Goethes Gespräche
Begründet von
Woldemar Frhr. von Biedermann
Zweite, durchgesehene und
stark vermehrte Auflage
Erster Band
Leipzig
F. W. V. Biedermann
1909
Goethes Gespräche
Gesamtausgabe
Neu herausgegeben von
Flodoard Frhr. von Biedermann
unter Mitwirkung von
Max Morris, Hans Gerhard Graf
und Leonhard L. Mackall
Erster Band
Von der Kindheit bis zum Erfurter Kongreß
1754 bis Oktober 1808
Leipzig
F. W. V. Biedermann
1909
Zum Geleit
Das erfte Wort an diefer Stelle gebührt dem An:«
denken des abgefchiedenen Begründers von Goethes
Gefprächen, der das Werk in feinem 72. Lebensjahre
begann und nicht aufhörte daran zu bauen, bis dem
86jährigen die Kraft des Lebens entfloh.
Es ziemt dem Sohne nicht, die wiffenfchaftliche
Bedeutung Woldemar von Biedermanns einer Schätzung
zu unterziehen, er darf es aber wohl ausfprechen, wie er
überall bei Kundigen einer dem Vater gewidmeten lieber*
vollen Verehrung und dankbaren Würdigung feiner
Verdienfte um die Goetheforfchung insbefondere auch
durch fein hier neu erftehendes Werk begegnet ift.
Diefe, ich darf fagen, ausnahmslofe Anerkennung
hat mir auch den Mut gegeben, nachdem die Auflage
vergriffen war, an eine neue Bearbeitung von Goethes
Gefprächen heranzutreten. Mir lag dazu ein von meinem
Vater bereits gefammeltes Material von 500 Nummern
vor, das er gedacht hatte in zwei weiteren Nachtrags*
bänden zu dem Stammwerke selbft noch herausgeben
zu können, verlagstechnifchen Bedenken gegenüber
jedoch für eine zu erwartende zweite Auflage entfagend
zurücklegte. Als dafür die Zeit gekommen war, war
die Feder dem Raftlofen entfallen.
Fortgefetzte Sammlung, durch mehrere Gelehrte,
denen mein Vorhaben bekannt wurde, in zuvorkom*
mendfter Weife gefördert, ließ die Gefpräche der An*
zahl nach auf die doppelte Höhe der in den 10 Bänden
der Urausgabe vorliegenden Maffe anwachfen.
I
VIII Zum Geleit.
Für die Entfcheidung über das Aufzunehmende
waren die anfangs angenommenen Grundfätze bereits
im Laufe des Erfcheinens des Werkes erweitert worden,
und aus dem hinterlaffenen Materiale habe ich erfehen,
daß der Herausgeber fich in der eingefchlagenen
Richtung auch die fernere Entwickelung der Ges^
fpräche gedacht hatte. Den daraus erfichtlichen Grund;:
fätzen bin ich auch weiter gefolgt und es ift dadurch
mehr Material in die Sammlung gekommen, das im
ftrengeren Sinne zu den Gefprächen nicht gerechnet
werden kann.
Der mit dem Herausgeber in langjähriger Freunds^
fchaft verbunden gewefene Guftav v. Loeper hatte ihm
einft geschrieben, ihm erschienen die Gefpräche als
die fchönfte Goethes=Biographie. Unter diefem Zeichen
möchte ich auch ganz befonders diefe Neuausgabe
betrachtet wiffen.
»Goethes Leben in Zeugniffen aus feinem Um^
gang« könnte man dem Titel ergänzend hinzufügen,
wenn man nicht vorziehen möchte, bei der gut einge^«
führten kurzen Bezeichnung zu bleiben. Demnach ge^
hören in unfere Sammlung nicht allein alle wörtlichen
Ausfprüche Goethes und gegenftändliche Mitteilungen
über mit ihm geführte Gefpräche, fondern alle direkten
oder indirekten Nachrichten und Urteile, die aus dem
perfönlichen Umgange mit ihm gefchöpft ßnd.
Diefes weiter gefteckte Ziel macht jedoch die kri^
tifche Würdigung im einzelnen ebenfowenig überflüfßg,
als die auf die äfthetifche Wirkung gerichtete Auswahl.
Denn mein Beftreben ging dahin, nicht nur eine Samm^
lung glaubwürdiger Urkunden zu geben, fondem auch,
foweit dies der immer voranftehende wiffenfchaftliche
Zweck zuließ, eine harmonifche Geftaltung des reiche
haltigen Stoffes zu gewinnen. Nach diefem Gefichts*»
punkte wird man die Einfchiebung mancher an fich
weniger beachtenswerten Notiz oder die Ausfcheidung
Zum Geleit. IX
anderer und auch die Anordnung zu beurteilen haben.
Das Ganze möchte ich einem Mofaikbilde vergleichen,
in welchem jeder kleinfte Stein an feinem Platze not*
wendig ift, fei es auch nur, um einen leeren Raum
oder den Rahmen anzudeuten.
Alles, was darüber hinaus fich als überfchüffiger
Stoif angefammelt hat, für die Spezialforfchung aber
von Wert bleibt, wird im Zufammenhang mit kurzen
Erläuterungen im fünften Bande aufgefpeichert werden.
Ebenda wird fich auch die Gelegenheit bieten, alles
etwa im Laufe des Erfcheinens diefer Ausgabe mir noch
zufließende neue Material in richtiger Folge einzureihen.
So werden die Gefpräche von allen zeitgenöffifchen
Nachrichten zur Kenntnis von Goethes Leben und
Perfönlichkeit auch das vereinigen, wofür fich fonft
kaum eine befondere Sammelftelle gefunden hätte.
Um über das umfangreiche Material eine beffere
Überficht zu gewinnen und dem Lefer gewiffe Ruhe*
punkte zu bieten, ist eine Gruppierung in eine An*
zahl von Büchern vorgenommen worden, die gewiffen
deutlichen Lebensabfchnitten entfprechen und für die
Zeit bis 1823 fich leicht feftftellen ließen. Da in der
Folge durch das Eintreten der ftändigen Berichter*
ftatter Müller, Soret und Eckermann fich der Stoff
für das letzte Jahrzehnt von Goethes Leben ftärker
anhäuft, fo mußten fich die fpäteren Perioden verkür*
zen und konnten, um eine gewiffe Gleichmäßigkeit
herzuftellen, nicht immer nach tiefer eingreifenden Er*
eigniffen bezeichnet werden.
Dem hiermit verfolgten Beftreben, den Charakter
der Materialienfammlung möglichfi: zu verwifchen und
ein flüffig lesbares, einheitliches Buch zu fchaffen,
find auch die fonftigen Einrichtungen dienftbar ge*
macht.
Die, den Inhalt oder die Teilnehmer der Ge*
fpräche bezeichnenden Überfchriften der erften Aus*
I
X Zum Geleit.
gäbe habe ich aufgegeben, da Re konfequent fich
ohne gezwungene oder umftändliche Formeln nicht
durchführen ließen und fchUeßUch dem Lefer oft mehr
hinderUch waren, als daß ße ihm einen beftimmten
Anhalt gewährten. Anftatt deffen ift jedem Einzel:*
ftücke nur der Name des Berichterftatters oder Gq^
währsmannes vorangeftellt und nur wo es für das
Verftändnis erforderlich war auch der Name des Be^
richtempfängers oder ein fonftiger Hinweis hinzugefügt.
Freilich ergeben fich diefe Bezeichnungen nicht immer
als felbftverftändlich aus den Quellen, und ich habe
mich dabei nicht ängftlich an das literarifch Gegebene
gehalten, fondern im Intereffe eines leichten, unmittel;*
baren Verftändniffes oft nach dem Sinne der Mitteilung
entfchieden. So ift gleich das erfte Gefpräch ein Bericht
Bettinens in der Form direkter Rede von Goethes
Mutter. Es ift natürlicher, diefe fogleich als Berichtes
erftatterin einzuführen, als den für die Gefpräche Nr. 3
und 4 notwendigen Umweg zu wählen. Gefpräch
Nr. 5 ift von Böttiger aufgezeichnet; fein Gewährst
mann war Gerning, der als Frankfurter unmittelbar
unterrichtet war und fomit auch für uns der maß^
gebende Berichterftatter ift. Weitere Einzelheiten des
hierbei beobachteten Verfahrens wird man fich hiers^
nach ohne weiteres erklären können. Fefte Grundfätze
ließen fich darüber nicht aufftellen, da häufig nur die
Empfindung für das Richtige oder Angemeffene zu
entfcheiden hatte. Die Nachweifung der literarifchen
Quellen wird im Zufammenhang im fünften Bande ge*
geben werden.
Durch diefe Art der Überfchriften wurden auch
die beim Lefen vielfach ftörenden erläuternden Ein*
fchaltungen über die in Rede ftehenden Perfönlichkeiten
überflüffig. Andere zum unmittelbaren Verftändnis
notwendigen Ergänzungen oder fonftige Änderungen
wurden, foweit irgend möglich, fo in den Text ver*
Zum Geleit. XI
woben, daß Üq ftiliftifch darin vollftändig aufgehen,
hingegen in Kurfivfchrift gefetzt. So kann man un^
gehindert darüber hinweglefen, und der Originaltext
bleibt doch völlig intakt. Auslaffungen, gleichviel von
welcher Länge, find durch ^^ gekennzeichnet. Wo ein
Fürwort nur durch einen Namen oder ein anderes
Hauptwort erfetzt worden, ift dies nur durch Kurfivs=
fchrift der letzteren angedeutet. Soweit erforderlich
und angängig wurde der Text durch folche redaktionelle
Einfchiebungen oder Abkürzungen unmittelbar ver^
ftändlich gemacht, nur wo das nicht möglich, half ich
mir durch Vorbemerkungen oder Anmerkungen. Irr#
ungen der Berichterftatter über Daten oder Tatfachen
wurden nur in unumgänglichen Fällen kurzerhand an^
gemerkt. Unfichere Daten und Namen find in ( )
gefetzt, nicht näher datierbare Stücke an der gehörigen
Stelle auch ohne Datumangabe eingefetzt. Alles weitere
für gelehrte und ungelehrte Lefer Wünfchenswerte
bleibt dem Anhangsbande vorbehalten.
In der Behandlung des Textes bin ich im übrigen
ganz der erften Ausgabe gefolgt und tunlichft konfer*»
vativ verfahren. Nur ift jetzt die moderne Recht:=
fchreibung angewandt worden.
Kleine ftörende Unfchönheiten in der Schreibweife
find fchonend befeitigt, doch Charakteriftifches bei;*
behalten worden, im allgemeinen aber der Text quellen*
getreu erhalten. SämtHche Quellen find behufs Text*
verbefferung verglichen worden, nur Weniges, wie
befonders manches aus Tageszeitungen Gefchöpfte war
nicht mehr erreichbar.
Diefe Angaben mögen vorerft genügen, um den
Empfänger des erften Bandes zu orientieren; ausführ*
lichere Mitteilungen werden in dem für die Erläute*
rungen, Nachträge und Regifter und unausbleibliche Be*
richtigungen vorbehaltenen fünften Bande des Werkes
gegeben werden.
I
XII Zum Geleit.
Dort werde ich auch im einzelnen allen denen
Dank abzuftatten haben, welche mein Vorhaben mit
ihrer Teilnahme begleiteten. Diefen Dank fpreche ich
hier zunächft im allgemeinen aus, in der Hoffnung,
ihn bis zum Abfchluß des Werkes noch weiter aus»«
dehnen zu können, ftets gewärtig, durch Ausgabe jeden
Bandes von neuem Anregung für Mitteilungen aus
verborgenen Quellen, fei es gedruckten oder unge«*
druckten, zu geben.
Für drei befonders tätige Freunde des Unterst
nehmens glaubte ich meinem Dank durch Benennung
auf dem Titel verdienten Nachdruck geben zu follen.
Über Art und Umfang ihrer Mitwirkung werde ich
mich auch erft am Schluß auszufprechen haben.
Möge das Werk in feiner neuen Geftalt die gleiche
dankbare Aufnahme finden, die der erften Ausgabe
in fo reichem Maße befchieden war; möge es den
Namen Woldemar von Biedermann in der Goethe*«
Gemeinde in dauerndem Gedächtnis erhalten und zur
Ausbreitung Goethefchen Geiftes weiter wirken.
Steglitz, an Goethes hundertfechzigftem Geburtstage.
Flodoard Frh. v. Biedermann.
Inhalt des erßen Bandes
Seite
Zum Geleit VII
Elftes Buch. Nr. 1-126.
Kindheit und Jugend bis zum Eintritt in Weimar,
1754 bis Oktober 1775 1
Zweites Buch. Nr. 127-272.
Vom Eintritt in Weimar bis zur Abreife nach Italien,
1775 November bis Juli 1786 67
Drittes Buch. Nr. 273-418.
Vom Antritt der italienifchen Reife bis zum Beginn
des freundfchaftlichen Umgangs mit Schiller, 1786 Juli
bis Juli 1794 135
Viertes Buch. Nr. 419-618.
Vom Beginn der Freundfchaft mit Schiller bis zum
Ende des achtzehnten Jahrhunderts, 1794 Juli bis
Ende 1800 205
Fünftes Buch. Nr. 619-830.
Vom Beginn des neunzehnten Jahrhunderts bis zu
Schillers Tode, 1801 bis Mai 1805 297
Sechftes Buch. Nr. 831-1117.
Vom Tode Schillers bis zum Erfurter Kongreß,
1805 Mai bis Oktober 1808 . 393
GOETHES GESPRÄCHE
I
1754 bis Oktober 1808
Erfies Buch
Kindheit und Jugend
bis zum Eintritt
in Weimar
1754 bis October 1775
1754.
[1.] Elifabeth Goethe.
Ich konnte nicht ermüden, zu erzählen, fo wie er
nicht ermüdete, zuzuhören <^ Da faß ich, und da ver;:
fchlang er mich bald mit feinen großen fchwarzen Augen,
und wenn das Schickfal irgend eines Lieblings nicht recht
nach feinem Sinn ging, da fah ich, wie die Zornader an
der Stirn fchwoll, und wie er die Tränen verbiß. Manche
mal griff er ein und fagte, noch eh ich meine Wen^
düng genommen hatte: Nicht wahr, Mutter, die Prin?
zeffin heiratet nicht den verdammten Schneider, wenn
er auch den Riefen tot fchlägt. Wenn ich neuen Halt
machte und die Kataftrophe auf den nächften Abend ver^
fchob, fo konnte ich ficher fein, daß er bis dahin alles
zurecht gerückt hatte, und fo ward mir denn meine Ein?
bildungskraft, wo fie nicht mehr zureichte, häufig durch
die feine erfetzt; wenn ich dann am nächften Abend die
Schickfalsfäden nach feiner Angabe weiter lenkte und
iagte: Du hafts geraten, so ifis gekommen, da war er
Feuer und Flamme, und man konnte fein Herzchen unter
der Halskraufe fchlagen fehen. Der Großmutter, die im
Hinterhaufe wohnte und deren Liebling er war, vertraute
er nun allemal feine Anflehten, wie es mit der Erzählung
wohl noch werde, und von diefer erfuhr ich, wie ich
feinen Wünfchen gemäß weiter im Text kommen foUe;
und fo war ein geheimes diplomatifches Treiben zwifchen
uns, das keiner an den andern verriet. So hatte ich die
Satisfaktion, zum Genuß und Erftaunen der Zuhörenden,
meine Märchen vorzutragen, und der Wolfgang, ohne
je fich als den Urheber aller merkwürdigen Ereigniffe
zu bekennen, fah mit glühenden Augen der Erfüllung
feiner kühn angelegten Pläne entgegen, und begrüßte das
Ausmalen derfelben mit enthufialtischem Beifall.
Elifabeth Goethe. [2
1755.
[2.] November. Elifabeth Goethe.
Betrachtungen aller Art über das Erdbeben von LiJJa=
bon wurden in Gegenwart der Kinder vielfeitig befprochen,
die Bibel wurde aufgefchlagen; Gründe für und wider
behauptet; dies alles befchäftigte den Wolfgang tiefer als
einer ahnen konnte, und er machte am Ende eine Aus^
legung davon, die alle an Weisheit übertraf. Nachdem
er mit dem Großvater aus einer Predigt kam, in welcher
die Weisheit des Schöpfers gleichfäm gegen die betroffene
Menfchheit verteidigt wurde und der Vater ihn fragte,
wie er die Predigt verftanden habe, fagte er: Am End
mag alles noch viel einfacher fein als der Prediger meint,
Gott wird wohl wiffen, daß der unfterblichen Seele durch
böfes Schickfal kein Schaden gefchehen kann.
1756.
[3.] Bettina Brentano nach Erzählung der Mutter.
Oft fah er nach den Sternen, von denen man ihm
fagte, daß fie bei feiner Geburt eingeftanden haben; hier
mußte die Einbildungskraft der Mutter oft das Unmög^
liehe tun, um feinen Forfchungen Genüge zu leifien, und
fo hatte er bald heraus, daß Jupiter und Venus die Regen?
ten und Befchützer feiner Gefchicke fein würden; kein
Spielwerk konnte ihn nun mehr feffeln, als das Zahlbrett
feines Vaters, auf dem er mit Zahlpfennigen die Stellung
der Geftirne nachmachte, wie er iie gefehen hatte; er
fiellte diefes Zahlbrett an fein Bett und glaubte fich da?
durch dem Einfluß feiner günftigen Sterne näher gerückt.
Er fagte auch oft zur Mutter forgenvoll : Die Sterne werden
mich doch nicht vergeffen und werden halten, was fie bei
meiner Wiege verfprochen haben? — Da fagte die Mutter:
Warum willft du denn mit Gewalt den Beiftand der Sterne,
da wir andere doch ohne fie fertig werden muffen? Da
fagte er ganz fi:olz: Mit dem, was andern Leuten genügt,
kann ich nicht fertig werden. Damals war erfiebenjahr alt.
1759.
[4.] Januar.
Sonderbar fiel es der Mutter auf, daß er bei dem
Tod feines jüngeren Bruders Jakob, der fein Spielkamerad
6] Frankfurt — Knabenjahre. 5
war, keine Träne vergoß, er fehlen vielmehr eine Art
Ärger über die Klagen der Eltern und Gefchwifter zu
haben. Da die Mutter nun fpäter den Trotzigen fragte,
ob er den Bruder nicht lieb gehabt habe, lief er in feine
Kammer, brachte unter dem Bette hervor eine Menge
Papiere, die mit Lektionen und Gefchichtchen befchrieben
waren; er fagte ihr, daß er dies alles gemacht habe, um
es dem Bruder zu lehren.
[5.] J. J. V. Gerning.
Als Knabe war er fehr ernfthaft und ärgerte fich,
wenn feine Gefpielen, die er oft hofmeifterte, Poliffon^
nerien begingen. So war er in einer gemeinfchaftlichen
Zeichenftunde der Fleißigfte. Hüsgen aber, noch jetzt
ein Kunftkenner in Frankfurt, war immer unfleißig und
aß Wecken. Da rief Goethe immer: Der Hüsgen frißt
Wecken! Auch war er Schiedsrichter, wenn fleh die an?
dem bei den Perücken zerrten, die damals die Knaben
noch trugen.
1764.
[6.] Juli 8. J. Andre an L. Yfenburg v. Buri.
Herr Goethe ift vorige Woche ungefähr eine Viertel;:
ftunde bei mir gewefen. Er brachte mir ein Kompliment
von Herrn Alexis [Carl Schweitzer] , aber das Kompliment
war erfunden, wie mich Alexis geftern verfichert hat. Ich
wußte nicht, was ich mit ihm reden follte: ich fragte ihn,
wie er hieß. Er nannte fleh und fagte, Herr Alexis wäre
fein vertrauter Freund, fo wie er denn auch meine Ope?
rette bei demfelben gefehen hätte. Er fing nun an, das
Stück zu loben. — Kann ich Ihnen mit einer Schale Tee
oder mit einem Glafe Wein aufwarten? unterbrach ich
ihn, weil ich ihn zu jung für einen Kunftrichter hielt. —
Ich bin Ihnen für alles gehorfamft verbunden, antwortete
er mir. Hierauf fagte er mir weiter, er wäre bei Herrn
Manskopf zum Befuch und fing darauf an, von der Ko?
mödie zu fprechen, die wir bei Ihnen aufgeführt haben;
er lobte fie fehr: Herr Alexis hätte fie ihm höchftens
angerühmt. Ich konnte ihm nicht gänzlich beifallen. Von
unferer Komödie kamen wir auf die Frankfurter Komödie
und Opera, und das war unfer ganzes Gefpräch. Er
hat mir alfo kein Wort von Gefellfchafts^Angelegenheiten
I
6 Andre. [7
gefagt. Nach Ihnen hat er fich erkundigt und mir ein
KompUment an Sie aufgetragen. ^ Schließlich bat er mich,
ihn zu befuchen. Ich fagte es ihm fo zu, wie man etwas
wider Willen zufagt. Warum ich aber keine Neigung zu
ihm trug, ift bloß, daß er mir zu jung fchien. Er mag
15 oder 16 Jahr alt fein, im übrigen hat er mehr ein
gutes Plappermaul als Gründlichkeit.
1766.
[7.] Auguft. J. A. Hörn an W. C. L. Moors.
Von unferem Goethe zu reden! Das ift immer noch
der fiolze Phantaft, der er war als ich herkam. Wenn
Du ihn nur fäheft. Du würdeft entweder vor Zorn rafend
werden, oder vor Lachen berften muffen. Ich kann gar
nicht einfehen, wie fich ein Menfch fo gefchwind ver;;
ändern kann. All feine Sitten und fein ganzes jetziges Be?
tragen find himmelweit von feiner vorigen Aufführung
verfchieden. Er ift bei feinem Stolze auch ein Stutzer,
und alle feine Kleider, fo fchön fie auch find, find von fo
einem närrifchen Gout, der ihn auf der ganzen Akademie
auszeichnet. Doch diefes ift ihm alles einerlei, man mag
ihm feine Torheit vorhalten fo viel man will.
Man mag Amphion fein und Feld und Wald bezwingen.
Nur keinen Goethe nicht kann man zur Klugheit bringen.
Sein ganzes Tichten und Trachten ift nur feiner gnä^:
digen Fräulein und fich felbft zu gefallen. Er macht fich
in allen Gefellfchaften mehr lächerlich als angenehm.
Er hat fich (bloß weil es die Fräulein gern fieht)
folche porte^mains und Gebärden angewöhnt, bei welchen
man unmöglich das Lachen enthalten kann. Einen Gang
hat er angenommen, der ganz unerträglich ift. Wenn Du
es nur säheft!
il marche ä pas comtes
comme un recteur suivi des quatre facultes.
Sein Umgang wird mir alle Tage unerträglicher, und
er fucht auch denfelbigen wo er kann zu vermeiden. Ich
bin ihm zu fchlecht, daß er mit mir über die Straße gehen
follte. Was würde der König von Holland fagen, wenn
er ihn in diefer Pofitur fähe? Schreibe doch bald wieder
8] Leipzig. 1766.
einmal an ihn und fage ihm die Meinung. Er bleibt fonfi
famt feiner gnädigen Fräulein närrifch. -^ Goethe ift nicht
der Erfte, der feiner Dulzinea zu Gefallen ein Narr ist.
Ich wünfchte nur, daß Du fie ein einzig Mal fäheft, fie
ift die abgefchmacktefte Kreatur von der Welt. Eine mine
coquette avec un air hautain ift alles, womit fie Goethen
bezaubert hat. Lieber Freund! Ich wäre hier noch ein^
mal fo vergnügt, wenn nur Goethe noch fo wäre wie
in Frankfurt. So gute Freunde wir auch fonft waren,
fo vertragen wir uns jetzt kaum eine Viertelftunde. Doch
mit der Zeit hoffe ich ihn noch zu belehren, ob es fchon
fchwer ift, einen Narren klug zu machen. ~ Du kannft
ihm nur alles wieder fchreiben, was ich Dir hier erzählt
habe. Es ift mir recht lieb, wenn Du es tuft. Es ift mir
weder an feinem noch an der gnädigen Fräulein Zorne
etwas gelegen. Denn er wird doch nicht fo leicht bös
auf mich; wenn wir uns auch gezankt haben, fo läßt er
mich doch den andern Tag wieder zu fich rufen.
[8.] Herbft. Hörn.
Aber lieber Moors! Welche Freude wird Dir es fein,
wenn ich Dir berichte, daß wir an unferm Goethe keinen
Freund verloren haben, wie wir es fälfchlich geglaubt.
Er hatte fich verftellt, daß er nicht allein mich, fondern
noch mehrere Leute betrog, und mir niemals den eigent^^
liehen Grund der Sache entdeckt haben würde, wenn
Deine Briefe ihm nicht den nahen Verluft eines Freundes
vorher verkündigt hätten. Ich muß Dir die ganze Sache,
wie er mir fie felbft erzählt hat, erzählen, denn er hat
mir es aufgetragen, um ihm die Mühe, die es ihm machen
würde, zu erfparen. — Er liebt, es ift wahr, er hat es mir
bekannt und wird es auch Dir bekennen; allein feine
Liebe, ob fie gleich immer traurig ift, ift dennoch nicht
ftrafbar, wie ich es fonft geglaubt. Er liebt. Allein nicht
jene Fräulein, mit der ich ihn im Verdacht hatte. Er liebt
ein Mädchen das unter feinem Stand ift, aber ein Mäd:^
chen, das — ich glaube nicht zu viel zu fagen — das du
felbft heben würdeft, wenn Du es fäheft. Ich bin kein
Liebhaber und alfo werde ich ganz ohne Leidenfchaft
fchreiben. Denke Dir ein Frauenzimmer, wohlgewachfen,
obgleich nicht fehr groß, ein rundes freundliches, obs;
gleich nicht außerordentlich fchönes Geficht, eine offne
fanfte, einnehmende Miene, viele Freimütigkeit ohne Kos^
I
8 Hörn. • [8
ketterie, einen fehr artigen Verftand ohne die größte Er^
Ziehung gehabt zu haben. Er Hebt fie fehr zärthch, mit
den vollkommen redlichen Ablichten eines tugendhaften
Menfchen, ob er gleich weiß, daß fie nie feine Frau
werden kann. Ob fie ihn wieder liebt, weiß ich nicht.
Du weißt, lieber Moors! das ift feine Sache, nach der fich
nicht gut fragen läßt, fo viel aber kann ich Dir fagen,
daß fie füreinander geboren zu fein fcheinen. Merke nur
feine Lift] Damit niemand ihn wegen einer folchen Liebe
im Verdacht haben möchte, nimmt er vor, die Welt grad
das Gegenteil zu bereden, welches ihm bisher äußere
ordentlich geglückt ift. Er macht Staat und fcheint einer
gewiffen Fräulein, von der ich Dir erzählt habe, die Kur
zu machen. Er kann zu gewiffen Zeiten feine Geliebte
fehen und fprechen, ohne daß jemand deswegen den ge^
ringften Argwohn fchöpft, und ich begleite ihn manche
mal zu ihr. Wenn Goethe nicht mein Freund wäre, ich
verliebte mich felbft in fie. Mittlerweile hält man ihn nun
in die Fräulein — doch was brauchft Du ihren Namen
zu wiffen, verliebt, und man vexiert ihn wohl gar in
Gefellfchaft deswegen. Vielleicht glaubt fie felbft, daß
er fie liebt, aber die gute Fräulein betrügt fich. Er hat
mich feit der Zeit einer näheren Vertraulichkeit gewürdigt,
mir feine Ökonomie entdeckt und gezeigt, daß der Auf:;
wand, den er macht, nicht fo groß ift, wie man glauben
sollte. Er ift mehr Philofoph und mehr Moralift als jemals,
und so unfchuldig feine Liebe ift, fo mißbilligt er fie
dennoch. Wir ftreiten fehr oft darüber, aber er mag eine
Partei nehmen, welche er will, fo gewinnt er; denn Du
weißt, was er, auch nur fcheinbaren Gründen für ein
Gewicht geben kann. Ich bedaure ihn und fein gutes
Herz, das wirklich in einem fehr mißlichen Zuftande fich
befinden muß, da er das tugendhaftefte und vollkommenfte
Mädchen ohne Hoffnung liebt. Und wenn wir annehmen,
daß fie ihn wieder liebt, wie elend muß er erft da sein?
Ich brauche Dir das nicht zu erklären, da Du das menfch*
liehe Herz fo gut kennft. Genug von diefer Sache. Er
wird noch eins und das andre davon felbft an Dich fchreiben,
wie er mir gefagt hat. Ich habe nicht nötig Dir das Stille
fchweigen hierbei zu empfehlen, da Du felbft fiehft, wie
nötig es ift.
11] Leipzig. 1765/1768.
1767.
[9.] Herbft. Überlieferung.
Goethe ~ traf '^ Guflav v. Bergmann einft im Schau^^
fpielhaus mit anderen jüngeren Studiengenoffen und fagte,
gegen feine Bekannten fich wendend: Hier ftinkts nach
Füchfen! Kaum hatte Goethe diefe Worte gefprochen, fo
gab ihm Bergmann eine Ohrfeige ; die Folge war ein Zwei:;
kämpf, bei welchem Goethe am Oberarm verwundet wurde.
1765/1768.
[10.] G. Parthey nach Marie Körner.
Beide Schweftern, Marie und Doris, gedachten gern
ihres Vaters, des Leipziger Kupferfiechers Stock, von dem
Goethe als Student lieh unterrichten ließ. '^ Das Ge^
dächtnis der älteren bewahrte manche kleinen Züge, die,
an lieh unbedeutend, zur Vervollftändigung von Goethes
Lebensbild dienen können. Stocks Verhältniffe waren fehr
befchränkt. Eine geräumige Bodenkammer in dem großen
Breitkopffchen Haufe zum Silbernen Bären diente ihm,
feiner Frau und feinen beiden Töchtern als Arbeits;: und
Empfangszimmer, in welchem auch der Schüler Platz fand.
Während Stock und Goethe je an einem Fenfter über
ihren Platten fchwitzten, faßen die Töchter an dem dritten
Fenfter mit weiblicher Arbeit befchäftigt oder fie beforgten
mit der Mutter die Küche. Das Gefpräch ging ohne
Unterbrechung fort; denn fchon damals zeigte Goethe eine
große Luft am Diskurieren.
Eines Tages fagte Stock: Goethe, meine Töchter
wachfen nun heran, was meinft du, worin foll ich die
Mädchen unterrichten laffen? In nichts anderem, erwiderte
Goethe, als in der Wirtfchaft. Laß fie gute Köchinnen
werden, das wird für ihre künftigen Männer das Befte
fein. Der Vater befolgte diefen Rat, und nicht ohne
Empfindhchkeit verficherte mich die ältere Schwefter, daß
fie dies Goethen immer nachgetragen habe, und daß fie
infolge diefes Rates ihre ganze Ausbildung mit der größten
Mühe fich felbst habe erwerben muffen.
[11.] Marie Körner.
Der Vater arbeitete vornehmlich kleine Vignetten für
den Verlagsbuchhändler Breitkopf; auch durch Unterricht
I
10 Marie Körner. [11
in feiner Kunft hatte er Verdienft. Von feinen Schülern der
eifrigfte, zugleich aber auch zu allerhand munteren Streichen
der aufgelegtefte war der fpäter fo berühmt gewordene
Goethe, damals Student der Rechte, fechzehn Jahre alt.
Unferer guten Mutter machte diefe Bekanntfchaft mancher::
lei Sorge und Verdruß. Wenn der Vater in fpäter Nach::
mittagsftunde noch fleißig bei der Arbeit faß, trieb ihn
der junge Freund an, frühzeitig Feierabend zu machen und
befchwichtigte die Einwendungen der Mutter damit, daß
die Arbeit mit der feinen Radirnadel im Zwielicht die
Augen zu fehr angreife, zumal er dabei durch das Glas
fehe. Wenn nun auch die Mutter erwiderte, durch das
Glas zu fehen, greife die Augen nicht fo fehr an, als in
das Glas und manchesmal zu tief zu fehen, fo ließ doch der
muntere Student nicht los und entführte uns den Vater
zu Schönkopfs oder nach Auerbachs Keller. ^^ Diefe Be^:
kanntfchaft hat unferer guten Mutter manche Tränen ge^:
koftet. Wenn aber am andern Morgen Mosje Goethe, —
denn vornehme junge Herrn wurden Mosje tituliert —
fleh wieder bei uns einfand und ihn die Mutter tüchtig
ausfchalt, daß er den Vater in folche ausbündige Studenten^s
gefellfchaft führe, in welche ein verheirateter Mann, der
für Frau und Kinder zu forgen habe, gar nicht gehöre,
dann wußte er durch allerhand Spaße fie wieder freund?
lieh zu ftimmen, so daß fie ihn den Frankfurter Strubbel::
peter nannte und ihn zwang, fich das Haar auskämmen
zu laffen, welches fo voller Federn fei, als ob Spatzen
darin geniftet hätten. Nur auf wiederholtes Gebot der
Mutter brachten wir Schweftern unfere Kämme, und es
währte lange Zeit, bis die Frifur wieder in Ordnung ge?
bracht war. Goethe hatte das fchönfte braune Haar; er
trug es ungepudert im Nacken gebunden, aber nicht wie
der alte Fritz als fteifen Zopf, fondern fo, daß es in
dichtem Gelöck frei herabwallte. Wenn ich — erzählte
Frau Körner — in fpäteren Jahren Goethe hieran erinnerte,
wollte er es nie zugeben, fondern verficherte, es hätte fich
die Mutter ein befonderes Vergnügen daraus gemacht, ihn
zu kämmen, fo daß fie fein wohlfrifiertes Haar erft in
Unordnung gebracht, um ihn dann recht empfindlich durch?
zuhecheln.
Am meiften verdarb es der luftige Bruder Studio mit
uns Kindern dadurch, daß er weit lieber mit dem Wind?
fpiele des Vaters, — es war ein niedliches Tierchen und
11] Leipzig. 1765/1768. 11
hieß Joli — als mit uns fpielte und ihm allerhand Un^:
arten geftattete und es verzog, während er gegen uns den
geftrengen Erzieher fpielte. Für Joli brachte er immer etwas
zu nafchen mit, wenn wir aber mit verdrießlichen Blicken
dies bemerkten, wurden wir bedeutet, das Zuckerwerk ver:s
derbe die Zähne und gebrannte Mandeln und Nüffe die
Stimme. Goethe und der Vater trieben ihren Mutwillen fo
weit, daß fie an dem Weihnachtsabend ein Chriftbäumchen
für Joli, mit allerhand Süßigkeiten behangen, aufftellten,
ihm ein rotwollnes Camifol anzogen und ihn auf zwei
Beinen zu dem Tifchchen, das für ihn reichlich befetzt
war, führten, während wir mit einem Päckchen brauner
Pfefferkuchen, welche mein Herr Pate aus Nürnberg ge^^
fchickt hatte, uns begnügen mußten. Joli war ein fo unver?
ftändiges, ja, ich darf fagen, fo unchriftliches Gefchöpf,
daß er für die von uns unter unferem Tifchchen aufge^
putzte Krippe nicht den geringften Refpekt hatte, alles
befchnoperte und mit einem Haps das zuckerne Chrift^
kindchen aus der Krippe riß und aufknabberte, worüber
Herr Goethe und der Vater laut auflachten, während wir
in Tränen zerfloffen. Ein Glück nur, daß Mutter Maria,
der heilige Jofeph und Ochs und Efelein von Holz waren;
fo blieben fie verfchont. ^
Unfer Unterricht war auf fehr wenige Gegenftände
befchränkt. Um elf Uhr vormittags fand fleh ein ein^
getrockneter Leipziger Magifter, welcher in der Druckerei
von Breitkopf mit Korrekturen befchäftigt wurde, bei uns
ein, der fich durch feine fchwarze Kleidung und weiße
Halskraufe das Anfehen eines Theologen geben wollte.
Er unterrichtete uns im Lefen, Schreiben und Rechnen und
erhielt für die Stunde einen guten Grofchen. Was feinem
Anzüge im eigentlichen Sinne die Krone auffetzte, war
feine von haarfeinem Draht geflochtene, in vielen Locken
herabwallende Perücke. Beim Eintreten rief er uns fchon
von der Türe her entgegen: Ihr Kinder, das Gebet! Wir
fagten nun unifono einen Vers aus einem Gefangbuchliede
her, worauf eine Stunde in der Bibel gelefen wurde '^
Wir allefamt waren auf eine einzige Stube angewiefen, und
fo gefchah es öfter, daß Goethe während unferer Lektion
eintrat und fich an den Arbeitstifch des Vaters fetzte.
Einmal traf es fich nun, daß wir eben mitten aus einem,
ihm für junge Mädchen unpaffend erfcheinenden Kapitel
des Buches Efther laut vorlefen mußten. Ein Weilchen
I
12 Marie Körner. [12
hatte Goethe ruhig zugehört; mit einem Male fprang er
vom Arbeitstifche des Vaters auf, riß mir die Bibel aus
der Hand und rief dem Herrn Magifier mit ganz furiofer
Stimme zu: Herr, wie können Sie die jungen Mädchen
folche H . . . Gefchichten lefen laffen! Unfer Magifter
zitterte und bebte; denn Goethe fetzte feine Strafpredigt
noch immer heftiger fort, bis die Mutter dazwifchentrat
und ihn zu befänftigen fuchte. Der Magifter ftotterte etwas
von: Alles fei Gottes Wort, heraus, worauf ihn Goethe
bedeutete: Prüfet alles, aber nur was gut und fittlich ift,
behaltet! Dann fchlug er das Neue Teftament auf, blätterte
ein Weilchen darin, bis er, was er fuchte, gefunden hatte.
Hier Dorchenl fagte er zu meiner Schwefter, das lies
uns vor: das ift die Bergpredigt, da hören wir alle mit
zu. Da Dorchen ftotterte und vor Angft nicht lefen
konnte, nahm ihr Goethe die Bibel aus der Hand, las uns
das ganze Kapitel laut vor und fügte ganz erbauliche Be?
merkungen hinzu, wie wir fie von unferm Magifter nie?
mals gehört hatten. Diefer faßte nun auch wieder Miit
und fragte befcheidentlich : Der Herr find wohl Studiosus
theologiae; werden mit Gottes Hülfe ein frommer Arbeiter
im Weinberge des Herrn und ein getreuer Hirte der Herde
werden. — Zuverläffig, — fügte der Vater fcherzend hins:
zu — wird er fein Fäßchen in den Keller und fein Schaf?
chen ins Trockne bringen; an frommen Beichtkindern
wird's ihm nicht fehlen. — So fchloß die Lektion ganz
heiter; alle lachten über den Witz des Vaters, und wir
eigentlich, ohne zu wiffen warum.
[12.] G. Parthey.
Bei einem kleinen unfchuldigen Liebeshandel, den
Goethe mit der Tochter von Breitkopf anknüpfte, war Marie
Stock feine Vertraute. Auf dem Oberboden ftand ein altes
fehr verftimmtes Spinett, an dem die beiden Liebenden die
zärtlichften Duetten fangen; Marie mußte auf der Treppe
fitzen bleiben und Wache halten, um von jeder herannahen?
den Störung fogleich Nachricht zu geben. Als fie Goethen
viele Jahre fpäter an diefe Jugendzeiten erinnerte, fagte er
halb unwillig: Sie haben ja ein verfluchtes Gedächtnis!
Für die aufblühenden Reize der jüngeren Schwefter
Doris Stock war Goethe nicht unempfindlich. Sie ver?
traute mij: einmal ^ die Goethefche Elegie: Alexis und
Dora fei an fie gerichtet gewefen. [1796].
14] Frankfurt. 1768. 13
[13.] Okt. 26. Cornelia Goethe an Katharina Fabricius.
Dans ce moment mon frere est alle voir deux jeunes
Seigneurs de qualite, qui viennent de Leipzig, oü il a eu
connaissance avec eux. Je le priai de me les decrire, ce
qu'il a fait avec plaisir. Monsieur de Olderogge l'aine,
me dit il, a environ vingt six ans, il est grand, de belle
taille, mais son visage a des traits peu flatteurs; il a beau^
coup d'esprit, parle peu, mais tout ce qu'il dit, montre
la grandeur de son äme, et son jugement eleve; il est tres
agreable en compagnie, pousse la civilite jusqu'au plus
haut bout, supportant avec condescendance, les personnes
d'un merite inferieur, enfin il possede toutes les qualites
requises pour rendre un cavalier aimable. — Son frere
aura vingt ans, il a la taille moins haute que l'aine, mais
ses traits sont d'une beaute charmante, comme vous aimez
ä les voir vous autres filles; il est beaucoup plus vif que
l'autre, parle souvent, quoique quelquefois mal ä propos,
il a le caractere aimable, mele avec beaucoup de feu, ce
qui lui va tres bien. Encore un peu d'etourderie, mais
9a ne fait rien. Il suffit ä toi de savoir que c'etaient la
les cavaliers les plus distingues de toute notre Academie.
[14.] Okt. 27.
Cornelia Goethe läßt einen Vetter, der fie gleichzeitig mit
den, ihrem Bruder von Leipzig her befreundeten Herren von
Olderogge befucht hatte, fagen:
Ma chere cousine, je ne Vous ai pas encore com^
munique la joie que j'ai ressentie en trouvantä mon retour
ici un Cousin si aimable; <^ on a sujet de Vous feliciter
d'un frere si digne d'etre aime. — Je suis charmee, Mon^
sieur, que Vous etes convaincu ä present, combien j'avais
raison d'etre affligee de l'absence de ce frere cheri; ces
trois annees ont ete bien longues pour moi; je souhaitais
ä tout moment son retour. — Ma soeur, ma soeur! et
maintenant que je suis lä, personne ne desire de me voir;
c'est tout comme si je n'y etais pas. — Point de reproches,
mon frere! Vous le savez Vous meme que ce n'est pas
lä ma faute: Vous etes toujours occupe et je n'ose Vous
interrompre si souvent que je le voudrais. — Mais ma
chere cousine, comment va donc la musique? Vous excelliez
dejä l'hiver passe, que ne sera ce maintenant! Oserais^je
Vous prier de me faire entendre Vos nouveaux progres?
je suis sür que ces Messieurs en seront charmes. — Il
I
14 Cornelia Goethe. [15
faut Vous dire, ma chere, que je me portais mieux ä tout
moment, ~ et je commen^ais ä recouvrir toute ma presence
d'esprit. Je me levais d'abord et lorsqu'ils virent que je
marchais vers mon clavecin, ils se posterent tous autour
de moi; le cadet d'Olderogge se mit de fa^on ä pouvoir
me regarder ä son aise pendant que je jouais '^ Mon
Cousin me ramena ä ma chaise et en me demandant ce
qu'il devait faire encore pour m'obliger, je le priais de
reprendre sa place; Vous saurez qu'elle etait vis^äs^vis de
moi. — Je vois ä quoi 9a aboutit, s'ecrias^t^il, Vous voulez
que je m'eloigne; c'est Vous, Monsieur, dit^il au jeune
d'Olderogge, qu'elle a elu pour etre toujours pres d'elle. —
^ Mon frere, pour donner un tour ä la conversation,
parla de Leipzig, du temps agreable qu'il y avait passe
et en meme temps il commen^a ä se plaindre de notre ville,
du peu de goüt qui y regnait, de nos citoyens stupides
et enfin il s'emancipa que nos demoiselles n'etaient pas
supportables. Quelles differences entre les filles Saxonnes
et Celles d'ici, s'ecria^t^il. — Je lui coupais la parole et
m'adressant ä mon aimable voisin: Monsieur, lui dis^je,
ce sont ces reproches qu'il faut que j'entende tous les
jours. Dites moi, je Vous prie, ^ si c'est en effet la verite,
que les dames Saxonnes sont tant superieures ä Celles de
toute autre nation?' — Je Vous assure, Mademoiselle,
que j'ai vu le peu de temps que je suis ici, beaucoup plus
de beautes parfaites qu'en Saxe; cependant j'ose Vous
dire, ce qui porte tant Ms. Votre frere pour elles, c'est
qu'elles possedent une certaine gräce, un certain air enchan^
teur — C'est justement, interrompit mon frere, cette gräce
et cet air qui leur manque ici; je suis d'accord qu'elles
sont plus belles, mais ä quoi me sert cette beaute, si eile
n'est pas accompagnee de cette douceur infinie qui enchante
plus que la beaute meme?
[15.] Ende d. J. Cornelia Goethe an Katharina Fabricius.
II faut que je vous dise quelque chose en confiance;
Müller et mon frere ne sont plus si bien ensemble, qu'ils
l'ont ete autrefois, leurs maximes sont differentes parceque
la Philosophie de mon frere est experimentee au Heu que
Müller ne doit la sienne qu'a l'etude. Il s'est comporte
aussi tres froidement, durant la derniere grande maladie de
mon frere et je commence ä entre voir moi meme que ses
principes ne sons pas propres pour l'usage du monde.
17j Straßburg. 1770. 15
Vous vous convaincrez de plus en plus vous meme, des
sentiments de mon frere, si vous prenez garde ä sa con
duite, car il ne parle que comme il pense.
1769.
[16.] April (8.) J. A. Hörn an Käthchen Schönkopf.
Goethe läßt Sie grüßen Mamfell! Erfieht immer noch
ungefund aus und ift fehr ftipide geworden. Die Reichs:^
luft hat ihn fchon recht angefteckt ~ Die Zeit wird mir
aber entfetzlich lange, ob ich gleich feiten allein bin.
Goethe fpricht, ich follte mich hängen, aber hier mag ich
nicht; wenn ich klug gewefen wäre, fo hätte ich mich in
Leipzig hängen follen.
1770.
[17.] September. H. Jung*Stilling.
Des andern Mittags gingen Jung=Stilling und Trooß
zum erften Mal ins Kofthaus zu Tifche. Sie waren zuerft
da, man wies ihnen ihren Ort an. Es fpeiften ungefähr
zwanzig Perfonen an diefem Tifch, und fie fahen einen
nach dem andern hereintreten. Befonders kam einer mit
großen hellen Augen, prachtvoller Stirn und fchönem
Wuchs, mutig ins Zimmer. Diefer zog Herrn Troofts und
Stillings Augen auf fich; erfterer fagte gegen letztern:
das muß ein vortrefflicher Mann fein. Stilling bejahte das,
doch glaubte er, daß fie beide viel Verdruß von ihm haben
würden, weil er ihn für einen wilden Kameraden anfah.
Diefes fchloß er aus dem freien Wefen, das fich der Student
ausnahm; allein Stilling irrte fehr. Sie wurden indeffen
gewahr, daß man diefen ausgezeichneten Menfchen Herr
Goethe nannte. '^ Nun kam auch ein Theologe, der hieß
Lerfe, einer von den vortrefflichften Menfchen, Goethens
Liebling, und das verdiente er auch mit recht, denn er
war nicht nur ein edles Genie und ein guter Theologe,
fondern er hatte auch die feltene Gabe, mit trockener Miene
die treffendfte Satire in Gegenwart des Lafters hinzuwerfen.
Seine Laune war überaus edel. Noch einer fand fich ein,
der fich neben Goethe hinfetzte, von diefem will ich nichts
mehr fagen als daß er — ein guter Rabe mit Pfauenfedern
war. Noch ein vortrefflicher Straßburger faß da zu Tifche,
I
16 Jung:=Stilling. |18
Sein Ort war der oberfte, und war' es auch hinter der
Tür gewesen. Seine Befcheidenheit erlaubt nicht, ihm eine
Lobrede zu halten: es war der Herr Aktuarius Salzmann.
Meine Lefer mögen fich den gründlichften und empfinde
famften Philofophen, mit dem echteften Chriftentum ver^
paart, denken, fo denken fie lieh einen Salzmann. Goethe
und er waren Herzensfreunde.
[18.] Sept. 19. Jung.Stilling.
Herr Trooft war nett und nach der Mode gekleidet;
Stilling auch fo ziemlich. Er hatte einen fchwarzbraunen
Rock mit manchefternen Unterkleidern, nur war ihm noch
eine runde Perücke übrig, die er zwifchen feinen Beutel:^
perücken doch auch gern verbrauchen wollte. Diefe hatte
er einsmalen aufgefetzt und kam damit an den Tifch.
Niemand ftörte fich daran, als nur Herr Waldberg von
Wien [Meyer von Lindau]. Diefer fah ihn an, und da er
fchon vernommen hatte, daß Stilling fehr für die Religion
eingenommen war, fo fing er an und fragte ihn: ob wohl
Adam im Paradies eine runde Perücke möchte getragen
haben? Alle lachten herzlich bis auf Salzmann, Goethe
und Troofi:; diefe lachten nicht. Stillingen fuhr der Zorn
durch alle Glieder und antwortete darauf: Schämen Sie
fich diefes Spotts. Ein folcher alltäglicher Einfall ifi: nicht
wert, daß er belacht werde. Goethe aber fiel ein und
verfetzte: Probier erfi: einen Menfchen, ob er des Spotts
wert fei. Es ift teufelmäßig, einen rechtfchaffenen Mann,
der keinen beleidigt hat, zum heften zu haben. Von
diefer Zeit nahm fich Herr Goethe Stillings an, befuchte
ihn, gewann ihn lieb, machte Brüderfchaft und Freund^;
fchaft mit ihm und bemühte fich bei allen Gelegenheiten,
Stillingen Liebe zu erzeigen. Schade, daß fo wenige diefen
vortreif liehen Menfchen feinem Herzen nach kennen!
[19.] Herbft. Ph. F. Lucius.
Von einem «^ Befuche Goethes in Sejfenheim im NOVf
gerückten Spätjahr wußte eine alte, vollkommen zuverlässige
Frau hier zu berichten, die in ihren Kinderjahren im Pfarr?
häufe täglich ein:s und ausging. Sie erzählte nämlich — wie
der Gatte ihrer Enkelin mir mitgeteilt — zu oft wieder;:
holten Malen, daß zur Zeit des Welfchkornbaftens, eine
gewiffe Anzahl größerer Mädchen alljährlich im Pfarrhofe
22] Straßburg. 1770/1771. 17
fich eingefunden, um das felbfigepflanzte fowohl, als auch
das vom Zehnten herrührende Welfchkorn des Pfarrers zu#
zurüften, damit die Kolben in Büfchel gebunden und im
Freien aufgehängt werden konnten, was immer eine große
Herrlichkeit war, auf welche die weibliche Jugend lange
zum voraus fchon lieh freute, da während der Arbeit
allerlei Scherz und Kurzweil getrieben, und nach Beendijs
gung derfelben ein Abendbrot zum heften gegeben wurde.
Wie heute noch, fo wurde wohl auch vor Zeiten dies Ge?
fchäft vorgenommen, wenn die Feldarbeiten beendigt waren
— fo etwa Ende Oktober oder Anfang November. Als
wir fo beifammen waren, kam einft auch Herr Goethe
zu uns in die Scheune, und machte uns durch feine Spaße
und drolligen Erzählungen fo fehr lachen, daß wir faft gar
nichts arbeiten konnten.
[20.] Herbft. Herder.
Goethe fing Homer in Straßburg zu lefen an, und
alle Helden wurden bei ihm fo fchön, groß und frei
watende Störche; er fteht mir allemal vor, wenn ich an
eine fo recht ehrliche Stelle komme, da der Altvater über
feine Leier lieht (wenn er fchon konnte) und in feinen an::
fehnlichen Bart lächelt.
1770/1771.
[21.] H. Jung.Stilling.
Herr Goethe gab ihm in Anfehung der fchönen
Wissenfchaften einen anderen Schwung. Er machte ihn
mit Offian, Shakefpeare, Fielding und Sterne bekannt;
und fo geriet Stilling aus der Natur ohne Umwege wieder
in die Natur. '^
Diefen Winter kam Herr Herder nach Straßburg.
Stilling wurde durch Goethe und Trooft mit ihm bekannt.
[22.] Herder.
Goethe ift wirklich ein guter Menfch, nur etwas leicht
und fpatzenmäßig, worüber er meine ewige Vorwürfe ge^
habt hat. Er war mitunter der Einzige, der mich in Straß;:
bürg in meiner Gefangenfchaft befuchte und den ich gern
fahe; auch glaube ich ihm, ohne Lobrednerei einige gute
Eindrücke gegeben zu haben, die einmal wirksam werden
I 2
18 Jung Stilling. [23
können. Jetzt bin ich feit langer Zeit außer Briefwechfel
mit ihm, ob ich ihm gleich auf eine mir zugefchickte
wirklich fchöne Produktion feit langem zu antworten habe.
1771.
[23.] Mai 14. H. Jung.
Jung hatte am 14. Mai in Straßburg einen Brief mit der
Nachricht von gefährlicher Erkrankung feiner Braut erhalten und
erzählt dann:
Stilling ftürzte wie ein Rafender von einer Wand an
die andere; er weinte nicht, feufzte nicht, fondern fah
aus wie einer, der an feiner Seligkeit zweifelt. Er befann
(ich endlich foviel, daß er feinen Schlafrock auswarf, feine
Kleider anzog und mit dem Brief zu Herrn Goethe hin?
taumelte. Sobald er in fein Zimmer hineintrat, rief er mit
Seelenzagen: Ich bin verloren! Da lies den Brief 1 Goethe
las, fuhr auf, fah ihn mit naffen Augen an und fagte:
Du armer Stilling! Nun ging er mit ihm zurück nach
feinem Zimmer. Es fand fich noch ein wahrer Freund,
dem Stilling fein Unglück klagte; diefer ging auch mit.
Goethe und diefer Freund packten ihm das Nötige in fein
Felleifen, ein anderer fuchte Gelegenheit für ihn, wodurch
er wegreifen könnte. Und diefe fand fich; denn es lag
ein Schiffer auf der Preufch parat, der den Mittag nach
Mainz abfuhr ^ Nachdem nun Goethe das Felleifen bereit
hatte, fo lief er und beforgte Proviant für feinen Freund,
trug ihm den ins, Schiff. Stilling ging reifefertig mit.
Hier letzten fich beide mit Tränen.
[24.] Ende Juni.
Jung, erzählt, daß er Ende Juni nach Straßburg zurückge?
kehrt fei und fährt fort:
Sein erfier Gang war zu Goethe. Der Edle fprang
hoch in die Höhe, als er ihn fahe, fiel ihm um den Hals
und küßte ihn: Bift Du wieder da, guter Stilling! rief
er; und was macht dein Mädchen? Stilling antwortete:
Sie ift mein Mädchen nicht mehr, fie ift nun meine Frau.
Das haft Du gut gemacht! erwiderte jener; Du bift ein
exzellenter Junge! Diefen halben Tag verbrachten fie
vollends in herzlichen Gefprächen und Erzählungen. ^
Goethe, Lenz, Lerfe und Stilling machten jetzt fo einen
Zirkel aus, in dem es jedem wohl ward, der nur empfinden
29] Frankfurt. 19
kann, was fchön und gut ift. Stillings Enthufiasmus für die
Religion hinderte ihn nicht, auch folche Männer herzhch zu
Heben, die freier dachten als er, wenn fie nur keine Spötter
waren.
[25.] Nach F. Lerfes Erzählung.
Oft fuhren Goethe und Lerfe den Rhein hinauf -^
Da geriet Goethe oft in hohe Verzückung, fprach Worte
der Prophezeiung und machte Lerfe Beforgniffe, er werde
überfchnappen.
[26.] Aug. 6. Nach F. Lerfes Erzählung.
In Straßburg foUte Goethe Doctor juris werden. Da^
zu fchrieb er eine Differtation <^ Sie paffierte die Zen?
für des Dekans nicht, und nun fchrieb Goethe eine, die
noch viel ketzerischer war. Lerfe war fein Refpondent
und ftellte fich zum Schein gewaltig orthodox. Er trieb
Goethe fo in die Enge, daß diefer deutfch anfing: Ich
glaube, Bruder, Du willft an mir zum Hektor werden!
[27.] G. K. Pfeffel.
Un des principaux auteurs de cette Gazette* est un
nomme Gette, homme de genie ä ce qu'on dit, mais
d'une Süffisance insupportable. J'ai une fois soupe en sa
compagnie et meme re^u sa visite, mais^je ne le connais
pas ä beaucoup pres assez pour en juger d'apres mes pro*
pres observations.
[28.] (Sept./Okt.) H. C. Robinson nach Bericht der Mutter.
Goethe came home one evening in high spirits, Oh,
mother, he said, I have found such a book in the public
hbrary, and I will make a play of it! What great eyes the
Philistines will make at the Knight with the Iron^handl
That's glorious— the Ironsjhand!
1772.
[29.] Februar. J. G. Schloffer an J. W. L. Gleim.
Ich werde zu Ende diefer Woche nach Darmftadt
gehen ^^ Ein junger Freund von mir, der fehr viel ver^
* Frankfurter gelehrte Anzeigen.
20 J. G. Schlosser. [M
fpricht, und der mir durch feine ernfte Bemühung, feine
Seele zu reinigen, ohne fie zu entnerven, außerordentlich
ehrwürdig ift, wird mit mir gehen.
[30,] März Anfang. Caroline Flachsland an Herder.
Ich habe vor einigen Tagen Ihren Freund Goethe
und Fierrn Schloffer, von dem ich Ihnen fchon gefchrieben,
kennen gelernt. Sie haben Merck befucht auf etliche Tage,
und wir waren zwei Nachmittage und auch beim Mits^
tageffen beifammen. Goethe ift fo ein gutherziger, muntrer
Menfch, ohne gelehrten Zierat, und hat fich mit Mercks
Kindern fo viel zu fchaffen gemacht und eine gewiffe
Ähnlichkeit im Ton der Sprache oder irgendwo mit Ihnen,
daß ich ihm überall nachgegangen ^^ Nur einen Augen^
blick faßen Goethe, meine Schwefter und ich der Abend==
fonne, die fehr fchön war, gegenüber und fprachen von
Ihnen. Er hat fechs Monate in Straßburg mit Ihnen ge^
lebt und fpricht recht mit Begeifterung von Ihnen ^ Den
zweiten Nachmittag haben wir auf einem hübfchen Spa^
ziergang und in unferem Fiaufe bei einer Schale Punfch
zugebracht. Wir waren nicht empfindfam, aber fehr munter,
und Goethe und ich tanzten nach dem Klavier Menuetten,
und darauf fagte er uns eine vortreffliche Ballade von
Ihnen her, die ich auch noch nie gehört: Dein Schwert,
wie ift's von Blut fo rot? Edward, Edward! Er hat fie
mir auf meine öftere Bitte den anderen Tag nach feiner
Rückkunft in Frankfurt, aber ohne Brief, gefchickt.
[31.] April. Caroline Flachsland an Herder.
Unfer Freund Goethe ift zu Fuß von Frankfurt
gekommen und hat Merck befucht. Wir waren alle Tage
beifammen und find in den Wald zufammengegangen
und wurden auch zufammen durch und durch beregnet.
Wir liefen alle unter einen Baum und Goethe fang uns
ein Liedchen, das Sie aus dem Shakefpeare überfetzt:
Wohl unter grünen Laubes Dach und wir alle fangen
den letzten Vers mit: Nur eins, das heißt auch Wetter.
Das zufammen ausgeftandene Leiden hat uns recht vers^
traut gemacht. Er hat uns einige der heften Szenen aus
feinem Gottfried von Berlichingen, das Sie vielleicht von
ihm haben, vorgelefen «^ Goethe fteckt voll Lieder. Eins
von einer Hütte, die in Ruinen alter Tempel gebaut,
ift vortrefflich; er muß mir's geben; wenn er wieder^
32] Darmftadt - Wetzlar. 21
kommt, und teil' ich's Ihnen, lieber befter Herder, mit.
Merck hat ihm von unferer Lila erzählt, und hier teile
ich Ihnen etwas aus feinem Herzen mit, das er an einem
fchönen Frühlingsmorgen, da er allein in dem Tannen:;
wald fpazieren ging, gemacht hat. Der arme Menfch er^
zählte meiner Schwefter und mir den Tag vorher, daß er
fchon einmal geliebt hätte, aber das Mädchen hätte ihn
ein ganzes Jahr getäufcht und dann verlaffen ; er glaubte,
daß fie ihn liebte, aber es kam ein anderer, und er wurde
der arme Koxkox.
[32J Mai Juni. J. Ch. Keftner.
Im Frühjahr kam hier ein gewiffer Goethe aus Franko
fürt, feiner Hantierung nach Dr. juris, 23 Jahr alt, ein;;
ziger Sohn eines fehr reichen Vaters, um fich hier in
Wetzlar — das war feines Vaters Abficht — in Praxi ums:
zufehen, der feinigen nach aber, den Homer, Pindar usw.
zu ftudieren, und was fein Genie, feine Denkungsart und
fein Herz ihm weiter für Befchäftigungen eingeben würden.
Gleich anfangs kündigten ihn die hiefigen fchönen
Geifter als einen ihrer Mitbrüder und als Mitarbeiter an
der neuen Frankfurter Gelehrten Zeitung, beiläufig auch
als Philofophen im Publico an, und gaben fich Mühe, mit
ihm in Verbindung zu ftehen. Da ich unter diefe Klaffe
von Leuten nicht gehöre, oder vielmehr im Publico nicht
fo gänge bin, fo lernte ich Goethen erft fpäter und ganz
von ohngefähr kennen. Einer der vornehmfi:en unferer
fchönen Geifi:er, Legationsfekretär Gotter, beredete mich
einft nach Garbenheim, einem Dorf, gewöhnlichem Spa^
ziergang, mit ihm zu gehen. Dafelbfi: fand ich ihn im
Gräfe unter einem Baume auf dem Rücken liegen, indem
er fich mit einigen Umftehenden, einem epikuräifchen
Philofophen (v. Goue, großes Genie), einem ftoifchen
Philofophen (v. Kielmannsegge) und einem Mitteldinge
von beiden (Dr. König) unterhielt und ihm recht wohl
war. Er hat fich nachher darüber gefreuet, daß ich ihn
in einer folchen Stellung kennen gelernt. Es ward von
mancherlei, zum Teil intereffanten Dingen gefprochen. Für
diefes Mal urteilte ich aber nichts von ihm, als: er ift
kein unbeträchtlicher Menfch. Sie wiffen, daß ich nicht
eilig urteile. Ich fand fchon, daß er Genie hatte und
eine lebhafte Einbildungskraft; aber diefes war mir doch
noch nicht genug, ihn hochzufchätzen.
I
22 J. Ch. Keftner. [32
Ehe ich weitergehe, muß ich eine Schilderung von
ihm verfuchen, da ich ihn nachher genau kennen gelernt
habe. Er hat fehr viel Talente, ilt ein wahres Genie und
ein Menfch von Charakter; befitzt eine außerordentlich
lebhafte Einbildungskraft, daher er fich meiftens in Bil*:
dem und Gleichniffen ausdrückt. Er pflegt auch felbft
zu sagen, daß er fich immer uneigentlich ausdrücke, nie^^
mals eigentlich ausdrücken könne: wenn er aber älter
werde, hoffe er die Gedanken felbft, wie fie wären, zu
denken und zu fagen.
Er ift in allen feinen Affekten heftig, hat jedoch oft
viel Gewalt über fich. Seine Denkungsart ift edel, von
Vorurteilen fo viel frei, handelt er, wie es ihm einfällt,
ohne fich darum zu bekümmern, ob es Andern gefällt, ob
es Mode ift, ob es die Lebensart erlaubt. Aller Zwang ift
ihm verhaßt.
Er liebt die Kinder und kann fich mit ihnen fehr
befchäftigen. Er ift bizarre und hat in feinem Betragen,
feinem Äußerlichen verfchiedenes, das ihn unangenehm
machen könnte. Aber bei Kindern, bei Frauenzimmern
und vielen Andern ift er doch wohl angefchrieben. Für
das weibliche Gefchlecht hat er fehr viele Hochachtung.
In principiis ift er noch nicht feft und ftrebt noch erft
nach einem gewiffen Syftem. Um etwas davon zu fagen, fo
hält er fehr viel von Rouffeau, ift jedoch nicht ein blinder
Anbeter von demfelben. Er ift nicht, was man orthodox
nennt. Jedoch nicht aus Stolz oder Kaprize oder um
etwas vorftellen zu wollen. Er äußert fich auch über ge^
wiffe Hauptmaterien gegen Wenige; ftört Andere nicht
gern in ihren ruhigen Vorftellungen.
Er haßt den Scepticismum, ftrebt nach Wahrheit und
nach Determinierung über gewiffe Hauptmaterien, glaubt
auch fchon über die wichtigften determiniert zu fein; fo
viel ich aber gemerkt, ift er es noch nicht. Er geht nicht
in die Kirche, auch nicht zum Abendmahl, betet auch
feiten. Denn, fagt er, ich bin dazu nicht genug Lügner.
Zuweilen ift er über gewiffe Materien ruhig, zuweilen
aber nichts weniger, als das.
Vor der chriftlichen Religion hat er Hochachtung,
nicht aber in der Geftalt, wie fie unfere Theologen vor^^
ftellen. Er glaubt ein künftiges Leben, einen befferen
Zuftand. Er ftrebt nach Wahrheit, hält jedoch mehr vom
Gefühl derfelben, als von ihrer Demonftration.
33] Wetzlar - Gießen. 1772. 23
Er hat fchon viel getan und viele Kenntniffe, viel
Lektüre; aber doch noch mehr gedacht und räfoniert. Aus
den fchönen Wiffenfchaften und Künften hat er fein Haupts«
werk gemacht, oder vielmehr aus allen Wiffenfchaften, nur
nicht den fogenannten Brotwiffenfchaften.
[33.] Augult 15. J. Ch. Keftner.
Abends zehn Uhr kam Goethe und fand uns vor
der Türe fitzen, feine Blumen wurden gleichgültig liegen
gelaffen; er empfand es, warf sie weg; redete in Gleich?
niffen; ich ging mit Goethe noch nachts bis 12 Uhr auf
der Gaffe fpazieren; merkwürdiges Gefpräch, wo er voll
Anmut war und allerhand Phantafien hatte, worüber wir
am Ende, im Mondenfcheine an eine Mauer gelehnt,
lachten.
[34.] Auguft 17. Nach L. J. F. Höpfner.
Eines Tags meldete fich ein junger Mann in vernach?
läffigter Kleidung und mit linkifcher Haltung zum Besuche
bei Höpfner mit dem Vorbringen an, er habe dringend
mit dem Herrn Profeffor etwas zu fprechen. Höpfner,
obgleich damit befchäftigt, fich zum Gang in eine Vors^
lefung vorzubereiten, nahm den jungen Mann an. Die
ganze Art und Weife, wie fich derfelbe beim Eintreten
und Platznehmen anfiellte, ließ Höpfner vermuten, daß
er es mit einem Studenten zu tun habe, der fich in Geld?
Verlegenheiten befinde. In diefer Anficht wurde Höpfner
dadurch beftärkt, daß der junge Mann damit feine Unter?
haltung anfing, in ausführlichfter Weife feine Familien?
und Lebensverhältniffe zu fchildern, und dabei von Zeit
zu Zeit durchblicken ließ, daß diefe nicht die glänzend?
ften feien. Gedrängt durch die herannahende Kollegien?
ftunde entfchloß fich der Profeffor fehr bald, dem jungen
Mann ohne weiteres eine Geldunterftützung zufließen zu
laffen und damit zugleich der peinlichen Unterhaltung ein
Ende zu machen. Kaum gab er jedoch diefe Abficht da?
durch zu erkennen, daß er nach dem Geldbeutel in feiner
Tafche fuchte, fo wendete der vermeintliche Bettelfi:udent
das Gefpräch wiffenfchaftlichen Fragen zu und entfernte
fehr bald den Verdacht, daß er gekommen, um ein Geld?
gefchenk in Anfpruch zu nehmen. Sobald der junge Mann
bemerkte, daß der Herr Profeffor eine andere Anficht von
ihm gewonnen, nahm das Gefpräch jedoch die alte Wen?
1
24 Höpfner. [34
düng, und die Andeutung des Studenten, daß es fchließ?
lieh doch auf das Verlangen nach einer Unterfiützung ab?
gefehen fei, wurde immer verftändlicher. Nachdem Hopf?
ner auf diefe Weife ein und das andere Mal fich in der
Lage befunden hatte, dem jungen Manne Geld anzubieten
und dann wieder davon abftehen zu muffen glaubte, ent?
fernte fich der Student rafch und ließ den Herrn Pro?
feffor voll Zweifel und Vermutung über diefen rätfelhaften
Befuch zurück.
Als Höpfner am Abend desfelben Tages, doch et?
was fpäter wie gewöhnlich in das Lokal trat, wo fich die
Profefforen der Univerfität gefellfchaftlich zufammenzu?
finden pflegten, fand er dafelbft ein vollfi:ändiges Durch?
einander. Die ganz befonders zahlreiche Gefellfchaft war
um einen einzigen Tifch herum gruppiert, teils fitzend,
teils fliehend, ja, einige der gelehrten Herren ftanden auf
Stühlen und fchauten über die Köpfe ihrer Kollegen in
den Kreis der Verfammelten hinein, aus deffen Mitte die
volle Stimme eines Mannes hervordrang, der mit begei?
fterter Rede feine Zuhörer bezauberte. Auf Höpfners Frage,
was da vorgehe, wird ihm die Antwort: Goethe aus Wetz?
lar fei fchon feit einer Stunde hier. Die Unterhaltung
habe nach und nach fich fo geftaltet, daß Goethe faft
allein nur fpräche und alle verwundert und begeiftert ihm
zuhörten. — Höpfner, voll Verlangen den Dichter zu fehen,
befi:eigt einen Stuhl, fchaut in den Kreis hinein und er?
blickt feinen Bettelftudenten zu einem Götterjüngling um?
gewandelt.
[35.] Auguft 17. Nach L. J. F. Höpfner.
Ganz anders als in ,Dichtung und Wahrheit' nahm
^ fich (nach glaubwürdiger Erzählung) die maskierte Be=
gegnung in Gießen im Munde Höpfners aus, wenn er fie
dramatifierte, die feltfame Erfcheinung des wunderfchönen
jungen Menfchen mit den feuervollen Augen und dem
unbeholfenen linkifchen Anfi:and befchrieb, feine komifchen
Reden wiederholte und dann endlich zur Explofion kam,
wie der blöde Student auffprang und Höpfnern um den
Hals fiel mit den Worten: Ich bin Goethe! Verzeihen
Sie mir meine Poffe, lieber Höpfner, aber ich weiß, daß
man bei der gewöhnlichen Art durch einen Dritten mit?
einander bekannt gemacht zu werden, lange fich gegen?
über fteif und fremd bleibt und da, dachte ich, wollte ich
381 Wetzlar - Darmstadt. 1772. 25
in Ihre Freundfchaft lieber gleich mit beiden Füßen hins^
einfpringen, und fo, hoff' ich, foll's zwifchen uns fein
und werden durch den Spaß, den ich mir erlaubt habe.
[36.] Augult 17. L. J. F. Höpfner an R. E. Rafpe.
Mit Merck und Goethe habe ich Viel vergnügte Stunden
gehabt (Goethe in parenthefi ift Doctor juris in Franks:
fürt und hat unter anderm Ihres Freundes Klotz Leben
par Mons. Haufen, auch den polnifchen Juden in der Franko
furter Zeitung rezenfiert). Schmidt kam einft in unfere
Gefellfchaft. Aber Himmel, wie ging es dem armen Sünder.
Feiner, witziger und boshafter ift noch nie ein Menfch
gegeißelt worden, als er.
[37.] September 10. J. Ch. Keftner.
Abends kam Dr. Goethe nach dem Deutfchen Haufe.
Er, Lottchen und ich hatten ein merkwürdiges Gefpräch
von dem Zuftande nach diefem Leben, vom Weggehen
und Wiederkommen ufw., welches nicht er, fondern Lott?
chen anfing. Wir machten miteinander aus, wer zuerft
von uns ftürbe, follte, wenn er könnte, den Lebenden
Nachricht von dem Zuftande jenes Lebens geben; Goethe
wurde ganz niedergefchlagen ; denn er wußte, daß er am
anderen Morgen weggehen wollte.
[38.] Dezember, Anfang. Caroline Flachsland an Herder.
Goethe ift noch hier und lehrt Merck zeichnen. Mich
dünkt, er ift überhaupt etwas ftiller und geläuterter worden.
Er will Dich das Frühjahr zu mir führen, wenn Sie in
Frankfurt bei ihm einkehren, und hofft viel Gutes von
Ihrem Wiederfehen. Er fagt, Du warft ihm nicht fo ganz
gut; und er ift Ihnen doch gut; das fehe und höre ich
mit Ohren und Herz. Das Wiederfehen knüpft vielleicht
den Knoten auf, wie billig! Er denkt noch ein Maler zu
werden, und wir rieten ihm fehr dazu. Da ihm doch alle
Tugenden fehlten, fagte er, fo wolle er fich auf Talente
legen. Aus dem Kopf könnte da was werden. Uns Mäd^
chen und Weibern ift er auch beffer als fonft, und ift
uns herzlich gut; aber überhaupt lieben — dazu liegt noch
zu viel Afche von feiner erften Liebe in feinem Herzen,
und das fcheint natürlich. Wir haben ihn hier alle lieb.
Sie wiffen doch, daß er mit Merck und Madame Merck
im Mai in die Schweiz geht?
I
26 Caroline Flachsland. [39
[39.] Dezember, 6./7. Caroline Flachsland an Herder.
Goethe gab mir Ihren Brief; ich fagte ihm was von
Kurland. Wenn Sie als Kurator hinkämen, meinte er,
dann wär's gut, aber als Profeffor würde es Ihnen nir?
gends gefallen.
1773.
[40.] Oktober (11). G. F. E. Frhr. v. Schönborn an H. W. von
Gerftenberg.
Gleich des Abends nach meiner Ankunft in Frank=
fürt habe ich auch H. Goethe, den Verfaffer des Götz ge^
fprochen, und das ging fo zu. Es faß ein Mann in der Stube
des Gafthofs, wo ich logierte, in der Ecke, der eine Pfeif
Tabak rauchte. Der Wirt frug ihn, ob er mit bei Tifche zu
Abend effen wollte. Er antwortete: Nein, ich will es
mir auf meiner Stube ausbitten; Herr Doktor Goethe wird
bei mir diefen Abend fein. Ich frug ihn, ob er den
Doktor Goethe meine, der neulich ein Drama heraus?
gegeben? Er antwortete: Ja. Ich fagte ihm, daß ich einen
Brief an ihn habe von H. Boie ^^ Diefer Mann ift ein
junger Profeffor juris in Gießen, welches drei Meilen von
hier ift; fein Name ift Höpfner. Kurz daraufkam Goethe
felbft und wir wurden gleich bekannt und gleich Freunde.
Es ift ein magerer junger Mann ohngefähr von meiner
Größe. Er lieht blaß aus, hat eine große, etwas gebogene
Nafe, ein längliches Gefichte und mittelmäßige fchwarze
Augen und fchwarzes Fiaar. Wir find alle Tage beifammen.
Seine Miene ift ernfthaft und traurig, wo doch komifche,
lachende und fatirifche Laune mit durchfchimmert. Er ift
fehr beredt und ftrömt von Einfällen, die fehr witzig find.
In der Tat befitzt er, fo weit ich ihn kenne, eine auss^
nehmend anfchauende, fich in die Gegenftände durch und
durch hineinfühlende Dichterkraft, fo daß alles lokal und
individuell in feinem Geifte wird. Alles verwandelt fich
gleich bei ihm ins Dramatifche. Er freute fich ungemein,
da ich ihm fagte, daß Sie fehr mit feinem Stück Götz von
Berlichingen zufrieden gewefen. Ihr und Klopftocks Urteil
habe er längft gern vernehmen mögen, und es folle ihn
anfeuern, es noch beffer zu machen; denn er wiffe fehr wohl,
wie weit er unter feinem Ideal geblieben. Von Ihrem
Ugolino fagte er, daß er mit Götterkraft gemacht fei. Ich
42] Frankfurt. 1775. 27
fagte ihm, daß ich wünfchte, zwei folche Männer wie er
und Sie möchten fleh fchrifthch unterreden. Er wünfcht
es auch, und da er erfuhr, daß ich von hier aus an Sie
fchrieb, fagte er mir, er wolle ein paar Zeilen mit beilegen,
und da find fie. Er fcheint mit ausnehmender Leichtigkeit
zu arbeiten; jetzo arbeitet er an einem Drama, Prometheus
genannt, wovon er mir zwei Akte vorgelefen hat, worin
ganz vortreffliche, aus der tiefen Natur gehobene Stellen
find; (ich urteile, wie es mir beim erftenVorlefen vorkam).
Er zeichnet und malet gut. Seine Stube ift voller fchönen
Abdrücke der heften Antiken. Das Von deutfcher Bau^
kunft ift von ihm. Er fagte mir, daß er Ihnen noch mal
etwas von feinen poetifchen Sachen im Manufkript zusj
fchicken wolle. Er will nach Italien gehn, um fich recht
in den Werken der Kunft umzusehen. Er ift ein furch:;
terlicher Feind von Wieland et Konforten. Er las mir
ein paar Farcen, die er auf ihn und Jacobi gemacht, wo
beide ihre volle Ladung von Lächerlichem bekommen. Das
will er aber nicht drucken laffen. Allein weh Wielanden,
wenn er fleh maufig gegen ihn macht.
[4L] Oktober (11). L J. F. Höpfner an R. E. Rafpe.
Als ich das letztemal bei dem Manne in Frankfurt
logierte, denn Sie müssen wissen, daß es mein Freund
ist, las er mir ein angefangenes exzellentes Ding vor. Das
Unglück der Jacobis. Wenn es fertig ist, sollen Sie es auch
haben. Die beiden Jacobi werden darin wacker gepeitfcht.
Goethe und Merck fpeien vor den Kerls aus, fo wie wir.
[42.] Oktober. J. G. Schloffer an Lavater.
Ich freue mich, daß mein lieber Goethe Ihr Freund
ist. Sein Herz ist fo edel als eins. Wenn er einmal in
der Welt glücklich wird , so wird er Taufende glücklich
machen; und wird er's nie, fo wird er immer ein Meteor
bleiben, an dem fleh unfere Zeitgenoffen müde gaffen,
und unfere Kinder wärmen werden. Lieben Sie ihn ferner,
ich fage Ihnen aber zum voraus, es gehört eine gewiffe
Stärke der Seele dazu, fein Freund zu bleiben. Er malt
fchon lange — oder er zeichnet vielmehr fchon lang an
meinem Profil. Er fagt aber, er könne mich nicht her^
ausbringen, und noch kenne ich mich auch an keinem
feiner Verfuche. Morgen werd ich ihm wieder fitzen,
vielleicht gerät's ihm beffer.
I
28 Johanna Fahimer. [43
[43.] Dezember. Johanna Fahimer.
A propos, das Väterchen ifi nicht von Goethe felbft,
einer feiner lieben Bekannten hat es gemacht, und er will
haben, man foll den Menfchen nicht nach feinen Schriften
beurteilen, denn felbiger feie ein guter Junge.
1774.
[44]. Januar. Susanne v. Klettenberg an F. K. L. Frhr. v. Mofer.
An einem ftillen empfindungsvollen Abend, wo der
Mond, Jupiter und die prächtige Venus in namenlofer
Majeftät am Firmament funkeln und mir Jehovah mit ftar^
ker Stimme in mein fchmelzendes Herz rufen, überlefe
ich einmal wieder Ihre beiden letzten Briefe, mein teuerfter
Freund ^^ Beinahe zwei Monate hernach hätte Dr. Goethe
gerne feinem Fr. M.* das bewußte Päckchen durch die
Luft gefendet (es waren Angelegenheiten eines jungen
Autors) feine inquietudes lächern mich. Lächelnd, ohne
Gedanke, fage ich : Soll ich Herrn Präßdent v. Mofer bitten,
daß er es mitnimmt. — O ! wenn Sie die Gnad wollen haben.
Nun war ich ertappt. Zurückziehen wollte ich nicht —
zum Tun hatte ich keine Courage, ich brach vor der Hand
ab — in der Stille fagte ich alles dem Heiland und machte
es mit ihm aus, wenn das Wort von mir eine Übereilung
gewefen, fo foUte er es diefen Jüngling vergeffen laffen,
ich wollte forgfältig alles vermeiden, was ihn daran er^
innern könnte. Das tue ich und der junge Menfch ift
in feinem Teil auch fo ftille, daß ich es für vergeffen
hielte — ich wußte, daß Sie bald abreifen würden, ich
dachte, Goethe, Du kommft hinten nach. Schnell kommt
er an einem Abend wie ein Feind gelaufen: Herr v. M.
geht in wenig Tagen ab, hier ift das Päckchen, haben Sie
die Gnade, es zu beforgenl und fo läuft er wieder weg.
[45.] Februar. Merck.
Goethe ne fera plus le voyage de la Suisse. Le grand
succes que son drame a eu, lui a tourne un peu la tete.
II se detache de tous ses amis et n'existe que dans les
compositions, qu'il prepare pour le public. II doit reussir
* Gemeint ift wohl Merck.
48] Frankfurt. 1774. 29
dans tout ce qu'il entreprend et je prevois qu'un roman,
qui paraitra de lui ä päques, sera aussi bien re^u que son
drame. A cöte de cela il a la petite Mme Brentano ä con^s
soler sur l'odeur de l'huile, du fromage et des manieres
de son mari.
[46.] April 9. J. J. Björnsthäl.
Nachmittags waren wir bei Herrn Dr. jur. Goethe,
einem höchst zuvorkommenden Manne, der uns nach dem
Gymnasium geleitete, deffen Rektor Herr Purman ift.
Später befahen wir die Stadtbibliothek, die durch Herrn
Lichtenftein geleitet wird, der in allen für einen Biblioj;
thekar erforderlichen Dingen wohlbewandert ift.
[47.] April 13. Derfelbe.
Wir waren in der Bibliothek ^^ Die Bibliothek ift nur
am Mittwoch und Sonnabend geöffnet. Aber Herr Lichten^
ftein befaß die Liebenswürdigkeit, fie heute nachmittag auf
Goethes Veranlagung (ür uns befonders offen zu halten, das:
mit wir die kurze Zeit ausnützen könnten.
[48.] Mai, Anfang. Johanna Fahimer.
Goethe. Tante.
Die Tante Fahimer fitzt vor ihrem Klavier, fpielt aber
nicht mehr darauf, fondern lieft in Mad. du Boccage.
Goethe kömmt geftiefelt und in einem englifchen Überrock.
Noch auf der oberften Stubentreppe ftehend und eines
feiner geftiefelten Beine hervorftreckend :
Goethe. Tante 1 Da komme ich '^ Ja, geftiefelt und
eingemummelt. Das ift die Variation.
Tante. Aber Sie riechen doch als wie in Ambrofia
getaucht.
Goethe. Ich komme vom Dechant Dumeix. — Aber
was machen denn Sie, Hebe Tante?
Tante. Da, mit Mad. du Boccage unterhalt' ich mich
ganz gut. Wie gefällt Ihnen dies hier?*
. Goethe. O — gut! gut! Ift recht gut!
Aretins Grabfchrift:
L'Aretin repose en ce lieu,
De chacun il fit la satire,
Mais ne connaissant point de Dieu,
De Dieu seul il ne peut medire.
30 Johanna Fahimer. [48
Tante. Wiffen Sie? Sie haben mir's lange gemacht,
bis Sie wieder herangekommen find. Ich habe etwas be:;
kommen, das für Sie zu allererfi mit zum Genuß foll
fein, aber mit der Zeit — o, dann kömmt's zum General?
traktement für das Publikum ....
(Wir gingen miteinander in der Stube auf und ab.
Des kleinen George Jacobi Kribbelkrabbel^Briefchen lag
auf meinem Tifche.)
Tante. Da lefen Sie vom kleinen George.
(Goethe lieft. Unterdeffen holt die Tante ihre Arbeit
und die Blätter vom Merkur und fetzt fich an ihren
Schreibtifch, Goethe gegenüber.)
Tante. Sehen Sie hier! Nun was habe ich?
Goethe. Was ift's? Was ift's, lieb Täntchen? laffen
Sie fehen.
Tante. Es ift, worauf Sie fich bei Bölling wenn's ans:
käme, als auf ein herrliches Traktement zu Gaft geladen
haben. Aber ich habe noch mehr.
(Tante hält ihm die Rezenfion über Götz von Ber?
lichingen vor die Augen und gibt ihm die Blätter zm^
fammen.)
Goethe (nach einigem Lefen). Nu, Wieland, Du
bift ein braver Kerl! Ein ganzer Kerl! Was? fängt er's
fo an? O, gut! Nun, Sie wiffen, Tante, was ich immer
von Wieland gefagt habe — ob ich ihm nicht immer gut
war? Ich habe allezeit gefagt, es ift ein ganzer Kerl, ein
guter Menfch. Aber ich bin gegen ihn aufgebracht wor^^
den. Den verfluchten Dreck, Götter, Helden und Wie=
land, fchrieb ich in der Trunkenheit. Ich war trunken.
Und, wie ich Ihnen gefagt habe, in Ewigkeit hätte ich's
nicht felber in Druck gegeben; aber ich hatte es nicht
mehr allein in Händen. Und ich bin wie der Herodes;
in gewiffen Augenblicken kann man alles von mir erhalten.
Schon lange haben mir die Kerls vorgefchwätzt : Laß's
drucken! laß 's drucken! — Nä, ihr follt nicht! — Da
kommen Sie mir aber aufs neu: O mein! laß es uns
drucken! Und ich hatte, Gott weiß! weder neue Bosheit
noch Ärger gegen W. — Nun, fo druckt's und fcKert
euch! — Da, da! (mit dem Finger auf das Blatt deutend)
das ift juft, was mich an W. fo ärgerte und mich reizte,
mich gegen ihn auszulaffen. Da der Ton. Sehen Sie, liebe
Tante; ich will's nicht fagen, ich felbft hab' recht, W. hat
unrecht. Denn Alter, Zeitpunkte, alles macht Verfchiedens^
48] Frankfurt. 1774. 31
heit in der Art zu fehen und zu empfinden. Jetzt denk'
ich nur fo und fo; vielleicht in dem Alter von W. —
wer weiß, noch eher? — denke ich juft fo wie er. Drum,
was foll ich fagen? Hat er nun recht? Oder hab' ich
nun recht? Der Eindruck, den man itzt felbft hat, gilt.
W. hat recht, daß er fo urteilt, aber mich ärgert's nun
noch. — Mit der Zeit! Mit der Zeitl Ja, das ift's! das
ift'sl Juft, juft fo fpricht mein Vater; die nämliche Händel,
die ich mit diefem in politifchen Sachen habe, hab' ich
mit W. in diefen Punkten. Der Vater^Tonl der ift's juft,
der mich aufgebracht hat. — Sagen Sie mir um Gottes?
willen, warum er lieh juft an feine allerfchlechtefte Arbeit
machte und mit den ewigen Briefen fie verteidigte? Sein
Mufarion, ein Werk, wovon ich jedes Blatt auswendig
lernte, das allervortrefflichste Ganze, das je erfchienen ift
— nichts, nichts nimmt er fich an, als der Alcefte, die für
mich jetzt das schlechtefte von allen feinen Werken ift. —
Ich muß weiter lefen. — Ganz brav! Ganz brav! Nun Wie;:
land, unfere Fehde ift aus; dir kann ich nichts mehr tun.
Das garftige Fratzenzeug hat er fchon gelefen, das feh' ich.
Tante. Ja freilich! Kommen Sie, lefen Sie; das hier
ift die Antwort darauf.
Er wurde rot. Ich fah, daß es ihn erfchütterte.
Goethe. Beffer hätt' er's nicht machen können.
Sehr gut! Ich fag's ja, nun muß ich ihn auf immer gehen
laffen. W. gewinnt viel bei dem Publico dadurch, und
ich verliere. Ich bin eben proftituiert.
(Tante lachte herzlich.)
Nun wieder an den Anfang der Rezenfion. Die Ver?
gleichung mit dem jungen Füllen ufw. Durchgefchnattert
und dabei vielmal ausgerufen: Es ift wahr! er hat recht!
ganz exzellent! — Weiter gelefen. — Gut! Meinen Weis?
lingen beurteilt er, wie ich ihn will gelefen haben. — Gut!
Beffer als W. verfteht mich doch keiner. — An der Stelle,
wo er wegen der Vermifchung der Sprachen in verfchie?
denen Jahrhunderten getadelt wird, fagte er: Auch recht!
auch gut! Aber, wer Teufel anders, als ein W., Leffing,
kann mich hierinnen beurteilen? Freilich hat er ganz recht.
Ich hab's felber genug gefühlt ufw. Die Folge meiner
Werke foll's zeigen, ob ich meine Fehler kannte.
Tante. Haben Sie, feit ich zu Düffeldorf war, nicht
fonft noch etwas Hübfehes im Genre des Göttergefprächs
komponiert?
I
32 Elifabeth Goethe. [49
Goethe. Nichts, Hebe Tante. Den Satyros — nun,
der war fchon vor Ihrer Abreife fertig.
Tante. Gar nichts? Ein dergleichen freundfchaft?
Uches Drama. (Sie guckte ihm gerade in die Augen.) Sie
find aufrichtig, Goethe] Darum muffen Sie mir's geftehen.
Goethe. Das will ich. Ja, liebe Tante, fragen
Sie nur!
Tante. Das Unglück der Jacobi?
Goethe. Ja, das ifiwahr. Aber fchon lange, ehe ich
fie noch alle kannte; es war bloß auf Anekdoten, auf Wisch?
wafchereien gebaut, alles von Hörenfagen. Ihr alle feid
lächerlich mitgefpielt. Sie auch, Tante 1 Niemand als die
La Roche, Merck und der Dechant haben's gelefen; und
niemand mehr in der Welt foll es auch zu hören und zu
fehen bekommen; es foll nie wieder an das Licht riechen.
Es ift auch nicht einmal ausgemacht — gilt nicht mehr.
Tante. Aber ich doch muß es hören?
Goethe. Liebe Tante, das kann unmöglich fein.
Verlangen Sie es nicht 1
Nach Hin:; und Widerreden wurde es klar, wer der
Held darin fei und was den Anlaß dazu gegeben hatte.
Es wurde gleich nachher, als G. und Merck von Koblenz
zurückkamen, gefchrieben ^^ Wir hatten großen Spaß
und Gelächter über das Ding, wie und wohin er mich
fchief und übereck geftellt hätte u. dergl.
[49.] (Mai) Elifabeth Goethe.
Der Menfch wird begraben in geweihter Erd, fo foll
man auch große und feltene Begebenheiten begraben in
einen fchönen Sarg der Erinnerung, an den ein jeder hin?
treten kann und deffen Andenken feiern. Das hat der
Wolfgang gefagt, wie er den Wertber gefchrieben hat.
[50.] Juni 23. J. C. Lavater.
Zu Goethe, allein in feinem Zimmer, mit Schneider
von Darmftadt, zu Nacht. Bift's? — Ich bin'sl unaus?
fprechlich füßer, unbefchreiblicher Antritt des Schauens —
fehr ähnlich und unähnlich der Erwartung. Von taufend
Dingen. Einigemal fchreckliche — Phyfiognomie. Porträt. —
Briefe von Haus noch einmal durchlefen. Von der Frau?
lein V. Klettenberg — ach! wie viel hundert Sachen habe
ich vergeffen, die er mir mit der Miene des fich fühlen?
den Genius fagte. Noch wünfchten mir fein Vater und
Frankfurt. 1774. 33
Mutter, eine trefflich natürliche Frau, eine gute Nacht.
Herzliche Umarmung! alles Geift und Wahrheit, was er
fagte, ich nicht mehr weiß.
[51]. Juni 24. Lavater.
Ich packt aus; zeigte Zeichnungen Goethe ^ Vor
und bei dem Mittageffen viel von Herder. Goethe las
— und gelefen, gelefen — man hätte fich verfchworen —
er fprach eben dies das eritemal im Feuer mit mir. Nach
dem Effen in feiner Bilderkammer. Da ein guter redlicher
Glettwein, der ihm aufräumen will, und mir wünfchte,
daß ich mich aus meinen Wirbeln herauswinden, und
ruhiger leben könnte. — Prächtige Malereien feines Vaters.
Den Abend, wo alles, weiß ich nicht mehr. — Bei
Kraft — ein ehrlicher Theolog von Chriftus — Joh. XVII,
den neuern. Goethe mit da — fprach wenig — ftimmte
bisweilen in wichtigen Dingen herzlich mit ein.
Eine Weile bei Klettenberg allein und mit Goethe.
Ein herrlicher Abend, von Gebeterhörungen: Friede im
Krieg, wenn ihr ftille werdet, fo wird euch geholfen, fagte
Goethe, in einem recht brüderlichen Ton. Vom Predigen.
— Man kann nicht immer empfinden. Ich fordre, fagten
beide, zu viel. Nachher fpazierten wir — vom Chriften^s
tum: Die einzig mögliche, wahre, menfchliche Religion!
Nach Haufe zu Tifch — und bei Tifch meift Zeich;:
nungen befehen. Goethe las mir noch nach dem Nachts
effen aus Werthers Leiden, eine Sentimentals^Gefchichte in
Briefen, vor. — O Szenen— voll, voll wahrer, wahrefter
Menfchennatur — ein unbefchreiblich naives wahres Ding. ^^
Frau Rat Goethe dankte mir für die Jonaspredigten,
befonders für die Schiffgefährten Jonas. Goethe ift auch
mit diefen gut, mit der von der üblen Laune am heften
zufrieden. ~
Von Hamann — alles, was man fich Originelles denken
kann, von unbetrüglich feftem Wahrheitgefühl. Einmal
fagte er zu Mercken: Daß doch Herder nicht deuthch,
nicht fimpel fchreiben kann, wenn er doch fo ganz uns:
gekünftelt fchrieb; er war' ein trefflicher Mann, wenn er
doch nur fo plan, fo heiter fchriebe wie ich.
[52.] Juni 26. Lavater.
Goethe von Bockenheim. Spinofa ^ V4 nach 7 Uhr
ward ich von Herrn Paffavant, Vater und Sohn, in ihrer
I 3
34 Lavater. [55
Kutfche nach Bockenheim abgehoh. Goethe mit, fchöner
Tag und Weg. Wohl 50 bis 60 Kutfchen und viele Fuß^
ganger dahin. Orgeigefang, erhebende Predigt von Herrn
Hilgenbach — über den Gehorfam gegen die Obrigkeit.
Nach der Predigt befahen wir die franzöfifche Kirche,
simpel und zierlich, ihr Haus. Spazierten in General Bauers
Landgut, unfer etwa 24. kühlten uns auf einer Altane,
zu der man durch einen kurzen, bis zur Begeifterung an^
genehmen Irrweg geht. — Goethe zeichnete gefchwind und
mit viel Fertigkeit den Plan zu einem Irrgarten. Im deut?
fchen Haufe aßen wir, unfer etwa 18. Goethe, Deinet,
Bernus, der uns traktierte, Kandidat Hartmann, Paffavant
Vater und Sohn u. f f., von Mofer, von Crügot — Spalding,
ich viel gutes -^ von Gottfched, ward zuletzt herabgefetzt
über die Geographie zu lefen. Von Geliert und Mofer,
von der häuslichen Tugend fogenannter großerMänner.
— Goethe: Sobald man in Gefellfchaft, nimmt man vom
Herzen den Schlüffel ab, und fteckt ihn in die Tafche;
die, welche ihn ftecken laffen, find Dummköpfe. ^
Abend. — Goethe und ich zu Cordata, die meiner
Frau ein Prefent gemacht hatte. — Von den heutigen Pre^
digten. Von dem vormaligen Frefenius. Sobald er Beifall
erhielt — weg war der Geifi und Segen. — Stiller Genuß
in fich felbft, das befte.
Goethe machte an dem Plan des Irrgartens. Nach
Haufe. G (?) aß mit uns. Von Wieland und Jacobi. Das
Weimarfche Schloß brennte beim hellen Mittag ab. Ein=:
fluß auf W. Schickfal. Goethe las noch eine gedruckte
Brofchüre — voll enigmatifcher Weisheit und Narrheit —
der höhere Ruf Über Hartmann gefprochen.
[53.] Juni 27. Lavater.
Bei dem Mittageffen durchfahen wir die Chodowiecki?
fchen Zeichnungen; und Goethe rezitierte auswendig mit
der natürlichften , kräftigfien Deklamation Satire auf ver?
fchiedne. Ein Genie ohne feinesgleichen.
Ich durchging mit Goethe die PhyfiognomifchenKupfer?
tafeln, gab ihm den Anfang meines Menfchen^Gedichts
zu lefen. Wir befahen feine Gipsbilder. Er fuchte die
Satiren und fand fie nicht.
^ ob dem Nachteffen lafen wir in Salis Memorialien,
ein Rat Schneider (Oncle Tobias im Shandy) faß bei uns.
Wir befahen nachmals Chodowieckis Zeichnungen; waren
54] Von Frankfurt nach Ems. 1774. 35
herzgut, ungeniert, vertrauhch beieinander. Goethe war
den Abend mit Schmoll, der Rat Goethe Porträt heute
kenntlich gezeichnet hatte, fpazieren gefahren, aufm Main
in Sandhof, wo fie nach Frankfurter Manier — einen Teller
voll Krebfe miteinander aßen; war aber Schmoll nicht wohl.
Wir fprachen noch von der Chimie. Goethe hat merks;
würdige Verfuche, ganz eigne, ganz neuere Chimie, wie . . .
wo alles fo honett und anftändig gemacht wird — will recht
darhinter, und hinters Zeichnen, wird gewiß in beiden exzel?
lieren, denn er exzelliert in allem. Von dem allgemeinen
Verfall in allen Wiffenfchaften ; der Decke ob aller Augen.
[54] Juni 28. Lavater.
Ich erwachte um 3 Uhr; fanft fchöner Morgen; Vögeln
jauchzen; ftand gleich auf, räumte zufammen, und holte
etwas vom geftrigen Tagebuch nach. Herzlich kam mich
Goethe zu umarmen und mir einen guten Morgen zu
wünfchen. Korrefpondenz.
Um ^/o5 Uhr fetzten wir uns ein, und fuhren durch
die fanft von der Morgenfonne erleuchte, noch ftille,
größtenteils fchlummernde Stadt, — über prächtige Felder —
wir befürchteten ein fchreckliches Gewitter. Aber es ging
uns vorüber. Ein prächtiges Gebäude, das einem Bolongaro
gehört, an dem eben gebaut war, frappierte uns. Es regnete
eine kleine Weile. Goethe erzählte mir viel von Spinofa
und feinen Schriften. Er behauptet, keiner hätte fich über
die Gottheit dem Heiland fo ähnlich ausgedrückt wie er.
Alle neuern Deiften haben übrigens nur ihn ausfpoliert.
Er fei ein äußerft gerechter, aufrichtiger armer Mann ges:
wefen. Homo temperatiffimus. Er fei in großem Anfehen
geftanden, die größten Männer haben ihn zu den wich^
tigften Beratfchlagungen und Kalkulationen gebraucht, ihn
wegen feiner ausnehmenden Klugheit und Treu herzlich
geliebt. Er habe die Prophezeiungen beftritten, und fei
lelbft ein Prophet gewefen. Er habe die unwahrfchein?
lichften Staatsverändrungen vorhergefagt. Seine Hausleute
hab' er nach der Predigt von dem Inhalt derfelben gefragt.
Sie vermahnet die Kirche zu befuchen und dem nachzu?
kommen, was da gepredigt würde. Auf eine große Erb:=
fchaft, die ihm gehörte und die man ihm ftreitig machen
wollte, hab' er um des Friedens willen Verzicht getan
und (ich nur feines Vaters Schlafbett ausgebeten. Er fei
fehr arm gewefen, und habe lieh mit Glasfchleifen kümmere
36 Lavater. [54
lieh erhalten können. Sein Briefwechfel fei das intereffantefte
Buch, was man in der Welt von Aufrichtigkeit, Menfchen^
liebe lefen könne.
Wir ftiegen (wo, weiß ich nicht mehr) aus und faßen
unter einem Baum — Goethe ein Glas Wein, ich Himbeere
effig, fchrieb ein Billettchen. Er auf die andre Seite. Wie::
der fort. Von feinem Julius Cäfar, einem neuen weit^
läufigen Drama. Von der Zerftörung und Einäfcherung der
Stadt Oppenheim und Worms unter Ludwig dem XIV. —
Man fagte es den Einwohnern vorher, auf den und den
beftimmten Tag werde man die Stadt an allen vier Ecken
anftecken, fie können ausziehen und mit fich nehmen, was
lie wollen. Sie fandten an den kommandierenden General
erft alle Greifen, dann alle Witwen und Waifen — dann
alle kleinen Kinder, Schwangere, Säugende — alle auf den
Knien baten mit Tränen um Gottes willen um Schonung.
Der General weinte mit ihnen, aber er muß es tun. —
Sie zogen alfo mit ihrer Habe aufs Feld und fahn die
Flammen, in denen die Stadt aufging! O Gerichtstag!
Gerichtstag!
Vor 1 1 Uhr langten wir in Wiesbaden, einer Bad?
ftadt an, befahen die heißen Bäder, voll troftloser Me?
lancholei <^ Aß neben Goethe zu Mittag. Hufaren und Offi?
ziers, und ein dummer Pfaff waren da; Eine fanfte, junge
knechtifche Phyfiognomie eines Judenfohns, der neben
dem Tifch feil hatte, frappierte uns. Goethe fprach von
einigen feiner Dramen.
Nach dem Effen Erdbeeren miteinander. Von der
Phyfiognomie eines jüdifchen Tafchenfpielers , der mich
lernen wollte. ^ Sprach mit Goethe am Fenfter von der
Auferftehung Chrifti.
Um 2 Uhr reiften wir ab. ^ Goethe rezitierte viel
von feinem ewigen Juden. Ein feltfames Ding in Knittel?
verfen.
Um ^1^6 Uhr langten wir nach einigen harten Stößen
den Berg hinab — im ftillen berühmten Schwalbach an;
Wirtshaus an Wirtshaus. ^ Wir ftiegen beim weißen Roß
ab, ein ordentlich Quartier. ^ Goethe fing ein Briefchen
an meine Frau an — ich vollendets. Nachher gingen wir
fpazieren an der breiten, doppelten, übereinanderftehen?
den Allee. Herrlich angenehm. Trafen wenige Perfonen
an. Gingen zum Brunnen, der mit roten Steinen eingefaßt,
in einer Vertiefung, in zwon gevierten Aushöhlungen aufs
56] Von Frankfurt nach Ems. 1774. 37
quoll. Wir verfuchten das Waffer. Stark, vitriolifch. Goethe
rezitierte uns eine Romanze aus dem Schottifchen. Ein
elender Mann offerierte uns Büchelchen. '^ Goethe, Schmoll
und ich aßen allein zu Nacht. Ich las im Werther. Noch
erzählte mir Goethe den ganzen Inhalt der homerifchen
iHade, las mir aus der lateinifchen Überfetzung einige
Stellen vor.
Von meinem Gedichte. Die Art wolle ihm noch nicht
recht in Kopf. Doch gab er nach — da ich die Idee näher
beftimmte.
[55.] Juni 29. Lavater.
V2 6 Uhr ab <^ Goethe von feinem Julius Cäfar —
rezitierte ganze Stellen aus Voltaire. — —
Um ^/g 12 Uhr zu Naffau an <^ Befuchten fogleich
die Frau Baron von Stein ^ Von den reifenden Schweden.
Von Salzmanns Vater. Von Ems und la Roche. Sie lud
uns zum Mittageffen, wir gingen ins Wirtshaus, aßen da.
Sie ließ uns nochmals einladen, aber wir blieben, weil wir
fortwollten. Um ^/o 5 Uhr langten wir zu Ems an. ^ Wir
nahmen unfer Quartier im Naffauer Haufe Nr. 48. 49. ^^
Wir packten aus, ich fchrieb ein paar Billets auf Zürich,
Goethe mit.
Nachher ging ich mit ihm in den Spielfaal «^ Ich
kam in unteren Saal, wo viele vornehme Herren und
Frauen fpeifeten, neben Kanzleidirektor Fifcher und Goethe
zu fitzen. Unter anderm urteilte Herr Fifcher über Götter,
Helden und Wieland. — Konnte mich Goethes wegen des
Lachens kaum enthalten. — Von Wieland, Geßner, Ifelin.
Goethe fagte, daß er nach feiner Rückreife auf Frankfurt
ein — kurzes Drama verfertigen wolle. — Ich fragte meinen
Nachbar vom Götz vom Berlichingen. Er wollte nicht viel
daraus machen und verwunderte fich fehr, daß ich ihn
bewunderte.
[56.] Juli 15. Lavater.
Nach dem Bade Goethe da. von Baledow und
der Reife ~ zum Effen neben Goethe. Von Herder ^^
von Leuten in Schwalbach, ihrem Urteil über mich; feinem
ewigen Juden. Bafedows Einfalt und Stärke. Paffavant.
Herrlichs Briefchen von Lenze an Goethenufw. ^^ Goethe
gab mir ein griechilch Teftamentchen. ~ Ich ging zu
Meyern, bei dem Goethe war. ^
I
38 Lavater. [57
Ob dem Nachteffen von dem Verfaffer des Lebens
Jefu — Goethe neben mir. ^^ Goethe machte noch ein paar
Silhouetten. Graf Oftein bat um meine. Ich ging heim
zu Bafedow und Wieb, fo wahr ich lebe, wider des nach^
kommenden Goethes Rat wieder bis Nacht um 1 Uhr bei
ihm ^ Gal. III lafen wir in Goethes Gegenwart.
[57.] Juli 16. Lavater.
Goethe kam — klagte ihm — ich ging nicht hinab zum
Nachteffen ^ aß mit Goethe auf meinem Zimmer zu Nacht.
Clavigo, der Hauptfache nach, ohne den Tod, eine wahre
Gefchichte; und fogar die Namen der Perfonen wahre
Namen. — Er gab mir viele herrliche Lehren von der Kollek?
tion meiner Kräfte. Ich verfchwende fie, und klage immer
über Mangel. — Beim 1. Teil Tagebuch fähe er einen
Menfchen, der das Schnupftuch immer in der Hand hat,
zu fchneuzen, und unwillig wird, wenn er nicht heraus?
zufchneuzen findet.
[58.] Juli 18. Lavater.
^/.»ö Uhr ^ erwach' ich, fitz auf — nehme mein
Tagbuch und fchreib ^ Unterdes, diktiert mir Goethe aus
feinem Bett herüber, unterdes geht's immer fo geradezu in
die Welt 'nein. Es fchläft fich, ißt fich, trinkt fich und
liebt fich auch wohl an jedem Orte Gottes, wie am andern,
folglich alfo — izt fchreib er weiter '^
Goethe diktiert weiter:
IL Sura.
Es ift fo viel Heimweh in der Welt, daß eins dem an?
dem die Wage hält;
Da ftreckt er fich in feinem Bett — denkt, o daß ich
mein Weibchen hätt'.
Ich kröne mich in meinem Sinn; fort ift die gute Meyerini
Doch hoffen wir wieder Maienfreud',
Er lehret und bekehrt die Leut',
Ich fahr' zum fchönen Liefel heut'.
explicit Sura.
[59.] Juli 18. Lavater.
In einem wohlbefetzten Schiff auf der Lahn — wo
Bafedow raucht und Grammatik doziert, Goethe Reim?
endungen für die Gefellfchaft fchreibt, Ulrich und Als?
60] Von Ems nach Düsseldorf. 1774.. 39
dort den Schirm hält, hier einer einen profaifchen Gq^
danken in Verfen oder einen poetifchen in Profa in ein
Papierchen hinfchreibt — Kaffee getrunken wird; — ob
wir gut Wetter kriegen beim Sieden des Rindfleifches,
deliberiert wird, — fchreib ich dies «^
Wir fliegen bei der Aalen nicht aus, wo der Herr
von der Nil uns einzuladen kam. ^
Goethe: Wir werden nun recht gut geführt.
Weil Bafedow das Ruder rührt. —
Herrliches altes Schloß Lahnegg herab auf die Lahn
blinkend.
Goethe diktierte:
Hoch auf dem alten Turne fteht
Des Helden edler Geift,
Der, wie das Schiff vorüber geht.
Es wohl zu fahren heißt.
,Sieh, diefe Sehne war fo ftark.
Dies Herz fo feft und wild —
Die Knochen voll von Rittermark,
Der Becher angefüllt —
Mein halbes Leben ftürmt' ich fort.
Verdehnt die Hälft' in Ruh'.
Und du, du Menfchenfchifflein dort,
Fahr immer, immer zu — *
Itzt fahren wir Lahnftein vorbei, zur Rechten liegt
der Fleken ^^ Itzt liegen wir am Bord ^ Ich ftieg aus.
Bafedow vor uns in ein Haus, wo man zu Mittag aß, über?
fiel und aß mit, Speck und Bohnen — alle ihm nach! Gewirr
und Leben und Freude — wieder ins Schiff. — Kapelle
— ein zerftörtes Schloß vorbei. Goethe über die Kerls in
Schlöffern — nun von der Lahn in den Rhein — Goethe
las wir fuhren Horchheim vorbei. Von der Staats?
nafe — der regierenden Frau Gräfin von Dierdorf.
Die Feftung und Thal Ehrenbreitftein. Fliegende Brücke
zwifchen Thal und Koblenz. Stiegen da aus — aßen zu
Mittag '^ um 3 Uhr ins Schiff— fuhren das Trierifche Schloß
und Feftung vorbei ~ Goethe ging bis Fallendar voraus.
[60.] Juli 20. Lavater.
Morgens nach 6 Uhr. Im Schiff unterm naffen Deck?
tuch, vor Schmoll, und neben Goethe, der in romantifcher
I
40 Lavater. [61
Geftalt, grauem Hut, mit halbverwelktem lieben Blumen^
bufch fein Butterbrod hinter dem braunfeidnen Halstuch
und grauen Kaputkragen, wie ein Wolf verzehrt und fich
nach dem übrigen eingepackten Effen fchon weiters um^
fieht ^ Wir fehen Höningen des Grafen v. d. Leyen vor
uns — fchöne aber benebelte Ausficht. Laß regnen, wenn
es regnen will, dem Wetter feinen Lauf. Denn wenn es
nicht mehr regnen will, fo hörts von felber auf
Goethe las uns aus feiner Elmire, einer Operette und
ich verfchlummerte eine Stunde. Itzt fchlummert Goethe
und Schmoll noch unter der leinwandnen Bogendecke
neben mir, als wie unter einem Zelt. Man öffnet, und kühler
Wind öffnet beiden die Augen, fie fehen die herrliche Stadt
Bonn vor fich, die Refidenz des Kurfürften von Köln
, Macht doch wieder zuT ^
Um 12 Uhr zu Bonn an. '^ Fuhren um 2 Uhr ab.
Regen. Viel Schlummer, wenig gefprochen. Schöne Alleen
an einem fort bis auf Köln. ^
Schmoll und Goethe auf Düffeldorf, ich auf Mülheim.
[6L] Juli (21). H. Jung.StilHng.
Stilling wurde einftmals des Morgens in Elberfeld in
einen Gafthof gerufen ; man fagte ihm, es fei ein fremder
Patient da, der ihn gern fprechen möchte. Er zog fich
alfo an und ging hin; man führte ihn ins Schlafzimmer
des Fremden. Hier fand er nun den Kranken mit einem
dicken Tuch um den Hals und den Kopf in Tücher ver^
hüllt. Der Fremde itreckte die Hand aus dem Bett und
fagte mit fchwacher und dumpfer Stimme: Herr Doktor!
fühlen Sie mir einmal den Puls; ich bin gar krank und
fchwach. Stilling fühlte und fand den Puls fehr regeU
mäßig und gefund; er erklärte fich alfo auch fo und er::
widerte : Ich finde gar nichts Krankes ; der Puls geht recht
ordentlich. Sowie er das fagte, hing ihm Goethe am Hals.
[62.] Juli 21. W. Heinfe an Klamer Schmidt.
Denket Euch indeffen uns von ohngefähr in einer
Stube zufammengeführt : zuerft Goethe, den wilden Ver^^
faffer von Götter, Helden und Wieland; Heinfe, den Ver:=
faffer des Petron und der Laidion; Lavater, den Auffeher
darüber; nach diefem den größten Pietiften unferer Gegend,
Hafenkamp ; dann den Doctor Jung, der die Afino'ide im
Merkur gemacht hat, auch einen Pietiften; dann Defchen^:
64] Elberfeld. 1774. 41
macher, auch einen berühmten Pietiiten, und meinen Fritz
Jacobi, und einen Maler [Schmoll], Goethes Freund, und
fechs Damen und Herren, auch Pietiften, die uns zufammen
zu fehen kamen, und höret Goethen Klopftocks Meffias
gegen Hafenkamp verteidigen und Herders Urkunden, und
höret ihn, mich loben und feht ihn dann Lavatern zärtlich
küflen und feht die Gelichter voll Verwunderung und Er?
ftaunen darob, und feht uns dann alle zufammen friedlich ein
Glas Wein trinken und unferer Pferde Sattel beforgen,
wieder zurückkehren und Lavatern fchon eine Betfiunde
halten fehen und Abfchied von ihm nehmen. Alles dies
gefchah zu Elberfeld. Goethe, Fritz Jacobi und ich ritten
dann nach Düffeldorf und Goethe blieb zwei Tage bei uns.
Wir begleiteten ihn bis Bensberg ^ und Köln, wo wir mit
ihm einen Abend verlebten, den ich unter die fchönften
meines Lebens zähle.
[63.] Juli 2L J. G. Hafenkamp.
Bei Cafpari trafen wir den Frankfurter Zuchtmeifter,
unferen Dichter, Herrn Dr. Goethe. Dem legte ich die
Frage vor: ob nicht Klopftocks Meffiade fo umgearbeitet
werden könnte, daß alle fcholaftifchen Ideen, welche das
Evangelium der Herrlichkeit verdunkeln, durch lauter
Schriftwahrheiten erfetzt würden. Auch forderte ich ihn
auf, wie Geliert eine Komödie Die Betfchwefter gefchrie^:
ben habe, fo möchte er eine fchreiben Der Gebetsver?
ehrer. Er war nicht unwillig darüber. Die Ungläubigen,
wenn fie ihre Zweifel überwinden, werden nachher die heften
Verteidiger des Glaubens.
[64.] Juli 2L Nach Lavaters Erzählung.
Als Goethe mit Lavatern die kleinen Reifen machte
^ begegnete es ^ in Elberfeld, daß auch der Rektor
Hafenkamp der ältere zu Duisburg einmal in großer Ge?
fellfchaft mit Lavater und Goethe zu Mittag (oder Abend)
aß und nicht weit von Goethe zu fitzen kam; man war
in der heiterften Stimmung und Goethe fowohl als La?
vater erfreuten alles durch ihre heitere und belebende
Unterhaltung. Auf einmal richtet Hafenkamp, ein gottes?
fürchtiger Mann, der aber aus Mangel an Sinn für das
Schickliche nicht immer bedachte, was Zeit und Ort ge?
ftatten möchte, feine Rede an Goethe und fragt in feier?
lichem Tone: Sind Sie der Herr Goethe? ^ — Ja! —
I
42 Nach Lavaters Erzählung. [65
Und haben Sie das berüchtigte Buch Die Leiden des
jungen Werther* gefchrieben? — Ja. — So fühle ich mich
in meinem Gewiffen verpflichtet, Ihnen meinen Abfcheu
an diefer ruchlofen Schrift zu erkennen zu geben. Gott
wolle Ihr verkehrtes Herz befferni Denn wehe, wehe
dem, der Ärgernis gibt! ufw. — Jedermann geriet in die
peinlichfte Verlegenheit, jedermann war voll banger Er^
Wartung, wie es dem ehrlichen, aber pedantifch?fchul=:
gerechten Hafenkamp ergehen würde. Aber Goethe ver?
fetzte alle Anwefenden in die heiterfte Stimmung, als er
erwiderte: Ich fehe es ganz ein, daß Sie aus Ihrem Ge?
fichtspunkte mich fo beurteilen muffen, und ich ehre Ihre
Redlichkeit, mit der Sie mich beftrafen. Beten Sie für
mich! — Das Wohlgefallen an der edeln Art, mit der
Goethe fich benahm, war allgemein; der Rektor ward auf
eine Weife, wie er fich nicht hatte träumen laffen, ent^
waffnet, und die Unterhaltung nahm wieder ihren vorigen
fröhlichen Gang.
[65.] Juli. W. Heinfe.
Goethe war bei uns, ein fchöner Junge von fünfund?
zwanzig Jahren, der vom Wirbel bis zur Zehe Genie und
Kraft und Stärke ift; ein Herz voll Gefühl, ein Geift voll
Feuer mit Adlerflügeln, qui ruit immensus ore profundo.
[66.] Juli. W. Heinfe.
Von Goethen foll und muß nunmehr fchon ein Roman
die Preffe verlaffen haben: Die Leiden des jungen Werthers,
welcher, nach dem, was ich davon gehört habe, ein Meifter^
ftück ift. — Ich kenne keinen Menfchen in der ganzen ge^
lehrten Gefchichte, der in folcher Jugend fo rund und voll
von eigenem Genie gewefen wäre, wie er. Da ift kein
Widerftand; er reißt alles mit fich fort, und feine Götter
Helden und Wieland — ein Werk von herkulifcher Stärke,
wenn man's recht, Zeile vor Zeile, durchdenkt und durchs
fühlt, und wofür Wieland immer feine Mufarion geben
würde, wenn er es vernichten könnte — kömmt in keine
große Betrachtung, wenn man ihn perfönlich reden hört.
[67.] Juli. W. Heinfe an Klamer Schmidt.
Goethe fagte: Laidion wird fchon eingreifen, fo wie
die Vorrede zum Petron, ob's gleich was ganz anders ift;
* Doch erfchien Werther erft im Herbft.
70] Elberfeld. 1774. 43
laßt die Kerls raifonnieren , was fie wollen; lie machen
uns unfere Leute damit nicht anders; in den Charakteren
iit hier und da ein bißchen gelogen, aber mich hat's ent?
zückt. — Und was die Stanzen betrifft, fo was hab' ich
für unmöglich gehalten. Es ift weiter doch nichts als eine
Jouissance, aber der Teufel mach' dir 50 folche Stanzen
darüber nach. — Kurz; ich darf nichts darüber fagen; es
ift fo vieles darin, das nicht anders ift, als ob ich's felbft
gefchrieben hätte. — Ein anderer verhurt feine Säfte, ihr
habt Stanzen daraus gemacht. So ift's. '^
Schreibe Herdern, wenn Du gut mit ihm ftehft; der
hat eine Sammlung von alten Romanzen und aus den alten
englifchen überfetzten, wovon ich fchon Meifterftücke von
Goethe gehört habe, daß nichts darüber geht.
[68.] (Juli und vorher.) W Heinfe.
