, durch Gewohn- 
heit, Nahrung, Getränke usw. fast fortwährend geschlechtlich 
erregt und bedürftig ist und deshalb die Frau in der Über- 
zahl der Fälle den Verkehr nur duldet, nicht aber verlangt. 
Außer diesen Umständen spielen bei der anscheinenden Fri- 
gidität der Frau noch eine Reihe von anderen Faktoren mit, 
wovon noch später die Rede sein wird. 

Ohneweiters läßt sich ein Vergleich der Geschlechts- 
bedürfnisse zwischen Mann und Frau nicht durchführen. Hiezu 
ist ein näheres Eingehen auf die einzelnen Komponenten des 
Geschlechtstriebes notwendig. Nach A. Moll und H. Ellis läßt 
sich der ganze komplizierte Vorgang der Empfindungen und 
Handlungen beim Geschlechtstrieb durch Zerlegung in seine 
einzelnen Phasen erklären. Der Geschlechtstrieb zerfällt in den 
Kontrektations-, das ist Annäherungstrieb, in den Tumescenz- 
trieb (Ellis) und in den Detumescenztrieb (oder Depletations- 
trieb Chrobak-Rosthorns). Trotz der alles eher als schönen 
Bezeichnungen treffen diese Worte im allgemeinen das Richtige. 

Der Annäherungstrieb, das Bestreben der Geschlechter, 
miteinander in näheren Verkehr zu treten, sich zu sehen, zu 
sprechen, ist etwas Elementares, Unbewußtes, Allgemeines und 
die Voraussetzung für alle Weiterungen des Geschlechtstriebes. 
Die nächste Folge dieser Annäherung ist die Auswahl. Bot 
sich einmal Gelegenheit, sich sehen und kennen zu lernen, so 
wird sich aus dieser allgemeinen Annäherung eine spezielle 
herauskristallisieren; das Einzelindividuum wird seine spezielle 
Wahl treffen. 

Schon hier bei der Auswahl wird sich ein deutlicher 
Geschlechtsunterschied geltend machen; wir werden bei der 
Besprechung der seelischen Geschlechtsunterschiede sehen, daß 
die altruistischen Neigungen der Geschlechter, speziell die 
»Liebe«, im großen und ganzen verschieden zu bewerten sind. 
Um es nur kurz anzudeuten, ist der Mann bei der Liebe zur 
Frau eher geneigt, das Seelische vom Physischen zu trennen, 
während das Weib dies im allgemeinen nicht tut. Bei der Aus- 
wahl wird sich also der Mann weniger von psychischen Eigen- 
schaften der Frau leiten lassen, er wird an ihr mehr einen sinn- 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 419 


lichen Reiz suchen. Die Frau aber, die diese Trennung weniger 
kennt, wird den Mann suchen und wählen, der auf sie nicht 
nur und nicht so sehr sinnlich wirkt, sondern auch mittels seiner 
seelischen und Charaktereigenschaften. Praktisch zeigt sich 
dieser Auswahlsunterschied darin, daß es viel mehr Männer 
gibt, die sich an Frauen ketten, die geistig, ethisch und sozial 
tiefer stehen als sie selbst, als umgekehrt. 

In sexueller Beziehung ist dieser Unterschied der Bewertung 
des auszuwählenden Individuums von sehr großer Bedeutung, 
da die Frau beispielsweise, die sich durch einen anfänglichen 
Irrtum und, wie dies hauptsächlich in der Ehe geschieht, aus 
sozialen, finanziellen und konventionellen Rücksichten an den 
Mann gekettet hat, dessen Charaktereigenschaften und dessen 
Psyche in krassem Widerspruch steht zu ihren Gefühlen und 
Anschauungen, dadurch in ihrem Geschlechtsempfinden nach- 
teilig beeinflußt wird, mit diesem ihr nicht zusprechenden 
Manne vielleicht ihr Leben lang frigid bleibt, während sie mit 
einem ihr in allen Punkten konvenierenden Mann ein normales 
Geschlechtsempfinden und einen normalen Ablauf des 
Geschlechtsaktes gehabt hätte. 

Die nächste sich von selbst ergebende Folge der getroffenen 
Auswahl ist die Werbung, die nach der sozialen Stellung, den 
ethischen Qualitäten, der Erziehung, dem Temperament, kurz 
je nach der Größe und Anzahl der Hemmungen, die bei der 
Frau eine viel mächtigere Rolle spielen als beim Manne, sich 
verschieden als mehr oder minder deutliche Anspielung, als 
direkte Aufforderung, als deutliches Entgegenkommen, als scham- 
loses Aufdrängen, als Liebeserklärung oder nur als Ausdruck 
des Mienenspieles, eines Blickes, eines längeren Händedruckes 
oder nach außen vielleicht auch gar nicht äußern wird. Wenn 
diese Äußerungsformen auch verschieden sind und manchmal 
gar nicht zum Ausdrucke gelangen, die Triebkraft bleibt in 
allen Fällen dieselbe. 

Die stattgehabte erfolgreiche Werbung bringt dann erst 
— verschieden nach den Begleitumständen, was Zeitpunkt und 
Form anlangt — den Tumescenztrieb zu seiner Betätigung, den 
Trieb, das schon erwachte Geschlechtsverlangen zu steigern. 
Durch weitere, vorerst eventuell geistige (Flirt in seinen ver- 
schiedenen Abarten), dann immer mehr körperlich werdende 


Annäherungen, schließlich durch Reizung erogener Zonen (Lieb- 
27* 


420 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


kosungen, Küssen usw.), wird das Geschlechtsverlangen bis 
zum Höhepunkt gesteigert. 

In diesem Stadium ist es, wo die Frau durch die großen 
Hemmungen, durch die bei ihr stark entwickelte Schamhaftig- 
keit veranlaßt, eine gewisse Resistenz zeigt und dadurch ihrem 
ganzen Geschlechtstriebe fälschlich den Charakter der Passivität 
verleiht. Daß der Mann bei einmal entfachtem Geschlechts- 
verlangen, hauptsächlich wohl infolge seiner geringeren 
Hemmungen, aktiver, aggressiver, brutaler werden kann, ist im 
allgemeinen richtig. Doch spielen auch hier öfter starke Er- 
regung mit Unterdrückung der Hemmungen, Gewohnheit, schließ- 
lich und endlich das Gefühl der Stärke eine vielleicht größere 
Rolle als der Geschlechtstrieb selbst. 

Wurde nun das Geschlechtsverlangen der Frau durch die 
Betätigung des Tumescenztriebes derart gesteigert, daß jedwede 
Hemmung überwunden ist, so hat sich inzwischen auch das 
Genitale selbst für den Geschlechtsakt zur Genüge vorbereitet 
und wurde in einen Zustand versetzt, der eine Entspannung 
durch den Geschlechtsakt dringend verlangt (Detumescenztrieb, 
Depletationstrieb Chrobak-Rosthorns). 

Bei Analysierung des Geschlechtstriebes fanden wir bis 
jetzt schon einige Unterschiede, auf die wir weiter unten noch 
zurückkommen. Die Stärke des Geschlechtsverlangens wird 
bei Vorhandensein desselben wohl bei beiden Geschlechtern 
die gleiche sein; handelt es sich doch um ein und denselben 
Trieb. Anders dürfte es allerdings mit der Häufigkeit des 
Verlangens stehen. Eine normale Frau, die ein mehr oder 
minder hygienisches Leben führt, wird im allgemeinen in dieser 
Beziehung genügsamer sein, als der Durchschnittsmann bei 
einem durchschnittshygienischen Leben unter den heutigen Ver- 
hältnissen. Die Frau ist mit ihrem Verlangen periodischer. Eine 
vollständige Befriedigung des Geschlechtstriebes zu dieser Zeit 
stillt im allgemeinen ihr Verlangen für die Zeit, wo der 
Geschlechtstrieb bei ihr mehr zur Ruhe kommt. Der Mann 
statt dessen ist durch Gewohnheit, Sitte u. a. m, wie schon 
hervorgehoben, weniger genügsam, an Perioden so wenig wie 
gar nicht gebunden, öfter und gleichmäßiger zur geschlecht- 
lichen Betätigung aufgelegt als die Frau. Dadurch kommt es, 
daß im regelmäßigen Verkehre zwischen ein und demselben 
Paare es für die Frau gar nicht selten Zeiten geben wird, wo 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 421 


sie den Geschlechtsverkehr nur duldet, dem Manne zuliebe. Es 
gibt genügend Fälle, wo die Frau die Angabe macht, daß der 
Geschlechtsverkehr auf Verlangen des Mannes fast alle Tage 
stattfinde, daß sie selbst nur ziemlich selten ein Verlangen 
danach habe, daß sie infolge des zu oft ausgeführten Aktes 
abgestumpft sei und nur selten zur Befriedigung gelange. Forscht 
man in diesen Fällen weiter nach, so findet man ganz regel- 
mäßig die weitere Angabe, daß die Zeit des auch bei der Frau 
bestehenden Verlangens und mit ihr die Zeit, wo beim Verkehr 
eine Befriedigung stattfindet, mit dem postmenstruellen Stadium 
zusammenfällt. In der übrigen Zeit dulde die Frau nur den Akt. 
Sie hat davon nur ganz selten eine Befriedigung, des öfteren 
nicht mehr als eine ihren Nerven wenig zuträgliche Erregung, 
in welcher sie infolge des Ausbleibens des Orgasmus längere 
Zeit verbleibt oder — und dies gar nicht selten — ein direktes 
Unbehagen und einen Ekel, ohne dies dem Manne zuliebe 
einzugestehen. 

Mehr als der Mann braucht die Frau hauptsächlich zur 
Zeit, wo das Geschlechtsverlangen bei ihr physiologisch nicht 
wachgerufen ist, immer wieder eine intensive Werbung, um erst 
zum Verlangen der Detumescenz zu gelangen. Dies ist auch 
verständlich. In der Zeit nach der Menstruation befindet sich 
die Frau sozusagen zum Orgasmus auf halbem Wege. Diese 
physiologische Vorbereitung muß eben in der übrigen Zeit durch 
den Reiz der Werbung erst hervorgebracht werden, um eine 
weitere Tumescenz überhaupt zu ermöglichen. Bei Ausbleiben 
der Werbung fällt die Vorbereitung weg, die Frau gelangt durch 
den Geschlechtsakt nur bis zur Vorbereitung des Genitales, 
nicht aber bis zum höchsten Grade der Spannung und bis zur 
Entspannung. Dies ist auch ein Punkt, der die Frau »kälter« 
erscheinen läßt als den Mann, der ja den Geschlechtsverkehr 
erst suchen wird, wenn er hierzu genügend aufgelegt und vor- 
bereitet ist. 

Der wesentlichste Unterschied des Geschlechtstriebes bei 
den Geschlechtern wäre also der, daß der Geschlechtstrieb bei 
der Frau physiologischerweise periodisch auftritt und der 
Hauptsache nach ungefähr eine Woche anhält, sie in der 
Zwischenzeit, abgesehen von künstlichen und äußeren Reizen, 
den Geschlechtsverkehr weniger oder gar nicht verlangt, was 
ihr gar oft als Frigidität ausgelegt wird. Was die oft zitierte 


422 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Aktivität des Mannes anlangt, so ist diese im großen und 
ganzen auch nur scheinbar. Die Frau ist im Annäherungstrieb 
aktiv, sie ist in der Werbung aktiv, sie-ist auch in der Zeit 
des Tumescenztriebes aktiv; aber viel mehr gehemmt als der Mann. 

Auch beim Vergleiche der Vorgänge während der Ko- 
habitation bei den Geschlechtern müssen vor allem die sich ab- 
spielenden Phasen bei der Frau analysiert werden. 

Gehen wir von der physiologischen Vorbereitung zum 
Geschlechtsakt aus, von der postmenstruellen Zeit, wo sich das 
Genitale, ähnlich wie beim Oestrus der Tiere, in einer gewissen 
Bereitschaft befindet, welche das ganze Geschlechtsorgan für 
sexuelle Reize aufnahmsfähiger gestaltet. Allerdings sahen wir 
oben, daß dieser Zustand beim Menschen keine conditio sine 
qua non für den Geschlechtsakt bildet; daß es vielmehr durch 
künstliche Reize, seien dieselben psychisch-reflektorisch oder 
mechanisch, jederzeit gelingt, einen dem Oestrus ähnlichen Zu- 
stand hervorzurufen, daß aber doch der natürliche Reizzustand 
in der postmenstruellen Zeit das Optimum für die Empfäng- 
lichkeit geschlechtlicher Eindrücke bildet. 

Der Einfluß der aufgenommenen sexuellen Sinneseindrücke 
wird sich bei vorgeschrittener Annäherung fühlbar machen, und 
zwar in einer gewissen Spannung, bedingt durch die gesteigerte 
Blutfülle der Unterleibsorgane, ein Zustand, der den Tumescenz- 
trieb auslöst, d. h. eine Steigerung dieser Spannung verlangt, 
die durch weitere körperliche Annäherung, durch Reizung der 
erogenen Zonen, wie oben schon erwähnt, erzielt wird. Mit 
der Steigerung Hand in Hand geht das Infunktiontreten der 
sogenannten Wollustorgane des weiblichen Genitales. Die 
Sekretionszellen der Bartholinischen Drüse treten in Aktion, die 
Drüse selbst sezerniert ihr Sekret, welches durch den Aus- 
führungsgang ausgeschieden wird und den Introitus und die 
Vulva befeuchtet und schlüpfrig macht; zu gleicher Zeit sezerniert 
die Cervix ein makroskopisch ganz gleiches Sekret, welches 
ebenso klar, ebenso durchsichtig ist und ebenso die Konsistenz 
leicht verdünnten Glyzerins hat. Ich betone ausdrücklich, daß 
beide Sekrete sowohl der Vorhofdrüsen als auch der Cervix zu 
gleicher Zeit sezerniert werden und von ganz gleichem Aus- 
sehen sind: ziemlich dünnflüssig, klar, wasserhell. Mit wachsender 
Erregung nimmt sowohl das äußere Genitale als auch die Portio 
(wahrscheinlich auch Uterus, Eileiter und Eierstöcke) an Blut- 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 423 


fülle zu; durch die Hyperämie des Schwellgewebes treten sowohl 
der Bulbus vestibuli als auch die jetzt stark vergrößerte Klitoris 
mit ihren Krura als harte Körper hervor, und speziell der 
Bulbus vestibuli verengt derart nicht unbeträchtlich den 
Scheideneingang. Dadurch, daß im weiteren Verlaufe des 
Geschlechtsaktes bei der Immissio penis und bei den Friktionen 
desselben die Erregung und mit ihr die Funktionen, d. i. die 
Blutfülle aller Schwellgewebe (und zugleich die Sekretion der 
Bartholinischen Drüsen und der Cervix) gesteigert werden, wird 
der Introitus und zu gleicher Zeit der Penis immer stärker ge- 
reizt. Eine ausgiebigere Berührung des Penis mit der Glans 
clitoridis, wie dies von mancher Seite angenommen wird, ist 
anatomisch kaum möglich und physiologisch gar nicht notwendig. 
Eine Berührung findet nur mit dem durch die Erektion des 
Gewebes sich vordrängenden Bulbus vestibuli statt und eventuell 
mit den ebenfalls infolge der Hyperämie stark geschwellten 
Crura clitoridis. Durch unwillkürliche oder willkürliche (aktive 
Beteiligung der Frau beim Geschlechtsakte) Kontraktionen des 
Beckenbodens, speziell des Constrictor cunni, wird der Kontakt 
der Schwellgewebe mit dem Penis noch erhöht. Nimmt man 
auch an, daß die Klitoris den Mittelpunkt der peripheren Reiz- 
aufnahme bildet, so ist eine direkte Berührung derselben beim 
Geschlechtsakte schon deshalb nicht notwendig, weil sie mit 
den übrigen Schwellkörpern sowohl nervös als auch vaskulär 
in innigster Verbindung steht, so daß jeder Reiz, der das übrige 
Schwellgewebe trifft, indirekt auch sie trifft, indem er auf sie 
fortgeleitet wird. Die mechanische Reizung trifft also vor- 
wiegend die Bulbi vestibuli, welche den Scheideneingang, mit- 
hin beim Geschlechtsakt auch das männliche Glied klammer- 
artig umgreifen und dem mechanischen Reiz auf ihrer ganzen 
Innenfläche ausgesetzt sind. Hier findet also primär die Reiz- 
aufnahme statt, die in das Zentrum (Lendenmark? vegetatives 
Nervensystem?) geleitet wird und dortselbst bei genügender 
Summation den Orgasmus auslöst. 

Der Orgasmus ist eine reflektorische Nervenentladung, für 
welche weder eine Definition noch eine treffende Erklärung 
gegeben werden kann. Sucht man nach einem Vergleiche mit 
anderen Vorgängen am menschlichen Körper, so zeigt, glaube 
ich, am meisten Ähnlichkeit noch der Niesreflex. Beim Nies- 
reflex werden sensible Reize, die die Nervenendigungen an der 


424 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Nasenschleimhaut treffen, in die Medulla oblongata geleitet, 
dortselbst in motorische Bahnen umgeschaltet, welche zur 
Respirationsmuskulatur führen. Ähnlich spielt sich auch der 
Orgasmus ab; periphere Reize am äußeren Genitale summieren 
sich, bis zentrifugal der Orgasmus ausgelöst wird. Wie beim 
Niesen die Nasenschleimhaut nur zur Aufnahme der Reize not- 
wendig ist und der Niesreflex ebenfalls ausgelöst würde, auch 
wenn man imstande wäre, in der kurzen Zeit nach der 
Summierung der Reize bis zum Beginn der Auslösung die 
Nasenschleimheit zu eliminieren, wenn nur die zentrifugalen 
Bahnen erhalten bleiben mit dem zum Ablaufe des Niesens 
nötigen Muskelapparate, ebenso denke ich mir, daß der 
Orgasmus, bei der Frau wenigstens, ein rein zentraler Vorgang 
ist, der des äußeren Genitales nur zur Aufnahme der Reize be- 
darf, zur Auslösung aber nur die motorischen Bahnen braucht, 
die den Beckenboden innervieren, daß also für die letzte Phase 
des Orgasmus das Genitale selbst gar nicht mehr notwendig ist. 
— Auch fehlt bei der Frau jede Ejakulation, jede AusstoBung 
von Flüssigkeit während der Geschlechtsbefriedigung, sie findet 
in gar keiner Form, auch nicht andeutungsweise, statt. 

7 Da dies den landläufigen Anschauungen zuwiderläuft, be- 
darf es einiger Erläuterungen. 

Hier möchte ich eine Beobachtung einschieben, die ich vor ungefähr 
Jahresfrist zu machen Gelegenheit hatte. 

Eine 42 jährige Witwe stand bei mir in Beobachtung wegen eines 
geringen Ausflusses (Hypersekretion der Cervix). Sie ließ sich ungefähr 
alle zwei bis drei Monate ansehen, eigentlich nur, weil sie eine fast krank- 
hafte Angst vor Gebärmutterkrebs hatte; ihre Mutter war an Karzinom des 
Genitales gestorben. Bei Einstellen der Portio zeigte sich als Grund des 
Ausflusses eine starke Sekretion der Cervix; der sezernierte Schleim war 
von der gewöhnlichen Konsistenz des Cervixsekretes: glasig, stark faden- 
ziehend, kompakt, zähe. Einmal nun war es mir aufgefallen, daß schon 
das äußere Genitale ein verändertes Aussehen zeigte, es war etwas ge- 
spannt, blutüberfüllt, leicht livid, ebenso die Portio fast bläulich verfärbt. 
Die Mündung des Ausführungsganges der Bartholinischen Drüse zeigte 
das typische Sekret der Vorhofdrüse. Was mir am allermeisten auffiel, 
war, daß am Muttermunde nicht der zähe Cervixschleim wie gewöhnlich 
zu sehen war, vielmehr aus dem Uterus verhältnismäßig reichlich eine 
dünnflüssige, wasserklare Flüssigkeit hervorquoll. Nach Einführung des 
selbsthaltenden Spiegels betrachtete ich längere Zeit die Portio. Während 
des Zurechtlegens des Spiegels und während des Spreizens desselben er- 
folgten einige Kontraktionen der Beckenbodenmuskulatur, ohne daß sich 
irgend eine Bewegung der Porto, beziehungsweise des Muttermundes ge: 
zeigt hätte. Die weitere Manipulation bestand in der Reinigung der Portio. 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 425 


Beim Entfernen des Spekulums, was einige Minuten nach den Beckenboden- 
kontraktionen stattfand, war die livide Verfärbung sowohl der Portio, die 
jetzt kollabiert aussah, als auch des Introitus geschwunden. Wie die ethisch 
hochstehende Frau später ohne weiters zugab, hatte sie einen vollwertigen 
Orgasmus gehabt. 

Nach diesem Befunde des Cervixsekretes bei der geschlechtlichen 
Erregung muß man annehmen, daß die Cervixschleimhaut befähigt ist, 
zweierlei Sekrete zu liefern — den gewöhnlichen Cervixschleim, der zähe, 
fadenziehend ist, und das dünnflüssige Sekret zur Zeit der geschlechtlichen 
Erregung, welches, makroskopisch wenigstens, gleich ist dem Sekrete der 
Bartholinischen Drüsen. Die Verschiedenheit des Aussehens des Cervix- 
sekretes in der geschlechtlichen Erregung vom sonstigen Cervixschleim 
kann bedingt sein entweder nur durch verschiedene Konzentration, indem 
die stärkere Biutfülle bei der geschlechtlichen Erregung ein stärkeres Über- 
wandern von Flüssigkeit bedingt oder aber durch direkte Wesensverschieden- 
heit der beiden Sekretarten. Im letzteren Falle müßte man annehmen, 
entweder daß ein und dieselbe Zelle bei verschiedener Innervation imstande 
ist verschiedene Sekrete zu produzieren, oder aber daß die Cervixdrüsen 
zweierlei Zellen besitzen; eine Zellart würde im gewöhnlichen Zustande 
der Frau sezernieren, die andere nur bei geschlechtlicher Erregung oder 
vielleicht überhaupt zur Zeit knapp nach den Menses, wo die Frau ge- 
schlechtlich appetenter ist als sonst. Mir scheint die erstere Annahme, 
die Verdünnung des gewöhnlichen Zellproduktes infolge der Blutfülle und 
vielleicht der geänderten, bzw. verstärkten Innervation, das Naheliegendere 
zu sein. Chemische Untersuchungen des Sekretes könnten den richtigen 
Sachverhalt klarstellen. 

Dieser Beobachtung wäre meines Erachtens eindeutig zu 
entnehmen, daß in der geschlechtlichen Erregung, also nur in 
der Zeit des eigentlichen Detumescenztriebes, der Introitus und 
die Portio strotzend mit Blut gefüllt sind, die Bartholinische 
Drüse und die Cervix ein ganz gleiches Sekret sezernieren, 
welches ganz verschieden ist von dem sonstigen Sekret der 
Cervix, daß aber im Momente des Orgasmus selbst, also in 
der letzten Phase des Geschlechtsaktes, wohl eine Kontraktion 
der Beckenbodenmuskulatur, aber weder eine Bewegung des 
Uterus noch eine Ausstoßung irgendwelcher Flüssigkeit aus dem- 
selben erfolgt. Dieses Unbeeinflußtbleiben des inneren Genitales 
durch den eigentlichen Orgasmus sowohl betreffs muskulärer Be- 
wegungen, als auch betreffs eines Ergusses, steht also in Ein- 
klang mit unseren früheren Erwägungen über den Orgasmusreflex. 

Demnach bestünde im Orgasmus ein wesentlicher Unter- 
schied zwischen Mann und Frau, indem beim Manne mit dem 
Orgasmus eine starke peristaltische Bewegung der samen- 
abführenden Gänge statthat. Bei der Frau fehlt das entwicklungs- 


426 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


geschichtliche Analogon der Vasa deferentia, wenigstens als 
funktionsfähiges Organ, weshalb auch der motorische Effekt 
des Orgasmus auf die Beckenbodenmuskulatur, die ja auch 
beim Mann in Aktion tritt, beschränkt bleibt. 

Dadurch, daß gezeigt wurde, daß das innere Genitale vom 
Orgasmusreflex unbeeintlußt bleibt, wird auch die von Rohleder 
so gewissenhaft erörterte Frage über den Sitz des Orgasmus 
im Genitale gegenstandslos. Daß der Durchtritt der Sperma- 
flüssigkeit durch die enge Öffnung der Ductus ejaculatorii beim 
Manne denselben, beziehungsweise das Wollustgefühl nicht 
auslöst, beweist der Orgasmus bei Masturbation von Knaben 
vor der Zeit, in welcher sich ein Ejakulat vorfindet, wo sich 
der Orgasmus vom späteren durch nichts anderes, als durch 
den Mangel einer Flüssigkeitsausscheidung unterscheidet. Eben- 
sowenig entspricht die Annahme Rohleders den Tatsachen, der 
Orgasmus werde beim Weib im unteren Teil der Cervix, so- 
wie im unteren Teil des Uterus ausgelöst; hier sei auch der 
Sitz außerordentlich vieler nervenreicher Papillen, welche durch 
Vermittlung des Centrum genito-spinale das peristaltische Spiel 
der Uterusmuskelkontraktionen auslösen — meint Rohleder; der 
Uterusreflex apud coitum beim Weibe mit Ausstoßung des 
Kristeller und des Uterozervikalschleimes sei also das Pendant 
des Sperma-Ejakulationsvorganges beim Manne. 

Weder der Uterus noch die Vagina spielen meiner Über- 
zeugung nach beim Geschlechtsakt irgend eine Rolle, außer daß 
die Cervix in der Erregungszeit behufs Befeuchtung der Scheide 
ein spezifisches Sekret sezernier. Daß der Uterus für den 
Geschlechtsakt und für den Orgasmus überflüssig ist, beweisen 
die zahlreichen Fälle von völlig ungestörtem Ablaufe des 
Geschlechtsaktes nach operativer Entfernung der Gebärmutter. 
Daß der Uterus beim Orgasmus keine eigenen Bewegungen, 
keine Kontraktionen ausübt, schon gar nicht schnappende Be- 
wegungen des Muttermundes, beweist der Umstand, daß ein 
Organ vom Baue des Uterus gar nicht imstande ist, solche rasch 
aufeinanderfolgende, schnappende Bewegungen auszuführen, 
daß Uteruskontraktionen langsam, mit Unterbrechungen, wehen- 
artig, verlaufen; doch auch diese fehlen beim Orgasmus. 
Uteruskontraktionen werden von sehr vielen Frauen deutlich, 
von vielen auch sehr schmerzhaft empfunden. Eine Äußerung 
von Frauen, welche auf diese Uteruskontraktionen während des 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 427 


Orgasmus hindeuten würde, wurde nie gemacht, auch von 
solchen nicht, die an entzündlichen Erkrankungen, an Perimetritis 
oder an Dysmenorrhöe leiden, welch letztere oft die geringsten 
Eigenbewegungen der Gebärmutter, jedenfalls aber jede 
Zusammenziehung derselben (Berührung des Muttermundes 
durch eine Sonde) aufs schmerzhafteste empfinden. 

Fehlt eine Gebärmutterzusammenziehung beim Orgasmus, 
so kann es bei der Frau auch keine Ejakulation geben. Auch 
nicht mit der Einschränkung Adlers, daß das Sekret nur eine 
bescheidene Rolle im weiblichen Ejakulationsakte zu spielen 
braucht. »Sicherlich«, sagt Adler, »gibt es auch profusere Er- 
gießungen, allein absolut notwendig sind sie für das Zustande- 
kommen der Wollustempfindungen nicht«. Ich habe vielmehr 
aus physiologischen Erwägungen die Überzeugung, daß die 
Sekretion der Bartholinischen Drüsen und der Cervix einzig 
und allein im Erregungszustande statthat, am stärksten während 
des Kulminationspunktes der Geschlechtserregung auftritt, im 
Momente des Orgasmus aber eine weitere Ausstoßung von 
irgend einer Flüssigkeit aus dem Genitaltrakte der Frau in 
keiner Form stattfindet. Natürlich muß man ganz absehen von 
den gar nicht seltenen Fällen, wo bei jedem Geschlechtsakt 
oder nur wenn zu dieser Zeit die Harnblase sehr stark gefüllt 
ist, während des Orgasmus ein Urinabgang stattfindet, als solcher 
von den Frauen nicht immer erkannt wird und nicht selten eine 
· regelrechte Ejakulation vortäuschen kann. 

Demnach unterscheidet sich der weibliche Orgasmus vom 
männlichen dadurch, daß bei der Frau keine Kontraktionen des 
inneren Genitales auftreten (es entspricht die Gebärmutter, die 
Eileiter und die Scheide entwicklungsgeschichtlich auch gar 
nicht denjenigen Teilen, die beim Mann im Orgasmus perista- 
lische Ausstoßungsbewegungen ausführen), und daß eine Ejaku- 
lation auch nicht andeutungsweise stattfindet. Die Sekretion 
der Bartholinischen Drüsen und der Cervix im Erregungszustand 
entspricht nicht einer Ejakulation, sondern der gleichwertigen 
Sekretion der akzessorischen Harnröhrendrüsen des Mannes. Die 
von Beck beobachteten »schnappenden Bewegungen« der pro- 
labierten Portio, die immer wieder zitiert werden, können viel- 
leicht als fortgeleitete Bewegung des Beckenknochens gedeutet 
werden. Im Orgasmus macht die ganze Muskulatur des Becken- 
bodens plastische Kontraktionen. Wenn der Uterus tief liegt, 


428 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


so kommt er in das Aktionsgebiet der Beckenbodenmuskulatur 
direkt hinein, so daß er von ihren Zusammenziehungen ge- 
troffen wird, die wieder als Bewegungen der Uteruswandungen 
sichtbar werden und eine eigene Bewegung der Gebärmutter 
vortäuschen. 

Und dennoch dürfte der Orgasmus der Frau von einer 
gewissen Bedeutung sein für das Zustandekommen der Be- 
fruchtung. Wir wissen zwar, daß weder ein geschlechtliches 
Verlangen noch irgend eine Erregung oder gar eine geschlecht- 
liche Befriedigung bei der Frau für die Befruchtung notwendig 
ist. Wir wissen aber andrerseits, daß ein Mitempfinden der 
Frau während des Geschlechtsaktes einer Konzeption förderlich 
ist. Auch dürfte die im Laienpublikum verbreitete Ansicht, daß 
das gleichzeitige Auftreten der Befriedigung beim Mann und 
bei der Frau ganz besonders förderlich sei für eine Befruchtung, 
auf Wahrheit beruhen. Auch ohne »schnappende Bewegungen« 
ist aber der Uterus beim Orgasmus der Frau befähigt, die 
männliche Samenflüssigkeit »aufzusaugen«. Die starke Hyperämie 
das Uterus während der Erregung und hauptsächlich während 
des Kulminationspunktes derselben muß das im Uteruscavum 
befindliche Sekret unter stärkeren Druck setzen und bestrebt 
sein, dasselbe auszupressen. Bei Lösung der Hyperämie, wenn 
die Uteruswände mehr oder minder kollabieren, wird in der 
Uterushöhle ein negativer Druck entstehen, der imstande ist, die 
vor dem Muttermunde gelegene Flüssigkeit (und die Portio taucht 
ja bei normaler Lage der weiblichen Geschlechtsorgane in die 
in das hintere Scheidengewölbe abgesetzte Samenflüssigkeit ein) 
zu aspirieren. 


Sehr wahrscheinlich ist es allerdings, daß zur Zeit der Menstruation 
und vielleicht hauptsächlich nach derselben, wie dies beim Tiere für die 
Zeit der Brunst experimentell nachgewiesen ist, die Gebärmutter und die 
Eileiter eine größere Empfindlichkeit auf Wehenreize aufweisen, ja wahr- 
scheinlich auch von selbst leicht peristaltische Bewegungen ausführen, 
trotzdem dies mit dem Orgasmus sicher nichts zu tun hat. 

Übrigens gestattet die Beobachtung Becks der schnappenden Be- 
wegungen des Muttermundes beim Orgasmus außer der Annahme, daß 
es sich hier um nichts anderes als um Fortleitung der Beckenboden- 
kontraktionen auf den Uterus handeln könnte, noch eine andere Erklärung. 
Beck sah nämlich bei einem Falle von Uterprolaps, daß das zu Beginn 
harte, unbewegliche, normal aussehende Collum uteri, welches kaum für 
eine Sonde durchgängig erschien, sich nach Berührung öffnete und fünf- 
bis sechsmal ausperrte, während die äußere Offnung kräftig nach dem 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 429 


Innern der Kollumhöhlung zu eingezogen wurde, was alles ungefähr 
20 Sekunden dauerte, um dann in den normalen primären Ruhezustand 
zurückzukehren (zitiert nach Luciani). Die Folgerung, daß diese Bewegungen 
dem Orgasmus entsprochen hätten, ist, auch bei angenommener Richtigkeit 
des beschriebenen Vorganges, nicht zwingend. Ich möchte vielmehr diese 
Reizbarkeit des Uterus auf Berührung als eine vom Orgasmus, wie schon 
erwähnt, ganz unabhängige Erscheinung ansprechen und die Beobachtung 
Becks mit dem identifizieren, was jeder Gynäkologe wiederholt zu be- 
obachten Gelegenheit hat, daß nämlich, speziell knapp vor und knapp nach 
den Menses, sei es bei Sondierung der Uterushöhle oder bei Berührung 
der Cervix, gelegentlich diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen, 
nicht gar selten Kontraktionen des Uterus stattfinden, die sich vornehmlich 
in Veränderung der Weite des Zervikalkanales äußern, so daß eine vorher 
undurchgängige Cervix plötzlich leicht passierbar wird. Diese Kontraktionen 
des Uterus auf mechanische Reize haben aber mit der Wollustempfindung 
gar nichts zu tun, werden vielmehr fast regelmäßig, so stets bei thera- 
peutischen Maßnahmen, als wehenartiger Krampf empfunden. Möglich 
ist es allerdings, daß dieselbe Erscheinung auch beim Koitus auftritt, doch 
glaube ich nicht als Orgasmus, beziehungsweise als physiologisches Vor- 
kommnis im Ablaufe des Geschlechtsaktreflexes, sondern’ nur als Folge 
der Berührung der Portio mit dem Penis, also direkt als Effekt eines 
mechanischen Reizes, Bewegungserscheinungen am Uterus als Folge 
mechanischer Reize (Massage u. a.) haben schon ältere Autoren zur Ge- 
nüge beobachtet, so Ahrendt, Chrobak, v. Rosthorn, Rumpf, Lindbloom, 
Reinicke. Als physiologische Koitusveränderungen der Portio (und des 
Uterus) halte ich, wie schon hervorgehoben, nur die Anschoppung und 
das nachträgliche Kollabieren des Organes, bedingt durch die sich allmäh- 
lich steigernde, dann aber (nach dem Orgasmus) plötzlich abfallende Blut- 
fülle, was eine gewisse Saugwirkung zweifelsohne zur Folge haben kann. 
Fassen wir nunmehr die Geschlechtsunterschiede des Ge- 
schlechtslebens zusammen, so finden wir, daß es solche zweifels- 
ohne gibt; aber Unterschiede, die nicht alle gleichwertig sind. 
Der größte Unterschied scheint mir der, daß der Ge- 
schlechtstrieb der Frau, ähnlich wie im Tierreiche, etwas 
Primäreres ist als der des Mannes, daß er von innen heraus 
entsteht und zwar periodisch immer wieder von selbst bei der 
Menstruation in Erscheinung tritt, während der Geschlechtstrieb 
des Mannes in seiner Anlage mehr sekundär, induziert ist. 
Ein Unterschied, der ebenfalls von praktischer Bedeutung 
ist, wäre ferner, daß das Weib bei der Werbung im Manne 
die Psyche mindesten ebensosehr berücksichtigt als das Sinn- 
liche, während der Mann im Durchschnitte mehr auf den sinn- 
lichen Reiz, den das Weib auf ihn ausübt, bedacht ist. 
Weiters hat die Frau im Verlaufe der Betätigung des Ge- 
schlechtstriebes und all seiner Phasen viel größere und zahl- 


430 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


reichere Hemmungen zu überwinden als der Mann, weswegen 
sie den Eindruck einer stärkeren Passivität erweckt. 

Auch dürfte die Frau genügsamer sein als der unter den 
heutigen Verhältnissen lebende Mann, aber nur dadurch, daß 
ihr Verlangen zeitlich umgrenzt ist. Zur Zeit des Geschlechts- 
verlangens (postmenstruell) ist vielleicht die Frau (allerdings 
schwankend nach ihrem Temparament) anspruchsvoller als der 
Mann, was meist durch die stärkeren Hemmungen wieder 
paralysiert wird. 

Bei dem Orgasmus besteht schließlich ein Geschlechts- 
unterschied darin, daß bei der Frau weder eine Bewegung der 
Gebärmutter und Scheide, noch die’ Ausstoßung eines Ejakulates 
statthat. 

Was die Stärke des Geschlechtsverlangens anlangt, so 
dürfte dieselbe bei den Geschlechtern, ganz abgesehen von den 
Hemmungen, gleich sein; ebenso kann in der Stärke des Ge- 


nusses kein wesentlicher Unterschied bestehen. 
Erfahrungstatsache aber ist es, daß die Frau öfters in die für ihre 
Gesundheit nicht gleichgültige Lage versetzt wird, den Geschlechtsakt 
auszuführen, ohne zur Befriedigung zu gelangen. Dies hat mit der Kon- 
stitution der Frau, bezw. mit ihrer geringeren geschlechtlichen Appetenz 
nicht viel zu tun. Hiefür gibt es physiologische und pathologische Gründe. 
Physiologische Gründe gibt es mehrere: Vor allem ist die Frau, wie schon 
oben hervorgehoben, wählerischer als der Mann; mit einem Manne, der 
ihr entweder körperlich oder seelisch, oder in beiden Beziehungen von 
Anfang an nicht behagt, oder der durch eine nachträgliche Tat, durch sein 
Benehmen, durch irgend ein vielleicht nebensächliches Moment ihren 
Ärger, ihren Ekel oder eine andere unangenehme Empfindung ausgelöst 
hat, wird sie die Hemmungen, die sie zur erfolgreichen Ausübung des 
Geschlechtsaktes zu überwinden hat, nicht überwinden können, sie wird 
entweder durch denselben gar nicht geschlechtlich erregt oder wenn ja, 
so meist nicht genügend, um bis zur Höhe der Erregung und zur vollen 
Befriedigung zu gelangen. Bei dem Mann ist es anders. Ist es einmal 
zur Erektion gekommen, so genügt ihm meist das mechanische Moment, 
um zum Orgasmus zu gelangen, während bei der Frau der Erfolg durch 
Hemmungen viel leichter aufgehalten wird. Weiters ist die Frau durch 
den Mann sehr oft veranlaßt, den Geschlechtsakt auszuführen, ohne hiefür 
das erforderliche Verlangen zu haben. Es ist dann ohneweiteres ver- 
ständlich, daß sie durch den Geschlechtsakt oft nur bis zu einer gewissen 
Erregung gelangt, der Geschlechtsakt erst die Rolle der Werbung über- 
nimmt, d. h. daß durch denselben das Genitale erst in den Zustand ver- 
setzt wird, welcher entweder durch das spontane Verlangen oder durch 
die männliche Werbung veranlanßt werden sollte, somit nicht die Zeit hat, 
im Oeschlechtsakte bis zur Entladung zu gelangen. Schließlich fehlt der 
Frau, wie schon aus dem eben Gesagten hervorgeht, sehr oft die erforder- 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 431 


liche Anregung zur Werbung von Seite des Mannes. Hauptsächlich 
außerhalb der Zeit ihres Verlangens (postmenstruell) benötigt die Frau, um 
psychisch in die nötige Stimmung und physisch in den nötigen Spannungs- 
zustand der Geschlechtsorgane zu gelangen, welche Spannung der männ- 
lichen Erektion entspricht, eine Anregung, eine intensive Werbung von Seite 
des Mannes. Fehlt diese, wie dies so oft in einem schon gewohnten Ver- 
kehre zwischen Mann und Frau der Fall ist, so fehlt auch der vorbereitende 
Reiz für die Frau, die Geschlechtsorgane sind noch nicht in einem Zustande, 
den der Geschlechtsakt verlangt, wodurch die Frau dann durch den Oe: 
schlechtsakt vielleicht höchstens bis zum Kulminationspunkte der Erregung 
kommt, aber keine Zeit hat, die Befriedigung zu erreichen. 

Außer diesen sozusagen physiologischen Momenten für einen er- 
schwerten oder fehlenden Orgasmus gibt es natürlich auch pathologische 
Ursachen, die sich im großen und ganzen mit der pathologischen männ- 
lichen Impotenz decken. Nur eine solche Ursache sei hier hervorgehoben, 
weil sie ein direktes Analogon beim Manne nicht besitzt. 

Es gibt wohl Übergänge, es lassen sich dennoch nicht schwer zwei 
Arten von Auslösung des Orgasmus bei der Frau trennen. Ganz abgesehen 
von seltenen Fällen, wo der Orgasmus auch von anderen erogenen Zonen 
aus (Brustwarze, innere Handfläche usw.) ausgelöst werden kann, gelangt 
die Frau zum Geschlechtsgenusse gewöhnlich entweder durch Reizung der 
Klitoris oder durch Reizung des Scheideneinganges. Zur ersten Kategorie 
gehören die meisten Masturbantinnen vor dem geschlechtlichen Verkehr, 
also Virgines und viele Mädchen (auch Frauen), die einen außerehelichen 
Verkehr ausüben, um aber vor den Folgen desselben ganz sicher zu sein 
(Entjungferung, Schwangerschaft usw.), von einer Inmissio abgesehen. 
Tritt einmal eine Angewöhnung auf Auslösung des Orgasmus durch 
Reizung der Klitoris auf, so ist seine Auslösung auf natürlichem Wege 
sehr häufig oder immer erschwert, sehr oft auch ganz unmöglich gemacht, 
indem dann der natürliche Akt die Erregung zwar steigert, nicht aber bis 
zur Auslösung der Befriedigung führt. Es muß hier eine so intensive 
Bahnung von den Leitungen von der Klitoris stattgefunden haben und 
eine Ausschaltung der Nervenbahnen vom Introitus, daß letzterer an Emp- 
findlichkeit verliert. Seltener, glaube ich, sind die Fälle, wo der weibliche 
Orgasmus, wie so oft hervorgehoben wird, deshalb ausbleibt, weil der 
Mann nicht genügend lange den Geschlechtsakt ausführt. Der weibliche 
Orgasmus ist wohl, wenn die Frau nur in ihrem Oeschlechtsleben voll- 
kommen normal ist, nicht schwerer auszulösen als der des Mannes. 

Wollte man die Geschlechtsunterschiede des Geschlechts- 
lebens noch nach ihrer Wertigkeit als Geschlechtsmerkmale 
sichten, so würde es sich ergeben, daß das Primäre des weib- 
lichen Geschlechtstriebes als eine reine Hormonwirkung der 
Keimdrüse aufzufassen ist, daß aber die übrigen Unterschiede 
von der anatomisch-physiologischen Verschiedenheit der Organe 


abhängen, also rein somatisch bedingt sind. 


а D 


| 


432 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


DIE EROTIK IN DER BILDENDEN KUNST. 


ХШ. 
SALOME. 
Von Dr. JOHANNES MARR. 


A wie es in der Philosophie Begriffe gibt, die zu allen 
Zeiten und bei allen Völkern unabhängig voneinander 
wiederkehren, weil sie einen Bestandteil des aus primitiven 
Anlängen sich emporringenden Ichbewußtseins bilden, so kennt 
auch die bildende Kunst und die Poesie aller Geschlechter und 
Zeiten gewisse Motive, die überall mit nur geringfügigen 
Variationen des Inhalts und Wortlauts angetroffen werden. Es 
handelt sich zumeist um Sagen, Legenden oder auch nur Be- 
griffe, die irgendwie mit dem erotischen Vorstellungsinhalt der 
Völker verknüpft sind. Schließlich entspringen alle Mythen 
aus der Beobachtung der im Einzelnen lebendig wirkenden 
Erotik und der Verhältnisse, die sich als Folgezustände der 
erotischen Aktivität ergeben. Dieser einheitlichen Quelle dürfen 
wir es wohl zu verdanken haben, daß der Sagenschatz der 
Bibel vielfach dem der klassischen Antike zu entsprechen 
scheint, daß sich Momente aus der assyrischen und indischen 
Legende in den slavischen Überlieferungen gleichsam nach- 
geahmt vorfinden, und daß schließlich der ganze altgermanische 
Olymp in der christlichen Sagenbildung eine Umgestaltung 
und Neubelebung erfahren hat. Denn die Menschen sind in 
den entferntesten Breiten des Erdballs die gleichen und von 
den gleichen Leidenschaften beseelt, Liebe und Haß wirkten 
vor 2000 und mehr Jahren nicht anders als heute, und so 
müssen auch die Symptome dieser Eigenschaften ein ewiges 
und unabänderliches Gesicht tragen. 

Der Beobachtung eines aus erotischen Grundwurzeln ent- 
springenden Hasses, jener Klüfte und Stürme, die verschmähte 
Liebe schafft, verdanken wir das Salomemotiv. Allerdings 
stützt sich diese Interpretation nicht auf die Überlieferung der 
Bibel, denn von verschmähter Liebe und daraus entspringender 
Rachsucht ist in der Erzählung des Evangelisten Markus nichts 
enthalten; Salome, das Kind der Herodias, wird im Gegenteil 
mit einer Naivität und Sorgenlosigkeit umkleidet, die den 
Schluß auf die ihr in neuzeitlichen Bearbeitungen nachgerühmte 
Leidenschaftlichkeit nicht zulassen. Aber zweifelsohne ist Herodias 








DIE ERSCHEINUNG. Von G. MOREAU (Paris, Luxembourg) 
Zu dem Aufsatz »Salome«. S. 342 





DAS GASTMAHL DES HERODES. Von LUCAS CRANACH (Galerie des 
Städelschen Kunstinstitutes in Frankfurt a. M.). Zu dem Aufsatz »Salome«. $. 342 














| 
| 
| 
SALOME MIT DEM HAUPT DES TÄUFERS. 


Von B. LUINI (Louvre, Paris). Zu dem Aufsatz »Salome« 
S. 342 


434 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


einer uralten von den Römern herstammenden, sagenhaften 
Überlieferung. So findet sich angeblich schon bei Livius ein 
Bericht, wonach der römische Feldherr Flaminius, Statthalter 
einer römischen Provinz, seinem Lustknaben zu Gefallen — nach 
Valerius Antias war es eine von ihm besonders geliebte 
Courtisane — einen gallischen Häuptling enthaupten ließ. 
Alfred Kind (Die Weiberherrschaft in der Geschichte der 
Menschheit) nimmt nun an, daß dem Evangelisten, vermutlich 
einem unbekannten griechischen Dichter, die betreffende Über- 
lieferung in der Umarbeitung des Seneca bekannt geworden 
sei, und daß er eigenwillig den Tanz und die darauf folgende 
Enthauptungsszene an den Hof des Vierfürsten Herodes von 
Judäa verlegt habe. 

Wenn wir auch auf die zahlreichen Bearbeitungen des 
Salomemotivs nicht eingehen können (wer darüber Näheres 
erfahren will, der sei auf die bereits einmal erwähnte aus- 
gezeichnete Monographie von Daffner verwiesen), soviel sei 
gesagt, daß eine Reihe der besten Dichter, darunter Heine, 
Flaubert, Gutzkow, Oskar Wilde u. a., sich an die Bearbeitung 
des Salomemotivs gewagt haben, und daß die Geschichte von 
dem tanzenden Töchterlein der Herodias voraussichtlich immer 
ein bevorzugtes Motiv dichterischer Darstellungen bleiben wird. 
Gerade die unzweideutige Erotik, die der Salomelegende jene 
sprühende Farbe und zeitlose Wirkung sichert, wird immer 
auf künstlerische Temperamente faszinierend wirken, zumal 
die orientalische Üppigkeit des sagenhaften Milieus dem Künstler 
Gelegenheit bietet, alle Vorzüge seiner Begabung in das rechte 
Licht zu rücken. So wie Oskar Wilde den Pagen Naraboth 
— ein unseliges Sonnenkind oder in eigenwilligerer Wahr- 
nehmung ein symbolischer Repräsentant der Kunst — sich um 
die Schönheit der tanzenden Prinzessin Salome verbluten läßt, 
so werden die Künstler noch späterer Generationen dieses 


Motiv mit der gleichen, sinnigen Inbrunst lieben, für die schon 
Heine in seinem »Atta Troll« die tragisch klassischen Worte 
gefunden hat: 

ee »Aber du Herodias 

Sag’, wo bist Du? — Ach, ich weiß es, 

Du bist tot und liegst begraben, 

Bei der Stadt Jeruscholaiym. 

Starren Leichenschlaf am Tage 

Schläfst du in dem Marmorsarge! 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 435 


Doch um Mitternacht erweckt dich 
Peitschenknall, Hallo und Hussa! 
Und du folgst dem wilden Heerzug 
Mit Dianen und Abunden 

Mit den heitern Jagdgenossen, 
Denen Kreuz und Qual verhaßt ist! 
Welche köstliche Gesellen! 

Könnt’ ich nächtlich mit Euch jagen 
Durch die Wälder, dir zur Seite 
Rückt’ ich stets, Herodias! 

Denn ich liebe dich am meisten; 
Mehr als jene Griechengöttin, 
Mehr als jene Fee des Nordens 
Lieb’ ich dich, du tote Jüdin! 

Ja, ich liebe dich, ich merk’ es 

An dem Zittern meiner Seele. 
Liebe mich und sei mein Liebchen, 
Schönes Weib Herodias! 


Die bildende Kunst hat sich vielleicht noch häufiger mit 
dem Tanz der Salome und der sich daran knüpfenden Ent- 
hauptung des Täufers beschäftigt, als die Poesie, wenngleich 
meines Empfindens eine restlose Lösung des Inhalts dieser 
Sage in keinem der überlieferten Kunstwerke erreicht worden 
ist. Das liegt an der Schwierigkeit des Themas selbst, das 
zwei voneinander grundverschiedene Handlungen umfaßt. Auf 
der einen Seite ist der Tanz der Salome eine in sich ab- 
geschlossene Handlung, die bereits für sich allein als Vorwurf 
eines Kunstwerkes auszureichen vermag. Daran schließt sich 
die Erzählung von der Enthauptung des Täufers, und die beiden 
Vorgänge sind nur durch die Gestalt der Herodias, bezw. durch 
die Einflechtung ihres rachsüchtigen Hasses miteinander ver- 
bunden. Die Künstler, Maler und Plastiker, die sich nun mit 
diesem Thema beschäftigt haben, konnten daher nur die eine 
oder die andere dieser Handlungen festhalten. Entweder 
zeigten sie den Tanz der Salome — was mitunter Gelegenheit 
zu großartigen Gemälden und Kompositionen von orientalischer 
Prachtentfaltung bot — oder sie hielten sich an die Ent- 
hauptungsszene, wobei der krasseste Naturalismus triumphierte, 
und der Künstler gleichzeitig seine anatomischen Kenntnisse 
vor dem Publikum ausbreitete. Das hier Gesagte gilt in erster 
Linie für die ältere Malerei, die mehr um des Gegenstands 


willen malte und jeder psychologischen Tüftelei so ziemlich 
28* 


436 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


. abhold war. Die Deutung, daß Salome den Propheten eigent- 
lich liebte und sein Haupt zur Sühne für ihre verschmähte 
Liebe verlangte, ist eine Errungenschaft der neueren Zeit und 
datiert wohl nicht allzulange vor den Tagen Oskar Wildes. 
Unter dem Einflusse des Letzteren steht auch zum größten 
Teil die spätere künstlerische Auffassung des Solomemotivs. 
In der altitalienischen Malerei finden wir die erste künstlerische 
Ausbeutung der biblischen Sage in dem »Gastmahl des Herodes« 
von Giotto in Sancta Croce von Florenz. Das Werk ist nur 
von relativer Schönheit, das dramatisch psychologische Moment 
äußert sich ganz flüchtig in einer Gruppe von zwei Mägden, 
die voll geheimen Schauders sich aneinander schmiegen. 
Völlig leblos wirkt die Szene, wo der Henker die Schüssel mit 
dem Haupte des Johannes der Prinzessin entgegenreicht. Das 
Gleiche gilt von den Wandmalereien von Masolino von Castiglione 
D’Olona und von dem Bilde des Fra Philippo Lippi, wo beide 
Teile der Handlung, Tanz und Enthauptungsszene, neben- 
einander dargestellt sind. Den Tanz der Salome hat auch 
Andrea del Sarto auf einer seiner florentinischen Fresken zu 
verbildlichen gesucht, aber an die Bibel klingt diese Auffassung 
der Salome überhaupt nicht an, denn hier wird einfach ein 
liebreizendes tanzendes Mädchen gezeigt, das, was Ausdruck 
und Plastik der Bewegung anbelangt, modernen Tanzkomposi- 
tionen in nichts nachsteht. Überhaupt halten sich die älteren 
Maler mehr an die Beschreibung der Bibel, die von Salome 
als dem »Mägdlein« spricht, dessen Tanz einem naiven Ge- 
horsam gegen den Vierfürsten, keineswegs eigener sinnlicher 
Aufregung entspringt. Im übrigen bevorzugt die altitalienische 
Malerei die Salome für ihre sogenanten Ausdrucks-Halbfiguren, 
wobei sie neben Judith, Lukrezia, Magdalena und Kleopatra 
am häufigsten anzutreffen is. Gewöhnlich ist sie ein junges, 
harmloses Mädchen von blonder oder dunkler Schönheit, das 
mit sanfter, Mitleid und Trauer ausdrückender Miene die 
Schüssel mit dem Haupte Johannes in den Händen hoch hält, 
während daneben der Henker steht, dessen Häßlichkeit durch 
verschiedene Charakteristika — wie beispielsweise bei Luini 
durch eine große Nasenwarze — noch besonders erhöht ist. 
Luini hat auch die Salome mehrfach gezeichnet, und auf 
einem seiner Bilder, dem der kaiserlichen Galerie in Wien, ist 
er der modernen Interpretation des Motivs instinktiv ganz nahe 


m с 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 437 


getreten, indem er der schönen Heidin Salome ein merkwürdig 
grausames Lächeln geliehen hat, das in seiner geheimnisvollen 
Art an die Schöpfung eines ungleich größeren Meisters, Leonardos 
Monna Lisa erinnert. Aber sonst treffen wir überall nur auf 
den obligaten Schönheitstyp der blonden Venezianerin, wie sie 
Palma Vecchio und Tizian mit Vorliebe gestaltet haben. Tizian 
beispielsweise hat einfach aus seiner Tochter Lavinia eine 
Salome gemacht, indem er auf die hochgehaltene Silberplatte 
statt der Früchte das blutige Haupt des Johannes gelegt hat. 
Von den Meistern der Frührenaissance gilt, was Richard 
Muther in seiner ausgezeichneten Monographie über Leonardo 
da Vinci sagt: »Man beschäftigt sich, nachdem Leonardo in 
der Monna Lisa, der Dame der Lichtensteingalerie,*) das dämo- 
nische Weib, die männermordende Sphinx gemalt hatte, jetzt 
überhaupt mit der Liebe als der dämonischen Macht, die tötet. 
Die Geschichte der Salome, die den Johannes liebt und ihm, 
da er ihre Liebe verschmäht, den Tod schwört, hat zu allen 
Zeiten die Kunst gereizt, doch in dem Kupferstich des Israel 
von Meckenen, wie in der Predella Botticellis, in dem Ham- 
burger Bilde des Severin-Meisters und in dem Holzschnitt 
Albrecht Dürers war nur eine Illustration des üblichen Textes 
ohne weitere Nebengedanken gegeben. Für die Meister der 
Leonardozeit steht das sündhaft Sinnliche der Szene im Vorder- 
grund. Man schildert — wie in unserer Zeit Regnault, Gustav 
Moreau und Oskar Wilde — den Dämon mörderischer Lust: 
ein Mädchen, das auf das Haupt des schönen Mannes, den 
ihre Liebe getötet hat, mit glühend begehrlichen Augen blickt, 
während der Mund mit den blendend weißen Zähnen lächelt 
wie ein unschuldiges Kind. Und noch zu einer anderen, sehr 
originellen Variante gibt das Johannesmotiv Anlaß: Salome 
wird ganz weggelassen und nur das Totenstilleben gemalt: 
Das Licht spielt weich auf einer silbernen Schale und dem 
blassen Kopfe eines schönen Mannes. Man denkt an die 
wollüstige Leichenstimmung, die einige Bilder des Gabriel 
Marx haben, denkt an die Stimmung, die Klinger ausdrücken 
wollte, als er abgeschnittene Männerköpfe am Sockel seiner 
Salome anbrachte.« Übrigens hat Muther nicht ganz recht mit 
seiner Behauptung, daß die Vorläufer der Leonardozeit Salome 


*) Nunmehr im Salon Carré des Louvre, Paris. 


438 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


durchweg als das harmlose Mägdlein der Bibel empfunden 
haben. Ganz bestimmt hat es Botigelli nicht, dessen vor- 
erwähnte Salome mit den rostroten Haaren, den gleichsam 
wollüstigen Lippen, dem vorwärtsdrängenden, gierig ge- 
spannten Körper, bereits zu der perversen Erotik der jüngsten 
- Salomebilder hinüberzuleiten scheint. Auch später findet sich 
eine noch durchaus moderne Auffassung in einzelnen Salome- 
bildern der niederländischen Schule, wo die Züge der Prinzessin 
kalte Grausamkeit mit deutlich merkbarer Sinnlichkeit wider- 
spiegeln. Ähnliches zeigt sich beispielsweise in dem Ant- 
werpener Bilde der Enthauptung des Johannes von Martin de 
Voß, dessen Bild, wie die Salomebilder der naturalistischen 
Schule Italiens überhaupt, auch den toten Rumpf des Johannes 
bringt, aus dessen anatomisch einwandfrei nachgebildetem Hals- 
stumpf das Blut in hellen Strömen hervorschießt. Solche 
Scheußlichkeiten, die sich noch bei einem Lucas van Leyden 
und in abgeschwächter Form bei dem Italiener Strozzi finden, 
ersetzen die übrigen charakteristischen Zeichen, die für den 
Künstler in der biblischen Sage enthalten sind. 

Einen weiteren Fortschritt bedeutet Rubens, der als erster 
das Rassenhafte dieser alttestamentarischen Prinzessin fest- 
gehalten hat. Rubens malt Salome als Jüdin, wie später die 
Malerei gänzlich davon abgekommen ist, das Töchterlein der 
Herodias anders als ein wildes, von aufregender Sinnlichkeit 
durchschüttertes Judenmädchen zu malen. 

Namentlich in jüngerer Zeit empfand man das Orientalische 
der Situation, man suchte die Farbeneffekte heraus, die der 
Stoff in sich barg, und tat noch ein Übriges dazu, indem man 
allerhand Sinnliches und Übersinnliches in den Gang der Er-: 
zählung hineingeheimniste. Die um die Wende des 18. Jahr- 
hunderts einsetzende Orientbegeisterung der Franzosen rückte 
den Salomestoff in eine neue Beleuchtung und dieser eigen- 
artigen Verjüngung des Motivs haben wir Moreaus von 
katholisch-mystischer Sinnlichkeit erfülltes Gemälde »Die Er- 
scheinung« zu verdanken. Alles, was später der krankhaft 
üppigen Dichtung Oscar Wildes anhaftet, und was Aubray 
Beardsleys Erotik so verstiegen pervers macht, findet sich in 
den Kunsttafeln jener Zeit vorgeahnt und vorbeschrieben. Aller- 
dings ist auch Moreaus »Vision« nur ein dekoratives Gemälde, 
das den Tanz der Salome weder wahrscheinlich noch besonders 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 439 


geschmackvoll wiedergibt. Eugen Spiro hat dem gleichen 
Moment der Sage ein Bild gewidmet, das wirkt in seiner 
Lebendigkeit ganz anders, vor allem viel natürlich sinnlicher 
und wahrscheinlicher. Die neueren Maler mit Ausnahme von 
Slevogt, dessen Salome noch vor den Oskar Wilde-Rummel 
fällt, sind endlich von der Bühne und besonders den einzelnen 
Darstellerinnen der Salome, sei es in dem Werk des vor- 
genannten englischen Dichters, oder der nach ihm komponierten 
Straußschen Oper in ihrer Auffassung des biblischen Motivs 
beeinflußt worden. So sind Albine Nagel, eine der genialsten 
Interpretinnen der Salome, und Loie Fuller wiederholt als 
Salome gemalt worden, und eine der schönsten Salomeplastiken, 
die Skulptur von Fritz Klimsch, ist der Duse nachgebildet. Die 
modernen Maler und Bildhauer haben auch eine Synthese der 
in dem Stoff gekennzeichneten zwei Handlungen versucht, so 
beispielsweise Lowis Corinth in seinem Bilde: „Salome empfängt 
das Haupt des Johannes“, wo die Wollust und Grausamkeit 
der Tänzerin noch in dem jungen Weibe zu beben scheint, 
das mit brünstiger Neugier das gebrochene Auge des Johannes 
zu öffnen versucht. Ebenso hat Klinger in seiner ganz wunder- 
baren Plastik „Salome“ die Sinnlichkeit des Weibes mit der 
Grausamkeit der Rächerin verschmähter Liebe zu verschwistern 
gewußt. Man kann sagen, wenn auch dieses Motiv niemals 
restlos gelöst werden wird, weil ewig nur ein Nebeneinander 
aber nie ein Ineinander der beiden Handlungen gezeigt werden 
kann, so ist dennoch die moderne Kunst der Lösung des 
Problems so nahe als möglich gekommen, dadurch, daß sie 
auf die seelischen Vorgänge das Hauptgewicht gelegt hat. Und 
eins ist ihr im Gegensatz zu ihren Vorgängern unbedingt ge- 
lungen: sie hat die wuchtige Erotik des Gegenstandes mit 
ebenso unzweideutigem wie überraschendemRaffinement 
zu Tage gefördert; oder — wie ein geistreicher Franzose zu 
unserem Thema äußert: „Man bemitleidet diesen Johannes, der 
um der Laune eines hübschen Weibes willen den Kopf verlor, 
ebensowenig wie einen Simson, Holofernes und ähnliche. Denn 
kein Tod ist so beneidenswert und groß wie der, den ein in 
seiner Liebe verschmähtes Weib schenkt .. .“ 


H Ө 


ЕЁ ГИ ГИ ГИ ГИ ГИ ГИН 





ZUR GENESIS UND ENERGIE DER WEIBLICHEN 
WERBUNG. 
Von Dr. ERNST BERNHARD. 


ie Bedeutung des Wortes »Werbung« ist nach zwei Seiten 
D hin determiniert. Zunächst bedeutet es den rein physiolo- 

gischen Zustand, in demsich das Weib in bestimmten Phasen 
ihres sexuellen Daseins befindet, und wo die Werbung jene 
Summe von Zuständen umfaßt, die dauernd und gleichmäßig 
auf jeden Mann gerichtet sind. Es sind damit also alle Momente 
weiblicher Aktivität, die auf das Zustandekommen eines sexu- 
ellen Verhältnisses abzielen, gemeint, und in diesem Sinne ist 
es erlaubt, die Werbung um den Mann als die stärkste Äuße- 
rung des weiblichen Sexualempfindens zu betrachten. Da die 
Werbung den eigentlichen und wertvollsten Teil des Sexual- 
lebens der Frau ausmacht, ist es nicht unwesentlich, die Form 
und Verschiedenheit ihrer Ziele von der männlichen Werbe- 
aktivität näher ins Auge zu fassen. Jene zweite Art der Werbung, 
die sich weniger in der allgemeinen Anlage, als vielmehr in dem 
erotischen Verhalten zweier ganz bestimmter Personen zueinander 
aussoricht, tritt zu dem Begriff der Werbung an und für sich nur in 
ein sekundäres Verhältnis, da sie vollständig individuell ist und 
je nach der Veranlagung und den äußeren Bedingungen, in denen 
sich zwei Menschen treffen, ihren Ausdruck wechselt. Der 
spezielle und individuelle Flirt, die Koketterie mit ihren mannig- 
tachen Formen, sollen demnach in dem vorliegenden Zusammen- 
hang nicht näher beschrieben werden. Was uns interessiert 
sind lediglich die physiologische Seite der weiblichen Wer- 
bung und ihre unterscheidenden Merkmale von der Art der 
männlichen Werbung, die fälschlicherweise im Sexualverkehr 
als die ausschlaggebende und allein aktive betrachtet wird. 

Das Verhalten der Frau während der Dauer ihrer sexuellen 
Vollwertigkeit ist nicht ein beliebiges, sondern streng nach 
biologischen Gesetzen geregelt. Es unterliegt bei den einzelnen 
Individuen nur unerheblichen Schwankungen, vorausgesetzt, 


442 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


vorhanden ist, existiert auch eine gewisse Aktivität der Frau, 
befindet sich die Frau im Zustand der Werbenden und Emp- 
fangsbereiten. Der Umstand aber, daß die Frau von ihrer 
Sexualität zufolge ihrer inneren Konstitution in einer weiteren 
Ausdehnung beherrscht ist, als der Mann, bringt es mit sich, 
daß die Frau stündlich auf den Mann eingestellt ist, 
und daß ebenso ihre Libido, wenn auch unbewußt, oder in 
maskierter Form stündlich vorhanden ist. Es ist eine falsche 
Theorie, die von der Weckung der Libido der Frau spricht, 
als wäre das sexuelle Wunschempfinden etwas der Frau fremdes 
und erst durch die Berührung mit dem Manne in sie hinein- 
getragen. Das Sexualempfinden der Frau ist von dem Augen- 
blick der Pubertät an etwas Gegebenes und würde auch ohne 
den Kontakt mit dem Manne gleichwohl zum Durchbruch ge- 
langen. Das ganze Rätsel der Liebe auf den ersten Blick, die 
Möglichkeit der Verführung von gänzlich unerfahrenen weib- 
lichen Personen, die instinktive Angst jeder Frau vor einer un- 
bestimmten Zukunft und nicht zuletzt die spontanen masturbato- 
rischen Manipulationen beweisen diese Tatsache, auch wenn 
man den Einfluß besonderer innerer Chemismen nich tanerkennt. 
Bei dem Manne wird man vergeblich nach ganz gleichwertigen 
Erscheinungen des Sexuallebens suchen, da beim Manne, wie 
die neuere Sexualliteratur übereinstimmend konstatiert hat, die 
Sexualität durchaus nicht wie beim Weibe die gleiche Rolle 
spiel. Der Don Juanismus des Mannes, sein erotisches Drauf- 
gängertum, seine ungezügelte Begierde und seine vielbemerkte 
geschlechtliche Aktivität sind mehr von äußeren Momenten ab- 
hängig, sie bedürfen viel stärkerer äußerer Anreize als beim 
Weibe. Die männliche Werbung ist von der Logik be- 
herrscht. Der Mann sucht in allem und jedem Gründe und 
Gegengründe, seine Erotik entfaltet sich nicht frei, sie erhält 
ihre Direktiven vom Gehirn aus, so daß man sagen kann, die 
Liebe beim Manne ist mehr ein. logisches Gebäude, eine Folge 
seiner Gehirntätigkeit, als instinktives und intuitives Erleben. 
Es hat ganze Zeitalter gegeben, in denen diese männliche 
Erotik als der höchste Grad der Liebe überhaupt kultiviert 
wurde, und wo die Diskussion des Gefühls über das Ver- 
gnügen des Erlebnisses selbst gesetzt wurde. Die reinste Kultur 
einer so in die Extreme entarteten Erotik findet sich im Rokoko, 
in dessen Briefen und Memoirenliteratur eine Fülle illustrativen 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 443 


Materials für die rein geistige oder Gehirnerotik vorhanden ist. 
Ich verweise nur auf den berühmten Briefwechsel zwischen 
der Frau von Deffande und dem Kammerpräsidenten Ludwigs XV., 
Hérault, und auf die Maximen dieser geistigen Ausschweifungen, 
die die Traditionen der berlihmten Kurtisanensalons des 17. 
und 18. Jahrhunderts, die Weltanschauung der Delorme und 
der Ninon de !’Enclos in ihrer vollkommensten Blüte zeigen. 
Der Zusammenbruch der Gesellschaft im Rokoko ist infolge- 
dessen auch nur eine Folgeerscheinung der ins Unermeßliche ge- 
steigerten Genußsucht und der Unfruchtbarkeit im erotischen 
Erleben. Die doppelte Seele des Rokoko, das überheizte 
Temperament auf der einen Seite und ihre sinnliche Kälte, die 
erotische Sterilität andererseits geben auch den tragikomischen 
Akkord, der dieser interessanten Epoche einer verflossenen 
Kultur anhafte. Die Liebe kann nur ohne die Logik ge- 
deihen, sie ist, um einen alten Volksausdruck zu gebrauchen, 
das Blümlein, das im Verborgenen blüht, das das grelle, brén- 
nende Sonnenlicht meidet und seine dunkelsten Düfte und die 
sehnsüchtigsten Farben in der blassen Monddämmerung ergießt. 
Die logische Veranlagung des Mannes erklärt es auch, warum 
er für das Zustandekommen und den Genuß des Liebeserleb- 
nisses äußerer Mittel, namentlich aber die Unterstützung des 
Lichtes bedarf. Der Mann liebt nicht aus sich heraus zufolge 
eines natürlichen inneren Dranges, sondern dieser Drang wird 
gleichsam erst durch das Auftreten der Frau, durch den Kon- 
takt mit ihr in ihn hineinverlegt. Daher kann kein Mann eine 
Frau lieben, bevor er sie nicht gesehen und nach Tunlichkeit 
gefühlt hat, und seine Liebe dauert auch nur so lange an, 
solange der Reiz, den die Frau auf ihn ausübt, nicht erlischt. 
In der volkstümlichen Volksliteratur ist, wie alle großen Ge- 
danken überhaupt, auch diese Idee unbewußt vorausbegriffen. 
Es wird von Prinzessinnen erzählt, die sich auf die bloße Er- 
zählung von einem schönen Prinzen hin unsterblich in diesen 
verliebten und nicht Rast und Ruhe fanden, bis sie sich dem 
Geliebten vereinigen durften. Die Prinzen dagegen bedurften 
anderer Mittel, um für die unbekannte Schöne in leidenschaft- 
licher Begierde zu entflammen. Bald ist es ein Haar, das der 
Wind, eine Schwalbe oder ein Singvogel übers Meer getragen 
bringen, oder es ist ein Gemälde der fremden Prinzessin, das 
ein ungenannter Händler dem Prinzen in die Hände spielt; 


444 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


und auf diese Indizien hin entwickelt sich nun jene märchen- 
hatte Liebe par distance, die einen so leisen melancholischen 
Reiz und so tiefe gedankliche Abgründe in sich birgt. Das 
Sehen der Geliebten ist also für den Mann das Bestimmende 
für die Entstehung einer erotischen Empfindung. Dazu kommen 
die übrigen sinnlichen Anreize, die durch das Gehör, den 
Geruch, das Gefühl vermittelt werden. Ein geistreicher Mann 
sagte mir, er habe für keine Frau auch nur die leiseste erotische 
Empfindung in sich entdeckt, wenn er sie nicht bei vollem 
Tageslicht, noch lieber aber übergossen von einem strahlenden 
künstlichen Licht sah. Hand in Hand mit der Abhängigkeit 
der männlichen Erotik von männlicher logischer Denkweise 
geht auch die Erscheinung, daß Männer häufig gegen Frauen, 
deren Stimme, Haarduft, Körperwärme sie in der Dunkelheit 
berauscht haben, sofort erkalten, wenn sie die Betreffende bei 
vollem Lichte gesehen haben. War jedoch die Gelegenheit, 
die begehrte Frau zu sehen, nicht günstig und ließ sich der 
Mann von seinem Rausch hinreißen, dann kann sich bei ihm 
nachträglich eine tagelange tiefe Depression einstellen, die auch 
noch nach geraumer Zeit bei Erinnerung an das erotische 
Erlebnis im Dunkeln von neuem auflebt. Darin liegt eben der 
wesentliche Unterschied zwischen Mann und Frau. Der Frau 
bedeutet die Liebe in allen ihren Aeußerungen ein viel inten- 
siveres Erlebnis als dem Manne; dieser ist für sie nur das 
Mittel, das die in ihr gleichsam aufgestapelte Liebesenergie 
auslöst und eine Frau wird demzufolge auch selten nach einem 
Geschlechtsverkehr, den sie wirklich herbeigesehnt hat, Ent- 
nüchterung, Reue oder gar Ekel empfinden. Im Gegenteil, es 
wird selbst dann, wenn sie erkannt hat, daß es sich um einen 
häßlichen oder gar minderwertigen Partner gehandelt hat, für 
den Mann noch immer ein Rest sympathischen Gefühls übrig 
bleiben. Beim Manne ist eine derartige Sublimierung des Ge- 
fühles für gewöhnlich ausgeschlossen. Ich verweise zur Illustra- 
tion dieses Gedankens auf die meisterhafte Novelle von Guy 
de Maupassant, wo ein junger, feingeistiger Aesthet in einer 
Großstadtnacht auf eine tiefverschleierte Prostituierte stößt, die 
ihn merkwürdig anregt und die ihn dazu bestimmt, sie in seine 
Wohnung mitzunehmen. Hier fühlt er an der Entkleideten 
einen vollkommen edlen weiblichen Körper und durchkostet 
eine Nacht grenzenloser Liebe bis zur Erschöpfung mit ihr. 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 445 


Als er früh aufwacht, ist die Frau verschwunden und nur auf 
dem Bettkissen, wo ihr Kopf ruhte, entdeckt der Mann zu 
seinem Entsetzen einen blutigen Fleck und einige silbergraue 
Haare darauf. Die Vorstellung, daß es sich um ein altes Weib 
mit einem jungen Körper gehandelt hat, die ihm eine so ge- 
waltige Emotion bereiten durfte, löst eine Krise von nervöser 
Reue und ungeheurem Ekel in ihm aus. Das Gegenstück zu 
dieser Novelle wäre die Schilderung, die eine ähnliche Ent- 
deckung an einer sensiblen, feingeistigen Frau hervorrufen 
könnte. Dieses Gegenstück ist uns der Dichter schuldig ge- 
blieben, aber wir wissen, daß es weder die tragische Groteske, 
noch den freudlosen unharmonischen Abschluß für sich bean- 
spruchen dürfte. 

Weil das weibliche Sexualempfinden die Psyche der Frau völlig 
beherrscht, vermag sich die Frau ebensowenig von ihm loszulösen, 
wie ihr ganzes Leben Wert und Bedeutung nur während der 
Dauer der normalen Funktion ihrer genitalen Organe behält. 
Das, was die Frau vor dem Manne auszeichnet, bezw. sie von 
ihm radikal unterscheidet, ihre größere Emotionalität, ihre mehr 
instinktive als logische Selbstbestimmung, oder anders gesagt, 
ihr intuitives Urteil, ihre Ausdauer im Kleinen und ihr oft 
völliges Versagen in großen Dingen und die übrigen Aeuße- 
rungen eines verengten Bewußtseins; ferner ihre Vorliebe für 
Humanität und Toleranz, die aufopfernde Mütterlichkeit und 
ihr elementares Hinneigen zur Familie; das alles sind Aeuße- 
rungen oder Prämissen ihres erotischen Handelns und daraus 
ergibt sich auch die Form und die Energie ihrer Werbung um 
den Mann. Zufolge ihrer größeren Abhängigkeit von der 
Periodizität innersekretorischer Vorgänge ist ihre Werbung 
nicht spontan, sondern immer von innen heraus diktiert und 
unterliegt bestimmten Abänderungen an Zeitdauer und Stärke, 
die mit dem Auftreten des menstruellen Unwohlseins deutlich 
zusammenhängen. Es ist, um noch einmal auf den Vergleich 
mit der tierischen Brunst zurückzukommen, mit der weiblichen 
Werbung ähnlich, wie mit den Erscheinungen der Brunst beim 
weiblichen Tiere. Auch das Weibchen wirbt im Tierreich um 
das Männchen, wenn seine Zeit gekommen ist und rastet 
nicht eher, bis es zu der geschlechtlichen Vereinigung kommt. 
Deutlicher allerdings sind die Symptome der Werbung beim 
Männchen vorhanden, denn das Weibchen ist bis zu einem 


446 GESCHLECHT UND GESEL| „CHAFT 


gewissen Grade immer der duldende, der passive Teil. Im 
. Verhältnis zwischen Mann und Weib aber haben sich unter dem 
Einfluß der geänderten Konstitution auch geänderte Sitten und 
eine verkehrte Form des Werbens ausgebildet. In Wirklich- 
keit ist der Mann der Passive und das Weib ist die 
Werbende, indem das Weib gleichsam dauernd auf 
Suche nach dem Mann aus ist, auf den es seine Reize 
am vorteilhaftesten wirken lassen kann. Der Mann ist 
gleichsam außerhalb des erotischen Dunstkreises stehend, von 
dem das Weib immer und überall umgeben ist, und wird erst 
in dem Moment zum Werbenden, wenn er in die Einflußsphäre 
eines stärkeren, sexual vollwertigen Weibes getreten ist. Hier- 
bei ist die scheinbare Passivität der Frau ihre beste und er- 
folgreichste Waffe, ihre natürliche immerwährende Bereitschaft 
zum sexuellen Verkehr das wirksamste Anziehungsobjekt, auch 
hervorragend geeignet, das einmal eroberte Reich für eine 
längere Dauer zu behaupten. Die indirekte, in ihrer Passivität 
enorm aktive Werbung der Frau weckt erst das erotische Be- 
dürfnis im Manne und schafft die Atmosphäre, in der der 
Mann einer wirklichen tieferen Liebe fähig wird. Der Don- 
juanismus, der erotische Eklektizismus des Mannes, wäre ohne 
die vorangehende energische und zähe Werbung der Frau 
durchaus undenkbar, denn nur der Umstand, daß sich der 
Mann von so und so vielen Frauen mehr als ein anderer um- 
worben fühlt, stachelt seine Erlebnisgier und Genußfähigkeit 
zu größten Leistungen an und erhält ihn dauernd in der maso- 
chistischen Abhängigkeit von der Frau, die den markantesten 
Bestandteil der Donjuan-Psyche ausmacht. Das Weib übt 
kraft ihrer Sexualität, d.h. solange sie sich eben im Zustande 
der eben geschilderten Werbung befindet, eine verschleierte 
Superiorität über den Mann aus, und der Donjuanismus des 
Mannes ist in Wirklichkeit nur solange möglich, als diese 
Superiorität aufrecht erhalten werden kann. Es ist die größte 
Täuschung, der sich ein Mann hingibt, wenn er denkt, daß 
seine Eroberernatur sein eigenes, durch die Kunst der Frau 
ungeschmälertes Verdienst is. Der Don Juan ist vielmehr 
ein Masochist reinsten Wassers, ein Mensch, der 
ewig auf der Flucht vor sich selbst begriffen ist, und der 
nur darum seine Verhältnisse so häufig wechselt, weil er 
bereits in jeder einfachen und unkomplizierten Weibnatur seine 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 447 


Herrin wittert. Das Kennzeichen des ewigen Unzufriedenseins 
verrät ein minderwertiges logisches Raisonnement, jene Sterilität 
des Liebesempfindens, von der ich eingangs der Zeilen bei der 
Charakteristik des Rokoko gesprochen habe. Aus dem Grunde 
erklärt es sich auch, daß Geister wie Retif de la Bretonne, 
Casanova, Choderlos de Laclos und wie die Liebeskünstler der 
galanten Epoche heißen, heute wenig mehr angetroffen werden. 
Die Logik des Mannes ist weniger paradox, aber natürlicher 
geworden und die Werbung der Frau bezw. ihr sexueller 
Wert hat sich im Verhältnis zu den verflossenen Zeiten ver- 
vollkommnet. Es ist der größte Fortschritt, den die Emanzi- 
pation der Frau im 19. Jahrhundert nach sich gezogen hat, 
daß die Frau sich intensiver ihrer sexuellen Natur be- 
wußt geworden ist und sie konsequenter als früher 
auf den Mann eingestellt hat. Die Emanzipation ist eigent- 
lich der großartigste Ausdruck weiblicher Werbung und beweist 
am deutlichsten die Zähigkeit, mit der die Frau am Werke ist, 
um ihr eingeborenes und naturgewolltes Liebesbedürfnis zu 
befriedigen. Das Verlangen nach einer neuen Sexualordnung, 
nach Gesetzen, die die Mutterschaft und das sexuelle Verhältnis 
zwischen Mann und Weib neu regeln, hat seine Wurzeln in 
der richtigen Erkenntnis, daß die Frau die eigentliche Trägerin 
und Behüterin der Liebe im Leben ist, und auf diesem Umweg 
gleichzeitig die Schöpferin und Bewahrerin aller Kultur und 
Geistigkeit wird. Daher die Energie, mit der die Frauen an 
die Lösung des Emanzipationsproblems schreiten und der große 
Aufwand von Mitteln, mit denen sie den Donjuanismus in der 
gegenwärtigen Epoche bekämpfen. Das ist sicher; je weniger 
Don Juans es geben wird, desto eher kommt die Frau zu 
ihrem Recht, desto gefestigter steht das monogame Prinzip da, 
desto sicherer ist auf eine wertvolle, produktive Nachkommen- 
schaft zu rechnen. Auf die Ausdauer und Energie der weib- 
lichen Werbung ist es aber auch zurückzuführen, daß sich in 
der Gegenwart alle möglichen Formen des Flirts bis zu seinen 
bedrohlichen Auswüchsen ausgebreitet haben, und daß unsere 
Kultur das Odium des sittlichen Niedergangs erworben hat, 
weil die Schamhaftigkeit in den fraulichen Reihen scheinbar 
geschwunden ist und die nackte Sexualität triumphiert. Aber 
der Flirt, selbst in seiner brutalsten Ausartung, ist nur ein 
Suchen und Tasten des richtigen weiblichen Instinktes nach 


448 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


einer erfolgreichen Methode, der Liebe wiederum Raum 
in dieser Welt zu schaffen. Es ist begreiflich, daß diese 
Methode nicht durchgeführt werden kann, ohne daß sie mit 
sexuellen Schäden kämpft und daß wertvolle weibliche Elemente 
der Prostitution oder einem partiellen moralischen Zusammen- 
broch anheimfallen. Aber die Frau wird es trotzdem durch- 
setzen, dank der Energie ihrer Werbung, die ihr durch ihre 
natürliche Veranlagung geboten ist, daß uns noch eine Wieder- 
geburt der Liebe selbst in dieser harten Zeit empordämmert. 


IO B 


ÜBER DIE PERSÖNLICHE PROPHYLAXE DER 
GESCHLECHTSKRANKHEITEN, 
Von Prof. Dr. KARL ZIELER. 


Es stehen uns verschiedene Wege zu Gebote, um das ideale 

Ziel der Austilgung oder wenigstens der möglichsten Ver- 
hütung von Geschlechtskrankheiten zu erreichen. Sie schließen 
sich gegenseitig nicht aus, und wir müssen sie sämtlich mit 
aller Kraft verfolgen, soll dies Streben einigermaßen von Erfolg 
gekrönt sein. So können wir schon auf dem Gebiet der Er- 
ziehung durch die Verbreitung der Kenntnis von den Geschlechts- 
krankheiten viel erreichen und haben es in den letzten Jahren 
erreicht, insbesondere durch die zielbewußte Arbeit der Deutschen 
Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. Auch 
der Staat kann durch Förderung der öffentlichen Hygiene manches 
leisten, so durch eine sachgemäße (sanitäre, nicht polizeiliche) 
Prostitutionsbekämpfung. 

Bei der geringen Belehrbarkeit des Menschengeschlechts 
aber, sobald es sich um den mächtigsten Trieb, den Geschlechts- 
trieb, handelt, und so lange wir nicht eine zwangweise Behand- 
lung aller Geschlechtskranken haben, ist durch diese Maß- 
nahmen nicht sehr viel, jedenfalls nicht wesentlich mehr als 
bisher zu erreichen. Das gilt auch mit gewissen Einschrän- 
kungen für die Verhütung von Geschlechtskrankheiten bzw. ihre 
Verminderung durch sorgfältige ärztliche Behandlung. Die 
Lehrpläne und Prüfungsvorschriften für die angehenden Ärzte 
sind leider noch nicht derart, daß von jedem jungen Arzt die 
völlige Beherrschung dieses so ungeheuer wichtigen Gebietes 





DIE ENTHAUPTUNG DES JOHANNES. Von 


LUCAS VAN LEYDEN (Sammlung Somree) 
Zu dem Aufsatz »Salome«. S. 342 





SALOME. Von:BOTICELLI (Florenz, Akademia) 
Zu dem Aufsatz »Salome«. $. 342 








SALOME, DIE JÜDIN. Von STRATHMANN (Verlag J. J. Weber, Leipzig) 
Zu dem Aufsatz »Salome«. S. 342 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 449 


nach jeder Richtung hin erwartet werden könnte, wenn auch 
gewiß die Verhältnisse sich hierin in den letzten zwei bis drei 
Jahrzehnten wesentlich gebessert haben. Allerdings können 
heutzutage die Kranken viel leichter als früher sachgemäße 
Behandlung und Heilung finden, aber — und das macht eben 
die ärztliche Arbeit auf diesem Gebiet zu einer nur teilweise 
erfolgreichen —, trotz weitgehender Möglichkeit lassen sich 
eben viele Geschlechtskranke garnicht oder nur mangelhaft und 
widersinnig (z. B. durch Kurpfuscher) behandeln, so daß 
massenhaft Ansteckungsquellen vorhanden bleiben. Die Ver- 
hütung ist aber leichter als die Heilung auch bei den Ge- 
schlechtskrankheiten, denn diese, und ganz besonders die 
Syphilis, sind in ihrem Verlauf schwer im voraus zu beurteilen, 
und wohl stets stellt ihre Behandlung und Heilung an Sorgfalt 
und Ausdauer der Erkrankten erhebliche Anforderungen. 

Bei der außerordentlichen Beliebtheit, der sich trotz aller 
damit verbundenen Gefahren der die Hauptquelle der Ver- 
breitung der Geschlechtskrankheiten bildende außereheliche 
Geschlechtsverkehr erfreut, bleibt demnach als wesentlichstes 
Mittel, deren Übertragung zu verhüten, nur die rein persönliche 
Prophylaxe. Für den Arzt wird es ja leider meist nicht in 
Betracht kommen, der heranwachsenden Jugend mit der Warnung 
vor außerehelichem Geschlechtsverkehr Aufklärung über Schutz- 
maßregeln gegen eine Ansteckung zu geben. Die Öffentliche 
Erörterung dieser Frage verbietet sich aus verschiedenen Gründen, 
wenn wir Ärzte auch die bekannten, an sich sehr anerkennens- 
werten ethischen und pädagogischen Gründe, mit denen man 
diese Aufklärung bekämpft hat, niemals werden gelten lassen 
dürfen. Es wird sich für den Arzt deshalb im allgemeinen nur 
darum handeln, Patienten, die sich einer Ansteckungsgefahr 
ausgesetzt haben und also als wirklich oder nur wahrscheinlich 
angesteckt anzusehen sind, die Mittel anzugeben, oder sie selbst 
beim Kranken anzuwenden, die geeignet sind, die beginnende 
Krankheit im Keime zu ersticken. Da der Gedanke an die 
Ausrottung des außerehelichen Geschlechtsverkehrs eine wert- 
lose Utopie ist, wenn auch gewiß ein schönes Ideal, so hat 
der Arzt die Pflicht, mindestens die Kranken, die mit einer 
Geschlechtskrankheit zu ihm kommen und von denen ja als 
wahrscheinlich anzunehmen ist, daß sie sich auch weiterhin 
Ansteckungsmöglichkeiten aussetzen werden, darüber aufzuklären, 

Geschlecht und Gesellschaft VIII, 10. 29 


450 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


in welcher Weise sie sich schützen können. Selbstverständlich 
hat der Arzt dieselbe Pflicht auch den Patienten gegenüber, 
die ohne wirkliche Ansteckung nur mit der Furcht davor ihn 
aufsuchen. Wenn der Arzt auf dem Gebiete der persönlichen 
Verhütung der Geschlechtskrankheiten vollkommen unterrichtet 
ist, welche Mittel sich als brauchbar erwiesen haben, die 
Weiterverbreitung einer Geschlechtskrankheit zu verhindern — 
und diese Frage kann täglich an den allgemeinen Praktiker 
herantreten —, so wird er nicht leicht in Verlegenheit kommen, 
wenn er z.B. als Hausarzt gefragt wird, was die Familie tun 
soll und wie sie sich schützen kann, wenn etwa ein Glied der 
Familie sich eine Geschlechtskrankheit zugezogen hat und nicht 
abgesondert werden kann. Infektionen im Kreise der Familie 
sind ja noch immer erschreckend häufig. Daß der Unverstand 
und der Leichtsinn der Menschen uns diese Arbeit sehr er- 
schwert, ist richtig, aber kein Grund, ihr nicht unsere ganze 
Kraft zu widmen. Gewiß sollen wir dem Kranken die Er- 
krankung nicht schwerer darstellen, als sie wirklich ist. Wir 
können aber nicht häufig und energisch genug darauf hinweisen, 
wie leicht die Geschlechtskrankheiten, insbesondere die Syphilis, 
auf die Umgebung verbreitet werden können und welche 
schweren Schäden bei Nichtbeachtung der nötigen Vorsichts- 
maßregeln entstehen können. Ich erinnere hier nur an die Fälle, 
мо еіп Ehegatte eine Geschlechtskrankheit erwirbt. Wir dürfen 
uns dann nicht darauf beschränken, Enthaltsamkeit zu predigen, 
sondern müssen von Anbeginn an weitere Vorsorge treffen, um 
Schaden zu verhüten, wenn, wie es leider oft geschieht, die 
nötige Enthaltsamkeit nicht durchgeführt wird. 

Die Fortschritte, die uns die letzten Jahrzehnte in der Er- 
kenntnis der Ätiologie der Geschlechtskrankheiten und der 
Art ihrer Übertragung gebracht haben, haben uns auch die 
Wege gezeigt, wie wir eine Ansteckung verhüten oder eine 
schon zustande gekommene Übertragung unschädlich machen 
können. Auch früher hat man sich vielfach bemüht, die Über- 
tragung der Geschlechtskrankheiten zu verhüten, bei der nicht 
ausreichenden Kenntnis der Krankheiten meist mit mangelhaften 
Erfolgen. Doch sind auch schon lange durchaus zweckmäßige 
Methoden bekannt gewesen, die allerdings unseren heutigen 
nur zum Teil gleichkommen. 

Wir haben hier allgemeine Maßnahmen zu unterscheiden, 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 451 


die für sämtliche Geschlechtskrankheiten in Betracht kommen, 
und auch besondere, die wenigstens teilweise abweichend sind, 
je nach der Art der Krankheit, gegen die man schützen will, 
da die Ansteckungswege und Ansteckungsmöglichkeiten für die 
fastallein inFragekommendenKrankheiten Gonorrhoe und Syphilis 
verschieden sind und so auch der Schutz gegen sie verschiedenen 
Bedingungen genügen muß. Wirksame Mittel gegen den Erreger 
der einen Krankheit sind durchaus nicht stets geeignet, in ver- 
wertbarer Konzentration denErreger der anderen abzutöten (z.B. ist 
Sublimat gegen die Syphilisspirochäten sehr wirksam, gegenüber 
Gonokokken nicht brauchbar). Das erfordert eine getrennte 
Besprechung, wenn auch praktisch nicht der Schutz gegen 
eine, sondern gegen alle Geschlechtskrankheiten erforderlich ist. 

Die zur Verhütung der Übertragung von Geschlechts- 
krankheiten geeigneten allgemeinen Maßnahmen sind dem Arzt 
nicht gerade neu, dem Laien dagegen sind sie noch vielfach un- 
bekannt. Schon seit Jahrhunderten ist bekannt, daß peinlichste 
Sauberkeit nicht nur nach, sondern auch vor einem Koitus für beide 
Teile geeignet ist, Ansteckungen zu verhüten. Je sorgfältiger 
die Geschlechtsteile von früher Jugend an regelmäßig, d. h. 
täglich gewaschen werden, umso widerstandsfähiger ist deren 
Haut gegen oberflächliche Verletzungen. Wer diese selbst- 
verständliche Reinigung täglich vornimmt, wird z.B. nie an einem 
Eicheltripper erkranken. Noch besser wirkt die Beschneidung, 
allerdings nur für die Haut der Vorhaut und Eichel, deren be- 
sonders empfindliche Haut dadurch dicker und weniger leicht 
verletzlich wird. Bei beiden Geschlechtern ist die Umgebung 
der Geschlechtsteile so reich an Drüsen, deren Absonderungen 
sich zersetzen und zu Hautreizen oder kleinen Verletzungen 
Veranlassung geben können, daß der Hausarzt sich ein großes 
Verdienst erwirbt, wenn er immer wieder auf die Notwendig- 
keit der täglichen gründlichen Reinigung dieser Teile schon 
bei Kindern hinweist. Je empfindlicher und je weniger ab- 
gehärtet die Haut der Geschlechtsteile ist, um so leichter ent- 
stehen naturgemäß beim Geschlechtsverkehr kleine Risse und 
Schrunden, die Infektionskeimen eine Eintrittspforte bieten. 
Energisches Waschen mit Wasser und Seife vor und nach dem 
Koitus ist auch geeignet, vorhandenen Ansteckungstoff rein 
mechanisch zu entfernen und so die Ansteckung zu verhüten, 
Peinlichste Sauberkeit ist auch nötig, um die Weiterverbreitung 

. 29* 


452 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


einer Geschlechtskrankheit z. B. im Kreise der Familie zu ver- 
hindern. Dem Laien ist es durchaus nicht immer klar, daß ein 
Kranker nicht mit Gesunden das gleiche Bett, Handtuch, EB- 
und Trinkgeschirr benutzen darf. Das gilt auch für mangel- 
haft gereinigte Badewannen. Durch Leichtsinn, vielleicht auch 
durch ungenügende Unterrichtung in diesen Punkten werden 
nicht selten Ansteckungen im Kreise der Familie verschuldet. 
Denn die sofortige Beseitigung bezw. das gründliche Aus- 
kochen aller beschmutzten oder auch nur vom Kranken be- 
nutzten Gegenstände beseitigt sicher die Gefahr. Daß direkte 
Berührung wie Küssen, Vorkosten etc. insbesondere bei Syphilis 
sehr gefährlich sind, muß dem Laien ausdrücklich gesagt 
werden. 

Welche Rolle der Alkohol spielt beim Zustandekommen 
von Geschlechtskrankheiten, ist ja bekannt. Gewiß wird das 
sehr übertrieben. Aber wenn auch nur 30°/, aller Ansteckungen 
sicher oder wahrscheinlich unter dem Einfluß des Alkohols 
entstehen, wie v. Notthafft auf Grund einer sehr sorgfältigen 
Statistik angibt, so ist das immerhin noch mehr als reichlich, 
Hier wirken verschiedene Schäden zusammen, die das Urteil 
trübende Wirkung des Alkohols, die dazu führt, daß auf die 
Sauberkeit der Partnerin (oder des Partners) wenig Rücksicht 
genommen und auch die nötige eigene Reinlichkeit außer acht 
gelassen wird. Dazu kommt, daß der Rausch durch Abstumpfung 
des Gefühls zur Verlängerung der geschlechtlichen Berührung 
oder gar zu Wiederholungsversuchen führt. So begünstigt die 
längere Berührung mit kranken Teilen selbstverständlich sehr 
die Möglickeit der Übertragung. 

Die Maßnahmen welche im einzelnen empfohlen sind, um 
die Übertragung einer Geschlechtskrankheit zu verhüten, müssen 
der Forderung Genüge leisten, daß nach Möglichkeit die Be- 
rührung kranker Stellen vermieden wird, oder daß, wenn das 
doch geschehen ist, der übertragene Krankheitsstoff wieder 
entfernt oder abgetötet wird, ehe er Zeit gefunden hat, sich 
einzunisten. 

Wie kann nun die Übertragung der Gonorrhoe, mit der 
wir uns zunächst beschäftigen wollen, verhütet werden? 

Hier handelt es sich um verhältnismäßig einfache Be- 
dingungen, da von den beim geschlechtlichen Verkehr sich be- 
rührenden Körperteilen nicht die äußere Haut, sondern nur die 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 453 


Schleimhäute empfänglich sind und es also beim Manne nur 
darauf ankommt, die Schleimhaut der Harnröhre zu schützen. 
Das geschieht am besten durch das etwa schon zwei Jahr- 
hunderte bekannte Kondom, das von seinem Erfinder aus dem 
Blinddarm von Schafen hergestellt wurde, jetzt vorwiegend aus 
Gummi angefertigt wird und das bei sachgemäßer Anwendung 
einen dünnen, undurchlässigen Überzug für den Penis darstellt. 
Abgesehen von den immerhin seltenen Fällen, in denen trotz- 
dem eine Tripperansteckung erfolgt (durch ungeschickte Hand- 
habung, Platzen), bietet es einen sicheren Schutz. 

Hat jemand ohne derartigen Schutz sich einer Tripper- 
ansteckung ausgesetzt, so ist zwar die beste Zeit für die Ver- 
hütung schon verloren gegangen, aber es besteht immer noch 
die Möglichkeit, etwa übertragenen Ansteckungsstoff zu ent- 
fernen. Außer gründlichster äußerer Säuberung ist das Wichtigste 
dann die Abtötung übertragener oder vermuteter Gonokokken 
im Anfangsteil der Harnröhre, denn weiter als I—2 cm dringen 
die Gonokokken in den ersten Stunden nicht ein. Zu diesem 
Zwecke sind eine ganze Reihe handlicher Tropfapparate an- 
gegeben worden, zuerst von Blokusewski, der 2°/,ige Höllen- 
steinlösung verwendete. Dazu veranlaßten ihn die bekannten 
glänzenden Erfolge des Cred&schen Verfahrens bei der Pro- 
phylaxe des Augentrippers. Später hat man auch starke 
Protargollösungen (10—20°/,), Albargin etc. empfohlen. Der- 
artige handliche Apparate sind unter verschiedenen Namen im 
Handel: so Samariter (Höllenstein), Viro, Phallokos (Protargol) 
etc. Die Silbersalzlösungen dürfen nur verhältnismäßig frisch 
verwendet werden, da sie sich nach einiger Zeit zersetzen und 
dann starke Reizungen hervorrufen. Man wendet sie derart 
an, daß man nach dem Urinlassen, das sehr wohl schon allein 
imstande sein kann — und deswegen sich auch nicht mit Un- 
recht einer gewissen Schätzung im Volke als Vorbeugungs- 
mittel erfreut —, übertragene Gonokokken zu entfernen, einige 
Tropfen in die Harnröhre einträufelt und für einige Minuten 
darin läßt. Ebenso empfiehlt es sich, auch die Gegend des 
Frenulums, bezw. die Hauttaschen rechts und links davon ein- 
zuträufeln, da sie leicht Schlupfwinkel für die Gonokokken 
sein können. Diese Lösungen bewirken stets einen leichten 
Reiz, ganz besonders tun das aber ältere Lösungen. Wenn 
also nach deren Anwendung ein Ausfluß erscheint, so braucht 


454 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


das nicht auf einer Tripperübertragung zu beruhen. Die Ent- 
scheidung darüber, ob es sich um einen Reizungkatarrh oder 
um eine beginnende Gonorrhoe bei nicht gelungener Prophy- 
laxe handelt, ist selbstverständlich nur durch mikroskopische 
Untersuchung zu erbringen. Je früher nach dem Koitus die 
Anwendung erfolgt, um so sicherer ist der Erfolg. Aber selbst 
einige Stunden nachher lassen sich noch recht günstige Erfolge 
erzielen, wie die Anwendung derartiger Methoden bei der 
Marine und auch sonst bei Truppenteilen erwiesen hat. Ähnlich 
wirksam, aber umständlicher ist die möglichst bald nach dem 
Koitus ein- oder zweimalig vorgenommene Einspritzung einer 
3—5°/, igen Protargollösung (mit 1°/, Alypinum nitricum) durch 
den Arzt oder Ausspülung mit schwachen Silberlösungen 
(Höllenstein 1:5000, Albargin 1:1000, Protargol ';,°,, etc.). 
Sublimatlösungen sind hierfür wertlos, da sie in nicht reizenden 
Verdünnungen die Gonokokken nicht abtöten, in stärkeren 
Konzentrationen aber die Ursache unangenehmer Strikturen 
werden können, nicht nur von einfachen Reizungen. 

Ebenso wichtig wie der Schutz des Mannes gegen die 
Tripperansteckung ist der des Weibes. Die Notwendigkeit 
dieses persönlichen Selbstschutzes kommt in unserer Zeit natür- 
lich nicht nur für die Prostituierten in Frage. Er kann auch 
einmal in der Ehe notwendig werden. Für die weibliche Harn- 
röhre, die einfacher gebaut und weniger empfindlich ist als 
die männliche, eignen sich Einspritzungen (Protargol etc.), für 
die Vulva, bezw. für die dort mündenden Drüsengänge Be- 
streichen mit undurchlässigen Fetten oder Einreibungen mit 
antiseptischen Seifen (Parisolseife, Afridolseife etc.), für die 
Scheide Spülungen mit antiseptischen Lösungen, wozu z. B. 
Lysol oder auch das für die Harnröhre gänzlich unbrauch- 
"bare (s. o.) Sublimat (1 : 1000) verwendet werden kann. Sehr 
wichtig ist selbstverständlich der Schutz der Cervix. Okklusiv- 
pessare sollen zwar wirksam sein, sind mir aber verdächtig, 
da sie ja auch für die Verhütung der Schwangerschaft nicht 
zuverlässig sind. Allerdings wird diese Schattenseite durch 
eine gründliche antiseptische Scheidenspülung, die dem Koitus 
stets zu folgen hätte, wohl aufgehoben. Besser und vor allen 
Dingen sauberer wäre ein tief in die Scheide eingeführter und 
mit antiseptischer Flüssigkeit getränkter Gazebausch (auch von 
1—2°/, iger Isoformgaze), der der Vaginalportion möglichst gut 


r 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 455 


angepaßt liegen müßte. Die Eignung der antiseptische Zusätze 
enthaltenden, zur Konzeptionsverhütung bestimmten Tabletten etc. 
zur Gonorrhoeprophylaxe wird zwar von den Fabrikanten be- 
hauptet, ist aber sehr fraglich. 

Wesentlich schwieriger als bei der Gonorrhoe liegen die 
Verhältnisse für die persönliche Prophylaxe gegenüber der 
Syphilis. Es handelt sich ja hier nicht um eine Krankheit, die 
nur von ganz bestimmten Stellen des Körpers übertragen wird, 
sondern um eine Erkrankung, die im Frühstadium gerade an 
den Geschlechtsorganen und in ihrer Umgebung, weniger auch 
am übrigen Körper, immer wieder zu vielfachen hochansteckenden, 
aber oft sehr unscheinbaren Veränderungen führt. Diese Er- 
scheinungen können ebenso an den zunächst nicht sichtbaren 
Teilen der Schleimhäute, also z. B. zwischen den Falten der 
Scheide, vorhanden oder gering ausgebildet sein, daß sie selbst 
bei genauester Betrachtung dem Untersucher entgehen. So 
können also selbst bei anscheinend unversehrter Haut und 
Schleimhaut Spirochäten aus dem Körper austreten und eine 
Übertragung vermitteln. Das kann bei der eben jahrelang an- 
steckungsfähig bleibenden Syphilis wahrscheinlich selbst an 
ganz banalen Erosionen geschehen. Sind solche Veränderungen 
beim Partner sichtbar, so müßten sie selbstverständlich die 
Veranlassung zum Unterlassen des Geschlechtsverkehrs sein, 
ebenso wie Schrunden, Einrisse etc. am eigenen Körper. Da 
aber die meisten Menschen, wenn sie sich der Gefahr der An- 
steckung aussetzen, nicht daran denken, meist sogar, wenn sie 
die Gefahr kennen, so müssen wir mit dieser Tatsache rechnen 
und unser Augenmerk darauf richten, wie eine Syphilisansteckung 
verhütet werden kann. Auch hier handelt es sich in erster 
Linie darum, die Berührung kranker Stellen zu verhindern. 
Das geschieht bis zu einem gewissen Grade durch die Ver- 
wendung eines Kondoms, das wenigstens einen Teil der Organe, 
den Penis und die Vagina, schützen kann. Daß das aber bei 
weitem nicht ausreicht, sehen wir z.B. an den nicht so über- 
mäßig seltenen Fällen, in denen ein Primäraffekt an der Wurzel 
des Penis, also gerade dort, wo der Schutz des Kondoms auf- 
hört, sich ausbildet! Ebenso ist natürlich die zarte Haut in der 
Umgebung der Geschlechtsorgane gefährdet. Der Schutz der 
gefährdeten Teile vor dem geschlechtlichen Verkehr ist auch 
hier wichtiger als die sorgfältigste nachträgliche Reinigung, die 


456 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


für sich allein jedenfalls weniger Schutz bietet. Deshalb hat 
man hierfür schon längst gründliche Einfettung (Neisser u. a.) 
empfohlen, die, wenn ein Kondom nicht benutzt wird, auch 
für das Glied sehr nützlich sein kann. Eine derartige Ein- 
reibung der Geschlechtsorgane und ihrer Umgegung, die aber 
alle Falten treffen müßte, allein mit Fetten wie Vaseline, kann 
sehr nützlich sein, da die Fette im allgemeinen das Eindringen 
von Infektionserregern hindern. Zulässig ist dieser Schutz aller- 
dings auch nicht, denn trotz gründlichster Einfettung kann 
durch den Koitus an einzelnen Stellen das Fett abgewischt 
und so dem Syphilisgift eine Eintrittspforte geschaffen werden. 

Mit der Entdeckung der Übertragbarkeit der Syphilis auf 
Tiere mußten natürlich auch die Bestrebugen zur Verhütung 
der Syphilis neue Nahrung gewinnen. 

Diese Bestrebungen sind zwar schon sehr alt, und die auf 
Grund theoretischer Überlegungen oder reiner Empirie vor- 
geschlagenen Mittel waren durchaus nicht alle wertlos. So hat 
man bald nach dem Auftreten des Syphilis Waschungen mit 
Wein empfohlen, teils rein, teils gemischt mit Urin, Terpentin, 
Guajakolabkochungen etc. Auch Quecksilbersalben sind schon 
Anfang des 13. Jahrhunderts gerühmt worden, in dessen letzter 
Hälfte auch das Sublimat, sogar schon in wirksamster Mischung 
mit Alkohol wie in neuester Zeit, die also nichts wesentlich 
Neues lieferte. Denn es waren in der Hauptsache auch nur 
desinfizierende Lösungen (Sublimat, Hydrarg. oxycyanat.), Queck- 
silberseifen und -Salben, von denen man Gutes erwartete. 
Aber erst die experimentelle Forschung konnte mit der Möglich- 
keit exakter Prüfung am Tier zuverlässige Grundlagen für die 
Verhütung der Syphilisübertragung beim Menschen liefern. 

Metschnikoff war der erste, der zur Verhütung der Syphilis- 
übertragung im Jahre 1906 nach längeren Versuchen mit ver- 
schiedenen Ouecksilbersalben eine 33°/, ige Kalomel-Lanolin- 
salbe als besonders geeignet gefunden hatte, bei Affen die 
Syphilisinfektion zu verhüten. Er hat dann diese Salbe für die 
persönliche Prophylaxe vor und nach dem Koitus empfohlen. 
Auch beim Menschen (Metschnikoffs Schüler Maisonneuve) 
wurde bei experimenteller Übertragung von Syphilisgift die Er- 
krankung durch die Anwendung dieser Salbe verhütet. In der 
Folgezeit sind aber doch neben günstigen Erfolgen auch eine 
ganze Reihe von Syphilisansteckungen selbst trotz sorgfältigster 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 457 


Anwendung dieser Salbe nach ärztlicher Anleitung beobachtet 
worden. Das ließ weitere Forschungen wünschenswert er- 
scheinen, die in sehr eingehender Weise von C. Siebert, einem 
Mitgliede der Neisserschen Syphilisexpedition, durchgeführt 
worden sind. Siebert hatte zunächst festgestellt, daß Brei aus 
Milz, Hoden und Knochenmark frisch syphilitischer Tiere, wenn 
er mit den zu prüfenden desinfizierenden Lösungen innig ver- 
mischt und nach verschiedenen Zeiten davon mittels Durch- 
gießens durch Gaze wieder getrennt worden war, nicht mehr 
eine Ansteckung vermittelte, nachdem er nur für kurze Zeit 
mit wenig konzentrierten Sublimatkochsalzlösungen in Berührung 
gewesen war. Diese Abtötung gelang mit Lösungen von 
1: 10000 innerhalb 15 Minuten, während bei gleich konzen- 
trierter Sublimatlösungen ohne Kochsalz die Wirkung weit 
weniger zuverlässig war, ja sogar oft versagte. Auch Natrium 
arsenicosum (1 : 500 bis 1 : 1000) und Chinin in konzentrierteren 
(1 :100) Lösungen waren brauchbar. Bei den Versuchen Sieberts, 
frisch angelegte Impfstellen an Affen zu desinfizieren (meist 
eine Stunde nach der Infektion), ergab sich, daß dazu wesent- 
lich höhere Konzentrationen nötig waren und daß das viel 
besser durch desinfizierende Lösungen als durch Salben zu 
erreichen war. Sublimatlösung 1: 300 verhinderte sogar noch 
die Erkrankung 24 Stunden nach der Infektion, während die 
Metschnikoffsche Kalomel- und sonstige Quecksilbersalben 
im Tierversuch versagten. Das stimmt überein mit der schon 
von Robert Koch betonten Tatsache, daß desinfizierende Sub- 
stanzen durch die Vermischung mit Ölen bedeutend an Wirk- 
samkeit verlieren. 

Siebert hat deshalb eineSalbe hergestellt, die kein Fett enthält 
und die im bakteriologischen und Tierversuch eine ebenso 
starke Sublimatwirkung zeigte wie entsprechend konzentrierte 
wässrige Sublimatlösungen, von folgender Zusammenstellung: 

Hydrarg. bichlorat. corrosiv. 0,3 


Natr. chlorat. 1,0 
Traganth. 2,0 
Amyl. 4,0 
Gelatin. 0,7 
Alkohol. 25,0 
Glyzerin. 17,0 


Aqu. destill. 100,0 


458 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Den Alkohol hat Siebert zugesetzt, weil er nach den Unter- 
suchungen von Paul und Krönig die desinfizierende Kraft einer 
Sublimatlösung erheblich erhöht, das Glyzerin, um das schnelle 
Eintrocknen der Salbe zu verhindern. Diese Salbe wird wegen 
technischer Schwierigkeiten fabriksmäßig hergestellt und von 
der Chemischen Fabrik, vormals Dr. H. Byk (Charlottenburg) 
als Neisser-Siebertsche Desinfektionssalbe in Tuben in den 
Handel gebracht. 

Sie soll vor dem Koitus sorgfältig in die Haut der Ge- 
schlechtsorgane bezw. ihrer Umgebung eingerieben werden und 
ebenso sofort nachher, nachdem eine gründliche Reinigung der 
Teile mit Wasser und Seife und eine Abspülung mit reinem 
Wasser voraufgegangen ist. Die Haut muß dabei gut an- 
gespannt werden, damit keine Falten der Behandlung entgehen. 
Die Behandlung vor dem geschlechtlichen Verkehr ist besonders 
wichtig, denn sie kann vèrhindern, daß übertragene Krankheits- 
keime überhaupt in die Haut hineinkommen. Ist das aber 
schon geschehen, zumal wenn man im Gegensatz zum Tier- 
versuch die mögliche Entrittsstelle nicht kennt, so liegen die 
Verhältnisse wesentlich ungünstiger. 

Schon das sorgfältige Abreiben mit Sublimatlösung 1 : 1000 
nach vorheriger Seifenwaschung scheint die Ansteckungsgefahr 
sehr herabzusetzen, wenigstens berichtet Tandler nach Unter- 
suchungen an der österreichischen Gesandtschaftswache in 
Peking, daß von 1560 gründlich mit Sublimat desinfizierten 
Fällen nur drei an Syphilis erkrankten. Pinkus empfiehlt auf 
Grund der Siebertschen Versuche eine »gründliche Waschung 
mit Sublimatlösung, der man einen tüchtigen Schuß Spiritus 
zusetzen sollte, und Einwickeln des Gliedes in einen mit dieser 
Lösung getränkten Wattebausch für eine halbe Stunde und 
länger«. Jedenfalls ein verhältnismäßig einfaches Verfahren, 
und je einfacher das Verfahren ist-und je leichter die nötigen 
Mittel zu haben sind, um so eher werden wir die Durchführung 
erreichen. 

Für den Schutz des Weibes vor der Ansteckung mit 
Syphilis kommen, soweit es sich um die äußeren Teile handelt, 
ebenso Waschungen und Salbeneinreibungen in Frage wie 
beim Manne. Die inneren Teile, die Scheide und der Mutter- 
mund, werden nur durch ein Mittel zuverlässig geschützt: die 
Benutzung des Kondoms durch den verdächtigen Mann. 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 459 


Gegenüber dem Tripper und der Syphilis hat der weiche 
Schanker wenig Bedeutung. Die Geschwüre sind meistens 
schmerzhaft, und wenn sie z.B. am Vorhautrand oder bei der 
Frau auch an den äußeren Teilen vorhanden sind, so verbietet 
sich der geschlechtliche Verkehr eigentlich von selbst. Das 
Kondom kann nur die inneren Teile wirksam schützen, für die 
äußeren Teile sind dieselben Maßnahmen anzuwenden wie für 
die Verhütung der Syphilis. Mit deren Verhütung würde also 
auch die Übertragung des weichen Schankers, der ja nur eine 
rein örtliche Erkrankung ist, ziemlich sicher verhindert. 

Bei der großen Bedeutung der Geschlechtskrankheiten nicht 
nur für den einzelnen, sondern auch für die Familie und das 
Volk, sollte jeder, der außerehelichen Geschlechtsverkehr aus- 
übt, auch über die Mittel sich unterrichten können, welche die 
Ansteckung verhindern können. Der öffentlichen Ankündigung 
und Aufklärung steht allerdings die etwas eigenartige Praxis 
unserer Gerichte entgegen, mit der wir rechnen müssen. So 
lange Reichstag und Reichsregierung so wenig soziales Ver- 
ständnis beweisen, daß sie nicht für das gesetzliche Verbot 
der Behandlung von Geschlechtskrankheiten durch Kurpfuscher 
zu haben sind, werden wir auch unendlich viele Patienten 
überhaupt nicht aufklären können, nicht nur zu ihrem eigenen, 
sondern auch zu ihrer Umgebung Schaden. 

Das beste Schutzmittel ist selbstverständliich — darauf 
muß auch der Arzt nachdrücklich hinweisen — die Enthalt- 
samkeit, welche die Gefahr eigentlich vollkommen ausschließt, 
wenn wir von den selbst bei uns immer noch zu häufigen 
Fällen außergeschlechtlicher Übertragung (Kindergonorrhoe, 
Familiensyphilis) absehen. Je weniger oft der Einzelne sich 
der Gefahr der Ansteckung aussetzt, um so geringer ist auch 
die Wahrscheinlichkeit, daß er erkrankt, besonders wenn er 
sich sachgemäß schützt. Im einzelnen Falle muß die persön- 
liche Prophylaxe selbstverständlich alle Ansteckungsmöglich- 
keiten gleichzeitig berücksichtigen und nicht etwa nur eine 
einzelne Geschlechtskrankheit. So wird die Verhütung der 
Tripperansteckung durch Tropfapparate sehr häufig geübt, die 
Verhütung der Syphilis, trotzdem diese mehr gefürchtet wird, 
von denselben Leuten ebenso häufig vernachlässigt. 

Eine sachgemäße persönliche Prophylaxe hätte also folgendes 
zu berücksichtigen: Sie müßte sich auf beide Teile erstrecken 


460 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


und setzt zunächst die gründliche Reinigung der Geschlechts- 
teile und ihrer Umgebung vor dem geschlechtlichen Verkehr 
voraus. Dem hätte die sorgfältige Einreibung unter Berück- 
sichtigung aller versteckten Falten mit der Neisser-Siebertschen 
Desinfektionssalbe oder einer ähnlichen wirksamen Salbe oder 
Seife zu folgen. Für den Notfall könnte die wohl überall vor- 
handene Vaseline oder ein anderes Fett verwendet werden. 
Wird dann ein Kondom benutzt, so erscheint ein weiterer 
Schutz vor dem Koitus überflüssig. Sonst ist der Schutz 
wesentlich unsicherer, da er einigermaßen wirksam dann nur 
gegenüber der Tripperansteckung durch Tamponade und Aus- 
spülung für das Weib möglich ist. Nach dem geschlechtlichen 
Verkehr sollte stets eine gründliche Waschung der Geschlechts- 
teile und ihrer Umgebung mit warmem Wasser und Seife und 
die nachherige gründliche Einreibung einer desinfizierenden 
Salbe (Siebert) folgen. Je sorgfältiger und gründlicher das 
geschieht, um so sicherer werden Ansteckungen verhütet. Wird 
auf das Kondom verzichtet, so sollte sofort nach dem Koitus 
Urin gelassen werden, und außerdem müßten einige Tropfen 
einer starken Silbersalzlösung in die Harnröhrenöffnung und 
auf die Gegend des Bändchens geträufelt werden. Beim Weibe, 
das dann stets mehr gefährdet ist (Syphilis!), wäre eine Ein- 
spritzung einer schwächeren Lösung (z. B. Protargol '/;—1°/,) 
in die Harnröhre und eine antiseptische Scheidenspülung von 
Nutzen. 

» Gewiß erscheinen diese Maßnahmen umständlich. Ver- 
nünftige Patienten — sie sind allerdings selten — werden aber 
schließlich dafür Verständnis haben, daß das, was beim außer- 
ehelichen Geschlechtsverkehr vielleicht an Illusionen verloren 
geht, wenn beide Teile vor- und nachher peinlichste Sauberkeit 
beobachten und die möglichen Schutzmaßregeln anwenden, 
niemals so viel wert sein kann als das, was eine Geschlechts- 
krankheit an Arztkosten, Arbeitsverdienst und Schädigungen 
im beruflichen Fortkommen zu bedeuten hat, ganz abgesehen 
von den sonstigen Folgen für den Kranken oder seine Familie. 
Auch ein leichtsinniger Mensch wird das einsehen, zumal, 
wenn wir ihn noch eindringlich darauf hinweisen, daß es sich 
bei den Geschlechtskrankheiten um vermeidbare Krankheiten 
handelt, denen man bei Anwendung der nötigen Sorgfalt mit 
fast völliger Sicherheit entgehen kann. Zur nötigen Sorgfalt 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 461 


gehört selbstredend auch die möglichste Einschränkung 
des außerehelichen Geschlechtsverkehrs mit der öffent- 
lichen und geheimen Prostitution. 

Wie steht es nun zum Schluß mit folgender Frage, die 
von intelligenten Patienten gar nicht ‚so selten gestellt wird: 
Schützen uns die besprochenen prophylaktischen Maßnahmen 
auch sicher vor einer Erkrankung? Denn selbst intelligente 
Patienten sind hierin oft unglaublich leichtsinnig und scheuen 
selbst die geringe Mühe, welche die als brauchbar anzunehmen- 
den Maßregeln verursachen; vielleicht auch in dem Glauben, 
daß sie doch wenig zuverlässig seien. Demgegenüber können 
wir mit gutem Gewissen betonen, daß die empfohlenen Maß- 
nahmen mit größter Wahrscheinlickeit die Ansteckung verhüten, 
um so mehr, je sorgfältiger sie durchgeführt werden und je 
weniger man sich auf eine Methode verläßt. Es ist gewiß 
richtig, daß schließlich jede Methode einmal versagen kann. 
Das gilt mehr noch für die Verhütung der Syphilis als für die 
des Trippers, der bei der nötigen Sorgfalt absolut vermeidbar 
ist. Bei der Syphilis liegen die Verhältnisse ja schwieriger, da 
hier die Übertragungsmöglichkeiten so sehr mannigfaltig sind. 
Sonst hätten wir eben nicht die noch recht häufigen Berufs- 
ansteckungen bei Ärzten und Hebammen, bei denen nicht immer 
Unachtsamkeit allein die Schuld trägt. Dafür aber, daß die 
sorgfältige Durchführung prophylaktischer Maßnahmen, denen 
die experimentelle Forschung eine zuverlässige Grundlage ge- 
geben hat, wohl geignet ist, in den allermeisten Fällen die An- 
steckungen zu verhüten, liegen bereits hinreichende Beweise 
von verschiedenen Seiten vor. Am meisten zeigt das wohl die 
zwangsweise Durchführung prophylaktischer Maßnahmen bei 
den verschiedenen Marinen und bei anderen Truppenteilen, 
die nicht nur für den Tripper, sondern auch für die Syphilis 
unerwartet günstige Resultate ergeben hat. Die oben erwähnten 
Resultate von Tandler stehen nicht allein, sie sind in ähnlicher 
Weise, allerdings nur bei zwangsweiser, nicht bei fakultativer 
Durchführung überall erzielt worden, und das, trotzdem die 
Anwendung der Schutzmaßregeln meist erst nach mehreren 
Stunden erfolgt ist. Das, was hier der Zwang erreicht hat, 
müßte der Vernunft des einzelnen Patienten auch möglich sein. 


E. B 


462 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


MORAL UND EHE IN INDIEN, 
Von SENNAH PIARA. 

TER Heinz Ewers hat einmal gesagt, man könne in Indien 

Monate lang reisen, ohne zwischen Männern und Frauen 
auch nur eine Liebesbezeugung zu sehen. Das trifft insofern 
zu, als zwei Liebende, die Arm in Arm im Frühling unter 
blühenden Bäumen schreiten, hier unten wohl kaum angetroffen 
werden, es wären denn durchreisende oder hier ansässige 
Europäer. Man könnte nun daraus wohl auf ein gesteigertes 
Schamgefühl schließen. Aber das Schamgefühl versagt bei den 
Hindus gerade im Hinblick auf die Frau völlig. Die Frau ist 
das eigentliche Arbeitstier im Hause, sie steht tief unter dem 
»Herrn« und hat ihm gegenüber fast nur den Beruf Weibchen 
zu sein. Demgegenüber machen die vornehmen Hindukasten 
allerdings eine gewisse Ausnahme. Es ist bekannt, daß un- 
endlich viele Kasten die Hindus in streng geschiedene Schichten 
spalten, und daß es für den Angehörigen einer hohen Hindu- 
kaste schon eine Verunreinigung bedeutet, wenn Eine aus 
der untersten Kaste sich ihm-auf etwa 30 Schritte nähert. 

Dies alles verbietet, die Moral der Hindus unter einer 
gemeinsamen Norm zusammenfassen zu wollen. Zwar geschieht 
dies mitunter durch Einheimische ‘selbst, wie ein Aufsatz der 
größten Zeitungen Deutschlands zeigte, der im vergangenen 
Jahre unter dem Autornamen Dr. Narayan Krishna erschien. 
Dr. Narayan Krishna versuchte auch die Moral der europä- 
ischen Frau womöglich auf den tiefsten Standpunkt im Gegensatz 
zu der des Hinduweibes zu stellen. Hatte der Babu Krishna 
damit vielleicht den Beweis völliger Unkenntnis europäischer 
Sitten geliefert, so lag in der Beurteilung der Inderin eine 
Verallgemeinerung, die jedem, der Land und Leute kennt, in 
die Augen fallen mußte. Denn gerade in den oberen Hindu- 
kasten offenbart sich eine Laxheit in der Auffassung der 
moralischen Verantwortlichkeit, die auch in Europa größer 
nicht gedacht werden kann. Allerdings ist es außerordentlich 
schwer, die europäische mit der indischen Moral zu vergleichen, 
ganz einfach aus dem Grunde, weil die Moral eine Funktion 
der Kultur ist und als solche eine nach Völkern und Rassen 
abgestufte Entwicklung zeigt. Mit Recht verurteilen wir die 
Prostitution in Europa, aber ebensogut gibt es hier eine freie 
und eine käufliche Liebe. Nur mit dem Unterschied, daß man 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 463 


in Indien ausschließlicher die käufliche vorfindet. Es kommt gar 
nicht selten vor, daß die Eltern die Tochter, der Mann seine 
Frau für wenige Schillinge irgend einem andern, vielleicht 
absolut Unbekannten auf einige Zeit überlassen. Allgemein 
kommt so etwas nur in den unteren, höchstens mittleren Kasten 
vor. Nun aber stellen gerade diese den überwiegenden Prozent- 
satz der ganzen Hindubevölkerung, und bei einer allgemeinen 
Beurteilung muß das schwer ins Gewicht fallen. — 

Den Reisenden also, die Indien besuchen, fällt es auf, daß 
man trotz des Volksgewimmels in den Städten kaum eine 
Frau zu Gesicht bekommt. Vom frühen Morgen an — oft 
werden die Frauen in Djangel schon morgens um 2 oder 3 
auf den Feldern beschäftigt, — arbeiten diese. Haus, Hof und 
Feld zu verwalten und zu bestellen liegt ihnen ob, während 
der Mann kein Freund anstrengender Beschäftigung ist. Wohl 
pflügt er das Feld, aber der größte Teil der Arbeit fällt der 
Frau und den meist zahlreichen Kindern zu. In den höheren 
Kasten, wo die Männer als Beamte oder Kaufleute tätig sind, 
haben es die Frauen natürlich besser. Sie haben ihre zahl- 
reiche Dienerschaft und arbeiten nicht. Außerdem hält sich 
der vornehme Hindu meist mehrere Frauen. Von einem 
seelischen Verhältnis nach europäischer Darstellung ist hier 
nicht die Rede, denn der vornehme Hindu lernt seine Frau 
kaum früher als in der Ehe eigentlich kennen. Aus dem 
Frauengemach des Elternhauses tritt das Mädchen über in die 
Sanana ihres zukünftigen Gemahls. Ihre Bildung ist nach 
europäischen Begriffen oft dürftig. Nur wenige können lesen 
und schreiben, die meisten jedoch wissen die heiligen Bücher 
auswendig und haben durch ihre Erziehung immerhin eine 
innere Bildung erhalten. Das Frauengemach schließt die Weiber 
auch nach der Eheschließung von der Außenwelt ab. Die 
Gelegenheit also für die vornehme Hindufrau, zu straucheln, 
ist sehr gering. 

Was nun aber die laxe Auffassung der moralischen 
Pflichten bei den mittleren und unteren Schichten des Hindu- 
volkes und seiner Sekten anlangt, so muß man sie eben aus 
der kulturellen Unzulänglichkeit der Inder abzuleiten suchen. 
Wird nämlich ihr kulturelles und sittliches Gefühl gehoben, 
so sind sie in der Lage einen Standpunkt zu erreichen, der 
den Europäer erstaunen lassen muß. 


464 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Abgesehen von aller übrigen Kulturarbeit, die geleistet 
wird, sind die meisten schon heute mit den durchgängigen 
europäischen Moralbegriffen vertraut, z. T. dank der Arbeit der 
deutschen Missionen. Beispielsweise gilt es als eine schwere 
Verfehlung, wenn sich ein Mädchen einem Mann hingibt, der 
sie nicht heiraten will. Obwohl nun die Leute solche Dinge 
ganz allein unter sich bestrafen, so muß doch der betreffende 
Missionar den gefällten Spruch wenigstens begutachten. Zur 
Illustration sei mir gestattet, eine kleine Geschichte zu berichten, 
die ich vor kurzem erlebte: 

In einem einsamen kleinen Djangeldorfe, etwa 70%3km von 
der Bahnstation entfernt, hatte die Tochter des reichsten dort 
ansässigen Bauern, dem mehrere Dörfer gehörten, vor mehreren 
Jahren sich mit einem jungen Manne eingelassen. Das wurde 
ruchbar und das Mädchen, die Reichste weit und breit, fand 
keinen Mann. Endlich hatte der Vater in einem fernen Dorfe 
einen vollständig mittellosen Kuli als Mann für seine Tochter 
gefunden. Die Hochzeitsfestlichkeiten waren bereits im Gange, 
als plötzlich der Kuli weinend erschien und dem Missionar 
erklärte, daß er soeben alles erfahren und nun das Mädchen 
nicht heiraten könne. Geld und Gut waren also für diesen 
mittellosen Menschen, der weiter nichts besaß als das, was er 
auf dem Leibe trug, ohne Bedeutung angesichts der ihm eben 
zu Ohren gekommenen Tatsache. Erst nach 2 Tagen gelang 
es dem gütig zuredenden Missionar ihn zur Eheschließung zu 
bewegen. Das ist nur ein Fall, der aber als typisch angesehen 
werden kann und der zeigt, wie die herrschende Moral trotz 
puritanischer Grundsätze für humanere Änderungen nicht un- 
zugänglich ist. Man verhehle sich aber anderseits nicht, daß 
es schwer ist, die Moral zweier verschiedener Rassen ohne 
weiteres einander anzupassen. Wenn aber auf der anderen 
Seite Krishna die Moralität des Hinduweibes so weit über die 
der Europäerin stellt, so bedeutet es noch nicht, daß in Indien 
die Politik der Intoleranz allem Europäischen gegenüber all- 
gemeine Geltung erlangt hat. 


H B 





SALOME. Von FERRARY (Aus La »Sculpture au Salon«) 
Zu dem Aufsatz »Salome«. $. 342 














SALOME (THE DANCING REWARD). Von AUBREY BEARDSLEY 
(Verlag John Lane, London). Zu dem Aufsatz Salome. S. 342 


GESCHLECHT UND QESELLSCHAFT 
VII, 11. 


SUN 
Ku 


Cie 





MODEKARIKATUR AUF DIE ÜBERTREIBUNG DER HAARFRISUR 
(um 1780). 
Zu dem Aufsatz »Zur Psychologie des Kostüms«. S. 486. 


В Ак Акак къ; 





BÜNDNISFORMEN HOMOSEXUELLER MÄNNER 
UND FRAUEN. 
Von Dr. MAGNUS HIRSCHFELD. 

LS wir die mannigfachen Orte, an denen Homosexuelle 

sich die Befriedigung ihrer seelischen und körperlichen 
Neigungen verschaffen, Revue passieren, so hat es, oberflächlich 
betrachtet, den Anschein, als ob unter ihnen der käufliche 
und auf bloßen Geschlechtsgenuß bedachte Verkehr weit häufiger 
vorkomme, als höhere Formen der Liebe. Dies trifft aber in 
Wirklichkeit nicht zu. Man übersieht, daß alles das, was sich 
innerhalb der vier Wände der Wohnung des Urnings abspielt, 
der Beobachtung entzogen ist, daß aber nur hier die auf wirk- 
lichem Vertrauen und tiefer dauernder Zuneigung begründeten 
Verhältnisse ihre stille Stätte finden. Die Grundnatur der 
meisten homosexuellen Männer und Frauen ist eine monogame. 
Wer viele von ihnen vorurteilslos kennen zu lernen sich be- 
müht hat, wird wahrnehmen, daß fast alle Uranier nach einem 
einzigen Freund verlangen, und daß auch bei den Uranie- 
rinnen eine Freundin zu lieben, die große starke Sehnsucht 
ihres Lebens ist. Wenn gleichwohl die homosexuelle Prosti- 
tution so weit verbreitet ist, so rührt dies daher, daß die 
Anschauungen über die Homosexualität den konträrsexuell Emp- 
findenden dorthin treiben, wo möglichst niemand weiß, wer er 
ist, auf die Straße, in öffentliche Bäder und Lokale. Würden 
sich die Anschauungen über die männliche Homosexualität 
ändern, wären sie etwa nur die gleichen wie über die homo- 
sexuellen Frauen, dann würden sicherlich die männlichen Homo- 
sexuellen sich ebenso wie diese und die Heterosexuellen hin- 
sichtlich ihres Liebes- und Geschlechtslebens ungleich mehr auf 
ihre Behausung beschränken, zum mindesten würden sie in 
der Öffentlichkeit nicht bemerkbarer sein, als die weiblichen 
Homosexuellen. 