Daß Goethe Götterkraft hat in feinem Wefen, weiß
jedermann; und auch darauf bin ich ftolz, daß er von mir
fagte, als er meine Laidion gelefen : Das ift ein Mann — der?
gleichen Fülle hat (ich fo leicht mir nicht dargeftellt; man muß
ihn bewundern, oder mit ihm wetteifern. — ohne noch meinen
Namen zu wiffen, ohne zu wiffen, wo ich exiftierte — und
dann im Beifein Brentanos fagte: Ich glaubte nicht, daß
fo was in der deutfchen Sprache möglich wäre ufw. ~
Klopftock und Goethe halten meine entfetzlichen Hen*
dekafilben für ein Meifterftück, und Goethe foll fie vor?
trefflich deklamieren können.
[69.] (Juli 21./23.) F. Nicolai.
Man meldet mir eben fo glaubwürdig, Goethe habe
Dr. Jung zu der Herausgabe des erbärmlichen Dinges
Die Schleuder des Hirtenknaben aufgemuntert, und, da
er die Schimpfworte ausftreichen wollen, die Worte gefagt :
Er wolle ihn in Schutz nehmen, wenn er angegriffen würde.
[70.] (Juli.) Lavater.
Goethe behauptet, Hamann fei der Autor, von dem
er am meiften gelernt. Ich läge von Herder (von dem
Hamann fagt: alles recht, wenn der gute Mann nur auch
fo limpel fchriebe, wie Er!) : wenn Herder in feiner Urkunde
nichts gefchrieben, als was ich auszog, verdiente er keine fo
bübifche Abfertigung wie durch Wieland im Merkur. Ein
folch Werk mit einer fo paflionvollen verächtlichen Anzeige
verächtlich machen zu wollen, heiß ich Pyramiden wegferzen
I
44 J.G. Jacobi. [71
wollen. Das find mir Hunde! hör' ich Goethe ftampfend
rufen. Und diesmal wollt ich ihm den Mund mit der
Hand nicht zuhalten 1
[71.] JuH 24. J. G. Jacobi.
Ich eilte nach Düffeldorf, wo mein Bruder und Herr
Goethe mich erwarteten.
Herr Goethe hat mich in öffentlichen Blättern emp?
findlich beleidigt, aber auch hat er das Trauerfpiel Götz
von Berlichingen gefchrieben. Wir gaben uns die Hand.
Ich fah einen der außerordentlichften Männer, voll hohen
Genies, glühender Einbildungskraft, tiefer Empfindung,
rafcher Laune, deffen ftarker, dann und wann riefenmäßiger
Geifi: einen ganz eigenen Gang nimmt Seine Tafelreden
hätte ich aufzuzeichnen gewünfcht.
Sonntag, 24. Mein Bruder, Herr Roft, Goethe und
ich fetzten uns morgens um 5 Uhr in den Wagen, um
das Schloß Bensberg zu befehen. Ich reifte gern mit un=:
ferm Fremden, fo fehr auch wir beide in unferer Art zu
fehen, zu hören und zu fühlen verfchieden find. Ebenfo
wie ich unter den alten Griechen, fo lebt er unter den
alten Schotten, Kelten und Deutfchen, nur mit dem Unter?
fchiede, daß ich zuweilen mit Luft auf feinen rauhen Ge=:
birgen oder in feinen Felfenfchlöffern oder in den weiten
Sälen ihn befuche, wo Pfeil und Bogen famt der Harfe
an der Wand hängen und die Harfe von felbft einen Klang
gibt, weil die Seelen der Väter hinkommen und fie be:*
rühren, er aber in meine luftigen Täler, wo eine Grazie
auf 'der Leier fpielt, nicht herabfteigen mag.
Wir langten in Bensberg an ^ Wir fpeiften in einer
fchönen Laube, dicht an einem Gärtchen voll Blumen '^
Nach Tifche gingen wir auf das Schloß, deffen Wände
größtenteils von berühmten niederländifchen und Italien
nifchen Meiftern gemalt find '^
Nachdem Goethe die Natur und das wahre Leben
einiger Jagdfi:ücke genug betrachtet und ich bei dem Reize
der artigften Nymphen und Göttinnen mich aufgehalten
hatte, reiften wir nach Köln ■^ Unfer erftes Gefchäfte war,
ein Gemälde von Rubens in der St. Peterskirche aufzu?
fuchen. Diefes ftellt die Kreuzigung des hl. Petrus vor ^
Von hier ließen wir uns in die ehemalige Wohnung
der Familie v. Jabach führen, und befahen in einem ge?
wölbten, gleich einer Kapelle gebauten Gemach eine Schilde?
73] Düsseldorf - Bensberg - Köln. 1774. 45
rung des Le Brun, worauf die Familie abgebildet ift. ^^ Der
Gedanke, daß diejenigen, deren Bildniffe wir vor uns
hatten, alle dahin wären, daß der Geift des Jabach öfter
diefen Tempel befuchte, die irdifche Geftalt, das Fleifch
feiner Gattin und feiner Kinder anfchaute, daß fein Familien^
ftück in kurzem verkauft, aus dem Tempel herausgeriffen,
den Blicken der Unheiligen bloßgeftellt , nichts als ein
Galerieftück fein würde — diefer Gedanke machte auf uns:
fern Fremdling einen gewaltigen Eindruck -^
Nun kehrten wir in unferen Gafthof zurück, wo Goethe
uns in der Dämmerung altfchottifche Romanzen voll wahren
Gefühls der Natur mit Geifiererfcheinungen vermifcht in
einem unübertrefflichen Tone dergeftalt herfagte, daf^ wir
bei der letzten ohne falfche Nebenempfindung der Kunft
fo wahrhaftig zufammenfuhren, fo im Ernfte bange wur?
den, als ehemals in unferen Kinderjahren, wenn wir den
abenteuerlichen Gefchichten unferer Wärterinnen vongan=:
zer Seele, mit allem möglichen Glauben daran, zuhörten.
Unfere Abendmahlzeit war fröhlich. Wir fahen nicht
weit von uns den Rhein, welchen der Mond verfilberte
und deffen Geräufch in der Stille der Nacht etwas Feier;:
liches hatte. Das Ende diefes Tages follte fo fchön als
der Morgen fein.
[72.] Juli 24. F. H. Jacobi an Goethe.
Sorge nur, daß ich die Erfcheinung diefes dritten Teils
auch noch erlebe. Ich hoffe. Du vergiffeft in diefer Epoche
nicht des Jabachfchen Haufes, des Schloffes zu Bensberg
und der Laube, in der Du über Spinofa mir fo unver:;
geßlich fprachft; des Saals in dem Gafthofe zum Geift, wo
wir über das Siebengebirg den Mond herauffteigen fahen,
wo Du in der Dämmerung auf dem Tifche fitzend uns
die Romanze : Es war ein Buhle frech genug — und andere
herfagteft '^ Welche Stunden! Welche Tage! — Um Mitter:=
nacht fuchteft Du mich noch im Dunkeln auf — mir wurde
wie eine neue Seele. Von dem Augenblick an konnte ich
Dich nicht mehr laffen.
[73.] Juli. F. H. Jacobi an Wieland.
Je mehr ich's überdenke, je lebhafter empfinde ich die
Unmöglichkeit, dem, der Goethe nicht gefehen, noch ge^
hört hat, etwas Begreifliches über diefes außerordentliche
Gefchöpf Gottes zu fchreiben. Goethe ift, nach Heinfes
I
46 Jacobi an Wieland. [74
Ausdruck, Genie vom Scheitel bis zur Fußsohle; ein Be^
feffener, füge ich hinzu, dem faft in keinem Falle gQ^
ftattet ift, willkürlich zu handeln. Man braucht nur eine
Stunde bei ihm zu fein, um es im höchsten Grade lächere
lieh zu finden, von ihm zu begehren, daß er anders den:=
ken und handeln foll, als er wirklich denkt und handelt.
Hiermit will ich nicht andeuten, daß keine Veränderung
zum Schöneren und Befferen in ihm möglich fei; aber
nicht anders ift fie in ihm möglich, als fo wie die Blume
fich entfaltet, wie die Saat reift, wie der Baum in die
Höhe wächft und fich krönt. Sie wiffen, mein Befter, daß
am Anfange im großen All auch die Götter eingefchloffen
waren; daß fie gefangen lagen zwifchen den Elementen;
Sie wiffen auch, wie die Götter neulich durchbrachen
und fich wider die Titanen lagerten.
Was Goethe und ich einander fein follten, fein
mußten, war, fobald wir vom Himmel runter nebenein?
ander hingefallen waren, im Nu entfchieden. Jeder glaubte
von dem anderen mehr zu empfangen, als er ihm geben
könne; Mangel und Reichtum auf beiden Seiten um?
armten fich einander; fo ward Liebe unter uns. Sie kann's
ausdauern, feine Seele, — zeugte in fich der eine vom
anderen, — die ganze Glut der meinigen; nie werden
fie einander verzehren.
[74.] (Sommer). F. M. Klinger.
Nun wollte ich auf Akademieen gehn,»hatte keine
100 fl. Ich ward mit Goethe bekannt. Das war die erfte
frohe Stunde meiner Jugend. Er bot mir feine Hilfe an.
Ich fagte nicht alles und ging fo, weil ich lieber fterben
wollte, als unverdient was annehmen. Die 100 fl. waren bald
all. Der große Goethe drang in mich, machte mir Vorwürfe,
und nun leb' ich fchon ein ganzes Jahr von feiner Güte.
[75.] Oktober, erfte Hälfte. F. A. Werthes.
Diefer Goethe, von dem und von dem allein ich
vom Aufgang bis zum Niedergang der Sonne und von
ihrem Niedergang bis wieder zu ihrem Aufgang mit Ihnen
fprechen und ftammeln und fingen und dithyrambifieren
möchte, deffen Genius zwifchen Klopftock und mir ftand,
und über die Alpen und Schneegebirge gleichfam einen
Sonnenfchleier herwarf, er felbft immer mir gegenüber
und neben und über mir, diefer Goethe hat fich gleich?
77] Frankfurt. 1774. 47
fam über alle meine Ideale emporgefchwungen , die ich
jemals von unmittelbarem Gefühl und Anfchaun eines
großen Genius gefaßt hatte. Noch nie hätt' ich das Ge^
fühl der Jünger von Emmaus im Evangelio fo gut exege*
fieren und mitempfinden können, von dem fie fagten:
Brannte nicht unfer Herz in uns, als er mit uns redete?
Machen wir ihn immer zu unferem Herrn Chriftus, und
laffen Sie mich den letzten feiner Jünger fein. Er hat fo
viel und fo vortrefflich mit mir gefprochen; Worte des
ewigen Lebens, die, fo lange ich atme, meine Glaubens?
artikel fein foUen.
Bei Klopftocken bin ich von nachmittags fünf bis
nachts zehn Uhr gewefen. Ich fand einen edlen und
großen Mann an ihm; weniger, wie auch Goethe fagte,
den Verfaffer des Meffias als den der Republik.
[76.] Oktober 15./17. H. Ch. Boie.
Einen vortrefflich fchönen Tag gehabt!
Einen ganzen Tag allein, ungeftört mit Goethen zu?
gebracht, mit Goethen, deffen Herz fo groß und edel
wie fein Geift ift ^ Er hat mir noch einiges und befon?
ders ein paar Gedichte voll Seele und Herz von ihm ge?
lefen. Wenn er fie mir, wie er verfpricht, gefchrieben
gibt, foUen Sie fie lefen.
Den 17., um 2 Uhr waren wir wieder in Frankfurt,
wo mich Goethe in unferem Wirtshaufe mit offenen Armen
empfing. Wir blieben bis Mitternacht beieinander und
mußten endhch die Tür abfchheßen, um nur allein zu
fein. Er las mir etwas; wir ließen aber bald das Lefen
fein und die Unterredung fiel auf die wichtigften Gegen?
ftände des Denkens und Empfindens, wo wir uns fehr
oft in unferen Gefinnungen begegneten. Goethes Herz
ift fo groß als fein Geift.
[77.] Oktober. F. H. Jacobi an Wieland.
Die Aufforderung oder der Zuruf, man muffe den
wankenden Götzen Wieland vollends niederreißen, ift mir
nicht durch Goethen zu Ohren gekommen; diefer fpottete
nur, ohne jene lächerliche Rede anzuführen, der Schurken
und Narren, welche fleh in den Kopf gefetzt hatten, er
wolle und muffe an Wieland zum Ritter werden. "^
Ich müßte zu weitläufig werden, mein liebfter Bru?
der, wenn ich Ihnen noch erklären wollte, in welchem
I
48 Jacobi an Wieland. [78
Sinne, nach welcher Vermifchung von Charakter und Genie
man Sie befchuldigt, Sie feien auf einmal vom Kinde zum
Greis geworden. Daß Sie bereits zu fehr empfinden,
quantum est in rebus inane, gehört mit dazu. Auch Goethe
jammerte hierüber bei Gelegenheit, daß er mit Bewunde^
rung und Entzücken von Ihrem Gedicht An Pfyche fprach.
Wielands Weisheit, fagte er, konnt's doch nicht uner?
örtert laffen, daß die Wonne des Mädchens frühzeitig
ein Ende nehmen würde; da macht er ihm einen herr;:
liehen Nektarbecher zurecht, gießt aber beim Hinreichen
einen vollen Löffel Rhabarbertinktur darunter und rührt's
brav durch, daß das arme Ding nun den ganzen Soff
nicht mag.
[78.] (Oktober, Ende.) Mit F. H. Jacobi.
Goethe f^ fagte von Jung Stilling: Der wunderliche
Menfch glaubt eben, er brauche nur zu würfeln, und unfer
Herr Gott muffe ihm die Steine fetzen.
[79.] (Oktober, Ende.) F. H. Jacobi an K. L. v. Knebel.
Als ich Ihren Brief las, fiel mir ein, daß ich vor
fechs Jahren, als Klopftock bei mir zu Mannheim war,
über Lavater mit ihm zu reden kam. Mein Freund Lavater,
fagte Klopftock, ift fehr eitel; der gute Mann weiß es
felber nicht, wie fehr] — Einige Tage darauf erwähnte
Goethe einer gewiffen Dame gegen mich, die Herder der
Eitelkeit befchuldige und fich nicht mit ihr vertragen
könne, weil er felbft der eitelfte unter allen Menfchen
fei. —Was Goethe von Herder fagte, fagt ganz Deutfehs:
lann wieder von ihm: er fei aus Eitelkeit und Hochmut
zum Narren geworden.
[80.] (Oktober.) F. H. Jacobi an Goethe.
Zwanzig Jahre find verfloffen, feitdem unfere Freund?
fchaft begann. Damals fragte jemand Dich in meiner
Gegenwart: ob wir nicht Freunde wären fchon von Kindes?
beinen an? und Du gabft zur Antwort: diefe Liebe wäre
fo neu, daß fie, wenn es Wein wäre, nicht zu genießen
fein würde. — Ein edler Wein ift fie geworden! — Lie?
bend, zürnend, drohend, riefft Du mir zu in jenen Zeiten:
der Genügfamkeit, die fich mit Teilnahme an Anderer
Schöpfungsfreude fättigte, zu entfagen; nicht länger zu
gaffen, fondern in die eigenen Hände zu fchauen, die
Gott auch gefüllt hätte mit Kunft und allerlei Kraft.
83] Frankfurt. 1774. 49
[81.] November 14. Bettina Brentano an Goethe.
An einem hellen Wintertag, an dem Deine Mutter
Gäfte hatte, machteft Du ihr den Vorfchlag, mit den
Fremden an den Main zu fahren. Mutter, Sie hat mich
ja doch noch nicht Schlittfchuhe laufen fehen und das
Wetter ift heut fo fchön ufw. Ich, erzählte die Mutter,
zog meinen karmoifinroten Pelz an, der einen langen
Schlepp hatte und vorn herunter mit goldenen Spangen
zugemacht war, und fo fahren wir denn hinaus, da fchleift
mein Sohn herum wie ein Pfeil zwifchen den andern durch,
die Luft hatte ihm die Backen rot gemacht und der Puder
war aus feinen braunen Haaren geflogen, wie er nun den
karmoifinroten Pelz fieht, kommt er herbei an die Kutfche ;
und lacht mich ganz freundlich an. — Nun, was willft Du?
fag ich : Ei, Mutter, Sie hat ja doch nicht kalt im Wagen,
geb' Sie mir Ihren Sammetrock. — Du wirft ihn doch nicht
anziehen wollen! — Freilich will ich ihn anziehen. — Ich
zieh halt mein prächtig warmen Rock aus, er zieht ihn an,
fchlägt die Schleppe über den Arm, und da fährt er hin wie
ein Götterfohn auf dem Eis.
[82] Dezember 12. Elifabeth Goethe.
Des Abends, da die andern Freunde weg waren, und
ich allein bei Sufanne von Klettenberg, fagtefie: Der Dok^s
torl Ich bildete mir ein, fie meine den Medikus, undfagte:
Er ift weggegangen. Nein, fagte fie und deutete auf mich.
Meinen Doktor meinen Sie? Sie nickte mit dem Kopfe.
Ach, fagte ich, der glaubt fo wenig, daß Sie fterben, daß
er mir aufgetragen hat, Ihnen zu fagen, wie er morgen mit
dem Prinzen von Weimar nach Mainz reifen werde — drei^
mal hab' ich fchon angefangen, ihn auf Ihren Tod vorzu?
bereiten, es ift aber alles vergebens. Sie fiirbt nicht! fagt
er immer, das kann nicht fein, fie ftirbt nicht!
[83.] Dezember 11./14. K. L. v. Knebel an F. J. J. Bertuch.
Von Wielanden werden Sie erfahren können, daß
ich Goethes Bekanntfchaft gemacht habe, und daß ich
etwas enthufiaftifch von ihm denke. Ich kann mir nicht
helfen, aber ich fchwöre es, Ihr alle, Ihr Leute, die Ihr
Kopf und Herz habt, Ihr würdet fo von ihm denken,
wenn Ihr ihn kennen folltet. Dies bleibt mir immer eine
der außerordenthchften Erfcheinungen meines Lebens. Vieles
leicht hat mich die Neuheit zu fehr frappiert; aber was
I 4
50 K. L. V. Knebel. [85
kann ich dafür, wenn natürliche Urfachen natürliche Wir*
kungen bei mir hervorbringen. ^^
Was fagt unfer Wieland zu Goethens Brief an ihn?
Nur böfe muß er niemals auf ihn werden. Keine Menfchen
in der Welt würden fleh gefchwinder verftehen, wenn fie
beifammen wären, als Wieland und Goethe. Ich bin ver^s
fiebert und fehe es aus allem, daß fich Klopftock und
Goethe lange nicht fo verfianden haben. Goethes Kopf
ift fehr viel mit Wielands Schriften befchäftigt. Daher
kommt es, daß fie fich reiben. Goethe lebt in einem be^
fiiändigen innerlichen Krieg und Aufruhr, da alle Gegen*
ftände aufs heftigfte auf ihn wirken. Daher kommen die
Ausfälle feines Geifies, der Mutwillen, der gewiß nicht
aus böfem Herzen, fondern aus der Üppigkeit feines
Genies fließt. Es ift ein Bedürfnis feines Geiftes, fich
Feinde zu machen, mit denen er fireiten kann; und da^
zu wird er nun freilich die fchlechteften nicht ausfuchen.
Er hat mir von allen denen Perfonen, auf die er los==
gezogen ift, mit ganz befonderer empfundener Hochachtung
gefprochen. Aber der Bube ift kampfluftig, er hat den
Geift eines Athleten. Wie er der allereigenfte Menfch
ift, der vielleicht nur gewefen fein mag, fo fing er mir
einmal abends in Mainz ganz traurig an: Nun bin ich
mit all den Leuten wieder gut Freund, den Jacobis, Wie*
land — das ift mir gar nicht recht. Es ift der Zuftand
meiner Seele, daß, fo wie ich etwas haben muß, auf das
ich eine Zeitlang das Ideal des Vortrefflichen lege, fo
auch wieder etwas für das Ideal meines Zorns. Ich weiß,
das find lauter vortreffliche Leute; aber juft deshalb; was
kann ich ihnen fchaden? Was nicht Stroh ift, bleibt
doch, und die Woge des Beifalls, wenn fie fich auch eine
Zeitlang abgewendet hat, fällt doch wieder zurück ufw.
Ich mußte herzlich über feine Naivitäten diefer Art
lachen, denn der Rektifiziergeift ift bei ihm übel ange*
bracht. Genug, ich konnte mich in die Möglichkeit feines
Falles fetzen und lachte ihn damit aus. Den älteften
Jacobi liebt er über alles. Er tat mir fogar die Ehre,
außerordentliche Ähnlichkeit mit ihm bei mir zu finden.
Indeffen hat er eine Schrift auf ihn gemacht, die er mir
verfichert, daß es das Böfte fei, was er in diefer Art ge*
macht habe. Sogar ein Frauenzimmer in Frankfurt, das
mit Jacobi liiert ift, hat er hineingebracht. Sie hat ihn
bei allem befchworen, ihr die Schrift lefen zu laffen und
84] Frankfurt. 1775. 51
beteuert, daß fie nichts übel empfinden wolle. Er hat
ihr aber geradezu verfichert, daß es unmöglich fei, daß
irgend ein Frauenzimmer in der Welt die Stellen nicht
übel empfinden follte. Nun wartet er, bis Jacobi nach
Frankfurt kommt; dem muß er es vorlefen, und dann
will er es zerreißen.
So viel von Goethe! Aber lange noch das geringfie.
Die ernfthafte Seite feines Geiftes ift fehr ehrwürdig. Ich
habe einen Haufen Fragmente von ihm, unter anderem
zu einem Doktor Fauft, wo ganz ausnehmend herrliche
Szenen find. Er zieht die Manufkripte aus allen Win*:
kein feines Zimmers hervor. An den Leiden des jungen
Werthers hat er zwei Monate gearbeitet, und er hat mir
verfichert, daß er keine ganze Zeile darin ausgefirichen
habe. An Götz von Berlichingen fechs Wochen. Er
macht wieder fo eins, und noch ein Dutzend andere —
doch davon ein andersmal.
[84.] Karl Auguft, Prinz von SachfensMeiningen.
Goethe, fagte Lavater, wäre lauter Kraft, Empfin:=
düng, Imagination; er handelte danach, ohne zu wiffen,
warum und wozu es wäre, wie ein Strom, der ihn fort?
riffe; Goethe wäre aber doch ein Original^Genie.
1775.
[85.] Januar (Anf.). J. G. v. Zimmermann an Charlotte v. Stein.
Vous voules que je vous pari de Goethe ; vous
desires de le voir? — Le vous en parlerai tantot. — Mais
pauvre amie, vous n'y penses pas, vous desires de le
voir, et vous ne saves pas ä quel point cet homme
aimable et charmant pourait vous devenir dangereuxl
— Je coupe une planche de la Physiognomique de La^
vater, pour vous faire present de cette Physionomie d'Aigle.
Mr. Goethe est Fils unique d'un homme tres riche,
der den Titel von einem Kaiferlichen Rate hat, et qui
vit ä Francfort de ses rentes. Son Pere a voulu qu'il ait
un etat; c'est pourquoi il est devenu Docteur en Droit
et fait bon gre mal gre quelquefois l'avocat, dont il
s'aquitte superieurement bien. Il entend en maitre la
musique, le Dessein, la peinture, la gravure, et ä ce que
bien des personnes m'ont assure, il est verse presque dans
tous les arts et dans toutes les sciences.
I 4*
52 J. G. V. Zimmermann. [86
Un etranger qui a passe dernierement ches moi a
fait de Mr. Goethe le Portrait suivant: Er ift 24 Jahre
alt; ift Rechtsgelehrter, guter Advokat, Kenner und Leser
der Alten, befonders der Griechen; Dichter und Schrifts:
fteller; Orthodox (S. Brief des Paftors zu '\"\"\' an den
Paftor zu i"i"i"); Heterodox (S. zwo unerörterte Fragen
von einem Landgeiftlichen in Schwaben); Poffentreiber
(S. Puppenfpiel) , Mufikus; zeichnet frappant; ätzt in
Kupfer, gießt in Gips, fchneidet in Holz; kurz, er ift
ein großes Genie, aber ein furchtbarer Menfch.
Une Femme du monde qui l'a vu souvent, m'a dit
que Goethe etait Fhomme le plus beau, le plus vit, le
plus original, le plus ardent, le plus impetueux, le plus
doux, le plus seduisant, et le plus dangereux pour le
coeur d'une Femme qu'elle avait vü en sa vie.
Mon ami Lavater m'a ecrit le 23 juin 1774 de Franc;:
fort: Goethe macht ein Ding, oder hat's gemacht. Wer::
thers Leiden! Wenn Du etwas Wahres in Deinem Leben
gelefen haft — fo lies nichts mehr auf mein Wort. Le
27 Aout 1774 de Zürich: Werthers Leiden werden Dich
entzücken und in Tränen fchmelzen. Du würdeft den
Doktor Goethe vergöttern. Er ift der furchtbar fte und
der liebenswürdigfte Menfch.
[86.] Januar, vor 27. F. H. Jacobi an Wieland.
Ich foll die Hand aufs Herz legen, trauter Freund
und zeugen, ob der außerordentliche Beifall, den Goethe
Ihrer Kantate des Apollo im Midas gegeben, nicht Per:;
fiflage fei. O tausendmal kann ich hierüber die Hand
aufs Herz legen und zeugen, daß diefer Beifall fo ganz
und fo innig gewefen, als einer fein kann. Wenn Sie
mit Goethes epifchem Shandysmus bekannter wären, fo
würden Sie darin nichts Unbegreifliches finden. Über:;
dies ift Perfiflage Goethes Lieblingsfigur nicht, ja, ich
dürfte wohl behaupten, daß er niemals fich derfelben be^^
diene, denn immer ift feine Ironie offenbarer deutlicher Spott.
Ohne eben ein Wundermann zu fein, wollte ich
Ihnen von Goethe Beiträge zum Merkur verfchaffen, wenn
nicht Goethe mit verfchiedenen Ausarbeitungen im Merkur
fo gar fchlecht zufrieden wäre, daß er die Vorftellung nicht
ausftehen kann, in Gefellfchaft ihrer Verfaffer vor dem
Publikum aufzutreten. Sie achtet er vom Grunde der Seele
hoch; aber als Herausgeber des Merkurs find Sie ihm ärger::
90] Frankfurt. 1775. 53
lieh. Zur Iris hat er verfchiedene Beiträge geUefert und
in den dritten Teil 1775 kommt ein Drama mit Arien Erwin
und Elmire von ihm ^
Goethe grüßt Sie herzlich und bittet Sie, uns Ihre
Silhouette zu fchicken. Wir wollen sie in Kupfer ftechen
laffen wie die inliegenden von Klopfiock und Lavater.
[87.] (Januar.) F. H. Jacobi.
Kurz es ift Merck ein Menfch ohne Treu und Glauben,
der keinen Fetzen Herz im Leibe hat; ein Kerl von Leder,
wie Goethe deswegen von ihm zu fagen pflegte.
[88.] (Januar.) F. H. Jacobi.
Goethe Tagte von Herder (ehemals); er exiftierte in
einem unaufhörlichen Blafenwerfen. — Auch zerplatzt
ihm alles, und alles ekelt ihn im voraus fchon an. Schwer^;
lieh hat je ein Menfch einen anderen Menfchen fo ge^
drückt, wie er (ich felbft drückt.
[89.] Februar 4. Karl Auguft, Prinz von Sachfen*Meiningen.
Der Herr Goethe hat bei uns zu Mittag gegeffen.
Es war mir fehr lieb, daß er neben mir faß, damit ich
ihn defto näher bemerken konnte. Er fpricht viel, gut,
befonders, original, naiv und ift erftaunlich amüfant und
luftig. Er ift groß und gut gewachfen, in der Statur des
Gotters und hat feine ganz eigene Fa^ons, fowie er über:;
haupt zu einer ganz befonderen Gattung von Menfchen
gehört. Er hat feine eigenen Ideen und Meinungen über
alle Sachen; über die Menfchen, die er kennt, hat er
feine eigene Sprache, feine eigenen Wörter. — Er hat mir
fehr wohl gefallen.
Sein fanftes Gefühl, feine Richtigkeit des Ausdruckes,
der Denkungsart, des Urteils, feine angenehme Lebhaftig;:
keit verdienen Bewunderung. Er fagte mir, daß er jetzt
an zwei Stücken arbeite: Der Tod J. Cäfars, ein Trauerfpiel,
und eine Oper.
Er blieb bis 5 Uhr nachmittags bei uns, worüber
wir fehr erfreut waren.
[90.] (Februar.) H. G. v. Bretfchneider.
Mit Goethe habe ich vor einiger Zeit gefprochen; dem
wollen die Freuden Werthers gar nicht fchmecken. Er be^
hauptet ganz kühn gegen mich, man habe ihn nicht verftanden.
I
54 G. M. Kraus. [91
[91.] Februar Ende/März Anfang. G. M. Kraus an F. J. J. Bertuch.
Nun hören Sie, was Goethe fagt. Diefer hat mich
fchon etUche Male befucht. Des Herrn Hofrats Wie::
land Porträt lobt er über alle Maßen; diefe ganze Familie
gefällt ihm. Karolinchen heißt er feine Favorite: Man
fieht ihr die Gutheit in ihren Gefichtszügen. Sophiechen
— fagt er — ift eine kleine Schönheit, aber etwas fchalk:;
haft und gefährlich! Die wird Männer rafen machen!
Dorchen ift ein kleiner Teufel, Malchen fehr unfchuldig
und angenehmes Kind. Das ift das Urteil von Goethe
über diefe Porträts, welches er, wie er mir noch heute
fagte, felbften an Herrn Hofrat fchreiben wird. Die Kn^
Ordnung vom ganzen Bild gefällt ihm nach meiner Skizze
fehr wohl, nur mit der Einrichtung des Zimmers ift er
nicht ganz zufrieden, es fcheinen ihm die darinnen an^:
gebrachten Meubles zu reich und zu prächtig für einen
Autor zu fein. Daran läßt fich denken und ändern,
ohne dem Ganzen zu fchaden. Goethe ift jetzt luftig
und munter in Gefellfchaften, geht auf Bälle und tanzt
wie rafend! Macht den Galanten beim fchönen Ge^
fchlecht: das war er fonften nicht. Doch hat er noch
immer feine alte Laune. Im eifrigften Gefpräch kann
ihm einfallen, aufzuftehen, fortzulaufen und nicht wieder
zu erfcheinen. Er ift ganz fein, richtet fich nach keiner
Menfchen Gebräuche, wenn und wo alle Menfchen in
feierlichften Kleidungen fich fehen laffen, fieht man ihn
im größten Neglige und ebenfo im Gegenteil. Goethe
will oft zu mir kommen und bei mir zeichnen, welches
ich ihm fehr gern erlauben werde. Er hat feit einem
Jahr viel gezeichnet und auch etwas gemalt. Viele Schatten^
bilder und auch andere Gefichter im Profil macht er,
trifft öfters recht gut die Gleichheit ^ Goethe hat mir
angekündigt, daß ich in hiefiger Stadt nicht viel Sub^^
fkribenten für Ihren Don Quixote anwerben würde. Ein
garftiges Zeichen vom Gefchmack meiner Landsleute.
[92.] Frühjahr. Überlieferung der Familie Andre.
Lili Schönemann hielt fich im Frühling des Jahres 1775
zuzeiten in dem Landhaufe ihres Oheims Bernhard zu Offene
bach auf. Johann Andre, unerfchöpflich in Gefangen und
Schwänken zum Klavier, ließ fich dann oft bis der Nacht;:
Wächter die zwölfte Stunde abrief, von den Liebesleutchen
ans Klavier feffeln, wodurch fie fich eines längeren Bei:=
95] Frankfurt. 1775. 55
fammenfeins erfreuen konnten. Überhaupt wird noch
mancher harmlofe Zug aus diefer Periode von dem Dichter
erzählt, der damals noch an der ganzen lyrifchen Zerfahren^
heit der Jugend litt.
Bei einer dämmernden Mondnacht hat er fich einft
in weiße Laken gehüllt und fo, auf hohen Stelzen in dem
Städtchen herumfchreitend — Goethe war nämlich in feiner
Jugend ein fehr geübter Stelzengänger — vielen Leuten
zu den Fenftern des erften Stockwerkes hineingefchaut,
daß jen^ ein panifcher Schreck befiel ob der langen,
weißen, geifterhaften Gefialt. Ein anderes mal, bei der
Taufe des Anton Andre, faß die ganze Gefellfchaft bei
dem Kindtauffchmaufe. Da tritt Goethe nach kurzer Ent;:
fernung mit einem verdeckten Gerichte herein, das er
fchweigend auf den Tifch fetzt. Und als man fpäter die
Serviette von der Platte hob, lag der kleine Täufling, forg=
fam eingewickelt, darin.
[93.] Mai. Herder an Hamann.
Ihre Prolegomena find an Mofer und Lavater abge^s
gangen. Von mir hat Goethe ein Exemplar bekommen,
der Sie fi:umm aber defi:o ftärker hochhält. Ich höre nur
manchmal von ihm ein Wort, und wie das auch falle,
ifi:'s ein Kerl von Geift und Leben. Er will nichts fein,
was er nicht von Fierzen und mit der Fauft fein kann.
[94.] Mai (9). Grf. Ch. z. Stolberg.
Haugwitz ^ war bei Goethen. Gleich ließen wir
ihn holen. Goethe kam bald zu uns, er war in wenigen
Tagen mit Fiaugwitz intim geworden und ward es auch
gleich mit uns. Er aß mit uns und wir waren, als hätten
wir uns jahrelang gekannt. Er ift ein gar herrlicher Mann.
Die Fülle der heißen Empfindung ftrömt aus jedem Wort,
aus jeder Miene. Er ift bis zum Ungeftüm lebhaft, aber
auch aus dem Ungefi:üm blickt das zärtlich liebende Fierz
hervor. Wir find immer beifammen und genießen zu^:
fammen alles Glück und Wohl, das die Freundfchaft
geben kann. Er kann fich nicht von uns trennen und will zu
unferer größten Freude einen Teil der Reife mit uns machen.
[95.] Mai, Mitte. Grf. Chr. z. Stolberg.
Das macht uns herrliche Freude, daß wir mit Goethe
reifen. Es ift ein wilder, unbändiger, aber fehr guter
Junge. Voll Geift, voll Flamme. Und wir lieben uns
I
56 Grf. Chr. z. Stolberg. [96
fchon fo fehr. Schon, fag ich. Seit der erften Stunde
waren wir Herzensfreunde. Wir find bei Gott eine Ge?
fellfchaft, wie man fie von Peru bis Indoftan umfonft
fuchen könnte. Und fo herrUch fchicken wir uns zu^
fammen. In Frankfurt haben wir uns alle Werthers Uni:^
form machen laffen. Einen blauen Frack mit gelber Wefte
und Hofe; runde graue Hüte haben wir dazu.
[96.] Mai (25.) Karl Auguft, Prinz v. Sachfen=Meiningen.
Wie erfchrak ich nicht, als der Doktor Goethe her?
eintrat! Ja, er war es felbften und war von Frankfurt
gekommen, feine Schwefter im Badenfchen zu befuchen,
hatte in Karlsruhe die Prinzen von Weimar gefprochen
und war hergereift, um feinen Freund Lenz zu fehen.
Er mußte fich neben mir aufs Kanapee fetzen, und der
Herr v. Dürkheim und Herr Heim fetzten fich auch da?
zu, und wir fprachen recht vertraut zufammen. Nur eine
halbe Stunde blieb er da; ich bat ihn, noch vor feiner
Abreife zu mir zu kommen. Diefer unvermutete Befuch
machte mir viel Spaß, da ich den Goethe recht gern
habe, weil er fo natürlich ift.
[97.] Mai (25.) J. G. v. Zimmermann an Charlotte v. Stein.
AStrassbourgj'ay montre entre cent autres silhouettes
la votre, Madame, ä Mr. Goethe. Voici ce quil a ecrit
de sa propre main au bas de ce Portrait. Es wäre ein
herrliches Schaufpiel zu fehen, wie die Welt fich in diefer
Seele fpiegelt. Sie fieht die Welt wie fie ift, und doch
durchs Medium der Liebe ^ J'ay ete löge ä Francfort ches
Monsieur Goethe, un des genies les plus extraordinaires
et les plus puissants qui ayent jamais pases dans le monde.
II viendra sürement vous faire visite ä Weimar. Rapelles?
vous allors que tout ce que je lui ai dit de vous ä Strass?
bourg, lui a fait perdre le sommeil pendant trois nuits.
[98]. Mai Ende . Gräfin Henriette v. Bernftorff an Graf z. Stolberg.
Mein Mann ^ umarmt Dich aufs zärtlichfte, und
wir beide — foll ich ihn wie Goethe Chriftel nennen?
— meinen Bruder.
[99.] Mai. Graf F. L. z. Stolberg.
Goethe hat uns fchon feit drei Tagen verlaffen und
ift bei feiner Schwefter in Emmendingen, fechs Meilen
102] Zürich. 1775. 57
von hier auf dem Wege nach Bafel. Da gehen wir
morgen auch hin. Ob er noch mit uns geht, weiß ich
nicht; einesteils hat er große Luft, nach Italien zu gehen,
zum anderen zieht ihn fein Herz nach Frankfurt zurück.
Sonft ging er gern mit uns, zum wenigfien nach Zürich,
weil Lavater fein fehr großer Freund ifi. An Goethe
haben wir gleich einen herzlichen Freund gefunden, fein
Herz ift nicht unter feinem Geift, das ift wahrlich alles,
was man nur fagen kann!
[100.] Juni. J. J. Bodmer.
Goethe ift ein Mann von wenig Worten. Er ift
mit meiner Munterkeit recht wohl zufrieden. Er hat mir
die Freude machen wollen, daß ich ihn vor meinem
Ende fähe, und es ward ihm, da er fchon in Efchers
Haufe war, noch bange, daß er zu fpät gekommen wäre,
fich vor dem alten Manne fehen zu laffen. Ich machte
ihm das Kompliment, daß er mich 11 Jahre auf fich
habe warten laffen.
[101.] Juni. J. J. Bodmer.
Herr Lavater hat Goethen und die Grafen von Stob
berg zu mir gebracht. Ich habe auch Goethen bei La*
vater einen Befuch gemacht ^^ Herr Lavater hat Goethen
eine vorteilhafte Opinion von mir gemacht, die ich noch
nicht verdorben habe. Er ift mit meiner Munterkeit am
heften zufrieden. Er hat Brutus und Caffius für nieder*
trächtig erklärt, weil fie den Cäfar ex insidiis, von hinten,
um das Leben gebracht haben. Ich fagte, daß Cäfar
durch fein Leben nichts anderes getan, als die Republik,
feine Mutter, getötet, und die meifte Zeit durch falfche
Wege. Cicero ift nach ihm ein blöder Mann, weil er
nicht Cato war ~ Man fagt, Goethe wolle bei uns an
einem Trauerfpiel von Dr. Fauftus arbeiten. Eine Farce
läßt fich von einem Schwindelkopf leicht daraus machen.
[102.] Juni. GrafF.L.z. Stolberg.
Goethe ift mit einem hiefigen Freunde zum St. Gott*
hard gereift; da er nicht lange von Frankfurt fein kann,
wollte er den doch fehen. ^^ Er hat uns viele Manu*
fkripte gelefen, welche alle würdige Brüder des Götz von
Berlichingen find.
I
58 Überlieferung der Familie Paffavant. [103
[103.] Juni 22. Überlieferung der Familie Paffavant.
Wenn man Goethes Darftellung Glauben fchenkt, fo
wollte Paffavant ihn beftimmen, vom Gotthard aus mit
ihm nach Mailand zu wandern, indem er darauf hinwies,
daß dort bei mehr als einem, von den Meffen her be^*
kannten Handelsfreunde Kredit fich finden werde. Paffa^;
vant hätte gehofft, mit liebevoller Arglifi ihn an Ort und
Stelle zu überrafchen, nachdem er fich eine Reife nach
Italien Ichon früher ausgedacht. Diefer Darftellung tritt
nun aber die Familienüberlieferung entfchieden entgegen,
nach welcher vielmehr Goethe den jüngeren Freund zu
einer Wanderung nach Mailand und zur Erhebung einer
Summe bei Meßfreunden habe beftimmen wollen, wäh::
rend diefer in gewohnter Gewiffenhaftigkeit den Plan be^s
kämpft habe. Goethe hat in der Tat hier den wahren
Sachverhalt unrichtig wiedergegeben, vermutlich aus einer
Art Neckerei gegen den nachmaligen Pfarrer, dem er hier
die eigene, etwas leichtfertige Gefinnung unterfchob.
[104.] Ende Juni. J. J. Bodmer.
Goethe hat mich nach feiner Wiederkunft vom Gott*
hardberge wieder befucht. '^ Er ift aber ganz zurück?
haltend. Er fpricht kein Wort von feinen Schriften; auch
nichts von Wieland. Von Klopstock mit FJochachtung,
auch von FJomer und der Natürlichkeit feiner Perfonen.
Von FJerder nichts.
[105.] Juni 30. Grf F. L. z. Stolberg an die Schwefter Henriette.
Da ich Goethe fagte, daß ich an Dich fchreiben
wolle, trug er mir auf. Dich zu grüßen. Es wäre mir
unmöglich, einen Freund zu haben, ohne mit ihm von Dir
zu fprechen. Er kennt Dich gewiß beffer als viele, die
Dich oft fehen. Übermorgen reift er nach Frankfurt.
[106.] Juni. K. F. v. Beyme an K. A. Varnhagen v. Enfe.
Eine Anekdote, die ich dem Minifier Grafen Haug^
witz verdanke, daß Goethe vor etwa 50 Jahren, als er
in des erftern und der beiden Stolberge Gefellfchaft La?
vatern den Befuch in Zürich machte, zu einer Predigt, wo?
von der letztere nur den erften Teil konzipiert hatte, die
beiden fehlenden Teile in deffen Abwefenheit zugefchrie?
ben hat, welche Lavater tags darauf ohne die mindefte
Abänderung von der Kanzel gehalten.
109] Zürich. 1775. 59
[107.] Lavater an Wieland.
Wer ]<:ann verfchiedener denken, als Goethe und ich;
und dennoch heben wir uns fehr. ^ Goethe war voll Bon?
homie zu Ihnen zu kommen. Das weiß ich. Sie werden
über den Mann erftaunen, der mit dem Grimm des TU
gers die Gutherzigkeit eines Lämmleins verbindet. Ich
habe noch keinen feftern und keinen leitfamern Men?
fchen gefehen. Prometheus? Eh' ich wußte, daß Wag:^
ner Verfaffer war, fagt' ich, fagt's ihm felbft — Goethes
unwürdig. — Liebfter Wieland, Sie irren fich gewiß, wenn
Sie Goethe für den Verfaffer des Prometheus halten. Das
ift fo, fo wenig Sie die Menfchen, Thiere und Goethe, die
man hier Ihnen zufchreiben wollte, gemacht haben. Beides
beftreit ich mit gleicher Zuverficht. Das erfte ift Goethen,
das andere Ihnen — unmöglich. — Goethe ift der liebens:^
würdigfte, zutraulichfte, herzigfte Menfch. Bei Menfchen
ohne Prätenfion der zermalmendfte Herkules aller Präten?
fion. Nehmen Sie zum Pfand feines edlen Herzens feine
brüderliche Liebe zu mir taufendmal Schwächern. Der
Wurm darf dem Adler um den Schnabel kriechen. Seine
Größe ift wirklich übern Neid erhaben, und der Wurm
darf ihm dennoch ins lächelnde Herz flüftern: Deiner
Flügel Schlag, und ihren Todeston — laß ruhn! Billiger
ift kein Menfch in mündlicher Beurteilung anderer. —
Toleranter niemand, als Er. Ich hab' Ihn neben Bafedow
und Hafenkamp — bei Herrenhutern und Myftikern, bei
Weibchens und Männinnen, bei Kleinjoggen und Boß==
hard (zwei unendlich verfchiedene Himmelsprodukte unferes
Landes) allenthalben denselben edeln, alles durchfchauen?
den duldenden Mann gefehen. Aber ja! — wehe dem,
der Prätenfionen gegen ihn macht — und — der , feine kano?
nifchen Bücher' angreift. —
[108.] JuH Anfang. J. J. Bodmer.
Jemand, der Goethen nach feiner Abreife in Baden
gefehen hat, erzählt, daß er mit mir überaus wohl, und
mit keinem Zürcher beffer zufrieden fei.
[109.] JuH (16). J. M. Miller an J. H. Voß.
Klinger läßt Dich herzlich grüßen. Nach feiner Ver:s
ficherung muß ich nun gewiß glauben, daß Wagner ohne
Goethens Vorwiffen den Prometheus gemacht hat. Goethe
I
60 J. M. Miller. [HO
ift noch in der Schweiz. Er foll auf Claudius fehr übel
zu fprechen fein, ich hab' aber fchon vieles ins Reine ge?
bracht und Klinger denkt fchon billiger von ihm. Goethe
fchreibt ein Schaufpiel für Liebende, das herrlich fein foll.
[110.] Juh 21./28. Herder an J. G. Hamann.
Goethe, der uns zugut aus Straßburg von feiner
Schweizerreife heraufeilte und von Darmstadt nach Franko
fürt begleitete, ift weidlich voll von Friedrich Nicolai und
wird, glaub' ich, nächftens reiben. Sie ehrt er fehr. Da
ich ihm im Spaß Kanters Märchen fagte, freute er fich
darüber recht im Ernfte. Sie glauben nicht, wie er alles
aufhafcht, was Sie betrifft und ift überhaupt mit feinen
Schriften nur Komödiant, in feinem Leben wilder Menfch
und Zeichner und guter Junge.
[111.] September 2./3. J. G. Sulzer.
Ich hatte doch in Frankfurt das Vergnügen, des be=:
reits in jungen Jahren durch verfchiedene Schriften in
Deutfchland berühmt gewordenen D. Goethens Befuch
zu genießen. Diefer junge Gelehrte ift ein wahres Ori^
ginalgenie von ungebundener Freiheit im Denken^ Jjawohl
über politi{che_iIsIi;geldlilC'^^ Er befitzt
bel~wifklich fcharfer Beurteilungskraft eine fehr feurige
Einbildungskraft und fehr lebhafte Empfindfamkeit. Aber
feine Urteile über Menfchen, Sitten, Politik und Gefchmack
find noch nicht durch hinlängliche Erfahrung unterftützt.
Im Umgang fand ich ihn angenehm und liebenswürdig.
[112.] September 2./3. J. G. Sulzer.
Goethe ift in Frankfurt drei Stunden lang bei mir
gewefen und würde allem Anfchein nach noch länger mit
mir geplaudert haben, wenn ihn nicht die Nacht wegge^
rufen hätte. Die Seite, von der er mir fich zeigte (jeder?:
mann fagt mir, er habe zwei ganz verfchiedene) hatte
nichts, das mir nicht gefiel. Ich irre mich fehr, wenn
diefer junge Mann bei reifren Jahren nicht ein rechtfchaff^:
ner Mann fein wird. Jetzt hat er den Menfchen und das
menfchliche Leben noch nicht von vielen Seiten betrachtet.
Aber fein Blick ift fcharf.
[113.] September. J. G. v. Zimmermann.
Von diefer Cenci hat man ein Bild von Guido Reni
in Rom. f^ Von diefem Bilde hat ein junger deutfcher
117] Frankfurt. 1775. 61
Maler namens Naumann, ein Schüler und Vertrauter von
Mengs, vier Kopien gemacht. Eine befaß der Baron von
Haugwitz und fchenkte fie an Goethe, bei dem ich fie
gefehen habe, f^ Goethe fagte mir: diefes Geficht der
Cenci enthalte mehr, als alle Menfchengefichter, die er je
gefehen habe. Er glaubte, daß es die höchfte Zierde für
Lavaters Phyfiognomik fein würde und war der Meinung,
daß mit diefem Stücke Lavaters Werk gefchloffen werden
muffe. Nur fchmeichelte er fich damals nicht, daß es mög^
lieh fein werde, in Deutfchland einen Zeichner zu finden,
der würdig wäre, diefes Gemälde abzuzeichnen, noch einen
Kupferftecher, dasfelbe zu ftechen.
[114.] September. Nach J. G. v. Zimmermann.
Faust avait ete annonce de bonne heure, et Ton saU
tendait alors ä le voir paraitre prochainement. Zimmern
mann ^^ demanda ä son ami des nouvelles de cette com^
Position. Goethe apporta un sac, rempli de petits chif^
fons de papier. II le vida sur la table et dit: Voilä
mon Faust!
[115.] September. J. G. v. Zimmermann.
Goethe habe ich zweimal gefehen und das zweite
Mal bei ihm logiert, deffen ich mich mein Lebtag freue.
f^ In Frankfurt fah ich mit eignen Augen, daß der Her;=
zog ganz in Goethe verliebt war, und er hat recht.
[116.] September. J. G. v. Zimmermann an Lavater.
Ich habe es an Goethe in Frankfurt gefagt, und er
war meiner Meinung, daß Du aber auch wirklich ein
wenig Tracaffier bift, Trakafferien liebfi:, id est, denfelben
Gehör gibft.
[117.] Herbft. J. H. Merck an F. Nicolai.
Mir tut's leid, daß Sie von einem meiner Freunde
gekränkt werden und daß dies durch die niederträchtigen
Hände von Zuträgern und Anekdotenfammlern gefchieht.
Haben Sie denn nicht fchon längftens den Menfchen ver^:
achtet, der fo etwas fähig ift? Entweder ifi: es Schaden^:
freude, oder Willen, Goethen zu fchaden. — Freundfchaft
kann's nicht fein, die Märchen und Tifchreden zuträgt.
Was wird von derjj fonderbaren Menfchen nicht alles er^
zählt! War' Er Ich, fo hätt' ich ihm längft die Imputa^^
I
62 J. H. Merck. [US
tion gemacht, fo aber kann ich von ihm auch gegen mich
nichts anderes fagen als: dies tut wohl, und jenes weh.
Er folgt ganz seiner Laune, unbekümmert über die Folge
ihrer Moralität, allein was er auch über Sie gefprochen
und gefchrieben haben mag, fo ifi's nichts als faunifcher
Mutwillen. — Zu rachfüchtigen Abfichten, deren Ausgang
Pasquillen und Trätfchereien wären, dazu hat er erftlich
nicht die Seele, und zweitens nicht die Zeit; weil fein Kopf
voll immer neuer Träumereien fchwirbelt. f^ Das muß
ich Ihnen doch aufrichtig verfichern, daß er mit Wieland
nicht fpielt, daß er vielen Mutwillens, aber keiner Dupli^;
zität fähig ift, und daß, wenn Sie mit ihm auf einige
Abende nur fo nahe wie Wieland zufammengefperrt wür^
den, fie einander ^ lieb gewinnen würden. ^ Wenn Sie
wüßten, wie ich oft mit ihm über Rationem artis difpu^
tiere, und Sie fähen den Burfchen im Schlafrock und
Nachtwams der Bonhomie, er würde Ihnen gefallen.
Sein Fauft ift aber ein Werk, daß mit der größten Treue
der Natur abgefiohlen ift, und die Stella, wie Clavigo find
aufrichtig nichts weiter als Nebenftunden. Ich ftaune, fo
oft ich ein neu Stück von Fauft zu fehen bekomme, wie
der Kerl zufehends wächft, und Dinge macht, die ohne
den großen Glauben an fich selbft und den damit ver?
bundenen Mutwillen unmöglich wären.
[118.] Henriette v. Beaulieu.
Die vortreffliche Frau v. Türckheim geftand mir mit
rührender Offenheit, fie habe erfahren, in welcher engen
Verbindung ich mit Weimar ftünde und bloß deshalb
meine Bekanntfchaft gewünfcht, um etwas Näheres von
Goethes Leben und Schickfalen zu vernehmen, den fie
den Schöpfer ihrer moralifchen Exiftenz nannte. Die
Innigkeit, ja ich darf fagen, die Begeifterung, womit fie
von ihm fprach, rührten mich unausfprechlich. <^ Im Laufe
unfrer traulichen Unterhaltungen erzählte fie mir die Ge^:
fchichte ihres Herzens, woraus ich deutlich erfah, daß fie,
wenn auch nicht vollkommen glücklich, doch mit ihrem
Schickfal zufrieden war, weil Goethe es ihr vorgezeichnet
hatte. Mit feltner Aufrichtigkeit geftand mir Frau v.
Türckheim, ihre Leidenfchaft für denfelben fei mächtiger
als Pflicht und Tugendgefühl in ihr gewefen, und wenn
feine Großmut die Opfer, welche fie ihm bringen wollte,
nicht ftandhaft zurückgewiefen hätte, fo würde fie fpäter=:
120] Frankfurt. 1775. 63
hin ihrer Selbftachtung und der bürgerUchen Ehre beraubt
auf die Vergangenheit zurückgefchaut haben, welche ihr
im Gegenteil jetzt nur befeligende Erinnerungen darböte.
Seinem Edelfinne verdanke fie einzig und allein ihre geiftige
Ausbildung an der Seite eines würdigen Gatten und den
Kreis hoffnungsvoller Kinder, in welchen fie Erfatz für
alle Leiden fände, die der Himmel ihr auferlegt. Sie
muffe fich daher als fein Gefchöpf betrachten und bis zum
letzten Hauch ihres Lebens mit religiöfer Verehrung an
feinem Bilde hangen. Da ihr aller Wahrfcheinhchkeit
nach nicht vergönnt fein würde, Goethen wiederzusehen,
fo bäte fie mich, dem unvergeßlichen Freunde dasjenige
mitzuteilen, was fie mir in diefer Abficht vertraut habe.
[119.] (Herbft.) H. G. v. Bretfchneider.
Ein Umftand, den ich noch nicht gewußt habe und
der ihn bewogen haben foll, eine Zeitlang fich zu ent^
fernen, ift diefer: Es ift in Frankfurt eine reiche Bankiers:^
witwe Schönemann, reformierter Religion, die eine artige
Tochter hat, mit welcher fich Goethe fchon lange führt.
Er hielt endlich förmlich um fie an, die Mutter bat fich
Bedenkzeit aus, ließ nach einigen Wochen Goethen zum
Effen bitten und deklarierte in einer großen Gefellfchaft
Goethes Anfuchen mit der Antwort, daß fich die Heirat
wegen der Verfchiedenheit der Religion nicht wohl fchicke.
Eine Grobheit, die Goethe freilich fehr übel nehmen
mußte, weil fie ihm diefelbe ebenfowohl hätte allein fagen
können, die Frau fagt aber, fie hätte der Sache auf ein^
mal ein Ende zu machen kein befferes Mittel gewußt und
fich bei einer Zufammenkunft tete a tete für feinem Diss^
putieren gefürchtet.
[120.] Oktober 29. Überlieferung der Familie Paffavant.
In Frankfurt bereitete Goethe Paffavant nach feiner
Rückkehr aus Zürich eine feltfame Überrafchung, indem
er ihn am 29. Oktober abends geheimnisvoll zu einem
Stelldichein beftimmte, wobei er ihm mitteilte, daß er im
Begriff ftehe, plötzlich nach Italien zu reifen ^^ Goethe
foll bei diefer Gelegenheit den jungen Kandidaten fehr
geneckt haben über das Eintreffen beim Rendezvous, fo
daß das freundfchaftliche Verhältnis faft einen Stoß er^:
halten hätte; doch hat der treue Paffavant den Scherz
jedenfalls vergeben, da Goethe am 21. Dezember von
ihm liebe Briefe erhalten hat.
I
64 Elifabeth Goethe. [121
Nachlese zum erften Abfchnitt
Zeitlich nicht näher beftimmbar.
[121.] Elifabeth Goethe.
Die Sehnfucht, Rom zu fehen ^^ war von Jugend
auf fein Tagesgedanke, nachts fein Traum.
[122.] Überlieferung.
In feiner Jugend und Genieperiode war er als einer
der fchönften Männer von Mädchen und Frauen ange^^
betet. Oft ging er, als er noch in Franlcfurt war, zu Fuß
nach Darmftadt. Da gaben ihm die artigften Frauen das
Geleite bis zur Stadt hinaus, und in Darmftadt fetzte er
fich vor Mercks Haus, wo auf einer fteinernen Treppe
einige Bänke vor der Haustür ftanden, um den, um ihn
verfammelten Mädchen Genieaudienz zu geben, die oft
länger als eine Stunde dauerte.
[123.] Elifabeth Goethe.
Mein Sohn hat gefagt: was einen drückt, das muß
man verarbeiten, und wenn er ein Leid gehabt hat, da
hat er ein Gedicht daraus gemacht.
[124.] Elifabeth Goethe an den Sohn.
Wie Du mir befonders beim Doktor Jung feiner
Hirtenfchleuder fchuld gabft — ich erfparte den Leuten
eine Ohrfeige — damit fie ein Loch in Kopf bekämen.
[125.] C. G. Küttner an F. J. J. Bertuch.
Empfehlen Sie mich Goethen, wenn ich bitten darf,
herzlich, wenn er fich meiner noch erinnert und den guten
Jungen, wie er mich einft nannte, nicht verkennt.
[126.] H. G. V. Bretfchneider an F. Nicolai.
Goethe kam als junger Menfch nach Leipzig, um da
zu ftudieren, und weil er Geld hatte, fo wurde er in
vielen Gefellfchaften zugelaffen und fand, daß es eine
fchöne Sache um einen fchönen Geift fei. Er nahm fich
alfo vor coute qui coute einer zu werden. In diefer Ver^
faffung habe ich ihn in Leipzig kennen lernen und ihm
dermalen nichts weniger zugetraut, als daß er einmalen
das geringfte Auffehen bei der Literatur machen würde.
Und noch itzo, kann ich Ihnen auf meine Ehre ver?
fiebern, können Sie nicht die geringfte Spur in diefes
Menfchen Umgang finden, daß er der Verfaffer der Lei;:
126J Frankfurt. 1775. 65
den Werthers ift. Er urteilt fchief, und es fcheint faft,
daß er es weiß, daß fein Verftand ohne langes Nachts
denken nicht zuverläffig ift, denn er gibt Leuten, von
denen er mutmaßt, daß (ich ihre Einfichten über die ge^
meinen erheben, lieber recht, als daß er fich die Ver::
legenheit über den Hals zöge, eine Materie mit ihnen
durchzufprechen, wobei er feine Schwäche fehen ließe.
Mit einem Worte, er ift ein fchlechter Philofoph und ein
Menfch mit einem unbeftändigen Gemüte, der bei keinem
Syftem ftehen bleibt, fondern der von dem einen gar leicht
zu dem anderen Extremo überfpringt und der eben fo
leicht zum Herrnhuter als zum Freigeift zu bereden wäre,
wenn er nicht, zum Glück für ihn, fo eine ftarke Dofis
Stolz befäße, daß er faft alle Menfchen außer ihm für
fchwache Kreaturen hält; weil es aber doch noch Leute
geben kann, die wenigftens fo gefcheit find, als er, fo
kann es fein, daß er ihre Exiftenz glaubt. Er felbft aber
ift nicht imftande, zu prüfen, fondern richtet fich in dem
Falle nach dem allgemeinen Urteile der Welt. Daher
muß es Ihnen nicht wundern, daß er ein Freund Lavaters
und des Augendoktors Jung ift, der Lavatern anhängt.
Diefen zwei Leuten redet Goethe nach dem Munde und
flattiert fie, teils weil Üq ihn bewundern, teils weil fie
in hiefiger Gegend in den Befitz eines entfchiedenen
Ruhmes fitzen. Ich glaube, daß Goethe den Jung zur
Verfertigung der Piece, der Schleuder eines Hirtenknaben,
perfuadiert hat. Sie können nicht glauben, was bei der
ordinären Sorte Menfchen in hiefiger Gegend ein folches
Buch ausrichtet. Er wollte vielleicht Leute haben, die
Ihre Feinde werden follten, da er es durch feine flüchtigen
Blätter nicht ausrichten konnte; doch das kann Mißtrauen
von mir fein ^^ Es liegt in Goethe ein gewiffer Same
von Fähigkeit, oder vielmehr er hat ein poetifches Genie,
das alsdann wirkt, wenn er, nachdem er lange Zeit einen
Stoff herumgetragen und in fich bearbeitet und alles ge*
fammelt hat, was zu feiner Sache dienen kann, fich an
feinen Schreibtifch fetzt. Zum Gelegenheitsdichter hätte
er fich nicht gefchickt, denn er kann außer feiner Ord^
nung nichts machen. Wenn ihm etwas auffällt, fo bleibt
es in feinem Gemüte oder Kopfe hangen; alles was ihm
nur aufftößt, fucht er mit dem Klumpen Ton zu ver^
kneten, den er in der Arbeit hat, und denkt und finnt
auf nichts anderes als dies Objekt. Der Umgang mit
I 5
66 H. G. V. Bretfchneider. [126
witzigen Köpfen in Leipzig und die Kenntnis, die er da^
durch mit guten Büchern erlangt hat, war Urfache, daß
er was gelefen hat, und daß fein Genie fubfidia zu wählen
weiß. Es ift aber in feiner Seele keine männliche fefte
Unterfcheidungskraft, keine durchdringende Einficht und
Gabe, die Sachen in ihrem wahren Lichte zu befehen.
Bloß fein Stolz und die daraus entfpringende Begierde
oder auch eine Überzeugung oder Täufchung ein genie
superieur zu fein, macht, daß er nicht dem gemeinen
Haufen nachläuft. Goethe ift nichts, als ein Dichter von
Natur, fo wie M. Hoppe [?] auch war, nur daß der letzte
arme Teufel nicht Gelegenheit hatte, fo viel zu fehen,
zu lefen und zu hören als Goethe, im übrigen aber ein
ftolzer Menfch, der nichts vertragen kann und den zum
Glück für ihn zur Zeit die gewöhnlichen Anliegen diefes
Erdbodens noch nicht gedemütigt oder aus der Welt ge;^
fchafft haben.
Zweites Buch
Vom Eintritt in Weimar
bis zur Abreise nach Italien
1775 November bis Juli 1786
1775.
[127.] November 7/13. Wieland an Lavater.
Ich muß Ihnen fagen, daß feit letztem Dienstag
Goethe bei uns ift, und daß ich den herrlichen Menfchen
binnen drei Tagen so herzHch liebgewonnen habe, fo ganz
durchfchaue, fühle und begreife, fo ganz voll von ihm
bin — wie Sie beffer fleh felbft vorftellen, als ich Ihnen
befchreiben könnte. Er hat eine fehr glücklich geratene
Silhouette von mir gemacht, wovon Sie ein Exemplar be^s
kommen follen. Inzwifchen laben wir uns an den Kupfern
zum zweiten Teil der Phyfiognomifchen Fragmente, die
er bei fich hat. ^^ Ich fehe wohl, man muß einander von
Angefleht zu Angefleht fehen, um einander recht kennen
zu lernen. BeiMenfchen von Goethens Klaffe ift's wenigftens
fchlechterdings nötig. ^ Ich habe Goethen noch wenig
allein haben können. Ich muß ihn mit fo vielen teilen!
Aber es wird noch beffer werden, und er foll mir noch
recht viel von unferm Lavater erzählen. ^^ Goethe bittet
Sie, ihm alles, was Sie ihm von den Phyflognomifchen
Fragmenten zu fchicken hätten, nach Frankfurt zu fchicken.
-^ Wir haben das Briefchen einen Pofttag liegen laffen,
um Ihnen meine, meines Weibes und meines älteften
Mädchens (eines Kindes von 7 Jahren) Silhouetten zu::
gleich fchicken zu können. Goethe hat fle felbft gemacht,
und flnd ganz herrlich geglückt — wie alle Welt fagt.
[128.] November 7/10. Wieland an F. H. Jacobi
Wenn Sie Allwill's Papiere in einem Feuer fortfchreiben
könnten, fagt Goethe und Wieland mit ihm, so würde
es ein gar herrliches Werk werden.
[129.] November 18. Ph. Seidel.
Am Freitag den 17. huj. waren wir auf der Redoute ^
Die Nacht fchliefen wir alfo nicht. Die folgende, als
I
70 Ph. Seidel. [150
Samstags, den 18. Nov. um 12^/^ Uhr legten wir uns.
Wir fchliefen nun zu Dreien in einer Kammer. Da kamen
wir ins Gefpräch aus einem ins andere bis zu allen Teufeln.
^ Von Liebesgefchichten auf die Infel Corfica, und auf
ihr blieben wir in dem größten und hitzigften Hand;:
gemenge bis morgens gegen viere. Die Frage, über die
mit fo viel Heftigkeit als Gelehrfamkeit geftritten wurde,
war diefe: Ob ein Volk nicht glücklicher fei, wenn's frei
ift, als wenn's unter dem Befehl eines fouveränen Herrn
fteht. Denn ich fagte: die Corfen find wirklich Unglück?
lieh. Goef/ie fagte: nein es ift ein Glück für fie und ihre
Nachkommen ; fie werden nur verfeinert, entwildert, lernen
Künfte und Wiffenfchaften, fiatt Üq zuvor roh und wild
waren. Herr! — fagte ich — ich hätt' den Teufel von
feinen Verfeinerungen und Veredelungen auf Koften meiner
Freiheit, die eigentlich unfer Glück macht.
[130.] November Ende. Wieland an Lavater.
In der Not nimmt man zu den heften Menfchen Zu?
flucht. Goethe fagt mir, Sie könnten und würden mir
helfen; und mein Herz fagt mir, Sie werden's tun, wenn
Sie können.
Die ganze Sache ift diefe.
Aus beiliegender Note werden Sie fehen, wozu ich
mich gegen das Publikum anheifchig gemacht habe. Kraus
(der die beigehende Zeichnung des herrlichen Kopfs von
Sebaftian Brant gemacht hat) gab mir große Hoffnung,
einer von feinen Freunden, der ein guter Kupferftecher
ift, würde den Auftrag, diefen Kopf und alle folgende,
die künftig von Monat zu Monat im Merkur erfcheinen
follen, zu ftechen willig annehmen. Allein heute erhalten
wir eine abfchlägige Antwort unter dem Vorwand, er
könne nicht. ^
Goethe verfichert mich, Ihr Lips wäre der Mann,
durch den Sie mir helfen könnten, und er glaubt, die
Sache ließe fich tun, wiewohl Herr Lips viel für die
Phyfiognomifchen Fragmente zu arbeiten habe. Ich bitte
Sie alfo, Teuerfter, bewegen Sie diefen Künftler dazu, daß
er den beigehenden Kopf baldmöglichft in Arbeit nehme.
Die Proben von feinem Talent, die mir Goethe gezeigt
hat, geben eine gute Hoffnung, daß er auch dem feinen
Lucianifchen Geift, der in diefem Kopfe webt, feine Ge?
bühr antun werde. <^
134] Weimar. 1775. 71
Wenn ich Ihnen wieder fchreibe und mehr Muße
habe als itzt, will ich Ihnen melden, wie mir's mit dem;;
jungen Prof. Meifter gegangen ift. Er hat einen freundes
fchaftlichen Brief von mir erfchlichen. Es wird ihm aber
nicht wohl bekommen. Ich habe etliche, noch ziemlich
unfchuldige Auszüge aus feinem Gefchwätz über die
Schwärmerei in den November des Merkur gefetzt mit
einer Zugabe, worin Gegengift für fein Gift ift. Ich merkte
zwar fchon etwas beim Durchlefen der drei erften Bogen,
'^ aber Goethe gab mir erft hinterdrein den rechten Auf;?
fchluß. -
Nach allem, was mir Goethe und die Stolberge von
Ihnen gefagt haben, wag' ich's kaum zu wünfchen, daß
ich etliche Tage mit Ihnen leben möchte. Denn ich fühl
es im Grunde meiner Seele, mein Herz würde zerreißen,
wenn ich wieder von Ihnen fcheiden müßte.
[131.] Dezember Anfang. F. L. Graf zu Stolberg.
Einen Nachmittag las Goethe feinen halbfertigen Fauft
vor. Es ift ein herrliches Stück, die Herzoginnen waren
gewaltig gerührt bei einigen Szenen.
[132.] Dezember. F. L. Graf zu Stolberg.
Goethe ift nicht bloß ein Genie, fondern er hat auch
ein wahrhaft gutes Herz, aber es ergriff mich ein Graufen,
als er mir an einem der letzten Tage meiner Anwefenheit
in Weimar von Riefengeiftern fprach, die fich auch den
ewigen geoffenbarten Wahrheiten nicht beugen. Diefer
unbeugfame Trotz wird, wenn er in ihm weiter wuchert,
auch fein Herz kalt machen. Armer Erdenwurm 1 Sich
den ewigen geoffenbarten Wahrheiten nicht beugen, gleich:^
fam rechten wollen mit Gottl
[133.] Dezember, F. L. Graf zu Stolberg.
Shakefpeare gehört zu den Dingen, von denen Goethe
fagt, daß man nicht von ihnen reden kann, zum wenigften
nicht über fie disputieren.
[134.] Dezember. F. L. Graf zu Stolberg an Klopftock.
Ich kenne zwar ganz Goethens unbeugfames Wefen,
aber daß er einen folchen Brief von Ihnen fo beantworten
könnte, davon hatt' ich keine Idee. Es tut mir in der
I
72 F. L. Graf zu Stolberg. [135
Seele weh für ihn, er verdient's, Ihre Freundfchaft zu ver^
lieren, und doch weiß ich, wie er im Herzen Sie ehrt und
liebt; das fag ich nicht, ihn zu entfchuldigen, ich kann
und mag hierin ihn nicht entfchuldigen und bin indigniert
über feinen Brief. Starrkopf ift er im allerhöchften Grade,
und feine Unbiegfamkeit, welche er, wenn es möglich wäre,
gern gegen Gott behauptete, machte mich fchon oft für
ihn zittern. Gott welch ein Gemifch, ein Titanenkopf
gegen feinen Gott, und nun fchwindelnd von der Gunft
eines Herzogs. ^ Und doch kann er fo weich fein, ift
fo liebend, läßt fich in guten Stunden leiten am feidnen
Faden, ift feinen Freunden fo herzlich zugetan, — Gott
erbarme fich über ihn und mach ihn gut, damit er trefflich
werde, aber wenn Gott nicht Wunder an ihm tut, fo wird
er der Unfeligften einer. Wie oft fah ich ihn fchmelzend
und wütend in einer Viertelftunde.
[135.] Dezember 28. F. W. Gotter.
Goethe war vorige Woche hier in Gotha, aber wie
kurz! Er kam nach Mitternacht auf der Redoute an, brachte
den folgenden Tag bei Hofe zu und reifte fodann mit
der Weimarifchen Herrfchaft wieder zurück. Ich hab' ihn
in allem kaum eine Viertelftunde gefprochen. Er weiß
noch nicht, wie lang' er in Weimar bleiben wird, wo er
den Günftling in befter Form und Ordnung fpielt und
den ihm eigenen vertraulichen, nachläffigen, hingeworfenen
Ton überall eingeführt hat.
[136.] Überlieferung.
Damals war dasWort , unendlich* überall wiederkehren::
des Stichwort. Wenn Goethe abends bei Wieland effen
wollte, fo fchickte er feinen Bedienten ^ vorher ins Haus
und ließ fich eine unendliche Schüffei unendlicher Bors?
dorfer Äpfel (gedämpft) ausbitten.
[137,] J. G. V. Zimmermann an Charlotte v. Stein.
Mr. Goethe fait trop d'honneur ä ma fille, qui n'est
point developee encore, qui a ete timide et craintive dans
sa maison ou on nous a fait une reception infiniment
charmante, et ou j'ay passe d'aussi heureux jours que j'ay
Jamals passe en ma vie. «^ Si Mr. Goethe a trouve que
votre Silhouette n'a pas marque les traits les plus sail?
lants de votre caractere (qu'apresent il a le bonheur de
140] Weimar. 1776. 73
connaitre et d'etudier de pres) il a sürement trouve en
vous de nouvelles vertus et de nouvelles beautes, qu'une
ombre ne peut pas rendre.
Je ne suis du tout point surpris que Mr. Goethe ait
plü generalement ä Weimar. Precede par une reputation
aussi brillante et aussi generalement reconnue que la sienne,
portant d'ailleurs ä la premiere vue la foudre dans ses
yeux, il a du toucher tous les coeurs par sa bonhomie
infiniment aimable, et par l'honnetete qui va de pair avec
son genie sublime et transscendant. Ah si vous l'avies vu
que ce grandhomme est vis a vis de son pere et de sa
mere le plus honnete et le plus aimable de fils, vous
auries eu, ah vous auries eu bien de la peine um ihn nicht
durchs Medium der Liebe zu fehenl
f^ Insgemein hat man nur eine Seele, dit Lavater,
aber Goethe hat hundert.
1776.
[138.] Januar Anfang. Wieland.
Ich lebe nun neun Wochen mit Goethen, und lebe
feit unferer Seelenvereinigung, die unvermerkt und ohne
allen effort nach und nach zuftande gekommen, ganz in
ihm. Er ift in allen Betrachtungen und von allen Seiten
das größte, befie, herrlichfte menfchliche Wefen, das Gott
erfchaffen hat. ^ Heute war eine Stunde, wo ich ihn erft
in feiner ganzen Herrlichkeit — der ganzen fchönen ge^
fühlvollen reinen Menfchheit fah. Außer mir, kniet' ich
neben ihn, drückte meine Seele an feine Bruft, und betete
Gott an.
[139.] Januar Anfang. Wieland an Luife Karfch.
Goethe, der König der Geifier, der liebenswürdigfte,
größte und befte Menfchenfohn, den ich jemals gefehen
habe, ift feit zehn Wochen bei uns und wird noch viel?
leicht lange bei uns bleiben. Er grüßt Sie, liebe Sappho.
[140.] Februar Anfang. Wieland.
Hans Sachs kann erft im März kommen, weil Goethe
noch etwas über ihn in hansfachfifcher Reimweise dichten
will. Goethe bleibt vermutlich vielleicht noch lange hier
— er ift mächtig umfponnen, und verfucht nun das Abens=
I
74 Wieland. [141
teuer, von welchem ich abgeftanden bin, fo wie ich fah,
daß es für einen andern aufgehoben fei. ^ Goethe ift feit
Sonnabend früh mit dem Herzog in Erfurt und kommt
erfi morgen wieder. Er tut das Mögliche und was Hun^
dert andern unmöglich wäre noch dazu, um feinen La^
vater nicht im Stich zu laffen. Aber ol wieviel mehr
könnte, würde der herrliche Geift tun, wenn er nicht in
dies unfer Chaos gefunken wäre, aus welchem er doch —
mit allem feinen Willen, aller Kraft — doch keine leid?
liehe Welt fchaffen wird. Aber — war ich nicht fchon
38 Jahr alt, da ich mich noch durch eine magifche Einj:
bildung und die noch fiärkere Magie des verführerifchen
Gedankens viel Gutes, im großen, auf Jahrhunderte zu
tun, an diefen Hof ziehen, in diefes gefahrvolle mit Pre?
cipicen umgebene — und beim Tageslicht befehen, doch
immer unmögliche Abenteuer verwickeln ließ? Goethe
ift erft 26 Jahr alt. Wie follt' er, mit dem Gefühl fob
eher Kräfte, einer noch größern Reizung widerstehen
können? Denn fein afcendant über unfre Fürstenkinder,
alt und jung, ift unglaublich. Und doch — doch, doch,
wollen wir fehenl Wenn'sauch nur nicht ganz fo fchlimm
wird, als es fonft geworden wäre, wenn auch nur etwas
Gutes gefchieht, das fönst nicht gefchehen wäre, — fo
war's ja der Mühe werti
f^ In meinen Haufe ist er wie einer, der zu uns ge?
hört. Er atmet wieder Ruhe und Liebe bei uns, und das
hilft dann dazu, daß er das Herumtreiben in dem großen
Rade wieder defto beffer aushalten kann. ^
[141.] Januar/Februar. Wieland an Lavater.
Unfer Goethe ift '^ auch ein Müdling, nur auf eine
andre Art: denn ach! lieber Lavater denken Sie fich ein?
mal Favorit und fac totum und Goethe zufammenl Und
fac totum, das am Ende doch — nicht den hundertften
Teil von dem tun kann, was er gern täte. Und gleich?
wohl fehen Sie aus Herders Berufung zum Generalfuper?
intendenten und Oberhofprediger, daß Goethe etwas tut.
Ich fielle mir feine hiefige Exiftenz als ein Pharofpiel
vor; der Herzog hält die Bank, Goethe pointiert wider
ihn. Goethe fetzt ein, zwei, drei, vier oft acht und mehr
Tage auf eine Karte ; verliert manchmal ; aber weil er fein
Spiel pouffiert, fo braucht er auch nur wieder ein einziges
trente?leva oder soixante?leva zu gewinnen, fo ift alles
145] Weimar. 1776. 75
wieder erfetzt. — So ein trente4eva gewann er mit Hers:
dern. ^^ Verlaffen Sie fich inzwifchen darauf, daß Goethe,
in allem den Wirbel, worin er fich dreht, Sie und die
Phyfiognomik nicht vergißt, und daß er alles in Gang erhält.
[142.] März Anfang. Charlotte v. Stein an J. G. v. Zimmermann.
GcEthe est ici un objet aime, et hais, vous sentirez
qu'il y a bien de grosses tetes qu'ils ne le comprennent
pas. Louise augmente pour moi de jour en amitie, mais
beaucoup de froideur entre les Epoux pourtant je ne
desespere pas, deux etres si raisonnables, si bons, doivent
enfin s'accorder.
Au moment Goethe m'envoit votre billet je vous ai
deja confesse mes peches. Adieu, avant le depart de la poste
je vous dirai eher ami encore une fois bon soir et bonjour.
Ich komme jetzt, Ihnen eine gute Nacht zu fagen. Ich
war den Abend im Konzert. Goethe nicht; vor einigen
Stunden war er bei mir, für Sie das beigefchloffene Billet
und war toll über Ihren Brief, den er mir auch vorlas;
ich verteidigte Sie, geftund ihm, ich wünfchte felbft, er
möchte etwas von feinem wilden Wefen, darum ihn die
Leute hier fo fchief beurteilen, ablegen, das im Grunde
zwar nichts ift, als daß erjagt, fcharf reitet, mit der großen
Peitfche klatfcht, alles in Gefellfchaft des Herzogs. Ge?
wiß find dies feine Neigungen nicht, aber eine Weile muß
er's fo treiben, um den Herzog zu gewinnen und dann
Gutes zu ftiften, fo denk' ich davon. Er gab mir den
Grund nicht an, verteidigte fich mit wunderbaren Grün:;
den, mir blieb's als hätt' er unrecht. Er war fehr gut
gegen mich, nannte mich im Vertrauen feines Herzens
Du, das verwies ich ihm mit dem fanfteften Ton von der
Welt fich's nicht anzugewöhnen, weil es nun eben nie^
mand wie ich zu verftehen weiß und er ohne dies oft ge^
wiffe Verhältniffe aus den Augen fetzt, da fpringt er wild
auf vom Kanapee, fagt, ich muß fort, läuft ein paarmal
auf und ab, um seinen Stock zu fuchen, find't ihn nicht,
rennt fo zur Türe hinaus ohne Abfchied, ohne gute Nacht ;
fehen Sie, lieber Zimmermann, fo war's heute mit unferm
Freund.
[143.] März 7. Charlotte v. Stein.
~ Ich follte geftern mit der Herzogin Mutter zum
Wieland gehen, weil ich aber furchte, Goethen da zu fin:;
I
76 Charlotte v. Stein. [144
den, tat ich's nicht. Ich habe erfiaunlich viel auf meinem
Herzen, das ich dem Unmenfchen fagen muß. Es ift nicht
möglich, mit feinem Betragen kommt er nicht durch die
Welt; wenn unfer fanfter Sittenlehrer gekreuzigt wurde,
fo wird dieser bittere zerhackt. Warum fein beftändiges
Pasquillieren, es find ja alles Geschöpfe des großen Wefens;
das duldet üq ja, und nun fein unanftändiges Betragen
mit Fluchen, mit pöbelhaften, niedern Ausdrücken. Auf
fein Moralifches, fo bald es aufs Handeln ankommt, wird's
vielleicht keinen Einfluß haben, aber er verdirbt andere;
der Herzog hat fich wunderbar geändert; geftern war er
bei mir, behauptete, daß alle Leute mit Anftand, mit Ma?
nieren nicht den Namen eines ehrlichen Mannes tragen
könnten, wohl gab ich ihm zu, daß man in dem rauhen
Wefen oft den ehrlichen Mann fände, aber doch wohl
ebensooft in den gesitteten; daher er auch niemanden
mehr leiden mag, der nicht etwas ungefchliffenes an fich
hat. Das ift nun alles von Goethen, von dem Menfchen,
der vor Tausende Kopf und Herz hat, der alle Sachen
fo klar ohne Vorurteile fieht, fo bald er nur will, der
über alles kann Herr werden, was er will. Ich fühl's,
Goethe und ich werden niemals Freunde; auch feine Art
mit unferm Gefchlecht umzugehen, gefällt mir nicht, er
ift eigentlich, was man coquet nennt; es ift nicht Ach^
tung genug in feinem Umgang.
Zerreißen Sie meinen Brief, es ift mir, als wenn ich
eine Undankbarkeit gegen Goethen damit begangen hätte,
aber um keine Falfchheit zu begehen, will ich's ihm alles
fagen, fobald ich nur Gelegenheit finde.
[144.] März. Wieland.
Goethe bleibt nun wohl hier, folange Karl Auguft
lebt, und möchte das bis zu Neftors Alter währen! Er
hat fich ein Haus gemietet, das wie eine kleine Burg auss^
fieht, und es macht ihm großen Spaß, daß er mit feinem
Philipp ganz allein fich im Notfall etliche Tage gegen ein
ganzes Korps darin wehren könnte, infofern fie ihm das
Neft nicht überm Kopf ganz anzündeten. Er ift auch im
Begriff einen Garten zu kaufen, welches ich auch getan
habe, alfo und dergeftalt, daß wir beide notabene ohne
vorgängige Abrede, uns beinahe in ein und ebendems^
felben Augenblick in den Weimarifchen Philifterorden be;:
geben haben — welches denn mit alle dem luftig genug ift.
146] Leipzig - Weimar. 1776. 11
[145.] März 26./April 4. Chr. F. Weiße.
Vor kurzem fprach ich Goethen, der, wie er fagt,
feine literarifche Laufbahn Lenzen überlaffen.
[146.] April. Wieland an Bürger.
Taufend Dank aus vollem Herzen für das kofibare
Pfand Ihrer Liebe, das Sie mir im fechften Buch Ihrer
deutfchen Ilias überfchickt haben, und für die Erlaubnis,
fo Sie mir geben, meine Freude daran mit den Lefern des
Merkurs zu teilen. Dies würde fogleich im Aprilmonat,
der jetzt gedruckt wird, gefchehen fein, wenn Goethe nicht
gewünfcht hätte, das Manufkript vorher genauer mit dem
Original zu vergleichen, und (wie ich vermute) nach Ihrem
Verlangen, hier oder da eine Kleinigkeit zu ändern; z. E.
ein ehrliches obfoletes Wort an fchicklicher Stelle anzu^
bringen und dergleichen. Wir find jetzt ftark daran, et^
liehe Hundert dergleichen Wörter, so Gott will, wieder
ins Leben zu rufen; und wir haben große Freude dar^
über, daß Sie ein gleiches in Ihrem Homer tun. Wie
könnten Sie auch ohne dies einen deutfchen Homer geben?
Sie brauchen den ganzen Reichtum unferer Sprache dazu;
und ich bin ganz überzeugt, daß der einzige Umftand,
wenn Ihnen der Gebrauch der veralteten Wörter aus
Deutfchlands Ritter^; und Heldenzeit nicht erlaubt wäre,
eine gute Überfetzung Homers unmöglich machte. Auch
gewinnt das Kolorit und der Ton dadurch etwas Antikes,
Naturkräftiges, von der modernen Zierlichkeit Abfiechen^
des, kurz, etwas Homerifches, das ich beffer fühlen als
sagen kann. Überhaupt find wir, Goethe und ich, innig?
lieh mit Ihrer Verdeutfchung des göttlichen Dichters zu?
frieden und freuen uns mit einer Freude, die uns wohl
nur wenige nachempfinden können, daß unfere Nation
Ihnen den Vorzug zu danken haben wird, die wahrefte,
treuefi:e, Homers am wenigfi:en unwürdige Überfetzung zu
haben, die irgend eine Sprache aufweifen kann, — und daß
der Dichter, deffen Werke uns Wort Gottes find, durch
Sie eine Menge von Jüngern, Liebhabern und Anbetern
bekommen wird, die der Glückfeligkeit ihn zu fühlen,
ihn zu ihrem ewigen Lieblingsbuch zu machen, ohne Sie,
hätten entbehren muffen. Ich, infonderheit freue mich
über den heilfamen Einfluß, den Ihr Homer auf den gegen?
wärtigen Moment unferer literarifchen Verfaffung haben
I
78 Wieland. [147
wird. Denn der Meffias felbft hätte nicht zu einer ge^
legenern Zeit kommen können. Kurz, wenn man allere:
orten fo für Sie und Ihre edle Unternehmung einge:=
nommen, und von dem göttlichen Beruf, den Ihnen die
Natur dazu gegeben hat, fo überzeugt wäre, wie Ihre
Freunde in Weimar: So follten Sie keine Urfache haben
über die von außen nötige Aufmunterung zu einem fo
furchtbar schwierigen und fo großen Mut und hartnäckigen
Eifer erfordernden Werke zu klagen.
Diefer Tage ftritten Goethe und ich mit einem enthus;
fiaftifchen Anbeter des griechifchen Homer über das Silben;:
maß, das Sie zu Ihrer Überfetzung gewählt haben. Er
beftand darauf, der Hexameter würde beffer gewefen fein;
wir, Sie hätten Recht gehabt, den Jamben vorzuziehen.
Wir find gewiß, daß es unnötig wäre, Ihnen die Gründe
pro und contra zu fagen: ohne mindeften Zweifel haben
Sie das alles längft erwogen und durchgedacht. Aber viel^
leicht möcht' es doch von einigem Nutzen fein, wenn Sie
etwan Ihre Gründe für den jambifchen Vers (nisi quid
obstat) in einem kleinen Sendfehreiben an Goethen oder
mich im Merkur bekannt machten. Wir behaupten, Ho^^
mersVerfifikation verliere in jeder Überfetzung notwendig,
würde aber im deutfchen Hexameter weit mehr verlieren,
als im jambifchen Vers, der unfrer Meinung nach das
echte, alte, natürliche, heroifche Metrum unfrer Sprache ift.
[147.] Mai. Charlotte v. Stein an J. G. v. Zimmermann.
Mir geht's mit Goethen wunderbar; nach acht Tagen,
wie er mich fo heftig verlaffen hat, kommt er mit einem
Übermaß von Liebe wieder. Ich hab' zu mancherlei Be:^
trachtungen durch Goethen Anlaß bekommen; je mehr
ein Menfch faffen kann, däucht mir, je dunkler, anftößiger
wird ihn das Ganze, je eher fehlt man den ruhigen Weg;
gewiß hatten die gefallenen Engel mehr Verftand, wie die
übrigen. ^ Ich bin durch unfern lieben Goethe ins Deutfch^:
fchreiben gekommen, wie Sie fehen, und ich dank's ihm,
was wird er noch aus mir machen? Denn, wenn er hier,
lebt er immer um mich herum: jetzt nenn' ich ihn meinen
Heiligen und darüber ift er mir unfichtbar worden, feit
einigen Tagen verfchwunden, und lebt in der Erde fünf
Meilen von hier im Bergwerke. ^^ Goethe und ich haben
bei ^ Wieland zu Gevatter geftanden, unfer Patchen
ift ein liebes hübfches Mädchen. ^^ In Goethens Garten
151] Weimar. 1776. 79
hab' ich fchon einmal Kaffee getrunken und von seinem
Spargel gegeffen, den er felbft gefiochen und in feinem
Ziehbrunnen gewafchen hatte.
[148.] Mai. Wieland an F. H. Jacobi.
Die Allwills Papiere haben diesmal im Deutfchen
Merkur so viel Platz weggenommen, daß verfchiedene
Rezenfionen liegen bleiben mußten ^^ Was dünlct Euch
übrigens von dem Manne, der fo herrliche Materialien
roh verkauft, und so viel hätte daran gewinnen können,
wenn er fie verarbeitet hätte? Er ift gleich einem Manne,
der auf feinem Gut einen köftlichen Marmorbruch von
fchönem milchweißen Marmor gefunden hätte, und weil
er fich nun nicht die Mühe nehmen möchte, oder es nicht
erwarten könnte, ihn zu brechen und in großen Stücken
auf die Ebene herabzuführen und dann zu behauen und
zu glätten und Götter und Helden und Wohnungen für
Götter daraus zu machen, kam' er mit Brecheifen und Ham^
mer, fchlüge alles kurz und klein zufammen und brächt's
uns fchubkarrenweise angefahren.
Das Gleichnis ift, wie Ihr feht, aus Goethens Hirn^
kaften, und paßt wie alle feine Gleichniffe nur gar zu wohl.
[149.] Mai. Wieland.
Goethe lebt und regiert und wütet, und gibt Regent
wetter und Sonnenfchein, tour ä tour comme vous scavez,
und macht uns glücklich, er mache was er will.
[150.] Juni 10. Klinger.
Am Montag kam ich hier an — lag an Goethes Hals
und er umfaßte mich innig mit aller Liebe: Närrifcher
Junge! Und kriegte Küffe von ihm: Toller Junge! und
immer mehr Liebe.
[151.] Juni. Klinger.
Montag Abend noch umarmte ich Goethe und er
mich mit aller Liebe. Hier fah ich und feh ich tägUch,
daß wirklich über Goethe fich fo wenig fagen läßt, als
man eigentlich über den Sohn Gottes fagen follte, wenn
man ihn glaubt. Und fo will ich auch fchweigen. Er
fteckt in politifchen Gefchäften und hat diefem Lande
genutzt und tut Sachen — wie foll man ihn nennen? ^^
I
80 Klinger. [152
Goethe ift geliebt durchaus und des Landes Heil. ~ Glaub
mir, daß nach Goethe kein größerer exiftiert, das fag ich
ohne Überfpannung. Er ift ein erfchrecklich großer, guter
Menfch, ganz für unfer Herz und Geift. Und wir haben
uns keinen Strich feines Charakters imaginiert und auch
nicht imaginieren können. Aber weh dem Menfchen, der
um ihn war, an feinem Herzen lag, mit feinem Geift
redete, ihn begriff und ihn noch verkennt! ^^ Hier ift
Balfam auf alle Wunden, wo man nur hinblickt — und
befonders bei diefem Menfchen, der ganz Liebe, Größe,
Demut und Befcheidenheit. Steinige den Menfchen, deffen
Zunge die. Götter hier läftert. Wieland will mich nicht
mehr fortlaffen und Goethe fpricht von bleiben.
[152.] Juni Mitte. Klinger.
Goethes Liebe für mich ift unendlich reich und groß.
Und verflucht feien alle Augenblicke des Zweifels und
Wankens. Mein Schickfal quälte und drängte ihn seit er
hier ift, und er geftund mir, daß ich ganze Tage vor feinem
Geift geftanden. ^ Wieland meint, ich follte Leutnant
unter den Preußen werden. Das find nur aber alles
Zuckungen. Goethe hat mit mir über alles ein für alle?
mal geredt.
[153.] Juni 24. Wieland.
Goethe ift feit 14 Tagen mit dem Herzog zu Ilmenau,
und kommt erft ausgangs der Woche wieder. Er lebt
nur ganz für den Herzog und feine Gefchäfte. In feinen
Erholungsftunden zeichnet er. Er hat mein Profil vor
einigen Wochen mit einer Liebe gezeichnet, womit er allein
es zeichnen konnte. Es foll mir fehr gleichen, und ift
alfo das erfte in feiner Art. f^ Weil aber dies nur mein
Werkeltagsgeficht ift, fo hat er fich in den Kopf gefetzt,
auch mein Sonntagsgeficht zu zeichnen. Unfer Verhältnis
gegeneinander macht auch mich fehr glücklich. Es ift fo
rein und fchön, als in diefer fublunarifchen Welt je eins
zwifchen zween ganz natürlichen Menfchen gewefen fein
mag. f^ Herder wird nun in kurzem hier eintreffen, fagt
man. Goethe und ich find darauf gefaßt.
[154.] Wieland.
Goethe hat freilich in den erften Monaten die Meiften
(mich niemals) oft durch feine damalige Art zu fein
155] Weimar. 1776. 81
flcandalifiert, und dem Diabolus prise über fich gegeben.
Aber fchon lange, und von dem Augenblick an, da er
dezidiert war, fleh dem Herzog und feinen Gefchäften zu
widmen, hat er fleh mit untadeliger Gcoq)QO(jvvt] und aller
ziemlichen Weltklugheit aufgeführt. Kurz, Ihr dürft ficher;:
lieh glauben und adversus quoscunque behaupten, daß
die Kabale gegen Goethe und feine Freunde nichts als
Neid und Jaloufie und Mißvergnügen über fehlgefchlagene
Hoffnungen zur Quelle hat. ^^ So wird doch Weimar
noch der Berg Ararat, wo die guten Menfchen Fuß faffen
können, während daß allgemeine Sündflut die übrige Welt
bedeckt.
[155.] Juli. F. W. H. V. Trebra.
Ich war nur feit wenigen Tagen erft in diefen lebens*
vollen Weimarer Zirkel eingetreten, angefchwommen aus
einer Region, wo naher und ferner Dienftverhältniffe wegen
das Benehmen geräufchlos, fehr klüglich ftill und forfchend
aus andern eingerichtet fein mußte, alle frohe Herzenss;
ergießung zurückpreffend — hier war alles erlaubt. Un^:
bewacht ausgelaffen zu fein, war hier, wo nicht gefordert,
doch nicht ungern gefehen, wohl gar gewünfcht. So hatte
auch ich nach vorleuchtendem hohen Beifpiel bald die
Überzeugung erlangt, obwohl auch bis hierher Behutfam?
keit gebietende Dienftverhältniffe mich begleitet hatten,
denn daß alle übrige, hoher Adel und niederer, und Bürger
es glaubten, bewiefen allefamt mit Händen und Beinen
im Gebrauch gegen fleh untereinander und gegen die
Höheren. Nicht das, — flüfterte der Ernftere von ihnen
[Goethe/ mir zu, den ich fchon vom erften Moment der
Bekanntfchaft an im Auge behielt — nur von ihren Leibern
haltet Euch fern, und duldet lieber, was fie körperlich Euch
zufügen, wenn fie fich zur handfälligen Luftigkeit herab?
laffen.
Noch manche andere folche tief liegende Wahrheiten
hatte ich ihm fchon abgehorcht, wo Großes im Wirken
auf Bemerkungen im Kleinen lag. ,Ich will mir auch gleich
die Seitenhaare am Kopfe ganz wegfchneiden!* war ein?
mal der Einfall des höhern Frohfinns. — Das kann man
bald machen, war die Entgegnung des kalten Ernftern da?
rauf, nicht fo fie wieder wachfen machen.
82 Fürftin von HohenlohesKirchberg. [156
[156.] Auguft 22. Fürftin von Hohenlohe?Kirchberg (an Gräfin
Wartensleben).
En arrivant ä Weimar, je rencontre notre Eule, den
Schardt, je descend vite de la voiture, et il me mena,
chez sa soeur Frau v. Stein, qui füt tres etonnee de mevoir;
je trouvais chez eile le fameux Goethe qui n'a pas l'air
d'un Bürger, mais d'un savant, gäte par les egoles. Malgre
cet air que je n'aime pas, je Tai pourtant trouve assez
aimable und bin ihm ganz gut geworden. II sache de toi
comme s'il venait de te voir et t'aime comme s'il te voyait
encore; il etudit ton caractere sur ta Silhouette, et il juge
de ton esprit par le nez et le tout de ton visage.
[157.] Auguft. Wieland.
Goethe ifi lieb und brav und feft und männlich.
Alles geht fo gut es kann, und die Welt, die fo viel dummes
Zeug von uns fagt und glaubt, hat groß Unrecht.
[158.] September Anfang. Wieland an Merck.
Von Eurem Erbprinzen Ludwig von HeJfen=Darmßadt
kann und foll ich viel Gutes melden. Er ift vom Herzog
und allen feinen kleinen parties de plaisir unzertrennlich
gewefen, hat Goethen liebgewonnen und Goethe ift auch
ihm gut. Sein hiefiger Aufenthalt ift ihm im ganzen
vorteilhaft gewefen, denken wir, und Ihr, lieber Herr und
Freund, werdet's fpüren, wenn er wieder nach Darmftadt
kommt. Goethe bittet Sie nur, etwas von Ihrer gewöhn?
liehen Referve mit den Fürfien bei ihm nachzulaffen und
fo offen und natürlich mit ihm zu fein, als er feines Orts
Sie durch fein Betragen dazu einladen wird. Er hat ftarke
Eindrücke bekommen, was ein Mann wie Ihr wert ift.
[159.] September 29. Mit Wieland.
Herr Kaufmann kam den zweiten Tag nach feiner
Ankunft nachmittags mit Klingern in meinen Garten und
blieb ungefähr eine halbe Stunde. Den folgenden Morgen
fand ich ihn bei Goethe. Der Mann hatte, ungeachtet
feiner um fich gezogenen Nebelkappe, was Anziehendes
für mich. Ich näherte mich ihm voll Gutwilligkeit und
vielleicht nach meiner Art etwas zu fchnell; er zog fich
aber ganz in feine Schale hinein, und fo haben wir's denn
dabei bewenden laffen. '^ Goethe war geftern morgens
164] Weimar. 1776. 83
bei mir und erklärte mir alles: die Schuld, warum die
Enthufiaften nicht mit mir und ich nicht mit ihnen leben
können, liegt weder an ihnen, noch mir, fondern an
den Göttern, die uns fo gemacht haben. Ich habe das Un?
glück, unter die Lauen zu gehören, die von den Warmen
und Kalten ausgefpieen werden. Leute, die lange mit mir
gelebt haben, finden, daß ich mit allen meinen Launen
und Ungleichheiten ein guter Menfch bin; aber die andern
fehen das nicht und können nicht aus mir klug werden,
fagt man.
[160.] September Ende/Oktober Anfang. Wieland an Merck.
Freuen Sie fich nicht auch mit mir und über mich,
daß ich Goethen endlich Hand in Hand verfprochen habe,
keine Noten noch postfacen mehr zu andrer Leute Auf?
fätzen zu machen?
[161.] Oktober. Wieland.
Goethe ift immer der nehmliche — immer wirkfam
uns alle glücklich zu machen, oder glücklich zu erhalten —
und felbft nur durch Teilnehmung glücklich. — Ein großer,
edler, herrlicher, verkannter Menfch, eben darin verkannt,
weil fo wenige fähig find, fich einen Begriff von einem
folchen Menfchen zu machen.
[162.] Oktober Anfang. Wieland an Bürger.
Ihr«Brief über Homer in Jamben ift im Oktober des
Deutfchen Merkur und alfo fchon vor 14 Tagen abge?
druckt. Er hat Herders, Goethes und meinen völligften
Beifall. ^^ Die kleine Abänderung in der Auffchrift, und
die Subftitution des Buchftaben A. an die Stelle meines
Namens, fand unfer Freund Goethe nötig um Ihrent;: und
meinetwillen.
[163.] Herbft. J. K. A. Mufäus.
Es geht mit unferm Liebhabertheater noch immer ganz
gut vonftatten. ^ Herr Goethe hat ein Paar von feinen
Schriften zum heften gegeben: Die Gefchwifter, in
einem Akt, und ein Stück : D i e M i t f c h u 1 d i g e n. Er felbft
hat viel wahre Aktion, und macht eine angenehme Figur.
[164.] Dezember 3. Fürft Franz v. Deffau.
Ich hatte befohlen einen Jagdwagen bereit zu halten,
der Goethen, welcher zu einer genau beftimmten Stunde in
I 6*
84 Fürft Franz v. Deffau. [165
Deffau ankommen würde, fofort nach Wörlitz bringen
folle. Auch follte der Leibarzt Kretfchmar benachrichtigt
werden, fich beizeiten auf dem Schlöffe einzufinden, um
mitzufahren. Beide kannten fich noch nicht und der HoS
marfchall hatte verfäumt, fie einander vorzuftellen. Eine
Zeitlang faßen fie, Goethe gerade, feierlich wie ein Licht,
Kretfchmar leicht und beweglich, wie ein junger Rehbock,
nebeneinander. Endlich dreht Goethe ein wenig den
Kopf nach Kretfchmarn und fragt über die Schulter: Wer
ift Er? Schnell und barfch, Goethen den Rücken zu;:
kehrend, erwidert Kretfchmar: Und wer ift Er?
[165.] F. D. Gräter.
Zwanzig Jahre fpäter ^ erzählte Wieland, es fei wahr?
haft bewunderungswürdig gewefen, wie Goethes Genie
fich damals bei jeder Gelegenheit offenbart habe. Er habe
nicht nur die fchönften Gedichte, fondern ganze Dramen
improvifiert. Namentlich erinnere er fich, wie fie eines
Tages davon gefprochen, welch herrliches Stück Cäfar
geben könne. Goethe habe fofort angefangen, die Perfonen
zu charakterifieren, und eine Szene des Stücks nach der
andern vom Anfange bis zu Ende des Dramas vorzu?
tragen. Wenn man die Stücke, die er fo improvifiert,
hätte auffchreiben können, würde die Welt einige erhalten
haben, die noch bewundernswürdiger wären, als feine be?
kannten.
[166.] Herder.
Eine der lächerlichften Genieperioden war die berg?
männifche in Weimar, als die Bergwerke in Ilmenau wieder
gangbar gemacht werden follten. Da war der Menfch
gar nichts, der Stein alles. Goethe fand in der Organi::
fation des Granits die göttliche Dreieinigkeit, die nur durch
ein Myfterium erklärt werden könne 1
1777.
[167.] (Anfang d. J.) Wieland.
Mit Goethe — was für herrliche Stunden und halbe
Tage lebt' ich mit ihm im erften Jahre! Nun ift's, als ob
in den fatalen Verhältniffen, worin er fieckt, ihn fein Ge^^
nius ganz verlaffen hätte ; feine Einbildungskraft fcheint er?
172] Weimar. 1777. 85
lofchen ; ftatt der allbelebenden Wärme, die fonft von ihm
ausging, ift politifcher Froft um ihn her. Er ift immer
gut und harmlos, aber — er teilt fich nicht mehr mit —
und es ift nichts mit ihm anzufangen. Auch fehen wir
uns nur feiten, wiewohl ich feft glaube, daß er nichts
wider mich hat, und von mir überzeugt ift, daß ich ihn
herzlich liebe.
[168.] (Anfang d. J.) E. A. A. v. Göchhaufen an E J. J. Bettuch.
Goethe hat gegen jemand gefagt, er habe in meinem
Wertherfieber Satire über Werthers Leiden gefunden. Ift's
möglich überhaupt? Und wär's möglich, daß Goethe Sie
hintergangen hätte, als er Ihnen, wie Sie mir meldeten,
fagte: er erkenne meine Abficht und danke fie mir?
[169.] Februar. Wieland an Bürger.
Wir haben hier große Freude von Ihrer Ausforderung
an Fritz Stolberg im Mufeum Dezember 1776 gehabt. Wenn
er klug ift, fagt Goethe, fo läßt er's nun dabei bewenden
und zieht fich in fein Gezelt zurück.
[170.] März 24. Wieland an F. H. Jacobi.
Goethe, dem ich Deinen Brief lefen laffen, grüßt Dich.
Er ift der Meinung, Du foUft die Reife nach Weimar nicht
fchreiben. Er meint, es fchickte fich für uns am heften,
in unferm heiligen Dunkel zu bleiben — es würde nur
dienen, viele boshafte, hämifche Seelen hier und dort auf^
zuwiegeln.
[171.] April Anfang. Wieland an Merck.
Goethe grüßt Sie, und läßt Ihnen wiffen, daß er
fleißig in feinem Garten arbeite, und hoffe, daß Sie einft
zu ihm kommen und mit Augen fehen und Freude dran
haben werden. Zeichnen ift außerm Pflanzen jetzt fein
Lieblingsgefchäft; Sie werden auch hierin über die Wun^
der feines Genies erftaunen. Er zeichnet völlig, wie er
dichtet und fchreibt. Nur follen Sie feinen Pflanzungen
Zeit laffen, recht einzuwachfen, ehe Sie kommen.
[172.] Mai Mitte. Wieland an F. H. Jacobi.
Ich habe nun auch Goethes Meinung von meiner Oper
Rofamunde, und fie ftimmt vöflig zu der Deinigen. Er
hat mir alles fehr begreiflich gemacht. Seiner Meinung
I
86 Wieland. [173
nach liegen die Hauptgebrechen im Sujet selbft; der erfte
Fehlgriff" aber liegt nach ihm darin, daß ich das Ding,
anfiatt mit dramatifchem, mit epischem Sinn gefaßt habe.
[173.] Juni 1. Wieland an Merck.
In den Parkanlagen trafen wir Goethen in Gefellfchaft
der fchönen Schröterin an, die in der unendlich edlen aU
tifchen Eleganz ihrer ganzen Geftalt und in ihrem ganz
fimpeln und doch unendlich raffinierten und infidiofen An;=
zug wie die Nymphe diefer anmutigen FeHengegend auss:
fah. Wir hießen einander alfo auch willkommen, und
Goethe war zwar fimpel und gut, aber äußerft trocken
und verfchloffen, wie er's fchon lange, fonderlich feit meiner
Rückkunft von der Reife in Eure Gegend ift. Ich glaube
indeffen gerne und am liebften, daß der wahre Grund da:;
von doch bloß in der Entfernung Hegt, worin wir durch
die Umftände voneinander gehalten werden. Vor 2 Jahren
lebten wir noch miteinander; das ift jetzt nicht mehr und
kann nicht mehr fein, da er Gefchäfte, liaifons, Freuden
und Leiden hat, an denen er mich nicht teilnehmen laffen
kann; und an denen ich meines Ortes ex parte auch nicht
teilnehmen könnte noch möchte.
1 174.] Juni Ende. J. W. L. Gleim.
Kurz darauf, nachdem Goethe feinen Werther ge^^
fchrieben hatte, kam ich nach Weimar und wollte ihn
kennen lernen. Ich war abends zu einer Gefellfchaft bei
der Herzogin Amalie geladen, wo es hieß, daß Goethe
fpäterhin auch kommen würde. Als literarifche Neuig*
keit hatte ich den neueften Göttinger Mufenalmanach mit*
gebracht, aus dem ich eins und das andere der Gefell*
fchaft mitteilte. Indem ich noch las, hatte fich auch ein
junger Mann, auf den ich kaum gemerkt, mit Stiefeln und
Sporen und einem kurzen, grünen aufgefchlagenen Jagd*
rocke unter die übrigen Zuhörer gemifcht. Er faß mir
gegenüber und hörte fehr aufmerkfam zu. Außer einem
Paar fchwarzglänzender, italienifcher Augen, die er im
Kopfe hatte, wüßte ich fonft nichts, das mir befonders
an ihm aufgefallen wäre. Allein es war dafür geforgt,
ich follte ihn fchon näher kennen lernen. Während einer
kleinen Paufe nämlich, wo einige Herren und Damen über
dies oder jenes Stück ihr Urteil abgaben, eins lobten, das
andere tadelten, erhob fich jener feine Jägersmann — denn
174] Weimar. 1777. 87
dafür hatte ich ihn anfänghch gehalten — vom Stuhle,
nahm das Wort und erbot fich in demfelben Augenblicke,
wo er fich auf eine verbindliche Weife gegen mich vers^
neigte, daß er, wofern es mir fo beliebte, im Vorlefen,
damit ich nicht allzufehr ermüdete, von Zeit zu Zeit mit
mir abwechfeln wollte. Ich konnte nicht umhin, diefen
höflichen Vorfchlag anzunehmen und reichte ihm auf der
Stelle das Buch. Aber Apollo und die neun Mufen, die
drei Grazien nicht zu vergeffen, was habe ich da zuletzt
hören muffen! Anfangs ging es zwar ganz leidlich:
Die Zephir'n laufchten,
Die Bäche raufchten,
Die Sonne
Verbreitet' ihr Licht mit Wonne.
Auch die etwas kräftigere Kofi: von Voß, Leopold
Stolberg, Bürger wurde fo vorgetragen, daß fich keiner
darüber zu befchweren hatte. Auf einmal aber war es,
als ob den Vorlefer der Satan des Übermutes beim Schöpfe
nehme, und ich glaubte, den wilden Jäger in leibhaftiger
Geftalt vor mir zu fehen. Er las Gedichte, die gar nicht
im Almanach ftanden, er wich in alle nur mögliche Ton^s
arten und Weifen aus. Hexameter, Jamben, Knittelverfe
und wie es nur immer gehen wollte. Alles untere und
durcheinander, wie wenn er es nur fo herausfchüttelte.
Was hat er nicht alles mit feinem Humor an diefem
Abend zufammenphantafiert I Mitunter kamen fo präch?
tige, wiewohl nur ebenfo flüchtig hingeworfene, als ab::
geriffene Gedanken, daß die Autoren, denen er fie unteres
legte, Gott auf den Knien dafür hätten danken muffen,
wenn fie ihnen vor ihrem Schreibpulte eingefallen wären.
Sobald man hinter den Scherz kam, verbreitete fich eine
allgemeine Fröhlichkeit durch den Saal. Er verfetzte allen
Anwefenden irgend etwas. Auch meiner Mäzenfchaft, die
ich von jeher gegen junge Gelehrte, Dichter und Künftler
für eine Pflicht gehalten habe — fo fehr er fie auf «der
einen Seite belobte, fo vergaß er doch nicht auf der andern
Seite mir einen kleinen Stich dafür beizubringen, daß ich
mich zuweilen bei den Individuen, denen ich diefe Untere
ftützung zuteil werden ließ, vergriffe. Deshalb verglich,
er mich witzig genug in einer kleinen ex tempore in Knittel?
verfen gedichteten Fabel mit einem frommen und dabei
über die Maßen geduldigen Truthahn [I], der eigene und
I
88 J. W. L. Gleim. [175
fremde Eier in großer Menge und mit großer Geduld be:=
fitzt und ausbrütet, dem es aber en passant wohl auch ein^
mal begegnet, und der es nicht übelnimmt, wenn man ihm
ein Ei von Kreide fiatt eines wirklichen unterlegt.
Das ift entweder Goethe oder der Teufel] rief ich
Wieland zu, der mir gegenüber am Tifche faß. Beides
— gab mir diefer zur Antwort; — er hat einmal heute
wieder den Teufel im Leibe; da ift er wie ein mutiges
Füllen, das vorn und hinten ausfchlägt, und man tut wohl,
ihm nicht allzunahe zu kommen.
[175.] J. W. L. Gleim an Herder.
Grüßt die Freunde dort, die Wielande, die Einfiedel,
die Bertuche, die Seckendorffe. Könnt' ich mich rühmen,
daß ich Euern Goethe gefunden hätte, wie Lavater neu^
lieh in einem Briefe (nicht an mich) fich rühmte, daß er
die Fürftin von Deffau gefunden hätte, fo bat' ich auch
ihn zu grüßen; ich hab' ihn aber nicht gefunden, er war
mir hier zu kalt, zu hofmännifch und dort zu feurig und
zu ftolz — ich lieb' ihn aber doch, wie man die Mädchen
liebt, von welchen man geliebt zu werden keine Hoffnung
hat, und beklage, daß er ftolz und feurig nicht geblieben ift.
[176.] Juli 9. K. L. V. Knebel.
Goethe ift jetzt zuweilen bei uns [K. und Prinz Kom
flantinjy bringt eine halbe Nachtwache und einen Morgen
bei uns zu und macht uns die Stunden, die er hier ift,
fehr angenehm. Er hat uns feine neue Kompofition von
Wilhelm Meifters theatralifcher Sendung vorgelefen, wel?
ches ein fehr fein Werk ift. Sonft zeichnet er, liefert unfere
Köpfe nach feiner Vorftellungsart , fcheint auch, er will
das Werk feiner Statthalterfchaft mit dem ihm anftändigen
Eifer fich angelegen fein laffen.
[177.1 Juli. Wieland.
Goethe und ich find feit meinem letzten wieder näher
und näher zusammengerückt — und ich habe ihn wieder:;
gefunden, wo ich ihn nun bald vor Jahr und Tag ge^
laffen hatte, habe auch mir felbft gefchworen, daß mich
nimmer und nimmermehr nichts an ihm irre machen, noch
von feiner Liebe fcheiden foll.
178] Wartburg. 1777. 89
[178.] September 19. F. Oberthür.
Warm, enthufiaftifch, fo wie man vom Heiligtum des
Apollo kommt, komme ich früh ein halb 10 Uhr von der
Wartburg, wo Goethe wohnet, nach meinem Gafthof Zum
Rautenkranz zurücke. '^
Faft eine halbe Stunde mußte ich, wie im Vorhofe
des Tempels, warten, bis ich Goethen zu fehen bekam. '^
Ich glaubte einen tiefdenkenden, ernfihaften, kalten
Engländer, dem Kleide und der Miene nach, zu fehen;
ich konnte leicht den Verfaffer des Götzens von Ber^s
lichingen, der Leiden des jungen Werthers, des Clavigo
finden, und das Bild in Lavaters Phyfiognomik hat viel
Ähnlichkeit mit dem Urbild. Aber den luftigen, launigten,
auch ein wenig mutwillig — nehmen Sie diefes Wort nur
in keiner üblen Bedeutung — luftigen Gefellfchafter, wie
man mir Goethe befchrieben, hätte ich bei diefem Befuch
nie erraten.
Er hatte foeben die, feinem Fenfter geradeüberftehen^
den zwei von der Natur gefetzten Spitzfäulen gezeichnet,
die unter dem Namen des Mönchs und der Nonne ht^
kannt find und auch nicht lange zuvor von Wieland im
Teutfchen Merkur befungen worden. Diefe betrachtete
ich durch ein Sehrohr, von diefem, dazu fehr bequemen
Standpunkte einige Augenblicke; überfahe dann die Gegend,
die Ausfichten von diefer Burg hinab in die Tiefe und
lobte die Wahl des Dichters, der diefen, feiner Phantafie
und feiner Mufe fo fchicklichen Ort dem Palafte des Fler^:
zogs in der Stadt vorgezogen.
Die ganze übrige Unterredung hatte den Zuftand der
Wiffenfchaften und Künfte in meinem Vaterlande Franken
zumGegenftand, und ich muß geftehen, daß Goethe meinem
Nationalftolz nicht wenig gefchmeichelt ; er hatte fchon in
feiner Vaterftadt etliche meiner Landsleute gekannt, und
auch in Thüringen bekam er von ficherer Hand vorteile
hafte Nachrichten von Franken und unferm gefchickten
Hofmaler Treu in Würzburg; von ihm felbft verfertigte
Porträts hatte er in Erfurt gefehen, und diefes waren die
Data und Gründe zu feinem Lobe über Franken und den
Zuftand der Wiffenfchaft und Künfte dafelbft. — Sie können
wohl denken, daß ich ihm noch mehr Gutes von meinem
Vaterlande gefagt, foweit es Wahrheit und Befcheidenheit
litten.
I
90 F. Oberthür. [179
Nach und nach merkte ich, daß der Dichter fich noch
mehr in fich felbft zurückzog, ftille wurde, ernfthaft und
kalt wie in einem Spleen daftund. Da dachte ich: viel::
leicht hat fich irgend ein großer Gegenfi:and feiner Seele
bemächtigt, und Apollo heißt ihn darüber dichten und be^^
urlaubte mich.
[179.] September. Merck an F. Nicolai.
Ich hab' Goethe neuerlich auf Wartburg befucht, und
wir haben 10 Tage zufammen wie Kinder gelebt. Mich
freut's, daß ich von Angeficht gefehen habe, was an feiner
Situation ifi. Das Befi:e von Allem ifi: der Herzog, den
die Efel zu einem fchwachen Menfchen gebrandmarkt
haben, und der ein eifenfefi:er Charakter ifi:. Ich würde
aus Liebe zu ihm eben das tun, was Goethe tut. Die
Märchen kommen alle von Leuten, die ungefähr fo viel
Auge haben zu fehn, wie die Bedienten, die hinterm
Stuhle fiehn, von ihrem Herrn und deren Gefpräch ur^:
teilen können. ^ Ich fage Ihnen aufrichtig, der Herzog
ifi einer der refpektabelfien und gefcheuteften Menfchen,
die ich je gefehen habe — und überlegen Sie, dabei ein
Fürft und ein Menfch von 20 Jahren. Ich dächte, Goethes
Gefellfchaft, wenn man mutwillig vorausfetzen will, er fei
ein Schurke, follte doch mit der Zeit ein wenig guten
Einfluß haben. Das Geträtfche, daß er fich nach Goethe
bilde, ifi fo unleidlich unwahr als etwas, denn es ifi ihm
niemand unausfiehlicher als Goethes Affen.
[180.] September. Merck an Lavater.
Dagegen hab ich Ihnen auch einige gute Nachrichten
Goethen betreffend zum Voraus in Kauf zu geben. Ich habe
mich vorigen Herbfi im Monat September auf meinen Fuchs
gefetzt, und bin nach Eifenach zu dem herrlichen Menfchen
wallfahrten gegangen, allwo ich denn auf der Wartburg an
14 Tage, wie Sie denken können, in Wohlleben mit ihm
verbracht habe. Seine Situation ifi die befie, die er fich
wünfchen kann. Er lebt völlig nach feinem Kopfe in dem
Haufe des Herzogs, als wenn's in dem meinigen wäre;
hat nicht das geringfie, wie die Efel prätendieren, von
feiner ehemaligen poetifchen Individualität abgelegt, das
gegen aber an Hunger und Dürft nach Menfchenkenntnis
und Welthändeln und der daraus folgenden Weisheit und
Klugheit wie ein Mann zugenommen. ^ Goethe liebt den
183] Weimar. 1778. 91
Herzog wie keinen von uns, weil vielleicht keiner ihn fo
nötig hat, als diefer, und fo wird ihr Verhältnis ewig
dauern, — denn Goethe kann ihn nicht verlaffen, oder
er müßte nicht mehr der fein, der er ift, und der Herzog
wird fo wenig mit ihm brechen, als einer von denen, die
Goethes Freunde find.
[181.] November 7. Wieland an Merck.