Man kann daher auch konstatieren, daß die gleichgeschlechtliche 
Prostitution, je ungünstiger sich in einem Lande die Gesetze gegen den 
Uranismus stellen, um so stärker hervortritt, daß ferner in Ländern, in 
denen die Auffassungen tolerantere sind, die Hauptkundschaft der Prosti- 

Geschlecht und Gesellschaft VII, 11. 30 


466 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


tution aus Fremden besteht, die aus Gegenden stammen, wo die An- 
schauungen über sie schlechtere sind. Der Uranismus der Einheimischen, 
der mit dem käuflichen Verkehr der Straße wenig zu tun hat, tritt dem- 
gegenüber fast völlig zurück. 

Im ganzen findet man unter den Homosexuellen dieselben 
drei Hauptformen sexueller Verbindungen wieder, wie sie 
sich im heterosexuellen Liebesleben als Produkte innerer Nei- 
gungen und äußerer Lebensumstände entwickelt haben: Ehe- 
artige Bündnisse, gekennzeichnet durch die Ausschließlich- 
keit und lange Dauer der Beziehungen, das Zusammenwohnen 
und den gemeinschaftlichen Hausstand, die Gemeinsamkeit aller 
Interessen, nicht selten auch durch faktische Gütergemeinschaft. 
Sie sind unter homosexuellen Frauen etwas häufiger, als unter 
Urningen; zweitens freiere Liebesverhältnisse von meist nicht 
so langem Bestand und relativ größerer Selbständigkeit beider 
Partner, drittens käufliche Betätigung mit homosexuellen oder 
heterosexuellen Personen, die aus dem Geschlechtsverkehr 
materielle und zwar meist pekuniäre Vorteile ziehen. Die Grenzen 
zwischen diesen verschiedenen Kategorien können bei den Homo- 
sexuellen nicht immer scharf gezogen werden. Zunächst sind 
die beiden ersten Gruppen oft schwer zu trennen, weil das 
Hauptunterscheidungsmerkmal der Staatsehe vom freien Liebes- 
verhältnis — die Sanktionierung — fehlt. Richard Wagner 
sagt in der Schrift „Ein Problem der griechischen Ethik“ von 
der dorischen Kriegskameradenliebe, daß sie sich nicht weniger 
fest als ein Ehebund erwiesen habe. Ferner täuscht die finan- 
zielle Abhängigkeit der geliebten von der liebenden Person oft 
ein prostitutionsartiges Verhältnis vor, während es in das Hetero- 
sexuelle übertragen nichts anderes ist, als wenn ein wohl- 
habender Mann für ein von ihm stark geliebtes Mädchen viel 
Geld ausgibt, gleichviel ob er sie heiratet oder nicht. 

Dem Gedanken, der sich in einer der von Krafft-Ebing!) mitgeteilten 
Autobiographien findet: «Gäbe es eine Ehe zwischen Männern, so glaube 
ich, würde ich eine lebenslängliche Gemeinschaft nicht scheuen, welche 
dagegen mit einem Weibe mir etwas Unmögliches erscheint,» habe ich 
. von Homosexuellen oft ähnlich Ausdruck geben hören. Sexuelle und 
materielle Momente sind im Liebesleben oft, ja man kann sagen, immer 
so fest verbunden, daß es vielfach eine Unmöglichkeit ist, sie absolut von- 
einander zu trennen. Hierin sind sich die heterosexuellen und die homo- 
sexuellen Bündnisse völlig gleich; bei der Ehe wäre die Mitgift der Frau 


1) v. Krafft-Ebing, Psychopathia sexualis, p. 249. 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 467 


einerseits, der von dem Manne der Frau gewährte Unterhalt andrerseits 
zu nennen; im freien Liebesverhältnisse ist meist der Mann, nicht selten 
aber auch die Frau der finanziell stärkere und abgebende Teil; die Prosti- 
tuierte beispielsweise lebt vom Oelde des Mannes, das sie oft genug wieder 
nach eigenem Bedürfnisse mit einer von ihr geliebten Person teilt. 


Alles das findet darin seine Erklärung, daß die Liebe und 
das Geschlechtsleben als hohes Wertobjekt empfunden werden, 
für die Gegenwerte von den meisten gern geopfert werden. 
Die Alten sagten mit feinem Instinkt, daß die Liebe ein Kind 
sei von Überfluß und Mangel, Poros und Penia. Aus diesen 
Gründen scheint es mir auch recht bedenklich zu sein, im 
Liebesleben oft so schwer zu beurteilende Begriffe wie die der 
Abhängigkeit und der Gewerbsmäßigkeit als besonders straf- 
würdig zu erachten. Nur die Freiwilligkeit der Liebe ist zu 
schützen. Gewalttätigkeiten, um sich in den Besitz sexuellen 
oder finanziellen Gewinnes zu setzen, sind zu bestrafen. Mehr 
ist vom Übel. 


Ebenso wie ungeschwächt mit gleicher Liebesstärke fortbestehende 
Ehebündnisse im normalgeschlechtlichen Leben nur selten sind, zum 
mindesten eine Abschwächung der grobsinnlichen Libido die Regel ist, 
wird auch dem monogam veranlagten Homosexuellen das ihm als höchstes 
Ideal vorschwebende dauernde, auf gegenseitiger gleicher Liebe basierende 
Freundschaftsverhältnis in nur spärlichen Fällen zur Wirklichkeit. Ist doch 
für sie die Aussicht, einen Partner zu finden, der ihre Gefühle erwidert, 
schon darum eine geringere, weil der Prozentsatz gleichempfindender 
Männer gegenüber den weibliebenden an und für sich ein kleinerer ist 
und die Neigung vieler Homosexueller sich zudem auf vollmännliche 
Typen erstreckt, die naturgemäß mehr bei Heterosexuellen zu finden sind, 
die also ihre Liebe niemals erwidern können. Dasselbe gilt mutatis 
mutandis von Homosexuellen weiblichen Geschlechts. Es kommt hinzu, 
daß ebenso wie bei Normalgeschlechtlichen der Partner, wenn er älter 
wird, dem Geschmack nicht mehr so völlig entspricht wie in jüngeren 
Jahren. 

War der eine von beiden heterosexuell, so ergibt sich eine Lösung 
der monogamen Beziehung nach einiger Zeit meist von selbst dadurch, 
daß bei dem Normalen früher oder später der Drang zum Weibe sich 
mit so unbezwinglicher Gewalt einstellt, daß er ihm nachgeben muß. 
Auch in diesen Fällen bestehen oft die freundschaftlichen Beziehungen, 
selbst nach der Verheiratung des Normalen, oft noch jahrelang, bisweilen 
bis zum Lebensende des einen fort, doch werden sie naturgemäß gewöhnlich 
weniger innig sein, als die zwischen zwei Homosexuellen, da das gegen- 
seitige Verständnis für ihr verschiedenartiges Liebesempfinden ein ge- 
ringeres ist, abgesehen davon, daß die Anforderungen der Ehe und des 
Familienlebens den Heterosexuellen zu sehr in Anspruch nehmen. Mehr 
aber noch stehen äußere Schwierigkeiten dem Abschluß und der Durch- 

30* 


468 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


ührung fester homosexueller Verhältnisse im Wege, beispielsweise dadurch, 
daß sie das ersehnte völlige Zusammenleben der beiden Liebenden unmöglich 
machen. Solche Hindernisse können im Unterschied des Alters und der 
sozialen Stellung bedingt sein, Momente, die ja auch oft normale Ehen 
unmöglich machen. Verstärkt werden sie noch dadurch, daß das Zu- 
sammenwohnen zweier nicht verwandten Personen des gleichen Geschlechts 
bei unseren heutigen Kulturbegriffen an und für sich etwas Auffallendes 
ist, was allerdings für Männer in höherem Grade zutrifft als für Frauen. 

Trotzdem bestehen derart eheartige, viele Jahre, bisweilen das ganze 
Leben ausdauernde feste Freundschaftsbündnisse monogamer Homosexueller 
auch jetzt noch vielfach und sind mir in nicht geringer Anzahl bekannt. 
Carpenter?) erzählt von Bündnissen, welche Liebende desselben Geschlechtes 
oft durch einem langen Zeitraum von Jahren miteinander vereinten «in 
so unfehlbarer gegenseitiger Zärtlichkeit der Behandlung und Rücksicht- 
nahme, wie sie sich sonst nur in den glücklichsten Ehen kundgibt», und 
auch Moll berichtet, daß die ‘Liebe vieler Urninge, die sich in der Jugend 
entwickelte, mitunter das ganze Leben hindurch bestehen bleibt. 

Von diesen Bündnissen führen fließende Übergänge zu den 
temporären, mehr oder weniger festen Verhältnissen, die auch 
ganz den analogen Erscheinungen im normalen Liebesleben 
entsprechen. Wir finden da einmal intime Beziehungen zwischen 
gesellschaftlich Gleichstehenden, die sowohl durch sexuelle wie 
durch geistige Interessen für kürzere oder längere Zeit mitein- 
ander verbunden sind; derartige Verhältnisse können nach- und 
nebeneinander in großer Anzahl bestehen; es gibt Urninge, die 
meinen, daß durch die Vielseitigkeit solcher Beziehungen ihr 
sozialer Wert erhöht wird. Ein charakteristisches Beispiel derart 
wechselnder, teilweise gleichzeitig bestehender, aber doch fester 
und inniger homosexueller Verhältnisse bieten die Beziehungen 
Heinrichs des Ill. zu seinen Mignons, die Dr. von Römer?) so 
eingehend geschildert hat. In anderen Fällen wiederum neigen 
Urninge der höheren Stände dazu, festere Verhältnisse von 
längerer oder kürzerer Dauer mit Angehörigen der unteren 
Kreise anzuknüpfen, während Homosexuelle niederen Standes 
sich oft gern an geistig und gesellschaftlich höher Stehende 
anschließen, wodurch ebenfalls Beziehungen von sozialem Werte 
geschaffen werden können, indem das Verständnis der oberen 
Zehntausend für die Bedürfnisse und Interessen des Volkes 
gesteigert, und das geistige Niveau sozial tiefstehender, aber 
emporstrebender Personen gehoben wird. Verbreiten diese die 

2) Die Homogene Liebe p. 39. 


?) p. 572 ff.: «Heinrich der Dritte, König von Frankreich und Polen.» 
Im IV. Bande des Jahrbuchs f. sex. Zw. 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 469 


gewonnenen ideellen Werte in ihrem Kreise weiter, kommen 
sie auch breiteren Schichten zugute. Ihrer Art nach können 
derartige Verhältnisse so überaus verschiedenartig und mannig- 
faltig sein, daß eine Schilderung der Einzelheiten Bände füllen 
könnte. Eine nach außen unauffällige Form für solche Ver- 
hältnisse wird oft dadurch hergestellt, daß der besser Situierte 
den Freund als Privatsekretär, Geschäftsführer, Reisebegleiter, 
Diener, bei den Persern als »Schenken«, bei Türken und Chinesen 
als Pfeifenstopfer engagiert. Es würde natürlich widersinnig 
sein, ein derart sekundär aus erotischen Gründen hervor- 
gegangenes Abhängigkeitsverhältnis als strafverschärfend bei 
der gerichtlichen Verfolgung homosexuellen Verkehrs anzusehen, 
da alle Voraussetzungen eines Zwanges oder einer Verführung 
dabei fehlen. 


Eine ziemlich häufige Erscheinung des homosexuellen Liebeslebens 
ist das gleichzeitige Bestehen eines monogamen Verhältnisses bei poly- 
gamen Beziehungen des einen oder beider Partner. Es gibt Individuali- 
täten, die zu einer derartig doppelseitigen Erotik wie disponiert erscheinen. 
Beispielsweise empfindet ein Urning einem älteren Freund gegenüber 
feminin, indem er sich hingebend an ihn anlehnt und sich gern lieben 
läßt, während er jüngeren gegenüber viril fühlt, seinerseits den Verkehr 
mit ihnen sucht, sie unter seinen Schutz nimmt und in seinem Verhalten 
ihnen gegenüber aggressiv und aktiv ist. Einer derartigen Natur würde 
demnach ein dauerndes festes Verhältnis mit einem älteren Homosexuellen 
und daneben wechselnde flüchtige Beziehungen zu Jünglingen entsprechen. 
Es sind dies der Bisexualität nahestehende Erscheinungen, aus der sich 
ähnliche Verhältnisse ergeben; ein monogam homosexueller Freundschafts- 
bund neben polygamer normalgeschlechtlicher Betätigung des einen Partners. 
Besonders in eheartigen Frauenfreundschaften der Urninden werden dem 
»Vater« nicht selten Seitensprünge als gutes Recht konzediert, die dieser, 
wenn sie die »Mutter« beginge, schwer ahnden würde. Also auch hier 
gibt es eine doppelte Moral. 

Sehr häufig kommt, namentlich wenn beide Partner homosexuell 
waren, nach einer grande passion von mehr oder weniger langer Dauer 
vor, daß eine leidenschaftliche Liebe in kameradschaftliche Freundschaft 
abklingt. Ich kenne Freundespaare, die, nachdem ihre geschlechtlichen 
Beziehungen aufgehört hatten, bis zu ihrem Lebensende in treuester Zu- 
neigung verbunden blieben. In einigen Fällen knüpfen die Betreffenden 
dann überhaupt keine erotischen Beziehungen mehr an, sondern finden 
in ihrer Freundschaft und anderweitigen Bestrebungen Ersatz, in anderen 
wieder unterhalten beide oder der eine von beiden nebenbei wechselnden 
Verkehr mit Personen, die in physischer Hinsicht ihrem Geschmacke ent- 
sprechen, ohne daß diese flüchtigen Beziehungen das alte Verhältnis stören. 
Der Freund bleibt vielmehr dauernd der Vertraute und Mitwisser auch 
aller erotischen Erlebnisse. 


470 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Überblicken wir ein nach Tausenden zählendes Material, 
so kommen wir zu dem Resultate, daß wir alle die fein nüan- 
cierten Abstufungen sexueller Beziehungen, denen wir im nor- 
malen Liebesleben begegnen, von festesten, eheartigen Verhält- 
nissen bis zu polygamer Universalität der Neigungen, de facto 
auch bei homosexuellen Männern und Frauen finden. 

Unter 100 homosexuellen Männern und Frauen meiner 
Statistik hatten durchschnittlich 33 nur flüchtige, wechselnde 
Beziehungen, 67 langdauernde »eheartige« Bündnisse; 8 der 
letzteren sprachen von »rein platonischen« Verhältnissen; 59 
von den 67 bezeichneten sich als eifersüchtig. 

Mit nichts hat Ulrichs seine Zeitgenossen, und zwar die 
homosexuellen nicht weniger als die heterosexuellen, so frappiert, 
wie mit seiner Forderung sanktionierter Urningsehen; nichts 
ist ihm so verdacht worden und hat ihn so sehr in den Ruf 
eines Sonderlings gebracht, als diese Idee, die dem einen als 
ein bizarres Hirngespinst, anderen geradezu als eine Blas- 
phemie erschien. So schreibt Capellmann*): »Diese Forde- 
rung kann nur gestellt werden von solchen, denen natürliches 
und göttliches Sittengesetz nur mehr leere Worte sind.« Ich 
kann mich diesen Auffassungen nicht anschließen, finde viel- 
mehr, daß gerade dieser Gedanke zeigt, wie ernst und heilig 
Ulrichs die homosexuelle Liebe begriff, wobei er sich außer- 
dem auf Beispiele aus der Geschichte und Gegenwart, die wir 
seit ihm wesentlich zahlreicher kennen gelernt haben, berufen 
konnte, die beweisen, daß tatsächlich sanktionierte Bündnisse 
zwischen Personen gleichen Geschlechts ziemlich häufig ge- 


schlossen worden sind. 

Die wiederholt, unter anderen schon von Urquhart in den 
dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts berichtete®) Tatsache, daß auch 
noch im heutigen Griechenland, in Epirus und in anderen entlegenen 
Provinzen des Balkans sich bisweilen zwei Jünglinge von griechisch-katho- 
lischen Priestern ganz in den dortigen Formen der Ehe zusammengeben 
lassen, wird von Näcke und anderen auf die uralten hellenischen Traditionen 
zurückgeführt. 

Sehr bekannt geworden sind die mit aller Feierlichkeit vorgenommenen 
Eheschließungen römischer Cäsaren mit ihren Lieblingen. So hat sich 
Nero zweimal mit jungen Männern verheiratet: in Griechenland mit Sporus, 


4) Pastoral-Medicin. 16. Aufl. Aachen 1906, p. 145. 
5) Anastasius: »Fahrten eines Griechen im Orient« von Urquhart, einem 
englischem Gesandten; Deutsch von Lindau; erschienen etwa 1830—1840. 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 471 


in Rom mit Pythagoras, der nach Suetonius nicht Pythagoras, sondern 
Doryphorus hieß, beide Male unter allen Solennitäten der römischen Ehe. 
Tacitus erzählt: (annal. 15, 37.) »Den Pythagoras heiratete der Kaiser in 
solenner Hochzeit. Gattin war dabei er selbst. Er ließ sich das hochzeit- 
liche weibliche Haarnetz aufsetzen (flammeum). Zwei Haruspices wurden 
ausgesandt.ce (Um aus dem Vogelflug eine gute Vorbedeutung für die 
Ehe zu entnehmen.) »Nicht fehlten Brautbett und Hochzeitsfakeln.« 
Aurelius Victor (de Caes, 5, 5 und epit. 5, 5) sagt von dieser Hochzeit: 
»Angetan mit dem Hochzeitsgewande einer Braut, erschien er im ver- 
sammelten Senate und setzte dem Bräutigam die ihm zuzubringende Mit- 
gift aus. Alle mußten die üblichen Formalitäten erfüllen. Er heiratete 
nach den Formen der strengen römischen Ehe, der ‚in manum conventio‘, 
so daß er sich unter die eheherrliche Gewalt des Mannes begab.< Auch 
Martial schildert Liebesbündnisse, die in Rom unter Feierlichkeiten ein- 
gegangen wurden; z. B.: 

»Barbatus rigido nupsit Callistratus Apro 

Hac, qua lege viro nubere virgo solet. 
Praeluxere faces; velarunt flammea vultus, 
Nec tua defuerunt verba, Thalasse, tibi 

Dos etiam dicta est.« (Lib. 12. 42.) 

Von des Kaisers Heliogabalus Ehe mit dem Hierokles sagt Lam- 
pridius: »Nupsit, ita ut et pronubum haberet.« Petronius schildert aus- 
führlich das eheartige Liebesbündnis zwischen dem Urning Enkolpius und 
und seinem »frater« Giton. Um dem Kaiser Heliogabalus zu gefallen, 
sind sogar Heterosexuelle soweit gegangen, mit Männern Liebesbündnisse 
einzugehen, als wären sie selbst Urninge. Lampridius erzählt: »Erant 
amici improbi, .. . qui caput reticulo componerant ... qui maritos se 
habere jactarent« (cap. 11), sie trugen das weibliche Haarnetz (reticulum 
oder flammeum) und rühmten sich, gleich dem Kaiser Ehemänner zu haben. 

Die Hochzeitsfeste römischer Cäsaren mit Jünglingen, von denen 
die alten Schriftsteller berichten, waren weder ein Vorrecht der Cäsaren 
noch der Antike. Die unterbrochene Hochzeitsfeier des Amerikaners 
Withney mit einem preußischen Ulanen erregte vor einigen Jahren in 
Berlin großes Aufsehen, aber dieser Fall steht durchaus nicht vereinzelt 
da. Vor vielen Jahren hatte ich selbst einmal Gelegenheit, einem solchen 
Vorgang beizuwohnen. Ein Urning, der mein Interesse für dieses noch so 
wenig erforschte Gebiet menschlichen Lebens kannte, schrieb mir, ob ich 
der Trauung eines homosexuellen Paares beiwohnen wollte. Ich willigte 
ein und fand mich zur angegebenen Stunde Sonntag nachmittags in dem be- 
zeichneten Lokal in der Friedrichstadt ein. Als ich eintrat, sah ich gegen 
50 Herren, die offenbar den besseren Ständen angehörten, in Gesellschafts- 
toilette versammelt; ein Altar, von Blattpflanzen umgeben, war errichtet, zahl- 
reiche Kerzen brannten; nicht lange, und es erschien ein älterer bartloser 
Herr in der Tracht eines Geistlichen und betrat den Altar. Auf dem Harmo- 
nium wurde ein weihevolles Lied gespielt, in das die Versammelten ein- 
stimmten. Unter diesen Klängen zog das Brautpaar, von Brautjungfern, 
ebenfalls Herren, geführt, ernst und feierlich in den Raum: es waren zwei 
junge Leute, der eine Ende, der andere Anfang der Zwanziger, beide im Frack- 


472 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


anzug, der ältere trug einen Myrtenstrauß im Knopfloch, der jüngere einen 
Myrtenkranz und einen lang herabwallenden Schleier. Der Pseudogeistliche 
hielt eine Rede, in welcher er auf die Innigkeit dieser Freundschaftsliebe, 
den Entschluß, auch äußerlich den Bund zu besiegeln, hinwies, und beide 
aufforderte, in allen Lagen des Lebens treu zueinander zu halten. Beim 
Wechseln der Ringe sagte er: 

Und nun vereinigt euch das Sakrament, 

Bis Zwietracht oder Tod euch trennt. 
Dann wieder Musik und allgemeines Beglückwünschen. Auf mein Be- 
fragen teilte mir der »Kaplan« — so nannten sie den Geistlichen — mit, 
daß er zum neunten Male in dieser Weise amtiere®), 

In Berlin gab es ein urnisches Schauspielerpaar, bei dem der jüngere 
den Namen des älteren angenommen hat. Ein schwedischer Urning er- 
zählte mir, daß es sein höchster Wunsch wäre, einen Freund zu finden, 
der seinen Namen führe. Deshalb halte er auch in seiner ausgebreiteten 
Familie unausgesetzt nach einem urnischen Verwandten Umschau. Er 
hatte die »fixe Idee«, daß er erst, wenn er einen solchen als Freund ge- 
funden hätte, seinen Namen zu Recht führen würde. In urnischen Frauen- 
bündnissen nimmt ebenfalls häufig die »Mutter« den Namen des »Vaters« 
an und wird in ihrem Bekanntenkreise nur mit diesem angeredet. Und 
auch hier findet man bei Naturvölkern schon ganz analoge Sitten. So 
hat man bei den Balondas’) und anderen afrikanischen Stämmen regel- 
rechte Verlöbnis-Zeremonien zwischen Freunden beobachtet, bei denen 
jeder einige Tropfen von seinem Blute in den Trank des anderen fließen 
läßt. »Dann tauschen sie ihre Namen aus und beschenken sich gegen- 
seitig mit dem Kostbarsten, was sie besitzen.®) Es liegen auch von anderen 
Volksstämmen ganz verschiedener Himmelsstriche Berichte über rite ge- 
schlossene Männer- und Frauenbündnisse vor°), so erst wieder neuerdings 
von Breitenstein?) und H. Roth, nach denen in Borneo nicht selten 
die Priester förmliche Ehen mit jungen Männern schließen. 

Wiederholt ist es auch vorgekommen, daß Urninge ebenso wie Ur- 
ninden ohne ihr wahres Geschlecht anzugeben, sich mit Personen ihres 
Geschlechts verlobten. So notifizierte der von Fränkel als homo mollis 
185312) beschriebene Urning Süßkind Blank eines Tages öffentlich unter 


в) Geschildert in dem Artikel: Sind sexuelle Zwischenstufen zur Ehe 
geeignet? Von Dr. Hirschfeld, im Jahrbuch f. sex. Zw. Bd. Ill. p. 69/70. 

?) Cf. »Naturgeschichte des Menschen, von J. G. Wood. Band 
»Afrika« p. 419. 

8) Cf. auch Livingstones »Expedition nach dem Zambesis Murray 
1865, p. 148. (Zitiert nach Carpenter, Das Mittelgeschlecht, p. 42). 

9) Cf. Ulrichs VII, p. 102 und XII. p. 32. 

10) Cf. Sexualprobleme 1912, p. 848 und Anm. 93, p. 857: H. Breiten- 
stein, »Einundzwanzig Jahre in Indien«, Bd. I. (Leipzig 1899), p. 226. 

u) Cf. ibidem und Anm. 94, p. 857: H. Ling Roth, »The Native 
Tribes«, Bd. I, S. 270. 

12) Medizinische Zeitung des Vereins für Heilkunde in Preußen 
Bd. XXII. 1853. S. 102/3. 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 473 


dem Namen ;»Friedericke Blank« seine Verlobung mit einem fremden 
Handwerker. Blank tötete sich später, ebenso wie ein »Seitenstück« von 
ihm, der als »männliche Braut« bekannt gewordene Paradeda, der sich in 
Paris mit einem Lehrer verlobt hatte, dem er nach Breslau gefolgt war. 

Im Verfolg seiner Anschauungen vertrat Ulrichs den Standpunkt, daß 
das Bündnis eines Homo- mit einem Heterosexuellen — die Beziehungen 
dieser beiden, nicht die von Urningen untereinander beschäftigte ihn fast 
ausschließlich in seinen Schriften — zwar ebenso fest und feierlich ge- 
knüpft werden solle, die Lösung aber erheblich leichter sein müsse, wie 
diese, einmal weil der Heterosexuelle »dem Liebesgenuß am Weibe, seiner 
geschlechtlichen Hauptbestimmung nicht zeitlebens entzogen werden dürfe, 
und zweitens, weil die Ehe wesentlich nur wegen desjenigen ihrer Zwecke 
für schwer lösbar, bezw. unlösbar erklärt sei, welcher auf Kindererzeugung 
und Kinderaufziehung gerichtet ist, dieser Zweck aber beim urnischen 
Liebesbündnis wegfällt.« 

Häufiger als bei homosexuellen Männern findet man bei 
homosexuellen Frauen das Bestreben, ihren Beziehungen einen 
eheartigen Charakter zu geben. H. Elisa erwähnt einen Fall 
aus England, in dem eine zeremonielle Trauung zwischen zwei 
Frauen ohne jede Täuschung vor sich ging. Eine von Geburt 
inverse Engländerin von hervorragenden geistigen Fähigkeiten 
verband sich mit der Frau eines Geistlichen, der in voller 
Kenntnis der Sachlage die beiden Damen in seiner eigenen 
Kirche vermählte. 

Юаһгеп !*) teilt mit, daß am A Juli 1777 in London eine Frau zu 
6 Monaten Kerker verurteilt wurde, die sich, als Mann verkleidet, schon 
dreimal mit verschiedenen Frauen verheiratet hatte, 

In Friedreichs Blättern für gerichtliche Medizin‘5) wird über den Fall 
eines Mannweibes berichtet, das mehrere Jahre mit einem Weibe verheiratet 
war. Als es schließlich doch aufkam, wurde sie in Untersuchung gezogen, 
wegen Sodomie zum Tode verurteilt und mit dem Schwerte hingerichtet. 
Die Mühlhaberin, ihr Weib, will von dem Geschlechte ihres »Gemahls« 
keine Kenntnis gehabt haben. 

Baumann erzählt aus Paris folgendes Erlebnis: 

In einer Maison meublée wohnten zwei in der Mitte der zwanziger 
Jahre stehende Fräulein. Die eine war eine imposante Erscheinung von 
ausgesprochenem südlichen Typ mit krausen, schwarzen Haaren. Sie 
stand als Direktrice einem bedeutenden Modengeschäfte vor. Die andere, 
eine allerliebste Blondine, hätte als Ebenbild des deutschen Gretchens 
gelten können, wenn sie blaue Augen, statt der feurigen dunkelbraunen 
gehabt hätte. Sie war Sekretärin in einer der vielen Privatkliniken. Öfters 


19) H. Ellis, Sexualinversion. P. 146, Fußnote. 

“) Dühren, Engl. Sittengeschichte Il. Band p. 54. 

1») „Ein weiterer Fall von konträrer Sexualempfindung« mitgeteilt 
von Dr. F. C, Müller. 1891, p. 279. 


474 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


drang Streit aus der Wohnung dieser Damen zu mir herüber, und ich 
wurde anfänglich durch das wiederholte, leidenschaftlich ausgesprochene 
»Je tiens, que tu seras tout à fait à moi, je et le répète une fois де ріиѕ!« 
zur Meinung gebracht, diese Worte seien an den Liebhaber einer der 
Damen gerichtet, dessen Benehmen dieser nicht volle Garantie für seine 
Treue biete. Im übrigen schenkte ich der Sache keine Beachtung. Nun 
traf ich eines Sonntags zufällig in einem der »Robinsons« genannten 
Restaurants, die in der Umgebung von Bourg-la-Reine unter den Kronen 
der uralten, gewaltigen Bäume errichtet sind, mit den beiden Damen zu- 
sammen. Wir kamen ins Plaudern; bisher hatte sich unser Verkehr auf 
das beim Begegnen im Hause übliche Grüßen beschränkt. Wie nun das 
in Paris vorzukommen pflegt, daß sich selbst bei Leuten, die sich völlig 
fremd waren, ein zufälliges Zusammentreffen an einem Vergnügungsorte 
rasch zu einem recht gemütlichen Beisammensein gestaltet, so wurde auch 
beschlossen, daß wir den Tag zusammen verbringen wollten. Nun sah 
ich, daß beide Damen Eheringe trugen und als ich dieselben frug, ob sie 
eigentlich verlobt oder verheiratet seien, bekam ich zur Antwort: »Mais 
nous sommes mariees, nous deux!« Die Betonung, mit welcher das »nous 
deux« gesagt worden war, machte mich stutzig; mir fiel plötzlich der 
Streit ein, den ich öfters schon gehört hatte. Da muß ich klar sehen! 
Ich fragte deshalb nach ihren Männern. Die beiden lachten hell auf, und 
die Direktrice sagte in einem Tone, als wäre das etwas ganz Natürliches; 
»Mais voilà, ma petite femme!: indem sie die herzige Blondine an sich 
zog und dieselbe dabei mit einem Gesichtsausdruck ansah, der kein glühen- 
deres Verlangen bei einem jungen Ehemanne hätte zeigen können, der sein 
Weibchen in die Arme schließt. Ich muß bei dieser Erklärung außer- 
ordentlich dumm ausgeschaut haben, denn die beiden Fräulein brachen in 
lautes Gelächter aus. »Comme ils sont dröles, les Suisses!« rief der > Мапп‹ 
aus, und beide machten sich über meine »Verständnislosigkeit« lustig. Das 
war es aber weniger als wie die Überraschung, daß die Damen die Sache 
als etwas Selbstverständliches behandelten, die mich momentan staunen 
ließ. Aus dem, was ich jenen ersten Tag und sodann auch in der Folge, 
namentlich aus den Gesprächen mit der Sekretärin vernommen hatte, die 
mir Vertrauen schenkte und öfters mir ihr Leid wegen der Eifersucht ihrer 
Freundin klagte, will ich einiges hier wiedergeben, 

Die beiden Damen, von denen die Blondine eine Pariserin war, die 
andere aus dem südfranzösischen Departement der Alpes-Maritimes 
stammte, hatten sich im gleichen Geschäft kennen gelernt. Als sie auf 
einem gemeinschaftlichen Spaziergange sich auf dem Rasenplatze einer 
Lichtung des Waldes von Meudon ausruhten, umarmte die Südfranzösin 
plötzlich ihre Begleiterin und sagte in stürmischer Aufwallung: »Ah, je 
vous aime!« Dann herzte und küßte sie sie leidenschaftlich, und da kam 
der Blondine ihre Neigung zum gleichen Geschlechte zum Bewußtsein. 
Von nun an waren sie unzertrennlich. Sie nahmen eine gemeinschaftliche 
Wohnung und kauften sich Eheringe zum Zeichen der zwischen ihnen 
geschlossenen »Ehe«, wie sie diese Verbindung selbst nannten. Da sich 
aber die Direktrice in ihrer anormalen Leidenschaft nicht zu beherrschen 
wußte, wenn sie sich in Gegenwart ihrer Freundin befand, wurde zur 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 475 


Vermeidung unliebsamer Vorfälle beschlossen, daß die Blondine ihre 
Bureaustelle wechseln sollte. So kam diese in die Privatklinik, wo bald 
ein Flirt zwischen der hübschen Sekretärin und einem der Ärzte entstand. 
Dadurch wurde die letztere ihrem »Manne« untreu, denn der Umgang mit 
dem Herrn entzückte sie kaum weniger, als der mit der Freundin. Sie 
war eben nicht, wie diese, rein homosexuell veranlagt, und eine angenehme 
Abwechslung boten ihr auch die Einladungen des Arztes zum Besuche 
von Theatern usw., wobei, wie sie sagte, die Begleitung eines Kavaliers 
doch etwas ganz anderes sei, als die einer Freundin. 

Es dauerte denn auch nicht lange, bis die letztere von diesem Flirt 
Kenntnis erhielt. Die Blondine legte ein um so aufrichtigeres Geständnis 
ab, als sie glaubte, daß ein Flirt mit einem Manne ja nur ein »Amusement 
passager« von ganz anderer Art sei, als das homosexuelle Verhältnis mit 
ihrer Freundin. Dieser Meinung aber war die letztere nicht. Sie sagte 
kategorisch: Quoiqu’il en soit, de tes caresses cet homme-là consume la 
m&me jouissance telle que moi, et j’exige absolument que tu seras à moi 
seule!« Immerhin gab sie den Bitten der Freundin nach, sich von diesem 
Arzte zu Vergnügungen führen zu lassen: »Je t’aime trop, pour te con- 
traindre!« fügte sie der widerwillig gegebenen Erlaubnis bei. Die Liebe 
der Südfranzösin zur Pariserin war eine schwärmerische. Aber die sinn- 
liche Leidenschaft zugleich eine derart gesteigerte, daß, während ihre 
Freundin von der erteilten Erlaubnis Gebrauch machte, die sich mit den 
peinigendsten Eifersuchtsgedanken quälte und ihr bei der Rückkehr die 
heftigsten Vorwürfe machte. Ein psychologisches Rätsel blieb mir immer, 
daß die Blondine die Gewaltherrschaft, welche ihre Freundin auf sie aus- 
übte, ertrug und auch, daß alle die Störungen in der Harmonie dieser 
»Ehe« rasch vorübergehende waren. Die Sekretärin hatte auf meine dies- 
bezügliche Frage ein einfaches: »Elle m’aime tant!« zur Antwort. Gewiß, 
sie wurde von der Direktrice sehr geliebt; die Beweise dafür waren zahl- 
reich. Und diese Liebe wurde wenigstens in ihrer sinnlichen Begierde 
unzweifelhaft aufs wärmste erwidert. Das bezeugten, neben anderen Tat- 
sachen, auch die Liebkosungen der beiden, von deren wild-stürmischer 
Art das Echo beredtes Zeugnis ablegte. 

Wenn hier von »Gewaltherrschaft« die Rede ist, welche die männ- 
lichere Homosexuelle auf die feminine ausübt, so entspricht dies meiner 
Beobachtung, nach der die stärksten Fälle sexueller Hörigkeit in den ehe- 
artigen Verhältnissen vorkommen, die homosexuelle Frauen führen, in 
denen die eine Freundin tatsächlich »Wachs« in der Hand der anderen 
war, in einem Falle, in dem der Ehemann der einen die Freundin samt 
seiner Ehefrau herauswarf und dann die Ehescheidungsklage einleitete, 
erklärte die Freundin unverblümt, als ich ihr vorhielt, daß das Verhältnis 
der verheirateten Frau mit ihr einem Ehebruch gleichzusetzen sei, »es sei 
doch wohl Ehrensache, daß man für die Geliebte in solchen Fällen einen 
Meineid schwöre«. 

Aus Paris wurde 1907 gemeldet, daß die Marquise de Morny und 
die Schriftstellerin Colette Willy auf das Standesamt gegangen seien, um 
die Heirat nachzusuchen. Der verblüffte Standesbeamte habe jedoch die 
Eheschließung abgelehnt, obgleich er bemerkte, daß er »keinen Text ge- 


476 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


funden habe, der eine solche Heirat verbiete«. d’Estoc (Paris-Eros S. 58) 
berichtet von einer dreißig Jahre dauernden Tribaden-Ehe. In »The Lancet 
Clinic«’) wird ein mehr als fünfzehnjähriges Bündnis zwischen einer 
Frau G. und D. beschrieben. Der Schluß des Artikels lautet: >Sie hat in 
ihrem ganzen Leben nur für diese eine Frau Zuneigung empfunden; sie 
kann nichts Unrechtes in dieser Liebe finden und hält ihr Bündnis für 
ebenso heilig wie die Ehe. Dabei wird Frau G. von allen ihren Ver- 
wandten und Freunden sehr hoch geschätzt, kurz von allen Menschen, mit 
denen sie jemals in Berührung gekommen ist, auch hat sie in ihrem Fache 
wirklich Hervorragendes geleistet. Niemand ahnt, daß ihre sexuelle Ver- 
anlagung abnorm ist.« Mir selbst ist in Berlin ein Fall bekannt, in dem 
es einer homosexuellen Frau, die als Mann lebte, gelang, daß sie, ohne 
daß man ihr wahres Geschlecht ahnte, mit ihrer Freundin — sie lebten 
bereits zehn Jahre zusammen — kirchlich und standesamtlich getraut wurden. 
Am bekanntesten von ähnlichen Fällen ist wohl der von Krafft-Ebing be- 
gutachtete der Sarolta (Charlotte) Gräfin Vay geworden, die unter dem 
Namen Graf Sandor Vay im Jahre 1888 in Ungarn mit einer von ihr 
schwärmerisch geliebten Lehrerin Marie S. eine von einem Pseudopriester 
eingesegnete Scheinehe einging. 

Wie weit das Ehegefühl homosexueller Frauen, die zu- 
sammenleben, gehen kann, zeigt nicht nur die volkstümliche 
Bezeichnung der Partnerinnen als Vater und Mutter, sondern 
daß tatsächlich beide oft nichts so schmerzlich empfinden, als 
die Unmöglichkeit, ein eigenes Kind zu besitzen. Manche 
adoptieren ein fremdes Kind oder halten sich wenigstens als 
Symbol eine große Puppe. Ein Pariser Mädchen einfacher 
Herkunft, das mit einer Berliner Künstlerin ein sehr leidenschaft- 
liches Verhältnis hatte, schrieb mir einmal: »Je vis avec une 
amie, je désirerais vivement avoir un bébé ď’elle.« Dann ging 
es weiter: »Comme je sais que vous pouvez tout faire .... 
auriez vous la bonté de nous indiquer un moyen; nous nous 
aimons passionnément, donc rien est nous impossible«. Ich 
nahm zuerst einen Scherz an und ließ mir die Französin 
kommen, um zu erfahren, daß sie in der Unschuld ihres 
Herzens tatsächlich an die Erfüllbarkeit ihrer Sehnsucht ge- 
glaubt hatte. Sie verließ mich ebenso bekümmert wie ent- 
täuscht, als ich ihr die Unentbehrlichkeit des Mannes bei der 
Fortpflanzung auseinandersetzte. 

Ich führte bereits aus, daß die starke Verpönung des mann- 
männlichen Verkehrs die männliche Prostitution wesentlich be- 


17) Übersetzung aus »The Lancet Сііпіс« уот 2. November 1912. 
— Vol. C VII. No. 18. Seite 487/90. Einige Bemerkungen über die 
Psychologie der »sexuellen Inversion« bei Frauen. 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 477 


fördert hat; diese Verpönung ist der wesentlichste Grund, daß 
der Homosexuelle sich scheut, eine von ihm geliebte Person 
zu sich zu nehmen, sich mit ihr ständig zu zeigen oder sich 
ihr sichtlicher Weise zu widmen, weil er stets in Furcht ist, 
der erotische Charakter dieser Beziehung könne entdeckt, das 
Verhältnis beargwöhnt werden. Daher sucht er die geistige 
Seite seines Sexualtriebes möglichst zu verstecken und die 
körperliche recht geheim und unerkannt zu befriedigen. Es 
liegt auf der Hand, daß der Geschlechtstrieb dadurch auf eine 
tiefere, man könnte auch sagen auf eine tierischere Stufe herab- 
gedrückt wird, andererseits eine Menschenklasse großgezogen 
wird, die sich aus der vorübergehenden Hingabe ein einträg- 


liches, bequemes Gewerbe schafft. 

Es soll damit allerdings nicht behauptet werden, daß diese soziale 
und gesetzliche Ächtung die ausschließliche Wurzel der männlichen 
Prostitution ist; daß dies nicht richtig ist, geht schon daraus hervor, daß 
sie, wenn auch nicht in der gleichen Ausdehnung wie in Ländern mit 
Strafbestimmungen, in Gegenden und vor allem in Zeiten nachweisbar ist, 
wo das Verständnis für die gleichgeschlechtliche Liebe ein günstigeres 
war, als im antiken Griechenland und Rom. Mehr als ein Dichter und 
Schriftsteller jener Epochen wendet sich mit Eifer bereits gegen Jünglinge, 
die den Meistbietenden feil sind. Offenbar gehören zu den Kunden 
männlicher Prostitution außer denen, die sich nicht festere Verbindungen 
einzugehen trauen, viele, die bisher das ihrer Triebrichtung voll ent- 
sprechende noch nicht gefunden haben, ferner solche, die neben einer 
stärkeren monogamen Beziehung auf polygame »Seitensprünge» nicht ganz 
verzichten können und wollen, sowie endlich Leute, die gerade unter den 
Prostituierten die ihnen seelisch und leiblich zusagenden Typen finden. 
Für manche Homosexuelle scheint es geradezu ein psychisches Bedürfnis 
zu sein, zum Teil wohl in einem instinktiven Gefühl der Überlegenheit 
begründet, den Partner zu bezahlen. Alles in allem sind es fast die 
gleichen Ursachen, die auch den normalsexuellen Mann zur weiblichen 
Prostituierten drängen, trotzdem er diese sozial eher noch mehr mißachtet, 
wie der homosexuelle Mann den Strichjungen. 

Auch weibliche Prostituierte gibt es, die nur Urninden zu Gebote 
stehen. Bloch!®) schreibt darüber: Diese tribadische Prostitution ist be- 
sonders umfangreich in Paris. Man nennt sie ‚gouines‘ oder ‚gougnottes‘ 
oder ‚chevalieres du clair de lune ә). Auch Tribadenbordelle gibt es in 
Paris. Unter den Masseusen großer Städte gibt es stets einige, die 
tribadischen Verkehr gegen Entgelt als Spezialität pflegen. 

Was aber treibt den männlichen Prostituierten selbst zu 


seinem Gewerbe? Hier sind die Ursachen teils endogene, in 


18) Bloch, a. a. O. p. 587. 
19) Vgl. Martial d’Estoc, Paris-Eros, S. 59. 


478 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


den individuellen Besonderheiten der Prostituierten gelegene, 
teils exogene, durch äußere Umstände bedingte. Zu den ersteren 
gehören in erster Linie gewisse, meistens auf degenerierter An- 
lage beruhende Schwächen und Defekte der psychischen Kon- 
stitution, ein Mangel an Arbeitslust und Energie, der die Be- 
treffenden an körperlicher oder geistig anstrengender und gleich- 
mäßiger Tätigkeit keinen Gefallen finden und sie den mühe- 
losen Verdienst, den sie sich durch Preisgabe ihres Körpers 
verschaffen können, bevorzugen läßt. Die Bereitwilligkeit zur 
Prostitution hat ferner eine Abstumpfung des normalen Scham- 
gefühls zur Voraussetzung, wie wir ihr ebenfalls besonders 
häufig bei Degenerierten begegnen, die dann naturgemäß in 
der fortgesetzten Ausübung dieses Gewerbes sich weiter ent- 
wickelt. Der Hang zum Genußleben, zu dessen Befriedigung 
die Prostitution eine der leichtesten Möglichkeiten bietet, ist 
für einem sinnlichen Lebensgenuß zuneigende Naturen bei 
beiden Arten gewerblicher Unzucht ebenfalls häufig das treibende 
Motiv. Daß die eigene sexuelle Neigung weniger häufig ur- 
sächlich in Betracht kommt, geht schon daraus hervor, daß die 
Zahl der homosexuell veranlagten männlichen Prostituierten 
gegenüber den heterosexuellen relativ nur klein ist, und unter 
diesen die Fälle, in denen sich die bezahlte Hingabe auf Per- 
sonen beschränkt, die dem eigenen Geschmack der Prostituierten 
entsprechen, ein verschwindend geringer ist. 

Es gibt aber eine bestimmte Gruppe von Prostituierten, die durch 
einen gewissen inneren Drang zum Verkauf ihres Körpers getrieben 
werden. Es scheint in dem Umstand, daß die Liebesdienste pekuniär be- 
lohnt werden, ein Erfordernis ihrer sexuellen Individualität zu liegen. 
Einige Homosexuelle gaben mir offen zu, daß ihnen nur der bezahlte 
Verkehr Genuß gewähre. Es wird dadurch auch psychologisch erklärlicher, 
daß vielfach Jungen der besseren Stände sich für relativ geringes Entgelt 
prostituieren. Vor einigen Jahren suchte mich einmal ein höchst elegant 
gekleideter 18 jähriger Amerikaner auf, der auf einer Berliner Schule er- 
zogen wurde, um mir folgendes Geständnis zu machen. Er sei Primaner, 
stamme aus einer Newyorker Millionärsfamilie, sei so gestellt, daß er sich 
keinen Luxus zu versagen brauche; seit seinem 14. Lebensjahr verspüre 
er das Verlangen, sich gegen Entgelt Männern hinzugeben. Um von 
ihnen angesprochen zu werden, setze er sich nachmittags in die Empfangs- 
und Teeräume der vornehmen Hotels. Ein- bis zweimal die Woche er- 
reiche er sein Ziel, der Verkehr sei nur mit Herren möglich, die ihn reich- 
lich bewirteten und beschenkten, sonst fehlte jede Erregung; er be- 
zeichnete sich selbst als geborene Kokotte. Post actum verabscheue er 
sich und das so verdiente Geld, er habe es bisher noch nie für sich ver- 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 479 


wandt, sondern an Wohltätigkeitsinstitute gegeben; trotz aller Reue und 
Selbstvorwürfe unterliege er aber nach wenigen Tagen wieder seiner 
»Obsession«. 

Gegenüber den inneren Momenten, die zwar in keinem 
Falle fehlen, aber naturgemäß weniger in die Erscheinung treten, 
sind die äußeren Veranlassungen der männlichen Prostitution 
mannigfacher und augenfälliger. In erster Linie ist es die 
materielle Not, die bei den männlichen wie bei den weiblichen 
Prostituierten als ursächliches Moment in Betracht kommt. Es 
kann sich dabei sowohl um einen mehr dauernden Zustand 
wie um eine vorübergehende, durch Arbeitslosigkeit oder Krank- 
heit bedingte Verlegenheit handeln. Der Mehrzahl nach rekru- 
tiert sich aus diesem Grunde die männliche Prostitution aus 
den niederen, unbemittelten Volksschichten. 

Ein Gelegenheitsprostituierter antwortete auf die ihm von einem 
Kriminalbeamten vorgelegte Frage: warum er sich auf dem Strich herum- 
treibe, kurz und vielsagend: »um nicht zu stehlen«. 

So unglaublich es klingt, es kommt tatsächlich vor, daß mittellose 
Eltern ihre heranwachsenden Söhne und Töchter — namentlich wenn sie 
durch ein anziehendes Äußere ihnen dazu besonders geeignet erscheinen — 
zu diesem traurigen Gewerbe anhalten. Von einem der bekanntesten 
Berliner Prostituierten wird zuverlässig berichtet und von ihm selbst be- 
stätigt, daß seine eigenen Eltern ihn bereits in seinem 14. Jahre in diese 
Laufbahn brachten. Ein Urning teilte mir aus der Unterhaltung, die er 
mit einem Prostituierten hatte, folgendes mit: »Der Junge erzählte mir, 
daß ihm seine Mutter gesagt habe, er solle nie Geld fordern, sondern mit 
dem zufrieden sein, was ihm die Herren freiwillig gäben«. Ganz erstaunt 
forschte ich weiter, und es stellte sich heraus, daß seine Mutter selbst das 
Gewerbe einer Prostituierten in Eisenach betrieb. Hier strömen im 
Sommer viele Fremde, besonders viele Studenten der umliegenden 
Universitäten zum Besuche der Wartburg zusammen. Da habe er, als er 
17 Jahre alt war, durch seine Mutter einst einen Studenten kennen gelernt, 
dem er besser als seine Mutter gefallen habe, und habe diese ihn dann 
dem homosexuellen Verkehre zugeführt. 

In vielen, in der Großstadt wohl in den meisten Fällen, 
wirkt das Beispiel anderer Prostituierter ansteckend oder ver- 
führend, sei es, daß diese den betreffenden Jungen direkt auf 
die angenehme und leichte Erwerbsquelle aufmerksam machen, 
sei es, daß er durch eigene Beobachtung auf ihr Treiben auf- 
merksam wird und sich entschließt, ihrem Beispiel zu folgen. 
Nur ausnahmsweise kommt es vor, — und solche Fälle können 
nicht scharf genug verurteilt werden — daß ein Homosexueller 
einen Burschen zur Prostitution verführt, indem er ihn dem 
Geschäfte, in dem er arbeitet, entzieht. Häufiger schon kommt 


480 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


es vor, daß ein junger Mann, welcher, außer Stellung geraten, 
sich vergebens bemüht, wieder in Brot zu kommen, die Be- 
kanntschaft eines Urnings macht, mit dem er gegen Entgelt 
intim verkehrt. Dieser gibt ihm Essen und Kleidung, behandelt 
ihn gut, führt ihn in bessere Kreise ein, was seiner Eitelkeit 
schmeichelt. Der bequeme Verdienst, der ihm, falls er selbst 
homosexuell veranlagt ist, noch dazu Vergnügen bereitet, das 
Faulenzerleben werden ihm so sehr zur Gewohnheit, daß er 
nicht mehr davon lassen kann, auch wenn ihm Gelegenheit 
geboten würde, in ein ehrliches, arbeitsames Leben zurück- 
zukehren. (Schluß folgt). 


9 E 


SPORT UND SEXUALITÄT. 
Von HANS BRUCKE. 

E: hat von jeher Vertreter jener Anschauung gegeben, die 

da heißt: alles ist sexuell, mit anderen Worten: vieles 
Geschehen in uns und um uns ist auf geschlechtliche Ver- 
anlagungen und Empfindungen zurückzuführen. Darin ist ohne 
Zweifel ein sehr wahrer Kern. Leider verwischte sich die 
Klarheit dieses Satzes wieder, und es bedeutete schon einen 
großen Schritt vorwärts, als Zell sein »Überskreuzgesetz« für 
die Zoologie aufstellte und Jäger mit seiner »Entdeckung der 
Seele« an die Öffentlichkeit trat. Dieser stellte Liebe und Haß 
oder sagen wir besser Zuneigung und Abneigung dar als die 
Folge-Erscheinungen bestimmter »Duftwahrnehmungen«. Die 
Träger dieser empfinden Zuneigung, wenn die gegenseitigen 
Duftwahrnehmungen direkt verschiedenen oder doch einander 
widerstrebenden Charakters, sie empfinden Abneigung, wenn 
die Düfte gleichen oder ähnlichen Charakters sind. Wohl- 
bemerkt — der Ausdruck »Düfte« ist falsch; es handelt sich 
hierbei durchaus nicht um bewußt wahrnehmbare Gerüche; 
sondern um Gefühlskomplexe, die wir weiter nicht zerlegen 
können. Die Untersuchung von Erscheinungen aber wie Liebe, 
Freundschaft, Zuneigung und so fort bis zum Haß auf der 
andern Seite gibt uns oft über den Charakter des Einzelnen 
wertvolle Aufschlüsse, zeigt uns die Motive seiner Handlungen 
und legt manch eine Ursache klar, deren Folgen uns bis dahin 
in persönlicher und in sozialer Hinsicht unverständlich waren. 


Сие 
Umdepeinlanre’ou lo 
Vruengherdelatilerte 





MODETORHEITEN. Von JAMES GILLRAY. 


Zu dem Aufsatz »Zur Psychologie des Kostüms«. $. 486. 


Zu dem Aufsatz 
»Zur Psychologie des 
Kostüms-. S. 486. 









PARISER MODEKUPFER (1782). Von DESRAIS. AUGSBURGER MODEKUPFER. Von GÖTZ. 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 481 


Der Sport ist ein soziales Problem. Die sexuelle Frage 
im Sport ist nicht nur eine ärztliche, sondern auch eine päda- 
gogische und eine soziale Frage. Denken wir an den jungen 
Nachwuchs, der noch nicht zum Sport gehört, ihm aber dereinst 
dienen soll. Wieviel ist hier nicht in die Hand des Pädagogen 
gegeben! Und denken wir an das Thema Sport und Weib, 
so ergeben sich nicht nur ärztliche, sondern auch einige ernste 
kulturelle Fragen! 


Der erwachsene Sportsmann muß vor allem über eines 
genauen Aufschluß anstreben: Wie verhalten sich sportliche 
und geschlechtliche Tätigkeit zueinander? Meist wird die 
Erfahrung ihn dahin lehren, daß Höchstleistungen auf beiden 
Gebieten sich miteinander ganz und gar nicht vertragen; daß 
nur das eine auf Kosten des andern entstehen kann, und eins 
stets zu Gunsten des andern zurückgestellt werden muß! Von 
den griechischen Olympiakämpfern verlangte man das Gelöbnis 
absoluter Enthaltsamkeit auch in der Liebe; in unsern Tagen 
verlangt man das gleiche von Rennruderern und zuweilen 
auch von Leichtathleten. Diese Forderung ist gewiß ein 
Zeichen für den schwerwiegenden Einfluß sexueller Betätigung 
auf sportliche Leistungen; und es wäre sehr zu wünschen, 
daß auch in andern Sportarten diese Forderung bei jedem 
schweren Training eine Selbstverständlichkeit würde. 


Nun hat aber auch das schwere Training einmal ein Ende, 
und der Sportsmann, der auf seinen Körper hinreichend acht 
gibt, steht bald vor der andern Frage: Abstinenz oder Ein- 
schränkung? Diese Frage ist auch individuell; keineswegs 
aber ist — in der Regel — die völlige Enthaltsamkeit die 
beste Lösung. Sie erfordert einen beträchtlichen Aufwand an 
Energie und ist dann meist so heimtückisch, zu den un- 
passendsten Zeiten zu Pollutionen zu führen. Eine solche vor 
dem Wettkampf eintretende Pollution vermag die wochenlange 
Arbeit des Trainings zum größten Teil zu vernichten. Auch 
aus diesem Grunde erscheint eine planmäßige Beschränkung 
der geschlechtlichen Tätigkeit die tatsächlich beste Lösung. 


Einzig und allein bei einer Anzahl von Kurzstreckenläufern 
kënnte mam von reiner: planmäßigen:! sexuellen Betätigung 
seden./ Viele Sprinteronämlich:ifühlen: isichiam:'Tageonäach einem 
“eschlechtsakt: derartiigefötdest:iin ihrem! Wohlbefinden; ‚daß 

Geschlecht und Gesellschaft VII, 11. 31 


482 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


sie den Akt systematisch als ein Reizmittel zur Hebung ihrer 
Leistungsfähigkeit benutzen. Tatsächlich laufen sie ein oder 
zwei Rennen besser als unter normalen Umständen, dann aller- 
dings tritt eine umso intensivere Erschlaffung ein. Dem- 
entsprechend kann auch dieses — gewiß eigenartige — Reiz- 
mittel nur bei kurzen Energieleistungen in Anwendung kommen; 
es ist desto weniger angebracht, je mehr die Ausdauer zu 
einem wertvollen Faktor in dem Wettkampf wird. Dann ist 
jeder Verlust an Sperma ein Verlust an Nervenkraft, der un- 
bedingt nachteilig wirkt. 

Übereinstimmend mit dem Satze, daß die planmäßige Ein- 
schränkung der geschlechtlichen Betätigung immer noch die 
durchschnittlich beste Lösung des Problems darstellt, vermag 
man sehr wohl zu sagen, daß solche Betätigung in ihrem aller- 
größten Teil durch erhöhte sportliche Tätigkeit abgelöst zu 
werden vermag. Ob der überschießende, nicht verbrauchte 
Teil nur durch die natürliche Betätigung oder aber auch durch 
feinere psychologische Reize auch wieder psychologisch er- 
ledigt zu werden vermag, ist eine noch nicht genügend ge- 
klärte Frage. Jedenfalls geht das eine aus dem gesagten klar 
hervor: Sport und Weib vertragen sich miteinander nie; denn 
beide wollen den ganzen Mann! 

Das Weib sieht in dem Manne in erster Linie denjenigen 
Teil, der die andere geschlechtliche Hälfte gleichsam des 
Ganzen bildet und daher selbstverständlich voll und ganz zu 
ihm gehört. Daher wird der Sportsmann in dem Weibe 
— gemeint ist hier die engere, dauernde, nichteheliche Ver- 
bindung wie z.B. das »Verhältnis«, denn der Ehemann scheidet 
von selbst aus, — den Faktor erblicken, der ihn nur für sich 
gewinnen will, um ihn körperlich und oft auch geistig mit 
Beschlag zu belegen. Gelingt dieses, dann mag es gewiß zu 
sexuellen Höchstleistungen kommen, der Sportsmann aber wird 
verloren sein. Ob diese Erkenntnis überhaupt jemals in das 
Bewußtsein des Betreffenden tritt, und wie vor allem hernach 
die Entscheidung über das »Entweder — Oder« ausfällt, das 
wird immer in erster Linie Sache der individuellen Veranlagung 
bleiben. Der Mann mit ausgesprochen starkem Sexualbedürf- 
nis wird den Zwiespalt vermutlich nie empfinden, der darin 
liegt, daß er ganz sich den Einfällen und Launen des Weibes 
unterwirft und auf Kosten seiner Männlichkeit nur dem Weibe 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 483 


dient! Er wird, weil er es muß, jedweden Sport mit dem 
Hinweis auf das Kindliche derlei Spielereien strikt ablehnen 
und wird darin von seiner Partnerin heftig unterstützt werden, 
denn sie weiß sehr wohl, daß in allen Männern noch ein weniges 
von jener männlichen Anschauung schlummert, die einer 
körperlichen Leistung ihre Anerkennung nie ganz versagt. Und 
sie weiß auch, daß in dem Maße, in dem solche Anerkennung 
wächst, die Sympathie für die Übungen selbst zunimmt, damit 
aber die Gefahr sich steigert, daß im Betrachter das Gefühl 
der Männlichkeit wächst, er Gefallen und Freude findet an 
den Übungen in rein männlichen Tugenden, und daß er 
damit langsam und sicher dem Weibe entgleitet. 

Das ist die Feindschaft zwischen Sport und Weib! 

Der angedeutete Fall ist freilich zumeist nur eine Aus- 
nahme. Denn der ausgesprochen stark sexuelle Mann wird 
meist das »Verhältnis«e dem Sport vorziehen oder richtiger: er 
wird sein Liebesleben neben seinem Sport gleich hoch werten. 

Anders verhält es sich mit den sexuell weniger stark ver- 
anlagten Naturen. Bei ihnen ist einmal die Möglichkeit größer, 
das Geschlechtsbedürfnis oder doch einen großen Teil davon 
durch sportliche Tätigkeit zu verdrängen; gemeinhin pflegt der 
sexuell weniger Bedürftige das Weib nicht ausschließlich so 
hoch einzuschätzen, daß es ihm über alles ginge! Seine Freude 
an körperlich anstrengender Tätigkeit, an Spiel und Kampf ist 
größer als das Vergnügen an dem Verkehr mit dem andern 
Geschlecht. Er wird aus dem Grunde auf diesen leichter ver- 
zichten, und sein Hauptinteresse dem Sport zuwenden, ohne 
dabei etwas zu vermissen. Jedenfalls lehnt er z.B. ein »Ver- 
hältnis« ab, denn höher als das Weib steht ihm der Sport! 

Auch hier muß die Veranlagung, und zwar die sexuelle 
Veranlagung für ausschlaggebend erachtet werden. Immerhin 
bleibt zu bedenken, daß die Grenzen sich nicht haarscharf 
trennen lassen und die verschiedenen Betätigungsformen in 
einander übergehen. Eins aber ist sicher: es ist ein häßlicher 
Anblick, wenn Sportsleute zu Sportfesten mit ihren Damen er- 
scheinen. Man wird den Eindruck, daß hier etwas Halbes 
sich auftut, nicht wieder los und wird in der Einschätzung 
solcher Sportmen beeinflußt. Es ist eben nur ein verschwinden- 
der Bruchteil, der sowohl dem Sport als auch dem Weibe dienen 
kann, weil beide den ganzen Mann verlangen. Dem Sport 

31* 


484 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


dient derjenige sicher nicht, der ohne »Übermensch« zu sein, 
beides mit einander verquicken möchte! 

Alles in allem: die Beurteilung des Sports durch den 
Einzelnen erscheint stark abhängig von seiner sexuellen Ver- 
anlagung. Von diesem Satz scheint es wie gesagt, nur eine 
Ausnahme zu geben (aber selbst hier ist die Ausnahme nur 
scheinbar): gemeint ist der sportliche Ästhet! 

Der Mann, dem der Sport mehr geworden ist, als eine 
körperliche Übung, dem der Rekord ein Symbol ist für mensch- 
liche Leistungsfähigkeit, der Mann, der in dem menschlichen 
Körper ein Kunstwerk sieht, fähig, zu einer höchsten Schönheit 
entwickelt zu werden. Der Mann, der seinen Körper trainiert, 
um, wie der Künstler, Leistungen zu schaffen, der da startet, 
um das Publikum den Kampf mitempfinden zu lassen, den er 
mit seinen Gegnern austrägt; der Mann, der, kurz gesagt 
Künstlerisches schaffen, begeistern will, nicht nur für Kraft und 
Ausdauer, Schnelligkeit und Energie, sondern auch für die 
Schönheit des menschlichen Körpers; der dem Sport dieses 
neue Ziel stellt — die männliche Schönheit — der uns lehrt, 
daß der Sport hier Verpflichtungen hat, denen er sich nicht 
entziehen kann, will er zum Erzieher der Rasse werden. Der 
Mann, der in diesem Ziel seine Aufgabe sieht, der für dieses 
Ziel kämpft und dafür alles opfert — das ist der andere Typus 
des Sportsmannes: das ist der Ästhet im Sport! 

Das ist der Sportsmann, bei dem das Weib keine Rolle 
spielt; denn Schönheit erkennt er nur dann als solche an, wenn 
sie mit Kraft gepaart ist. Sein Liebesbedürfnis müßte somit 
gleich null sein. Aber er ist über diese Grenze hinweggegangen 
und hat sich von der grobsinnigen Liebe der Schönheit zu- 
gewendet. Von der Schönheit der Dinge zu der des mensch- 
lichen Körpers überhaupt und weiter zu der Idee der Schönheit 
an sich! In deren Dienst stellt er den Sport, er stellt dem 
Sport ein neues hehreres Ziel — die Erziehung zur Schön- 
heit! Das ist der sportliche Ästhet. 

Wie soll man nun hier eine Brücke schlagen von der 
sexuellen Veranlagung zu dieser Art der sportlichen Betätigung? 
Es scheint, daß das Geschlechtliche hier von allem Grob- 
sinnlichen:befreit ist;; und-diei noch übrige feine, zarte-Sinnlich- 
keit bdie iin den Verehrung der: Schönheit ı des omännlichen 
‚Körpers ‘zum: ‚Ausdruck: :kommt, im Sport, wip їп der. Freund. 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 485 


schaft gepflegt und auf diese Weise auf ein soziales Betätigungs- 
feld hinüber geleitet wird. Hier opfert sie — fern von aller 
Erotik — dem Sport, weil sie die Idee der Schönheit anbetet. 
Und nicht selten stammen die großen Idealisten im Sport aus 
diesem Lager; sie dienen der Idee als »Kanonen«, als Trainer 
usf. und dienen ihr mit einer Hingabe, die beweist, wie sehr 
sie der Sache zugetan sind! Sie erfüllen aber auch eine weitere 
Aufgabe: sie dienen sozusagen der männlichen Emanzipation 
vom Weibe, trotzdem sie ihm anhängen. Aber sie meiden es 
nicht und lassen es nicht über sich triumphieren. 

Und das ist die andere größere Feindschaft zwischen 
Sport und Weib! 

Friedrich der Große hat einmal gesagt: Der Mensch ist ein 
unverbesserliches Geschöpf von mehr Gefühl als Verstand. In 
der Tat spielt das Gefühlsleben in unsern Handlungen eine so 
große Rolle, daß wir selten nur über die tieferen Gründe unseres 
Handelns uns klar sind. Das ist schon bei uns Älteren der 
Fall, um wieviel mehr ist er es bei der Jugend! Aber — war 
es nicht immer die Kunst der Erziehung, die guten Saiten im 
jungen Menschen erklingen und die schlechten rosten zu lassen? 
Denken wir hierbei an die sexuellen Gefahren des vielen 
Sitzens für den reifenden Körper: ist auch der Geist willig, so 
ist doch das Fleisch schwach und reißt ihn mit sich. Und 
beide treiben auf einem gefährlichen Wasser, wo sie nicht hin- 
gehören! Der Reiz des Geheimnisvollen und des Neuen hält 
sie hier fest. Demgegenüber kann es nur das eine Mittel 
geben: man nehme unsern Jungen die sexuellen Reize und 
setze bessere an deren Stelle! 

Und diese besseren? Das sind die Ziele, die Spiel und 
Sport ihnen geben! 

Im allgemeinen ist der Ehrgeiz unserer deutschen Jungen, 
körperliche Leistungen zu vollbringen, noch recht groß. 
Mindestens ebenso groß als das Vergnügen an geschlechtlicher 
Ausschweifung. Es bedarf nur der feinen unsichtbaren 
Führung, die sie allmählich vor kleinste und kleine und dann 
vor größere und große Schwierigkeiten des sportlichen Spiels 
stellt! Es bedarf ferner zur rechten Zeit der Erläuterung, daß 
ein Erfolg in Spiel und Sport nur dann erwartet werden kann, 
wenn das Geschlechtsleben in jeder Hinsicht einwandfrei ist. 
(Vgl. Brustmann: Olympisches Trainierbuch Seite 122). Mit 


486 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


andern Worten: das Sichaustoben vom dem wir soviel hören, 
muß hinübergeleitet werden von dem sexuellen Gebiete auf 
das sportliche. Je unmerklicher das geschieht, je erfolgreicher 
hierbei der gesunde körperliche Ehrgeiz der Jungen gereizt wird, 
desto eher gelingt es, Körper und Geist aus den Banden zu 
befreien, die eine verfrühte Erotik um ihn schlangen! 

Der Sport weckt den Ehrgeiz. Der Ehrgeiz stellt den 
Jungen vor die Alternative: willst du im Sport etwas leisten, 
mußt du die geschlechtliche Betätigung lassen; läßt du die 
nicht, dann kannst du im Sport nie etwas leisten! Und 
außerdem bist du ein schlapper Kerl! Die meisten unserer 
Jungen aber kommen einmal an diesen Punkt, wo sie sich selbst 
verachten. Das ist dann der Wendepunkt! Gewiß wird der 
Junge noch straucheln; aber sein Ehrgeiz beherrscht sein Trieb- 
leben mehr und mehr, und es dauert nicht lange, so wird er mit 
siegesfroher Gewißheit der tierischen Erotik den Fußtritt geben- 


ые B 


ZUR PSYCHOLOGIE DES KOSTÜMS 
VOM ROKOKO BIS ZUR GEGENWART. 
Von Prof. Dr. ADOLF THIMME. 


ki wenig man es einem Menschen zum Vorwurf machen 
wird, wenn er sich seine Wohnung nicht nur sauber, 
sondern auch schön und behaglich einzurichten sucht, so wenig 
sollte man es verdenken, wenn er das Bestreben in Betreff 
seiner Kleidung hat. Das sollte man nicht als Putzsucht und 
Eitelkeit ablehnen, sondern als wichtigen Faktor zur ästhetischen 
Bildung und künstlerischen Erziehung würdigen. Denn es 
kann keinem Zweifel unterliegen, daß mit unserer Kleidung für 
uns ein sehr starkes psychologisches und sexuelles Moment 
verknüpft ist. Das ist ganz natürlich, wenn man bedenkt, wie eng 
Mensch und Kleid zusammengehören. Die Kleidung ist mit Recht 
als des engste Wohnhaus des Menschen bezeichnet worden. 

Während unsere eigentliche Wohnung doch in gleicher Form 
bestehen bleibt, auch wenn der Bewohner sie verläßt, so sinkt 
dagegen die Kleidung in sich zusammen und verliert Halt und 
Form, sobald der Mensch herausschlüpft. Kein Wunder also, 
wenn das Lebensgefühl des Einzelnen mit dem Kleide zu- 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 487 


sammenhängt. Ja, viele Menschen nehmen unbewußt und un- 
gewollt mit anderer Kleidung auch ein anderes Wesen an. 
Und zwar (wird man behaupten können), je unbefangener und 
natürlicher ein Mensch ist, desto deutlicher wird sein Gebahren 
von der Kleidung beeinflußt. Man hat das oft an Naturvölkern 
belacht, man kann das aber auch an dem Naturvolk, das unter 
uns lebt, an den Kindern beobachten. Selbst in der Tier- 
welt ist das oft bemerkt worden. Merkwürdigerweise ist es 
hier das männliche Geschlecht, das sein Kleid am meisten 
und auffallendsten wechselt, und hier wird auch gerade die 
selbstbewußte Haltung betont, mit der die Männchen im neuen 
Frühlingskleid um die Geliebte werben. In der Menschen- 
welt ist man im allgemeinen geneigt, dem weiblichen Geschlecht 
nachzusagen, daß es das Kleid am häufigsten wechsle und mit 
einem neuen Kleid auch ein neues Wesen anziehe. Aber wer 
will das im Ernst behaupten? Denn wer kann sagen, zu welchen 
Extravaganzen beispielsweise das männliche Geschlecht verleitet 
werden würde, wenn nicht ein notwendiges Maß ihm auferlegt 
wäre dadurch, daß es bei feierlichen Gelegenheiten durchweg 
in der Zwangsjacke des schwarzen Fracks erscheinen muß! 
Wer es bemerkt, wie sehr ein Männerherz, sogar ein ganz altes, 
zu schwellen vermag, wenn ihm auch nur ein ganz bescheidener 
Orden aufgeheftet wird, der wird es glauben, daß Schmuck und 
Kleidung für den Mann wie für die Frau unter dem Zwang 
eines gleichen sexuellen Egoismus stehen. 

Es ist also sicher, daß sich ein erhöhtes Selbstbewußtsein, 
eine erhöhte Temperatur des Lebensgefühls, bei demjenigen 
einstell, der im Schmuck eines festlichen Gewandes einher- 
geht. Man kann auch nachweisen, daß dieser Faktor längst 
vor der Weltgeschichte mit in Rechnung gestellt ist. Wenn 
es darauf ankam, die Menschen mit höherem Selbstgefühl zu 
erfüllen, das ja auch mit höherem Mute verbunden zu sein 
pflegt, so zog man sie eben schöner an. Vor der Schlacht 
schmückten sich die Spartaner und bekränzten sich mit Lorbeer 
und Blumen, wie zu einem Feste. Der Landsknecht des 16. 
und 17. Jahrhunderts verwandte ein Vermögen auf seine farben- 
prächtigen Gewänder, und noch heute trägt der Soldat darum 
den sogenannten bunten Rock, damit sein Selbstbewußtsein 
gehoben wird, und man wird nicht zu behaupten wagen, daß 
diese List der Weltgeschichte ohne Erfolg geblieben sei. Auch 


488 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


jetzt noch gibt man unsern Kriegern vor der ersten Schlacht 
die Sonntagsgarnitur heraus, weil im Festtagskleid seine Kraft, 
sein Mut wächst, sein Leben in die Schanze zu schlagen. Und 
im Gegensatz dazu wird sich vielleicht auch mancher von uns 
entsinnen, wie das eigene Ichbewußtsein plötzlich dahinsank, 
wenn er merkte, daß an seiner Kleidung etwas nicht in Ord- 
nung war; wenn irgendwo etwas knackte oder riß, während 
er den Blicken der Menschen ausgesetzt war, selbst dann, 
wenn er selbst den Schaden nicht einmal mit Augen sehen 
konnte. 

Ebenso sicher ist es ferner, wenn auch vielleicht schwieriger 
zu verstehen, daß nicht bloß bei dem einzelnen Menschen das 
Selbstgefühl mit der Kleidung differiert, sondern daß auch um- 
gekehrt bei einer großen Menge von Menschen, die eine be- 
stimmte gleiche Kleidungsart tragen, sich ein gemeinschaftliches 
Lebensgefühl oder Körpergefühl einstellen wird, ich meine ein 
Gefühl von der eignen bekleideten Körperlichkeit, das sich in 
einer anderen Generation mit einer anderen Tracht dann wieder 
ändert. So wird z.B. die Gangart, sozusagen das Auftreten, 
einer Generation sich ähneln, wenn alle Individuen gleiche 
Schuhe tragen. Daß die Chinesen durchweg den unsicher 
trippelnden Gang haben, kommt eben von ihren zu kleinen 
Schuhen. Spitze Schuhe mit hohen Hacken bringen auf die 
Dauer notwendig einen andern Gang hervor, als weite, breite 
und leichte Schuhe. Auch heute kann man beobachten, wie 
eine junge Dame, die ungeschnürt und in bequemen Schuhen 
ohne Absätze zum Tennis eilt, anders geht, sich auch im 
ganzen Körper anders bewegt als eine, die in engen Tanz- 
schuhen mit hohen Absätzen und mit festgeschnürter Taille, 
wodurch das zarte Spiel der edelsten und schönsten Musku- 
latur des Körpers von den Schultern bis zu den Hüften ver- 
loren geht, im Ballsaal auf und ab stolziert. 

Es versteht sich also auch von selbst, daß der gezierte 
Rokokomensch des 18. Jahrhunderts eine andere Art hatte, sich 
zu bewegen und zu benehmen, als sie etwa zu gleicher Zeit im 
»wilden Westen« der Bürger der Vereinigten Staaten von 
Amerika haben konnte. 

Umgekehrt dürfen wir aber auch behaupten, daß das Auf- 
treten einer neuen Tracht auch ein neues Bedürfnis 
voraussetzt, ja auch als Zeichen einer neuen geistigen Richtung, 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 489 


einer neuen Weltanschauung gelten kann. Eine neue Zeit und 
neue Menschen schaffen sich also ein neues Kleid. 


Besonders scharf begrenzt und deutlich gegliedert liegt vor 
uns die Entwicklung des Kostüms in der Entwicklungsreihe 
vom Rokoko durch die Zopfzeit zum Empire und wieder zum 
Biedermeierstil. Zugleich ist diese Zeit darum füy uns be- 
sonders interessant, weil das Empirekleid, der mittlere Abschnitt 
dieser Periode, in der Gegenwart, wenn auch in veränderter 
Gestalt, als Reformkleid, wieder auftaucht. Es sind aber in 
dieser Zeit eigentlich nicht 4, sondern nur 2 Grundformen 
vorhanden, insofern der Zopfstil nur ein Übergang vom Rokoko 
zum Empire ist, und der Biedermeierstil nur eine bürgerliche, 
man kann wohl sagen plebejische Imitation des adligen und 
vornehmen Rokoko. Bleiben also 2 Hauptstile: der des ge- 
schnürten und steifen Kostüms, das ist eben Rokoko und 
Biedermeier, und des losen und freien Kostüms, das ist das 
Empire, das in der Gegenwart als Reformkleid seine Auf- 
erstehung feiert. 


Entsprechend den beiden Grundformen der Frauenkleidung 
könnte man vielleicht auch zwei Arten der Behandlung 
der Frauen durch die Männer annehmen. Dem Rokoko ent- 
spräche eine Behandlung der Frauen, die man wohl den 
Porzellanstil nennen könnte, der, von Frankreich ausgehend, 
die Frau als einen Engel mit devoter Ritterlichkeit oder als 
kostbare Nippsache mit höchster Vorsicht behandelt, wobei der 
galante Mann durchweg rein erotische Absichten hat. Dieser 
Stil ist unter der Voraussetzung höchst zivilisierter und vor- 
nehmer Geselligkeit gedacht, und deshalb wirkt der gleiche 
Stil beim Biedermeier ein wenig unecht. Denn einerseits er- 
scheint seine Galanterie als eine Art Anachronismus, und 
andererseits ist seine Geselligkeit zwar weit ehrbarer, aber 
weniger vornehm, vielmehr billig und bürgerlich. _ 


Der zweite Stil ist der Kameradschaftsstil, der, von Eng- 
land und der deutschen Romantik ausgehend, die Frau zunächst 
nicht als geschlechtsverschieden betrachten will, sondern 
als gleichgesinnten und gleichgestimmten Kameraden, und 
mit ihr auf gleich und gleich verkehren möchte. Diese Form 
herrscht im Prinzip im Empire und in der (speziell sogenannten) 
Moderne vor. 


490 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Diese Verkehrsformen reflektieren nun durchaus auch auf 
das Kostüm. Das elegante Rokoko-Kostüm des Kavaliers des 
18. Jahrhunderts mit galloniertem Rock und Spitzenjabot, mit 
Galanteriedegen, in Kniehosen und seidenen Strümpfen ist der 
vollendete Ausdruck der Vornehmheit, aber auch des hoch- 
mütigen und sexuell hyperaktiven Egoismus der herrschenden 
Kaste, das” heißt der Fürsten und des mit ihnen verbündeten 
Adels. Es deutet auf höchste Eleganz der Umgangsformen, 
vollendete Sicherheit des Auftretens, Leichtfertigkeit der Moral, 
raffinierten Lebensgenuß, aber auch ein Aufgehen in Äußerlich- 
keiten und ein Sichbeugen vor dem Zwang der Konvenienz 
und Etikette. 

In gleichem Sinne wie das Männerkostüm ist das Frauen- 
kostüm des Rokoko ein Kleid der Eleganz und Feinheit, aber 
zugleich in erhöhtem Maße ein Kostüm des Zwanges, der 
Steifheit und Geschnürtheit, und zwar erstreckt sich dieser 
Zwang vom Wirbel bis auf die Zehen, von der künstlerischen 
Frisur, dem Reifrock bis auf die engen Schuhe. Die eigent- 
liche Hochburg dieser sämtlichen Festungswerke bildete das 
Korsett, ein von Katharina v. Medici im 16. Jahrhundert er- 
fundener, aus dicht aneinandergereihten Fischbeinstäben zu- 
sammengfügter Brustharnisch. Über dieses und den ungeheuren 
Reifrock floß ein mit vielen Volants garnirtes Seidengewand 
herab und über dieses wieder das mit einer Schleppe ver- 
sehene Obergewand von anderer Farbe, die Kontuche, die, 
mit reichem Besatz geschmückt, vorn auseinanderfiel. Die Ärmel 
reichen bis zum Ellenbogen, der lange, parfümierte Handschuh 
bedeckt den Unterarm. Jede elegante Dame führte eine Perl- 
mutterdose mit schwarzen Schönheitspflästerchen, Fliegen oder 
Müschen genannt, bei sich, die bald in die Augenwinkel, bald 
auf Wange oder Kinn geklebt wurden. Die Schuhe waren 
Stöckelschuhe von buntem Leder oder Atlas, gestickt und mit 
Rosetten geziert, vorn spitz zulaufend und mit hohen spitzen 
Absätzen versehen. 

Das Frauenkostüm des Rokoko ist der Spiegel seiner 
Psyche, und diese Psyche ist masochistisch, denn in dem 
gesellschaftlichen Leben dieser Zeit spielte die Frau natürlich 
die Hauptrolle. Aber überall war diese Rolle durch die 
ungeschminkte Galanterie oder Koketterie bedingt. Die Frau 
war die parfümierte »grande dame«, die schon vormittags in 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 491 


raffiniertem Kostüm, im Bett liegend, die Visiten kourmachender 
Verehrer empfing und nachmittags im Salon auf der Kouchette 
mit dem kleinen Abb& Schökolade trank, oder als ebenso 
parfümierte Schäferin im Park mit eleganten Schäfern mutwillige 
oder graziöse Liebeständeleien trieb, wie die Bilder Watteaus 
sie darstellen; oder endlich am Abend zwischen Tafelfreuden 
und Hazardspiel brillantenübersät ein Feuerwerk des Esprits 
in geistreichen Bonmots, feinziselierten Reimereien ersprühen 
ließ. Es war aber alles nur für den Augenblick berechnet, 
und der Augenblick hat alles verschlungen. In Deutschland 
war das geistige Niveau der Frau damals recht gering, sie ging 
auf im Haushalt, im Alltagsleben, im Putz und Tändeln. Die 
Geschichte der geistigen Kultur Deutschlands verzeichnet da- 
her verschwindend wenig Frauen aus jener Zeit. Weder die 
Zeit Friedrich Wilhelm I. noch Friedrich II, des großen Weiber- 
feindes, war der Entwicklung weiblicher Geistigkeit günstig. 
Erst nach Friedrich d. Gr. Tode, am 1. April 1787, konnte in 
Berlin die erste höhere Töchterschule, natürlich als Privatschule, 
und zwar mit 20 Schülerinnen eröffnet werden. Dagegen hatte 
der König es sich angelegen sein lassen, eine große, öffent- 
liche und mit allerlei wohltätigen Einrichtungen versehene 
Hebammenschule in Berlin zu gründen. Daran nahm er ein 
Staatsinteresse, von einer höheren geistigen Bildung der Frauen 
aber erwartete er nichts. Die große Anregung für die geistige 
Entwicklung der Frauen kam vielmehr von anderer Seite. Es 
war die Sturm- und Drangzeit, die einerseits die Heraus- 
bildung einer edlen Persönlichkeit verlangte und andrer- 
seits den Ruf nach Natürlichkeit und Wahrheit, nach Be- 
freiung von Zwang und Konvenienz erschallen ließ. Daher hat 
diese neue Zeit auch Einfluß auf die Kleidung, aber, da sie 
eine ganz männliche Richtung war, zunächst auf die männliche 
Kleidung. Diese neue Männertracht, die Tracht der Genies, 
wie man Goethe und seine Genossen im Sturm und Drang 
nannte, war die Wertherkleidung, mit der Goethe auch 1775 
in Weimar auftrat: ein blauer Rock, gelbe Weste, Lederhosen, 
die oft in hohen Stiefeln steckten. Es war keine neue Er- 
findung, vielmehr war es die alte Tracht der englischen Land- 
junker, die schon im Landprediger von Wakefield vorkommt, 
zum Reiten und Jagen geeignet, die von England zunächst 
nach Nordamerika verpflanzt wurde. 


492 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Das Kostüm des Bürgers der Vereinigten Staaten 
(der schlichte Rock, die lange Hose, der runde Hut) wurde 
von Benjamin Franklin, dem Gesandten der Vereinigten 
Staaten, seit 1776 in Paris getragen und wurde später durch 

` die Revolution die herrschende Tracht und somit die Grund- 

lage des Männerkostüms auch der Gegenwart. Ein Überrest 
des Rokokokostüms aber blieb noch bis heute in den Stickereien 
und sonstigen Verzierungen der Hoftrachten und Uniformen 
unserer hohen Beamten hängen. 

Auch zur Reform des Frauenkostüms wurden damals schon 
Versuche gemacht, besonders von seiten der deutschen Auf- 
klärer und Philantropinisten. Man rief den gesunden Menschen- 
verstand, aber auch Spott und Satire zu Hülfe im Kampfe 
gegen die Unnatur und ihren greifbaren Ausdruck, das Rokoko- 
kostüm, das aber gerade um diese Zeit, im Jahre 1774, mit 
der Thronbesteigung Marie Antoinettes in alter Pracht noch 
einmal auflebte.e Mit Beziehung auf dieses Kostüm gibt ums 
Jahr 1779 Salzmann in seinem Buche »vom menschlichen Elend« 
eine recht drastische Schilderung vom Ankleiden einer Braut. 
»Der ganze Vormittag des Hochzeitstages«, heißt es da, »wurde 
mit dem Aufputzen der Braut zugebracht. Erst brannte der 
Friseur das Haar, dann kämmte er es aus, dann öffnete er 
eine Schachtel, die mit allerlei ekelhaften Dingen, wie Pferde- 
haar, Menschenhaar, Werg, Schweineschmer angefüllt war, das er 
alles an den Kopf der Braut setzte und strich. Dann machte er 
ihr schönes braunes Haar (mit Puder) weiß. Sobald alle Spuren 
der lieben reizenden Natur vom Kopfe der Braut vertilgt waren, 
ging es mit diesem unseligen Geschäfte auch auf den übrigen 
Körper fort. Man brachte eine Schnürbrust, die das unglück- 
liche Mädchen so stark zusammenpreßte, daß man ihren Leib 
beinahe mit zwei Händen umspannen konnte. Nach Endigung 
dieser entsetzlichen Zusammenpressung fuhr man fort, den 
ganzen Körper zu verunstalten. An die Hüften machte man 
fischbeinerne Auswüchse, die dann durch ein langes, weiß- 
seidenes Kleid überdeckt wurden. Die Braut, dachte ich, lebt 
heute nicht für Gott, nicht für sich, nicht für die Welt, nicht 
für ihren Bräutigam, sondern für ihr weißseidenes Kleid, weil 
sie zu allem andern unfähig ist, und nur ihre Aufmerksamkeit 
darauf richten muß, daß das Weißseidene keine Flecken be- 
komme. Zuletzt wurde ein Bedienter gerufen, der, weil die 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 493 


Braut sich unmöglich mehr bücken konnte, ihr Strümpfe und 
Schuhe anziehen mußte Endlich, da die Braut nun in Gala 
dastand, trat ihr Bräutigam herein, und band ihr einen Schmuck 
um den Hals.« — Die Porzellanfigur war fertig! — 

Die Klagen speziell über die Schädlichkeit und Häßlichkeit 
der Schnürbrust verstummen seitdem nicht mehr. Auch von 
seiten der Künstler machte man Versuche, den Schaden zu 
bekämpfen. Im Jahre 1784 entwirft der Kupferstecher Chodo- 
wiecki ein Reformkostüm, das ein griechisches Gewand ohne 
Korsett darstellt. Chodowiecki drang mit seiner Idee ja zunächst 
durch, aber es muß doch so etwas ähnliches in der Luft ge- 
legen haben, denn die später eintretende Umwälzung der Mode 
hatte in der Tat die gleiche Tendenz. 

Im nächsten Jahre, 1785, sah man auch schon an der 
Gründung der ersten großen deutschen Modezeitung durch 
Bertuch im Weimar, daß ein neuer Geist heraufzog, und daß 
man ein wenig mehr Selbständigkeit dem Auslande gegenüber 
zu erlangen suchte. Im Kostüm selbst gewann auch schon 
ein wenig mehr Lockerheit Platz. Zwar das enggeschnürte 
Korsett bleibt noch in diesem Kostüm der Zopfzeit, aber der 
Rock hat schon einen glatteren, von keinen Volants oder 
Falbeln unterbrochenen Fall. Die beginnende Lockerheit zeigt 
sich zunächst besonders in der Frisur, die statt eines steif aus 
der Stirn in die Höhe gekämmten und gepuderten Berges ein 
allerdings noch überladenes Arrangement von Locken aufweist, 
über dem ein mächtiger, aber leichter Hut thront, aus Stroh 
und Flor gefertigt, oder aus Pappe, die mit bunt couleurten 
Bändern dicht umwickelt wurde. Der Reifrock wird noch eine 
Weile fest gehalten, doch nimmt er bescheidenere Dimensionen 
an. Ein Jahr später ist auch der hohe Hut wieder ver- 
schwunden, die Haare zeigen ein loses und freies, oft sehr 
hübsches Spiel von Wellen und Locken, der Hals ist frei, und 
wird nur durch ein bequemes Busentuch lose bedeckt. Es ist 
das Kostüm der achtziger und beginnenden neunziger Jahre, 
das uns besonders aus den Portraits der Schiller- und Goethe- 
zeit bekannt und lieb ist, Bilder voll geistiger Anmut und doch 
mit einem Zug von würdevoller Hausfraulichkeit. 
ıs:!s PissPrauivon Stein, Charlotte Schiller, Garoline v.Dacheröden, 
Mira: >Körner;, die: Frauen und Freundinnen‘ der: Dichteri ‘aus 
!Weimars-Glasizzeit,; tragen ıdası Kostüm. Auch Corona 


494 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Schroeter, die schöne und liebenswürdige Schauspielerin, 
die Freundin Karl Augusts und Goethes, die als Dilettantin 
auch andre Künste, z.B. die Zeichenkunst, betrieb und für 
etwas emanzipiert galt, kleidet sich so. Eine Fülle von Locken 
umrahmt das klassisch schöne Antlitz, das ein großer einfacher 
Sommerhut mit langem Schleier bedeckt. Das Kleid zeigt 
schon das Streben nach großem und vornehmem Faltenwurf, 
zwar die Taille ist noch fest, aber das Ganze bietet schon 
den Anblick einer künstlerischen Freiheit, ja, es hat in der 
Tat schon etwas Eigenwilliges, Emanzipiertes an sich. Aber 
mit dieser freien Richtung der Kostümierung hatte auch ein 
Kampf der älteren Generation gegen das Neue eingesetzt. Die 
gute alte Zeit wird von den Alten ja regelmäßig auch als die 
moralisch bessere hingestellt, und sie sind geneigt, einen Teil 
ihrer Moralität in den guten, alten Moden zu suchen. Folglich 
untergraben nach ihrer Ansicht die neuen Moden die alte 
strenge Sittlichkeit. Die neue Kleidung der Geniezeit nannte 
man daher spöttisch genial, und an den kleinen Höfen und 
in anderen »vornehmen« Winkeln Deutschlands, wo man schon 
aus Angst vor der Revolution durchweg hochkonservativ war, 
hielt man es noch am Ende des Jahrhunderts mit Nasen- 
rümpfen für »genial«, wenn jemand zu Hofe und in Gesell- 
schaft zu kommen wagte, ohne den sonst schon fast ver- 
schollenen Zopf angesteckt zu haben. 

Aber um den Bestrebungen auf Erneuerung des Kostüms 
zum vollen Siege zu verhelfen, mußte erst ein großes welt- 
erschütterndes Ereignis kommen: das war die französische 
Revolution. Man schwärmte allgemein, und zwar nicht nur in 
Frankreich, für die Wiederaufrichtung der alten Bürgerfreiheit 
von Hellas und Rom. Die neuen Republikaner in Paris wollten 
das auch äußerlich dokumentieren. Aber das antike Männer- 
kostüm ohne Hosen und Ärmel war den Citoyens doch zu 
frostig. So nahm man das republikanische Kostüm der Nord- 
amerikaner an, vor allem den runden Hut und die lose Haar- 
tracht. Im übrigen wirkt zunächst in feinen und gebildeten 
Kreisen das feine und elegante Rokoko noch nach, wie man 
an dem Bilde des schönen und vornehmen Revolutionärs Sériziat 
sehn kann. Er trägt zwar Hut und Rock der Geniezeit, aber 
auch noch ein bescheidenes Spitzenjabot und die kurzen Knie- 
hosen. Später kam ja dann der Spottname »Sansculotte« auf 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 495 


für die Revolutionäre, was wörtlich Ohnehosen bedeutet, es 
war damit jedoch nur gemeint, daß diese Leute keine »culottes«, 
d.h. keine Kniehosen nach alter vornehmer Rokokoweise, 
sondern vielmehr die neuen genialen und ordinären Pantalons 
trugen. 

Das Frauenkostüm dagegen orientierte sich nach der Antike. 
Doch ist es verkehrt, was man wohl in Büchern liest, daß das 
Empirekostüm aus dem revolutionären Hexenkessel Paris so 
plötzlich hervorgesprungen sei. Man hat das allerdings ein 
Menschenalter später behauptet, als man dies Freiheitskostüm 
gern wieder diskreditieren wollte. Liest man aber die gleich- 
zeitigen Modeblätter, so sieht die Sache anders aus. Wir 
sahen schon, daß, dem allgemeinen geistigen Zuge entsprechend, 
das Kostüm auf eine Befreiung aus den Banden des Rokoko- 
kostüms längst lossteuerte. Aber das Korsett hielt doch noch 
stand, bis das Haupt der Königin der alten Mode, Marie 
Antoinette, auf dem Block gefallen war. Selbst im Jahre 1794 
zeigen noch alle Kostümbilder des für Deutschland maßgebenden 
Modejournals von Bertuch feste "Taillen, Zum ersten Mal 
im Januar 1795 taucht das erste Kleid mit loser Taille auf. 
Aber wie bescheiden, wie vorsichtig! Kaum, daß man es von 
den festen Kleidern unterscheiden kann. Und wie wichtig, 
wie revolutionär erscheint dem guten Herausgeber Bertuch 
selbst dies Gewand! Er selbst sträubt sich, wie die Heraus- 
geber von Modeblättern, Schneider und Schneiderinnen, und 
wie ja die fachmäßige und offiziöse Vertretung in allen Hand- 
werken und Künsten von jeher getan, gegen die Einführung 
der durchgreifenden Neuerung. So hat denn auch Bertuch 
dies erste Empirekostüm erst gebracht, als der neue Schnitt 
anderwärts schon durchgedrungen war, und es klingt noch 
wie eine Entschuldigung, was er dabei schreibt: »Dies Kleid 
wird englisch-griechisches Kostüm oder griechisches Hemd ge- 
nannt. Wie eine Mode gewöhnlich übertrieben wird, wenn sie 
erst allgemein zum Durchbruch gekommen ist, so geht es jetzt 
mit der englisch-griechischen Art sich zu kleiden oder der 
weiblichen Kleidung ohne Taille. Die erste Erfinderin davon 
in England war vermutlich eine Dame von Geschmack, die 
über die ihrer Figur nötige Kleidung nachzudenken wußte, 
und fand vielleicht gerade in ihrem durch zu lange Beine und 
einen zu kurzen Leib unverhältnismäßigem Wuchse begründete 


496 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Ursache, diese Kleidungsart, welche die Fehler ihres Wuchses 
aufs Vorteilhafteste verbarg, zu wählen. Sie ward vielleicht 
von einigen jungen, schlank und schön gewachsenen Damen 
glücklich nachgeahmt, und nun war die Epidemie da, steckte 
alle Köpfe an und machte auch hier und da aus kleinen kor- 
pulenten Figuren, die sich nun den Rock herauf unter den 
Busen und hinten unter die Schulter banden, Zwerginnen und 
Pagoden.« 

Man sieht aus diesen Worten, wie Bertuch dem neuen 
Stil und dem ganzen Zuge der Zeit verständnislos gegenüber- 
steht, aber wir werden die Mitteilung als Tatsache anzu- 
nehmen haben, daß ebenso wie die neue Männertracht, so auch 
die neue Frauentracht aus England stammt. 

Bertuch hat in seiner Zeitschrift noch versucht, die alte 
Tracht zu halten, indem er bis zum August 1795 Kostüme mit 
festen Taillen neben den neuen bringt, allmählich jedoch ver- 
schwinden die alten, da sie offenbar niemand mehr machen 
läßt. Das Empire hat gesiegt, und die Form, wie sie nun 
in den 90er Jahren sich in Deutschland entwickelt hat, ist eine 
ebenso maßvolle, wie schöne und würdevolle zu nennen. In- 
zwischen hatten natürlich längst auch die Französinnen die 
neue Tracht mit Begeisterung aufgenommen, sowohl, weil sie 
griechisch, d. h. republikanisch, war, als auch, weil sie körper- 
liche Freiheit brachte. Schon Ende 1795 werden in Frankreich 
offiziöse Weisungen ausgegeben für die neuste, die »neuantike« 
Tracht: »Keine Unterröcke und ein Kleid aus feinem Leinen, 
ausgeschnitten, unmittelbar unter dem Busen gegürtet, im 
Rücken rund und schmal ausgeschnitten, mit kurzen Ärmeln.« 
Leinen, Musselin, Krepp und Perkal waren die Lieblingsstoffe, 
bis Napoleon die Seide als Hofkleid einführte, um die Industrie 
von Lyon zu heben. Daß die Franzosen den Wechsel des 
Kostüms mit dem vollen Bewußtsein seiner Bedeutung vor- 
nahmen, erhellt z. B. aus den Worten von Sergent, dem Prä- 
fenten der »Société populaire des Arts«, der ausruft: »Zu lange 
haben wir das Sklavenkleid getragen, es gilt jetzt eine Tracht 
zu schaffen, welche uns von jedem Zwange befreit und die 
schönen Körperformen nicht verhüllt!« Es ist selbstverständlich, 
‚daß, ‚die, Franzosen die ıneug ‚Tracht: mannigfach :libeittrieben. 
опи BsoScheint! bei allerı,Kleidung: ein spsychologisches: Gesetz 
zu sein, :daß. bei/feierlichen''Gelegenheitensdie jeweilige 





DIE WIRKUNG DER NACKTMODE. KUPFERSTICH von DUTAILLY. 


Zu dem Aufsatz »Zur Psychologie des Kostüms«. 


S. 486. 


ENGL. MODEKARIKATUR AUF DIE GROTESKE 


ÜBERTREIBUNG DER GRÖSSE DES BUSENS 
UND DER LENDEN, 


Zu dem Aufsatz «Zur Psychologie des Kostüms«. S. 486. 





LA BALANCOIRE. PARISER MODEKUPFER 
um 1700. Von F. GUERARD. 





GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 497 


Tendenz derselben bis in Extrem getrieben wird. So lautete 
also die Parole für die Rokokozeit: je feierlicher der Anlaß, 
desto steifer, geschnürter und unbequemer die Kleidung. Für 
die Empirezeit: je feierlicher der Anlaß, desto loser und freier 
die Kleidung. Es wird daher berichtet, daß sich zahlreiche 
Damen im Empire infolge zu leichter Kleidung, zumal im 
Winter, bei Festlichkeiten Krankheit oder Tod geholt. Sie hatten 
eben den Ehrgeiz, auf Bällen womöglich nur mit einer leinenen 
oder seidenen Tunika und mit einem ebenso dünnen Himation 
als Überwurf darüber zu erscheinen, um ganz wie eine echte 
Griechin zu sein. Infolgedessen war auch das französische 
Empire in sexueller Hinsicht mitunter skrupelloser als das 
englische oder deutsche. Aber auch in England und Deutsch- 
land fand die Partei der Alten das neue Kostüm unsittlich 
und aufreizend. Aus welchen Gründen das bisweilen geschah, 
ersieht man z. B. aus einer Theaterkritik, die eben auch das 
Bertuchsche Journal im Jahre 1794 brachte. »Als Madame 
Baranius«, heißt es da, »auf der Bühne erschien, schrie alles 
um und neben uns: Wie schön sie ist und wie kostbar an- 
gezogen! In Ansehung dieses Punktes wünschen wir aber herz- 
lich, daß sie nicht in die Grenzen der rohen Natur zurück- 
geht, wie sie es in der Szene tut, wo sie als Doris mit bis 
ganz an die Schulter hinauf wirklich nackten Armen 
erscheint. Diese Natur auf der Bühne ist aller Moralität zu- 
wider und erweckt Ekel. Wie anständig und sittsam war da- 
gegen Madame Müller als Ophelia gekleidet, sie hatte die 
Natur, wie es einem gesitteten Frauenzimmer geziemt und wie 
es noch auf jeder gesitteten Bühne in dergleichen Fällen Brauch 
war, mit fleischfarbenen atlassenen Ärmeln verschönt.« 

In Deutschland kommt der Durchführung des neuen 
Kostüms übrigens noch ein besonderer Umstand zugute. Es 
ist das die seit dem Sturm und Drang immer stärker werdende 
Tendenz auf eine Heranziehung des weiblichen Geschlechts zu 
höherer geistiger Bildung, speziell zu literarischen Interessen. 
Es ist merkwürdig, aus der Literaturgeschichte zu ersehen, wie 
die Frau fast plötzlich aus dem geistigen Dunkel hervor neben 
den Mann tritt. Es hatten sich zwar schon seit der Sturm- 
und Drangzeit der 70er Jahre Männer und Frauen zusammen- 
getan — noch nicht im Göttinger Hainbund, der nur aus 
Männern bestand, aber wohl schon in der Darmstädter Ge- 

Geschlecht und Gesellschaft VIII, 11. 32 


498 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


meinschaft der Heiligen, zu der Goethe gehörte — zu gemein- 
samer Pflege der Literatur oder auch nur der Empfindsamkeit 
und des Gefühls für schöne Natur. Goethe ist trotzdem der 
erste, dessen Leben wir auf Schritt und Tritt von Frauen be- 
gleitet sehen, so daß wir, um ihn zu verstehen, fortwährend 
jene, die ihn anregten, fragen müssen. Ferner wandten die 
Philanthropinisten auch dem weiblichen Geschlecht ihre Für- 
sorge zu in der Erziehung zu geistigen Kenntnissen, zur Freiheit 
und zur Natur. Die Gründung der ersten höheren Töchter- 
schule 1787 bedeutete damals doch noch weit mehr als heut- 
zutage die Eröffnung der ersten weiblichen Lyceen. Endlich 
steigerte die alles mit fortreißende poetische Tätigkeit Goethes 
und Schillers die geistige Empfänglichkeit der deutschen Jugend, 
die in den 90er Jahren in den Berliner literarischen Salons und 
in der jugendlichen Genossenschaft der ersten Romantiker in 
Jena gipfelt. Kurz, alles trug dazu bei, für das neue Wesen 
auch einen neuen körperlichen Ausdruck, sozusagen ein Symbol, 
zu suchen. Es ist eben psychologische Notwendigkeit, daß ein 
geistiges Streben auch auf den Körper und sein Aussehen, 
und zwar nicht nur auf den Gesichtsausdruck, sondern auch 
auf Gang und Haltung, auf Kleidung und Haartracht reflektiert. 
Somit sieht denn auch eine Frau, die ihr Leben am Kochherd 
und in der Kinderstube hinbringt, anders aus, als eine, die sich 
einer wenn auch bescheidenen Geselligkeit und geistiger Inte- 
ressen nicht entwöhnt hat. Wieder anders die eigentliche Ge- 
sellschaftsdame, die in großem und formellem Verkehr lebt, und 
wieder anders diejenige, die in einem kleineren Kreise geistig 
angeregter Männer und Frauen sich geistig zu steigern und zu 
entwickeln sucht. Dieser letzte Typus tritt mit der beginnenden 
Empirezeit und der Frühromantik zum ersten Male auf. Aus 
der bloßen Anregerin der Muse des Mannes wird sie zu einer 
Gehülfin, zu einer Mitarbeiterin, einer Kameradin, ja zu einer 
neben dem Manne nach Gleichberechtigung und gleichem An- 
sehen strebenden selbständigen Künstlerin und oft geradezu 
zum Mittelpunkt eines literarischen Salons oder einer künstle- 
rischen Clique. Unter sich außerordentlich verschieden zeigen 
doch diese Frauen alle den Zug großer geistiger Selbständig- 
keit und Freiheit auch dann, wenn sie zugleich die tugend- 
haftesten, besten Hausfrauen sind. Schon Karoline v. Wolzogen 
gehört hierher, die Schwägerin Schillers, und Karoline Schlegel, 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 499 


Rahel Levin und Henriette Herz, oder, um ein paar Französinnen 
zu nennen, die Frau von Sta&l und Julie Recamier. 

In den Annalen der Literaturgeschichte dokumentiert sich 
dies bedeutsame Hervortreten der Frau in der Empirezeit durch 
ein gewaltiges Anwachsen der Zahl der Schriftstellerinnen. Aber 
wenn sie auch nicht als solche hervortraten, so haben die 
Frauen doch häufig etwas Künstlerisches im Wesen und Aus- 
sehen. Man sieht das an manchen Bildern aus jener Zeit, z.B. 
an dem Porträt von Karoline Schlegel, die den geistigen 
Mittelpunkt der ersten romantischen Schule in Jena um 1797 
bildete. 

Sie ist als Schriftstellerin nicht hervorgetreten, obwohl sie 
ihrem Mann vielfach bei seinen literarischen Arbeiten geholfen 
hat, sowohl bei seinen kritischen Arbeiten als bei seiner be- 
rühmten Shakespaerübersetzung. Ihre entzückenden Briefe 
legen Zeugnis ab von ihrer künstlerischen Begabung. Ihr 
Schwager F. Schlegel entwirft von ihr folgende Schilderung: »In 
ihrem Wesen lag jede Hoheit und jede Zierlichkeit, jede Gott- 
ähnlichkeit und jede Unart, aber alles war feingebildet und 
weiblich. Frei und kräftig äußert sich in ihr jede Eigenheit, 
als sei sie nur für sich allein da, und dennoch war die reiche, 
kühne Mischung so ungleicher Eigenschaften nicht verworren, 
denn ein Geist beseelte sie, ein lebendiger Hauch von Harmonie 
und Liebe. Sie konnte in derselben Stunde irgend eine komische 
Albernheit mit dem Mutwillen und der Feinheit einer gebideten 
Schauspielerin nachahmen und ein erhabenes Gedicht vorlesen 
mit der hinreißenden Würde eines kunstlosen Gesanges. Bald 
wollte sie in Gesellschaft glänzen und tändeln, bald war sie 
ganz Begeisterung, bald half sie mit Rat und Tat, ernst, be- 
scheiden und freundlich wie eine zärtliche Mutter. Eine ge- 
ringe Begebenheit war durch ihre Art, sie zu erzählen, so 
reizend wie ein schönes Märchen. 

Zu dieser geistigen Schönheit und Freiheit, der weltlichen 
Sicherheit, dem selbständigen Auftreten dieser Frauen paßte 
das Empirekostüm ausgezeichnet. Es ist das Kostüm des 
stets wechselnden Faltenwurfs, des künstlerischen Einher- 
schreitens, der vornehmen Anmut, zwar nicht der tändelnden 
Grazie des Rokoko, sondern des frei auf der Höhe wandelnden 
Lebenskünstlertums, aber auch der königlichen Vornehm- 
heit einer Königin Luise. Es traf sich ja so, daß die Früh- 

32% 


500 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


romantik der Empirezeit gerade zu der Zeit erblühte, als in 
Berlin das junge Königspaar Friedrich Wilhelm III. und die 
Königin Luise den Thron bestiegen. Sie ist ein Typus der 
Empirezeit und eine echt romantische Frau, schon darin, daß 
sie so bedeutungsvoll neben ihrem Manne hervortritt. Sie ist 
weit reicher an Eigenschaften des Geistes und Herzens, sie 
ist auch weit selbständiger als dieser. Ihr jubelt daher Novalis, 
der Dichter der Romantik, in vollen Tönen zu ... 

Das Empirekleid entwickelt sich nun weiter, so daß 
jeder Anklang an das Frühere verschwindet. Es wird ein frei 
in losen Falten den Körper verhüllendes, aber auch zeigendes 
Gewand. Während das feste Korsett eine gerade und selbst 
steife Haltung erzwang, war jetzt große Übung und Kunst an- 
zuwenden, um in der Bewegung wie im Sitzen und Liegen den 
Faltenwurf schön erscheinen zu lassen. Man erkannte wieder 
wie im griechischen Altertum die feine Frau an der Vornehm- 
heit des Faltenwurfs. Ganz allgemeinist dabei dieSchleppe 
für alle feineren Gewänder im Gebrauch. Denn in dem Motiv 
der lang herabfließenden Falten, die durch die lose Gürtung 
unter der Brust entstehen, liegt zugleich das Motiv der Schleppe 
als Abschluß, weil es zur gemessenen Bewegung und ruhigen 
Würde auffordert und den Falten eine gewisse Stabilität ver- 
leiht. Bei Alltagskleidern trug man die Röcke wenigstens bis 
auf den Fuß fallend. Die Stoffe, die in der Rokokozeit durch- 
weg stark gemustert waren, werden jetzt mit wenig auffallen- 
den oder ganz ohne Muster hergestellt, da ein lebhaftes Muster 
die Wirkung des Faltenwurfs beeinträchtigt. Als Farbe herrscht 
das schlichte Weiß vor, dazu werden hellfarbige Tücher, Über- 
würfe oder Mäntel getragen in blau, violett oder gold. 

(Schluß folgt). 





BEMERKUN GEN ÜBER MELANCHOLIE, IMPOTENZ 
UND TRIEBANOMALIEN. 


Von Dr. PAUL ZIMMERMANN. 


р“ Geschlechtstrieb ist die eigentliche Quelle menschlicher 
Kraft, er schafft die großen Momente im Leben, er ordnet 
indirekt die Geschichte, soweit sie nur ein Ausdruck des 
ungeheuren Gefühlslebens der Masse erscheint. Er ist aber 
auch andererseits die letzte geheime Quelle, aus der die großen 
Verirrungen des Lebens, die mannigfaltigen Varianten des Ver- 
brechens stammen. Es ist begreiflich, daß man nach dem 
»Woher?« und »Wie beschaffen?« des gleichsam in den Urtiefen 
des Organismus brauenden Stromes der Sexualität gefragt, 
und daß man die Abhängigkeit des gesamten Lebens von den 
sexuellen Einflüssen zu erforschen gesucht hat. Vollständige 
Klarheit besteht in der Beantwortung dieser Fragen nun aller- 
dings nicht, nur soviel steht fest, daß der Geschlechtstrieb zu 
den psychischen Vorgängen zu rechnen ist, und daß seine 
Intensität und Richtung durchaus nicht willkürlich geregelt 
werden kann. Es dürfte sich beim Geschlechtstriebe wohl um 
eine ähnliche psychische Disposition handeln wie bei den 
übrigen geistigen Anlagen, die blutsmäßig vorhanden sind, und 
die sich als ein latenter Komplex von unbewußten Vorstellungen 
forterben. Stärke und Richtung des Geschlechtstriebes sind 
durch die Summe der geschlechtlichen Energien der Vorfahren 
bestimmt, wozu sich eine gewisse Abhängigkeit von chemischen 
Vorgängen im männlichen und weiblichen Organismus, eine 
Beeinflussung gleichsam des Zentrums durch die Sekretion der 
Sexualdrüsen gesellt. Die zentrale Bedingtheit des Geschlechts- 
triebes hat somit zur Folge, daß die Theorie von dem Erwachen 
und Fortleben der Sexualempfindung auf Grund von Keim- 
drüsenabsonderungen nicht in dem Umfange aufrecht erhalten 
werden kann, wie es noch in den letzten Jahren geschah. Man 
nimmt neuerdings an, daß Pubertät und Klimakterium keines- 
wegs Folgen von ÖOvarialhormonen sind, sondern, daß das 


502 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


schnellere Ausreifen der Keimdrüse und die dadurch bewirkte 
Anzahl von Geschlechtsunterschieden, bezw. die dement- 
sprechenden Bildungen des Klimakteriums nur Symptome der 
beiden wichtigen Etappen des Geschlechtstriebes darstellen. 
Obwohl es sich nun beim Geschlechtstriebe.um eine zentrale 
Disposition handelt, die nicht erst durch die Funktionen der 
Keimdrüse ins Leben gerufen wird, so machen sich hier gleich- 
wohl zahlreiche Zwangsassoziationen geltend, die mit den periferen 
Genitalorganen zusammenhängen, der Art, daß bei vorhandenem 
Sexualtriebe ein Vorgang in der Genitalzone sofort eine gleich- 
wertige Reaktion im Zentrum erzeugt. Die Beeinflussung ist 
aber auch eine wechselseitige, indem umgekehrt ein zentraler 
Prozeß auf die periferen Organe hinübergreift und sie sozusagen 
aus ihrer Ruhe aufstört und zur Tätigkeit anregt. Dieses 
selbständige Eingreifen vom Zentrum aus ist durch eine Reihe 
von Erscheinungen, an die namhafte Forscher ihre Beobachtungen 
geknüpft haben, erwiesen. Bereits Gall hat den Satz aus- 
gesprochen: »Que l’instincte de la reproduction est une fonction 
du cerveau et appartient nullement aux parties sexuelles«, 
(Citat nach Moll, Untersuchungen über die libido sexualis. 
Seite 619 ff.) Gall stützt seine These unter anderem durch den 
Hinweis, daß mitunter Kinder von 2—5 Jahren, bei denen die 
Keimdrüsen vollständig noch außer Tätigkeit gestellt sind, 
geschlechtliche Empfindungen und ein Hinneigen zu wollüstigen 
Akten zeigen können, daß ferner Greise und Kastraten sich 
stark libidinös benehmen, und daß schließlich Frauen, bei 
denen die Gebärmutter nur mangelhaft entwickelt ist oder 
gänzlich fehlt, nichtsdestoweniger von einem starken Sexual- 
triebe beherrscht sein können. Ähnliches sagen Freud, Forel 
und Hirschfeld aus, von denen letzterer in seinen Kastraten- 
studien das Vorhandensein des Geschlechtstriebes bei Eunuchen 
an Hand eines stichhaltigen Materials einwandfrei nachgewiesen 
hat. Ellis zitiert in seinem Buche »Mann und Weib« eine 
Reihe von medizinischen Schriftstellern, die ähnliche Bekundungen 
aufgestellt haben. Ein weiterer Umstand, der für die zentrale 
Bedingtheit des Geschlechtstriebes spricht, ist seine ausnehmende 
Beeinflußbarkeit von örtlichen Erscheinungen im Gehirn, die 
krankhafter Natur sind. Es ist bekannt, daß die größere Zahl 
der Geisteskrankheiten zu stärkeren oder schwächeren Ver- 
änderungen des Sexualtriebes führen, daß Erkrankungen des 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 503 


Cerebralsystems neben einer abnorm gesteigerten Libido alle mög- 
lichen Arten von Perversionen als Begleiterscheinungen aufweisen. 

Interessant ist nun der Zusammenhang zwischen seelischer 
Depression, Melancholie und einem abnormen sexuellen Leben, 
soweit derartige Erscheinungen im gewöhnlichen Leben be- 
obachtet werden und sich zur Plage des ansonst normal 
Empfindenden entwickeln können. Die Frage ob Melancholie 
allein imstande ist einen normalen Geschlechtstrieb ins Gegen- 
teil zu verkehren, gewinnt ihre Bedeutung schon durch den 
Umstand, daß seelische Depressionen im Allgemeinen einen 
nachweisbaren ungünstigen Einfluß auf das Sexualempfinden 
jedermanns zu üben imstande sind. Jedermann wird wohl 
wissen, daß es bei ihm Stunden der Erschlaffung, eines Ver- 
sagens jeder schöpferischen Energie, einen Ekel vor Erlebnissen, 
kurz, Momente eines sogenannten moralischen Bankerottes ge- 
geben hat. Die Gründe sind mannigfaltiger Natur. Sie werden 
zumeist im Fehlschlagen wichtiger Unternehmungen, in Zer- 
würfnissen mit sympathischen Personen, in körperlicher Indis- 
position, im Wetter usw. gefunden. Es fragt sich jedoch, ob 
die sogenannte »schlechte Laune« tatsächlich von außen her, 
durch Rheumatismus oder eine Magenverstimmung verschuldet 
wird. Seelische Depression paart sich in der Regel mit der 
Furcht vor etwas Unbekanntem, sei es den Folgen der als 
unangenehm empfundenen Ereignisse, oder in der Enttäuschung 
über das Ausbleiben anderer, die eine Erhöhung des persön- 
lichen Wohlbefindens im Gefolge gehabt hätten. Melancholie 
ist nichts anderes, als Furcht und Hoffnung inbezug auf das 
Unbekannte, das selbst wiederum einen eindeutigen sexuellen 
Untergrund aufweist. Dieses Unbekannte ist eine Äußerung 
des zentral wirkenden Geschlechtstriebes, die sich auf 
ein fernes sexuelles Erlebnis gründet. Loewenthal weist in 
seinem Buch Ȇber die sexuelle Konstitution und andere 
Sexualprobleme« darauf hin, daß depressive Akte erregend auf 
die Sexualsphäre einwirken können. »Dies gilt«, — sagt der 
Autor — »vor allem von der Angst, welche zwar die Libido 
nicht weckt, aber durch Einwirkung auf die genitalen Lumbal- 
zentren sexuelle Erregung hervorrufen kann, die bis zur Aus- 
' lösung von Pollutionen sich steigert.«e Über die Grundelemente 
der Furcht und der Angst hat andererseits die psychoanalytische 
Forschung, die auf den Erkenntnissen Freuds fußend, alle 


504 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


wichtigen psychischen Regungen nach ihren Quellen durch- 
forscht hat, unterrichtet, anderseits empfinden wir es instinktiv, 
daß Furcht und Angst irgend ein unterdrücktes Sexualwunsch- 
erlebnis symbolisieren. Die Anamnese psychischer Depressionen 
ergibt auch sehr häufig, daß die mißvergnügte Stimmung oder 
Melancholie mit dem Sexualleben des Patienten innig zusammen- 
hängt und vor allem von seinem unterbewußten sexuellen 
Wunschempfinden bestimmt wird. Ich möchte den Gedanken- 
gang an Hand nachfolgender Skizze aus meinem Beobachtungs- 
material verständlicher machen: Ein Kaufmann, 43 Jahre alt, 
in angesehener Position, Junggeselle, leidet an periodisch 
wiederkehrenden Anfällen schwerer Melancholie, während deren 
Bestehen er zu jeder Arbeit unfähig ist und mit peinlich 
krankhafter Scheu sich auch vom Verkehr mit seiner Umgebung 
abschließt. Die Anfälle, die immer transitorischer Natur sind, 
charakterisieren sich neben den gewöhnlichen Symptomen 
durch Schweißausbruch, andauernde Herzpalpitation, aus- 
gesprochene Platzangst und ein völliges Versagen der Libido. 
P. fühlt sich in dieser Zeit als gänzlich impotent, woran sich 
auch ein allgemeines körperliches Unbehagen knüpft. Allmählich 
bessert sich der Zustand, Appetit und Arbeitslust werden wieder 
normal, der Geschlechtstrieb stellt sich wieder wie früher ein 
und der Zustand der allgemeinen Besserung kennzeichnet sich 
durch eine Form psychischer Reaktion, indem P. sich in den 
Tagen darauf regelmäßig 2 bis 3 Nächte hindurch einem sexuell 
anspruchsvollen Leben hingibt. 

Die Frage nach dem Grund der periodisch wiederkehrenden 
Depression ist m. E. dahin zu beantworten: P. ist Junggeselle 
und von dem lebhaften Wunsch beseelt, ein dauerndes Ver- 
hältnis zu finden, bzw. einen eigenen Hausstand zu gründen. 
jedesmal, wenn P. mit einem ihm sympathischen weiblichen 
Wesen in nähere Berührung tritt, folgen kurze Zeit darauf die 
eben geschilderten Anfälle von Melancholie, die schließlich 
mit sexuellen Ausschweifungen endigen. Dem Wunsch, seine 
Träume zu realisieren, steht zweifellos eine uneingestandene 
Furcht vor den Schwierigkeiten einer Eheschließung entgegen, 
da P. mit Rücksicht auf sein Alter und auf eine in jungen 
Jahren überstandene gonorrhoische Infektion, nach der ein 
Blasenkatarrh zurückgeblieben ist, in seinen endgültigen Ent- 
schließungen immer im entscheidenden Moment sich gehemmt 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 505 


fühlt. Die vorgeschilderten Symptome, wie Herzklopfen, 
Schweißausbruch und Platzangst hängen mit diesen Befürch- 
tungen auf das Engste zusammen. Das vorübergehende Er- 
löschen der Libido erklärt sich aus den intensiven Furchtgefühlen 
vor einer möglichenImpotenz und der damit verbundenen Blamage 
im Ehebett. Darüber hinaus besteht der intensive Wunsch ein 
dauerndes Verhältnis um jeden Preis einzugehen und die 
Hoffnung, in einem derartigen Verhältnis Kinder zeugen zu 
können. P. ist — was ihn überaus charakterisiert — nebstbei 
großer Kinderfreund, während der Dauer seiner Anfälle jedoch 
hält er alle Kinder von sich fern und ist, wo er notwendig 
mit solchen zusammentrifft, entgegen seiner sonstigen Natur 
barsch und unzugänglich. Die Melancholie resultiert in diesem 
Falle aus einer unbefriedigten Sehnsucht nach ehelicher Ge- 
meinschaft, der sich die Furcht vor einer vorzeitigen Ver- 
brauchtheit der sexuellen Potenz infolge einer Jugendinfektion 
gesellt. 

Die Angst vor einer Rückwirkung früherer geschlechtlicher 
Erkrankungen und einer damit verbundenen vorzeitigen Impotenz 
ist schlechtweg für die Gesamtzahl der Melancholiker sympto- 
matisch. Auch bei Aufzählung der Momente, die nach der 
stark angefeindeten Meinung einzelner Autoren das vorerwähnte 
männliche Klimakterium ergeben, spielt die Melancholie eine 
nicht zuunterschätzendeRolle. Lewandowsky,der den Symptomen- 
komplex des männlichen Klimakteriums zusammenfassend be- 
schreibt, erwähnt neben Angst und innerer Unruhe besonders 
das Insuffizienzgefühl, aus dem sich eine Steigerung der 
Mißverstimmung bis zu Suizidgedanken ergibt, betont aber 
allerdings die Schwierigkeit, psychische Störungen nicht inner- 
sekretorischer Natur und echte Depressionen auszuschließen. 
Der Umstand, daß die im Beginn gesunkene Libido nach Ab- 
lauf der klimakterischen Störungen wieder ansteigen könne, 
spräche dafür, daß mindestens in einer Anzahl von Fällen die 
genitalen Störungen durch die psychischen bedingt wären und 
nicht umgekehrt. Die Meinungen, ob es ein dem weiblichen 
Klimakterium gleichwertiges männliches Übergangsstadium gibt, 
sind wie gesagt sehr verschieden und wir wollen uns mit ihnen 
an dieser Stelle nicht auseinandersetzen. Soviel jedoch 
scheint festzustehen, daß sowohl die im Übergangs- 
alter auftretende Impotenz, (ähnlich wie der Johannis- 


506 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


trieb), zum großen Teil erst als eine Folge der aus 
unterdrückten Sexualwünschen resultierenden Melan- 
cholie zu betrachten ist. Jede vorzeitige Impotenz, die 
von depressiven Stimmungen begleitet ist, muß eher als eine 
Folge der Melancholie als umgekehrt betrachtet werden. Für 
den Ursprung der Melancholie als Summe von Angst, 
Furcht, im unterbewußten Wunschempfinden, ist aus- 
schlaggebend, daß die depressive Stimmung mitunter 
von einem Auftauchen abnormaler Empfindungen, bzw. 
direkter Perversionen verbunden ist. Einen solchen Fall 
berichtet beispielsweise Sullivan, wo es sich um einen 21 jährigen 
Mann handelt, der nur in Anfällen von Melancholie einen 
homosexuellen Geschlechtstrieb aufwies. Nach Tarnowsky 
sollessogareinedurchMelancholiebedingeteperiodische 
Päderastie geben. Moll beschreibt in seinen »Untersuchungen 
zur Libido sexualis« den Fall eines 50jährigen alten Herrn, 
aus der bürgerlichen Gesellschaftsgeschichte, der alle vier 
Wochen von einem intensiven Trieb zum Manne befallen wurde. 
»Wenn ihm diese Gedanken kommen, so sei zeitweise die 
Geschlechtserregung so groß, daß er alles, Frau, Familie, Arbeit 
im Stiche läßt und wie ein Besessener umherläuft, um einen 
Mann zu treffen, Moll weist auf die Ähnlichkeit mit Epilepsie 
in diesem Falle hin und sucht die Hauptquelle der periodisch 
auftretenden Anomalie in zentralen Vorgängen. Daß es zentrale 
Vorgänge auch in der Tat sein dürften, beweist die regel- 
mäßige Wiederkehr der Triebverirrungen, die mit 
Symptomen depressiver Natur deutlich verbunden ist. 
Ich möchte hier nicht die Erkenntnisse von Professor Fließ 
unberücksichtigt lassen, der die Periodizität sexueller 
Funktionen ebensogut beim Manne wie beim Weibe nach- 
gewiesen hat, und einen der weiblichen Menstruation periodisch 
wiederkehrenden Vorgang im männlichen Organismus annimmt. 
Es liegt nun an der Hand, daß die im Zeitraum von 21 bis 
25 Tagen wiederkehrende männliche Periode mit einem Frei- 
werden von größeren Mengen libidogener Stoffe verbunden 
ist, die eine erhöhte Reizung der diesbezüglichen Zentren nach 
sich ziehen und gleichzeitig latente Eindrücke, die aus derKindheit 
stammen, oder auf einer vererbten Disposition beruhen, freimachen. 
So ist es möglich, daß ein homosexuelles Erlebnis der Kindheitsjahre 
bzw. die im Blute lebendig vorhandere Erinnerung an abnormale 


508 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


nur mangelhaft auszuführen pflegen. Daher sind die Stimmen, 
die neuerdings in ärztlichen Kreisen laut geworden sind und die 
bei Schüleraufnahmen ein ähnliches Verfahren wie das bei 
militärischen Assentierungen übliche fordern, durchaus gerecht- 
fertigt. Zur Teilnahme an den Turnübungen sollten nur 
körperlich gesunde, durch keinerlei Krankheiten orga- 
nischer Natur behinderte Individuen zugelassen wer- 
den. Andererseits muß aber auch eine viel größere Rücksicht 
auf die sexuellen Gefahren des Turnunterrichts genommen 
werden, die bei der bestehenden Einteilung des Lehrplanes 
selbst von den gewissenhaftesten Lehrern häufig nicht ver- 
mieden werden können. 

Der Turnunterricht umfaßt zwei Hauptgruppen sportlicher 
Betätigung. Einmal die Bewegungsspiele und zum andern das 
Geräteturnen. Während die Bewegungsspiele zum großen Teil 
in allen Etappen des Unterrichts gleichmäßig betrieben werden, 
tritt das Geräteturnen an die Jugend in einem viel zu frühen 
Alter und in allzu begünstigtem Ausmaß gegenüber allen übrigen 
sportlichen Betätigungen in den Vordergrund. Allgemein beginnt 
man bereits im zartesten Alter, also bei 7- und 8jährigen Knaben, 
mit einfachen Kletterübungen, Ring- und Barrenturnen, wozu sich 
auch der nach anderer Seite hin ziemlich unheilvolle Lauf- und 
Seilsprung hinzugesellt. Alle die genannten Übungen begünstigen, 
weil die Knaben in den meisten Fällen in dem gefährlichen Alter 
vor und um die Pubertät sich befinden, das Erwachen sexueller 
Empfindungen, die durch den näheren Kontakt der Geräte mit 
den Genitalorganen hervorgerufen werden. Die Kletterübungen, 
sowie das Reck- und Barrenturnen sind in diesem Punkte be- 
sonders verhängnisvoll, und es ist erwiesen, daß im Anschluß 
an die dabei zustande kommenden Reizungen die Knaben in 
zahlreichen Fällen zu masturbatorischen Handlungen hingeleitet 
wurden. Der Lehrer glaubt den Kindern dadurch einen be- 
sondern Gefallen zu erweisen, wenn er ihrem fast immer leiden- 
schaftlich geäußerten Wunsche nach dem Geräteturnen Gehör 
schenkt. In Wirklichkeit leistet er nur dem Emporwuchern der 
oben geschilderten schädigenden Einflüsse Vorschub. Es ist 
tatsächlich vorgekommen — aus meiner eigenen Erfahrung 
stehen mir unzählige derartige Fälle zur Verfügung — daß 8- und 
Yjährige Knaben durch die Kletter- und Barrenübungen erst auf 
die geheimnisvolle Mission ihrer bis dahin ruhenden Geschlecht- 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 509 


lichkeit aufmerksam gemacht wurden. Ein junger Mann, den ich 
im späteren Leben als einen exzessiven Masturbanten wiedertraf, 
und der nebstbei eine homosexuelle Veranlagung aufwies, gestand 
mir, daß die ersten sexuellen Regungen bei ihm im Alter von 
7 Jahren, nach einer Turnstunde, in der auf Kletterstangen geübt 
wurde, aufgetreten seien. Das Heruntergleiten von einer be- 
trächtlichen Höhe an der glatten Stange verursachte ihm merk- 
würdige Empfindungen in der Genitalsphäre und veranlaßte ihn 
dazu, sich bei Kameraden zu erkundigen, ob sie ähnliches an 
sich bemerkt hätten. Der praktische Erfolg dieser Umfrage, bei 
der er von mehreren Seiten zustimmende Aussagen erhielt, war 
zunächst eine Aussprache der Jungen untereinander über die 
empfundenen Annehmlichkeiten, deren Wiederholung durch eine 
andere ähnliche Reizung dann wiederholt angestrebt und erzielt 
wurde. „Ich habe es dem Turnunterricht zu verdanken,“ schrieb 
mir der betreffende Gewährsmanns, „daß ich zur Erkenntnis 
meiner eigentlichen homosexuellen Veranlagung gelangte.“ Ob- 
wohl also das Turnen an Geräten seinen unbestrittenen Wert 
für die körperliche Jugenderziehung besitzt, muß im Interesse 
der Jugend die Grenze, wo es beginnen darf, möglichst hoch, 
nicht vor die vollendete Pubertät angesetzt werden. Abgesehen 
davon, daß das Turnen an Barren und Reck und Kletterübungen 
bei Weitem nicht den praktischen Erfolg zeitigen, wie eine 
systematische Vervollkommnung der Bewegungsübungen, birgt 
sich auch für allzu jugendliche Personen die Gefahr darinnen, 
daß es neben Reizungen auch zu direkten Beschädigungen der 
edieren Organe kommen kann. In einem Falle war ein neun- 
jähriger Knabe so heftig auf einen Barren aufgesessen, daß der 
erlittene Stoß eine Hodenentzündung zur Folge hatte. Den 
gleichen Zufällen sind namentlich körperlich schwache Kinder 
auch beim Laufen, Seilspringen, und bei dem in vielen Schulen 
so üblichen Knabenringen ausgesetzt. 

Das Knabenringen bedarf eines Kapitels für sich. Vom ärzt- 
lichen und pädagogischen Standpunkt aus ist mancherlei da- 
gegen einzuwenden, denn einmal werden nirgends die Leiden- 
schaften so aufgepeitscht und ein vorzeitiger jugendlicher Ehr- 
geiz gezüchtet, wie gerade bei dieser Art sportlicher Jugend- 
betätigung. Dann aber können dem Umstand zufolge, daß beim 
Ringen die Knaben zu so engen gegenseitigen Berlihrungen und 
Umschlingungen kommen, starke Gefühle sexueller Art zum 


510 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Durchbruch kommen, die überdies durch die nach dem Ring- 
kampfe jedesmalig eintretende Erschöpfung gesteigert werden. 
Eine Beobachtung, die ich durch die Aussagen zahlreicher 
Knaben bestätigt fand, und die auch in der medizinischen 
Literatur unbestritten dasteht, verweist auf die innigen Be- 
ziehungen, die zwischen sexueller Erregung und körperlicher 
Abspannung bestehen. Ein schwächlicher, nervös veranlagter 
Knabe von 11 Jahren war trotz seiner mangelnden Kraft leiden- 
schaftlicher Ringer, weil die nachfolgende Erschöpfung fast 
immer für ihn mit einem wollüstigen Zustand verbunden war, 
der mitunter die Intensität einer Pollution annahm. Es ist wohl 
glaublich, daß dieselben Ermüdungstoffe, die nach einer starken 
körperlichen Anstrengung sich dem Blute mitteilen, gleichzeitig 
als Lusterreger auf die Sexualzentren wirken. Als anlog dürfte 
man jene Fälle bezeichnen, wo eine starke Anspannung körper- 
licher Kräfte bei erwachsenen Personen die gleichen Er- 
scheinungen hinterläßt. Zum Teil hängt damit auch die im 
Volke falsch verbreitete Meinung zusammen, daß bei dem Vor- 
handensein eines gestrafften sexuellen Empfindens starke körper- 
liche Ermüdung vermieden werden muß. So wird von älteren 
Leuten häufig dem Brautpaare vor der Hochzeit eine länger 
währende Ruhe empfohlen, damit die Kräfte durch körperliche 
Arbeit nicht unnütz verschwendet würden. Beim Ringkampf 
spielt außerdem die seelische Aufregung eine bedeutende Rolle. 
Der Affekt, namentlich Zorn, Angst, Freude, und zum Teil auch 
Eifersucht, lassen unfehlbar sexuelle Nachempfindungen zurück. 
Schließlich kommt ein Drittes bei der innigen Umschlingung 
der ringenden Knaben noch als erschwerender Umstand hinzu. 
Die Nähe der gegenseitigen, von Aufregung gespannten Leiber, 
der innige Kontakt der Hände und Füße verleitet Knaben un- 
willkürlich dazu, sich auch direkt sexuell zu berühren. Es 
kommt sehr häufig vor, daß Knaben einen Ringkampf dadurch 
beenden, daß sie von gegenseitigen sexuellen Berührungen zur 
mutuellen Onanie übergehen. Ebenso häufig trifft es zu, dab 
bei ganz keuschen Knaben in der Nacht, die einem stattgehabten 
Ringkampfe folgt, sich Pollutionen einstellen. Alle diese Er- 
fahrungen drängen das Kind naturgemäß zur Wiederholung, und 
so wird man denn verstehen, daß der Ringkampf unter den 
Knaben sich einer so außerordentlichen Beliebtheit erfreut. Der 
Lehrer aber, der die verborgenen Gründe der kindlichen Wünsche 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 511 


nicht kennt, kann hier mit Leichtigkeit des Guten zuviel tun und 
statt den kindlichen Organismus vor Schäden zu bewahren, 
seiner Schwächung um so ergiebiger zu Hilfe kommen. 