Lieber Herr und Kumpan, eine große Bitte! von
Goethen und mir gemeinfchaftlich. Sie haben doch fchon
das große opus des jungen Kramers: Klopftock, in Frag?
menten aus Briefen von Tellow an Elifa ^ und wir bitten
Sie nun mit aufgehobenen Händen um eine Rezenfion
desfelben, aber um eine Rezenfion, daß der König und
die Königin fagen follen: Liebes Löwchen, brülle noch
einmall — Hier ifi: doch wieder einmal Gelegenheit, ein
Meifiierftück zu machen — eine Rezenfion, die Ihnen fo
viel Ehre machen foll, als die befi:e Kompofition von der
Welt — kurz eine Rezenfion, wie nur Sie allein eine machen
können. Goethe fagt: Sie follen nicht bloß die Seide
draus ausbrennen, fondern das Metall felbfi: fo lange
durch's Feuer gehen laffen und fo lange fchmelzen, fcheiden
und läutern, bis vom ganzen Werk nichts als der Titel
Klopftock übrig bleibe. ^^
Ich war geftern Nachmittag bei Goethen auf feinem
Altan. Kein lieberes, fich wärmer an einen anlegendes,
oder, wie die Schwaben fagen, einen mehr anheimelndes
Plätzchen auf Gottes Boden muffen Sie nie gefehen haben.
'^ Wenn doch nur Merck itzt bei uns wäre und das auch
fehen und nießen könnte, fagte ich; das hier! — und das
dort! Das wäre fo was für ihn. Sei ruhig! Er wird
fchon kommen, fagte Goethe, und die Gewißheit, womit er's
fagte, machte, daß ich Sie fchon halb gegenwärtig fühlte.
[182.] Wieland an Merck.
Haben Sie denn mein opus an Olympien noch nicht
bekommen ~ hier hat's Herdern und Goethen mächtig wohl
gefallen.
1778.
[183.] Januar 30. J. F. Kranz an Elifabeth Goethe.
Von dem neuen Stücke, welches Ihr lieber Doktor
und unfer Geh. L. Rat Goethe am 30. Januar und her?
I
92 J. F. Kranz. [184
nach am 10. Februar hier aufgeführt, würde ich Ihnen
viel fchreiben, wenn nicht der glückliche Philipp Seidel
Ihr Korrefpondent wäre. Doch eins muß ich wegen der
großen Ähnlichkeit zwifchen Ihnen und ihm doch melden.
Goethe als Andrafon kommt vom Orakel; ihn empfangen
nebft feiner Schwefter vier feurige Mädchen, freuen fich
herzlich ihn wieder zu haben, fragen ihn, was er für eine
Antwort mitbringe, wie es dort ausfähe ufw. Er fängt
an zu erzählen, aber vor allem Fragen der neugierigen
Mädchen kann er in feiner Erzählung nicht fortkommen;
endlich kommt er auf den Ausfpruch des Orakels Andr.
Wann wird ein preislich Gefpenft ufw.
O wenn Sie ihn nur da hätten fehen follenl Augen,
Gebärde, Ton, Geftikulation, alles in allem, fage ich Ihnen,
ich war gar nicht mehr im Orchefier, ganz in der Atmo;:
fphäre von Casa santa. ^ Der Geh. L. Rat läuft dann
und wann mit den Herrfchaften abends Schlittfchule
[sie] und zwar en masque. ^
[184.] (Mai.) F. v. Matthiffon.
In früheren Zeiten befuchte Goethe in feines fürfi^
liehen Freundes Gefolge Wörlitz oft auf mehrere Wochen.
Einft an einem heiteren Sommernachmittage gefeilte man
fich unter der Vorhalle des Schloffes zufammen. Die
Fürftin war mit einer Stickerei befchäftigt, der Fürft las etwas
vor, Goethe zeichnete, und ein Ffofkavalier überließ ohne
Zwang und Sorge fich indes der behaglichen Verführung
des Nichtstuns. Da zog ein Bienenfchwarm vorüber.
Goethe fagte: Die Menfchen,an welchen ein Bienenfchwarm
vorüberfi:reicht, treiben nach einem alten Volksglauben das^
jenige, was gerade im Augenblicke des Anfummens von
ihnen mit Vorliebe getrieben wurde, noch fehr oft und
fehr lange. Die Fürftin wird noch viel und noch recht
köftlich fticken, der Fürft wird noch unzähligemal intern
effante Sachen vorlefen, ich felbft werde gewiß unauf:=
hörlich im Zeichnen fortmachen, und Sie, mein Herr
Kammerherr, werden bis ins Unendliche faulenzen.
[185.] Mai 20. Caroline Luife Hempel geb. Karfch an Gleim.
Wenn Sie ihn hätten kommen fehen, unerwartet in
unfre Tür treten, mit den Augen meine Mutter fuchend,
mit feinen Augen, achl unausfprechlich reizend war die
187] Berlin. 1778. 93
Szene. So kommt nur reuige Liebe zu Liebe. ~ Das
weiß ich, daß in feinen großen hellen Augen der ganze
Goethe ftrahlte, nicht der flammende, zugreifende, un:5
genügfame Goethe; Der, welcher Lotten Brot fchneiden
fah, der war's ungefähr, nur daß fein Mund fiumm blieb,
und Goethe ftumm blieb beim Eintritt, beim Umarmen
und einiger Wendung bis zum Sitze, da denn meine
Mutter die erfte Frage an ihn tat. Ich hätte gar zu gern
die Hand auf feine hebe Bruft gelegt, ob nur fein Herz
auch das gefchlagen hätte, was fein feraphgleiches Stumm^j
fein verkündigte, aber der Menfch wirft fo viel Refpekt
aus feinen Augen, daß ich mich kaum traute, in feiner
Gegenwart zu bleiben. Ich mußte ein paarmal hinaus,
lief aber gefchwind wieder hinein und da hört' ich ein^s
mal, daß meine Mutter von Ihnen frug; er antwortete
wider feine Gewohnheit in dreien Teilen darauf, und ich
fühlt' es, daß Ihr Name fein Ohr tränkte und daß er
gerne von Ihnen gefprochen hätte, wenn bei einem Fefi?
befuche die Reden nicht zur bloßen Kur wären. ^^ Mama
fagte zu Goethe: fie habe eine neugeborene Dichterin
zur Enkelin. Wie alt ift fie? Vierzehn Wochen, fagte
fie. So laffen Sie diefelbe Dichterin fein bis fie fprechen
kann. War das wohl menfchenfreundlich von dem Unart?
[186.] Mai 20. Luife Karfch.
Ich frug ihn, ob er nicht auch das Vergnügen koften
wollte, Vater zu fein. Er fchien's nicht weit von fich zu
werfen; er ift ein großer Kinderfreund, und eben diefer
Zug läßt mich hoffen, daß er auch ein guter Ehemann
werden wird. ^ Vielleicht kommt er bald mit feinem
Herzog allein auf längere Zeit her: beim Abfchied ließ
er fich fo was verlauten. Ich gab ihm ein paar frifche
Rofen, und gefchwind hub er einen Strohhalm von der
Erde auf, band damit die Rofen zufammen und fieckte
fie auf den Hut. Er liebt die freimütigen offenherzigen
Leute und mag's gern haben, wenn er geliebt wird; das
gefällt ihm beffer, als hohes Lob.
[187.] Mai. J. W. L. Gleim an Caroline Herder.
Wer, um Gottes willen, befte Schwefter, hat das
einzige Berlin «^ wer hat fo garftig von Berlin mit Ihnen
gefprochen? War's Goethe, fo hat er fich gröblich ver?
fündigt; denn er urteilte nicht unparteiifch. Den Berlinern
I
94 J. W. L. Gleim. [188
kam er ftolz vor, und wurde deswegen nicht eben überall
gut aufgenommen. Sie wiffen, daß er einft mir auch fo
vorkam. Alfo mögen die Berliner nicht ganz unrecht
haben.
[188.] Auguft 8. J. A. Leifewitz.
Zu Goethen, der auf einem fehr fimpeln Gartens
häufe in der Gegend des Sternes wohnt. Er gefiel mir
doch fehr — fchon feine Phyfiognomie nahm mich fehr
ein. Von Jacobi. Goethe fagte, er hätte fchon von der
Natur ein kleines Vulkanchen bekommen, durch Wein
Schwefel zugegoffen, und durch Leidenfchaften fleißig zu^
gefchürt. — Von meiner Gefundheit. — Bode hat mir ge^
raten, nach Ilmenau zu gehen und Goethe riet mir auch
dazu, weil er die harzigen Ausdünftungen der Fichten für
fehr gefund hielt. — Ich habe keine Luft dazu. Wir waren
nur kurze Zeit da, weil wir fpäter hinkamen, als er uns
beftellt hatte. Er bat mich aber doch, ihn mehr zu be^
fuchen. Auf dem Hin^ und Herwege fprachen Bode und
ich viel Gefcheutes, befonders über Goethens Stolz und
Wielands Eitelkeit.
[189.] Auguft vor 27. Wieland an Merck.
Verwichenen Sonnabend fuhren wir zu Goethe, der
die Herzogin auf den Abend in feinen Garten eingeladen
hatte, um fie mit allen den Poemen, die er in ihrer Ab?
wefenheit an dem Ufer der Um zuftande gebracht, zu
regalieren. Wir fpeifeten in einer gar holden kleinen
Einfiedelei und da fand fich, daß casu quodam der fiebente
Stuhl an einer Tafelrunde, woran wir faßen, leer war. Dies
brachte in allen einmütig den Wunfeh hervor, daß es der
deinige fein möchte; und da wir denn doch nicht Enthufiaften
genug find, uns einzubilden, daß du wirklich dafitzeft, fo
taten wir uns jeder nach feiner Weife defto mehr mit der
Erinnerung der Tage und Stunden, die wir mit dir gelebt
hatten, und mit der Hoffnung, daß du mit der Frau Aja
kommenden Winter oder Frühling zu uns kommen werdeft,
eine Güte. Goethen befonders wurde gar wohl ums Herz,
die Herzogin fo von dir reden zu hören, wie eine, die
den Wert der ganzen Totalfumme deiner Individualität
fühlt. Wir tranken auf deine und Frau Aja's und Freund
Bölling, des Kornhändlers, Gefundheit eine Flafche Jo?
hannisberger 60er aus, und wie wir nun aufgeftanden
192] Weimar. 1779. 95
waren und die Tür öjfifneten, flehe da ftellte fich uns, durch
geheime Anftalt des Archi^Magus, ein Anbhck dar, der
mehr einer reaUfierten dichterilchen Vifion als einer Natur:;
fzene ähnhch fah. Das ganze Ufer der Um, ganz in
Rembrandts Gefchmack, beleuchtet — ein wunderbares
Zaubergemifch von hell und dunkel, das im ganzen einen
Effekt machte, der über allen Ausdruck geht. Die Herzogin
war davon entzückt, wie wir alle. Als wir die kleine
Treppe der Einfiedelei herabftiegen und zwifchen den
Felfenftücken und Bufchwerk längs der Um gegen die
Brücke, die diefen Platz mit einer Ecke des Sterns ver;:
bindet, hingingen, zerfiel die ganze Vifion nach und nach
in eine Menge kleiner Rembrandtfcher Nachtftücke, die
man ewig hätte vor fich fehen mögen, und die nun durch
die dazwifchen herumwandelnden Perfonen ein Leben und
ein Wunderbares bekamen, das für meine poetifche Wenige;
keit was Herrliches war. Ich hätte Goethen vor Liebe
freffen mögen.
[190.] Oktober. Wieland an Merck.
Ich hab' Dir letzthin gemeldet, daß fich unfere Her^;
zogin jetzt eine große fete mit Goethens Puppenfpiel macht.
Kranz als Orcheftermeifter und Kraus als Dekorateur haben
seit vierzehn Tagen alle Hände voll zu tun. Goethe kommt
dann und wann darnach zu fehen und das Werk in Gang
zu bringen. ^ Ich gäbe Geld darum, wenn Du den Spaß
mit uns teilen könnteft. Aber ohne Zweifel wirfi: Du da^;
mit regaliert werden, wenn Du kommft, wiewohl Goethe
haben will, daß Du erft kommen follft, wenn die Nachti^
gallen wieder fingen.
1779.
[191.] Februar 3. Herder an Lavater.
Die Herzogin Luife ^^ hat eine Prinzeffin, die Luife
Augufte Amalie heißen foll und gewiß morgen getauft
wird: ein großes, fchönes Kind, und Goethe verfichert,
daß es gerade die Geniesnafe mit breitem Sattel nach
Deiner Angabe habe. -^
[192.] Frühjahr. K. Lenz.
Um meinen kranken Bruder von den Grenzen
der Schweiz abzuholen, erhielt ich von Weimar aus
I
96 K. Lenz. [193
der Großmut der weiland verwitweten Frau Herzogin
durch Goethe eine bare Geldunterfiützung, welche, wie
mich däucht, an 60 Louisdor betrug. «^ Goethe nahm
mich übrigens auf feinem Gartenhaufe fehr gütig auf und
unterhielt fich mit mir bei unferer Promenade in dem Luft?
Wäldchen, der Stern genannt, meiftens in fehr liebreichem
Andenken an Jakob Lenz, und felbft feine Schwächen be*
rührte er nur mit vieler Delikateffe.
[193.] Frühjahr. Wieland.
Goethe ^^ hat wieder was gar Köfiliches produziert
und ift überhaupt gar lieb und gut feit einiger Zeit, der
Friede macht ihm eben auch wieder Luft ums Herz —
denn wir waren hier in einer garftigen Lage.
[194.] Juni 26. Wieland.
Mit Goethen hab' ich vergangene Woche einen gar
guten Tag gehabt. Er und ich haben uns entfchließen
muffen, dem Rat May zu fitzen, der uns ex voto der Her?
zogin von Württemberg für Ihre Durchlaucht malen foll.
Goethe faß vor? und nachmittags und bat mich, weil
Serenissimus absens war, ihm bei der leidigen Seffion Ge?
fellfchaft zu leiften und zur Unterhaltung der Geifter den
Oberon vorzulefen. Zum Glück mußte fich's treffen, daß
der faft immer wütige Menfch diefen Tag gerade in feiner
heften rezeptivften Laune und fo amufable war, wie ein
Mädchen von fechzehn. Tag meines Lebens hab' ich nie?
mand über das Werk eines andern fo vergnügt gefehen,
als er es mit dem Oberon durchaus, fonderlich mit dem
fünften Gefang war, worin Hyon fich von dem kaifer?
liehen Auftrag verbotenus akquittieret. Es war eine wahre
Jouissance für mich, wie Du leicht denken kannft. Ein
paar Tage darauf geftund er felbft, daß er in drei Jahren
vielleicht nicht wieder in diefen Grad von Rezeptivität
und Offenheit jedes Sinnes für ein opus hujus furfuris
et farinae kommen würde.
[195.] Sommer. Sophie von La Roche an Wieland.
Nun habe ich eine Angelegenheit, die ift, zu hören,
wie viel an der Begebenheit mit Woldemars Briefen wahr
ift oder nicht, daß unter einem Eichbaume zu Ettersburg
etliche davon vorgelefen worden und dann Goethe auf
197] Kaffel. 1779. 97
- — r
den Baum flieg, eine geiftvolle Standrede über das fchlechte
Buch hielt und es endlich zur wohlverdienten Strafe und
andern zum abfchreckenden Beifpiele an beiden Enden der
Decke an die Eiche nagelte, wo dann eine große Freude
über die im Wind flatternden Blätter war.
196.] September 14. J. H. W. Tifchbein.
Goethe hat anjetzo das Porträt des Prinzen Confian^
tin von Weimar; wenn er aber nicht weiß, auf was Art,
und in wie kurzer Zeit es gemacht ift, fo wird er keine
gute Meinung von mir haben. Ich habe es an einem Tag
gemacht. ^ Es war den Tag kaltes Regenwetter und der
Himmel ganz grau; an fo einem Tag ift es fchlimm; man
ift nicht ficher, ob man etwas von der Farbe ab^ oder zus^
geben foll; auch ift es fchlimm, weil jeder Strich unver^
änderlich ftehen bleiben muß; man verfieht fleh leicht; fo
lange das Tuch noch platt ift, ohne Vertiefungen; fo fcheint
einem alles kleiner, und wenn es gemalt und mit Vertie^^
fungen und Erhöhungen gemacht ift, fo flehet man erft,
daß einige Teile zu kurz oder zu lang flnd, und man
kann es nicht ändern, weil die Farben fonft fchmutzig
werden; man hat auch keine Zeit, wenn man nicht mehr
als einen Tag arbeiten kann. Die Farben mit einem Strich
hinfetzen, ift die rechte Art, denn wenn man fle lange
mit dem Pinfel hin und her treibt, fo werden fle fchmutzig
und matt. Das ift auch Goethes Meinung; fo ift mir
erzählt, daß er es gefagt, als er die Kaffelifche Galerie
befah.
[197.] September. J. G. Förfter an F. H. Jacobi.
Ich habe Goethen gefehen, aber nicht genug, um ihn
zu kennen. Sein Freund Behrifch in Deffau hat mir feine
ausgelaffene Laune nicht verhehlt, ich aber habe ihn nicht
darin gefunden. Hier in Kaffel war er ernfthaft, machte
wenig Worte, frug mich wegen der Südländer, über deren
Einfalt er fleh freute, und hörte die meifte Zeit zu, da
mich der Herzog befragte, in deffen Gegenwart wir uns
faft immer nur gefehen haben. Hätte ich vermuten können,
ja nur geahndet, daß Goethe Ihnen, mein Befter, fo liebst
los und ungerecht begegnen könnte, ich hätte doch auf
meine und feine Worte beffer acht gegeben. Allein ich
habe auch nichts gemerkt, das Unbilligkeit gegen Sie ver^:
raten hätte. Als ich Ihnen fchrieb, wir hätten viel von
I 7
98 J. G. Förfter. [198
Ihnen gefprochen, follte ich eigentlich gefagt haben, Ich
habe viel von Ihnen gefprochen; ich fprach von der Art,
wie wir bekannt wurden, wie fich Ihr Herz mir öffnete,
wie lange ich bei Ihnen blieb, und wie ungern ich Sie
verließ. Es war, indem wir aus des Landgrafen Antiqui=:
tätenfammlung in den Gafthof zurückgingen. Der Her?
zog war mit jemand anderen einige Schritte voraus. Goethe
hörte mir mit Teilnehmung und in Gedanken zu. Ich er?
zählte, daß Sie mir aus Woldemar vorgelefen hätten und
fagte, was mein Herz mir eingab. Ganz lakonifch gab
er zuweilen ein Ja! drauf, welches meinem Urteil feinen
Beifall zu erteilen fchien. Der erfte Teil ift nunmehr er?
fchienen, fagte er. Auch find, erwiderte ich, vom zweiten
Teile Bruchftücke im Mufeum erfchienen. — Daß er doch
nicht hat warten können] rief er aus; warum Bruchftücke?
Könnt' er's nicht ersparen, bis der zweite Teil ganz fertig
gewefen wäre? — Ich fagte etwas Gleichgültiges dazu;
mich dünkt, daß doch manchem die Stücke fchon viel
Freude gemacht hätten. Wir hatten eben den Gafthof
erreicht. Er hatte nur noch Zeit, zu fragen, ob ich kürz?
lieh Briefe gehabt und bald an Sie fchreiben würde? Ich
follte Sie doch von ihm grüßen. Nun fpeiften wir mit
dem Herzoge, und kaum war das Mittagseffen verzehrt,
fo fuhren fie ab. Faft fein Letztes war, den Gruß an Sie
zu wiederholen. Er nannte Sie noch immer Fritz.
[198.] September 27. Johanna Schloffer an F. H. Jacobi.
Goethe fagte mir gleich eine halbe Stunde nach feiner
Ankunft von Deinem Briefe an ihn, den er in Frankfurt
erhalten hätte, und was Du ihm darinnen vorwirfft; näm?
lieh Dinge, die durch den Weg der fchändlichen Klat?
fcherei Dir endlich zu Ohren gekommen find. Er er?
zählte offenherzig den ganzen Verlauf: daß er manche
mutwillige Parodie nicht gefchrieben, aber mündlich über
. Deinen Woldemar gefchwatzt habe. Sagte : So fchöne
Dinge, fo viel großer, herrlicher Sinn auch darin fei, fo
könne er nun einmal für fich das, was man den Geruch
diefes Buchs nennen möchte (anders wiffe er fich nicht
auszudrücken), nicht leiden. Auch habe er, wie lieb Du
ihm feift und wie ungerne er Dir etwas zuleide fagen oder
tun möchte, dem Kitzel nicht entgehen können, das Buch,
zumal den Schluß desfelben, fo wie es ihm einmal auf?
gefallen fei, zu parodieren, nämlich, daß Woldemarn der
200] Emmendingen - Bei Bonn. 1779. 99
Teufel hole. Man dürfe nur ein paar Zeilen ändern; fo
fei es unausbleiblich und nicht anders, als der Teufel muffe
ihn da holen. Er fprach mit ganz arglofem Wefen da?
von und fuchte mir zu bedeuten, was dergleichen lau?
nichtes Getreibe, in ihm, für eine abgefonderte Sache
fei ufw. Er fchwur darauf, daß er wünfchte, Du wäreft
mit zugegen gewefen. Du felber hätteft mit eingefchlagen,
mutwillig im Abftrakten die Sache einmal zu nehmen. Nur
möchte er (ich nicht gerne fchriftlich in dergleichen Expli?
kationen einlaffen, befonders nach dem, worauf Dein
Brief gefiellt wäre. Doch fchrieb er Dir vielleicht, viel?
leicht noch bei mir. Ich befiand darauf, es fei Pflicht, er
muffe; — das gefchah nun freilich nicht. Indeffen fchien
ihm Dein Verdruß über die Sache aufrichtig leid zu fein.
Wie peinlich diefe Neuigkeiten für mich waren, kannft
Du denken. Goethe kann gut und brav, auch groß fein,
nur in Liebe ift er nicht rein und dazu wirklich nicht
groß genug. Er hat zu viele Mifchungen in fich, die
wirren, und da kann er die Seite, wo eigentlich Liebe
ruht, nicht blank und eben laffen. Goethe ift nicht glück?
lieh und kann fchwerlich glücklich werden.
[199.1 Oktober 17. N. A. Kirchberger.
Mit Goethe habe eine intereffante Unterredung von
1 \'o Stunden auf dem Lande ganz allein gehabt. Ich be?
rührte einige von feinen Saiten, die mit den meinigen
übereinftimmten, hierauf blitzte er mit eigenen Begriffen
um fich her, die aufeinander folgten wie Wetterleuchten
an einem Sommerabend. Ich konnte ihm mein Herz über
die wichtigften Gegenftände öffnen. Er ift aber nur Goethe,
wenn man ihn allein hat; bei feinem Fürften ift er ein
ganz anderer Mann.
[200.] Oktober 17. N. A. Kirchberger.
Goethe verurfachte mir viel Vergnügen. Beim An?
laß meiner herzlichen Abneigung gegen die Berliner haben
wir von Religion gefprochen; er ift über die gewöhnlichen
Vorurteile fo weit hinweggefetzt, daß er fogar eine befon?
dere Hochachtung für Perfonen trägt, die vom gemeinen
Haufen der Gelehrten und Ungelehrten verachtet find,
und die ich äußerft hoch fchätze. Wir fprachen auch von
der Macht der menfchlichen Seelen nicht nur in Rückficht
ihrer Größe, fondern infolge eines wirklichen Ausfluffes,
I 7*
100 . N. A. Kirchberger. [201
der in die Umfiehenden auch ohne ein Wort zu fprechen
wirkt. Hierüber war er zu meiner Verwunderung auch
meiner Meinung, fo daß ich bei diefer Übereinftimmung,
die ich wirklich in feinem Innerften antraf, ihm alle meine
Gedanken auffchließen konnte. Er war auch fo gefällig,
mir feine Art mitzuteilen, wie er an einem Gegenftand
arbeitet, wie außerordentlich lang er folchen in feinem
Bufen wärmt, bis er ihn der Welt darftellt. Dies ift auch
das Mittel, um fein ganzes Zeitalter mit fich fortzureißen.
[201.] November 26. J. J. Bodmer.
Gefiern den 20. [sie] November ein wenig nach 9 Uhr
bracht' Lavater Weimarn und Goethen mit noch einem
Edelmann zu mir. Der Herzog fagte gleich, daß er käme,
den Vertrauten Homers zu begrüßen. Goethe küßte mich,
fragend, ob ich Goethen noch kennte. Beide fagten mir
viel Fleurettes über meinen Homer. Goethe: er fei ihr
Reifegefährte; er habe die Odyffee ex profeffo auf dem
Lemanifchen See gelefen, fich mit Ulyffes auf die Be::
fchwerden in den Alpen und der glaciers zu ftärken. Auf
den Alpen habe er den Homer den Alpinern vorgelefen.
f^ Herr von Wedel, des Herzogs Günfiling, laffe fich
laut vorlefen. Erft jetzt habe man ihn, und wiffe, was
er fei. Leute von allen Ständen und jedem Alter können
ihn verfi:ehn. Man muffe Griechifch können, Stolbergs
Homer zu verfi:ehn. ^^
Stolbergs Ilias und die Abfchrift des Gedichtes von
den Nibelungen lagen auf meinem Pult. Ich fagte, Goethe
möchte mir Zeugnis geben, daß ich in Stolbergs Ilias ftu:;
dierte; ich könnte ihn doch nur per intervalla lefen, er
fchlüge mich zurücke. Der Graf muffe mir diefes ver:^
zeihn, wie ich ihm verzeihe, wenn mein Homer ihn, oder
er felbft diefen hinter fich würfe. Es fei natürlich, daß
der meine ihn fo wenig annehme als der feine mich.
^ Warum hat Klopftock fich nicht an Homer gemacht,
der Mann war dafür nicht zu groß, der fo klein war,
für feine Zefianifche Rechtfehreibung in Enthufiasm zu
kommen. ^ Goethe fagte: Klopftock habe eine Buch^
druckerei; er möchte durch feine chimärifche Orthographie
die fchon gedruckten Bücher unnütze machen, damit er
fagen könne, er drucke nur ungedruckte Bücher. Lava^
ter fagte, Klopftock follte die Penfion von dem Markst
grafen nicht mehr annehmen, nachdem er nicht in Karls^
201] Zürich. 1779. 101
ruhe leben wollte. Goethe mit einiger Wärme: er wäre
fo gewohnt genug, daß man Penfionen in der Entfernung
nehme. Der Markgraf habe Klopftock mit Etikette und
mit Aufwartungsdienften exzediert, daß es jedem braven
Mann unausftehlich fein würde. Er verwunderte fleh, da
wir ihm fagten, daß Klopftock ein Verlangen habe, ein
Bürger in Zürich zu werden. '^ Dann bat ich den Her^
zog, daß er Veldigs Eneas, der in der Sachfen:; Gothas:
ifchen Bibliothek liegt, vor dem Untergange retten möchte.
Lavater fchrieb es auf Goethens Tabletten. ^ Ich klagte
über die Barbarei der Abtei St. Gallen, und Goethe er^
zählte mit Wärme von einem Griechen, der gewußt habe,
daß in einer Klofterbibliothek eine alte griechifche mem^
brana lag, die Bücher feien in einem Chaos gelegen, mit
Not haben die Mönche ihm erlaubt, fie zu erlefen, auf::
zufiellen und zu katalogifieren. Und fo habe er den Code
aufgefpürt. Als wir ftanden, ftellte Lavater Goethe vor
mich und fagte, ich folle die Augenbraunen, die Stirne,
den Mund (alles in feinen Kunftwörtern) begucken, ob
ich darinn nicht einen böfen Menfchen erblicke. Ich gab
die Antwort: Ich fehe da nichts Fürchterliches, ich hielt
ihn doch für tapfer und ich freute mich, den tapfern Mann
zum Freunde zu haben. Zuweilen gefchähen mir Unfugen,
die mir einen Befchützer notwendig machten. Goethe folle
mein Ritter fein. Der Herzog redete viel, ganz fanft und
vertraulicher, als einer unfrer Zunftmeifter, Goethe weniger
und ernfthaft. ^ Ich fagte zu Lavater, er würde fie doch
auch zu Herrn Chorherr Geßner führen. Goethe fuhr
auf: Zu Geßner! Lavater: Nicht zu dem Poeten, zu dem
Phyfikus. Von der Noachide, der Kalliope ward kein
Wort gehört. Das verdroß mich ein wenig, doch machte
es mir den Gefchmack diefer Herren verdächtig. Ich habe
ihnen auch gefagt, daß ich viel Tinte vergoffen habe, doch
nicht in der erften Begierde nach großem Namen, mehr
zur Befchäftigung; man habe in achtzig Jahren viele un^s
befchäftigte Stunden. Alfo hab' ich meinen Lohn emp^
fangen. Wenn meine Werke doch nützten oder beluftig^
ten, fo hab' ich keine hörnerne Fibern, daß es mir nicht
Freude mache. Es war nicht weit von 11 Uhr, als fie
von mir fchieden. Sie gingen in der Fortifikation nach
dem Wolfbache. Abends desfelben Tages fchickte ich
Herrn Lavater ihnen zu übergeben: Apollons Argonau^^
tica dem Herzog; die Literarifchen Nachrichten und Evad^
I
102 J. J. Bodmer. [202
nen und Kreufa Goethen. Auch erwähnte diefer nicht
mit einer Silbe der politifchen Dramen, die ich ihm im
Sommer 1776 zugefertigt hatte.
[202.] November 26. J. J. Bodmer.
Campens Robinfon lag auf dem Pult, ich ließ mer^:
ken, daß ich wenig daraus machte, und mehr tadeln würde,
wenn ich nicht fürchtete zu beleidigen. Goethe fagte, daß
ich mich nicht fcheuen dürfte; alfo fagte ich, daß Campe
den Kindern kaum mehr als eine Wiffenfchaft von Wör^
tern beibrächte ufw. Von Wieland, Klopftock, Stolberg
ward nicht gedacht. Ich gab Goethen das Denkmal König
aufgerichtet*, nett ins Reine gefchrieben, aber bat ihn,
es für lieh im Pult zu bewahren. Er nahm es mit Emp:=
findfamkeit an, und fchob es in den Bufen. Dann bat
ich, Herrn Lavater vorzuftellen, daß er fich durch unauf?
hörliches Kanzelbefteigen, oft vom Pferde auf die Kanzel,
den Körper vor der Zeit abnutzte; bei mehr Langfam:;
keit und Ausruhen würde er mehr Jahre leben und mehr
ausrichten; Goethe fagte, daß Lavater einmal fo gemacht
fei. Das war fchier alles, was er redete. Aber er be?
ftätigte mein Gefchwätze mit Zuwinken und ftillem Bejahen.
[203.] Dezember 13./15. J. Hartmann.
Den 13. Dezember 1779 ging ich nach Stuttgart und
traf bei meinem Vetter Hofi und Domänenrat Georg Hart=
mann den Herrn Geheimrat Goethe von Weimar, der
eben von Zürich gekommen war. Über eine Stunde fprach
ich mit ihm. Er fagte von Lavaters unermüdeter Tätige
keit. Wenn der Tag mehr als 24 Stunden hätte, er wirkte
in einem fort. Am 15. kam Goethe auch mit feinem Her?
zog nach Ludwigsburg und noch des Nachts auch in mein
Waifenhaus. In meiner Schule fiellte er mich dem Her?
zog vor als des verfiorbenen Profeffor Hartmanns Vater.
Goethe freute fich über meinen kleinen Immanuel Israel,
von dem er meinte, er habe einen Profefforenkopf.
[204.] Dezember 13./ 15. J. Hartmann.
Wir redeten von Hahn und feinen Werken. Goethe
war fehr begierig, Hahn zu fehen und zu fprechen. Beim
Abfchied war er herzlich, bot mir, da ich ihm die Hand
küßte, das Geficht, küßte mich — ich ihn.
* Eine kleine Schrift Bodmers.
206] Mannheim. 1779. 103
[205.] Dezember 22. Louife Piftorius geb. Schwan.
Dann erinnere ich mich wieder, wie Goethe auf der
Reife nach Italien* durch Mannheim kam und von meinem
Vater zu einem flotten Effen eingeladen ward, wobei noch
mehrere Gelehrte, u. a. auch Profeffor Heyne aus Göts;
tingen war. Diefer und fein Nebenmann vertieften fich
fo fehr in gelehrte Debatten und Rheinwein, daß dem
einen die Perücke auf dem rechten Ohr, dem andern auf
dem linken faß, was mich fehr gaudierte und ich wünfchte
fehnlich, daß doch Goethe auch eine Perücke haben möchte;
aber der unterhielt fich mit meiner Schwefier von Werthers
Leiden. Als er, ich glaube, erft nach einigen Jahren wieder
zurückkam, war es derfelbe Fall, daß er bei uns fpeifie,
und zwar in Gefellfchaft von Knigge und Meißner, welche
beide Herren fchrecklich abflachen gegen den lebendigen
und gewandten Goethe.
*
[206.] Dezember 22. A. W. Iffland an feinen Bruder.
Den 21. kamen Goethe und der Herzog von Weimar
hier in Mannheim an. Sie fahen Die Ehefcheuen. Den 22.
war Goethe zu Ehren freier Eingang für jedermann und
Clavigo. Er ließ um 4 Uhr vor der Komödie mich zu
fich bitten: Liegt Ihnen etwas daran — fo fagte er — fo
verfichere ich Ihnen meine ganze Bewunderung. Mit fo
viel Wahrheit und Delikateffe fah ich feit Ekhof nicht
fpielen. Folgen Sie meinem Rat, fpielen Sie entweder
oder: Immmer das Äußerfte, das niedrigft Komifche und
höchfte Tragifche. Es ift ein odieufer Kerl, der einmal
Zeug zu was Außerordentlichem hat, und bleibt im Mittel,
Uff! — und dabei fpannte er jede Nerve, hinauf! hin#
auf! oder ganz im Drecke. Bei Gott, ich wundere mich,
daß Sie fo jung find und Refignation genug haben, Alte
zu fpielen. Wenn ich vierzehn Tage dabliebe, fo wollte
ich Ihretwegen den Cid von Corneille umarbeiten, fo ge;:
fallen Sie mir. Adieu. Ich empfehle Ihnen den Carlos.
— Ich fprach ihn den Tag nach Clavigo bei Herrn von
Dalberg, und er war mit meinem Carlos fehr zufrieden.
Ein bißchen zu gefchwinde wäre ich gewefen, meinte er.
Den 23. fahe er den Baron Abslut in den Nebenbuhlern
* Ift ein Irrtum. Auf dem Wege nach Italien kam Goethe
nicht durch Mannheim, wohl aber auf dem Rückweg von der
zweiten Schweizerreife.
I
104 A. W. Iffland. [207
von mir. Nach der Vorftellung kam der Herzog und
Goethe auf das Theater; der Herzog fagte mir fo wie
Goethe viel Schönes. Gehen Sie ftracks fort auf Ihrer
Bahn, Sie find den Beifall wert, den Sie überall erhalten
muffen. Adieu! Adieu 1 Hier gab er mir die Hand. Leben
Sie glücklich] Denken Sie zuweilen an Goethe: er hat
Sie lieb. — Daß ich mir vor Freude hätte einen Raufch
trinken mögen, kannft Du denken. Goethe, Goethe fagte
mir das! — Eine Anekdote! Es war eine Seitentür auf
dem Theater, durch die der Herzog und fein Gefolge
vom Theater ging. Goethe, als ob er mechanifch überall
Original wäre, ging fchnell hinein und kam eher als der
Herzog. In der Art, mit der er es tat, fteckte das Sonder?
bare. ^ Goethe hat einen Adlerblick, der nicht zu er?
tragen ift. Wenn er die Augenbrauen in die Höhe zieht,
fo ifi's, als ginge der Hirnknochen mit.
1780.
[207.] Anfang d. J. Wieland an Merck.
Könnt Ihr Euch leicht vorftellen, daß der glückliche
Ausgang diefer Reife, des Herzogs herrliches Wohlbefinden
'^ bei männiglich einen großen Effekt gemacht und Goethen
in ein fehr günfi:iges Licht gefi:ellt hat, und dies um fo
mehr, da auch er multum mutatus ab illo zurückgekommen
und in einem Ton zu mufizieren angefangen hat, in den
wir übrigen mit Freuden, und jeder fo gut als fein In?
ftrument und feine Lungenflügel verfi:atten, harmonifch
einzufi:immen nicht ermangeln werden.
[208.] Februar. Wieland.
Die Anekdote Müllern den Maler betreffend, wünfche
ich '^ nicht beftätigt zu hören. Katholifch mag er immer?
hin geworden fein, das war bei einem Menfchen wie er,
mir faft natürliche Folge feines Aufenthaltes in Rom und
der Magie, womit dort das Äußerliche des Religions?
wefens auf Sinne und Einbildungskraft wirkt. Aber ein
Mönch zu werden ift ein toller Einfall. Goethe will nichts
davon glauben, weil er noch im Oktober einen fo räfo?
nablen, gelaffenen und gefcheiten Brief von Müllern be?
kommen hat, daß ihm gar nicht begreiflich fein will, wie
ein Mann binnen fo kurzer Frift zu einem folchen Grade
212J Weimar. 1780. 105
von demense herabfinken könnte. Übrigens möchte wohl
zuverläffig wiffen, ob es wahr ift, daß er von Serenissimo
Palatino fo gänzlich verlaffen werde, und entweder gar
keine oder doch keine zulängliche Penfion erhalte.
[209.] April. Herzog Karl Auguft an Merck.
Goethe hat in Leipzig, wo er mit mir etliche Tage
gewefen, verfchiedene Ä. Dürers, Originale und Kopien,
gekauft; erftere für Luife, letztere für mich. Ein Original
hab ich erwifcht, den Kurfürft Friedrich von Sachfen. ^
Den Vorfall, welcher Ihnen mit Manco, die Kopieen be::
treffend, widerfahren ift, hat man hier allgemein bedauert,
nur Goethe hat gefchimpft, daß fich ein fo alter Fuchs
fo hätte Überliften laffen. Goethen feine A. Dürers find
zum Teil von ihm.
[210.] April. Wieland an Merck.
Goethe hat fich mir von diefer Seite in der Anevf
kennung des Oberen in dem fchönften Lichte gezeigt, und
ich kann Dir nicht ausdrücken, wie gänzlich ich mit allem,
was er tut und fagt und kurz mit feiner ganzen Art zu
fein zufrieden bin. — Daß ich in Goethens öffentlichem
Benehmen eine aojfpQoavvri wahrnehme, welche die Gcss
müter nach und nach beruhigt, und mir Bürge ift, daß
noch alles fo gut bei uns gehen wird, als man's ratio^^
nabiliter verlangen kann.
[211.] (April.) F. H. Jacobi.
Knebel verficherte, das Lob, das Goethe dem Oberon
erteilt habe, fei aufrichtig gewefen. Aber vor Nathan dem
Weifen fei er ordentlich profterniert. Er werde nicht müde,
ihn als das höchfte Meifterftück menfchlicher Kunft zu
bewundern und zu preifen. Leffing felbft hatte mir fchon
gefagt, daß man ihm von Weimar aus große Komplimente
über fein Stück gemacht.
[212.] April. Wieland.
Seine Befchreibung ihres Zugs durch Wallis über
die Furka und St. Gotthard, womit er uns vor kurzem
bei der Herzogin Mutter regahert hat, ift mir in ihrer
Art fo lieb als Xenophons ylvaßaavg. Es war auch ein
eigentlicher Feldzug gegen alle Elemente, die fich ihm
I
106 Wieland. [213
entgegenftellten. Das Ding ift eines von feinen meifter^
hafteften Produkten und mit dem ihm eigenen großen
Sinn gedacht und gefchrieben. Die Zuhörerinnen en?
thufiasmierten (ich über die Natur in diefem Stücke, mir
war die fchlaue Kunft in der Kompofition noch lieber,
wovon jene nichts fahen. ^ Das opus ift noch nicht ganz
fertig, und nach dem, was er noch hat merken laffen, wird
er noch viel Intereffantes teils einfchieben, teils hinzutun.
[213.] Juni. Herzogin Amalia an Merck.
Durch meinen Sohn und Goethe hab ich fonderbare
Dinge von neuerlichen Begebenheiten* bei Ihnen in Darm:;
ftadt vernommen; hätt' ich euch doch das kaum z\x^
getraut.
[214.] Juni. Herzog Karl Auguft an Merck.
Goethe fagt, er hätte einmal, er wüßte nicht wo, von
einem Everding fingen hören, diefer aber wäre vermutlich
in dem großen Darmfiädter Erdbeben** mit verfchüttet
worden.
[215.] Auguft 14. J. A. Leifewitz.
Zu Goethen, der mir doch ungemein gefiel. Ich
hatte heute Gelegenheit, feine Phyfiognomie noch genauer
zu betrachten: fchöne braune Augen und ein hübfches
Obergeficht, nur um den Mund einige unangenehme Züge.
Wir fpeifi:en in einem Zimmer, das mit einigen antiken
Statuen und mit Naturali enfchränken befetzt war; eine
Statue des Apollo fehlen mir nur für das Zimmer zu groß.
Goethe zeigte in feinem Betragen die größte Sim?
plizität, die ich ebenfo erwiderte. Ich fehlen ihm doch
fehr zu gefallen; er verficherte mich zu verfchiedenen
Malen, es fei ihm fehr lieb, mich zu kennen und das
letztemal vor dem Marfi:alle mit einem zärtlichen Hände;:
druck. — Die Konverfation war meiftens fehr ernfi:haft
und es dauerte lange, ehe ein Wort von Literatur vorfiel;
er wiederholte, was ich fagte, oft mit Beifall. Von den
Gegenden um Weimar — von einer Unterfuchung der
Mineralien im Lande — von Armenanftalten — Goethe
hat auf feine Kofi:en im Weimarifchen Verfuche gemacht.
* Wohl der Sturz des Minifters v. Mofer.
** Bezieht fich wohl auch auf die Moferfche Affäre.
216] Weimar, 1780. 107
mit denen er zufrieden war — von Schlieftedt — von
Herder — von dem Alter der Welt und der Narrheit,
diefes Alter auf 6000 Jahr zu fchätzen — von einigen
Steinarten im Weimarfchen — von Gärten und vom Land::
leben. — Goethe fchätzte fich fehr glücklich, daß er außer
der Stadt lebe. Er fagte, es beruhigte ihn ungemein, wenn
er noch fo verdrießlich nach Haufe käme und fähe, daß
alles noch auf feiner Stelle ftände — von dem immer Neuen
in der Natur; — ich meinte, daß es gewiffe Partien gäbe,
die fich nur einen Tag im Jahre ausnehmen, wie man
vordem Berceaux angelegt hätte, worin die Sonne alle
fahre nur einmal fchiene — von meiner Bedienung — von
Voltaire, den er ebenfo fehr, als ich, als ein Individuum
abltrahiert und den Einfluß auf fein Zeitalter bewundert;
— er billigte meinen Gedanken fehr, daß Voltaire nichts
verfalzen und nichts verzuckert habe — von Leffing, mit
der größten Achtung, insbefondere wegen feines Nathan
und feiner theologifchen Kontroverfen — von der Un^
fähigkeit der deutfchen Nation, Laune zu empfinden —
er fagte, wenn man ihnen eine Blume zeigt, fo fragen fie
gleich: Riecht fie? Kann man Tee davon trinken? dürfen
wir es nachmachen? Goethe hatte einen Brief zu fchreiben,
ließ mich deswegen einige Zeit allein und begleitete mich
dann nach dem Marfi:alle, weil er zu einer Komödienprobe
nach Ettersburg will.
[216.] Vor September. K. L. v. Knebel an Lavater.
Etwas weh tut es mir, daß Sie Goethen nicht kennen.
Was foll ich fagen? Ich weiß es wohl, er ift nicht allzeit
liebenswürdig. Er hat widrige Seiten. Ich habe fie wohl
erfahren. Aber die Summe des Menfchen zufammenge?
nommen, ift unendhch gut. Er ift mir ein Erfi:aunen, auch
felbft von Güte. — Der Durchreifenden keiner fieht ihn
— und doch urteilt jeder. In Weimar felbfi: wird er kaum
gefehen. Noch zur Stunde fchwör ich, daß feine Richtung
grad, feine Abfichten rein und gut find. — Verkannt muß
er werden, und er felbft fcheint drinn zu exifi:ieren. Die
Schönheit, die fich unter der Maske zeigt, reizt ihn noch
mehr. Er ifi: felbft ein wunderbares Gemifch — oder eine
Doppelnatur, von Held und Komödiant. Doch prävaliert
die erfte. — Er ift fo biegfam als einer von uns. Aber
Eitelkeit hat er noch etwas, feine Schwächen nicht zu
zeigen. Da läßt er denn gemeiniglich leere Lücken, oder
I
108 K. L. V. Knebel. [217
ftellt einen Stein davor, oder, wenn er fie fehen läßt,
fchlägt er mit Fäuften zu, daß man fie ihm nicht berühre.
— Wenn er's nicht fagt, dann hat er feine Freunde am
liebfien. Vor allen Sterblichen liebt und ehrt er Sie. Wenn
Sie den Herzog lieb haben muffen, fo bedenken Sie, daß
ihm Goethe zwei Drittel von feiner Exiftenz gegeben!
Noch eins zu Goethe! Er ift weitfehend, vielleicht
zu weitfehend zu feinem Stand — und dann oft wieder
zu nah. Dies verwirrt den Blick des andern. Er fieht
Dinge in Jahren kommen, die man gegenwärtiger glaubt,
und holt andere aus der Ferne herbei. Dies Hegt in
feinem eigenen Gefühl von der Reife. Auch hat nie;:
mand leicht genugfamen Unterricht von der Befchaffen^:
heit feines Hofes und feines Zuftandes darin. — Die Flügel
find ihm noch, durch das unvermeidliche Schickfal, wie
andern, fehr gebunden. #
[217.] Oktober (14). Herzog Karl Auguft an Merck.
Ihre Kupfer find angekommen. Noch fah ich fie
nicht; ^ Goethe fagte, die impudica wären vortrefflich.
Auch will er fie schon nachmachen, id est nachzeichnen.
[218.] (November.) Wieland an Merck.
Indeffen danke ich Dir nochmals für Dein angefangenes
Eulogium von Kaffel und feinem Fürfi:en. Daß das Portal
daran fehlt, laß Dich nicht verdrießen. Goethe riß es ein.
Es ging damit zu, wie folgt. Ich war (vor etlichen Wochen)
bei der Herzogin Mutter, und hatte Dein Scriptum mit^
gebracht, weil ich weiß, daß ihr alles, was von Dir
kommt, Vergnügen macht. Ich las es vor und fie machte
fich felbfi: Spaß dabei mit allerlei Gloffen über die fchönen
Dinge, die Du dem Landgrafen fagfi:. Sie behauptete. Du
hättefi: expreß Deinen roten Rock dazu angezogen, wie
Du diefen Auffatz niedergefchrieben; fie könnte fich Dich
dabei nicht anders denken; und deffinierte uns dabei die
fchelmifche Miene vor, die Du dazu gemacht haben
müßteft ufw. ufw. Kaum find wir mit Lefen fertig, fo
kommt Goethe, und da er uns, c'est ä dire, die Herzogin
und meine Wenigkeit, letzteren mit einem Manufkript in
den Pfoten, fehr intriguiert fieht, will er wiffen, was wir
haben. Weil nun kein Geheimnis aus der Sache zu
machen war, fo wurde er gebeten, felbft zu fehen, was
es wäre, und das opus allenfalls pro secunda audientia
220] Weimar. 1781. 109
laut zu lefen. Das er dann auch tat. Wurde alfo eine
ordentliche akademifche Vorlefung daraus, und das Refultat
davon war, daß Goethe, nach verfchiedenen Deliberationen
und pro und contras, eine große Rabenfeder von der
Herzogin Schreibtifch holte, und einen armsdicken Strich
durch die Präfation machte, als von welcher er behauptete,
daß fie zwar an fich felbft witzig und maliziös genug fei,
aber das liebe Publikum auf den Kopf ftellen, verwirren,
den guten Effekt der folgenden Elogen ruinieren, folglich
alles Verdienft, welches E. E. fich dadurch, daß Sie ein:;
mal was Gutes von Ihrem Nebenmenfchen gefagt, gemacht
hätten, wieder vernichten würden. Da ich nun von der
Wahrheit diefer Bemerkung höchlich überzeugt war, auch
Goethe die Verantwortung diefer liberte grande, die wir
uns mit Deinem Werke genommen, wie billig, ganz auf
fich zu nehmen versprochen, fo blieb es bei dem ein^
helligen resoluto: das heilige Werk ohne Präfation, und
nach homerifcher, oder vielmehr trifi:ramifcher Weife in
medio actu anzufangen.
1781.
[219.] Mai Anfang. G. Ch. Tobler.
Goethe, der mir fonfi: weit, unverdient weit artiger
freundlicher, undrückender begegnet, als ich vermutet hätte.
Ich habe ein paarmal allein mit ihm zu Mittag gegeffen
und von feinen Sachen gibt er mir viel zu lefen und will
auch mein Überfetzungswefen fehen. Seine Vögel find
unnachahmliches ariftophanifch sublimes Persiflage. Seine
Befreiung von Holland bis an den letzten Akt fertig —
politifch voll herrlicher Gedanken. Auch hat er was
gefchrieben über des Königs in Preußen Schrift, das
mir aber am wenigften goethifch ift, in Form eines Ge^;
fprächs. /^ Goethe hat mich geftern Abend noch in die
Schule genommen, daß ich nicht zu viel aus ihrem Weimar?
wefen ufw. plaudern foll.
[220.] Mai. Herder.
Es ift ein junger Tobler aus der Schweiz hier, der
hier fehr fetiert wird; ein Sohn des alten Toblers, und
neuHch ein Überfetzer des Sophokles: ein feiner und
fcharffinniger Menfch, der mir aber kein Zutrauen in:=
I
110 Herder. [221
fpiriert, und den Goethe gar den kleinen Lavater genannt
haben foll. Das letzte glaube und begreife ich nicht, ob
ich gleich Lavater nicht perfönlich kenne.
[221.] Auguft Ende. G. Ch. Tobler an Lavater.
Goethe arbeitet in der Hoffnung eines Prinzen am
neuen Stücke. ^ Goethe hat gar große Freude mit Deinem
letzten Brief gehabt — und fich Deiner Unüberwindhch?
keit gefreut. Er hat mir draus vorgelefen und mit mir
drüber gefprochen. Aber Du läffeft mich nicht grüßen —
Du glaubteft wohl, ich wäre fort. Vom Pontius Pilatus
[von Lavater/ (agtQ Goethe: Nun, das muß man ihm laffen,
wenn er ein Gefäß findet — fo ruhet er nicht bis es voll
ift. ^ Goethes Taffo ift herrlich — in ganz andrer Manier
als die bisherigen Stücke, am meiften der Iphigenie ähnlich,
noch mehr betrachtend und gefprächartig. Vorgeftern war
fein Geburtstag. Die alte Herzogin ^--^ gab ihm eine fete
und Walddrama. Schröterin agierte. «^ Sie hat der Ver^;
zweifelte Goethe gar zu gut verwahrt, indem er ihr Kunft::
talent beftändig in Atem hält — und all feinen Witz
braucht, ihre Munterkeit zu nähren.
[222.] September 5. F. Munter.
Früh bei Goethe. Er wohnt herrlich in feinem Garten?
häufe. Ein edles Geficht, hat etwas Zurückhaltendes. Wir
fprachen von Stolbergs, von der Theologie, von Frei?
maurerei, gegen mich war er fehr hold.
1782.
[223.] Anfang d. J. J. D. Falk.
Um diefelbe Zeit wurde auch ein Liebhabertheater
in Weimar eröffnet, woran Goethe, Corona Schröter,
Bertuch, v. Einfiedel und andere, den lebhafteften und
tätigfien Anteil nahmen. Einft fpielte man den Eifer?
füchtigen Ehemann. Die Rolle des Liebhabers in diefem
Stücke war dem Herrn v. Einfiedel zugefallen. Unglück?
licherweife aber überfiel diefen kurz vor der Aufführung
eine Unpäßlichkeit. Die Rolle war in fo kurzer Zeit nicht
wieder zu befetzen und zum größten Verdruffe aller
übrigen Mitfpielenden ftockte nun das Ganze. Da fchlug
fich, mehr beherzt und gutmütig, als in folchen Dingen
223] Weimar. 1782. lU
gewandt, ein verwegener fächfifcher Rittmeifter ins Mittel
und übernahm die Rolle. — Als es aber zur Aufführung
kam, wurde alles anders, und der fo unternehmende Ritt::
meifter geriet in größte Verwirrung. Es wurde ihm fo
heiß vor der Stirn, als ob er vor einer Schwadron Hufaren
ritte und eben einhauen follte. Doch faßte er fich einiger^:
maßen und fpielte fort bis auf die Szene, wo er mit feiner
Geliebten von dem eiferfüchtigen Ehemann überrafcht und
mit einem Dolche erftochen wird. Hier vergaß er plötz^
lieh das Stichwort, ftockte und meckerte in einem fort,
und der eiferfüchtige Ehemann, den Bertuch fpielte, welcher
fchon lange mit feinem Dolche in drohender Stellung hinter
den Kuliffen wartend daftand, konnte ihm durchaus nichts
anhaben, weil das Stichwort noch immer nicht gefallen
war. Eben fing jener feine Rolle, Stichwörter und den
ganzen Plunder, wie Shakefpeare fagt, wieder von vorne
an, als Bertuch plötzlich, auf Anraten Goethes, der die
Direktion des Ganzen führte, auf die Bühne fprang und
dem Leben feines unglücklichen Nebenbuhlers durch einen
kräftigen Dolchftoß gleichfam ex abrupto ein Ende zu
machen fuchte. Wer aber nicht fallen wollte, war der
Rittmeifter. Vergebens, daß ihm Bertuch zu wiederholten
Malen ins Ohr raunte: Ins Teufels Namen, fo fallen Sie
doch! Er rührte fich nicht von der Stelle, fondern blieb
kerzengerade und völlig aufrecht neben feiner Geliebten
ftehen, den Umfiehenden, die ihm zuredeten, daß er fallen
follte, einmal über das andere verfichernd, daß fein Stich?
wort noch nicht gekommen fei; in diefer für den Direktor
ebenfofehr, wie für die Mitfpieler peinlichen Lage, faßte
der erftere den heldenmütigen Entfchluß und rief mit
donnernder Stimme hinter den Kuliffen hervor: Wenn er
von vorn nicht fallen will, fo itich ihn von hinten durch den
R[anze]n. Wir muffen ihn uns auf alle Fälle vom Hälfe
fchaffen. Er verdirbt uns ja das ganze Stück! Auf diefen
Zuruf ermannte fich der fonft fo tätige, jetzt aber etwas
unfchlüffig gewordene Bertuch. Stirb! rief auch er nun
mit fchrecklicher Stimme und führte zugleich einen fo
nachdrücklichen Dolchftoß in die Flanke feines Wider?
fachers, daß derfelbe, durch diefes Seitenmanöver außer
Faffung gebracht, diesmal glücklich zu Boden fiel. In
demfelben Augenblick aber erfchienen auch fchon vier
von Goethe abgefchickte handfefte Statiften, die beftimmte
Order hatten, den Toten, er möchte wollen oder nicht,
I
112 J. D. Falk. [224
beifeite zu fchaffen. Dies gefchah denn auch wirklich, und
zur größten Freude der Zufchauer konnte das Stück nun
ungehindert fortfpielen.
[224.] Anfang d. J. Loder an Bertuch.
Eben ifi Goethe hier und ich unterhalte ihn den gan^^
zen Tag. Er ift auch ein treufleißiger Auditor in allen
meinen Kollegiis und wir haben nachher herrliche Untere
redungen darüber.
[225.] Januar. J. A. Ludecus.
Am Freitag war Redoute ; Goethe und Herr von Stein
fiellten bei einer Repräfentation Zauberer vor, Frau von
Fritfch und Fräulein Voß wurden in Portechaifen hinter
ihnen hergetragen, baten, aus den Chaifen herausgehen
zu dürfen, welches gefchah, und die Zauberer tanzten mit
den beiden Damen. Hierzu kamen, nachdem die Zau?
berer vor Müdigkeit eingefchlafen waren, zwei Helden,
der Herzog und Herr von Schardt, tanzten um die ein^:
gefchlafenen Zauberer herum, letztere erwachten, wollten
mit Gewalt die Helden vertreiben, diefe zückten ihre
Schwerter, worauf fie bezaubert wurden, und auf ihrem
Platz unverrückt bleiben mußten ; die Tänzerinnen wandten
endlich die Zauberfiäbe den Zauberern aus den Händen,
befreiten die Helden, und die Zauberer wurden in den
Portechaifen hinausgetragen. Kleidung, Vorftellung und
Mufik waren fehr gut gewählt.
[226.] Januar 30. Luife v. Göchhaufen.
Komödien, Bälle, Aufzüge, Redouten ufw. das alles
hat fich gejagt. Auch Freund Goethe hat fein Goldftück
zu anderer Scherflein gelegt und auf der Herzogin Luife
Geburtstag, ^^ eine artige Comedie ballet geliefert, die
folgenden Inhalts war: Eine Fee und ein Zauberer hatten
einen mächtigen Geift beleidigt und ihnen wurde das Vor^
recht, ewig jung zu bleiben, geraubt. Sie wurden alt mit
allen Feen und Zauberern, die ihnen ergeben waren. Diefe
Strafe follten fie dulden bis in gewiffen Bergklüften der
große Karfunkel gefunden würde, dem das verzaubert
war, was ihnen allen fehlte. Diefen Stein zu erhalten,
vereinigten nun die Fee und der Zauberer ihre Macht.
Die Berggeifier wurden befchworen, Feen, Gnomen und
Nymphen taten durch wunderbare Zaubereien ihr Beftes
228] Weimar. 1782. 113
und das Abenteuer wurde beftanden, der große Kar^s
f unkel herbeigefchafft, geöffnet und — Amor fprang heraus.
In dicfem Augenblick gingen die großen Verwandlungen
vor fich und aus einem ganzen Theater voll alter Mütter*
chen und Gnomen wurden lauter fchöne Mädchen und
Jünglinge. Diefe Verwandlungen gingen fehr gut und
Dekoration und Mufik war recht artig. Das Ganze war
mit Gefang und Tänzen gemifcht und endigte mit einem
großen Ballet, wo Amor der Herzogin beihegende Verfe
gab, die Goethe nebft vielen Grüßen fendet, fich daran
zu erbauen. Den Freitag darauf war Redoute. Unter
anderm produzierten fich neun weibliche Tugenden, wor*
unter die Befcheidenheit die Verfe Nr. 2, auch von Goethen,
der Herzogin übergab. '^
Goethe ift fehr fleißig. Er hat neuerlich feinen Eg*
mont geendigt und arbeitet jetzt an einem neuen drama*
tifchen Werk, Taffo genannt, woran Sie große Freude
haben werden. Noch etwas ift diefen Winter zuftande
gekommen, wovon ich aber nichts fchreibe, weil ich's
vielleicht bald felbft fchicken kann, und wahre Effenz
für dero Magen fein wird. Überhaupt fcheint diefer
Freund bei der Austeilung eine gute Portion Ol mehr als
gewöhnlich in feine Lampe bekommen zu haben, da fie
oft bei trübem Wetter fo helle brennt und es ihr zur Zeit
der Not noch nie mangelte.
[227.] März 27. Luife von Göchhaufen an K. L. v. Knebel.
Für das mir gefchickte ABC^Buch danke ich gleich;;
falls, und kam recht zur gelegenen Zeit, ich hatte eben
ein kleines Konvivium, und da kriegten die bon mots
gleich Umlauf. Goethe, dem Sie's auch fchickten, meinte,
bei dem Buch kam' einem vor, als war' man fchon im
vollen Sommer, und doch keimten erft die Rapünzchen.
[228.] April 19/29. W. v. Diede.
Da mir der Geheime Rat Goethe diefesmal mehr
Offenherzigkeit und Gehör als ehedeffen gönnte, fo nutzte
ich die Gelegenheit, um mich mit ihm über landwirtfchaft*
liehe Sachen und über meine Ziegenberger Anlagen zu be?
fprechen. Er fand Vergnügen an meinen Befchreibungen
des Ortes, und ich zog ihn über die fernere Verfchöne*:
rung des Sophienplatzes zu Rate, auf welchem ich ein
drittes Denkmal zur Vereinbarung der beiden vorhandenen
I 8
114 W. V. Diede. [229
zu fetzen willens war. Er ging in die Sache willig ein,
teilte mir feine Gedanken mit und erbot fich, den Stein
unter feiner Aufficht bearbeiten zu laffen. Ich fchickte ihm
nochmals die Zeichnung vom Platze mit den vorhandenen
Veränderungen, und er ward mir bei der Ausführung der
Sache nützlich.
[229.] Herbft. J. A. Ludecus.
Die Herzogin Frau Mutter läßt den Tiefurtfchen Gar^^
ten nach dem Altan zu verlängern, und jetzt wird die
Mauer vom Haufe nach dem Garten abgebrochen, und
von der Seite des Gartens breiter gemacht. Goethe hat
die Idee angegeben. — Er hat die Herzogin mit dem
erften Heft feiner ungedruckten Sachen zu ihrem Geburts^
tag* befchenkt.
[230.] November 9. K. Matthaei an Lavater.
In Weimar einen Mittag vier Stunden bei dem kraft^
vollen Menfchen, ganz und nichts halb und nichts klein
in allem, was ihn umgibt und von ihm ausgeht — bei
Goethe — der von Gefchäften überhäuft, alles was — ge?
fchieht — dirigiert, und der mich indes mit der Freunde
fchaft aufnahm, die nur Männern zukommt. Ich war un^
endlich wohl bei ihm: Deinem Pilatus ging's nicht fo
wohl; daß er mit Dir Berge verfetzen will, habe ich nicht
nötig. Dir zu fagen, fo wahr fchätzt er Dich.
[231.] November 9. Luife v. Göchhaufen.
Gefiern Abend war Goethe bei mir, und kam mit
folgendem Bonmot in meiner Stube nieder.
Entfchuldigung.
Duverklageft das Weib, fie schwanke von einem zum andern.
Tadle fie nicht, fie fucht einen befiändigen Mann!
1783.
[232.] Februar 5/7. J. F. Eckermann mit Ch. Sutor.
Ich fragte ihn, ob Goethe in jener erften Zeit feines
Hierfeins auch fehr lufi:ig gewefen. Allerdings, antwortete
er, fei er mit den Fröhlichen fröhlich gewefen, jedoch nie
Der Herzogin Mutter am 24. Oktober.
233] Weimar. 1783. US
über die Grenze; in folchen Fällen fei er gewöhnlich ernft
geworden. Immer gearbeitet und geforfcht und feinen
Sinn auf Kunft und Wiffenfchaft gerichtet, das fei im all^
gemeinen feines Herrn fortwährende Richtung gewefen.
Abends habe ihn der Herzog häufig befucht, und da
hätten fie oft bis tief in die Nacht hinein über gelehrte
Gegenftände gefprochen, fo daß ihm oft die Zeit und
Weile lang geworden, und er oft gedacht habe, ob denn
der Herzog noch nicht gehen wolle. Und die Natur^^
forfchung, fügte er hinzu, war fchon damals feine Sache.
Einft klingelte er mitten in der Nacht, und als ich
zu ihm in die Kammer trete, hat er fein eifernes Rollbett
vom unterften Ende der Kammer herauf bis ans Fenfter
gerollt und liegt und beobachtet den Himmel. Haft Du
nichts am Himmel gefehen? fragte er mich, und als ich
dies verneinte: So laufe einmal nach der Wache und
frage den Poften, ob der nichts gefehen. Ich lief hin,
der Poften hatte aber nichts gefehen, welches ich meinem
Herrn meldete, der noch ebenfo lag und den Himmel un^
verwandt beobachtete. Höre, fagte er dann zu mir, wir
find in einem bedeutenden Moment; entweder wir haben
in diefem Augenblick ein Erdbeben, oder wir bekommen
eins. Und nun mußte ich mich zu ihm aufs Bette fetzen,
und er demonftrierte mir, aus welchen Merkmalen er das
abnehme.
Ich fragte den guten Alten, was es für Wetter ge?
wefen. Es war fehr wolkig, fagte er, und dabei regte
fich kein Lüftchen; es war fehr ftill und fchwül. — Ich
fragte ihn, ob er Goethen jenen Ausfpruch fogleich aufs
Wort geglaubt habe. Ja, fagte er, ich glaubte ihm aufs
Wort; denn was er vorherfagte, war immer richtig. Am
nächften Tage — fuhr er fort — erzählte mein Herr feine
Beobachtungen bei Hofe, wobei eine Dame ihrer Nach^
barin ins Ohr flüfterte: Hörel Goethe fchwärmt. Der
Herzog aber und die übrigen Männer glaubten an Goethe,
und es wies fich auch bald aus, daß er recht gefehen;
denn nach einigen Wochen kam die Nachricht, daß in
derfelbigen Nacht ein Teil von Meffina durch ein Erd*
beben zerftört worden.
[233.] Februar 9. Herder an J. G. Hamann.
Bei der Predigt am Geburtsfeft des Erbprinzen Karl
Friedrich hat fich unmittelbar nach dem Amen folgender
I 8*
1 1 6 Herder. [234
Dialogus in der Kirche in dem fogenannten Ratsftande
zugetragen :
Goethe: Was denkft Du zu der Predigt?
Wieland: (wie er wenigftens fagt:) Nun, es war eine
wackre Predigt.
Goethe : Er hat doch aber fo eine harte Manier, die
Sachen zu fagen. Nach folcher Predigt bleibt einem Für^
ften nichts übrig, als abzudanken.
(Ergreift feinen Hut und geht ftill aus der Kirche.)
Zweiter Dialogus bei der Herzogin Mutter.
Sie: Was denken Sie von der heutigen Predigt?
(Wieland ungefähr wie oben.)
Sie : Mich dünkt aber, daß fie doch vor diefen Tag
unerwartet war: beim Regierungsantritt oder folchen Ta^
gen könnte fie wohl gehalten werden.
Wieland: Je nun! weil der Herzog fonft nicht in
die Kirche kommt, fo hat Herder vermutlich den Augen^
blick ergriffen, da er ihn hatte.
Sie : Er follte freilich mehr in die Kirche gehen ufw.
Dritter Dialogus. Abends im großen Saale bei Hofe.
Herzog: Sind Sie heut' in der Kirche gewefen?
Wieland : Ja, Euer Durchlaucht.
Herzog: Wie hat Ihnen die Predigt gefallen?
Wieland: (wie oben.)
Herzog: Ich weiß doch aber nicht, was die Leute
bei einem Kind für erftaunende Hoffnungen haben. Es
ift doch nur ein Kind.
Wieland: Aus dem indeffen alles werden kann und
da hofft jeder, daß das Befte aus ihm werde.
Herzog: Übrigens war die Predigt ganz ohne Piques
(das ift ein Lieblingswort hier).
Wieland : O ganz ohne Piques : fie war, dünkt mich,
fo rein wie fie von der Kanzel kommen mußte.
Herzog: Es war eine brave Predigt.
[234.] April. F. v. Matthiffon.
Ich lernte Goethe zuerft an einem Tage perfönlich
kennen, wo feine Menfchlichkeit fich ganz heilig und rein
offenbarte. Er gab ein Kinderfeft in einem Garten un^
weit Weimar. Es galt, Oftereier aufzuwittern. Die muntere
Jugend, worunter auch kleine Herder und Wielande waren,
zerfchlug fich durch den Garten und balgte fich bei dem Ent^
decken der fchlau verfteckten Schätze mitunter nicht wenig.
255] Weimar. 1783. 117
Ich erblicke Goethe noch vor mir. Der ftattHche
Mann im goldverbrämten blauen Reitkleide erfchien mitten
in diefer mutwilligen Queckfilbergruppe als ein wohlge^:
wogener oder ernfter Vater, der Ehrfurcht und Liebe ge^
bot. Er blieb mit den Kindern beifammen bis nach Sonnen^
Untergang und gab ihnen am Ende noch eine Nafchpyra=:
mide preis, welche die Cocagnen zu Neapel gar nicht
übel nachbildete. Ein Mann, der an der Kindheit und
an der Mufik Ergötzen findet, ift ein edler Mann, wie
fchon Shakefpeare behauptet, welchen Satz mir auch die
Erfahrung mehr als einmal in das Buch meiner heiligften
Wahrheiten einfchrieb. Ich war eigentUch zudringUch,
bloß um dem Verfaffer von Werthers Leiden einen BUck
abzugewinnen und mir fein Bild bleibend in die Seele
zu prägen. Er war fehr artig und äußerte beim Anblick
der ihm wohlbekannten Uniform des damals noch blühen^
den Philanthropins zu Deffau: Sie find hier völlig in Ihrem
Elemente; ich bitte Sie zu bleiben, folange es Ihnen an^:
genehm ift.
[235.] April Ende. J. F. Blumenbach.
Goethe, den ich oft und in verfchiedenen Situationen
bei Hof unter den Herrfchaften, unter feinen Kollegen,
unter den Damen, vis ä vis von Wieland und mehrere
Male recht lange mit mir tete ä tete gefehen habe, da er
mich in feinen Garten und fpazieren führte ufw. hat alle
meine Vorftellungen, die ich mir nach anderer Erzählung
von ihm gemacht hatte, gar fehr übertroffen. Nichts den
Geheimen Rat Ankündigendes, Zurückhaltendes, fondern
ein gefetzter, aber ganz unaffektierter, äußerft zugänglicher
Mann; unglaublich offen, hell und doch tief penetrierend
in feinem Urteile; und doch überaus billig, gar nicht dezi^:
fiv, wie ich zumal in unferer Unterredung über Lavater
und Phyfiognomik, über Verfaffung der Jenaifchen Uni^
verfität ufw. gefehen habe. Überall viel gefunde, rieh?
tige und deutliche Philofophie und den reifen Gefchmack,
der auch in feinem Zimmer und artigen Garten ufw. durch?
gehends herrfcht. Wieland fchien mir daher in feiner
Gegenwart eine etwas abftechende, nicht fehr vorteilhafte
Figur zu machen. Sie duzen fich zwar und find herzlich
gute Freunde, aber man fpürt doch Goethes Superiorität.
Diefer fagte mir z. E. in Wielands Gegenwart, daß Villoi?
fon fo für Wieland eingenommen fei, rühre daher, weil
I
118 J. F. Blumenbach. [236
diefer fein lateinifches Gedicht auf die Geburt des Erb::
prinzen in gleichem Silbenmaß fo künftlich deutfch übers;
fetzt habe. Dafür habe ihn Villoifon zwar Chrifofto^
mus genannt, aber doch auch im Grunde mit König Mi^^
das verglichen, indem er gefagt, daß unter Wielands Hän^:
den alles zu Gold werde.
[236.] Mai. Herzog Karl Auguft an Merck.
Ich fammle keine fiandzeichnungen, fondern was ich
von folchen behalte, ift alles zum Nutzen und Frommen
meines Herrn Kammerpräfidenten, dem man mit fo etwas
ein bißchen Freude machen und feine Taciturnität etwas
entwurzeln kann. Einem Vogel wie ihm darf man keinen
gemeinen Hanf vorfetzen und obgleich der Both qua Both
ein Kapitallblatt fein mag, fo ift er's doch nicht verglei^s
chungsweife mit andern , für meinen Gefchmack und
Goethes Liebhaberei. ^ Goethe felbft hat zu feiner Nutzs:
nießung weiter keines als den Schellinks und den Hob;:
bema behalten.
[237.] Juni 2/6. Charlotte v. Stein an Sophie v. Schardt.
Ich fragte Goethen, ^ warum das Verteilen eines aus=
gefallenen Gehaltbetrags nicht bis zu meinem Bruder ge*:
langt wäre, aber weil zwifchen dem Minifter und der Auf;;
richtigkeit der Freundfchaft ein Abgrund gefetzt ift, fo
bekam ich Antworten, die ich nicht verftand, und fehe
wohl fo viel, daß es nicht dein Mann als eine Verach^
tung feiner Dienfte anzufehen habe, fondern daß ^ An;;
forderungen anderer auf Zulage ihm die feinige erfchwert
haben.
[238.] September 9/10. (Marie Antonie von Branconi.)
Schon dachte Frau v. Branconi wieder an die Ab:;
reife von Langenflein als fich Goethe mit Fritz v. Stein
bei ihr einftellte. Das Wetter war nicht günftig, fo lange
der große Dichter bei der fchönen Frau verweilte; fcherz;;
weife meinte er : Frau v. Stein, mit deren Eiferfucht er immer;;
fort zurechnen hatte, habe diefe Stürme und Wolken gefandt.
[239.1 September. F. W. H. v. Trebra.
Unfer romantifcher Weg führte uns vom Oderteich;;
dämme in einer, mehr auf Dienftleiftungen fich beziehen;;
240] Weimar. 1785. n9
den Richtung, auf den Rehbergersgraben herunter nach
Andreasberg, und fo, nah an der RehbergerkUppe vorbei.
Diefe hohe, nahe am Graben, ganz fenkrecht dafiehende
Felswand, war mit einem großen Haufen herunter ge^
ftürzter Bruchftücke von Tifch^s und Stuhl? und Ofen?
großen verfchanzt, von welchen fogleich viele zerfchlagen
wurden. Unter ihnen fanden fich mehrere von jenen
Doppelgefteinarten Granit, mit aufgefetztem, eingewachfe?
nem, dunkelblauem, faft fchwarzem, fehr hartem (Jaspis?
artigem) Tongefiein. Die können nirgends anders her?
kommen, als von jener Klippe da vor uns. Dahin muffen
wir! antwortete mein Freund Goethe. Behutfaml Vorfichtig!
fchrie ich ihm nach, die moosbedeckten fchlüpfrigen Fels?
stücke liegen gefahrvoll durcheinander, wir können die Beine
dazwifchen brechen. — Nur fort! Nur fort! antwortete er
voraneilend; wir muffen noch zu großen Ehren kommen,
ehe wir die Hälfe brechen! und wir kamen zufammen heran
an den Fuß der Felswand, wo wir nun gar deutlich den
Abfchnitt des fchwarzen Gefteins, auf dem blaß fleifch?
roten Granit in gar langer Linie fich hinziehend erkennen
konnten. Aber, unferer ziemlichen Größe ungeachtet, er?
reichen mit den Händen konnten wir fie doch nicht.
Wenn du dich feft hinftellen wolltefi, fagte mein Freund
zu mir; fo wollte ich jene in den Felfen eingewachfene
Strauchwurzel ergreifen, mich im Anhalten an fie, hebend
auf deine Schultern fchwingen, und dann würde ich den
fo kenntlichen Abfchnittsftrich, wenigftens mit der Hand
erreichen können. So gefchah's und wir hatten das feltene
Vergnügen, den merkwürdigen Abfchnittsftrich von hier
eingewurzeltem Urgebirge , roten Granit , und darauf
flehenden dunkel?, fafi: fchwarzblauen Tongefi:eins nahe zu
fehen, fogar mit Händen zu greifen.
[240.] November 10. Ch. F. Rink.
Früh um 9 Uhr ließ ich mich bei Herrn Geheimen
Rat V. Goethe melden, wurde auch gleich vorgelaffen. Er
empfing mich höflich, doch mit der Miene eines Gnädigen.
Ich faß neben ihm im Sofa; er fragte etwas Weniges von
meiner Reife; ich erkundigte mich, ob er nicht bald
wieder etwas wolle drucken laffen — er entfchuldigte fich
aber mit vielen Gefchäften. Dann fprachen wir etwas
von Herdern. Er fchien aber abbrechen zu wollen, denn
er fchwieg oder antwortete nur kurz mit einem gnädigen
I
120 Ch. F. Rink. [241
Ja! oder Nein! Ich merkte den Wink und brach auf,
da ich ungefähr eine halbe Viertelftunde in feiner Atmo?
fphäre atmete. Sein Anfehen ifi gar nicht einnehmend,
feine Miene mehr fein und Hftig, als leutfelig.
1784.
[241.] Anfang d. J. Herder.
Keine Schrift in meinem Leben habe ich unter fo
vielen Kümmerniffen und Ermattungen von innen, und
Turbationen von außen gefchrieben als die Philofophie
der Gefchichte der Menfchheif; fo daß wenn meine Frau,
die eigentlich autor autoris meiner Schriften ift, und Goethe,
der durch einen Zufall das erfte Buch zu fehen bekam,
mich nicht unabläffig ermuntert und angetrieben hätten,
alles im ccdtjg der Ungebornen geblieben wäre.
[242.] Anfang d. J. Wieland.
Goethe ^ fchickt fich überaus gut in das, was er
vorzuftellen hat, ift im eigentlichen Verftande l'honnete
homme ä la cour, leidet aber nur all zu fichtlich an Seel
und Leib unter der drückenden Laft, die er fich zu unferm
Beften aufgeladen hat. Mir tut's zuweilen im Flerzen weh,
zu fehen, wie er bei dem allen Contenance hält, und den
Gram gleich einem verborgenen Wurm an feinem In?
wendigen nagen läßt. Seine Gefundheit fchont er foviel
als möglich, auch hat fie es fehr vonnöten.
[243.] April Ende. Charlotte v. Stein an K. L. v. Knebel.
Herders neue Schrift der erße Teil der Ideen macht
wahrfcheinlich , daß wir erfi Pflanzen und Tiere waren;
was nun die Natur weiter aus uns ftampfen wird, wird
uns wohl unbekannt bleiben. Goethe grübelt jetzt gar
denkreich in diefen Dingen, und jedes, was erft durch
feine Vorftellung gegangen ift, wird äußerft intereffant.
So find mir's durch ihn die gehäffigen Knochen geworden
und das öde Steinreich. ^
Goethe hat mir gefagt, er laffe Ihnen in feinem Haus
ein Quartier zurecht machen, und da find Sie wieder in
meiner Nachbarfchaft.
[244.] Mai 27./Juni 2. Graf F. L. zu Stolberg an J. H. Voß.
Den 27. kamen wir an. Der kleine Schardt, den Sie
in Boftel gefehen haben, kam und brachte uns zur Bern?
245] Weimar. 1784. 121
ftorfen, wo wir [Friedrich u. Chriflian Stolberg] beide den
Abend zubrachten. Als wir bei Tifche faßen, kam Goethe,
blaß wie die Wand vor Freude und Rührung, war ganz
unfer alter Goethe von dem Augenblick an bis heute
morgen, da er uns verlaffen hat, weil er mit dem Herzog
auf den Landtag muß. Er ift weniger brausend, weniger
vTceQOTTlog (braufend ift nicht das rechte Wort), weniger
leicht aufflammend, gewiß nicht weniger feurig als er war,
und fein Herz liebevoll, immer fich fehnend nach mehr
Freiheit der Exiftenz, als Menfchen finden können, und
doch immer Blumen um den Pilgerfiab des Lebens windend.
Wenige Menfchen find fo liebevoll, fo rein, fo Liebe be^:
dürfend, fo hingerichtet aufs unfichtbare Ideal der ycalo-
xuyaOia, fo fich anfchmiegend an alles liebe und fchöne
der moralifchen und fichtbaren Natur. <^ Wir waren viel
in einem Hölzchen, in welchem Goethe ein Gartenhaus^
chen hat, wo er drei Jahr Sommer und Winter gewohnt
hat, jetzt aber nur dann und wann eine Nacht dort fchläft
und das er nicht alle Tage befuchen kann. Hinzugehen
muß man durch einen hohlen Felfengang an einem Strom,
einen allerliebften Gang. ^ Hier und da ftehen Infchriften
von ihm im Wäldchen, ich wollte fie für den Mufen^
almanach haben, aber das will er nicht. Sie follen noch
nicht ins Publikum kommen, um an ihrer Stelle mehr zu
wirken. ^
Goethe hat mich gebeten, ihm ein Stück aus dem
Äfchylos zu zeigen, der nach Homer auch fein Lieblingss^
dichter ift. Laffen Sie doch die Eumeniden abfchreiben.
[245.] Mai 27/Juni 2. Graf F. L. zu Stolberg.
Goethe war ganz der alte geift? und liebevolle Goethe
und fühlte fich um neun Jahre verjüngt. Er ift zwar
noch nicht alt, juft zwifchen meinem Bruder und mir,
aber acht Jahre fataler Gefchäfte find doch keine kleine
Zeit. ~ Goethe hat dicht bei der Stadt ein Gartenhäuschen,
in einem Wäldchen am Fluß bei Felfen. ^ Hier hat er
drei Jahre Winter und Sommer gewohnt. Oft ging er
im Mondenfchein durch die Felfengänge aus der lärmenden
Stadt zurück, oft im Winter über tiefen Schnee beim
Glanz der Fackel. Da fchwand ihm das Gewirr des Tages
fchnell und hohe Erfcheinungen gingen in ihm auf.
Mehrere Gefchäfte zwangen ihn, diefe fuße Einfiedelei
zu verlaffen.
I
A
122 K. L. V. Knebel. [246
[246.] September 19. K. L. v. Knebel.
Goethe kam mit dem kleinen Fritz Stein vorigen
Sonntag früh herüber, mich zu befuchen. Du kannft
glauben, daß mir der Befuch lieb war, zumalen Goethe
von Braunfchweig, wo er mit dem Herzog war, und von
einer wichtigen Harzreife zurückkam. Ich kann mich in
keine Sinnesart, wenn er mir zumalen gegenwärtig ift,
leichter fchicken als in die von Goethe; abwefend hat er
mir zuweilen wehe getan. Dies macht mir, zumalen jetzt,
viel Leichtigkeit im Umgang, durch fchnelles wechfels:
feitiges Verfiändnis. Er war wie gewöhnlich, gut, trak:=
tierte von feinen hiefigen Gefchäften, gab mir einige
Winke von dem, was er gefehen, bemerkt. Es kamen
Leute dazwifchen und nahmen das Intereffe der Untere
redung, doch ging es noch bis gegen Abend, der fchön
war, wie der Tag, und Goethe fuhr wieder zurück nach
Weimar.
[247.] September 25. F. H. Jacobi an Fürftin Gallitzin.
Goethe war, nach einem langen Herumreifen im Harz
eben nach Haufe gekommen, am 25. kam nun auch
Claudius. Aber Sie, liebe Amalia, kamen nicht. Nach
mir und meiner Schwefter trauerte niemand mehr darüber
als Goethe. Er hatte über Ihren großen Schattenriß eine
unfägliche Freude. Mein Vorfatz war, ihn nur eine Kopie
davon nehmen zu laffen; aber er eignete ihn fich fo eifrig
zu, daß ich unmöglich dagegen an konnte. Von der vor^s
nehmen Gefellfchaft haben wir uns nicht ftören laffen.
Ich weiß wohl, fagte Goethe, daß man, um die dehors
zu falvieren, das dedans zugrunde richten foll; aber ich
kann mich denn doch nicht wohl dazu verftehen. —
[248.] September. F. H. Jacobi.
Die Anmaßungen und Begierden der Menfchen find
fonderbar genug. Sie möchten gern mit den bloßen Augen
fehen können, ohne Licht; und noch lieber gar auch ohne
Augen. So, meinen fie, würde man erfi recht eigentlich,
wahrhaft und natürlich fehen. Nach dergleichen Vor?;
ftellungsarten das Unnatürlichfie als das Natürlichfie, und
das Natürlichfie als das Unnatürlichfie zu betrachten, das
heißt dann Philofophie. Ich erinnere mich, daß ich in
einer vermifchten Gefellfchaft einmal die Frage aufwerfen
hörte : wie das menfchliche Gefchlecht wohl möchte fort::
252] Weimar. 1784. 125
gepflanzt worden fein, wenn der Sündenfall nicht ein?
getreten wäre? Goef/ie antwortete fchnell: Ohne Zweifel
durch einen vernünftigen Diskurs.
[249.J September 27. Caroline Herder an K. L. v. Knebel.
Erquickt durch Ihre fchöne Seele, die mich über das
Alltägliche erhoben, fuhr ich vergnügt in die Mondnacht,
wo Goethe uns vom Zuftande der Seele nach dem Tode
erzählte. Nur ein wenig nicht fchwärmerifch genug für
das überirdifche Licht, in dem wir dahin gleiteten.
[250.] September. Herder.
Fritz Jacobi ift fehr gerührt weggegangen, infonderheit
von Goethe. ^ Goethe ^^ dem die Gegenwart der Fremden
auch gut getan hat ^ ift nur einmal hier bei mir ge?
wefen und vom Herzog und feiner Reife ift kein Wort
vorgefallen, weil ich mit ihm von politifchen Sachen fo
wenig als möglich fpreche, obgleich auch mir die dumme
Märe zu Ohren gekommen war.
[251.] Herbft. Herder an K. L. v. Knebel.
Goethe hat uns feine Abhandlung vom Knochen vor:?
gelefen, die fehr einfach und fchönift; d e r Menfch geht auf
dem wahren Naturwege, und das Glück geht ihm entgegen.
Wir haben indes neulich ausgemacht, daß er, alten Münzen
nach, einmal in Rom dictator perpetuus und imperator
unter dem Namen Julius Caefar gewefen; zur Strafe aber
nach beinahe achtzehnhundert Jahren zum Geheimrat in
Weimar avanciert und promoviert fei. — Laffet uns alfo
Fleiß anwenden, daß wir nicht noch ärger promoviert
werden. Mit Ihnen muß etwas Ähnliches vorgefallen
fein. Darum fitzen Sie jetzt auf dem Schloß zu Jena.
[252.] (1784.) Sophie v. La Roche.
Goethe '^ hatte den Kunftgeift des Herrn Klauer
mit zwei allerliebften Gedanken zu halb erhabener Arbeit
befeelt, da er ihm zwei Denkmäler für die frühverftor?
benen Prinzeffinnen von Weimar angab, von welchen die
erfte*, die nur einige Stunden lebte, als ein holdes, von
* Die ältefte Prinzeß, Luife Augufte Amalie, war geboren
am 3. Februar 1779 und ftarb am 24. März 1784; die zweite
wurde am 10. September 1781 geboren und ftarb denselben Tag,
danach muß es anftatt erite heißen zweite, und anftatt zweite
vielmehr erfte.
I
124 Sophie V. La Roche. [253
einem Engel auf die Erde gebrachtes, fchnell zurück^
eilendes Wefen erfcheint, deffen liebreicher Führer im
Vorbeifchweben den Schleier, welcher den aufblühenden
Engel deckt, ein wenig emporhält, um fie den Sterblichen
einige Augenblicke zu zeigen, die zweite, älter gewordene
aber in dem Moment, wo fie, vor der Erdkugel ftehend,
das weimarifche Land betrachtet, von der erften, welche
aus den Wolken hervortritt, bei der Hand gefaßt, von
diefer Aufmerkfamkeit abgezogen wird, fie aber ihrer
himmlifchen Schwefier, mit dem Finger auf Weimar
deutend, die andre Liand darreicht.
1785.
[253.] März Anfang. Herder an K. L. v. Knebel.
Ich lefe jetzt die Mem. de Scott, die trotz aller Merk*
Würdigkeiten der Authentizität felbfi für mich etwas lang*
weilig find. Haben Sie fie noch nicht: fo will ich Goethe,
von dem ich das Buch habe, an Sie erinnern, ob er wohl
meine Erinnerung nicht braucht. Er hat Sie fehr lieb,
und hat Ihnen einen Befuch zugedacht, der für Euch beide
erfreulich fein wird. Er trägt feinen Kopf und fein Herz
immer auf der rechten Stelle, und ift in jedem Schritt
feines Lebens ein Mann. Wie viele giebt's folcher?
[254.] (April Mitte). Herder.
Einige Stücke des zweiten Teils der Ideen haben mir
entfetzliche Mühe gekofi:et, ohne daß fie mich noch be*
friedigen; infonderheit das caput mortuum der Regierung,
an dem doch die ganze leidige Gefchichte, wie fie der
Herr Immanuel und das Publikum der Univerfalgefchichte
will, hänget. Den zweiten Auffatz darüber, nachdem ich
den erften felbft ad carceres verdammet, gab ich unferm
Freund Goethe zur Minifterialzenfur und er brachte ihn
mir mit der tröftlichen Nachricht wieder, daß füglich kein
Wort davon ftehen bleiben könnte.
[255.] Juni 23. K. L. v. Knebel
Wir gingen geftern elf Uhr mittags von Jena weg,
Goethe und ich. '^ Mein Reifegefährte war ftillern und
ruhigem Mutes als ich. Er fuchte viel vertrauliche Reden
hervor, und ich war dagegen nicht unfreundlich. Unter*
256] Neuftadt a. O. 1785. 125
wegs, als wir im Wagen hielten, zeichnete er das Tor
und die Einfahrt von dem Haufe des Herrn v. Schmers^
zing in Hummelshain, das er abends, als wir hier in Neu^s
ftadta. d. O. ankamen, gar hübfch mit der Feder ins Reine
brachte. Eine kleine Weile darauf, bei Gelegenheit einer
Pfeife Tabak, die ich aufs neue anfiecken wollte, bat er
mich, folches zu unterlaffen, weil er von dem Tabaks^
rauche Erhitzung fpüre. Ich unterUeß es, wunderte mich
aber über die leichte Reizbarkeit feiner Nerven von einer
fo geringen Urfache. Das Übel nahm bei ihm zu, und
er mußte fich wirklich mit Froft und einem befonders
krampfhaften Zuftande, der ihm ftarken Schmerz erregte,
zu Bette legen. Diefen Morgen hat (ich das Übel noch nicht
gegeben, und wir werden wohl heute hier bleiben muffen.
Ich bemerkte, wie Goethes Natur leicht bis auf den
letzten Augenblick fich unverändert erhält, dann von dem
leichteften Umftande Gelegenheit fich nimmt und ihn gänz^
lieh zu Boden wirft. Dies trifft in vielen Stücken bei
ihm ein.
[256.] Juni 24. K. L. v. Knebel.
Als wir in die Stadt hineinfuhren, fielen Goethen,
bei dem Regen, den wir hatten, die Pflafterfteine auf, ^
bei einem Spaziergange, den ich machte, nahm ich einen
der hier um die Stadt herumliegenden blaufchwarzen Steine
mit. '^ Goethe erkannte ihn aber fogleich, als ich ihn zu
Haufe brachte, für Lava. Die Erfcheinung in diefer Nähe
war uns etwas neu. Wir ließen einen Maurer fragen, ob
von diefer Art Steine Steinbrüche in der Gegend feien,
und wir erhielten zur Antwort: fehr viele. ^ Als ich ^^
auf dem Wege zum Tore war, begegnete mir ein Wagen,
worin Frau v. Seckendorf und Fräulein Caroline Uten fich
befanden. Ich kehrte alfo mit diefen zurück, und nun
fing unfer Aufzug hier an, eine romanhafte Malerei zu
bekommen. Zwei feingekleidete hübfche Damen wurden
von mir aus dem Wagen gehoben, und ich führte fie in
Goethes Zimmer, den fie fehen wollten. Goethes Schmerz
wurde vergeffen, und wir lachten wechfelweife über das
artige Anfehen der Zufammenkunft. '^ Es wurde ein kleines
Mahl gehalten, und, nach Damenweife, auch fogleich Tee
getrunken.
Die Dämchen waren artig und gefällig. Carohnchen
erzählte uns ihren goldenen Traum, wie fie in voriger
I
126 K. L. V. Knebel. [257
Nacht in Afrika gewohnt habe, wo die Häufer mit Gold
bedeckt gewefen feien. Die Seckendorf war füß verbind^
lieh und aufmerkfam artig. Sie band Goethen ein, aus
ihrer Tafche hervorgeholtes reinliches rotgeftreiftesSchnupf^s
tuch um den Kopf, und bat ihn nachher, folches zu be^
halten. Sie legte fich auch auf das Kanapee, auf den
Sitz des Kranken, und hüllte fich in feinen Mantel, und
war überhaupt anmutig. Da fie fahen, daß Goethen eben
nicht mit ihrem Hierfein länger dürfte gedient fein, ließen
fie einfpannen, und begaben fich den Abend noch nach
Schleiz.
f^ Als ich nach Haufe kam, fand ich Goethes Backen
gefchwollen, und alfo fein Übel inx Ausbruch. Dies freute
mich, und gab Hoffnung zu unferer baldigen Abreife;
doch blieb er diefen Tag zu Bette.
[257.] Juni 26/27. K. L. v. Knebel.
Goethes Befinden ifi: immer noch zu unferer Weitere
reife mißlich. Ich habe dem Hofrat Loder geftern ge^
fchrieben, und ich hoffe, daß er diefen Morgen kommt.
^ Goethe war geftern Abend fehr munter im Gefpräch,
hat aber diefe Nacht defto fchlimmer zugebracht. Wir
lafen und fprachen viel vom Hamlet des Shakefpeare, den
wir zugegen hatten.
Frau V. Hendrich und Fräulein Staff befuchten Goethe,
da ich nachmittags abwefend war. ^
Dann kamen Hofrat Loder und Büttner von Jena
herüber <^ nachdem wir erfteren konfultiert hatten, ftiegen
wir zufammen zu den Bafaltbergen. Nachmittags fuhren
fie wieder fort, und Goethe machte nachher mikrof kopifche
Beluftigungen. Er wird beffer, und vielleicht können wir
morgen reifen.
[258.] Juni 29. F. G. Dietrich.
Auf einem ziemlich hohen Berg, dem fogenannten
Ochfenkopf, fahen wir in einer nur wenig tiefer liegenden,
von grotesk geformten Felfen umfchloffenen Bergwiefe einen
purpurroten Fleck, der fchon in der Ferne Bewunderung
erregte. Goethe fagte: das ifi mir ein unerklärbares Phä:;
nomen, wir wollen hinabgehen und an Ort und Stelle
die Sache näher betrachten und genau unterfuchen. Da
wir an der Stelle ankamen, fanden wir einen Sumpf (Torf=:
moor) mit torfliebenden Laubmoofen dicht angefüllt. Auf
259] Neuftadt a. O. 1785. 127
diefen Torfmoofen hatte fich die kleine Drosera rotun^
difolia L. in ungeheurer Menge angefiedeh und die andern
Gewächfe verdrängt, fo daß fafi der ganze Torfmoor wie
mit einem Purpurteppich bedeckt erfchien. Die Wurzelst
Blätter diefer niedlichen Pflanzen breiten fich ftern:; oder
rofettenförmig auf den Torfwiefen aus, find rot, geftielt,
kreisrund, löffeiförmig ausgehöhlt, die Oberfläche, fowie
die Stiele mit roten reizbaren Drüfen verziert, und be?
fonders des Morgens mit einer glänzenden Feuchtigkeit,
gleichfam wie mit Tau überzogen, daher der deutfche
Name Sonnentau (Ros solis Bauh. pin). Zwifchen den
Blättern erhebt fich ein zarter aufrechter Schaft, der wenige
kleine weiße Blumen trägt, die eine meift einfeitige End^
ähre bilden. '^ Häufig kam auch eine kleine zierliche
Pflanze vor, Vaccinium Oxycoccus L. , deren fadenför;:
mige Stengel auf den Torfmoofen liegen und mit liebst
liehen, roten Blumen fich fchmücken. Beide Pflanzen,
die ich mit Moosballen aus dem Sumpfe hob und zur
näheren Anfchauung und Beobachtung vorzeigte, gewähr;:
ten den Herren große Freude und belehrende Unterhalt
tung. Goethe, der damals fein Werk (Verfuch die Meta^
morphofe der Pflanzen zu erklären) angefangen hatte, fuchte
fich näher mit den Pflanzen zu befreunden, nahm eine
Drosera rotundifolia in die Hand und fprach fich über
die wunderbare Gefi:alt und regelmäßige Stellung der mit
reizbaren Drüfenhaaren bekränzten Blätter belehrend aus,
infonderheit über die Irritabilität (Reizbarkeit) der Pflanz
zen im allgemeinen. Wir fanden einige Sonnentaupflanzen,
in deren Blättern kleine Infekten von den Drüfenhaaren
eingefchloffen waren, und bemerkten zugleich, daß, fo^:
lange die eingefchloffenen Infekten leben und durch die
Bewegung ihres Körpers und der Füße die Drüfen reizen,
die Haare defto kräftiger und fefi:er fich zufammenziehen
und nicht eher wieder aufrichten, bis das Infekt getötet ifi:.
Auch hat man verfucht, durch fanftes Berühren der Drüfen
mit einer Borfte die Reizbarkeit der Drüfen zu erregen.
1786.
[259.] Januar 31. Nach Charlotte v. Stein.
Lottchen v. Lengefeld hatte '^ gefragt, was Goethe
über Lavaters Magnetifieren denke, worüber ein öffent^
lieber Streit entbrannte, da diefer die Erfolge des an feiner
I
128 Nach Charlotte v. Stein. [260
Frau erprobten Magnetißerens über alles pries und ^
wünfchte, die Fürften Deutfchlands ließen ex officio da^
mit Verfuche anftellen. Charlotte erwiderte, Goethe fei
der immer Schweigende; nur fo viel habe er ihr gefagt,
der Zuftand von Lavaters Frau käme ihm nicht fo wunderes
bar vor, da fie nur Dinge erkenne, wozu fie bloß einen
Teil ihrer Sinne nicht gebrauchte und die in ihrem Ideen*:
kreife lägen; er beweife nur, was längft bekannt fei, das
der Menfch zu den allerfeinften Apperzeptionen könne
geftimmt werden.
[260.] (Mai.) F.A.Wolf.
Den Verfaffer überrafchte ^^ dies Ölgemälde von
Fvanckj das den alternden Dichter ihm faft in derfelben
Geftalt wieder darftellte, wie er ihn feit dem Frühjahre
von 1786 außer fich nicht gefehen hatte. In jenem Jahre
war es, wo der Verfaffer, felbft im fiebenundzwanzigften
Jahre, ihn, der in der fchönften männlichen Kraft ftrahlte,
zu Jena kennen lernte auf der Büttnerfchen Bibliothek,
wo fich bald ein langes Gefpräch über die Aufftellung der
unlängft angekommenen Bücher und über Bücherwefen
und^Unwefen überhaupt anknüpfte, ein Gefpräch, woraus
ihm noch manche geiftvolle Anflehten gegenwärtig blieben
bis auf die neuefte Zeit, wo er die Jenaifchen und Wei^
marfchen Bibliotheken nach gleichen Grundfätzen geord:^
net und gewiffermaßen vereinigt fah.
[261.] Herder.
Er ift in feiner Naturforfchung der freiefte, gründe
lichfte, reinfte Geift, den ich als Beobachter kennen ge*:
lernt habe, ein wahres exemplar humanae naturae in diefem
Fache, deffen Umgang mein Troft ift und deffen Gefpräche
jedesmal meine Seele erweitern.
[262.] Juni, nach Mitte. Prinz Auguft v. Sachfen^Gotha.
Wir haben in Schnepfental und Reinhardsbrunn einen
recht fchönen, heitern und fröhlichen Tag zugebracht. Nach
der Tafel las Goethe uns auf einem fieinernen Tifche, der
vermutlich noch von den guten Reinhardsbrunnifchen
Benediktinern herrühret, zwar keine Epiftel Pauli an die
Römer oder Galater, aber doch eine Epiftel V. Gl. Weik^
hardi ad V. Gl. Zimmermannum homiletifch vor, die nicht
leicht eine andere an feinem attifchen Salze und an römi:^
263] Reinhardsbrunn - Weimar. 1786. 129
fcher Urbanität übertreffen wird. An eben den Orten,
wo vormals die dicken Mönche aus natürlichem Hange
zur Naturkenntnis den Fungum apocalypticum hypostati;;
cum gefucht hatten, fanden wir den Fungum iambicum
trimetrum catalecticum hendecasyllabum (der vom Fungo
alcaico iambico ~ wohl zu unterfcheiden ift) zu unferem
unausfprechlichen Vergnügen und Erftaunen und dankten
den Göttern und Göttinnen, daß fie f ü r u n s diefe Schwämme
zu fernerer Verehrung ihrer Weisheit vor unfern Füßen
hatten aufwachfen laffen.
[263.] Juni 27. F. J. J. Bertuch an G. J. Göfchen.
Ich war am Dienstage bei Goethe und fprach mit
ihm über feine Erklärung. Sie haben die Schraube fehr
fcharf angezogen, fagte ich ihm, Göfchen wird zucken; in^
deffen wir wollen fehen, was er darauf fagt; einige Milden
rung werden Sie ihm auf alle Fälle akkordieren muffen. —
Es ift wahr, fagte er, ich habe meine Forderung etwas ge^;
fteigert, meine gedruckten und ungedruckten Werke in
eine Brühe geworfen und eine Summe überhaupt gefordert,
1. weil ihm beide wegen der neuen Bearbeitung gleich
und fo gut wie ganz neu find; 2. um uns nicht wegen
der diverfen Bogenberechnung zu genieren; 3. weil ich,
da Göfchen nicht changiert, fondern bloß kurant handelt,
auf eine zweite Auflage fo gut als nicht rechne und alfo
alles, was ich hoffen kann, von diefer erwarten muß. Hin?
gegen will ich ihn wegen der Stärke der Auflage gar nicht
einfchränken und für die gute Auflage in Großoktav auch
nichts verlangen, auch die Subf kription auf alle Art durch
meine Freunde unterftützen helfen ufw. Dies war ohn?
gefähr feine Meinung und ich merke, daß er von den
20000 Talern wohl nicht abgehen wird; allein eineMildes=
rung auf 1 ^/^ Louisdor pro Bogen einer zweiten Auflage
und der 80 Freiexemplare vielleicht auf 40, nämlich 25
ordinär und 15 in Großoktav wird er fich gewiß gess
fallen laffen. — Da er nun kommende Woche ins Karls^s
bad geht und doch noch gern die Ankündigung ents:
worfen fehen wollte, fo fetzte er mir geftern den verabs^
redeten Briefextrakt dazu auf, und ich habe fie, infoweit
als ich fie ohne Ihren Kalkül machen konnte, entworfen.
Hier ift fie. Er hat fie gelefen und ift damit zufrieden.
Gehen Sie fie nun auch genau durch, füllen Sie die Preife
aus (wenn Sie zuvor die Verlagskoften genau berechnet
I 9
130 F. J. J. Bertuch [264
haben), und fügen Sie noch hinzu, was Sie teils wegen der
guten Edition, teils fonfi noch überhaupt für nötig finden.
Schicken Sie mir fie dann auf den Montag zurück und
melden mir, wieviel Taufend ich davon foll drucken laffen.
Ich rechne, daß fie zwei Oktavblätter Median mit Petit gibt
und dächte, 20000 wären nicht zu viel, weil wir fie
durchaus bei etlichen der gangbaren Zeitungen, fowohl ge^
lehrte als politifche, mit beifchlagen laffen muffen. Goethe
allein will 1000 Stück ins Karlsbad zum Verteilen haben.
[264.] Juli. Bertuch an Göfchen.
Goethe kommt erfi: auf Sonnabend von Ilmenau zurück.
Er hat noch am Sonntage mit Wieland über die Sache ge^
fprochen, und Wieland ihn verfichert, daß er fich über
den vorteilhaften Akkord feiner Schriften fehr Glück wün?
fchen könne.
[265.] Juli. Dietmar.
Als ich — noch Kandidat — im Jahre 1786 vom Hof?
rat Wieland dem damaligen Herzog Karl Auguft im Stern
— fo heißt ein Teil des herzoglichen Gartens — vorge?
fi:ellt wurde, fah ich unter den ihn umgebenden Gelehrten
auch Goethe. Er unterhielt fich eben mit einem Offizier
und ich hatte nicht Gelegenheit, mich ihm zu nähern.
Nach meiner Rückkunft von Schnepfenthal fi:attete
ich, an demfelben Orte im erwähnten Garten, den Bericht
über das Erziehungsinfi:itut dem Herzog von Weimar ab,
wie er es verlangt hatte, und beim Abtreten äußerte ich
mein Bedauern gegen Mufäus, den berühmten Goethe nicht
gefprochen zu haben.
Das können Sie noch verbeffern, meinte Mufäus.
Wenn Sie jetzt nachmittags gegen 6 Uhr zu ihm gehen,
will ich Sie begleiten. Diefes Anerbieten nahm ich dan*:
kend an. Melden Sie fich nur als der Studiofus, den er
im Stern, vor acht Tagen, zuerfi: auf der Linde* gefehen
hätte, dann nimmt er Sie gewiß an. Wir haben Ihre da::
malige Standeserhöhung herzlich belacht. Unter der von
Mufäus angeratenen Adreffe ließ ich mich bei Goethe an?
melden. Sie kommen von Ihrer Schnepfenthaler Reife
zurück? fragte mich der damals noch in der Blüte feines
männlichen Alters ftehende Goethe (er war erfi 37 Jahr
* Dietmar hatte fich anfangs verborgen, um ungefehen den
Herzog und feine Umgebung betrachten zu können.
265] Weimar. 1786. 131
alt). Haben Sie Ihre Wißbegierde befriedigt? — Ich qt^
zählte ihm alles, was mich von dem Salzmannfchen Ers^
ziehungsinftitut intereffiert hatte. Mein Vorfchlag, den ich
dem Profeffor Salzmann getan, die Naturgefchichte den
Kindern in den Abendftunden mittels einer Laterna ma?
gica zu lehren, gefiel ihm befonders. Er hat einen Bruder
in Erfurt, erwähnte Goethe, der ein gefchickter Tiermaler
ift, der ihm die unvernünftige Welt zu diefem Behuf auf
Glas malen könnte. So wahr und gut es wäre, fuhr Goethe
fort, den Kindern frühzeitig Geographie zu lehren, fo bin
ich doch der Meinung, daß man mit den nächften Um?
gebungen der bildenden Natur zuerft anfangen müßte.
Alles, was auf ihre Augen und Ohren Eindruck macht,
erregt Aufmerkfamkeit. Sonne, Mond und Sterne, Feuer,
Waffer, Schnee, Eis, Wolken, Gewitter, Tiere, Pflanzen
und Steine find die befonders wirkfamften Eindrücke auf
das kindliche Gemüt. Kinder haben Mühe, die von Men?
fchen gebildeten Eormen von den natürlichen Geftalten
zu unterfcheiden, und es wäre nicht zu verwundern, wenn
fie den Vater fragen: wie machft du die Bäume?
Haben Sie auch die Merkwürdigkeiten in Erfurt be?
achtet? fragte Goethe. — Ich war im Dom, in welchem
man mich auf das Gewölbe des Chors aufmerkfam machte,
das auf keinem Pfeiler ruht, und auf ein fchlechtes Ge?
mälde, den großen Chriftoph in koloffaler Größe vor?
(teilend. Auf dem Glockenturme nahm ich noch die große
Glocke in Augenfchein, die 275 Zentner fchwer fein foll,
und im Jahre 1497 von Gerhard de Campis gegoffen ift.
— Sie brummt einen tiefen, ernften Baß, meinte Goethe,
und läßt fich nur an hohen Fefitagen hören. Die Kirche
ift alt und zur Zeit des Bonifacius erbaut. Die kleinen
Glocken find, wie ich gehört habe, faft 200 Jahr älter.
Nichts von Luther?
D. Ich habe den kleinen Hügel, Steiger, befucht, auf
welchem Luthers Jugendfreund, Alexis, an feiner Seite vom
Blitz getötet ward.
G. Diefer Blitz hat in Deutfchland ein großes Licht ver?
breitet, indem er den jungen Luther, der die Rechte ftu?
dieren wollte, ins Klofter trieb, und dann zur Erkenntnis
eines Funkens der Wahrheit brachte. Sahen Sie feine Zelle,
die er in Erfurt bewohnte?
D. Ich habe mich indem befchränkten Raum umgefehen
und von der weißen Bretterwand mir Luthers Lebensge?
I 9*
132 Dietmar. [265
fchichte, mitrotenBuchftabengefchrieben, kopiert. Auf einer
runden Tafel über der Tür ftand die lateinifche Infchrift:
Cellula divino magnoque habitata Luthero, salve etc.
G. Ich kenne fie. Die Auguftinerkirche, in welcher der
Mönch Luther gepredigt hat, ift feit kurzem renoviert
worden. Haben Sie auch Lavater gefehen in Gotha? —
D. Ich habe ihn gefprochen.
G. Er ift kein großer Freund von mir. Es ift lächer;;
lieh, wie er über mich denkt. Er hat dem Verfucher Chrifti
in der Wüfte, wie man fagt, im Kupferfiiche meine Phyliog^s
nomie geben laffen. Das gehört zu feinen Phantafien,
die ihn oft zu übertriebenen Vorftellungen verleiten. Unfer
Mufäus hat ihn ziemlich gut beleuchtet. — Was haben
Sie von meinen Schriften gelefen?
D. Werthers Leiden.
G. Welchen Eindruck machte feine Leidenfchafts?
gefchichte auf Sie?
D. Ich fand feine Empfindungen für Lotte fo rein
menfchlich, daß ich ihm alles verzeihen konnte, was er
fühlte, fprach und tat.
G. Haben Sie auch fchon geliebt?
D. Ich kann es nicht leugnen. In einem Alter von
21 Jahren kam ich in die Nähe einer fchönen Witwe für
die fich alle Gefühle in mir regten, — aber Verhältniffe
hinderten mich, in jeder Rückficht ihr meine Zuneigung
zu geftehen. Ich verehrte fie, und nur in ihrer Gegen;;
wart befand ich mich wohl; aber ich fah die Unmöglich*
keit ihr die Unruhe meines Herzens zu offenbaren.
G. War fie fchön?
D. So fand ich fie, und man fagte mir, daß fie in
ihrem unverheirateten Stande das fchönfte Mädchen in
der ganzen Umgebung gewefen wäre.
G. Wiffen Sie wohl, daß das Herz Geheimniffe hat,
wovon der Verftand nichts weiß?
D. Das habe ich fchon öfters eingefehen, aber nicht
mit Worten auszudrücken verftanden.
G. Wiffen Sie : le paradis est pour les ämes tendres, et
condamnes sont ceux qui n'aiment rien.
D. Davon bin ich überzeugt, aber fo glücklich die
Liebe macht, fo viel Leiden und Schmerzen führt fie auch
mit fich. Ich habe die fchöne Stelle memoriert, welche
mir in Ihrem Werther gefiel.
269] Weimar. 1786. 133
G. Und welche war es?
D. Wer hebt den erften Stein gegen das Mädchen,
das in einer wonnevollen Stunde fich in den unaufhalt^
iamen Freuden der Liebe verliert? Unfere Gefetze felbft,
diefe kaltblütigen Pedanten, laffen fich rühren, und halten
ihre Strafe zurück.
G. Die ganze Theorie des Anftandes läßt fich auf den
unfichern Grund des Vorurteils zurückführen. Es gibt
allerdings Situationen des Lebens, in welchen das Herz
beredt und der Mund verfchwiegen ilt. Ja das erftere ift
fogar in Furcht, feine kleinen, aber heftigen Bewegungen
zu verraten, und, um nicht in Gefahr zu kommen, wählt
das furchtfame Herz die Verfchwiegenheit, oder fucht die
Unterhaltung auf gleichgültige, fremde Dinge zu leiten.
Ich habe mich noch nie, fagte Goethe, mit einem
jungen Manne, der eben die Univerfität verlaffen, fo ernft^
haft unterhalten.
D. Verzeihen Sie, ich bin fchon 27 Jahr alt, und fpät
auf Univerfitäten nach Halle gegangen.
Oft quälen mich Durchreifende mit langweiligen Be^
fuchen, und da ich mich jetzt mit Ofteologie befchäftige,
fuhr Goethe fort, fo lege ich ihnen zuweilen meine vor?
handenen Knochen vor, das erregt den Befuchenden Lange?
weile — und fie empfehlen fich. — Ich habe diefe Vorlage
bei Ihnen vergeffen.
[266.] Juli 18/20. Lavater.
Ich fand Goethe älter, kälter, weifer, fefter, ver?
fchloffener, praktifcher.
Nachlefe zum zweiten Abfchnitt
Zeitlich nicht näher beftimmbar.
[267.] Lavater.
Ich pflege, wie meine Freunde wiffen, die Momente,
von denen ich denke, fie kommen nicht wieder — oder
von denen ich ahnen konnte, fie werden kommen, fo
fehr wie mögfich zu fixieren, und, wie Goethe fagte —
den fliegenden Papillon zu fpießen.
[268.] K. L. v. Knebel.
Goethe fagt, man lebe erft dann gut, wenn man es
vergeffe, daß man lebe.
[269.] K. A. Böttiger.
Es war eine frühere Periode, wo Goethe auf die
Alten, Horaz, Virgil ufw. als auf alte Knafterbärte fchimpfte
I
/
134 K. A. Böttiger. [270
und Wieland perfiflierte, daß er fich fo mit ihnen ab?
geben könnte. Allein in fpäteren Zeiten änderte fich der
Ton und Goethe fagte z. B. Wielanden über feine Über?
fetzungen des Horaz die übertriebenfien Schmeicheleien.
[270.] B. R. Abeken.
In Hinficht auf den völligen Schluß der Tragödie fcheint
Goethe wohl in verfchiedenen Zeiten verfchiedeneAbfichten
gehabt zu haben, wenn anders Wieland fich recht erinnerte,
der mir einmal 1809 erzählte: Goethe habe fich nie über
feinen Plan fürdenFaufi: ausgelaffen; nur einmal, in einer auf?
geregten Gefellfchaft, habe er gefagt: Ihr meint der Teufel
werde den Faufi holen. Umgekehrt: Fauft holt den Teufel.
— Dies Wort gehört wohl in die frühefte Weimarifche Zeit.
[271.] Caroline Herder an J. W. L. Gleim.
Sie tun Goethe unrecht wegen Berlin. Mein Mann
und ich haben längfi: diefe Scheu davor gehabt; es ifi:
eine Art Inftinkt in uns. Goethe würden Sie jetzt mehr als
jemals lieben, wenn Sie ihn wie wir kennten. Er ifi:ein Mann,
in allem Betracht. Wir find ohne ihn hier ganz allein.
[272.] Schiller an Ch. G. Körner.
Goethe (weil ich Dir doch Herders Schilderung ver?
fprochen habe), Goethe wird von fehr vielen Menfchen
(auch außer Herdern) mit einer Art von Anbetung ge?
nannt, und mehr noch als Menfch, denn als Schriftiteller
geliebt und bewundert. Herder gibt ihm einen klaren
univerfalen Verftand, das wahrfte und innigfte Gefühl,
die größte Reinheit des Herzens! Alles, was er ifi:, ift
er ganz, und er kann, wie Julius Cäfar, vieles zugleich
fein. Nach Herders Behauptung ift er rein von allem
Intrigengeifi , er hat wiffentlich noch niemand verfolgt,
noch keines anderen Glück untergraben. Er liebt in
allen Dingen Helle und Klarheit, felbft im kleinen feiner
politifchen Gefchäfte, und mit eben diefem Eifer haßt er
Myltik, Gefchraubtheit, Verworrenheit. Herder will ihn
ebenfo und noch mehr als Gefchäftsmann denn als Dichter
bewundert wiffen. Ihm ift er ein allumfaffender Geifi.
Seine Reife nach Italien hat er von Kindheit an fchon
im Herzen herumgetragen. Sein Vater war da. Seine
zerrüttete Gefundheit hat fie nötig gemacht. Er foll dort
im Zeichnen große Schritte getan haben. Man fagt, daß
er fich fehr erholt habe, aber fchwerlich vor Ende des
Jahres zurückkommen würde.
Drittes Buch
Vom Antritt der Italienifchen Reife
bis zum Beginne des freunde
fchaftlichen Umgangs
mit Schiller
1786 Juli bis Juli 1794.
1786.
[273.] Caroline Herder an J. W. L. Gleim.
Von Goethe wiffen Sie alio noch nicht, daß er feit
Oktober v. J. in Rom ift? Er lebt dort fehr glücklich. Sein
Geift hatte hier keine bleibende Stätte mehr, und er eilte
im ftillen, ohne es den vertrauteften Freunden zu fagen,
fort. Ihm ift diefe Erholung äußerft nötig gewefen, und
wir fehen fchon, daß er in einem halben Jahre vergnügt
wieder zu uns kehrt. Wir genießen fein Glück ganz mit
ihm. Wir haben in den letzten drei Jahren nur mit ihm
gelebt, an Geift und Herz verbunden.
[274.] Oktober 29. J. H. W. Tifchbein an Goethe.
Nie habe ich größere Freude empfunden, als damals,
wo ich Sie zum erftenmal fah, in der Locanda auf dem
Wege nach St. Peter. Sie faßen in einem grünen Rock
am Kamin, gingen mir entgegen und fagten : Ich bin Goethe I
[275.] Dezember. J. H. W. Tifchbein an Lavater.
Sie haben in allem recht, was Sie von Goethe fagten.
Das ift gewiß einer der vortrefflichften Menfchen, die
man fehen kann. Stellen Sie fich meine unbefchreibliche
Freude vor, welche ich vor einigen Wochen hatte, Goethe
kam, mir unverhofft, hierher, und jetzt wohnt er in meiner
Stube neben mir; ich genieße alfo von des Morgens bis
zur Nacht den Umgang diefes fo feltenen, klugen Mannes.
Was das für ein Vergnügen für mich ift, können Sie fich
leicht denken indem Sie Goethens Wert und meine Hochü
achtung gegen große Männer kennen. -^ Goethe ift ein
wirklicher Mann, wie ich in meinen ausfchweifenden Ge^
danken ihn zu fehen mir wünfchte. Ich habe fein Porträt
angefangen, und werde es in Lebensgröße machen, wie
er auf den Ruinen fitzet und über das Schickfal der
menfchlichen Werke nachdenkt. '^ Habe ihn eben fo
gefunden, wie ich mir ihn dachte. Nur die große Ges^
I
138 J. H. W. Tifchbein. [276
fetztheit und Ruhe hätte ich mir in dem lebhaften Emp^
finder nicht denken können, und daß er fich in allen
Fällen fo bekannt und zu Haufe findet. Was mir noch
fehr an ihm freut, ifi fein einfaches Leben. Er begehrte
von mir ein klein Stübchen wo er in fchlafen und un?
gehindert in arbeiten könnte, und ein ganz einfaches
Effen, das ich ihm leicht verfchaffen konnte, weil er mit
fo wenigem begnügt ift. Da fitzet er nun jetzo und
arbeitet des Morgens um feine Iphigenia fertig zu machen,
bis um 9 Uhr, dann gehet er aus und fiehet die großen
hiefigen Kunfiwerke. Mit was für einem Auge und Kennt?
nis er alles fiehet, werden Sie fich leicht denken können
indem Sie wiffen, wie wahr er denkt. Er läßt fich wenig
von den großen Weltmenfchen ftören, gibt und nimmt
keinen Befuch außer von Künfilern an. Man wollte ihm
eine Ehre antun, was man denen großen Dichtern, die
vor ihm hier waren getan hatte, er verbat fich es aber
und fchützte Zeitverluft vor und wandte auf eine höfliche
Art den Schein der Eitelkeit von fich ab. Das ihm ge?
wiß fo viel Ehre macht, als wenn er wirklich auf dem
Kapitol gekrönt worden wäre.