Zum Teil leiten die Gründe, die Knabenringkämpfe so ge- 
fährlich erscheinen lassen, auch auf andere Gebiete, wie das 
des Dauerlaufs und der mit übermäßigen Anstrengungen ver- 
bundenen Ballspiele hinüber. Auch hier bedarf es der äußersten 
Vorsicht. Den Knaben darf keineswegs volle Freiheit gelassen 
werden und vor allen Dingen muß das sinnlose und stunden- 
lange Durcheinanderrennen, wie es bei den Jugendspielen üblich 
ist, vermieden werden. Dagegen sind die Wanderungen unter 
Aufsicht -gewissenhafter Lehrer bezw. ebenso gewissenhafter 
Stellvertreter, auch wenn sie sich auf ganze und halbe Tage 
und noch länger ausstrecken, eine außerordentliche Wohltat für 
den kindlichen Körper. Weite Wanderungen fördern nicht nur 
das physische Wohlbefinden der Jugend, sondern sie befruchten 
geradezu die Phantasie der Knaben und Mädchen und leiten 
die Kameradschaftlichkeit in gesündere und natürlichere Bahnen. 
Obwohl ja der Wandertrieb ebenfalls sexuellen Ursprungs ist, 
und von den Gegnern der Wandervogelbewegung wiederholt 
auch auf die Bedenklichkeiten des allzu lange währenden 
intimen Zusammenseins der Wandernden hingewiesen wurde, 
so sind diese Bedenken bei weitem nicht so schwerwiegend 
wie diejenigen, die sich zum großen Teil dem einfachen Turnen 
unter den oben geschilderten bedenklichen Umständen entgegen- 
stellen. Aber will man schließlich von der Wandervogelbewegung 
absehen und die Ertüchtigung der Jugend mittels Turnunterrichtes 
anstreben, dann wird man diesen sowohl nach dem Alter als 
auch nach den individuellen Anlagen jedes Einzelnen abstimmen 
müssen. Für die Jugend vor und während der Pubertät muß 
unbedingt darauf gedrungen werden, daß das Geräteturnen zum 
größten Teil für sie ausschaltet, die Leibesübungen und die 
leichteren Arten des Rasensports begünstigt werden. Dagegen 
empfiehlt es sich, daß einem Sportzweig, der bislang auf den 
wenigsten Schulen und nur in den obersten Klassen betrieben 
wird, ich meine, dem Fechten, auch auf den unteren Stufen 
ein breiterer Spielraum eingeräumt wird. Es ist nicht einzusehen, 
warum dieser so vorzügliche, zur Erzielung von körperlicher 
Geschmeidigkeit und zur Stählung der Energie so ausgezeich- 
nete Sport mit leichten, abgestumpften Waffen nicht bereits vom 


512 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


zehnten und elften Lebensjahre an geübt werden sollte! Ver- 
suche dieser Art haben ergeben, daß der Fechtunterricht auch 
auf jüngere Knaben einen starken pädagogischen Einfluß aus- 
übt und die Tugend des Ehrgeizes und der Ritterlichkeit weit 
mehr fördert, als der die gleichen Ziele bezweckende Knaben- 
ringkampf. Auch die ästhetische Seite findet hier eine weiter 
gehende Berücksichtigung als bei den sonstigen Jugendspielen. 
Den Gegnern des Duells mag gesagt werden, daß damit noch 
_ keineswegs eine rohe und radaulustige Jugend herangezogen wird, 
wohl aber kann Kriegstüchtigkeit und ein bedeutender Er- 
folg nach der charakterbildenden Seite hin erzielt werden. 
Schließlich ist das Fechten noch am ehesten geeignet, die 
romantischen Erwartungen des Knaben, die er in jedem Sport 
sucht, zu erfüllen und ihm eine Grazie der Bewegung zu 
vermitteln, die sich gerade an unserer heutigen Jugend so 
außerordentlich selten findet. 

Die Bestrebungen des Sportes und der Jugendpflege fänden 
aber eine nicht nicht minder starke Unterstützung, wenn das 
Knaben- und Mädchenturnen auf den unteren Stufen einheitlich 
würde. Koädukation im Turnunterricht, die sich auf die Leibes- 
übungen und rasensportlichen Spiele erstreckt, dürfte nament- 
lich für die Knaben zum mindesten dieselben günstigen Erfolge 
zeitigen, wie der gemeinschaftliche Unterricht in den niederen 
Klassen überhaupt. Gerade die Anwesenheit von Mädchen wird 
den oft erstaunlichen Zynismus der Knaben dämpfen. Es wird 
nicht zu jenen Ausgelassenheiten kommen, die dem Turnunter- 
richt heutigen Tages in den Elementar- und Mittelschulen ein 
so unvorteilhaftes Stigma verleihen. Nirgends käme der Knabe 
so leicht dazu, sich vom ersten Moment an als Helfer und Be- 
schützer des zarten Geschlechts zu fühlen, wie in den gemein- 
schaftlichen Knaben- und Mädchenriegen, oder auf einem Sport- 
platz, wo beide Geschlechter unter der Aufsicht eines Lehrers 
an vernünftigen Jugendspielen sich beteiligen. Schließlich ist 
die Erziehung der Jugend zur gegenseitigen Achtung eine der 
Hauptbedingungen einer vernünftigen Pädagogik und am ehesten 
geeignet, die sexuellen Gefahren, die besonders beim Sport- 
und Jugendturnen vorhanden sind und selbst von dem ein- 
sichtigsten Lehrer nur mit außerordentlicher Mühe unterdrückt 
werden können, auf ein Minimum herabzusetzen. 


D D 





ECAMIER. 


2 


MADAME R 


486 


S 


des Kostüms« 


»Zur Psychologie 


Zu dem Aufsatz 





REVOLUTIONÄRE STUTZERMODE. 


Zu dem Aufsatz »Zur Psychologie des Kostüms«. $. 486. 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 
VIII, 12. 





BEI DER TOILETTE. Von AUBREY BEARDSLEY. 


Zum dem Aufsatz »Zur Psychologie des Kostüms«. 


S. 526. 


—_ ug к 2 





PROSTITUTION UND GESELLSCHAFT. 
Von Dr. W. HAMMER. 

D“ Mensch ist ein geselliges Wesen. Er bedarf zu seiner 

Ausbildung der Gesellschaft anderer und der Erziehung 
durch die Eltern weit länger als die meisten Säugetiere. Schon 
in den ersten Lebenstagen erzeugt und erlebt er Wollustgefühle 
beim Saugen an der Mutterbrust. Im Verlaufe des späteren 
Lebens kennt er die Wollust der Umarmung, das angenehme 
Gefühl der gegenseitigen Hautberührung. Dazu kommen 
Neigungen zu Personen des anderen Geschlechtes, der Söhne 
zur Mutter, der Töchter zum Vater, der kleinen Kinder zu den 
Kindermädchen, die als Vorläufer der später sich einstellenden 
grobsinnlichen, mannweiblichen Liebe gelten können. Diese 
Neigungen sind anfänglich feinsinnlich oder platonisch. Sie 
sind Ausflüsse des Berührungstriebes (Kontrektationstrieb Moll). 
Daneben haben nicht selten kleine Mädchen, ebenso wie Knaben 
gröbere Neigungen. Teils treiben sie Selbstbefleckung, indem 
sie an den Geschlechtsorganen spielen, teils suchen sie die 
Fortpflanzungswerkzeuge Erwachsener oder Kinder zu Gesicht 
zu bekommen, teils beobachten sie den elterlichen Verkehr, 
oder sie besprechen untereinander die Rätsel der Entstehung 
des Menschen, sie fragen auch die Eltern, woher die Kinder 
kämen. Schon in frühester Kindheit lernen sie in der 
Regel, die Entleerungen und ihre Werkzeuge geheim zu halten, 
sodaß sie sehr bald das Gefühl haben, daß etwas in der Welt 
vorgeht, das sie vorläufig nicht wissen sollen, über das sie 
sich nicht unterhalten dürfen. Wenn sie daher sich geschlecht- 
lichen Regungen hingeben, so geschieht dies schon in der 
Kindheit geheim. Die Geheimtuerei in geschlechtlichen Dingen, 
die wir für selbstverständlich zu halten pflegen, hat meiner 
Ansicht nach vornehmlich zwei Gründe. 1. Ist mit großer 
Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß Kinder, denen keinerlei 
Schamgefühl anerzogen wird, sich frühzeitig sinnlichen Ge- 
dankenreihen hingeben, und zwar in bei weitem höherem Maße, 
als das der Fall ist, wenn die anerzogene Scham höchstens 
heimlich und vorübergehend Unzüchtigkeiten zuläßt, denen 

Geschlecht und Gesellschaft VIII, 12. 33 


514 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


dann Gewissensqualen folgen. Die Unkenntnis, daß andere 
oder gar Menschen des anderen Geschlechtes ebenso empfinden, 
dämmt die frühzeitigen Sinnlichkeitsauslösungen stark ein. 2. Die 
meisten Eltern würden, falls sie aufrichtig wären, bei den 
Kindern kein Ansehen mehr haben, da sie bekennen müßten, 
nicht nur früher unzüchtig gewesen zu sein, sondern noch zu 
Lebzeiten der Kinder hohen Sittlichkeitsforderungen nicht ge- 
nügt zu haben. Wollen sie aber nicht ganz ehrlich alle Fragen 
des Kindes wahrheitsgemäß beantworten, so müssen sie das 
Schamgefühl anerziehen, daß in irgend einem Teile des Trieb- 
lebens die Unbefangenheit aufhört, der Besprechung Schranken 
gesetzt sind. 

Während dieses weiteren Wachstums tritt zu dem von 
Moll so genannten Kontrektationstriebe (Berührungstriebe) der 
Entspannungs- oder Detumescenztrieb, der starke Wunsch einer 
Beseitigung des Spannungsgefühls, das durch starke, ständig 
dauernde Tätigkeit der Sexualdrüsen hervorgerufen wird. 

Ganz ohne äußere Einwirkung oder Verführung stellen 
sich beim Manne und bei der Frau qualvolle Zustände der 
Sinnlichkeit ein. Sie lernen durch Berührungen oder Reibungen, 
auch durch Schwelgen in der Einbildungskraft eine willkür- 
liche Entleerung der Bertholinischen und der anderen Ge- 
schlechtsdrüsen zu bewirken. Falls Selbstbefriedigung nicht 
statthat, steigert sich die Sinnlichkeit zu wollüstigen Träumen, 
in denen deutlicher, als alle Beschreibungen durch Freundinnen 
es je bewirken können, gezeigt wird, zu welchem Zwecke die 
Fortpflanzungswerkzeuge dienen. Die wollüstigen Vorstellungen 
entstammen aber dem Gehirne, nicht der äußeren Einwirkung. 
Sie treten auch dort auf, wo es gelingt solche Einwirkungen 
dauernd bis zur vollständigen Reife fernzuhalten. 

Was Anstand genannt wird, ist in der Regel Gewöhnung 
an regelmäßige Selbstbefriedigung. Was keusch heißt, bedeutet 
meist Gedankenunzucht auf Kosten der Gesundheit. 

Während die erste Sinnlichkeit dem Mädchen eine Ahnung 
des Geschlechtsverkehres gibt, bewirken die nächtlichen Träume 
immer deutlichere Vorstellungen und der erste Verkehr mit 
einem Manne schafft Gewißheit, wie das ganz entsprechend ja 
auch bei jungen Männern sich verhält. 

Da es nur möglich ist, durch einfache Mittel die Ge- 
schlechtsdrüsen zu entspannen, stellen sich gar bald Störungen 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 515 


ein in dem Zusammenwirken derjenigen Nerventätigkeit, die 
wir im Rückenmark suchen und derjenigen, die wir ins Gehirn 
verlegen. Das sexuelle Wunschempfinden nimmt überhand, 
entartet, während die Unterleibsnerven überreizt werden, so daß 
Berührungen durch einen Mann statt angenehm peinlich 
empfunden werden. 

Wenn wir uns nun fragen, was ein Mädchen zum außer- 
ehelichen Verkehre veranlaßt, so ist in erster Linie die Sinnlich- 
keit anzuschuldigen, bei solchen, die noch nicht der Selbst- 
befriedigung ergeben sind, der Wunsch die Geschlechtsdrüsen 
zu entspannen, bei anderen die Sehnsucht, der Gedanken- 
unzucht und der Eigenbefriedigung zu entrinnen. Fast unfähig, 
dem Manne dauernd zu widerstehen, ist die Frau im Zustande 
der Verliebtheit, oder wie der herrschende Sprachgebrauch sagt, 
der Triebe, immer bereit, sich dem Eindruck, den der Mann 
auf sie macht, schrankenlos hinzugeben. Ein in dieser Weise 
liebendes Mädchen »geht für den Geliebten durchs Feuer« 
und es ist in der Regel ein Spielball in der Hand des Mannes, 
der sie zur Enthaltsamkeit und zum Verkehre bewegen 
kann. Mit 13 bis 15 Jahren ist ein Mädchen in der Regel 
geschlechtsreif, gebärfähig und fähig, ohne Nachteil dem 
männlichen Verkehre sich hinzugeben, was das neue Bürger- 
liche Gesetzbuch insofern anerkennt, als Mädchen auch schon 
vor dem 16. Jahre in Ausnahmefällen zur Ehe zugelassen 
werden und andere bis zum 14. Jahre geschützt sind. 

Allgemein ist die Jungfräulichkeit der Mädchen bis zum 
16. Jahre geschützt, einem Alter, in dem die Geheimnisse der 
Selbstbefleckung in der Regel erfaßt sind. 

Die geschilderten Zustände sind zwar in der Regel so, 
wie ich sie eben im Gegensatze zu von Krafft- Ebing, 
Hegar, W. Acton, Rees, Lombroso, Ferrero, Fehling» 
F. Windscheid, Loewenfeld u. a, deren Standpunkt ich 
in einigen Zitaten wiedergeben will, schilderte. 

W. Acton (M. R. C. S. Functions and Discorders of the 
Reproductive Organs) behauptet, wohlerzogene Frauen seien 
in England, und sollten es sein, in allen auf das Geschlecht- 
liche bezüglichen Dingen vollständig unwissend. »Ich möchte 
sagen, daß zum Glück für die Gesellschaft die meisten Frauen 
nicht sehr durch geschlechtliche Gefühle in irgendwelcher 


Art beunruhigt werden.«< Die Annahme, daß alle Frauen ge- 
33* 


516 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


schlechtliche Gefühle besäßen, betrachtet er als »niedrige Be- 
schimpfung.« 

Rees (Cyclopädia, Artikel Generation) behauptet: »Daß 
eine schleimige aus den inneren Organen und der Scheide 
stammende Flüssigkeit manchmal beim Verkehr vorkommt, ist 
zweifellos, aber das kommt nur bei lüsternen oder in Aus- 
schweifung lebenden Frauen vor.« 

Lombroso und Ferrero (La donna delinquente, la 
prostituta e la donna normale 1893, S. 54 bis 58; deutsch 
von H. Kurella, Hamburg 1894) hält die durchschnittliche 
Frau »von Natur und von jeher für erotisch kalt.« 

H. Fehling (Die Bestimmung der Frau. 1892. S. 18. 
Rektoratsrede, an der Baseler Hochschule gehalten): »Es ist 
eine ganz falsche Idee, daß das junge Weib einen ebenso 
starken Trieb zum andern Geschlecht besitzt, als der Mann... 
Das Hervortreten des sexuellen Elements in der Liebe eines 
jungen Mädchens ist etwas Pathologisches (Krankhaftes)«. 
In seinem Lehrbuch der Frauenheilkunde behauptet derselbe 
Frauenarzt, daß seiner Ansicht nach die Hälfte aller Frauen 
geschlechtlich unerregbar wäre. 

F. Windscheidt (Die Beziehungen zwischen Gynäkologie 
und Neuralgie, Zentralblatt für Gynäkologie 1896, Nr. 22, ebenso 
wie die früheren, zitiert nach Havelock Ellis, Das Geschlechts- 
gefühl, autorisierte deutsche Ausgabe von Dr. Hans Kurella. 
Würzburg, A. Stubers Verlag [C. Kabitzsch 1913]) hat folgende 
Meinung: »Beim normalen Weibe, besonders dem der höheren 
Stände ist der sexuelle Instinkt erworben, nicht angeboren. 
Wo er angeboren ist oder von selbst erwacht, haben wir es 
mit einer Anomalie zu tun. Da die Frauen diesen Instinkt vor 
der Ehe nicht kennen, so entbehren sie auch nichts, wenn sie 
keine Gelegenheit finden, ihn kennen zu lernen«. 

L. Löwenfeld (Sexualleben und Nervenleiden, 1911, 2. Auf- 
lage, S.11) behauptet, »daß normalen jungen Mädchen spezifisch 
sexuelle Empfindungen absolut unbekannt seien, so daß ein 
Verlangen nicht bestehen könne. Abgesehen von der beträcht- 
lichen Anzahl derjenigen Frauen, bei denen das geschlechtliche 
Verlangen sich nicht einstelle, auch wenn sie schon geschlecht- 
liche Beziehungen kennen gelernt hätten, die also absolut kalt 
blieben, gäbe es eine noch größere Anzahl von Frauen mit 
gemäßigtem geschlechtlichen Verlangen, die man also als ver- 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 517 


hältnismäßig kalt bezeichnen könne«. Hier zeigt sich wieder die 
Ansicht von der Unempfindlichkeit der Jungfrau, der Empfind- 
lichkeit der Frau. 

Ich persönlich halte die mitgeteilten Ansichten für Ver- 
wechselungen von Selbstbefleckung und Unempfindlichkeit 
und für Erzeugnisse der Einbildungskraft von Forschern, die 
aus dem Ernste der Unterleibkrankheiten, der Abstumpfung der 
»Hysterischen«, richtiger Selbstbefleckerinnen, für die Allgemein- 
heit unzulässige Schlüsse zogen. Gewiß wird die Frau zeugungs- 
unfähig, geschlechtlich abgestoßen bei der männlichen Be- 
rührung, die Tag für Tag, Jahre hindurch der Selbstbefleckung 
huldigt. Das ist aber ein Folgezustand, keine ursprüngliche 
Anlage. Wenn nun gar die Meinung vertreten wird, die »wohl- 
erzogenen« Mädchen hätten keinen Geschlechtstrieb, so ist das 
eine Behauptung, für die nach meiner Erfahrung jeder Anhalts- 
punkt fehlt. Vielmehr kann starke Selbstzucht wohl zur Be- 
herrschung des groben Liebestriebes führen, nicht aber zu seiner 
völligen Unterdrückung im jugendlichen Alter. Ich halte mich 
zur Verallgemeinerung meiner Beobachtung unter anderm auch 
deswegen für berechtigt, weil ich selbst noch vor meiner Kon- 
firmation von einer damaligen höheren Tochter nicht nur über 
den Mechanismus der ehelichen Beiwohnung vollständige An- 
gaben erhielt, sondern weil dieses Mädchen, das später wissen- 
schaftliche Lehrerin wurde und heute wohl zu den keuschen 
alten Jungfern gehört, als Quelle ihrer Kenntnis damals angab, 
daß ein entsprechendes Buch in ihrer Klasse von einer Hand 
zur anderen gewandert sei und jede, die es nicht gewußt habe, 
habe es so erfahren. 

Meiner Auffassung pflichten bei oder nähern sich и. а.: 
Dr. Elisabeth Blackwell, die Frauen sogar für stärker geschlecht- 
lich veranlagt hält als Männer (The Human Element in Sex 5, 
ed. 1894). Marro (La рибегіа 1898, 5. 233): »аіе geschlechtliche 
Grundlage beherrscht das ganze Leben des Weibes«. Kisch 
(Sterilität des Weibes, 2. Auflage, S. 205 ff.): der Geschlechts- 
trieb des Weibes sei so wichtig, daß er zu bestimmten Zeiten 
die ganze Natur des Weibes beherrsche, so daß für Vernunft- 
gründe auf dem Gebiete des Fortpflanzungslebens kein Raum 
bleibe. Im Gegenteil, das Verlangen nach Vereinigung sei da, 
selbst wenn zu gleicher Zeit Furcht vor der Fortpflanzung 
bestehe oder von einer solchen (Vereinigung) gar keine Rede 


518 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


sein könne. Ähnlich Albert Eulenburg (Sexuale Neuropathie 
S. 88—90 oder Zukunft [Monatsschrift] vom 2. Dezember 1893). 
Der französische Physiologe Beannis, den Havelock Ellis 
erwähnt (Geschlechtsgefühl S. 207), fand zwischen der Stärke 
des männlichen und der des weiblichen Liebestriebes keinen 
Unterschied. (Beannis, Les sensation internes 1889 S. 151.) 
Daß auch bei Töchtern sogenannter höherer Stände die Sehn- 
sucht nach jungen und hübschen Männern im Durchschnitt 
rege zu sein pflegt, beweist die Bittschrift von 72 Darmstädter 
Mädchen vom 15. Februar 1821, in der in bewegten Klagen 
das Enthaltsamkeitselend geschildert wird (Monatschrift für 
Harnkrankheiten, Psychopathia sexualis, sexuelle Hygiene No- 
vember 1906, Malendes Verlag, Leipzig). Ich hielt es für richtig, 
auf diese Grundfragen näher einzugehen, weil eine Neben- 
einanderstellung der verschiedenen Ansichten über die angeb- 
liche Kälte der gesunden Frauen ohne weiteres erkennen läßt, 
daß zahlreiche Ärzte jedes sinnliche Mädchen für »nicht nor- 
mal«, »krank«, »minderwertig«, »schwachsinnig« halten, während 
ich jedes gesunde Mädchen für zeitweilig sinnlich und schein- 
bare Kälte für ein Zeichen des Hemmungstriebes oder der Selbst- 
befleckung oder endlich einer Ersatzbefriedigung, z. B. der gleich- 
geschlechtlichen oder der inbrünstig religiösen Befriedigung halte. 

Ich will nun: versuchen, ohne das Schlagwort »schwach- 
sinnig« oder »psychopathisch« zum Grundpfeiler meiner Aus- 
führungen zu machen, die geistigen Eigentümlichkeiten sowohl der 
zeitweilig außerehelich Verkehrenden, als auch der sich gewerbs- 
mäßig der Unzucht ergebenen Mädchen anzudeuten, indem ich 
vorweg bemerke, daß jedes einzelne Gehirn, jeder einzelne 
Mensch ein Kunstwerk für sich ist, das keinem andern gleicht. 
Immerhin finden sich jedoch recht häufig gemeinsame Züge, 
und die Festlegung solcher gemeinsamen Züge soll in folgendem 
versucht werden. 

Im Staatsleben, wie im Leben des Einzeln streiten zwei 
Weltanschauungen um die Herrschaft, die lebenbejahende 
(hedonistische, hedoné gr. Freude) und die lebenverneinende 
(asketische, askéomai gr. ich begnüge mich) ernste Anschauung. 
Die lebenbejahenden Menschen erblicken im Diesseits, im 
irdischen Leben und im möglichst ausgiebigen Genusse ihren 
Lebenszweck, die lebenverneinenden Menschen sind häufig von 
ernster, auf ein Jenseits gerichteter Lebensauffassung; sie betonen 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 519 


die Pflichten des Lebens, während die Hedonisten die Rechte 
betonen. Dieser Gegensatz findet sich auch dort, wo die 
Glaubenssätze der staatlich anerkannten Religionsgemeinschaften 
nicht anerkannt werden. Der stärkste Ausdruck der Lebens- 
bejahung ist die Erzeugung von Nachkommen. Starke Aus- 
drucksweisen der ernsten lebenverneinenden Lebensauffassung 
sind das Nonnen- und Mönchswesen, die Selbstgeißelungen und 
Selbstzerfleischungen, schließlich auch die Selbstmorde Schwer- 
mütiger, die den Tod herbeisehnen und förmlich den Tod 
physisch lieben, wenn sie einen Strick zum Aufhängen, eine 
Pistole zum Erschießen, ein Wasser zum sich Ertränken wählen. 
Eine Mischung von Selbstaufopferung, Unterdrückung des 
Liebestriebes und Lebenslust, Sichausleben und -Austoben- 
wollen stellen die meisten Menschen dar. Daneben gibt es 
zielbewußte Vertreter der lebenbejahenden Weltanschauung, 
Männer und Frauen, die mit vollem Bewußtsein den Lebens- 
genuß als das erstrebenswerte Lebenziel hinstellen, die dem 
Geist des Nurgenießenwollens, der Anschauung, Arbeiten sei 
eine Last, huldigen. 

Zwischen den gewerbsmäßig und den nichtgewerbsmäßig 
unzüchtigen Mädchen und Frauen besteht nun ein Hauptunter- 
schied. Die einen verfolgen noch andere Lebenszwecke als 
den der Männeranlockung, des Schöngekleidetgehens und der 
verfeinerten Aufnahme von Speise und Trank. Die gewerbs- 
mäßig Unzüchtigen leiden sehr häufig an Arbeitsscheu. Sie 
verbrauchen aber ihre Kräfte im Genießen und Männeranlocken, 
das ihnen Vergnügen macht. Zwischen den nur ehelich Ver- 
kehrenden und der gelegentlich auch außerehelich oder vor- 
ehelich Liebenden und der ausschließlich auf Männerfang Aus- 
gehenden gibt es zahlreiche Übergänge. 

Diejenigen Mädchen, die unter sittenpolizeiliche Aufsicht 
kommen, zeigen häufig folgende hervorstechende Eigentümlich- 
keiten: 

1. Arbeitsunlust, Trägheit im Dienste, Mangel an Ausdauer 
im Fabrikdienst, hingegen 

2. starke Sinnlichkeit; Männer werden angelockt, selbst wenn 
keinerlei Aussicht auf Bezahlung besteht. Fehlt der Männer- 
verkehr, so treten Triebabweichungen, z. B. weibweibliche Liebe, 
an seine Stelle. Die verschiedensten Formen des sexuellen Ver- 
kehres werden eingehend besprochen und versucht, so daß beim 


520 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


einfachen Verkehr oft eine Lustempfindung fehlt. Knechten, ja 
Peitschen des Mannes bereitet vielen Freudenmädchen Ver- 
gnügen, ebenso die Ausbeutung und Verhöhnung des Freiers. 
Hingegen wird die (lesbische) Freundin oder der Bräutigam 
eifersüchtig geliebt. Als Bräutigam begehren die Mädchen 
meist einen Mann von rauhem Auftreten, der sie beherrscht, 
bei Unfügsamkeit sich nicht scheut, Gewalt anzuwenden. Aus- 
peitschung mit dem Gummischlauch ertragen sie von dem 
Bräutigam gern, hingegen zeigen sie ihn bei Untreue oft an. 

3. Weibliche Eitelkeit ist stark ausgeprägt. 

4. Kunsttriebe, wie gesangliche Fertigkeiten, Sinn für Formen- 
und Farbenpracht, auch schauspielerische Fähigkeiten sind oft 
stark entwickelt. 

5. Die Freudenmädchen sind lebhaftem Stimmungswechsel 
unterworfen, oft Spielbälle kurzer Stimmungen, in denen sie 
Anwandlungen von Liebe, Mitleid, Haß, Zorn leicht nachgeben. 
Ausdauer ist in der Regel nicht vorhanden. Ein Kleid, das 
heute gefällt, wird morgen verschleudert. Ein abwechslungs- 
reiches Abenteurerleben zwischen Genuß und Entbehrung, Ge- 
fängnis, Krankenhaus, Ballhaus wird von ihnen ruhiger Stetigkeit 
selbst dort vorgezogen, wo sie bei leichtester Arbeit sorglos, 
aber ohne Mann leben könnten. 

Diese Eigenschaften haben, soweit meine Untersuchungen 
reichen, nichts mit den geldlichen Verhältnissen des Eltern- 
hauses zu tun. Die mir bekannten Kontrollmädchen entstammten 
allen Kreisen der Bevölkerung ohne verhältnismäßig starke 
Beteiligung der Handarbeiterkreise oder gar verhältnismäßig 
schwache Beteiligung der sogenannten höheren Kreise. Höhere 
Töchter sind zahlreich unter den von mir untersuchten Kontroll- 
mädchen vertreten. 

Soweit ich bisher die von mir eingehend erforschten Lebens- 
läufe von Hunderten Berliner Mädchen, die von der Sittenpolizei 
zur Zwangsbehandlung eingeliefert wurden, überblicke (die 
Forschungen sind noch nicht abgeschlossen, da ich alle einzelnen 
Angaben, soweit irgend möglich, nachprüfe, auch die einzelnen 
Familien persönlich aufsuche und die weiteren Schicksale ver- 
folge bis zum Tode jedes einzelnen Mädchens), entstammten 
die ohne bewußte Parteilichkeit von mir ausgewählten Freuden- 
mädchen nicht den ärmsten Bevölkerungsschichten, sondern 
den verschiedenen Volkskreisen. Unter den Mädchen Nr. 1 bis 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 521 


100 war eine adlige Dame, Gutsbesitzerstochter, neben 99 Bürger- 
mädchen. Zwei machten unbrauchbare Angaben, etwa 8 waren 
außerehelicher, etwa 90 ehelicher Abkunft, 2 waren Töchter von 
Rentiers (ein Rentier war früher Monteur, einer früher Maler- 
meister gewesen und jetzt Hausbesitzer), 1 Hauptmannstochter, 
etwa 18 Töchter von »Arbeitern«, 7 Töchter von Militäranwärtern, 
1 Tochter eines Reisenden, 1 Kaufmannstochter, deren Mutter 
eine Brauerei besaß, 1 Tochter eines Berliner Magistratsbeamten, 
zahlreiche Töchter von Handwerksmeistern und -Gesellen, sowie 
auch solche von Landwirten, mehrere höhere Töchter, 1 staat- 
lich geprüfte Lehrerin. Daß die außerehelich Geborenen nicht 
durch Brotmangel zur Unzucht kamen, zeigen ihre Lebensläufe, 
die ich in der von mir herausgegebenen Monatschrift für Harn- 
krankheiten, Psychopathia sexualis und sexuelle Hygiene, Ver- 
lag Malende, Leipzig, unter dem Titel Dirnentum und Mutter- 
schutz (ebenda als Sonderdruck) erscheinen ließ. Ebensowenig 
wie diese Außerehelichen gab auch nur eine einzige Eheliche 
an, durch Brothunger zum Dirnengewerbe gegriffen zu haben. 
Die Besucherinnen der Volksschule werden in Preußen auf 
97 00 ег Gesamtbevölkerung geschätzt, so daß aus meinen 
Akten ohne weiteres hervorgeht, daß höhere Töchter sich 
zahlreich an der Gewerbunzucht beteiligen, nicht als seltene 
Ausnahme, sondern in Berlin so regelmäßig, daß während 
meiner Hausarzttätigkeit im Fröbelkrankenhause stets höhere 
Töchter in Zwangsbehandlung waren. 

Schon aus den Lebensläufen dieser Berliner Kontrollmädchen, 
die ein wissenschaftlich treues Spiegelbild aller noch vorkommen- 
den Lebensläufe sind, geht deutlich hervor, daß Brothunger nicht 
die Triebfeder zur Gewerbeunzucht ist, auch nicht bei früheren 
Fabrikarbeiterinnen. Christine L. z.B. (Nr. 9 meiner Akten) 
verdiente mit 141/2 Jahren als Serviteurnäherin im Akkord 7 bis 
8 Mark wöchentlich, wohnte zuhause und wurde Kellnerin 
Obgleich ihr nun bei leichtester Arbeit und ohne Zwang zu 
irgend einer Überbürdung im Magdalenenstift, das damals nach 
dem Ergebnis meiner Erkundigungen 1,10 Mark pro Tag und 
Mädchen ausgab, freundliche Behandlung und vorzügliche Er- 
nährung geboten wurde, rückte sie nach vier Tagen aus. Die 
Mutter glaubte auch nicht an den Brothunger, schlug das 
Mädchen und dieses schrieb der Oberin des Stifts: „Meine 
Mutter weiß, was an mir ist. Ich bin ein bißchen leichtsinnig, 


522 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


aber sonst nicht schlecht. So sagt wenigstens meine Mutter 
zu mir. Ich bleibe Kellnerin und liebe meinen Beruf.“ 

Kein einziger der von mir befragten Verwandten (eben- 
sowenig ;wie irgend eines der eingelieferten Mädchen) ver- 
suchte auch nur die Behauptung aufzustellen, Brothunger 
habe die Mädchen zur Unzucht gezwungen. Ebenso versagten 
auch bisher alle Schriftsteller, die zwar mutig die unerhörtesten 
Beschuldigungen gegen die bürgerliche Gesellschaft schleuderten, 
von denen aber auf meine Anfrage bisher nicht ein einziger mir 
auch nur einen einzigen Fall nennen konnte, in dem ein 
Mädchen durch Brothunger gewungen wurde, das Gewerbe 
eines Kontrollmädchens zu ergreifen. Diese irrtümliche An- 
nahme ist um so verkehrter, als das Unzuchtgewerbe in den 
Großstädten derart mit Arbeitskräften überfüllt ist, daß nur 
sehr geschickte und gerissene Mädchen der Männerwelt das 
zum Lebensunterhalt nötige Geld entlocken können. Die Unter- 
bietung derer, die sich ohne Bezahlung auf Verkehr einlassen, 
ist in den großen Städten erheblich, während Mangel ап 
zahlungslüsternen Männern (Ehemännern und Dirnenfreiern) zu- 
tage tritt. 

Wenn man die Frage erörtern will, was geschieht oder 
geschehen soll in der Behandlung der Dirnen, so will ich 
zunächst einen Überblick geben über die gegenwärtig in Preußen 
möglichen Behandlungsarten und -Mittel. 

Die wirksamen Mittel lassen sich in drei Gruppen ein- 
teilen. Es wird a) durch Liebe, b) durch Furcht, c) durch 
das Beispiel gewirkt. 

Wenn wir durch Liebe zu wirken suchen, so suchen wir, 
ärztlich gesprochen, eine gröbere Liebesbetätigung durch eine 
feinere zu ersetzen. Wenn ein Mädchen oder ein Bursche zu 
einem anderen Menschen heftige Liebe empfindet, so meidet 
er, was den Geliebten kränkt. Steht also der geliebte Mensch 
auf dem Boden der lebenverneinenden Weltanschauung, so 
läßt sich der Liebende leicht umstimmen, wenn seine Liebe 
heftig und der Geliebte standhaft ist. Um ihn nicht zu kränken, 
meidet der Liebende das von dem Geliebten Nichtgerngesehene. 
Diese Art »edler« Liebe oder Freundschaft ist möglich zwischen 
Eltern und Kindern, Brüdern unter einander, Schwestern unter 
einander, Brüdern und Schwestern, endlich zwischen Nicht- 
verwandten. Sie birgt in sich den Keim zum Übergehen in 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 523 


körperliche Berührungen, z. B. Küsse, die bis zum gröbsten 
Verkehre führen können, so daß also schließlich eine Form 
der grobsinnlichen Liebe durch die andere noch gröbere er- 
setzt würde. In Würdigung dieser Möglichkeit wird nach 
$ 174 DRSt. der Verkehr von Lehrer und Schüler erheblich 
bestraft. 

Nun ist es richtig, daß nach dem jetzigen Stande der 
Sittenlehre nur Übertreibungen und Auswüchse, nicht die Triebe 
an sich bekämpft werden. Überführen eines Triebes in die 
beste Form ist das erstrebenswerte Ziel, nicht Unterdrückung 
des Nahrungs- oder Liebestriebs überhaupt. Der Liebe des 
Erziehers entspricht die »Humanität« des letzteren. 

b) Durch Furcht wirkt man mittels Drohungen oder 
Strafe, auch durch Kälte (Strafloslassen, auch nicht mehr Tadeln 
und gleichzeitig als nicht zu uns gehörig Behandeln.) 

Die Drohung wirkt als Abbild der Strafe. Die Angst- 
vorstellung wirkt schwächer als die Schmerzempfindung. 
Drohungen werden wirkungslos, wenn sie nicht gelegentlich 
verwirklicht werden. 

Als Strafen werden Beeinträchtigung des körperlichen 
Wohlbefindens gewählt. Strafen, die keinerlei körperlichen 
Nachteil bringen, gibt es nicht, wenn man die verschärften Er- 
mahnungen nicht als solche gelten lassen will. 

Ich persönlich halte die Prügelstrafe auch bei vierzehn- 
bis einundzwanzigjährigen Mädchen in der Regel für zweck- 
mäßiger, als die Nahrungsentziehung oder Einzelhaft oder 
gar die Dunkeleinsperrung. Körperliche Züchtigungen sind alle 
drei Strafarten. Die Prügelstrafe hat m. E. den Vorteil, daß 
sie nur kurze Zeit dauert, in ihren Wirkungen unmittelbar er- 
kannt werden kann, auch leicht ausführbar ist, so daß sie bei 
häuslicher Erziehung leicht in Anwendung gebracht werden 
kann. Andererseits widerstrebt das Prügeln vielen Erzieherinnen, 
die eine körperliche Züchtigung als Roheit empfinden, während 
sie die Rauheiten der Hungerkuren und Einzeleinsperrungen 
nicht als solche betrachten. Damit ein Mißbrauch der Straf- 
gewalt vermieden wird, halte ich genaue Einzelvorschriften für 
erwünscht, wie weit die Erzieherin gehen darf; gleichsam eine 
Einführung {von »Maximaldosen«, wie wir sie als Richtschnur 
für Ärzte haben, auch für die Erzieher. Als Ziel der Erziehung 
dient die Ausbildung zu einem Beruf, die Gewöhnung an 


524 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Arbeit. In Anstalten wird beim Eintritt des Zöglings der Arzt 
über die Kräfte der Eintretenden zu hören sein. Die ersten 
Wochen dienen der Körperpflege und allmählichen Anlernung; 
dann folgt die Einübung zur Ausdauer in einer Arbeit. Bei 
mangelhafter Begabung geduldige Einzelunterweisung, bei Bös- 
willigkeit Bestrafung, die stets als unangenehm empfunden 
werden soll, daher nicht zu leicht sein darf. 

Den Strafen entsprechen Anerkennungen. Mit Zwang 
allein ist der Endzweck der Erziehung nicht erreicht. An- 
erkennung der Fortschritte, in Anstalten durch Aufrücken in 
kleinen Ämtern, vielleicht anch durch Gewährung von Taschen- 
geld. (Den Strafen der Erzieher entsprechen in der ärztlichen 
Behandlung die Einkerkerung im Irrenhaus, »disciplinare« Bett- 
ruhe, schmale Kost und ähnliche Mittel). 

c) Das gute Beispiel ist die Grundlage einer guten Er- 
ziehung. Die guten Vorbilder einer sittlichen Lebensführung sind 
wirksamer als schöne Worte oder Strafen, sie bilden die Vor- 
aussetzung für eine wirksame Bestrafung. Ein inniges Verhältnis 
zwischen Erzieherin und Zögling ist nur dann erzielbar, wenn 
Ehrlichkeit auf beiden Seiten obwaltet. 

Zu diesen erzieherischen Mitteln treten je nach dem Einzel- 
falle geeignete ärztliche Maßregeln, besonders dort, wo Körper- 
krankheiten vorhanden sind. Prüfung der Sinneswerkzeuge 
der Brust, sowie Untersuchung des ganzen Körpers durch den 
Arzt erfolgt schon bei der Aufnahme. Bei Krämpfen und 
andern auf Nervenleiden deutenden Zuständen wird auch die 
Frage der Verstellung zu prüfen sein. 

In den Tagen des monatlichen Unwohlseins und dem 
zwischen zwei Monatsblutungen in der Mitte liegenden Tage 
seien die Erzieher besonders milde und freundlich, da in dieser 
Zeit die Stimmung der Mädchen leicht gereizt zu sein pflegt. 

Die gleichgeschlechtliche Liebesbetätigung erfordert die 
besondere Aufmerksamkeit der Erzieherinnen, dieser Trieb ist 
mitunter nur Folge langer Enthaltsamkeit vom mannweiblichen 
Verkehre, das Nachgeben außerdem Folge der Willensrichtung. 
Schläge sind hier zwar am wirksamsten, doch gerade bei 
solchen Betätigungen vielfach verpönt. Vorbeugend wirken die 
Einrichtung von Einzelschlafkammern, die Erziehung in religiösem 
Geiste, das rechtzeitige Aufstehenlassen. Beim Einwirken auf 
eine Lesbierin kann vorteilhaft betont werden, daß die edle 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 525 


Freundschaft nicht verboten ist, Anerkennung findet, das Über- 
gehen zu grobsinnlicher Leidenschaftlichkeit jedoch nicht ge- 
duldet werden kann. 

Im Einzelnen möchte ich noch folgende Punkte berühren: 

1. Bei der seelischen Einwirkung auf die Zöglinge ist ein 
Zwiespalt in den Weltanschauungen der Anstaltsangestellten 
ganz besonders gefährlich. Ärzte z. B,, die den Mädchen als 
»Freier« bekannt sind, üben ein Gegengewicht gegen die Ein- 
wirkungen des Geistlichen aus, der doch auf dem Boden der 
außerehelichen Enthaltsamkeit steht. 

2. In Dienst gegebene Mädchen sollten regelmäßig ge- 
wogen werden, auch öfter außerhalb des Hauses der Herr- 
schaft Gelegenheit haben, sich mit einem Fürsorger über ihre 
Wünsche auszusprechen. 

3. Die Dienstherrschaft, die gut ausgewählt werden muß, 
hat mit Recht die Machtbefugnis der Eltern, doch gebürt ihr 
das Recht der körperlichen Bestrafung in der Regel m.E. 
nur dann, wenn sie dem Zögling auch die äußere Stellung 
eines Kindes (z. B. durch Adoption) einräumt. 

4. Lieblose Anspielungen auf die Vergangenheit sind zu 
vermeiden; sie entstehen meist dort, wo die Erzieher kein 
Strafrecht haben. 

5. Ich empfehle den Herrschaften der Zöglinge eine ge- 
druckte Anleitung in die Hand zu geben. 

6. Reizbare Nervenschwäche (Nervosität) der Erzieher wirkt 
ansteckend auf die Zöglinge. Ruhiges, bestimmtes Auftreten, 
nicht der gereizte Ton der Nervenzerrüttung ist zur Erziehung 
erforderlich. 

Die vorhergehenden Sätze sind nur Winke, die im all- 
gemeinen die wichtigsten Punkte enthalten. 

Im Einzelfalle ist die günstige Beeinflussung eine Kunst, 
die je nach den Besonderheiten bald das eine, bald das andere 
Mittel wählt. 


H Ө 
EI 


526 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


ZUR PSYCHOLOGIE DES KOSTÜMS 
VOM ROKOKO BIS ZUR GEGENWART. 
Von Prof. Dr. ADOLF THIMME, 

(Schluß). 


Set dem Jahre 1806 beginnen wieder kurze, fußfreie Röcke zu 
erscheinen speziell als Tanz- und Ballkleider junger Mädchen. 
Nach der Niederlage bei Jena verschwindet die Schleppe, d. h. 
Würde und Hoheit aus der Kleidung. Während vorher die 
schlicht herabwallenden Kleider ihren natürlichen Abschluß 
dadurch erreichten, daß sie auf dem Boden einen Halt fanden, 
verlangen die fußfreien Röcke sehr bald einen besonderen Ab- 
schluß am unteren Rande, um nicht zu flattrig und leicht zu 
sein. Es erscheinen daher nun allerlei Frisuren als Abschluß, 
eine Borde, eine Rüsche, ein Blätterkranz oder ein Spitzenvolant. 
So nett das zunächst aussehen kann, so bedeutet es doch den 
Ruin der reinen Empiretracht. Denn der schwer und schwerer 
werdende Abschluß verdrängt und verhindert den schönen 
freien Fluß der Falten. Daher werden die Röcke enger, die 
Falten weniger, die Muster in den Stoffen treten wieder mehr 
hervor. Doch bleiben in den Jahren der Befreiungskriege bis 
etwa 1816 die Moden ziemlich stabil, da man an anderes zu 
denken und zu sorgen hatte. 

Neben den kurzen Röcken sind die Schleppen im Ge- 
brauch nur noch bei Staatskleidern geblieben, wo sie oft als 
Überwurf erscheinen, so besonders in England, das ja unter 
der Not der Zeit am wenigsten gelitten hatte. Doch auch 
kurze Tunikas erscheinen als Überwurf, hier und da tauchen 
am Kostüm Quasten, Volants, Stickereien wieder auf. Wodurch 
sich aber dies Kostüm der späteren Empirezeit von der früheren 
unterscheidet, das ist der Umstand, daß das Kleid dicht unter 
der Büste wieder fest wird: Ein Vorbote der kommenden Reaktion. 
Es wird also wieder eine Taille markiert; zwar ist sie in den 
Jahren 1817—20 noch meist sehr hoch, aber es beginnt doch 
eben in diesen Jahren wieder der Kampf zwischen den beiden 
Stilarten der Kleidung. Es taucht nämlich zuerst im Jahre 1817 
auch wieder die Schnürbrust auf, die aber diesmal bezeichnender- 
weise aus Rußland kommt, aus dem Lande der Knute und 
Sklaverei. Man schreibt bei ihrem ersten Erscheinen zwar aus 
Paris: »Die russischen Schnürbrüste empören hier den National- 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 527 


stolz«, und man fügt spöttisch hinzu: »Solche den Insekten 
gleich in der Mitte des Körpers eingeschnittene Puppen werden 
dadurch verteidigt, daß sie weniger essen, also in diesen teuren 
Zeiten billiger leben können«. Auch die Bertuchsche Modezeitung 
kämpft tapfer für das Empire und gegen die wieder andringende 
feste und tiefe Taille. Noch 1819 heißt es bei Bertuch: »Auf- 
fallend ist der schnelle Übergang von den kurzen Taillen auf 
die langen, doch werden diese wohl nicht allgemein Beifall 
finden, da sie sich wenig von den steifen Korsetts unterscheiden, 
welche so oft auf dem Theater als Karikatur erscheinen«. 
Aber doch siegte diese Karikatur, und zwar drang sie in Paris 
zuerst durch, während sich die Engländer am längsten dagegen 
sträuben. 

Die Taille des Empirekleides rückt dann allmählich wieder 
herab und wird zugleich fester, und mit einem Male ist das 
Korsett und die Wespentaille wieder da, trotz aller Proteste der 
Ärzte und Menschenfreunde. Es scheint im Modewechsel 
wirklich die eiserne Notwendigkeit eines Naturgesetzes zu liegen. 
Sobald eine neue unbequeme oder gesundheitswidrige Mode 
auftaucht, jammert alles, aber alles macht sie mit. Wenn sie 
verschwindet, herrscht große Freude wie über den Tod eines 
Tyrannen. Das Wiederaufkommen der festen Taille hatte 
damals seine guten allgemeinen Gründe Denn nach dem 
frischen literarischen Leben der Frühromantik, nach all der 
patriotischen Begeisterung der Freiheitskriege war die Müdigkeit 
des Siegers gefolgt. Die Versprechungen der Fürsten für eine 
freiere Verfassung wurden von den meisten gebrochen; an- 
gesichts der wüsten Ausschreitungen der Revolution übersah 
man den Segen, den sie gebracht, und flüchtete zu den Idealen 
des Mittelalters zurück. Es trat daher auf allen Seiten eine 
höchst energische Reaktion ein, der Absolutismus, der Feudalis- 
mus kam überall ans Ruder. Die deutsche studierende Jugend 
und die neu auftretenden Turner suchten zwar in Burschenschaften 
und Festen die freiheitlichen Bestrebungen am Leben zu er- 
halten und schufen sich auch wieder in einem neuen Kostüm 
ein Symbol dafür, aber unerbittlich wurde die Polizei auf ihre 
Fährte gesetzt. Der Turnvater Jahn konnte noch froh sein, 
für seine Tracht mit Verbannung davon zu kommen; im übrigen 
entwickelte sich der bürgerliche runde Kastorhut Benjamin 
Franklins zu dem finsteren Zylinderhut, unter dessen wuchtigem 


528 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Dach der beschränkte Untertanenverstand in Sicherheit ge- 
bracht zu sein schien. Daher mußte denn auch wohl das 
Frauenkostüm die beschriebene Rückentwicklung erleiden. Auch 
die Literatur zog sich von großen und das Menschenherz be- 
wegenden Fragen zurück in die Goldschnittaschenbücher, wo 
die bezauberten Rosen dufteten und verwunschene Feen die 
veilchenblaue Tugend belohnten. Auch der ritterliche Porzellan- 
stil des Rokoko lebte wieder auf. Allein das Biedermeier machte 
eigentlich nur einen Ausflug in die Ritterlichkeit, und wenn es 
davon wieder nach Hause kam, so legte es mit dem Frack 
und den Vatermördern den Ritter wieder ab und zog den 
Haustyrannen oder den Patriarchen an. 

In der Folge eroberte sich das Frühbiedermeierkostüm der 
zwanziger Jahre die tiefe feste Taille zurück, die Ärmel wurden 
keulenförmig, die Volants am unteren Rockende wuchsen nach 
oben empor, zugleich gewann der Rock an unterer Weite, bis 
der Moment eintrat, wo man den Umfang künstlich durch einen 
Roßhaarrock oder durch einen eingenähten Reif von Fischbein 
oder Rohr stützen mußte. Der Hals wurde meist noch frei ge- 
tragen, der Hut durch allerlei Bänder und Bandagen geziert. 

Aber das Übergangskostüm der zwanziger Jahre hatte noch 
keinen rechten Stil, die neuen Intentionen, die auf Zwang und 
Drangsal hinauswollten, kamen noch nicht voll zur Geltung, man 
ging daher in den dreißiger Jahren in derselben Richtung 
noch weiter. Die Taille wurde enger geschnürt, das Kleid 
unten noch weiter, der Kopfputz zierlicher. Das Ganze ge- 
winnt wieder etwas Stilvolles, wenn auch Unnatürliches, denn 
das Kostüm hat etwas Zimperliches, Altjüngferliches an sich. 
Aber man kann ihm eine gewisse Grazie nicht absprechen. 
Das Leben bietet auch wieder etwas mehr Behagen, insbesondere 
glänzt eine gewisse Sauberkeit und Adrettheit aus dem Arrange- 
ment der Schultern, der Hände und des Kopfes. 

Die Haarfrisur insbesondere bietet viel Charakteristisches, 
der Kopf wird sozusagen immer kleiner und gewinnt den Aus- 
druck äußerster geistiger Genügsamkeit. Oben ist die Frisur 
glatt und anliegend, rings mit Blumen besteckt, an den Seiten 
von einer Garnitur sauber und zierlich gedrehter Löckchen 
umrahmt, hinten durch einen soliden Knoten und eine Spitzen- 
schleife abgeschlossen. Das ganze atmet Bescheidenheit, 
sexuelle Genügsamkeit und Tugendhaftigkeit. 


a 


`925 `$ »swmsoy sap aGotoup/ed Anz« zyesjy wap nz 
‘6581 ЗЧНҮЃ ИОЛ INVAg ANIA 








DIE KRINOLINE IM BALLSAAL. 
Zu dem Aufsatz »Zur Psychologie des Kostüms«. S. 526. 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 529 


In der Literatur erscheinen in den dreißiger Jahren merk- 
würdigerweise die beiden Frauen, die man wohl als die größten 
deutschen Schriftstellerinnen bis auf die Moderne bezeichnen 
muß: Bettina von Arnim-Brentano und Annette von Droste- 
Hülshoff. Aber beide sind ja noch im Empirekostüm auf- 
gewachsen, beide stehen der Biedermeierzeit selbst und ihrem 
Geschmack völlig fern, beide werden daher wenig gelesen, und 
ihre Bücher erleben kaum eine neue Auflage. 

Als Beweis, wie wenig biedermeierlich jedoch die Droste in 
Wirklichkeit ist, und wie sehr die Freiheitssehnsucht der modernen 
Frau in ihr lebt, möge hier das Gedicht: Am Turm stehn: 


Am Turme. 
Ich steh auf hohem Balkone am Turm, 
Umstrichen vom schreienden Staare, 
Und laß gleich einer Mänade den Sturm 
Mir wühlen im flatternden Haare; 
O wilder Geselle, o toller Fant, 
Ich möchte dich kräftig umschlingen 
Und Sehne an Sehne, zwei Schritte vom Rand, 
Auf Tod und Leben dann ringen! 


Und drunten seh ich am Strand, so frisch 
Wie spielende Doggen die Wellen, 

Sich tummeln rings mit Geklaff und Oezisch 
Und glänzende Flocken schnellen. — 

O, springen möcht ich hinein alsbald, 

Recht in die tobende Meute, 

Und jagen durch den korallenen Wald 

Das Walroß, die lustige Beute! 


Und drüben seh ich ein Wimpel wehn 

So keck wie eine Standarte; 

Seh auf und nieder den Kiel sich drehn 
Von meiner luftigen Warte; 

O, sitzen möcht ich im kämpfenden Schiff, 
Das Steuerruder ergreifen, 

Und zischend über das brandende Riff 
Wie eine Seemöve streifen! 


Wär ich ein Jäger auf freier Flur, 
Ein Stück nur von einem Soldaten, 
Wär ich ein Mann doch mindestens nur, 
So würde der Himmel mir raten; 
Nun muß ich sitzen so fein und klar, 
Gleich einem artigen Kinde, 
Und darf nur heimlich lösen mein Haar 
Und lassen es flattern im Winde! 
Geschlecht und Gesellschaft VIII, 12. 34 


530 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Alle andern großen, schöpferischen Künstler jener Zeit 
sind männlichen Geschlechts, nur in den reproduzierenden 
Künsten, dem Gesang, der Schauspielkunst finden sich weib- 
liche Größen. Als Typus der zahlreichen Fabrikarbeiterinnen 
der Literatur kann etwa der Name der Birch-Pfeifer genannt 
werden. So ist auch der Ausdruck der zahlreichen weiblichen 
Portraits der Zeit durchweg der der erotisch anspruchslosen 
Bescheidenheit und Sanftmut, ganz zu dem Kostüm passend. 

Das Männerkostüm machte noch einmal einen schwachen 
Versuch, aus dem Zylinder und den Vatermördern herauszu- 
kommen. DasJahr 1848 war herangekommen, und von jen- 
seits des Rheines erscholl wieder einmal das Feldgeschrei: 
»Liberte, égalité, fraternité!« Da sammelten sich auch іп 
Deutschland um Hecker, Blum und Schurz die Scharen des 
republikanischen jungen Deutschlands. Und wieder schufen 
sie zum Ausdruck ihrer Ideale ein Kostüm, das die Freiheit 
nicht ohne einige Koketterie dokumentieren sollte. Der große 
Heckerhut mit Kokarde und Hahnenfeder und ein großer Voll- 
bart waren des echten Freischärlers vornehmste Kennzeichen. 
Das Erscheinen eines solchen Kostüms genügte jedoch, die 
Polizei in Aufregung zu 
versetzen, da es als poli- 
tisches Verbrechen ange- 
sehen wurde, ebenso wie 
das Tragen eines Turner- 

oder Burschenschafts- 
kostüms um 1820. 

Die Reaktion der 50er 
Jahre zeigt sich, wie in 
der Wiederaufnahme von 
Rokokoformen in Möbeln 
und Geräten, so in der 
Entwicklung der Frauen- 
mode. Die Stilform der 
Biedermeier-Frauenmode, 
die in den 30er und 40er 
Jahren auf der Höhe ihrer 

Entwicklung angelangt 
war, entartete in den 
Die Naive. Holzschnitt von Genoile 184. 50er Jahren. Schon längst 





GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 431 


wurden ja in das Kleid, 
wie in die Unterröcke, 
die teilweise mit Roß- 
haaren gefüttert wurden, 
Rohr- und Fischbeinreifen 
eingenäht, um die nach 
unten immer weiter wer- 
denden Röcke in ihrer 
ganzen Ausdehnung zu 
präsentieren. Als die 

weibliche -Hüfte das Ge- 
wicht der gefütterten und 
mitReifen benähten Röcke 
nicht mehr zu tragen ver- 
mochte, erfand zu ihrer 
persönlichen Erleichte- HE 

rung die Kaiserin Eu- ge 

genie die sogenannte a ) 

Krinoline*), den eigent- É j E 
lichen Reifrock, die den e e 
Vorteil bot, daß sie eine un- 
tere Dimension von 5 bis 
6 Metern gewährleistete, dabei doch das Gewicht erheblich ver- 
minderte und den Beinen ein freieres Ausschreiten ermöglichte, 
während man nun die Länge des Rockes bis auf den Erdboden 
herunter führen konnte, um die größte mögliche Weite zu erreichen. 
Da der Kopf ganz bescheiden gehalten wird, so macht er immer 
mehr den Eindruck eines kleinen Knopfes auf einer riesigen 
Glocke. Jede Vorstellung davon, welche natürlichen Körper- 
formen eigentlich bekleidet werden sollten, verschwand. Diese 
Reifröcke wurden daher als besonders sittliche Kleidungsstücke, 
als Tugendwächter gepriesen, wahrscheinlich, weil die Ver- 
mutung, daß vielleicht menschliche Beine darunter stecken 
könnten, nun in unverdorbenen Herzen gar nicht mehr auf- 
kommen konnte. Eine Menge querlaufender Volants und Frisuren 
verlegte noch dazu, besonders bei Gesellschaftskleidern, den 





Auf der Jagd. Zeichnung von Felix Valloton. 


*) Die eigentliche Krinoline war eben jener schon seit mehr als 
20 Jahren getragene Roßhaarunterrock, denn Krinoline heißt auf deutsch: 
Roßhaarrock. 
34°* 


432 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Schwerpunkt aus der natürlichen Vertikale des Körpers in die 
Horizontale, in die Baumkuchenform. 

Im Zusammenhang damit steht nun auch die Auswahl und 
Musterung der Stoffe. Die Muster schreien buchstäblich gen 
Himmel. Karrierte und quergestreifte oder mit Bouquets be- 
streute Muster werden bevorzugt, alles, um den menschlichen 
Leib nicht ahnen zu lassen. Eine Schutzrede auf die Krinoline 
aus dem Jahre 1858 sagt: »Gewährt nicht eine Schaar daher- 
schwebender bunter Krinolinen ganz denselben Anblick als ein 
von sanften Westwinden geschaukeltes Blumenbeet? Aber die 
Krinoline ist nicht allein reizend, sie ist auch sittsam.« 

Übrigens hat die Krinoline nicht immer die gleiche Form 
gehabt. Die ältere Art der 50er Jahre hatte die Bienenkorb- 
oder Baumkuchenform und war auch oben an den Hüften von 
erheblicher Weite, so daß die darüber getragenen Röcke nach 
oben nicht abgeschrägt wurden. Die spätere dagegen aus den 
60er Jahren war oben schlanker und hatte unten mehr die 
Ausladung eines umgekehrten Trichters. Von alten Damen 
wird mir noch heute die Schönheit und das stattliche Ansehen 
jener Mode gerühmt, sowie die Annehmlichkeit der Krinoline, 
die das Gehen erleichtert und den unteren Kleidersaum ge- 
schont habe, so daß man sich »so recht frei und luftig darin 
gefühlt« habe. Dagegen wird zugegeben, daß sie beim Sitzen 
unbequem gewesen sei und viel Vorsicht erfordert habe, da es 
bei auch noch so feinen Stahlreifen nicht ohne unliebsamen 
Druck abgegangen sei, und besonders unangenehm sei es 
vollends gewesen, wenn beim Springen oder Tanzen der Fuß 
zwischen die nur mit Bändern verbundenen Stahlreifen ge- 
raten sei. 

Die Krinoline ist die dritte der Reifrockmoden in der Ge- 
schichte des neueren Kostüms. Der erste Reifrock war in der 
spanischen Tracht, die bis zum 30jährigen Kriege herrschte, 
der zweite der Rokokozeit lebte bis zur französischen Revolution, 
der dritte, die Krinoline, lebte bis zum Kriege von 1870/71. 
Sonderbar, daß immer ein großes politisches Ereignis nötig 
war, um dem Ungetüm den Garaus zu machen. Übrigens 
war das im Einzelfalle buchstäblich gar nicht leicht. Denn da 
die Krinoline ein Gestell aus sehr elastischen und zähen Stahl- 
reifen war, so wußte man in der Tat nicht, wohin mit dem ab- 
gelegten Ding. Es hatte ein zähes Leben. Ein Gutsbesitzer 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 433 


aus jener Zeit klagt: »Die Dinger sind gar nicht loszuwerden. 
Das Wasser nimmt sie nicht mit, im Feuer verbrennen sie nicht, 
tut man sie auf den Mist, so findet man sie im Frühjahr wieder 
auf dem Felde, gräbt man sie unter, so kommen sie beim 
Pflügen wieder heraus.« Es war daher ein genialer Gedanke, 
als im Jahre 1876 ein findiger Kopf in Paris darauf verfiel, die 
Reifen zu zerschneiden und das berüchtigte knackende Spielzeug, 
das cri-cri, daraus zu machen, mit dem so etwa 6 Wochen lang 
die ganze Welt, jung und alt, bewaffnet ging. 

Auch nach dem Jahre 1871 wird die Entwicklung des 
Kostüms nicht jäh abgebrochen. Die Krinoline bleibt sozu- 
sagen noch eine Weile an der Rückseite des Frauenrockes in 
Gestalt der sogenannten Tournüre lebendig, auf der man zu- 
nächst die leer gewordene Hülle aufzubauen sucht, indem man 
die Röcke durch unterhalb angebrachte Bänder nach hinten 
zusammenband. Das ist wohl als der Gipfel der Stillosigkeit 
und Geschmacklosigkeit anzusehen. — Um auch hier noch einen 
kurzen Seitenblick auf die gleichzeitige weibliche Literatur zu 
werfen, so triumphiert auch hier das konservative Element. In 
den Jahren von etwa 1860—80 ist die Marlitt die führende 
Schriftstellerin. Erst als in der Mitte der siebziger Jahre jener 
Konservativismus schwand, verschwand auch der rückwärtige 
Auswuchs der Tournüre, es blieben jedoch noch die künst- 
lichen Falten des Rockes. Diese folgen aber nicht etwa den 
natürlichen Linien des Körpers, sondern sie werden von vorn 
nach hinten drapiert, gerade so wie man etwa Gardinen oder 
Portieren an Fenstern und Türen zu drapieren und zu raffen 
liebte. Außerdem wird der Fall des Rockes noch durch Über- 
würfe und Bänder, Schleifen, Rüschen und Volants unterbrochen. 
Eine bauschige mit Rüschen und Pliss&es verbrämte Schleppe 
rauscht hinterher, während der obere Teil des Kostüms, die 
Taille, knapp und glatt anliegt. Das Ende der achtziger 
Jahre läßt die Schleppe fallen, aber nicht die Draperie des 
Rockes, was dazu führt, wieder einmal das untere Ende des 
-Rückens durch ein kräftiges Polster, den sogenannten cul de 
Paris, für die Drapierungen aufnahmefähig zu machen, wo- 
durch eine Betonung des Gesäßes erzielt wurde und der Zu- 
sammenhang zwischen Kleidung und Erotik deutlicher als in 
der vorhergehenden Epoche zutage trat. Die 20 Jahre von 
1870—90 kann man als die Zeit völliger Stillosigkeit des 


434 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Kostüms bezeichnen, ebenso wie der literarische Charakter der 
Zeit farblos und unbestimmt ist. 

Mit Beginn der neunziger Jahre setzt eine klare Rich- 
tung auf das Einfache und Praktische ein, wobei allerdings 
dem Gott Eros durch enge Korsetts, der Göttin Mode durch 
abnorm hohe Schultern oder gewaltige Keulenärmel geopfert 
wurde, bis dann 1892*) das Regiment der Bluse einsetzt, die 
noch heute wenigstens teilweise herrscht und die Vorteile der 
Einfachheit und Mannigfaltigkeit mit dem weiteren vereinigt, 
daß sie keine enge Umschnürung der Taille verlangt. Es läßt 
sich aber nicht leugnen, daß die Bluse in künstlerischer Be- 
ziehung wenig bietet, weil sie keine große Form und wenig 
ausgesprochenen Stil zeigt. Das ist der eine Grund, warum 
die Künstler, die mit dem Beginn des neuen Jahrhunderts 
wieder dem Kosfüm ihr reges Interesse widmeten, an der 
Schaffung einer anderen Tracht arbeiteten. Der andere Grund 
ist sozusagen ein sozial- 
politischer. Er ist in der 

modernen Frauen- 
bewegung zu suchen, die 
die freiheitliche Ausgestal- 
tung des Frauenlebens an- 
strebt und das Recht auf 
Beteiligung an wertvoller 
A geistiger Arbeit, sowie 

0 sexuelle und politische 
Selbständigkeit, verlangt. 
Einer solchen freiheitlichen 
Tendenz aber widerstrebt 
unbewußt-energisch, wie 


*) Am 17. Januar 1892 
wurde die erste Bluse in der 
Modenwelt abgebildet. Mit 
Bezug darauf wird dann unter 
dem 14. August 1892 bemerkt: 
»Die charakteristische jugend- 
liche Tracht des Sommers rettet 
sich auch in den Herbst hin- 
über. Auch kann man jetzt 
von dem Kleide abstechende 
Blusen separat kaufen.« 





Kostüm von 
einem Pariser 
Künstlerball. 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 435 


wir schon in der 
Empirezeit sahen, 
der gepanzerte 
Rumpf, das Korsett. 
Die Bemühungen 
der Künstler um 
ein höheren ästhe- 
tischen Ansprüchen 
genügendes Frauen- 
gewand und zu- 
gleich die Freiheits- 
bestrebungen der 
modernen Frau 
schufen schließlich 
das moderne Re- 
formkostüm. 