1787.
[276.] 1786 Dez. Anfang/1787 Januar Anf. K. Ph. Moritz.
Was nun während den vierzig Tagen, die ich unter
faft unaufhörlichen Schmerzen unbeweglich auf einem Fleck
habe liegen muffen, der edle, menfchenfreundliche Goethe
für mich getan hat, kann ich ihm nie verdanken, wenigftens
aber werde ich es nie vergeffen; er ift mir in diefer
fürchterlichen Lage, wo fich alfo alles zufammen fand,
um die unfäglichen Schmerzen, die ich litt, noch zu ver?
mehren und meinen Zuftand zugleich gefahrvoll und troft:;
los zu machen, alles gewefen, was ein Menfch einem
Menfchen nur fein kann. Täglich hat er mich mehr als
einmal befucht und mehrere Nächte bei mir gewacht.
Um alle Kleinigkeiten, die zu meiner Hilfe und Er?
leichterung dienen konnten, ift er unaufhörlich beforgt
gewefen und hat alles hervorgefucht , was nur irgend
dazu abzwecken konnte, mich bei gutem Mute zu erhalten.
Und wie oft, wenn ich unter meinem Schmerz erliegen
und verzagen wollte, habe ich in feiner Gegenwart wieder
277] Rom. 1787. 139
neuen Mut gefaßt, und weil ich gern ftandhaft vor ihm
erfcheinen wollte, bin ich oft dadurch wirklich ftandhaft
geworden. Er lenkte zugleich den guten Willen meiner
hiefigen deutfchen Landsleute, deren jetzt eine ftarke An^
zahl ift, und deren freundfchaftliches Betragen gegen mich
mir nie aus dem Gedächtnis kommen wird. Sie waren
den andern Tag faft alle bei mir; fie erboten fich alle
bei mir zu wachen. Goethe ließ fie lofen, wie fie der
Reihe nach bei mir wachen follten, und fogleich waren
alle Nächte befetzt, fo daß es an jeden nur ein paarmal
kam, und dann ließ er andre zwölf um die Stunden am
Tage lofen, fo daß jeder den Tag über eine Stunde bei
mir bleiben foUte, damit ich immer abwechfelnde GefelU
fchaft hätte. Alle waren fogleich willig, und fo waren
die Stunden am Tage befetzt und wurden alle richtig
gehalten. Selbfi: die Leute, bei denen ich wohne, waren
durch diefe Liebe und Freundfchaft fo vieler Menfchen
gegen einen ihrer leidenden Brüder gerührt und folgten
dem Beifpiel, indem fie mir die ganzen vierzig Tage hins:
durch ohne Murren und mit der größten Bereitwilligkeit
die befchwerlichfien Dienfi:e leifi:eten, die ein Menfch, der
unbeweglich auf einem Fleck liegen muß, bedarf. Dies
alles zufammen genommen flößte mir zuerft wieder eine
Art von Zutrauen gegen mein Gefchick ein. Ich dachte:
es drückt mich zwar nieder, aber es will mich doch nicht
finken laffenl
[277.] 1786 Ende/ 1787 Anfang. Nach A. Gyrowetz.
Einftweilen blieb Goethe für einige Zeit in Rom und
es bot fich dem Gyrowetz die erwünfchte Gelegenheit
dar, deffen nähere Bekanntfchaft zu machen. So gefchah
es, daß Gyrowetz in Goethes Gefellfchaft die Merkwürdige
keiten und Altertümer Roms befah, manche alte Ruine
felbfi: mit Gefahr befi:ieg und auf diefe Art die meifi:e
Zeit in Durchfchauung und Durchkriechung verfallener
Denkmäler und in Bewunderung fo mancher künfi:lerifcher
Schätze zubrachte. Die Bäder des Caracalla wurden
durchfucht, wo man auf lauter Mofaikbruchftücken herum?
wandelt und noch die Säle zu fehen find, worin die
Gladiatoren ihre Spiele übten. Auch fand man unter
diefen Ruinen zuweilen einige Bruchftücke von alten
mufikalifchen Inftrumenten, welches dann Gelegenheit gab,
über alte und neue Mufik und deren Ausübung und Zu?
I
140 A. Gyrowetz. [278
ftand manches zu fprechen und zu bemerken, worin auch
Goethe bewies, daß er einen richtigen Begriff von gründe
hcher und wohlgeordneter Mufik befaß und nicht mit
denen gleicher Meinung war, welche jede Mufik, geordnet
oder ungeordnet, für klaffifch halten, wenn felbe durch
bizarre, ungeregelte Ideen, durch Getöfe und Lärm, oder
durch verwirrte Modulationen dem Ohre fremd klingt,
und fo etwas in der Mufik für neu halten, weil es eben
durch feine Unregelmäßigkeit und Syftemlofigkeit ihrem
Ohre als ungewöhnlich erfcheint, und womit fich manche
felbfi verftändig fcheinende Mufiker gröblich täufchen
laffen.
[278.] Februar. K. Ph. Moritz an Herder.
Ich würde es nicht gewagt haben, die Zahl Ihrer
Korrefpondenten zu vermehren, wenn nicht der Herr
Geheimrat von Goethe, deffen langgewünfchte und mir
unfchätzbare Bekanntfchaft ich hier in Rom gemacht habe,
mich felbft dazu aufgemuntert, und mir die Verficherung
gegeben hätte, daß es Ihnen nicht unangenehm fein würde,
wenn ich meinen Plan, ein gemeinnütziges Werk über
die römifchen Altertümer hier an Ort und Stelle aus?
zuarbeiten, Ihnen zur Prüfung vorlegte, um Ihre Winke
darüber, befonders in pädagogifcher Rückficht, zu ver?
nehmen.
[279.] Februar 22 und folgende Tage. J. H. W. Tifchbein.
Am 22. Februar 1787 reifi:e ich mit Goethe von
Rom nach Neapel. Es wurde mir leicht, ihn auf alles
Sehenswürdige aufmerkfam zu machen, was fich auf diefem
Wege zeigte, den ich fchon einmal zurückgelegt hatte,
da mir die fchönfien Stellen noch lebhaft in Erinnerung
waren. Faft jeder Stein von den alten verfallenen Gräbern
in der Nähe und Ferne wurden begierig aufgefucht und
ins Auge gefaßt. Zunächft ging es den Hügel hinan,
worauf Albano liegt und wo man eine große Fläche des
Tibertales überfieht. Diefe Hügel gaben Rom die große
Mauer und machten es zu dem, was es wurde ; der Weg
geht bergauf und ab. Unfer Vetturino machte vor einer
Ofteria halt, welche an einem abhängigen Wege lag. Wir
ftanden eben an der fieilen Wand diefes Hohlweges, um
die verfchiedenen Erdlagen zu betrachten, als wir plötz?
lieh ein Geräufch dicht hinter uns vernahmen. Indem
ich mich umwandte, fah ich einen Wagen mit Ochfen
279] Von Rom nach Neapel. 1787. 141
befpannt den fchrägen Abhang herunterlaufen. Der Wagen
drückte fo gewaltig auf die Ochfen, daß fie ihn nicht
aufhalten konnten. Dicht zwifchen unferer Sedia und uns
durch ftürmte er herunter und der Führer lief ganz beftürzt
hinterher. Man denke fich meinen Schreck! Ich, der
Begleiter und Befchützer von Goethe, hatte mir ja vor?
gefetzt, ihn zu hüten, wie eine Mutter ihren Säugling,
diefes Kleinod für die Welt, diefen lieben Freund, und
nun wäre er faft in einer Minute gerädert worden und
ich mit ihm! ^ Die Gefahr war indeffen fo blitzfchnell
vorüber gegangen, daß Goethe fie kaum bemerkt hatte.
f^ Auch die pontinifchen Sümpfe paffierten wir. ^^ In
Neapel war unfer erfter Weg zum Cavaliere Venuti ^
er führte uns nach Pompeji, feine Gemahlin und der
Kupferftecher Georg Hackert waren auch mit. Nachdem
wir uns lange an der fchönen Gegend ergötzt hatten, und
vom Anfchauen der ausgegrabenen Antiken und fo vieler
Gegenftände ermüdet waren, gingen wir nach Torre dell
Annunziata, wo uns in einer Ofteria ein Mittagsmahl er?
wartete. Hier wurde viel gefcherzt; aber der rechte Spaß
begann erft nach dem Effen. Die Teilnehmer an der
Partie bewarfen ßch mit Sand und balgten fich im Meere.
Goethe hatte fich vom Kampfe abgefondert und klopfte
Stücke von den Felsblöcken, welche hier liegen, um die
Brandung zu brechen und unterfuchte die Steinarten.
f^ Ich hatte Goethen fchon vieles von meinem Freunde
Kniep erzählt, von feinem ausgezeichneten Talent und der
großen Gefchicklichkeit im Landfchaftszeichnen, welchem
Fache er fich ganz gewidmet hatte, fo daß auch Goethe
begierig geworden war, ihn kennen zu lernen. ^ Als
Kniep hörte, daß auch Goethe in Neapel fei, ftieg feine
Freude noch höher, und er ging gleich mit mir, um ihn
zu fehen. Dem gefiel er und von nun an war er täglich
bei uns. Goethe beftellte bei ihm Zeichnungen von
neapolitanifchen Gegenden, und ich riet ihm, fiatt meiner
den Kniep mit nach Sizilien zu nehmen; der könnte ihm
die fchönften Gegenden auf der Reife zeichnen, und fo
entftand daraus ein doppelter Vorteil: für Kniep wäre
diefe Reife ein Glück auf zeitlebens und Goethe erhielte
durch die Zeichnungen ein fichtliches Andenken davon.
Dies wurde befchloffen: Kniep reifte mit.
Beiläufig muß ich doch noch eines mir intereffanten
Vorfalles gedenken, den ich mit Goethe in der Locanda
I
142 J. H. W. Tifchbein. [280
di Mariconi hatte. Goethe forderte Waffer zum trinken,
und da ich auf alles acht gab, was er zu fich nahm, fo
bemerkte ich, daß in dem Glafe das Waffer trübe fei,
warnte ihn und verlangte, daß man ihm anderes hole.
Man erwiderte, daß man kein anderes hätte; es fei gutes,
gefundes Waffer und aus der Zifterne, woraus fie alle
täglich tränken. Wir befahen es genau und fanden es
voll lebender Infekten von wunderbaren Gefialten; krebse
und tafchenkrebsartige , mit Scheren und ohne Scheren,
aalförmige ufw. Goethe meinte: Das Waffer kann gut
fein; fchmecken doch Auftern und Krebfe und andere
Meererzeugniffe gut, aber das nicht allein, es kann auch
heilfam fein. Er trank es, wir ließen uns die Zifterne
zeigen und fchöpften mit einem Glafe aus dem Grunde
die fchönfien Gefialten von Gefchöpfen hervor und mach*
ten dabei unfere Betrachtungen über die produzierende
Natur in diefer warmen Gegend.
[280.] Mai. Nach A. Gyrowetz.
Zur nämlichen Zeit war es, daß Goethe aus Sizilien
nach Neapel zurückkam und Gyrowetz auf der Promenade
al giardino reale traf, wo fie beide öfters zufammen auf:;
und abgingen und nebft andern Gegenftänden vieles über
Mufik und den Zufiand der Mufik in Italien überhaupt
fprachen. Goethe bewies dabei, daß er fehr große Kenntnis
in der Mufik befitze. Er behauptete auch, daß die alten
italienifchen Meifi:er in ihren Opern mehr contrapunktifche
Figuren anzubringen fuchten und mehr für den Sänger,
als für das Orchefi:er in ihrem Satz geforgt hätten. Auch
hätten die alten Meifier vermieden, die Stimme des Sängers
durch fi:arke Inftrumentierung und befonders durch zu
viele Anwendung von Blasinftrumenten zu verdecken. ^
Zu jener Zeit wurden auch bei dem öfi:erreichifchen
Gefandten Baron Thugut mehre Konzerte durch den Herrn
Legationsrat Hradäwa veranftaltet, wozu auch Goethe wie
Gyrowetz geladen wurden. Als Gyrowetz dort einge^:
treten war, fand er Goethe zwifchen einer Türfchwelle,
die in den großen Saal führte, ganz allein und unbeachtet
dafiehen. Gyrowetz ging fogleich zu ihm und fagte ihm,
er möchte doch vorwärts in den Saal fchreiten und nicht
fo verfteckt daftehen. Goethe dankte höflich und bat,
man möge ihn nur ruhig ftehen laffen, er höre alles und
liebe nicht, in die große Welt zu treten. Überhaupt war
282] Rom. 1787. 143
in diefer Zeit das Benehmen Goethes fehr freundUch, ja
fogar etwas fchüchtern und demütig.
[281.] K. Ph. Moritz.
Moritz fuchte f^ viel in der Maurerei und war auch,
bis zu feinem Tode, feft überzeugt, daß viel Gutes da:=
durch bewirkt werden könne, wenn man fie recht zu
nutzen verfiehe.
Er fahe indeffen bald, daß dies wohl fchwerlich ge^
fchehen dürfte, — daß feine großen Ideen über diefen
Punkt fromme Wünfche fein und bleiben würden und
zog fich nach und nach mißvergnügt zurück.
Ganz kalt wurde er dagegen auf feiner Reife in Italien,
durch feine genauere Bekanntfchaft mit dem Herrn Ge?
heimrat von Goethe. Diefer große Mann hat in feinem
Fauft deutlich genug gezeigt, wie wenig er von der
Maurerei hält — ob mit Recht oder Unrecht, bin ich zu
fchwach zu entfcheiden.
Nur fo viel weiß ich, daß feine Demonftrationen
und — um ehrlich zu fein — vielleicht noch mehr fein
Spott: Mein Gott, und auch Sie können noch fo fchwach
fein, darin etwas zu fuchen, bei Moritz die Wirkung hervor?
brachte, daß er nun das Kind mit dem Bade ausfchüttete.
[282.] Februar/Oktober. K. Ph. Moritz.
Ich habe dies alles mit dem Herrn von Goethe über?
legt, der meinen Entfchluß auch billigt. Sein Umgang
kommt mir hier außerordentlich zuftatten, faft alle Tage
bringe ich einige Stunden mit ihm zu, wo ich fchon oft
meine Ideen durch Mitteilung derfelben berichtigt und qt^
weitert habe, und auf neue Ausfichten geführt bin. Er
ift mit meinem Plane, durch die Stellung der Gegenftände
in dem Werk über die Altertümer gleichfam den Geift
der Alten aufzuwecken und fichtbar zu machen, und fo
viel wie möglich lebendige Darftellung hineinzubringen,
nicht nur zufrieden, fondern intereffiert fich auch dafür,
fo daß ich feinen Rat und feine Aufmunterung hierbei
nicht gern entbehren möchte, da wir überdem fehr viele
Sachen zufammen in Augenfchein nehmen, welches mir,
da er in Kunftfachen fehr tiefe Kenntniffe befitzt, vorzüg?
lieh nützlich ift. Ich könnte alsdann, wenn ich noch den
Winter hier bleibe, im künftigen Frühjahr mit ihm zu?
gleich nach Deutfchland zurückreifen.
I
144 K. Ph. Moritz. [283
[283.] Oktober. K. Ph. Moritz.
Jetzt fehe ich aber täglich mehr ein, und lerne durch
den Umgang mit dem Herrn von Goethe, daß die Denk^
kraft notwendig eben fo fiark außer fich, als in fich wir^^
ken muß, wenn fie nicht auf metaphyfifche Spitzfindig:^
keiten geraten und die gehörige Elafiizität und Leben be:=
halten foll.
Es kommt mir außerordentlich zuftatten, daß ich mit
dem Herrn von Goethe beftändig meine Ideen wechfeln
kann, und ich bin dadurch fchon auf vortreffliche Grunde
fätze geleitet worden.
1788.
[284.] Anfang d. J. Graf A. v. Platen.
Der Bildhauer J. Chrißen erzählte, Goethe und Meyer
wären fo gute Freunde, daß wahrfcheinlich einer dem
andern nachfierben würde. In Rom hätten fie immer in
einem Bette gefchlafen. Er (Chriften) habe '^ in Rom
in einem Haufe mit ihm gewohnt. Goethe hätte damals
viel Satirifches in feinem Wefen gehabt, und zum Bei^
fpiel Dannekern, der damals auch in Rom gewefen, hätte
er immer einen Windbeutel geheißen.
[285.] April 21. J. v. Unger.
Ein fehr angenehmes Haus, in welchem ich in Rom
im Winter 1847/48 durch eine Empfehlung von Ottilie
von Goethe Zutritt fand, war das des Dänen Thygefon.
Einmal wöchentlich war dort jour fixe. Eines Abends er^
fchien dort ein fehr alter aber auffallend fchöner Mann
mit einer gleichfalls fehr fchönen Dame von etwa 30 Jahren.
Es war der fchwedifche Konfifiorialrat Baron Gyldenftubbe
und feine Enkelin, Frau von H. Der alte Herr, welcher
fehr gut deutfch fprach, war über meine Höflichkeit fehr
erfreut und ebenfofehr über den jugendlichen Enthufias;;
mus, mit dem ich von Rom fprach. Ich war in Ihrem
Alter, fagte er, als ich zum erften Male in Rom war, es
ifi mir, als wenn ich mich felbft fprechen hörte. Ich habe
damals, es ift über 60 Jahre her, Rom mit der feften Ab?
ficht verlaffen, es wieder zu fehn; Sie fehen, ich habe fie
ausgeführt.
286] Rom - Weimar. 1788. 145
Das ift in Ihrem Alter ein wahres Heldenfiück, fprach
einer der Zuhörer; denn Sie find doch gewiß 80 Jahr alt,
Herr Baron. Wo denken Sie hin! erwiderte er, ich bin
93 Jahre alt. Und da unternehmen Sie noch eine folche
Reife, bloß um Rom wiederzufehen? Nicht darum allein;
ich hatte noch einen andern Grund: ich bin hierher ges^
kommen um hier zu fierben. Und weshalb wollten Sie
das nicht in Ihrem Vaterlande?
Ach, das follen Sie wiffen. Bei meinem erften Aufent^
halt in Rom lernte ich Goethe kennen, und wir fchloffen
uns fehr eng aneinander an; denn wir harmonierten wuns^
derbar miteinander. Eines Abends fliegen wir zufammen
vom Monte Testaccio herab, und lagerten uns neben die
Pyramide des Ceftius auf dem Kirchhofe, wo fchon da?
mals die Proteftanten begraben wurden. Goethes Abreife
•ftand bevor; er war in höchftem Grade ergriffen, und
konnte den Gedanken noch gar nicht faffen, fich von Rom
trennen und nach Deutfchland zurückkehren zu muffen.
O, rief er, hier tot zu liegen, das wäre ja fchön, unend?
lieh fchöner, als in Deutfchland zu leben. Höre, Wolfs:
gang, fprach ich zu ihm, Du haft noch eine große Aufs
gäbe zu erfüllen, darum mußt Du leben, aber was hin?
dert Dich, hier neben der Pyramide des Ceitius-JQeine
JAfTf^ Fiihpftnttf 7n fiirbfn*^ Du haft recht, rief er auf?
rpringend, das will ich, aber Du mußt es auch tun! dann
vereinigt auch uns beide der Tod wieder. — Schwöre mir,
daß wir beide im Tode hier wieder zufammentreffen wer:«
den. Ich fchwöre es Dir, fprach ich; dann fchloffen wir
einander lange und feft in die Arme. Am folgenden Tag
reifte er ab — und ich habe ihn nicht wieder gefehen.
[286.] (Juli.) Herder.
Goethe hat gut reden; alle feine Ratfchläge in An?
fehung Roms taugen nicht; er hat wie ein Künftlerburfche
hier gelebt. Da fchwätzt er und warnt mich vor dem
fchwarzen Rock, und macht, daß ich den meinigen nicht
mitnehme, und nun muß ich mir einen hier machen laffen,
weil ich mit keinem andern, auch keinem geftickten, der
immer nur Frack ift, in eine Gefellfchaft kommen kann,
~ und fo hat er mehr geredet; ich habe mich manchmal
fchon über ihn geärgert, daß ein Menfch, der zwei Jahre
in Rom gewefen ift, einen fo ziehen läßt.
I 10
146 Caroline Herder. [287
[287.] Auguft 7, Caroline Herder an ihren Gatten.
Goethe kam auch heute wieder und fagte mir die
heften Folgen Deiner Reife vor. Unter andern fagte er
auch, daß er vierzehn Tage vor der Abreife aus Rom tag?
lieh wie ein Kind geweint habe.
[288,] Auguft 8. Caroline Herder an ihren Gatten.
Elifa Gore will Dir das nächfiemal fchreiben. Sie hat
zwei Briefe aus Werther überfetzt ins Italienifche ; da wir
dabei waren, kam Goethe. Sie hat ein fehr warmes Herz
für ihn, und konnte nicht mehr lange bleiben. Goethe
grüßt Dich taufend^taufendmal. Er empfindet Deine Ab?
wefenheit nach mir am meiften. Durch Dein Gefpräch,
durch die Aufnahme feiner Gedanken und Mitteilung der
Deinigen, die ihm forthelfen, hatteft Du ihm viel gedient.
Mit Knebel, fagt er, fei das nicht fo. Auch im Politik
fchen fieht er, daß nichts zu tun fei. EFTiat fehr offen
daruHeFgelprochen, das lieh aber nicht fchreiben läßt und
Du alles felbft fchon weißt. Sobald der Herzog fort ift,
will er an den achten Band feiner Werke gehen. Will
dies Jahr noch viel arbeiten. Sein Motto ift abermals:
Wenn Du ftille bift, wird Dir geholfen.
[289.] Auguft 14. Caroline Herder an ihren Gatten.
Eben war Goethe da, er hat viel Luftiges, ich möchte
fagen. Betäubendes über feine häusliche menfchliche Situa?
tion gefagt — es war aber in allem fo viel Klarheit und
Richtigkeit, daß das Betäuben nicht ftatt hat. Er hat nun
alles Glück und Wohlfein auf Proportion, und das Un?
glück auf Disproportion reduziert. Ihm fei es jetzt
gar wohl, daß er ein Haus habe, Effen und Trinken hätte
und dergleichen. Alles was Du in Deinen drei Bänden der
Ideen zur Philofophie der Gefchichte der Menfchheit von
den Tataren bis zu den Römern gefchrieben hätteft, käme
alles darauf hinaus, daß ein Menfch ein Hauswefen be?
fäße, — und (fetzte ich hinzu) mit Vernunft fich regierte!
Das ift der kurze Auszug unferes Gefprächs, das wir
mit ziemlich guter Laune gehalten haben.
[290.] Auguft 14. Caroline Herder an ihren Gatten.
Goethe befucht mich fleißig; er war geftern da, ich
habe Dir im Brief der Herzogin etwas vom Gefpräch er?
292] Weimar. 1788. 147
zählt. Im ganzen will es mir nicht wohl mit ihm werden.
Er lebt jetzt ohne feinem Herzen Nahrung zu geben. Die
Stein meint, er fei finnlich geworden, und fie hat nicht
ganz unrecht. Das Hofgehen und Hofeffen hat etwas
für ihn bekommen. Er will fich diefen Winter ganz an
die Herzogin halten; das fei die einzige, die ihm geblieben.
Mitunter follte ich und die Imhof zu ihm zu Tee kommen.
Ich fagte ja, wenn die Stein mitkäme. Ach, mit der ift
nicht viel anzufangen, fagte er; fie ift verftimmt, und es
fcheint nicht, daß etwas werden will. Ich nahm ihre Par^;
tie fo gut ich konnte; ich glaube aber nicht, daß er ihr
entgegengeht.
[291.] Auguft 17. Caroline Herder an ihren Gatten.
Goethe befucht mich meiftens all andern Tag. Er
war geftern Nachmittag da. Er ift beinah' wie ein Cha:^
mäleon; bald bin ich ihm gut, bald nur halb. Er will
fich auch nie zeigen und nimmt fich vor jeder Äußerung
in acht, daraus man Schlüffe machen könnte ; darum ändert
er auch, glaube ich, fo oft die Reden. Jetzt fchreibt er
fein Pflanzenfyftem auf und erwartet Dich künftiges Jahr
mit Verlangen dazu; er will's ins Lateinifche überfetzen
und Du follft es korrigieren. Dabei war nun zu hören,
daß er auf einige Jahre Arbeit fich zugefchnitten hat. Er
hat das erfte Buch und das übers Chriftentum Deiner
Ideen gelefen und hat großes Wohlgefallen daran; im
erften Buch hätteft Du dem Gewirr der Völker ein eignes
Intereffe dadurch gegeben, daß Du fie auf den Urfprung
zurückgeführt. Dem Rom und Papft hätteft Du auch Ge^^
rechtigkeit widerfahren laffen, indem Du gezeigt, was fie
getan ufw. Deutlich kann ich's nicht fo recht wieder^:
holen; ich fagte ihm, er möchte Dir einmal ein Wort dar*
über fchreiben.
[292.] Auguft 25. Caroline Herder an ihren Gatten.
Den 25. wurde dem guten Adelbert zum Geburtstag
das Tifchchen gedeckt. ^ Um 1 1 Uhr kam Knebel und
bald darauf Goethe; zugleich kam auch das Paketchen
Bücher aus Nürnberg, und das Jubeln der Kinder war
lehr groß. ^ Ich las aus dem Brief Goethe und Knebeln
vor und fie hatten beide gleiche Freude mit mir; nicht
genug können fie die gute Art und das reingewafchene
Auge loben, mit dem Du alles fieheft und fo vielfach
I 10*
I
148 Caroline Herder. [293
fieheft. Goethe intereffiert das um fo mehr, da er, wie er
fagte, nur eine Sache fähe. Nun wurde der Pack aufge?
macht. Goethe bekam feinen Brief oder vielmehr Ge?
dichte. Emil maßte fich den Pack Pfefferkuchen an. ~
Goethe und Knebel aßen von allem mit. ~ Goethe war
fehr gut. Ich lobte ihn, daß er zu diefer guten Stunde
gekommen, da er die ganze Woche nicht dagewefen fei.
Ja, fagte er, ich war fchon auf dem Weg nach meinem
Garten und mußte umwenden; es trieb mich her, nicht
die Liebe, fondern vielleicht die Verzweiflung. Ich ging
foeben vom Herzog weg. Nun war von feinem Geburts^^
tag die Rede; ich erinnerte ihn an unfern Gott [von Her^
derjy den er voriges Jahr erhalten hatte. Da bekam ich, fagte
er lächelnd, den Gott, um dies Jahr an keinen zu glauben.
Es muffen unangenehme Dinge durch fein Gemüt gehen.
[293.] Auguft. Caroline Herder.
f^ Goethe meinte, für eine Frau wäre es immer an?
genehmer mit zwei Herren als in der Herzogin Wagen mit
zwei Erauen zu fahren. Dazu habe ich Ja und Amen gefagt.
[294.] Auguft. Schiller.
Goethen habe ich noch nicht gefehn; aber Grüße
find unter uns gewechfelt worden. Er hätte mich befucht,
wenn er gewußt hätte, daß ich ihm fo nah am Wege
wohnte, wie er nach Weimar reifte.
[295.] Auguft 26./29. Caroline Herder an ihren Gatten.
Goethe war diefe Woche noch zweimal da; er lieft
noch an Deinem vierten Teil der Ideen. Die wilden VöU
ker, Attila, Geiferich und Konforten haben ihn fehr inter^^
effiert; er hat viel davon gefprochen und wird Dir fchrei?
ben. Er meint, wenn Du wieder kommft, wirft Du dem
Werk einen eignen Glanz geben, aber in der Grundidee
nichts ändern können, weil alles unvergleichlich und glück?
lieh gedacht und geftellt fei. Er war fehr heiter und gut.
[296.] Auguft Ende/September Anfang. Caroline Herder.
Mit Bezug auf die Reife der Baronin v. Seckendorf, um fich
den nach Italien reifenden Geiftlichen, Herder und Domherr
Frh. V. Dalberg, anzuschließen.
Goethe ift recht billig. Wie Herder die Sache mit
der Seckendorf anfleht, fo ift fie, fagte er; nimmt er lie
gut auf, fo ift fie gut.
298] Kochberg - Rudolftadt. 1788. 149
[297.] September erftes Drittel. Caroline Herder an ihren Gatten.
Aus Deinem Briefe aus Innsbruck war genug zu ahnen.
Ich fagte nur wenige Worte an Goethe, da antwortete er:
Er wird ItaUen fchnell, aber gut fehen; im Juni eilt er
wieder zu Ihnen. Es ift alles aufs höchlte auf die
Seckendorf aufgebracht und das mit Recht, aus doppelter
Urfache: Euch die Reife zu verderben, fieht ein jeder,
und dann die weibliche Ehre fo ganz zu beleidigen. ^^
In Rom kann Dalberg die Seckendorf nicht bei fich
haben; das ift gegen alle Sitte, man duldet es fogar nicht.
Goethe zuckt darüber die Achfeln. In Neapel, fagt er,
ift das alles erlaubt, nur in Rom nicht.
[298.] September 4./8. Caroline Herder an ihren Gatten.
Goethe fagte neulich einmal: Man reift ja nicht, um
anzukommen, fondern um zu reifen.
Ehe ich weiter fchreibe, will ich Dir auch etwas von
der Kochberger Fahrt fagen. — Den 5. früh 6 Uhr
fuhren wir ab: Goethe, die kleine Schardt, ich und Fritz
von Stein. Der fchönfte Himmel war's, kein Wölkchen
den ganzen Tag; wir waren alle gleich heiter geftimmt.
Die Schardt ward über ihre Zuneigung zu den Engländern
fehr railliert, Goethe hat ihr vornehmes und borniertes
Wefen detailliert, ift über das Betragen des Hofes gegen
fie ziemlich pikiert und hat offen und fehr vernünftig
darüber geredet. Um halb 1 1 Uhr hatten wir den ftoßigen
Weg geendigt. Lotte Lengefeld kam zuerft, uns zu emp:;
fangen, dann die Frau von Stein, die uns alle freundUch
empfing, doch ihn [Goethe] ohne Herz. Das verftimmte
ihn den ganzen Tag. Wir fahen Zeichnungen, die er
mitgebracht. Nachmittag fchlief er, und abends las ich
ihr Stellen aus Deinen Briefen vor. Das gab nun eine
allgemeine Wärme und Teilnehmung. Tags vorher hatte
Goethe dem Prinz Auguft und dem Herzog über das
Chriftentum aus den Ideen vorgelefen, die es außerordent^j
lieh erfreut hatte. Da bekam er nun in Kochberg einen
Brief hierüber, den er Dir fchicken wird. Wir fprachen
viel von Dir. Der andere Tag war in allem diefem gleich,
nur daß Goethe einiges las, das er in den Merkur geben
will, etwas über die Kunft, Beobachtungen über die
Witterung und von der heiligen Rofalia in Palermo. «^
Den Sonntag ging's nach Rudolftadt ins Lengefeldifche
Haus, das eine herzgute Familie ift. Schiller war auch
I
150 Caroline Herder. [298
da; Goethe betrug fich gut gegen ihn und es war eine
gute Stimmung. Die Gegend ift fchön. Abends nach
Kochberg im Mondfchein. Goethe fagte das Gedicht über
die Rofenkreuzer [Die Geheimnijfe] und erzählte aus dem
Taffo. Den andern Tag ging's wieder nach Haufe über
Orlamünde und Jena in dem unvergleichlichen Saaltal und
fchönften Wetter. Durch Schillers Gedicht im Merkur
über die Götter Griechenlands, das Du kennft, kam Goethe
auf die Eigenfchaften, die die Alten in ihren Göttern und
Helden in der Kunfi dargeftellt haben, wie es ihm ge?
glückt fei, den Faden des Wie hierin gefunden zu haben.
Er hat hierüber mit Dir, da ich auch zuhörte, viel ge?
fprochen. Die ganze Idee Hegt, wie es mir dünkt, wie
ein großer Beruf in feinem Gemüt. Er fagte endlich:
Wenn Ludwig XIV. noch lebte, fo glaubte er durch feine
Unterftützung die ganze Sache ausführen zu können; er
hätte einen Sinn für das Große gehabt; mit 10 bis 12000
Reichstalern des Jahrs könnte er's in zehn Jahren, in Rom
allein, verfteht lieh's, ausführen. Der moralifche Sinn
darinnen hat mich fehr gerührt. Ihr beide geht wie zwei
Genien der Menfchheit zu Einem Ziel. Gar fchön war's,
wie er fagte, daß ein einzelner Menfch nie einen Charakter
in dem höchften Ausdruck haben könne; er würde nicht
leben können; er müßte vermifchte Eigenfchaften haben,
um zu exiftieren. Er war in der Stunde, da er dies alles
fprach, recht in feinem Himmel, und wir haben ihm ends;
lieh verfprechen muffen, mit niemand davon zu reden.
Du warft natürlich nicht darunter begriffen; denn Du
gehörfi ja ganz eigentlich und allein zu diefem Gefpräch.
Dich vermißt er je länger je mehr. Mit Knebel kann
er über nichts reden, fagte er; Du verftehft ihn und hilfft
ihm vorwärts durch Dein Studium. In Jena aßen wir
den Mittag bei Knebel, der durch die hiefige Wirtfchaft
ziemlich verftimmt war. ^
Gehe ja gleich aufs Land nach Tivoli ufw., damit das
schwere Rom Dich nicht fo fehr drückt. Goethe fagte,
wenn er wieder nach Rom käme, würde er von 12 Uhr
bis 2 fchlafen, die Stunden vor dem Effen. Viele täten
es fo und befänden (ich wohl. Einen feidnen Gürtel,
der dort morgens und abends getragen wird, unter der
Wefte, kaufe ja bald und vergeffe ihn befonders des
Abends nicht; man trägt ihn in der Tafche mit fich, um
ihn immer zu haben.
300] Kochberg - Rudolftadt. 1788. 151
[299.] September 7. Caroline Herder an ihren Gatten.
Über die Götter und Helden will ich Dir doch
etwas fagen, was ich damals beiläufig von Goethe gehört
habe, als er von den Charakteren in den Bildfäulen
fprach, als wir von Kochberg zurückfuhren. Es ift felbft
fchwer einen echten und wahren Götter? und Heldenkopf
unter den alten aufzufinden. Der Künftler hat oft, wenn
er diefen oder jenen ehren wollte, fein Porträt zum Gott
oder Helden, oder jenes Frauenporträt zur Göttin ge?
nommen. Dazu gehört ein Studium, die echten Ideale
aufzufinden. Vielleicht weißt Du dies fchon, oder es
wird Dich aufmerkfam machen. Wenn Goethe begünfiigt
würde durch Glück, Geld und Künftler in Rom, fo glaube
ich gewiß, daß er jeden menfchlichen Charakter vom
Scheitel bis zur Fußfohle, wie er glaubt, herausbringen
könnte. Dies fcheint tief in feiner Seele zu liegen. Sage
aber um Gottes willen keinem etwas davon, weder Angelica
noch den Malern! Wir haben ihm ein heiliges Still:;
fchweigen angeloben muffen.
[300.] September 5/7. Charlotte v. Kalb.
Diefen Sommer war Goethe auf einige Monate in
Weimar anwefend und während diefer Zeit waren zu?
weilen Partien, wo fich die Bekannten vereinigten. Die
Unterhaltung war nicht fo teilnehmend und lebhaft wie
früher; fpärlich war die Rede und der Ausdruck erftarrte
meift auf den Lippen, es herrfchte oft feierliches Schweigen
und gleich froftiges Meinen und Sinnen.
Einen Tag verlebten wir bei Frau v. Stein zu einer
Kollation. Goethe ftand am Fenfter, hatte eine Glasfeheibe
in der Hand und einen Bogen, zeigte, wie bei jeder Be?
wegung des Bogens der Sand auf dem Glafe verfchiedene
Figuren bildete. Das Geringfte war ihm bedeutend, was
zum Gefetz der Ordnung gehörte, und fo intereffierte ihn
dies wunderbare Spiel lebhaft; und wie unzerfiörbar die
geheimnisvolle Ordnung der Natur, konnte wohl auch
dies Experiment beweifen; die Winde zerftreuen den
feinen Sand, der leife Strich des Bogens zwingt die
Körnchen zu beftimmten fchönen Formen. Es befchäf?
tigten uns feine Verfuche in lebendig angeregter Teilnahme
mit ihm.
152 Schiller. [301
[301.] September 7. Schiller an Körner.
Endlich kann ich Dir von Goethe erzählen, worauf
Du, wie ich weiß, fehr begierig warteft. Ich habe ver?
gangenen Sonntag beinahe ganz in feiner Gefellfchaft zu?
gebracht, wo er uns mit der Herder, Frau von Stein und
der Frau von Schardt, der, die Du im Bad gefehen haft, be?
fuchte. Sein erfier Anblick Itimmte die hohe Meinung
ziemlich tief herunter, die man mir von diefer anziehenden
und fchönen Figur beigebracht hatte. Er ift von mittlerer
Größe, trägt fich fteif und geht auch fo; fein Geficht ift
verfchloffen, aber fein Auge fehr ausdrucksvoll, lebhaft,
und man hängt mit Vergnügen an feinem Blicke. Bei
vielem Ernft hat feine Miene doch viel Wohlwollendes
und Gutes. Er ift brünett und fchien mir älter auszu?
fehen, als er meiner Berechnung nach wirklich fein kann.
Seine Stimme ift überaus angenehm, feine Erzählung fließend,
geiftvoll und belebt; man hört ihn mit überaus vielem
Vergnügen; und wenn er bei gutem Humor ift, welches
diesmal fo ziemlich der Fall war, fpricht er gern und mit
Intereffe. — Unfere Bekanntfchaft war bald gemacht und
ohne den mindeften Zwang; freilich war die Gefellfchaft
zu groß und alles auf feinen Umgang zu eiferfüchtig, als
daß ich viel allein mit ihm hätte fein oder etwas anderes
als allgemeine Dinge mit ihm fprechen können. Er fpricht
gern und mit leidenfchaftlichen Erinnerungen von Italien;
aber was er mir davon erzählt hat, gab mir die treffendfte
und gegenwärtigfte Vorftellung von diefem Lande und
diefen Menfchen. Vorzüglich weiß er einem anfchaulich
zu machen, daß diefe Nation mehr als jede andere euro:=
päifche in gegenwärtigen Genüffen lebt, weil die Milde
und Fruchtbarkeit des Himmelsftriches die Bedürfniffe
einfacher macht und ihre Erwerbung erleichtert. — Alle
ihre Lafter und Tugenden find die natürlichen Folgen
einer feurigen Sinnlichkeit. Er eifert fehr gegen die Be?
hauptung, daß in Neapel fo viele müßige Menfchen feien.
Das Kind von fünf Jahren foll dort fchon anfangen zu
erwerben; aber freilich ift es ihnen weder nötig noch
möglich, ganze Tage, wie wir tun, der Arbeit zu widmen.
In Rom ift keine Debauche mit ledigen Frauenzimmern,
aber defto hergebrachter mit verheirateten. Umgekehrt
ift es in Neapel. Überhaupt foll man in der Behandlung
des anderen Gefchlechts hier die Annäherung an den
Orient fehr ftark wahrnehmen. Rom, meint er, muffe fich
302] Rudolftadt - Weimar. 1788. 155
erft durch einen längeren Aufenthalt den Ausländern
empfehlen. In Itahen foll fich's nicht teurer und kaum
fo teuer leben, als in der Schweiz. Die Unfauberkeit
fei einem Fremden faft ganz unausftehlich.
Angelica Kaufmann rühmt er fehr, fowohl von feiten
ihrer Kunft, als ihres Herzens. Ihre Umftände follen
äußerft glückUch fein; aber er fpricht mit Entzücken von
dem edlen Gebrauch, den fie von ihrem Vermögen macht.
Bei allem ihrem Wohlftande hat weder ihre Liebe zur
Kunft, noch ihr Fleiß nachgelaffen. Er fcheint fehr in
diefem Haufe gelebt zu haben und die Trennung davon
mit Wehmut zu fühlen.
Ich wollte Dir noch mehreres aus feiner Erzählung
mitteilen, aber es wird mir erft gelegentlich einfallen. Im
ganzen genommen ift meine, in der Tat große Idee von
ihm nach diefer perfönUchen Bekanntfchaft nicht ver^;
mindert worden; aber ich zweifle, ob wir einander je
fehr nahe rücken werden. Vieles, was mir jetzt noch
intereffant ift, was ich noch zu wünfchen und zu hoffen
habe, hat feine Epoche bei ihm durchlebt; er ift mir (an
Jahren weniger, als an Lebenserfahrungen und Selbftent^
Wickelung) fo weit voraus, daß wir unterwegs nie mehr
zufammenkommen werden; und fein ganzes Wefen ift
fchon von Anfang her anders angelegt, als das meinige,
feine Welt ift nicht die meinige, unfere Vorftellungsarten
fcheinen wefentlich verfchieden. Indeffen fchließt fich's
aus einer folchen Zufammenkunft nicht ficher und gründe
lieh. Die Zeit wird das Weitere lehren.
Diefer Tage geht er nach Gotha, kommt aber gegen
Ende des Herbftes wieder zurück, um den Winter in
Weimar zu bleiben. Er fagt mir, daß er Verfchiedenes
in den Merkur geben v/erde; ob er auf nächfte Öfteres
meffe feine Schriften endigen würde, macht er zweifelhaft.
Jetzt arbeitet er an Feilung feiner Gedichte.
[302.] September 22. Caroline Herder an ihren Gatten.
Ich fchreibe Dir heute fchon wieder: die Affäre des
Geldes kränkt mich aber je länger je mehr. Je länger
ich darüber nachdenke, je unedler und niedriger finde
ich's, daß Dich Dalberg bezahlen läßt. Er hat Dir die
Reife angetragen, er wußte fo gut, als wir, daß Du nicht
in der Verfaffung bift, eine Reife nach Italien zu untere:
nehmen, noch weniger mit ihm al Barone zu bezahlen.
I
154 Caroline Herder. [302
Unfre Gutheit fpielt uns eben immer üble Streiche, und
in der erften Aufwallung und Teilnehmung an Deinem
Verdruß dachte ich, ich könnte und müßte Dir Geld
fchaffen, wenn auch gleich zu unferm Nachteil. Die Sache
wird mir aber je länger, je wichtiger, ich habe daher
gegen Dein Verbot gehandelt und in Zeiten, ehe wir
etwas durch gutherzige Übereilung verderben, Goethe um
Rat gefragt. Wie ihn das ganze Betragen indigniert hat,
kann ich Dir nicht fagen. An dem allen ift freilich nie^
mand, als die Seckendorf fchuld; Dalberg felbft ift aber
äußerft fchwach, daß er Dein Anerbieten des Mitbezahlens
angenommen hat. Jetzt muffen wir darauf denken, daß
wir in kein größeres Labyrinth kommen ohne unfere
Schuld. Das Refultat unferer Beratfchlagung hierüber ift
diefes. Das Geld, was ich Dir diefen Winter bis Oftern
erfparen kann, — muffen wir als einen Hinterhalt zu Deiner
Rückreife aufheben. Du felbft mußt nun mit Dalberg
mündlich und allein, nur um Gottes willen nicht
fchriftlich, durch einen Brief etwa, fprechen, ihm
ungefähr dies fagen: Du hätteft die Reife auf fein An:;
erbieten mit ihm unternommen. Er wüßte fo wohl wie
Du, daß Du nicht mit Frau und fechs Kindern in dem
Verhältnis wäreft, eine folche Reife auf Deine Koften zu
tun. Du fowohl, als alle Deine Freunde hier find in der
Meinung gewefen, daß Du auf feine Koften mitreifteft.
Er felbft war es gewiß nicht anderes Sinnes, da er in
Augsburg alles zu bezahlen übernommen hat. Da nun
die Reife durch den Beitritt der Frau von Seckendorf fo
hoch gekommen, fo hätteft Du freilich aus übergroßer
Gutmütigkeit Deinen Teil davon mit bezahlt; Du müßteft
ihm aber fagen, daß Du Dich nicht darauf eingerichtet
hätteft, auch nicht in der Verfaffung feieft, Dir von Haufe
Geld kommen zu laffen. Indeffen, wenn es feine Meinung
fei, daß Du bezahlen follft, fo müßte er Dir aus feiner
Kaffe fo viel leihen, als Du brauchft, und Du würdeft
ihm folches nach Deiner Heimkunft nach und nach ab^
tragen. Hier bitte ich Dich nun, lieber Engel, auf den
Knieen, gegen undelikates Betragen nicht delikat zu handeln,
fondern diefen Vorfchuß als Gerechtigkeit von ihm zu
verlangen, und Du wirft es auch erhalten. Goethe be^
hauptet, Dalberg muffe einen unbedingten Kreditbrief mit?
haben, anders hätte er die Reife nicht unternehmen können.
Sie find eben wie Kinder, fagte er, die einen Spinnrocken
305] Weimar. 1788. 1^
anzünden und, wenn er dann brennt, darüber erfchrecken.
Ja, ich weiß es am beften, was es für Geld koftet, und
obendrein ein Weib mitzuführen, ift lächerUch, koftfpiehg,
und macht weder Spaß noch Nutzen. ^ Findeft Du für
notwendig, von Dalberg zu ziehen, mehrerer Erfparnis
wegen, fo ift das Zimmer, das für den Kayfer beftimmt
war und worinnen Goethe logiert hat, noch ledig. Da
könnteft Du, wenn Du auch mit ihnen zu Tifch geheft,
was Merkliches erfparen, und mit Bury kannft Du das
alles abmachen. Goethens Freunde werden Dir dort mit
Rat und Tat an die Hand gehen, wenn Du Zutrauen
zu ihnen hafi, fagt Goethe. — Die Rückreife hat Goethe
500 Rtlr. gekoftet; Dich wird fie nicht um einen Pfennig
weniger koften. Die 100 Rtlr., die darüber find, gehen
für einige Liebhabereien zu kaufen drauf.
[303.] September 26. Caroline Herder.
Wie Goethe vom Bezahlen hörte, rief er aus: Den
Teufel auf den Kopf! nicht einen Pfennig muß Herder
dort bezahlen! Glaubt der kleine Menfch, daß er Herdern
nicht unendliche Verbindlichkeit fchuldig ift, daß er die
Reife mit ihm unternommen hat! Sein Verftand, feine
Kenntniffe und fein Wert muffen unfchätzbar für ihn
fein. Nein, Ihr muffet durchaus in keine Verlegenheit
durch ihn kommen. Er muß bezahlen, das ift er
fchuldig.
[304.] September Ende. Caroline Herder.
Goethe hat mir die erfte Abteilung feiner Gedichte
gegeben; es find gar fchöne darunter, befonders zwei
idyllenartig, die mir ganz vorzüglich gefallen. Ich habe
recht vernünftig mit ihm darüber gefprochen; er wird auch
An die Chriftel und Käthchen* auf meine Bitte her^
auslaffen.
[305.] Sept. Ende / Okt. Anf Caroline Herder an ihren Gatten.
Ich denke, in einem Jahr hat man für die Menge
Geld Italien fatt, wenn man kein Künftler ift. Goethe
gedeiht am beften in Rom. Sein ganzes Wefen ift mir
noch ein Rätfei; ich weiß nicht, wie ich ihn entziffern
* Die, Chriftel und Rettung überfchriebenen Gedichte, die
früher im Merkur und in der Iris erfchienen waren.
I
156 Caroline Herder. [306
foU. Vor mehreren Wochen fagte er mir einmal, er für
feine Perfon hätte viel Glück, ja, es firömte ihm von allen
Seiten zu, aber nur für andre habe er kein Glück. Ich
fühlte diefe Wahrheit fehr tief. Sogar fein Petfchaft, mit
dem Du mir fiegelteft, hat mir nichts Gutes gebracht.
[306.] September Ende /Oktober Anfang. Schiller.
Meine Rezenfion von Egmont hat viel Lärm in Jena
und Weimar gemacht, und von der Expedition der AUj:
gemeinen Literaturzeitung find fehr fchöne Anerbietungen
an mich darauf erfolgt. Goethe hat mit fehr viel Ach*:
tung und Zufriedenheit davon gefprochen.
[307.] Oktober. Caroline Herder an ihren Gatten.
Ich bin durch einen Befuch vom Erbprinzen und
Riedel, die fich diefen Nachmittag angemeldet hatten, um
die Kinder auf dem Seil zu fehen, verhindert worden, wei^;
ter zu fchreiben. Goethe kam auch, und hat mir nach^
her, nachdem wir viel von Dir geredet haben und er fich
recht gefreut hat über das, was und wie Du gefehen haft,
und mich über das Ausbleiben der Briefe getröftet und
es als notwendige Zufälle einer Reife betrachtet, fo hat
er mir nachher aus dem Taffo einige Stellen gelefen. Es
ift eine vortreffliche Arbeit, eine vortreffliche, würdige
Sprache, ein herrlicher Geift, der die Charaktere fo präzis
darftellt. Ich habe nur noch wenig gehört, es gefiel mir aber
fehr, und es freute ihn. Er fagte, die Jamben feien noch
beffer, als in der Iphigenia. — Es ift ihm lieb, daß Du nun
in Rom bift. Da, fagt er, brauchft Du auch nicht mehr fo
viel Italienifch; er hätte meift Deutfeh gefprochen. Ich
hoffe, daß Ihr den Antiquarius Hirt nicht vergeffen werdet
zu nehmen und die Dukaten doch da nicht fparen werdet.
Es freute ihn, was Du fogleich vom Bury und der Angelica
gefchrieben.
[308.] Oktober 12. J. v. Müller.
Unterwegs habe ich nur »^ einen halben Tag «^ in
Weimar verweilt. Hier überrafchte ich die Herder in:^
mitten im Effen '^ und da wurde ^ viel gefprochen, bis
der kleine Gottfried Herder an den Hof ging, Goethe zu
holen, und dann mich bei die gotifche Kirche in des Hers=
zogs Garten brachte, da denn der Mann erfchien und wir
eintraten in alle Politik des heiligen Reichs, bis plötzlich
geklatfcht wurde und die Poftpferde trabten.
310] Weimar. 1788. 157
[309.] Oktober 13. Caroline Herder.
Goethe kam den Montag zu mir. Von Müllern fagte
er, er fähe völlig wie ein Domherr; und das ift wahr.
Übrigens gefällt er ihm fo halbwegs. Die Zeit war frei^
lieh zu kurz. Vom Kaifer fagte er, er hätte das Haus
Ofierreich durch diefen Krieg fo heruntergebracht, daß es
fich in hundert Jahren nicht erholen werde. Ich fagte:
So wird's unferm Herzog auch gehen. — Ja, nicht anders,
antwortete er; und fo geht's uns allen, wenn wir unfere
Eigenheit irgendwo oder am unrechten Ort, wie es ge?
meiniglich gefchieht, durchletzen. So ift mir's von Jugend
aufgegangen; ich war frei und reich, konnte fie alfo öfters
und mehr durchfetzen, als ein anderer, und ich weiß am
heften, wo und wie fie mir gefchadet; und wenn ich mich
jetzt nicht fo zufammennähme, fo würde es noch mehr ge^;
fchehen. So fchadet dem Herder jetzt feine Eigenheit.
Niemand wird es glauben, aber Zartheit und Nachgiebige
keit ift feine Eigenheit, und nun leidet er darunter. Hätte
er gefühlt, wer er ift und wie ihm manquiert worden, er
hätte von Augsburg aus fich nicht fo gütig betragen. Und
daher kommt's manchmal, daß er hernach am unrechten
Ort gegen Menfchen das Rauhe hervorkehrt. Diefe gold^
nen Worte waren, als wenn fie aus unfer beiden Seelen
herausgeredet wären. Ich fagte ihm, daß Du es fo gut
als ich wüßteft, daß wir bei jeder Gelegenheit es merkten
und es oft übel empfänden. Bei Deinem Verhältnis zu
Dalberg fagte er ferner: Und wenn ihn Herder 3000 Rtlr.
kofiet, fo ift's nicht zu viel; er hat ihm ja noch immer
feine Perfon nicht bezahlt. Ferner fagte er : Die Secken^
dorf zeigt einen unfäglichen Verftand in ihrer Einrichtung
— es ift das fchönfte Haus in Rom — mit Eklat und An^
ftand will fie den Schritt gut machen. Sie verfteht ihr
Handwerk, und der künftige Kurfürft kann's bezahlen. —
[310.] Oktober 20. Caroline Herder an ihren Gatten.
Die Seckendorf fängt's doch auch gar zu toll an. ~
Goethe ift diefen Augenblick bei mir gewefen. Er findet
es ebenfo unverftändig, wie ich. Er glaubt, daß fie aus
Knickerei nicht nach Frascati gefahren find. Es freute ihn,
daß Du hingefahren bift. Er will nur fehen, wie die Rö^
mer, die fo beißende Zungen haben, den ganzen unver?
fchämten und ungewöhnlichen Auftritt anfehen und be^
I
158 Caroline Herder. 311]
reden werden. Einem reichen Mylord ift von feiten der
päpftlichen Polizei an die Hand gegeben worden, feine
Maitreffe wegzufchaffen , weil es nicht Sitte in Rom fei.
Gegen den Bruder des künftigen Kurfürften werden fie
freilich fchonender fein, aber Goethe glaubt doch, daß
man fie 's wird empfinden laffen. Einmal erfcheint fie
doch als Dalbergs Maitreffe, der ganze Zufchnitt ihrer
Einrichtung zeigt's deutlich genug. Eine ehrliche Frau
treibt's nicht fo. Eine reiche fchlefifche adelige Frau mit
ihrem Mann haben nur wenige Zimmer zufammen gehabt,
wofür fie monatlich vielleicht nur zehn Zechinen gegeben
haben, und haben doch ein fehr gutes Haus ausgemacht,
wie mir Goethe erzählte. Ich hoffte noch immer, daß fie
fich zur Herzogin fchlagen wird; er meint, fie wird eine
größere Rolle zu fpielen fuchen, als die Herzogin. Er
bedauert Dich unfäglich, doch glaubt er gewiß, daß es
nach und nach beffer gehen wird. '^ Die Angelica wird
ihre Pfiffe fchon durchfchauen. Goethe hat der Angelica
ihren Namen nicht genannt, auch Dalbergs nicht. Dich
hat er ihr aber fehr empfohlen, auch die Herzogin^Mutter
mit dem Zufatz: Ihr eigner Verftand wird das Gute an
ihnen am heften felbfi: beurteilen.
Die Preußen ziehen einen Kordon gegen die Dänen,
des Herzogs Regiment ift aber nicht dabei. Er ift noch
nicht hier, wird immer von einer Woche zur andern er:;
wartet. Vor Dresden hat er wieder einen fo heftigen Sturz
getan, als voriges Jahr vor Berlin. Er hatte das Pferd
den ganzen Tag geritten, es war endlich müde, er wollte
es nach Haufe forcieren, und es überfchlug wieder mit
ihm, Goethe hat mir's felbft erzählt.
[311.] Oktober 20. Caroline Herder an ihren Gatten.
Da Du Dich mit den Künftlern, wie Goethe felbft
fagt, in das Detail, ihre Mühe und Arbeit nicht einläffeft,
fo haft Du mit ihnen auch den Genuß nicht, den er hatte.
Ob Du mit dem gutherzigen Bury umgehen kannft, zwei?
feit er; das Gemüt (nämlich des Bury gutes Gemüt) kann
ja nicht fprechen, fagte er.
[312.] Oktober Ende. Caroline Herder an ihren Gatten.
Ich fprach mit Goethe wegen dem Wechfel. Es find
150 Rtlr. bar da, des Herzogs halbjährige Zulage; ich
wollte noch 150 dazu leihen und den vollen Wechfel von
317] Weimar. 1788. 159
300 Rtlr. Dir fchicken. Er widerriet mir aber das Leihen
und meint, vorderhand foll ich Dir nur 150 Rtlr. oder
100 Scudi (durch Scudi gewinnt man, durch Zechinen
aber verUert man) fchicken, welches er auch vorigen Fo[U
tag beforgt hat. In vier Wochen ^^ wäre das andere ers:
folgt, bis ich über die ganze Summe mir Rat gefchafft hätte.
[313.] Oktober Ende. Caroline Herder an ihren Gatten.
Goethe fcherzte letzthin, es würde Dir nicht wohl
werden in Rom, bis Du liebteft. — Gebe das gute Schick?
fal Dir gute Stunden für manches lange Leiden; nur fei
klug und vorfichtig.
[314.] November Anfang. Caroline Herder an ihren Gatten.
Ich habe Dir im vorigen Brief die Abfchrift vom
Brief des Unbekannten* gefchickt. Ich erzählte es Goethe
und fagte, wie wichtig es für uns fei, jetzt zu wiffen, ob
das Geld von Dalberg fei. Da antwortete er: Ihr habt
das bisher immer fo gewiß angenommen, als ob es Dal?
berg fei. Man glaubt aber, es fei der Markgraf von Baden,
Dalberg fei dabei meliert gewefen. Ich habe ihn foeben
durch ein Billett gefragt, ob er mir etwas Gewiffes hier?
über fagen könne; er antwortete aber nichts darauf. '^
Nach dem, was Goethe gefagt, wird es mir evident, daß
es der Markgraf ift und Dalberg etwas davon weiß.
[315.] Herbft. Caroline Herder.
Goethe fagte es fchon zum voraus: Herder wird Rom
gewiß gut fehen. Den Kurs macht er freilich mit dem Dom^
hevrn Dalberg, der nichts recht fehen wird, alsdann fieht
er's hernach mit Hirt und den andern für (ich allein, und
genießt's erft.
[316.] November Anfang. Caroline Herder.
Goethe wird's auch wohler in Jena; er fühlt fich dort
zu Haufe und hier fremd, das fagte er mir felbft.
[317.] November 11. Auguft Herder.
Der Herr Geh. v. Goethe ift fchon am Sonntag nach
Jena gereift und bleibt noch vierzehn Tage dort, er geht
^\
* Herdern waren 1200 Rtlr, anonym zugefandt worden.
160 Auguft Herder. [318
alle Tage von 3—4 Uhr ins Kollegium. Den Dienstag
fagte er zu mir, wenn es appetitlicher wäre, fo hätte er
mich mitgenommen.
[318.] Nov. Ende /Dez. Anf. Caroline Herder an ihren Gatten.
Als Dein Brief an Prinz Auguft in Gotha ankam,
fiand gerade Goethe bei ihm und bat ihn, unferm Her?
zog nichts davon zu fagen, weil er noch keinen von Dir
erhalten hat.
[319.] Dezember Anfang. Schiller an Ch. G. Körner.
Du wirft in zwei oder drei Monaten aller Wahrfchein?
lichkeit nach die Nachricht erhalten, daß ich Profeffor der
Gefchichte in Jena geworden bin; es ift faft fo gut als
richtig. Vor einer Stunde fchickt mir Goethe das Refkript
aus der Regierung, worin mir vorläufige Weifung gegeben
wird, mich darauf einzurichten. Man hat mich hier über?
tölpelt, Voigt vorzüglich, der es fehr warm beförderte. ^
Voigt fondierte mich; an demfelben Abend ging ein Brief
an den Herzog von Weimar ab, der juft in Gotha war
mit Goethe; dort wurde es gleich mit ihnen eingeleitet
und bei ihrer Zurückkunft kam's als eine öffentliche Sache
an die Regierung. Goethe beförderte es gleichfalls mit
Lebhaftigkeit und machte mir felbft Mut dazu. ^^ Goethe
fagt mir zwar: docendo discitur, aber die Herren wiffen
alle nicht, wie wenig Gelehrfamkeit bei mir vorauszu?
fetzen ift.
[320.] Dezember. Schiller an Charlotte v. Lengefeld.
Goethen habe ich unterdeffen einmal befucht. Er ift
bei diefer Sache überaus tätig gewefen, und zeigte viele
Teilnehmung an dem, was er glaubt, daß es zu meinem
Glück beitragen werde. Knebel, dem er es entdeckt hat,
war vermutlich juft in feiner teilnehmenden Laune.
[321.] Charlotte v. Lengefeld an Schiller.
Daß Sie Goethens Teilnahme an dem Schickfal andrer
haben kennen lernen, freut mich, er hat fo etwas Zu?
trauenerweckendes in fich, daß ich ihm alles fagen könnte ;
ich habe mich fchon oft gefreut, wenn ich hörte, wie er
fich für das Wohl anderer intereffieren kann.
326] Weimar. 1788. 161
[322.] Dezember 5. K. Ph. Moritz.
Seit geftern bin ich nun hier ^^ in Goethens Haufe.
f^ Gleich geftern abend über Tifch fragte Goethe auss^
drückhch: was macht Macco? und freute fich fehr, als
ich ihm Ihre glücklichen Umftände erzählte.
[323.] Dezember. Schiller.
Moritz ift eben hier auf feiner Rückreife von Italien;
er wohnt bei Goethe. Letzterer hat ihm feinen Stempel
mächtig aufgedrückt. Sie kamen einander in Rom fehr
nahe, und Moritz ift über Goethes Humanität panegyrifch
entzückt.
[324.] Dezember 8. Caroline Herder an ihren Gatten.
Goethe kam den Abend ein wenig zu mir, um zu
hören, was ich Gutes von Dir hätte. Er nahm an allem
teil und befonders, daß die Herzogin fo artig gegen Dich
ift. Die Göchhaufen fchrieb an die Stein und die Kalb
viel Gutes von Dir, fowie fie an die Steinin von Deinem
Mißverhältnis mit der Seckendorf ein Wort fallen ließ
und an andre vielleicht fchon mehr darüber gefchrieben.
Kurz, Goethe erzählte mir, daß der Herzog ihn darüber
befragt und daß er nicht umhin gekonnt hätte, ihm die
Wahrheit zu fagen. Darauf habe der Herzog gefagt:
Wenn Herder was braucht, fo will ich's ihm geben. Goethe
lehnte es aber ab und fagte: Für diesmal muß Dalberg
zahlen und hierüber ift alles in Richtigkeit: wenn Sie aber
zu einer andern Zeit etwas für ihn tun wollen, fo tun
Sie's. Mich dünkt, diefe Antwort war von Goethe ganz
verftändig und gut. ^ Goethe grüßt Dich herzlich. Mo^
ritzens Gegenwart tut ihm fehr gut und er muß fo lange
hier bleiben, bis der Taffo fertig ift.
[325.] Dezember. Caroline Herder.
Goethe ift gar trefflich lieb und gut feit feiner Wieder^
kunft. Er erfcheint mir immer wie ein höherer Genius.
O, wie jammert es mich, daß er jetzt nicht in Rom ift!
[326.] Dezember Ende. Caroline Herder an ihren Gatten.
Den Montag war die Stein, die Kalb und Moritz zum
Kaffee bei mir; gegen Abend kam Goethe und Knebel.
Wenn wir Frauen mit Moritz allein lind, da geht es gar
I 11
162 Caroline Herder. [327
hübfch; er ift alsdann unfer Prophet, und unfre Kennt?
niffe nehmen jedesmal zu. So war er zwei Tage vorher
zum Kaffee allein bei mir; wir kamen auf Goethens Werke;
da fagte er mir, wie er durch das Studium der Perfpek?
tive darauf gekommen fei, den Mittelpunkt in einem Stück
aufzufuchen; den muffe man nun nicht am Ende des Stücks,
fondern in der Mitte fuchen, fowie alle Radien vom Mittel?
punkt ausgehen und fich in den Anfang und Ende ver?
lieren. ^ Den Montag war nun wieder die Rede davon,
und wir frugen nach dem Mittelpunkt in Götz von Ber?
lichingen. Den follten wir aber felbft auffuchen, fagte
er; er hätte ihn auch gefunden und es Goethe gefagt, da
hätten fie zufammen fehr gelacht. Goethe war über Deinen
Brief an ihn vergnügt; er dankt Dir und grüßt Dich.
[327.] Dezember Ende. Caroline Herder.
Goethe warnte mich letzthin fehr ernftlich vor meinen
Träumen; das Schlimmfte dabei fei, fie machen den Ver?
fiand krank.
[328.] 1788/89 Winter. Auguft Herder an feinen Vater.
Der Herr Geheimrat von Goethe hat uns zwei Bilder
gefchickt, wo Brunnen in Rom ganz mit Eis überzogen
waren und alles befchneit war, und ließ dabei fagen : fo fähe
es jetzt in Rom aus, aber Sie wärmten fich am Vefuv. ~
[329.] 1788/1789. Schiller an Ch. G. Körner.
öfters um Goethe zu fein würde mich unglücklich
machen: er hat auch gegen feine nächften Freunde kein
Moment der Ergießung, er ift an nichts zu faffen; ich
glaube in der Tat, er ift eirL-Egoift in ungewöhnlichem
Grade. Er befitzt das Talent, die Menfchen zu feffeln,
und durch kleine fowohl, als große Attentionen fich ver?
bindlich zu machen; aber fich felbft weiß er immer frei
zu behalten. Er macht feine Exiftenz wohltätig kund, aber
nur wie ein Gott, ohne fich felbft zu geben — dies fcheint
mir eine konfequente und planmäßige Handlungsart, die
ganz auf den liöchften Genuß der Eigenliebe kalkuliert
ift. Ein folches Wefen follten die Menfchen nicht um
fich herum aufkommen laffen. Mir ift er dadurch ver?
haßt, ob ich gleich feinen Geift von ganzem Herzen liebe
und groß von ihm denke. Ich betrachte ihn wie eine
ftolze Prüde, der man ein Kind machen muß, um fie vor
332] Weimar. 1789. 163
der Welt zu demütigen. — Eine ganz fonderbare Mifchung
von Haß und Liebe ift es, die er in mir erweckt hat, eine
Empfindung, die derjenigen nicht ganz unähnUch ift, die
Brutus und Caffius gegen Cäfar gehabt haben muffen;
ich könnte feinen Geift umbringen und ihn wieder von
Herzen Heben. Goethe hat auch viel Einfluß darauf, daß
ich mein Gedicht gern recht vollendet wünfche. An feinem
Urteil liegt mir überaus viel. Die Götter Griechenlands
hat er fehr günftig beurteilt; nur zu lang hat er fie ge^
funden, worin er auch nicht unrecht haben mag; fein Kopf
ift reif, und fein Urteil über mich wenigftens eher gegen
mich als für mich parteiifch. Weil mir nun überhaupt
nur daran liegt. Wahres von mir zu hören, fo ift dies
gerade der Menfch unter allen, die ich kenne, der mir
diefen Dienft tun kann. Ich will ihn auch mit Laufchern
umgeben, denn ich felbft werde ihn nie über mich befragen.
1789.
'530.] Januar. Caroline Herder.
Den Montag war ich zum Tee bei die (I) Stein eins:
geladen. '^ Goethe kam mit Moritz, ging aber bald wieder
nach Haufe; er arbeitet viel am Taffo, und Moritz foll
nicht eher reifen, bis er damit fertig ift.
[331.] Februar Anfang. Caroline Herder.
Geftern vertraute mir Knebel etwas von feinem Streit
mit Goethe und Moritz über des letzteren Abhandlung
Über die bildende Nachahmung des Schönen. Es ift nun
alles wieder gut. Goethe zeigt Moritzens Abhandlung
in der Literaturzeitung an und hat einen Auszug davon
gemacht, den er Knebeln geftern gegeben hat, worüber
er fehr zufrieden war, und ihm nur nochmals feine eigne
Vorftellungsart von der Schönheit der Kunft und der Schöne?
heit der Natur deutlicher gemacht hat, und worüber, wie
mich dünkt, Knebel die richtige Grenze gefunden hat.
Moritz hat diefe Grenze in der Abhandlung nicht deut:;
lieh bemerkt oder gar in eins gebracht; dies war's, was
den Knebel fo fehr aufbrachte.
[332.] Februar 5. Caroline Herder.
Ich war geftern den meiften Teil des Abends bei
Goethe. Den Unterfchied der Schönheit als Vollkommen?
I 11*
164 Caroline Herder. [333
heit eines Ganzen und als Vollkommenheit eines fchein^
baren Ganzen erkannte er nicht nur, fondern fagte auch
darüber noch mehrere fehr richtige Sachen. Schönheit der
Natur ift Vollkommenheit des Ganzen, zu einer anfchau*
liehen Kenntnis gebracht; Schönheit der Kunfi ift gleiche
fam der Anblick des Vollkommenen, in der Seele des
Künftlers zur Geftalt gereift und durch innere Kraft wieder
zur Geftalt wirkend. Die erfte Schönheit befteht in Ord^
nung und Gefetzen der Natur, foweit fie übereinftimmend
erkannt werden; die Schönheit des Künftlers gründet fich
auf diefelbe Ordnung, aber fie wirkt ftärker auf die Sinnes?
kräfte und äußert fich durch die Art und Weife, wie der
Künftler jene aufzunehmen und darzuftellen vermag. Bei?
derlei Arten mifchen fich in der Seele ; die letzte allein be?
fiimmt den Wert des Künftlers.
[333.] Februar. Schiller an Caroline v. Beulwitz.
Über Goethen möchte ich wohl einmal im Vertrauen
gegen Sie ein Urteil von mir geben, aber ich könnte mich
fehr leicht übereilen, weil ich ihn fo äußerft feiten fehe
und mich nur an das halten kann, was fich mir in feiner
Handlungsart überhaupt aufdringt. Goethe ift noch gegen
keinen Menfchen, fo viel ich weiß, fehe und gehört habe,
zur Ergießung gekommen — er hat fich durch feinen Geift
und taufend Verbindlichkeiten Freunde, Verehrer und Ver?
götterung erworben, aber fich felbft hat er immer behalten,
fich felbft hat er nie gegeben. Ich fürchte, er hat fich
aus dem höchften Genuß der EigenUebe ein Ideal von
Glück gefchaffen, bei dem er nicht glückUch ift. Diefer
Charakter gefällt mir nicht — ich würde mir ihn nicht
wünfchen, und in der Nähe eines folchen Menfchen wäre
mir nicht wohl. (Legen Sie diefes Urteil beifeite. Viel?
leicht entwickelt ihn uns die Zukunft, oder noch beffer,
wenn fie ihn widerlegt.)
[334.] Februar 9. Caroline Herder.
Mit Goethe habe ich mich am Montage über die Leo?
nore im Pater Brey ausgefprochen. Ich frug ihn, ob ich
diefe Perfon fo ganz gewefen wäre? Beileibe nicht!
fagte er; ich folle nicht fo deuten. Der Dichter nehme
nur fo viel von einem Individuum, als notwendig fei,
feinem Gegenftand Leben und Wahrheit zu geben; das
übrige hole er ja aus fich felbft, aus dem Eindruck der
337] Weimar. 1789. ' 165
lebenden Welt. Und da fprach er gar viel Schönes und
Wahres darüber. Auch, daß wir den Taffo, der viel Deuj:
tendes über feine eigne Perfon hätte, nicht deuten dürfen,
fonft wäre das ganze Stück verfchoben ufw. Kurz, ich
war völlig befriedigt, da ich mir ihn fo ganz als Dichter
denke. Er nimmt und verarbeitet in fich aus dem All
der Natur (wie es Moritz nennt), in das ich auch gehöre,
und alle andre Verhältniffe find dem Dichter untergeordnet.
[335.] Februar 9. Caroline Herder an ihren Gatten.
Goethe befuchte mich den Montag, und läßt Dich
herzlich grüßen. Er begreift und verfteht Dein inniges
Gefühl ganz. Er fagte: Wenn man fich die Gegend in
Italien zueignen will, fo geht man unter. —
[336.] Februar 15. K. L. v. Knebel.
Geftern hat uns Goethe den erften Akt feines Taffo
vorgelefen; er ifi: vortrefflich.
[337.] Februar 16. Caroline Herder an ihren Gatten.
Goethe kam den Montag, um nach Dir zu fragen.
Es freute ihn fehr, als ich ihm fagte, wie Dir fei. So
war mir's auch, fagte er, ich ließ die Hände finken und
tat nichts mehr. Knebel kam noch dazu. Goethe fetzte
fich nieder und zeichnete mir ein Landfchäftchen. Es war
ein guter Geift und ein gutes Gefpräch unter uns; denn
Du warft immer dabei. Zuletzt wurde noch viel vom
römifchen Karneval gefprochen. Er gibt nämlich eine Be^:
fchreibung des römifchen Karnevals, wie es in den letzten
acht Tagen ift, mit achtzehn Kupfern heraus, die fchon
meift durch Kraus fertig find. Die Befchreibung davon
ift fo voll Ordnung und einer eignen Darftellung des Gan:s
zen, die euch wohl fchwerlich, wie er felbft fagt, zum erften^
mal in dem entfetzlichen Gedränge erfchienen ift. Das Ende
fchließt fich mit einer Betrachtung über das menfchliche
Leben, die mir fonderbar rührend war. Auch diefer Abend
fchloß fich bei den Kindern mit dem sia ammazato ufw. :
fie bliefen fich die Lichter aus, da fie hinunterleuchten
follten. '^
Goethe und Knebel grüßen Dich. — In Moritzens
Abhandlung hat Goethe das Wort nützt in meinem letz:«
ten Gefpräch hierüber in dient verwandelt; dies dünkt
mich noch viel richtiger.
I
166 Wieland. [338
[338.] Februar. Wieland an K. L. Reinhold.
Goethe ftudiert feit^iniger Zeit Kants Kritik pp. mit
großer Applikation, und hat fich vorgenommen, in Jena
eine große Konferenz mit Ihnen darüber zu halten.
[339.] Februar. Schiller an Caroline v. Beulwitz.
Haben Sie noch keine Schrift von Mirabeau zu Ge^
flehte bekommen, die eine Histoire fecrete vom preußifchen
Hofe enthält? ^ Das was den Herzog von Weimar an^s
geht, hat Goethe bejaht und die Herzogin nicht verneint.
[340.] März 16. /20. Caroline Herder an ihren Gatten.
Ich habe die Fortfetzung von Taffo wieder abge^
fchrieben. Goethe kam dazu; er abfolvierte mich hier:«
über, wie leicht zu denken, und grüßt Dich. Von diefem
Stück fagte er mir im Vertrauen den eigentlichen Sinn.
Es ift die Disproportion des Talents mit dem Leben. Er
freut fleh recht über mich, daß ich es felbft fo gut empfinde.
[341.] März. Wilhelm Herder.
Wir haben auch den Karneval gefehen und die
Masken alle, von der Quaceri* hat uns der Herr Geheim^«
rat von Goethe erzählt.
[342.] März. Auguft Herder an feinen Vater.
Ich habe auch italienifche Pinchen (1) vom G. v. Goethe
und die find aufgegangen, und da wollen wir einft recht
viel darunter fpazieren gehen. Bringen Sie mir Steine
mit, lieber Vater, der G. v. Goethe fagte, es wären dort
Kaufleute, die hätten folche Scherbel und Steine von
Karneol, Achat, Chröfopras(l) und dergl. zu verkaufen, und
man bekäme für ein paar Pfennige einen großen Haufen.
[343.] März. Gottfried Herder an feinen Vater.
Der Herr Geheimrat Goethe ift gar gut gegen uns
und ich habe ihn recht fehr lieb; er fchenkte mir in
meiner Krankheit die fo prächtige Ausgabe des Curtius
von Petiskus mit vielen Kupfern, die mich halb gefund
wieder machte; wenn ich nur bald wieder in die Schule
gehen und Gebrauch davon machen könnte.
* Quacquero ift eine komifche Figur des römifchen Karneval,
f. Goethes röm. Karneval, W. Hempel, Bd. 16, S. 307.
347] Weimar. 1789. 167
[344.] März. Caroline Herder.
Goethe fagte mir in diefer Woche, daß er im Stpa
tember nach Rom zur Herzogin reife und künftigen
Sommer mit ihr herauskäme. Er hat mir's nicht als ein
Geheimnis anvertraut.
[345.] März (15). Caroline Herder.
Der kleine Amor von der Elife Gore ift von einer
Mufchel gefchnitten. Goethe fagte mir, daß man folche
Kleinigkeiten häufig dort haben könne, das Stück für
eine Zechine.
[346.] April Mitte. Caroline Herder an ihren Gatten.
Hier weiß fchon jedermann von dem Antrag einer
Profejfur in Göttingen, indem es von Göttingen an den
Direktor gefchrieben worden. Der Herzog hat es durch
den Fürft von Deffau erfahren und Goethe darum ge^
fragt. Soviel fagte Goethe zu mir darüber vorige Woche:
Wenn der Herzog klug ift, fo muß er ihn auch nur Jenas
wegen erhalten; denn fein Hinziehen nach Göttingen
ruiniert ihm Jena. '^
Goethe fagte : Es ift foviel dafür als dagegen zu fagen.
Im ganzen findet er's gleichwohl gut, daß es fo ges^
kommen ift.
[347.] April 23. Caroline Herder an ihren Gatten.
Wie ich nach Haufe kam, fand ich Goethe bei dem
Kinderfefi. Wir fprachen bald von Göttingen, wie wir
denn fchon einigemal davon gefprochen haben. Daß Du
den vorteilhaften Antrag beherzigteft und beherzigen
müßteft, fagte ich ihm; er fand es ganz recht, fowie er
gleich von Anfang an den Antrag als ein gutes Evene^:
ment, wir möchten nun bleiben oder gehn, anfah. Er
will Dir felbft fchreiben den nächften Pofttag, heute kann
er nicht. Er dringt aber darauf, daß wir ihn allein von
der ökonomifchen Seite betrachten und gebrauchen muffen.
In der Verhandlung mit den Hannoveranern muffen wir
mit Recht das hoch anfchlagen, was wir Gutes hier haben —
kurz, in eine Wagfchale das Vorteilhafte von Göttingen,
und in die andre das Gute von hier legen. Diefes war,
nachdem ich mich von der erften Gemütsbewegung des
Antrags erholt hatte, mein eigner erfter Gedanke ge^
wefen, der mir nicht von ihm eingehaucht worden ift;
ich fchwieg Dir aber davon, weil ich Dein Gefühl rein
I
168 Caroline Herder. [348
darüber erft hören wollte. Glaubt nicht, fagte er gefiem,
daß er dort frei von Verdruß und Ärger fein wird; er
wird überall Neider und Heuchler und wie fie heißen,
finden; fein Gemüt bringt er ja überall mit. Alfo von
diefer Seite, ift's dort nicht um ein Haar beffer, als überall.
Kurz, laßt nur das Gemüt aus dem Spiel und bleibt bei
dem äußerlichen Vorteil ftehn. Der Herzog kann und
darf ihn nicht gehen laffen, er ruiniert fich Jena und
Weimar zugleich. Auch nicht einmal nach Jena wünfch'
ich Herdern; ich hab' ihn viel zu lieb, er ift zu gut zum
Profeffor; er kennt ihre kleinlichen Leidenfchaften noch
nicht. Es ift gut, daß der Antrag gekommen ift; jetzt
kann ihm durch das Muß und mit Ehren ein gutes und
fichres Etabliffement für ihn und die Seinigen gemacht
werden, und die ganze Stadt wird damit zufrieden fein
und es wünfchen.
[348.] April. Auguft Herder an feinen Vater.
Der Herr Geheimrat v. Goethe hat mir auch viele
italienifche Gewächfe gegeben, und die find auch aufge.<
gangen. ^ Sagen Sie Wernern*, wenn er fpazieren oder
ausgeht, und er findet Samen, daß er mir ihn doch mit?
brächte, denn der Geheimrat fagte, dort röchen alle
Blumen gut.
[349.] Mai 3. Caroline Herder an ihren Gatten.
Es ift alles Deinetwegen hier in großer Bewegung.
Der Herzog ift den 2. Mai hier angekommen und hat
fogleich der Herzogin verfichert, daß er Dich nicht gehn
ließe. Geftern gab er dem Goethe vorläufig auf einem
Billet die Punkte, die er für Dich tun will. Ich habe
fie von ihm erhalten und fchreibe fie Dir ab. ^ Ich habe
dem Goethe gefagt, daß wir fo viel haben muffen, daß
Du nicht mehr fchreiben dürfeft. Dies habe ich ihm auf
die derbfte Weife gefagt, und er billigt es. Er meint
auch, daß noch mehr Zulage unter dem Namen für die
Erziehung der Kinder werden könne.
[350.] Mai. Caroline Herder an ihren Gatten.
Was fagft Du zu dem Kanzelariat über Jena? Goethe
meint, er wolle Dir nicht dazu raten; Du würdeft Dir
Griesbach zum großen Feind machen.
* Der Diener Herders.
353] Weimar. 1789. 169
[351.] Mai 9. Caroline Herder an ihren Gatten.
Ich habe Dir bisher Goethe fo wenig genannt, weil
ich ihn wenig allein gefprochen habe. Geftern hat er
den Taffo bis auf drei Szenen der Herzogin vorgelefen.
O, wie beftrafe ich mich, daß ich ihn auch nur einen
Augenblick verkenne. Er ift durchaus eine treue mann?
liehe Seele, und es freut mich, daß Du dies in einem
Deiner letzten Briefe fo gut wieder erkennft. Er kam
geftern Abend noch zu mir, und da wir über Taffo fertig
waren, über den Du Dich gewiß freuen wirft, warft Du
unfer Gefpräch. Dem Herzog hat er gefagt, daß unfre
Schulden 1800 bis 2000 Rthlr. betragen. Es war des
Herzogs eigner Entfchluß, fie zu bezahlen. Die übrigen
Bedingungen muffen alle alsdann noch beffer und anders
eingerichtet werden, wenn wir bleiben wollen. ^^
Von Deiner Herreife meint Goethe, Du hätteft beffer
getan, wenn Du von Bologna nach Ferrara und die fchönen
Städte hinauf nach Venedig, dann quer über Oberitalien
nach Mailand und durch die Schweiz gegangen wäreft. Jetzt,
da Du fchon in Parma feift, ginge diefer Weg nicht mehr an.
[552.] Mai Ende. Caroline Herder an ihren Gatten.
Goethe will auf einige Tage zu Dir, reitend, ins
Karlsbad kommen. Er ift in diefem wichtigen Zeitpunkt
jetzt unfer treuefter Freund; und einen Freund muffen
wir jetzt haben. Glaube mir's. Einen Brief von ihm
wirft Du in Parma finden, wenn Du, wie ich glaube, diefen
Weg nimmft. An die Angelica liegt auch ein Brief dort. ^
Goethe liebt Dich und ift's vor allen wert, von Dir
geliebt zu werden. Wende Dich nicht von ihm ab! Du
achteft und liebft an der Angelica, was die Natur ihr
Glückliches und Heiliges gegeben hat; er ift von diefer
Seite ihr Bruder, und wir wollen ihn nicht mehr ver?
lieren, wie Du es einmal (vor fechs Jahren war's) fo
heilig zufagteft. Es fchmerzt ihn, daß Du in diefer
wichtigen Sache fo ftumm gegen ihn bift; ich habe Dich
entfchuldigt. Das Wiederfehen im Karlsbad wird alles
gut machen.
[353.] Juni Anfang. L. Ch. Althof an F. Nicolai.
Bürger und Goethe hatten lieh nie gefehen, aber vor^s
mals manchen Brief miteinander gewechfelt. G. hatte diefen
Briefwechfel angefangen und, von Bewunderung und
I
170 L. Ch. Althof. [353
Liebe für feinen Bruder in Apoll hingeriffen, diefen bald
nicht mehr mit Sie, fondern mit Du angeredet. Da nun
B. die vertrauliche Annäherung erwiderte und G. in dem
einmal angenommenen Tone blieb, wurden fie beide fchrifts«
lieh Dutzbrüder. Als in der Folge G. zu höheren irdi^s
fchen Würden emporftieg, da wurde auch die Sprache
in feinen Briefen an B. feierlicher; das Du verwandelte
(ich wieder in Sie, und bald hörte der Briefwechfel ganz
auf. Im Jahre 1789 fchickte B. dem Herrn v. G. ein
Exemplar von der 2. Ausgabe feiner Gedichte mit einem
höflichen Schreiben zu, und machte bald darauf eine
Reife, die ihn durch Weimar führte. Er ftand bei fich an,
ob er's wagen follte, den Herrn v. G. zu befuchen, weil
er von Natur blöd war, und fich nach dem, was er von
andern wohl gehört hatte, eben keine herzliche Aufnahme
von feinem ci devant Dutzbrüder verfprach. Indeffen da
feine Freunde ihn mit der Verficherung dazu ermunterten,
Herr v. G. fei feit feiner Reife nach Italien leutfeliger ge^
worden; da er überdem gerade jetzt einen kleinen Dank für
das Gefchenk feiner Gedichte und auch wohl eine lehrreiche
Beurteilung feiner neueften Produkte von G. erwartete: fo
faßte er ein Herz, und verfügte fich an einem Nachmittage
in die Wohnung des Minifters. Hier hört er von dem
Kammerdiener, Se. Exzellenz fei zwar zu Haufe, aber eben
im Begriff mit dem Herrn Kapellmeifter R(eichardt) eine
von diefem verfertigte neue Kompofition zu probieren. O
fchön, denkt B., da komme ich ja gerade zu einer fehr
gelegenen Zeit, halte Se. Exzellenz nicht von Staatsge^s
fchäften ab, und kann ja wohl zu der Mufik auch meine
Meinung fagen. Er bittet alfo den Kammerdiener, Sr.
Exzellenz zu melden, B. aus Göttingen wünfche feine
Aufwartung machen zu dürfen. Der Kammerdiener meldet
ihn, kommt zurück, und führt ihn, nicht in das Zimmer,
wo mufiziert wird, fondern in ein leeres Audienzzimmer.
In diefem erfcheint nach einigen Minuten auch Hr. v. G.,
erwidert Bs. Anrede mit einer herablaffenden Verbeugung,
nötigt ihn, auf einem Sofa Platz zu nehmen, und erkundigt
fich, da B., der doch einen ganz andern Empfang erwartet
hatte, ein wenig verlegen wird, nach — der dermaligen
Frequenz der Göttingifchen Univerfität. B. antwortet fo
gut er bei feiner Verlegenheit kann, und fi:eht bald wieder
auf, um fich zu empfehlen. G. bleibt mitten im Zimmer
fi:ehen und entläßt B. mit einer gnädigen Verbeugung.
3561 Weimar. 1789. 171
[354.] (Auguft, Mitte.) Überlieferung.
Als fich Goethe in dem damals fehr befuchten Bade?
orte Ruhla befand, beredete er feinen Reifegefellfchafter,
den Oberftallmeifter v. Stein, an einem fehr trüben Tage
zu einem Spaziergange nach dem Infelsberge. Vergebens
ftellte ihm diefer das ungünftige. Regen drohende Wetter
vor, Goethe blieb bei feinem Entfchluß. Als nun unter?
wegs der Nebel immer dichter ward und zuletzt in einen
Regen fich auflöfte, machte Stein feinem Unmut durch
die wiederholte Äußerung Luft, daß er dies vorausgefagt.
Goethe fchwieg. Befchäftigt, Steine zu fuchen, die er mit
einem Hammer zerfchlug, nannte er dem murrenden Freunde
deren Namen, Eigenfchaften und die Klaffe, zu der fie
gehörten. Was gehn mich Ihre Steine an! rief fein Be?
gleiter ziemhch heftig. Ich rede von Ihrem Starrfmn,
der uns in dies Wetter geführt hat. Doch, fügte er ein?
lenkend hinzu, als wolle er feine Heftigkeit wieder gut
machen — da Sie ein fo großer Mineralog find, fo fagen
Sie mir doch, was bin ich für ein Stein? Auch das will
ich Ihnen fagen, erwiderte Goethe; Sie gehören in die
Klaffe der Kalkfteine; kommt Waffer auf diefe, fo
braufen fie.
355.] Auguft 22. Ch. G. Voigt an Ch. W. Hufeland.
Von Herrn G. R. von Goethe habe ich Ihnen ein
Komphment mit folgender Bitte vorzutragen. Er will den
jungen Facius aus Gera (ein gelernter Kaufmann, der fich
mit innerer Furie der Skulptur widmet) gern mit Gra=
veur Doli in Suhl bekannt machen, um ihn von demfelben
etwas profitieren zu laffen, da er felbft fchon foweit ge?
kommen. '^ Es käme darauf an, ihn an H. Doli zu emp?
fehlen und ein folches Empfehlungsblatt glaubt Herr von
Goethe von Ihnen erlangen zu können.
[356.] September. K. L. v. Knebel.
Max* foll fich Volkmanns Befchreibung von Italien
(notabene die neuefte Ausgabe) anfchaffen und folche als
feinen Begleiter mit fich nehmen. An jedem Orte Italiens
findet fich fogleich eine eigene Befchreibung desfelben
Ortes, die man gebrauchen muß. Die italienifche Sprache
muß er täglich üben. Die Eingeborenen hören es gerne,
Knebels Bruder.
172 K. L. V. Knebel. [357
wenn man ihre Sprache fpricht. Da diefe Nation haupt^
fächUch zu Weichlichkeit, Bequemlichkeit und Aifance in
ihrer Lebensart und Sitten gewöhnt ift, fo tut ihnen alles
Harte und Rauhe unferer Sitten befonders weh. Man rieh?
tet auch mit einem fahrenden, ftürmifchenWefen gar nichts
aus, als daß man allenfalls Mefferfiiche bekommen kann;
klug und vorfichtig darf man aber in allen Stücken fein
und genau das Seinige wollen, fonft wird man nur aus?
gelacht. Nichts zu fcharf, nichts zu heftig, aber befiimmt
und feft.
Was die Kleidung anbetrifft, fo fagt mir Goethe, daß
man die feidnen Kleider in Italien viel wohlfeiler kaufe,
wie bei uns, die andern aber feien ungleich teurer. Mit
einem guten geflickten Kleid, ein paar Fracks und allen?
falls einer Montierung, wie fie Herr von Wöllwarth hier
getragen, rot mit grünem Revers, komme man in Italien
überall trefflich fort. Die meiften Franzofen und Eng?
länder tragen folche Uniforms.
Cento, das Vaterland des Guercino da Cento, läßt
Goethe befonders wegen der fchönen Gemälde diefes Mei?
fters rekommandieren. Es liegt zwifchen Ferrara und Bo?
logna, und wenige Reifende kämen dahin, ob es gleich
fehr der Mühe wert wäre. Vor allem läßt Goethe auch
diefe Aifance, diefe Bequemlichkeit, von der ich vor(hin)
fprach, rekommandieren, daß man fichs durchaus muffe
wohl fein laffen, und das nehme immer zu, je näher es
gegen Neapel käme. Übrigens empfiehlt er auch vorzüg?
lieh, mit eignen Augen wohl zu fehen; das wäre das befte,
was man raten könne.
[357.] September 17./ 18. K. L. v. Knebel.
Geftern bin ich mit Goethen herübergereift nach Jena
und die Gefellfchaft des berühmten und in feiner Art ein?
zigen Mineralogen, des Herrn Werner aus Freiberg, hat
uns den Nachmittag und Abend fehr unterrichtend und
angenehm gemacht. Heute hat mir Goethe die erften Szenen
feines Faufts vorgelefen, fo wie fie zum Druck bereit liegen,
und das hat mich fehr ergötzt. Er wird Donnerstags oder
Freitags gewiß wieder von hier abgehen.
[358.] Caroline Herder.
Über Goethe habe ich wirklich einen großen Auf?
fchluß bekommen. Er lebt eben wie der Dichter mit dem
362] Weimar - Dresden. 1790. 173
Ganzen oder das Ganze in ihm, und da wollen wir als
einzelne Individuen nicht mehr von ihm verlangen, als
er geben kann. Er fühlt fich als ein höheres Wefen, das
ift wahr, aber er ift doch der Befte und Unwandelbarfte
unter allen. Seitdem ich weiß, was ein Dichter und Künft:;
1er ift, feitdem verlange ich kein engeres Verhältnis, und
doch, wenn er zu mir kommt, fühle ich, daß ein fehr
guter Geift um und in ihm ift.
1790.
[359.] Februar 8. J. Gaudenz v. SalissSeewis.
Goethe empfing mich mit viel Anftand und Kälte.
Wir fpeiften bei Herrn von Kalb. ^ Goethe fcherzte viel,
parodierte rlpn_Tr>p ^er Ret fitzer der Nationalaffemblee.
verteidigte Sophismen mit Laune, Deutfchland mit Wärme.
[360.] März. Schiller.
Goethe ift von Weimar weg und, wie er angibt, der
verwitweten Herzogin von W. entgegen, die man zu Ende
des März aus Italien zurück erwartet. Man vermutet aber
ftark, daß er nicht mehr zurückkommen werde.
[361.] März. Schiller.
Lips ift jetzt in Weimar und bleibt auch da. Goethe
hat eine Idee zu einem Titelkupfer für den erften Teil
meiner Memoires angegeben, die Lips gezeichnet hat und
jetzt eben fticht. Idee und Zeichnung find ganz vortreff^
lieh. Zum zweiten Band hat er den Kopf von Bohemund
erfunden, und äußerft treffend.
[362.] Juli 30. Ch. G. Körner.
Goethe war auch vor kurzem ein paar Tage hier in
Dresden. Graf Geßler fuchte ihn auf und brachte ihn einen
Abend auf unferen Weinberg. Er taute auf und war zuletzt
fehr mitteilend. Aber feine Art fich anzukündigen, hat
immer etwas Kaltes und Zurückfcheuchendes. Ich habe wie*
der eine halbe Stunde lang ein intereffantes Gefpräch über
Kunft mit ihm gehabt. Auf dem Rückwege aus Schießen
denkt er hier wieder durchzukommen und länger zu bleiben.
I
174 Charlotte Schiller. [365
[363.] Juli (30). Charlotte Schiller.
Als Goethe einmal den '^ Grafen Geßler ^ zum Hei?
raten habe bereden wollen, habe er auf die Frage der
Schwägerin Körners : Warum heiraten Sie denn nicht felbft?
erwidert: Ich bin verheiratet, nur nicht mit Zeremonie.
[364.] Auguft 17. F. Freih. v. Schuckmann an J. F. Reichardt.
Goethe aß geftern Mittag gerade bei Ankunft Deines
Briefes mit mir in Breslau, und ich konnte ihm feine Einlage
allfogleich geben. Nachmittag waren wir im Zwinger, in
einem Getümmel von 400 Menfchen (und zwar bei dem
zur Jahresfeier der Thronbefteigung Friedrich Wilhelm II.
im kaufmännifchen Zwinger veranftalteten Fefte) und da
war's denn, wo wir Muße und Einfamkeit genug fanden,
viel und vertrauter miteinander zu reden. Ich hab' ihn
doch ganz anders, als meine Vorftellung war, gefunden,
gerade zu meiner Zufriedenheit. Daß es fchwer ift, ihm
näher zu kommen, liegt nicht in feinem Willen, fondern
in feiner Eigentümlichkeit, in der Sprachfchwierigkeit, feine
Gefühle und Ideen fo, wie fieinihm liegen, auszudrücken;
in der Intenfion beider und der Liebe, die diefe ihm für
fie abdringt. Bis er weiß, daß man ihn errät, fühlt, durch
jede Öffnung, die er gibt, hineinfieht, kann er nicht reden.
So fieir ich mir's vor; fag' Du mir ob ich recht habe.
Einige Menfchen, vor denen er ift, würden gewiß leichter
und beffer fprechen, wenn fie gemeinerer Natur wären,
weil in die kurrenten Formeln nur die kurrenten Dinge
paffen. ^
Goethe läßt Dich grüßen und Dir fagen, er werde
nächftens fchreiben. Er wollt' es durch mich; da ich ihn
aber heut auf der Kur fagte, daß ich heut fchreibe und
er Mittag gebeten war, fo muß er es unterlaffen.
[365.] Auguft/September. F. Frh. v. Schuckmann an J. F. Reichardt.
Ich bin fehr nahe und innig mit ihm bekannt ge?
worden und habe einen vortrefflichen Menfchen an ihm
gefunden. Was ich Dir über feine Schwierigkeit im Aus?
druck fchrieb, war ganz weg, fobald er herzlich ward und
außer der Konvention mit mir lebte. Kalt kann er eigentlich
nicht reden, und dazu will er fich mit Fremden zwingen,
und das wohl aus guten Gründen. Vertraut, folgt er
feiner Natur und wirft aus dem reichen Schatz die Ideen
567] Breslau - Dresden. 1790. 175
in ganzen Maffen hervor. Ich möchte fagen: er fpricht,
wie der Algebraift rechnet, nicht mit Zahlen, fondern mit
Größen und feine lebendige Darftellung ift nie Gaukele
ipiel der Phantafie, fondern feine Bilder find immer das
wahre Gegenftück, was die Natur dem Dinge gab, und
führen den Hörer ihm zu, nicht ab. Das ift jetzt, nach?
dem er acht Tage weg ift, mein reines Urteil über feine
perfönliche Art, ohne Einwirkung der Zuneigung, die
ich zu ihm gewonnen habe. Freilich alle übrigen Menfchen
hier, von Garve bis zu Seydlitz, finden, daß er fich fonder?
bar ausdrücke, daß er nicht zu verftehen fei, und läftige
Prätenfionen mache; — und doch hat er von meiner guten
Mutter recht vertraulich die Wundertaten des Enkels und
ihre Wirtfchaft erzählen laffen, die ihn auch recht lieb
darum hat. Auch Kapitän von Keffel ift eine Ausnahme,
dem war er durch feine Liebhaberei des Sammeins von
Kupferßichen verwandt, und er hat ihn einen Nachmittag,
da er feine Sachen befah, durch das, was er darüber
äußerte, fehr entzückt.
[366.] September 25./Oktober 1. Ch. G. Körner an Schiller.
Goethe ift acht Tage hier in Dresden gewefen, und
ich habe viel mit ihm gelebt; es gelang mir, ihm bald
näher zu kommen, und er war mitteilender, als ich er?
wartet hatte. Wo wir die meiften Berührungspunkte fan?
den, wirft Du fchwerlich erraten. Wo fonft, als im Kant!
In der Kritik der teleologifchen Urteilskraft hat er Nah?
rung für feine Philofophie gefunden. Doch haben wir
nicht bloßphilofophiert; wenigftens nicht bloß über Natur.
Seine Begriffe von Stil und Klaffizität in der Kunft waren
mir fehr intereffant, und ich fuche fie mit meiner Theorie
der Ideale zu vereinigen. Hier waren wir auf ganz ver?
fchiedenen Wegen; aber in feinem Gefichtspunkte ift viel
Fruchtbares, das ich bis jetzt überfehen hatte. Auch ver?
danke ich ihm manche treffliche Winke im Genuß der
bildenden Künfte. Von feinen Elegien hat er uns einige
vorgefagt.
[367.] Oktober 31. Schiller an Ch. G. Körner.
Goethe hat uns viel von Dir erzählt und rühmt gar
fehr Deine perfönliche Bekanntfchaft. Er fing von felbft
davon an und fpricht mit Wärme von feinem angenehmen
Aufenthalt bei Euch und überhaupt auch in Dresden. Mir
I
176 Schiller. [368
erging es mit ihm wie Dir. Er war geftern bei uns, und
das Gefpräch kam bald auf Kant. Intereffant ift's, wie
er alles in feine eigene Art und Manier kleidet und übers*
rafchend zurückgibt, was er las, aber ich möchte doch nicht
gern über Dinge, die mich fehr nahe intereffieren , mit
ihm fireiten. Es fehlt ihm ganz an der herzlichen Art,
fich zu irgend etwas zu bekennen. Ihm ift die ganze
Fhilofophie fubjektivifch, und da hört denn Überzeugung
und Streit zugleich auf. Seine Fhilofophie mag ich auch
nicht ganz: fie holt zu viel aus der Sinnenwelt, wo ich
aus der Seele hole. Überhaupt ift feine Vorftellungsart
zu finnlich und betaftet mir zu viel. Aber fein Geift
wirkt und forfcht nach allen Direktionen und ftrebt, fich
ein Ganzes zu erbauen — und das macht mir ihn zum
großen Mann.
Übrigens ergeht's ihm närrifch genug. Er fängt an alt
zu werden, und die fo oft von ihm geläfterte Weiberliebe
fcheint fich an ihm rächen zu wollen. Er wird, wie ich
fürchte, eine Torheit begehen und das gewöhnliche Schick:*
fal eines alten Hageftolzen haben. Sein Mädchen ift eine
Mamfell Vulpius, die ein Kind von ihm hat und fich nun
in feinem Haufe faft fo gut als etabliert hat. Es ift fehr
wahrfcheinlich, daß er fie in wenigen Jahren heiratet. Sein
Kind foll er fehr lieb haben, und er wird fich bereden,
daß wenn er das Mädchen heiratet, es dem Kinde zuliebe
gefchehe, und daß diefes wenigftens das Lächerliche dabei
vermindern könnte.
[368.] Dezember. Caroline v. Dacheroeden.
Mit Goethen möcht' ich viel leben. Er hat für mich
etwas fehr Anziehendes, fo eine Geiftes^ und Herzens^
verfchreibung ift fein ganzes Wefen. Aber dann kann er
auch wieder wunderbar fein, drückend und leer, wenn er
fpricht, da, wo er glaubt, fprechen zu muffen. So ging
es mir mit ihm, als er vor einigen Wochen mit der Her^*
zogin hier war. Er ging mir faft nicht von der Seite,
fprach offen, fo geiftvoll und herzlich, aber wenn ein
Dritter dazu kam, fprach er das fadefte Zeug, das man
denken mag. Lili fchrieb mir einmal, es fei fchmerzlich,
ein Wefen wie Goethe auch für Momente nur bloß dul**
den zu können. Und fo ift's. Die Weimarer plagen
und verfchrauben ihn auch.
372] Weimar. 1791. 177
[369.] Ende d. J.. H. Beck.
Ich brauche das Gleichnis hier, welches Goethe gegen
mich brauchte: Errichtung eines Theaters ift wie eine
Kupferftichfammlung ; anfangs ift man genötigt, allerlei
Guts: und Schlechtes mit aufzunehmen; nach und nach, wie
man beffere Akquifitionen macht, fchließt man das
Schlechtere aus.
[370.] Dezember 20. Wieland.
Goethe, der in Mineralogicis, wie in vielem anderen
Kenner ift, hat mir zu dem allzugütigen Gefchenk unferes
lieben Barons von Herbert fehr Glück gewünfcht. Er
befitzt felbft einige Stücke von dem Klagenfurter Mufchel^
marmor, die aber, wie er felbft gerne geftand, an Schön?
heit und Wert mit denen, woraus meine Dofe zufammen*
gefetzt ift, gar nicht zu vergleichen find.
1791.
[371.] Juli 22. Ch. G. Voigt.
Herr von Goethe ift fofort von der Sache (einem
Rufe nach Halle — ) benachrichtigt worden. Herr von
Goethe fagt: Ich will es dem Profeffor Hufeland gar
nicht verdenken, wenn er fuchet was die Höfe für ihn
tun wollen ; raten Sie ihm nur, feine Geiftesfreiheit äußerfien
Falls recht teuer nach Berlin zu verkaufen, daß es ihn
nicht gereut, wenn er in der Folge zu Halle gefchub
meiftert wird.
[372.i Oktober 8. Wieland an Schiller.
Ich habe, Ihrem Auftrage zufolge, mit Goethe wegen
Auffchub der Vorftellung Ihres Don Carlos gefprochen.
So willig er fich aus Achtung gegen Sie bezeigte, fo vers^
barg er mir doch nicht, daß er fehr ungern daran gehe.
Er war gefonnen gewefen, Don Carlos künftigen Sonn;j
abend zu geben, und gegen feine rationes decidendi, die
fich ganz auf den Gefichtspunkt des Theaterdirektors
gründeten, war in diefer Rückficht nicht viel einzuwenden.
Das Intereffe der Caffa und der Umftand, daß das Stück
den Schaufpielern noch frifch im Gedächtnis ift, vereinig?
ten fich, ihn zu determinieren, es um foviel balder zu
geben, da die Erwartung des Publikums fehr darauf ge?
I 12
178 Wieland. [373
fpannt ifi. Hierzu kommt noch der Umfiand, daß den
Schaufpielern nichts befchwerlicher und beinahe urimög^
hcher ift, als ein Stück, das fie einmal memoriert haben,
mit Veränderung des Textes von neuem einzuftudieren.
Sie entfchließen fich nicht nur fehr ungern dazu, weil
diefe Operation für fo mechanifche Wefen fehr penibel
ift, fondern die Erfahrung hat auch von jeher gezeigt,
daß fobald fie im wirklichen Spiel begriffen find, die alte
habitude im Moment die Oberhand gewinnt, und die neu
memorierte Veränderung ihnen erft auf die Zunge kommt,
wenn Üq die Stelle fo, wie fie folche zum erftenmal eins?
ftudiert hatten, hergefagt haben. Deffen allen ungeachtet
hat fich G. doch erklärt, daß er aus Deferenz für Ihren
Wunfeh den Don Carlos bis in die letzte Woche diefes
Monats, allenfalls bis zum letzten Tag desfelben zurück^;
behalten wolle, und dies ift alles, was er glaubt, das ihm
billigerweife zugemutet werden könne.
[373.] Oktober 8. K. A. Böttiger.
Nach einem Abendejfen bei Wieland.
Über die Urfachen wurde gefprochen, warum man
in hiefiger Gegend fo wenig erträgliche Gefichter unter
den Bauernmädchen fände. Wieland fand die Vorzug:^
lichfte in dem vielen Kuchenfreffen, da es jährlich wohl
acht Fefttage gibt, wobei der Magen mit Kuchenteig voll?
geftopft wird. Goethe bemerkte, daß die hier überall ges^
wohnliche Sitte, jede Laft auf dem Rücken zu fchleppen,
den Körperwuchs zerdrücke und platte Phyfiognomien her?
vorbringe. Bei den alten Griechen und in Italien trügen
die Mädchen alles auf dem Kopf. Es gebe eine fehr an?
genehme Form im Umriffe, ein fchlankes Mädchen mit
einem gut geformten Wafferkruge auf dem Kopfe mit groß?
ter Leichtigkeit einhergehen zu fehen. In Italien gebe es
auch, die Seehäfen ausgenommen, felbft unter dem mann?
liehen Gefchlechte, wenig Laftträger und Crocheteurs. Der
ärmfte Kohlgärtner halte doch feinen Efel, den er früh
mit Gewächfen beladen hereintreibe und dafür den Dün?
ger empfange, den er wieder in fein Gärtchen aus der
Stadt hinausfchleppe.
Goethes Erzählung von dem, aus zwei natürlichen
Felfen gehauenen Theater von Taormina in Sizilien. Die
Alten benutzten die Natur zu folchen großen Werken,
daher Goethe auch die Gefchichte mit dem Softhenes, der
373] Weimar. 1791. 179
dem Alexander die architektonifche Gasconade gemacht
haben foU, nicht fo ganz unwahrfcheinlich fand. (Le voyage
pittoresque par Mr. Houel fehr empfohlen.) Übrigens ver:;
fieberte mir Goethe, was ich auch von andern Reifenden
fo oft beftätigt gehört habe, daß unter den niedern Volks^
klaffen in Italien noch faft durchaus die Sitten, Denkart
und Gebräuche wiedergefunden werden, wie wir fie in
den alten Schriftftellern bezeichnet finden. Auch die Re::
ligion ift überall auf heidnifche Superftition gepflanzt. —
Vom ungefunden Klima in Rom. Überall gibt es Häu:=
fer dafelbft, die wegen der Malaria nicht bewohnt werden. .
Oft ift es jedoch nur Vorurteil. Man könne mit Recht
fagen, daß die Römer aus Drang und Not Welteroberer
geworden wären, weil es ihnen zu Haufe in ihrem in;;
fizierten Nefte nicht gefallen konnte. Doch fei es glaub^^
lieh, daß bei der ftärkeren Kultur der campagna di Roma
vorzeiten das Klima weniger Krankheitsftoff in fich gQ^
habt habe. — Einige Engländer haben den Einfall gehabt,
die Tiber in ein andres Bette um Rom herumzuleiten, um
in ihrem ausgetrockneten Bette Schätze verfenkter Altern;
tümer wiederzufinden.
Es ift dies ein, der Lage Roms nach, unmögliches
Unternehmen. Die Tiber hat übrigens gewiß allein den
älteften Bewohnern Roms Anlaß gegeben, das auf dem
hohen Berg göttlich liegende Alba zu verlaffen und fich
in diefem Sumpfloch anzufiedeln, welches ohne diefen
Beweggrund ein Unternehmen von lauter Tollhäuslern ge^
wefen wäre.
Goethe bereifte Italien vorzüglich der Kunft wegen.
Seinem Kennerauge ift hier nichts entgangen. So wurde
z. B. die Frage aufgeworfen, wie die Alten bei ihren Rie?
fengebäuden die Ungeheuern Steinmaffen in folche Höhen
hinaufgebracht hätten. Hier fagte Goethe, daß er in Sizi?
lien einen unvollendeten Tempel gefehn hätte, wo an den
Quaderfteinen noch auf beiden Seiten die Henkel fichtst
bar gewefen wären, um welche man die Seile gefchlungen
und die man alsdann beim Aneinanderpaffen abgefchlagen
habe. Übrigens habe man lauter folche fchneckenförmig
auflaufende Gerüfte gehabt, wie fie in Merlans Bilder^:
bibcl noch um den babylonifchen Turm herum zu fehen
wären. — Goethe bewundert auf den alten Münzen die
fchönen feften Umriffe aller Formen, z. B. auf den Mün^
zen von Tarent den Delphin. Aber auch hier hat er über
I 12*
180 K. A. Böttiger. [374
Verhältniffe und Proportionen treffliche Beobachtungen
angeftellt. So frappierte ihn z. B. lange die Bildung eines
Menfchenkopfes an einem Stierleib auf mehren Münzen
des untern Italiens, wo ein fchönes Menfchengeficht doch
einzig auf den Körper eines Ochfen paßt. Allein das
Geheimnis befieht darin, daß der Künftler zwifchen den
feften hervorftehenden Teilen des Gefichts ungewöhnlich
verlängerte Zwifchenräume angebracht hat, fowie imGegen?
teil beim non plus ultra weiblicher Schönheit, der Medi:=
zeifchen Venus, jene Zwifchenräume außerordentlich vers;
kürzt find.
Es ift Wonne, Goethe über folche Gegenftände mit
lichtvoller Präzifion fprechen zu hören.
[374.] November 4. K. A. Böttiger.
Die Ordnung der heutigen Sitzung im Gelehrtenj:Ver^
ein war folgende. Der Präfident der Gefellfchaft, der Ge=:
heimrat von Goethe, eröffnete fie mit fortgefetzten Be*
trachtungen über das Farbenprisma. Er wiederholte erft
ganz kurz die Refultate deffen, was er im erften Hefte
feiner Beiträge zur Optik weitläufiger und durch 24 kleine
illuminierte Kupfertäfelchen, die dazu ausgegeben werden,
veranfchaulicht hat.
Die Hauptfätze demonfirierte er an einer fchwarzen
Tafel, wo er die Figuren fchon vorher angezeichnet hatte,
fo lichtvoll vor, daß es ein Kind hätte begreifen können.
Goethe ift ebenfo groß als fcharffinniger Demonftrator
an der Tafel, als er's als Dichter, Schaufpiel^ und Opern:;
direktor, Naturforfcher und Schriftfteller ift. Er erklärte
fich hier im kleinen Zirkel geradezu gegen Newtons Far^:
bentheorie, die durch feine Verfuche ganz umgeworfen
wird, und zeigte zugleich an diefem Irrtum des großen
Newton, dem nun ein Jahrhundert lang alles nachgebetet
hat, fehr fchön, wie Nachbeterei auch unter guten Köpfen
fo tief Wurzel fchlagen könne.
[375.] November. E. Genaft.
Zur Erklärung der Worte : drohteft mit grimmiger Glut den
armen Augen, in dem Gedicht Euphrofyne berichtet Genaft:
Bei der Hauptprobe von König Johann, worin ße den
Arthur spielte, zeigte Chriftiane Neumann (Euphrofyne)
nicht genug Entfetzen vor dem glühenden Eifen; unge^
duldig hierüber riß Goethe dem Darfieller des Hubert
378] Weimar. 1792. 181
das glühende Eifen aus der Hand und ftürzte mit folch
grimmigem Blick auf das Mädchen zu, daß diefes ent^^
fetzt und zitternd zurückwich und ohnmächtig zu Boden
fank. Erfchrocken kniete nun Goethe zu ihr nieder, nahm
fie in feine Arme und rief nach Waffer. Als fie die
Augen wieder auffchlug, lächelte fie ihm zu, küßte feine
Hand und bot ihm dann den Mund.
[376.] (Vor 1792.) K. L. v. Knebel (nach H. C. Robinfon).
Do you know? said Herder one day to Goethe at
my house, that we have in the German language an Epic
poem with as much poetry in it and more philosophy
than the Odyssee. Goethe, when Reinecke Fuchs was
named, said that he had been deterred from the study
of it by its being published by Gottsched, a sort of evil
spirit who presided over the infant genius of German
literature in the 18*^ Century.
1792.
[377.J Februar 17. K. A. Böttiger.
Der Geheimrat Goethe las im Gelehrtens^Verein zu^;
erft einen kleinen gedruckten Auffatz vom Hofrat Moritz
vor: Grundlinien zu meinen Vorlefungen über den Stil. ^
Nach diefem Leitfaden hat nun Moritz, wie uns
Goethe noch im Discurs mitteilt, feine Vorlefungen fchon
angefangen. Sie werden alle einzeln gedruckt; einige da^
von hat Goethe fchon in Händen und wird uns daraus
gelegentlich etwas mitteilen.
[378.] März. 23. K. A. Böttiger.
Nun überrafchte uns Goethe im Gelehrten^Vereine
mit einem Auffatz, deffen Ankündigung ebenfo befrem?
dend, als die Ausführung hinreißend und unterhaltend
war. Es ging ein, auf einen Bogen gezeichneter Stamm:;
bäum herum und zugleich kündigte uns Goethe an, er
wolle uns etwas über Caglioftros Stammbaum und die Fa*
milie diefes Wundermannes vorlefen.
Als ich, fing er an zu erzählen, im Jahre 1787 mich
auf meinen Reifen einige Zeit zu Palermo in Sizilien auf^
hielt, wurde in allen Gefellfchaften vom Grafen Caglio^
ftro, als einem gebornen Palermitaner, deffen nächlte Bluts^
freunde noch in kümmerlichen Umftänden in Palermo lebs^
I
182 K. A. Böttiger. [378
ten, gefprochen. Man fagte mir in einer Gefellfchaft, ein
fehr gefchickter Advokat habe auf Requifition des fran?
zöfifchen Hofes die Familienumftände des Herrn Lands^
mannes genau unterfucht und darüber ein Memoire nach
Paris gefchickt, wo fich damals der berühmte Halsband?
prozeß für Cagliofiro damit geendigt hatte, daß diefer
freigelaffen wurde und nach England ging. Meine Neu?
gier, diefen Advokaten felbft kennen zu lernen, wurde
durch die Dienftfertigkeit Eines aus der Gefellfchaft bald
befriedigt, der mich fchon des andern Tages bei diefem
Manne einführte. Diefer legte mir hierauf den ganzen
Stammbäum des Abenteurers und zugleich eine Abfchrift
des Memoires vor, das er nach Frankreich zur Entlar?
vung des Herrn Balfamo gefchickt hatte. Sein mütter?
lieber Großvater hatte wirklich Jofeph Caglioftro geheißen,
unter welchem Namen fich noch Verwandte in Meffina
befinden. Sein Vater war ein Kaufmann, der infolvent
geworden und bald geftorben war. Der junge Balfamo
hatte einige Zeit in einem Klofter der barmherzigen Brü?
der zugebracht, wo er eben fein bißchen empirifche Me?
dizin gelernt hatte, weil diefer Orden die Krankenpflege
in den Spitälern beforgte. Als er diefer Klofterzucht ent?
laufen war, lernte er alle Hände meifterhaft nachmachen,
kam diefer Kunft wegen ins Gefängnis und entkam diefem
durch eine Flucht nach Rom, wo er feine Seraphine, eine
Gürtlerstochter, heiratete, durch ihren Erwerb nun die
Rolle eines Grafen Pellegrino zu fpielen anfing, und unter
diefem Namen felbft die Unverfchämtheit hatte, wieder
nach Palermo zu kommen. Aber hier wurde er erkannt
und zum zweiten Male feftgemacht. Aber auch diesmal
wußte er fich feine Freiheit durch die Schönheit feiner
Frau zu verfchafl"en, deren erklärter Liebhaber, ein roher
junger Principe, den Advokaten, der gegen Balfamo diente,
fo mißhandelte, daß diefer aus Angft nun felbft die Los?
laffung des Gefangenen bewirkte. Nun verließ unfer
Held Palermo zum zweiten Male, nahm feines Großvaters
Caglioftro Namen an und durchftrich, wie bekannt, Eu?
ropa. Dies und vieles andre lernte ich aus jenem Me?
moire, das ich vom Advokaten zum Anfehen erhielt, fo?
wie ich mir auch den dabei befindlichen Stammbaum ko?
pierte. Der Advokat hatte die Data zu dem letztern von
Balfamos noch lebender Mutter und Schwefter auf eine
gute Art zu erhalten gewußt.
578j Weimar. 1792. 183
Dies machte mich neugierig, diefe FamiUe felbft kennen
zu lernen. Es hielt fchwer, da es arme Leute waren, die
jeden Beluch eines Fremden fehr verdächtig finden mußten.
Aber der Schreiber des Advokaten, der mir die Sache
kommunizierte, erbot fich doch, mich als einen Engländer
dort bekannt zu machen, der genaue Nachricht von der
Befreiung Caglioftros aus der Baftille und feiner glücke:
liehen Ankunft in England zu überbringen habe. Der
Anfchlag glückte.
Nun erzählte Goethe mit feiner unnachahmlichen
Kunft zu erzählen und Familienfzenen zu malen, feinen
Eintritt in die kleine Wirtfchaft diefer armen Bürger^:
familie. In der Küche wufch Caglioftros Schwefier eben
das Eßgefchirr auf und deckte fogleich beim Eintritt des
Fremden, der hier durch die Küche in die Wohnftube
paffieren mußte, durch Überfchlagen der Schürze den noch
weniger abgetragenen und verfchoffenen Vorderteil ihres
Rockes auf. In dem Wohn^ und Familienzimmer — die
ganze Familie hatte nur dies einzige — fah alles ärmlich,
doch reinlich aus. Schwarze Heiligenbilder hingen an
den Wänden, die einft gefärbt gewefen waren. Die Röhrst
ftühle waren einft vergoldet gewefen. Ein einziges Fen?:
fter erleuchtete das Zimmer, an deffen einem Ende die
alte harthörige Mutter, an dem andern eine kranke fchlaf:?
füchtige Frau faß, die man in der Familie, trotz alles eig^
nen Mangels, aus Barmherzigkeit unterhielt. Goethe mußte
nun der alten Mutter die Nachricht von ihrem Sohne weit?
läufig verdolmetfchen laffen, da er des gemeinen Dialekts
der Sizilianer nicht ganz kundig war. Die Schwefter, die
felbft fchon drei erwachfene Kinder hatte und eine arme
Witwe war, erzählte, wie es ihr kränkend fei, daß ihr
Bruder, der große Schätze befitzen folle, nicht einmal die
13 Uncie d'oro (Dukaten) wieder fchicke, womit fie ihm
bei feiner letzten Abreife aus Palermo feine verfetzten
Sachen eingelöft habe. Fragen an Goethe, ob er nicht
das Rofalienfeft in Palermo mit abwarten wolle, ob er
einen Brief an ihren Bruder in England beftellen wolle.