Das Reform- 
kleid ist dem Em- 
pirekleid recht ähn- 
lich. Es will, wie 
das Empirekleid, die | AS 
natürliche Freiheit Tr => Аг) 
des Körpers zu = | 
ihrem Rechte kom- 
men lassen, es will auch das ästhetisch vielleicht wertvollste 
Element der Kleidung, den Faltenwurf, in edler Größe und 
Schlichtheit als Hauptelement festhalten. Aber es hat neben- 
bei hervorragend praktische Zwecke, da es gerade die im 
Wettbewerb mit dem Manne beruflich arbeitende Frau 
kleiden will. Deshalb kann es auch sehr verschiedene 
Formen annehmen, kann die künstlerische Phantasie oder die 
individuelle Liebkaberei es sehr verschieden gestalten, deshalb 
läßt es aber auch den persönlichen Geschmack der Trägerin 
am deutlichsten erkennen. Es braucht gar keine Gürtung 
des Rockes, es kann die hohe Gürtung unter dem Busen, es 
kann auch die ganz tiefe lose Gürtung annehmen, direkt 
über der Hüfte, wie die Frauen im Mittelalter sie lange Zeit 
getragen haben, und die jedenfalls vor unserer gewöhnlichen 
Taille, die den Körper querüber durchschneidet, da, wo gar 
kein natürlicher Querschnitt ist, den künstlerischen Vorzug hat, 





Modebild von G. Lami 1898. 


436 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


den wirklichen Ansatz der Hüften reizvoll und anmutig anzu- 
zudeuten. Das wertvollste Moment des Reformkleides scheint 
mir daher einmal darin zu liegen, daß es zur künstlerischen 
Erziehung seiner Trägerin beiträgt, und sodann in seiner großen 
Wandlungsfähigkeit. 

Deshalb konnte es wohl zum Gradmesser aesthetischer 
Bildung und persönlichen Geschmackes werden. Dazu war 
allerdings nötig, daß die gebildete Welt sich nicht der neusten 
Macht auf diesem Gebiete zur wehrlosen Beute gäbe, nämlich 
dem Konzern der organisierten Tuch-, Hut- und Korsettfabrikanten 
und Schneider, sondern daß sie den Mut habe, den eignen Ge- 
schmack zu vertreten. Betreffs des Reformkleides, oder wie 
unsere Künstler es zu nennen lieben, des Eigenkleides, hätte 
man also wohl die Hoffnung hegen können, daß hierdurch 
wieder ein allgemeiner, fester Stil der Kleidung eintreten werde. 
Doch so weit ist es noch nicht, und wenn die Geschäftsinte- 
ressen der Fabrikanten maßgebend sind, wird es auch nicht 
dahin kommen. 

So haben wir denn die grotesken Topfhüte und die im- 
posanten Riesenhüte uns freundlich zunicken sehn, sind sinnend 
den neuesten Krümmungen der Korsetts gefolgt, haben den 
Humpelrock, die wackligen Schuhe, die knappen Röckchen, 
kurz die vollkommenste Stillosigkeit schaudernd mit erlebt, 
wobei wir allerdings die Beobachtung machen durften, daß 
nichts Willkürliches in der Mode liegt, sondern sie immer der 
Ausdruck der mehr oder minder aktiven Erotik ihres Zeit- 
alters ist, und daß sie ewig ein wechselndes Gesicht tragen 
wird, weil auch Sittlichkeit und Schamgefühl dauernd eine 
andere Maske vorlegen. 

с © 


APHORISMEN. 


Im Anfang war das Geschlecht, nichts außer ihm, alles in ihm. 
St. Przybyschewski. 
Ich glaube, daß kaum ein Weib auf der ganzen Welt mir wider- 
sprechen würde, wenn ich sage, aus Unerfahrenheit, sogar aus Edelmut 
oder aus Berechnung sind mehr Mädchen gefallen als aus Üppigkeit, 
Begierde oder Leidenschaft. H. v. Kahlenberg. 


H E 


E = 
RER 





SCHILDDRÜSE UND KROPFLEIDEN. 
Von Dr. CONRAD APPEL. 


Z" den Organen des menschlichen Körpers, deren Zweck und 
Bedeutung noch nicht vollständig erklärt ist, gehört die 
Schilddrüse, jene besondere Halsdrüse, die vielleicht die engsten 
Beziehungen zu den chemischen Vorgängen im Blutkreislaufe 
besitzt. Die Absonderungen der Schilddrüse sind weder klar 
beschrieben, noch ist es uns bekannt, durch welchen Umstand 
jene ungeheure Beeinflussung, namentlich des weiblichen 
Organismus, erzielt wird. Zweifelsohne besäße man eine 
genauere Kenntnis des Gemütslebens, eine einwandfreiere 
Psychologie der Frau, wenn es gelänge, das Geheimnis der 
Schilddrüse endgültig aufzuhellen. Der Umstand, daß eine 
Reihe von schweren Erkrankungen, die auf Wucherungen des 
Schilddrüsengewebes, bezw. auf krankhafte Veränderungen 
der Drüse zurückzuführen sind, dieselben Symptome aufweisen, 
wie Krankheiten des Nervensystems und der damit verbundenen 
Organe, scheint für eine nähere Verwandtschaft zwischen 
Schilddrüse und Gehirn zu sprechen. Auch andere krankhafte 
Momente, die auf eine Entartung der Thyreoidea zurückzuführen 
sind, wie Kropf, Kretinismus, Idiotie, und die gleichzeitig von 
einer Verkümmerung des Gesamtkörpers begleitet sein können, 
sprechen dafür, daß die Produkte der Schilddrüse zu ähnlichen 
Zwecken bestimmt sind, wie die der übrigen Sexualdrüsen, 
deren Einfluß auf Wachstum, Geistigkeit und das physische 
Wohlsein des Individuums unbestritten ist. 

Die Größe der Schilddrüse soll nach Messungen von 
Kocher und anderen bei Neugeborenen zweieinhalb vom Hundert 
des Körpergewichts, beim Erwachsenen dagegen nur 0,55 Proz. 
ausmachen. Selbstverständlich handelt es sich hier um variable 
Größen, da die Schilddrüse bei beiden Geschlechtern eine 
ungleichmäßige Entwicklung zeigt, beim Manne vor der Puber- 
tät größer ist, um später sich über eine gegebene Grenze hinaus 
nicht mehr zu entwickeln, bei der Frau dagegen erst nach dem 


538 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Eintreten der ersten Menses an Umfang und Bedeutung gewinnt. 
Es handelt sich hier ferner um ein Organ, dessen Schwellung 
keineswegs eine konstante, sondern von den Vorgängen im 
Sexualsystem abhängig ist. Die gesteigerte Sexualität der Frau, 
die zentrale Bedingtheit ihrer geschlechtlichen Empfindungen 
und die Einstellung ihrer gesamten Körperlichkeit auf die 
sexuelle Mission ist nicht zum geringsten Teil auf die besonders 
energischen Funktionen dieser Drüse zurückzuführen. Deswegen 
hat schon Meckel die Schilddrüse als die zweite Gebärmutter 
am Halse der Frau bezeichnet; tatsächlich spiegelt sie alle 
Vorgänge im Genitalsystem getreu wieder. An der Frau kann 
man deutlich beobachten, daß die Schwellung der Schilddrüse 
zur Zeit der Menstruation und während der Schwangerschaft 
ganz bedeutend zunimmt. Sogar schon eine einfache sexuelle 
Erregung vermag gleichsam einen geheimnisvollen Reflex in der 
Schilddrüse zu erzeugen. Darauf ist es zurückzuführen, daß 
sich in der volkstümlichen Literatur die Anschauung findet, die 
Jungfräulichkeit des Weibes sei unter anderem am Halse zu 
erkennen. Schon bei dem Römer Catull wird von dem An- 
schwellen des Halses bei sexueller Erregung der Frau Erwähnung 
getan. Auch in welschen Gegenden findet sich seit Jahrhunderten 
die Meinung verbreitet, eine Jungfrau, die ihre Tugend verloren 
habe, sei am deutlichsten daran zu erkennen, daß ihr Hals 
auffallend dick werde. Die Messung des Halses mit einem 
Bindfaden, der eine bestimmte Länge hat, galt daher in früherer 
und in späterer Zeit als ein sogenanntes untrügliches Zeichen 
der Jungfernschaft. Goethe erwähnt in seiner „Venezianischen 
Elegie“ diesen Brauch, der wohl auf einer instinktiven Er- 
kenntnis des Volkes von den tatsächlichen Veränderungen der 
Schilddrüse zufolge sexuellen Erregungen beruht. 

Im Tierreich hat man ähnliche Vorgänge beobachtet. Nach 
Ellis vergrößert sich bei Hündinnen, Katzen, Ziegen, Schafen 
und Rehen die Schilddrüse in der Brunstperiode. Kisch be- 
stätigt das Gleiche und meint, daß besonders bei den Hirschen 
in der Brunstzeit eine Schwellung der Glandula thyreoidea an- 
zutreffen sei. Die alten Erfahrungen, von denen Catull und 
Demokrit sprechen, werden auch von einer Reihe neuzeitlicher 
Forscher bestätigt. Namentlich in der Schwangerschaft soll die 
Hypertrophie der Schilddrüse allgemein zunehmen. Freund 
fand, daß diese Schwellung während der Entbindung noch zu- 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 539 


nahm, die Stillperiode hindurch währte und erst allmählich 
verschwand, um zur Zeit des Menses sich wieder deutlicher 
bemerkbar zu machen. Ebenso wurde beobachtet, daß 
Gemütsbewegungen bei beiden Geschlechtern eine Ver- 
größerung der Schilddrüse zur Folge haben können. Es gilt 
als allgemeines Symptom des Zornes, daß der Hals sich rötet, 
die Adern bläulich hervortreten und der ganze Hals an Umfang 
und Straffheit zunimmt. Gerade die Tatsache, daß die Gemüts- 
affekte wie Leidenschaft, Zorn, Eifersucht, Angst, Freude, Schreck, 
von sexuellen Momenten untermischt sind, und daß dieselben 
Giftstoffe, die den Affekt zu erzeugen imstande sind, auch 
sexuelle Reizqualitäten besitzen, beweist, wie innig die 
Schilddrüse mit den Chemismen des Blutes verbunden ist. 
Diesem Umstand ist es auch zuzuschreiben, daß die Mehrzahl 
der Krankheiten der Schilddrüse einen nervösen Charakter 
trägt. Die häufigste und minder gefährliche Erkrankung, der 
Kropf, tritt sporadisch in allen Klimaten, häufiger aber bei der 
Bevölkerung sumpfiger Tiefebenen und entlegener Gebirgstäler 
auf. Neben Schottland ist der Kanton Bern in der Schweiz 
sprichwörtlich als die Heimat des Kropfes bezeichnet worden, 
aber auch in den bayrisch-österreichischen Alpentälern kann 
man ihn sehr häufig finden. Die Entwicklung des Kropfes 
dürfte nicht unabhängig sein von der allgemeinen Ernährung 
und Entwicklung des Organismus, wie umgekehrt die 
Schilddrüse zweifelsohne eine wichtige regulierende trophische 
Bedeutung für Wachstum und Kräftigung der Sexualorgane 
besitz. Aus dem Grunde ist es verständlich, daß Störungen 
in den Sexualorganen auf die Schilddrüse rückwirkend die 
Ausbildung eines Kropfleidens beschleunigen können, wie es 
Steinberger bei jungen Mädchen beobachtet haben will, bei 
denen nach regelmäßiger Menstruationstätigkeit zufolge äußerer 
Einflüsse die monatlichen Blutungen plötzlich unterbrochen 
wurden. Im allgemeinen wird bei vielen Kindern vor der Pubertät 
eine Kropfanlage konstatiert, ohne daß sich später daraus ein 
Kropfleiden entwickelt. Der Prozentsatz der Beteiligung von 
Knaben und Mädchen an dieser Krankheit liegt für die Mädchen 
vor der Pubertät bedeutend günstiger, ändert sich aber während 
und nach der Zeit der geschlechtlichen Reife auffallend, indem 
nämlich von da ab das Gegenteil zutreffend ist. Von der 
Pubertät an sind die Mädchen von Kropfleiden häufiger be- 


540 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


troffen als die Knaben, was wiederum zu beweisen scheint, 
daß die Funktionen der Schilddrüse bei beiden Geschlechtern 
nicht in allen Punkten den gleichen Gesetzen unterstellt sein 
dürften. Häufig ist der Kropf mit geistiger Minderwertigkeit 
und einer mehr oder minder leichten körperlichen Entartung 
verbunden. Eine Beobachtung, die noch nicht genügend ge- 
klärt ist, ist die, daß auf der einen Seite sich mit Kropfleiden 
behaftete Frauen als ziemlich fruchtbar erwiesen haben, während 
ein ebenso starker Prozentsatz steril geblieben ist. Ich habe 
nicht selten Entartungen der Schilddrüse an weiblichen An- 
gehörigen degenerierter Familien beobachtet, ebenso liegen 
mir Fälle vor, wo Kropfleiden bei Kindern aus Trinker- und 
Prostituiertenfamilien sich eingestellt hatten. Ich übergebe 
diese Beobachtungen zur Diskussion, ohne entscheiden zu 
wollen, ob die degenerative Anlage, bezw. die krankhafte 
Sexualität in irgend einem Zusammenhang mit dem bei den 
Ascendenten beobachteten Kropfleiden zu bringen sind. 

Bei der Beschreibung der Krankheiten der Schilddrüse 
möchte man auch nicht den Kretinismus und die Idiotie ver- 
gessen, die bei Männern sich ebenso häufig finden, wie bei 
Frauen. Wir möchten die Erfahrung Fletcher Beachs, von der 
Ellis Nachricht gibt, daß nämlich Idiotie bei Frauen ungefähr 
doppelt so häufig vorkommt, wie bei Männern, stark anzweifeln. 
Ein Material aus anderen Ländern und nach anderer Rassen- 
zugehörigkeit gegliedert ist imstande auch das gegenteilige 
Bild zu ergeben. Wahrscheinlicher ist es, daß bei Kretinismus 
und Idiotie der gleiche Prozentsatz sowohl auf Männer 
als auf Frauen entfallen dürfte. Dagegen steht fest, daß die 
Basedowsche Krankheit tatsächlich fünf- bis sechsmal häufiger 
bei Frauen als bei Männern anzutreffen ist. Da es sich in 
diesem Falle um eine Erkrankung handelt, deren Symptome 
denen der Epilepsie und schwerer Neurhastenie sowie gewissen 
Gehirndefekten gleich zu stellen sind, ist es begreiflich, daß 
die Frau zufolge ihrer erhöhten Emotionalität sowie des ge- 
heimen innigen Zusammenhangs, der zwischen Schilddrüse und 
Sexualleben besteht, der Basedowschen Krankheit leichter an- 
heim fällt, als der Mann. Der Charakter dieser Krankheit ist 
in der medizinischen Literatur eindeutig beschrieben. Neben 
heftigem Herzklopfen, das ganz plötzlich auftritt, beginnt der 
Kranke am ganzen Körper zu zittern, das Auge tritt starr und 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 541 


glotzend hervor, der Atem stockt und der ganze Körper ist von 
einem kalten, klebrigen Schweiß bedeckt. Unregelmäßigkeiten 
in der Darmfunktion, sowie Änderungen der Pigmentierung der 
Haut und Haare, endlich Haarausfall und Nasenbluten, gehören 
zu den sekundären Symptomen der Basedowschen Krankheit. 
Hier wie bei der Epilepsie scheint es sich um Prozesse im 
Gehirn, hervorgerufen durch innere Einflüsse zu handeln. Welcher 
Art diese Einflüsse sind, darüber sind noch positive Belege 
nicht vorhanden. Mackenzie macht in seinen klinischen Vor- 
lesungen über schwere Gehirnleiden, nachfolgende interessante 
Bemerkung: »Wenn ein gewisser abnormer Zustand des Nerven- 
systems einmal eingetreten ist, so wird er bekanntlich von der 
assoziativen Verbindung mit der erregenden Ursache losgelöst 
und wird zu einer ganz selbständigen Erscheinung, so daß ein 
ganz minimaler Reiz genügt, um den Erscheinungskomplex her- 
vorzurufen. In vielen Fällen wird die Krankheit durch einen 
schweren seelischen Chok von neuem zur Entwicklung gebracht. 
Vielleicht ist sie in vielen anderen Fällen der Ausdruck 
einer organischen unbewußten Erinnerung des Indi- 
viduums an einen von einem Vorfahren erlittenen Chok. 
(Diese Hypothese hat sich unter anderem Ewers in seiner 
psychologisch interessanten Novelle »Die blauen Indianer« zu 
eigen gemacht. Das Bild der Basedowschen Krankheit ist hier 
als kunstvolles Sujet ausgebeutet und Mackenzies Ansicht von 
der unbewußten Erinnerung des Individuums an einen von 
einem Vorfahren erlittenen Chok als Tatsache behandelt. Anm. 
d. Verf.). Wahrscheinlich hat die Funktionsänderung der Schild- 
drüse, deren Bedeutung für die Erinnerung und für die 
Nervendynamik hinlänglich bewiesen ist, mit manchen sekun- 
dären Symptomen der Krankheit zu tun. Aber diese selbst ist 
eine sehr ausgebreitete Störung des emotionellen Nervensystems«. 

Die neuzeitliche medizinische Forschung ist wie gesagt, 
über diese geistreichen Annahmen noch nicht hinausgekommen. 
Die Lösung des Rätsels wird wohl erst in dem Moment ge- 
wesen sein, wo die Mission der Thyreoidea eindeutig nach- 
gewiesen ist. 


ые B 


542 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


BÜNDNISFORMEN HOMOSEXUELLER MÄNNER 
UND FRAUEN, 
Von Dr. MAGNUS HIRSCHFELD. 
(Schluß). 


Cr Sammelplätze der ärmsten und verkommensten Be- 
völkerung kommen besonders als Brutstätten männlicher 
Prostitution in Betracht, da eine große Zahl ihrer Besucher mit 
diesem Gewerbe bereits Bekanntschaft gemacht haben und gern 
erbötig sind, den Neulingen gegenüber den Lehrmeister abzu- 
geben. Zunächst sind hier die Nachtasyle für Obdachlose zu 
nennen, in denen der gleichgeschlechtliche Verkehr von den 
Obdachlosen selbst als surrogative Betätigung viel geübt wird. 
Es ergibt sich von selbst, daß die Homosexualität hier einen 
vielfach behandelten Gesprächsstoff bildet. Sie hören dort, 
daß mancher, der noch voriges Jahr wie sie in der »Palme« 
oder Wiesenburg einkehren mußte, jetzt »in dufter Schale zur 
Kieler Woche fährt.« Mancher junge Mann, der im Obdach 
mit der männlichen Prostitution theoretisch bekannt geworden 
ist, sucht schon am nächsten Tage die erworbenen Kenntnisse 
praktisch zu verwerten. Ähnlich liegen die Verhältnisse bei 
der Fürsorgeerziehung. Sehr häufig sind die Zöglinge, nament- 
lich soweit sie der Großstadt entstammen, nicht nur mit der 
homosexuellen Betätigung, sondern auch mit der Prostitution 
schon eingehend bekannt und teilen ihre Erfahrungen den in 
diesen Fragen noch unbewanderten Kameraden nur allzugern 
mit, die nach ihrer Entlassung Gebrauch davon machen und 
sich auf diese Weise einen Erwerb schaffen, der ihnen um so 
willkommener ist, als sie zu anstrengender Tätigkeit oft wenig 
Neigung haben und es den entlassenen Fürsorgezöglingen bis- 
weilen auch schwer fällt, Arbeit zu finden. Noch böser pflegen 
in vielen Fällen die Belehrungen zu wirken, die jungen Leuten 
in Gefängnissen und Strafanstalten von Insassen zuteil werden, 
die auf diesem Gebiete bereits Erfahrungen gesammelt haben. 
Werden sie doch meistens von diesen gleich über die nahe- 
liegenden Beziehungen der männlichen Prostitution zu kriminellen 
Handlungen — namentlich Diebstählen und Erpressungen — 
unterrichtet, wodurch sie in Versuchung geraten, sich der ge- 
werbsmäßigen Unzucht gleich mit der Nebenabsicht zu ergeben, 
sie zu verbrecherischen Zwecken auszunutzen, eine Verlockung, 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 543 


die bei entarteten und kriminell veranlagten Individualitäten 
naturgemäß auf besonders günstigen Boden trifft. 

Schon aus den verschiedenartigen Motiven, die zur männ- 
lichen Prostitution führen, läßt sich entnehmen, daß sie sich 
aus sehr heterogenen Elementen zusammensetzt, die man von 
den verschiedensten Gesichtspunkten aus in Gruppen zusammen- 
fassen kann. Zunächst ist eine solche Einteilung der Prosti- 
tuierten nach ihrer geschlechtlichen Veranlagung in Hetero- 
sexuelle und Homosexuelle möglich. 

Da bei den ersteren naturgemäß nicht die innere Neigung, sondern 
nur die Aussicht auf materiellen Vorteil als Beweggrund in Betracht kommt, 
finden wir vorzugsweise, wenn auch keineswegs ausschließlich, unter 
ihnen jene Individuen, die mit der Prostitution einen unrechtmäßigen 
Gelderwerb zu verbinden suchen. Natürlich gibt es auch Normalveranlagte, 
die sich mit dem ausbedungenen Lohn für ihre Liebesdienste begnügen, 
namentlich ist dieses dann der Fall, wenn sie durch vorübergehende Not 
gezwungen werden, sich gelegentlich zu prostituieren, oder dieser Verkehr 
für sie nur einen Nebenerwerb darstellt. 

Unter den homosexuellen Prostituierten müssen wir wieder solche 
unterscheiden, die sich ohne Rücksicht auf ihren eigenen Geschmack 
jedem preisgeben, von dem sie etwas zu verdienen hoffen, und solche, 
die mit dem Verdienste auch .die eigene Befriedigung verbinden wollen 
und sich daher nur Männern zur Verfügung stellen, die ihren sexuellen 
»Falle repräsentieren. Zur ersten Kategorie gehören Homosexuelle, die 
selbst >jung« lieben, gegen Bezahlung aber auch älteren Liebhabern ge- 
fällig sind. Es gilt für diese, die natürlich die Prostitution auch aus rein 
materiellen Gründen betreiben, im großen und ganzen dasselbe, was ich 
über die heterosexuellen männlichen Prostituierten erwähnte. In derselben 
Weise wie diese verbinden sie mit dem unzüchtigen Verkehr nicht selten 
Eigentumsvergehen aller Art. Auch kommt bei ihnen eine besondere, 
ihrer Veranlagung entsprechende Form des Zuhältertums vor, indem sie 
junge männliche Personen, mit denen sie selbst geschlechtlichen Verkehr 
unterhalten, auf den »Strich« schicken und sie bisweilen auch als Lock- 
vögel für Erpressungen und ähnliche kriminelle Handlungen benutzen. Die 
kleine Gruppe homosexueller Prostituierter, die sich auf den ihrer 
Geschmacksrichtung adäquaten Verkehr beschränkt, wird naturgemäß 
selten auf verbrecherische Bereicherung ausgehen, abgesehen von den 
Fällen, in denen sie sich durch Rache oder aus verschmähter Liebe oder 
Eifersucht zu solchen Schritten hinreißen lassen. 


Der Häufigkeit und Ausschließlichkeit nach, in der die 
Einzelnen dem Unzuchtsgewerbe nachgehen, .lassen sich die 
Prostituierten in gewerbsmäßige und gelegentliche einteilen. 

Wenn auch die Heterosexuellen aus begreiflichen Gründen nur in 


den seltensten Fällen ihr ganzes Leben lang einem ihnen wenig zusagenden, 
oft sogar abstoßenden Geschlechtsverkehr nachgehen werden und ge- 


544 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


wöhnlich auch schon deshalb, weil sie in höherem Alter nicht mehr oder 
weniger begehrt werden, ihr Gewerbe aufgeben müssen, so gibt es doch 
auch unter ihnen Elemente, die infolge von Indolenz und Gewöhnung an 
den bequemen Verdienst und das müßige Leben viele Jahre hindurch der 
Prostitution nachgehen und daher mit Recht als Gewohnheitsprostituierte 
bezeichnet werden können. Daneben unterhalten sie, wie bereits erwähnt, 
vielfach normalgeschlechtlichen Verkehr; ja es kommt vor, daß sie auch 
nach der Verheiratung ihr unzüchtiges Gewerbe noch fortsetzen. — Leichter 
gewöhnen sich homosexuelle »Strichjungen« an die Prostitution, von der 
sie sich um so weniger trennen können, als der weibliche Verkehr ihnen 
keinen Ersatz dafür bietet. 

Zu der gewerbsmäßigen männlichen Prostitution gehören auch die- 
‘jenigen — in Berlin gibt es zirka 30 —, die in Weiberkleidern ihrem Ge- 
werbe nachgehen, sich heterosexuelle, meist etwas angetrunkene Männer 
suchen, denen sie, um den Coitus zu umgehen, vorreden, sie hätten ge- 
rade ihre menses; sie könnten sich daher nur auf die »französische Tour« 
(penilinctio) einlassen. Einige von diesen tragen auch aus tierischer Haut 
künstlich hergestellte weibliche Genitalien. Ihrer eigenen Triebrichtung 
nach dürften sie fast sämtlich homosexuell sein. Die weiblichen 
Prostituierten, die sich im übrigen mit der männlichen Konl:urrenz meist 
gut stehen, weil sie genau wissen, daß ihr Kundenkreis nicht der gleiche 
ist, sind auf die letztgenannte Gruppe der femininen Männer in Frauen- 
kleidern nicht gut zu sprechen, lassen sie aber gleichwohl selten »hochgehen«. 

Die Sitze der gewerbsmäßigen männlichen Prostitution sind 
naturgemäß die großen Städte, in denen sie in einer Vielge- 
staltigkeit und Mannigfaltigkeit auftritt, von denen man in 


kleinen Städten keine Vorstellung hat. 

Die Menge der sich auf den Straßen von Paris, namentlich auf den 
großen Boulevards herumtreibenden Prostituierten ist verhältnismäßig nicht 
so groß, wie in Berlin. Pherander zählte auf den Boulevards des 
Italiens und Montmatre während der besten »Geschäftszeit« 20—30 käuf- 
liche Männer, während er zu derselben Zeit in dem belebtesten Teil der 
Berliner Friedrichstraße 50—60 beobachtete. Je größer die Stadt ist, um- 
so umfangreicher ist die männliche Prostitution. In Deutschland sind 
Berlin, Hamburg, München, Dresden, Leipzig, Breslau und Köln die Haupt- 
zentren, welche aus diesem Grunde auch häufig von Urningen aus 
kleineren Städten oder vom Lande aufgesucht werden. Reine Prostituierte, 
die ganz von ihrem »Berufe« leben, berechnet Pherander in Berlin auf 
400, die Anzahl der Halbprostituierten, welche den gleichgeschlechtlichen 
Verkehr als Nebenverdienst betreiben, dagegen auf 10—12000. Von ihren 
ständigen Quartieren, den großen Städten, aus machen die gewerbsmäßigen 
Prostituierten nicht selten Ausflüge nach außerhalb. Namentlich bieten 
Veranstaltungen, die ein großes Publikum anlocken, wie Ausstellungen, 
Einweihungsfeierlichkeiten, Volksfeste, auch den männlichen Prostituierten 
Veranlassung, sich in größerer Anzahl an den betreffenden Orten ein- 
zufinden. »In Kiel«, schreibt ein Herr, hatte sich während der Kieler 
Woche, in der alle möglichen Regatten abgesegelt werden, im Sommer 1902 


LIEBE UND KOKETTERIE. 
Zu dem Aufsatz »Zur Psychologie des Kostüms«. 





S. 526. 











DAS ERSTE RENDEZVOUS (Modekleid um 1883). Von ED. BISSON. 
Zu dem Aufsatz »Zur Psychologie des Kostüms«. $. 526. 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 545 


aus Hamburg eine Reihe männlicher Prostituierter eingefunden, um auf 
Fang und Erpressung auszugehen. Das große Publikum hat gewiß nichts 
davon gemerkt, während ich selbst nach wenigen Tagen ihre Anzahl, die 
sich auf 12 belief, festgestellt hatte, und zwar alle in der Düsternbrocker 
Allee gegenüber den Anlegebänken für Marineboote.« 


Zum Schauplatz ihrer Tätigkeit wählen sie in erster Linie die be- 
lebten Hauptstraßen, in denen einzelne viele Stunden lang suchend auf- 
und abflanieren, während andere wieder abwartend an bestimmten Stand- 
orten, Straßenkreuzungen, Bahnhofs- und Passageeingängen herumstehen. 
Aber auch die abgelegenen Wege der öffentlichen Parks, namentlich in 
der Nähe von Bedürfnisanstalten, werden viel von ihnen frequentiert. 


Andere wieder halten sich in Lokalen auf, die von Homosexuellen 
besucht werden, wo sie ihrer eigenen »Aufmachung« und ihrem Geschmacke 
nach die Wahl zwischen Restaurants von raffiniertester Eleganz bis 
herunter zu den obskursten Keller- und Winkelkneipen haben. Während 
Straße und Lokal nur der Anknüpfung der Bekanntschaft dienen, können 
die »feinen« Prostituierten zum intimen Verkehr den Liebhabern ihre oft 
mit raffiniertem Luxus eingerichtete Wohnung zur Verfügung stellen, 
während es andere vorziehen, mit ihrem Herrn seine Wohnung oder ein 
Hotel aufzusuchen. 


Einigen bringt ihr Erwerb so viel ein, daß sie sich recht luxuriöse 
Wohnungen leisten können. Je teurer und eleganter sie wohnen, desto 
größere Ansprüche und Anforderungen stellen sie auch an die Börse ihrer 
Kunden. Manche erwerben sich durch hohe Preise und Erpressungen ein 
kleines Vermögen, wovon sie auf ihre alten Tage leben können. Ein sehr 
berüchtigter und bekannter Berliner Strichjunge aus guter Familie, dessen 
Hauptgeschäft lange hinter ihm liegt, und der den Eindruck eines voll- 
kommenen Kavaliers macht, wohnt jetzt sehr komfortabel in einem 
Appartement, das durch seine Ausstattung beweist, wie sehr es sein Be- 
sitzer verstanden hat, seine »Ersparnisse« gut anzuwenden. Er soll früher 
einen ganz enormen Einfluß auf seine Kollegen vom Fach ausgeübt 
haben, und sein Name wird noch in einer Art Ehrfurcht unter den 
Berliner Strichjungen genannt. »Ich habe manche andere Wohnung der 
Prostituierten gesehen«, schreibt einer unserer Gewährsmänner, »und mich 
dabei vom Augenschein überzeugt, daß das Geschäft mehr einbringen muß, 
als тап denken sollte, Ein Berliner Strichjunge, in seiner Jugend der 
freche Oskar genannt, fährt jetzt, nach dreißigjähriger Tätigkeit, in seiner 
eigenen Equipage. Ein Strichjunge aus Köln hatte sich, als er wegen 
Vagabondage in Paris verhaftet und zu drei Jahren Gefängnis verurteilt 
wurde, in zehn Jahren 80000 Franken erspart, ein anderer — ebenfalls 
Rheinländer — in 12 Jahren über 50000 Mark. 


Die Gelegenheits- und Halbprostituierten rekrutieren sich aus 
allen Berufs- und Gesellschaftsschichten. Besonders sind unter 
ihnen die jugendlichen Uniformierten vertreten, die ihrer kleid- 
samen Tracht wegen von den Homosexuellen bevorzugt werden, 
und deren Beruf eine Anknüpfung auch vielfach erleichtert. 

Geschlecht und Gesellschaft VIII, 12. 35 


546 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


In erster Linie trifft dies für die Hotelangestellten, Pagen und Lift- 
boys, für Messengerboys, Telegraphen- und Paketfahrboten zu. Ich hatte 
einen Urning zu begutachten, der an sich selbst Telegramme schickte, um 
die jugendlichen Telegrammbesteller in seine Wohnung kommen zu lassen, 
ein anderer pflegte nach einem »roten Radler« zu telephonieren, der ihm 
irgend eine Besorgung machen sollte. 

Um sich anziehender oder begehrlicher zu machen, bedienen 
sich die prostituierten Männer ganz ähnlicher Anlockungsmittel, 


wie ihre weiblichen Genossen. 

Die Eleganteren, die Klasse-Jungen, wie sie sich in Berlin gern nennen 
hören, verwenden alle Toilettenkünste, die dazu dienen, jünger und schöner 
zu erscheinen, genau so wie Bloch?) uns dies schon von den antiken 
Strichjungen geschildert hat, sie schwärzen sich die Augenbrauen, legen 
rouge auf die Wangen, schminken sich blaß oder braun, bestreichen sich 
die Lippen mit Lippenpomade, pudern sich, entfernen sich jedes Härchen 
aus dem Gesichte oder gar vom Körper, bräunen und kräuseln sich das 
Kopfhaar, träufeln sich Tropfen auf die Augenbindehaut, um die Pupillen 
zu vergrößern, polieren und färben sich die Nägel rosig, säubern sich auf 
das Sorgfältigste und verwenden auch wohl diskrete Parfüms. Mit dem- 
selben Raffinement, mit dem sie sich »raxen«, so bezeichnen sie in ihrem 
Jargon diese Körperpflege, kleiden sie sich an, viel Wert wird auf so- 
genannte »Reizwäsche« gelegt, bunte Hemden aus feinem Gewebe, auf 
lange, teure Strümpfe, durchbrochen und bunt gemustert, womöglich von 
derselben Farbe wie die Kravatten, sie nennen sie selbst »perverse« Strümpfe, 
auf rosa oder lila Strumpfbänder, farbige Unterhosen und Unterjacken, 
»kokette« Hosenträger, bunte Westen, dazu Anzüge und Hüte nach neuester, 
möglichst extravaganter Facon und vor allem recht in die Augen fallende 
Fußbekleidung, wie Halbschuhe aus Lack mit breiten Bändern und Schleifen 
oder Schnürschuhe in sattestem Gelb mit Wildleder oder Gamaschen, wie 
es gerade die allerletzte Mode erheischt. Auch Ringe und Armbänder 
fehlen selten, dagegen sind Stöcke und Schirme verpönt, in Übereinstimmung 
mit einer an Fetischhaß grenzenden Abneigung vieler homosexueller Herren 
gegen diese Gegenstände; so sagte mir einmal ein englischer Homosexueller, 
daß jede Möglichkeit sexueller Betätigung für ihn ausgeschlossen sei, wenn 
ein im übrigen noch so anziehender Mensch einen Stock, eine Brille oder 
Zugstiefel trüge. Viele männliche Prostituierte sind sehr bemüht, be- 
stimmten fetischistischen Geschmackseigentümlichen Rechnung zu tragen. 
Manche legen aus diesem Grunde hohe Stiefel an mit Sporen oder Sport- 
anzüge, Sweater, locker geschlungene Halstücher, Jockey- und Schirmmützen; 
selbst kleine Medaillen oder kleine Lederriemen im Knopfloch erweisen 
sich schon als Fetische wirksam. Man kann auf dem Berliner Strich, und 
in Paris und London ist es nicht anders, Matrosen finden, die nie ein 
Schiff, Bereiter, die nie ein Pferd bestiegen haben, Chauffeure, die nie 
Steuerrad, Soldaten, die nie ein Gewehr in der Hand hielten. Wiederholt 
sind männliche Prostituierte in Berlin wegen unerlaubten Tragens von 


%) Iwan Bloch, Dieses Handbuch Bd. I p. 333 ff. 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 547 


Uniformen bestraft worden. Unter den männlichen Prostituierten Berlins 
gibt es einen in Wilmersdorf geborenen, der stets als Tyroler geht, trotz- 
dem er nie das Weichbild der Stadt verlassen, zwei, die als Förster er- 
scheinen, obwohl der einzige Wald, den sie kennen, der Tiergarten ist, 
mehrere die stets Schlächteranzüge tragen; das kurioseste aber waren zwei 
Schulknaben, die jeden Nachmittag zwischen 5 und 7 Uhr auf der Tauentzien- 
straße Arm in Arm flanierten, mit kurzen Hosen, Schülermützen und Bücher 
unterm Arm; man hielt sie für 14jährig, in Wirklichkeit waren es Prostituierte 
von 22 oder 23 Jahren. 

Auf den Pariser Boulevards machte ein Prostituierter gute Geschäfte, 
indem er sich als Anlockung eines breiten Trauerflors um den Unterarm 
bediente. Viele Fremde fielen darauf hinein, weil sie sich nicht recht vor- 
stellen konnten, daß dieser Leidtragende ein Preller sein konnte. 

Der anspruchsvollere Teil der männlichen Halbwelt erscheint meist 
erst am Nachmittag auf der Bildfläche. Bis Mittag, oft bis zwei, drei Uhr 
liegen sie im Bett. Dann folgt die Toilette, die oft eine Stunde in An- 
spruch nimmt. Der übrige Tag pflegt dann so zu verlaufen, daß nach 
einem leichten Imbiß im Restaurant — der reichlichere wird für den 
Abend in Gesellschaft eines »Freiers« erwartet — der Prostituierte seine 
Nachmittagstour unternimmt, wobei er gewöhnlich an einer anderen Stelle 
wie des Abends flaniert oder in einem Kaffee- oder Teeraum auf der 
Lauer liegt. Von 7—10 Uhr macht er eine Ruhepause, entweder in seiner 
Wohnung, oder auch wohl in einem Konzertcaf& oder Theater, um dann 
die »große "Tour, zu beginnen, die um Mitternacht ihren Höhepunkt er- 
reicht und oft erst gegen 3 Uhr und später endet. Bei dem großen An- 
gebot auf dem Prostitutionsmarkt kommt es vor, daß einer zwei, drei oder 
auch mehrere Abende vergebens läuft, der Durchschnitt findet in der Woche 
2 bis 3 Freier, die in der Mode befindlichen doppelt so viel, viele aber 
auch weniger. 

Ein Berliner Prostituierter, der gerade sehr en vogue war, berichtete, 
daß er im Monat durchschnittlich 20 bis 25 Herren »hätte«, im Jahre 300 
fast, von diesen seien höchstens 10 Prozent Berliner, 50—60 Prozent seien 
Provinzler, 30—40 Prozent Ausländer, besonders Russen, Franzosen und 
Amerikaner. Er führte darüber geschäftsmäßig Buch. 

Das Zusammensein des Herrn mit einem Prostituierten spielt sich 
gewöhnlich in folgender Weise ab: Der Strichjunge sieht einen Herrn an, 
dieser fängt den Blick auf, beide lächeln sich an, der eine geht dem andern 
nach, einer bleibt vor einem Laden oder einer Anschlagsäule stehen oder 
biegt an einer Ecke in eine dunklere Seitenstraße ein. Der andere tut das 
gleiche. Dann bittet der eine den anderen um Feuer — auch die Nicht- 
raucher unter den Urningen sind zum Zweck der Anknüpfung fast stets 
mit Zigaretten und Feuerzeug versehen —, und die Unterhaltung beginnt 
in harmlos tastender Weise: »Schöner Abend heute« oder »wieder recht 
schlechtes Wetter« oder »gehen Sie noch so spät spazieren?« Nach diesen 
Präliminarien gehen Geübtere gewöhnlich rasch auf den eigentlichen Zweck 
ihres Zusammenseins über, wobei zunächst das Wo? erörtert wird. Handelt 
es sich um einen »feineren« Prostituierten, so schwankt die Wahl zwischen 
einem Absteigequartier, wofür man sich in der Mehrzahl der Fälle ent- 

35* 


548 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


scheidet, oder der Wohnung des Herrn, die selten, und der des Jungen, 
die etwas häufiger genommen wird. 

Auf dem Wege dorthin wird gewöhnlich der Preis akkordiert, der 
in sehr weiten Grenzen schwankt. Die Jungen pflegen bei diesem Thema 
gewöhnlich zu erzählen, welche Beträge sie schon früher erhalten hätten, 
wobei Unwahrheiten an der Tagesordnung sind. Immerhin ist es nicht 
selten, daß ein besserer Prostituierter 20 Mk., 50 Mk. und mehr für ein 
einmaliges Zusammensein erhält, doch sind im allgemeinen die Preise für 
die männlichen Prostituierten geringer wie für die entsprechenden Klassen 
der weiblichen. So rechnen sich schon 10-Mark-Jungen zu den »Klasse- 
Pupen«, sehr viele haben 5 Mark »Taxe«, und dann geht es herunter auf 
drei, zwei, eine Mark und noch geringere Beträge. Im allgemeinen sind 
die professionellen teurer wie die Gelegenheitsprostituierten. Die Bezahlung 
selbst erfolgt gewöhnlich nicht wie bei den weiblichen Prostituierten vorher, 
sondern nach vollzogenem Verkehr. Dieser ist in der großen Mehrzahl 
der Fälle ein onanistischer, am zweithäufigsten sind orale Akte, wobei 
wiederum der lambitus am membrum des Partners öfter vorgenommen 
zu werden scheint als die immissio membri in os alterius. 

Der Homosexuelle bevorzugt im Verkehr mit dem Prosti- 
tuierten meist aus Angst die straflosen, der Prostituierte aus 
Gewinnsucht die strafbaren Formen, nach denen er, sei es 
im Guten oder Bösen, reichliche Entlohnung erhofft. Der ge- 
werbsmäßige Prostituierte läßt es meist nicht zur Ejakulation 
kommen, es sei denn, daß er selbst homosexuell und der Freier 
sein Fall is. Dagegen besitzen sie oft eine große Fähigkeit, 
Erektionen bei sich herbeizuführen, um so den anderen stärker 
zu erregen. Legt der Partner auf die Ejakulation des Prosti- 
tuierten Wert, so erhöht sich dadurch der Preis. Nach dem 
Akt kommt der finanzielle und meist heikelste Teil des Zu- 
sammenseins zur Erledigung. Beide, die eben noch sich an 
Liebkosungen nicht genug tun konnten, nehmen Abstand und 
verwandeln sich in kühl kalkulierende Geschäftsleute. War der 
Preis vorher ausgemacht, was gewöhnlich viel Ungelegenheiten 
erspart, so begnügt sich der »reelle« Prostituierte mit dem ver- 
einbarten, gewöhnlich noch durch ein kleines Trinkgeld erhöhten 
Satz, oder er geht, wie er es nennt, auf die »Schmustour«, in- 
dem er durch Schilderung seiner Notlage, meist unter Hinweis 
auf seine zerrissenen Stiefel, oder durch Schmeicheleien einen 
höheren Betrag herauszuschlagen sucht. Diesen beiden »soliden 
Touren« — ich bediene mich der charakteristischen Ausdrücke 
dieser Kreise selbst — stehen die beiden »Krampftouren« gegen- 
über, die »Klautour«, bei der es auf »Beischlafdiebstähle«, und 
die »Prelltour«, bei der es auf Erpressungen abgesehen ist. 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 549 


Die beiderseitigen Namen werden in dem Zusammensein nicht 
genannt, auch die Vornamen werden gewöhnlich nicht richtig 
angegeben. Bei der Verabschiedung wird gewöhnlich eine 
weitere Verabredung getroffen, die aber oft nur eine Formsache 
ist, da eine Innehaltung von beiden Seiten stillschweigend nicht 
vorausgesetzt wird. Der Wunsch fast jedes Prostituierten ist 
es, ein länger dauerndes Verhältnis zu finden, um für einige 
Zeit der Unsicherheit seiner Existenz überhoben zu sein. In 
vielen Fällen lernt er früher oder später einen wohlhabenden 
Herrn kennen, dessen Geschmack er so sehr entspricht, daß 
er ihn einige Wochen oder Monate bei sich behält. Häufig 
nehmen solche Herren dann den Prostituierten mit auf Reisen, 
wobei sie sich in den Gasthäusern als nahe Verwandte, oft 
als Onkel und Neffe oder, wenn der Abstand im Eindruck zu 
groß ist, als Herr und Diener eintragen. Diese Verbindungen 
halten meist nicht sehr lange vor, da der an Freiheit gewöhnte 
Junge sich im Umgange als schwierig, oft auch als träge, 
störrisch und unehrlich erweist, so daß das Verhältnis nicht 
selten »mit Ach und Krach« nach kurzem wieder in die Brüche 
geht. Hie und da hält es aber auch länger vor, vielfach bis 
zur Militärzeit des Jüngeren, oder bis für ihn eine Stellung 
gefunden ist. Es ist immerhin ein nicht geringer Prozentsatz, 
der schließlich in dieser Weise von homosexuellen Herren wieder 
vom Strich gerettet wird. 

Die Militärzeit stellt überhaupt im Leben dieser jungen Leute einen 
wichtigen Wendepunkt dar, als sie ihrer gefährlichen »Lauf«-bahn ein 
energisches Ende bereitet. Für beliebte »Strichjungen« wird von ihren 
Freiern und Kameraden nicht selten vor ihrem Abgange zum Militär ein 
solennes Abschiedsfest gefeiert. Das durchschnittliche Alter, in dem der 
männliche Prostituierte zu seinem Gewerbe gelangt, ist das 17., doch sind 
auch jüngere vom 14. ab keineswegs selten. Die meisten können sich 
wegen der aufrückenden jüngeren Konkurrenz nur 5 Jahre auf dem Strich 
halten, einige bis zum 25. Jahre. Doch gibt es Virtuosen, die sich mit 
36 Jahren noch das Aussehen eines 18jährigen zu geben wissen, auf dem 
Berliner Strich kenne ich einen, der seit 20 Jahren Nacht für Nacht seiner 
gleichförmigen Tätigkeit obliegt; dabei noch jetzt wie achtzehnjährig aus- 
sieht. Als sich vor einigen Jahren*!) die Zentralstelle für Jugendfürsorge 
in Berlin an das Kgl. Polizeipräsidium wandte mit den Ersuchen »um 
Einschreiten gegen das Gebaren minderjähriger Burschen in der Nähe 
des Bahnhofes Friedrichstraße, da diese Burschen sich hier offensichtlich 


21) Cf. Tätigkeitsbericht der Zentralstelle für Jugendfürsorge für das 
Geschäftsjahr 1905/6. 


550 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


zum Zwecke homosexueller Prostitution herumtreiben und den Ankommen- 
den sich anböten«, indem sie bitte, „eine scharfe polizeiliche Beobachtung 
eintreten zu lassen und die etwa Überführten der Fürsorgeerziehung zu 
überweisen«, erwiderte der Polizeipräsident, daß dies bereits geschehe, 
daß es sich dabei aber nicht immer um Minderjährige handelte, sondern 
daß die sogenannten männlichen Prostituierten vielfach in höherem Alter 
ständen und nur sich durch künstliche Hilfsmittel, Haartracht, Schminke 
usw. ein jugendliches Aussehen gäben. 

Im allgemeinen aber kommt die Zeit, wo der Prostituierte 
dem Alter seinen Tribut zollen muß, viel früher heran als für 
die weibliche Rivalin. Alles Rasieren, »Zurechtmachen« und 
»Raxen« hilft nichts mehr. Es finden sich zwar noch einige, 
die den vollentwickelten Mann dem Jüngling vorziehen, aber 
davon kann man nicht existieren, und so muß man wohl oder 
übel nach einem anderen Erwerbszweig suchen. Hat man Er- 
sparnisse”gemacht, so eröffnet man ein kleines Geschäft oder 
eine Restauration. Ein Teil kommt zum Militär und danach 
auf gute Wege, ein Teil findet einen homosexuellen Gönner, 
der ihn etabliert, viele aber können sich nicht mehr an ein 
regelmäßiges Leben gewöhnen und werfen sich schließlich ganz 
dem Verbrecher- oder Zuhältertum in die Arme, zu dem sie 
auf Grund ihrer Veranlagung und ihres Milieus höchst wahr- 
scheinlich auch ohne ihre Prostituiertenjahre gekommen wären. 
Eins läßt sich deutlich verfolgen. Kein heterosexueller Prosti- 
tuierter erwirbt durch Gewohnheit gleichgeschlechtliche Triebe, 
ebensowenig wird ein homosexuell veranlagter Strichjunge aus 
Übersättigung am Manne heterosexuell. 

Viele »zehren«, wenn sie älter werden, »von Erinnerungen«, indem 
sie ihnen als homosexuell bekannte Personen, die ihren Standort kreuzen, 
um kleine Geldbeträge »anbohren«, was sie als »Zinseneinholen< oder 
»tirachen« bezeichnen. Vielfach führen die männlichen Prostituierten auch 
Spitznamen, wie Lippenfritz, Füllfeder-Otto, Studentenemil, Fosenrichard; 
die feminineren Mädchennamen: wie Hundelotte, Lotte aus dem Westen, 
Georgette, die Wienersche, die »pommersche Gans«, besonders viele Namen 
beziehen sich auf das häufige Aufsuchen von Bedürfnisanstalten, wie Blech- 
konfektionöse, Rotundelein, Locusblume, Pißtazie. Tardieu?) führt folgende 
»surnoms« Pariser Prostituierter auf: »Pistolet, la Grille, le Paletot, Macaire, 
le Gendarm, Coco, Pisse-Vinaigre, Tuyau de Poêle, la Marseillaise, la 
Nantaise, la Pépée, la Bouchèe, la Léontine, la Folle, la Fille à la mode, 
la Fille à la perruque, la Reine d’Angleterre.« 

Im übrigen stellt die Ausdrucksweise der Prostituierten ein Gemisch 


32) Ambroise Tardieu, Étude médico-légale sur les attentats aux moeurs. 
5me éd. Paris, 1867, p. 187. 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 551 


der Verbrechersprache mit dem homosexuellen Jargon dar. In den Großstadt- 
dokumenten*) gab ich noch einige Beispiele: »Die schwule Bande«, die 
»warmen Brüder« oder die »Tanten« teilen sie ein nach ihrer Zahlungs- 
fähigkeit in »Tölen«, »Stubben« und »Kavaliere«, sich selbst unterscheiden 
sie in »Klassepupen«, »Pennerjungen«, »Raben«, »Raubtiere« oder nach 
der Gegend: in »Kurfürstendammjungen«, »Friedrichstraßenjungen«, »Tier- 
gartenjungen« etc. Geld haben heißt »in Form sein«, in Not sein nennen 
sie »sim Bruch sein«, schlafen »pennen«, betteln »abwackeln«, Furcht vor 
der Polizei »Lampen haben«, kommt ihnen etwas іп die Quere, so sagen 
sie »die Tour sei ihnen vermasselt«, fortlaufen heißt »türmen«, werden sie 
von den »Greifern«, d. h. den Kriminalbeamten oder den Blauen — das 
sind die Schutzleute — abgefaßt, so nennen sie das »auffliegen«, »alle 
werden« oder »verschütt gehen«. Dann kommen sie erst auf die »Polente«, 
das Polizeibureau, dann ins »Kittchen«, das Untersuchungsgefängnis, um 
dann, wie sie sich euphemistisch ausdrücken, in einen »Berliner Vorort« 
zu ziehen, darunter verstehen sie Tegel, Plötzensee und Rummelsburg, die 
Sitze der Strafgefängnisse und des Arbeitshauses. Das Erpressen selbst 
in seinen verschiedenen Abstufungen nennen sie: »abkochen«, »hochnehmen«, 
»prellen«, »neppen«, abbürsten«, »rupfen«, »klemmen«; anzeigen heißt 
»pfeifen« oder »hochgehen lassen«. Jeder Geschlechtsakt hat mehrere 
besondere Bezeichnungen, beispielsweise heißt die Masturbation »Hand- 
arbeit«, die fellatio »blasen«, die immissio in anum »verkacheln« usw. 
Die Herbeiführung des Orgasmus nennen »sie fertig machen«. Die Aus- 
drücke, »er ist gut oder schlecht beschlagen«, beziehen sich auf die Größe 
des membrums. Der Charakter eines Prostituierten wird durch die gegen- 
sätzlichen Worte »kess«, was so viel wie dreist, gewitzt und »dow«, was 
naiv, gutmütig bedeutet, bezeichnet. Ist ein Strichjunge, der in Berlin auch 
vielfach eine »Pupe« oder ein »Pupenjunge«, heißt, selbst homosexuell, 
so nennt er sich »a.s.« (auch so), in den letzten Jahren wohl auch »h. s.« 
(homosexuell). Mit den gleichen Buchstaben werden auch die »Freier« 
charakterisiert; von einem zum Verkehr bereiten Heterosexuellen sagen 
sie m. m. (macht mit), in Österreich hat man für heterosexuelle Prostituierte 
den Ausdruck »franke Burschen«; die Abkürzung t. u. (total unvernünftig) 
bedeutet einen völlig normalen, was die Bereitwilligkeit zum Geschlechts- 
verkehr nicht ausschließt. Es ist durchaus nicht leicht zu entscheiden, 
welcher Kategorie die sich auf den Straßen und in Lokalen Feilbietenden 
angehören, sehr viele, die absolut normal sind, spielen sich auf »echt« 
heraus, weil dies die »Freier« unbesorgter macht. Andere, die homosexuell 
sind, geben sich als ganz normal aus, weil sie meinen, daß sie dies begehrens- 
werter macht und ihnen eine bessere Bezahlung sichert. Der in Österreich 
für Homosexuelle viel gebrauchte Ausdruck Busseranten soll von dem beim 
Billardspiel von hinten a la buzzera (italienisch) geführten Stoß herrühren. 


Sehr merkwürdig sind viele nur dem Eingeweihten ver- 
traute Satzbildungen. Die meisten Ausdrücke dieser Geheim- 


23) Berlins drittes Geschlecht. Großstadt-Dokumente Bd. 3, 15. Aufl, 
Berlin u. Leipzig, p. 67. 


552 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


sprache haben eine mehr örtliche Verbreitung. So bieten sich 
in Hamburg oft Leute aus dem Volke Homosexuellen mit den 
Worten an: »Wir stellen ock Kommoden um« (wir stellen auch 
Kommoden um). Als ich bei einer Führung durch St. Pauli 
diese Worte zum ersten Male hörte, waren sie mir, wie den 
meisten Fremden, ganz unverständlich. Von meinem Begleiter 
erfuhr ich ihren Sinn. Vor vielen Jahren lebte in Hamburg 
ein Urning, der die Gepflogenheit hatte, auf den Arbeitsmarkt 
zu kommen, wenn sich die Arbeitslosen dort Stellen suchend 
drängten. Er suchte sich unter den Burschen den aus, der 
seinem Geschmack am meisten zusagte und fragte ihn auf Ham- 
burger Platt, ob er ihm wohl gegen ein kleines Entgelt helfen 
wollte, Kommoden in seiner Wohnung umzustellen. Jeder 
nahm bereitwilligst an und sträubte sich auch nicht, wenn er 
in der Behausung des Herrn angelangt, wahrnahm, daß dieser 
ganz andere Wünsche, als die vorgegebenen hatte. Nachdem 
sich dieser Vorfall mehrfach wiederholt und allmählich herum- 
gesprochen hatte, begegnete es dem Herrn, daß, wenn er auf 
dem Arbeitsmarkt erschien, ihm bereits eine ganze Anzahl 
Burschen entgegenkam mit den Worten: »Wir stellen ock 
Kommoden um«e. Nach und nach nahm nun dieser Satz den 
Charakter eines geflügelten Wortes an, das sich über den 
Sammelplatz der Arbeitslosen hinaus verbreitete, besonders 
unter den Schiffern am Hafen, den Obdachlosen der Parks und 
allen denen, die sich aus Geldmangel gegen eine Kleinigkeit 
Homosexuellen zum Verkehr anbieten wollten. 0 

Eine verwandte Redewendung in Berlin lautet: »Karl macht Über- 
stunden<, womit von jemandem, der im übrigen arbeitet, ausgedrückt 
werden soll, daß er sich durch homosexuellen Verkehr Nebeneinnahmen 
verschafft; sie rührt davon her, daß einmal die Mutter eines solchen 
Burschen, als sein Vater sich erregt darüber aussprach, wo er denn die 
halben Nächte zubrächte und woher er das Geld bekäme, um sich so 
schöne Wäsche und Ringe anzuschaffen, beschwichtigend erwidert haben 
soll: »Du solltest Karl nicht schelten, er macht Uberstunden«. In Süd- 
deutschland hört man nicht selten von jemand: »Er wohnt in der Gabelsberger- 
gasse«, womit ein Urning einem anderen über einen Prostituierten mitteilen 
will, er werde, falls er mit ihm verkehre, eine Enttäuschung erleben. 

Solche Redensarten, die auf einen gewissen Vorfall zurückgehend 
nur einem kleinen Kreise verständlich sind, von nicht Unterrichteten aber 
ganz anders gebraucht werden, finden sich unter den Urningen fast aller 
Länder. 

Aus Cuzce (Peru) berichtete mir ein Urning, daß die Dortigen von 
jemandem, der das weibliche Geschlecht meidet und im Verdacht solitärer 





VORNEHME KOKOTTEN AUF DEN PARISER BOULEVARDS. 
Von GUILLAUME. 





BADELEBEN (Badebekanntschaft). Von E. HEILEMANN. 


Zu dem Aufsatz »Zur Psychologie des Kostüms«. S. 526. 


VARIETE-KOSTÜM 





Zu dem Aufsatz 
»Zur Psychologie 
des Kostüms«. 
S. 526. 





CANCAN. 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 553 


oder mutueller Onanie stände, zu sagen pflegen, »er hat ein Verhältnis 
mit Sefiora Manuela«. Mein Korrespondent merkte erst allmählich, daß 
Manuela in diesen Fällen nicht den dort sehr verbreiteten Mädchenvornamen 
bedeute, sondern von mano = die Hand abzuleiten sei. 


Auch die parasitären Anhängsel der Prostitution: das Zu- 
hälter-, Bordell-, Kuppler- und Schlepperwesen, fehlen der 
gleichgeschlechtlichen Prostitution nicht völlig. Daß sie nicht 
häufiger sind, dürfte darin begründet sein, daß die vorüber- 
gehende und Gelegenheitsprostitution ungemein viel verbreiteter 
ist als die gewerbsmäßige, ferner darin, daß die männlichen 
Personen immerhin eine ungleich größere Selbständigkeit be- 
sitzen, die vor allen Dingen auch darin zum Ausdruck kommt, 
daß sie ihren Geldverdienst möglichst für sich allein zu be- 
halten und zu verwerten trachten. 


So sehen wir, daß es eigentlich nur die unselbständigen, schutz- 
bedürftigen Elemente sind, die sehr jungen und femininen, die in dieser 
Weise ausgenutzt werden. Der gewöhnlichen Wohnungskuppelei leistet 
naturgemäß großen Vorschub die für den Homosexuellen besonders 
schwierige Unterschlupfsfrage; in seine Wohnung den Prostituierten mit- 
zunehmen, trägt er begreifliche Scheu, dieser selbst verfügt aber oft auch 
nicht über ein ungeniertes oder geeignetes Quartier, ist vielleicht sogar 
obdachlos; in nicht geschlossenen Räumen wiederum droht die Gefahr 
der Erregung öffentlichen Ärgernisses. Wir wiesen oben bereits darauf 
hin, wie leicht sich alle Besitzer von Absteigequartieren, maisons 
de passe, Bädern, ja selbst von Lokalen und Privatwohnungen der 
homosexuellen Kuppelei schuldig machen können, und es liegen auch 
nicht wenig Fälle vor, wo Anklagen mit Aburteilungen aus diesem 
Grunde erfolgten. 


Einen Schritt weiter geht noch der Kuppler, der nicht nur den Raum, 
sondern auch das Objekt der Betätigung zur Verfügung stellt, sei es 
gewerbsmäßig gegen oder gewerbsmäßig ohne Entgelt. Hat er die 
Burschen nun noch bei sich wohnen, nimmt für den Verkehr der Herren 
mit ihnen seinerseits die Bezahlung entgegen, schafft ihnen dafür Kost und 
Kleidung an und entlohnt sie nach einem bestimmten Satze oder läßt sich 
von ihnen die Hälfte oder einen Teil ihres Verdienstes abgeben, so ist 
das richtige Bordell fertig. Ihre Existenz ist vielfach in Zweifel gezogen, 
es ist aber ganz sicher, daß sie vorgekommen sind und auch heute noch 
existieren, wenngleich selten. In China unterschied man bis vor kurzem 
Weiberbordelle, die in der Hauptsache dem Männerverkehr, ausnahms- 
weise aber auch dem homosexuellen Frauenverkehr dienten, sowie Männer- 
bordelle, die fast ausschließlich dem homosexuellen Männerverkehr, selten 
dem Verkehr heterosexueller Frauen dienten, und gemischte Bordelle, in 
denen alle vier Arten des Verkehrs vorkamen, wenn schon im wesentlichen 
sowohl die weiblichen als die männlichen Insassen von heterosexuellen 
und homosexuellen Männern besucht wurden. 


554 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Libermann®*) erzählt, daß um die Mitte des vorigen Jahrhunderts, als 
er China bereiste, sich allein in Tientsin 800 junge männliche Prostituierte 
in 35 Bordellen aufhielten. 

Aus Peru berichtete mir ein Heterosexueller, daß in fast allen 
Limenser Bordellen sich außer den weiblichen auch einige männliche 
Prostituierte zur Verfügung stellten. Ulrichs%) veröffentlicht folgende 
Stellen aus dem Briefe eines türkischen Generals: >In einer Gasse von 
Galata hat die Göttin der Lust ihr Zelt aufgeschlagen. Diese Häuser 
existieren in Wirklichkeit, existieren als öffentliche, vom Staate geduldete 
Anstalten. Ich sah diese Buben, das Haupt umwallt von üppigem Locken- 
haar, gekleidet in goldgestickte Kleider, mit vielen Zieraten behängt, das 
Gesicht reizend geschminkt«. »Die Quartiere, die sie bewohnen, sind zu- 
gleich als Kaffeehäuser eingerichtet. Üben die Buben ihr Handwerk nicht, 
so unterhalten sie die Gäste mit Gesang, Tanz, Gaukeleien und 
Mandolinenspiel. Tag und Nacht sind die Häuser von einer Unzahl von 
Gästen belagert«. 

Ich selbst konnte bei meinem Besuch in der Türkei in Galata und 
auch in Pera keine eigentlichen Knabenbordelle mehr ausfindig machen, 
dagegen wurde mir eines in Stambul nahe Karabagdsche gezeigt. Es ge- 
hörte einem riechen und enthielt sieben Jungen von 14 bis 20 Jahren, 
meist Griechen, alle mit Fez. Man trat in ein ärmliches Empfangszimmer, 
das leer war. Die Jungen schliefen oben in einem Raum zusammen. Der 
Haushüter fragte, was für einen dschotschuk (Jungen) die Herren ungefähr 
haben wolien, und brachte dann einige zur Auswahl. Der Besucher zog 
sich mit einem in ein separates Zimmer zurück, nachdem er vorher dem 
Wirt 25 Piaster behändigt hatte. Der dtschotschuk erhielt nur ein ge- 
ringes Bakschisch, das ihm vermutlich der Hausinhaber auch noch abnahm. 
Diese Bordelle sind nicht auf den Orient beschränkt. Ulrichs schreibt: 
»Vom Staate zwar nicht de jure vollständig, aber de facto geduldet, 
existieren sie auch in Neapel, Palermo, Madrid, Lissabon usw. heimlich 
und vor der Polizei keinen Augenblick sicher, auch in Paris, ja, sogar 
in Berlin«. 

Mir selbst liegen verbürgte Schilderungen u. a. aus Marseille, Brüssel, 
Rotterdam vor. 

Gegenwärtig sind mir eigentliche Bordelle in Berlin nicht 
bekannt, dagegen hörte ich von einer Anzahl von Quartieren, 
deren Wirte den Besuchern Burschen besorgen, von denen sich 
einige gewöhnlich an Ort und Stelle aufhalten; bei mehreren 
wohnen die Jungen direkt im Hause, so daß an dem Begriff 
des Bordells nicht mehr viel fehlt. 

Verbreiteter als die Bordelle ist zweifellos das homosexuelle 


Zuhältertum. Dieses tritt so in die Erscheinung, daß ein 


%) Libermann, H., Les Fumeurs d’Opium en Chine. Etude medicale, 
Paris 1862. p. 64ff. 
25) Ulrichs, Ara spei, p. 9. 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 555 


älterer Bursche, der früher meist selbst Prostituierter war, öfter 
es auch noch ist, einen jüngeren zum Männerfang anhält, von 
dessen Erwerb er »ganz oder teilweise« lebt. Häufiger ist der 
jüngere ein femininer Homosexueller, der in den älteren heftig 
verliebt ist, ähnlich wie eine Dirne in ihren Zuhälter, und 
der deshalb wie diese alles tut, was man ihm sagt. Es ent- 
wickelt sich dann nicht selten ein sexuelles Hörigkeitsverhältnis. 

Empfinden die Zuhälter in diesen Fällen meist selber homosexuell 
oder bisexuell, so gibt es andrerseits auch Verhältnisse, in denen sich ein 
homosexueller Zuhälter — meist ein herabgekommener, aus seinem Kreise 
gestoßener Urning — mit einem Burschen, gewöhnlich einem heterosexuellen 
zusammentut, dem er beibringt, wie Homosexuelle zu nehmen und hoch- 
zunehmen sind. So ergab sich vor einigen Jahren in einem Erpresser- 
prozeß gegen einen Schlächter, der einen Aristokraten zum Selbstmord ge- 
trieben hatte, daß der Angeklagte mit einem Grafen zusammenlebte, der 
ihm augenscheinlich Zuhälterdienste geleistet hatte. 

Zwischen Homosexuellen und Zuhältern bestehen noch andere eigen- 
artige Beziehungen. Der Urning aus dem Volk, welcher oft in naiver Weise 
glaubt, daß das staatliche Recht, welches ihn für einen Verbrecher hält, 
auch »recht« habe, fühlt sich mit den Zuhältern durch die gleiche soziale 
Verfehmung und Furcht vor der Polizei verbunden, wobei sich viele, auch 
aus besseren Kreisen zu ihnen als Typen hingezogen fühlen. Diese Be- 
ziehungen finden ihren Ausdruck auch in gemeinsamen Festen. So werden 
in Berlin von Zeit zu Zeit Herrenabende veranstaltet, mit Liebhaber- 
vorstellungen, bei denen die männlichen Rollen alle von Zuhältern, alle 
weiblichen von femininen Homosexuellen gegeben werden. Das sehr 
zahlreiche Publikum dieser Theatervorführungen setzt sich ebenfalls teils 
aus Homosexuellen, teils aus Zuhältern und deren Anhang zusammen. 
Besonders kommt das Voyeurtum bei diesen Darbietungen auf die Kosten, 
da bei diesen in geschlossenen Kreisen stattfindenden Vorführungen Szenen 
mit künstlichen Phalli aufgeführt werden, die jeder Beschreibung spotten. 

Zahlreicher als die Zuhälter männlicher sind die Zuhälterinnen weib- 
licher Prostituierter. Das gemeinsame beider Kategorien besteht in der 
Homosexualität der Prostituierten selbst, während sonst gerade umgekehrt, 
im männlichen Betriebe die Zuhälter der Jungen meist heterosexuell, ihre 
»Freier« homosexuell, im weiblichen die Zuhälterinnen der Mädchen homo- 
sexuell, deren Freier heterosexuell zu sein pflegen. 

Unsere Gesetze — der Zuhälterparagraph 181 a — berücksichtigen 
übrigens weder die Zuhälterin noch den Zuhälter eines männlichen Prosti- 
tuierten. Dabei sind die weiblichen Zuhälterinnen durchschnittlich noch 
brutaler als ihre männlichen Berufskollegen; so ereignete sich im Jahre 1905 
in Berlin der folgende Auftritt zwischen einer Zuhälterin H. und ihrer 
»Freundin« R., über den wie folgt berichtet wird: Im Moabiter Kranken- 
hause wurde die 21 jährige Kellnerin H. mit einem Schädelbruch eingeliefert. 
Auf einer Ballfestlichkeit hatte die H. mehrfach mit einem Herrn getändelt, 
worauf sie die R. in der Garderobe zur Rede stellte. Es kam zu einer 


556 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Auseinandersetzung, in deren Verlaufe die R. die H. die Treppe hinunter- 
stieß. Sie blieb schwerverletzt am Fuße der Treppe liegen und erlitt einen 
schweren Schädelbruch. 

Eine weitere, im homosexuellen Betriebe relativ stärker als im hetero- 
sexuellen verbreitete Kategorie sind die Besorger und Zuführer. Wohl- 
habende Homosexuelle haben ähnlich veranlagte Freunde, mit denen sie 
nicht geschlechtlich verkehren, die aber Personen verschaffen, mit denen 
sie sich ohne Risiko einlassen können. Es sind dies meist Vertrauens- 
personen, die sie als Sekretäre, Reisebegleiter oder Diener beschäftigen, 
und die sich so in den Geschmack ihres Herrn hineingelebt haben, daß 
sie genau wissen, womit sie ihn »erfreuen«. Es liegt auf der Hand, daß 
diese Klasse von »Schleppern« stark durch die Gefahren und Vorsichts- 
maßregeln gefördert wird, die der homosexuelle Verkehr mit sich bringt. 

Wie Iwan Bloch in seinem großen Werke über die 
Prostitution nachweist, hat die Prostitution historisch sich 
meistens im Anschluß an religiöse Kulte entwickelt und dem- 
entsprechend auch topographisch ihren Ausgangspunkt entweder 
direkt von den religiösen Verehrungsstätten (Tempelprostitution) 
genommen oder sich eng an diese angeschlossen, indem die 
ersten Bordelle in unmittelbarster Nähe berühmter Tempel — 
namentlich der Liebesgöttin Astarte (Aphrodite) — angelegt 
wurden. Sowohl die Tempelprostitution wie diese Bordelle 
galten dem heterosexuellen und homosexuellen Liebesverkehr, 
beherbergten daher Lustknaben wie Dirnen. Noch jetzt gibt es 
auf Borneo, Celebes und sogar unter den zum Christentum 
übergetretenen Einwohnern der Insel Luzon Priester, die sich 
weiblich kleiden und sich gegen Bezahlung zu homosexuellem 
Verkehr hergeben. 

Wie schwer im homosexuellen Verkehr die Grenzen der 
Prostitution zu ziehen sind, zeigt nichts mehr als das Beispiel 
der mit Unrecht oft so benannten Soldatenprostitution. So 
lange es Krieger gibt, haben diese auf homosexuelle Männer 
eine besonders große Anziehungskraft ausgeübt, und auch unter 
den Soldaten selbst gab es stets eine erkleckliche Anzahl nicht 
nur selbst urnisch veranlagter, die sich gern an Homosexuelle 
angeschlossen haben. Im allgemeinen pflegen sie es nur während 
ihrer Militärzeit zu tun, und ließen es schon dadurch zweifel- 
haft erscheinen, ob es sich wirklich um Prostituierte handelt, 
die von einer geregelten Arbeit nicht viel wissen mögen. Sehr 
mit Recht sagt Prätorius einmal, daß, wenn ein Heterosexueller 
aus Freundschaft, aus Dankbarkeit usw. ein Bündnis mit einem 
Homosexuellen eingeht, deshalb ein solches Verhältnis nicht 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 557 


einem prostitutiven gleichgestellt werden könne, zumal wenn 
für den Heterosexuellen ethische Momente, wie erzieherische 
Wirkung, Bildung seines Charakters, Förderung seiner Fähig- 
keiten usw. durch den günstigen, liebevollen Einfluß der Homo- 
sexuellen in Betracht kommen. Dies gilt für die Soldaten- 
freundschaft in ausgesprochenstem Maße. 

Die Gründe, welche den Soldaten zum Verkehr mit Homosexuellen 
veranlassen, sind mannigfach; einmal der Wunsch, sich das Leben in der 
Großstadt etwas komfortabler zu gestalten, besseres Essen, mehr Getränke, 
Zigarren und Vergnügungen (Tanzboden, Theater) zu haben; dazu kommt, 
daß der oft sehr bildungsbedürftige Landwirt, Handwerker oder Arbeiter 
im Verkehr mit dem Homosexuellen geistig zu profitieren hofft; dieser 
gibt ihm gute Bücher, spricht mit ihm über die Zeitereignisse, geht mit 
hm ins Museum, zeigt ihm, was sich schickt, und was er nicht tun soll; 
das oft drollige Wesen des Urnings trägt auch zu seiner Erheiterung bei. 
Weitere Momente sind der Mangel an Geld oder an Mädchen, die den 
Soldaten nichts kosten, die Furcht vor Geschlechtskrankheiten und die gute 
Absicht, der daheim bleibenden Braut treu zu bleiben, der man beim Ab- 
schied die Treue geschworen hat, und die in jedem »Schreibebrief« ängst- 
lich an diesen Schwur gemahnt. Als ich einmal in einer urnischen Soldaten- 
kneipe Berlins einen reichen Bauernsohn, der bei den Dragonern diente, 
fragte, weshalb er mit Männern verkehre, erwiderte er: »Um meiner Braut 
treu zu bleiben. Man muß die Innigkeit solcher Beziehungen, den 
Stolz auf der einen, die Anhänglichkeit auf der andern Seite oft zu be- 
obachten Gelegenheit gehabt haben, um zu erkennen, daß die Vorstellung, 
welche wir mit dem Worte Prostitution verbinden, die Sache nicht deckt. 

Bereits in den »Großstadtdokumenten« sprach ich mich dahin aus, 
»daß die Soldatenprostitution in einem Lande um so stärker ist, je mehr 
die Gesetze die Homosexualität verfolgen. Offenbar hängt diese Tatsache 
damit zusammen, daß man in Ländern mit Urningsparagraphen von den 
Soldaten am wenigsten Erpressungen und andere Unannehmlichkeiten zu 
befürchten hat«. Ich zitiere auch an dieser Stelle einen Gewährsmann, der 
London, wo sich in den belebtesten Parks und Straßen vom Spätnachmittag 
bis nach Mitternacht zahlreiche Soldaten in unverkennbarer Weise feil- 
bieten, Berlin, Stockholm, wo sogar Patrouillen auf Soldaten fahndeten, 
die zu dem erwähnten Zwecke »herumstreichen«, Helsingfors und Peters- 
burg auf der einen und der anderen Seite, Paris, wo er »in 18 Monaten 
nur Rudimente eines militärischen Striches< nachweisen konnte, sowie 
Amsterdam, Brüssel, Rom, Neapel und andere Städte ohne Urningspara” 
graphen miteinander verglich und zu dem Schlusse gelangt, daß in allen 
europäischen Ländern mit strengen Strafbestimmungen gegen den homo- 
sexuellen Verkehr die Hingabe von Soldaten in einer Weise auftritt, die 
man nicht für möglich halten sollte, wenn man es nicht mit eigenen Augen 
beachtet hat, während man in Ländern ohne Urningsparagraphen fast nichts 
von dieser Erscheinung bemerkt. Der »militärische Strich«, auf dem die 
Soldaten einzeln oder in Paaren gehend Annäherung an Homosexuelle 
suchen, findet sich gewöhnlich unmittelbar an den Kasernen oder unweit 


558 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


dieser vor gewissen Soldatenkneipen. Auch in diesen selbst, die in den 
Stunden von Feierabend bis zum Zapfenstreich am besuchtesten sind, finden 
sich vielfach Homosexuelle ein, die die Soldaten freihalten und so Be- 
ziehungen mit ihnen anzuknüpfen. Geschieht dies in stärkerer Weise, so 
sind diese Lokale meist von kurzem Bestand. Fast immer werden sie dem 
Militär nach kurzer Zeit durch Regimentsbefehl verboten, nachdem irgend 
ein Unbekannter gewöhnlich aus Brotneid oder Rachsucht, »gepfiffen« hat. 
Es tun sich dann stets bald wieder ein oder zwei, auch mehrere ähnliche 
Lokale in der derselben Gegend auf. Würde ein Normalsexueller diese 
Lokale betreten, er würde sich vielleicht wundern, daß dort so viele fein- 
gekleidete Herren mit Soldaten sitzen, im übrigen aber wohl kaum jemals 
etwas Anstößiges finden. Die hier bei Bockwurst mit Salat und Bier ge- 
schlossenen Freundschaften zwischen Homosexuellen und Soldaten halten 
oft über die Dienstzeit, nicht selten darüber hinaus, vor. So mancher 
Urning erhält, wenn der Soldat schon längst als verheirateter Bauer fern 
von seiner geliebten Garnison Berlin in heimatlichen Gauen das Land be- 
stellt, »Frischgeschlachtetes« als Zeichen freundlichen Gedenkens. Es kommt 
sogar vor, daß sich diese Verhältnisse auf die nachfolgenden Brüder über- 
tragen; so kenne ich einen Fall, wo ein Homosexueller nacheinander mit 
drei Brüdern verkehrte, die bei den Kürassieren standen. 

Hier von Prostitution zu reden, wie es beispielsweise 
H. Ostwald, diese Bezeichnung lebhaft verteidigend, in dem 
Buche »Männliche Prostitution« tut, scheint nicht gerechtfertigt. 

Wie bedacht die Militärbehörden sind, die Annäherung zwischen 
Homosexuellen und Soldaten zu verhindern, geht daraus hervor, daß des- 
wegen nicht nur manche Restaurants, sondern auch manche Spaziergänge 
der Garnison Berlins streng verboten sind, so das Waterloo-Ufer am 
Halleschen Tore, der Weg am »schwarzen Zaun«, unweit des Tempelhofer 
Feldes, einige Promenaden im Tiergarten. Neuerdings wird in vielen 
Regimentern in der Instruktionsstunde den Soldaten besonders der Verkehr 
mit Homosexuellen untersagt, es nützt aber wenig, im Gegenteil, manche 
Unwissende werden dadurch erst »auf die Idee gebracht«, sich homo- 
sexuellen Umgang zu suchen. Wirksamer war vielleicht ein Verfahren, 
das ein alter Wachtmeister von den Gardekürassieren anwandte. Von 
dieser »Mutter der Schwadron« heißt es in einem Bericht: »Besonders 
verhaßt war ihm, wenn Briefe aus Berlin an einen Mann der Schwadron 
kamen. Auch Urlaub gab er an Wochentagen höchst ungern, weil er mit 
Recht immer Beziehungen zu Homosexuellen witterte. Wenn manch’ einer 
in seiner Schwadron sich von weniger charakterfesten Kameraden nicht 
auf Abwege zerren ließ, so war das nicht zum mindesten dem braven, 
alten Gottlieb zu danken. »Mein Sohn, du tust mit die warmen Brüder 
verkehren! Wenn du das nicht läßt, so schreibe ichs an deine Eltern! 
So sagte er, väterlich ermahnend, unter vier Augen und blickte dem Kürassier 
dabei scharf und zugleich mild bis tief in die Seele.« 

Vollkommen unrichtig ist die Meinung, daß der erste 
Schritt in den Beziehungen zwischen Soldaten und Homo- 


sexuellen immer von diesen ausgeht. Wenn seinerzeit Kriegs- 


GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 559 


minister von Einem im Deutschen Reichstage sagte; »Die Tat- 
sache steht (allerdings) fest, daß unsere Soldaten sich nur mit 
Mühe der Angriffe erwehren können, die von diesen Buben 
auf sie gemacht werden«, so zeigte er sich über den wahren 
Sachverhalt wenig orientiert, ganz abgesehen davon, daß schon 
die Vorstellung, die Riesen unserer Garde könnten sich der 
Angriffe unserer Urninge nicht erwehren, dem Kenner geradezu 
lächerlich erscheinen muß. In Wirklichkeit übertrifft das An- 
gebot der sich zur Verfügung stellenden Soldaten die Nach- 
frage der Homosexuellen meist um ein Beträchtliches. Ge- 
wöhnlich ist es ein Kamerad, der von den anderen in der 
Stube gefragt, wo er denn das viele Geld bekomme, wer ihm 
die schöne Extrauniform gekauft hätte, den einen oder anderen 
in sein Vertrauen zieht, mitnimmt, und »einführt«. Es ist auch 
schon vorgekommen, daß sich ein junger Bursch, der sich 
vorher Männern für Geld feilbot, freiwillig für ein Regiment 
meldete, das eine recht kleidsame Uniform trägt, weil er glaubte, 
in der pelzverbrämten Attila und den enganliegenden Bein- 
kleidern, die Sonntags in hohen Lackstiefeln stecken, sein Ge- 
schäft einträglicher gestalten zu können. — 

Einiges noch über die Bekämpfung der Prostitution im 
allgemeinen. Sie kann nur eine vorbeugende und verhütende 
sein. Man hat zwar vorgeschlagen, die männliche Prostitution 
als solche zu bestrafen. Im Vorentwurf zu einem Deutschen 
RStrGB. ist eine Zusatzbestimmung eingeführt, »wonach mit 
Gefängnis bis zu zwei Jahren bestraft wird, wer sich zu der 
Tat gewerbsmäßig anbietet oder bereit erklärt«; in Dänemark 
ist bereits vor einigen Jahren ein analoges Gesetz eingeführt. 
Diese Strafandrohungen sind ungerecht, zwecklos und schäd- 
lich. Ungerecht, weil die männliche Prostitution vom ethischen 
Standpunkte nicht anders beurteilt werden kann als die weib- 
liche; aussichtslos, weil eine so tief in sozialen und biologischen 
Ursachen und Mißständen wurzelnde Erscheinung sich er- 
fahrungsgemäß nicht auf diesem Wege ausrotten oder auch 
nur eindämmen läßt, und schädlich, weil es nicht gut tut, einer 
Anzahl junger Leute, von denen die Erfahrung lehrt, daß sie 
sich in der Mehrzahl später sozial noch gut entwickeln, einen 
nicht mehr auszulöschenden Verbrecherstempel aufzuprägen, 
der ihre Zukunft, und dadurch indirekt die Gesellschaft, schwer 
beeinträchtigt. 


560 GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT 


Das französische Gesetz vom 11. April 1908 bestimmt: 
»Minderjährige unter 18 Jahren, die sich gewohnheitsmäßig der 
Prostitution ergeben, sollen, wenn nötig, durch Richterspruch 
in eigens zu diesem Zwecke bestimmten Erziehungsinstituten 
untergebracht werden.«e Das gleiche kann übrigens bei uns 
auf Grund der allgemeiner gehaltenen Bestimmungen des Ge- 
setzes vom 2. Juli 1900 über die Fürsorgeerziehung geschehen. 


Im übrigen lassen sich gegen die Einfügung des Wortes »gewerbs- 
mäßig« in den $ 175 folgende Einwendungen machen: a) der Begriff 
gewerbsmäßig ist zwar in den Kommentaren zum Strafgesetzbuch 
(88 361, Мо. 6, 260, 284, 294, 302d) zu normieren versucht worden, aber 
dennoch in der praktischen Anwendung unbestimmt und dehnbar, denn 
1. nach den Kommentaren kann schon eine einmalige Geldannahme das 
Merkmal der Gewerbsmäßigkeit bilden, wenn aus ihr festzustellen ist, daß 
дег Empfänger gleiche Fortsetzung beabsichtigte, und der Geldempfang 
nur das erste Glied in einer beabsichtigten Kette bildete. — 2. Es ist 
ferner nicht nötig, daß eine Person nicht ausschließlich ihren Lebens- 
unterhalt durch Geldannahme für sexuelle Handlungen bestreite. Es ge- 
nügt schon, daß ein wesentlicher Teil ihres Lebensunterhaltes dadurch 
bestritten wird. — Es könnten bei dieser Auffassung auch Freundschafts- 
verhältnisse zwischen einem Bemittelten und einem minder Bemittelten 
einen strafbaren Charakter gewinnen. — 3. Ferner ist zu berücksichtigen, 
daß durch jene Einfügung gewissermaßen ein Schutz und ein Vorrecht der 
Wohlhabenden gegenüber den Unbemittelten geschaffen wird. Wenn auch 
nicht wahrscheinlich, so ist es doch nicht ausgeschlossen, daß hin und 
wieder eine Verkehrung der jetzt bestehenden Verhältnisse stattfindet derart, 
daß späterhin der Minderbemittelte in ein unter Umständen gefährliches 
Abhängigkeitsverhältnis von dem Wohlhabenden gerät. 


Die Prophylaxe der männlichen Prostitution muß auf die 
Beseitigung ihrer Ursachen gerichtet sein. Als solche lernten 
wir in einer Reihe von Fällen, namentlich dort, wo kriminelle 
Motive mitsprechen, die bestehenden Strafbestimmungen und 
das herrschende Vorurteil gegen die homosexuelle Veranlagung 
und den homosexuellen Verkehr kennen. Die Eliminierung 
dieser beiden Umstände würde mithin schon eine erhebliche 
Einschränkung der männlichen Prostitution bewirken. 


ACHTER BAND п 


ITS 








SEXUALREFÜRM 





TT 


BEIBLATT ZU „GESCHLECHT UND Bes Ser 


VERSCHIEDENES. 


Konzeption ohne Menstruation. 
Dr. ©. J. Blankingship berichtet im 
Journ. Am. Med. A. den Fall einer 
Frau, die drei Kindern das Leben 
schenkte, ohne jemals vor oder nach 
der Entbindung das leiseste Zeichen 
einer Menstruation verspürt zu 
haben. Die betreffende Frau ent- 
stammt einer gesunden Familie und 
verheiratete sich im Alter von 13 
Jahren; ihr Körpergewicht betrug 
zu der Zeit 180 Pfund. Das erste 
Kind kam 10 Monate nach der Ver- 
heiratung zur Welt. Patientin be- 
saß eine Schwester, die dreimal 
verheiratet war und acht Kindern 
das Leben geschenkt hatte; auch 
diese Schwester hat die ganzen 
Jahre hindurch niemals menstruiert. 
Dagegen waren die Menses bei der 
Mutter und einer andern Schwester 
völlig regelmäßig eingetreten. 

-el- 

Einseitige Kastration und 
ihre Wirkung. Folgende Beobach- 
tung wird nach einem Bericht 
Selenews in der Dermatologischen 
Wochenschrift 1912 No. 43 von den 
Sex. Probl. wiedergegeben: Es 
handelt sich um die Kastration des 
rechten Hodens bei einem I8 jährigen 
jungen Manne, wegen mutmaßlicher 
Tuberkulose. Die Folge der rechts- 
seitigen Kastration war abnorm ge- 
steigertes Wachstum der linken 
Brustdrüse, so daß das Bild einer 
linksseitigen Gynäkomastie sich ent- 
wickelte.e Die Kreuzwirkung läßt 
an das Vorhandensein von tro- 


ERSTES HEFT п 





phischen Nerven in der entgegen- 
gesetzten Seite denken, welche die 
Entwicklung der Geschlechtsorgane 
hemmen. Im vorliegenden Falle 
müßten sich diese Nerven, welche 
die weibliche Entwicklung der Brust- 
drüse beim Manne hemmen, sich 
im rechten Hoden des Patienten 
befunden haben. Prof. Selenew 
macht darauf aufmerksam, daß bei 
den Hottentoten in Südafrika und 
bei dem Stamme Ponope auf den 
Karolinen die kuriose Sitte der ein- 
seitigen Kastration bei jedem Kinde 
besteht. Ueber den Sinn dieser 
Sitte herrscht noch Meinungsver- 
schiedenheit, aber »jedenfalls haben 
wir hier reichliche Gelegenheit, 
den Einfluß der einseitigen Kastration 
auf den Organismus, sowie auf die 
übrigen primären und sekundären 
Geschlechtsmerkmale zu studieren«. 

Die Masken der Sexualität. 
Aus Berlin wird der Straßb. Post 
geschrieben: Die Psychoanalyse, die 
geistreiche Methode, mit der Sig- 
mund Freud eine neue Ara der 
Nerventherapie heraufzuführen hofft, 
macht schnelle Fortschritte. All- 
jährlich tagen bereits psychoana- 
lytische Kongresse, die Literatur 
wächst schier ins Ungemessene, es 
gibt ein regelmäßig erscheinendes 
Jahrbuch für Psychoanalyse und seit 
Monaten sogar eine psychoana- 
Iytische Monatsschrift großen Stils 
(Imago). Kein Wunder, daß die 
neue Schule nun auch versucht, 
das große Publikum für ihre Lehre 
zu interessieren, und sie tut es — 
man muß es ihr lassen — auf eine 

1 


JANUAR 1913 





recht geschickte Art. Im Berliner 
Architektenhaus erschien dieser Tage 
Dr. Wilhelm Stekel am Vortrags- 
pult, um über „Die Masken der 
Sexualität“ zu sprechen. Das Thema 
war äußerst klug gewählt und 
formuliert, spannend und pikant. 
Klug gewählt aber vor allem auch 
deshalb, weil es an Dinge anknüpfte, 
die jedem Menschen, der nur einiger- 
maßen gewöhnt ist, sich und andere 
zu beobachten, mehr oder weniger 
bekannt sind. So naiv sind wir 
denn doch heute nicht mehr, blind- 
lings an die heiligen Motive der 
Flagellanten zu glauben und der 
närrischen Ekstase hysterischer Pro- 
phetinnen wie einem hehren Him- 
melswunder gegenüberzustehen. Ja 
selbst hinter dem oft fast frivolen 
Heldenmut der Märtyrer läßt sich 
bisweilen so etwas wie ein erotisches 
Geheimnis ahnen. Und dann — 
haben uns nicht unsere Dichter und 
Seelenkünder längst gelehrt, den 
allzu stark akzentuierten Äußerungen 
des Widerwillens, zumal gegenüber 
Personen des anderen Geschlechts, 
zu mißtrauen? Ein entrüstet ab- 
gewiesener Freier kann über Nacht 
leicht, wie leicht zum angebeteten 
Idol der Geliebten werden; nicht 
etwa, weil die Frauen flatterhaft 
sind und ihre Meinung rasch zu 
wechseln pflegen, sondern weil die 
anfängliche Abneigung nichts weiter 
war als eine aus irgend welchen 
Gründen mit peinlicher Sorgfalt ver- 
steckt gehaltene Zuneigung. Aber 
die Psychoanalyse kennt noch ganz 
andere Masken der Liebe, und wenn 
man sich die Zeit und Mühe nimmt, 
diese Masken einmal gründlich zu 
studieren, so kommt man zu dem 
seltsamen Ergebnis, daß eine ganz 
verblüffend große Menge aller ner- 
vösen Krankheitserscheinungen, aller 
üblen und kuriosen Angewohnheiten, 
oft sogar verbrecherische Neigungen 
und Handlungen nichts anderes 
sind, als solche erotischen Masken. 


Schon das Kind (das Märchen vom 
asexuellen Kind muß ja als end- 
gültig abgetan gelten) maskiert sich, 
und der reife Mensch erlangt darin 
eine derartige Virtuosität, daß seine 
Maske oft der Kunst des gewiegtesten 
Seelenarztes lange Zeit hindurch sieg- 


haft Trotz bietet. Natürlich ist er 
selbst dabei der Betrogene, hat keine 
Ahnung davon, daß seine Leiden, 
seine kleptomanische Neigung, sein 
unheilvoller Drang, Mensch und 
Tier zu quälen, in Wahrheit auf 
unterdrückte Sexualtriebe zurück- 
zuführen sind. Die Psychoanalyse 
behandelt diese Kranken in der 
Weise, daß sie sie zur Erkenntnis, 
zur klaren Selbsterkenntnis führt. 
Wie das geschieht und welche 
inneren und äußeren Folgen es hat, 
haben wir an dieser Stelle nicht zu 
erörtern. Darüber hinaus aber bleibt 
noch ein gutes Stück Arbeit für uns 
und unsere Nachkommen zu leisten; 
denn es gilt ja nicht nur die Kranken 
zu heilen, sondern die Gesunden 
vor der Krankheit zu schützen, und 
das will hier besagen: die Masken 
der Liebe überflüssig zu machen. 
Zur Psychologie des Scham- 
gefühls. Ueber die Entwicklung 
und die gesellschaftliche und er- 
zieherische Bedeutung des Scham- 
gefühls sprach Dr. G. Flatau vor 
der Psychologischen Gesellschaft in 
Berlin. Er erkennt ein natürliches 
körperlichesSchamempfinden an und 
deutet es als eine Reaktion gegen 
die Einflüsse, die der Entwicklung 
des körperlichen und seelischen 
Lebens nachteilig sind. Das Kind 
besitzt dieses Schamgefühl nicht, 
da ihm ja auch die Kenntnis jener 
drohenden Einflüsse abgeht. Es 
besitzt im Gegenteil eine Neigung, 
sich zu entblößen, die auf das 
Lustgefühl, das durch die offene 
Hautatmung erzeugt wird, zurück- 
zuführen ist. Daß die in den ge- 
mäßigten Zonen wegen der 
Witterungseinflüsse nötige Beklei- 





dung des Körpers viel zur Aus- 
bildungdesSchamgefühls beigetragen 
hat, erkennt der Vortragende an. 
Auch das Verschleiern der Türken- 
frauen und das Verbergen der Füße 
bei den Chinesinnen als Zeichen 
des Schamgefühls zu erklären, sei 
jedoch irrig. Den Türkinnen ist 
das Verschleiern des Gesichts vor- 
geschrieben, um die sehr rege 
Eifersucht ihrer Gatten zu schonen. 
Denn der Türke ist von Natur außer- 
ordentlich eifersüchtig. Daß aber 
bei den Chinesinnen die Füße wenig 
zu sehen sind, liegt an ihrer durch 
Bandagen erzielten Verkrüppelung, 
die ursprünglich ein Zeichen der 
Knechtschaft gegenüber den Mand- 
schufrauen war. Beides hat also 
mit Schamhaftigkeit nichts zu tun. 
Ein bedeutsames Licht wirft da- 
gegen das Dekollet& unserer Damen 
auf den Begriff der Schamhaftigkeit, 
da bei gewissen gesellschaftlichen 
Gelegenheiten sicher jede jüngere 
Dame sich in einem undekolletierten 
Kleide geniert fühlen würde. Ein 
Beweis, daß Konvention und Mode 
den Begriff der Schamhaftigkeit 
stark beeinflussen. (Berl. Morgpst.) 

Exotische Heiraten. Eine junge 
Engländerin, Miß Olive Macleod, 
unternahm vor nicht allzu langer 
Zeit eine gefährliche Tour in das 
Innere Afrikas, um das Grab ihres 
Verlobten, des Leutnants Boyd- 
Alexander aufzusuchen, der von 
Eingeborenen ermordet worden war. 
Sie selbst wurde in den meisten 
Gegenden, durch die sie kam, sehr 
ehrenvoll aufgenommen und weiß 
nun allerhand Interessantes von ver- 
schiedenen Eingeborenenstämmen 
zu berichten, besonders in Bezug 
auf absonderliche Heiratsgebräuche, 
So erzählt sie, daß bei den Fulani, 
einem schöngewachsenen und in 
mancher Hinsicht ziemlich zivili- 
sierten Stamme in Nordnigeria, ein 
Jüngling, der sich zu verheiraten 
wünscht, einer sonderbaren Vorbe- 


reitung zu diesem Standeswechsel 
unterworfen wird. Seine Stammes- 
genossen gruppieren sich zu einem 
Kreis, in dessen Mitte der Heirats- 
kandidat Platz zu nehmen hat. 
Dann wird er von allen Seiten fleißig 
mit ledernen Riemen bearbeitet. 
Während der ganzen Prozedur hält 
erin der rechten Hand einen Spiegel, 
in welchem er sein Gesicht zu be- 
obachten hat. Es ist Ehrensache, 
daß seine Züge stets nur stoische 
Ruhe ausdrücken ; die Selbstkontrolle 
durch den Spiegel ermöglicht es 
ihm, jede verräterische Regung des 
Schmerzes gleich im Keime zu 
unterdrücken, und schützt ihn so 
vor Blamage. Vielleicht braucht er 
diese Selbstüberwindung in der Ehe 
sehr nötig! Ein afrikanischer Neger- 
häuptling, den die junge Engländerin 
indiskreterweise um die Anzahl 
seiner Frauen befragte, schätzte 
diese auf 200 bis 250 und führte 
sie ihr abteilıngsweise zum Photo- 
graphieren vor. Gegen die Weiße 
erwies er sich äußerst zuvor- 
kommend, ja er stieg sogar vom 
Pferde, um sie zu begrüßen, was 
seinen Untertanen um so mehr auf- 
fallen mußte, als er bis dahin noch 
niemals in der Oeffentlichkeit von 
irgend einer Frau Notiz genommen 
hatte. Der Gatte einer Prinzessin 
zu sein, ist bei mehreren Stämmen 
eher eine Bürde, denn eine Würde. 
Der Sultan von Bagirim wählt stets 
die Gatten für seine Töchter aus; 
aber meist drücken sich die jungen 
Leute vor dieser Ehe durch Davon- 
laufen. Denn der Gatte einer 
Prinzessin muß sich sofort von 
seinen bisherigen Frauen trennen, 
darf auch nie eine andere Frau 
heiraten, und die Prinzessin darf er 
auch nur dann besuchen, wenn diese 
ihn holen läßt, Eine besondere 
Annehmlichkeit genießt außerdem 
noch der Gatte der zweiten Tochter 
des Sultans. Während nämlich die 
älteste das Privilegium hat, sich in 
1* 


der Oeffentlichkeit zu Pferde zu 
zeigen, darf die zweite nur hucke- 
pack auf dem Rücken eines Mannes 
vor dem Volke erscheinen. Und für 
das ehrenvolle Amt, diese süße Last 
zu tragen, ist natürlich nur der Ehe- 
mann gut genug. Man braucht wohl 
kaum zu erwähnen, daß das Ver- 
mögen des Mannes seiner Prinzessin- 
Frau zur freiesten Verfügung steht; 
er selbst braucht sich garnicht mehr 
darum zu kümmern! SK. (Cth.) 
Statistisches über die Pros- 
titution jugendlicher Mädchen. 
In der Münch. Mediz. Wochenschrift 
veröffentlicht Jugendstaatsanwalt 
Rupprecht einen Aufsatz über die 
Prostitution jugendlicher Mädchen, 
dem wir nachfolgende interessante, 
statistische Angaben entnehmen. 
Zugrunde gelegt sind — schreibt 
der Verfasser — die Feststellungen, 
welche innerhalb dreier Jahre im 
Strafverfahren gegen 88 wegen Ge- 
werbsunzucht zu Strafen verurteilte 
Mädchen im Alter von weniger als 
18 Lebensjahren gemacht wurden. 
Zunächst fällt die große Zahl der 
jugendlichen Dienstmädchen auf, 
die wegen Gewerbsunzucht zur 
Anzeige kamen, und unter ihnen 
wieder die erhebliche Zahl von 
Mädchen des jüngsten Alters, des 
vollendeten 14.und 15.Lebensjahres. 
Von 24 noch nicht 16 Jahre alten 
Dirnen waren 17 Dienstmädchen. 
Auch die große Zahl der unehelich 
geborenen Mädchen, die der Pros- 
titution verfallen, verdientBeachtung. 
Daß die Prostitution ihre Opfer 
hauptsächlich im Arbeiterstande 
sucht, ist eine Tatsache, die über- 
wiegend in ungünstigen wirtschaft- 
lichen Verhältnissen beruht. Von 
den verurteilen 88 jugendlichen 
Dirnen gehörten 11 dem 15. Lebens- 
jahre, 26 dem 16. Jahre und 51 
dem 17 Jahre an. Von diesen 88 
Geschöpfen waren 66,6 Prozent 
geschlechtskrank. Die Ursachen, 
welche diese Dirnen auf den 





schlimmen Pfad getrieben haben, 
waren in 14 Fällen auf mangelnde 
Aufsicht der Eltern, in 9 Fällen auf 
die sittliche Verkommenheit der 
Eltern, in 6 Fällen auf sittliche Ver- 
wahrlosung, in 14 Fällen auf ärm- 
liche häusliche Verhältnisse, Woh- 
nungselend, und in 25 Fällen darauf 
zurückzuführen, daß die Tochter 
frühzeitig aus dem Elternhaus bei 
fremden Leuten zur Erziehung oder 
zum Erwerb weilte. 15 dieser un- 
glücklichen Geschöpfe lebten früher 
in geordneten Verhältnissen, 9 da- 
von genossen sogar eine gute Er- 
ziehung. In 17 Fällen ist der frühe 
sittliche Verfall auf Verführung durch 
Freundinnen, in 18 Fällen auf Ver- 
führung durch den Geliebten, in 
26 Fällen auf Not und Arbeitslosig- 
keit und in 27 Fällen auf Lieder- 
lichkeit zurückzuführen. Die Für- 
sorge des Jugendgerichtes hat sich 
in 8 Fällen durch Ueberweisung an 
die Eltern, in 6 Fällen durch Schutz- 
aufsicht, in 17 Fällen durch Unter- 
bringung in ein Heim, in 8 Fällen 
durch Verschaffung von Arbeit und 
in 20 Fällen durch Zwangserziehung 
betätigt. Am meisten gefährdet er- 
scheinen die jugendlichen Dienst- 
mädchen. Biermädchen und Kellner- 
innen und jugendliche Arbeiterinnen 
treten ihnen gegenüber trotz ihrer 
größeren Bewegungsfreiheit und 
Selbständigkeit zurück. Vielleicht 
liegt der Grund aber darin, daß 
diese letzteren erwerbstätigen Mäd- 
chen meist ein sogenanntes »festes 
Verhältnise haben. Die Mehrzahl 
der aus Arbeiterfamilien stammenden 
gefallenen Mädchen sind vom Lande 
oder aus Kleinstädten in die Groß- 
stadt gekommen. 

Die Prostitution in Chicago. 
In der Z. f. d. B. d. G. referiert R. M. 
über einen Bericht der Stadt Chicago 
aus dem Jahre 1911, der sich mit 
den Ursachen, der Verbreitung und 
Regelung des Prostitutionswesens 
daselbst beschäftigt. Der Referent 





führt aus den amtlichen Mitteilungen 
u. a. folgende markante Stellen an: 
»Die gewerbsmäßige Ausnutzung 
der Prostitution wird in Chicago in 
gewaltiger Ausdehnung betrieben. 
Sie erreicht einen Umsatz von 15 
Millionen Dollars pro Jahr. Be- 
sonders unterstützt wird sie dadurch, 
daß sich angesehene Männer und 
Frauen der Stadt dazu hergeben, 
Räume zur Ausübung der Pro- 
stitution für exorbitante Summen 
zu vermieten und somit ein Inter- 
esse an dem Bestehen der Pro- 
stitution haben, jener Prostitution, 
die jährlich 5000 Opfer fordert. 
Diese 5000 rekrutieren sich aus 
Prostituierten, die keinen anderen 
Beruf haben. Es ist natürlich un- 
möglich, irgendwelche Zahlen über 
den Umfang der geheimen Pro- 
stitution anzugeben. Die Polizei- 
liste selbst gibt eine Zahl von 4194 
Gewerbsmäßigen an. Die Zahl 
800 ist wohl nicht zu hoch ge- 
griffen für solche, die sich der 
Einschreibung entzogen haben ...« 
Über den Mädchenhandel und das 
Treiben der Zuhälter in Chicago 
heißt es an anderen Stelle: »Die 
Kuppler und Zuhälter machen be- 
sonders die Tanzlokale unsicher 
und halten nach unerfahrenen Mäd- 
chen Ausschau, es fällt ihnen dies 
umso leichter, als sie die Pro- 
stituierten, die zu 75 Prozent den 
Saal füllen, kennen. Wenn erstere 
dann betrunken sind, werden sie 
von den jungen Leuten, die zu 
diesem Zweck hinkommen, in die 
benachbarten Absteigequartiere mit- 
genommen. Der Preis für die Be- 
nutzung eines solchen Zimmers be- 
trägt 1—8 Mark, die Betten werden 
häufig nicht gewechselt und so 
sind diese Stätten eine Quelle der 
venerischen Erkrankungen. Bei 
einigen Wirtinnen ist eine Liste 
von jungen Mädchen gefunden 
worden, die tagsüber eine Be- 
schäftigung haben und des Abends 


SEXUALREFUORM 





telefonisch benachrichtigt werden, 
wenn sie gebraucht werden. Einige 
leben in der Nähe der Stadt und 
kommen von Zeit zu Zeit, um sich 
eine Nebeneinnahme zu verschaffen. 
Andere machen in den ersten Abend- 
stunden Bekanntschaften, denen sie 
Karten mit ihrer Adresse und Telefon- 
nummer hinterlassen. Auch eine 
große Anzahl von Männern sind 
Inhaber von Bordellen. Sie stehen 
in enger Beziehung mit den Zu- 
hältern und dem Abschaum der 
menschlichen Geellschaft. In einigen 
Bordellen bestehen sie darauf, daß 
die Mädchen sich einen Zuhälter 
wählen, der sie dann beobachtet. 
Perversitäten häufen sich besonders 
in den gutbezahlten Häusern. Vor 
vielen Häusern stehen Aufpasser, 
die durch eine elektrische Klingel 
oder bestimmte Zeichen mit der 
Hand anzeigen, wenn ein Schutz- 
mann sich nähert. Die sogenannte 
ärztliche Untersuchung der Mädchen 
durch von den Bordellwirtinnen an- 
gestellte Ärzte ist so gut wie wertlos. 
Es sind Fälle notiert worden, wo 
kranke Mädchen mit Wissen der 
Ärzte weiter im Haus verblieben 
sind.« 

Freudenhäuser für die Marine. 
Folgender Bericht geht dem »Hamb. 
Echo« aus Wilhelmshaven zu: Die 
Bürger von Wilhelmshaven befinden 
sich seit einiger Zeit in bedenklicher 
Aufregung. Gilt es doch, in der 
Stadt, der der deutsche Kaiser un- 
längst erst das Coligny-Denkmal 
schenkte, einen lebhaften Abwehr- 
kampf gegen die Errichtung eines 
Freudenhauses zu führen. Ein von 
Gewissensschmerzen wenig geplag- 
ter Unternehmer hat bei der Polizei- 
behörde die Erlaubnis zur Errichtung 
eines Logierhauses für Prostituierte 
nachgesucht. Nun wäre ja an einem 
solchen Wunsche nichts Besonderes, 
indes will der gute Mann aber auch 
einen Restaurationsbetrieb mit Da- 
menbedienung einrichten. Kurz, die 





Behörde soll die Konzessionierung 
eines versteckten Bordells bewerk- 
stelligen. Aber in Wilhelmshaven 
besteht bereits seit Jahren ein 
solches öffentliches Haus, dessen 
Betrieb wohl gegen die Bestimmun- 
gen des Strafgesetzbuchs verstößt, 
aber doch stillschweigend geduldet 
wird. Meint man doch, daß das 
regelmäßig längere Zeit abwesende 
Marinepersonal in Seestädten wie 
Wilhelmshaven Zutritt zu dergleichen 
Häusern haben müsse, anderenfalls 
Anfälle auf Frauen und Bürgers- 
töchter nichts Seltenes wären. 
Gegen die Errichtung weiterer 
Häuser, deren Genehmigung durch 
die Polizeibehörde bevorstehen soll, 
wehren sich nun aber die in der 
Nähe der projektierten Häuser 
wohnenden Bürger. Äußerlich aus 
moralischen Gründen, innerlich aber 
fürchten sie besonders einen Rück- 
gang der Wohnungsmieten. Eine 
große Protestaktion ist eingeleitet. 
Ein Spaßvogel machte den Vor- 
schlag, eine alte Korvette, wie solche 
eine Anzahl im Hafen abgetakelt 
liegen, als Freudenhaus einzurichten 
und diese dann jeweilig, wenn 
hoher Besuch anwesend, mit den 
Insassen in einen anderen Hafen zu 
fahren. Dieser Vorschlag erregte 
wohl großes Gelächter, er konnte 
aber in der Praxis keine Verwirk- 
lichung finden. In der Stadtver- 
ordnetensitzung beschäftigte sich 
auch die Kommunalverwaltung mit 
der allenthalben lebhaft diskutierten 
Frage. Das Ergebnis der mehr- 
stündigen Debatte war die Meinung, 
daß das benachbarte, auf Olden- 
burger Gebiet liegende Rüstringen 
das zweite Bordell in seinen Mauern 
aufnehmen solle. Die Stadt Rüst- 
ringen denkt aber gar nicht daran, 
Wilhelmshaven seinen Unrat abzu- 
nehmen. 

Bücherschicksale. Bis zu wel- 
chem Wirrwar die Rechtsprechung 
gedeihen kann, wenn die Interpre- 


tation des $ 184 der Willkür der 
einzelnen Gerichtsinstanzen unter- 
liegt, hat neuerdings der Prozeß 
des Stuttgarter Schriftstellers Unge- 


witter bewiesen, dessen Bücher 
»Nackt« und »Kultur und Nacktheit« 
seinerzeit von der Zensurbehörde 
beschlagnahmt wurden, nachdem 
sie bereits die längste Zeit im Buch- 
handel zugelassen waren. Hierzu 
schreibt die Frkf. Ztg. wie folgt: 
Das Buch »Nackt« wurde im Sep- 
tember 1911, nachdem es fast drei 
Jahre früher einmal vor Gericht ge- 
wesen, dann wieder zurückgegeben 
und anstandslos verkauft worden 
war, von neuem trotz verschiedener 
Ansicht mehrerer Instanzen beschlag- 
nahmt. In einem Stuttgarter Urteil 
vom April 1912 wurde es freige- 
geben. Die Staatsanwaltschaft legte 
Revision ein, die im Januar 1913 
entschieden wird. Inzwischen hat 
ein Berliner Gericht einen Buch- 
händler wegen Verbreitung des 
Buches mit 10 Mark Geldstrafe be- 
legt und die Entfernung einer Seite 
aus dem Buche durch Urteil be- 
schlossen, während das Münchener 
Schwurgericht einen Buchhändler 
wegen Verbreitung desselben Buches 
freigesprochen hat. Nun will das 
Berliner Gericht die in Stuttgart 
freigegebenen Exemplare des Buches 
teilweise vernichten; kommt dann 
das Reichsgericht zur Verwerfung 
der Stuttgarter Revision, gibt also 
dem Verfasser in Stuttgart recht, so 
nützt diesem das Urteil des Reichs- 
gerichts nichts mehr, weil das Land- 
gericht Berlin die Bücher schon 
teilweise hat zerstören lassen. Ganz 
ähnlich liegt die Sache bei »Kultur 
und Nacktheit« zwischen dem Stutt- 
garter und einem Wiesbadener Ur- 
teil. Das Kammergericht hat denn 
auch in einer Entscheidung vom 
19. November mit schöner Offen- 
heit erklärt, bezüglich einer und 
derselben Schrift könnten verschie- 
dene Entscheidungen des Reichsge- 


(505000 соро 


richts über die Sittlichkeit oder 
Unsittlichkeit des Buches nicht aus- 
bleiben, weil die Frage der Un- 
züchtigkeit eines Buches Tatfrage 
und keine Rechtsfrage sei. Eine 
Frage des Rechts ist eine derartige 
Rechtsprechung allerdings nicht 
mehr. 

Eine Gesetzesvorlage zur Be- 
kämpfung der Schundliteratur. 
Obwohl infolge der vielfach ge- 
troffenen Bekämpfungsmaßnahmen, 
die von kommunalen Körperschaften, 
Vereinen und dergi. ausgehen, ein 
Rückgang im Vertrieb der Schund- 
literatur festzustellen ist, so erachtet 
man doch eine reichsgesetzliche 
Regelung der Materie für notwendig. 
Die Reichsregierung hatte sich, um 
Grundlagen für gesetzgeberische 
Maßnahmen zu erhalten, an die 
Bundesregierungen gewandt, deren 
Äußerungen in der Mehrheit dahin 
gingen, daß ein schärferes Ein- 
schreiten erwünscht erscheint, wenn 
man der gesetzgeberischen Schwie- 
rigkeiten Herr werden könnte. Diese 
liegen namentlich in einer genauen 
Definition des Begriffes »Schund- 
literatur«, da die Grenzen zwischen 
dieser und anderer Literatur schwer 
zu ziehen sind. Im besonderen 
wurde in den Antworten der Bundes- 
regierungen darauf hingewiesen, daß 
ein gesetzgeberisches Vorgehen 
durch Abänderung der Gewerbe- 
ordnung zu befürworten sei, wo- 
nach die Kolportage derartiger lite- 
rarischer Erzeugnisse auch innerhalb 
des Wohnortes verboten wird. 
Ebenso wurde die Beschlagnahme 
derartiger im Wege des Kolportage- 
handels vertriebener Drucksachen 
für wünschenswert erachtet, und 
ferner sollten die Strafbestimmungen 
für Zuwiderhandlungen in dieser 
Hinsicht eine Verschärfung erfahren. 
Diebisherigen Erörterungenzwischen 
den beteiligten Reichsressorts haben 
sich in dieser Richtung bewegt, und 
wie wir hören, haben die Verhand- 


SEXUALREFORM 





lungen über ein reichsgesetzliches 
Vorgehen auf diesem Gebiete in 
letzter Zeit wesentliche Fortschritte 
gemacht, so daß es nicht ausge- 
schlossenerscheint, daß dem Bundes- 
rat noch während der jetzigen 
Tagung des Parlaments ein ent- 
sprechender Gesetzentwurf zur 
Durchberatung zugeht. 

Sexuelle Besessenheit. In 
einem Aufsatz, der im Januarheft 
der N. G. erschienen ist, bietet Hans 
Freimark eine Übersicht über die 
wichtigsten historischen Fälle von 
sexueller  Besessenheit (Hexen- 
glauben, Teufelsbuhlschaften) und 
fährt dann wie folgt fort: »Sie (Fälle 
sexueller Beschaffenheit) sind auch 
heutzutage keineswegs so vereinzelt, 
wie man vielfach meint. Allerdings 
hat der Rationalismus des vorigen 
Jahrhunderts versucht, den Teufeln, 
Dämonen und Geistern aller Art 
das Lebenslicht auszublasen. Da 
er aber glaubte mit bloßer Leugnung 
und Verneinung auszukommen, so 
ist ihm seine Absicht nicht gelungen. 
Der im Spiritismus wiedererwachte 
Geister- und Wunderglaube hat 
auch der sexuellen Besessenheit, 
wenigstens in bestimmten Kreisen 
wieder ihren alten Charakter ver- 
liehen. Die erotische Begehr- 
lichkeit Hysterischer, die sich 
sonst an irgend eine markante 
Persönlichkeit ihrer näheren oder 
weiteren Umgebung haftet, greift 
unter dem Einflusse spiritistischer 
Theorien in das »Jenseits« hinüber 
und wählt sich dort den Liebhaber. 
Das männliche Geschlecht wird von 
der sexuellen Beschaffenheit nur 
selten ergriffen (vgl. die fixe Idee 
bei Paranoikern, die sich sehr häufig 
von Dämonen besessen glauben. 
Anm. d. Red.) und dann sind es 
hypernervöse und in erotischer Be- 
ziehung ziemlich extrem veranlagte 
Individuen. Die Frauen dagegen 
sind und waren diesen psycho- 
physischen Anfechtungen weit mehr 


ee SEXUALREFORM 52505050505052505252505050505050/9] 


unterworfen. Zum Teil ist das wohl 
auf das Überwiegen des Gefühls- 
lebens zurückzuführen, zum andern 
trägt der Umstand wesentlich dazu 
bei, daß der Organismus der Frau 
konstant von den Wellen eines 
Umwandlungsprozesses durchflutet 
wird, der von ihrer Sexualsphäre 
ausgeht. Man unterschätze diesen 
Vorgang nicht. Freilich seine phy- 
siologische Abwicklung irritiert nicht 
in dem Maße, als seine bewußt 
kaum wahrzunehmenden physischen 
Ausläufer. Gerade dieses Über- 
greifen in das Gebiet des Unbe- 
wußten, in dem ja auch die Quellen 
des Glaubens an außermenschliche 
Mächte liegen, bringt die Erotik mit 
inneren psychischen Erscheinungen 
in eine sinnliche, vermeintlich äußere 
Verbindung. Der Verfasser em- 
pfiehlt zur Behebung dieses Zustan- 
des die Freudsche Psychoanalyse. 


ZENTRALBIBLIOTHEK FÜR 
SEXUALWISSENSCHAFT. 


BESPRECHUNGEN. 


Der Mut zu sich selbst. Das 
Seelenleben der Nervösen und seine 
Heilung. Von Dr. J. Marcinowski. 
Berlin W. 57, Verlag von Otto Salle. 
Brosch. M. 6.—, geb. M. 7.—. 

Marcinowski hat neuerdings in 
einem großen, breit angelegten 
Buche eine Lanze für seine beiden 
Meister Freud und Steckel gebrochen. 
Die Gesichtspunkte, unter denen 
das Buch abgefaßt ist, sind dem 
fachlichen Leserkreis bereits aus 
Marcinowskis erster Untersuchung 
über „Nervosität u. Weltanschauung« 
bekannt. In der genannten Studie 
versuchte der Verfasser den Nach- 
weis zu erbringen, daß die Nervo- 
sität eigentlich auf ein Ueberwuchern 
von ungesunden Gedankengängen 
zurückzuführen sei, und trat hier 
zum ersten Mal energisch für die 
psycho-analytische Methode auf, 


wie sie von der Wiener Schule in 
den letzten Jahren mit Erfolg ange- 
wendet wird. Marcinowskis Er- 
kenntnisse sind von einem starken 
Subjektivismus und Optimismus ge- 
tragen, wie überhaupt sämtliche 
Schüler Freud’s anderen Meinungen 
ziemlich schroff gegenüberstehen 
und jede Kritik der Psychotherapie 
von vornherein zurückweisen. Auch 
Marcinowski verwehrt sich in dem 
vorliegenden Buch gegen den Ein- 
wand, daß alle Erfolge der Psycho- 
analyse letzten Endes auf Suggestion 
beständen, und sucht ihn durch 
allerlei Gegenargumente zu ent- 
kräften. Tatsächlich hat die Dis- 
kussion dieser neuesten Methode 
der psychologischen Wissenschaft, 
die Steckel u. a. letzthin in der 
Oeffentlichkeit angeregt haben, viele 
Gegner der Psychotherapie zu ihren 
Anhängern gemacht, und auch der 
unkritische Laienverstand wird die 
intimen Beziehungen zwischen Ner- 
vosität und Sexualität auf die Dauer 
nicht bestreiten können. Trotzdem 
wollen wir die Frage, ob alle Träume 
Erwachsener nur erotische Symbole 
sind, bezw. die Erfüllung eines 
erotischen Wunsches in ihnen ange- 
deutet wird, offen lassen, da u. E. 
bei dem Traum noch andere als 
alleinerotische Komponenten aus- 
schlaggebend sind. Im übrigen ist 
dieses Kapitel bereits vor Marci- 
nowski von Näcke, Löwenfeld, De 
Sanctis, Moll u. a. ziemlich er- 
schöpfend behandelt worden und 
erst kürzlich hat Haeblein in den 
Sexualproblemen von der Erotik des 
Kindes und ihren Folgen im Leben 
des Erwachsenen ausführlich und 
einleuchtend gehandelt. Marcinowski 
widmet dem gleichen Thema einen 
breiten Raum in seiner Untersuchung 
und was er hier an kasuistischem 
Material und feinsinnigenHypothesen 
bietet, ist zweifelsohne von hohem 
Interesse und zeugt von einer liebe- 
vollen Vertiefung in den Stoff. Diese 


— 
a 





und die Abhandlung über die Kind- 
heit als Quellgebiet perverser Nei- 
gungen bilden den wertvollsten 
Bestandteil des Buches und sind 
eine wichtige Ergänzung der be- 
reits vorhandenen Erkenntnisse 
über das Sexualleben des Kindes. 
Das Marcinowski’sche Buch ist viel- 
leicht nicht eine Leistung in streng 
wissenschaftlichem Sinn — der Ver- 
fasser scheint mir mehr Dichter als 
trockener Berufspsycholog zu sein — 
aber gerade der subjektive Ton und 
die temperamentvoll und unverblümt 
ausgesprochenen Meinungen die 
darin zum Ausdruck gebracht sind, 
erheben es weit über den Durch- 
schnitt derartiger Schriften und 
werben den Erkenntnissen der 
Wiener Schule in den weitesten 
Kreisen Sympathien. 

Die Tuberkulose der Harn- 
organe. Von Dr. H. Wildboiz 
(in Sammlungen zwangloser Abhdig. 
aus dem Gebiete der Dermatologie 
etc.) Carl Marhold, Verlagsbuchhdig. 
Halle a.S. Preis: 1,50 Mk. 

Der Verfasser beschäftigt sich auf 
Grund praktischer Erfahrungen ein- 
gehend mit der Tuberkulose der 
Harnorgane, deren primären Herd 
er für alle Fälle in die Nieren ver- 
legt! Danach gelangen die Tuber- 
kelbazillen durch das Blut in die 
Nieren und rufen hier örtliche Ver- 
änderungen hervor, die in ihrem 
weiteren Verlauf zur Unterbindung 
der normalen Nierentätigkeit und 
dadurch mittelbar zum Tode der 
betreffenden Kranken führen. Eine 
Diagnose ist vom Anfang an nur 
nach peinlicher Untersuchung und 
mit der möglichsten Vorsicht zu 
stellen, da andere Erkrankungen der 
Harnorgane, wie Nierensteinkolik, 
unter denselben Symptomen einher- 
gehen. Dagegen lassen das Vor- 
handensein von Blut und Eiter im 
Urin sowie der Nachweis von Tuber- 
kelbazillen in den Harnabgängen 
den positiven Schluß auf Nieren- 


SEXUALREFORM 





tuberkulose zu. 


Die nächste Folge 
der Erkrankung der Harnorgane auf 
tuberkulöser Basis ist eine Pyurie 
(Eiterharnen), die mitunter von mehr 
oder minder heftigen Hämaturien 


(Nierenblutungen) begleitet sein 
kann. Sehr häufig tritt bei der 
innigen Verbindung von Harn und 
Sexualorganen eine Miterkrankung 
der letzteren bei tuberkulöser In- 
fektion der Harnwege ein, indem 
die Erkrankung der hinteren Harn- 
röhre beim Manne ein Uebergreifen 
des Prozesses auf die dort aus- 
mündenden Prostatagänge und 
Samenleiter zur Folge hat. Aber auch 
ohne Erkrankung der Harnröhren- 
schleimhaut können Tuberkelbazillen 
aus der Urethra in die Sexualorgane 
eindringen. Ebenso ist eine Infektion 
unmittelbar auf dem Blutwege mög- 
lich. Während die Tuberkulose der 
Harnorgane bei 60—70 pCt. aller 
männlichen Kranken auch zu einer 
Erkrankung der Sexualorgane führt, 
bleiben weibliche Patienten von ihr 
relativ häufig verschont. Eine zu- 
verläßliche Therapie ist mit Aus- 
nahme der günstigen Wirkungen der 
Nephiktomie (Entfernungderkranken 
Nieren auf operativem Wege) bis 
heute nicht gefunden. Häufig ge- 
langt die Krankheit selbständig zur 
scheinbaren Ausheilung, dadurch 
daß eine Verkäfung der tuberkulösen 
Nieren eintritt. Jedoch kann eine 
derartige Autonephraktomie niemals 
einer vollständigen Heilung verglichen 
werden, da die toxische Wirkung der 
verkäften Niere fortbestehen bleibt. 

Wie das Weib am Manne leidet 
und der Mann am Weibe. Von 
Reinh. Gerling. Anthroposverlag 
Preis brosch. 2 Mk., geb. 3 Mk. 

In einer Vorrede, die als Ueber- 
schrift die Variation eines bekannten 
biblischen Wortes: „Im Anfange war 
das Geschlecht« trägt, rechtfertigt 
der Verfasser seine Tätigkeit als 
sexualwissenschaftlicher Schrift- 
steller und teilt die Genese des 


vorliegenden Büchleins mit. Da- 
nach sollten die knappen belle- 
tristischen Skizzen mit sexualphilo- 
sophischen Perspektiven ursprüng- 
lich Mitteilungen »aus dem Beicht- 
stuhl der Ehe« heißen und erst, 
nachdem dieser Titel sich als be- 
reits vorhanden erwies, nannte 
Gerling seine Broschüre etwas lang- 
atmig »Wie das Weib am Manne 
leidet und der Mann am Weibe«. 
Aus den beiden vorgenannten Titeln 
ergibt sich der Inhalt des Bändchens, 
dessen Grundakkord am besten 
durch das Nietzesche Wort wieder- 
gegeben werden mag: »Ehe, so 
heiß ich den Willen zu Zweien, das 
eine zu schaffen, das mehr ist, als 
die es schufen!« Und weiter: Ueber 
dich sollst du hinausbauen! Nicht 
nur fort sollst du dich pflanzen, 
sondern hinauf. Dazu helfe dir 
der Garten derEhe!« Interpretationen 
dieses eindeutigen und dennoch viel- 
sagenden Motivs sind die einzelnen 
Kapitel über sexuelles Herrenrecht, 
Eifersucht, die Verhütung des Kinder- 
segens, Manneskraft, Untreue, 
Scheidung usw., von denen einzelne 
von dem Verfasser bereits an an- 
derer Stelle veröffentlicht wurden. 
Die Skizze Herrenrecht, die das 
Motiv des Incests zwischen einem 
Vater und seiner unehelichen Tochter 
behandelt, weist die dämonische 
Kraft eines Villieses und eine dem 
bizzaren d’Aurevilly ebenbürtige 
Erfindungsgabe auf — aber leider 
gibt der Autor selbst zu, daß nicht 
er, sondern — das Leben sie ge- 
dichtet habe. Eine furchtbare 
Dichtung, die eindringlicher als die 
geistreichste Argumentation die Ver- 
lotterung der vorhandenen sexuellen 
Moral darlegt! Der Rest der Bro- 
schüre ist eigentlich nur Wieder- 
holung der modernen sexualwissen- 
schaftlichen Postulate. Daß eine 
zweckentsprechende Aufklärung der 
Jugend zu den gesündesten Grund- 
sätzen der Pädagogik, eine nach 





Tunlichkeit ausgedehnte Abstinenz 
und Wertschätzung der Frau zu den 
Grundbedingungen einer glücklichen 
Ehe gehören, sind heute beinahe 
soviel wie Binsenwahrheiten. Aber 
Gerlings Schreibweise hat etwas 
Frisches, Einnehmendes an sich, und 


schließlich mag ihm zugegeben 
werden, daß alle Wahrheit bis zu 
gewissen Grenzen hin — banal ist. 
Seinen volkserzieherischen Zweck 
erreicht der Verfasser zweifelsohne 
sicherer und leichter als unsere 
schwerblütigen Professoren, die 
immer nur für eine Auslese aller 
Intelligenten schreiben. Das be- 
weist der praktische Erfolg der 
Gerlingschen Propagandaschriften. 
Dr. Schneider. 


BRIEFKASTEN. 


Schwangerschaftserbrechen. 
(Frau B. in L.) Eine entzündliche 
Erkrankung innerer Organe liegt 
dem Schwangerschaftserbrechen 
nicht zu Grunde. In der Regel ver- 
liert sich dieses Symptom im Ver- 
laufe der Gravidität, sofern nicht 
gleich beim ersten Auftreten eine 


sorgfältige, persönliche Hygiene 
stillend eingegriffen hat. Zur Be- 
hebung des Schwangerschafts- 


erbrechens empfiehlt sich nament- 
lich frische Luft, frühes und regel- 
mäßiges Aufstehen, hinreichende 
Bewegung, Mäßigkeit in Essen und 
Trinken und Sorge für regelmäßige 
Stuhlentleerung. Das Trinken von 
mit Jodtinktur versetztem Wasser, 
das neuerdings von mancher Seite 
warm befürwortet wird, ebenso wie 
die Verwendung von Champagner 
und Narkotiken ist nur auf Anraten 
des Arztes zulässig. Unstillbares 
Erbrechen hat Förster-Berlin durch 
künstliche Verlagerung der Gebär- 
mutter zum Schwin en gebracht. 
(Vgl. Münchn. Med. Woch. 1911, 
Nr, 33, S. 1780.) Fr. plädiert für 
diese verhältnismäßig harmlose 
Operation in allen Fällen von Neu- 
schwängerung, wo eine vorauf- 
gehende Schwangerschaft durch 
allzustarkes Erbrechen gefährdet war, 


Schönheit-Preisausschreiben 1913. 


Unser bisheriges Preisausschreiben 


zur Erlangung künstlerisch 
wertvoller Akt-Photographien 


wird auch für das Jahr 1913 unter den gleichen Bedingungen 
wiederholt. 

Die Aufnahmen sollen schön genugsein, um in der „Schönheit“ 
als vorbildlich veröffentlicht werden zu können. Sie sollen sittlich 
edel und einwandfrei wirken und sollen geeignet sein, in künstle- 
rischer und sittlicher Hinsicht zur Beseitigung aller der Akt-Photo- 
graphie noch vielfach entgegengebrachten Vorurteile beizutragen. 

Der ernste, künstlerische, gesundheitliche und sittliche Zweck 
dieses Preisausschreibens macht es wünschenswert, daß sich aus 
gebildeten Familienkreisen natürlich denkende, normal gewach- 
sene Frauen und Mädchen, die durch Korsett nicht entstellt 
sind, Männer, Jünglinge und Kinder bei unbefangenem Auf- 
enthalt im Bade, im Garten, in Wald und Feld zur Verfügung 
stellen und die Verwendung von Berufsmodellen nur soweit in 
Betracht kommt, als es sich um sittlich einwandfreie Personen 
mit edel-vornehmem Gesichtsausdruck handelt. Aufnahmen im 
Atelier oder Zimmer wirken sehr leicht pikant oder unnatürlich, 
es werden daherFreilichtaufnahmen in schöner Natur die meiste 
Aussicht haben, bei Prämiierung und Ankauf berücksichtigt zu wer- 
den; für Atelier- und Zimmer-Aufnahmen empfiehlt sich einfarbiger 
Hintergrund. Besonders erwünscht sind auch Gruppenbilder. 

An Preisen sollen wieder 


1000 Mark 


zur Verteilung gelangen und zwar 


ein 1. Preis von 300 Mark, 
ein 2. Preis von 200 Mark, 
ein 3. Preis von 100 Mark. 

Der Rest von 400 Mark soll in beliebiger Verteilung für 
weitere Preise oder Ankäufe nach dem Ermessen der Redaktion 
der „Schönheit“ Verwendung finden. Wir behalten uns vor, bei 
hervorragend wertvollen Einsendungen die Preise oder die 
Zahl derselben nachträglich zu erhöhen. 


11 


28 


Die Entscheidung liegt in den Händen der Redaktion der 
Schönheit und einer Anzahl künstlerischer, am Wettbewerb 
nicht beteiligter Mitarbeiter und Beiräte derselben. 


Bedingungen. 


1. Die Beteiligung steht nicht nur den Abonnenten, sondern 
allen Lesern der »Schönheits frei. 

2. Die Einsendung muß bis spätestens 30. November 1913 erfolgen. 
Spätere Einsendungen können für die Preisverteilung nicht berücksichtigt 
werden. Die Einsendung muß portofrei an die Redaktion der «Schönheit», 
Werder a. H., Am Zernsee 4, erfolgen. 

3. Jedes Bild muß auf der Rückseite ein Kennwort tragen. Der 
Name des Einsenders darf weder auf der eingesandten Preisbewerbung, 
noch auf der Postbegleitadresse, dem Umschlag oder der Einlage ver- 
merkt sein. Name und genaue Adresse sind vielmehr in einem gut 
verschlossenen Umschlag beizulegen, welcher die Aufschrift trägt: »Ent- 
hält Einsenderadresse«. In diesem verschlossenen Briefumschlag muß 
die ausdrückliche Erklärung des Einsenders enthalten sein, daß er die 
vorliegenden Bedingungen des Preisausschreibens ausdrücklich anerkennt, 
und daß sowohl der Hersteller des Bildes wie die aufgenommenen Per- 
sonen mit der Veröffentlichung einverstanden sind. Diese Umschläge 
werden erst nach der Entscheidung geöffnet. Berechtigt zur Einsendung 
sind nicht nur die Hersteller der Bilder, sondern auch die dargestellten 
Personen sowie deren Angehörige usw. 

4. Die Entscheidung des Preisgerichts wird im Weihnachts- 
heft 1913 veröffentlicht. Von der Zuerkennung der Preise kann abge- 
sehen werden, wenn die eingesandten Arbeiten den berechtigten An- 
sprüchen an Technik und künstlerischer Auffassung nicht genügen. Von 
den nicht preisgekrönten Arbeiten ist der Ankauf einer größeren Anzahl 
auf Grund besonderer Vereinbarungen in Aussicht genommen. 

5. Die eingereichten Bilder dürfen noch niemals veröffentlicht sein. 
Es dürfen beliebig viele Einsendungen gemacht werden. Die Bilder 
sollen möglichst dem Format der Schönheit angepaßt sein und in min- 
destens zwei scharfen, kontrastreichen Kopien in Original- Plattengröße 
eingereicht werden. 