Die alte Mutter fragte, ob er wohl ein Ketzer fei ufw.
Beim Abfchied, der fchon fehr traurig war, verfpricht
Goethe, morgen wieder zu kommen und den Brief felbft
abzuholen. Er kommt auch den andern Tag wirklich
wieder und erhält einen Brief und einen pathetifchen (ruh?
rend gefchilderten) mündlichen Auftrag von der alten
I
184 K. A. Böttiger. [578
Mutter, die keinen ganzen Mantel mehr hat, um in die
Meffe gehen zu können. Beim Abfchiede rührende Zu^:
nötigung, das Fefi der heiligen Rofalia noch in Palermo
und in Gefellfchaft diefer guten armen Leute zu feiern.
— Hätte es Goethes Reifekaffe auf der Stelle erlaubt, er
hätte feinen kleinen Betrug fogleich dadurch gut gemacht,
daß er unter dem Vorwand, er wolle fich das Geld in
England vom Bruder wiedergeben laffen, der Schwefter
noch vor der Abreife die 13 Dukaten gefchickt hätte, die
Cit für ihren Bruder ausgelegt hatte. Was indeffen da^
mals nicht gefchehen konnte, ift fpäter von Deutfchland
aus gefchehen.
Goethe hatte diefe Auftritte in einigen Zirkeln feiner
Freunde erzählt. Diefe fetzten ihn in den Stand, der
armen Familie noch mehr zu fchicken, als jenes betrug.
Der englifche Kaufmann Corf in Palermo, an den es Goethe
fpedierte, händigte es ohne alle Adreffe ein. Die guten
Leutchen meinten, dies käme wirklich von ihrem Bruder
aus England und dankten ihm fchriftlich. Auch diefen
Brief, den dann Goethe von jenem Kaufmann zugefchickt
bekam, las er uns jetzt vor. Er war fehr rührend, die
Gabe war gerade zum Weihnachtsfefie angelangt. Die
Mutter fchrieb die Rührung des Herzens ihres Sohnes
dem heiligen Muttergotteskinde zu. Noch hat Goethe
eine Summe in den Händen, die er der armen Familie,
welche durch Caglioftros neuefte Schickfale in Rom aller
Hoffnung beraubt fein muß, noch zufchicken wird. —
Einer aus der Gefellfchaft glaubt, es fei das Honorar,
welches Goethe von Unger in Berlin für das Manufkript
des Großkophta erhalten hat. Mir ift's auch aus andern
Gründen wahrfcheinlich ; und fo wäre es in der Tat höchft
fonderbar, daß eine Summe Geldes, die durch ein Schau::
fpiel erworben wurde, das Caglioftros Betrügereien und
ftirnlofe Frechheit geißelt, diefes nämlichen Caglioftros alter
Mutter und hilflofer Schwefter in Palermo zur Erquickung
gereicht, und daß beides ein und derfelbe Deutfche tat.
Vergeblich würde ich mich übrigens bemühen, die
Schilderungen und kleinen, entzückenden Details wieder*
zugeben, die Goethe in die Erzählung diefes kleinen Reife*
abenteuers zu verweben gewußt hatte. Enfin, la sauce
valait bien la viande. So fchwebt mir jetzt gleich noch
das Gemälde vor Augen, wie beim erften Befuch bei der
Familie Goethe mit feinem Begleiter ins große Gemach
580] Weimar. 1792. 185
eingewiefen worden war, fo verweilte die Schwefter, die fie
in der Küche angetroffen hatten, noch etwas in derfelben.
Als fie hereintrat, erzählte Goethe, hatte fie eine reine
weiße Schürze umgetan und ftatt der klappernden Kork^
Pantoffeln Schuhe mit einem roten Bändchen angezogen.
Sie fetzte fich mir fchief über, ftemmte beide Hände auf
die Knie und befühlte nun, fo vorwärts gebogen, mit args=
lofem unbeleidigendem Blicke jede Muskelbewegung des
ihr fremden Mannes.
Vieles, was fpäter in den zu Rom aus dem Verhöre
gedruckten Nachrichten von Caglioftro ftand, war noch
ausführlicher in jenem Memoire des palermitanifchen Ad^
vokaten, das Goethe bloß darum nicht ganz kopierte,
weil er gewiß glaubte, man würde es in Paris felbft fo^
gleich drucken laffen.
[379.] Juni. H. Stephanie
Vertrauensvoll und ruhig fahen die Verbundenen
dem Erfolge ihres Unternehmens, betreffend Maßnahmen
zur Bekämpfung der Studentenduelle, entgegen. Aber es
wollte nichts zum Vorfchein kommen. Ein Gefpräch mit
Goethe ließ nicht viel Gutes ahnen, denn diefer ließ die
Worte fallen, daß man die Eingabe nur für das Werk
einiger beffern Köpfe hielt, dasfelbe dem noch rohen
Geifte des großen Haufens aber nicht entfpräche; und
es fei eine Maxime der Regierungsklugheit: die Menschen
nicht fo zu behandeln, wie fie fein follten, fondern wie
fie wirklich find.
[380.] Juli 17. J. D. Falk.
Den folgenden Morgen befuchte ich den Geheimen
Rat Goethe. ^ Er ifi:von mittlerem Wuchfe, hat ein männlich
braunes Antlitz, fchwarze [I] funkelnde Augen, einen tief:;
faffenden Blick, einen fi:arken fchwarzen Bart und genialifche,
aber regelmäßige Züge. Sein Anzug war bürgerlich ein?
fach — ein fimpler blauer Überrock — fein Anftand kunft?
und anfpruchslos. Ein mehr angeborner als angenommener
Ernft erweckt in jedem, der mit ihm fpricht, ein gewiffes
Gefühl von Hochachtung, ich möchte beinahe fagen von
Ehrfurcht, das aber keineswegs zurückftoßend ifi:. Ich
hätte ihn eher für einen biederherzigen Amtmann, als für
den großen Schriftfteller gehalten, auf den unfer Vaters^
land nicht ohne Urfache ftolz fein darf. Er empfing mich
I
186 J. D. Falk. ^
freundfchaftlich, und wir fprachen über eine Stunde mit:^
einander. Goethe erzählte mir, daß Schiller mit unfäg^
licher Anfirengung arbeite. Als Schiller fich noch in.
Weimar befand, verfchloß er fich oft acht Tage lang und
ließ fich von keiner Seele fprechen. Abends um acht
ftand noch fein Mittagseffen vor feinem Studierpult. Doch
glaubte er nie die ftrengen Forderungen der Kunft be?
friedigt zu haben; denn feine Begriffe von dem Ideal,
nach dem er hinaufarbeitete und alle feine Geiftesgeburten
abmaß, waren zuweilen etwas überfpannt und abenteuer^s
lieh. Deshalb hielt es auch eben fo fchwer, die Pfychoj:
logie aus feinen Stücken, als aus feinem Gefichte heraus^
zufinden. Der Don Carlos ließe fich beffer lefen, als
aufführen, und die darin verwebte Pfychologie der Charak^^
tere fei auch felbft bei der Lektüre und der angefpannteften
Aufmerkfamkeit nicht immer bemerkbar. Die übergroße
Anftrengung, mit der Schiller arbeitete, glaubte er auch
in feinen flüchtigften hingeworfenen Stücken zu entdecken.
Selbft an den Briefen über den Don Carlos im Teutfchen
Merkur fähe man die Schweißtropfen hängen, die fie dem
Verfaffer gekofi:et. Wie Goethe glaubte, fei der Kampf,
den Schwärmerei, Vernunft und Einbildungskraft, die in
der Seele diefes Dichters gekämpft, mit unverkennbaren
Zügen feinem Geficht eingegraben, und daraus entfliehe
in demfelben die fonderbare Mifchung von Schwermut,
Freundlichkeit, Ernft und Zerfi:reuung. Kurz, auf ihn
paßt ganz, was er einft in feinen Werken zur Charakter
rifierung eines Dritten fagte: In feiner Phantafiewelt ver?
fchloffen, war er ein Fremdling in der wirklichen. Sein
Körper, mitten aus der Zerrüttung hervor, verrät einen
hohen männlichen Geifi: gleich den Ruinen eines ehr^s
würdigen alten Tempelgebäudes. Ihr ahnt aus dem Schauer
der Ehrfurcht, der Eure Seele ergreift, daß einft eine Gott*
heit hier wohnte; aber erkennen könnt Ihr es jetzt nur
aus Trümmern und Überbleibfeln, die der Zahn der
alles zerfiiörenden Zeit verfchonte.
Noch fprach Goethe viel von Italien, wo er fich
lange Zeit aufgehalten. ^ Von den fchönen Gegenden
und felbft von den Einwohnern diefes Landes fprach er
mit vielem Enthufiasmus. Die Luft ifi: lauer, reiner; der
Himmel blauer und unbewölkter; die Gefichter offen,
freundlich und lachender, die Formen und Umriffe der
Körper regelmäßig und anlockender. Selbft das Grün
380] Weimar. 1794. 187
der Wiefen und Bäume nicht fo kalt und tot, fondern
höher, heller, mannigfaltiger, als in den nördlichen Himmels?
ftrichen. Alles fcheint zum lieblichen Genuffe einzuladen,
und Natur und Kunft bieten fich wechfelfeitig die Hand.
Nirgends oder feiten finden Sie in Italien folche zurück?
ftoßende, koloffale Geftalten wie in unfern Gegenden;
nirgends fo verkrüppelte und zufammengefchrumpfte Fi?
guren. In unfern Gefichtern verlaufen die Züge regel<
los durch? und ineinander, oft ohne irgend einen Charakter
anzudeuten, oder es hält wenigftens fchwer, das Original
herauszufinden; man kann fagen: in einem deutfchen
Gefichte ift die Hand Gottes unleferlicher, als auf einem
italienifchen. Bei uns ift alles verkritzelter und feiten
felbft in der Form etwas Vollendetes. Kopf und Hals
fcheinen bei jenen Menfchen gleichfam unmerklich in?
einander gefügt; bei uns find fie größtenteils eingefchoben
und aufgeftülpt. Die fanft geblähte Bruft fchwellt all?
mählich in ihren Umriffen; nicht folche kugel? und
muskelhafte Maffen von Fleifch, die das Auge mehr be?
leidigen, als einladen. Ich habe in Italien unter der ge?
meinften Menfchenklaffe Körper gefehen gleich den fchön?
ften Antiken und andere, die entkleidet dem Künftler
durch die Regelmäßigkeit ihres Baues den vollkommenften
Torfo vertraten. Kurz, in Italien wohnen fchöne Körper
und fchöne Seelen unter einem Dach und Fach in brüder?
lieber Eintracht beifammen; bei uns wohnen fie durch
verfchiedene Stockwerke abgefondert und ungefellig; jedes
treibt feine Wirtfchaft für fich. Ich bedaure einen großen
Künftler wie Herrn Lips in Deutfchland, wo ihm das
Studium der Formen in feiner Kunft keinen Vorfchub
tut; er muß unaufhörlich aus feiner Phantafie hervor?
arbeiten. Die Römerinnen find die reizendften Geftalten,
die ich je erblickte. Ein fchlanker Wuchs, regelmäßige,
majeftätifche Gefichtszüge, große gewölbte Augenbrauen,
die wie abgezirkelt einen Halbbogen bilden, find unter
dem männlichen und weiblichen Gefchlechte nichts Un?
gewöhnliches. Auch herrfcht unter ihnen weit mehr
Künftlergefchmack als in Deutfchland, wozu freilich der
frühe Anblick der unfterblichften Meifterftücke der Kunft
in Tempeln und öffentlichen Gebäuden viel beitragen mag.
Bei uns ift der gute Gefchmack größtenteils in Studier?
ftuben eingefchloffen. Freilich herrfchen dagegen Luxus
und Üppigkeit, diefe von den fchönen Künften unzer?
I
188 J. D. Falk. [381
trennlichen Übel, ausgebreiteter, als bei uns, in Italien.
Doch muß man auch hier nicht zu vorfchnell die Wir;;
kungen des wollüfiigen KHmas dem Einfluß der fchönen
Künfte und Wiffenfchaften beimeffen. So wie Pflanzen
und Blumen unter der milden Sonne Italiens lieh fchneUer
und üppiger entfalten, aber auch rafcher dahinwelken, fo
ift es auch vielleicht der Fall mit den Einwohnern diefes
Himmelsfirichs felbft. Früher und reizender aufblühend
und reifend, find ihre Körper wollüftiger, ideaUfcher, aber
auch hinfäfliger und vergängUcher, als die unfrigen.
[381.] Auguft 25/26. L. F. Huber an einen Ungenannten.
Endlich habe ich Goethe kennen gelernt; er war
diefe Woche zwei Tage hier in Mainz, und ich habe
zwei Abende mit ihm zugebracht. Er war gefellfchaft^
lieh luftig; und ich bin in diefer Rückficht fehr von ihm
erbaut gewefen. Übrigens treibt er das Vermeiden
aller Individualität im Umgang bis zum Lächerlichen; es
war z. B. zweimal durch einen höchst natürlichen Zu^
fammenhang von Dir die Rede, ohne daß auch nur eine
Silbe von ihm heraus kam. ^^ Zugleich fcheint er politica
im Kopf zu haben. '^ Indeffen freute mich, nachdem
der erfte Anfall von zurückftoßender Steifigkeit vorbei
war, die milde Leichtigkeit und der Schein von Anfpruchs:
lofigkeit in feinem gefellfchaftlichen Ton. Den erften
Abend wurden wir alle durch guten Wein gefiimmt, er
hatte Einfälle mit Räfonnement vermifcht und war wirk^
lieh lebhaft; in Augenblicken machte es mir vielen Spaß,
feine Mutter ganz in ihm wieder zu finden, und das war
dann, wenn er launig und kräftig etwas auseinanderfetzte,
worin eben ihre Originalität vorzüglich liegt. Den zweiten
Abend ^ erzählte er fehr niedlich und launig manches von
Italien und war durchaus leicht und gutmütig.
[382.] Auguft Ende. Ein preußifcher Artillerie?Offizier (Schmidt).
Ich hatte während des Feldzuges in Frankreich fchon
vorher gehört, daß diefer Goethe ein fehr berühmter Schrift^
fteller fein follte. ^^ Als man mir zuerft fagte, daß ich
jetzt häufig mit diefem Fierrn zufammen fein und ein
gleiches Quartier teilen muffe, da ich ja auch zur Suite
des Herzogs von Sachfen? Weimar befohlen war, fo
empfand ich anfänglich einige Abneigung. — Ich hatte
mir diefe Fierren Poeten bisher immer nur als fo eine
382] Frankreich. 1792. 189
Art äußerlich und fittlich verkommener Menfchen gedacht.
f^ Wie überrafcht war ich nun aber, als ich diefen Herrn
Goethe perfönlich zuerft kennen lernte: es war ein un?
gemein ftattlicher, anfehnlicher, auf das Elegantefte an^
gekleideter Mann in den befien Jahren, der mit ein^m
fo vornehmen Wefen auftrat, daß man ihn wirklich eher
für einen Prinzen, als für einen bürgerlichen Secretarius
hätte Halten können. Er hatte etwas fehr Selbftbewußtes
in feiiiem ganzen Benehmen, und die Worte floffen da?
bei fo fchön und gewandt von feinem Munde, daß es
immer auf den Zuhörer den Eindruck machte, als höre
er aus einem gedruckten Buche vorlefen. ^ So hörte er
fich auch zu gern felbft fprechen und hielt wohl mits:
unter auch Reden, die zwar fehr fchön klangen, aber
ihrem eigentlichen Inhalte nach doch nur leer waren, über
Dinge, die er unmöglich verfiehen konnte. Ich entfinne
mich noch, daß er einft an der Tafel des Herzogs von
Weimar einen langen Vortrag über die Artilleriewiffen;;
fchaft und befonders auch über die zweckmäßigfte Anlage
von Batterien hielt und felbft uns Artillerieoffiziere da?
rüber belehren wollte. So etwas konnte mich denn doch
wohl mit Recht verdrießen, und ich fagte: Nehmen Sie
es, verehrtefierHerr Legationsrat, — denn diefen Titel führte
er dazumal [I] — nicht übel, wenn ich Ihnen mit pommer?
fcher Gradheit zu antworten mir erlaube, daß bei uns
ein altes Sprichwort heißt: Schufter bleib bei deinen
Leiften. Wenn Sie über das Theater und die Dichtung
und noch über viele andere gelehrte oder Kunftfachen
reden, fo hören wir alle Ihnen mit dem größten Ver?
gnügen zu; denn dies verftehen Sie aus dem Grunde,
und man kann viel von Ihnen dabei lernen. Etwas
anderes aber ist es, wenn Sie über das Artilleriewefen
fprechen und nun gar uns Offiziere darüber belehren
wollen; denn, nehmen Sie es nicht übel! — davon ver?
ftehen Sie auch nicht das Mindefte. Ihre Anflehten über
die Verwendung der Gefchütze waren vollftändig falfch,
und wenn ein Offizier nach Ihrer Anleitung eine Batterie
errichten wollte, fo wäre folche gar nicht zu gebrauchen
und er würde entfchieden damit ausgelacht werden. So
fprach ich freimütig und ohne Scheu, und es herrfchte
anfänglich bei meiner Rede ein gewiffes beängftigtes
Schweigen unter den meiften Anwefenden, und mehrere
fahen mich fogar ganz entfetzt an, daß ich einem fo be?
I
190 Schmidt. [383
rühmten Manne, wie Goethe damals fchon war, fo rück::
(ichtslos meine Meinung gefagt hatte. Goethe felbft ward
bei meinen Worten anfänglich ganz rot im Geficht, ich
weiß nicht, ob aus Zorn oder aus Verlegenheit, und feine
fchönen funkelnden Augen blickten mich fiarr an; bald
aber gewann er feine volle Geiftesgegenwart wieder und
fagte lachend: Ja, Ihr Herren Pommern feid doch recht
freimütige oder wohl gar grobe Männer, das habe ich
foeben an mir selbft nur zu fehr erfahren. Aber darum
keine Feindfchaft, Herr Leutnant! Sie haben mir foeben
eine derbe Lektion gegeben, und ich werde mich hüten,
in Ihrer Gegenwart wieder über das Artilleriewefen zu
fprechen und den Herren Offizieren in ihr Fach zu
pfufchen. Dabei fchüttelte er mir recht herzlich die Hand,
und wir blieben nach wie vor die heften Freunde, ja,
es wollte mir fogar fcheinen, als ob Goethe meinen Um::
gang jetzt noch mehr auffuchte, als dies früher der Fall
gewefen war.
[383.] Auguft/September. A. G. Rofenmeyer.
Zelter fchreibt an Goethe, fein Hausarzt R. habe bei ihm
Goethes Buch über die Campagne in Frankreich gefehen, mitge?
nommen und es wiederbringend geäußert:
Nun kann ich auch fagen, daß ich den Herrn Goethe
zweimal gefprochen habe, das heißt, er fprach zu mir,
indem ich bei der Arbeit war, und das kam mir fo natür::
lieh vor, daß ich bei mir dachte: der müßte wohl vom
Metier fein.
[384.] Oktober 24. J. H. Wyttenbach.
Vor einigen Jahren hatte ich das Glück, mit dem
Herrn Geheimrat von Goethe bekannt zu werden, als
er durch Trier reifte. Diefem großen Manne habe ich
viel zu verdanken. Er ließ fich zu mir herab, und gab
mir im ächten Verftande manche Stunde den lebendigften
Unterricht.
[385.] November 6./ Dezember 4. F. H. Jacobi an Goethe.
Mir ftand ^ unfer Wiederfehen in Pempelfort zu
lebendig vor der Seele. Du wareft gekommen, um mir
Rechenfchaft von Deinem Haushalte abzulegen. Ich follte
Dich um alles, was ich von Dir zu wiffen begehrte, un?
gefcheut fragen und mir follte auf alles und jedes voll?
587] Pempeltort. 1792. 191
ftändige, unverhohlene Antwort werden. Du forderteft
nicht dagegen das Gleiche von mir, würdeft aber jeder
vertraulichen Mitteilung aus meinem Innern (Dich) herzlich
erfreuen. Ich verhieß Dir, was Du mir verheißen haft.
[386.] November 6./Dezember 4. F' H. Jacobi an Goethe.
Ich gedachte ^ jener fünf Wochen, die Du im Winter
des Jahres 1792 bei mir in Pempelfort zubrachteft und
des Zeugniffes aus voller Seele, das Du mir beim Scheiden
gabft. Wir hatten Stunden miteinander verlebt, die keiner
von uns je vergeffen konnte. Jene Ahndungen in der
Mitternachtsftunde zu Köln wurden uns jetzt zu Erkennt :=
niffen; wunderbar hatten felbft die Täufchungen fich zur
Wahrheit verklärt. Für Dich zumal hatte die Reife unferer
Freundfchaft, wie Du es nannteft, die höchfte Süßigkeit;
und es mußte fo fein; denn Dir war in Erfüllung ge^
gangen über Deine Erwartung, was Du auch geftandeft;
mir nicht darüber, noch darunter.
[387.] November 7. /Dezember 4. F. H. Jacobi an Johanna Schloffer.
Du tuft Goethe gewiß unrecht, wenn Du ihn einer
Verachtung gegen Schloffer befchuldigft. Ich habe ihn
hierüber gleich den Morgen nach feiner Ankunft vorge^
nommen und ihm mit dürren Worten gefagt, was mir
Schloffer vorigen Sommer gefchrieben hatte, nämlich : Wenn
ihn Goethe verachte, fei er ein Narr, und wenn er etwas
wider ihn habe und es ihm nicht fage, ein fchlechter
Menfch. — Es tat ihm weh, dies zu hören, das fah ich,
und es war ihm gewiß ernft mit der Verficherung, daß
er zwar Vorwürfe, aber nicht diefe verdiene; er ehre
und liebe Schloffern, aber Schloffer habe für ihn etwas
Unverträgliches, weswegen er fich vor ihm fcheue. Dies
war die Subftanz von dem, was er vorbrachte. Er fetzte
hinzu, daß er fehr gewünfcht und auch gehofft hätte.
Euch in Karlsruhe zu befuchen. Denfelbigen Morgen
gab es Gelegenheit, daß ich ihm Schloffers jüngften Brief
zu lefen reichte. Goethe hatte nämlich bei einer Stelle
des Ariftoteles, die ich ihm vorlas, fleh gerade fo ge^^
äußert wie Schloffer über eine Stelle des Flato in diefem
Briefe. Diefer ganze Brief machte ihm ungemeine Freude :
er brachte ihm Schloffern in feiner ganzen Schönheit und
Größe vor die Seele. Nachher hat er mich bei Gelegen^;
heit oft gefragt: Weißt Du nicht, wie Schloffer hievon
I
192 F. H. Jacobi. [588
denkt? — Mit diefer oder jener Sache: Gibt fich Schloffer
damit ab? — Wie weit haltet Ihr auf diefem — oder
jenem — Wege gleichen Schritt? u. d. — Den Tag vor
feiner Abreife bat er jeden von uns insbefondere und
mich zu wiederholten Malen, Schloffern und Dich doch
recht herzlich von ihm zu grüßen, Euch viel Liebes von
ihm zu fagen. Ich gab ihm noch ein paar befondere
Abzüge von Schloffers Antiberolinianis , die er mit Be?
gierde annahm. Am Morgen feiner Abreife wiederholte
er feine Aufträge an Euch ^
Was Du von Goethes Stolz im allgemeinen fagft,
laffe ich Dir gelten. Ich habe ihn von diefer Seite jetzt
noch viel näher kennen gelernt, auch durch eigene Be^:
kenntniffe, die er mir von feinem Ehrgeize und feiner
Eitelkeit ablegte.
[388.] November 6./Dezember 4. F. H. Jacobi an K. L. Reinhold.
Daß Goethe meine Aufträge an Sie unausgerichtet
ließ, hat mich äußerft befremdet. Er übernahm fie mit
fichtbarer Freude, und ich fiehe dafür, daß fie nicht ge^
heuchelt war. Bisher, fagte er mir, hätte er wenig Um^
gang mit Ihnen gehabt, aber nun follte es anders werden;
er würde gleich in den erfien 8 Tagen nach feiner Zu^?
rückkunft nach Jena reifen ufw.
[389.1 Nov. 6./Dez. 4. Helene Jacobi an Gräfin Sophie Stolberg.
Die Politik hat mir zu viel Greuel, als daß ich nur
davon anfangen möchte, und Goethe zu viel Gutes und
Schönes, als daß ich damit zu Ende kommen könnte.
Er ift und bleibt der wahre Zauberer, und auch Sie werden
ihn lieben und bewundern, fobald Sie ihn kennen. Was
die Leute Sonderbares von ihm fchwatzen und reden, ift,
weil fie immer nur die linke Seite fehen; und das ift
auch das verkehrtefte an ihm, daß er fo gerne das Ver^^
kehrte an fich herauswendet. Ich verglich ihn deswegen
einmal, gegen ihn felbft, mit einer haute:slisse auf dem
Geftell; wer fich nicht bückt die untre Seite zu fehen,
wird die fchönen Farben darinnen nicht ahnden oder die
Ware für fich mögen. Ihm ward unendlich wohl unter
uns und der Abfchied koftete ihm viel. Fritz und er
haben fich tiefer durchdrungen und inniger erkannt, wie
je, Fritzens offenes, fanftes Wefen, feine fromme und
doch fo freie Seele haben Goethe fehr ergriffen, und fo
392] Pempelfort - Weimar. 1793. 193
ergriffen, daß ich faft glaube, daß die Folgen davon in
eigener Sinnesänderung bei ihm fpürbar fein werden, denn
Wahrheit ift ihm teuer, fobald er als Wahrheit fie ers:
kennt; aber ihr falfches Bild ihm auch fo verhaßt, daß
fie eben deswegen die größte Gefahr bei ihm läuft; denn
indem er jenes rafilos verfolgt, ftürzt er über diefe oft
hin und tritt fie mit Füßen. Um nicht betrogen zu
werden von dem, was er fcheut, betrügt er fich felbft um
das, was er liebt, und je blühender die Schöne ihm ent:;
gegenkommt, defto vorlichtiger glaubt er in ihr nur die
feine Schminke der Falfchen zu erblicken. '^ Goethe hat
mir unendlichen Genuß gegeben, aber auch manchen tiefen
Schmerz der Seele. Je mehr ich ihn liebte, defto ängftlicher
hätte ich ihn fchützen mögen, daß er fich felbft wenige
ftens nicht fchade. —
[390.] November/Dezember. Nicolovius.
Goethes Erzählung von Pempelfort in der Campagne
in Frankreich hat mich etwas verdroffen; er ift ungerecht,
kühl und übergeht oder vergißt manches, was dort vorge^;
fallen und tiefen Eindruck auf ihn gemacht hat. Jacobi
fcheint recht gehabt zu haben, wenn er fagt, daß Goethe
in jenen Tagen die Spuren des wilden Kriegslebens an
fich getragen hat.
[391.] Dezember. H. E. G. Paulus.
Als der Herzog von Weimar als preußifcher General
in Begleitung feines Goethe in den von den beiden
deutfchen Großmächten übel berechneten und unglücklich
ausgeführten Feldzug verwickelt wurde, und fich da zu:^
gleich die Furcht verbreitete, daß die feinere Konverfation
der zu Eifenach zugelaffenen Emigrierten höhern Einfluß
gewinnen könnte, fprach Goethe felbft bei der Rückkehr,
dem Herzog nahe ftehend, laut die Verficherung aus:
Jedermann darf gewiß fein, daß der Regent ganz unjs
geändert zurückgekommen ift.
[392.] 1792 und später. Henri Gafton Marquis v. B.
Ich habe manchen Abend während der Campagne in
Frankreich mit ihm in lebhafter Unterhaltung verplaudert,
obgleich wir in unferen Anfichten nicht immer überein^
ftimmten und er fowohl in politifcher und noch mehr in
religiöfer Hinficht zu den Freidenkern zu gehören fehlen.
I 13
194 Henri Gafton Marquis v. B. [393
Sehr intereffierte es den Herrn von Goethe, wenn ich
ihm über die alten Sagen der Bretagne und über die eigene
tümhchen Sitten unferer Bauern Mitteilungen machte, und
er konnte dann ftundenlang mit der größten Aufmerkfam?
keit mir zuhören: Später ^^ in Weimar ^ befuchte ich
ihn einmal auf der Durchreife. Er nahm mich mit großer
Freundlichkeit auf und zeigte mir feine reichen Samm^:
lungen und wir plauderten noch ein Langes und Breites
über den frühern Krieg in Frankreich. In feinen polig
tifchen Gefmnungen fchien erfich jetzt «^ gebeffert zu
haben undTentwickelte fehr konlervative Grundlätze.
1793.
[393.] März 18. David Veit.
Wir* kamen um 1 1 Uhr nach Weimar, kleideten uns
mit Blitzesfchnelligkeit um ^^ und verfügten uns ^ zu
Goethe. Sein Bedienter fagte uns, es wäre jetzt ein Graf
bei ihm, der ihn fchwerlich vor 1 Uhr verlaffen dürfte,
und wir möchten nur gegen zwei wiederkommen. Ich
ließ mich nicht abfchrecken, fondern fagte dem Bedienten,
er möchte uns nur als Berliner melden, die einen Brief
vom Hofrat Moritz mitbrächten. Hierauf wurden wir
zwei Treppen hinaufgeführt. ^ Aus der Treppe kommt
man in ein Vorzimmer, ^ aus diefem Zimmer in ein
kleines, niedliches, in welches wir zugleich mit Goethe,
den wir aus dem andern Teil der Wohnung kommen und
mehrere Zimmer durchgehen fahen, als wir noch in der
Antichambre waren, hereintraten. Er hatte uns nicht zwei
Minuten warten laffen.** ^
Er hat uns ungemein höflich aufgenommen; als er
auf uns zukam, fah er uns recht freundlich an (fein Blick
ift gewöhnlich ernfthaft; aber ohne alle Arroganz, wie es
fcheint; wenn er fich nicht an einen wendet, fo fieht er
gefenkt zur Erde, mit den Händen auf dem Rücken und
fpricht fo fort), fragte nach dem Endzwecke unferer Reife,
erzählte uns, daß es in Frankfurt fehr lebhaft ausfähe, daß
er Frieden wünfche ufw. Nachdem er einen Brief durchs
gelefen hatte, erkundigte er fich kaltblütig, aber mit vieler
* Der Begleiter war Simon Veit.
** An der Stelle f^ ift eine ausführliche Schilderung der Er*
fcheinung Goethes. Figur, Geficht, Kleidung.
394] Weimar - Vor Mainz. 1793. 195
Aufmerkfamkeit nach Moritz. Sobald ich nur von ihm
und der Entweichung feiner Frau zu reden angefangen
hatte, fagte er in einem fehr ernfthaften Ton: Er muß
jetzt viel arbeiten, er muß arbeiten; er ift wirklich ein
gar lieber Mann, und wenn er etwas unternimmt, fo greift
er die Sache immer fo ganz recht an. Er hat wirklich
zu gar vielen Sachen ein recht hübfches Talent. Hm!
Herkommen kann er freilich nicht; er muß fehr viel Ar?
beit haben. Er ließ fich nun noch über unfere Reife felbft,
über die Kriegsoperationen mit uns ein, fprach aber von
keiner Partei mit Dezifion, jedoch immer überaus natura
lieh, immer, als ob er nur die Sachen, nicht die Worte
fuchte. Man hört's ihm noch manchmal an, daß er aus
dem Reich ift, wie er uns auch felbft fagte. Das Zimmer,
in welchem wir ftanden — fitzen ließ er uns nicht — war
mit grünen Tapeten ganz modern geziert. ^* Eine Viertel?
ftunde — eher mehr, als weniger — hielt er uns auf, machte
dann eine bedeutend lächelnde Miene, und wir waren nicht
dumm. Nach Mendelsfohn erkundigte er fich gar nicht,
ohngeachtet im Briefe Herr Veit als deffen Schwiegerfohn
genannt ift. Überhaupt haben wir keinen literarifchen
Punkt berührt; er fragte nicht einmal nach Moritzens
neueften Sachen; der Mann hat nicht unrecht, wenn ihm
mies ift. Er begleitete uns aus der Antichambre und war
noch beim Abfchiede fehr höflich.
[394.] Juni/Juli. Ein preußifcher Artillerieoffizier (Schmidt).
Von einem Adjutanten des Herzogs Karl Auguft von
Sachfens:Weimar hatte auch Goethe, der feit einigen Tagen
ebenfalls wieder in unferm Lager vor Mainz anwefend war,
gehört, daß ich in diefer Batterie kommandiere. Er be?
fuchte mich alsbald, ^ und dies war mir ein ficheres Zei?
chen, daß er eine gewiffe Wertfehätzung gegen meine Per?
fon hege und meine foldatifche Aufrichtigkeit nicht übel
genommen habe. Auch als Goethe zu uns kam, fahen
wir alle vom Pulverdampf arg mitgenommen aus, und
meine Fäufte waren fo fchwarz, daß ich ihm kaum die
Hand fchütteln konnte. Er meinte lachend: jetzt fehe
er uns doch fo recht bei der Arbeit, aber unfer Hand?
werk gefiele ihm nicht; dabei würde man zu fchwarz und
Weitere Befchreibung des Zimmers.
13'
196 Schmidt [395
fchmutzig, und die Ohren müßten ja von all dem Ge^
krache und Gefaufe zerfpringen. Ich antwortete ihm fcher:;
zend: freilich, bei feiner Arbeit als Schriftfteller könne
man fich nur mit Tintenklexen an den Fingern befchmut:;
zen, während wir von Pulverdampf fchwarz würden, und
der Gefang feiner Schaufpielerinnen im Theater zu Wei*
mar kitzele die Ohren wohl fanfter, als das Gekrache
unferer Vierundzwanzigpfünder, dafür fchaffe unfere Ar^
beit aber auch beffer, als die feine. Auch Goethe brannte
ein Gefchütz ab wie vorher Karl Auguß, der Zufall wollte
aber, daß nichts mit feinem Schuffe getroffen wurde. Später
war er noch einmal in meiner Batterie, als wir Bomben
auf Mainz warfen und die Flugbahnen der großen Ge^
fchoffe mit ihrem Feuerfchein in der dunkeln Nacht
intereffierten ihn fehr. Ich habe bei einer andern Gelegen?
heit einmal ein langes Gefpräch mit ihm darüber gehabt, wie
wir Artilleriften die Flugbahnen der Gefchoffe am rafcheften
und praktifchften berechnen können, und merkte dabei, daß
er ein ganz tüchtiger Mathematiker fei, demdieverfchiedenen
mathematifchen Formeln vollkommen geläufig waren.
[395.] Auguft 12. J. J. Gerning.
Nachdem Goethe am 1. Auguft Gerning aufgefordert hatte,
ihn zu befuchen, führte letzterer dies bei Goethes Rückkehr nach
Frankfurt aus.
An diefem Morgen hatte ich das gewünfchte Glück
bei Goethe zu fein, ihm mein poetifches Zeug zu brin?
gen und von ihm fchönen Unterricht zu empfangen. Es
fchien ihm nicht übel zu behagen, und weil ich Anlage
oder Liebhaberei dran hätte, fo müßte ich auch die nötigen
Grundlagen wiffen. Er riet mir befonders zu Hexametern
und Pentametern, worin er mir ein artiges Gedicht, Das
Wiederfehn, zeigte. Moritzens Profodie und Herders Zer?
ftreute Blätter riet er mir auch an.
[396.] Auguft 14. J. J. Gerning.
Von 10—11 Uhr bei Goethe, der mich um meine
Pläne fragte, welche ich ihm — nämlich den des Wäh?
lens und Neapelfehens genüglich erklärte. Er riet mir,
vorher einen Curfum von 3 — 6 Monden in Jena oder
Weimar zu machen, das beffer wäre, als 10 Jahre literarifchen
Vegetierens. Der Edle fcheint doch mein Zeug zu liken.
400] Frankfurt - Jena. 1795. 197
[397.] Auguft 15. J. J. Gerning.
Mit Goethe ums Tor gewandelt ; über das zerftreuende
Glück, das ihn oft genierende Zeitverlieren ufw. gefprochen
und zu Barkhaufens gegangen, Löuifens Gemälde und
Zeichnungen bewundert, wo eben deren ältere Schwefter,
Frau von öttingen von Wetzlar, eine weiland Amafia
Goethes ankam, der er entgegenging und welche ihm noch
fchmachtende Augen zuwarf.
[398.] Auguft 18. J. J. Gerning.
Nach dem Effen zu Goethe, der mir wieder und
wärmer Jena anriet. Wir fprachen von feinen Jugend?
Produkten, z. B. Von deutfcher Baukunft, worüber er fagte :
Wir empfinden da zu lebhaft und: der Gegenftand wäre
nicht immer fo der, obgleich richtigen Empfindung wert.
Er gab mir einen Kupferfiich von Lips an Sophie Beth=
mann zu fchicken, mit einem Verslein.
[399.] Auguft 20. J.J. Gerning.
Heute früh deutete mir Goethe feine morgende Ab?
reife an, und diefen Abend 7^/2—8 Uhr habe ich noch
erwünfcht bei ihm zugebracht, über vielerlei gefprochen:
ja nach Weimar und Jena zu kommen, wo er mich gut
bewirten und beforgen wolle ufw. ~ Goethe gab mir
noch einige Wein?, Tuch? ufw. Aufträge, er bot mir feine
Dienfte, Wohnung in Jena ufw. zu beforgen und nahm
herzvollen Abfchied von mir.
[400.] Oktober 2. H. Ph. K. Henke.
Heute nachmittag lielj die Herzogin Witwe mich zu
einem Konzert und Tee invitieren. Ich ging wieder hin.
^ Bald darauf kamen Goethe und Herder von Weimar
angefahren und fanden fich fogleich im Konzert ein. Zwei
Männer von Geift und Kraft, wie ich wenige gefehen habe.
Ich faß zwifchen beiden. ~ Jedermann macht mir Vor?
würfe, daß ich den Antrag einer Profejfur in Jena nicht
angenommen habe, und ob ich es gleich nicht bedauere,
— fo habe ich doch Urfache für die viele Achtung und
Freundfchaft, die man mir erweifet, dankbar zu fein. Be?
fonders waren mir die Unterredungen mit der vortreff?
liehen Herzogin, mit Goethe, Herder und Griesbach über
diefe Punkte überaus rührend '^ Goethe fagte in feiner
Kraftfprache : Herr, fprechen Sie ein Wort, fo find Sie
doch noch unfer.
198 H. Ph. K. Henke. [401
[401.] Oktober 2. H. Ph. K. Henke.
Herder fprach viel von Erasmus, Grotius, Andrea;
Goethe: es fcheine, als ob das Gute nur ein Werk der
einzelnen Menfchen feie ufw. Ein vergnügter Abend.
[402.] November. Sophie v. Schardt.
Goethe fagte neulich: daß, wenn Fritz nicht ein
Menfch wäre, der fich finden müßte, und gleich eine
Sache fo zu nehmen, wie fie nun wäre, fo müßte er gleich
gerade noch nach Haufe kehren, Fritz würde aber immer
noch Nutzen daraus ziehen. Er fagte es der Herdern,
damit fie ihren Wilhelm lieber nicht hinfchicken follten.
[403.] Dezember. Charlotte v. Stein an ihren Sohn Fritz.
Die Herzogin erzählte mir, der Geheimrat Goethe
habe den Herzog erinnert, für Dich zu forgen. ^^ So
dann und wann kommt doch ein Funke von Anhänglich;?
keit an Dich.
1794.
[404.] Anfang. K. A. Böttiger an F. A. Wolf.
Daß er über feinen Reineke gerade fo denkt, wie
Sie mutmaßen, und das Werk für eine nach und nach
fo zufammengefügte Satire auf die damaligen Hofhaltungen
hält, und fie verfchiedenen Verfaffern zufchreibt, hat er
felbft in einer Einleitung, die er zu feinem hexametrierten
Reineke geben wollte, behaupten wollen.
[405.] Frühjahr. Charlotte v. Stein.
Noch letzt antwortete er jemandem, der die Ausficht
ins Ilmtal lobte: Das ift keine Ausficht 1 und fah dick^
mürrifch dazu aus.
[406.] Juni 5. mittags. J. H. Voß.
Darauf gingen wir [Voß und Wielands] zu Goethe.
f^ Herders kamen bald nach. Wir fetzten uns zu Tifche,
und fprachen von Italien, Griechenland ufw. Ich merkte,
daß Goethe mich oft fcharf betrachtete. Er ward allmäh^
lieh lebhafter. Nach Tifche gingen wir in fein Gartens
kabinett, und tranken Kaffee. Er las Briefe von dem Ma^
1er Meyer, einem gar trefflichen Genie, der fich ganz nach
den Alten gebildet und Zeichnungen für Wielands Werke
408] Weimar. 1794. 199
gemacht hat. Dann zeigte er einige Gemälde von ihm,
zum Entzücken fchön. Die Unterhahung war fehr herz^;
Uch und vertraut. Goethe wandte fich zu mir, warum
ich fo fchnell abreifen wollte; ich möchte ihm noch einen
Tag fchenken. Ich gab ihm die Hand, und verfprach,
einen Tag länger zu bleiben. Heute morgen den 6. Juli
foll ich leine Kunftwerke befehn, und zu Mittage in der
geftrigen Gefellfchaft bei ihm effen.
[407.] Juni 5. abends. J. H. Voß.
Ich ging mit Herder, um auf feiner Studierftube eine
Pfeife mit ihm zu rauchen. ^ Wir wurden zum Tee ge^
rufen, und fanden Wielands, Goethe, Böttiger und von
Knebel. Man umringte mich, und wollte dies und jenes
von meinen Unterfuchungen über Homer hören. Am
weitläufigften ward von der homerifchen Geographie ge^
redet, die fehr intereffierte. Ich mußte die Karte von der
Odyffee erklären, und die Reifen des Odyffeus. Alle g^^
ftanden, daß fie überzeugt wären, und freuten fleh der
homerifchen Einfalt. Aber nun follte ich vorlefen. Die
Odyffee ward gewählt und ich las den Sturm des fünften
Gefanges und den ganzen fechften Gefang von Naufikaa.
Ein einhelliger, warmer Beifall erfolgte. Alle geftanden,
fie hätten einen folchen Versbau, eine fo homerifche Wortes
folge, die gleichwohl fo deutfch, fo edel, fo kindlich ein^:
fach wäre, fich nicht vorgeftellt. Goethe kam, und drückte
mir die Hand, und dankte für einen folchen Homer. ^^
Bei Tifche ging das Gefpräch fort über Homers Gedichte
und Zeitalter. Ich ward dringend gebeten, viel von mei^
nen Ideen aufzufchreiben, und mich um die böfe Rotte
nicht weiter zu bekümmern. ^^ Wir wurden ausgelaffen
fröhlich. '^ Dabei ward rechtfchaffen gezecht, Steinwein
und Punfch. Goethe faß neben mir; er war fo aufge?
räumt, als man ihn feiten fehen foll. Nach Mitternacht
gingen wir auseinander. Wieland '^ fagte, ich hätte allen
im äußerften Grade gefallen; ich gehörte ganz zu ihnen;
ich müßte hier leben; ^^ man hätte fich durchaus einen
anderen Begriff von mir gemacht; Goethe hätte mit Be^
geifterung von mir geredet, und was dergleichen mehr war.
(408.] Juni 5. K. A. Böttiger an F. A. Wolf
Daß es mit der ganzen Legende von Cadmus' Buches
ftabentransport, und der frühen Schreiberei fehr mißlich
I
200 K. A. Böttiger. [409
auslähe, und daß von hier aus alle Kritik des Homers
anheben muffe, dies habe ich Voßen, als er hier war
bei Herdern abends bei Tifche vordemonftriert, fo gut
ich es vermochte. Er ftritt aber mit Hand' und Füßen
vor feine Buchfiaben ari^ala^ wiewohl er ja nun wohl
auch fchon lange von Ihnen eines Befferen belehrt worden
ift. Damals machte Goethe unferm Streit durch das
böfe Bonmot ein Ende, daß er fagte: wenn in Athen
erft unter dem Solon und den Pififtratiden die Ilias zu^
fammengedrechfelt worden wäre, fo würden wohl die
Athener nicht fo kahl und ruppicht im catalogo navium
erfcheinen, und eine viel anftändigere Rolle fpielen, wo
ihrer Homer jetzt kaum erwähnt. Wir ließen uns dies
inter pocula ganz wohl gefallen. Aber Voß fchien doch
felbft mit diefer Art von Verteidigung unzufrieden, und
fchüttelte ehrlich — wie immer — den Kopf. <^
[409.] Juni 6. K. A. Böttiger.
Den 6. Juni waren wir mittags bei Goethe zufammen.
Beinahe während der ganzen Mahlzeit fprach Goethe
mit einer von mir an ihm noch nie beobachteten Heftige:
keit gegen Lavater, den er für den ftudierteften Heuchler
und Böfewicht erklärte, aber feiner unendlichen Kunft, allen
alles zu werden, völlige Gerechtigkeit widerfahren ließ.
Anekdote von Hottinger und der Fürftin von Deffau.
Lavater fchenkte Hottinger, feinem abgefagteften Gegner,
ein Halstuch, das auf der Fürftin Bufen geruht hatte und
von ihren Tränen benetzt war, um den jungen Hottinger
durch Sinnlichkeit zu feffeln. Goethe antwortete Lavater
nie, ohngeachtet diefer durch Grobheiten Antwort er^^
zwingen will, und ließ fich vor ihm in Mainz verleugnen.
Warum er überall feinen Namen einkritzle? In Frank?
fürt zerbrach Goethe bei feiner Mutter viele Scheiben und
Spiegel, wo überall Lavater fein Gedächtnis geftiftet hatte.
Wieland, der, feit Lavater mit Karl Leonhard Reinhold
bei ihm war, immer Lavaters Partie nahm, wurde durch
das alles, was Goethe fagte, fo aufgebracht, daß er fich
felbft ausfchalt, weil er zeither den Fremden, gegen die
er Lavatern lobpries, foviel Ärgernis gegeben habe. Voß,
der auch Unwillen gegen Lavatern zeigte, erzählte, Lavater
habe in Kopenhagen und überall im Holfteinifchen mit
großer Selbftgefälligkeit erzählt, als er mit Reinhold
und Wieland zu Tifche gefeffen, da hätten die Dicht?
411] Weimar. 1794. 201
kunft, Philofophie und Schwärmerei Tifchgenoffenfchaft
gemacht.
Goethe hat lange Unterfuchungen über das fogenannte
OS intermaxillare , welches die Tierphyfiognomien nach
Camper und Blumenbach von der menfchlichen untere
fcheiden foll, angeftellt. Loder wird fie herausgeben.
Es ift äußerft intereffant, ihn feine Abenteuer beim
Feldzug in die Champagnie (1) 1792, wo er den Herzog
begleitete, erzählen zu hören. Er hielt fich immer zum
Vortrab, wo es am luftigften zuging. Anekdote von
einem Bauer bei Verdun, der fich allein in einem Wein^
berg verfieckt hatte und gegen die preußifche Armee
fchoß. Er follte gehängt werden und man fand keinen
Baum, woran man ihn hätte hängen können. Endlich
ließ ihn der preußifche Major mit 25 Arfchprügeln laufen.
Ein niedliches Bauerweibchen, die-fich hatte flüchten wollen,
brachten fie mit ihren zwei Wägen und Effekten glücke
lieh in ihr Dorf zurück. In Verdun ließ fich Goethe
Empfehlungsbriefe nach Paris an die fchöne Welt geben,
weil er auch gewiß überzeugt war, es ging grade nach
Paris. Ein Blatt vom Moniteur, das fie auf einem feinde
liehen Wagen erbeuteten und worin ftand: les Prussiens
pourront venir ä Paris, mais ils n'en sortiront pas, be^^
ftärkte fie alle in diefem Glauben. Goethe fieß fich fchon
die Spezialkarten zum Marfche nach Paris durch einen
Soldaten, der dies Gefchäft als Feldbuchbinder trieb, auf
Leinwand ziehen.
Nachlefe zum dritten Abfchnitt
Zeitlich nicht näher beftimmbar,
[410.] H. Laube.
Als die Freunde Goethe mit der fogenannten Vulpia
neckten und feinen Sieg über fie als den erfi:en, welchen
die Dame erlebt, aufhetzend in Zweifel zogen, gab er
die merkwürdige Antwort: Daß fie auch andern würde
gefallen haben, bezweifle ich nicht.
[411.] Charlotte v. Kalb.
Goethe fagte mir einfi:: Sie find für Herder und
überhaupt der Freundfchaft fähig, weil Sie perfönliche Bes^
Ziehungen, die andere nur fuchen, zu meiden verftehen.
I
202 J. Erichfon. [412
[412.] J. Erichfon.
Charlotte v. Kalb, geb. v. Oßheim hatte fich einen
Abend im herzoglichen Schlöffe mit Goethe in einem
Zimmer befunden, und mit ihm in einer Fenfternifche
über den Garten geblickt, über den eben der Mond auf^
zugehen anfing. Sie hatte diefen Augenblick, in dem
fich die übrige Gefellfchaft in die anderen Zimmer gt^
zogen zu haben fcheint, benutzt, ihm mit begeifi:erter
Seele und großer Lebhaftigkeit den Vorwurf zu machen,
daß er ihr ernfi:es Streben nach Bildung fo ganz unbe:;
rückfichtigt gelaffen habe. Goethe hatte — ohne Zweifel
in der Annahme, daß ihr gegenwärtiger Zuftand der Seele
nur Moment fei, erwidert: Der Mond ifi: nur einen Augen^
blick voll.
[413.] K. A. Böttiger.
Goethe: Beim erneuerten Studium Homers empfinde
ich erft ganz, welches unnennbare Unheil der jüdifche
Praß uns zugefügt hat. Hätten wir die Sodomitereien und
ägyptifch^babylonifchen Grillen (?) nie kennen lernen,
und wäre Homer unfere Bibel geblieben, welch' eine ganz
andere Geftalt würde die Menfchheit dadurch gewonnen
haben!
[414.] K. A. Böttiger.
Phyfiologifche Bemerkung. Gewiffe Konfigurationen
im menfchlichen Körperbau tragen noch die letzte Spur
der veredelten Tierheit zum prototypon der organifchen
Schöpfung, zum Menfchen, fehr deutlich an fich, z. B. das
OS coccygis den Reft des tierifchen Schwanzes, die Milz
und das Überzwergfchleudern der Hände, wenn man geht.
(Nachahmung des vierfüßigen übereckfchreitenden Tieres.)
Ich, fagte Goethe, laffe meine beiden Hände fchleudern,
wenn ich übers Feld allein gehe, denn fo geh' ich natura
gemäßer. Nie geht er mit einem Stock, daher auch diefe
Spur der Tierheit in der feinen Welt für unanfiändig ge;^
halten wird. Zu was nützen die papillae an der Bruft
des Mannes? Schon Sterne in feinem Koran findet dies
unerklärlich. Man muß annehmen, es fei gleichfam ein
allgemeiner Typus in der Natur für die menfchliche Or^
ganifation. Hier find beim Manne wenigftens noch die
Spuren der Brüfte, die fich beim homo lar nur auf zwei
417] Weimar. 203
herauf vermindert haben. Die Natur hat gewiffe Generals^
formen, die fich auch da abdrücken, wo fie kein unmittel^
bares Bedürfnis erfüllen, z. B. bei allen unfern Rohr;:
gewächfen liegt am untern Schilfblatt ein Auge, das fich
nie entwickelt.
[415.] J. G. Gruber.
Herder rüftete fich um eben jene Zeit zum Kampfe
gegen die Kantifche Philofophie. ^^ Währenddeffen hatte
Goethe zufolge feiner gewohnten objektiven Anficht der
Dinge und feiner größeren, eben hieraus entfpringenden
Ruhe fein befonderes Intereffe daran, vornehmlich in Be^^
Ziehung auf Naturwiffenfchaft und Kunft, und erklärte:
Wir fehen diefe Philofophie als ein Phänomen an, dem
man auch feine Zeit laffen muß, weil alles feine Zeit hat.
[416.] J. G. Gruber.
Da fchloß fich Goethe enger an Schiller, Herder an
Wieland an. ^^ Kein Wunder, wenn unter folchen Ver;=
hältniffen jetzt auch zwifchen Wieland und Goethe eine
Spannung entftand, die aber der letztere bald hob, da er
durch einen fchönen Zug Wielanden innigft erfreute. Eben
um jene Zeit war nämlich diefer mit Ausfeilung feines
Oberon befchäftigt. Da nun Goethe urteilte, daß Wie*!
land bei der neuefi:en Ausgabe feiner Werke fich der Feile
bisweilen ein wenig über die Gebühr bedient habe, fo
kam er zu ihm und bat, daß nicht auch dem Oberon
alfo gefchehen möchte. Er erbot fich, feine Bemerkungen
und Anfichten Wielanden mitzuteilen und zu diefem Be^^
hufe den Oberon gemeinfchaftlich mit ihm zu lefen. End^^
lieh kommen beide darin überein, daß Wieland feine Um^;
änderungen jedesmal Goethen mitteilen folle, und daß fie
dann darüber fich beraten wollten. So gefchah es denn
auch, und Wieland befolgte Goethes Rat an mehreren
Stellen unbedingt, nur an einer wollte er nicht nachgeben.
Nachher, fagte er, habe ich wohl gefehen, daß Goethe
auch da recht hatte, und eigentlich in allen Stücken; allein
ich wollte doch auch einmal recht haben.
[417.] Grillparzer mit J. Schreyvogel.
Er, Schreyvogel, ruft mir fchon von weitem zu: Wie
fteht's mit der Ahnfrau? Ich aber antwortete ihm ganz
I
204 Grillparzer. [418
trübfelig: Es geht nicht! ^ Da erwiderte Schreivogel:
Diefelbe Antwort habe ich einft Goethen gegeben, als
er mich zur literarifchen Tätigkeit aufmunterte; Goethe
aber meinte: Man muß nur in die Hand blafen, dann
geht's fchon.
[418.] K. A. V. Reichlin^Meldegg.
Goethe, der H. E. G. Paulus in Jena oft befuchte,
manchmal zum Abendeffen bei ihm war, pflegte von der
jungen Frau unferes Gottesgelehrten zu fagen: Die Natur
kann wieder eine Weile operieren, bis fie ein fo neckifches
Wefen zum zweiten Male zusammenbringt.
Viertes Buch
Vom Beginn der Freundfchaft
mit Schiller bis zum Ende
des achtzehnten
Jahrhunderts
1794 Juli bis Ende 1800
1794.
[419.] Juli (24.) Schiller.
Bei meiner Zurückkunft von Weißenfels fand ich
einen fehr herzlichen Brief von Goethe, der mir nun
endlich mit Vertrauen entgegenkommt. Wir hatten vor
fechs Wochen über Kunft und Kunfttheorien ein Langes
und Breites gefprochen und uns die Hauptideen mitgeteilt,
zu denen wir auf ganz verfchiedenen Wegen gekommen
waren. Zwifchen diefen Ideen fand fich eine unerwartete
Übereinfiimmung, die um fo intereffanter war, weil fie wirk;:
lieh aus der größten Verfchiedenheit der Geßchtspunkte
hervorging. Ein jeder konnte dem andern etwas geben,
was ihm fehlte, und etwas dafür empfangen. Seit diefer
Zeit haben diefe ausgeftreuten Ideen bei Goethe Wurzel
gefaßt und er fühlt jetzt ein Bedürfnis, fich an mich an#
zufchließen, und den Weg, den er bisher allein und ohne
Aufmunterung betrat, in Gemeinfchaft mit mir fortzusetzen .
[420.] Sommer. Schiller an W. v. Humboldt.
Goethen wünfchte Fichte für die Spekulation zu ge? |
winnen. Sein Gefühl leite ihn zu richtig. Neulich, fuhr/
er fort, hat er mir mein Syftem fo bündig und klar dar::/
gelegt, daß ich's felbft nicht klarer hätte darftellen können.'
Sie kennen diefe Manier.
[421.] September (9). Nach Charlotte v. Stein.
Goethe glaubte der freundlichen Gefinnung Charlottens
jetzt fo verfichert zu fein, daß er ^ zu ihr kam, um fie
zu bitten, die Aufftellung eines von ihm für Schillers Gattin
beftimmten Schreibtifches in deren Zimmer zu vermitteln.
I
208 ^^^^^' ^^^^
[422.] September Anfang. Charlotte v. Stein an Schiller.
Goethe war letzt bei mir und hat fehr gut von Ihnen
gefprochen; es fiimmte mit dem überein, was Sie von
Ihrer neulichen Unterredung von ihm Tagten, und es freute
mich, daß es bei Goethe kein nur flüchtiger Eindruck war.
[423.] September Mitte. Schiller.
Seit 3 Tagen bin ich hier in Weimar, und nunfchonziem^
lieh bei Goethe eingewohnt. Ich habe alle Bequemlichkeit,
die man außer feinem Haufe erwarten kann und wohne
in einer Reihe von 3 Zimmern, vorn hinaus. Diefe meifte
Zeit aber bin ich faft immer mit Goethe zufammen ge^
wefen, doch ohne den ganzen Genuß diefes Umgangs,
weil ich mich feiten wohl befand. ^
Ich habe bei Goethe fchon fchöne Landfchaften ge^
fehen. Wir haben viel über Sachen gefprochen, auch
von feinen Arbeiten in der Naturgefchichte und Optik
hat er mir viel Intereffantes erzählt.
[424.] September Mitte. J. J. Gerning.
Bei Goethen mußte ich zweimal effen, er fchien zu?
frieden und mich bei Rückkunft aufnehmen zu wollen,
hieß auch meinen mufenhaften Studienplan gut. Er nannte
mich einen der heiligen drei Könige, wegen der mitge?
brachten Gaben. Seinen mich fonft bedienten Ernfi nahm
ich denn förmlich an.
[425.] September 18. F. W. B. v. Ramdohr.
Ich komme zu Goethe, finde ihn erft gefprächig, bald
darauf intereffant von Seiten des Kopfs, und endlich ganz
zutraulich und herzlich. — Das böfe Gewiffen wird bei
mir wach! Du haft dem Manne unrecht getan, fag' ich
mir. Er fpielt nicht den Minifter, nicht den Sonderling :
es ift Folge der erften Erziehung, es ift Mißtrauen gegen
fich und andere, die ihm anfangs das kalte, ftolze An?
fehen geben. — Wir fehen fchöne Zeichnungen, Gemälde
Überbleibfel des Altertums. Zu ihrem inneren Wert ge?
feilt fich das Andenken an Italien. Ich werde warm, ent?
zückt, begeiftert. Die Glocke fchlägt 11 Uhr, ich muß
zur Gräfin Bernstorff. — So ungern ich mich losreiße,
ich muß zur Gräfin Bernstorff, Herr Geheimer Rat. — Da
gehen Sie und kommen wieder: ich habe noch einige Sachen,
die Sie intereffieren werden. — Ich expediere meine Gräfin
Bernstorff in zehn Minuten — und wieder hin zu Goethe.
427] Weimar. 1794. 209
[426.] September 14./20. Schiller.
Ich bringe die meifte Zeit des Tages mit Goethen
zu, fo daß ich bei meinem langen Schlafen kaum für die
nötigften Briefe noch Zeit übrig habe. Vor einigen Ta^
gen waren wir von ^Ull Uhr, wo ich angezogen war,
bis nachts um 11 Uhr ununterbrochen beifammen. Er
las mir feine Elegien, die zwar fchlüpfrig und nicht fehr
dezent find, aber zu den heften Sachen gehören, die er
gemacht hat. Sonft fprachen wir fehr viel von feinen und
meinen Sachen, von anzufangenden und angefangenen
Trauerfpielen u. dgl. Ich habe ihm meinen Plan zu den
Malthefern gefagt, und nun läßt er mir keine Ruhe, daß
ich ihn bis zum Geburtstag der regierenden Herzogin,
wo er ihn fpielen laffen will, doch vollenden möchte. Es
kann auch ganz gut Rat dazu werden; denn er hat mir
viel Luft dazu gemacht und diefes Stück ifi noch einmal
fo leicht, als Wallenftein. Er hat mich gebeten, feinen
Egmont für das Weimarer Theater zu korrigieren, weil er
es felbft nicht wagt, und ich werde es auch tun. Meinen
Fiesco und Kabale und Liebe rät er mir auch nur ein
wenig zu retouchieren, daß diefe Stücke ein bleibendes
Eigentum des Theaters werden. Was feinen Anteil an
den Hören betrifft, fo hat er großen Eifer, aber freilich
wenig vorrätige Arbeit. Seine Elegien gibt er uns und
zwar gleich für die erften Stücke. Alsdann hat er mir
vorgefchlagen, einen Briefwechfel mit ihm über Materien
zu eröffnen, die uns beide intereffieren, und diefer Brief?
wechfel foll dann in den Hören gedruckt werden.
[427.] September 14./28. Schiller an J. F. Cotta.
Ich komme eben von Weimar, wo ich 14 Tage bei
Goethe gewohnt und mit ihm Langes und Breites über
unfre Hören ausgemacht habe. Er ift einer der eifrigften
von uns und wird zu jedem Stücke des Journals einen
Beitrag geben. Zugleich unterhält er deswegen einen
Briefwechfel mit einem Freunde, Hirt, in Rom, um immer
das Neuefte aus dem artiftifchen Fache in Italien zu er*:
fahren. Goethe und ich werden eine Korrefpondenz über
die fchöne Kunft miteinander führen, die gleichfalls be^
ftimmt ift, einmal für die Hören gebraucht zu werden.
Mein Schaufpiel, Die Maltefer, hoffe ich, foll auch vor
Oftern fertig fein und ein ganzes Monatftück der Hören
I 14
210 Schiller. ^
einnehmen. Auch Goethe hofit uns im nächften Jahre
gleich etwas Dramatifches geben zu können. Auch Hof::
rat Schütz ift Mitarbeiter an den Hören und wird uns
über Beredfamkeit und Poefie der Alten Beiträge liefern.
Für das Fach der bildenden Kunft, der Mufik, der Bau:=
kunft, der Schaufpielkunft haben wir auch fchon einige
Mitglieder, fodaß kein Zweig der Äfthetik wird zurück^;
gelaffen werden.
Wir find der Meinung, daß deutfche Schrift der latei^^
nifchen vorzuziehen fei.
[428.] September 14./28. Schiller an Ch. G. Körner.
Wir haben eine Korrefpondenz miteinander über ge^
mifchte Materie befchloffen, die eine Quelle von Auf^
fätzen für die Hören werden foll. Auf diefe Art, meint
Goethe, bekäme der Fleiß eine beftimmtere Richtung und
ohne zu merken, daß man arbeite, bekäme man Material
lien zufammen; da wir in wichtigen Sachen einftimmig
und doch fo ganz verfchiedene Individualitäten find, fo
kann diefe Korrefpondenz wirklich intereffant werden.
Seinen Roman will er mir bandweife mitteilen, und
dann foll ich ihm allemal fchreiben, was in dem künftigen
ftehen muffe und wie es fich verwickeln und entwickeln
werde. Er will dann von diefer antizipierenden Kritik
Gebrauch machen, ehe er den neuen Band in Druck gibt.
Unfere Unterredungen über die Kompofition haben ihn
auf diefe Idee geführt, die, wenn fie gut und mit Sorg^
falt ausgeführt werden follte, die Gefetze der poetifchen
Kompofition fehr gut ins Licht fetzen könnte.
Seine Unterfuchungen über Naturgefchichte , von
denen ich Dir einmal mehr fagen will, haben mich fo
fehr, als fein poetifcher Charakter intereffiert, und ich bin
überzeugt, daß er fich auch hier auf einem vortrefflichen
Wege befindet. Auch was er gegen die Newtonfche Farben;:
theorie einwendet, fcheint mir fehr befriedigend zu fein.
[429.] Schiller an F. v. Hoven.
In diesem Sommer bin ich endlich mit Goethen genau
zufammengekommen, und es vergeht keine Woche, daß
wir einander nicht fehen oder fchreiben. Vor einiger Zeit
habe ich mehrere Wochen in Weimar bei ihm gewohnt,
und ihn ganz in feinem Wefen kennen lernen. Er ift
ein höchft intereffanter Charakter in jedem Betracht, und
450] Weimar. 1794. 2n
feine Sphäre ift fo weit ausgebreitet. In naturhiftorifchen
Dingen ift er trefflich bewandert und voll großer Blicke,
die auf die Ökonomie des organifchen Körpers ein herr^^
liches Licht werfen. Sein Dichtergeift ift noch ganz und
gar nicht ausgelöfcht, nur hat er fich feit einiger Zeit auf
alle Teufeleien eingelaffen, davon Du in den erften Stücken
des Journals Proben finden wirft. Über die Theorie der
Kunft hat er viel gedacht und ift auf einem ganz andern
Wege, als ich, zu den nämlichen Refultaten mit mir ge^^
kommen.
[430.] Oktober 19. D. J. Veit an Rahel Levin.
Wenn Sie mir jemals gefehlt haben, ■^ fo war es
geftern, nachdem ich Goethe drei Viertelftunden hindurch
ununterbrochen gefprochen hatte, und noch mehr den
Abend nach der Komödie in Weimar '^.
Goethe hat mich erftaunlich freundlich aufgenommen,
hat fich angelegentlich nach Salomo Maimon erkundigt
und über fehr viel Dinge mit mir gefprochen. Es ift
wahr, daß er älter geworden ^ er ift etwas magerer und
bleich im Geficht; die Nafe fieht länger aus, und die ihm
gewöhnhche fteife Stellung wird um fo auffallender, nichts:^
deftoweniger ift er außerordentlich freundlicher Gefichter
und der heiterften Laune fähig. Er hat viel über Mai:=
mon mit mir gefprochen, über Dichtkunft, Philofophie,
Genie und andere Materien mehr. ^ Beim Weggehen
fagte mir Goethe: Befuchen Sie mich, wenn Sie wieder
nach Weimar kommen; komme ich nach Jena, — und ich
denke: bald — fo will ich fchon nach Ihnen fragen. Wen;«
den Sie fich immer an mich, fobald Sie etwas fuchen; den
Hofrat Grüner will ich bitten, daß er Ihnen Bücher leiht ufw.
Ich: Ich danke Ihnen recht fehr, Herr Geheimeratl Aber
ich muß geftehen, daß ich wirkhch Anftand genommen
habe zu Ihnen zu kommen; ich weiß, wie fehr Sie von
Fremden inkommodiert werden ufw. Das nahm er wohl
auf, und ich ging. Den Abend wurde in Weimar Der
Diener zweier Herrn zu meiner Verwunderung recht hübfch
gefpielt. ~ Goethe war auch im Theater, und zwar wie
immer auf dem Platz des Adels. Mitten im Spiel gehet
er von diefem Platze weg, — was er fehr feiten tun foll
— fetzt fich, folange er mich nicht anreden konnte, hinter
mir — wie mir meine Nachbarinnen erzählt haben — und
fowie der Akt zu Ende ift, kommt er vor, macht ein
I 14*
212 D. J. Veit. [431
äußerft verbindliches Kompliment und fängt in einem
recht vertraulichen Ton an: Das ift ein recht vorzüglich
Stückchen. Ol es ift fchon fehr alt, und von Goldoni;
der Schröder hat's ins Kurze gezogen für die Hamburger
Bühne, und alle Theaterfchwänke find recht gut darin be^
nutzt. Ich: Ja wohl! und ich habe noch keine Unan^
ftändigkeit gehört. Goethe: Kommt auch keine. — Hier^^
auf fängt er an, einen Augenblick zu fchweigen; in dem
vergeffe ich, daß er Theaterdirektor ift und fage : Sie fpie*
len es auch recht hübfch. Er fieht noch immer grade aus,
und fo fage ich in der Dummheit — aber wirklich in
einer Empfindung, die ich mir noch nicht zu zergliedern
weiß — noch einmal: Sie fpielen recht hübfch. In dem
Augenblick macht er mir ein Kompliment, das aber wirk^
lieh wie das erfte fo verbindlich war, und fort ift er! Hab'
ich ihn beleidigt oder nicht? ^ Sie können es gar nicht
glauben, wie ich noch immer geängftigt bin, ohnerachtet
ich fchon von Humboldt, der ihn jetzt genau kennt, die
Verficherung habe, daß er oft fo fchnell weggeht und
Humboldt es auf fich genommen hat, noch einmal mit
ihm von mir zu fprechen.
[431.] Oktober 19. D. J. Veit an Rahel Levin.
Nun meine angenehmen Vorfälle mit Goethe! Ich
war vormittags hingegangen, vorfätzlich zu einer Zeit, wo
er immer zu Haufe ift und fich niemals fprechen läßt, und
hatte den Brief dem Bedienten mit dem Bedeuten gegeben,
daß ich nachmittags um 3 Uhr wiederkommen würde, um
zu fragen, ob mir der Herr Geheimerat die Ehre erzeigen
wollte, mich zu fprechen. ^ Um 3 Uhr kam ich und der
Bediente führte mich in das Befuchzimmer.
Goethe (aus einer andern Stube). Sie haben mir
einen Brief von Herrn Maimon gebracht? Ich: Zu Be^
fehl. Goethe: Heißen? Ich: Veit. Goethe: Ich freue
mich recht fehr. Ich: Ich hatte fchon vor anderthalb
Jahren die Ehre, Sie zu fehen, durch eine Empfehlung
des verftorbenen Hofrats Moritz. Goethe: Ach ja! Auch
ift mir Ihr Geficht recht bekannt. Nun, wie geht es denn
Herrn Maimon? — Ich fagte ihm hierauf fein jetziges Ver?
hältnis und daß er nebenher von dem geringen Ertrag
feiner Schriften lebt. Goethe: Ei, ei! Und er fchreibt
fo ftarke Sachen und fo hübfch. Ich: Ja! und hat das
fchwerfte Fach. Goethe: Ganz gewiß, das fchwerfte von
451] Weimar. 1794. 213
allen. Man kennt ihn gar nicht fo recht; das PubUkum
ift gar klein. Ich wollte, er käme her. Ich: Haben Sie
feine neue Theorie gefehen, Herr Geheimerat? Goethe:
O wohl! Er hat mir auch feinen Plan zur Erfindungss^
lehre gefchickt; das muß er ausführen. Ich: Er wünfcht,
fich mit mehr Gelehrten verbinden zu können. Goethe:
Hm! warum? Sehen Sie: in wiffenfchaftlichen Sachen
ift fo etwas gar nicht nötig. So wie ich da eine Idee
habe, kann und muß ich fie jedem fagen; wie einer das
Schema fieht, weiß er fchon, was er erwarten kann. In
äfthetifchen ift es umgekehrt : wenn ich ein Gedicht machen
will, muß ich es erft zeigen, wenn es fertig ift, fonft ver^ 1
rückt man mich; und fo bei allem, was Kunft ift. — Hier? '
auf fprach er mit mir von Jena eine lange Zeit; Dinge,
die zu weitläufig würden. Dann fagte ich ihm, daß Mai? '
mon den Plan hätte, ein neues Wörterbuch der fchönen
Künfte herauszugeben, und fpielte hinten herum auf ihn
als Mitarbeiter heran. Goethe: Ja, fehen Sie! Moritz
wollte das auch, und der war lebhaft; dem habe ich fchon
gefagt, daß es noch zu frühe ift. Erft muffen die Philo?
fophen die Principia in Ordnung gebracht haben; und
wie jetzt die Gärung ift, das wiffen Sie. Man könnte
da viel fchreiben und manches aufwärmen; das will man
nicht und in fechs oder acht Jahren wäre das Neue wie?
der verworfen. Das ift doch auch nichts. Moritz kehrte
fich nicht daran, und feinen Beiftand kann man keinem
hübfchen Unternehmen verfagen; aber ein Lexikon, das
ift zum Nachfchlagen für Leute, die keine weitläufige
Sachen lefen, und ift kein Buch für Erfindungen. Soll
es Theorie der Künfte fein? Künfte muffen ausgeübt"^
werden, es fei nun Poefie, Malerei oder was fonft. Der \
die Regeln gibt, der muß fehr langfam fein, und der Künft?
1er kann wieder nicht warten und muß fich an etwas hal?
ten. Dazu ift nun freilich das Genie. Das Genie kommt
mir immer vor wie eine Rechenmafchine : die wird ge?
dreht, und das Refultat ift richtig; fie weiß nicht warum?
oder wie fo?
Ich fprach immer viel dazwifchen und kam ihm oft
zu Hilfe ; denn er kann fich gemeinhin auf viele Wörter
nicht befinnen und macht beftändig Gefichter. Bisher,
fagte er unter andern, hat man fich in der Theorie hau?
fig auf empirifche Regeln, auf Erfahrungsfätze eingelaflen
und immer in den Künften gefprochen, wie die Sachen
I
214 D. J. Veit. [432
erfcheinen muffen, nicht wie fie fein muffen und wie
man fie machen foll. Ja, hören Siel das kommt mir
vor, als wenn einer ins Theater geht und das Stück ge?
fällt ihm; nun denkt er, wie natürlich ein jeder: du
möchteft wohl auch ein fo fchön Stück fchreiben, und
fchreibt nach dem Effekt. Ja, lieber Gott! der bringt
nichts heraus; man muß wiffen, wie viel unangenehme
Teile dazu gehören, bis ein Ganzes angenehmen Effekt
macht. Kurz: fo wie die Leute reden und fchreiben,
das heißt meiftenteils, ein Stück als Zufchauer fchreiben.
Hinter die Bühne muß man; man muß die Mafchinen
und die Leitern kennen.
[432.] Oktober 19. D. J. Veit.
Goethe glaubt, fein Roman werde keine Senfation
machen; denn er war fchon 1780 fertig, und ifi nur hier
und da abgeändert. Eigentlich arbeitet er jetzt nur wiffen?
fchaftliche Sachen; er hat ganze Stöße Dichtungen liegen;
fogar die Iphigenie ift fehr alt. Noch als Doktor Goethe
hat er im Jahre 1775 den Oreft gefpielt und zwar außer?
ordentlich. Damals war er noch weit und breit der befte
Tänzer, Schaufpieler, Reiter, Schwimmer, Fechter und der
fchönfte Mann. Viel von feiner Lebensgefchichte kommt
in dem Roman vor. <^
Man foUte doch billig Herrn Maimon in der Li?
teraturzeitung rezenfieren; wenn ein Mann fo erftaunend
viel tut, ift's doch auch recht, daß man von ihm fpricht.
[433.] Oktober 25. Ch. G. Voigt.
Betreffend Fichte, fo wünfcht auch Herr von Goethe
fehr, er leihe feinen Namen oder auch feine Anonymität
(die fo gut als Name ift) vor der Hand zu keiner neuen
Auflage der Beurteilung.* Er glaubt, daß diefes felbft damit
übereinftimme, was Fichte bei feiner erften Unterredung
mit ihm verheißen habe. Diefes fagt er mir ganz ver?
traulich und ich weiß nicht, ob wir davon gegen Fichte
Gebrauch machen können; indes ift diefes damals auch
dem Herzog von feinen Freunden zugefichert worden,
die alfo gewiffermaßen kompromittiert werden, wenn er
Anteil an der Herausgabe jener Schrift nimmt.
* Fichtes Schrift: Beitrag zur Berichtigung der Urteile des
Publikums über die franzöfifche Revolution. Jena 1793.
434] Weimar. 1794. 215
[434.] Oktober 31. K. A. Böttiger.
In einem alle Freitage fich verfammelnden Abende
Zirkel für den Winter zwifchen 1794 und 1795 wurde
befchloffen, jedesmal einen Gefang der Ilias nach Voß
vorzulefen und fich dann die dabei von felbft kommen^
den Bemerkungen mitzuteilen. Goethe ift Vorlefer. —
Die härteften Stellen wurden durch Goethes treffliche
Deklamation und richtig wechfelndes Andante und Ada::
gio außerordentlich fanft und milde. Es ift unleugbar,
daß Voß nur fürs Ohr und den lebendigen fukzeffiven
Eindruck, nicht fürs Auge und zergliedernden Überblick
des Stils gearbeitet hat.
Erfter Gefang.
Fragen. 1. Tat Voß recht daran, das anftößige
Tcwüna V. 159 und ßownig V. 551, jenes durch: Ehrver:;
geffenerl diefes durch: hoheitblickende zu mildern und
das echthomerifche 588 &ai'vofxev7]v nur durch das fanftere:
wenn er Dich firaft zu überfetzen? Antwort. Keines^
wegsl In allen drei Fällen wird das ftark Sinnliche durch
abftraktere Vorftellungen entnervt. Auch ift das: hoheit::
blickende nicht einmal im Sinne Homers, da es bloß
die auch in den Kunftwerken charakteriftifchen großen
Augen der Juno bezeichnet. Sollte Voß nicht bloß das :
Farrenäugige feiner Vorgänger haben vermeiden wollen,
und, weil er fühlte, er könne nichts Befferes geben, Xit^
ber eine unbefriedigende Abftraktion gefetzt haben?
2. Ift das df.ißQÖavai. y^cuTai insQQÖiGavTO V. 529 wohl
ganz richtig von Voß überfetzt: fie walleten vorwärts? Voß
dachte fich das Haar im Augenblicke des Zunickens. Aber
fo dachte fie fich wenigftens Phidias nicht. Da ift diefe gtf
waltfame Bewegung, wenn fie überhaupt ftattfand, fchonvors:
bei, und die Locken zittern nur noch den Scheitel entlang.
In einigen Stellen ift der Nachdruck des Orginals
merklich gefchwächt, als V. 132 (xvj xlenre vom: Sinne
nicht auf Trug! Nach dem Original war dies fchon ge^:
fchehen, und jetzt fuchte er nun wirklich Ausflüchte. Das
)[6lov zaTanemeiv W . 81 ift auch zu fchwach überfetzt und:
Galle wollte Goethe der verfchiedenen Nebenbegriff'e wes:
gen durchaus nicht gefallen. So tadelte Goethe auch das
mehrmals wiederkommende: traun!
V. 151 ift bei Homer ein diftributiver Satz: ^ odov
lld^^avai, r) ävö^ädiv icpv fxocy^8G\>ai. In Voßens Überfetzung:
I
216 K. A. Böttiger. [435
Einen Gang dir zu gehn und kühn mit dem Feinde zu
kämpfen, fließt dies in einen einzigen Begriff zufammen.
Voß wollte das gehäffige: oder vermeiden.
Über die Roheit der ältefien Mythen, z. B. die Vors:
ftellung vom Briareus V. 400 ff. Goethe verglich fie mit
dem Gradlinigten und Steifen des alten Stils in der Kunft.
— Unverdauliche Abgefchmacktheit im Götterfyfiem Ho:s
mers. Seine Menfchen handeln viel edler, als feine Götter.
[435.] November Anfang. F. Hölderlin.
Auch bei Schiller war ich fchon einige Male. Das erftej:
mal eben nicht mit Glück. Ich trat hinein, wurde freundes
lieh begrüßt und bemerkte kaum im Hintergrunde einen
Fremden, bei dem keine Miene, auch nachher lange kein
Laut etwas Befonderes ahnen ließ. Schiller nannte mich
ihm, nannt' ihn auch mir, aber ich verftand feinen Namen
nicht. Kalt, faft ohne einen Blick auf ihn, begrüßt' ich
ihn und war einzig im Innern und Äußern mit Schillern
befchäftigt. Der Fremde fprach lange kein Wort. Schiller
brachte die Thalia, wo ein Fragment von meinem Hype?
rion und mein Gedicht An das Schickfal gedruckt ift,
und gab es mir. Da Schiller fich einen Augenblick dar*
auf entfernte, nahm der Fremde das Journal vom Tifche,
wo ich ftand, blätterte neben mir in dem Fragmente und
fprach kein Wort. Ich fühlt' es, daß ich über und über
rot wurde; hätt' ich gewußt, was ich jetzt weiß, ich wäre
leichenblaß geworden. Er wandte fich darauf zu mir, er*
kundigte fich nach der Frau von Kalb, nach der Gegend
und den Nachbarn unferes Dorfs, und ich beantwortete
das alles fo einfilbig, als ich vielleicht feiten gewohnt bin.
Aber ich hatte einmal meine Unglücksftunde! Schiller
kam wieder, wir fprachen über das Theater in Weimar;
der Fremde ließ ein paar Worte fallen, die gewichtig genug
waren, um mich etwas ahnden zu laffen — aber ich ahndete
nichts. Der Maler Meyer aus Weimar kam auch noch ; der
Fremde unterhielt fich über manches mit ihm; aber ich
ahndete nichts! Ich ging und erfuhr an demfelben Tage,
~ daß Goethe diefen Mittag bei Schiller gewefen fei.
[436.] November 7. K. A. Böttiger.
Goethe hatte bei einer vorausgehenden Durchlefung
die Bemerkung über den Catalogus navium im zweiten
Gefang der Ilias gemacht, daß Homer nach einer feft an*
genommenen Ranglifie die Völkerfchaften fich nebenein*
436] Weimar. 1794. 217
ander fiellen laffe. Dies erhelle ganz deutlich daraus, daß
er da, wo die Myrmidonen jetzt nicht ftanden, weil fie
mit dem Achill fiill faßen, fie doch in Reih' und Glieder
ftellt V. 681 bis 694. Die hiervon der Rechten zur Linken
gehende Ordnung war alfo beim Dichter nicht willkürlich,
fondern er fingt nach Stammfagen und empfangenen Re?
giftern, Agamemnon führt allem Anfchein nach das Corps
de Bataille. Zugleich wurde nach d'Anvilles Karte von
Griechenland der Weg aufgefpürt, in welchem Homer bei
der Aufzählung geht. Er fängt mit Aulis an und macht
einen doppelten Kreis.
Diesmal war Wieland bei der Vorlefung, der auch
in feinem kleinen Berglerfchen Homer, fo gut es gehen
wollte, nachlas. Diefer war äußerft ftreng gegen Voß
und gab befonders darüber feinen Unwillen zu erkennen,
daß er oft bloß die natürlichfte Art der Überfetzung dar^^
um verworfen habe, um nicht einerlei mit feinem Vors^
ganger zu fagen. Befonders ärgerte er fich über das hau?
fig vorkommende: Jener fagt's, z. B. V. 84, da doch das:
Jener in Relation mit: diefer ftehen müßte, im Homer
aber das üg icpaT dies gar nicht fagen wolle. Goethe las
alfo von nun an, um Wielands Ohr zu fchonen, immer:
alfo fprach er. Auch rügte Wieland das Willkürliche im
Gebrauch oder Nichtgebrauch der Homerifchen Konjunk?
tionen. So habe z. B. Voß feiten das inel gefetzt, wo es
im Griechifchen ftehe. Ferner die Auflöfung des Adjek?
tivs als Beiwort in ein neues Subftantiv, z. V. 89 ävOeaiv
elaQivolaiv^ wo Voß überfetzt : Blumen des Frühlings. Wie?
land behauptete nach einem fekr richtigen Gefühl, daß:
Lenzifche Blumen weit individueller und malerifcher fei,
als jene Zerftückelung in zwei Begriffe.
Stellen, wo der griechifche Ausdruck in der Über?
fetzung nicht erfchöpft ift, V. 1 17 xazelvae %<xQ)iva. 132 nlä!;*
ovGi, 148 inar/i^cov; dioTQEcpeog bei König 196 fei gar nicht
das Voßifche weit verkünftelte : Götterbefeligt; 266 &al8Q6v
daycQv, 269 uQyeJov, 399 y>(xnviaGav\ 595 dvrouevai mißbilligte
Goethe: fanden.
V. 209, 210. Hier hat Voß ein paar Hexameter im
Klopftockifchen Silbentanz fehr paffend angebracht, wie
Goethe bemerkte.
V. 225—43. Das herrlichfte Original einer fansculot?
tifchen Demagogenrede. Auch Voß ift mit guter Abficht
hier etwas niedriger in feinem Ausdrucke geworden.
I
218 K. A. Böttiger. [437
[437.] November 14. K. A. Böttiger.
Bei dem Schreien der Trojaner und dem ftillen An?
rücken der Griechen im dritten Gefang der Ilias, welches
fchon die Alten als einen charakteriftifchen Zug der wahren
Tapferkeit bemerkt haben, erinnerte Goethe noch fehr fein,
daß diefer Kontraft durch den im zweiten Buch vorher?
gehenden Catalogus noch auffallender werde, wo die
Schiffs? und Heerlifte der Griechen fo viel mehr Platz ein?
nehme und Nachdruck zeige, als das enge Verzeichnis der
Troer und ihrer Genoffen, die doch nun grade nach Art
aller Poltrons den größten Lärm machten,
V. 33 überfetzt Voß dQÜxovTcc: Natter. Dachte dies
wohl Homer dabei? V. 39 hat Voß für das fchleppende:
Unglückfeliger Paris! wie Stolberg das dvünaQi überfetzt
hat, gradezu nur einen andern Begriff gefetzt : Weichling!
Jvanaqiq war unüberfetzbar, aber Weichling drückt doch
auch gar nichts von dem aus, was in dvanaQv liegt; es
ift: verhaßter, verderblicher Paris!
V. 54 werden ömq 'AipQodirrjg durch: Huld Aphro?
ditens überfetzt und weiter unten V. 64 wörtlicher: Gaben
der goldenen Aphrodite. Diefe Ungleichheit ift nicht
im Homer.
V. 74, 75: Jen' entfchiffen zu Achaias rofigen Jung?
fraun, ift ganz etwas anderes, als das Homerifche [Aiai'lda
%alliyvvai%a. Nach Voßens Überfetzung wären die Zu?
rückfchiffenden nicht viel weniger, als TTaQ&Evonmao ge?
wefen.
V. 130 2'V}iq)cc (pilfj, Voß: du trautes Kind! Es ift
die Schwägerin Laodike, nicht Priamos, der fpricht (wie
unten V. 162 mein Töchterchen, (pllov Te%og). Ich ziehe
daher Stolbergs Geliebte! vor, obgleich auch dies das
vv^cpa qp/X»? — liebes Weibchen! — nicht ganz ausdrückt.
V. 152 ona leiQiösdGav hellfchwirrende? Stolberg
noch fchlechter: fchwacher Gefang.
V. 166 ff. Nur den einzigen Agamemnon nennt uns
Homer nicht im voraus und hebt ihn durch die fo ge?
fpannte Erwartung vor den übrigen heraus, Goethe.
V. 176 Tertixa in Tränen verfchwind' ich. — Zer?
fchmelz' ich, wie es Stolberg hat, wäre weit beffer. Allein
Voß verwarf es nur darum, weil es Stolberg fchon vor
ihm gebraucht hatte.
V. 180 z/arjQ ai)T ifiog faxe zvvmniSog, eYnor erjv ye.
Voß: Schwager mir war er vordem, der fchändlichen (?)
438] Weimar. 1794. 219
ach, er war es. Kwcojrtg ifi auch hier wie oben I, 159
verwäffert. Das ^inor ^7jv ye drückt etwas ganz anderes
aus, als Voß überfetzt hat. Es foll heißen: wenn er
überhaupt je mein Schwager war, wenn ich's überhaupt
verdiente, je feine Schwägerin zu heißen. Stolberg hat
es lieber ganz weggelaffen.
V. 224 Sinn: Nun wunderten wir uns nicht mehr
fo darüber, daß Odyffeus ein fo dummes Anfehn gehabt
habe. Wieland.
ZaKOTog im 220ften Vers ift unvergleichlich durch:
tückifch überfetzt.
Man könnte hierbei fragen: Hat bloß Homers Phan:;
tafie diefe Körperformen gefchaffen, oder hat er fie durch
Bild und Überlieferung?
V. 286, 87. Die n^irj^ die hinfort auch daure bei
kommenden Menfchengefchlechtern, veranlaßt in der Über::
fetzung leicht den Begriff eines fortdauernden Tributs.
Homer will aber nur eine Buße andeuten, die auch den
Nachkommen unvergeßlich bleibe.
V. 362 (foclog kann nicht durch gekugelten Helm
gegeben werden. Es waren die (faloi^ kleine polierte
Metallplatten, womit der Helm ausgefchmückt war. Dies
lehrt fchon das abgeleitete Wort TQvcpäleva. Das Mißver?
ftändnis ift aus der gewöhnlichen lateinifchen Überfetzung
Conus entftanden. S. Ernefti in Clav. Cic. s. r. phalerae.
V. 399 ff. Helena behandelt hier die Venus wie
eine Kupplerin. Goethe.
V. 419 zaTaayoaev}]: gefenkt.
V. 449 ff. Goethe fand den Kontraft zwifchen der
Gardinenfzene und dem auf dem Schlachtfelde wütenden
Menelaus um fo lächerlicher, weil hier der wütige Mene^:
laus mit feinem Aktäonifchen Schmuck als cocu herum^
laufe. Wieland machte einige Gegenbemerkungen, aus
dem frühen Zeitalter hergenommen.
[438.] 1794 Ende|1795 Anfang. F. Hölderlin.
Auch mit Goethen wurd' ich bekannt. Mit Herz::
pochen ging ich über feine Schwelle in Weimar, das kannft
Du Dir denken. Ich traf ihn zwar nicht zu Haufe, aber
nachher bei der Majorin v. Kalb. Ruhig, viel Majeftät
im Blicke und auch Liebe, äußerft einfach im Gefpräche,
das aber doch hie und da mit einem bittern Hiebe auf
die Torheit um ihn und ebenfo bittern Zuge im Gefichte,
I
220 K. A. Böttiger. [439
und dann wieder von einem Funken feines, noch lange
nicht erlofchenen Genies gewürzt wird, — fo fand ich ihn.
Man fagte fonft, er fei ftolz, wenn man aber darunter
das Niederdrückende und Zurückfioßende im Benehmen
gegen unfereinen verftand, fo log man. Man glaubt oft
einen recht herzguten Vater vor fich zu haben. Noch
geftern fprach ich ihn hier in Jena im Klub.
[439.] F. Hölderlin.
Goethen hab' ich gefprochen ^ Es ifi der fchönfte
Genuß unferes Lebens, fo viel Menfchlichkeit zu finden,
bei fo viel Größe. Er unterhielt mich fo fanft und freundes
lieh, daß mir recht eigentlich das Herz lachte und noch
lacht, wenn ich daran denke.
1795.
[440.] Anfang d. J. D. J. Veit.
Goethe hat hier in Jena einem Menfchen felbfi ge:=
ftanden, daß er nicht mehr fähig wäre, fich feiner erften
Jugendeindrücke fo lebhaft zu erinnern, als er es im
Wilhelm getan hat; denn die Lebhaftigkeit des Gedächte
niffes, mit welcher er den Meifter vor fünfzehn Jahren
entworfen habe, fei ihm nun bei der Ausfeilung ganz
fremd geworden. — Noch eins: Er fpielt Klavier, und
gar nicht fchlecht.
[44L] Januar 18. Schiller an Ch. G. Körner.
Wie viel Deutlichkeit der Auffatz über äflhetifche
Erziehung in feiner jetzigen Geftalt auch für nicht Kantifche
Lefer habe, davon machte ich geftern Abend eine fehr
intereffante Erfahrung. Ich las ihn Goethen und Meyern,
die feit acht Tagen hier find, vor und beide wurden von
Anfang an bis hinaus davon fortgeriffen , und zwar in
einem Grade, wie kaum ein Werk der Beredfamkeit ver^;
mag. '^ Deinem Auffatz über Mufik fehe ich mit großem
Vergnügen entgegen. Auch Goethe ift fehr begierig darauf
[442.] (Januar 11. /23.) Schiller an Körner.
Goethe nennt diefes Stück der Hören den Centaur,
weil feine Elegien einen feltfamen Kontraft mit meiner
Philofophie machen werden.
446] Jena. 1795. 221
[443.] April I./IO. Schiller an Körner.
Goethe ift fchon feit vierzehn Tagen hier, und er*:
fcheint jeden Abend pünktlich, wo dann allerlei durch::
gefprochen wird. Er ift jetzt mit einem Trauerfpiele im
altgriechifchen Gefchmack befchäftigt. Der Inhalt ift die
Befreiung des Prometheus.
[444.] April 3. Schiller an Körner.
Vorgeftern kam mein Bild von Dorchen* an ~
Goethe und Meyer, welche eben hier find, haben fich
auch recht darüber gefreut.
[445.] April. Schiller.
Wir** haben einen fehr vergnügten Tag in Goethens
Gefellfchaft zufammen zugebracht.
[446.] Mai 22./28. F. A. Wolf an Goethe.
Es wird mir fchwer, den Genuß der vier unbefchreibs:
lieh glücklichen Tage, die ich Ihnen neulich zu danken
hatte, einen Genuß, der mir immer noch täglich wie neu
ift, und Ihr Bild täglich vergegenwärtigt, länger in mir
zu verfchließen. Was mich oft in eine melancholifche
Stimmung fetzt, der Mangel eines Freundes, mit dem ich
Empfindungen wechfeln könnte, die doch am Ende das
wahre Leben find, das drückt mich itzt vorzüglich. Ich
war dem Bücherkerker entlaufen, um mich zu zerftreuen;
und ftatt Zerftreuung gewährte mir die Reife fo unend^j
lieh viele Freuden höherer Art, daß ich, um den Ge?
fchmack an Büchern wieder zu bekommen, noch aus^j
drücklich eine Zerftreuungsreife machen muß. Unter
jenen Freuden wird mir die, Ew. Hochwohlgeboren perfön?
lieh kennen gelernt zu haben, auf immer die unvergeß;s
lichfte fein. Es ift doch durchaus etwas anderes, Schriften,
felbft die, worin das Herz noch fo ftark redet, zu be?
wundern und hochzufchätzen , und den Quell, der fich
in unferm Zeitalter kaum genug in Schriften ergießen
kann, in feiner eigentümlichen Fülle und Klarheit zu
fehen.
* Dora Stock, Körners Schwägerin.
** Schiller und Cotta.
I
222 F. A. Wolf. [447
[447.] Mal 22./28. F. A. Wolf an K. A. Böttiger.
Auch laffen Sie dann gelegentlich den edlen lieben
Goethe ein Wort davon merken, der mir — wenn meine
Ohren recht hörten — fo etwas Ähnliches von einer Reife
oder einem Durchfluge hierher nach Halle merken ließ.
[448.] Mai 28. K. A. Böttiger.
Bei Goethe. Zuerfi über Leffing. Er war bloß
zum Literator geboren, aber ein fehr fchlechter Biblio?
thekar. Plan, nur bis 1740 beiderWolfenbütteler BibUothek
komplett zu fein. Große Unordnung. Seine eignen
Schriften auf der Bibliothek zerfchnitt er, um fie abdrucken
zu laffen. Seine Neigung zur Orthodoxie empfing er in
Berlin, wo er weder Spalding noch die andern Aufklärer
ausftehen konnte. Langer, fein Nachfolger, wohnte den vor^
nehmften Auktionen auf feinen Reifen bei und erftand über?
all koftbare Bücher, die er aber fo lange fiehn ließ, bis er
in Wolfenbüttel sedem fixam bekam, wo er alles zufammen
kommen ließ. Er arbeitete fehr gründliche Rezenfionen
in der Allgemeinen Deutfchen Bibliothek; fo hat er unter
andern des Erlanger Beyer Verfuch über den Theokrit
fehr fchirf rezenfiert.
Wir befahen Goethes Gemmenfammlung. Bemerkung
über eine Stelle im Bion, die ich nirgends finde. Bei
den alten Theatern, fagt Goethe, war weit mehr etiketten?
mäßige Konvention, als bei den unfrigen, da wir das,
was der inneren Energie an Überredungskunft abgeht,
durch . . .* der Äußerlichkeiten und Szenerie zu erfetzen
fuchen. Die Alten hatten in ihren Masken, Dekorationen,
Mafchinen und Theaterkofiüm unendlich mehr, was durch
allgemein angenommene Konvention niemand mehr be?
leidigte, uns aber unendlich lächerlich vorkommen würde,
eine reiche Fundgrube für die Parodie und Traveftierung
der Komiker. So bin ich überzeugt, daß das Theater
gleichfam in gewiffe Regionen geteilt gewefen fein muß,
und daß die Luftregion, in der . die obere Mafchinerie,
die dii ex machina (Wolken, Vögel ufw. im Ariftophanes)
fchwebten, und die Waffer:^ und Orkusregion übereinander
rangierten, ohngefähr fo, wie in den Gemälden und Reliefs
des Altertums eine Reihe Figuren auf den Köpfen der
* Unleferlich. Lieft fich wie: Schonung, das aber keinen
Sinn gibt.
448] Weimar. 1795. 223
untern Reihe fteht. Dies war unwandelbar und ftets vor
den Augen der Zufchauer, auch dann, wenn im ganzen
Stück das Bedürfnis der einen Region nicht ein einziges
Mal eintrat. Etwas anders war es mit den exostris und
eycxvxlriGeai des Innern des Haufes und der Veränderung
gewiffer Gaffen, wie dies auch Palladio beim Theater zu
Vicenza fehr artig angebracht hat. Diefe ftehenden De^
korationen machen es auch allein begreiflich, wie mehrere,
oft acht Stücke, in einem Tage gleich nacheinander ohne
Störung und Embarras aufgeführt werden konnten. Wolf
bemerkte hierbei , daß er vollkommen überzeugt fei,
daß mehrere Tetralogien gleich nacheinander aufgeführt
worden wären, nur daß die Stelle in Ariftoteles Poetik,
wo von hundert Stücken die Rede fei, zu unglaublich
fei, um nicht den Verdacht einer Verfälfchung gegen fleh
zu erregen.
Hierauf erzählte Goethe, wie die Advokaten in den
großen Sälen des Gerichtshofes von Venedig ihre Sachen
plädieren. Den Richtern gegenüber, fo daß die Sach^s
Walter im Rücken find, fitzt ein Segretario, der Stunden^
oder Halbefi:undenfanduhren vor fich ftehen hat und diefe
während der Advokat fpricht, auslaufen läßt. Der Ad^
vokat läßt oft Inftrumente, Zeugniffe, Gefetze vorlefen,
das durch einen befonderen Schreiber gefchieht. So lange
dies dauert, wird das Stundenglas umgelegt, weil dies
Ablefen nicht zugerechnet wird. Der Advokat, dem alles
daran liegen muß, zu feinem Vorteil Zeit zu erobern,
fpricht oft nur ein paar Worte drein, als: Hört! Bemerkt
vorzüglich dies Zeugnis! Augenblicklich fiellt der Sekretär
wieder das Stundenglas, welches oft fehr fchnelle Vibrationen
veranlaßt. Der Gegner hat eben fo viel Zeit zugemeffen.
Es plädieren in wichtigen Sachen gewöhnlich zwei Advo^
katen für den Kläger und zwei für den Angeklagten.
Die erften reden mehr fi:atarisch und gemäßigt und haben
nur die ruhigen Auseinanderfetzungen der Tatfachen, die
zwei letzten aber wirken auf die Leidenfchaften und
wenden alle Redekünfte an. Hier entftehen auch wirk^s
liehe concertationes und altercationes, indem der Gegner
den Redenden oft ins Wort fällt, der Redende aber über
diefe Unterbrechungen laute Klage führt. Der Fall, den
Goethe plädieren hörte, betraf die Ableugnung eines
Fideikommiffes von 6000 Skudi, wo die Prokuratoren
der pia causa die Kläger waren. Da bediente fich der
I
224 K. A. Böttiger. [448
Redner für den Beklagten aller Kniffe, um das Mitleid
der Richter zu bewegen. Der Beklagte war ein alter
fiebzigjähriger Mann. Bedenkt! fagte fein Sachwalter,
daß es hier nicht eigentlich auf die Summe von 6000
Skudi, fondern auf Ehre und bürgerliche Exiftenz eines
Bürgers abgefehen ift, und daß der fo viele Jahre lang
gefparte und vermehrte Schatz von Bürgertugend durch
euer Verdammungsurteil auf einmal verloren gehen würde.
Beide Parteien, für welche die Redner fprechen, fitzen
einander gegenüber und find gegenwärtig. Sie beobachten
nicht allein die größte Demut mit niedergefchlagenen
Augen und gefenktem Haupte, fondern der Beklagte ift
auch wirklich nach feinem Anzüge in luctu et squalore. Die
Dokumente und Inftrumente, worauf es auf beiden Seiten
ankommt, und die von dem Schreiber abgelefen werden,
find fchon gedruckt und die Richter haben fie in den
Händen; nach beendigter Ballotage der Richter können
fie auch die umftehenden Zuhörer zu kaufen kriegen,
vorher aber nicht. Goethe hatte die in groß Quart fehr
fplendid gedruckten Dokumente beider Parteien in zwei
Cahiers bei dem erwähnten Handel gekauft und zeigte
fie uns noch vor. Auch hatte er den einen Advokaten
im größten Affekt des Haranguierens aufs Papier ge?
zeichnet und wies ihn der Gefellfchaft vor. Er macht
mit vorliegendem Körper mit der rechten Hand einen
befondern Geftus, durch Auffetzen der Spitze des Zeige=
fingers auf die Spitze des ausgeßreckten Daumens, welcher
eigentlich das Wiegen mit der Wage, oder das Senken
der Sonde anzeigt und eine befondere Genauigkeit aus^
drückt (pensitato rem agitare). Die ganze Zahl der Richter
teilt fich in quarantario's, öfter nach zwanzig, fechzehn,
ja nur Dekaden, die zufammen in verfchiedenen Teilen
des ungeheuren Saales (alfo wie in den basilicis zu Rom
die judica centumviralia) zu gleicher Zeit Prozeffe ab^
hören. Die Corona populi fi:eht gierig horchend herum
und ermüdet mehrere Stunden nicht. Neben Goethe
ftand ein Knabe von zehn Jahren, der vier Stunden lang
mit nimmerfatter Spannung alles auffing. Die Redner
haben eigentlich kleine Kanzeln oder suggestes, in welchen
fie fprechen follten; aber fie fi:ellen fich gewöhnlich da^
vor und haranguieren mit ganz freifiehendem Körper.
Wolf bemerkte, daß fich zu diefer Sitte alle Belege teils
aus den Römern, teils aus den Griechen finden ließen.
448] Weimar. 1795. 225
Die neuern Reifebefchreiber erzählen faft gar nichts das:
von; einige unvollftändige Winke gibt Mayer in feinen
Darftellungen aus Italien.
Bei der Betrachtung einiger altfizilifchen Münzen von
vorzüglich fchöner Arbeit wurde die Hypothefe fehr
wahrfcheinlich gefunden, daß die Griechen in SiziUen
ihre eigene felbftwachfene Kunft und Literatur lange vor
den Athenern und Pififtratiden gehabt hätten.
Über Deklamation des Hexameters nach der Quants
tität und dem Akzent. Wenn ihn Voß feierlich lieft,
fo ift es wahrer Gefang und Intonation. Die Silbe, wo
der Akzent fteht, wird etwas gehoben und gefchärft, z. B.
hömini, hominibus, etwa wie die Engländer den Konfos^
nanten in der Ausfp räche verdoppeln, der den Akzent
hat. Aber der Akzent gibt auch eine gewiffe Erhöhung
des Tons, der ganz verfchieden von der Länge und Kürze
der Silbe ift. Jeder Hexameter hat 24, alfo jeder pes
4 Zeiten, von welchen in den alten Scholien oft die
Rede ift.
Es wurde ein Verfuch mit dem Anfang der Ilias
gemacht. Gleich das erfte Wort fi^vtv gab zu der Be?
merkung Gelegenheit, daß man hier eigentlich (xhvov aus*
fprechen muffe; denn das n fei doch nur ein doppeltes
ff und fei auch, fowie alle Diphthongen der Griechen,
getrennt, fchnell ausgefprochen worden. Daraus fei auch
auf allen langen Vokalen der Zirkumflex zu erklären, der
eigentlich nichts, als ein acutus und gravis — " — fei, aus
welchen fpäter die fonderbare gefchlängelte Form tnU
fprang. Man muffe fich alfo ^rjviv fo gefchrieben und
akzentuiert vorftellen : {xetviv. Die Griechen haben eigent^s
lieh nur Einen Akzent, den accutus; der gravis zeigt bloß
absentiam accuti und der Zirkumflex den accutus neben
dem gravis an. — Die Ungarn haben in ihrer Sprache
das meifte von dem, was die Alten Akzent nannten. Sie
begriffen auch in Wolfs Vo riefungen alles fogleich, da
die übrigen Zuhörer große Mühe hatten. So fprach ein
Ungar Wolfen um den Chesterfield an, und als ihn Wolf
tadelte, bewies er, daß er recht gefprochen habe. Auch
die Lateiner akzentuierten fo gut, als die Griechen, nur
daß fie die Akzente nicht fchrieben. Wolf rezitierte zuj^
gleich den erften Vers der Eclogen Vergil's und zeigte,
wie ihn die Römer ausgefprochen haben müßten:
TcTVQ8 TV nccTvXai QEKvßavg avß zey^ive (payu.
\ ~ ' 15
226 K. A. Böttiger. [448
Es fei allerdings möglich, die alte Ausfprache der
Römer ganz aufzufinden und wieder herzuftellen , aber
ihren lebendigen Ton hätte man darum nicht.
Wolf erklärte fich fehr lebhaft gegen Wielands Ver^
deutfchung des r/) in f. F war ein barbarifcher , den
Griechen ganz unbehülf lieber und unausfprechlicher Buchs:
fiabe, daher Cicero einmal gegen einen Graeculus das
Argument braucht: er könne nicht einmal den Namen
Fundanius ausfprechen. Die eigentliche Ausfprache der
Griechen fei ^r-h, Phi, gewefen. Wieland horchte hierbei
fehr auf.
Die unnachahmliche Naivität des Magifier Hederich in
feinem Mythologifchen Lexikon: die Töchter des Asklepios.
Goethe läßt auf einem Friefe eines feiner Zimmer
die Metamorphofe der Tyrrhener in Delphine aus der
Laterne des Demofihenes zu Athen abkopieren. Sonder;^
bare Behandlung diefes Sujets auf diefem Kunftwerke
nach einem altern /nvS^og. — Eine kleinere Bronze, ein
Priap ohne Hoden, vielleicht ein Archigallus, obgleich mit
einem Barte, das vielleicht klimatifch zu erklären fein dürfte.
Wärme zufammenfaffende Kraft der wollenen Kleidung,
erkältende der Leinewand. Vorzug des Altertums in
Kleidung und accubitus.
Die Reime find barbarifcher Abkunft. Nur ein Wies^
land, fagte Goethe, follte reimen. Gleim tut's ohne Frei:;
brief, fagt Wieland. Der Reim paßt eigentlich nur für
kürzere canzoni; fobald er zu den Stanzengedichten in
Arioft, Taffo ufw. übergeht, verirrt er aus den Jamben
in Anapäfien, als: armi pietöse in La Gerusalemme liberata.
Wer mag ihn eingeführt haben?
Als Goethe von Palermo nach Girgenti reifte, fah
er vom Wirtshaufe, wo er mittags hielt, mehrere reifende
Sizilianer die Diftelköpfe, die in unzähliger Menge auf
einer verwilderten Wiefe emporragten und eben noch im
Schöffen und Aufblühen waren, abhauen, fchälen und
effen. Er probierte es nun felbft und fand die fo ge^
fchälte Sproffe zart und füßlich, fo daß fie nach unferer
Salatzurichtung dem Spargel fehr ähnlich gewefen wären.
Der Vetturino raufte Puffbohnen und verteilte fie als
große Delikateffe; er felbft verzehrte einen rohen Kohl^
rabi, wie wir einen Apfel verzehren würden.
Über Träume. Wolf erinnerte fich nie, geträumt zu
haben, auch kann er fchlafen, wann und wie lange er
450] Weimar - Jena. 1795. 227
will. Den traumlofen Schlaf erklärt auch Goethe für den
erquickendften. Goethe erzählte einen fehr fcharfßnnigen,
philolophifchen Traum, den er in verfloffener Nacht ge^j
habt habe.
[449.] Mai 30. D. J. Veit.
Die Claudine ift bis auf das ^^ äußerfi gute Orchefter
und bis auf die Gruppierungen ^ äußerft miferabel ge?
fungen und gefpielt worden. Der Rugantino fingt wie ich
und fpielt vollkommen die Rolle wie ein liederlicher Barbier^
gefelle. Goethe hat das Stück in Profa gefetzt und ver^
kürzt; dabei ift aber gar nichts Merkwürdiges. Die Stelle:
Wer dichtet nicht, dem diefe Sonne ufw. ift geblieben
und unfer Rugantino hat fie mit einer Art von dummem
Hohngelächter mit Spaß vermifcht hergeplärrt. Auf Goethes
Frage an Latrobe: Nun, wie hat es Ihnen denn gefallen?
und Latrobes Antwort: Ihr Orchefter ift äußerft brav,
erwiderte Goethe ; Ja, fehen Sie, es ift gewiß im einzelnen
recht fchlecht gegangen; — denn niemand war in der
Rolle — indeffen geben fie uns doch hier das Äußerfte,
was fie haben, und wenn man das fieht, hat man immer
Vergnügen. Ganz verhunzen können fie es nicht und
mich hat der fünfte Akt fehr überrafcht; ich habe gar
nicht geglaubt, daß er fo viel Zufammenhang und fo viel
Theatralifches hat, und Benda ^ fingt doch wenigftens.
[450.] Juni (2.) Schiller an Ch. G. Körner.
Deine Ergießungen über Meifter habe ich Goethe,
der wieder hier ift, vorgelefen und ihm Freude darüber
gemacht. Auf die Komödie will er aber nicht entrieren;
denn er meint, daß wir kein gefellfchaftliches Leben hätten.
Er hat bei der Revifion feines Manufkripts für die
Fortfetzung des W. Meifter eine intereffante Materie über
den Unterfchied zwifchen Roman und Drama unter die
Feder bekommen, worin mir die Hauptidee fehr gefällt.
Der Roman, fagt er, fordert Gefinnungen und Begeben;:
heiten, das Drama Charakter und Tat. Im Roman darf
der Zufall mithandeln, aber der Menfch muß dem Zufall
eine Form zu geben fuchen. Im Drama muß das Schick::
fal herrfchen und dem Menfchen widerftreben uff. Die
Ausführung diefer Ideen, wovon er mir ausführlicher ge;:
fprochen, gibt ihnen fehr viel Wahres. j
I 15*
228 K. Schönborn. [451
[451.] (Juni.) K. Schönborn.
Goethe, im Paradies, einem Spaziergang längs des
Saalufers bei Jena, auf und nieder wandelnd, fah jenfeits
des Fluffes auf bunter, mit Bäumen befetzter Wiefe eine
fchöne Frau, der die Natur eine herrliche Stimme gefchenkt
hatte, in weißem Kleide und buntem Turban mit andern
Frauen umherftreifen, und hörte ihren Gefang über das
Waffer herüber. In der Nähe des Paradiefes wohnte ein
alter Mann, der um geringen Lohn jeden, welcher da
wollte, in einem fchmalen Kahn nach dem jenfeitigen Ufer
brachte. Als es fchon dämmerte, kamen ein paar Stuss
denten und fchifften mit Hilfe des alten Fifchers lachend
und den Kahn fchaukelnd über den Fluß. Jener Abend
erweckte, wie Goethe einmal erzählte, in ihm den Ge^
danken an das Märchen mit der grünen Schlange.
[452.] (1795 erfte Hälfte d. J.) Schiller an Goethe.
Das Märchen ift bunt und luftig genug, und ich finde
die Idee, deren Sie einmal erwähnten, das gegenfeitige
Hilfleifien der Kräfte und das Zurückweifen aufeinander,
recht artig ausgeführt.
[453.] Juni Anfang. W. v. Humboldt an F. A. Wolf
Gegen Mittag kam Goethe zu mir und bedauerte
fehr, Sie nicht mehr zu finden. Er ift Ihnen äußerft gut
geworden und trägt mir viele herzliche Empfehlungen an
Sie auf. Die Prolegomena befchäftigen ihn fehr ernftlich,
und ich kann Ihnen nicht fagen, wie zufrieden er damit
ift. Zwar ift er noch weit entfernt, fich überhaupt für
eine Meinung entfchieden zu haben; Sie kennen feine
weife Bedachtfamkeit. Allein die Methode und der Gang
der Unterfuchung machen ihm vorzügliche Freude, und
er hat mir namentlich gefagt, daß in diefer Rückficht fchon
'jede Seite lehrreich fei. ^
Außer einigem an meinen metris ift feit Ihrer Ab^
wefenheit nicht viel bei mir gefchehen. Indes ift doch
die Anzeige Ihrer Odyffee fertig, und Sie muffen nicht
fchelten, wenn ich fie beilege. ^ Der letzte Grund, war^
um ich fchicke, ift, daß es doch, wie Goethe immer fagt,
hübfch ift, auch Kleinigkeiten gemeinfchaftlich zu machen.
[454.] (Frühjahr.) K. A. Böttiger.
Goethe: Die zwei fcheinbarften Widerfprüche in Wolfs
Prolegomena zu Homer ließen fich a) aus dem Glauben
454] Weimar. 1795. 229
ableiten, daß Homer (ich der Errungenfchaft und des Eigene
tums vieler Sänger vor ihm bemächtigt und fo auf diefer
Bafis folche Epopöen erbaut hätte, wie wir fie noch haben;
dann fiele die pfychologifche Unmöglichkeit doch ganz
weg: aus fo vielen und fo oft fchon bearbeiteten Sujets
ließe fich ja wohl noch eine Ilias und Odyffee von einem
Homer zufammenfetzen ; b) aus der Tradition, daß die
fchon geordneten und von Homer in wahren Zufammen:«
hang gefiellten Rhapfodien durch die Ungefchicklichkeit
der fpäteren Rhapfoden auseinandergeriffen und erfi von
Solon wieder zufammengefügt worden wären. Viel von
Wolfs Behauptung würde auch bei diefer Hypothefe fehr
wohl beftehen können.
Den meifien Beifall hat fich Wolf von den neuern
Theologen zu verfprechen, die kein geringes Triumphlied
darüber anftimmen werden, daß nun auch diefer heid^
nifche Mofes entthront ift.
Ich als Dichter habe ein ganz anderes Intereffe, als
das der Kritiker hat. Mein Beruf ifi: zufammenfügen, ver^s
binden, ungleichartige Teile in ein Ganzes zu vereinigen;
des Kritikers Beruf ift, aufzulöfen, trennen, das gleiche:
artigfte Ganze in Teile zu zerlegen. Als Dichter habe
ich alfo eine unüberfteigliche Scheidewand zwifchen mir
und dem heillofen Beginnen des Kritikers gezogen; aber
ich kann nun doch des Kritikers in hundert Fällen nicht
entbehren. Ich lefe meinen Homer mit Bewunderung,
ftoße aber auf einmal auf Szenen und einzelne Stellen,
die allen Eindruck ftören und mich aufs Unangenehmfte
fituieren. Hier weiß ich dem Kritiker unendlichen Dank,
wenn er mir fagt: ja, gerade diefe Stelle ift unecht.
Wolf würde, wenn er nicht öffentlicher Lehrer wäre,
diefe Idee fchwerlich fo fein ausgefponnen haben. Der
Drang und die Begeifierung öffentlicher Mitteilung be^
wirken Wunder!
Wenn nach Wolfs Andeutung die Odyffee hundert
Jahre fpäter und unter einem ganz andern Himmel, als
der lonifche, gefungen ift, fo dürfte man wohl auf Sizis;
lien raten.
Wolfs unbegrenzte Mitteilungsfertigkeit und Bereite
Willigkeit fteht mit feiner Belefenheit und Wiffenfchaft
im vollkommenften Ebenmaß.
230 Böttiger. [455
[455.] Juni Ende. Böttiger an F. A. Wolf.
Goethe ließ mir fagen, als ich ihm -^ Ihren Brief
infinuierte — denn er war die letzte Zeit, Gott weiß aus
welcher Gefchäftigkeit, jedem perfönlichen fremden und
einheimifchen Befuch unzugänglich — er würde mir einen
Brief an Sie zufchicken. Er ifi aber diefen Morgen ab:;
gereift, und ich bin leer ausgegangen. Er hält nichts auf
gefchwängerte Briefe. ^^ Noch ehe ich Ihren Brief erhielt
und Ihre Vollmacht hatte, wanderte ich fchon mit meinen
drei, fauber in apfelgrün Livrei gekleideten homerifchen
xeniis zu Goethe, weil ich durch feinen Hausgenoffen
Meyer erfahren hatte, daß es ihm bei diefem Gefchenke
wirklich heiße oi^etai y^agiTeg yaqi^GXEQai. Ich hatte Meyer
auch Ihr Plänchen wegen der Sachsifchen Bimsfieintoilette
mitgeteilt, und Goethe hatte darauf geäußert: Das wäre
doch von einem fo präzifen Logiker der erfte Paralogis^:
mus gewefen. Das Einbinderlohn wolle er lieber einmal
mit Ihnen in Champagner vertrinken. Sunt ipsissima
verba. Als ich mit meiner Spende eingetreten war, kam
mir fehr ungelegen Geheimrat Voigt, um ihm wegen 11:=
menauer Bergwerksfachen Bericht abzufiatten. Er dankte
alfo nur mit der ihm eigenen Lieblichkeit, und nun kam
er gleich auf Voß, der Goethen feine vierte Ekloge ufw.
gefchickt hatte. Goethe war auch über das vale an Heyne
erftaunt und fprach mit vieler Herzlichkeit von dem
wackeren Voß. Zugleich hörte ich, daß er fpätefiens in
fechs Wochen von Karlsbad zurückkommen muffe, weil
dann eine ftarke Unterfuchung in Jena zur Abftellung
der Ordensteufeleien, die immer ftinkender werden, an^
gefiellt werden foll. Er hat übrigens auch Hoffmann vers:
fprochen, nächftens mit dem Herzog nach Dieskau zu
kommen, und dann befucht er Sie ganz gewiß auch in
Halle.
[456.] Juni Ende. Nach K. L. v. Weltmann.
Goethe empfing ihn mit jener fonnenhellen Milde
und Fülle, womit die Götter ihren Liebling, als der aus?
zeichnenden Eigentümlichkeit, begabt zu haben fcheinen.