6. Die preisgekrönten Bilder nebst den Negativen werden mit 
Reproduktionsrechten Eigentum des Verlags der Schönheit. Die Ver- 
öffentlichung erfolgt auf Wunsch unter Pseudonym. 

7. Die Rücksendung der nicht preisgekrönten oder nicht ange- 
kauften Einsendungen erfolgt auf Rechnung und Gefahr der Einsender. 
Das Rückforderungsrecht erlischt am 31. März 1914. 

8. Etwa erforderlich werdende Ergänzungen zu diesen Bestimmungen 
werden in der »Schönheit« bekannt gegeben. 


BERLIN-WERDER a. H. 
DIE SCHÖNHEIT 


Redaktion und Verlag. 





5 Die Schönheit, Buch- und Kunsthandlung, Werder a.H. 5 20 


Sexualwissenschaftliche Werke 
die sich zur Einfügung in jede Privatbibliothek eignen. 


Dr. med. Iwan Bloch 


Die Prostitution. 


Erster Band. 
Mit einem Namen-, Länder-, Orts- und Sachregister. Lexikonformat 900 Seiten stark. 
Preis brosch. M. 10.-, geb. 12.-. 

Was der Verfasser durch diese neue geschichtliche und soziale Untersuchung bis zum 

Ende des Mittelalters bietet, gewährt uns Einblicke in das Menschenleben, das oft zum 

Grauen und Schaudern führt, ja uns allen Miete еп gegenüber, die Menschheit 

zum Höhern zu bringen, hoffnungslos werden lassen könnte, wenn wir nicht wüßten, 

daß neben GE? Sümpfen und Niederungen auch das Große und Edle stets vorhanden 
gewesen is 


Zweiter Schlußband erscheint zu gleichen Preisen Mitte 1913. 


SERIES EE EE EE EE EE EE EE EES EE Ee ER 


Dr. med. Iwan Bloch 


Das Sexualleben unserer Zeit 


in seinen Beziehungen zur modernen Kultur. 
60. Tausend. Lexikon-Format 884 Seiten stark. 
Preis brosch. M. 8.— gebunden M. 9.50. 


Das vollständigste Werk über das menschliche Geschlechtsleben ! 


Ein Fundamentalwerk, dem keine Literatur etwas Ähnliches an 
die Seite stellen kann! 


veooeooooooooooooooooooooopoooootoooeeooosooeooeooeooestootootooeooootoooeotooeooteooooo 


Dr. Eugen Dühren 


Englische Sittengeschichte 


Zweite rev. Auflage. Zwei Bände im Umfange von über 1000 Seiten. 
Preis brosch. M. 20.-, geb. M. 23.-. 

Hochinteressanter Lesestoff über: Die vornehme Oesellschaft — Die Gesell- 
schaft des 18. und 19. Jahrhunderts — Lady Emma Hamilton — Die Mode — Aphro- 
disiaca — Kosmetica, Abortiv- und Oeheimmittel — Die Flagellomanie — Homosexualität 
— Sadismus und Masochismus — Andere sexuelle Perversitäten — Theater, Musik und 
Tanz — Die Kunst — Die Literatur — Die Bühnenliebhaberei — Sexualform und 
Sexualmystik. 


von00000000 0010101111110 


Sexualpsycholog. Bibliothek 


Band I Die Memoiren des Grafen von Tilly I 
Band II Die Memoiren des Grafen von Tilly II 
Band III Prostitution und Verbrechertum in Madrid 
Yoshiwara. Die Liebesstadt der Japaner 
Das verbrecherische Weib 
Das Ende einer Gesellschaft. 
Vollständig in 6 elegast. Bänden zum Gesamtpreise von M. 30.—. jeder Band 
auch einzeln käuflich zum Preise von M.5.—. Gesamtumfang aller 6 Bände 2400 Seiten. 
Die vorstehend angekündigten Werke sind gegen vorherige Einsendung des Betrages 
oder Nachnahme zu beziehen durch 


Die Schönheit, Buch-, und Kunsthandlung, Werder a. H. 





Handbuch 


Sexualwissenschaften 


mit besonderer Berücksichtigung der 
kulturgeschichtlichen Beziehungen 


unter Mitwirkung von 


Dr. med. et phil. G. BUSCHAN in Stettin, HAVELOCK 


ELLIS in West Drayton (Middlesex), Professor Dr. SEVED 
RIBBING in Lund, Dr. R. WEISSENBERG in Berlin und 
Professor Dr. K. ZIELER in Würzburg 


herausgegeben von 


Dr. Albert Moll, Berlin. 


Mit reicher Illustrierung von 418 Abbildungen im Text 
und 11 Tafeln. > 


Ein Band in Großoktav von 1029 Seiten. Preis broschiert M. 27.—, 
elegant gebunden M. 30.— 


Das vorliegende Werk ist in erster Linie für Mediziner bestimmt, 
aber auch für andere gebildete Personen, die sich mit den Sexual- 
problemen wissenschaftlich beschäftigen, namentlich Juristen, Sozio- 
logen und Pädagogen. Besondere Aufmerksamkeit hat der Autor 
den Abbildungen zugewendet in der Erkenntnis, daß die engen Be- 
ziehungen zwischen den verschiedenen Erscheinungen der mensch- 
lichen Kultur durch das reiche Bildermaterial am besten verdeutlicht 
werden. Das Buch enthält über 400 zum großen Teil bisher noch 
nicht veröffentlichte Abbildungen. 





оозооооооооооооооооовоооовосвсвеосововосвоовововоссвевовесвовевовссссввооовооссосововоовооо. 


Der Flagellantismus 
im Altertum 


Von Georg Friedrich Collas. Broschiert 10 Mark. 


Vorliegendes Werk behandelt die Erscheinung des Flagellantismus vom historischen 
und kulturhistorischen Standpunkte aus und sucht vornehmlich darzutun, welche Rolle 
er in den Rechtsgebräuchen und im relıgiösen Leben der verschiedenen Zeitalter ge- 
spielt hat. Auch das Erziehungswesen und die Sklaverei werden in den Kreis der 
REES EE e Betrachtung gezogen. ‚кклет наал атте наза зекетте тө 







PELTEIIIIIIIIIIITIIITITIIIIIIIIIII ө 


[ттт 


“7. DSa ti җе” Ф Чч 





Die Schönheit, Buch- und Kunsthandlung, Werder a.H. 95 


Die Zeugung beim Menschen 


Eine sexualphysiologische Studie aus der Praxis 
von 
Dr. med. Hermann Rohleder, 


Spezialarzt für Sexualleiden in Leipzig. 
Mit Anhang: 


Die künstliche Zeugung (Befruchtung) beim Menschen. 
290 Seiten gr. 8. M. 7.— 


Während die Pathologie des Sexuallebens nach allen Richtungen 
hin durchforscht und in zahlreichen Schriften populär dargestellt ist, 
ist die Physiologie der normalen menschlichen vita sexualis in der 
Literatur bisher sehr stiefmütterlich behandelt. Der bekannte Sexual- 
pathologe hilft in seinem neuen Buche diesem Mangel ab. Besonders 
wertvoll sind seine Ausführungen über die Physiologie der Koha- 
bitation und über die neuerdings häufiger angeschnittene Frage der 
künstlichen Befruchtung des Weibes, die sowohl physiologisch als 
auch vom juristischen Standpunkte aus von besonderem Interesse 
und die vom Verfasser besonders ausführlich behandelt ist. 


Eduard Fuchs und Alfred Kind 


Die Weiberherrschaft 


in der Geschichte der Menschheit 


Mit ca. 650 Textabbildungen u. 85 meist doppelseitigen, farbigen u. schwarzen Bildern. 
Das Werk erscheint zunächst in 30 vierzehntägigen Lieferungen zu je 1 Mark. 


E: ist ein überaus großer Reichtum von durchaus neuen Gesichtspunkten und Doku- 

menten, der hier zusanımengebracht und verarbeitet worden ist. Neben den in 
Frage kommenden allgemeiner bekannten Werken der großen Kunst wird das Buch 
mehr an zeitgenössischer Tageskunst zeigen, die weiteren Kreisen noch vollkommen un- 
bekannt ist. Es ist nicht zuviel behauptet, wenn man sagt, daß sich darunter wiederum 
ein Teil des Wertvollsten von dem befindet, was auf dem Gebiete des Holzschnitts, 
der Radierung, des Kupferstichs und des Schabstıchs, des Farbstichs und der Lithographie 
usw. im Jahrhundert geschaffen wurde. Vom Verlage ist — vor allem aber in den zahl- 
reichen Sonderbeilagen — mit allen anwendbaren technischen Künsten eine dem wert- 
vollen Original würdige Wiedergabe angestrebt worden. So ist ein Werk entstanden, 
das sich ebenso neu in seiner Idee darstellt, wie es eigenartig in seiner gesamten 
Durchführung ist und das alle die aufs regste interessieren dürfte, die den großen 

Fragen der Kulturgeschichte entgegenzukommen suchen. 

Trotz des reichhaltigen Bildermaterials der von Fduard Fuchs bisher erschienenen Werke, 
kann auch hier wıeder darauf hingewiesen werden, daß jedes Bild dieses Bandes in keinem 
anderen Werk von Eduard Fuchs enthalten ist und hier zum erstenmal erscheint. 


Farbig illustrierte Prospekte werden auf Wunsch sogleich kostenfrei zugesandt. 


Berlin Werder a H. Die Schönheit, 
Buch- und Kunsthandlung 








112 ёх INHALT 





GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT. 
VIII. Band, Heft 8. 


Abbildungen 
(Zu dem Aufsatz „Das öffentliche Beilager“. ) 


Die Neuvermählte. . . . . Vor Seite 321 Das Zubettgehen der Neuvermählten. 

Das Zubettgehen der Neuvermählten. - Hinter Seite 352 
Hinter Seite 336 Die Einsegnung des Ehebetts. Vor Seite 353 

Öffentliches Beilager und Eınsegnung des Das Zubettgehen der Neuvermählten. 


Ehebettes. . . . . Hinter Seite 336 Hinter Seite 368 
Hochzeit auf Марїпдапо. . Мог Seite 337 Das Aufstehen der Neuvermählten. 
Öffentliches Beilager. . . . Vor Seite 337 Vor dem Beiblatt. 

Text: 
Seite 3 o d Seite 
Sexuelle Entwertung. Von Dr. Das öffentliche Beilager. Von 

J. B. Schneider . . . . 321 Johannes Marr . . . . 342 

Der Kampf der Geschlechter. Der Geschlechtstrieb. Von Emil 


Von Dr. Wilhelm Stekel . . 333 ЕКА? u aus ia 


SEXUALREFORM. 
VIII. Band, Heft 8. 
Seite Seite 
Verschiedenes: 

Die Regelung: der Ehe im rassen- Zentralbibliothek für Sexual- 
hygienischen Sinne — Eine hoch- wissenschaft. (Besprechungen : 
moderne Ehescheidungs-Reform — Emil Lucka, Die drei Stufen der 
Dje englische Sittlichkeit im 18. Jahr- Erotik — Wilh. Stekel, Das liebe 
hundert — Strafgesetzbuch und Ich — Franz Blazek, Das Feuer) . 104 
Sexualverbrechen — Die Heilsarmee 
als „Heiratsvermittlerin‘‘ — Das un- Briefkasten: 
sittliche Testament — Alkoholismus Blutungen während der Schwanger- 
und Geschlechtsdrüsen — Die Rechts- Schaft ee en ZN iO 
stellung der unehelichen Kinder — 
Kriminal- und Lasterstudenten . . 97 


Unverlangte Manuskripte senden wir nicht zurück, wenn nicht Rückporto 
beigefügt ist. 





Verantwortlich für die Redaktion: Dr. J. B. SCHNEIDER, Werder a. H. 


Herausgeber und Eigentümer: VERLAG DER SCHÖNHEIT, KARL VANSELOW, 
Berlin-Charlottenburg und Werder a. H. 


Gedruckt von KREY U. SOMMERLAD, NIEDERSEDLITZ-DR. 





BEIBLATT ZU „GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT“ 
ACHTER BAND D NEUNTES HEFT D SEPTEMBER 1913 


VERSCHIEDENES. 


Ammenwesen und Mutter- 
trieb. In einem Aufsatz über den 
Generationswechsel, der sich im 
»Archiv für Rassen- und Gesell- 
schafts-Biologie« findet, handelt 
Medizinalrat Dr. J. Graßl unter 
anderem über die Abnahme des 
Muttertriebes in heutiger Zeit, die 
er zum Teil auf die gesteigerte 
Verwendung von Ammenernährung 
in der Säuglingspflege zurückführt. 
Die Völker, die Völkerstäimme und 
Sippschaften, die sich dem Ammen- 
wesen ergaben, litten von jeher 
unter den Folgen des abnehmenden 
Muttertriebes, nämlich an der Un- 
fruchtigkeit. Natürlich zeigen sich 
die Folgen nicht sofort, sondern 
erst Jahrhunderte nach dessen Ein- 
führung. Unter Hamurrhabi war 
das Ammenwesen bereits stark 
entwickelt; die Jüdinnen in Ägypten 
waren die Ammen ihres Wirtvolkes, 
wie die Juden die Ziegel- und Erd- 
arbeiter desselben waren. Das 
Ammenwesen Athens hinderte die 
völkische Entwicklung; Rom ging 
bereits unter den Gracchen zur 
Ammenernährung über usf. Der 
abnehmende Muttertrieb folgte 
regelmäßig nach. Das Ammenwesen 
wurde abgelöst durch die künst- 
liche Ernährung. Mit dem sich 
ausdehnenden Demokratismus, mit 
der Industrialisierung der Wirt- 
schaftsverhältnisse war nicht bloß 
für die oberen Stände die Gewin- 
nung der Ammen immer schwieriger 
geworden, so daß sie gierig zur 





Flasche griffen, sondern die unteren 
Stände, deren Leistung bisher noch 
von der Funktion der Brust der 
eigenen Mutter abhängig war, 
gingen unter dem Drucke der 
Aussenverhältnisse auch zur Flasche 
über. Die künstliche Ernährung 
und namentlich die Flasche war es, 
die die Folge der Mutterlosigkeit 
für die Existenz des Individuums 
milderte und damit naturgemäß die 
Bedeutung der Mutter für das Volk 
herabsetzte und den Muttertrieb 


schwächte. Die Flasche hat also 
nicht bloß — wie an anderer 
Stelle gezeigt wurde — großen 


kulturhistorischen Einfluß, sondern 
auch hohe biologische Bedeutung. 
Das moderne Kuhkind, der ge- 
wöhnliche Gegenstand der Säug- 
lingsfürsorge, ist in biologischer 
Beziehung ein pathologisches Pro- 
dukt. Das Nichtanlegen des Kindes 
ist aber auch für das Mutterindi- 
viduum eine Krankheit. Es muß 
die Rückbildung der ganz gewaltig 
vergrößerten Gebärmutter und der 
sehr stark vergrößerten Brustdrüsen 
zu gleicher Zeit vornehmen und 
die Brustdrüsen, die eine Ab- 
lenkung der Zerfallprodukte der 
Uterusrückbildung Monate hindurch 
sein sollten, vermehren noch den 
Verfallsvorgang. Daß dieses nicht 
mehr physiologisch ist, ist klar. 
Nebenbei leidet, wie allgemein be- 
kannt, auch das Kind-Individuum. 
` Der somatische Zusammenhang 
zwischen Mutter und Kind be- 
schränkt sich auf die Auskeimungs- 
periode. Während dieser Periode 
9 





findet aber ein ununterbrochener 
Saftstrom zwischen Mutter und 
Kind statt. Dieser Saftstrom ver- 
mehrt und erhöht die vorhandene 
Mutteranlage der Mutter. Diese 
Vermehrung des Muttertriebes bleibt 
in der Frau längere Zeit wirksam. 
je öfter daher die Frau befruchtet 
wird, desto mehr wächst der Trieb 
zum Kinde. Die tägliche Beobach- 
tung stimmt mit dieser Ansicht 
völlig überein. Die Frau, welche 
drei- oder viermal befruchtet wurde, 
ist, selbst wenn sie nun nicht mehr 
empfangen will, bei einer aber- 
maligen Schwangerschaft bei wei- 
tem nicht so »tief unglücklich» wie 
eine Frau, die von Anfang her un- 
oder unterfruchtbar sein will. 
Genialität und Rassenver- 
besserung. Der englische Gelehrte 
Havelock Ellis berichtet in einer 
Londoner Zeitschrift, daß er ohne 
Kenntnis der Bestrebungen der neuen 
eugenischen Theorie vor Jahren be- 
reits Untersuchungen über die bio- 
logischen Vererbungsverhältnisse 
genialer Engländer vorgenommen 
habe. Er studierte zu diesem Zweck 
dieLebensverhältnissevonetwa 1000 
Männern und Frauen, die im öffent- 
lichen Leben Englands eine Rolle 
gespielt haben, und konnte dabei 
feststellen, daß eine unverhältnis- 
mäßig große Zahl dieser Größen von 
Geisteskranken oder geistig minder- 
wertigen Eltern abstamme. Eine 
Schwierigkeit der Feststellung ergab 
sich freilich aus der Erwägung, 
daß der Wahnsinn bei den Er- 
zeugern gelegentlich erst im vor- 
geschrittenen Alter auftrat und 
deshalb als Symptom für die 
Vererbungsfrage nicht in Betracht 
kommen kann. In anderen Fällen 
wieder war der Geisteszustand so 
bedenklich, daß er die Grenzlinien 
des Wahnsinns fast überschritt. Im 
allgemeinen kann man das Ver- 
hältnis der geistesgestörten Eltern 
genialer Kinder auf 20 Prozent 





schätzen. Was diese Kinder selbst 
anbetriftt, so waren beispielsweise 
Swift und der Erzbischof Marsh aus- 


gesprochene Irre. Andere wieder 
wie Lamb hatten irrsinnige Ge- 
schwister. Diese Beobachtungen, 
die der Engländer hier macht, be- 
halten auch für das Ausland ihr 
Geltungsrecht. Es sei hier nur an 
Tasso erinnert. Er war wahnsinnig, 
sein Vater hatte einen krankhaften 
Hang zum Mystizismus und seine 
Mutter Portia stammte aus einer 
Familie, in der Laster und Grau- 
samkeit gang und gäbe waren. 
Ein Schulbeispiel ist auch jean 
Jacques Rousseau. Zwar waren 
seine Eltern gesund, er selber aber 
war gemütskrank und epileptischen 
Anfällen ausgesetzt. Daß die Scheide- 
linie, die den Irrsinn vom Genie 
trennt, kaum bestimmbar ist, be- 
stätigen im übrigen auch Mohammed, 
Napoleon, Molière, Händel, Paganini, 
Mozart, Schiller, Richelieu, Newton, 
Flaubert und andere mehr. Ein 
Psychiater ist kürzlich erst mit der 
Behauptung aufgetreten, daß dieWelt- 
geschichte von abnormen Menschen 
gemacht wurde, und hat als Beweis 
dafür auf Alexander den Großen, 
Julius Caesar, Luther und Friedrich 
den Großen verwiesen. Aus alle- 
dem glaubt Havelock Ellis den 
Schluß ziehen zu dürfen, daß die 
Anhänger der Rassenverbesserung, 
die durch die Zuchtwahl die Welt 
von allen nicht vollkommen ge- 
sunden Elementen befreien wollen, 
unbewußt und gedankenlos dem 
Ziele entgegensehen, alle starken 
und ungewöhnlichen Individualitäten 
auszurotten. Seiner Meinung nach 
ist daher ein Gebot der Pflicht, die 
eugenische Wissenschaft zu be- 
kämpfen, die nur dazu dienen kann, 
Alltagsmenschen zu züchten und 
das Genie zum Aussterben zu ver- 
urteilen. 
UngewöhnlicheNachkommen- 
schaften. Die Wiener „Ärztliche 





Standeszeitung“ bringt einige Mit- 
teilungen von riesenhafter Nach- 
kommenschaft, die gerade heute in 
der Zeit des Geburtenrückganges be- 
sonders bemerkenswert erscheinen. 
Geradezu ungeheuerlich mutet die 
wissenschaftlich festgestellte Tat- 
sache an, daß eine Frau nicht weniger 
als 69 Kinder geboren hat. Sie 
hatte nie eine einfache Geburt, 
sondern 4 mal Vierlinge, 7 mal gebar 
sie Drillinge und nicht weniger als 
16mal Zwillinge. Der Gatte dieser 
Frau hatte insgesamt 87 Kinder, von 
denen 84 am Leben sind, denn 
nachdem seine erste Frau, die ihm 
die obenerwähnten 69 Kinder ge- 
schenkthatte, gestorben war, heiratete 
er zum zweiten Mal. Von seiner 
zweiten Frau hatte er noch 18 Kinder 
und zwar in 2 Drillingsgeburten und 
6 Zwillingsgeburten. Diesem Manne, 
der 87 Kinder erzeugt hat, steht 
unter den bemerkenswerten Er- 
scheinungen der Beobachtungen in 
der männlichen Linie ein Deutscher 
am nächsten, der von 2 Frauen 
82 Kinder hatte. Ein anderer russi- 
scher Bauer hatte von seiner ersten 
Frau 57, von seiner zweiten Frau 
15, im ganzen 72 Kinder und zwar 
zum Teil Drillings- und Zwillings- 
geburten. In der älteren italienischen 
Literatur soll sich eine Mitteilung 
finden über eine Frau, die 53 Kinder 
gebar, ferner über eine 40 jährige 
Frau, die Mutter von 42 Kindern 
war; in neuerer Zeit wird von einer 
Frau berichtet, die in 30 jähriger Ehe 
48 Kinder gebar. Derartige Fälle 
gehören allerdings zu den größten 
Seltenheiten. Ferner soll eine 
Brasilianerin, die ein Alter von 
77 Jahren erreichte, nicht weniger 
als 44 Kinder geboren haben, von 
denen das erste im 15., das letzte 
im 47. Lebensjahre geboren wurde, 
ohne daß jemals eine Mehrlings- 
geburt zu verzeichnen war. Eine 
Tochter dieser Frau soll 19 Kindern 
das Leben geschenkt haben, da- 


` 


runter wieder eine Tochter, die bei 
ihrem im 31. Lebensjahre erfolgten 
Tode 18 Kinder hinterlassen hat. 

Die Gründung einer inter- 
nationalen Gesellschaft für 
Sexualforschung. Die Gründung 
einer solchen Gesellschaft ist in 
den letzten Wochen von den Herren 
Prof. Dück, Innsbruck; Prof. Hans 
Groß, Graz; Geh. Hofrat Prof. 
v. Lilienthal, Heidelberg; Dr. Max 
Marcuse, Berlin; San.-Rat Dr. A. 
Moll, Berlin; Geh. Konsistorialrat 
Prof. Seeberg, Berlin; Prof. Sell- 
heim, Tübingen; Prof. Weber, Chem- 
nitz; Geh. Regierungsrat Prof. Julius 
Wolf, Charlottenburg, vorbereitet 
worden mit dem Erfolge, daß sich 
bereits 70 der angesehensten Sexo- 
logen aus allen Zweigen der Wissen- 
schaft ihnen angeschlossen haben. 
Die konstituierende Versammlung 
fand Sonntag, 16. November, vor- 
mittags 11 Uhr im Langenbeckhaus,. 
Ziegelstr. 10, statt. Den Zutritt zu den 
nächsten Versammlungen haben alle 
Sexualforscher und alle Personen, 
die als sexualwissenschaftlich ernst- 
haft interessiert gelten können; wer 
von diesen den Versammlungen der 
Gesellschaft beizuwohnen wünscht, 
wird jedoch gebeten, sich wegen. 
Erlangung einer Legitimation an Dr. 
Max Marcuse, Lützowstr. 85, zu 
wenden. 

Proletariat und Geburten- 
ziffer. In einem ausgezeichneten 
Aufsatz, der sich im »Zeitgeist« findet, 
beschäftigt sich Dr. Otto Ehinger 
mit dem Gebärstreik, seinen sozialen 
und ökonomischen Konsequenzen 
und schließt dann folgendermaßen 
ab: Die Antwort des Proletariers 
auf die Frage des Schicksals, ob es 


„für ihn und seine Kinder Glück bct- 


deute, daß er zahlreiche Menschen 

zum Leben erwecke, ist ein trübes, 

bedrückendes Nein. So wirft sich die 

ohnmächtigste, verachtetste Klasse 

zum allmächtigen Herrn über die 

Gesellschaft auf, indem sie ihr 
9* 


das menschliche Leben verweigert, 


auf dem sie ruht. Noch vor zehn 
Jahren mußte das Handwörterbuch 
der Staatswissenschaften (Brentano) 
einen erfolgreichen Gebärstreik als 
Utopie bezeichnen. Heute weiß 
man, daß in einigen Jahrzehnten 
die Kulturvölker nur noch aus 
Menschen bestehen werden, deren 
Dasein gedacht und gewollt ist. Die 
oberen Schichten wußten sich zu 
allen Zeiten durch Beschränkung 
der Kinderzahl vor dem Druck des 
Lebens zu schützen. Aber ihre 
Sittlichkeit blieb Geheimlehre. Heute 
bekennen sich die proletarischen 
Parteien offen zum Neumalthusianis- 
mus, und manche Arbeitergruppen 
treiben mit ihrer Kinderzahl seit 
vielen Jahren bewußte Lohnpolitik. 
Die Mitglieder der „Hearts of Benefit 
Society«, welche die Elite der eng- 
lichen Arbeiterschaft in sich ver- 
einigt, verminderten aus diesem 
Grunde ihre Nachkommenziffer seit 
Mitte der achtziger Jahre auf weit 
weniger als die Hälfte. Es gibt 
keinen Kulturstaat, in dem die 
Geburtenverweigerung nicht schon 
begonnen hätte, und ihrem Fort- 
schritt stellen sich Moral und Staats- 
weisheit vergeblich in den Weg. Die 
Masse vermag dem Staat in der 
Begeisterung ihr Leben, aber nicht 
ihr Behagen und das Glück ihrer 
Kinder zu opfern. Und sie ist von 
der offiziell mit viel Grund streng 
mißbilligten Ansicht, daß es besser 
sei, weniger Kinder materiell glück- 
lich, als viele elend zu machen, 
nicht mehr abzubringen. Die staat- 
lichen Gegenmittel blieben bis jetzt 
in Frankreich, Ungarn und Australien 
ebenso wirkungslos wie im alten 
Rom. — Fruchtbar ist im allgemeinen 


das Elend; wo aber Teile eines ` 


Kulturvolks verarmen, steigt die 
Geburtenziffer nicht wieder. 
Fruchtbarkeit der durch die Krisis 
der letzten dreißig Jahre fast brot- 
los gewordenen Lyoner Seidenweber 


Die 





sinkt immer noch rapid, obgleich 
sie schon vorher geringer war als 
die des Durchschnitts des übrigen 
Frankreich. Sogar die Sklaven des 
römischen Italien, die wie Tiere 
zusammenlebten und nichts zu ver- 
lieren und nichts zu gewinnen hatten, 
wußten sich ja vom ersten Jahr- 
hundert vor Christus an fast völlig 
steril zu erhalten. 

Die Geburtenverweigerung, die 
alle zu materiellem Behagen führt 
und weder Entbehrungen noch 
Opfer verlangt, ganz heimlich und 
unkontrollierbar betrieben werden 
kann und niemals ein offenes Be- 
kenntnis fordert, besitzt alle Eigen- 
schaften, um beim langsameren 
Proletariat nach und nach ebenso 
beliebt zu werden wie in den 
höchsten Kreisen. Die Massen 
werden mit ihrem internationalen 
Gebärstreik — zu ihrer eigenen 
Überraschung — die wirtschaftliche 
Klassenschichtung und damit die 
bestehenden autokratisch - bureau- 
kratischen Staatsformen beseitigen, 
die Menschenware zum seltensten 
und deshalb kostbarsten Gut, die 
Arbeit zum Maß aller wirtschaft- 
lichen Werte machen. Dies ist ge- 
wiß; denn erst im Zustand einer 
hochgradigen Blutarmut wird die 
Gesellschaft es lernen, den Müttern 
das Geschenk eines Menschen groß 
genug zu danken. 

Liebesleben undKapitalismus. 
Nach einem Bericht des Westpr. 
Volksbl.-Danzig hat kürzlich der 
Berliner bekannte Nationalökonom 
Werner Sombart in einem öffent- 
lichen Vortrag in Danzig zu dem 
obigen Thema nachfolgende Ge- 
danken geäußert: „Die Entwicklung 
der geschlechtlichen Beziehungen 
habe sich nach zwei Seiten voll- 
zogen. Es gäbe gewissermaßen 
zwei Ströme. Der eine führe zu 
fortschreitender Freiheit und Eman- 
zipation, der andere zu fortschreiten- 
der Bindung und Beschränkung. 


Eee SEXUALREFORM 50505052505050505050505050505050] 133 


Man könne auch sagen, es seien 
seit dem Mittelalter zwei große 
Ideenkomplexe tätig gewesen, die 
griechische und die jüdische Auf- 
fassung. Mit der Zeit der Minne- 
sänger setzte die „Verweltlichung 
die Liebe“ ein, die ihren stärksten 
Ausdruck fand in der Zeit der 
Renaissance. Diese Entwicklung 
drängt zum Siege des Illegitimitäts- 
. Prinzips, wie es besonders in der 
Kurtisane der Höfe zum Ausdruck 
kommt. Seit dem 18. Jahrhundert 
ist die Kurtisanen-Maitressenwirt- 
schaft allgemein in die oberen 
Schichten der Gesellschaft über- 
nommen worden. Die zweite Auf- 
fassung ist die, daß nur die Liebe 
in der Ehe legitim ist, Zuerst war 
es die katholische Religion, die diese 
Gedanken in ihr System aufnahm. 
Das Erotische ist nur dann erlaubt, 
wenn es den Zwecken der Ehe dient. 
Diese Ansicht wird im Laufe der 
Zeit verschärft, kommt am schärfsten 
im Calvinismus und Puritanismus 
zum Ausdruck, ist besonders in den 
angelsächsischen Staaten gepflegt 
worden und hat den Grund ge- 
geben für die englische und ameri- 
kanische Ргйаегіе Der Redner 
suchte nun nachzuweisen, daß die 
Menschen gleichmäßig sind in der 
Stellung zu dem Problem der Liebe 
und des Wirtschaftslebens, wie es 
bereits Thomas von Aquin ausge- 
sprochen habe in den Worten: Die 
Sünde der Verschwendung ist eine 
allgemeine, und wer verschwende- 
risch ist in Liebesdingen, ist auch 
verschwenderisch in ökonomischen 
Dingen, und wer sparsam ist in 
dem einen, ist es auch im anderen. 
Die freiere Auffassung von den Be- 
ziehungen der Geschlechter äußere 
sich stets in der Entfaltung eines 
luxuriösen Lebens. Es gäbe zahl- 
reiche Menschen, die den Reich- 
tum verwenden, um ihr Leben in 
Sinnenlust und Schönheit zu ver- 
bringen. Die Finanziers seien zu- 





sammen mit den Höfen und dem 
Adel die Träger dieser Auffassung. 
Der Luxus aber sei für die Ent- 
wickelung des Kapitalismus von 
grundlegender Bedeutung geworden, 
weil er die Bedingung für den Ab- 
satz, für den Markt schuf. So ist 
das Schloß zu Versailles wie aller 
Luxus geschaffen auf einen Wunsch 
des Verliebten und es ist interessant, 
daß bei diesem Schloßbau die ersten 
Nachtschichten eingeführt wurden, 


weil der Verliebte es nicht erwarten. 


konnte, bis das Wunderwerk fertig 
war. Der Luxus früherer Zeit war 
öffentlich. Mit der Zeit, wo die 
Frau, insbesondere die illegitime, 
zu größerem Einflusse gelangt, sei 
eine Verhäuslichung und eine Ver- 
feinerung der Luxusentfaltung ein- 
getreten, wie es«sich im Barock und 
Rokoko stark bemerkbar machte. 
Die Gegenstände des Großhandels 
des 17.und 18. Jahrhunderts: Zucker, 
Kaffee, Seide, Gewürze usw. waren 
für das Luxusbedürfnis der Frauen 
bestimmt. Ein großer Teil der 
großen Industrie, so Seiden-, Gläser- 
und Spiegelindustrie, war Luxus- 
industrie. Überhaupt seien alle 
kapitalistischen Großindustrien für 
den Luxus entstanden. Man könne 
ruhig sagen, daß ohne den Luxus 
der Kapitalismus um Jahrhunderte 
hinausgeschoben worden wäre, aller- 
dings mit der Einschränkung, daß 
für den Massenbedarf des Militaris- 
mus ebenfalls der Kapitalismus not- 
wendig war. Die Bourgeoisie, die 
Bürger, seien diejenigen, die den 
Kapitalismus eigentlich recht in die 
Höhe gebracht haben. Ditse zweite 
Gruppe gehöre der anderen Richtung 
betreffs des Verhältnisses der Ge- 
schlechter an. Bei den modernen 
Wirtschaftsmenschen finde man jene 
Tugenden, die ihren höchsten Aus- 
druck fanden in den Bürgersleuten 
des 18. Jahrhunderts und die sich 
in die Worte kleiden lassen: Sei 
fleißig und arbeitsam, sei sparsam 


~ 





und sei wohlanständig. Mit diesen 
Bürgertugenden sei eine erotische 
Auffassung vom Liebesleben un- 
vereinbar. Der moderne Bourgeois 
sei zusammengeflossen aus Bürger- 
geistund Unternehmergeist. Sind nun 
diese verschiedenen Auffassungen in 
der Natur des Menschen begründet? 
Kann man durch eine bestimmte 
soziale Entwickelung aus jedem 
Menschen einen in allen Richtungen 
verschwenderischen oder haushälte- 
rischen Menschen machen? Man 
könne zu der Überzeugung kommen, 
daß die Menschen blutsmäßig ero- 
tisch und bürgerlich veranlagt sind, 
das die einen „Beamte“, die anderen 
„Künstler“, daß die einen geborene 
Lehrer und Erzieher, die anderen 
Beschauer und Betrachter seien. 
Unter den Zwangsverhältnissen des 
Lebens werden, wie Prof. Sombart 
meinte, die erotischen, die Künstler- 
naturen, ausgemerzt, denn die ero- 
tische Natur ist für das wirtschaft- 
liche Leben in unserem Sinne nicht 
fähig. Diese Naturen würden lang- 
sam vom bürgerlichen Leben auf- 
gesogen werden. Es röche zwar 
etwas nach Ketzerei, wenn man 
das Liebesleben und das Wirtschafts- 
leben in Zusammenhang bringe. Es 
ist nach Sombart jedoch notwendig. 
Es seien die zentralen Bewegungen, 
mit denen man sich in Zukunft noch 
oft werde befassen müssen. Es sei 
das Problem der Zukunft. 

Der Wert der Heiratsannonce. 
Helene Stöcker äußert sich in der 
N. G. bezüglich des Wertes des per- 
sönlichen Sichkennenlernens und 
der Bedeutung der Heiratsannonce: 
»Es ist selbstverständlich, daß uns 
das Problem einer besseren Organi- 
sierung menschlichen Kennen- 
lernens fortdauernd als eine durch- 
aus wesentliche Aufgabe in unserem 
Sinne erscheinen muß, und daß wir 
daher auch den alten und unzu- 
länglichen Formen, in denen heute 
der Versuch einer Rationalisierung 


SEXUALREFORM 5202525052525250525252505050505018) 


des Kennenlernens gemacht wird, 
z. B. durch die Heiratsannonce, 
zwar kritisch aber mit psycho- 
logischem Interesse gegenüber- 
stehen. So unzulänglich sie in 
ihrer heutigen Form ist, wo sie in 
der Regel nur denjenigen dient, 
denen es weniger: auf eine adäquate 
Persönlichkeit, als auf die Ge- 
winnung eines bestimmten Geld- 
besitzes ankommt, so liegen doch 
in ihr gewisse Möglichkeiten, sie 
in einer verbesserten, revidierten 
Form den Zwecken einer höheren 
Auslese in der Liebes- und Gatten- 
wahl zugänglich zu machen. Wie 
einer der geistreichsten Philosophen 
unserer Tage das soziologisch- 
psychologische Problem der Hei- 
ratsannonce darstellt, Professor 
Simmel in seiner „Philosophie des 
Geldes:, das mag mit einigen 
seiner eigenen Worte wieder- 
gegeben werden: »Daß die Heirats- 
annonce eine so sehr geringe und 
auf die mittlere Gesellschaftsschicht 
beschränkte Anwendung findet, 
könnte verwunderlich und bedauer- 
lich erscheinen. Denn bei aller 
hervorgehobenen Individualisierung 
der modernen Persönlichkeiten 
und der daraus hervorgehenden 
Schwierigkeit der Gattenwahl gibt 
es doch wohl für jeden noch so 
differenzierten Menschen einen ent- 
sprechenden des anderen Ge- 
schlechtes, mit dem er sich ergänzt, 
an dem er den »richtigen« Gatten 
fände. Die ganze Schwierigkeit 
liegt nur darin, daß die so gleich- 
sam füreinander Prädestinierten 
sich nicht zusammenfinden. Die 
Sinnlosigkeit von Menschenschick- 
salen kann sich nicht tragischer 
zeigen als in der Ehelosigkeit oder 
in den unglücklichen Ehen zweier 
einander fremder Menschen, die 
sich nur hätten kennen zu lernen 
brauchen, um aneinander jedes 
mögliche Glück zu gewinnen. Kein 
Zweifel, daß die vollendete Aus- 


ege ee eege 





bildung der Heiratsannonce das 
blinde Geratewohl dieser Verhält- 
nisse rationalisieren könnte, wie 
die Annonce überhaupt dadurch eine 
der größten Kulturträger ist, daß 
sie dem Einzelnen eine unendlich 
höhere Chance adäquater Bedürfnis- 
befriedigung verschafft.« 

Das deutsche Gretchenideal. 
Eine Charakteristik des Gretchen- 
ideals, dem die Frauenemanzipation 
ein vorzeitiges Ende bereitet hat, 
bietet Dr. Franck in der Frkf. Ztg. 
Er untersucht die politischen und 
wirtschaftlichen Bedingungen, die 
diese Wandlung des Frauenideals 
in neuer Zeit verschuldet haben, 
und fährt dann wie folgt fort: 
Das „Gretchen“, das „deutsche 
Gretchen“, ist ungefähr ein Jahr- 
hundert hindurch der weibliche Ideal- 
typus, gesehen durch das Medium 
deutscher Männeraugen, gewesen. 
Die Frauenrechtlerinnen vom ex- 
tremen Flügel haben das deutsche 
Gretchen mit einer reichlichen Lauge 
Spott und Verachtung bedacht, und 
eine gewisse Gattung männlicher 
Erotiker hat ihnen noch immer leb- 
haft zugestimmt. Es darf aber nicht 
übersehen werden, daß das Gretchen- 
ideal ein weiblicher Typus war, der 
mit unserer deutschen Männlichkeit 
im vorigen Jahrhundert, einer kräftig 
betonten und einseitig egozentrisch 
gerichteten Männlichkeit, vorzüglich 
korrespondierte. Es bedurfte einer 
beträchtlichen Metamorphose dieser 
Männlichkeit und einer Metamor- 
phose zugleich auch der Weiblich- 
keitund einer Metamorphose drittens 
der Auffassung, die beide Ge- 
schlechter von ihrer Stellung und 
Beziehung zueinander hatten, um das 
Gretchenideal in aller Form zu ent- 
werten und es bei wohlwollender 
Anerkennung seiner Qualitäten als 
eine doch nur unvollkommene 
Fassung des weiblichen Idealtypus, 
zumal am Maßstab einer ideal ge- 
dachten Ehegemeinschaft gemessen, 


zu erkennen. Es ist, beiläufig be- 
merkt, nicht die Frauenemanzipation, 
die diese Wandlung hervorgebracht 
hat, obwohl ihre Vertreterinnen nur 
zu sehr geneigt sind, sie ausschließ- 
lich ihrem Konto zuzuschreiben. 
Denn die Frauenemanzipation unserer 
Epoche ist in diesem Falle auch 
nur eine gleichzeitig mit jenem Ideal- 
typus an demsciben Baum gereifte 
Frucht, ist auch nur die Folge- 
erscheinung ener tieferliegenden 
Wandlung, die sich im Selbstbewußt- 
sein der Geschlechter in neuerer 
Zeit vollzogen hat. 
DasWesenhaftedesGretchenideals, 
dasdie deutschenMädchen undFrauen 
ein Jahrhundert hindurch in mehr 
oder minder vollkommener Form 
realisierten, war das wunderbare 
Vermögen einer restlosen Entpersön- 
lichung, der reine Wille zum Objekt, 
zum Objekt des Mannes, der Drang 
nach unbedingter seelischer und 
körperlicher Hingabe an den Ge- 
liebten und Gatten. Daß sie nicht 
rechneten, die deutschen Gretchen, 
daß sie blind waren gegen soziale 
und gesellschaftliche und tausend 
andere Realitäten, daß sie oft genug, 
und freilich auch töricht genug, ihr 
einfaches Gefühl mit ihrer ganzen 
Existenz, wie ja auch mit ihrem Ich, 
ihrerlatenten oder manifesten Persön- 
lichkeit bezahlten, das ist die Quelle 
aller jener rührenden Empfindungen, 
die sie auch heute noch in uns 
wachrufen, und des sentimentalen 
poetischen Schimmers, der sie lange 
glorienhaft umwob. Es macht dem 
Verantwortlichkeitgefühl des Mannes 
natürlich wenig Ehre, daß er nichts 
tat, um dieses Verhältnis zu ändern, 
daß er als Gatte und Liebhaber 
nahm und genoß, was ihm so be- 
quem lag, und so willkommen ge- 
boten wurde, und daß ihm nie der 
Gedanke kam: ob nicht der Frau, 
die dies Gretchenideal verkörperte, 
moralische Qualitäten innewohnen 
könnten, die sie auch noch zu weit 


136 


(152505050505050505050505050505050 SEXUALREFORM 


höherwertigerLeistung zu disponieren 
geeignet wären. Aber allzustreng 
mit dem Manne ins Gericht zu gehen, 
erscheint doch auch nicht angezeigt. 
Denn in seinem Urteil, seinem Vor- 
urteil über die Frau trug er die Last 
der Tradition im Kopfe, einer Tra- 
dition schließlich von Jahrtausenden, 
und da er sah, daß die Frau als 
Gretchen glücklich .war, so glück- 
lich, wie sie sichs nur denken konnte, 
so kam ihm, begreiflich genug, nie 
der Gedanke, daß es darüber hin- 
aus für die Frau noch etwas geben 
könne. 

Polizei und Prostitution in 
Nordamerika. Über dieses düstere 
Kapitel der amerikanischen Behörde 
und die Korruption namentlich in 
der Newyorker Polizei schreibt 
Dr. Ernst Schultze-Großborstel in 
einem Aufsatz über die Geschichte 
der Prostitution in Nordamerika, 
der sich in der „Neuen Generation« 
findet: Wie die Polizei in Nord- 
amerika der Prostitution gegenüber- 
steht, das wissen wir ja aus 
mancherlei Nachrichten über ihre 
Korruption, die immer wieder den 
Weg über den Atlantischen Ozean 
finden. In der Tat kann man sich 
die Verseuchung der ameri- 
kanischen Polizei kaum arg ge- 
nug vorstellen. Wenn sie in irgend 
einer nordamerikanischen Stadt ein- 
mal mit reinen Händen dasteht, ist 
zu befürchten, daß dies nur eine 
vorübergehende Erscheinung ist, und 
irgendwelche Sicherheit für die 
Dauer der Besserung ist nicht ge- 
geben. Es genügt nicht einmal, 
daß das Haupt der Polizeibehörde 
einehrlicher, anständiger, energischer 
und scharfsichtiger Mann ist, denn 
trotz aller dieser Eigenschaften gibt 
es tausend Mittel und Wege für 
seine Angestellten, ihn zu hinter- 
gehen und seine Verordnungen und 
Befehle unkräftig zu machen. Је 
größer das Polizeikorps ist, desto 
mehr tritt diese Schwierigkeit zu 





Tage. So ist es in der Stadt Newyork, 
wo die Verhältnisse am schlimmsten 
liegen, selbst dem ungemein ener- 
gischen und tüchtigen General Bing- 
ham trotz jahrelanger Tätigkeit nicht 
gelungen, wirklich Bresche in die 
fast unglaublich erscheinende Polizei- 
korruption zu legen. Hat doch die 
dortige Polizei, die sich mit kenn- 
zeichnender Bescheidenheit „йе 
feinste« (natürlich der ganzen Welt) 
nennt, einen Rekord nicht nur in der 
Schröpfung der Bordellbesitzerinnen 
und damit der Prostituierten auf- 
gestellt, sondern auch einen solchen 
im Mädchenhandel. Was die New- 
yorker Polizei an Schmiergeldern 
von der Prostitution zu be- 
ziehen vermag, mögen folgende 
Zahlen beweisen. Der frühere 
Bezirks - Staatsanwalt Eugene A. 
Philbin bezifferte die Gesamtsumme 
des Tributs, den sie aus ver- 
schiedenen Quellen bezog, auf vier 
Millionen M. jährlich; allein aus 
dem Tenderloin-Bezirk — dem Ver- 
gnügungszentrum Newyorks — er- 
hielt sie monatlich 80000 M. Spiel- 
höllen, die ebenso wie Bordelle ver- 
boten sind, hatten monatlich je 
2000 M. zu zahlen, um’ geduldet zu 
werden; andere Häuser (gemeint 
sind Bordelle) mußten je 2000 M. 
für die Erlaubnis der Eröffnung und 
је 200 М. monatlich für die Betriebs- 
erlaubnis zahlen. A. Philbin gab 
diese Ziffer in einer Ansprache, die 
er am 23. Mai 1905 in der Cornell- 
Universität hielt; er bezog sich da- 
bei auf die Verhältnisse, wie sie vor 
der Amtsführung des Polizeipräsi- 
denten William McAdoo herrschten, 
der seine Tätigkeit im Januar 1904 
begann. 

Ein interessanter Vertrag. Von 
einem merkwürdigen Vertrag, der 
kürzlich Gegenstand einer inte- 
ressanten Rechtsprechung des Reichs- 
gerichtes war, wird in der Frkf.Voıks- 
stimme erzählt: Eine noch jugendliche 
Witwe knüpfte mit einem Kaufmann 


аа а 





ein Verhältnis an, das auf beiden 
Seiten ohne Heiratsabsicht fort- 
gesetzt_ wurde. Nach Verlauf 
mehrererMonate drohte derKaufmann 
sich von der lebenslustigen Witwe 
abzuwenden, und zwar nach seiner 
Angabe hauptsächlich deshalb, weil 
die Gefahr bestände, daß er die 
Gelegenheit zu einerstandesgemäßen 
Heirat verpasse. Die Witwe konnte 
ihm selber kein Vermögen, sondern 
nur die Aussicht auf eine spätere 
Erbschaft bieten. Auf Drängen der 
verliebten Wittib kam schließlich 
zwischen den beiden folgender 
ordnungsmäßig geschlossene Ver- 
trag zustande: Der Freund ver- 
pflichtete sich weiter, Treue zu 
halten, und die Frau verpflichtete 
sich, im Falle ihrer Wieder- 
verheiratung oder eines Erbanfalls 
die Summe von 5000 M. an ihn zu 
zahlen. Als dann nach zwei Jahren 
die erwartete Erbschaft eintrat, ver- 
langte der Freund seine fünf braunen 
Lappen. Jetzt wandte ihm aber die 
undankbare Witwe den Rücken und 
verweigerte ihm zum Überfluß auch 
noch das ihm vertraglich zustehende 
Geld. 

Der Genasführte rief die Gerichte 
an, indem er beteuerte,.die 5000 M. 
seien eine gelinde Entschädigung für 
all die verpaßten »guten Partien«. 
Der liebesdurstigen Witwe habe er 
seine »schönsten Jahre« geopfert. Das 
Landgericht Bochum und das Ober- 
landesgerichtt Hannover sprachen 
auch in der Tat dem klagenden 
Kaufmann die Vertragssumme zu, 
das Reichsgericht indessen kam zu 
einer Abweisung der Klage. In 
der Begründung heißt es u. a.; Der 
zwischen Kläger und Beklagter ge- 
schlossene Vertrag ist nichtig. Es 
verstoße gegen die guten Sitten und 
das allgemeine Anstandsgefühl, wenn 
ein Mann, sich dafür, daß er einem 
Verhältnis mit einer Frau seine Zeit 
opfere und etwaige Gelegenheit zur 
Verheiratung verpasse, Geldentschä- 


SEXUALREFORM 


ee] 


digung versprechen lasse. Kläger 
habe auch gar kein Opfer gebracht, 
er sei vielmehr seiner eigenen 
Leidenschaft gefolgt, von der er 
sich stets hätte freiwillig losreißen 
können. Hat er sich aber für seine 
freiwillige Unterwerfung von dem 
Gegenstande seiner Leidenschafteine 
Entschädigung versprechen lassen, 
so trägt diese den Charakter der un- 
entgeltlichen Zuwendung. DasRechts- 
geschäft hat daher als Schenkungs- 
versprechen der notariellen Form 
bedurft. 


ZENTRALBIBLIOTHEK FÜR 
SEXUALWISSENSCHAFT. 


BESPRECHUNGEN. 


Die Geschlechtsunterschiede 
beim Menschen. Von Constantin 
I. Bucura. Verlag A. Hölder-Wien. 

In einer ausgezeichneten 
sammenstellung bekannten Mate- 
riales, dem eine Anzahl neuer, 
interessanter Beobachtungen hinzu- 
gefügt sind, sucht der bekannte 
Wiener Privatdozent und Forscher 
alle psychischen und somatischen 
Merkmale zu fixieren, die für die 
Unterscheidung der beiden Ge- 
schlechter ausschlaggebend sind. 
Bucura beginnt mit der Aufzählung 
der äußeren köıperlichen. Eigen- 
schaften bei Mann und Weib, der 
sich ein ausführliches Kapitel über 
die Beschaffenheit und Tätigkeit der 
eigentlichen Geschlechtsorgane an- 
schließt. Eine eingehende Schilde- 
rung erfährt die so überaus wichtige 
Mission der innersekretorischen Vor- 
gänge und die Funktion der Keim- 
drüsen, der von fachlicher Seite in 
letzter Zeit die größte Aufmerksam- 
keit gewidmet wird. Die inner- 
sekretorischen Vorgänge dürften nach 
heutigen Forschungsergebnissen die 
ganze Entwicklung der Persönlich- 
keit in einem derartig entscheidenden 


137 


Zu- . 











für die 


England seinen Pionier 
moderne Frauenbewegung ausge- 


sandt. Es ist der englische Ge- 
lehrte Lionel Tayler, der sich in 
einem Buch, das von Pannwitz in 
ein musterhaftes Deutsch übertragen 
wurde, über die Natur des Weibes 
eingehend ausspricht. Es ist eine 
ausführliche Darstellung der Ent- 
wicklung der Frau, sowohl vom 
historischen als auch modern ge- 
sellschaftlichen Standpunkt. Für die 
Frau werden im Großen und Ganzen 
die Erkenntnisse . der modernen 
Psychologie geltend gemacht. 
Mancherlei, wie ihr verengtes Be- 
wußtsein und dessen notwendige 
Äußerungen, wirdteilweise bestritten, 
teilweise zugegeben. Dadurch stellt 
sich Tayler stellenweise in direkten 
Widerspruch mit dem bislang besten 
Kenner der Frauenpsyche, Heymanns 
und seinen Nachfolgern. Manches, 
was bereits Möbius, Lombroso und 
Ferrero, Galton u.a. vor ihm aus- 
gesprochen haben, wird noch ein- 
mal wiederholt. Das gilt an erster 
Stelle von dem Kapitel; »Die Evo- 
lution des Geschlechts und ihre 
Bedeutung, Der Inhalt dieses 
Kapitels gipfelt naturgemäß in einer 
Abweisung der schrankenlosen 
Frauenemanzipation und in einer 
Verherrlichung der Mutterschaft, von 
der bedauert wird, daß sie in ihrer 
Bedeutung für die Geistigkeit 
der Frauen noch nicht genügend er- 
örtert und dargestellt worden ist. Der 
wertvollere Bestand dieses Buches 
jedoch sind weniger die theoretischen 
Auseinandersetzungen mit idealen 
Begriffen, sondern die praktischen 
Vorschläge, die der Verfasser auch 
in volkswirtschaftlicher Hinsicht be- 
zügliich der Frauenfrage macht. 
Das Buch ist in mancherlei Hin- 
sicht interessant, auch wegen der 
Abhandlung einer umfassenden ein- 
schlägigen Literatur, die sich in den 
knappen, miteinander zusammen- 
hängenden Aufsätzen eingestreut 


SEXUALREFORM 


findet. Es 


ist besser als viele 
seinesgleichen geschrieben und be- 
reichert, jeden der es in die Hand 
nimmt, um neue wichtige Gesichts- 
punkte, Ké 


BRIEFKASTEN. 


Unnatürliche Behaarung bei 
Frauen. (Frau S. in K.) Allerdings 
ist es ein ganz erheblicher „Schön- 
heitsfehler“, wenn das Haarkleid 
auch auf andere Teile des weiblichen 
Körpers sich erstreckt als auf jene, 
die von Natur aus dazu bestimmt 
sind. Ob eine Epilation von günstigen 
Folgen begleitet sein dürfte, können 
wir Ihnen nicht sagen, da uns die 
Gründe, weshalb jetzt überall auf 
Ihrem Körper „Haar zu sprossen be- 

innt“, nicht näher bekannt sind. 

llgemein pflegt allerdings der Haar- 
wuchs bei den Frauen nach dem Be- 

inn des Klimakteriums namentlich 
im Gesicht stärker zu werden, was 
auf das Aussetzen gewisser Sekre- 
tionen und das Ueberwiegen anderer 
in den Sexualorganen zurückzuführen 
ist. Da Sie jedoch erst im vierten 
Jahrzehnt stehen, so ist dieser plötz- 
liche Haarwuchs, verbunden gleich- 
zeitig mit einer Entwicklung Ihres 
Gesamthabitus zu männlichen For- 
men, nicht auf ein vorzeitig ein- 
getretenes Klimakterium zurückzu- 
führen. Fälle ähnlicher Art finden 
sich in der medizinischen Literatur 
wiederholt erwähnt, und zumeist 
handelt es sich dabei um Aeuße- 
rungen einer verspäteten homosexu- 
ellen Anlage, die bis dahin durch 
eine gleich starke heterosexuelle An- 
lage gebunden gewesen war. Auch 
der Umstand, daß Sie seit längerer 
Zeit merkwürdige Schwärmereien 
für junge Mädchen haben, während 
Ihnen fhr Mann gleichgültig ge- 
worden ist, bestärkt uns in der An- 
nahme, daß Ihre Umwandlungen 
zum virilen Typ auf die vorerwähnten 
Ursachen zurückzuführen sein dürfte. 
Wir empfehlen Ihnen, sich auf alle 
Fälle mit einem hervorragenden 
Nervenarzt in Verbindung zu setzen. 

Юг. 1. М. 





Schönheit-Preisausschreiben 1914. >» 


Unser vorjähriges Preisausschreiben 


zur Erlangung künstlerisch 
wertvoller Akt-Photographien 


wird auch für das Jahr 1914 unter den gleichen Bedingungen 
wiederholt. 

Die Aufnahmen sollen schön genug sein, um in der Schönheit 
als vorbildlich veröffentlicht werden zu können. Sie sollen sittlich 
edel und einwandfrei wirken und sollen geeignet sein, in künstle- 
rischer und sittlicher Hinsicht zur Beseitigung aller der Akt-Photo- 
graphie noch vielfach entgegengebrachten Vorurteile beizutragen. 

Der ernste, künstlerische, gesundheitliche und sittliche Zweck 
dieses Preisausschreibens macht es wünschenswert, daß sich aus 
gebildeten Familienkreisen natürlich denkende, normal gewach- 
sene Frauen und Mädchen, die durch Korsett nicht entstellt 
sind, Männer, Jünglinge und Kinder bei unbefangenem Auf- 
enthalt im Bade, im Garten, in Wald und Feld zur Verfügung 
stellen und die Verwendung von Berufsmodellen nur soweit in 
Betracht kommt, als es sich um sittlich einwandfreie Personen 
mit edel-vornehmem Gesichtsausdruck handelt. Aufnahmen im 
Atelier oder Zimmer wirken sehr leicht pikant oder unnatürlich, 
es werden daher Freilichtaufnahmen in schöner Natur die meiste 
Aussicht haben, bei Prämiierung und Ankauf berücksichtigt zu wer- 
den; für Atelier- und Zimmer-Aufnahmen empfiehlt sich einfarbiger 
Hintergrund. Besonders erwünscht sind auch Gruppenbilder. 

An Preisen sollen wieder 


1000 Mark 


zur Verteilung gelangen und zwar 


ein 1. Preis von 300 Mark, 
ein 2. Preis von 200 Mark, 
ein 3. Preis von 100 Mark. 

Der Rest von 400 Mark soll in beliebiger Verteilung für 
weitere Preise oder Ankäufe nach dem Ermessen der Redaktion 
der Schönheit Verwendung finden. Wir behalten uns vor, bei 
hervorragend wertvollen Einsendungen die Preise oder die 
Zahl derselben nachträglich zu erhöhen. 


140 


Die Entscheidung liegt in den Händen der Redaktion der 
Schönheit und einer Anzahl künstlerischer, am Wettbewerb 
nicht beteiligter Mitarbeiter und Beiräte derselben. 


Bedingungen. 


1. Die Beteiligung steht nicht nur den Abonnenten, sondern 
allen Lesern der »Schönheit« frei. 

2. Die Einsendung muß bis spätestens 31. Oktober 1914 erfolgen. 
Spätere Einsendungen können für die Preisverteilung nicht berücksich- 
tigt werden. Die Einsendung muß portofrei an die Redaktion der 
»„Schönheit«, Werder a H. Am Zerrnsee 4, erfolgen. 

3. Jedes Bild muß auf der Rückseite ein Kennwort tragen. Der 
Name des Einsenders darf weder auf der eingesandten Preisbewerbung, 
noch auf der Postbegleitadresse, dem Umschlag oder der Einlage ver- 
merkt sein. Name und genaue Adresse sind vielmehr in einem gut 
verschlossenen Umschlag beizulegen, welcher die Aufschrift trägt: »Ent- 
hält Einsenderadresse«. In diesem verschlossenen Briefumschlag muß 
die ausdrückliche Erklärung des Einsenders enthalten sein, daß er die 
vorliegenden Bedingungen des Preisausschreibens ausdrücklich anerkennt, 
und daß sowohl der Hersteller des Bildes wie die aufgenommenen Per- 
sonen mit der Veröffentlichung einverstanden sind. Diese Umschläge 
werden erst nach der Entscheidung geöffnet. Berechtigt zur Einsendung 
sind nicht nur die Hersteller der Bilder, sondern auch die dargestellten 
Personen sowie deren Angehörige usw. 

4. Die Entscheidung des Preisgerichts wird im Weihnachts- 
heft 1914 veröffentlicht. Von der Zuerkennung der Preise kann abge- 
sehen werden, wenn die eingesandten Arbeiten den berechtigten An- 
sprüchen an Technik und künstlerischer Auffassung nicht genügen. Von 
den nicht preisgekrönten Arbeiten ist der Ankauf einer größeren Anzahl 
auf Grund besonderer Vereinbarungen in Aussicht genommen. 

5. Die eingereichten Bilder dürfen noch niemals veröffentlicht sein. 
Es dürfen beliebig viele Einsendungen gemacht werden. Die Bilder 
sollen möglichst dem Format der Schönheit angepaßt sein und in min- 
destens zwei scharfen, kontrastreichen Kopien in Original-Plattengröße 
eingereicht werden. 

6. Die preisgekrönten Bilder nebst den Negativen werden mit 
Reproduktionsrechten Eigentum des Verlags der Schönheit. Die Ver- 
öffentlichung erfolgt auf Wunseh unter Pseudonym. 

7. Die Rücksendung der nicht preisgekrönten oder nicht ange- 
kauften Einsendungen erfolgt auf Rechnung und Gefahr der Einsender. 
Das Rückforderungsrecht erlischt am 31. März 1915. 

8. Etwa erforderlich werdende Ergänzungen zu diesen Bestimmungen 
werden in der „Schönheit« bekannt gebeben. 


BERLIN-WERDER a.H. 


DIE SCHÖNHEIT 
Redaktion und Verlag. 


= 


ESS Die Schönheit, Buch- und Kunsthandlung, Werder a. H. 157 


Die Geschlechtsunterschiede 
beim Menschen 


Eine klinisch-physiologische Studie 
von 


DR. CONSTANTIN J. BUCURA 


Privatdozent für Geburtshilfe und Gynäkologie an der 
Universität Wien. 


Preis brosch. 3 M. 


Das Buch enthält eine eingehende Beschreibung aller Geschlechtsunterschiede 
des Körperbaues sowie des Geschlechtslebens, ferner die psychischen Geschlechts- 
unterschiede, soweit sie heute darstellbar sind. Die Unterschiede der Natalität, 
Morbidität, Mortalität und Kriminalität werden auf Grund eigenen statistischen 
Materials festgelegt. Im Schlußkapitel endlich versucht der Autor aus den Er- 
gebnissen aller zusammengeführten Daten und aus sonstigen bekannten Tat- 
sachen die Geschlechtsunterschiede des Menschen nach ihrer Genese zu werten. 
Es ist eine der interessantesten und wertvollsten Arbeiten, die in letzter Zeit 
auf diesem Gebiete erschienen ist. 





i BEITRÄGE ZUM SEXUELLEN PROBLEM # 
VON 


DR: J. B. SCHNEIDER 


f PREIS BROSCHIERT 3 M. ELEGANT GEBUNDEN 4 M. 
mamanman S 


AUS DEM INHALT: 
Zur Frage der physischen und moralischen Jungfräulich- į 
i keit / Prostitution und Musik / Psychologie der Hochzeits- # 
i reisen / Künstler und Prostituierte / Die problematische * 
Frau / Die eheliche Untreue / Die Jagd nach dem Manne / 
Masturbation und Verbrechen usf. 
ишшишшинишиншииниииииишиииииииииииииииииииииитишишшитии | 
„Ein interessantes Buch, das neue, frappante Gedanken zum Sexual- |} 


f problem hinzubringt. Mit anerkennenswerter Offenheit werden hier die Я 
zahlreichen konventionellen Lügen der Gesellschaft gegeißelt...... Н 




















нйн нй нй ны INHALT aAA 





GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT. 
ҰШ. Вапа, Heft 12. 
Abbildungen: 
Zu dem Aufsatz: »Zur Psychologie des Kostümes:. 


Seite Seite 
Bei der Toilette. Von A. Beardsley. Das erste Rendezvous. Von Eduard 
Vor Seite 513 Bisson . . . . . . Vor Seite 545 
Eine Braut vom Jahre 1859. Vornehme Kokotten auf den Pariser 
Hinter Seite 528 Boulevards. Von Guillaume. 
Die Krinoline im Ballsaal. Vor Seite 529 Hinter Seite 560 
Die Naive. Von A. Genoile (1840) . 530  Badeleben. Von E. Heilemann. 
Auf der Jagd. Von Felix Valloton . 531 Hinter Seite 560 
Kostüm von einem Pariser Künstlerball 534 Varietekostüm. . . . Vor dem Beiblatt. 
Modebild. Von G. Lami (1898). . . 535 Cancan . . . . . . Vor dem Beiblatt. 


Liebe und Koketterie . Hinter Seite 544 
a 


Text: 
Seite Seite 
Prostitution und Gesellschaft. Schilddrüse und Kropfleiden. 
Von Dr. W. Hammer . . . 513 Von Dr. Conrad Appel . . 537 
Zur Psychologie des Kostüms Bündnisformen homosexueller 
vom Rokoko bis zur Gegen- Männer und Frauen. Von Dr. 


wart.Von Prof. Dr. A.Thimme 526 Magnus Hirschfeld. (Schluß). 542 


SEXUALREFORM. 
VIII. Band, Heft 12. 


Seite Seite 
Verschiedenes: Das Geschlechtsieben vor der Wiener 
(Syphilisübertragung und Infektions- Gesellschaft — Ein Homosexuellen- 
gefahr — Sexuelle Reformarbeit in Béil ein un an Ъул”. OT 
Amerika — Zur Reform der nordischen Zentralbibliothek für Sexual- 
Gesetzgebung — Sturmfreie Buden — wissenschaft. (Besprechungen: 
Transvestitismus und Polizei — Jaskowski, Philosophie des Vege- 
Richard, der Hochnotpeinliche — tarismus — Gewichtige Stimmen über 
Die Erwähnung der Syphilis in der das Unrecht des 8175) . . . . . 185 
belletristischen Literatur — Ein Briefkasten: 
Sammelplatz erotischer Literatur — (Magische Veranlagung des Weibes) 186 








Verantwortlich für die Redaktion: Dr. J. B. SCHNEIDER, Werder a. H. 
Herausgeber und Eigentümer: VERLAG DER SCHÖNHEIT, KARL VANSELOW, 
Werder a. H. 

Gedruckt von G. REICHARDT, Groitzsch, Bez. Leipzig. 


wur, na >> Ke 


Y~ Vo DA RIE © 
7 DA rel wo = 








EA, AG х 
Lei Lei ei Lei ei ё 
© ? ©? & © 
EN 9 un Zë, (re с (Le CS 7; Lë Kë dä 
BON 26 TS Ch әб DG 
e? © A KE, Q Q © 
VS, Ké RL y ч x 
=, ` ` m =. ` í PS FE: К л б LL: ` Va Lë PE 
LEE bh E WEE ә е = 
РЭ. гез e) © © e x 
V мей A KLA A KO © © С 
N Ya I A In SES GE 
ee ME ru 
о. Lë BKS 
$ у Kb ү e?) К К м = 


IO 


ҮА 
(7, 


Mr 
I 


Lee 
у 


ғ It 
er) WER 


47 
nO ei 


о@ о et Ea 


б) H 
Go ZS 


4 А ZA у КӨ) 
Vë. VS $7 Ф Фи 


kat kat ое КХФ 
en Le Le 9, 
7 7 VS. NY, 


Wa KC We ~ 
9] КАД м 


> NA 


PA Za 
«7 VS 


ехе Gi ©) 
9) 
MY,