Ihr Gefpräch kam auf das wahrhaftige Leben von Indi?
viduen, fo in poetifcher als hiftorifcher Darftellung, und
zum erftenmal fprach Woltmann darüber aus ganz freier
Bruft und fo, daß ihm diefes tieffte Geheimnis aller dar:^
{teilenden Kunft durch das Gefpräch lichter wurde.
458] Weimar - Karlsbad. 1795. 231
[457.] (Juni.) W. v. Humboldt an feine Gattin.
Geftern abend waren wir mit Meyer allein und eben;:
fo heute mittag. Der Herzog nämlich war auf der Jagd,
und fo wäre ich heute vergebens am Hofe gewefen. Goethe
hat das fo arrangiert, obgleich die Herzogin fchon hatte
die Tafel auf meine Anmeldung anfagen laffen. <^ Ich
bleibe bis Sonntag abend hier, und Du kommft Sonntag
morgen bei guter Zeit, fpäteftens um 10 Uhr, mit den
lieben Kinderchen her, iffeft bei Goethe, und wir fahren
in der Kühle zurücl<:. Goethe hat das fo vorgefchlagen
und läßt Dich recht freundHch bitten, uns keinen Strich
durch die Rechnung zu machen. '^ Goethe hat mich ge^
fragt, ob er jemand für Dich dazu bitten follte. Ich hab's
aber abgefagt. Wir find hübfcher alleine.
Als wir geftern ankamen, kam der Auguft Goethen
entgegengefprungen, und Du hätteft nur fehen follen, wie
der Junge fo lieb tat mit feiner heftigen Zärtlichkeit, und
der alte Goethe fo herzlich froh dabei war.
[458.] Juli 9. Friederike Brun.
Abends brachte mir die brave Göchhaufen den Goe^
the. Anfpruchslofer wie er es ift in feinem Reden und
Schweigen, in feinem Gehen und Stehen, ift es unmögj:
lieh zu fein. Sein Geficht ift edel gebildet, ohne gleich
einen Innern Adel entgegen zu ftrahlen, eine bittre Apa^
thie ruht wie eine Wolke auf feiner Stirn. Bei einem
fchönen männlichen Wuchs fehlt es ihm an Eleganz, und
feinem ganzen Wefen an Gewandtheit; ift das der Günft^
ling der Mufen und Grazien! dies der Schöpfer des Taffo,
des Egmonts, und der Iphigenie, des Werthers und Götz,
des Fauft, und ach der Sänger jener herzempörenden und
herzftillenden, jener fanft einlullenden und auffchrecken^
den Lieder? Ich fah nur den Verfaffer des Wilhelm Mei^
fter diefen Abend, und auch der ift aller Ehren wert. Da
faßte mich bei einen Gedanken, aus dem der feinige zurück^
ftrahlte, plötzlich fein Flammenauge und ich fehe Faufts
Schöpfer. Ich fehe ihn feitdem täglich und verfäume keine
Gelegenheit ihn zu fehen. Anfangs quälten mich feine
Blicke, die ich immer auf mir und an mir empfand, wenn
ich ihn nicht anfah, und die dann die des forfchenden
Beobachters waren; und des Beobachters ohne Hoffnung
und Glauben an reinen Menfchenwert, der nur neue Ge^
I
232 Friederike Brun. [458
ftalten zu feinen lebensvollen Gemälden fucht und in die
Welt fieht, wie in einen Guckkafien. Geftern und heute
ifi er fehr liebenswürdig und treulich gewefen und ich
habe zuweilen den Werther und Egmont hervorleuchten
fehen, ob ich den Taffo und Iphigenie erblicken werde?
Das Glück hat ihn verzogen und die Weiber. Er hat
gefchwelgt ohne zu genießen, genommen ohne zu geben,
ob je in feinem Herzen der reine Ton der Liebe "wieder
erklingen wird? Er hat viel geredet und immer als ob's
halb im Scherz wäre, aber im bittern Scherz herrliche
Sachen gefagt über Kunft, Epigramme, Elegifches, Im^:
provifieren, Liebe als Mittel zum Zweck, über Hoffnung,
die ihm erftorben ifi, von feiner äußerfien Empfänglich?
keit durch Phantafie bei Gelegenheit der Kupfer zu Wie?
lands Werken. Ärgerlich ift's, daß er feine Paradoxe, wenn
man ihm darüber zu Leibe geht, oft mehr wie halb zu?
rück nimmt, fo daß fie darüber nicht feiten zu Gemein?
platzen werden. Nun habe ich doch ein Intereffe hier und
nun fängt die Kur auch an, mir zu bekommen; ach bei
aller Erinnerung ifi's doch etwas Elendes um eine öde
Gegenwart]
Ich gerate immer mit dem Goethe in fehr lebendige
Unterhaltung. Er redete über die ftille Hoffahrt und den
Übermut der Dänen, der fich, wie er neckend verficherte,
in mir befonders offenbare. Er öffnet mit viel Bonhomie
fein Inneres, in dem fich mir ein reicher Fond von Wahr?
haftigkeit und Billigkeit offenbart. Übrigens war er heut
(dies ifi alles beim Sprudeltrinken auf und ab geredet)
fchrecklich paradox, und ich ergrimmte über fein Weg?
werfen der Erinnerung: Die Gegenwart ifi die einzige
Göttin, die ich anbete, fagte er — über feinen Unglauben
an intellektuelle Freundfchaft. Freundfchaft werde durch
Verhältniffe genährt (daß fie aus Sympathie entftünde,
gab der Sünder doch zu) und wenn diefe fich änderten
oder aufhörten, fiürbe fie Hungers. Ich ward zur Salz?
faule! Da kam die Rede vom feiigen Moritz, mit dem
er viel in Italien gelebt, und da war er fo weich und
gut und lobte und bedauerte den Moritz fo aus meinem
Herzen raus, daß ich ihm hier alles verzieh. Einmal fagte
er: Niemand hat Mitleiden mit mir, wenn ich klage (es
war Scherz); ich fagte ihm ernft, ich habe bei manchem
Ihrer Lieder inniges Mitleiden empfunden. — O ja, ich
war wohl unglücklich in diefen Augenblicken, aber der?
459] Karlsbad. 1795. 233
gleichen muß man abfchütteln. Nein, nicht abfchütteln!
Durch Arbeiten und in fich zur Heiterkeit verwandeln,
Tagte ich: Denn feine Gleichgültigkeit ohne Heiterkeit
und daß er fchon fo ganz mit den Menfchen abgerechnet
hat, ift mir fchrecklich.
[459.] Juli 12. Friederike Brun.
Heute fah er zuweilen leibhaftig aus wie fein Fauft.
Bald glaubte ich ihn auf dem Faß zu fehen, und dann
glaubte ich wieder der Gottfeibeiuns würde ihn auf der
Stelle holen. Heute hatte ich eine fehr lehrreiche Unter::
haltung über Italien mit diefem Proteus: er habe feinen
Zweck während feines zweijährigen Aufenthaltes doch
nicht erreicht, und warum? Denn wirklich, mir ift un?
begreiflich, was diefer Adler nicht erreichen könnte, wenn
er will. Er habe wollen fo ins Anfchauen der Kunft fich
vertiefen, daß diefe Vorftellung ganz objektiv, und fein
ganzes Wefen, feine Ichheit ins Anfchauen der Schönheit
übergegangen wäre, er fozufagen fein Selbfi darin ver^^
loren hätte! Ich fagte ihm, dies fei noch aus der Agas^
thonifchen Schwärmerei von intellektueller Schönheit. O,
Goethe, wie irret dein großer Geift umher! die Erde war
dir zu niedrig und du verfchmähft den Himmel, welche
Stunde wird die deines Erwachens fein? Nun fchwebt
er zwifchen Himmel und Hölle. Wenn dein Sonnen^
blick fich dem neuen Lichte öffnet, dem du ihn mit wahrer
Herzenshärte verfchließeft; was hat dich zu diefem Trotze
gegen alles das gebracht, welches doch fo göttlich aus
dir redet! Denn wirklich ift in gewiffen Momenten ein
Blick in Goethes Auge ein Beweis für Unfterblichkeit
mehr. Heute redete ich viel mit ihm über feine häus?
liehen Verhältniffe, feine Freunde, feinen Knaben. Wie
er aus Scheu vor einer genauen Verbindung nach und
nach mit einem Wefen, das Gleichheit als Denkart und
Handlungsweife ihm lieb gemacht habe, in die genauefte
Verbindung geraten fei. Ich fagte ihm meine Freude an
feiner Wahrhaftigkeit und Billigkeit: Das erfte ift man,
weil man muß, das zweite fo viel man kann, fagte er fehr
befcheiden. Wir freuen uns aufrichtig unferes Bekannt?
Werdens, und er fchließt uns von feinem Innern auf, mit
einer Treulichkeit, für die ihm mein Herz Dank weiß.
Über Poefie, daß fie keinem Gefetz Untertan fei, als
dem der Schönheit, und frei zwifchen Himmel und
I
234 Friederike Brun. [459
Erde herumfchwebe und fich keine Feffeln anlegen laffen
muffe.
Über Erziehung. Er hat einen Jünghng von 20 Jahren
feit dem fünften gebildet, nun erzieht er nach denfelben
Grundfätzen fein Kind von 6 Jahren, daß man das Kind
auf eigenen Beinen fiehen, mit eigenen Augen fehen laffe,
auf daß es felbfiändig bleibe, ift ihm die Hauptfache.
Wirklich und wahr! Das erfie ihm oft mehr, wie das
letzte, kraft feiner Anbetung der Gegenwart. Er fcheint
fehr kinderlieb zu fein. Am Abend war er hier bei uns
mit der kleinen Levin und der Unzelmann, die fehr ver^:
ftändig tut und etwas Treuherziges in ihrem Blick hat,
welches mir gefällt. Sein Ton mit Frauen, die nicht fireng
auf fich halten, ift nicht fein, und an zarter Grazie fehlt's
ihm überhaupt. Der Herr Rittmeifter von Gualteri war
ungebeten dazu gekommen, ein avantageuser fät, mit dem
Goethe zu meinen Erfiaunen fehr bekannt und vertraut
tut, ihn aber dabei heimlich fchraubt. Er fagte viel Treffes
liches über Theater und Kunft, daß man die Grenzen des
erfieren nicht erweitern follte: Moritz' originale Idee mit
dem Menfchenantlitz im Meergewoge, als der vollendet?
ften Bildung, aus ungeheurer Formlofigkeit hervorgegangen.
Ein finnreicher Mythos! Über das Theater der Italiener,
es habe eine befiimmte Norm und drehe fich im engen
Kreife, in dem es vollkommen fei. Vergleich mit dem
Franzöfifchen. Schönes Wort von Goethe über Schön?
heit, wie ich nach Moritz' Äußerem fragte: In Ihren
Kinderjahren würden Sie ihn fchön genannt haben (ich
hatte ihm nämlich gefagt, wie ich Phyfiognomie und Bil?
düng verwechfelte als Kind). Das ift die Eigenfchaft,
die die Menfchheit vor allen anderen organifierten Wefen
unterfcheidet, daß wir freilich alle fchön fein follten, daß
es aber nichts dazu tut, wenn wir's auch nicht find, weil
die Moralität aus uns fpricht — und die Seele von innen
heraus das Ungebildete bildet und adelt, fetzte ich hin?
zu. Das nennen wir anderen Menfchen nun nicht fo,
fagte er etwas trocken und nicht ohne Bitterkeit. Wie
er fich aus diefem Widerfpruch herauswickeln wird, foll
mich verlangen. Er hat fehr viel mimifches Talent und
kann ausfehen, wie der lebendige miltonifche Teufel, doch
ift's fchade um ein fo edles Gebilde, es verzerrt zu fehen! ^
Fräulein von Bradele, Hofdame aus Dresden. Eine Bachantin
aus der niederländifchen Schule. Goethe fi:udiert fie.
461] Karlsbad. 1795. 235
[460.] Juli 12. Friederike Brun.
Nachmittag kam Goethe, um mit mir zu Sarah und
Marianne* zu gehen; bis ich fertig war, Ues er Lotte**
lefen. Er hat fo viel KindUchkeit und Einfah in feinem
Wefen wie alle erhabenen Geifter. Bei Meyers war er
gar hold, und Marianne, die holde Seele, geht ihm ans
Herz. Er ift fertig mit dem dritten Teil von Meifter:
Ich bin der Redakteur jetzt, und fehe das Ding nach,
wie das Werk eines Verfiorbenen. ^^
Kleine Polin, Therefe Brzozowska, mit der Goe?
the viel fprach. Ein ftilles, liebes Wefen. Goethe liebt
die Leidenden und gefeilt (ich fanft und teilend zu ihnen.
Wir redeten über das große unerfchöpf liehe Sujet, den
Menfchen. Wie kein Menfch die ganze hehre Form und
Würde der Menfchheit ausfülle und erreiche. Wie jeder
Menfch in feinem Innern eine ganze Weltgefchichte er?
lebe. Über Kinder, man muß ihren Begierden entgegens:
kommen, je lebhafter fie find, um defio mehr, weil uns
aus innerer Begierde und äußerem Widerfiande Unwahr?
heit geboren wird. Aber ich mag's nicht mehr abfchrei?
ben und fkelettieren, was er mit lebendigen Feuergeift ge?
fagt und von fich offenbart. Nur fo viel, es ift unmög?
lieh unmaßgeblicher und anfpruchslofer zu fein, — ach
feine Forderungen find nur zu eingefchränkt, nur wenige
Worte über das Leiden, das er erduldet, ehe er nach und
nach dahin gekommen, wo er nun fei: Er war gräßlich
oft, und wie er fein Wefen in hohem Grade dem Fubli?
kum mitgeteilt: aber mit großen Lücken, wie die zwifchen
Iphigenie, dem Taffo und Fauft. Alle feine neuen Pro?
dukte lagen 18—15—10 Jahre da. ^
Abends war Goethe wieder etwas Fauftinifch wild
(wie er es leider Frauen, die ihm nur fchön find, gegen?
über leicht wird), doch fagte er herrliche Sachen über 1 . Voß,
feine Luife, Odyffee, 2. über das Brieffchreiben.
[461.] Juli 19./20. Friederike Brun.
Abend ftill und ruhig mit Goethen, Mariannen und
Sarah. Meine Bosheit von voriger Mitternacht fehlte
noch, um uns zu Freunden zu machen. Dann mit
* Die Schweftern Sarah v. Grotthuß und Marianne Meyer
(Frau V. Eybenberg).
** Friederike Bruns Tochter.
I
236 Friederike Brun. [462
Goethe gefrühftückt und fpazieren gegangen. Ganz öffnete
er mir fein Herz und ließ mich in feine Verhältniffe
bhcken. Diefer außerordenthche Menfch konnte frei::
lieh nicht auf gewöhnliche Weife fein viel forderndes Herz
und feinen ungeftümen Sinn befriedigen. Innig erfreue
ich mich, ihn häuslich glücklich zu wiffen, als guten, zart::
liehen Vater. Seine Kinderliebe ift charakteriftifch. Die
meinigen hängen mit Leidenfchaft an ihm, und ich würde
ihm mit Freuden ein Mädchen anvertraun; denn feine
Überzeugung über weibliche Beftimmung und weibliche
Würde ift äußerfi edel und zart. Seit 1 5 Jahren ftudiert
er ausfchließend Naturgefchichte.
[462.] Juli. Friederike Brun.
Goethe und ich fahen uns täglich in Karlsbad und
er war dort mein höchftes Intereffe, aber ihn bitten, in
mein Tagebuch zu fchreiben? Unmöglich. Als er diefes
am dritten Orte bei einer gemeinfchaftlichen Freundin
fieht, blättert er darin und fagt mir: Es fteht fo mancher
Narr drin, foll der Goethe nicht hinein? — Ach nur
zu gerne I Darf ich's fenden? — Ja! ich tat's; nach acht
Tagen bringt er mir's wieder: Liebes Frauchen, hätten Sie
mich gleich einfchreiben laffen, Sie hätten was recht Schönes
hinein bekommen — aber nun ift's entflogen, aber ich
fchicke es einmall und dabei fagte er mir, er könne feiten
dergleichen, wenn er gerade wolle, und fchreibe daher
oft mit Bleiftift.
[463.] Juli. Friederike Brun an Ch. H. Pfaff.
Die letzte Zeit meines Aufenthalts in Karlsbad ward
mir höchft lehrreich und zuletzt lieb durch meine Be^
kanntfchaft mit Goethen. Wir fahen uns täglich erft mit
Neugier, dann mit Intereffe, dann fchieden wir vonein::
ander mit Wohlwollen. Mir erfchien er als eins der
feltenften Exemplare der Menfchheit, in voller Kraft
eines unbeugfamen Willens und hohen Geiftes; ihm war
es vielleicht neu, ein Weib zu fehen, die ruhig und un^
geblendet ihn beobachtete. So bheben wir eine Weile
einander gegenüber, aber dann öffnete er fich mir mit
edler Offenheit, fühlend, daß ich fein befferes Selbft fuchte
— und ich entdeckte in ihm einen Schatz der Wahrheit,
Billigkeit und häuslichen* Güte, die verbunden mit dem.
* [herzlichen?]
465j Karlsbad. 1795. 237
was der Schöpfer des Taffo und der Iphigenie und des
Egmont zu geben vermag, mir ihn unvergeßlich machen.
Laffen Sie mich immer fiolz darauf fein, mich mit Goethe
auf diefem Wege gefunden zu haben und denken Sie auf
mein Wort gut von Goethen, dem Menfchen, man fage,
was man wolle. ^ Die Kinder find brav. Goethe war
in beide vernarrt, zumal in Lotte. Die jungen Dinger find
gar liebe Narren! fagte er, und fie hingen an ihm wie
Trauben. Lotte lehrte er richtig lefen, Karl unterrichtete
er über Mineralogie. Seit fünfzehn Jahren ilt Naturge^^
fchichte, zumal Mineralogie und Phyfik, Goethes aus;:
fchließendes Studium. Alle feine neueren Schriften find
lange fertig im Pulte gewefen.
[464.] Juli. Marianne Meyer (Frau v. Eybenberg).
Adieu, guter Goethe! Den Geheimen Rat habe ich
mir fehr gern von Ihnen wegräfonnieren laffen.
[465.] Auguft (11). D.J.Veit an Rahel Levin.
Goethe redete mich auf dem Balle von felbft fehr
freundfchaftlich an, fragte in der Gefchwindigkeit nach
den Örtern, die ich paffiert hätte; ich nannte Teplitz und
Sie und fagte ihm, wiewohl ganz flüchtig, daß ich Sie
fchon fehr lange kennte und Ihretwegen nach Teplitz
gereift wäre. Nicht um zu urteilen, fondern um unwill?
kürlich mit feinen Empfindungen auszubrechen, fagte er:
Sie haben fehr recht getan. Ol die Levin hat fehr viel
gedacht, hat Empfindungen und Verftand; es ift was
Seltenes, das muß ich fagen — wo find't man das? Wir
haben auch fo vertraut zufammen gelebt, wir waren be^
ftändig zufammen. Ja, das ift gewiß! Nun, wenn Sie
fie lange nicht gefehen hatten, ja freilich ufw. Und dabei
lauter freundliche Gefichter, und beftändig entouriert, im
Gefchrei fagte er mir das immer weiter. Wir gingen
auseinander. ^^ Während des dickften Tanzes war Goethe
eine Zeitlang frei. ^^ Ich ging zu ihm hin und redete
ihn mit den Worten an: Sie werden wohl noch einige
Zeit hier in Karlsbad bleiben, Herr Geheimrat? G. Länger,
als ich dachte — o, fetzen Sie fich! — fo lange es hübfch
ift. Ich habe fo viele Freunde hier, man macht fo hübfche
Bekanntfchaften, und fo weiß ich noch nicht, wann ich
abgehe; aber dann komme ich wieder nach Jena und
arbeite. Darauf kamen wir in ein Gefpräch über feine
I
r
238 D. J. Veit [465
anatomifchen Arbeiten, von denen er fagte, er hätte fie
fchon zehnmal zum Druck fertig gehabt und ebenfo oft
wieder unterdrückt; es wäre unendUch fchwer auszuführen.
Wir befinden uns in einem Chaos von Kenntniffen und
keiner ordnet es; die Maffe hegt da und man fchüttet
zu, aber ich möchte es gerne machen, daß man wie mit
einem Griff hineingriffe und alles klar würde. Es ift nun
nicht mein Fach; ich treibe es aus Begierde, aus Leiden?
fchaft; ich will gerne zeigen, daß alles auch hier einfach
ift, wie in den Pflanzen, daß aus Knochen alles deduziert
werden kann, aber noch fehe ich das Ende nicht; vor
jedem neuen Buch erfchrecke ich; denn es ift den Ver?
fuchen nicht zu trauen. Achten muß man darauf, und
in einem Menfchenleben macht man nicht alle nach. Es
ift überhaupt mein Grundfatz, den umgekehrten Weg ein;;
zufchlagen. Man hat bisher fo viel Hypothefen in der
Naturlehre gemacht: das ift falfch; denn für meine
Meinung finde ich immer Gründe in dem Unendlichen
der Natur. Die Kräfte find fo mannigfaltig, daß ich
immer einige derfelben unter einen Gefichtspunkt bringen
kann, wenn er auch unrichtig ift; hier muß man viel
Verfuche machen, um nicht zu irren. In der Naturge^^
fchichte hingegen hat man immer klaffifiziert und neben
einander geftellt ohne zu räfonnieren; hier kann man
Hypothefen wagen; denn die Fehler find leicht zu finden:
jeder Knochen, jede Pflanze, die mir in die fiände fällt,
widerlegt mich.
Über diefe Materie haben wir noch lange gefprochen
und nun kommt Ihr Triumph, meine liebe Rahell eine
Sache, die Sie kaum glauben werden, die ich fo unglück?
lieh bin, Ihnen fchreiben zu muffen. Hören Siel Ich
fprach mit ihm über den Literarifchen Sansculottismus
(Hören, fünftes Stück) und fagte ihm geradezu: Herr
Geheimrat, Sie werden es vielleicht für Arroganz, für Um^
befcheidenheit halten, aber es ift wirklich keins von beiden;
ich muß Ihnen fagen, daß mir Ihr Literarifcher Sans?
culottismus eine große Freude war. Wenn man felbft
jung ift, fo kann man nichts lieber hören, als wenn ein
Mann wie Sie mit einer folchen Deutlichkeit an feine
Jugend denkt und fo warm fich für die jetzigen größeren
Fortfehritte intereffiert, ufw. Goethe: Unbefcheidenheit?
warum? Es ift mir fehr lieb, daß Sie mir das fagen, fehr
lieb. Sagen Sie, warum foll man dabei ftill fein? Ich
468] Karlsbad - Jena. 1795. 239
habe dem ganzen Gang fo mit zugefehen; ich, und wenn
ich auch nicht gewirkt habe, fo glaube ich doch, daß ich
nicht ohne Wirkung gewefen bin, und nun kommt einer
und lagt: es ift nichts, und wir haben nichts! Daß ich
fo immer den Gang mit weiter mache und mich daran
vergnüge, das muß ich ja tun; das, was mir entgegen?
wächft, entgegenkommt, was auffproßt, — anderer Leute
Kinder oder meine, hier einerlei, — das ift ja das Leben.
Was erinnert mich fonft, daß ich bin und wie ich bin?
Ich fehe ja, daß man weiter kommt, und man will mich
überreden, daß man zurückgehe? ufw. Wir haben über
eine Stunde miteinander gefprochen, ich nicht weniger
als er. Diefe Hauptfachen habe ich Ihnen fchreiben können.
Was fonft noch paffiert ift, ift größtenteils unbedeutend
und foU der Inhalt künftiger Briefe fein.
[466.] (Auguft). D.J.Veit.
Auf einem '^ Balle, wo Polinnen tanzten, fagte ich
ihm einmal, gegen die Polen wären wir Deutfche doch
nur eine Art Holländer, und wie die Menfchen mit Grazie
tanzten! Kein Wunder! verfetzte Goethe, die Grazie ift
ihnen eingeboren.
[467.] Juli Mitte /Auguft Mitte. W. v. Humboldt.
Von Goethe höre ich hier allerlei poffierliche Ge?
fchichten erzählen, die von zwei getauften Jüdinnen, die
mit in Karlsbad waren, herkommen. Außerdem daß er
ihnen foll erftaunlich viel vorgelefen, in Stammbücher und
auf Fächer gefchrieben, und ihre Produktionen korrigiert
haben, erzählt auch die eine, die fonft ein fehr fchönes
Mädchen war, daß er ihnen die einzelnen Gelegenheiten
erzählt habe, die ihn zu den Elegien veranlaßt, naments^
lieh die zu dem Vers : und der Barbar beherrfcht römifchen
Bufen und Leib! ^ Sie follen auch, wie fie erzählen, bei
dem erwarteten neuen Ankömmling in Weimar Patenftelle
vertreten.
[468.] (Sommer.) J. G. Fichte.
Goethe gefprochen. Er war die Artigkeit, die Freude,
mich zu fehen, die Freundfchaft felbft; er bezeugte mir
ungemeine Achtung. Wir fprachen Philofophie; von Ge^s
fchäften kein Wort. — Er hoffe, wenn wir einander
I
\
240 J. G. Fichte. [469
in der Nähe blieben, aus diefen, den philofophifchen
Dingen noch fehr viel mit mir zu fprechen, fagte er et*
liehe Male.
[469.J Oktober 5. Schiller an W. v. Humboldt.
Heute ritt Goethe zu mir herüber und ift foeben wieder
abgereift. Nächfien Donnerstag geht er mit einem Aufs:
trag vom Herzog nach Frankfurt, wo er einige Wochen
zu bleiben gedenkt. Er grüßt Sie freundlichft und wird
Ihnen bald fchreiben. In den letzten Wochen war er
fo befchäftigt, daß er das Zimmer kaum verließ, weil
Unger Manufkript haben wollte, und er über feinen
italienifchen Sachen den Reft des fechften Buchs von Meifter
hatte liegen laffen. Er will mir vor oder auf der Reife
eine kleine Schrift der Madame Stael von der Erfindung
(nur etliche Bogen fiark) überfetzen, welches wir dann
mit einigen Anmerkungen convoyiert, in die Hören fetzen
wollen. Sonft ift für diefes Jahr fchwerlich mehr etwas
von ihm zu erwarten. Ihre längere Abwefenheit beklagt
er fehr. , Auch der Anatomie wegen hat er fich auf Ihr
Hierfein im Winter gefreut. Würden Sie fich dazu ent;:
fchließen können, ihm Ihr Logis zum Abfteigequartier zu
erlauben, wenn er den Winter eine Zeitlang hier zubrächte ?
Goethe wird Sömmering in Frankfurt auffuchen, und
mir von der feuchten Seele fchreiben. Was für feltfame
Dinge doch die Sucht nach dem Neuen und Außerordent^s
liehen ausheckt 1
Hier die Elegie. Ich habe fie heute auch Goethen
gelefen, auf den fie fehr gewirkt hat.
[470.] November 5./9. Schiller an W. v. Humboldt.
Goethe ift feit dem 5. hier und bleibt diefe Tage
noch hier, um meinen Geburtstag mit zu begehen. Wir
fitzen von Abend um 5 Uhr bis nachts 12, auch 1 Uhr
beifammen und fchwatzen. Über Baukunft, die er jetzt
als Vorbereitung auf feine italienifche Reife treibt, hat er
manches Intereffante gefagt, was ich mir habe zueignen
können. Sie kennen feine folide Manier, immer von dem
Objekt das Gefetz zu empfangen und aus der Natur der
Sache heraus ihre Regeln abzuleiten. So verfucht er es
auch hier, und aus den drei urfprünglichen Begriffen —
der Bafe, der Säule (Wand, Mauer und dergleichen) und
dem Dach, nimmt er alle Beftimmungen her, die hier vor^^
470] Weimar. 1795. 241
kommen. Die Abfurditäten in der Baukunft find ihm
nichts als Widerfprüche mit diefen urfprünghchen Be^
Itimmungen der Teile. Von der fchönen Architektur
nimmt er an, daß fie nur Idee fei, mit der jedes einzelne
Architekturwerk mehr oder weniger ftreite. Der fchöne
Architekt arbeitet wie der Dichter für den Idealmenfchen,
der in keinem beftimmten, folglich auch keinem bedürftigen
Zuftand fich befindet, alfo find alle architektonifche Werke
nur Annäherung zu diefem Zweck und in der Wirkliche:
keit läßt fich höchftens nur bei öffentlichen Gebäuden
etwas Ähnliches erreichen, weil hier auch jede einfchrän^
kende Determination wegfällt und von den befondern Be?
dürfniffen der einzelnen abfirahiert wird. Sie können wohl
denken, daß ich ihn bei diefer Idee, die fo fehr mit unferen
Begriffen zufammen ftimmt, feftgehalten und weiter da^
mit zu kommen gefucht habe. Ich glaube, man kann den
Zweck der Baukunft als fchöner Kunfi objektiv ganz füg^
lieh fo angeben, daß fie jedem befonderen Gebäude
den Gattungsbegriff des Gebäudes überhaupt gegen den
Art begriff zu behaupten fucht, wodurch fie dann fub^
jektiv den Menfchen aus einem befchränkten Zuftand zu
einem unbefchränkten (der doch wieder durchaus auf Ge^^
fetze gegründet ift) führt und ihn folglich äfthetifch rührt.
Goethe verlangt von einem fchönen Gebäude, daß
es nicht bloß auf das Auge berechnet fei, fondern auch
einem Menfchen, der mit verbundenen Augen hindurch^
geführt würde, noch empfindbar fein und ihm gefallen
muffe.
Daß von feiner Optik und feinen naturhiftorifchen
Sachen auch viel die Rede fei, können Sie leicht denken.
Da er die letztere gerne vor feiner italienifchen Reife (die
er im Auguft 1796 anzutreten wünfcht) von der Hand
fchlagen möchte, fo habe ich ihm geraten, fie in einzelnen
Auffätzen in feiner darfteilenden Manier zu den Hören
zu geben. Ohnehin ift fonft nicht viel von ihm für das
folgende Jahr zu hoffen.
Wir haben diefer Tage auch viel über griechifche
Literatur und Kunft gefprochen. ^
Ihren Brief an Hellfeld wegen Ühedajfung der Woh^
nung an Goethe habe ich noch nicht abgegeben. Goethe
will fich erft noch befinnen; denn er hat einen neuen
Bedienten, der ihn noch nicht recht zu beforgen weiß,
und trennt fich deswegen nicht gern vom Schloß, wo ihn
I 16
242 Schiller. [471
Trapizius, der Schloßvoigt bedient. Die Ilgen, die er
neulich fah, gefiel ihm fehr wohl, wie es fehlen, und ich
merkte wohl, daß er nachher mehr Luft zu Ihrem Logis
hatte; wie er aber hörte, daß fie in Ihren Namen und
in Ihre Tugend verliebt fei, fo wurde von dem Logis nicht
mehr gefprochen.
[471.] November. Schiller an Ch, G. Körner.
Ich habe Deinen letzten Brief Goethe, der eine Zeit^
lang hier war, gewiefen und ihn fehr damit erfreut. Denn
außer Deinem Urteil über das Märchen und den Meifter
intereffierte ihn auch, was Du von Stein und feiner Er?
Ziehung fagteft. Goethe hat ihn eigentlich ganz erzogen,
und fich dabei vorgefetzt, ihn recht objektiv zu machen.
[472.] November. Wieland.
Da hat fich aber neuerlich ein gewiffer Herr Richter
in Hof hervorgetan; ^^ Der Menfch ift mehr als Herder
und Schiller. Er hat eine Allüberficht wie Shakefpeare.
Goethe urteilt von ihm: man muffe fich mit diefem Men?
fchen in acht nehmen und ihn weder zu viel, noch zu
wenig loben — ein fehr alltäglicher Orakelfpruch.
[473.] November Ende. Nach Charlotte v. Stein.
Als fie neulich Goethe gefagt, fie fei auf das Ende
feiner Perfonen in Wilhelm Meifter neugierig, habe er
erwidert, im Leben brauche man nicht konfequent zu fein,
aber freilich in einem Roman verlange man es.
1796.
[474.] Januar. Schiller.
Goethe, der bei uns ift, macht mir zu viel Lärm. ^
Seitdem Goethe hier ift, haben wir angefangen, Epi?
gramme von einem Diftichon im Gefchmacke der Xenien
des Martial zu machen. In jedem wird nach einer deut?
fchen Schrift gefchoffen. Es find fchon feit wenig Tagen
über zwanzig fertig, und wenn wir etliche Hundert fertig
haben, fo foll fortiert und etwa ein Hundert für den Al^
manach beibehalten werden.
478] Jena. 1796. 243
[475.] Januar. Schiller an Ch. G. Körner.
Deinen Brief erhielt ich gerade, als Goethe bei uns
war, und gab ihm folchen zu lefen, weil Du über feine
Beiträge zum Mufenalmanach fo urteilteft, als er es ver^
tragen kann. Er war auch fehr wohl mit Deiner Kritik
zufrieden.
[476.] Januar. Schiller an A. W. Schlegel.
Goethe, der eben hier ift, war mit Ihrer Rezenfion
fowie überhaupt mit Ihrer Art zu urteilen, fehr zufrieden,
nur daß auch er fowohl gegen Ihre, als gegen die Voßifche
Profodie noch manches einzuwenden hat. Er glaubt, und
muß feiner Natur nach diefe Meinung haben, daß in Rück?
ficht auf den Versbau den Forderungen des Moments und
der Konvenienz des individuellen Falles weit mehr als
einem allgemeinen Gefetz muffe nachgegeben werden.
[477.] Januar 6. Schiller.
Alsdann erfchien Goethe, der mir alle Abendftunden
nimmt. ^ Goethe hat zwar auch vieles gegen die Rezenfion
der Hören einzuwenden, befonders in Rückficht auf das,
was an feinen Verfen getadelt wird; im ganzen aber ift er
fehr wohl damit zufrieden, und hat eine gute Meinung
von Schlegeln bekommen. ^
Goethe, als ein verhärteter Realift, hat mir folgen
können und mich auch gefaßt bei der Au seinander fetzung
über die Gradationen des dichterifchen Geifles.
[478.] Januar. Schiller.
Goethe und ich arbeiten fchon feit einigen Wochen
an einem gemeinfchaftlichen Opus für den neuen Alma?
nach, welches eine wahre poetifche Teufelei fein wird,
die noch kein Beifpiel hat. '^ Goethe war 14 Tage hier
und da ift allerlei abgehandelt worden. Funks Anwefenj:
heit, der 4 Tage hier blieb und faft immer mit uns lebte,
war mir fehr wohltuend. Ich habe ihn weit weniger ge?
fpannt gefunden, als fonft, obgleich Goethe, der fonft
nicht geeigenfchaftet ift, die Leute ä leur aise zu fetzen,
zugleich mit ihm da war. ^
Mein Karl ift wohl und entwickelt fich, daß es eine
Freude ift. Goethe ift ganz von ihm eingenommen.
I 16*
244 Schiller. [479
[479.] Januar. Schiller an W. v. Humboldt.
Die Xenien, von denen ich Ihnen einmal fchrieb,
haben (ich nunmehr zu einem wirklich intereffanten Pro^
dukt, das in feiner Art einzig werden dürfte, erweitert.
Goethe und ich werden uns darin abfichtlich fo inein?
ander verfchränken , daß uns niemand ganz auseinander
icheiden und abfondern foll. Bei einem folchen gemein^;
fchaftlichen Werk ift natürlicherweife keine ftrenge Form
möglich; alles, was fich erreichen läßt, ift eine gewiffe
Allheit oder lieber Unermeßlichkeit, und diefe foll das
Werk auch an fich tragen. Eine angenehme und zum
Teil genialifche Impudenz und Gottlofigkeit, eine nichts
verfchonende Satire, in welcher jedoch ein lebhaftes Stres:
ben nach einem feften Punkt zu erkennen fein wird, wird
der Charakter davon fein. Unter 600 Monodiftichen tun
wir es nicht, aber womöglich fteigen wir auf die runde
Zahl 1000. Von der Möglichkeit werden Sie fich über?
zeugen, wenn ich Ihnen fage, daß wir jetzt fchon in dem
dritten Hundert find, obgleich die Idee nicht viel über
einen Monat alt ift. Bei aller ungeheuren Verfchieden?
heit zwifchen Goethe und mir, wird es felbft Ihnen öfters
fchwer und manchmal gewiß unmöglich fein, unfern An?
teil an dem Werke zu fortieren. Denn da das Ganze
einen laxen Plan hat, das Einzelne aber ein Minimum ift,
fo ift zu wenig Fläche gegeben, um das verfchiedene Spiel
der beiden Naturen zu zeigen. Es ift auch zwifchen Goethe
und mir förmlich befchloffen, unfere Eigentumsrechte an
den einzelnen Epigrammen niemals auseinander zu fetzen,
fondern es in Ewigkeit auf fich beruhen zu laffen, welches
uns auch, wegen der Freiheit der Satiren, zuträglich ift.
Sammeln wir unfre Gedichte, fo läßt jeder diefe Xenien
ganz abdrucken. Daß ich für eine große Korrektheit
auch in der Profodie forgen werde, verfpreche ich Ihnen
fowohl in meiner als Goethens Portion. — Übrigens bitte
ich Sie von diefer Eröffnung vor der Hand auch Goethe
felbft nichts zu fagen.
[480.] März. Schiller an A. W. Schlegel.
Auch Bürgers Macbeth und die überfetzten Hexen?
gefänge haben Sie mir zu raisonabel behandelt. Ich halte
die letzteren für eine recht Bürgerifche Pfufcherei, fo arg
als irgend eine von ihm, und das ift nicht bloß meine
485] Weimar - Jena. 1796. 245
Privatmeinung. Goethe z. B., mit dem ich erft kurz noch
davon fprach, findet fie greuHch und er hat, da er den
Macbeth gern einmal in Weimar fpielen laffen wollte, fchon
darauf gedacht, wie er fie anders überfetzt bekommen
könnte.
[481.] März Ende. Schiller.
Im Komödienhaus, das keine Logen hat, hat Goethe
mir eine befonders machen laffen, wo ich ungeftört fein
kann und, wenn ich mich auch nicht ganz wohl fühle,
wenigftens den Vorteil habe, mich vor niemand zwingen
zu dürfen.
[482.] April/Juni. G. Parthey.
Eines Sommers kam auch Goethe zum Befuche nach
Drescien.* Ob er mit auf dem Körnerfchen Weinberge
gewohnt, oder von der Stadt aus feinen Freund Schiller
öfters befucht habe, wüßte ich nicht mehr zu fagen. Marie
Körner erinnerte fich fehr genau, daß eine ganze Menge
Xenien in diefer ländlichen Einfamkeit entfianden feien. Die
beiden Schweftern faßen zusammen unten in der Wohn^
ftube, und hörten über fich in der Dachkammer die Stimmen
der dichtenden Freunde. In kürzeren oder längeren Pau^
fen ertönte ein fchallendes Gelächter, zuweilen von lehr
vernehmlichem Fußftampfen begleitet. Wenn die Herren
um 12 Uhr zum Mittageffen herunterkamen, waren fie
äußerft aufgeräumt und fagten mehr als einmal: Heute
find die Philifi:er wieder tüchtig geärgert worden]
[483.] Mai etwa 20. Schiller an Ch. G. Körner.
Hero und Leander** hat er noch nicht angefangen;
aber noch etwas anderes von luftigem Inhalt las er neu?
lieh vor, das ich Euch fchicken will, fobald ich's abge?
fchrieben erhalte.
~ Goethe grüßt Euch freundlich.
* Hier ift ein Irrtum. Goethe und Schiller waren nie ge#
meinfam in Lofchwitz. Wohl aber waren Körners im Xenien*
jähr 1796 in Jena einige Zeit bei Schiller und darauf bezieht fich
vielleicht die Erinnerung.
** Ein von Goethe geplantes Gedicht, um deffen Zufendung
Körner gebeten.
I
246 Schiller. [484
[484.] Mai 16. Charlotte v. Stein.
Es kam eben, wie ich da war, eine kleine Viktoria
von Dresden für ihn an. Er fetzte fie am Tifch vor fich
und meinte, beim Effen und Trinken fei am heften von
der Kunft zu fprechen. Er nahm auch wirklich an nichts
viel weiter Anteil, und zuletzt hatte er das Glas Wein
in der einen Hand und die Viktoria in der andern.
[485.] Frühjahr. K. A. Böttiger.
Goethe: Ifflands Schauspiele haben alle zwei Haupt?
fehler. 1 . Alle moralifche Befferung wird in feinen Stücken
von außen herein, nicht von innen heraus bewirkt. Da?
her das Gewaltfame, unwahrfcheinlich Zufammengedrängte
und Überhäufte in feinen Stücken, z. B. der Kommiffär
Wallmann in der Ausfteuer ifi fchon viele Jahre bei der
verkehrten Wirtfchaft feines Bruders Augenzeuge, fchon
viele Jahre ebenfo heftig, auffahrend gewaltfam gewefen.
Aber erfi heute, wo das Stück zu fpielen anfängt, regt
fich der Braufekopf, fiürmt an der großen Glocke, poltert
und will das gut machen, was bei frühem, nur halb fo
heftigen Warnungen an feinen Bruder und deffen Kin?
der nicht halb fo fchlimm geworden wäre. Es ift durch?
aus keine zureichende Urfache da, warum dies alles erft
jetzt, wo das Stück eintritt, fo von außen hereinkommen
muffe. So macht der Stabschirurg Rechtler im Schein?
verdienft heute erft Lärm und Ordnung, da er doch fchon
zwanzig Jahre lang fein Pfeifchen bei feinem amicus geraucht
und die Scheinverfuche feiner Frau und Kinder mit ange?
fehen hat. Eben darum, weil alle Motive nur von außen
herein bloß zufällig zur Hauptentwickelung wirken, nicht
aus dem Charakter felbft hervorgehn, braucht Iff land fo
viel Nebenfiguren und unnütze Ausftaffierungen zu feinen
Stücken, weil er durch fie den Ausgang motivieren will.
2. Er fetzt überall Natur und Kultur in einen fal?
fchen Kontraft. Kultur ift ihm immer die Quelle aller
moralifchen Verdorbenheit ; wenn feine Menfchen gut wer?
den follen, fo kehren fie in den Naturftand zurück; der
Hageftolze geht auf feine Güter und heiratet ein Bauern?
mädchen ufw. Dies ift ein ganz falfcher Gefichtspunkt,
aus welchem er alle Kultur verunglimpft, da vielmehr das
Gefchäft eines Schaufpieldichters in unferm Zeitalter fein
follte, zu zeigen, wie die Kultur von Auswüchfen gereinigt,
veredelt und liebenswürdig gemacht werden könne. Die
487] Weimar. 1796. 247
Idyllenfzenen aus Arkadien, die in Ifflands Stücken fo
Wohlgefallen, find eine fuße, aber darum nur um fo ges^
fährlichere Schwärmerei. Freilich fieht er auch in Mann=
heim die Grundfuppe der fogenannten Kultur in ihrer
haffenswürdigften Abfcheulichkeit. Losgeriffen von diefen
herzlofen Modepuppen, würde er auch ganz andere Cha:;
raktere zeichnen und ganz neue Anfichten in feine Stücke
bringen können.
[486.] Juni 6. Schiller an W. Reinwald.
Hier lieber Bruder das fünfte Stück der Hören, wo^
rinn der Auffatz Die Pulververfchwörung abgedruckt ift.
Nach den Urteilen, die ich hier eingezogen, findet er
vielen Beifall, und Goethe, der eben von mir weggegangen
ilt, war auch recht wohl damit zufrieden.
[487.] Juni 17. Jean Paul F. Richter.
Gleichwohl kam ich mit Scheu zu Goethe. Die Oft^
heim* und jeder malte ihn ganz kalt für alle Menfchen
und Sachen auf der Erde. — Ofi:heim fagte : er bewundert
nichts mehr, nicht einmal fich; — jedes Wort fei Eis,
zumal gegen Fremde, die er feiten vorlaffe; er habe etwas
Steifes, reichsftädtifch Stolzes — bloß Kunfi:fachen wärmen
noch feine Herznerven an, daher ich Knebel bat, mich
vorher durch einen Mineralbrunnen zu petrifizieren und
zu inkruftieren , damit ich mich ihm etwan im vorteil?
haften Lichte einer Statue zeigen könne. — (Ofi:heim rät
mir überall Kälte und Selbfi:bewußtfein an.) Ich ging
ohne Wärme, bloß aus Neugierde. Sein Haus frappiert:
es ift das einzige in Weimar im italienifchen Gefchmack,
mit folcher Treppe, ein Pantheon voll Bilder und Statuen;
eine Kühle der Angft preffet die Bruft, — endlich tritt
der Gott her; kalt, einfilbig, ohne Akzent. Sagt Knebel
z. B. : Die Franzofen ziehen in Rom ein. — Hm! fagt
der Gott. Seine Geftalt ift markig und feurig, fein Auge
ein Licht (aber ohne angenehme Farbe). Aber endlich
fchürete ihn nicht bloß der Champagner, fondern die Ge?
fpräche über die Kunft, Publikum ufw. fofort an und —
man war bei Goethe. Er fpricht nicht fo blühend und
itrömend wie Herder, aber fcharfbeftimmt und ruhig.
Charlotte v. Kalb geb. Marfchalk v. Oftheim.
248 Jean Paul F. Richter. [488
Zuletzt las er uns, d. h. fpielte er uns* ein ungedrucktes
herrliches Gedicht vor, wodurch fein Herz durch die
Eiskrufte die Flammen trieb, fo daß er dem enthufiaftifchen
Jean Paul (mein Geficht war es, aber meine Zunge nicht,
wie ich denn nur von weitem auf einzelne Werke an?
fpielte, mehr der Unterredung und des Beleges wegen)
die Hand drückte. Beim Abfchied tat er's wieder und
hieß mich wiederkommen. Er hält feine dichterifche Lauf?
bahn für befchloffen.
[488.] Juli 17. Caroline Schlegel.
Geftern Nachmittag, da ich allein war, meldete man
mir den Herrn Geheimenrat. Ohngemeldet hätte ich ihn
nicht erkannt, fo fiark ift er feit drei Jahren geworden.
Er war gar freundlich, freute fich, mich in fo angenehmen
Verhältniffen zu treffen, fagte viel Schönes von Schlegel,
bis diefer felbft kam. Er hat mir gedroht, oft, auf feinem
Weg ins Paradies, bei uns einzufprechen. ^^ Diesmal wird
er nicht lange bleiben; er hat nur das Ende von Wilhelm
Meifter herüber gebracht, um mit Schiller darüber zu
fprechen.
[489.] Auguft Anfang. Schiller an K. F. Zelter.
Ihre fchönen Melodien zu den Go'ethefchen Liedern
haben mir den Wunfeh eingeflößt, die mufikalifchen Stücke
meines diesjährigen Mufenalmanachs von Ihnen gefetzt
zu fehen. Vielleicht hat Ihnen Herr Geheimrat Goethe
fchon ein Wort davon gefchrieben, denn auch er wünfchte
es fehr.
[590.] Auguft. Schiller.
Die Idee mit den Xenien ift nicht ganz aufgegeben.
Bloß die ernfthaften, philofophifchen und poetifchen find
daraus vereinzelt und bald in größeren, bald in kleineren
Ganzen vorne angebracht. So haben wir, außer mehreren
kleineren Ganzen, 70, 80, die zufammen gehören, in eine
Folge vereinigt, und uns beide unterfchrieben, ohne an?
zumerken, von welchem unter beiden die einzelnen find.
* Sein Vorlefen ift nichts als ein tieferes Donnern, vermircht
mit dem leifeften Regengelifpel ; es giebt's (siel) nichts Ahn*
liches. (J. P.)
495] Jena - Weimar. 1796. 249
1491.J Auguft. Schiller an J. F. Cotta.
Ich habe fchon zu einer fimpeln und artigen Decke
für den Mufenalmanach in Weimar Anftalt machen laffen,
die auch nicht viel koften wird. Goethe hat die Einfaffung
angegeben, und in die Mitte kommt auf jeder Seite, anftatt
einer Figur oder eines Ornaments ein Vers von Goethen
und von mir.
[492.] K. A. Böttiger.
Der neue Schillerfche Mufenalmanach ift ein wahres
Revolutionstribunal, ein Terrorism, gegen welche alle guten
Köpfe in Maffe aufftehen muffen.
Es ift mir unbegreiflich, wie Goethe, der fonft fo leife
auftretende, furchtfame Zauderer, fich zu einem fo Jugend^
liehen Mutwillen mit offenem Vifier hinreißen laffen konnte.
Aber ich erinnere mich noch zum Glück, ihn das Urteil
fprechen gehört zu haben: das deutfche Publikum er?
trägt und verfchlingt alles.
[493.] Auguft. Schiller.
Goethen find im Mufenalmanach die tabulae votivae, an
denen er felbft fehr wenig Anteil hat, das liebfte von mir.
[494.] September 1. Charlotte v. Stein an ihren Sohn Fritz.
Daß Du gefonnen bift, in preußifche Dienfte zu
gehen, habe ich aus einem Briefe gefehen, den Du Goethen
gefchrieben. Mit allem guten Willen, den ich bei ihm
bemerkte, fürchte ich, er wird wegen feiner allzu litera?
rifchen Exiftenz zu unbehülflich fein. Dir mit Gefchick
aus der Sache zu helfen. Er war nur einen Augenblick
hier und ift wieder nach Jena. Ich bat ihn, noch etwas
zu überlegen; alsdann will er mir den Brief an Dich
offen fchicken. Er fagte, er habe gar keinen Einfluß auf
den Herzog, fondern ich folle doch der FJerzogin erzählen,
er (Goethe) hielte es für gut, daß der Herzog Dir die
Kammerpräfidentenftelle in Eifenach, im Fall Herda ftürbe,
verfpräche, nachdem Du den Prinzen einige Jahre würdeft
begleitet haben.
[495.] Auguft Ende. Caroline Schlegel.
Goethe ift jetzt wieder hier in Jena und läßt das
Theater arrangieren, fonft gibt er fich diesmal viel mit
Raupen ab, die er tot macht und wieder auferweckt.
I
250 Schiller. [496
[496.] Sommer. Schiller.
Das epifche Gedicht von Goethen, das ich habe ent^
ftehen fehen, und welches in unferen Gefprächen alle
Ideen über epifche und dramatifche Kunft in Bewegung
brachte , hat ^ auch für meinen Wallenftein große
Folgen. .
[497.] September, erfte Hälfte. Caroline v. Wolzogen.
Mit Rührung erinnere ich mich, wie uns Goethe in
tiefer Herzensbewegung, unter hervorquellenden Tränen,
den Gefang, der das Gefpräch Hermanns mit der Mutter
am Birnbäume enthält, gleich nach der Entftehung vorlas.
So fchmilzt man bei feinen eigenen Kohlen, fagte er, in^
dem er (ich die Augen trocknete.
[498.] September 15. G. Merkel.
Ich fand bei F. Ch. Lodev eine fehr zahlreiche Ver^
fammlung von faft allen Profefforen und einigen Studenten
beifammen. Im Prunkzimmer ftand Goethe mit ernfter,
ftolzer Miene vor dem Spiegeltifche , auf beiden Seiten
von Kerzen und vorn vom Kronleuchter beleuchtet,
prunkend da, und um ihn eine Halbrunde von mehreren
Reihen ehrfurchtsvoll Laufchender. Bei dem Gefühl, mit
dem ich foeben die Xenien gelefen, widerte mich diefes
Schaufpiel an; ich glaubte den Triumph ftraflofer Infolenz
feiern zu fehen. Loder ftellte mich Goethe vor als den
Verfaffer der Letten; er nickte herablaffend und fuhr fort
in feiner Rede. Das verdroß mich; denn ich war mir
bewußt, in Rückficht meiner Zwecke über dem Verfaffer
der Xenien zu ftehen. ^
Er fprach gerade in einem dozierenden Tone über
Raphaels Gemälde im Vatikan. Den letzten Umftand
hatte ich nicht bemerkt [?] und fagte : Es wäre viel, wenn
die Franzofen fich ihrer nicht bemächtigten. Mit einer
wegwerfenden Miene, als hätte ich eine Dummheit ge^^
fagt, erwiderte Goethe: Sie find ja auf die Mauer gemalt 1
— Doch nur auf Stuck! antwortete ich, zog mich aus
dem bewundernden Halbkreife zurück und habe mich
Goethe nie wieder genähert. Mir hatte bei meiner Antjs
wort dunkel vorgefchwebt, es muffe ein Mittel geben, die
Stucklagen abzulöfen ohne Verletzung der Gemälde, die
fie verherrlichen. Welcher Art dies Mittel fein könnte,
502J Jena. 1796. 251
ahnte ich freilich nicht, doch wenige Monate fpäter er^
zählten die Zeitungen, daß die Franzofen Wandgemälde
abgefägt hätten.
[499.] September. Schiller.
Goethe hat jetzt ein neues poetifches Werk unter
der Arbeit, das auch größtenteils fertig ift. Es ift eine
Art bürgerlicher Idylle, durch die Luife von Voß in ihm
zwar nicht veranlaßt, aber doch neuerdings dadurch ge^^
weckt; übrigens in feiner ganzen Manier, mithin Voßen
völlig entgegengefetzt. Das Ganze ift mit erftaunlichem
Verftande angelegt, und im echten epifchen Tone aus^
geführt. Ich habe 2 Dritteile davon, nämlich 4 Gefänge
gehört, die vortrefflich find. Das Ganze kann wohl 12
Bogen betragen. Die Idee dazu hat er zwar mehrere Jahre
fchon mit fich herum getragen, aber die Ausführung, die
gleichfam unter meinem Auge gefchah, ift mit einer mir
unbegreiflichen Leichtigkeit und Schnelligkeit vor fich
gegangen, fo daß er 9 Tage hintereinander, jeden Tag über
anderthalb 100 Hexameter niederfchrieb.
[500.] Oktober 2. Caroline Schlegel..
Goethe fagte geitern noch, Die Geifterinfel von Gotter
wäre ein Meifterftück von Poefie und Sprache; es ließe
fich nichts Mufikalifcheres denken.
[501.] November 9. Ch. G. Voigt an G. Hufeland.
Herr G. R. v. Goethe ift, was mich gefreut hat, für
Sie und Ihr Haus fehr freundlich gefinnt und hat mir
von der Vorlefung feiner Epopöe Hermann und Dorothea^
die er in neuere Zeit zu verlegen gewagt hat, erzählt.
Schreiben Sie mir etwas von dem Gegenftande und In?
halt diefes Phänomens, worüber ihn zu fragen der Anlaß
durch Nebendinge mir abgefchnitten wurde.
[502.] Herbft. Wieland an K. L. Reinhold.
Goethe, der beinahe fünf Monate in Jena lebte, ift
feit fünf bis fechs Wochen wieder hier und fährt fort
ein mir fehr angenehmes Verhältnis mit mir zu unter?
halten, wirklich das reinfte und einzige das zwifchen uns
beftehen kann und foll. Er ift ein fonder^ und wunder?
barer SterbHcher, aber bei allem dem fo fehr aus Einem
Stück, fo fehr bona fide alles, was er ift, mit allem feinen
1
252 Wieland. [503
Egoismus fo wenig übeltätig, oder vielmehr im Grunde
fo gutartig, und mit allen Anomalien feiner produktiven
Kraft ein Mann von fo mächtigem Geift und unerfchöpf::
liehen Talenten, daß es mir unmöglich ifi, ihn nicht lieb
zu haben, wie oft ich auch im Fall bin zu wünfchen, daß
dies oder jenes anders an ihm wäre. Von feinem Anteil
an den Xenien haben Sie fehr richtig geurteilt. Aber die
Welt ifi nicht fo nachfichtUch und beide Epigrammatiften
haben fich felbft durch diefe Ergießung ihrer Laune und
— Galle einen unendlich mal größeren Schaden getan,
als alle ihre literarifchen Widerfacher und Diaboli ihnen
zufammengenommen in ihrem ganzen Leben hätten tun
können.
[503.] Dezember 17. /20. Caroline Schegel an Luife Gotter.
Goethe gab ein allerliebftes Diner, fehr nett, ohne
Überladung, legte alles felbft vor, und fo gewandt, daß
er immer noch Zeit fand, uns irgend ein fchönes Bild
mit Worten hinzufiellen (er befchrieb z. B. ein Bild von
Fueßli aus dem Sommernachtstraum, wo die Elfenkönigin
Zetteln mit dem Efelskopf liebkofet) oder fonfi hübfche
Sachen zu fagen. Beim fußen Wein zum Defert fagte
ihm Schlegel gerade ein Epigramm vor, das Klopfiock
kürzlich auf ihn gemacht, weil Goethe die deutfche Sprache
verachtet hat, und darauf fiießen wir alle an, jedoch nicht
Klopfiock zum Hohn; im Gegenteil, Goethe fprach fo
brav, wie fich's geziemt, von ihm.
[504.] (Dezember.) M. Jacobi.
Als der Jüngling die Blätter von Hermann und Doro^
thea dem übergütigen Dichter tief bewegt und angeregt
wieder übergab, verbarg diefer ihm feine Freude nicht,
heiter hinzufügend: Nach Ihnen ifi nun Böttiger der nächfte,
dem ich es mitteile; denn bei dem bin ich bei der Bes:
urteilung vor allem Einfluß des Gemütes auf den Ver?
ftand ficher, und fo einen brauche ich.
[505.] (Dezember.) K. A. Böttiger.
Goethe ging feit zwei Jahren mit diefem Sujet von
'Hermann und Dorothea fchwanger und verfuchte es erft
als Drama, dann als eine Idyllenreihe. Aber grade durch
diefe vorbereitenden Studien wurde er erfi des Gegen^
fiandes ganz mächtig.
508] Leipzig - Weimar. 1796. 253
[506.] Dezember (30). Ch. F. Weiße.
Ich weiß aus mehreren Briefen, daß die Sache wegen
Eichflädts Berufung nach Jena entfchieden ift. Vor kurzem
war der Geheime Rat Goethe mit dem Herzog von Weimar
hier in Leipzig, und wir fprachen ein Langes und Breites
davon.
[507.] Dezember (30). G. J. Göfchen.
Goethe hat unfern alten Weiße befucht und viel mit
ihm über griechifche und römifche Literatur gefprochen
und fich äußerfi gut benommen.
[508.] (Dezember.) J. D. Falk.
Neulich im Klub '^ geriet Wieland in einen liebenss:
würdigen, mit etwas Poffierlichkeit untermifchten Eifer,
daß die jungen Leute fo viel Tee tränken, da doch Tee
offenbar fchwäche.
Goethe (mit aufgehobenem Rockfchoß am Ofen [t^^
hend und mit vorftrebender Bruft fich hin und her be:=
wegend): Da irrfi Du, Herr Bruder; Tee ftärkt.*
Wieland: Wieder ein Paradoxon!
G.: O, ich habe Gründe dafür genug und fatt.
W. : Um nur mit meinem fchwächften Argument an*
zufangen —
G.: Das tue ja nicht, Herr Bruder, ums Himmels*
willen nicht! Immer die fiärkften voraus! Ich habe mich
verzweifelt ausgerüftet.
W.: Alfo erftlich wirft: Du nicht leugnen können,
daß trotz aller Deiner Sophifterei aufgekochte Kräuter
von fchädlicher Natur und laues Waffer —
G.: Alfo der Tee fchwächt, willfi Du fagen?
W.: Ja, doch ich -
G.: Alfo, der Tee ftärkt, fag' ich.
W.: Und fchwächt nicht?
G.: Stärkt und fchwächt.
W.: Stärkt und fchwächt?
G.: Wie jedes Corroberans zu häufig genommen;
man ftärkt fich zu fehr.
W. Aber das Gift darin.
G.: Es gibt kein Gift.
W. : Ein neues Paradoxon?
In der Vorlage offenbar irrig: fchwächt.
254 J. D. Falk. [509
G. : Alles kommt auf die Dofis an. Auch Champag?
ner kann Gift werden.
W. : Am Ende wird der Sophift noch gar behaupten,
wir ftürben nicht.
G.: Ei, das laffen wir fo bleiben.
W. : (weggehend): Das wird zu toll!
G. (ihm nachrufend): Geh nur, Alter! Sonft provos^
ziere ich auf unfre Unfterblichkeit und Du haft verloren.
1797.
[509.] Januar 2. 6. Caroline Wilken geb. Tifchbein.
Bei einem feiner Befuche beij. F. A. Tifchbein brachte
der Fürfl Leopold von Anhalt=DeJfau auch einmal Goethe
mit, der auf kurze Zeit nach Deffau gekommen war, ob?:
wohl der Fürft deffen Abneigung gegen den Vater kannte.
Der Fürft hatte aber geäußert, trotz feines Eigenfinnes
folle Goethe den Vater befuchen. An der Mutter fand
Goethe viel Gefallen und hatte nachher geäußert, die
Tifchbein fei eine höchft angenehme Gegenwart.
[510.] April Anfang. W. v. Humboldt an feine Gattin.
Goethe ift unendlich gut und freundfchaftlich, und es
lebt (ich fehr fchön fo nah und allein mit ihm. Zwar allein
feh' ich ihn gewöhnlich nur die Abende, aber die find
auch überaus hübfch. Er ift fo vertraulich, fpricht fo leicht
über die Dinge, die ihm die liebften find, wird fo fchön
davon erwärmt und erfcheint ganz, zugleich in der eignen
Zuverficht und Befcheidenheit, die ihm fo ausfchließend
eigen find. Auf die Freude und den Nutzen, den ihm
das Zufammenleben mit Schiller gibt, kommt er oft zurück.
Nie vorher, fagt er, hätte er irgend jemand gehabt, mit
dem er fich über äfthetifche Grundfätze hätte vereinigen
können; die einzigen wären noch Merck in Darmftadt
und Moritz gewefen; allein obgleich beide mit ihm in
Abficht des Takts übereingekommen wären, fo hätte er fich
wenig mit ihnen verftändigen können. Zwanzig bis fünf^
undzwanzig Jahre hätte er alfo fo ganz über fich allein
gelebt, und daher fei es mit gekommen, daß er in einer
ganzen langen Zeit fo wenig gearbeitet habe. Defto rüftiger
fcheint er jetzt. Den Plan von Hero und Leander hat
5 10] Jena. 1797. 255
er zwar ziemlich aufgegeben; er meint, es fei ein fremdes
Sujet, das ßch nie recht frei würde behandeln laffen. Aber
dafür hat er mir feinen andern Plan erzählt, von dem
mir fchon Schiller fagte. Diefer Stoff ift aus höheren Stän?
den genommen, und damit er doch alles Förmliche los
wird und eine reine und volle Natur bekommt, hat er
eine Jagdpartie gewählt. Nur bei der Jagd, meint er,
zeige fich noch etwas dem Heldenalter gleichfam Ähnliches,
weil doch da jeder felbft tätig fein, felbft Hand anlegen
muß. Er läßt einen deutfchen Erbprinzen, der mit im
Kriege gewefen ift, im Winter zu feiner Familie zurück:^
kommen. Der erfte Gefang fängt -mit einem Frühftück
an, das nach einer geendigten Schweinsjagd genommen
wird. In den Gefprächen, die bei diefer Gelegenheit ent;;
(tehen, findet er Veranlaffung über Krieg, über das Schicks;
ial der Staaten ufw. zu reden und fo das Intereffe auf
einen weiten Schauplatz hinauszufpielen. Plötzlich kommt
die Nachricht, daß in einem benachbarten kleinen Stadt;:
chen beim Jahrmarkt Feuer ausgekommen fei und bei der
Verwirrung, die dadurch entfteht, wilde Tiere losgekommen
wären, die man da fehen ließ. Nun macht fich der Prinz
und fein Gefolge auf und die heroifche Handlung diefes
epifchen Gedichts ift nur eigentlich die Bekämpfung diefer
Tiere. ~ Mehr vom Detail hat er mir noch nicht gefagt.
Zum Hermann wird fich diefes Gedicht fchön ftellen. Der
Hermann ift fo durchaus rührend; er hat überall den Men^
fchen, das Schickfal, den Wechfel, dem das Privatglück
unterworfen ift, zum Hintergrunde, dies wird prächtiger
und feuriger, es wird weniger idyllenartig auf einzelne
Lagen, friedlichen Genuß, noch mehr epifch auf große
Maffen, Staaten und Völker, kühne Unternehmungen ufw.
hinweifen. Der ganze Ton von Anfang herein foll dies an?
kündigen und jeder Umftand dazu paffen. So erfcheint
z. B. im Hermann die Feuersbrunft, fchon wie fie ver;=
ghmmt und nur noch der letzte Rauch auffteigt; in diefem
neuen Gedicht fchlagen die vollen Flammen noch wild
übereinander. Was diefen Goethefchen Gedichten ein
fo fchönes Leben und diefe bewundernswürdige Indivi^;
dualität gibt, ift, daß er nichts fchildert, was er nicht ganz
oder doch einigermaßen gefehen hat. Davon geht er über;:
all aus, und da er nun auf der andern Seite diefen feinen
und hohen Kunftfinn hat, fo erkläre ich mir dadurch die
unnachahmliche Haltung, in der immer Natur und Kunft
I
256 W. V. Humboldt. [511
bei ihm ftehen, wo nie etwas anderes, als die volle und
reine Natur und doch nie die bloße Natur, nie etwas
Materielles erfcheint.
[511.] April Anfang. W. v. Humboldt.
Goethe quält mich fo fehr, bis Sonntag früh zu blei?
ben. Er wünfcht es auch wegen des Hermanns und ftellt
mir ordentlich rührend vor, daß wir uns vielleicht fehr
lange nicht wiederfehen.
[512. 1 April Ende. Caroline v. Humboldt an ihren Gatten.
Goethe war Sonnabend und Sonntag hier in Jena.
Er war einmal bei mir, aber traf mich nicht allein. Er
ift fehr freundlich und grüßt Dich herzlich. Alexander
fcheint ihn bewogen zu haben, jetzt feine optifchen Ver?
fuche liegen zu laffen und feine anatomifchen herauszu*
geben.
[513.] (April.) Schiller.
Goethe wird wohl auch Ende Sommer nach Italien
gehn, da der Friede jetzt die Reife wieder möglich macht. ^
Goethens Hermann und Dorothea erfcheint diefe Mi^
chaelismeffe in Kalenderform bei Vieweg in Berlin. Er
hat diefe Form vorgezogen, teils weil man ihn noch ein?
mal fo gut dafür bezahlen kann, teils um das Gedicht
auf diefe Weife recht in Umlauf zu bringen.
[514.] Mai. Caroline v. Humboldt.
Das Honorar für den Hermann ift ungeheuer, und
doch gibt es keinen Preis für folch eine Arbeit. Schiller
meinte auch, es fei enorm bezahlt, aber Vieweg werde es
herausbringen, noch einen anfehnlichen Gewinft davon
zu machen, und fei unklug, wenn er nicht eine Auflage
von 4000 Exemplaren veranftalte. Er erzählte mir, daß er
Goethe gefragt, ob er zufrieden mit dem Honorar fei,
und diefer habe ihm geantwortet: O ja, recht gut, ich
kann leidlich zufrieden fein. Etwas Außerordentliches
habe Goethe alfo gar nicht darin gefunden.
[515.] Mai 22. Caroline v. Humboldt an ihren Gatten.
Goethe ift hier, den Mittag ißt immer noch jemand
mit und abends ift der große Zirkel. —
520] Jena - Weimar. 1797. 257
Goethe war heut hier und grüßt herzHch. Er ift fehr
gut geftimmt, und ich bin immer ganz verhebt in feine
Ichönen Augen. Er dankt taufendmal für Deine Mühe
wegen des Hermanns.
[516.J Mai 22. Caroline v. Humboldt an ihren Gatten.
Goethe ift fehr freundUch und gut und hat ein gar
niedhches neues Gedicht: Der neue Paufias und fein Blu^
menmädchen, für den Almanach gemacht und uns letzt
vorgelefen. Er grüßt Dich herzhch.
[517.] Mai (27). K. A. Böttiger.
Jeder Menfch hat einen chien ä tondre, wie es die Fran?
zofen nennen, fagte Goethe Schleusnern, der fich Rein*
hardts [Reichavdts?] annahm. Man hat ja wohl felbft et^:
was der Art, aber man fpricht nicht gern davon. — Die
Gefchichte mit den Sachfenhäufern, die über den Exftu?
denten herfielen, der auf der Gaffe wetzte, ihn aber herz*
lieh bedauerten, als fie hörten, er fei voll fußen Weins.
[518.] (Mai.) Schiller.
Goethe iß feit mehreren Wochen hier in Jena, den
ich vor feiner italienifchen Reife jetzt wohl zum letzten*
mal fehe. Er ift beinah' entfchloffen, fich in zwei Mo*
naten auf den Weg zu machen. ^^
Ich habe vor einiger Zeit Aristoteles Poetik, zugleich
mit Goethen, gelefen.
[519.] Juni Antang. Schiller an Ch. G. Körner.
Ich fende Dir Humboldts Brief gleich wieder zurück,
daß Du in der Antwort nicht aufgehalten wirft; ich zeigte
ihn gern Goethen, dem es immer angenehm ift, über fich
urteilen zu hören.
Was Du über feine Braut von Korinth fchreibft, ift ^
im ganzen unfer aller Meinung, und Du nimmft das Ge*
dicht noch äfthetifcher, als es vielleicht gemeint war. Im
Grunde war's nur ein Spaß von Goethe, einmal etwas zu
dichten, was außer feiner Neigung und Natur liegt.
[520.] Juni Mitte. Charlotte v. Stein.
Über feine italienifche Reife fcheint er unentfchloffen,
~ indeffen will er nach der Schweiz; vielleicht will er's
mir nicht fagen, daß er dahin will; denn es ift in feiner
Art, unnötig Geheimniffe zu machen.
I 17
258 Schiller. [521
[521.] Juli 17. Schiller an Amalie v. Imhoff.
Geheimrat Goethe wünfchte, daß Sie morgen Mittag
mit ihm und mir fein möchten und Ihre Gedichte mit^
brächten. ^^ Auch wünfchte er, daß Sie zeitig, fpäteftens
um 1 1 Uhr kommen möchten, damit wir Zeit haben, recht
viel zu fprechen.
[522.] Juh 11./18. Schiller an H. Meyer.
Was wir trieben und wie es um uns ftand, das ers^
fuhren Sie von unferm Freund, und der wird Ihnen auch
gefagt haben, wie fehr Sie uns gegenwärtig waren. Von
ihm habe ich mit herzlichem Anteil vernommen, was Sie
betrifft, wie treiflich Sie Ihre Zeit benutzten und welche
Schätze Sie für uns alle fammelten.
Auch wir waren indes nicht untätig, wie Sie wiffen,
und am wenigften unfer Freund, der fich in diefen letzten
Jahren wirklich felbft übertroffen hat. Sein epifches Ge^^
dicht haben Sie gelefen; Sie werden geftehen, daß es der
Gipfel feiner und unfrer ganzen neueren Kunft ift. Ich
hab' es entfiehen fehen und mich faft ebenfofehr über
die Art der Entftehung als über das Werk verwundert.
Während wir andern mühfelig fammeln und prüfen muffen,
um etwas Leidliches langfam hervorzubringen, darf er nur
leis an dem Baume fchütteln, um die fchönften Früchte,
reif und fchwer, zufallen zu laffen. Es ift unglaublich,
mit welcher Leichtigkeit er jetzt die Früchte eines wohl^
angewandten Lebens und einer anhaltenden Bildung an
fich felber einerntet, wie bedeutend und ficher jetzt alle
feine Schritte find, wie ihn die Klarheit über fich felbft
und über die Gegenftände vor jedem eiteln Streben und
Herumtappen bewahrt. ^^
Sie werden mir aber auch darin beipflichten, daß er
auf dem Gipfel, wo er jetzt fteht, mehr darauf denken
muß, die fchöne Form, die er fich gegeben hat, zur Dar^
ftellung zu bringen, als nach neuem Stoffe auszugehen,
kurz, daß er jetzt ganz der poetifchen Praktik leben muß.
Wenn es einmal einer unter Taufenden, die danach ftres^
ben, dahin gebracht hat, ein fchönes vollendetes Ganzes
aus fich zu machen, der kann meines Erachtens nichts
Befferes tun, als dafür jede mögliche Art des Ausdrucks
zu fuchen, denn wie weit er auch noch kommt, es kann
doch nichts Höheres geben — ich geftehe daher, daß mir
525j Frankfurt - Stuttgart. 1797. 259
alles, was er bei einem längeren Aufenthalt in Italien für
gewiffe Zwecke auch gewinnen möchte, für feinen höch^
ften und nächften Zweck doch immer verloren fcheinen
würde.
[523.] Auguft 11, 12. H. S. Hüsgen an J. J. Gerning.
Letzt abgewichenen Freitag morgen (alfo den 11.) er^^
fchien ganz unerwartet ein Fremder in meinem Zimmer,
den ich vor feinem wohlgemäfteten Bauch nicht erkannte,
bis ihn feine Stimme bei der Frage verriet: Kennen Sie
denn Ihren alten Freund nicht mehr? und liehe da, es
war Goethe in eigener hoher Perfon und ungeachtet er
eine geraume Zeit bei mir blieb, fo bliebe er doch er^
bärmlich fteif und zurückhaltend. Das einzige, was er
mir durch feine Zunge mitteilte, war, daß er gefonnen
fei, in die Schweiz zu reifen. Als ich ihn am andern
Tage befuchte, war er redfprächiger und gefühlvoller. —
Was halten Sie aber von dem fonderbaren Verfahren
Goethens, der vor feiner Abreife etwas tat, was er in
feinem ganzen 48 jährigen Leben nicht getan hat, nämlich
alte Briefe durch Feuer vernichten, darunter ihn diejenigen
des Selbfitöters Merck wegen ihres Geiftesinhalts zwei Tage
Überwindung kofteten.
[524.J Auguft. Elifabeth Goethe.
Mein Sohn wird jetzt in Jena fein, darüber freue ich
mich, denn er hat mir bei feinem Hierfein gefagt, daß
feine Geiftesprodukte dort zur Reife kommen.
[525.1 September 1.6. J. H. Dannecker an W. v. Wolzogen.
Sie haben mich fchon längft aufgefordert, Ihnen Nach:«
rieht über des Herrn Geheimen Rats von Goethe Aufent::
halt in Stuttgart zu geben. Was foll ich Ihnen fagen?
Sie kennen feine ungeheure Kunftkenntnis , feine Liebe
zum Großen, Vollendeten, Charakteriftifchen , Schönen.
O, ich bin äußerft glücklich, einige fchöne Meinungen,
die mir nun Gefetze bleiben, von ihm gelernt zu haben;
ja, was er mir fagte, war in mir zwar wie ein Nebel, fchon
ehe er zu mir kam, aber daß ich's nicht ausdrücken konnte ;
nun wüßte ich's gleich zu Taufenden anzuwenden. Das
ift gewiß, daß ich in meinem Leben nichts mehr aus*:
führen werde, das nicht fozufagen in fich eine Welt aus^
macht. Täglich waren wir beifammen, und er machte mir
I 17*
260 J. H. Dannecker. [526
ein Kompliment, das ich für groß halte, indem er mir
fagte: nun habe ich Tage hier verlebt, wie ich fie in Rom
lebte, f^ Meinem Schwager Rapp und feiner Frau, meinem
lieben Weibchen und mir las er eines Abends feine Elegie
Hermann und Dorothea vor.
[526.] September 5. Frau Weckherlin,
Frau Regierungsrat Weckherlin, eine Tochter Rapps,
f^ erzählte aus der Familienerinnerung jenes Abends, da
Goethe ihnen Hermann und Dorothea vorlas, ihr Vater habe
ein im Zimmer anwefendes 5 jähriges Schwefterchen ent^
fernen wollen, damit es die Vorlefung nicht fiöre. Goethe
legte Fürbitte für das Mädchen ein, das dann bleiben
durfte und zu den Füßen der Mutter fitzend lautlos zu:^
hörte. Da habe es nun den Dichter hoch erfreut, als
das Kind nach Beendigung des Vortrags bat, der Herr
möge doch weiter lefen.
[527.] Oktober 16./22. K. F. Meyer.
Auf der rechten Seite der unteren Hälfte des Zürichs
fees liegen nebeneinander zwei Landhäufer: Mariahalde,
wo Graf Benzel^Sternau fein Leben beendigte, und die
Schipf, welche Jakob Efcher, ein genialer Mafchinen?
fabrikant, befaß. Diefen kannte ich noch in feinen letzten
Lebensjahren — er überfchritt die Achtziger. Als mich
der greife Efcher einft durch den Schipffaal führte, er;:
zählte er mir, Goethe habe — zu Ende des vorigen Jahr^
hunderts — auf einem Befuche in der Schipf, von feinem
Freunde Meyer, dem Kunfchtmey er , wie ihn fpäter die
Weimarer hießen, gebracht, diefen Saal, in deffen Hinter^
grund er eine Orgel erblickte, mit den luftigen Worten :
Hier muß man tanzen, betreten und dann den ganzen
großen Raum im Tanzfehritte durchmeffen.
Natürlich wollte ich nun mehr von Efchers Beziehungen
zu Goethe wiffen. Der alte Herr hatte aber — den Ein^
druck der imponierenden Erfcheinung feines Gaftes aus^^
genommen — nicht viel zu erzählen; nur ein Gefchicht^
chen hatte fich unauslöfchlich in fein Gedächtnis gegraben.
Ich laffe ihn felbft reden in der vagen Form, deren fich
der Greis bediente, die ich aber, Wort um Wort, ver^
bürgen kann.
Wir machten, berichtete er, einen Ausflug von Zürich
nach der gute zwei Stunden entfernten Albishöhe. Vor
550] Zürich. 1797. 261
dem Tore der Stadt — damals war Zürich noch befeftigt
— betraute Goethe einen jungen Mann, der ihn begleitete,
mit einem Fernrohre. Tragen Sie dazu Sorge! fchärfte
er ihm ein. Als wir auf dem Rückwege wieder vor dem
Tore anlangten, fragte Goethe den jungen Herrn: Wo
haben Sie das Perfpektiv? Diefer befühlte feine Tafchen,
nirgends war es zu finden. — Es liegt auf dem Tifchchen
vor dem Spiegel im Eßfaale des Albishaufes. — Gehen
Sie gleich zurück und bringen Sie es. Der junge Mann ging.
Das fand ich etwas hart, fchloß Efcher fein Gefchicht?
chen, aber Goethe wollte feinem jungen Begleiter eben
eine tüchtige Lehre geben.
[528 ] Oktober 22. G. Geßner.
Ich ging in den Schönenhof, in der fonderbaren Er^
Wartung, da vielleicht Goethe zu fehen. Er kam. Stirne
und Augen Mofe's, lauter Geift und Feuer — im Munde
etwas Verzogenes, woran er felbft muß fchuld fein. Wir
fprachen von Fichtianismus — feiner Unheilbarkeit — von
Pvofejfov Niethammer in Jena^ der ein fehr moralifcher
Menfch fein foll. Dann von den Franken, er urteilte
äußerft vernünftig über den Extremzufiand ihres Geiftes,
wo alle Moral befeitigt wird. Er erzählte von feinem
mitgemachten Feldzug — äußerft feine pfychologifche Be^
merkungen. Der Krieg zeigt die Menfchen in der rohen
Stärke aller Leidenfchaften. Viel Edukation — Gehorfam
— Menfchenverfchiedenheit. Ich begleitete ihn noch zum
Gaflhof zum Schwert.
[529.] Oktober 23. G. Geßner.
Abends um 7 Uhr wieder im Schönenhof. Goethe
war da zum Nachteffen; er fchien nicht fehr im Trumpf
zu fein. Ich fragte ihn über Voffens Überfetzung, die
ihm nach guten Grundfätzen gemacht fchien. Über feinen
Hermann — über diefe Art der Dichtung. Am Tifch
über allerlei gefprochen. Erft nach 10 Uhr weg. Ich be^
gleitete Goethe noch bis zum Schwert.
[530.] Oktober 24. G. Geßner.
Nette fagte mir, daß Goethe mich habe befuchen
wollen; ich fchrieb ihm ein Billet.
I
262 G. Geßner. [531
[531.] Oktober 25. G. Geßner.
Ich ging zum Schwert zu Goethe. Er fprach mit mir
über Ruth*, ich täte wohl, wenn ich die erläuternde Stelle
in den Text verwöbe, was jetzt noch möglich wäre.
[532.] November 6./15. J. K. Ofterhaufen an J. B. Erhard.
Goethe war über acht Tage hier in Nürnberg. Ich
fprach ihn und fand nichts von dem Stolz, den man ihm
vorwirft. Wir fprachen von Schiller. Er fprach mit En^
thufiasmus von ihm und feinen philofophifchen Ideen und
bedauert, daß er jle nicht bekannt machte, hoffte aber,
daß er noch imftande fein würde, ihn dazu zu überreden.
— Ob die Welt viel dabei gewinnen wird, wenn fie den
Probeftücken in den Hören gleichen? — Ich fagte ihm,
daß ich bedaure, Schiller nicht perfönlich kennen gelernt
zu haben, indem er nicht zu Jena war, als ich da war,
und als er zu Nürnberg war, wo er bei Dir war, wäre
ich nicht hier gewefen. Als ich Deinen Namen nannte,
fragte er mit Lebhaftigkeit: Was macht Erhard? Ift er
hier? Das ift auch ein vortrefflicher Kopf! Ich fagte
ihm von Deiner Orts^ und Gefchäftsveränderung. Er
entgegnete: Ein fo vortrefflicher Kopf wie diefer kann
fich in alle Sättel werfen. Daß ich mir gegen Goethe
auf Deine Freundfchaft viel zugute tat, wirft Du mir nicht
verdenken. Er fagte gleich anfangs unferer Unterhaltung
zu mir: Sie finden wohl unter den Nürnberger Ärzten
wenig Unterhaltung, denn fie fcheinen fleh nicht fonder=:
lieh mit Gelehrfamkeit und Literatur abzugeben, worauf
ich mich auch expektorierte, und als wir von Dir fprachen,
fo fagte ich: Sie können die hiefigen Ärzte daraus voll^
kommen kennen lernen, wenn ich Ihnen fage, daß fie den
Doktor Erhard deswegen nicht in ihr Kollegium auf*
nahmen, weil er nicht zunftmäßig drei Jahre auf Uni::
verfitäten war.
[533.] Nov. 19./Dez. 19. Jean Paul an Chr. Otto.
Was ich Dir von Goethe verfprochen ift unbedeutend ;
er urteilt über den Hesperus günftig, fo wie ich einmal
von Ahlefeldt hörte und Dir nicht fagen wollte; ferner,
er fähe doch, daß es mir mit dem Guten ernft wäre, er
bekäme aber Gehirnkrämpfe von dem Werfen aus einer
* Eine biblifche Dichtung, an der Geßner arbeitete.
535] Weimar. 1797. 263
Wiffenfchaft in die andere — ich zeige mein Wiffen zu
fehr ; er wifle auch ein wenig, hefere aber nur das Refultat ;
wenn er über das Irdifche in den Himmel gehoben fei,
komme auf einmal wieder ein Spaß.
[534.] Spätherbft. J. Falk.
So wurden einfi auf dem Landfitze der verwitweten
Herzogin Amalie zu Tiefurt Die Ritter des Ariftophanes
durch Wieland, der fie für fein Athenäum überfetzt, vor^
gelefen. Es war im Spätherbft und Egidi vorbei. Nun
traf es fich, daß den regierenden Herzog, der eben von
der Jagd zurückkehrte, fein Weg durch Tiefurt führte.
Er kam, als die Vorlefung bereits angegangen war. Wegen
der vorgerückten Jahreszeit waren die Zimmer geheizt.
Der Herzog, der aus freier Luft kam und dem es in der
Stube zu heiß wurde, öffnete die Flügel eines Fenfters.
Einige Damen, die leicht bekleideten Achfeln in feidne
Tücher gehüllt, die diefen Fenftern zunächft faßen, be?
klagten fich kaum über den Luftzug, als auch fchon Goethe
mit bedachtfamen Schritten, um die Vorlefung auf keine
Weife zu ftören, fich dem Orte näherte, woher der Zug
kam, und die Fenfter leife wieder zufchloß. Des Herzogs
Geficht, der indes auf der andern Seite des Saales ge?
wefen war, verfinfterte fich plötzlich, als er wieder zurück?
kehrte und fah, daß man eigenmächtig feinen Befehlen
zuwiderhandelte. Wer hat die Fenfter, die ich vorhin
eröffnet, hier wieder zugemacht? fragte er die Bedienten
des Haufes, deren keiner jedoch auch nur einen Seiten?
blick auf Goethe zu tun wagte. Diefer aber trat fogleich
mit jenem ehrerbietig fchalkhaften Ernfte, wie er ihm eigen
ift, und dem oft die feinfte Ironie zu gründe liegt, vor
feinen Herrn und Freund und fagte: Ew. Durchlaucht
haben das Recht über Leben und Tod der fämtlichen
Untertanen. Über mich ergehe Urteil und Spruch!* Der
Herzog lächelte, und die Fenfter wurden nicht wieder ge?
öffnet.
[535.] Dezember 28./29. K. A. Böttiger.
Bei der Betrachtung der trefflichen Kopie der Ma?
donna della seggiola in Goethes Haufe glaubte Wieland,
fo eine weibliche Geftalt wie die Madonna fei nirgends
* Nach andrer Lesart: Aber erft nach Urteil und Spruch.
264 K. A. Böttiger. [536
in Deutfchland anzutreffen. Meyer behauptete : Wir fänden
fie überall. Goethe fetzte die Erklärung hinzu : Die Künftler
find wie die Sonntagskinder; nur fie fehen Gefpenfter.
Wenn fie aber ihre Erfcheinung erzählt haben, fo fieht
fie jedermann.
[536.] (Dezember.) A. W. v. Schlegel.
Als ich Goethen zuerft meine Überfetzung von Shake^
fpeares Romeo und Julie noch in der Handfchrift mitteilte,
hatte er große Luft, das Stück auf die Bühne zu bringen;
doch unternahm er es nicht, weil kurz zuvor eine junge
liebenswürdige Schaufpielerin, Chvißiane Becker geh. Neu^
mann, gefi:orben war, der er damals einzig einen voll^
kommenen Erfolg zutraute.
[537.] Ende d. J. H. Meyer an K. L. v. Knebel.
Beiliegend erhalten Sie -^ die Zeichnung, welche als
Titelkupfer für den Properz dienen kann. ^^ Was die
Zeichnung nun felbfi: betrifft, fo werden Sie wohl erkennen,
daß Goethes Siegelring dabei zum Mufter gedient hat.
Die Vorftellung fcheint mit dem allgemeinen Geifte in
Properz's Werken verwandt, und gleichfam anzukündigen,
was man zu erwarten hat ; deswegen hat fie uns gefchienen,
ganz fchicklich zum Titelblatt dienen zu können. '^ Wenn
die Zeichnung geftochen ift ^^ fo wünfcht Goethe folche
zu bekommen.
[538.] H. Steffens.
Das Athenäum ward fortgefetzt. ^ Befonders war
die fchneidende Kritik von Jacobis Woldemar und Alwills
Brieffammlung durch Fr. Schlegel geeignet, ein großes
Auffehen zu machen. Es fei, fagte Goethe, diefe Kritik
mit eifernen Griffeln in Metalltafeln eingefchrieben.
1798.
[539.] Februar 18./25. C. G. v. Brinckmann.
Ich hahe felbft das Glück gehabt, bei einem vier^
zehntägigen Aufenthalt in Weimar 1798 den großen Mann
beinahe täglich zu fprechen. Mit der herablaffendften Güte
unterhielt er fich öfters mit mir über feine, uns andern
542] Weimar - Jena. 1798. 265
noch unbekannte Jugendgefchichte, von Eltern und Groß:;
mutter; dann wieder von feinem Anteil an meinem Vater*;
land, wohl mit demZufatz: Ich bin überhaupt den Schweden
immer gewogen gewefen.
[540.] März Anfang. Charlotte v. Schiller.
Goethe fchiebt feine Pläne, nach Italien zu reifen,
auch auf, fo lange es noch fo übel ausfieht. Ich wollte
nur, Meyer wäre zurück. Diefer wird wahrfcheinlich
immer denken, Goethe kömmt, und fo kann fich fein
Aufenthalt doch verzögern. — Goethe ift jetzt hier, und ich
hoffe, er vollendet fein großes epifches Gedicht Achilleis
hier, was fehr fchön ift. Es ift einem oft, als hörte man
den Homer.
[541.] März 20./28. Schiller an J. F. Cotta.
Goethe und Meyer wollen ein gemeinfchaftliches
Werk über ihre Kunfterfahrungen in einer Suite von kleinen
Bändchen herausgeben [Propyläen] und diefen Verlags^
artikel kann ich Ihnen anbieten. Die Schrift wird in
kleinen Abhandlungen z. B. über den Laokoon, über die
Niobe ufw. gefchrieben fein. Auch ich werde Anteil daran
nehmen und mehrere Auffätze dazu geben. Von Zeichst
nungen wird es nicht viel enthalten. Goethe ift aber
entfchloffen, den Cellini, den er nun ganz überfetzt und
mit bedeutenden hiftorifchen Erläuterungen begleitet hat,
an die Suite diefes Werks anzuhängen. Es fragt fich nun,
ob Sie Luft dazu haben, und welche Bedingungen Sie
machen können, denn wohlfeil gibt es Goethe nicht. Auf
die nächfte Oftern 1799 gedenkt er vier kleine Oktave
bändchen, jeden etwa zu fiebenzehn Bogen, fertig zu
bringen, wobei aber noch nichts von Cellini ift.
[542.] März 20./April 6. Schiller an Ch. G. Körner.
Deine Kritik des Almanachs hat Goethen viel Ver^
gnügen gemacht, er hat fich lange damit befchäftigt. In
dem aber, was Du über den Ibykus und Polykrates fagft,
und was ich auch für gar nicht unbegründet halte, ift er
nicht Deiner Meinung und hat fich beider Gedichte nach^
drücklich gegen Dich und gegen mich felbft angenommen.
Er hält Deinen Begriff, aus dem Du fie beurteilft und
tadelft, für zu eng und will diefe Gedichte als eine neue,
die Poefie erweiternde Gattung angefehen wiffen. Die
I
266 Schiller. [545
Darfteilung von Ideen, fo wie fie hier behandelt wird,
hält er für kein Dehors der Poefie und will dergleichen
Gedichte mit denjenigen , welche abftrakte Gedanken
fymbolifieren, nicht verwechfelt wiffen, ufw. Dem fei wie
ihm wolle, wenn auch die Gattung zuläfßg ift, fo ift fie
wenigftens nicht der höchften poetifchen Wirkung fähig,
und es fcheint, daß fie deswegen etwas außerhalb der
Poefie zu Hülfe nehmen muffe; um jenes Fehlende zu
ergänzen.
[543.] Mai (20). Schiller.
Goethe ifi: feit 8 Tagen hier und wird noch wohl
einen Monat bleiben. Ein Manufkript von Humboldt
über Hermann und Dorothea, «^ befchäftigte uns indeffen
fehr, weil es die wichtigfi:en Fragen über poetifche Dinge
zur Sprache bringt.
[544.] Mai letztes Drittel. Schiller an Cotta.
Goethe fchickt Ihnen hier das Schema von dem Werk,
das er herausgeben will. Sie erfehen daraus, wie ernfi:^
lieh und bedeutend die Sache wird, und daß es eine
wichtige, auf keinen Fall riskante Unternehmung für Sie
werden muß. Eine Art von Zeitfchrift, die Goethe heraus^:
gibt, muß einfchlagen und muß Ihrem Verlag einen neuen
Glanz verfchaffen.
Die Früchte meiner Finanznegotiation mit ihm find
diefe, daß er für jedes Stück all Bogen fechzig Karolin
fich ausbedingt. Der Kontrakt kann von Ihnen auf eine
beliebige Anzahl von Stücken gefi:ellt werden, worauf man
ihn wieder erneuern oder, wenn das Werk gut geht, zu
feinem Vorteile fteigern kann. Die Summe wünfcht er
nach Ablieferung des jedesmaligen Manufkripts zu einem
ganzen Stück bezahlt zu bekommen, es ifi ihm aber ganz
eins, ob in Gold oder in Laubtalern. Die Lettern, wo;:
raus der Haupttext der Hören gedruckt ift, gefielen ihm
am heften. 24 Zeilen wünfcht er die Seite ftark, aber
das Format fo groß wie das der Hören. Alles übrige
werden Sie in feinem eigenen Schema finden. Das Werk
wird wahrfcheinlich den Titel: Der Künftler, erhalten,
und fchon dadurch einen weiten Kreis um fich ziehen. ^
Goethe ift lebhaft für die Sache intereffiert und wünfcht
bald zu wiffen, wie er daran ift.
549] Weimar - Jena. 1798. 267
[545.] Juni. Charlotte Schiller.
Emilie Gore erzählte mir, daß, als fie letzt zugleich
mit Goethe bei Hof aß, er mit Ausdruck fußen Weins
nach der Tafel vor fie trat und zu ihrer größten Ver?
wunderung fagte: Ma chere, seule, unique amie!
[546.1 Juni. Schiller an W. v. Humboldt.
Auch meint Goethe, und mit Grunde deucht mir,
daß man die Natur des Epos vollftändig aus dem Be^:
griff und den Circumstantien des Rhapfoden und feines
Publikums deduzieren könne, und daß fogar die Roheit
und die gemeine ungebildete Natur des ihn umgeben^
den Auditoriumsauf die epifche Form einen entfcheiden?
den Einfluß habe, wenigftens auf die homerifche gehabt
habe, die der Kanon für alle Epopee ift. ^
Er wollte Ihnen mit mir fchreiben, hat aber in Wei:;
mar zu tun bekommen. Ihre Schrift hat ihn, wie Sie leicht
denken können, fehr angenehm gerührt.
[547.] Auguft erfte Hälfte. Schiller.
Ich habe Goethen diefer Tage die zwei letzten Akte
des Wallenfteins gelefen, foweit fie jetzt fertig find, und
den feltenen Genuß gehabt, ihn fehr lebhaft zu bewegen,
und das ift bei ihm nur durch die Güte der Form mög?
lieh, da er für das Pathetifche des Stoffes nicht leicht emp^
fänglich ift.
[548.] Um Jahresmitte. K. A. Böttiger.
Klarheit ift jetzt das Lieblingswort von Goethe.
[549.] Auguft Ende. Jean Paul an Chr. Otto.
Apropos! ich war auch bei Goethe, der mich mit
ganz ftärkerer Verbindlichkeit und Freundlichkeit aufnahm,
als das erftemal. Ich war dafür freier, kühner und weniger
voll Liebe, und darum in mich gegründeter. Er fragte
mich nach der Art meiner Arbeiten, weil es völlig feinen
Kreis überfchritte ; wie mir Fichte gefallen. Über letzteren:
Er ift der größte neuere Scholaftiker — zum Poeten wird
man geboren, aber zum Philofophen kann man fleh machen,
wenn man irgend eine Idee zur transfzendenten, fixen macht.
— Die Neueren machen das Licht zum Gegenftand, den
es doch nur zeigen foU. — Er wird nach vier Monaten
I
268 Jean Paul. [550
den Faufi vollenden; er fagt: Er könne fechs Monate
feine Arbeit vorausfagen, weil er fich zu einer folchen
Stimmung durch gefchickte leibliche Diätetik vorbereite.
[550.] September. Jean Paul an Chr. Otto.
Mit Goethe ftritt ich für Deinen Satz der Wehfort;^
fchreitung; Umfchreitung muffen wir fagen, fagt er. —
A priori folgt's aus der Vorfehung, aber nicht in jedem
a posteriori ift der Fortfehritt zu zeigen, wenigftens nicht
in den gallifchen Fortfehritten. — Auch die gelefene Wahrst
heit muß man hinterher erft felber erfinden. Die Gehirn?
höhlen find voll Samen, für welchen das Gefühl erft die
Blumenerde und die Treibfeherben bildet.
[551,] September Ende. Schiller an Körner.
Goethe hat mir keine Ruhe gelaffen, bis ich ihm
meinen Prolog zu Eröffnung der theatralifchen Winter?
vorftellungen und eines renovierten Theatergebäudes über?
Heß. -
Das Stück Wallenflein felbft habe ich nun, nach rei?
fer Überlegung und vielen Konferenzen mit Goethe, in
zwei Stücke getrennt.
[552.] September Ende. Charlotte v. Schiller.
Es ift erftaunend, welchen Einfluß feine Nähe auf
Schillers Gemüt hat, und wie belebend für ihn die hau?
fige Kommunikation feiner Ideen mit Goethe ift; er ift
ganz anders, wenn er auch nur in Weimar ift. Mir felbft
ift Goethe auch fehr lieb, aber er wird mir noch lieber
um Schillers willen. Goethe ift auch hier viel anders;
es ift recht eigen, welchen Eindruck der Ort auf ihn macht,
in Weimar ift er gleich fteif und zurückgezogen; hätte
ich ihn hier nicht kennen lernen, fo wäre mir viel von
ihm entgangen und gar nicht klar geworden. Ich glaube
doch, daß auf diefe Stimmung die häuslichen, zu der
Welt in Weimar nicht paffenden Verhältniffe am meiften
Einfluß haben, hier fällt die ftrenge Beurteilung weg, und
dies macht ihm feine Exiftenz freier in der Idee.
[553.] Oktober. Caroline Schlegel an F. Schlegel.
Wilhelm blieb in Weimar zurück, um Goethen zu
fprechen, und der ift fehr wohl zu fprechen gewefen, in
der heften Laune über das Athenäum und ganz in der
554] Jena. 1798. 269
gehörigen über Ihren Aufsatz über Wilhelm Meifter, denn
er hat nicht bloß den Ernft, er hat auch die belobte Iro?
nie darin gefaßt, und ift doch (ehr damit zufrieden und
ficht der Fortfetzung freundlichft entgegen. Erft hat er
gefagt, es wäre recht gut, recht charmant, und nach diefer
bei ihm gebräuchlichen Art vom Wetter zu reden, hat er
auch warm die Weife gebilligt, wie Sie es behandelt, daß
Sie immer auf den Bau des Ganzen gegangen und fich
nicht bei pathologifcher Zergliederung der einzelnen Cha?
raktere aufgehalten, dann hat er gezeigt, daß er es tüchtig
gelefen, indem er viele Ausdrücke wiederholt und befon?
ders eben die ironifchen. ^ Er hat Wilhelm mit Grüßen
für Sie beladen und läßt vielmals um Entfchuldigung bitten
wegen des Nichtfehreibens, eine Sache, die wirklich aus
der Gefchäftigkeit des letzten Vierteljahrs ^ zu erklären
ift. An Wilhelm hat er den ganzen Brief fchon fertig
diktiert und doch nicht abgefchickt. Auch von Ihrem
Auffafz im 2. Hefte des Athenäums über das Studium der
griechifchen Poefie hat er gefprochen; bei manchen Stellen
hätte er eine mündliche Unterredung und Erläuterung da:«
zu gewünfcht, um etwa ein längeres und breiteres Licht
zu erhalten. Gelefen hat er auch redlich; das kann man
ihm nicht anders nachrühmen. Die Fragmente im felben
Hefte des Athenäums haben ihn ungemein intereffiert; Ihr
hättet Euch in Kriegsftand gefetzt, aber er hat keine ein^s
zige Einwendung dagegen gemacht; nur gemeint, es wäre
eine allzu fiarke Ausgabe (die Verfchwendung wäre doch
zu groß, war der pivot feines allgemeinen Urteils)* und
es hätte follen geteilt werden. Wilhelm hat ihm geants^
wortet, in einem Strich ließe fich's freilich nicht lefen; da
hat er fo etwas gemurmelt, als: das hätte er denn doch
nicht laffen können; es wäre denn doch fo anziehend.
[554.J Oktober. Caroline Schlegel an F. Schlegel.
Tieck muß fich nun ebenfowenig über Goethens
Schweigen fkandalifieren als Sie, denn er bittet auch ihn
um Nachficht. Und ich will Ihnen auch fein Urteil über
den erften Teil von Sternbald wiedergeben; Sie überant^
Worten es Tieck. Man könnte es fo eigentlich eher mufikas:
lifche Wanderungen nennen, wegen der vielen mufika*
lifchen Empfindungen und Anregungen (die Worte find
* Die Farenthefe ift Zufatz W. Schlegels.
270 Caroline Schlegel. [555
übrigens von mir), es wäre alles darin, außer der Maler.
Sollte es ein Künftlerroman fein, fo müßte doch noch ganz
viel anders von der Kunft darin fiehn, er vermißt da den
rechten Gehalt und das Künftlerifche käme als eine falfche
Tendenz heraus. Gelefen hat er es aber, und zweimal,
und lobt es dann auch wieder fehr. Es wären viel hübfche
Sonnenaufgänge darin, hat er gefagt (an * denen man fähe,
daß fich das Auge des Dichters wirklich recht eigentlich
an den Farben gelabt, nur kämen fie zu oft wieder).
[555.] Oktober. A. Genaft.
Goethes Tätigkeit bei der Infzenierung war unermüd^
lieh. Hofrat Meyer mußte alle möglichen Holzfchnitte,
welche Szenen aus dem Lagerleben des 30 jährigen Krieges
darftellten, herbeifchaffen, um die Gruppen auf der Bühne
danach zu ftellen ; fogar eine alte Ofenplatte, worauf eine
Lagerfzene aus dem 17. Jahrhundert fich befand, wurde
einem Kneipenwirt in Jena zu diefem Zweck entführt.
Goethe leitete das Studium der Schaufpieler und fiattete
an Schiller (nach Jena) genauen Bericht ab ; bis zur letz?
ten Probe veränderte Schiller noch diefes und jenes. Mir
war der Dragoner zugeteilt worden. Eines Tages jedoch
ließ mich Goethe zu fich rufen und teilte mir mit, daß Schiller
gefonnen fei, noch einen Kapuziner in das Lagerleben, hin;;
einzubringen, der den Soldaten predigen follte ; da Schiller
dabei um Rat frage, fo habe er ihm einen Band des Abra?
ham a Sancta Clara gefandt und mich zum Darfteller der
draftifchen Figur, welche der Kapuziner abgeben würde,
vorgefchlagen. Da Ihr, fagte er, viel mit folchen Kutten?
männern in Berührung gekommen feid, fo werdet Ihr ge?
wiß den Ton treffen, der zu einem folchen Feldpfaffen
gehört. Schickt Euren Dragoner in meinem Namen an
Benda. ^^
Meinem Kollegen Becker hatte Goethe den zweiten
Holkfchen Jäger zugeteilt. Obgleich Becker von Anfang
an mit diefer untergeordneten Rolle fehr unzufrieden war
und weit lieber den Wachtmeifter gefpielt hätte, getraute
er fich doch nicht, die Annahme desfelben zu verweigern,
folange ich in Befitz einer ähnlichen war; kaum hörte er
aber von dem mir übertragenen Kapuziner, fo erklärte er
mir auch fchon, daß er den Jäger nicht fpielen würde und
Zufatz von Schlegels Hand.
559] Weimar. 1798. 271
beauftragte mich als fungierenden Wöchner, dies dem
Herrn Geheimen Rat zu melden. Mir ward nicht wohl
bei der Kommiffion, und ich kleidete fie wenigftens in
die etwas gefälligere Form einer Bitte meines Kollegen.
Nichts deftoweniger geriet Goethe in den heftigfien Zorn,
beftand darauf, daß Becker die Rolle fpielen muffe und
fetzte hinzu: Sagen Sie dem Herrn Becker: wenn er fich
dennoch weigern follte, fo würde ich die Rolle felber
fpielen. Becker weigerte fich aber nicht mehr.
[556.] Oktober. A. Genaft.
Bei diefer Vorfiellung von Wallenfleins Lager war es,
wo nach Goethes Befehl auf dem Komödienzettel zum
erftenmal die Herren, Madames und Demoifelles vor den
Namen der Mitglieder wegfielen. Ich fragte Goethe um
den Grund diefer Anordnung; er meinte: Der Name des
Künftlers fei genügend, Herren und Madames gab' es fehr
viele in der Welt, aber Künftler fehr wenig.
[557.] Oktober Ende. Schiller an Ch. G. Körner.
Du kannft, wenn die Allgemeine Zeitung von Poffelt
in Dresden zu haben ift, das Nähere über diefe Wallen?
fteinfchen Repräfentationen in Weimar gedruckt lefen;
denn Goethe hat fich den Spaß gemacht, diefe Relationen
felbfi: zu machen, daß er fie Böttiger aus den Zähnen
reiße. ^^
Für das befte im Almanach halte ich aber, und Goethe
auch, den Prolog zum Wallenftein. ^^ Wir freuen uns
auf Deinen kritifchen Brief über den Almanach. Sieh,
daß Du ihn bald fchickfi:. Goethe ifi: auch recht begierig
danach.
[558.1 (Oktober.) Jean Paul.
Die Sängerin Maticzek erzählte mir, daß fie Goethen
gefragt, wie fie mich zu empfangen habe, und fie wolle
mir trillernd entgegentanzen. Kind, mach's wie bei mir
und fei natürlich! fagt' er.
[559.] November. Schiller an J. F. Cotta.
Goethe hat an feinem Fauft noch viel Arbeit, eh' er
fertig wird. Ich bin oft hinter ihm her, ihn zu beendigen
und feine Abficht ift wenigftens, daß diefes nächften Som^^
mer gefchehen foll. Es wird freifich eine koftbare Unter?
I
272 Schiller. [560
nehmung fein. Das Werk ift weitläufig, 20 — 30 Bogen
gewiß, es follen Kupfer dazu kommen, und er rechnet
auf ein derbes Honorar. ^ Es wird gar keine Frage fein,
daß er Ihnen das Werk in Verlag gibt, wenn Ihnen die
Bedingungen recht find, denn er meint es fehr gut mit
Ihnen.
1799.
[560.] (Anfang des Jahres.) K. A. Böttiger.
Goethe äußert gegen Wieland, daß die urfprüngliche
einzige vis comica in den Obfzönitäten und Anfpielungen
auf Gefchlechtsverhältniffe liege und von der Komödie
gar nicht entfernt gedacht werden könne.
[561.] Anfang des Jahres. K. A. Böttiger.
Ich fahre mit Bertuch nach Belvedere. ^ Im Wagen:
Goethe will eine Biographie des Tigers fchreiben, deffen
gefrornen Kadaver der Herzog aus Nürnberg bekommen
hat. Loder, der immer gefchäftige Handlanger Goethes
^ wird anatomifche Vorlefungen öffentlich über den Tu
ger halten.
[562.] Januar 16. K. A. Böttiger.
Nach Tifche wird die Aldobrandinifche Hochzeit auf^
gezogen, unter fchöner Beleuchtung von dem, gegenüber
auf den Dächern liegenden Schnee. Goethe äußert da?
bei die Mutmaßung, daß vielleicht der Maler, der eine
etwas frechluftige Kompofition machen wollte, die Haupt?
figuren der pronuba und der nova nupta nach einem Ge?
mälde des Echion, das Plinius (XXXV, 10) nova nupta,
verecundia notabilis nennt, kopiert, das andere aber aus
verfchiedenen Stücken komponiert habe. ^^
Goethes Witz über Gerning: er nehme die Königin?
nen nicht in acht. Die fyrakufanifche Königin Philiftis
fei ihm abhanden gekommen.
[563.] Januar 16. Jean Paul.
Als ich zu einem Diner bei Goethe geladen war,
Schiller zu Ehren, nebft Herder — der ihm aber nicht
ein ölblatt, gefchweige einen Ölzweig des Friedens, den
Goethe gern fchlöffe, reichte — wurd' ich und Herder zu
567] Weimar. 1799. 273
Goethes Einfaffung gemacht: ich der Hnke Rahmen, und
er der rechte. Hier fagte mir Goethe, der nur allmäh;:
lieh warm werden will — fo ift er gegen Schiller fo kalt,
wie gegen jeden — : er habe feinen Werther zehn Jahre
nach deffen Schöpfung nicht gelefen, und fo alles. Wer
wird fich gern eines vorübergegangenen Affekts, des Zorns,
der Liebe ufw. erinnern?
[564.] Januar 21. Jean Paul.
Noch in keinem Jahre ftritt und trank ich fo viel; mit
Schiller neulich bis um 12 Uhr nachts und mit ihm und
Goethe bei der Kalb. ^ Goethen fagt' ich etwas über das
hiefigeTragifche,* worüber er empfindlich eine Viertelftunde
den Teller drehte. Aber Wieland <^ fagte : fo wär's recht und
ich gewänne ihn dadurch; wir würden noch die heften
Freunde werden; Goef/iehatmitRefpektvon mirgefprochen.
[565.] Januar 30. H. Steffens.
Piccolomini war das erfte große Stück, welches ich
in Weimar fah. '^ Nun <^ faß Schiller felbft neben mir
und war mit allem nicht allein zufrieden, fondern über?
aus glücklich. ~ Selbft Goethe, der ab und zu in die Loge
hineintrat, fehlen mit der Aufführung fehr zufrieden, ob?
gleich er fich nicht enthufiaftifch äußerte, wie Schiller.
[566.] (Januar.) K. A. Böttiger.
Goethe erklärt fich ßark gegen die, welche Weimars
Gemeinvorteil verraten. — Wieland fagte einfi zu ihm:
Aber wie könnte ich mich nur fo ekelhaft loben laffen,
Herr Bruder, wie es die Schlegel tun? Antwort: Man
muß fich das ebenfo gefallen laffen, als wenn man aus
vollem Hälfe getadelt wird. — Wieland mißbilligt Mac?
donald's blinden Eifer gegen die Kantifche Philofophie.
^ Fichte brandert es fchon, fagte Goethe, darum fchreit
er fchon vom Scheiterhaufen.
[567.] (Februar/März.) H. Steffens.
Nachdem Steffens erzählt, daß er fich beim erften Zufammen*
treffen mit Goethen von diefem fiir zurückgefetzt gehalten und
darauf fchroff abgewehrt habe, mit ihm wieder zufammengebracht
zu werden, fährt er fort:
Die FamiUe des berühmten Anatomen Loder gehörte
auch zu denen, die mich freundlich aufgenommen hatten.
* Böttiger, alles lobend, lobte mich auch darüber: ,wir den*
ken alle dasfelbe, aber es hat's ihm noch keiner gefagt.' (J. P.)
I 18
274 H. Steffens. [567
Sein Geburtstag nahete und man wünfchte diefen Tag
durch ein Schaufpiel zu feiern; man wählte den Schaum
fpieler wider Willen, und meine große Beweglichkeit er^
weckte die Vermutung, daß ich wohl fähig wäre, die
Hauptrolle zu übernehmen. ^ Die Hauptrolle enthält be^^
kanntlich eine Menge deklamatorifcher Stellen aus ver:^
fchiedenen Dramen. ^^ Ich vertaufchte fie mit übertrieben
deklamatorifchen Stellen aus Iff landfchen und Schillerfchen
Stücken. ^^ Die Tage der Proben gingen vorüber; wir
waren zur Generalprobe verfammeltl da trat auf einmal
Goethe herein. Er hatte freundlich, wie er bei folchen
Gelegenheiten immer war, verfprochen, die Generalprobe
zu leiten; mir hatte man es verborgen gehalten. Nach?
dem er die Frauen begrüßt hatte, ging er auf mich zu,
fprach mich freundlich und gütig als einen Bekannten an.
Ich habe, fagte er, lange erwartet, Sie einmal in Weimar
bei mir zu fehen: ich habe Vieles mit Ihnen zu fprechen,
Ihnen Vieles mitzuteilen. Wenn diefe Tage verfloffen find,
werden Sie mich, wie ich hoffe, begleiten. Wer war glück?
lieber, wie ich. Es war mir, als wäre ich jetzt erft heimifch
geworden in Jena. Ich jubelte, und der frohe Jubel einer
übermütigen Stimmung ergoß fich in mein Spiel. Hier
und da gab Goethe einen guten Rat, und mir fchwebten
auf eine wunderbar heitere Weife die dramatifchen Auf?
tritte in Wilhelm Meifter vor der Seele, die fich nun hier
durch den großen Verfaffer zu verwirklichen fchienen. Als
ich die Stellen aus den Schillerfchen Stücken deklamiert
hatte, trat Goethe freundlich auf mich zu. Wählen Sie
doch, fagte er, andere Stücke ; unfern guten Freund Schiller
wollen wir doch lieber aus dem Spiele laffen. Es war
feltfam, daß weder ich noch die Mitfpieler etwas An?
fiößiges bei diefer Wahl gefunden hatten. ^^ Indeffen
erbot ich mich auf der Stelle, Kotzebue zu wählen ftatt
Schiller.
Den Tag daraufhielt, der Verabredung gemäß, Goethe
vor meiner Wohnung; ich eilte mit meinem Mantelfack
hinunter und fuhr nun an Goethes Seite nach Weimar.
Ich war dort einige Tage fein Gafi. ^
Goethe war im höchfien Grade mitteilfam; es war
ihm darum zu tun, junge Naturforfcher für feine An?
fichten zu gewinnen. Die paar Tage verfloffen in einer
beftändig fortdauernden naturwiffenfchaftlichen Unterhai?
tung. ^ Das tiefe Naturgefühl, die lebendige fchöpferifche
571] Jena - Weimar. 1799. 275
Macht, die durch alle feine Gedichte hindurchging, über
alle feine Darftellungen ein helles Licht ergoß, rang nach
Bewußtfein; Pflanzen und Tiere und das allbelebende
Licht, welches, als ein Ding unter den andern Dingen,
zufammengefetzt wäre, fich in Farben verteilen ließ, und
fo nur in ein äußeres Verhältnis zu allem Lebendigen
treten konnte, erfchienen hier zwar in bewußter Einheit, aber
ein tiefer geiftiger Inftinkt faßte fie dennoch zufammen.
[568.] April (15). Jean Paul.
Goethe und Schiller waren das letzte Mal ganz frofiig
gegen mich; bloß — wie man dort bei Tee fagte — weil
ich an der Herderfchen Metakritik fchuld fein und fogar
Hand darin haben foll, und Schiller hofft, unfere (Herders
und meine) Freundfchaft werde dadurch brechen.
[569.] (April 16.) Caroline Schegel an A. W. Schlegel.
Auf die leere Seite will ich gleich noch etwas Amü*:
fantes fetzen, das uns Schelling diefen Mittag zum Beften
gab, wie ihm Goethe einmal befchrieben, daß er mit Jean
Paul einen ganzen Abend Schach gefpielt, figürlich. Der
hat nämlich ein Urteil über ihn und feine Gattung her^;
auslocken wollen und ihn nach Goethes Ausdruck auf den
Seh— dr— führen, hat einen Zug um den andern getan, von
Yorik, von Hippel, von dem ganzen humoriftifchen Affen::
gefchlecht — Goethe immer neben aus. Nun, Du mußt
Dir das felbft mit den gehörigen Fratzen ausführen, wie
Jean Paul zuletzt in die höchfte Pein geraten ift und fich
fchachmatt hat nach Haufe begeben. Einen durchtriebnem
Schalk gibt es auf Erden nicht, wie den Goethe, und das;
bei das frömmfte Herz mit feinen Freunden.
[570.J L. V. Wolzogen.
Der Dichter Jean Paul verfchmähte '^ die Genüffe
des Lebens fo wenig, daß ich ihn öfters in ziemlich be^:
nebeltem Zuftande nach Haufe zu bringen die Freude
hatte. Goethe verglich ihn in folchen Momenten mit einem
Salamander, womit feine damalige hagere Geftalt vortreff;:
lieh bezeichnet war.
[571.] Mai Anfang. Schiller an Ch. G. Körner.
Könnteft Du Dich entfchließen , die Anzeige des
dritten Stücks für die Allgemeine Zeitung aufzufetzen, fo
I 18*
276 Schiller. [572
würdeft Du Goethen und mir einen großen Gefallen er#
zeigen, denn diefe Arbeit liegt fowohl ihm, als mir jetzt
außer dem Wege, und fie muß doch getan fein. Du kannft
Dich darin nach der Anzeige der Piccolomini in eben
diefer Zeitung, die G. und ich in Gemeinfchaft, obgleich
etwas eilfertig aufgefetzt, richten. ^^ Goethe hat (ich jetzt
Equipage angefchafft und fährt mich alle Tage fpazieren.
[572.] Mai zweite Hälfte. Schiller an J. F. Unger.
Zu Ihrer Sammlung von Romanen werde ich gern
meinen Beitrag geben, fobald fich Stoff und Stimmung
zu einer folchen Arbeit bei mir findet und habe daher
auch nichts dagegen, wenn Sie mich unter der Zahl derer,
die dazu beitragen wollen, nennen. Ein Gleiches trägt
Goethe mir auf, Ihnen zu verfichern.
■^ Goethe fagte mir diefer Tage, daß Sie ihn an
einen neuen Band feiner Schriften erinnert hätten. Ich
weiß nicht, ob er jetzt etwas Neues für diefe Sammlung
hat, ich habe ihm aber fchon längft angelegen, die kleinen
Gedichte, Elegien, Idyllen, Epigramme, Balladen, Lieder
ufw., die er in den letzten 8 Jahren gemacht hat und in
Almanachen und Journalen zerfireut hat drucken laffen,
in einen Band, etwa den fiebenten feiner Werke zu fammeln.
[573.] (April/Mai.) H. Steffens.
Ich reifte über Weimar, ich befuchte Goethe, der mich
mit ermunternden Worten entließ, obgleich ich einige
Verlegenheit in feinem Benehmen zu fpüren glaubte. Er
fehlen mit der Rolle, die ich in der Fichtefchen Sache
gefpielt hatte, nicht unbekannt zu fein.
[574.] (Mai.) Schiller an J. F. Cotta.
Mit Goethen habe ich der Propyläen wegen Kon^
ferenzen gehalten und es ift auf meinen Rat gefchehen,
daß er diefes Journal für ein mäßiges Honorar, in einer
kleinen Auflage und nach längeren Zwifchenzeiten noch
eine Zeitlang fortfetzen will.
[575.] Juni (8.) Nach Steinfchen Papieren.
Da Charlotte v. Stein bei einem Tee vor ihrer Woh?
nung, an welchem Herr v. Haren, Graf Dumanoir, der
wunderliche Gerning von Frankfurt u. a. teilnahmen, gess
578] Weimar - Jena. 1799. 277
rade Goethe vorübergehen fah, ließ fie auch diefen ein^
laden, dem aber, wir wiffen nicht weshalb, dabei nicht
wohl zumute war. Karl v. Stein, der gern ins Draftifche
ausmalt, fchreibt: Dies — die Einladung — war ihm un?:
heimlich; er fetzte fich, fprach nichts und machte ein ent^
fetzlich verdrießliches Geficht. Haben Sie Nachricht, Frau
V. Stein, von dem Herrn Kriegsrat aus Breslau? war alles,
was er unaufgefordert an Diskurs hervorgehen ließ.
[576.] Juli 21. Sophie von La Roche.
Nachher kam Goethe freundlich die Mittagsfuppe mit
uns zu teilen — mir war äußerft fchätzbar, ihn und Wies^
land wie zwei verbündete Genies, ohne Prunk oder Er::
Wartung, mit dem traulichen Du der großen Alten fprechen
zu hören, und der Zufall gab heute wieder meiner Phan^;
tafie den eignen, gewiß nie wieder kommenden Anblick,
beide auf dem fchönen heitern Gange vor Wielands Wohn^:
Zimmer zu treffen, als Goethe, mit lebhaftem Vergnügen
von dem foeben gemachten Ankauf eines ländlichen Ruhe?
fitzes fprach. ^^ Nach Tifche bedauerte Goethe, daß die
Gegenden um Weimar fo wenig Erdbeeren und Kirfchen
tragen. ^
[577.] September (23). Nach L. Tieck.
Den Zerbino lernte Goethe kennen. Er fchenkte den
ernften Charakteren und den lyrifchen Partien vollen Bei? ^
fall und forderte Tieck auf, diefe zufammen zuziehen und
zu einem Ganzen abzurunden, welches alsdann auf der
weimarifchen Bühne dargefiellt werden follte. Obgleich
es Goethe war, von dem diefer Vorfchlag ausging, konnte
fich Tieck doch nicht entfchließen , darein zu willigen.
Beide Teile, der fatirifche wie der dichterifche, gehörten
unmittelbar zufammen, fie gewännen erfi: durch einander
ihre Bedeutung. Ein Streichen des einen Teils würde
einem Zerftören des Ganzen gleichgekommen fein.
[578.] November 14. Dorothea Schlegel an F. Schleiermacher. )^ \
Geftern Mittag bin ich mit Schlegels, Caroline, Schelling,
Hardenberg und einem Bruder von ihm, dem Leutnant
Hardenberg, im Paradiefe (fo heißt ein Spaziergang hier) ^
— wer erfcheint plötzlich vom Gebirg herab? Kein andrer /
als die alte göttliche Exzellenz, Goethe felbft. Er fieht
die große Gefellfchaft und weicht etwas aus, wir machen
I
278 Dorothea Schlegel. [579
ein gefchicktes Manöver, die Hälfte der Gefellfchaft zieht
fich zurück, und Schlegels gehn ihm mit mir grade ent^
gegen. Wilhelm führt mich '^ Wilhelm ftellt mich vor,
er macht mir ein auszeichnend Kompliment, dreht ordent^
licherweife mit uns um und geht wieder zurück und noch
einmal herauf mit uns und ift freundlich und lieblich
und ungezwungen und aufmerkfam gegen Ihre gehorfame
Dienerin. Erft wollte ich nicht fprechen. Da es aber gar
nicht zum Gefpräch zwifchen ihm und Wilhelm kommen
wollte, fo dachte ich, hol der Teufel die Befcheidenheit,
wenn er fich ennuyiert, fo habe ich unwiederbringlich ver*
lorenl Ich fragte ihn alfo gleich etwas, über die reißen^:
den Ströme in der Saale, er unterrichtete mich, und fo
ging es lebhaft weiter.
[579.] Nov. Mitte/ Dez. Anf. Dorothea Schlegel an F. Schleiermacher.
Friedrich ^^ entbietet Ihnen feinen Gruß: Europa
und der Widerborft werden beiderfeits nicht im Athenäum
gedruckt] Dem Himmel fei es taufendmal und noch
taufendmal gedankt. Ich war gleich von vornherein fehr
dagegen, aber das war eine Stimme in der Wüfte. End^;
lieh wollte es Wilhelm nicht ohne eine Note, die wollte
Schelling nicht, Goethe ward zum Schiedsrichter genommen
und der hat es ganz und gar verworfen. Vivat Goethe!
Der ift übrigens nebft Schiller nach Weimar gereift, kommt
aber in acht Wochen wieder und hat gefagt, nun fie ihm
fo öffentlich und geradezu als Haupt einer Partei aus^
fchrien, wollte er fich auch auf eine honette Weife als
ein folches zeigen. Ein Gedicht, das Wilhelm gemacht
hat und das ihm fehr gefiel, hat er mit nach Weimar ge?
nommen, um es anonym den Schlegels Feinden vorzu^
lefen und den Eindruck zu bemerken, den es machen
wird. Tieck hat ihm in zwei Abenden feine heilige Geno::
veva vorlefen muffen, von der er überaus viel Gutes ges:
fagt hat. Von Ihnen hat er gefagt: Sie gehörten fehr
zum Berge, nämlich zu Schlegels.
[580.] Dezember 5./6. Nach L. Tieck.
Tieck hatte die Genoveva vollendet und fie denFreunden
mitgeteilt; jetzt kam die Gelegenheit, das Gedicht auch
ihm vorzulefen. Goethe wohnte auf dem Schlöffe in Jena:
Da der erfte Abend nicht ausreichte, fo konnte die Vor::
lefung erft am folgenden beendet werden. Aufmerkfam
582] Jena - Weimar. 1800. 279
und teilnehmend war Goethe ihr gefolgt; er fprach fich
wohlwollend und anerkennend aus. Dann wandte er fich
zu feinem neunjährigen Sohne, der am zweiten Abend
zugegen war. Indem er ihm mit der Hand über das
Haar hinftrich, fagte er: Nun, mein Söhnchen, was meinft
Du denn zu allen den Farben, Blumen, Spiegeln und
Zauberkünften, von denen unfer Freund uns vorgelefen
hat? Ift das nicht recht wunderbar? — Einige Ein?
Wendungen, welche Goethe machte, wurden fpäter berück?
fichtigt.
[581.] Dezember 4./7. Nach L. Tieck.
Tieck erzählte Goethen von feinen Studien des Shake?
fpeare und deffen Zeitgenoffen. Dies führte auf Ben Jonfon.
Er fchilderte deffen durchgehenden Gegenfatz gegen Shake?
fpeare und endete mit der Frage, ob Goethe nicht einen
Verfuch mit dem fonderbaren Schriftfteller machen wolle.
Da Goethe bereitwillig darauf einging, fchlug er ihm den
Volpone vor und überbrachte ihm die Folioausgabe. Als
er ihn nach einiger Zeit wieder befuchte, hatte Goethe
das empfohlene Drama foeben durchgelefen. Das Buch
lag noch vor ihm. Hören Sie, verehrter Freund I rief er
ihm heften Humors entgegen, indem er mit der Hand
auf den Deckel des Buches fchlug, das ift ja ein ganz ver?
fluchter Kerl! Ein wahrer Teufelskerl! Tieck fprach feine
Freude aus, daß feine Empfehlung fich bewährt habe. Ja,
das ift ein Schwerenotskerl! fuhr Goethe mit derfelben
Handbewegung fort, was hat der für Kniffe im Kopfe!
Auf die Frage, ob er nicht noch einiges andere lefen
wolle, um ihn ganz kennen zu lernen, antwortete er ab?
wehrend: Nein, verehrter Freund, nun ift es genug!
Nichts weiter! Ich kenne ihn jetzt, und das reicht hin.
1800.
[582.] Anfang d. J. B. R. Abeken.
Ich fah Goethe zum erften Male im Anfang des Jahres
1800, im Weimarifchen Theater, wo der Wallenftein ge?
fpielt wurde. ^^ Schiller ftand während jener Vorftellung
des Wallenftein in einer Loge, Goethe faß im Parterre
dicht hinter mir in einem bequemen Seffel, von dem aus
er damals die Vorftellungen beherrfchte. Hundertmal
I
280 B. R. Abeken. [583
wandte ich mich um, das herrhche Geficht, diefe gewaltigen
Augen zu fehen. Manches von ihm an feinen Nachbar
gerichtete Wort vernahm ich, und ein fehr lobendes über
das Schaufpiel, das ich vor Augen hatte. Dann begegnete
mir Goethe manchmal in Jena, wo er auch, nachdem
Schiller fich in Weimar niedergelaffen, oft verweilte. Er
war damals ftark, mehrere Jahre fpäter hatte er eine beffere
Proportion; noch trug er das Haar in einen ftarken, den
ganzen Rücken hinabhängenden Zopf gewunden.
[583.] Januar. K. L. v. Knebel an Caroline Herder.
Daß Sie von Mahomet nicht fehr erbaut waren, kann
ich mir faft denken. Goethe fcheint es felbft nicht über^
all zu erwarten, und meint, er habe doch jedem fein Teil
gehörig gefagt, woraus er fich was nehmen könne.
[584.] Februar, gegen Mitte. K. A. Böttiger an F. Rochlitz.
Rochlitz hatte verlangt, fein Luftfpiel : Es ift die Rechte nicht,
foUe ohne den Namen des Verfaffers aufgeführt werden, was
nicht berückfichtigt wurde. Goethe hatte darüber geäußert:
Der Verfaffer habe nicht Urfache fich zu verbergen;
das Stück werde gewiß gefallen.
[585.] (Februar 26.) und fpäter W. G. Gotthardi.
Ein glückliches Ohngefähr wollte es, daß ich die
perfönliche Bekanntfchaft diefes Goethe zu machen ge^
würdigt wurde.
Ja, nicht bloß unzähligemal hab ich ihn gefehen außer
und in dem Theater: — er machte mich zu feinem kleinen
Freund, wie . er mich zuweilen fcherzend nannte. Sie
vermittelte fich, diefe Freundfchaft, als ich eines fchönen
Abends in eben demfelben Theater, wo ich außer dem
Rochus Pumpernickel auch manche andere heitere und ernfi:e
Stücke aufführen fah, und von derfelben breiten einfach
bretternen Brüftung der Loge des alten Herrn, auf welcher
ich in der erftgenannten Poffe zum erftenmal gefeffen hatte,
wohlgemut und fpannungsvoll auf die Bretter da vorn
lugte, welche die Welt bedeuten. Es wurde, um diplo?
matifch zu erzählen, die Salierifche Oper Tarare (Axur,
Text von Beaumarchais) gegeben. Da, als der zweite
Akt begonnen hatte, die Jagemann (Aftafia) in ihrem
großen verzweiflungsvollen Rezitativ begriffen war und
586] Weimar - Leipzig. 1800. 281
mir Tränen jammervollen Mitleids über ihr fchreckliches
Los abzwang, — da plötzlich knarrt die Logentür in den
Angeln und öffnet fich ^ Goethe trat in die Loge. In
fo nahen Gefichtskreis war der Geheimrat mir noch nie
gekommen. ^ Goethe erblicken und zitternd zum Sprung
herunter mich anfchicken war Eins. — Da erfaßt meinen
Arm eine ftarke Hand — die feine. Entfetzen erfaßt mich.
Bleib getroft, mein Sohn! Wir beide haben Raum ge^^
nug. Wer wird den andern ohne Not verdrängen? tönt
— noch heute hör' ich fie — alsbald eine volle ruhige
Stimme mir ins Ohr — die feine. ^ Und als ich mich
jäh umwandte, ruhete fein großes, dunkles, wundervolles
Auge liebreich und warm auf dem bepurpurten Antlitz
des bewegten Knaben. Den Blick werde ich nie ver?
geffen, nie jene Worte; keine hab ich fefter behalten wie
fie. ^ Er reichte mir fein Textbuch zum Mitnachlefen
und bald entfpann fich eine Unterhaltung, in deren Ver^^
lauf er, der große Menfch, dem kleinen feine winzig
kleine Lebensgefchichte anteilvoll entlockte, f^ Wer war
glücklicher, als der Knabe? Und noch oft nahm er den
Platz ein, noch oft in unmittelbarer Nähe des Eigners,
der ihn, neben fi:eter freundlicher Anfprache mit Ers^
kundigung nach den Fortfehritten in den Schulwiffen?
fchaften, auch materiell mit manch Stücklein Kuchen, hin
und wieder auch einem Glas Wein aus feinem Flafchen?
korb erquickte. Denn Goethe liebte es, zuweilen einen
kleinen Vorrat kalter Speife und Weins in feiner Loge
bereit zu halten, mehr für andere, deren — Einheimifche
und Fremde von Bedeutung — er nicht feiten auch dort
empfing.
[586.] Mai 7. Nach G. Hermann.
Bei dem allgemeinen Auffchwung der poetifchen Tä^
tigkeit machte fich damals das Streben geltend, auch in
der Vollendung der Form fich den Muftern des Alter?
tums zu nähern; wie willkommen mußte ein Werk wie
die Metrik fein. Befonders Goethe, der damals mit der
Achilleis und der Helena befchäftigt war und genauer in
das Wefen der antiken Versmaße einzudringen fi:rebte,
nahm den regften Anteil daran, und als er bald darauf
nach Leipzig kam, trat er eines Abends unerwartet zu dem
erftaunten Hermann ins Zimmer. In dem Gefpräche, das
fich über Verskunft zwifchen ihnen entfpann, forderte ihn
I
282 G. Hermann. [587
endlich Goethe auf, eine deutfche Metrik zu fchreiben,
was Hermann mit dem Bemerken ablehnte, es fei Goethes
Aufgabe, die deutfche Metrik zu fchaffen.
[587.] Mai erfte Hälfte. A. W. Schlegel an F. Schelling.
Goethe hat in Leipzig über die Sache fafi nur leicht
und luftig gefprochen; Ihre Schrift gegen die Allgemeine
Liferaturzeitung in der Zeitfchrifl für fpekulative Phyßk
hat er im ganzen fehr gelobt, doch gemeint, manches dar;:
in fordere Lefer, die fchon auf dem wahren Punkte ftän^
den und fei für die Wirkung nach außen noch nicht über^
zeugend genug vorgetragen. Unter anderm wünfchte er,
die Wendung mit dem Widerwillen wäre nur einmal ge^
braucht worden.
[588.] (Mai.) A. Genaft.
Unferm Vohs ^ hatte Schiller die Rolle des Mac^^
beth zugeteilt. Bei, der erften Theaterprobe war er feiner
Aufgabe noch gar nicht fo mächtig, wie man es von ihm
erwarten durfte, und felbft: die lautefie Hilfe des Souff?
leurs fruchtete nur wenig. Da aber Vohs wegen feines
eminenten Talents bei Goethe und Schiller in hoher Ach?
tung ftand und man feine Reizbarkeit kannte, fo machten
Dichter und Direktor gute Miene zum böfen Spiel, und
keine Rüge erfolgte ob der Nachläffigkeit. Diefer ftö?
rende Übelftand trat aber auch bei der Hauptprobe her?
vor, und Goethe fchwoU nun die Zornesader und er rief,
da ich zu fungieren hatte, mit feiner mächtigen Stimme:
Herr G'naftl (Goethe liebte es, meinen Namen zu apo?
firophieren), verfügen Sie fich zu mir herab! Er, Schiller
und Meyer faßen im Parterre und der zweite Akt war
eben zu Ende. Was ift denn das mit diefem Herrn Vohs?
fuhr er mich an. Der Mann kann ja kein Wort von
feiner Rolle, wie will er denn den Macbeth fpielen? Sollen
wir uns vor den höchfien Herrfchaften und dem Public
kum blamieren? Man fiftiere das Stück für morgen, und
Sie brauchen das Warum weder vor Herrn Vohs noch
dem Perfonal zu verfchweigen. Schiller fuchte Goethes
Zorn zu befchwichtigen und rühmte die künftlerifche Ruhe
von Vohs, feine Genialität, die ihn gewiß bei der Dar?
ftellung über diefe Klippe hinwegführen würde; denn die
Auffaffung des Charakters fei vortrefflich. Auch ich
ftimmte der Anficht Schillers bei, und Goethe, der fchon
591] Jena - Weimar. 1800. 283
aufgeftanden war, um das Theater zu verlaffen, fügte fich
endlich, beauftragte mich aber, Vohs im Vertrauen einen
Wink zu geben,
[Hier walten Verwechflungen ob: bei den Proben zum
Macbeth und noch bei der erften Aufführung war Goethe in
Leipzig.]
[589.1 Frühjahr. Dorothea Schlegel an Rahel Levin.
Haben Sie das Athenäum ///. Band fchon? Wie ge?
fällt Ihnen die Kritik von Schmidt, Matthiffon und Voß,
und der Wettgefang von A. W. Schlegel, in dem fich diefe
verwandten Geifter vereinigen? Ift es nicht fo gründlich
als fpaßhaft, fo würdig als witzig? Papa Goethe hat fich
ganz wie rafend damit gefreut. Schlegel hat es ihm drei*
mal de suite vorlefen muffen.
[590.] Juni 16. Nach L. Tieck.
Tiecks Meinung nach verdienten manche Weimarer
Schaufpieler nicht den Ruf, in welchem fie ftanden. Graffs
Pathos unterfchied fich wenig von dem verrufenen tra*
gifchen Gurgelton. Jetzt wohnte er an Goethes Seite einer
Vorftellung der Maria Stuart bei, die foeben auf die Bühne
gebracht worden war. Auch diesmal konnte er nicht
anderer Meinung fein. Den künftlerifchen Infi:inkt, wel*
eben er an Fleck bewunderte, fand er hier nicht wieder.
Alles war auf ein gewiffes durchfchnittliches Mittelmaß
zurückgeführt. Ein ihm aus Berlin bekannter Schaufpieler,
Cordemann, gab den Leicefier in fo ungefchickter Weife,
daß er die Bemerkung nicht unterdrücken konnte, wie
diefer das Ganze entfchieden ftöre. Ich kann es nicht
finden, antwortete Goethe trocken; er tut feine Schuldig*
keit gleich allen andern.
[591.] JuH. Schiller an J. F. Cotta.
Wegen der Propyläen habe ich mit Goethen gefpro*
eben, und er proponiert vor der Hand, daß Sie ihm für
das Stück, welches jetzt gedruckt werden foll, geben kön*
nen, was Ihnen beliebt. Sie brauchen ihm alfo nicht mehr
zu geben, als Ihnen nach Abzug der Druckkoften von
dem Gelde, das dafür einkommt noch übrig bleibt; fo
daß Sie alfo bei diefem Stück keinen Verlufi: erleiden.
Was die künftige Fortfetzung betrifft, fo will er den Ab*
fatz der Propyläen noch ein halbes Jahr abwarten und vor
den nächften Oftern kein neues Stück mehr herausgeben.
I
284 N. Meyer. [592
[592.] Juli erfte Hälfte. N. Meyer.
Eines Morgens zeigte mir Goethe mehrere fauber ge?
ftochene und kolorierte Blätter naturhifiorifcher Gegen^
ftände, welche der mir befreundete tüchtige Zeichner und
Kupferftecher Horny angefertigt, ohne denfelben jetzt
eine Beftimmung geben zu können, weshalb er fich bei
Goethen Rats erholt hatte. Bekannt mit meiner Gewandt?
heit einen gefälligen Vers zu fchaffen und in gebundener
Rede klar etwas darzuftellen, machte mir Goethe den Vor?
schlag, eine erläuternde, verfifizierte Erklärung zu den BiU
dern zu fchreiben, und fo zur Herausgabe eines kleinen,
fich von den gewöhnlichen vorteilhaft auszeichnenden Bil?
derbuches Veranlaffung zu geben. Mit Luft machte ich
mich an die Arbeit, und vollendete in wenigen Tagen
die Vorrede, die Einleitung und die verfifizierte Erklär
rung der dreizehn erften Kupfertafeln. Bald darauf trat
ich meine Reife an. Indes hatte Horny die vierzehnte
noch folgende Tafel der Mineralien auch beendigt, wel?
eher nun Goethe felbfi: die poetifche Erklärung hinzufügte.
[593.] Juli Anfang. Schiller.
Das Mädchen von Orleans ift der Stoff, den ich be?
arbeite. '^ Auf das Hexenwefen werde ich mich nur wenig
einlaffen, und foweit ich es brauche, hoffe ich mit meiner
eigenen Phantafie auszureichen. In Schriften findet man
beinahe gar nichts, was nur irgend poetifch wäre; auch
Goethe fagt mir, daß er zu feinem Faufi: gar keinen Troft
in Büchern gefunden hätte. Es ift derfelbe Fall mit der
Afirologie, man erfiaunt, wie platt und gemein diefe Erat?
zen find, womit fich die Menfchen folange befchäftigen
konnten.
[594.] Juli 25. F. Schlegel.
Goethe ift hier in Jena und wird auch noch einige
Zeit wenigftens hier bleiben. Geftern habe ich ein lan?
ges Gefpräch mit ihm gehabt, wobei ab.r alle Regierungss^
angelegenheiten forgfältig vermieden wurden. Es fcheint,
daß er zeither nicht viel gearbeitet hat, wenigftens klagte
er, da ich ihn nach feiner Optik fragte, fehr über Ab:=
haltungen. Von Schellings Naturphilofophie fpricht er
immer mit befonderer Liebe.
598] Jena - Weimar. 1800. 285
[595.] Auguft. Jean Paul.
Auch Goethe ift, wenigftens äußerhch, parteiifch; jetzt
fchweigen er und Schiller über das gelobte Gedicht der
Imhoff, Die Schweßern von Leshos, ftill, das ich fortlobe.
Wie gefällt Ihnen Jacobis Brief an Fichte? fragt' ich ihn.
^ Er bleibt nch gleich. — Gott und auch der Teufel bleiben
fich gleich, fagt' ich. Darauf bleibt er aus Unbehülflich=:
keit und Stolz und Zorn dann ftumm. Kein Epigramm
kann ihn in Bewegung ftochern.
[596.] (September.) F. Schlegel.
Goethe behandelte den kränklichen, oft launifchen
Dichter Schiller wie ein zärtlicher Liebhaber, tat ihm alles
zu Gefallen, fchonte ihn und forgte für die Aufführung
feiner Trauerfpiele. Doch manchmal brach Goethes kräf:?
tige Natur durch, und einmal, als eben die Maria Stuart
bei Schiller befprochen war, rief Goethe beim Nachhaufes:
gehen: Mich foll nur wundern, was das Publikum fagen
wird, wenn die beiden Huren zufammenkommen und lieh
ihre Aventuren vorwerfen.
[597.] September. Caroline Herder.
Goethe ift in Jena und fchafft etwas. —
Ach, diefer hätte uns der Natur wiedergeben können
auf einem edlen und dem rechten Wege, wenn er gewollt
hätte. Seine Vergötterung war ihm aber lieber als die
Wahrheit.
[598.] September 21. B. R. Abeken.
Goethe, damals in Jena verweilend, Schiller mit
feiner Gattin und dem Hofrat Meyer, dem Schweizer,
von Weimar herübergekommen, waren bei Griesbachs zu
Mittag und ich wurde dazu eingeladen. ^^ Von dem Ge*
fpräche bei Tifch haftet nur weniges in meinem Gedächt?
nis, nur daß Goethe einmal des Offian gedachte, freilich
in einer andern Weife, als im Werther. Nach dem Effen
trat die Gefellfchaft auf den, die reizendfte Ausficht in
das Saaltal bis nach Dornburg gewährenden Balkon des
Haufes, wo Goethe '^ in mannigfaltigen farbigen Bändern
und Blumen das Phänomen der fich gegenfeitig erzeugen?
den phyfiologifchen Farben fehen ließ. Da machte es mir
I
286 B. R. Abeken. [599
große Freude, daß er mein ficheres Auge lobte, welches
alle Erfcheinungen genau auffaßte. ~ Der Kaffee wurde
im Garten getrunken, in der nach der Stadt hinfehenden
Nifche. Schiller hatte fich neben dem, in jener fitzenden
Freunde auf dem Rafen niedergelaffen ; ich konnte mich
nicht enthalten, wiewohl in einiger Entfernung, auf dem::
felben Rafen meinen Platz zu nehmen. Er fprach, da
das Gefpräch auf neuere Erfcheinungen in der Literatur
kam, auch von Broxtermann und mit Beifall.
[599.] September/ Oktober. Schiller.
Goethe ift von feiner Exkurfion nach Jena, wo er et^
was zu arbeiten hoffte, längfi: zurück, hat aber nur etwas
weniges vom Fauft gearbeitet, welches aber vortrefflich ift.
Im ganzen bringt er jetzt zu wenig hervor, fo reich er
noch immer an Erfindung und Ausführung ift. Sein Ge^
müt ift nicht ruhig genug, weil ihm feine elenden häus^
liehen Verhältniffe, die er zu fchwach ift, zu ändern, viel
Verdruß erregen.
[600.] Oktober 22./24. Ungenannt.
Eine ganz eigentümliche Bewandtnis hatte es mit der
Aufführung von Paläophron und Neoterpe am Geburts^
fefte der Herzogin Amaha, 24. Oktober 1800. Ganz kurz
vorher war die ftolze Vafti von Gotter im Salon der Her^^
zogin wiederholt gegeben worden, und alle Teilnehmen^
den fpielten fo allerliebft, daß Goethe, von dem heiteren
Eindrucke hingeriffen, ihnen alfobald gelobte, fchnell noch
ein neues Stück zu dichten, mit dem fie am Geburtstage
die geliebte Fürftin überrafchen follten. Aber bis dahin
waren nur noch ganz wenige Tage. Um nun die, bei
fo knapper Frift allerdings fchwierige Aufgabe möglichft
rafch zu löfen und fowohl fich, als die Spielenden in be*:
geifterte Stimmung zu verfetzen, ergriff Goethe folgendes
heroifche Mittel. Er lud fich bei den Hofdamen zum
Frühftücke und zwar auf Punfch, ein, verfammelte die
Perfonen, denen er Rollen zudachte, um fich, und dik^;
tierte nun der Fräulein von Göchhaufen die verfchiedenen
Rollen in die Feder, während er felbfi im Zimmer auf
und ab fchritt.
Sobald eine Rolle bis auf einen gewiffen Punkt dik^
tiert war, mußte fie fofort memoriert — und fobald die
entfprechende zweite Rolle auf das Papier gebracht war.
602] Weimar - Jena. 1800. 287
gleich mit diefer zufammen probiert werden, wobei Goethe
aufs lebhaftefte antrieb, vorfpielte und einwirkte. So ge^^
fchah es denn, daß in zweien Vormittagen das Stück fertig
wurde und, nach einer Hauptprobe am dritten Tage, wirk?
lieh am 24. Oktober aufs trefflichfie und zur höchften
Freude der Herzogin gefpielt werden konnte.
Neoterpe ward von der Hofdame Fräulein von Wolfs?
keel, Paläophron vom Grafen Brühl, Griesgram vom (da?
maligen Regierungsrat) Freiherrn von Fritfch II, Habe?
recht vom Kammerrat Riedel gegeben. Aber beinahe wäre
noch im letzten Momente alles an Gelbfchnäbelchen und
Nafeweis gefcheitert, indem die dazu angelernten Kinder
fich die häßlichen Nafenmasken durchaus nicht anhängen
laffen wollten, fo daß Goethe fich genötigt fah, noch in
größter Haft ein paar Kinder vom Theater aufzutreiben
und einzuexerzieren, die denn doch glücklicherweife fich
ihrer Rolle ganz leidhch entledigten.
[601.] November Mitte. F. Schlegel an A. W. Schlegel.
Goethe ift wieder hier und hat mir eine Kleinigkeit,
die er zum Geburtstag der alten Herzogin gemacht —
Alte und neue Zeit — gezeigt. Er hat mich über die
griechifchen Namen konfultiert und fehlen mit denen, die
ich ihm vorfchlug — Paläophron und Neoterpe — zu?
frieden.
Daß ein gewaltiges griechifches Trauerfpiel von ihm
zu erwarten ift, in Trimetern und chorähnlichen Chören,
hat Dir Dorothea, glaube ich, fchon als Refultat feines
letzten Hierfeins gefchrieben. Er hat einigemal recht viel
darüber mit mir gefprochen, indeffen habe ich mich doch
nicht überwinden können zu fragen nach dem Sujet.*
[602.] November. Caroline Herder an K. L. v. Knebel.
Sie muffen fich durch die Herzogin Mutter die Alte
und Neue Zeit zu ihrem Geburtstag durch Goethe geben
laffen. ^ O, könnte er nur etwas Gemüt feinen Schöp?
fungen geben, und fähe man nicht überall eine Art von
Buhlerei oder, wie er es felbft fo gern nennt, das betu?
liehe Wefen darinnen!
Das griechifche Trauerfpiel ift Helena.
288 F. Schlegel. [605
[603.] Dezember (9). F. Schlegel.
Zu Goethe bin ich gleich gegangen, um den Effekt
von Ehrenpforte und Triumphbogen für den Theaterpräfi=
denten von Kotzehue'^ recht frifch zu vernehmen. Er hat
es durch alle Kategorien gelobt, am meiften das, was ich
vor allem liebe, nämlich die Reifebefchreibung. Es ift
noch vieles mündlich darüber zu reden; es find mir ganz
neue Lichter über die Komödie aufgegangen.
[604.] Dezember erfte Hälfte. Schiller an A. W. Iffland.
Goethe ift jetzt fehr preffiert, den Tancred zu volb
enden. Sie haben uns dadurch, daß Sie ihn ein wenig
drängen und treiben, einen guten Dienft getan, weil diefes
Stück ohne diefen neuen Sporn leicht auf die lange Bank
hätte gefchoben werden können, denn Goethe hat eins:
mal den Glauben, daß er Winters nichts Poetifches ar:^
beiten könne, und weil er es glaubt, fo ift es bis jetzt
auch wirklich der Fall gewefen.
[605.] Ende d. J. H. Voß an Börm.
Wer von Goethe (wie es Bürger tat) eine weichliche
Hingiebigkeit erwartet, ein zärtliches Entgegenkommen und
ein herzliches Anfchmiegen, der wird gewöhnlich betrogen.
Ich kann mein Beifpiel anführen, da ich, als ich Schiller
foeben verlaffen hatte, vor drei Jahren zuerft zu Goethe
kam und ihn ebenfo erwartete. Ich ward zurückgeftoßen
durch fein Auge; ich fühlte mich zu klein, zu fchwach,
mit einem Worte: es war der Eindruck einer gewaltigen
Maffe auf das unvorbereitete Auge. Ich verließ ihn voll
Ehrfurcht, aber konnte ihn nicht lieben. Nachher fah
ich ihn öfter auf Augenblicke, konnte aber nie meine
Schüchternheit überwinden, noch mein reines Zutrauen
erwecken. Als mich nun Goethe als Lehrer der Wei:;
marer Schule in Vorfchlag brachte und mein Vater des?
halb von Jena nach Weimar herüberreifte, fagte Goethe
zu ihm : nun folle er mich einmal auf drei Tage hinüber?
fchicken; er kenne mich freilich wohl, aber doch nur ober?
flächlich; denn ich fei immer fo fchüchtern und einfilbig
gegen ihn gewefen. Denke Dir meine Freude, als mein
Vater mir das wieder fagte und mir hierdurch die Gewißheit
gab, von nun an alle Schüchternheit fahren laffen zu dürfen.
Von A. W. Schlegel.
607] Weimar. 1800. 289
[606.1 Dezember 31. H. Steffens.
Den wirklichen Anfang des Jahrhunderts verlebte
ich, wie fchon gefagt, mit meinen Jenaer Freunden, und
zwar in Weimar auf einer Maskerade, durch den Hof
veranftaltet. Ein wohlgeordneter, von Goethe entworfener
Aufzug machte den Anfang. '^
Nach Mitternacht zogen Goethe, Schiller und Schelf
ling fich in ein Nebenkabinett zurück. Ich durfte von
der Gefellfchaft fein. Einige Bouteillen Champagner ftan?
den auf dem Tifch und die Unterhaltung wurde immer
lebhafter. Da fiel mir, der ich mit meiner nordifchen
Virtuofität nüchterner blieb, als die alten Herren, die Ver^
änderung auf, die mit zwei fo bedeutenden Perfönlich;:
keiten vorging. Goethe war unbefangen luftig, ja über^
mutig, während Schiller immer ernfthafter ward und fich
in breiten doktrinären äfthetifchen Explikationen erging;
fie hatten die größte Ähnlichkeit mit feiner bekannten Kri?
tik über Klopftock, und er ließ fich nicht ftören, wenn
Goethe ihn durch irgend einen geiftreichen Einwurf in
feinem Vortrag zu verwirren fuchte. Schelling behielt fort;;
dauernd feine ruhige Haltung, ich konnte ihm kaum eine
Veränderung anmerken. Der Arzt Hufeland war eben
im Begriff, einem Rufe nach Berlin zu folgen. Er trat
etwas fpäter herein, und, fo beliebt der treffliche Mann
war, fprach fich doch die Abneigung gegen Preußen ziem*
lieh unbefangen aus, und er ließ fich's gutmütig gefallen,
Gegenftand unferer Scherze zu fein.
Diefe Nacht ift mir um fo wichtiger geworden, weil
ich bald darauf in Freiberg erfuhr, welche bedenkliche
Folge diefer Abend für Goethe gehabt hat. Er unterlag
zum erftenmal, wenn ich nicht irre, in feinem Leben einer
bedeutenden Krankheit, und der Gedanke an feinen be*
vorftehenden Tod, der ihn fpäter, wenigftens mehrere Jahre
gequält hat, war eine Folge diefer Krankheit.
Nachlefe zum vierten Abfchnitt
Zeitlich nicht näher beftimmbar.
[607.] Marie Körner.
Da unfere Bekanntfchaft mit Goethe aus fehr früher
Zeit datiert, als er Student in Leipzig und ich ein Mäd*
chen von fechs Jahren war, hat er mich und meine Schwer
I 19
290 Marie Körner. [608
fter in gutem Andenken behalten und hört es gar zu gern,
wenn les enfants terribles, wie er uns nennt, ihm aus
feinem Studentenleben erzählen.
[608.] J. Falk.
Goethe aß zuweilen bei der Herzogin Amalie zu
Tiefurt zu Mittag. Er befchwerte fich, daß der dortige
herzogliche Mundkoch Goullon fo oft Sauerkraut vorfetze.
Eines Tages, da man ihm wieder Sauerkraut aufgetifcht
hatte, ftand er voll Verdruß auf und ging in ein Neben?
Zimmer, wo er ein Buch aufgefchlagen und auf dem Tifch
liegen fand. Es war ein Jean Paulfcher Roman. Goethe
las etwas davon, dann fprang er auf und fagte: Nein,
das ifi zu arg! Erft Sauerkraut und dann fünfzehn Seiten
aus Jean Pauli das halte aus, wer will.
[609.] J. Falk.
Jean Paul, fo erzählte Goethe, gefiand mir, daß er
nie in feinem Leben einen Vers habe machen können,
ein Beweis, wie fremd ihm die Form war, die fich ihm
überall wie eine abgefagte Feindin verweigerte. So find
alle feine genialen bis zur Fieberhitze gefi:eigerten Vor;:
züge mehr oder minder aus genialen Aufgelöftheiten ent:;
fi:anden. In feiner Seele herrfchte, wie in feinen Schriften
der Zufammenhang des Doktrinärs.
[610.] Ein Ehrlicher Mann.
Goethe war der zweite, den ich fah. Er hat fich,
feit ich ihn in Straßburg, zwar nur flüchtig, kennen lernte,
fehr verändert. Damals fchien er mir äußerfi: lebhaft, un?
geniert und froh, jetzt aber betrug er fich fteif, fo daß
mein Befuch mehr das Anfehen einer Audienz nahm, als
einer freundfchaftlichen Mitteilung, bei welcher Geift und
Herz gleich ausgeftrömt wäre, was ich doch fo innig
wünfchte. ^^ Sein Gefühl für das Schöne der bildenden
Künfte ifi tief und rein, und fteht mit feinem Gefühl für
Dichtkunft in genauem Ebenmaße, fo daß es mir äußerfi:
belehrend und merkwürdig war, als Goethe die Gefällig?
keit hatte, mir feine Zeichnungen und Antiken, die er
in Italien gefammelt, zu zeigen und dabei feine Bemer?
kungen fowie Urteile zu fagen.
614] 1794/1800. 291
[611.] Ein Ehrlicher Mann.
Vor einigen Tagen war ich wieder bei Goethe und
zwar innigft vergnügt. Je mehr man ihn kennen lernt,
defto intereffanter wird er, defto fchönere Dinge hört man
von ihm, und die Kälte des erfien Befuchs fchwindet
bald durch das geiftige Feuer, wodurch man bei einem
weiteren Umgange mit ihm erwärmt wird. Er erzählte
mir viel von feinem Aufenthalte und feiner Reife in Italien.
^ Eine Reifebefchreibung von ihm dahin würde ficher
einzig in ihrer Art fein. Nicht nur ^^ würden wir treffe
liehe Bemerkungen über Kunft, fondern auch über Natur
und Menfchen darinnen finden, und feine fpaßhaften
Abenteuer, von denen er mir einige erzählte, würden f^
bei der Lektüre ein luftiges, angenehmes Intereffe erregen.
In Venedig foll er befonders mit den dortigen fchönen
Mädchen manchen Scherz getrieben haben.
[612.] Fr. Schlegel.
Im Anfang konnte Goethe die Bildung und Viel^
feitigkeit diefer Erfcheinung nicht genug rühmen (Schleier^
machers Reden); je nachläffiger indes der Stil und je
chriftlicher die Religion wurde, je mehr verwandelte fich
diefer Effekt in fein Gegenteil, und zuletzt endigte das
Ganze in einer gefunden und fröhlichen Abneigung.
[613.] Amalie v. Helvig geb. v. Imhoff.
Zu wiederholten Malen verbrachte ich Wochen bei
Schillers, wo jedes Wort die Grenzen meiner Begriffe er:?
weiterte. — Goethe kam oft nach Jena, und abends zu
Vieren um einen kleinen runden Tifch verfammelt, nährte
ich mich weit mehr mit geifiiger als leiblicher Speife oft
bis tief in die Nacht hinein, den bedeutendften Gefprä^
chen beider Männer im lebhafteften Umtaufch der Ideen
horchend. -^ Einen '^ Abend demonftrierte Knebel in
heftigfter Weife feine Anfichten über Verfchiedenes dem
ftillhorchenden Goethe vor, und als er keine Gegenrede
erhielt und betroffen darüber vor Goethe ftehen blieb,
erwiderte diefer ganz behaglich: Ach, fag' doch noch
mehr fo was Dummes!
[614.] Amalie v. Helvig geb. v. Imhoff.
Nie haben Goethe oder Schiller '^ eine Zeile in
einer meiner Arbeiten felbft geftrichen, fie aber eben fo
wenig anders als fertig gefehen, foweit ich fie ihnen mit;:
I 19*
292 Amalie v. Helvig geb. v. Imhoff. [615
teilte. Zwei Gefänge der Schweftern von Lesbos waren
eben ^^ vollendet, als Goethe, von meiner neuen Arbeit
unterrichtet, fie zu hören begehrte. Ich las fie auf fein
Verlangen ihm vor und erzählte ihm den Plan des Ganzen.
Als Goethe fo gütig war, mir einige Bemerkungen
wegen des Hexameters zu machen, entdeckte er nicht
ohne fpaßhafte Verwunderung, daß ich noch gar nicht
wiffe, was ein Hexameter fei. Er fagte mir: Ich verftehe:
das Kind hat die Hexameter gemacht, wie der Rofenftock
die Rofen trägt.
Goethe felbft fetzte fich hin, mir das Schema für
diefe Versform aufzufchreiben, die ich freilich von da an
fehr ernftlich ftudierte, befonders an Luife von Voß, die
Goethe mir angeraten. Ich habe das von mir korrigierte
Manuf kript, für die zweite Auflage mit eingerechnet, eigene:
händig fiebenmal abgefchrieben. Goethe felbft war fo
gütig die Korrekturbogen mit mir nachzufehen, welche
Stunden einen fo reichen Schatz von Unterricht für mich
enthielten und überhaupt etwas fo Erhebendes und Poe?
tifches in allen Nebenumftänden hatten, daß diefe Mo=:
mente allein ein gewöhnliches langes Leben aufwiegen.
[615.] A. W. Iffland zu F. L. Schmidt.
Als der noch junge Schauspieler Friedrich Ludwig Schmidt
Iffland gefragt hatte, ob er ihm Gaftfpielreifen anrate, antwortete
diefer :
Sie werden bei dem Reifen verlieren — gewinnen,
und, wie Goethe fagt: Ob man Erbfen zählt oder Linfen,
es kommt auf eins heraus.
[616.] A. Genaft.
Nie gab er feiner Unzufriedenheit ftrenge Worte;
fein Tadel war immer fo, befonders gegen die altern Schau?
fpieler, daß er nicht verletzen konnte; z. B. : Nun, das
ift ja gar nicht übel, obgleich ich mir den Moment fo
gedacht habe; überlegen wir uns das bis zur nächften
Probe, vielleicht fiimmen dann unfere Anflehten überein.
Den jüngeren gegenüber war er weniger rückfichtsvoll ;
hier hieß es oft: Man mache es fo, dann wird man feinen
Zweck nicht verfehlen.
[617.] H. E. G. Paulus.
Goethes Vieltätigfein war möglich, weil, wie wir von
ihm felbft hörten, er wie ein Gefetz befolgte, was Amt
618] 1794/1800. 293
und Gefchäftsaufträge betraf, immer zuerft abzumachen,
alsdann aber dem, wozu ihn der Geifi trieb, mit unge?
teilter Fertigkeit fich ganz hinzugeben.
Zu allen diefen Tendenzen kam in Goethe fortwährend,
aber mehr wie eine problematifche Unterhaltung und nicht
eigentlich als Befchäftigung, eine gegen hyperphyfifche
Selbfttäufchung des damals gepriefenen abfoluten Speku^
lierens fehr behutfame Aufmerkfamkeit hinzu. Für Ahs^
nungen über das Übermenfchliche hatte Goethe eine
erhebende, ftaunende Andacht in fich : Wie jenes Überfinn?
liehe gleichfam von oben her mit unferer Natur und Natura
philofophie zufammenhängt, dies, rief er mir einmal zu, ift
die Frage. Aber fein ahnendes Denken war mit der be?:
fonnenften Scheu vor allen Dogmen als Behauptungen
verbunden, befonders, wenn man das Praktifche darnach
oder dagegen regulieren zu wollen fürchten ließ, f^
Goethe ftimmte mit der von dem abfirakteften Phi?
lofophen, Spinoza, nicht zu erwartenden Weltanfchauung
überein, wie fie von diefem im tractatus theologico-politicus
auf das fogenannte alte Teftament angewendet ift.
Was das Hinüberblicken in das abfolute Hyper^:
phyfifche in der Philofophie betrifft, fo wollte Goethe
die Philofophen von Profeffion darüber, wie er zu fagen
pflegte, gerne gewähren laffen, foviel fie könnten. Er
ließ als Zuhörer gerne fie fich ausfprechen, auch, wenn
fie, wie Schelling, es gleichfam als etwas ihnen ausfchließ?
lieh offenbar Gewordenes im Befitz und Verfchluß zu
haben, die Miene machten.
Goethe fagte oft wünfchend und hoffend: Je mehr
man fich an dem Spekulieren über das Übermenfchliche
trotz aller Warnungen Kants vergeblich abgemüht haben
wird, defto vielfeitiger wird dereinft das Philofophieren
zuletzt auf das Menfchliche, auf das geiftig und körper^
lieh Erkennbare der Natur gerichtet und dadurch eine
wahrhaft fo zu benennende Naturphilofophie erfaßt werden.
Was die mathematifchen und phyfikalifchen Vorkennt^
niffe betraf, schätzte Goethe, wie er dies mir mehrmals
fagte, Hegel mehr, als Schelling.
[618.] Schiller an Charlotte Gräfin Schimmelmann.
Einige Äußerungen in Ihrem Briefe führen mich
natürlich auf meine Bekanntfchaft mit Goethe, die ich
auch jetzt, nach einem Zeitraum von fechs Jahren, für
I
294 Schiller. [618
das wohltätigfie Ereignis meines ganzen Lebens halte.
Ich brauche Ihnen über den Geift diefes Mannes nichts
zu fagen. Sie erkennen feine Verdienfte als Dichter, wenn
auch nicht in dem Grade an, als ich fie fühle. Nach
meiner innigften Überzeugung kommt kein anderer Dich^
ter ihm an Tiefe der Empfindung und an Zartheit der?
felben, an Natur und Wahrheit und zugleich an hohen
Kunftverdienften auch nur von weitem bei. Die Natur
hat ihn reicher ausgeftattet als irgend einen, der nach
Shakefpeare aufgeftanden ift. Und außer diefem, was er
von der Natur erhalten, hat er fich durch rafilofes Nach?
forfchen und Studium mehr gegeben, als irgend ein
anderer. Er hat es fich 20 Jahre mit der redlichfi:en An?
ftrengung fauer werden laffen, die Natur in allen ihren
drei Reichen zu ftudieren, und ifi: in die Tiefen diefer
Wiffenfchaften gedrungen. Über die Phyfik des Menfchen
hat er die wichtigfi:en Refultate gefammelt und ift auf
feinen ruhigen einfamen Wegen den Entdeckungen voraus?
geeilt, womit jetzt in diefen Wiffenfchaften fo viel Parade
gemacht wird. In der Optik werden feine Entdeckungen
erft in künftiger Zeit ganz gewürdigt werden, denn das
Falfche der Newtonfchen Farbenlehre hat er bis zur Evidenz
demonftriert, und wenn er alt genug wird, um fein Werk
darüber zu vollenden, fo wird diefe Streitfrage unwider?
leglich entfchieden fein. Auch über den Magnet und die
Elektrizität hat er fehr neue und fchöne Anfichten. So
ifi er auch in Rückficht auf den Gefchmack in bildenden
Künften dem Zeitgeifte fehr weit voraus und bildende
Künftler könnten vieles bei ihm lernen. Welcher von
allen Dichtern kommt ihm in folchen gründlichen Kennt?
niffen auch nur von ferne bei, und doch hat er einen
großen Teil feines Lebens in Minifterialgefchäften auf?
gewendet, die darum, weil das Herzogtum klein ift, nicht
klein und unbedeutend find. Aber diefe hohen Vorzüge
feines Geiftes find es nicht, die mich an ihn binden.
Wenn er nicht als Menfch für mich den größten Wert
von allen hätte, die ich perfönlich je habe kennen lernen,
fo würde ich fein Genie nur in der Ferne bewundern.
Ich darf wohl fagen, daß ich in den 6 Jahren, die ich
mit ihm zufammen lebte, auch nicht einen Augenblick an
feinem Charakter irr^ geworden bin. Er hat eine hohe
Wahrheit und Biederkeit m feiner Natur, und den hoch?
fien Ernfi für das Rechte und Gute: darum haben fich
618] 1794/1800. 295
Schwätzer und Heuchler und Sophiften in feiner Nähe
immer übel befunden. Diefe haffen ihn, weil fie ihn
fürchten; und weil er das Falfche und Seichte im Leben
und in der Wiffenfchaft herzlich verachtet und den falfchen
Schein verabfcheut, fo muß er in der jetzigen bürgerlichen
und literarifchen Welt notwendig es mit Vielen verderben.
Sie werden nun aber fragen, wie es komme, daß er bei
diefer Sinnesart, mit folchen Leuten, wie die Schlegelfchen
Gebrüder find, in Verhältnis ftehen könne. Diefes Vers:
hältnis ift durchaus nur ein literarifches und kein freund:^
fchaftliches, wie man es in der Ferne beurteilt. Goethe
fchätzt alles Gute, wo er es findet, und fo läßt er auch
dem Sprachst und Verstalent des älteren Schlegel und feiner
Belefenheit in alter und ausländifcher Literatur, und dem
philofophifchen Talent des jüngeren Schlegel Gerechtig=:
keit widerfahren. Und darum, weil diefe beiden Brüder
und ihre Anhänger die Grundfätze der neuen Philofophie
und Kunfi: übertreiben, auf die Spitze fi:ellen und durch
fchlechte Anwendung lächerlich oder verhaßt machen,
darum find diefe Grundfätze an fich felbfi, was fie find,
und dürfen durch ihre fchlimmen Partifans nicht vers:
lieren. An der lächerlichen Verehrung, welche die beiden
Schlegel Goethe erweifen, ift er felbft unfchuldig, er hat
fie nicht dazu aufgemuntert, er leidet vielmehr dadurch
und fieht felbft recht wohl ein, daß die Quelle diefer
Verehrung nicht die reinfi:e ifi: ; denn diefe eiteln Menfchen
bedienen fich feines Namens nur als eines Paniers gegen
ihre Feinde, und es ifi: ihnen im Grunde nur um fich
felbft zu tun. Diefes Urteil, das ich Ihnen hier nieder::
fchreibe, ift aus Goethes eigenem Munde, in diefem Tone
wird zwifchen ihm und mir von den Herren Schlegel ge?
fprochen.
Infofern aber diefe Menfchen und ihr Anhang fich
dem einreißenden Philofophenhaß und einer gewiffen
kraftlofen feichten Künftlerkritik tapfer entgegenfetzen, ob
fie gleich felbft in ein anderes Extrem verfallen, infofern
kann man fie gegen die andere Partei, die noch fchäd::
lieber ift, nicht ganz finken laffen, und die Klugheit be?
fiehlt zum Nutzen der Wiffenfchaft ein gewiffes Gleich:^
gewicht zwifchen den idealiftifchen Philofophen und den
Unphilofophen zu beobachten.
Es wäre zu wünfchen, daß ich Goethe ebenfogut
in Rückficht auf feine häuslichen Verhältniffe rechtfertigen
I
296 Schiller. [618
könnte, als ich es in Abficht auf feine literarifchen und
bürgerlichen mit Zuverficht tun kann. Aber leider ifi: er
durch einige falfche Begriffe über das häusliche Glück
und durch eine unglückliche Ehefcheu in ein Verhältnis
geraten, welches ihn in feinem eigenen häuslichen Kreife
drückt und unglücklich macht, und welches abzufchütteln
er leider zu fchwach und zu weichherzig ifi:. Dies ifi:
feine einzige Blöße, die aber niemand verletzt als ihn
felbfi, und auch diefe hängt mit einem fehr edlen Teil
feines Charakters zufammen. Ich bitte Sie, meine gnädige
Gräfin, diefer langen Äußerung wegen um Verzeihung,
fie betrifft einen verehrten Freund, den ich liebe und
hochfchätze und den ich ungern von Ihnen beiden ver^
kannt fehe. Kennten Sie ihn fo, wie ich ihn zu kennen
und zu fiudieren Gelegenheit gehabt, Sie würden wenige
Menfchen Ihrer Achtung und Liebe würdiger finden.
Fünftes Buch
Vom Beginne des neunzehnten
Jahrhunderts bis zu
Schillers Tode
1801 bis Mai 1805
1801.
[619.] Januar Anfang. Schiller an J. F. Cotta.
Leider ift Goethe in diefem Augenblick fehr krank,
und feine Ärzte find nicht ohne Furcht eines Unglück?
liehen Ausgangs. Auch wenn er für jetzt der Gefahr
entrinnt, fo könnte ihm doch eine große Schwäche und
kränkliche Dispofition übrig bleiben, die feine Tätigkeit
hemmen würde. Es ift ein katarrhalifches Fieber mit einem
heftigen Rotlauf, welches fich ins linke Auge geworfen,
und mit einem fchmerzhaften Krampfhufien verbunden.
Der Arzt fürchtet, daß die äußere Entzündung ins Ge?
hirn fchlagen, oder daß ein Stock? oder Schlagfluß dazu
kommen könnte. Heute ift der fechfte Tag und ich fchreibe
Ihnen mit der nächfien Poft, wie es um ihn fteht.
[620.] Januar 19. Caroline Herder.
Daß Goethe lebt, darüber wollen wir Gott danken.
Es möchte ohne ihn nicht gut in Weimar werden. Er
ift doch immer der, der Schranken fetzt, wenn es zu bunt
werden will!
Mein Mann hatte ihn vorgeftern befucht — fand aber
den Herzog und Schiller da — ein folcher Dreiklang
war feiner Natur fremd — ungewohnt — er kam ver?
ftimmt nach Haufe.
1621.] Januar 26. Charlotte v. Stein.
Frau V. Stein befuchte mit Frau v. Schiller Goethen nach
feiner Genefung.
Er bat uns aufs neue um unfere Freundfchaft, als
wenn er wieder in der Welt angekommen wäre.
I
300 H. Schmidt. [622
[622.] (März 1.) H. Schmidt.
Ich befchloß, mich dem Theater zu widmen, jedoch
nicht, ohne vorher den Rat einfichtsvoller Männer darüber
erforfcht zu haben. Wie konnte ich aber in Weimar
über die Wahl diefer Männer anflehen I Lebte nicht
Schiller da und hatte er mich nicht freundlich auige*
nommen? An ihn wandte ich mich und wagte es, ihn
um feine Meinung zu bitten. Der forgfam befcheidene
Mann wollte es nicht allein auf fich nehmen und ver;:
fprach, mit Goethe darüber zu fprechen. ^^ Bald darauf
erhielt ich auch wirklich eine Einladung, zu Schiller zu
kommen. Es war eines Sonntags nachmittags um 5 Uhr.
Auch Goethe kam. Ich las einiges vor: einen Monolog
und einige Szenen aus Leben und Tod König Johanns
von Shakefpeare. Goethe fprach fich dann weitläufig und,
was noch mehr, mit augenfcheinlicher innerer Anregung
über den Schritt aus, fich dem Theater zu widmen, und
wandte dann das Ausgefprochene auf mich an. Wenn
er auch, meinte er, hier Verftändnis des Dichters, ent*;
fprechende Äußerlichkeit, gutes Organ zugeben wolle, fo
könne er doch zwei Beforgniffe nicht umgehen, nämlich
daß mich, wenn ich jetzt fo unvorbereitet in die Welt
träte, das Leben felbft in feine magifchen Kreife und foj:
mit von der Neigung und Liebe zum nachgefpiegelten
hinwegziehen würde, und doch würde ich der Nachhülfe
diefer Neigung und Liebe noch fehr bedürfen, um auf
dem Wege zum Ziele zu beharren, da er mir dadurch
fehr erfchwert werden würde, daß mir Nachahmungstrieb
und Nachahmungsgabe, worauf jetzt noch die SchaufpieU
kunft hauptfächlich mit begründet fei, gänzlich abzugehen
fcheine. Er verbreitete fich noch umftändlicher darüber
und verließ uns hierauf, um zu den Frauen, wie er fagte,
in das anftoßende Zimmer hinüberzugehen. Während
deffen war der höchfi liebens^ und verehrungswürdige
Schiller treulich und angelegentlich bemüht, mir noch näher
zu erklären, was Goethe gemeint und geäußert hatte, doch
ohne fich irgend einen Zufatz zu erlauben, f^
Als Goethe zurückgekommen, erteilte er mir für den
Fall, daß ich nun noch bei meinem Vorfatz beharren wollte,
die höchft willkommene Erlaubnis, zweimal die Woche
zu ihm zu kommen und mit ihm eine auswendig gelernte
Rolle durchzugehen.
623] Weimar. 1801. 301
[623.] (März.) H. Schmidt.
Ich fprach den berühmten Monolog aus Hamlet wieder
nach der Schlegelfchen Überfetzung und hatte dabei die
Stellung angenommen, daß ich die rechte Hand an das
Kinn legte, während die linke Hand den rechten Arm,
an der Spitze des Ellenbogens herabhängend, unterfiützte.
Goethe äußerte fich nicht mißbilligend über diefe Stellung :
auch tadelte er nicht, daß ich den größten Teil des Mono?
logs dabei beharrt hatte; denn diefes Beharren des Schaus:
fpielers in einem Geft teile dem Zufchauer das Gefühl
einer gewiffen Ruhe und Sicherheit mit, das jeder Dar?
fiellung wohl zuftatten komme, und fei bei tragifchen
Rollen insbefondere von größerer Wirkung als das öftere
Wechfeln der Stellung und der Geften, wenn diefe nicht
durch befondere Urfachen etwa bedingt würden. Doch
muffe ich nicht glauben, daß ich nun durch Wahl und
Ausführung der angegebenen Stellung dem Ziel, dem
Auge ein gutes Bild vorzurücken, viel näher gekommen
fei, wenn nicht alles und jedes miteinander übereinitimme.
Hier fei z. B. die Hand unter dem rechten Ellenbogen
jetzt in eine Fauft zufammengezogen, was jedoch gegen
alle Regel der Schönheit fei. Die Hand muß fo gehalten
werden! fagte er und ftreckte mir dabei feine Hand hin,
von der er die mitteilten zwei Finger zufammen, den
Daumen aber und die andern zwei Finger etwas ausein?
anderhielt, die letzten aber außerdem etwas gebogen herab?
hängen ließ. So ift fie harmonifch mit dem Ganzen, in
der rechten Form und anmutig zugleich; doch fie fo zu
biegen und zu geftalten fieht leichter aus, als es ift. Nur
langer Umgang mit der Malerei, mit der Antike insbe?
fondere, verfchafft uns eine folche Gewalt über die Teile
des Körpers; denn es gilt hier nicht fowohl Nachahmung
der Natur, als ideale Schönheit der Form. Bei Ver?
änderung der Stellungen und Geberden ift vorzüglich zu
beachten, daß fie vorbereitet und langfam gefchehe, nicht
etwa mitten in der Rede, wobei immer Mäßigung haupt?
fächlich zu empfehlen ift, damit man zur Steigerung der
Effekte Ausdauer gewinnt. Befonders empfehle er mir,
den obern Teil des Arms fo ruhig, als möglich zu halten,
fowie mit dem Arm nicht den Körper zu decken und ihn
dadurch gleichfam zu durchfchneiden. Der Körper muß
immer möglichft frei und zwei Dritteile dem Publikum zu?
gekehrt bleiben, damit alles Profilfpiel vermieden werde.
I
302 H. Schmidt. [624
Um fich Geberdenfpiel zu erwerben und das Spiel der
Arme gelenkfam und bezeichnend zu machen, empfahl
er bei Übung der Rolle gegen einen Spiegel gekehrt zu
fprechen, wobei der Schaufpieler jede unrichtige Bewegung
bemerken und die paffendfien Geften wählen könne, vorausss
gefetzt jedoch, daß er vorher feine Aufgabe, feinen Charakter
gut durchftudiert habe. Übrigens gab er mir den Rat,
auch im Lebensverkehr nie die Haltung und das Geberden^
fpiel aus dem Auge zu verlieren, fondern immer an mir
zu beobachten; denn dies erleichtere die Aufgabe auf der
Bühne außerordentlich. Befonders muffe man bei einem
Monolog daran denken, daß man nun allein im Rahmen
ftehe und daher dem Auge des Zufchauers auch allein
ausgefetzt fei. In bezug auf die Deklamation diefes Mono^
logs traf Goethes erfte Bemerkung die Stelle der Über^
fetzung :
Die unfers Fleifches Erbteil — 's ift ein Ziel
Aufs innigfte zu wünfchen.
Das ift ganz gefehlt! Setzen Sie ein ,find* dazu,
wenn es nicht dafteht; denn das Erfte von der Bühne
herab ift Verftändlichkeit; daher ift die vollftändige Aus?
fprache jeder Silbe, um fo mehr jedes erforderlichen
Wortes nötig. Nichts darf dem Zuhörer vorenthalten
werden, damit er hauptfächlich verftehe, was zu verftehen
ift. Befonders warnte er vor allem Dialekt, wobei er die
dem Sachfen eigene offene Ausfp räche des e, wie geben,
leben (in Sachfen oft wie gäben, laben) als ihm be?
fonders gehäffig bezeichnete. Vor allem aber folle an?
fänglich die Rolle, bevor fie gelernt werde, recht langfam
und befiimmt gefprochen und dabei der Ton fo tief als
möglich gehalten werden, um für die Steigerung desfelben
auszureichen. Beim Auswendiglernen derfelben fei vor?
züglich darauf zu fehen, daß es nicht mit falfcher Ak?
zentuation ufw. gefchehe; daß jedes Wort richtig, dem
Sinn gemäß gefprochen werde ; denn fonft werde der Vor?
trag und die Ausfprache immer fehlerhaft bleiben.
[624.] (März.) H. Schmidt an Goethe.
Ihnen verdank' ich die weife Lehre, von deren
Wahrheit jeder neue Tag ein neuer Beweis ift, daß nur
durch das äußere Leben das innere Leben erregt wird,
nicht durch gefühllofes Spekulieren, was des Lebens Mark
nur austrocknet.
628] Weimar. 1801. 303
[625.] März (9). Charlotte v. Schiller.
Goethe hat eben bei einem Zerwürfnis zwifchen den
Schauspielerinnen Jagemann und Vohs wegen der Rolle der
Thekla im Wallenßein fich fehr ereifert und gefagt, er
dürfe nicht nachgeben, weil er fonft um jede andere Schau?
fpielerin auch geplagt würde und das Protegieren fatt hätte,
das ihn fchon ehmals bei der Göchhaufen und Herzogin
über die Rudorf fo gequält ufw. ^ Goethe ift mir un?
begreiflich, Kirms lügt, denn die Herzogin hat es ihm
ja aufgetragen, mit Goethe zu reden, und Goethe behaups^
tet, es habe fich niemand an ihn gewendet. Er ift noch
krank, man muß auch ihn fchonen.
[626.] (März.) K. v. Stein.
Die Jagemann hat fich mit dem Kranz entzweit, weil
er in der Oper nicht nach dem Takt fpielen foll, fons:
dem nach ihrer Stimme. Dies fcheint für das ganze Or*
chefter etwas viel verlangt zu fein, doch hat Goethe dem
Kranz bis zur Zurückkunft des Herzogs die Direktion
des Orchefiers unterfagt, worüber denn jetzt die Operette
nicht reüffiere. Bei dem Gelächter, was in diefer Un?
Ordnung gefchah, fo daß die Annonce des neuen Stückes
nicht gehört werden konnte, hat fich Goethe fo echauf*
fiert, daß er laut aus feiner Loge dem publico Stillfchwei?
gen geboten.
[627.] April. Nach Steinfchen Papieren.
Goethe nahm Charlotten von Steins Vorfchlag, feine
Überfetzung des Tancred durch Fritz an das Breslauer
Theater zu verkaufen, dankbar an und ^ verficherte ihr^
es werde ihm unangenehm fein, follte ihr Fritz wähs:
rend feiner Abwefenheit in Weimar fein, fo daß er ihn
nicht zu fehen bekomme. ~ Fritz folle fich nicht durch
des Herzogs Anwefenheit hindern laffen, da man in poli?
tifchen Dingen vergeffen muffe, was den Tag vorher ge:^
fchehen.
[628.] April 10. Caroline v. Herder.
Gerning war noch Freitag bei Goethe und Wieland
und hat dort fein Säkulargedicht vorgelefen. Da fand
Goethe, daß des großen Schillers dramatifche Kunft nicht
gefeiert worden ift, daß Kants große Wirkung nicht ge?
nannt worden ift, und daß der Vers: Wenn nicht nannte
I
304 Caroline v. Herder. [629
die Mufe ufw. zu hart wäre ufw. Das meinte auch Ger?
ning. Die Änderung des letzten Verfes aber ließen wir
nicht gefchehen; gerade das Steigen hebt den Namen
Herder noch höher; ich ließ es durchaus nicht zu. Am
Schiller wurde folgendes gezimmert:
Schillers Lied ertönt am Altar der Mufen,
Wo ihm Weisheit, Kunft und die höchfte Dichtkunft,
Jede den Kranz flicht.
Kant blieb — er konnte nicht höher gefeiert werden
— es war ganz im Sinn des großen Urteils über ihn in
Herders Metakritik — und Goethe ift zu beklagen, daß
er's nicht verftanden hat. Schiller und Niethammer müffen's
ihm erfi erklären.
[629.] April. Schiller an Ch. G. Körner.
Goethe ift wieder ganz hergeftellt und hat indeffen
vieles an feinem Fauft getan, der aber noch immer als
eine unerfchöpfliche Arbeit vor ihm Hegt, denn dem Plan
nach ift das, was gedruckt ift, nur höchftens der vierte
Teil des Ganzen, und was feitdem fertig geworden, beträgt
noch nicht foviel als das Gedruckte. — Sonft befchäftigt
er fich auch viel mit feinen optifchen und naturhiftorifchen
Dingen, die gewiß von fehr großer Bedeutung find.
Mit dem Maler Hartmann geht es Dir wie mir; ich
habe ihn auch nicht kennen lernen, weil ich damals in
Jena abwefend war. Man rühmt aber fehr fein Talent
und Goethe hält ihn für einen tüchtigen Burfchen.
[630.] Mai 6. Caroline v. Schlegel an A. W. v. Schlegel.
Goethe ift hier m/ena. Schellingwar geftern den ganzen
Morgen bei ihm, fuhr mit ihm aus, kam auch ganz er?
müdet von fcherz? und ernfthaften Reden bei uns an. Er
hatte fich eben auf das angelegentlichfte nach Dir und
Deinem Tun und Treiben erkundigt und wann Du kämft,
als ich das Paket hinfchickte. Schelling erzählte ihm Deine
Händel mit Unger, er las Deinen Brief und fagte: Nun,
er fcheint doch recht vergnügt und wohl zu fein und es
freut mich ihn bald zu fehn.
[631.] Mai. Schiller an Ch. G. Körner.
Ein anderes Sujet*, welches ganz eigne Erfindung ift,
möchte früher an die Reihe kommen; es ift ganz im reinen
* Braut von Meffina.
634] Weimar - Jena. 1801. 305
und könnte gleich an die Ausführung gehen. Es befteht,
den Chor mit gerechnet, nur aus zwanzig Szenen und
aus fünf Perfonen. Goethe billigt den Plan ganz.
^ Deinem Urteil über meine Jungfrau von Orleans
fehe ich mit großem Verlangen entgegen. Goethe meint,
daß es mein beftes Werk fei, und ift mit dem Ensemble
befonders zufrieden.
[632.] Mai 22. H. Becker an F. Haide.
Da ich, wie ich von Dir weggegangen, in Erfahrung
gebracht, daß der Herr Geheimrat von Goethe, heut' nach::
mittag um 2 Uhr verreifte, fo bin ich zu ihm gegangen,
um noch einmal für Dich um die Entlaffung des Arreftes
zu bitten. Er wollte anfangs nichts davon hören, doch
habe ich nicht eher nachgelaffen, bis er mir verfprochen,
daß Dein Arreft nicht länger als 24 Stunden dauern follte.
^ Zu Deinem Trofte und Deiner Beruhigung kann ich
Dir verfichern, daß er jetzt nicht mehr fo böfe auf Dich
ift, als er geftern Abend war; und ich aus feiner Unter:=
redung mit mir fchließen konnte, daß es ihm leid tut,
daß gerade bei Dir zuerft der Anfang feiner ftrengen Form,
wonach er jetzt handeln will, in Ausübung gehen muß.
633.] Mai Ende. Caroline v. Schlegel an A. W. v. Schlegel.
Wir haben für den fonnenklaren Bericht an das größere
Publikum über das eigentliche Wefen der neueflen Philo=
fophie von Fichte ein Motto aufgefunden:
Zweifle an der Sonne Klarheit,
Zweifle an der Sterne Licht,
Lefer, nur an meiner Wahrheit
Und an deiner Dummheit nicht.
Das Fundament des Einfalls ift von Schelling, die
letzte Zeile von mir. Schelling hat es Goethen mitges:
teilt, der, fehr darüber ergötzt, (ich gleich den Sonnen*:
klaren geben ließ, um fich auch ein paar Stunden von
Fichte malträtieren zu laffen, wie er fich ausgedrückt hat.
[634.] (Mai.) F. K. J. Schütz an einen Ungenannten.
In einer hiefigen geiftvollen Abendgefellfchaft, in der
fich auch Goethe befand, wurde ein alt^^rheinifches Volks^
lied gefungen, daran die Poefie gemein, die Mufik aber
unendlich herzig war; und darum den Goethe innig
I 20
306 F. K. J. Schütz. [635
ergriff. Der Dichter verfprach, ein eigenes Lied zu der
vorhandenen Melodie zu dichten, und als hätte diefe
feine Einbildungskraft nicht im mindeften fixiert, erhielten
wir fchon am folgenden Tag:
Schäfers Klagelied.
Da droben auf jenem Berge Und Regen, Sturm und Gewitter
Steh ich wohl taufendmal, Verpaff ich unter dem Baum, —
An meinem Stabe gebogen. Die Türe dort bleibt verfchloffen
Und fchau hinab in das Tal! Und alles ift leider ein —
Traum!
Dann folg ich der weidenden
Herde, Es ftehet ein Regenbogen
Mein Hündchen bewahret mir Wohl über jenem Haus.
fie, Sie aber ift weggezogen,
Ich bin hinunter gekommen Und weit in das Land hinaus!
Und weiß doch felber nicht wie.
Hinaus in das Land und weiter,
Da fteht von fchönen Blumen Vielleicht gar über die See! —
Die ganze Wiese fo voll. Vorüber, ihr Schäfchen, vo*
Ich breche fie, ohne zu wifl^en, rüber.
Wem ich fie geben foll. Dem Schäfer ift gar zu weh!
Der Dichter hat verfprochen, mehr folche alte Volks^
melodien durch neue Dichtungen zu bereichern. Freilich
muffen dann alle künftige feiner Lieder wie diefes nur
gefungen und vom Spiel begleitet werden. Dann fpricht
fich die Verwandtfchaft zwifchen Poefie und Tonkunft
inniger aus als es fonft vielleicht je gefchehen kann. Wenn
Sie dies Lied fingen hören werden, fo muffen Sie emp^
finden, wie die Mufik hier die Poefie eigentlich hervor^
gebracht hat.
Sie haben eine fo liebliche Gitarrefpielerin in Gotha.
Ihr geben Sie dies Lied, und beifolgende Kompofition.
[635.] Juni Anfang. Ch. v. Rommel.
Während meines erften Aufenthaltes in Göttingen
befuchte auch Goethe die dortige Bibliothek zu einem
feiner naturhiftorifchen hors d'oeuvre. Ich fah ihn faft
täglich mit feinem etwa 8 jährigen Sohne in einem fehr
nachläffigen Koftüme einherwandern, hörte aber, wie ele?
gant er des Abends an den Soireen bei Blumbach erfchien.
Den alten Heyne hatte er bei dem erften Befuche
durch ein fcherzhaftes, unter archäologifchen Gefprächen
eine Zeitlang fortgeführtes Inkognito myftifiziert. '^
Ich war auch bei der abendlichen Studentenovation in
der Allee, die ihm, eben weil fie polizeiwidrig war, im
639] Göttingen - Eifenach - Gotha - Weimar. 1801. 307
Kontraft zu der weimarifchen Philifterhaftigkeit fo viel
Freude machte.
[636.] Auguft 22./24. Jean Paul.
Goethe ließ mich neulich aus Eifenach grüßen; er
pries meine Klotilde gewaltig und fagte, der Schlegel Ur?
teil über mich fei über alles gemein.
[637.] Auguft 29. Katharina Freifr. v. Bechtolsheim.
Ich hatte Goethe beim Baron Grimm in Gotha per:=
fönlich kennen gelernt. Als er einftmals dort zu Mittag
fpeifte, faß ich neben ihm, und da der gute Herr von
Grimm ihm eben erzählte, daß ich mehrere feiner Werke
kenne, dachte ich, es zieme fich, ihm zu fagen, daß ich
grade Hermann und Dorothea mit Freuden gelefen habe.
— Seine Antwort war nicht fehr ermunternd, weiter von
diefem Thema zu reden, er fagte nämlich mit gemeffener
gravitätifcher Stimme: So haben Sie das gelefen!
[638.] September. H. Meyer an Schiller.
Von Herrn Geheimrat erhalte ich den Auftrag, Ihnen,
teuerfter Freund, Nachricht zu geben, daß wir von Gaffel,
wo ich wie Sie wiffen ihn abholen follte, feit ohngefähr
zehn oder zwölf Tagen wieder zurückgekommen und man^:
ches Schöne und Erfreuliche zu unferer nicht geringen En^
bauung gefehen haben. Ferner foll ich Sie vielfältig be?
grüßen, um Ihr Befinden anfragen und das Befie wünfchen;
endlich Ihnen bekannt machen, daß durch A. W. Schlei
gels Unterhandlung die Madame Unzelmann auf den 20.
diefes laufenden Monats hierher kömmt und einige Rollen
fpielen will, wozu Sie, befter Freund, freundlichft einge«;
laden werden.
Wir harren recht mit Ungeduld, Sie wieder zu fehen
und von Ihnen zu erfahren, wie es in jenen Gegenden
ausfieht, was in Kunft und Wiffenfchaft dort vorgeht,
dagegen Ihnen dann Berichte aus Pyrmont, Göttingen,
Gaffel, Eifenach und Gotha zu Dienften flehen.
(639.] (Oktober.) Henriette Gräfin v. Egloffltein.
Eines Morgens, an welchem fich zufälligerweife außer
mir nur noch einige Freundinnen bei der Göchhaufen zum
Dejeuner eingefunden hatten, ^^ fi:ellte fich auch Goethe
ein und äußerte feine Zufriedenheit darüber, daß er heute
I 20*
308 Henriette Gräfin v. Egioffftein. [639
Hahn im Korbe fei. Hierauf erklärte er, dies käme ihm
recht gelegen, weil er fchon längft den Wunfeh gehegt,
ein vernünftiges Wort mit uns im Vertrauen zu fprechen,
und doch brachte er nur die extravagantefien Dinge vor,
die uns defto mehr überrafchten, als die meifien von uns
ihn noch nie in einer folchen Stimmung gefehen und wir
uns nunmehr erklären konnten, wie anziehend und liebenss^
würdig er in früherer Zeit gewefen fein muffe, bevor er
die ihm jetzt eigene pedantifche Steifheit angenommen
hatte. In feiner lebhaften Unterhaltung kam er, wie man
im gemeinen Leben fagt, vom Hundertfien ins Taufendfte
und endlich auch auf das, was er das Elend der jetzigen
gefellfchaftlichen Zuftände nannte. Mit den grellften Far^
ben fchilderte er die Geiftesleerheit und Gemütlofigkeit,
die fich gegenwärtig überall, befonders aber im gefelligen
Verkehr bemerklich mache, und hob dagegen das ehe^^
malige gefellige Leben in kräftigen Zügen hervor. Wäh^
rend er hierüber wie der Profeffor auf dem Katheder do?
zierte, erhitzte er fich mehr und mehr, bis er endlich feinen
ganzen Zorn über den Teufel der Hoffart ergoß, der die
Genügfamkeit und den Frohfinn aus der Welt verbannt,
dagegen aber die unerträglichfte Langeweile eingeichmug?
gelt habe. Man muffe, meinte er, mit vereinten Kräften
gegen diefen böfen Dämon zu Felde ziehen, fonft würde
derfelbe noch weit mehr Unheil fiiften, und gleich auf
der Stelle wolle er uns den Vorfchlag machen, wir foll^
ten zur Erheiterung des nah bevorftehenden traurigen
Winters einen Verein bilden, wie es deren in der guten
alten Zeit fo viele gegeben habe. Wenn nur ein paar
gefcheite Leute den Anfang machten, dann würden die
übrigen fchon nachfolgen, und fich plötzlich zu mir wen^
dend, fetzte er hinzu, indem er mir feine Hand reichte:
die Wahrheit feiner Behauptung würde fich fogleich be?
ftätigen, wenn ich ihn zum Partner annehmen und den
andern mit gutem Beifpiel vorangehen wollte. Obgleich
mich diefer Antrag überrafchte, fo hielt ich denfelben doch
nur für das Aufblitzen einer fchnell vorübergehenden
Laune und würde es für die lächerlichfi:e Prüderie ge*
halten haben, nicht in den Scherz einzugehen. Ich legte
alfo unbedenklich meine Hand in die feinige und be?
lachte den Eifer, womit er die andern anwefenden Damen
aufforderte, jede von ihnen möge gleichfalls einen pour?
suivant d'amour erwählen, denn unfer Verein muffe nach
639] Weimar. 1801. 309
der wohlbekannten Minnefängerfitte eine cour d'amour
bilden und auch fo genannt werden, indem der Name
die poetifche Tendenz desfelben und die Zwangslofigkeit
bezeichne, die unter den Mitgliedern herrfchen folle. Ob
übrigens Amor feine Rechte bei den letzteren geltend
machen könne und dürfe, möge der Macht des kleinen
fchelmifchen Gottes überlaffen bleiben.
Goethes Aufforderung hätte eigentlich unfre Wirtin
wegen ihres Alters und ihrer Mißgeftalt beleidigen können,
wäre die fogenannte gute Dame nicht fchon längft an un^
zarte Behandlung gewöhnt gewefen. ^ Daher kam es denn
im gegenwärtigen Falle, daß fie fogleich in feinen Vor^
fchlag einging und mit der ihr eigenen komifchen Manier
erklärte: fie fei bereit dem Aufruf Folge zu leifien, da
fie mit Gewißheit darauf rechnen könne, einen treuen Se:=
ladon zu finden; die anderen fchönen Damen möchten
nur ihr Heil verfuchen, ob ihnen ebenfo dienfi:willige
Narren zu Gebote fi:ehen würden als ihr.
Goethe nahm diefe humoriftifche Erklärung mit dem
lebhafteften Beifall auf und begab fich fogleich an den
Schreibtifch unferer gefälligen Wirtin, wo er in der größ^
ten Gefchwindigkeit die folgenden Statuten der cour d'a?
mour improvifierte :
Erltlich follte die zu errichtende Gefellfchaft aus laus:
ter wohlaffortierten Paaren beftehen, die Verfammlung der;:
felben wöchentlich einmal, abends nach dem Theater im
Goethifchen Haufe ftattfinden und dort ein Souper ein;;
genommen werden, zu welchem die Damen das Effen,
die Herren den Wein liefern würden.
Zweitens werde jedem Mitgliede die Erlaubnis er^;
teilt, einen Gafi mitzubringen, jedoch nur unter der un::
erläßlichen Bedingung, daß diefer allen Teilen gleich an?
genehm und willkommen fei.
Drittens dürfe während des Beifammenfeins kein
Gegenfi:and zur Sprache kommen, der fich auf politifche
oder andere Streitfragen beziehen könnte, damit die Har;:
monie des Vereins keine Störung erleide.
Viertens und letztens follten die gegenfeitig erwählten
Paare nur fo lange zur Ausdauer in dem gefchloffenen
Bündnis verpflichtet fein, bis die FrühUngslüfte den Ein?
tritt der milderen Jahreszeit verkündigten, wo dann jedem
Teile freiftehen muffe, die bisher getragenen Rofenfeffeln
beizubehalten oder gegen neue zu vertaufchen.
I
310 Gräfin Henriette v. Egloffftein. [640
Als Goethe dies merkwürdige Aktenftück uns vor:;
las, konnte ich mich nicht enthalten, feine auffallende Gravis
tat und den imponierenden Nachdruck zu belächeln, wos^
mit er einzelne Stellen betonte.
[640.] November 8. F. Schelling an A. W. v. Schlegel.
Goethe war ^ noch bis heute hier in Jena. Geftern
abend habe ich bei ihm zugebracht, wobei er viel Spaß
machte. Unter anderm fagte er: Der Schlegelfche Als^
manach, foviel ich merke, fchleicht fich überall gut ein,
trotz der böfen Namen A. W. Schlegel und L. Tieck, die
vorn ftehen. Nur zu viel Blut und Wunden feien für
ihn darin. Das Heidentum ftecke ihm zu fefi in den
Gliedern. Mit der Jungfrau von Orleans hat er fich fehr
gequält, nicht zu fagen, wie fie fei. Unter anderm fagte
er, daß fie den Frauen fehr gefalle, weil es einmal keine
H— , fondern eine Jungfrau fei. — Denken Sie, daß die
auf der Weimarer Kunflausflellung von 1801 auf Preis=
ausfchreiben eingereichten Flußgötter keinen Preis er:^
halten, der aber für Achill aufSkyros zwifchen Hoff?
mann und Nahl geteilt wird. So haben wir wenigftens
befi:immt hören muffen; er felbft hat es mir nicht gefagt.
Den Schadow wollte er hier auch fchinden, wie er fagte,
(dies für Sie); es ifi: aber, foviel ich weiß, nicht dazu ge?
kommen. Tiecks Porträt hat er fehr gelobt; Loder, der
es bei ihm fah, wollte über die Ähnlichkeit ganz närrifch
werden.
[641.] Herbft. Schiller.
Goethe hat eine Anzahl harmonierender Freunde zu
einem Klub oder Kränzchen vereinigt, das alle vierzehn
Tage zufammenkommt und foupiert. Es geht recht vers^
gnügt dabei zu, obgleich die Gäfie zum Teil fehr hete?
rogen find, denn der Herzog felbft und die fürftlichen
Kinder werden auch eingeladen. Wir laffen uns nicht
ftören, es wird fleißig gefungen und pokuliert.
[642.] Gräfin Henriette v. Egloffftein.
In gewiffer Hinficht war es Falk wie jedem andern,
der unfern Zufammenkünften der cour d'amour niemals
beigewohnt, zu verzeihen, wenn er fich eine falfche Vor?
ftellung von den dort obwaltenden Zuftänden machte, da
644] Weimar. 1801. 311
lelbft die Mehrzahl der Mitglieder unfers Vereins in der
Erwartung der Annehmlichkeiten, die uns zuteil werden
füllten, fich getäufcht fahen, indem wir ftatt der verheißenen
poetifchen Freiheit und Zwangslofigkeit mit Gene und
Steifheit um geben waren, welche Goethes pedantifches
Wefen herbeiführte. Alles mußte nach feiner Vorfchrift
mit feierlicher Förmlichkeit getan werden; ohne feine Er^
laubnis durften wir weder effen oder trinken, noch auf::
ftehen oder uns niederfetzen, gefchweige denn eine Kon?
verfation führen, die ihm nicht behagte.
[643.] Herbft. Schiller an J. F. Cotta.
Sie fragen nach Goethen und feinen Arbeiten. Er
hat aber leider feit feiner Krankheit gar nichts mehr ge^s
arbeitet und macht auch keine Anftalten dazu. Bei den
treff lichften Planen und Vorarbeiten, die er hat, fürchte ich
dennoch, daß nichts mehr zuftande kommen wird, wenn
nicht eine große Veränderung mit ihm vorgeht. Er ift
zu wenig Herr über feine Stimmung, feine Schwerfälligkeit
macht ihn unfchlüffig und über den vielen Liebhaber?
befchäftigungen, die er lieh mit wiffenfchaftlichen Dingen
macht, zerftreut er fich zu fehr. Beinahe verzweifle ich
daran, daß er feinen Fault noch vollenden wird.
[644.] (Dezember Ende.) Henriette Gräfin v. Egloffftein.
Da es für die höchfte Auszeichnung galt, einer Ge?
fellfchaft einverleibt zu fein, in welcher der Diktator von
Weimar präfidierte, ^ fühlten fich auch die meilten Aus?
gefchloffenen tief verletzt, insbefondere Kotzebue, der fich
'^ gefchmeichelt hatte, es muffe ihm gewährt werden, was
anderen verfagt blieb, und zur Erreichung diefes Vorzugs
feine Gönner und Freunde in Bewegung fetzte, vor allen
anderen aber Böttiger, der die rechte Hand der Goch?
häufen war. Der dienftwillige Böttiger bot gern die Hand
dazu, feinen Einfluß auf die Göchhaufen geltend zu ma?
chen. ~ Trotz ihrer Klugheit ließ fich die Göchhaufen
von ihrer Neigung zur Intrige verleiten, einen Verfuch
in der Sache zu machen, der jedoch an Goethes Starr?
linn und Willenskraft fcheiterte. Es erfolgte zwifchen
beiden eine heftige Szene, worin er der kleinen Dame
mit harten Worten ihre Achfelträgerei vorwarf und ihr
unter Hinweifung auf den zweiten Paragraph der Statuten
fogar die geringe Gunft verfagte, ihren Protege nur ein?
mal als Galt einführen zu dürfen.
512 J. Falk. [645
[645.] (Dezember Ende.) J. Falk.
Kotzebue ^ mußte die Ausfchließung von der cour
damour wohl um fo empfindlicher vermerken, da ^ Goe^
the überdem durch ein jflüchtiges Bonmot, was Kotzebuen
indes bald genug wieder zu Ohren kam, feine Eitelkeit
noch mehr gereizt hatte. ^ Goethe hatte im Scherze ein^
mal gefagt: es helfe dem Kotzebue zu nichts, daß er an
dem weltlichen Hofe zu Japan aufgenommen fei, wenn
er fich nicht auch zugleich bei dem geifilichen Hofe da?
felbfi einen Zutritt zu verfchaffen wiffe.
[646.] (Dezember Ende.) K. A. Böttiger.
Goethe gab ^ eine Karikatur an: Goethe mit einigen
andern ^ wandelt in den Propyläen unter den Säulen?
gangen vornehm gutmütig herum. Unten hat Kotzebue
die Höfen abgezogen und fetzt einen Sir Reverend, in?
dem er fehnfuchtsvoll hinanblickend fpricht:
Ach, könnt' ich doch nur dort hinein 1
Gleich follt's voll Stank und Unrat fein.
[647.] Dezember Ende. Caroline v. Schlegel an A. W. v. Schlegel.
Goethe hatte die Jagemann, als fie in Schlegels Jon
die Titelrolle zu fpielen hatte, angewiefen, fich fchon zu
Anfang des Stückes, wie fie den Tempeldienft verrichtet
hat, in die Pforte ebenfo zu fiellen, wie Apollo zuletzt,
und da einige Minuten zu verweilen. Es knüpfte fich
dadurch eine Erinnerung des Anfangs fehr fchön an den
Schluß und verband zugleich Vater und Sohn durch eine
ftärker auffallende Gleichheit.
1802.
[648.] Januar 2./3. F. Schelling.
Goethe hat den größten Fleiß auf die Aufführung des
Jon verwendet; ^ auch habe ich ihn feiten oder niemals fo
erfreut über einen theatralifchen Erfolg, fo guter Laune ge?
fehen, als die war, in welche ihn diefer Sukzeß verfetzt hat.
[649.] Anfang d.J. Schiller.
Hier wollen wir im nächfien Monat Goethes Iphi?
genia aufs Theater bringen; bei diefem Anlaß habe ich
fie aufs neue mit Aufmerkfamkeit gelefen , weil Goethe
651] Weimar. 1802. 313
die Notwendigkeit fühlt, einiges darin zu verändern. Ich
habe mich fehr gewundert, daß fie auf mich den günftigen
Eindruck nicht mehr gemacht hat, wie fonft; ob es gleich
immer ein feelenvolles Produkt bleibt. Sie ift aber fo
erftaunhch modern und ungriechifch, daß man nicht he^
greift, wie es möglich war, fie jemals einem griechifchen
Stück zu vergleichen. Sie ift ganz nur fitthch; aber die
finnliche Kraft, das Leben, die Bewegung und alles, was
ein Werk zu einem echten dramatifchen fpezifiziert, geht
ihr fehr ab. Goethe hat felbft mir fchon längft zwei^
deutig davon gefprochen, aber ich hielt es nur für eine
Grille, wo nicht gar für Ziererei; bei näherem Anfehen
aber hat es fich mir auch fo bewährt. Indeffen ift diefes
Produkt in dem Zeitmoment, wo es entftand, ein wahres
Meteor gewefen, und das Zeitalter felbft, die Majorität
der Stimmen, kann es auch jetzt noch nicht überfehen;
auch wird es durch die allgemeinen hohen poetifchen
Eigenfchaften, die ihm ohne Rückficht auf feine drama:=
tifche Form zukommen, bloß als ein poetifches Geiftes=:
werk betrachtet in allen Zeiten unfchätzbar bleiben.
[650.] Januar (28). A. Genaft.
Goethe fagte bei der erften Lefeprobe der Turandot
zu den Darftellern der Rollen: Pantalon, Tarfaglia, Brigella
und Truffaldin. Nun wollen wir einmal diefe vier Masken
ganz besonders ins Auge faffen. In Italien hatte ich
großes Wohlgefallen an ihnen und fie haben mich ftets
ergötzt. Zunächft ift zu beachten, daß eine bedeutende
Abftufung in der Charakteriftik bei den vier Perfonen
in Bewegung, Mimik und Rezitation fich herausftellt. Nun
las er uns die Szenen derfelben vor und entwickelte dabei
eine folche draftifche Komik, daß fich unter dem ganzen
Perfonale eine ausgelaffene Heiterkeit verbreitete. Er felbft
amüfierte fich höchlichft dabei. Nun, fagte er, verfucht
einmal auf diefe Art und Weife den Intentionen unferes
Schiller nachzukommen, aber ohne mich zu kopieren:
jeder folge feinem eigenen Naturell.
[651.] (Januar Anfang.) Caroline v. Schlegel.
Dem Komödienzettel feh' ich's gleich an, daß das
Stück von Kotzebue fchlecht ift. Goethe hat eins von
ihm gelobt, das auch nächftens gegeben wird : Der Wirr?
I
314 Caroline v. Schlegel. [652
warr, nämlich gelobt fo in der Art: wenn man nicht
allzu rigoriftifche Forderungen macht, fo kann man ihm
die Beleuchtung (?) vielleicht ein klein wenig loben.
[652.] Februar Anfang. Schiller an J. F. Cotta.
Bei Goethen will ich tun, was ich kann, um Ihnen
einen Beitrag von ihm für den Damenkalender zu fchaffen.
Aber noch fehe ich nicht, wo er herkommen foll, da er
in ganz andern als poetifchen Befchäftigungen fteckt. Es
hatte ihn verdroffen, daß Sie Böttigern wegen des Gangs
der Propyläen Eröffnungen getan, weil er nicht gut gegen
ihn gefinnt ift und B. , deffen Indiskretion bekannt ift,
mit Begierde alles ergreift und verbreitet, was der guten
Sache, für welche Goethe ftreitet, Nachteil bringt. Übrigens
könnte es nicht fchaden, wenn Sie fich Goethen durch
ein paar Zeilen felbft wieder in Erinnerung brächten.
[653.] Februar 14. Caroline v. Schlegel an A. W. v, Schlegel.
Das Frankfurter Theater hat geftern angefragt bei
Goethe, ob es eine Abfchrift des Jon erhalten könne und
zu welchem Preis. G. wollte nun wiffen, ob man Dir
erft fchreiben folle und Dich den Preis beftimmen laffen;
da ich aber glaubte. Du würdeft eben auch mit G. da^
rüber beratfchlagt haben, fo konnten wir diefes ohne Zeit^
verluft in Deiner Seele. Er ift der Meinung, es der
Direktion zu überlaffen, dann bekomme man am meiften.
[654.] Februar 14./21. Caroline v. Schlegel an A. W. v. Schlegel.
Wie, mein Herr, Sie haben ein Intrigenftück gemacht
und ich weiß nichts davon? Goethe dachte fich gar nicht
anders, als daß ich es wiffen muffe. ^ Ich nahm mich
gleich zufammen und redete fo zierlich unbeftimmt, daß
er es gar nicht gewahr wurde und ich alles erfahren,
was man mir nicht hat anvertrauen wollen, da ich doch fo
verfchwiegen bin wie der alte Herr kaum. Was Du nun
aber zur Strafe nicht erfahren foUft, ift feine Meinung
davon, die er doch von fich gegeben hat, foviel wie
möglich war, indem ich mich auf kein Detail einlaffen
konnte. Und zum Wahrzeichen fag' ich Dir diefes, ob^
gleich Du gegen ihn es unentfchieden gelaffen, daß Du
dies Stück wirklich gemacht haft, fo fchließe ich doch
aus dem, was er darüber fagte, daß es nicht von Dir ift.
657] Weimar. 1802. 315
[655.] Caroline v. Schlegel an A. W. v. Schlegel.
Goethe gibt fleh überhaupt recht viel mit dem Theater
ab. Da ich nicht weiß, ob er Dir gleich fchreibt, fo
will ich f^ verraten, was er ungefähr über das eingefandte
Intrigenftück denkt. Erftlich hält er es für fehr auffuhr^:
bar, und er will fehen, daß er die Jagemann dazu an;;
ftellt. Es habe den Fehler, daß die Intrige pfychologifch
fei, innerlich und nicht fichtbar vorgehe. Außerdem aber
fei es leicht, graziös und luftig; kurz, er hat es recht
gelobt.
[656.] Februar Mitte. Caroline v. Schlegel.
Schelling ^ hat diesmal Fichtens Wünfchen gemäß
Goethen den ganzen Hergang von Fichtens Weggang
offenbart, worüber diefer denn, bis dahin völlig unwiffend,
fehr erftaunt ift. Nie zwar habe er fich eingebildet, daß
Fichte ohne Rückhalt handle, aber er hat felbfi: bis dahin
geglaubt, es fei von Niethammer und Schelling die Rede,
vielleicht noch von ein paar jungen Lehrern.
[657.] Februar 22. A. v. Kotzebue.
Wenige Tage vorher ehe die Aufführung der Deutfchen
Kleinflädter ßattßnden follte kam Herr von Kotzebue zu^;
fällig in einer Gefellfchaft mit Herrn von Goethe zu;;
fammen, der ihn beifeite nahm und ihm ganz höflich er;:
klärte, er habe manches in den Deutfchen Kleinfiädtern
ftreichen muffen, habe auch deshalb die fämtlichen Rollen
zurückgefordert, um die Weglaffungen anzumerken. Herr
von Kotzebue war nicht wenig befremdet; er meinte be;:
reits alles geftrichen zu haben, was den Umftänden nicht
angemeffen fei ; follte aber auch wirklich etwas dergleichen
ftehen geblieben fein, fo glaubte er doch, es fei nun zu
fpät, es wegzufireichen, nachdem man ihn Lefe^ und
andere Proben habe halten laffen; denn er werde dadurch
im Angeficht der Schaufpieler geringfchätzig behandelt;
nach feinen Begriffen muffe eine Direktion das Stück vors:
her lefen, ehe fie es ausfchreiben und austeilen laffe ufw.
Herr von Goethe verfetzte hierauf: Es fei Grundfatz bei
ihm, nichts auf feiner Bühne ausfprechen zu laffen, was
irgend eine Partei bezeichne oder überhaupt Beziehung
auf neuere Literatur habe. Kotzebue bemerkte dagegen:
Das fei wohl nicht immer des Herrn von Goethe Grund;:
316 A. V. Kotzebue. [658
fatz gewefen, da er z. B. in der Oper Die theatralifchen
Abenteurer ausdrücklich durch den berühmten Herrn Vuls:
pius eine Szene einfchalten laffen, in welcher die GurU
perfifliert werde. — Dies überrafchte Herrn von Goethe,
er wurde verlegen und fagte, um doch etwas zu fagen:
Der Charakter der Gurli gehöre gleichfam fchon der ganzen
Welt an. ^ Es wurde noch einiges hin und her gefprochen,
deffen Refultat dahin ausfiel, Herr von Kotzebue folle
doch die gemachten Veränderungen nur erft felbft be^:
augenfcheinigen, welches er denn auch verfprach. Herr
von Goethe hielt Wort und fandte Kotzebue das Stück
zu, in welchem er eigenhändig vernichtet und wieder ge?
fchaffen hatte. Kotzebue erftaunte über die Menge und
gänzliche Unbedeutenheit der meiftendieferVeränderungen.
Er fah nach kurzem Überblick, daß es ihm unmöglich
fei ohne Befchämung vor allen, die das Stück fchon kannten,
dasfelbe mißhandeln zu laffen. Er erklärte diefe feine
Meinung. Herr von Goethe beharrte bei der feinigen
und meinte, es fei ein unbeftrittenes Recht aller Direktionen,
die Stücke, die fie aufführen laffen wollen, nach Gefallen
zu fireichen. Kotzebue gab ihm diefes Recht bei ge?
druckten Stücken zu, aber nicht bei Manufkripten,
die der Verfaffer noch keineswegs dem Publikum aban:;
donniert hat und bei deren Überlaffung er wohl allere
dings Bedingungen machen darf, Herr von Goethe glaubte
das nicht.
[658.] Februar. Caroline v. Schlegel.
Goethe weiß das von Alarcos und Friedrich. '^ Er
hat mancherlei über ihn gefagt, er fei der immer Hetzende
und immer Gehetzte und eine rechte Brenneffel, famt
einer Reihe von Einfällen über ihn, die Friedrichs Epi?
gramme auf ihn allenfalls aufwiegen.
[659.] Februar. Henriette Gräfin v. Egloffftein.
So trug Kotzebue uns denn, bei der nächften Ver?
fammlung in feinem Salon, ganz einfach die Bitte vor,
wir möchten ihn bei einem Fefie unterftützen, das er am
5. März, Schiller zu Ehren, veranftalten wolle, da ohne
unfre Beihülfe der Glanzpunkt jener Feier, der in Dar^
fiellung einzelner Szenen aus den vorzüglichften dramas:
tifchen Werken des verehrten Dichters beltehen follte,
nicht erreicht werden könnte. '^ Mir ward die Johanna
661] Weimar. 1802. 317
von Orleans zugeteilt, weil Schiller bei der erften Vor;:
lefung des Stücks erklärt hatte, daß ihm während des
Entwurfs feiner Heldin meine Perfönlichkeit ftets vor
Augen gefchwebt, und weil auch Goethe lieh dahin zu
äußern beliebte, ich fei ganz für diefe Rolle gefchaffen.
Letzterer hatte mir fogar öfters Vorwürfe darüber ge:;
macht, daß ich mich durch ein törichtes Vorurteil abhalten
ließe, ihm und dem Publikum den hohen Genuß zu ge:*
währen, öffentlich als Johanna aufzutreten. Ich ergriff
demnach die erfte Gelegenheit, ihm zu berichten, daß zu^;
fälligerweife fein Wunfeh erfüllt werden und er mich als
Mädchen von Orleans auf dem Theater erblicken würde.
Er fchien auch in der Tat aufs Angenehmfte von
diefer Nachricht überrafcht zu fein, und zeigte fich fehr
teilnehmend gefpannt auf die Details des projektierten
Feftes, denn er erkundigte fleh nach den geringften Dingen,
ließ fich mein Koftüm befchreiben, und erteilte mir hiers:
bei nicht nur feinen Rat, fondern erbot fich auch am
Ende unfrer langen Unterredung, mir das Modell zu dem
Helme fenden zu wollen, der mich als Johanna fchmücken
follte, und den ich auch wirklich am andern Tag erhielt.
[660.] März 11. Caroline v. Schlegel.
Ja, die Kleinfiädter wären den Kleinftädtern fehr ge^
fährlich gewefen, fagte Goethe zu Schelling.
[661.] April 8. Wieland.
Goethe hat mir allerdings am verwichnen Donnerss:
tag einen ebenfo unerwarteten, als angenehmen Nach?
mittagsbefuch gemacht. Wir waren mehrere Stunden ver?
gnügt und traulich und fprachen von mancherlei, aber
von allen theatralifchen Abenteuern der letztvergangenen
Wochen und Monate ne y()v quidem. Da Kotzebue zu:;
fällig erwähnt wurde, fprach er im Vorbeigehen unbefangen
und gut von ihm ; ebenfo unbefangen wurde auch Schlegels
Jon und meine Überfetzung des Euripidifchen berührt. Über?
haupt fchien er fich keines Dings, das einer Apologie
bedürfe, bewußt zu fein und ich glaube fafi, daß dies
wirklich der Fall bei ihm ift. Er fchien auch gern zu
hören, daß ich mich an die Helena des Euripides machen
wollte, erklärte fie für fein Lieblingsftück und hielt es nicht
für unmöglich, daß fie dereinft bonis avibus aufs Theater
gebracht werden könnte.
I
318 Schiller. [662
[662.] Mai (17). Schiller an J. F. Cotta.
Ich habe mit Goethen Ihrentwegen gefprochen und
kann Ihnen nun feine beftimmte Meinung wegen der zu
verlegenden Werke geben. Es ift durchaus nötig, daß
Sie mit einem beftimmten Entfchluß hierher kommen, wie
weit Sie mit ihm gehen wollen, und Ihnen diefen Ent?
fchluß zu erleichtern, ift die Abficht meines heutigen
Schreibens.
Goethe will aufs nächfte Jahr einen Almanach von
Liedern, welche zu bekannten volksmäßigen Melodien von
ihm gemacht find, herausgeben. Ich habe einen Teil diefer
Lieder gehört, fie find vortrefflich und man kann fagen,
daß fie die Melodien felbft mit fich erheben und diefen
beffer fogar anpaffen als die urfprünglichen Lieder, zu
denen man fie erfunden hatte. Der innere Wert diefes
Liederalmanachs, der Name Goethens und der Umftand,
daß jedermann die Lieder fogleich fingen kann, weil die
Melodien dazu fchon alt und im Gange find, läßt einen
großen Abfatz diefes Almanachs ficher erwarten. Es wäre
alfo keine Frage, daß fie ihm die 1000 Rthr., die er da=:
für haben will, geben könnten, obgleich viele Exemplare
verkauft fein müßten, ehe die Koften herauskämen.
Hierbei ift aber nun eine Bedingung, welche mir be^
denklich fcheint. Goethe will nämlich, daß Sie auch zwei
andere Werke, vielleicht auch mehrere, binnen der nach?
ften Jahre verlegen, welche bei weitem diefen Kurs nicht
haben können, und die das Schickfal der Propyläen haben
dürften. Das eine davon ift eine Gefchichte der Kunft
im verfloffenen Jahrhundert, welche Meyer aufgefetzt hat
und begleitet von eignen Auffätzen Goethens. Es läßt
fich von diefem Werk etwas wahrhaft Vortreffliches dem
innern Gehalt nach erwarten, aber die große Frage ift,
ob der höchfte innre Wert, den doch gewiß die Propy?
läen haben, auch ein ficheres Unterpfand für den Ab?
fatz ift. Die Auffätze in den Propyläen über die alten
Maler u. dgl. zeigen den Geift, in welchem jene Ge?
fchichte der Kunft gefchrieben fein wird. Goethe wird
zwar diefe Schrift noch mit einem fehr merkwürdigen
Beitrag begleiten, aus dem er jetzt noch ein Geheimnis
macht, das ich Ihnen aber, damit Sie alles wiffen, im Ver?
trauen eröffnen will, fobald Sie hier find. Er verlangt ferner
nur ein verhältnismäßiges Honorar für diefe Schrift, wird
fich aber, wie ich ihn kenne, mit 100 Carolin kaum begnügen.
663] Weimar. 1802. 519
Nun glaube ich zwar nicht, daß Sie bei die fem Werk
in Verluft kommen würden, obgleich ich keinen großen
Gewinn voraus fehe; befonders auch darum nicht, weil
in den nächften fechs bis acht Jahren gewiß feine fämts^
liehen Werke gefammelt herauskommen, worin alle jene
Schriften wieder erfchienen; aber von einem andern Werke,
das er gleichfalls von Ihnen verlegt haben will, wenn er
Ihnen irgend etwas Poetifches zum Verlag geben foll, ift
weit mehr zu befürchten. Dies Werk ift der Cellini, den
er nun vollftändig mit Noten begleitet herausgeben will.
Er erkennt zwar, daß er dafür beträchtlich weniger als
für ein Originalwerk fordern kann, und nimmt auch da^
rauf Rückficht, daß Sie ihm für einen Teil desfelben in
den Hören fchon ein gutes Honorar bezahlt haben. Diefes
Werk, das etwa ein Alphabet betragen wird, überließ' er
Ihnen vielleicht um 50 Carolin.
[663.] Mai 29. Henriette Gräfin v. EglofHtein.
Je näher der zur Aufführung des Alarcos von Fried=
rieh Schlegel anberaumte Tag herankam, defto lebhafter
ward die Neugierde, das viel befprochene und viel be::
krittelte Stück zu fehen, und als er endlich erfchien,
itrömte die halbe Bevölkerung von Weimar zum Theater. ^
Trotz fo vieler Jahre, die feit jenem Tage über meinem
Haupte hingezogen find, fehe ich doch noch jetzt in dem
ungetrübten Spiegel der Erinnerung ebenfo deutlich wie
damals in der Wirklichkeit das überfüllte Schaufpielhaus
vor mir — mitten im Parterre Goethe, ernft und feierlich
auf feinem hohen Armftuhle thronend. ^^
Im Anfange der Vorfiellung verhielten fich die Zuj:
fchauer völlig paffiv; je weiter aber das Stück vorwärts
fchritt, defto unruhiger ward es auf der Galerie und im
Parterre. ~ In der Szene, wo gemeldet wird, daß der
alte König, den die auf feinen Befehl ermordete Gattin
des Alarcos vor Gottes Richterftuhl zitierte, aus Furcht
zu fterben, endlich gar geftorben fei, da brach die Menge
in ein tobendes Gelächter aus, fo daß das ganze Haus da?
von erbebte, f^'
Aber nur einen Moment. Im Nu fprang Goethe
auf, rief mit donnernder Stimme und drohender Bewegung:
Stille 1 ftillel* und das wirkte wie eine Zauberformel. -^
* Nach dem Tagebuche eines alten Schaufpielers vonE.Genaft
hätte Goethe gerufen: Man lache nicht! Zwar iit di^s dort von der
I
320 Henriette Gräfin v. Egloffftein. [664
Augenblicklich legte fich der Tumult, und der unfelige
Alarcos ging ohne weitere Störung, aber auch ohne das
geringfie Zeichen des Beifalls zu Ende.
[664.] Mai 30. A. Genaft.
Als ich den andern Tag meinen Rapport an Goethe
überbrachte, fagte er zu mir: Nun, ich bin zufrieden mit
der geftrigen Vorftellung, und was die andern Leute
dazu fagen, geht mich und Euch nichts an. Er fprach
das mit großer Gleichgültigkeit aus, aber ich fühlte recht
gut heraus, daß ihn die Niederlage verfiimmt hatte.
[665.1 (Juni.) Schiller.
Mit dem Alarcos hat fich Goethe allerdings kom^:
promittiert. Es ift feine Krankheit, fich der Schlegels an^;
zunehmen, über die er doch felbft bitterlich fchimpft und
fchmäht.
[666.] Juni 15. Amalie v. Helvig geb. v. Imhoff.
Mir wurde die Aufgabe übertragen, dem Improvifator
Scotes den Text zu geben; ich fchlug vor: die Flucht
der Mufen aus Griechenland nach Italien. Er führte das
Thema befriedigend durch, aber zu meiner Genugtuung
begegnete ich mich im Urteil mit Goethe darüber, daß
Scotes fich hauptfächlich auf Details über die Dichter ein^s
gelaffen hatte und das eigentlich poetifche Motiv des
Gegenftandes vernachläffigte.
[667.] Juni 15. K. A. Böttiger.
Der Geheime Rat v. Goethe nannte alfo ein weit
befchränkteres , aber eben darum dem wahren Künfi:ler
zum Aufgebot feiner ganzen Dichterfchätze noch will::
kommeneres Thema: Das Vergnügen eines italienifchen
Zufchauers in einem Nationallufifpiel an den vier be:=
kannten Charaktermasken.
[668.] (Juni.) P. A. Heiberg.
Falk ift mit Goethe fehr intim und bewies mir klar,
wie diefer aus Prinzip fiolz ift, wenn er repräfentiert oder
fich in Gefellfchaft von Leuten befindet, mit denen er
Aufführung des Jon erzählt, aber in zweifellofer Verwechfelung
mit Alarcos, wie auch im folgenden Stück 664.
672] Weimar - Lauchftädt. 1802. 321
nicht harmoniert, dagegen ungemein Uebenswürdig ift un?
ter denen, die er kennt und fchätzt. ^^ Schlegels Alarcos
fiel vollftändig durch auf dem Weimarer Theater, trotz
der Protektion Goethes. Als diefer Falk fragte, wie er
über das Stück denke, antwortete er: Schlegel habe größere
Urfache zufrieden, als unzufrieden zu fein.
(669.] (Juni.) Henriette v. Knebel.
Ich erinnere mich auch, daß Goethe mir einmal fagte,
daß Herder in feinen Religionslehren für die Jugend ganz
herrlich und unnachahmlich wäre.
[670.] Juni 23. F. Schelling.
Es würde vielleicht unterhaltend fein von Madame
Sander die Höflichkeiten zu vernehmen, die fie und ihr
Gemahl hier in Jena und in Weimar von Goethe ge?
noffen haben. Für uns war es nicht wenig luftig, es zum
Teil mit anzufehen und zu hören, wie fie bei Goethes
Ankunft in Lauchftädt fchon wieder gegenwärtig waren,
und er ihn beim Ausfteigen empfing, von ihm aber mit
der Äußerung gegen feinen Reifegefährten, daß es ein
wahres Zigeunerpack fei, empfangen wurde — natürlich
daß Sander das nicht hörte.
[671.] Juni 26. A. Genaft.
Am 20. Juni ging die Gefellfchaft nach Lauchftädt,
wo das neuerbaute Theater am 26. Juni mit dem Vor^
fpiel Was wir bringen und der Oper Titus eröffnet wurde. ^
Goethe hatte feinen Platz auf dem Balkon genommen.
Nach dem Vorfpiel brachte das Publikum Goethe ein dreist
maliges Hochl indem es fich erhob und feine Blicke nach
ihm richtete. Er trat vor und fprach: Möge das, was
wir bringen, einem kunftliebenden Publikum ftets genügen.
Nach diefen Worten zog er fich zurück und kam auf die
Bühne, um dem Perfonale feine Zufriedenheit mitzuteilen.
[672.] Juni 21./Juli 25. A. Genaft.
Goethe fühlte fich einige Zeit ganz behaglich in dem
Treiben; feine Freunde von Leipzig und Halle befuchten
ihn und er erwiderte ihre Aufmerkfamkeit. In Lauch:;
ftädt fchien ihn ein Individuum befonders zu intereffieren,
von welchem er mir bei meinem Morgenrapport fagte:
I 21
322 A. Genaft. [673
Ich habe geftern Abend einen originellen Menfchen, ein
lebendiges Konverfationslexikon kennen lernen, einen ge^
wiffen Ferdinand Baron v. L., der in unferer europäifchen
Literatur fehr bewandert ift und fie nicht bloß oberfläch^s
lieh kennt. Er fchwärmt für unfere dramatifche Kunft
und ift mit Iffland, Fleck, den Bethmann und mehreren
wackern Künftlern befreundet. Indeffen fcheint mir, daß
er fich hauptfächlich der Spielbank und nicht des Badens
wegen hier aufhält.
[673.] Juli 10./20. J. G. Gruber.
Reichardt hatte zu Augufl Lafontaine in Halle gefagt,
daß er in einigen Tagen ihm einen Kaufmann aus Hamburg
zuführen werde und kam wirklich auch mit einem Fremden
zu ihm, den er ihm mit einigen Worten vorftellte, die er
nicht verftand und für das Gewöhnliche nahm. Man
ging in den Garten. Den Fremden intereffierte die lange
Baumallee. Er blieb am Ende des Ganges fiehen, be?
trachtete lange die Ausficht und äußerte dann, eine fo
impofante Maffe von großartigen Gebäuden, wie fich hier
auf einen Blick darftelle, nie, felbft in Italien nicht, ges^
fehen zu haben. Das Gefpräch lenkte fich davon auf
Kunft und Altertum und Lafontaine hörte mit Erftaunen,
wie kenntnis? und geiftreich diefer Kaufmann war, an
welchem fein Intereffe von Minute zu Minute wuchs.
Es war ganz gegen feine Sitte, jemand um feinen Namen
zu fragen, diesmal aber fagte er beim Abfchied: Mein
Herr! Sie haben mir ein fo großes Intereffe eingeflößt,
daß ich nicht unterlaffen kann, Sie um Ihren Namen zu
bitten. — Mein Name ift Goethe, war die Antwort. Mein
Himmel, fagte Reichardt, ich hab's Ihnen ja beim Eintreten
gefagt. Was wollen Sie gefagt haben? Einen Kaufmann
aus Hamburg haben Sie mir angekündigt und beim Eintreten
haben Sie nichts gefagt, fondern nur etwas gemurmelt.
Wenn Sie künftig Goethe ankündigen, fo fprechen Sie
deutlich, Herr! Sie brauchen bloß feinen Namen zu
nennen.
Aber, fo wendete er fich zu Goethe, im Grunde ift
mir das Mißverftändnis recht lieb; denn hätte ich Ihren
Namen gewußt, fo hätte ich gleich nichts andres von
Ihnen erwartet, als was ich gehört habe.
675] Weimar. 1802. 323
[674.] Auguft Ende. F. Schelling an A. W. Schlegel.
Hofrat Schütz, Herausgeber der Allgemeinen Literatur?Zei?
tung, hatte in Nr. 225 diefer Zeitfchrift einen, Schelling gröblich
verletzenden Auffatz gebracht, deffenwegen Schelling Genugtuung
nehmen wollte und fich mit W. Schlegel darüber vernahm.
Daß mit Goethe in diefer Sache fehr wenig anzu?
fangen war, haben Sie fehr richtig vorausgefehen. Nicht
als ob er nicht die ganze Schändlichkeit und Abfcheu^
lichkeit gefühlt, den beften Willen gezeigt hätte, fondern
weil er verficherte, in der Sache keinen Erfolg verfprechen
zu können. Mein Anfinnen war nämlich, einen unmittelj^
baren Schritt der Regierung durch ihn zu bewirken. Er
verficherte mich der Schwierigkeit, die er hierbei zu über^
winden haben und wahrfcheinlich nicht überwinden würde ;
er riet von nichts ab, gab aber nur den einzigen, fich
von felbfi: verftehenden Rat, nichts zu unternehmen, wo^
bei man der kompletten Sache und des zu wünfchenden
Erfolgs nicht verfichert fei.
Das perfönliche Gewicht von Goethe konnte, um
etwa die jetzigen Redakteure der Literatur ^^ Zeitung zu
einer Zurücknahme auf die von Ihnen angegebene, auch
von mir gedachte Weife zu bewegen, bei der grenzen?
lofen und von Ihnen vielleicht felbft nicht fo gewußten
Unverfchämtheit und Infamie des Schütz, die feitdem
immer zugenommen hat, nichts fruchten, vielmehr hätte
Goethe fich einzig felbft dadurch ausgefetzt.
[675.] September Anfang. Schiller an J. F. Cotta.
Goethe hat Ihnen fein Drama, das Vorfpiel Was wir
bringen, angeboten, wie er mir fagt, und das Honorar
Ihnen überlaffen. Auf eine Anfrage, die er vorher bei
mir getan, was er ohngefähr dafür erwarten könne, habe
ich ihm von 60 Carolin gefprochen, und er fcheint da^^
mit zufrieden. Es fteht bei Ihnen, ob Sie diefes Honos;
rar um etwas überfteigen wollen. Das Stück, welches
natürlicherweife im Druck auf die möglichfi größte Bo?
genzahl muß ausgedehnt werden, kann, wie ich es nach
einer flüchtigen Überficht taxiere, fechs Bogen klein Ok?
tav und etwas weit gedruckt ausmachen. Die Buchhänd?
1er aus Berlin und Leipzig haben fich, wie ich von guter
Hand weiß, darum geriffen, und es ift ein gutes Zeichen,
daß Goethe fich nicht durch ihre Anerbietungen blen?
den ließ.
I 21*
324 W. V. Humboldt. [676
[676.] September (21). W. v. Humboldt.
Der Alarcos hat ihn frappiert, wie es ihm manche
mal geht; noch jetzt fagt er, man könne nichts einzelnes
angreifen. Alles laffe fich mit Stellen aus Calderon, Dante,
Shakefpeare uff. belegen. ^^ Doch haßt er jetzt das Pro?
dukt; er ift damit einig, daß es alle echte Maximen der
Kunft verdreht, und findet eben darum die Clique ver?
derblich, weil fie doch nimmer von echten Maximen aus?
geht. '^ Meine Frau erinnert mich noch an Goethens
eigene Worte über den Alarcos. Sie lauten buchftäblich :
Verfluchen muß man das Produkt.
[677.] September Ende. G. Schadow.
Unfer* dritter Befuch war bei Herrn von Goethe, wo
uns Meyer gemeldet hatte; der Bediente fragte, ob G. Scha?
dow dabei fei, er öfihete den Saal und Meyer erfchien.
Man befah eine Kopie Titians von Bury, illuminierte Blät?
ter aus der Farnefina und eine Büfte der Unzelmann. Herr
von Goethe trat auf, fchnellen Schrittes. Sie wollen mir
das Vergnügen Ihres Befuchs geben, fagte er und befahl,
uns Stühle zu geben. Seine erfte Frage war nach Zel?
ters Befinden, von dem ich ihm einen Brief gab, wobei
das Gefpräch blieb und er wenig fagte. Ich wollte auf
was anderes kommen und benahm mich ungefchickt, in?
dem ich fragte, ob er verftatten würde, mit dem Zirkel
die Maße nehmend, feinen Kopf zu zeichnen? Dies fei
bedenklich, fagte er; denn die Herren Berliner wären
Leute, die daraus manches deuten möchten; in Weimar
wäre einer gewefen, der Galls Lehren anhinge, nämlich
der Dr. Froriep, der gerade verreift fei. Zugleich er?
fehlen fein Bedienter, der ihn abrief. Da er lange aus?
blieb, führte uns Meyer in ein anderes Zimmer, zeigte
uns die von ihm gemalten Superporten und einen Me?
dufenkopf im Fußboden. Als Herr von Goethe wieder?
kam, entfchuldigte er fich mit den Gefchäften; wir waren
aufgefianden, das Gefpräch war ftehend, wir mußten zum
Mittagstifch nach Jena bei Herrn von Kotzebue und emp?
fahlen uns fogleich.
Herr von Goethe hatte Grund, mir nicht freundlich
zu fein. In den Propyläen hatte er das Kunfitreiben Ber?
* Schadow und Franz Catel.
679] Weimar - Jena. 1802. 325
lins als profaifch gefchildert, in einer andern Zeitfchrift,
Eunomia, hatte ich hierüber eine andere Anficht gegeben,
und war er damals dergleichen Dreiftigkeiten nicht gQ^
wohnt.
Beim Abfchiede fagte er: Sie werden doch noch
einige Zeit hier bleiben. Die Brüder Franz und Louis
Catel meinten: ich fei mit meinem Antrage in die Quere
gekommen. '^
Böttiger fagte, Herrn von Goethe behage mein Her?
kommen nicht, fei es nun wegen meiner Bemerkungen
über die Propyläen, oder weil feine Ausftellung armfelig
ausgefallen war. Die Aufforderung, Kunftwerke einzu^:
fenden, war von ihm ausgegangen, die Kunftfreunde in
Weimar hatten geringe Geltung, und fo kam die Miß?
ernte.
[678.] Oktober (12). F. Schelling an A. W. Schlegel.
Stellen Sie fich die Plattheit von Schadow vor, daß
er Goethen gleich nach dem erften Willkomm darum an?
fprach, feinen Kopf ausmeffen zu dürfen. Goethe fagte
davon: er habe ihn wie der Oberon den Sultan gleich
um ein paar Backzähne und Haare aus feinem Bart ge?
beten. Nach dem Eindruck, den er auf Goethe gemacht
hat, muß er gegen ihn wie ein Bierbruder fich aufgeführt
haben.
[679.] Oktober (12). F. Schelling an A. W. Schlegel.
Warum entfchließen Sie fich nicht kurzweg, gegen
Schütz und die Lit. Zeitung die Szene mit Kotzebue zu
erneuern? Gegen unfere, von Grundfätzen der Honnete?
tat ausgehenden Erörterungen wird Schütz fich immer hal?
ten können, da er den tiefften Grund der Infamie auf?
zuwühlen fich nicht fcheut. Gegen den Witz hält auch
diefer Heroismus der Niederträchtigkeit nicht Stich. Eine
große Tat diefer Art befreit uns auf immer. Rückfichten
find hier keine mehr zu beobachten. Machen Sie gegen
Schütz, was Sie wollen, er wird ohnmächtig fi:ampfen und
fich wütig anfi:ellen, aber in die Falle des Verklagens geht
er gewiß nicht mehr, gegen welches wir auch ein ganz
ficheres Mittel haben, nämlich das Perhorreszieren des
hiefigen Forums. Von feiten der Regierung in Weimar
ift durchaus kein Schritt zu erwarten; fie hat die Maxime
des gänzlichen Ignorierens angenommen und wünfcht nur,
I
326 F. Schelling. [680
von Jena gar nichts mehr zu hören — was ich aber ge^
fchrieben, ift im Grunde auch die Meinung Goethes, der
eben jetzt auf einige Tage hier war. Er hatte gegen Ihre
Schrift A. W. Schlegel an das Publikum, Rüge einer in
der Allg. Lit=Ztg. begangenen Ehrenfchändung nichts aus?
zufetzen, als daß fie kein radikaler Totfchlag fei.
Wenn Goethe in diefer Sache weniger tut, fo ift es,
weil er im Grunde ganz in derfelben Lage ift, wie wir,
da er in Weimar ganz allein fteht und felbft feine un?
mittelbaren Bekannten mehr oder weniger auf beiden
Achfeln Waffer tragen. Soviel ich merken kann, denkt er
auf eine ziemliche Zeit wegzugehen — wohin? weiß ich
nicht. Sie werden feinen und aller Verftändigen Beifall
haben, wenn Sie mit einem Streich alles vollführen.
Von dem fpanifchen Stück Die Andacht zum Kreuz
kann Goethe nicht aufhören zu reden. Wenn man Guido
fehe, fagt er, fo meine man, daß niemand beffer gemalt
habe — wenn Raphael, daß die Antike nicht beffer fei.
So mit dem Calderon: nicht nur Shakefpeare gleich, fon?
dern, wenn es möglich wäre, ihm noch mehr zuzugeftehein
Unbegreiflicher Verftand in der Konftruktion, Genie^nl
der Erfindung. — Genug: diesmal kann man ihm nicht
vorwerfen, daß er zu kalt lobt. Die Aufführung, meint
er, fei unmöglich, da es auf die Menge doch nur durch
den Stoff wirke, der als fremdartig felbft fchon durch die
Freiheit, womit er behandelt fei, gerade den Proteftanten
anftößig fei. Mit Ihrer Antwort gegen den Schwacke
fchien er nicht zufrieden. Sie verderben die Leute, fagte
er, indem Sie fich darauf einließen, fie zu belehren, und
er hätte gar zu gern gefehen, wenn Sie dem Kerl das
Fell über die Ohren gezogen und dann ausgeftopft ihm
felbft zurückgegeben hätten.
[680.] Oktober (12). F. Schelling an A. W. Schlegel.
Ich kann nicht glauben, daß Goethe einigen Kalt?
finn gegen Sie habe. Wegen des Calderon hat er mich
einmal gebeten, ihn bei Ihnen zu entfchuldigen, daß er
nicht gleich darüber gefchrieben; habe ich es nicht ge?
tan, fo muß ich fehr um Verzeihung bitten. Ich erinnere
mich, daß er es mir auftrug, nachdem ich eine halbe
Stunde vorher einen Brief an Sie abgefchickt hatte, worin
ich von feinem Urteil darüber gefchrieben hatte; ich fagte
ihm dies und er dankte mir, es getan zu haben.
682] Jena. 1802. 327
[681.] Oktober (12). F. Schelling an A. W. Schlegel.
Mit dem Lacrymas von W. von Schütz ift es mir auf
eigne Weife ergangen. Ich habe ihn bisher immer nicht
gelefen, weil ich nur Augenbhcke dazu hatte. Nun ich
ihn Goethen gegeben, fchimpft diefer (unter unsl) ebenfo
ungemeffen darauf, als er das Stück des Calderon mehr
als je von ihm gehört, erhoben hat. Dadurch bin ich
in der Alternative, mich auch entweder über den Lacry^
mas oder über Goethen zu ärgern, der auch keinen ge^:
funden Biffen daran finden wollte.
[682.] Herbft (und 1803 Frühjahr). Erneftine Voß.
Als wir im neuen Haufe eingerichtet waren, kam
Goethe auf mehrere Wochen nach Jena, und befuchte uns
oft; auch holte er Voß mehrmals zu einer Spazierfahrt
ab, von der diefer ftets heiter nach Haufe zurückkehrte.
Unfere Bitte, abends zuweilen mit uns vorlieb zu nehs:
men, erfüllte er gern; fich anmelden zu laffen, dazu war
er nicht zu bewegen, hinzufügend, für das, was er bei
uns {ich holen wollte, wäre auch das kleinfte Mahl das
rechte.
Gegen mich war er ftets fehr artig. Eine Freunde
lichkeit werde ich ihm nie vergeffen, die mein Herz traf.
Einmal fand er mich im Garten knieend auf dem Boden,
um die Einfaffung auszubeffern. Er unterfuchte teilneh:;
mend mein Gefchäft und riet Sachen zu wählen, die nicht
fo leicht vom Zufall geftört würden. Meine Antwort
war, ich wäre noch zu unkundig in Jena, um die Plätze
zu wiffen, wo man fich dergleichen verfchaffe. Ich ar?
beitete fort, während die Herren auf und ab gingen. Als
wir einige Tage fpäter abends aus einer Gefellfchaft heim?
kehrten, fanden wir alles gar zierlich und hübfch einge?
faßt und überall Sommerblumen hingepflanzt, unter denen
fo mancher alte Bekannte. Goethe wollte den Dank da#
für nicht annehmen, ward aber beim nächften Befuch fehr
heiter geftimmt durch unfre Freude daran.
Goethe redete auch mit Voß über den Erziehungs*
plan feines Auguft, den er zuweilen mitbrachte. Es war
ein gar lieber lebendiger Knabe. Der Rat fand Eingang,
daß er ihn früh gewöhnen muffe, fich in beftimmten Stun?
den zu irgendeinem Zweck zu befchäftigen, und Rechen*
fchaft von dem zu geben, was er aufgefaßt. Während
I
328 Erneftine Voß. . [685
des Aufenthalts in Jena ward das Anerbieten, ihn tägUch
eine Stunde und auch wohl länger zu befchäftigen, freudig
aufgenommen. Ein paarmal ging dies zu gegenseitiger
Freude, folange die Sache dem Knaben noch ein Spiel
fchien. In der Folge fchlief er, das Buch vor fich habend,
ein. Voß erzählte dies Goethe mit Laune, und fügte hin:;
zu: Ich will nicht beftimmen, ob die Schuld an mir oder
an Augufi liegt, denn wir haben beide Gefallen anein*
ander. Goethe meinte, gleichfalls im fcherzenden Ton,
er könne es wohl beftimmen, denn er habe ähnliches
fchon an fich felbft und anderen erfahren.
[683.] (Oktober.) F. Tieck.
Die Anfertigung einer Büße Wielands, war mir näm^
lieh fechs Monate vorher, und wiederholentlich , von
S. Durchlaucht dem Herzoge aufgetragen; und nur ^^
andere Arbeiten, welche die Baumeifter fchnell beendigt
wünfchten und letztlich '^ Herr von Goethe, welcher es
bis zum Winter aufgefchoben wünfchte , verhinderten <^^
daß die Büfte nicht fchon längft fertig war.
[684.] Oktober 25. G. Schadow.
Schadow hatte Wielands Büfte begonnen und fchreibt in
feinem Tagebuch:
Nachmittags erzählte mir Böttiger, es fei in Tiefurt
bei der alten Herzogin eine ftarke Szene vorgefallen. Herr
von Goethe fei, wie es fcheine, ausdrücklich (?) deshalb
hingegangen, er habe mich einen geizigen, neidifchen,
tracaffieren Mann genannt; fie, die Herzogin, könne und
dürfe es nicht zugeben, daß Wieland mir zu feiner Büfte
fitze. Er felbft komme hierbei in Verlegenheit; denn es
fei doch einmal des Herzogs Wille gewefen, daß Tieck
diefe Büfte machen folle. Genug, der Herr von Goethe
habe es dahin gebracht, daß die Herzogin und felbft Wie;;
land nicht mehr gewußt hätten, was fie tun oder laffen
follten, bis der Herzog, dem es zufälligerweife einfiel,
feine Frau Mutter zu befuchen, dazu kam, der denn, als
ein verftändiger Mann, fich hierüber verwunderte und
die Meinung äußerte, daß fie alle hierin nichts zu fagen
hätten, und daß die Sache lediglich vom alten Wieland
abhinge, dem es freiftände zu fitzen, wem es ihm be*
liebte, und ebenfo wäre ja Schadow auch der Mann, der
jede Büfte machen könne, welche ihm einfiele.
688] Weimar. 1802. 329
[685.] Oktober (25). F. Tieck an A. W. Schlegel.
Schreibe mir unverzüglich, ob Du oder GeneUi der
Verfaffer des Auffatzes über die hiefige Ausftellung in >
der Eleganten Zeitung bift. -^ Goethe ift wütend darüber,
fpricht von Buben, die (ich unterfangen und mit dem
Bruder und Hartmann, und da Sachen darin find, die
nur ich gefagt habe, fo meinen fie, ich fei auch mit im
Spiele. Meyer ftellt fich ganz gelaffen, und fagt, es fei
dumm und platt und er begriffe nicht, wie es Goethe
ärgern könne. Der Herzog amüfiert fich am meifi:en und
neckt Goethe rafend damit.
November (24). Henriette Knebel.
Als man an dem Todestag der guten Elife Gore mit
dem Goethe von ihr fprechen und ihren Verluft bedauern
wollte, fo wies er das Gefpräch gleich zurück und fagte,
wie man fich nur von einem Märchen, das immer das:J
felbe wäre, unterhalten könnte.
[687.] November/Dezember. F. Schelling an A. W. Schlegel.
Mit dem Bericht von der Kunftausfiellung — das
war allerdings ein guter Spaß, um ihn fo mit anzufehen.
In Rom konnte jeder, der das Waffenhandwerk übte, auch
den Triumphator infultieren, aber der gemeine Soldat zu
fein, der das Organ der genommenen Satisfaktion war,
kann doch nicht für wünfchenswert gehalten werden. Sie
zerbrechen fich den Kopf über den Verfaffer? Hier war
man fo ziemUch gewiß darüber: man glaubte allgemein,
es fei Augufl Bode, der doch in der Gigantomachie
einigen Witz gezeigt hat. Was fagen Sie dazu? Daß
er nichts von Kunft verfteht, ift kein Beweis; wahrfchein?
lieh haben ihm Künftler (Schadow?) geholfen. Synthetifch
ift die Perfon auf jeden Fall. — Goethe fcheint auch der
Meinung gewefen zu fein, da er gefagt haben foll, es
hab' es ein Lausbub gemacht, welches in unferem füd*:
liehen Dialekt ein Subjekt bedeutet, das kein übles In::
genium hat, aber fich durch einen fchäbigen Willen un^^
nütz macht.
[688.] November/Dezember. F. Schelling an A. W. Schlegel.
Ich kann Ihnen wohl fagen, da Sie keinen weiteren
Gebrauch davon machen werden, daß Goethe ohnlängft
in einem fehr allgemeinen Gefpräche von der Kunftaus:s
I
530 F. Schelling. [689
ftellungsgefchichte etwas von Impietät fagte, wodurch er
auf Urheber zu zielen fehlen, mit denen er in freunde
fchaftUchen Verbindungen geftanden hatte, allein gewiß
hat er dabei an keinen Ihrer unmittelbaren Freunde ge^
dacht. ^ Wenn dies Wort außer der ganz allgemeinen
Bedeutung — da er fich, wie Sie wiffen, gern die hn^
fprüche des Alters gibt — eine nähere Beziehung hatte,
was ich nicht glaube, fo mochte es auf Fiartmann zielen,
der jetzt allgemeiner für den Verfaffer gehalten wird, wie
ich gleichfalls von Tieck erfahren habe. Über des letzteren
Arbeiten hat er fich in der heften Laune mit wahrhafter
Teilnahme und Billigung geäußert, fo daß ich nicht be;;
greife, wie Tieck einigen Grund haben konnte, eine minder
gute Stimmung gegen fich bei Goethe vorauszufetzen.
[689.] Dezember 11. Caroline Herder.
Bergrat Werner ift vorigen Sonnabend, von Paris
kommend, hier durchgekommen. Er hat mit meinem
Mann bei Goethe zu Mittag gegeffen, im Trio; Voigt
hat die Einladung abgefagt. Goethe, der fonft ein Gegner
von Werners Syftem war, lenkt nun ein, und tat Werner
fehr fchön, und hat mehrere Stunden fich allein mit ihm
über fein Syftem unterhalten, den halben Vormittag über
Tifch war er ein Selbftändiger, Hoher ufw. ufw. , kurz
mein Mann hat es faft nicht verdauen können.
[690.] Ende. H. Voß.
Goethes Auffatz über den Calderon ift bei aller Ein^:
feitigkeit, die diesmal in feinem Plane lag, höchft treffe
lieh. Nur in einem Punkte hat Goethe unrecht. Wie
kommt er dazu. Die Andacht zum Kreuze unter die (ich
will der Kürze wegen fagen) papiftifchen Stücke zu zählen ?
Ich habe fie von neuem gelefen und fie in der Tat höchft
unfchuldig gefunden. Es wird darin gar kein dogmatifcher
Glaube in Anfpruch genommen, fondern bloß ein poe?
tifcher wie bei Macbeths Flexen. Ich weiß auch beftimmt,
daß Goethe ehemals ganz anders über das Stück dachte
und Schiller mit ihm.
1803.
[691.] Anfang des Jahres. Schiller an W. v. Humboldt.
Es ift zu beklagen, daß Goethe fein Hinfchlendern
fo überhand nehmen läßt und weil er abwechfelnd alles
693] Weimar. 1803. 351
treibt, fich auf nichts energifch konzentriert. Er ift jetzt
ordentlich zu einem Mönch geworden und lebt in einer
Befchaulichkeit, die zwar keine abgezogene ift, aber doch
nicht nach außen produktiv wirkt. Seit einem Viertele
jähr hat er, ohne krank zu fein, das Haus, ja nicht ein^;
mal die Stube verlaffen. Von dem, was er treibt, wird
er Ihnen felbft Nachricht gegeben haben. Wenn Goethe
noch einen Glauben an die Möglichkeit von etwas Gutem
und eine Konfequenz in feinem Tun hätte, fo könnte
hier in Weimar noch manches realifiert werden, in der
Kunft überhaupt und befonders im Dramatifchen. Es ent:;
ftünde doch etwas, und die unfelige Stockung würde fich
geben. Allein kann ich nichts machen, oft treibt es mich,
mich in der Welt nach einem andern Wohnort und
Wirkungskreis umzufehen; wenn es nur irgendwo leid^
lieh wäre, ich ginge fort.
[692.] Februar. Schiller an K. F. Zelter.
Sie haben durch Ihr Außenbleiben die Hoffnungen
vieler Freunde getäufcht, die Sie lieben und verehren,
und manches Plänchen, das auf Ihr Hierfein berechnet
war, fcheitern gemacht. Unter diefen war auch eins von
mir, das auch Goethen fehr am Herzen lag ^ es ift eine
Tragödie von mir mit dem Chor der alten Tragödie. ^
Wir hielten es nicht für unmöglich, die lyrifchen Intern
mezzos des Chors, deren fünf oder fechs find, nach Ge^
fangs Weife rezitieren zu laffen und mit einem Inftrument
zu begleiten. Übrigens verlaffen wir uns auf Ihr fach^
verftändiges Gutachten und auf die Eingebungen Ihres
Genies. ^ Goethe fagt mir von mehreren fchönen Melo^s
dien, die Sie ihm gefchickt hätten, er läßt fie einftudieren
und verfpricht uns diefe Woche ein rechtes Feft davon.
[693.] April (Anfang). Chriftiane Vulpius an N. Meyer.
Wegen dem Geheimen Rat lebe ich fehr in Sorge,
er ift manchmal ganz hypochonder, und ich ftehe oft viel
aus, doch trage ich alles gerne, da es ja nur krankhaft
ift, habe aber fo gar niemanden, dem ich mich vertrauen
kann. Schreiben Sie mir aber hierauf nichts, denn man
muß ihm ja nicht fagen, daß er krank ift; ich glaube
aber, er wird einmal recht krank. Neulich, als Ihr Brief
ankam, war er fehr luftig, und fagte zu mir: Sehe nur
mal was dem Doktor feine Briefe an dich fo klein und
I
7^
332 Chriftiane Vulpius. [694
unbedeutend werden, erinnerft du dich, ich habe dir
es einmal voraus prophezeit, und wirft bald gar keine
mehr bekommen.
[694.] April 21. Erneftine Voß.
Goethe ließ damals grade die Natürliche Tochter
drucken und Voß erfüllte gern feine Bitte, diefe in einer
befiimmten Stunde mit ihm zu lefen; vorzüglich wollte
er feine Anflehten über den Versbau benutzen. Als er
das erftemal zu diefem Zwecke kam, begegnete er mir
auf der Treppe. Aus Erfahrung kannte er meine Ge^s
wohnheit, mich neben die Männer zu fetzen, wenn fie
miteinander lafen oder fprachen: Diesmal, fagte er, dürfen
Sie nicht bei uns fein, bei der nächften Vorlefung werde
ich Sie aber felbft bitten, Sitz und Stimme zu haben.
Dazu war der Reineke Fuchs beftimmt. ^ Zu diefer Vor^
lefung kam es nie,- für Voß ein Beweis, daß die erfte
Goethe nicht befriedigt. Es war Voß fehr recht, daß
Goethe von ihm kein Urteil über diefes Stück begehrte.
[695.] April. F. Schelling an A. W. Schlegel.
Mit den Calderonfchen Werken haben Sie mir das
größte Vergnügen gemacht und mich zum wärmfien Dank
verpflichtet. Ich hatte gleich Gelegenheit, fle Goethe zu
geben, der gegenwärtig hier in Jena ifi:. Er ift auch von
dem zweiten Stück Über allen Zauber Liebe entzückt und
von dem erften aufs neue durchdrungen, von dem er
fagt: Keine Zunge könne ausfprechen, wie gut es fei.
Er erkennt die Einheit desfelben Geiftes in beiden und
hätte nicht übel Lufl:, beide aufführen zu laffen, wenn
nur nicht einige Veränderungen zu diefem Behuf, nur
um fle auch nicht durch die äußere Wirkung zu ent?
heiligen, befonders in Anfehung der Andacht zu dem
Kreuz notwendig wären. ^
Dr. Schelver aus Halle ^ hat die hieflge botanifche
Lehrfi:elle erhalten. ^^ Er ifi: bereits hier und Goethe
äußerfi: wohl mit feinen erften Schritten und Arbeiten zu^
frieden.
[696.] Mai 15. J. H. Voß.
Diefer Nachmittag brachte uns Goethe, der geftern
von Lauchftädt zurückkam, und unfere Studien im Vers^
700] Jena - Weimar. 1803. 335
bau fortfetzen wollte. Er will fleh nächftens in Trime::
tern mit untermifchten Sätzen an anapäftifchen und chori?
ambifchen Verfen verfuchen, und ich hoffe, es wird gehen.
Seine Schaufpieler, fagt er, bekommen immer mehr Ohr
und Gefühl für den edleren Gang des Verfes.
[697.] Mai 16. Frau Riedel.
Goethe habe feine Natürliche Tochter in Jena im
Kreife der Profefforen vorgelefen, und Herder fei auch
dabei gewefen. Als Goethe geendet, hätten alle das Stück
außerordentlich gelobt, nur Herder fei ftumm geblieben.
Nun, Alter, habe ihn Goethe angeredet. Du fagfi gar
nichts, gefällt dir denn das Stück gar nicht?
O doch! antwortete Herder, am Ende ift mir aber
doch dein natürlicher Sohn lieber, als deine Natürliche
Tochter.
[698.] Juli (22). F. Schubert.
Als Jüngling war Pius Alexander Wolff ^^ mit einem
Jugendfreunde namens Chvißian Gottfried Grüner nach
Weimar gekommen, um fich in die Schule Goethes für
das Theater zu begeben. Über den Empfang der beiden
jungen Männer von feiten des großen Dichters hat mir
Wolff erzählt, daß er nie wieder das erhabene Bild ver::
geffen habe, welches ihnen Goethe von der Kunft ent?
worfen, der fie fich widmen wollten, daß er aber, als er
ihnen die Aufnahme zugefagt, mit der Bemerkung ge^
fchloffen habe: Mit dem Gehen wollen wir anfangen!
[699.] Auguft Mitte. Henriette v. Knebel.
Gelegentlich fprach ich mit Goethe vom Lukrez der
meinte, er könnte an Bertuch verkauft werden, welchem
damit gedient fein würde.
[700.] Auguft 26. Charlotte v. Stein.
Goethe nahm beim Tee in Schillers Haufe Schiller
von uns weg ins Nebenzimmer; ^ fie ftellten fich im
Diskurs neben eine Bouteille Wein und ließen fich nicht
wieder mit uns ein. '^ Goethe verdirbt einem meiftenteils
die Gefellfchaft. Wahre Güte des Herzens gibt auch
Lebensart. Goethe hat eigentlich nur Schwäche des Herzens;
dies habe ich lange für Güte gehalten.
I
334 Schiller. [701
[701.] September. Schiller.
Riemer hat uns keine üble Meinung von fich er^j
weckt und Goethe ift fo gut für ihn geftimmt worden,
daß er ihn diefen Winter hier behält, um feinen Auguft
im Griechifchen zu unterrichten.
[702.] September (28). F. W. Riemer an F. J. Frommann.
Sie kommen doch zum Julius Cäfar? Goethe hofft
felbft etwas geleiftet zu fehen; und ej' hat fich's fauer
werden laffenl
[703.] Oktober Anfang. Schiller an S. L. Crufius.
Die Zeichnung zu einer Prachtausgabe der Glocke
von H. Schnorr bitte ich noch vierzehn Tage hier bes
halten zu dürfen. Es ifi grade Kunftausftellung in Weimar
und Herr Geheimrat von Goethe, dem diefe Zeichnung
fehr wohl gefällt, hat mich erfucht, folche mit ausftellen
zu dürfen.
[704.] Oktober/November. Riemer.
Goethe. Wer nicht das Mechanifche vom Handwerk
kennt, kann nicht urteilen: den Meifier kann niemand
und den Gefellen nur der Meifier meiftern.
1705.]
G. Es ifi fo gefährlich, in die Ferne fittlich zu wirken.
Spricht man mit einem Freund, fo fühlt man feine Lage
und mildert die Worte nach dem Augenblick. Entfernt
fpricht man nicht recht oder trifft nicht zur rechten Zeit.
[706.]
G. Es geht nichts über den Genuß würdiger Kunfi;;
werke, wenn er nicht auf Vorurteil, fondern auf würdiger
Kenntnis ruht.
[707.]
G. Die große Notwendigkeit erhebt, die kleine er^
niedrigt den Menfchen.
[708.]
G. Fafi bei allen Urteilen (in der deutfchen Literatur)
waltet nur der gute oder böfe Wille gegen die Poeten,
und die Fratze des Parteigeifies ifi mir mehr zuwider,
als irgend eine andere Karikatur.
715J Weimar 1803. 335
[709.] Oktober/November. Riemer.
G. Ein Glück ift's, daß jedem nur fein eigner Zuftand
zu behagen braucht.
[710.]
G. Wenn man nicht immer in der Weh lebt, fo fieht
man fie anfangs wieder mit verwunderten Augen an, und,
fo gut man fie kennt, machen einen die neuen Erfcheis:
nungen wieder auf kurze Zeit aufmerkfam, bis man denn
das alte plumpe Märchen wieder bald gewahr wird.
[711.]
G. Ich fehe immer mehr, daß jeder nur fein Handwerk
ernfthaft treiben und das übrige alles luftig nehmen foll.
Ein paar Verfe, die ich zu machen habe, intereffieren
mich mehr, als viel wichtigere Dinge, auf die mir kein
Einfluß geftattet ift, und wenn ein jeder das Gleiche tut,
fo wird es in der Stadt und im Haufe wohl flehen.
[712.]
G. Man ift in einem gewiffen Alter an einen gewiffen
Ideengang gewöhnt, das Neue, was man fieht, ift nicht
neu und erinnert mehr an unangenehme, als angenehme
Verhältniffe, und ganz vorzügliche Gegenftände begegnen
einem doch feiten.
[713.]
G. Einer Gefellfchaft von Freunden harmonifche Stim:;
mung zu geben und manches aufzuregen, was bei den
Zufammenkünften der heften Menfchen fo oft nur ftockt,
follte von Rechts wegen die befte Wirkung der Poefie fein.
[714.]
G. Die Gelehrfamkeit auf dem Papier und zum Papier
hat gar zu wenig Reiz für mich. Man glaubt nicht, wie
viel Totes und Tötendes in der Wiffenfchaft ift, bis man
mit Ernft und Trieb felbft hinein kommt; und durchaus
fcheint mir die eigentlich wiffenfchaftlichen Menfchen
mehr ein fophiftifcher als ein wahrheitsliebender Geift zu
beleben. Doch, es mag jeder fein Handwerk treiben.
[715.]
G. Die Hausgenoffenfchaft hat das Eigene, daß fie wie
eine Blutsverwandtfchaft zum Umgang nötigt, da man
gute Freunde feltner fieht, wenn man fich erfi fie zu bej:
fuchen oder einzuladen entfchheßen foll.
356 Ph. O. Runge. [716
[716.] November 15. Ph. O. Runge.
Wie ich geftern abend ^ zu Voigts ging, traf ich
Goethen auch dort. '^ Er gefällt mir fehr, muß ich fa^
gen; er kam mir gleich entgegen und fragte, was ich
mache und arbeite. — Wir haben fo die Präludia mit::
einander gemacht; ich fehlen ihm doch zu gefallen. Er
wollte einigemal verfuchen, mich durch derbe Anrede
und fein ftarkes Anfehen aus dem Zufammenhang zu
bringen; ich blieb aber darin, und werde es, will's Gott!
auch bleiben. ~ Er hatte keine Zeit, fein Wagen fiand
vor der Tür, und doch fagte er : Ich kann nicht davon
kommen.
[717.] November 18. Ph. O. Runge.
Bei Goethe waren wir '^ den letzten Mittag noch recht
vergnügt; er unterhielt fich nach Tifche recht lange mit
mir, fragte mich in mancher Beziehung über meine An?
flehten, wie ich von feinen dortigen Anftalten dächte, und
fagte mir, wie" fie gemeint feien, gab mir denn auch in
allem, wie ich meine Sachen einrichte, großen Beifall.
[718.] (November.) Charlotte v. Schiller an Fritz v. Stein.
Ich muß Ihnen nur, unter uns gefagt, ein Bonmot
von Goethe erzählen, worüber ich recht gelacht habe.
Der Graf Reuß, der hier wohnt, hat den Einfall, alle Ge:=
lehrten, deren er nur habhaft werden kann, crayonnieren
zu laffen. Nun find denn alle fchon daran gewefen, nur
Goethe und Schiller wollen nicht. Goethe hat es fehr
übel genommen, daß der Graf den Herrn Roux von Jena
fo ohne Vorbereitung zu ihm gefchickt hat, und fagte neu:=
lieh in einem Anfall von guter Laune: Chrifius hat doch
fagen laffen durch feine Jünger, wie er die Efelin brauchte,
der Herr bedarf ihrer, aber uns läßt der Graf kein gutes
Wort fagen.
[719.] Herbft. November/Dezember und fpäter. Erneftine Voß.
Gegen die Zeit der Weinlefe war Goethe wieder auf
einige Monate in Jena, aber er traf es bei uns nicht fo,
daß bei ihm die Luft zu häufigen Befuchen entfiehen
konnte; denn was uns drückte, lag außer dem Kreife
feiner Teilnahme. Doch follten wir ihn auch in diefer
Zeit von feiner liebenswürdigften Seite kennen lernen.
Dann kam er abends in feinen Mantel gehüllt, den er.
720] Jena - Weimar. 1803. 337
wie er erzählte, noch in feiner Kriegsperiode genutzt, und
hatte vorn auf der Bruft eine Laterne, an einem Haken
hängend. So faßte ihn einmal Voß, als er feine Hülle
abgeworfen hatte, kräftig fchüttelnd an beide Schultern,
und fagte: Ihr habt etwas gemacht, was uns gar fehr
mißfallen. — Wiefo? rief er verwundert, mit ernftem
Geficht. — Ihr habt eine Sammlung fo fchöner Lieder
foeben drucken laffen, und uns nicht einmal auf diefe
Freude vorbereitet. Der Übergang vom Ernft zu heiterer
Gemütlichkeit in feinem fchönen Auge war unbefchreib^
lieh, und er ließ uns beide fühlen, daß ihn diefes an?
genehm überrafcht. Voß las nun mehrere Lieder felbft
vor, über andere entftand ein lebhaftes Gefpräch. — Ein
andermal trat er ins Zimmer, als ich eben einen herzlich
kindlichen Brief von feiner Nichte Nicolovius erhalten
hatte, in dem fie auf ihre gar zu liebe Weife aus dem
häuslichen Kreife erzählte, wo ich fo ganz heimifch war.
Von diefer Nichte hatte ich ihm fchon manches mitge;:
teilt. Wenn Sie diefen Brief lefen, fagte ich zu ihm, fo
fehen Sie das liebe Kind ganz wie es ifi. Er nahm ihn
rafch aus meiner Hand, und fing mit heitern Zügen an
zu lefen. Allmählich wurden fie ernfter, und am Ende
liefen ihm die hellen Tränen über die Wangen. Er faß
eine Weile fchweigend bis er mit lebhaftem Gefühl aus?
rief: Diefe Tochter ift das wahre Ebenbild meiner Cor?
nelia. —
Lebhaft wiederholte er einen fchon früher geäußerten
Wunfeh, Voß folle vom Herzog eine Penfion annehmen,
und da diefes verworfen ward, hieß es, Kleinigkeiten für
die Wirtfchaft dürfe er doch nicht ablehnen: Korn zum
Brotbacken, Futter für die Hühner, Brennholz, ein paar
Hafen und Rehe in die Küche, für welche Gegenfi:ände
denn auch bald die nötige Anweifung erfolgte.
[720.] (November/Dezember.) K. A. Böttiger.
Freilich wußte Frau von Sfael fehr gut, daß Goethe
noch vor ihrer Ankunft in Weimar ihre Delphine ein?
mal bei einer Hoftafel mit einer ganz ungewöhnlichen
Lebhaftigkeit für ein Produkt erklärt habe, das dem Zeit?
alter Ehre mache, und daß er fich felbft die Anzeige diefes
Meifterwerks in der Jenaifchen Lit.?Zeitung vorbehalten
habe.
I 22
338 Charlotte v. Stein. [721
[721.] Dezember. Charlotte v. Stein.
Goethe, der in Jena ifi, will durchaus nicht herüber?
kommen, obgleich der Herzog ihm einen Expreffen ge^:
fchickt hat, fondern er will der Frau von Stael dafelbft
ein Zimmer mieten, um fie recht tete ä tete zu genießen.
[722.] Dezember. Henriette v. Knebel.
Goethe wird künftigen Sonnabend herkommen und
die Frau von Stael bei fich im Haufe bewirten. Sie hat
ihn fo dringend und von allen Seiten darum bitten laffen,
daß er nicht anders konnte, aber er fträubt fich und ift
fehr melancholisch.
[723.J Dezember. Amalie v. Helvig.
Goethe war ebenfo gefpannt der Frau von Stael Be?
kanntfchaft zu machen, als fie die feinige. Nach der
Begegnung berichtete Goethe feinen Freunden : Es war eine
intereffante Stunde. Ich bin nicht zu Worte gekommen;
fie fpricht gut, aber viel, fehr viel. — Ein Damenkreis
wollte inzwifchen wiffen, welchen Eindruck unfer Apoll
auf die Fremde gemacht habe. Auch fie bekannte, nicht zu
Worte gekommen zu fein. Wer aber fo gut fpricht, dem
hört man gerne zu — foll fie gefeufzt haben. Wer fprach?
Wer fchwieg?
[724.] Dezember. K. A. Böttiger.
Als Goethe Frau von Stael zum erften Male in ihrem
Logis befuchte, regalierte fie ihn mit der Erzählung, wie
fie Schillers Bekanntfchaft in den Zimmern der Herzogin
gemacht habe. Beide waren zur regierenden Herzogin
felbft geladen und fanden fich da, bevor die Herzogin
felbft erfchien, in ihrem Zimmer. J'y entre, j'y vois un
seul homme grand, maigre, pale, mais dans un uniforme
avec des epaulettes. Je le prends pour le commandant
des forces du duc de Weimar, et je me sens penetre de
respect pour le general. II se tient ä la cheminee dans
un silence morne. En attendant je me promene dans la
chambre. Puis vientla duchesse et me presente mon hom?
me que j'avais qualifie de general sous le nom de Mr.
Schiller. Me voilä toute interdite pour quelques instants.
— Que penserez vous donc de moi, repondit Mr. Goethe,
si vous me verrez dans le meme costume? (Es ift die
728] Weimar. 1803. 339
Weimarifche Hofuniform, die Goethe auch trägt, wenn
er an den Hof geht.) Ah, je ne m'y tromperais point,
et puis cela vous ira ä merveille ä cause de votre bonne
et belle — avec un geste fort significatif — rotondite.
[725.] Dezember 24. H. C. Robinfon.
I heard a report that Frau von Stael had extorted
from Goethe by some advice given him on bis Natjirg
liehe Tochter this reply : Madame I am more than six? (^
ty years oldl But that is not after his fashion. I know
however that she did speak irreverently of that masters^
ly work.
[726.] Dezember. E. v. Schardt.
Goethe kommt mit Frau von Stael beffer weg als
Schiller, jener gibt zur erften Antwort immer ein Spaß?
eben, und beruhigt fie fich dabei nicht, fo hat er doch
Zeit gewonnen, fachgemäß^zu antworten.
[727.] (?) K. A. Böttiger.
Mit Bezug auf die Vignette der Zeitung für die elegante
Welt, welche einen, auf einem mit Greifen bespannten Rad=
geßelle fahrenden Flügelknahen vorflellte, fchlug er vor,
den Buben, der die Greifen zügelt, umzukehren und dem
Publikum das Gefäß zeigen zu laffen.
[728.] (Dezember.) K. F. Fröhlich.
Man drang immer mehr in mich, daß ich mich für
einen Stand erklären folle, indem es Zeit fei, einen EnU
fchluß zu faffen, befonders wenn ich mich dem Handels?
ftand widme, was wohl das Befte für mich fei, da faft
alle meine nähern Verwandten mit geringer Ausnahme
diefem angehörten und diefe Karriere mit Glück betreten
hätten. Von allen Seiten gedrängt, erklärte ich endlich
rund heraus, ich würde nichts anders als Schaufpieler
werden, wozu ich den höchften Beruf in mir fühlte. Jetzt
aber war Feuer in allen Ecken. ^^ Es wurde mir nun un?
aufhörlich von allen Seiten fo zugefetzt, daß ich befchloß,
der ganzen Gefchichte fchnell durch einen Defperations?
coup ein Ende zu machen. Erft kürzlich hatte ich Wil?
heim Meifters Lehrjahre von Goethe gelefen, und wieder
gelefen, mich ganz in das Buch und den Charakter Wil?
I 22*
540 K. F. Fröhlich. [728
heims vernarrt und faßte nun den Entfchluß, den Schöp^:
fer desfelben, mit deffen Familie wir ohnehin liiert waren,
aufzufuchen, in dem feiten Glauben, diefer, der felbft ein
fo großer Verehrer der dramatifchen Kunft fei, würde und
muffe mich als ihren Jünger mit offenen Armen aufneh?
men. Ich fteckte, was mir noch von meinen Konfirma?
tionsgeldern übrig, zu mir, fetzte mich auf den Pofiwagen
und fuhr, ohne jemand ein Wort davon zu fagen, nach
Weimar. ^^ Zum Tage meiner Abreife hatte ich, wohl über?
legt, das Feft des Bornheimer Lerchenherbftes ^^ gewählt,
weil da meine Abwefenheit weniger und erft fpät in der
Nacht bemerkt würde. Ich fuhr unaufgehalten über Fulda,
Eifenach, Gotha und Erfurt, kam den zweiten Tag gegen
Abend wohlbehalten ^ in Weimar an, wo, kaum im Gaft?
hof abgeftiegen, ich noch denfelben Abend meinen be?
rühmten Landsmann auffuchte, ihn jedoch nicht traf und
auf den folgenden Morgen nach 10 Uhr befchieden
wurde. «^
Es fchlug endlich zehn und ich eilte nun nach Goethes
Wohnung, wo ich mich als einen Landsmann und guten
Bekannten feiner Familie melden ließ. Ich ward fofort
vorgelaffen, traf ihn jedoch nicht allein, fondern in Ge?
fellfchaft einer ziemlich martialifch ausfehenden Dame.
Ich hatte ihn nur ein paarmal und immer nur einige Au?
genblicke gefehen, wenn er auf Befuch in Frankfurt war.
^ Bei feinem Anblick erftarrte mir das Blut faft in den
Adern, und das Herz war mir, wie die Frankfurter fagen,
fo ziemlich in die Schuhe gefallen. Nur ftotternd und
ftockend konnte ich mein Anliegen vorbringen, bei dem
fein fich verfinfternder Blick mir eiskalt durch die Adern
fchauerte. Ich ftammelte, daß ich, feine Werke lefend,
eine unwiderftehliche Neigung für die Bühne gefchöpft,
daß fein Wilhelm meine Liebe zur Schaufpielkunft aufs
höchlte gefteigert habe, nannte ein Dutzend Rollen, die
ich fchon einftudiert, vergaß aber in der Beftürzung un?
glücklicherweife einige aus feinen Stücken zu nennen, ob?
gleich ich auch den Egmont auswendig gelernt. Als mich
der finitere Mann endlich fragte, ob ich keine Briefe an
ihn mitgebracht, und ich ihm hierauf den Genieftreich,
den ich gemacht, und zu dem mich hauptfächlich fein
Wilhelm veranlaßt, eingeftand, da legte fich feine Stirn
noch mehr in Falten, nur ein kurzes: So! fol entwifchte
noch feinen Lippen, und nachdem er gefragt, wo ich
729] Weimar. 1804. 341
wohne, verabfchiedete er mich, mit der Bedeutung, er
würde mich das Weitere wiffen laffen, ich folle mich in:;
deffen ruhig in meinem Gafthof verhalten.
Wie mißmutig mich der gegen alle Erwartungen gla?
ziale Empfang und die unfreundliche Aufnahme geftimmt,
kann man fich denken. Mehr Anteil, fo fchien es, habe
noch die neben meinem fteifen Landsmann flehende he^
roifche Dame an mir genommen, wenigftens fchienen dies
ihre Blicke zu verraten; denn fie war während der ganzen
Szene ftumm. ~ Als ich mit einer ftummen Verbeugung
aus dem Zimmer war, ward es mir wieder leichter ums
Herz, und ich erkundigte mich bei einem dienftbaren Geift,
wer die Dame fei, die ich gefehen, worauf mir der Be^
fcheid wurde: eine Franzöfin, die fich Madame von Stael
nenne. ^^
Schon war ich fechs Tage dafelbft, ohne daß ich wei^
ter etwas von Goethe und Schiller gehört hätte und fing
an zu glauben, daß mich erfterer ganz vergeffen habe,
als fich am Morgen des fiebenten plötzlich meine Tür
öffnete und hereintrat — mein Großoheim, der Ober^;
pfarrer von Homburg. Er grüßte mich mit den Worten:
Du heillofer Galgenftrick, was machft du für Streiche?
worauf noch eine lange Strafpredigt und die Erklärung
folgte, ich habe mich fofort reifefertig zu machen. ^'
Ich fah mich verraten und verkauft, hatte weder von
Goethe noch von Schiller, noch von allen Mufenföhnen
Weimars und Jenas mehr etwas zu hoffen, und trat ^
die Heimreife '^ mit meinem Oheim an. ^^ Goethe habe
ich auch nie wieder gefehen, aber fpäter erfahren, daß
er mich gewiffermaßen unter polizeiliche Aufficht in mei^
nem Gafthof hatte ftellen laffen. Gleich nachdem ich ihn
verlaffen, hatte er an feine Mutter nach Frankfurt ge?
fchrieben* und diefer meine Anwefenheit in Weimar und
mein Begehren an ihn gemeldet. Frau Rat Goethe aber
war nach Empfang diefes Briefs zu meinen Eltern geeilt,
ihnen deffen Inhalt mitzuteilen.
1804.
[729.] Januar 10. Riemer an J. F. Frommann.
Sie wiffen doch, daß Goethe unpaß ift, krank mag
ich nicht fagen, ob er gleich meift zu Bett liegt; es rührt *
wahrfcheinlich von einem zurückgetriebenen Echauffement
I
342 Riemer. [730
her und fcheint weiter nichts auf fich zu haben, als daß
er nun nicht ausgehen kann und manchmal nicht guten
Humors ift. Geftern abend las ich ihm einen Gefang aus
der Voffifchen Iliade vor. Da war er fehr gefprächig,
und ich habe manches dabei gelernt, was man eben nicht
in der Schule lernt.
[730.] Januar 26. Charlotte v. Stein an ihren Sohn Fritz.
Goethe hat mir zu Deiner Verlobung Glück ge?
wünfcht; die befte Qualität der Braut waren ihm die fech^
zehn Jahr.
[731.] Januar 26. H. Voß.
Welchen herrlichen Abend hatten wir neulich durch
Goethe, der um 7 Uhr kam und (ich felbft zum Abend?
effen meldete. Er war fo lebendig, teilnehmend, herzlich,
wie ich nie von ihm erwartet hatte. Auch offenherzig,
felbft in unfer aller Gegenwart, wie er vielleicht feit Jahren
nicht gewefen ift. Auf meinen Vater hält er gar viel.
Der fagte wie im Zorne zu ihm: Es ift doch eine Schande,
daß Sie einen fo herrlichen Liederalmanach herausgeben
und es Ihren Freunden geheim halten. Da funkelten dem
Goethe die Augen, er fiel meinem Vater um den Hals
und konnte feine Freude nicht ftark genug ausdrücken,
daß er was produziert habe, was einem folchen Richter,
wie er fagte, gefiele. Er wurde immer wärmer und fprach
nun von dem, was er ausführen wollte, wenn ihn Götter
und Menfchen begünftigten. Auch über Schlegel fprach
er; er meinte: Anflehten über Dinge wechfelten wie die
Tage; nun fei diefe an der Ordnung, dann jene, fo wie
im Homer an einem Tage Diomedes der Held fei, an
einem andern Achilles ufw. Der Unterfchied, daß jene
Meinung länger daure, jene kürzer, fei nicht anders, als
wie Sommertage länger dauern, als Wintertage. Den Unter?
fchied, der jetzt gang und gebe ift zwifchen Romantifchem
und Klaffifchem, verwarf er mit meinem Vater; denn alles,
was vortrefflich fei, fei eo ipso klaffifch, zu welcher Gat?
tung es auch gehöre. Noch eher wollte er einen Unter?
fchied zwifchen Plaftifchem und Romantifchem gelten laffen:
ein plaftifches Werk ftelle der Einbildungskraft des Be?
trachters ein Werk in einer ganz beftimmten und abge?
fchloffenen Form dar, ein romantifches deute vieles un?
beftimmt an und ließe der Einbildungskraft Spielraum zum
752] Weimar. 1804. 543
eigenen Phantafieren — jenes fei für die geregelte Einbil^
dungskraft, diefes für zügellofe, oft auch regellofe Phan?
tafle. Zu der erften Klaffe rechnete er Homer, Sophoj:
kies, Pindar, Shakefpeare ufw. ; zu der zweiten deutete er
die Subjekte nur an, und ob ich ihn gleich verftanden zu
haben glaube, will ich doch meine eigne Vermutung nicht
in den Bericht von feinem Urteil einmifchen; doch nannte
er Klopftock. Aber unwillig über Schlegels Vernichtungs^
geilt gegen folche, die ihm nicht anftehen, war er auch,
wenn man Goethen anders Unwillen zufchreiben kann,
den er im ftrengften Sinne gegen keinen Menfchen hat.
Er betrachtet die Menfchen als Naturprodukte, und wie
könnte er fich da über den makaffarifchen Giftbaum ärgern?
Jeden individuellen Charakter achtet er, felbft einen Kotzen
bue, infofern er, wenn ihm der liebe Gott nun eine efel^:
hafte Natur gegeben hat, diefer konfequent folgt und fo
leinen Wirkungskreis (gleichviel ob pofitiv oder negativ)
ausfüllt. (Goethe als handelnder Menfch ift freilich ein
anderer, als wenn er betrachtet und anfchaut.) Schlegels
Talente weiß er wie jeder zu fchätzen — aber daß er,
wie Chriftian Schloffer immer vorfchnell behauptete, ein
unbedingter Lober von ihm fei, das ift grundfalfch. Nicht
befangen durch Schlegels Apotheofe hat er fehr frei über
die Grenzen feiner Verdienfte gefprochen. ^ So fiimmte
er fehr ein, als Fernow über die Nichtigkeit der Blumen^j
Iträuße fprach, der fie eine Sudelarbeit nannte.
[732.] Januar (23). K. A. Böttiger.
Frau von Stael fuhr früh in Begleitung ihres Freun^^
des Conftant zu ihm und brachte faft eine Stunde bei
ihm zu, nachdem fie ihm fchon den Tag vorher die
Überfetzung von feinem Geiftesgruß zugefchickt hatte.
Der Gegenftand der Unterhaltung war vorzüglich der
Unterfchied zwifchen der franzöfifchen und deutfchen
Poefie. Jene, fagte Goethe, fei Poefie der Reflexion, diefe
der Situation ; der Franzofe fchildere das Erfcheinen, der
Deutfche das Sein. Übrigens bemerkten beide bei diefer
Unterredung, daß er fich fehr ungern etwas abfragen oder
auf fich eindringen laffe, daß dann gleichfam feine Natur
reguliere und fich in fich zufammenziehe. Freilich fchonte
ihn Frau von Stael nicht immer. Sie fprach z. B. mit
tiefem Bedauern von Herder und ging fo weit, fehr freunde
fchaftlich von mir zu urteilen und meinen Abgang von
I
344 K. A. Böttiger. [733
Weimar für einen Verlufi zu erklären, ohngeachtet fie
wohl wußte, wie ungern Goethe dies höre. Seine ganze
Antwort auf alle diefe Bemerkungen war: Es ift einmal
fo: die Älteren muffen den Jüngeren Platz machen.
[733.] Januar 23. J. G. Cogswell.
Being introduced to Goethe, Benjamin Conflant de
Rebecque began in the style of a true Frenchman to
load him with flattery, saying that the world was wonder::
ing at the stupendous productions of his genius, that he
had secured to himself immortal fame, etc., etc. Goethe
turned his large, fiery eyes upon Conftant, and replied:
I know it, I know all that, I know too that the world
regards me as carpenter, who has built a ship of war,
of the first rate, upon a mountain, thousands of miles
from the ocean— but the water will rise, my ship will float,
and bear her builder in triumph where human genius never
reached before.
[734.] Januar 27. B. Conftant.
J'ai dine aujourd'hui avec Goethe, et je sens qu'un
Fran^ais, meme quand il n'approuve pas tout ce qui se
fait dans son pays , est toujours mal a l'aise avec des
etrangers. J'ai en elfet avec Goethe une gene dans toute
conversation. Quel dommage que la philosophie mystique
de l'Allemagne Fait entrainel II m'a avoue que le fond
de cette philofophie etait le Spinosisme. Les mystiques
de Schelling ont en effet une grande idee de Spinosa.
Mais pourquoi vouloir allier ä cela des idees religieuses?
et, qui pire est, le catholicisme? C'est, disent^ils, parce
que le catholicisme est plus poetique. Et Goethe dit: J'aime
mieux que le catholicisme me fasse du mal que si on
m'empechait de m'en servir pour rendre mes pieces plus
interessantes.
L'abus de l'analogie se rencontre beaucoup chez
Goethe et surtout dans ses pretentions en chimie et dans
les Sciences exactes.
[735.] Januar 29. (und fpäter). Riemer.
Goethe: Die Weiber, auch die gebildetfien, haben mehr
Appetit, als Gefchmack. Sie möchten lieber alles ankoften,
es zieht fie das Neue an. Sie unterfcheiden nicht zwifchen
dem, was anzieht, was gefällt, was man billigt, fie werfen
740] . Weimar. 1804. 345
das alles in eine Maffe. Was nur nicht gegen ihren
konventionellen Gefchmack anftößt, es mag noch fo hohl,
leer, feicht, fchlecht fein: es gefällt. Es mißfällt ihnen
aber oft etwas, was bloß gegen diefe ihre Konvention
anftößt, fei es an fich noch fo vortrefflich.
[736.] Januar 29. (und fpäter). Riemer.
G. Es fchrieb jemand eine Abhandlung, worin er zeigte,
daß Sophokles ein Chrift gewefen. Das ift keineswegs
zu verwundern, aber merkwürdig, daß das ganze Chriften?
tum nicht einen Sophokles hervorgebracht.
[737.]
G. Bloß die Naturwiffenfchaften laffen fich praktifch
machen und dadurch wohltätig für die Menfchheit. Die
abftrakten, der Philofophie und Philologie, führen, wenn
fie metaphyfifch find, ins Abfurde der Möncherei und
Scholaftik; find fie hiftorifch, in das Revolutionäre der
Welt? und Staatsverbefferung.
[738.]
G. Die Liebe ift eine Konfervationsbrille, aber nur für
den Gegenftand, den man damit betrachtet, nicht für uns.
[739.] Januar/Februar. K. A. Böttiger.
Den 9. Februar bei der Baronin von Stael zum Mittags?
effen. ^
Viel über Goethe bei Tifche. Er habe das meifte
Originalgenie unter allen mitlebenden Dichtern, es werde
aber wenig von ihm auf die Nachwelt kommen. Er habe
ihr felbft, als fie ihn über Die natürliche Tochter (welche
fie einen noble ennui nanntelbefragte, aufrichtig beigeftanden,
daß fie wie fo viele andere feiner Arbeiten nur Künftler?
verfuch fei, der nach einer Auflöfung einer noch nie ge?
löften Aufgabe ftrebte. (Darum traut auch Goethe diefem
Verfuch fo wenig, daß er in die erfte Vorftellung diefer
Eugenie gar nicht einmal kommen mochte.)
[740.] Februar Anfang. Schiller an W. v. Wolzogen.
Goethe hat mich gebeten. Dir fein Anliegen wegen
ruffifcher Kupfermedaillen noch einmal ans Herz zu legen.
'^ Es ift einmal fein Steckenpferd, was ihn befonders
jetzt befchäftigt. Auch hat er wirklich fchon eine recht
auserlefene Sammlung zufammengebracht.
I
346 H. Voß. [741
[741.] Februar 12. H. Voß.
Mir hat das Herz gepocht, als ich vor feinem Haufe
fiillhielt, als ich die Treppe hinaufging, als fich die Stuben?
tür öffnete. Der Mann war mir fo furchtbar majeftätifch.
Aber wie ganz anders war mir zumute, als er mich freund::
lieh anblickte und ich Durchgefrorner feinen warmen
Händedruck fühlte. Er fing auch gar nicht auf der Stelle
ein ernfthaftes Gefpräch an; er fragte mich mit herzlicher
Stimme nach meiner Gefundheit, die ich zum erftenmal
einem fo ftrengen Winter;: und Windtage ausgefetzt hatte,
ließ mich nahe an den Ofen rücken, wollte mir Kaffee,
Wein, kurz alles Mögliche zum Frühftück auftifchen. Der
Ton, in dem er mit mir redete, war wie der eines Vaters,
und da ward es mir nicht fchwer, fo viel Zutrauen zu
ihm zu faffen und den Mut in feiner Gegenwart zu be?
haupten, was er fo gerne an jungen Leuten wahrzunehmen
fcheint.
Wir kamen unvermerkt in das erfte Gefpräch über
Schulunterricht hinein, das denn über eine Stunde dauerte,
bis wir zu Tifche gerufen wurden. Bei Tifche ward Goethe
aufgeweckt und munter und erzählte viel von feinen Reifen,
befonders von Venedig. Nach dem Effen entließ er mich
und ging auf fein Zimmer; um fünf Uhr befchied er
mich wieder zu fich.
[742.] Februar 13. H. Voß.
Ich fland um fechs Uhr auf, um einige Überfetzungen
aus dem Horaz ins reine zu fchreiben und einige Ar::
beiten durchzufehn, die ich für Goethe mitgebracht hatte.
Ich war um zehn Uhr fertig und da kam auch der Be?
diente, der mich zu Goethen in fein Studierzimmer bringen
follte. Ich überreichte die Arbeiten; er las gleich eine
Horazüberfetzung durch und fchien zufrieden damit. Wir
kamen unvermerkt auf meine Lieblingsbefchäftigung, —
alte Geographie und Mythologie — und das waren auch
auf die Folgetage unfere hauptfächlichen Gefpräche. Ich
war fo glücklich, von allem Rechenfchaft geben zu können,
wonach Goethe mich in diefer Wiffenfchaft fragte, und
befonders zufrieden war er, als ich ihm die Wanderungen
der Jo im Prometheus und den Argonautenzug in der
vierten Pythifchen Ode Pindars erklärte. Diefes Gefpräch
hat ihn in die Mythologifchen Briefe meines Vaters gQ^
742] Weimar. 1804. 347
führt, die er noch denlelben Tag mit großer Lebhaftigkeit
zu lefen anfing und den folgenden Tag endigte. Er fagte
mir: nun wolle er fich ein Exemplar mit Papier durchs
fchießen laffen, um auch in feinem Studium der alten
Kunft auf diefe Weife meinem Vater in feinem Studium
zu begegnen. Und mich encouragierte er zu mehreren
Arbeiten, die ich, wenn ich erft in feiner Nähe lebte,
teils durch eigenen Fleiß, teils durch Unterftützung von
ihm und meinem Vater ausführen follte. Goethe hat
überall die hellften Blicke. Diefe Mythologifchen Briefe
hatte er fich in einem Tage mit folcher Klarheit in der
Phantafie verfinnlicht, daß ich beinahe über die Größe
der menfchlichen Faffungskraft erftaunt bin. Kein Menfch
dringt fo auf Klarheit der Vorftellung, wie Goethe. ^
Am Abend diefes Tags nach Tifch mußte ich Goethen
meine Überfetzung von Horazens fechfter Epiftel im erfien .
Buche vorlefen: Nil admirari ufw. Dies gab zu einem /\
fehr fchönen Gefpräch Anlaß, das aber Goethe beinah
allein und bald ganz allein führte. Er redete über den
Platonifchen Ausfpruch, daß die Verwunderung die Mutter
alles Schönen und Guten fei. Der ift ein Tölpel, fagte
er^ der fich nicht verwundern kann, auf den nicht die
ewigen Naturgefetze in großen und kleinen Gegenftänden
— gleichviel, wie groß oder klein die Maffe fei — einen
mächtigen Eindruck machen. Das Refultat feiner Rede
warj daß der Weife mit dem Nichtbewundern aufhöre.
Und fo kam er auf den edlen Horaz zurück. Er fprach
über eine Stunde mit feuriger Miene, mit der lebendigften
Aktion, aber immer mit folcher Befonnenheit, daß er die
Wahrheit feines Themas recht eigentlich durch die Tat
bewährte. Zuletzt redete er über die Empfänglichkeit des
Gefühls, wie ein lebendiger Geift in der ganzen Gottes^;
weit nichts als Wunder erblicke und heifige Gottesoffen^:
barung. Ich kann das nicht, wie es gefchehen follte,
wieder erzählen; nimm mit bloßen Andeutungen vorlieb.
Als er ausgefprochen hatte, nahm er fein Licht und ging
fort ohne ein Wort zu fagen — und Riemer und ich
faßen wie Stumme gegeneinander. Ob Goethe uns in
Verwunderung hat fetzen wollen, das weiß und glaube
ich nicht, aber daß er es tat, das weiß ich; denn wohl
keiner hat einen Vermittler zwifchen Gott und denMenfchen
mit folcher Ehrfurcht betrachtet, als wir diefen Mann in
diefem Augenblicke.
I
348 H. Voß. [743
In anderen Berichten gibt Voß die Worte Goethes folgender?
weife wieder:
Der ift ein Klotz, der fich nicht verwundern kann,
deffen Seele nie in folche Zuftände verfetzt werden kann,
die einzig imftande find, der Seele einen Schwung zu
geben, in ihr eine Sehnfucht zu erregen, die nur durch
Ergründung des vor uns liegenden Gegenftandes, durch
erworbene innige Vertrautheit mit demfelben kann be^
friedigt werden.
Begreifen wirs, fagte er einmal, warum wir hier fo
zufammenfitzen? was war der nächft vorhergehende Mo;:
ment, was war die Veranlaffung zu diefem und weiter
rückwärts und noch weiter, bis ins Unendliche fort.
[743.] Februar 15. B. Conftant.
Visite ä Goethe. Conversation interessante sur la
descente d' Ulysse aux Enfers et sur le tableau de Polyg?
note ä Delphes representant cette fable. La description
s'en trouve dans Pausanias. Polygnote a fait entrer dans
son tableau la morale qui n'etait pas dans le poeme
d'Homere.
[744.] Februar 15. H. Voß.
Ein andermal bei Tifche hielten wir Philiftergefpräche
über Rindfleifch, Kartoffeln, Marzipan und Sellerie, woran
auch die Vulpius teilnahm. Ich dachte bei mir: hier
würde fich Chriftian Schloffer geärgert haben — mich
machte es recht vergnügt. Goethe fprach im Zorn über
die weimarifchen Schlächter, dann kam er auf die Schneider,
die es in Fahrläffigkeit den Schlächtern gleich täten (imi:s
tatorum servum pecus), und endlich auf die Buchbinder.
Ich will die Lumpenhunde einmal alle zuhauf treiben,
fagte er, und ihnen eine Strafrede halten, ich will ihren
Ehrgeiz erwecken ufw. Dann kam er auf Kotzebue.
[745.] Februar 15. H. Voß.
Die Huffiten voir Naumburg von Kotzebue (lacrymosa
poemata Puppi) find in Weimar aufgeführt. -^ Goethe
faß derweile ruhig in feinem Zimmer. Seinen Geifi: (fo
heißt der Bediente) fchickte er ins Theater, und der arme
Schelm mußte bei jedem Akt zu Haufe laufen und das
Gefehene erzählen. ^ Goethe hat gegen feinen Sohn ein
747J Weimar. 1804. 349
Kopfftück verloren über die Stelle : dicke Pfaffen kniftern
in den Flammen, von der er behauptete, fie könnte nicht
darin ftehn. — Goethe fagte, wenn die Huffiten die Aus:=
läge abverdient hätten, dann follte der Herodes vor Beth^
lehem von Mahlmann gegeben werden. Sonft darf fich
Kotzebue nicht befchweren; denn man hat viel Geld aus^
gegeben für die Sterbekleider und die Huffitenpanzer.
[746.] Februar 16. B. Conftant.
Souper tres interessant chez Goethe. C'est un homme
plein d'esprit, de saillies, de profondeur, d'idees neuves.
Mais c'est le moins bonhomme que je connaisse. En
parlant de Werther il disait: Ce qui rend cet ouvrage
dangereux, c'est d'avoir peint de la faiblesse comme de
la force. Mais quand je fais une chose qui me convient,
les consequences ne me regardent pas. S'il y a des fous,
ä qui la lecture en tourne mal, ma foi tant pisl
'747.] Februar (17). H. Voß.
Einmal bei Tifche wird die Vulpius abgerufen. Sie
kommt bald lachend zurück und ruft mich ab. In der
Tür begegnet mir die Mamfell Silie; auf der Treppe flehen
Bode, Hain und der Schaufpieler Oels. Ich kann das
fo wenig begreifen, als die Kuh das rote Tor. Was ift
denn? frug ich. Es gilt eine Reife nach Erfurt; bifi du
dabei? Ja, fag' ich; nur gefchwind den Wagen beftellt.
Wer ift fonft dabei? Die Silie und die Vulpius. Defto
beffer, fag' ich und gehe wieder ins Zimmer zurück. Aber
da war es noch nicht abgetan; denn Goethe mußte erft
die Erlaubnis geben. Die Vulpius ftand ^ fidel in froher
Erwartung vor Freude zitternd; die Silie faß fchmeichelnd
bei Goethe. Goethe ganz ernfthaft: Lieben Kinder, fagte
er, bringt mich nur erft ins klare! Aber das konnte
keiner. Dann: Liebe Kinder! der Weg ift fchlecht; was
habt ihr für einen Zweck? Wir haben große Zwecke,
fagte die Silie. Und welche denn? Wir wollen ins Schaum
fpiel. — Nun, nun! Hm, hm! recht artig! Aber wir
haben jetzt alle ein Glas Wein getrunken, und das Sprich^
wort fagt, daß feurige Entfchlüffe mit nüchternem Mute
muffen erwogen werden. — Ja, fagte die Silie, wenn wir
darnach warten wollten, fo verfliegt die Zeit; es ift fo
fchon zwei Uhr. Und nun fchmeichelte fie von neuem.
Und Goethe ließ fich auch nicht lange bitten, er fagte
I
350 H. Voß. [748
ja, und gab der Silie einen Kuß zur Beftätigung feines
Wohlgefallens. Die Vulpius juchheite und verficherte,
was ihr jeder glaubte, daß fie für heute keine größere
Freude zu erdenken wüßte. Sie wurde von Goethe meiner
Obhut anvertraut. Nun, fagte Goethe, muffen wir noch
eine Flafche Rheinwein haben. Unterdeffen ging ich auf
mein Zimmer, einen Brief zu verfiegeln. Als ich zurück
kam, war der Wein da, und Goethe meinte, ich könnte
heute wohl ein übriges tun, weil es kalt fei. Ich ließ
mir's gefallen, die Damen entfernten fich, und ich blieb
bei Goethe am Tifche fitzen bis der Wagen kam. Wir
fprachen von den Hyperboräern, Greifen und Arimafpen.
Es ging oft prestissimo, ich weiß nicht wie und warum?
Böfe Leute fagen vom Weine. Um drei Uhr kam der
Wagen und Goethe wünfchte eine glückliche Reife, lachte
aber erft tüchtig über den Schimmel, auf dem Bode als
Vorreiter paradierte.
[748.] Februar 12./19. H. Voß.
Äußerft merkwürdig und angenehm ift es, Goethe
in feinen Sonntagsgefellfchaften als Präzeptor im Vorlefen
und Deklamieren zu fehen. Da fitzt die ganze Gefeilt
fchaft um einen langen Tifch (Goethe in der Mitte) und
lieft abwechfelnd. Es traf fich, daß beidemal, als ich zu^
gegen war, aus der Luife gelefen wurde. An Goethe
kam die Stelle von der Trauung, die er mit dem tiefften
Gefühle las. Aber feine Stimme ward kleinlaut, er weinte
und gab das Buch feinem Nachbarn: Eine heilige Stellei
rief er aus mit einer Innigkeit, die uns alle erfchütterte.
Nachher traf ihn die Stelle: den Gefang, den unfer
Voß in Eutin uns dichtete. Aus dem Pathos, mit welchem
er diefe Worte vortrug, hätte ich fchon feine Liebe zu
meinem Vater abnehmen können, wenn mir jenes Gefühl
bei Goethe unbekannt gewefen wäre. So fah ich Goethe
fchon am erften Tage meiner Ankunft, und von dem
Augenblicke an hatte er auch mein ganzes Zutrauen.
[749.] Februar 19. H. Voß.
Mir war es lieb, daß nun die Vorlefung bald ab?
gebrochen ward. Er fiand auf und ging in den Saal;
ich folgte ihm. Ich trat weinend (laß mich's nur fagen)
zu ihm, und er drückte, mir beide Hände: Sie haben
einen edlen Vater! Das war alles, was er fagte ^ ich
750] Weimar. 1804. 351
war fröhlich, als wir uns bald darauf zum Abendeffen und
zu fcherzhafteren Unterhaltungen vereinigten. Es wurde
bei Tifche gefcherzt, gelacht, am Ende fogar die bunte
Reihe hindurch geküßt, und Goethe war faft am luftigften.
Nur ein klein Gefchichtchenl Ich bat gegen das Ende der
Mahlzeit den Hofmeifter von Goethes Auguft mir einen
Schlag zu geben mit den Worten: Schick weiter! Ich
gab ihn meiner Nachbarin Silie und diefe ihrem Nach?
bar, und fo ging's weiter bis zur Maaß, die neben Goethe
faß. (Der zum Poffen hatte ich den Spaß mit der Silie
verabredet, und fleh! wie pfiffig ich bin: um nicht vor
dem Riß zu ftehn, bat ich meinen linken Nachbar, den
Anfang zu machen.) Die Maaß ftutzte ein wenig, doch
entfchloß fie fich endlich, Goethe einen tüchtigen Klaps
zu geben. Goethe drehte fich zu ihr und küßt fie und
drauf feine andre Nachbarin mit den Worten: fchick's
weiter! Die will durchaus nicht, wahrfcheinlich weil ihr
der Nachbar nicht anftand. Nun, fagt Goethe, wenn's
fo nicht herum will, muß es retour gehn, läßt fich wieder
küffen, küßt wieder die Maaß, und fo geht's fort bis
auf die kleine Silie, die mir den letzten Kuß gab. Nun
denk Dir den armen Riemer, der neben mir faß und
leer ausgehn mußte, weil bei mir die bunte Reihe auf:?
hörte, und noch dazu belacht wurde, als Goethe den
Urheber des Scherzes ausfragte und alle auf Riemer wiefen.
[750.] Februar 12./20. H. Voß.
Es ift eine Wonne, ihn von feinen Reifen erzählen
zu hören. '^ Einmal vor Verona wird Goethe, als er eine
alte Ruine zeichnete, von Häfchern angegriffen. Da ward
mir fchwül, fagte er, aber ich erwog gleich das Befte.
Ich raffte mich zufammen, nahm alle Würde an und be?
gann eine Rede. Ich entwickelte ihnen die Schönheit
der Ruine, den Wert durch das Alter; ich griff ihren
Stumpffinn an und fchalt fie für Klötze und Stöcke, lenkte
aber bald ein, fie entfchuldigend : Ihr könnt folche Schön?
heiten nicht fühlen, da ihr fie tägUch vor Augen feht
und das Alltägliche keiner Aufmerkfamkeit würdigt ufw.
Die Häfcher werden ganz erfi:aunt über die Unbefangen?
heit des Spions und fehen nun alle auf die Ruine, um
auch die Schönheiten zu entdecken, und da fie doch nichts
fehen können, werden fie ganz verdutzt. Endlich zieht
Goethe feinen Geldbeutel aus und läßt Münzen khngen.
I
352 H. Voß. [751
Nun verändert fich ihre Sprache. Der eine fagt zu den
übrigen: Hab' ich's euch nicht gleich anfangs gefagt, daß
der Mann ein Ehrenmann fei? Da feht ihr'sl Als Goethe
einige Tage darauf nach Verona kommt und die Ge^s
fängniffe von außen betrachtet, da, fagte er, dankte ich
doch dem lieben Gott, daß er mich von diefem Unglück
befreit hatte.
[751.] Februar 12./20. H. Voß.
Ich fragte Goethe unter anderm einmal, was die
myftifchen Figuren in Tiecks Minneliedern bedeuten und
erhielt zur Antwort: Das ließe fich nur durch ein tiefes
Studieren ausmittel n. Das hätte er nicht von den klaren
Geftalten Raffaels gefagt, die er fo oft und fo gern nennt.
[752.] Februar 12./20. H. Voß.
Die Religion foU jetzt in Halle fehr Mode fein und,
wie Goethe fagt, wie die Peft anftecken. — Goethe fürchtet,
daß fie einem gewiffen Manne in G . . .* (den ich nicht
nennen will) auch noch zu dem vielen Hauskreuze ins
Haus kommen möchte.
[753.] Februar 12./20. H. Voß.
Madame Stael^Holftein geht Montag aus Weimar.
Drollig ifi's, Goethe über fie reden zu hören: Ich treibe
fie in die Enge, fagte er, wenn fie räfonniert. Erft vers;
maure ich fie auf diefer Seite, dann auf jener (und dies
zeigte er mit dem Finger auf der Serviette). Dann will
fie entfliehen und kann nicht vor? noch rückwärts. Sie
gibt fich einen effort, fchwingt fich in die Höhe und
macht's wie der Flußgott Achelous: fie entflieht in einer
fremden Geftalt. Sie hat die Luife gelefen und ebenfo
ftark dabei geweint, als bei Kotzebues Bayard und den
Huffiten. Die Tabakspfeife war ihr anftößig; der Herzog
erinnerte fie an die Schweine im Homer. Auch die, fagt
fie, dürfen nicht in honette Gefellfchaft kommen. Goethe
will ihr nun den Bandwurm aus Delilles L'homme des
champs zu Gemüte führen, der fich durch zwei Alexandriner
hindurchfchlängelt ; dann wird fie verdutzt und — ent?
flieht in einer fremden Geftalt.
Reichardt in Giebichenftein?]
756] Weimar. 1804. 353
[754.] Februar 12./20. H. Voß.
In einem der letzten Tage fagte mir die Vulpius:
Sie hätten gar keine fcliönere Zeit zum Befuche wählen
können; denn fo fortdauernd heiter hat weder Profeffor
Wolf noch Ihre Eltern den Geheimrat gefunden. Und
das muß ich noch in Jena beftätigen : war ich bei Goethe
auf feinem Zimmer, oder fuhr ich mit ihm fpazieren,
dann war er beftändig ernfthaft im Gefpräche, aber bei
Tifche bald heiter ernfthaft, bald grenzenlos luftig. ^
[755.] Februar 12./20. H. Voß.
Ich bin zehn Tage bei Goethe gewefen, eine himm^s
lifche Zeit, die mir noch wie ein fchöner Traum vor der
Seele fteht. Ich mußte mich produzieren und Goethe
bot mir Quartier und, was mehr galt, feinen freundfchafts^
liehen Rat und den für mich koftbarften Umgang an.
Gottl wie lieb ich den Mann, den ich in fo herzlichen
Augenblicken gefehn und genoffen habe. Gleich die erfte
Aufnahme war fo herzlich wie möglich. Ich faßte auf
der Stelle das tieffte Zutraun; ich habe mit Offenherzig::
keit zu ihm geredet, ihm mein Herz, meine Denkweife,
kurz alles, was ich hatte und habe (wahrlich! ich bin
reicher von ihm gegangen, als ich ankam; denn ich liebe
einen Mann, gegen den ich fonft nur Ehrfurcht kannte),
das alles habe ich ihm entfaltet und zur Mufterung vor^
gelegt. Er ift mit mir zufrieden; ich habe es aus feinem
eigenen Munde, daß er mich der Stelle eines GymnafiaU
lehvevs zu Weimar würdig erkennt, daß er Zutraun zu
mir hat, daß er mich liebgewonnen.
[756.] Februar 24. K. A. Böttiger.
Den 24. Februar abends bei der Herzogin. Frau
von Stael kam fehr zufrieden von einer Unterredung mit
Goethe. Da fie anfänglich über den Alarcos mit ihm
gefprochen und das Abgefchmackte desfelben ^ gezeigt
hatte, war feine Stirn etwas bewölkt gewefen, und er hatte
die ganze Erfcheinung nur durch den Kunftverfuch ents:
fchuldigt. Allein nun war er auf die Parallele zwifchen
der Tragödie, als den oberften, den Indifferenzpunkt der
Plaftik gekommen und hatte hierüber fehr fcharffinnige
Bemerkungen gemacht. La plastique mene au seuil de
la vie. Beim Abfchied kündigte ihr Goethe auf morgen
einen Befuch von feinem Sohn an, der ihr fein Stamm?
buch präfentieren würde.
I 23
354 K. A. Böttiger. [757
[757.] Januar/Februar. K. A. Böttiger.
Zuweilen fcheine es der Frau von Stael, daß wir
Deutfche fehr witzige Ausdrücke hätten, oder fehr neue,
es fei aber nur Unkunde der franzöfifchen Sprache. So
habe fie einmal einen Ausdruck von Goethe, der eine
Idee von Schiller eine neuve et courageuse nannte, fehr
bewundert, bis ihr endlich deutlich geworden, daß Goethe
bloß aus Unkunde der Sprache courageuse fiatt hardie
gefetzt habe.
[758.] Januar/Februar. K. A. Böttiger.
Frau von Stael hatte in ihrer metrifchen Überfetzung
von Goethes Fifcher in den Worten : Was lockft du meine
Brut hinauf in Todesglut? das letzte durch air brülant
überfetzt; allein Goethe, als fie ihm ihre Überfetzung vors:
las, berichtigte fie und fagte, es fei dies die Kohlenglut
in der Küche, an welcher die Fifche gebraten würden.
Das fand nun Frau von Stael äußerft maussade und ge?
fchmacklos, fich aus ihrer fchönen Begeifterung fo auf ein=:
mal in die Küche verwiefen zu fehen. Dies fei es eben,
woran es unfern heften Dichtern fehle, das to uqü-tov,
das feine Gefühl des Schicklichen. Hier alfo war fie ganz
Franzöfin.
[759.] Januar/ Februar. Anne Germaine v. Stael an Goethe.
Vous avez bien voulu me dire que vous auriez ete
bien aise de voir Berlin avec moi,
[760.] Januar/Februar. Anne Germaine v. Stael.
Goethe est un homme d'un esprit prodigieux au con?
versation; et Ton a beau dire, l'esprit doit savoir causer. '^
Quand on sait faire parier Goethe, il est admirable;
son eloquence est nourrie de pensees; sa plaisanterie esten
meme temps pleine de gräce et de philosophie; son imagu
nation est frappee par les objets exterieurs, comme l'e^
tait Celle des artistes chez les anciens; et neanmoins sa
raison n'a que trop la maturite de notre temps. Rien ne
trouble la force de sa tete; et les inconveniens meme de
son caractere, Fhumeur, l'embarras, la contrainte, passent
comme des images au bas de la montagne sur le sommet
de laquelle son genie est place.
761] Weimar. 1804. 555
[761.] Februar Ende. F. W. Gubitz.
Nur vier Tage wollte ich in Weimar raften; vor?
habende Arbeiten, hier wenig gefördert, bedrängten mich,
und ich bereute fchon, nicht mit den Empfehlungsbriefen
mein Heil bei Goethe verfucht zu haben. Bereits packte
ich mein bißchen Habe, ^ da kam abends nach fieben
Herr von Lynker in einem Domino, ließ auch mir einen
darreichen von feinem mitgebrachten Diener mit den Wor^:
ten: Im Theaterfaal ift Probe von einem Maskenfpiel,
Goethe muß dabei fein; ich habe vermittelt, daß Sie als
Fremder Zufchauer fein können; beeilen wir uns! Bebend
zog ich das Befte an, was ich hatte, ein hellblauer Seiden?
mantel wurde mir übergeworfen, eine Maske follte ich
dort empfangen — was fich jedoch nicht erfüllte. Bald
ftand ich in einem mäßig großen Saal und drückte mich
neben einem Gewirr von Menfchen, nur zum Teil mass:
kiert, an die Seite. '^ Wenn er da ift, erfahren Sie es im
Moment. Mit diefem Zuruf beruhigte mich mein Beherr?
fcher, der irgendwo befchäftigt fein mußte. ^^ Etwa fehr
lange anderthalb Stunden waren vergangen, bevor es hieß :
Da ift er! Dort fteht er] und es bedurfte mancher Win?
düng, um mir bis zur angedeuteten Stelle zu helfen. End?
lieh kam ich ^ näher; ich hörte feine ftarke klangvolle
Stimme. O weh] Goethe, der feinen Seidenmantel, rofen?
färb oder gelb — bei dem Lichtfchimmer konnte ich mir
die Farbe nicht genau beftimmen — hin und her werfend
behandelte, fprach fo heftig mit einem andern, — mit dem
Theaterintendanten, vielmehr: Mitglied der Theaterkommif=
fion Kirms, was ich nachher entdeckte — daß ich noch
ängftlicher wurde. Aus dem lauten Gefpräch ging her?
vor: bei einer Abendprobe im Theater war Goethe über
einen Schaufpieler — fein Name lautete, wenn ich deffen
mich richtig entfinne, Zimmermann — fo bitterböfe ge?
worden, daß er fich höchft unglimpflich äußerte über An?
maßungen der Komödianten. Mir flog der Atem; in mir
rief es: jetzt oder nie] Meine Zaghaftigkeit gipfelte,
wurde unwillkürlich zum Wagemut, und ohne Überlegung
hatte ich mich in den Eifer gegen Komödianten gemifcht.
Was mir erft in der Zukunft als Erfahrung reifte — wie
rafch bereit der Aufgebrachte, wenn ihm einer recht gibt,
fich zu diefem wendet, das bewährte fich hier. Ich hatte
den Erfolg, daß Goethe auf mich einredete, unterhielt
I 23*
356 F. W. Gubitz. [761
feinen Zorn fo gut oder fchlecht meine (ich nicht zurecht?
findende Stimmung dies vermochte, habe keine Spur mehr
von dem Gemengfei, was ich fchwatzte, bis er hell auS
lachte, dann aber, wie in Haft zur Hoheit gleichfam um?
gefchaffen, mit wahrhaft erfchütterndem Gebieterton fragte :
Aber mit wem fpreche ich? Wer find Sie? Meine Emp?
fehlungsbriefe von Mahlmann und Rochlitz hatte ich im
Widerftande gegen mein Zittern in der Tafche faft krampf?
haft feftgehalten; fie fchnell emporziehend, nannte ich,
nun bis zu Tränen erfchreckt, meinen Namen, demütig
fcheu hinzufügend: Ihnen diefe Briefe zu überreichen,
fuchte ich in den wenigen Tagen hiefigen Aufenthalts
vergeblich Gelegenheit, die Gunft des Augenblicks ver?
lieh fie mir, und frevelhaft habe ich fie ergriffen. —
Wer find Sie? Doch nicht der Gubitz, der fich in der
Holzfchneidekunft auszeichnete? fo fiel Goethe fragend
ein, wie felber betroffen, und nach meiner Entgegnung:
Ob auch von Ihrer gütigen Meinung befchämt, habe ich
freilich zu antworten: der bin ich. — Ohne etwas darauf
zu erwidern, erfaßte er mich beim Arm, fchob mich an
einen Pfeiler, fagte: Hier bleiben Sie ftehenl Hier will
ich Sie treffen, jetzt hab' ich zu tun. Dann verfchwand
er, und ich ftand nochmals da in zweifelfüchtiger Hoff?
nung, die indes der Geduld nicht lange bedurfte. Zurück?
kehrend rief Goethe mich an: Aber, mein Gottl find
Sie's denn wirklich? Wie alt find Sie? — Im achtzehnten
Jahr, antwortete ich und er entgegnete: Man möcht's
nicht glauben! Wie lange bleiben Sie hier? — Ich fagte
ihm, daß ich nur gezögert habe, Weimar zu verlaffen,
um ihm genähert zu fein; der kommende Morgen treibe
mich nach Jena, dort meine Univerfitätszeit mit dem Exa?
men zu enden. Überrafcht fragte er weiter, und ich gab
nun fchüchtern Befcheid, bis er dringlich einfiel: Von
der Abreife fei einftweilen nicht die Redel Heut' noch
zeige ich Ihnen meine Wohnung, erwarte Sie dort mor?
gen Vormittag um zehn; und auf meine Bemerkung, daß
ich fchon vor feinem Haufe gewefen fei, erwiderte er, mir
die Hand reichend: Alfo, morgen früh! in flüchtiger
Weife; denn eben wurde nach ihm gefandt.
Noch zwei Tage blieb ich in Weimar, ftundenlang
in Goethes Zimmern, wo ich, zwifcheninne oft ohne feine
Anwefenheit, die mufterhaft geordneten Sammlungen von
Zeichnungen und Kupferftichen befchauen, mich zugleich
763] Weimar. 1804. 357
noch mancher Beweife feiner Zutulichkeit erfreuen konnte.
In befter Laune erwähnte er, daß er als Student in Leip^s
zig fich im Breitkopffchen Haufe auch mit dem Holz^
fchnitt befchäftigt habe, alfo wohl wiffe, was mir gelungen,
und ich vernahm dabei aufmunternde Äußerungen; den?
noch hielt mich fein Benehmen in Scheu. Meinem Hang
zum Dorfpaftor war er nicht gleichgefinnt, obwohl er das
fchließlich Anhaltfame in diefer Entzweitheit gelten ließ,
und als ich erzählte, wegen meiner Bemühung im Holz?
fchnitt fei ich bereits von drei Kupferftechern öffentlich
befehdet, fagte er aufgeregt und mir unvergeßlich: Es
fteckt etwas Verruchtes in folcher fieten Negation, die
immer bei der Hand ift; man muß fich nicht daran kehren,
doch das Rechte tun, fonft ift nichts zu heben.
[762.] März Anfang. Nach F. Haides Erzählung.
Als Friedrich Haide vor der erfien Aufführung des
Teil von dem ihm begegnenden Goethe gefragt wurde,
wie ihm feine Rolle des Teil gefalle, die er fleißig ftu?
dieren möge, gab er, bei aller Anerkennung der bedeu?
tenden und dankbaren Rolle doch der einfchränkenden
Bemerkung Raum, daß bei feiner eigentlich fehr fpora?
difchen, nur in kurzen Szenen auftretenden Rolle für den
Darfteller keine rechte Gelegenheit, fich zu zeigen, ge?
boten fei; fozufagen kein dankbarer fzenifcher Abgang;
dies fei für den Schaufpieler doch wichtig. Goethe hat
diefen Bemerkungen aufmerkfam zugehört. Allen Ver?
mutungen nach ift aber diefe Unterredung zu Schillers
Kenntnis gekommen und infofern gewürdigt worden, als
einige Tage darauf ein veränderter Monolog: Durch diefe
hohle Gaffe muß er kommen ufw. Haide zugekommen.
[763.]. März Anfang. Unbekannt.
Die erfte Darftellung von Schillers Wilhelm Teil follte
in Weimar unter Goethes perfönlicher Leitung ftattfinden.
Der letztere ließ auch die Dekorationen dazu größtenteils
neu anfertigen. Eines Tages nahm er die fchon fertig
gewordenen Hintergründe in Augenfchein, unter welchen
fich auch der zu der Szene Vor Stauffachers Haus be?
fand. Bei Betrachtung desfelben fchüttelte Goethe miß?
billigend den Kopf und bat den Maler freundlich, ihm
einen recht dicken Pinfel zu geben. Ohne ein weiteres
358 Unbekannt. [764
Wort tauchte er denfelben dann in die Farbe und begann
zum Schrecken des Künftlers durch die fchöne Schweizer^
landfchaft mit ihren Höhenperfpektiven kräftige Striche
zu ziehen. Aber fiehe dal bald entwickelten fich ftatt
der fernen kleinen Gipfel unter Goethes Händen gewal?
tige, ganz nahe Berge und Felsmaffen. Wir dürfen nicht
vor der Schweiz ftehen, rief er dabei; wir wohnen mitten
drin. Der Maler erkannte das als zutreffend und ver^;
befferte feinen Fehler gern im Sinne des Dichters.
[764.] März 15. B. Conftant.
Je fais une promenade avec Goethe. La nouvelle
Philosophie, avec tous ses inconvenients a ceci de bon
qu'elle met tous les esprits en grande activite. Et quand
aux dangers du mysticisme et du catholicisme dont eile
nous menace, je compte sur la collision qui doit avoir
lieu. A present, eile est dans les nues et ne recontre
dans ses ebats ni gouvernement ni religion ; mais eile ne
tardera pas ä les heurter d'un bout de ses ailes. Et alors
la luttel
[765.] März 17. H. C. Robinfon.
In March I was introduced to the great Goethe. A
man so much superior to all other men whom I have
ever come near in intellectual power that I am anxious
to record every, even the slightest incident that I can
recall to mind. — At the Theatre he had his arm chair
reserved for him in the front row of the pit. I had re?
peatedly taken a seat near him, that I might occasionally
catch a glimpse of his countenance. But I never presented
myself to his notice. — On the Evening of the 17*^ I
placed myself immediately behind him. — Bejamin Con*
stant came in with him and shook hands with me. I
heard him whisper my name to Goethe. — On this he
turned round and, with a smile as ingratiating as his
ordinary expression was cold and repulsive, said: Wiffen
Sie, Herr Robinfon, daß Sie mich beleidigt haben? —
How is that possible, Herr Geheimrat? Whyl You have
visited everyone at Weimar except me. I feit that I
blushed. — And said in the fitting tone: You may ima^;
gine any cause, Herr Geheimrat, but want of reverence.
— He smiled: I shall be happy to see you at any time.
767] Weimar. 1804. 359
— Of course, I left my card next morning — and the
next day there came an invitation to dinner — I dined
with him several times before I left Weimar — and the
acquaintance did not cease on this German residence. I
cannot be sure of the precise dates of my several intern
views with him and I will relate what occurs to me as
it does occur.
I believe it was this very evening in the Theatre
that I asked him whether he was acquainted with our
Venice Preserved. — Oh very well; the Comic Scenes
are particularly good. — I actually started at so stränge
a judgement: Indeedl in England those scenes are con^
sidered so very bad that they are never acted. — I can
understand that ^ and yet on reflection you will per;;
ceive that those comic scenes are quite essential to the
piece — it is they alone that account for and go near
to justify the conspiracy. For we see in them how utterjs
ly unfit for government the Senate were become. — I
recognised at once the truth of this and feit ashamed of
myself for not having perceived it before — indeed in
all his conversation delivered in the most simple and most
unpretending tone there was a remarkable significance. —
A quiet strength, a power without effort that reminded
me of a criticism I read in Germany of a painting of '^
wrestling with an Angel. The critic abused an ignorant
man for censuring the painting because the angel made
no effort not a muscle was strained. — Therein, said the
critic, the angelic nature showed itself. It was so in the
Greek skulpture of the gods.
[766.] März 18. B. Conftant.
Pris conge de Goethe: Singulier Systeme que celui
de ne compter le public pour rien et de dire ä tous les
defauts d'une piece: II s'y fera!
[767.] März. Erneftine Voß.
Als die Unterhandlungen mit Weimar über unfern
Sohn in Gang kamen, entfchloß fich Voß auf Goethes
Bitte, felbft auf einige Tage hinüber zu gehen. Wie gern
wäre ich daheim geblieben. ^^ Goethe hatte für eine bes^
queme Wohnung in feiner Nähe geforgt. Der Empfang
in feinem Studierzimmer war fehr freundlich. Selbft meine
360 Erneftine Voß. [768
Gaben fanden eine herzliche Aufnahme : ein lockeres Haus=:
brot, woran er bei uns öfters Freude geäußert, und ein
felbftgezogener fchön blühender Rofenftock.
f^ Über unfern Sohn ward zwifchen Voß und Goethe
befchloffen, daß er vor dem Antritte feines Lehramts
einige Wochen bei Goethe wohnen, und fich mit den
nähern Verhältniffen feines Berufs allmählich vertraut
machen follte. -^ Auch damals war Goethe fehr herzlich
gegen uns, befonders abends, wenn wir an einem kleinen
Tifch, in einem kleinen Zimmer unfer Abendbrot vers:
zehrten.
[768.] März/April. H. C. Robinfon.
It was at no great distance from this time, that I
called on Goethe to see whether I could engage him to
act as a Mediator between the Duke and the Students
in the quarrel that ended in an Auszug, a withdrawing
from the University of the best members. Having heard
my representations , he coolly said: So ift es in diefen
Polizeiangelegenheiten, worin beide recht haben. The
Students seeing the matter from their point of view are
perfectly in the right, but then the Duke is equally in
the right. He has his own mode of seeing things, which
is equally right in him as Sovereign. This was a most
hopeless view of things. — I could not get anything in
the way of Concessions from a man who had already
conceded so much.
During these my occasional visits I saw the com?
panion of his table, the mother of his children, and fu?
ture wife. — She had an agreeable countenance and a
hearty cordial tone. Her manners were unceremonious
and free. — When she was young queer stories were
told of her undignified ways and the freedom of her
intercourse with him. She had survived all eccentricities
of that kind now.
I am conscious of not possessing what I never strove
to obtain, the talent of personal description. — Yet I will
copy a Paragraph from the letter written to my brother
after some of these visits. —
The sight of Goethe is enough to correct the childish
misconceptions we form of a poet and a man of genius,
as if they were wonders and shows merely to be stared
at. In Goethe I beheld an elderly man of terrific dig?
769] Weimar. 1804. ^361
nity: penetrating and unsupportable eye: a somewhat
aquiline nose and most expressive lips, which closed
seemed to be making an effort to move as if they
could with difficulty keep their hidden treasures from
bursting forth. — A firm step ennobling an otherwise too
corpulent body; a free and enkindled, air and an ease in
his gestures, all which combined the gentleman with the
Great Man.
[769.] April 3. Friedrich Laun (Schulze).
Kaum hatte man mich im erften Stock in ein Zim^^
mer geführt und dem Hausherrn Meldung von meiner
Ankunft getan, als auch fchon Goethe erfchien, ohnge^
fähr in derfelben Art gekleidet, wie fpäterhin Rauchs pla^^
ftifche, herrliche Nachbildung ihn fo geifivoll und wahr^
haft wiedergegeben hat. Seine Körpergröße und Haltung,
das mächtig imponierende Jupiterhaupt, die mit ftarken
Brauen regelmäßig überwölbten dunkeln, ernfien Augen
in dem edelften Antlitz, das alles zufammen bildete eine
unüberfteigliche Schranke um ihn her. Aber er felbft zer^
brach fie unmittelbar darauf mit einem belebenden und
erwärmenden Sonnenblicke, als die fchön gefchnittenen
Lippen fich zur Rede öffneten. Nichts hat mir meine
damalige Geiftesverfaffung beffer ins Gedächtnis zurück^;
geführt, als das, was der geniale H. Heine vor kurzem
von feinem Befuche bei Goethe berichtete. ^ Da Goethe
hörte, daß ich foeben das Weimarifche Schloß in Augen^
fchein genommen, fo erkundigte er fich, wie mir eine erit
angekommene neue Landfchaft von Hackert dort gefallen
habe. So viel ich mich erinnere, handelte fich's bei ihr
nicht um eine große, kunftreiche Kompofition, aber fie
zeugte doch von des berühmten Malers ungemeiner Fertig:;
keit und fichrer Hand, Das äußerte ich rühmend. Aller?
dings, antwortete Goethe, ift dergleichen ungemein ver?
dienfilich und Hackert hat es fehr weit hierin gebracht.
Zu weit, könnte man vielleicht fagen! denn er wird da?
durch zu dem Irrtume verleitet, die Natur ganz auswendig
zu wiffen und ihr ferneres Studium entbehren zu können.
Gleichwohl ift in der Malerkunft wie in allen Künften,
die Natur die ewige Quelle, aus der auch der Vollen?
detfte nie aufhören darf, fortdauernd zu fchöpfen. Denn
fie ift unerfchöpf lieh und nur auf diefem Wege das wahr?
haft Lebendige zu ergreifen und wiederzugeben.
I
362 Friedrich Laun. [770
Dann brachte er unter anderm die Rede auf die
Kunft und die Künfiler Dresdens, namentlich auf Hartes
mann, deffen großem Gemälde des Aeneas, fo wie der
Zeichnung des von den Furien gepeinigten Oreft, er
vollen Beifall erteilte. Nach des trefflichen Landfchafts^^
maiers Mechau neueften Kunfterzeugniffen fragte er ebenes
falls. Befonders kam auch auf eine bekannte fehr große
und ausgezeichnete Landfchaft diefes Künftlers die Rede,
Die Flucht nach Ägypten, darftellend. Goethe wünfchte
den Preis davon zu wiffen, wahrfcheinlich in der Hoff?
nung, daß fie eine Zierde des Schloffes zu Weimar ab:;
geben könnte. Noch erkundigte fich Goethe nach den
neueften Leiftungen eines mit ungemeinem Talent begab?
ten, damals in Dresden lebenden jungen Zeichners und
Malers Namens Runge, an deffen fehr frühzeitigem Tode
die Kunft ohne Zweifel eine wichtige Einbuße erlitt. ^^
Goethe äußerte feinen Beifall über mehre der frühern
Produktionen Runges, die er gefehen hatte. Was aber
foll man fagen, fügte er hinzu, wenn ein Künftler nichts
weiter machen will, als folche Dinge? Was kann die
Kunft dabei gewinnen?
Erft fpäter geriet ich auf den Gedanken, daß Goethe
wohl mit diefem Ausfpruche, wie mit dem frühern, wo
er Hackert, wegen nicht hinreichender Betrachtung der
Natur bei feinen fpätern Kunftproduktionen tadelte, mir
zugleich einen lehrreichen Wink habe geben wollen. Als
ich von ihm fchied, äußerte er wohlwollend, ich möchte
bei einem nochmaligen Befuche Weimars längere Zeit dar?
auf verwenden und nicht vergeffen, wieder zu ihm zu
kommen.
[770.] März 29./April 8. H. Voß an feine Freunde.
An dem Tage, wo Dethleffen in Berlin angekom?
men ift, kam ich zu meinem köftlichen Goethe. Ich wurde
feinem freundlichen Schreiben gemäß auf das herzlichfte
aufgenommen: Da ift ja unfer Freund wieder, fagte er,
drückte mir traulich die Hand und küßte mich. Ich fah
ihm fteif ins Auge und es fchien mir freundlicher und
milder, als jemals. Jawohl ift es wahr, was Du, lieb?
fter Solger, mir fchriebft : es ift eine Wonne, einen großen
Mann zu fehen; aber es ift noch eine größere Wonne,
ihn von Herzen und in der innerften Seele zu lieben.
Euch darf ich's ja unverhohlen fagen, daß auch ich ein
771] Weimar. 1804. 363
wenig Liebe von ihm habe und mich deffen unausfprech^
lieh freue. Da denke ich denn manchmal: wenn der für
dich ift, wer mag wider dich fein? — Lieben Freunde!
ich habe Göttertage gehabt. Ich habe Goethe noch mehr
genoffen, als das erfte Mal, und jedes Refichen von Scheu
und Furcht ift verfchwunden. Ich verftehe jetzt das freund?
liehe Salve, das vor feiner Stubentür fteht; wahrhaftig
auch zu feinem Herzen haben die Söhne des Staubes Zu?
tritt. Ich kann manchmal fchwelgen in dem feiigen Ge?
fühle, daß ein Mann wie Goethe herzUch fein kann; dies
habe ich noch vor fechs Wochen nicht geglaubt, und
hatte ein Gefühl weniger, in welchem ich mich jetzt fo
unausfprechlich reich fühle. — Meine Freunde verfiehen
mich, fonft fchämte ich mich, daß ich Dinge fchreibe, die
fo nahe an Überfpannung grenzen, aber Gott fei mein
Zeuge, daß ich in diefem Augenblicke von jeder Über?
fpannung entfernt bin. Du teuerer Goethe! wer kann
lebhaft an deine fchöne, edele und freundliche Miene
denken, ohne auf das innigfte bewegt zu fein! Wenn
Du wüßteft, liebfter Abeken, welche Ehrfurcht und Liebe
diefer Mann in Weimar durch fein bloßes Dafein ver?
breitet, wenn Du die vielen leifen Stimmen behorcht hat?
teft, die über ihn einftimmig fich vernehmen laffen, ja,
dann würde kein böfes Gerücht über ihn nicht mehr bei
Dir Eingang finden können, wie Du in einem Briefe
fchreibft, daß man dergleichen fo oft hörte und dadurch
irre würde. Ich bin weit entfernt, Goethe für ein durch?
aus fleckenlofes Wefen zu halten; aber Fehler, die feine
kleinfte Tugend verdunkeln könnten, diefe in ihm auf?
zufinden, das halte ich für ein vergebliches und, ich möchte
fagen, ein verwegenes Unternehmen.
[771.] März 29./April 8. H. Voß an H. Ch. Boie.
Ich bin abermals in Weimar gewefen bei dem Herr?
liehen und diesmal als Stubengenoß und Vizehofmeifter
feines Auguft. Wenn ich Ihnen den Inbegriff diefer zehn
Tage andeuten will, fo muß ich fagen: ich bin fehr hei?
ter und froh gewefen. Meine Hauptangelegenheit ift zu
einem fchönen Ende gefördert, und ich habe Goethe dies?
mal noch mehr genoffen als das vorige Mal. Seine Auf?
nähme war fo herzlich, und was er mir in diefer Zeit
Liebes erzeigt hat, kann ich nicht befchreiben. Er hat
wie ein zärtlicher Vater für mich geforgt; er finnt recht
I
364 H. Voß. [771
darauf, mir einen angenehmen Aufenthalt zu verfchaffen.
Ich bin auch jetzt fchon ganz eingewohnt dafelbft; ich
habe mir fchätzenswerte Bekanntfchaften erworben und
habe die Verficherung von Goethe und Schiller, daß
mir ihr Haus jederzeit mit herzlicher Liebe offen flehen
foll. -
Es ift kein Gegenftand, der feiner Aufmerkfamkeit
entgeht; in alles bringt er Geift und Leben, und wenn
er auch von entlegenen Dingen redet, fo nimmt er doch
die um ihn her liegenden und wechfelnden Gegenftände
zu Hilfe, um feine Gedanken in fie einzukleiden. Nie
braucht er je ein anderes Gleichnis, als das von Dingen
hergenommen ift, die er gerade vor (ich fieht, und man
wundert fich oft, wie er aus einem erbärmlichen Stoffe
etwas fo Herrliches und Herzerhebendes zu bilden wußte.
Wenn er dann in Feuer gerät, fo wird fein Schritt haftiger,
oder wenn er gewiffe Gegenftände fixiert, um fie tief zu
ergründen, dann fteht er auch wohl gar ftille und ftemmt
einen Fuß vor den andern, mit dem Körper rückwärts ge?
bogen. Ihm bei Tifche gerade entgegen zu fitzen und in
fein feuriges tiefes Auge zu blicken, ift eine wahre Wonne.
(Goethe fagt felbft einmal was Ähnliches in feinem Götz.)
Es drückt fich in feinen Zügen bei aller Majeftät fo viel
Güte und Wohlwollen aus. Nie aber ift er angenehmer
und liebenswürdiger; als des Abends in feinem Zimmer,
wenn er ausgezogen ift und entweder mit dem Rücken
gegen den Ofen fteht, oder auf dem Sofa fitzt. Ja, da
wird es unmöglich, fich ihm nicht hinzugeben. Ob es
die Ruhe macht, die abendliche Stille, das Gefühl der Er?
holung von oft fchweren Arbeiten, oder was es ift: dann
ift er am heiterften und gefprächigften, am offenften und
herzlichften. Ja, Goethe kann die Herzlichkeit felbft fein.
Dann hat fein, manchmal furchterregender Blick auch alles
Schreckhafte verloren.
Sobald ich in Weimar etwas eingerichtet bin, will er
eine Gefellfchaft junger Leute um fich verfammeln, von
folchen, die Luft haben, vorwärts zu fchreiten. Da follen
Schriften aus mehreren Fächern und Sprachen gemein?
fchaftlich gelefen und befprochen werden. Ich weiß fchon
aus der Erfahrung, wie mit Liebe er fo was unternimmt
und betreibt. Die Früchte diefer Konverfationen follen
denn auch zugleich auf die Literaturzeitung verbreitet wer?
den, und wahrlich! das ift ein glücklicher Gedanke ; denn
771] Weimar. 1804. 365
Goethe, der zum eigentlichen Rezenfenten nicht gefchaffen
ift, gibt doch oft im Gefpräche die herrhchften und treffende
ften Urteile, die durchaus nicht verloren gehen dürfen.
Und welche Übung wird es für uns fein, Winke und um*
hergeftreute Ideen der Art aus Goethes Geifte auffaffen
zu lernen, und in Auffätze oder Rezenfionen fie zu fixieren]
Weiß man doch das erft am deutlichften und klarften,
was man felbft andern mitzuteilen genötigt wird!
Was fagen Sie zu feiner Rezenfion von meines Vaters
Gedichten? Welch ein fchöner Gedanke, des Dichters
poetifches Leben aus feinen Gedichten zu entwickeln,
und welch ein tiefes Studium der Gedichte in diefer Ent*
Wickelung] Ein wahres lebendiges Votivgemälde. Fafi
jedes Wort könnte als Zitat ein Lied bekommen. Un^;
gemein fchön ift der Übergang von den Lierbftliedern zu
den religiöfen. Ich habe diefe Rezenfion recht von Grund
aus entftehen fehn. Gewöhnhch des Abends von 8—10
las ich Goethen die Gedichte vor. Als ich das Herbft*
lied anfangen wollte: Die Bäume ftehn der Frucht ent*
laden, nahm er mir das Buch aus der Hand und fagte:
Das will ich felber lefen. Er las es, und gleich darauf:
Troft am Grabe. Die Worte in der Rezenfion, mit denen
er diefe Lieder bezeichnet, mögen Ihnen die gerührte Stirn*
mung ausfprechen, womit er fie las. Einige Stellen habe
ich ausgearbeitet, nämlich die über die höheren Stände
und den letzten Teil über Sprache, Rhythmik und Mytho*
logie. Verfteht fich, daß Goethe nachher revidierte, um
den Stil mit dem feinigen gleichförmig zu machen, wo
es mir nicht gelungen war.
Sonnabend den 7. April hatten wir den Macbeth;
er ward meifi:erhaft gegeben, obgleich in feiner ganzen
blutigen Gräßlichkeit. Die Hexen waren junge Mädchen,
fchön von Wuchs und recht artig gekleidet, die eine fo*
gar zierlich. Es war ein kühner Gedanke von Goethe,
das Schreckliche diefer Wefen mehr in die Wirkung, als
in die Geftalt zu fetzen, und fie tat fo auch bei weitem
größere Wirkung, fo wie der Teufel in fchöner Geftalt
gräßlicher ift (für mich wenigftens), als in der teuflifchen.
Die Totenftille unter den Zufchauern war mir manchmal
ebenfo fchrecklich, als das Stück felbft; dann war es, als
ftünde das ganze Geifterreich geöffnet. Goethe war den
Abend außerordentlich fröhlich (>Vir faßen noch um^/212
auf), daß die Vorftellung fo geglückt fei; auch Schiller,
I
366 H. Voß. [772
mit dem ich nach der Vorftellung noch einen AugenbUck
nach Haufe ging. '^
Goethes Zutrauen und feine Liebe zu verheren, wäre
das SchreckUchfte, was mir in Weimar begegnen könnte,
aber fo lange ich bleibe, was ich bin und fortfahre zu
werden, was ich werden kann, fo lange werde ich fein
lieber Sohn bleiben, wie er mich mehrere Male genannt hat.
[772.] H. Voß an Börm.
Ich muß Dir noch ein Stückchen erzählen, das mir
Goethe noch fo unendlich lieb gemacht hat. Als ich
zum zweiten Mal bei Goethe war, wurde mir gerade mein
Doktordiplom ausgefertigt und Goethen von Jena aus
für mich zugefchickt. Mir verfchwieg er's. Augufi mußte
nach Belvedere hingehen, um Lorbeer^ und Zitronenzweige
zu holen. Bei Tifch wußte ich noch nichts davon. Nach
dem Effen fagte Goethe zur Vulpius: Mein Kindl der
Voß fieht mir noch fo hungrig aus; man foUte doch das
Gaftrecht nicht verletzen und feinen Freunden wenigftens
fatt zu effen geben. Ich entfchuldigte mich in demfelben
luftigen Ton und verficherte, ich fei voll fatt. Es half
nichts; Augufi mußte hinausgehen und den Nachtifch
holen. Er kam wieder mit einer großen Schüffei, die er
mir auf den Kopf fetzte. Nun mußte ich verfprechen,
wenigfiens noch einen Biffen zu effen, und vor mich hin
wurde das Gericht geftellt. Denke Dir mein Erftaunenl
Ich fah Goethe an und wußte nichts zu fagen. Nun
wurde mir fehr herzlich von Goethe, Augufi und der
Vulpius zu meiner neuen Würde gratuliert, Goethe fchloß
mich in feine Arme und nannte mich zum erfienmal feinen
lieben Sohn, ein fchmeichelndes Wort, welches er nach?
her oft wiederholt hat. Gleich darauf fiellte fich feine
fröhliche Laune ein. Es ifi geraten, fagte er zur Vulpius,
daß wir des neuen Doktors Gefundheit in Champagner
trinken. Sie mußte in den Keller und brachte den Götter?
trank; wir hatten fchon anderthalb Flafchen getrunken,
aber diefer Nektar mußte doch noch hinzu. Wir haben
die Flafchen bis auf den letzten Tropfen geleert. Während
diefer Operation wurde ich immer Doktor genannt; ich
proteftierte dagegen. Nein, fagte Goethe, heut bleibt
Er's und morgen auch aus Strafe, daß Er Doktor geworden
ifi. Morgen Abend haben wir eine kleine Gefellfchaft,
wo auch der neue Doktor Bode fein wird; da foll der
775] Weimar. 1804. 367
beiden Herren ehrenfefie Gefundheit getrunken und Euch
der Doktor wieder abgenommen werden. Dann drückte
er mir freundlich die Hand und fagte: Für uns follen
Sie der gute Voß bleiben. Unterdes wirkte der Cham?
pagner. Ich ward nicht bloß feiig, fondern überfelig.
Ich habe Goethen nie nach Wunfche danken können, ich
hatte es auch nie verfucht; jetzt konnte ich's. Als wir
aufftanden, war mir der Kopf ein bißchen fchwerer, als
gewöhnlich, vielleicht Goethen auch; denn er war über
die Maßen luftig. Wir gingen noch ein paar Stunden
fpazieren und im Park hielt mir Goethe eine Vorlefung
über die Naturgeschichte.
[773.] April Anfang. H. Vol^.
Eines Morgens, als ich gerade feinen Auguft im
Griechifchen unterrichtete, kam Goethe zu uns herauf;
er hatte eben die Stelle in der Rezenßon der Gedichte
von Johann Heinrich Voß niedergefchrieben, wo wir den
Dichter im Kampfe gegen ausfchließende Meinungen,
Macht? und Bannfprüche erblicken, und das Blatt war
noch feucht. Mitten im Zimmer blieb er fiehn, den rechten
Fuß ein wenig vorgeitemmt, und fing an in feinem melo?
difch kräftigen Baß zu lefen, gegen das Ende immer
feuriger und gediegener, und mit dem Worte Teufel fenkte
er das Blatt, und guckte mich mit ftarrem, aber freund?
lichem Auge an, als wollte er fagen: Hab' ich's recht
gemacht?
[774.] März 29./April 8. H. Voß.
Einmal fprach er von Gott und Unfterblichkeit und
war dabei in einer Bewegung, die ich ~ nicht befchreiben
kann. Aber wohl fteht mir noch vor Augen, wie er mit
dem Leibe rückwärts fich lehnte und fein unbeweglicher,
nur auf den Gegenfiand, der feine Seele füllte, fixierter
Blick von dem Irdifchen weggewandt, das Höhere und
Unnennbare fuchte. Dann ift er mehr als ein Menfch,
ein wahrhaft überirdifches Wefen.
[775.] H. Voß.
Ich hab ^ fchon die Schaufpielergefellfchaft erwähnt,
die Goethe dann und wann bei fich verfammelt und im
Deklamieren übt. Er lieft mit ihnen die ausgefuchteften
I
368 H. Voß. ^
Sachen, weil er zugleich die Abficht hat, auf ihre SittUch^
keit zu wirken. Er fagte einmal: Wenn das wahrhaft
Schöne und Gute Eingang gefunden hat, fo ift das Schlechte
auf ewig verbannt.
[776.] März 29./April 8. H. Voß an Abeken.
Bei der Wolzogen. Das ift Dir ein hebenswürdiges
Weib. Neulich war ich dort eingeladen; die Schiller
fand ich fchon da, dann kam Frau von Stein und Amalia
von Imhojff (jetzt Helvig). Gegen acht Uhr kam Schiller
und unvermutet auch Goethe. Was das für eine Freude
erregte, glaubft Du nicht. Wir blieben bis elf Uhr zu^
fammen. Das war ein feiiger Abend, was haben wir
gelacht bei Tifche, wo Schiller aus der Taufend und einen
Nacht erzählte und Goethe dazu die allerernfteften und
zugleich komifchften Anmerkungen machte. ^ Die Vulpius
erzählte mir, daß es Goethe immer fo viel Freude machte,
wenn er hörte, diefer oder jener habe mich recht lieb.
[777.] April erfte Hälfte. Schiller an A. W. Iffland.
Auch Goethe ift mit mir überzeugt, daß ohne jenen
Monolog und ohne die perfönliche Erfcheinung des Parri:*
cida der Teil fich gar nicht hätte denken laffen.
[778.] April 29. Caroline v. Humboldt an ihren Gatten.
Von der Stael ging ich zu Goethe, der mich in
feinem Garten erwartete, fehr lieb und gar nicht zere:=
moniös aufnahm. Die Helvig, geborene Imhoff, kam hin,
mich zu fehen. Als wir uns umarmten, fagte Goethe,
das fei der Gruß der Elifabeth. Ich konnte nur fehr
kurz bei ihm bleiben, da der Weg übel war und kein
Mondenfchein. Riemer kam in den Garten mit Theodor,
den ich ihm fchon früher zugefchickt hatte. Goethe wird
Dir diefer Tage fchreiben und freute fich, fagte er, auf
die Tage, wo ich nach Weimar kommen würde.
[779.] April (Ende). H. C. Robinfon.
A month after the first introduction, when Mad. de
Stael returned from Berlin and brought Wilh. Schlegel in
her train, I dined with Schlegel, Tieck, the Sculptor and
Riemer the literator who has written so much about Goethe.
— No one eise but Mad. Goethe. I was Struck by the
780] Weimar. 1804. 369
contrast between the two. Nothing could exceed the
repose of Goethe. On Schlegel's part a striving after pun
and point. — Of these I recollect nothing but that Böttiger
was his but, whom he compared to Bardolph. — From
Goethe I recollect a word or two of deep significance.
— He faid to Schlegel: I am glad to hear that your
brother means to translate the Sacontala. — I shall rejoice
to see that poem as it is, and not as we have it from the
Moral Englishman. There was a sarcastic emphasis on
the words des moralifchen Engländers. He then went
on: — Eigentlich aber haffe ich alles Orientalifche. — By
which probably he meant rather that he infinitely preferred
the Greek to the Asiatic mind. He then went on: I am
glad there is something that I do hate. — For otherwise
one is in danger of falling into the dull habit of liberally
finding all things good in their place, and that is destruc?
tive of all true feeling.
[780.] Mai 1. H. Voß.
Goethe fchickte zu mir: ich folle doch ein wenig zu
ihm kommen und den ganzen Abend bei ihm zubringen.
Wie fand ich ihn da heiter und liebenswürdig! Er war
eben vom Hofe gekommen, hatte aber fchon die Staatss=
uniform abgetan und faß wieder in feinem blauen Über?
rocke. Ich fand ihn feine Medaillen und Münzen durch?
mufternd. Ich fetzte mich zu ihm und hörte aufmerkfam
feiner lehrreichen Erklärung. Er befitzt eine treffliche
Sammlung, die befonders dann Wert erhält, wenn man
fie von ihm befchreiben und dem Gehalt und Inhalt nach
entwickeln hört. Goethe war dabei überaus launig und
witzig. Einmal fagte er mit halb fcherzhaftem, aber doch
ernftlich gemeintem Ausdrucke: Was find wir doch gegen
die Künftler des fünfzehnten und fechzehnten Jahrhunderts?
Wahre Taugenichtfe I Was ifi unfer Jahrhundert gegen
diefes kraftvolle! — Er kam hierauf zu reden von der
Peterskirche; fein Gefpräch war erhaben wie der Gegen?
ftand. Wie blitzen dem Manne die Augen, wenn ihm
ein folcher Gegenftand die Seele füllt! Er erzählte mir
die ganze Entftehung derfelben; wie man die alte Bafilica
Neronis einzureißen angefangen, der erfte kühne Gedanke
zu diefem ungeheuren Bau; dann wie fich die Künftler
geweigert und gezagt, den Grund zum neuen Gebäude
zu legen, bis endlich Michel Angelo es unternommen;
I 24
370 H. Voß. [781
dann wie der Bau nachher oft unterbrochen und erft
unter fünfzig Baumeiftern vollendet worden.
[781.] April/Mai. H. Voß.
Mein Name, der alte Ehrwürdige, hat mich auch
hierher geleitet und wird mir wohl bleiben, bis ich alt
und ehrwürdig werde. Goethe hat, wie mir Riemer fagte,
neulich bei Tifche gefagt: er käme mir fo recht eigent?
lieh nicht zu; denn bei aller Ehrenhaftigkeit trüge ich
doch einen nicht geringen Schalk im Hintergrunde.
[782.] Mai. H. Voß.
Wenn ich fagte, daß Goethes Gefprächen fo viel
Allgemeines zugrunde läge, fo ift das nicht fo zu ver?
ftehen, als ob er abftraktes Zeug, wie im Athenäum, in
Sentenzen fpräche; ich meine nur das Ideenreiche diefes
fo geiftreichen Mannes, das aus jeder Hülle und Ein?
kleidung fo klar hervorleuchtet. Ich möchte Goethen den
populärfien Philofophen nennen, der uns auch bei den
geringfügigften Gegenfiänden wahre Weisheit in die Seele
redet. Seine Weife, die Menfchen zu betrachten, ift ganz
die eines kontemplativen Naturforfchers im edleren Sinne
des Worts. Kein Menfch ärgert ihn, wenn er einen be?
ftimmten Charakter hat, felbft ein Kotzebue, fogar ein
Böttiger nicht. Er denkt: fo hat ihn einmal der liebe
Gott, der von allen Arten etwas gibt, gefchaffen, und ift
er nicht pofitiv, fo ift er doch negativ zum allgemeinen
Heile notwendig. Freilich, wenn er zum Wohle des All?
gemeinen wirken foll, fo hat diefe Toleranz auch bei
ihm ihre Grenzen; wenn ein Klotz im Wege fteht, da
wird er beifeite gefchafift, damit die Bahn frei werde, und
je hartnäckiger der Widerftand, je heftiger die Gewalt,
ihn fortzufchaffen. Ich habe ihn zornig gefehen über
Efeleien und Teufeleien, aber es war der Zorn des Ge^:
rechten, ein fchneidender, kraftvoller Unwille, nicht zügeln
lofe Leidenfchaft und Ereiferung. Nie find Goethes Forde;:
rungen an die einzelnen Menfchen unbillig, fie richten
fich nach der Fähigkeit jedes Subjektes, aber was einer
leiften kann, das fordert er ganz und ungeteilt. So ehrt
und fchätzt er jedes Talent, jede noch fo kleine mecha?
nifche Fertigkeit. Aber kein Charakterlofer fand Gnade
vor feinen Augen. Die Lofung: es ift doch ein guter
Menfch I ift ihm unausftehUch. Und wehe dem, der feine
783] Weimar. 1804. 371
Erwartungen und fein Zutrauen durch träges, hartnäckiges
Stillftehen, durch Schlaffheit oder gar Scheinfucht ftatt
des reellen Wertes zu täufchen anfängt. Anfangs ift er
noch milde und fucht fchonend zum Guten zurückzu^
lenken; hilft es nichts, fo wird er zornig und wendet fein
Antlitz auf ewig.
[783.] (Mai Ende.) J. A. Ludecus.
Falk verfaßte für Geifelhrechts Marionettentheater das
Luftfpiel Die Prinzeffin mit dem Schweinsrüffel, in welchem
die Zunft der Schaufpieler und deren Arroganz fcharf
gegeißelt wurden und hatte die Genugtuung, daß das
Publikum das Stück mit allgemeinem Jubel aufnahm; denn
es hatten damals die Schaufpieler fich eben nicht beliebt
zu machen verftanden. Geifelbrecht wollte diefe Stimmung
benutzen und kündigte die Wiederholung des Stückes ~
auf den folgenden Tag an. ~ Die weimarifchen Schaums
fpieler, welche fämtlich der Vorftellung beigewohnt hatten,
fpieen Feuer und Flammen und ernannten eine Deputation,
welche bei der Theaterdirektion auf Genugtuung wegen
des erlittenen Schimpfes und Beftrafung des Übeltäters
antragen follte. Die Deputation verfügte fich noch an
demfelben Abend zu dem Geheimen Rat von Goethe,
entledigte fich des Auftrags, brachte aber Goethe dadurch
in Verlegenheit; denn obwohl er den Schaufpielern nicht
unrecht geben konnte, wenn fie fich gekränkt fühlten,
fah er doch ein, daß es fchwer halten werde, ihnen Ge^;
nugtuung zu verfchaffen. Er verfuchte die Klagenden
zuerft zu beruhigen, indem er ihnen vorftellte: was auf
dem Theater gefprochen werde, dürfe nicht fo genau ge^s
nommen werden; fie wüßten ja felbft, wie Jurifi:en, Ärzte
und andere Perfonen in den Lufifpielen dem allgemeinen
Gefpötte preisgegeben würden und wie es noch niemand
eingefallen, darüber Befchwerde zu führen. Von Perföns:
lichkeiten aber fcheine in der Prinzeffin nichts vorge?
kommen zu fein. Die Deputation wollte fich hierbei nicht
beruhigen, fondern erwiderte : es fei aber doch der ganze
Stand der Schaufpieler angegriffen und befchimpft worden,
und wie foeben das Theaterpublikum feine große Freude
über die Tendenz der Poffe laut ausgefprochen, fo werde
es den folgenden Tag bei der Wiederholung in noch
höherem Grade gefchehen, und darum wollten fie bitten,
daß wenigftens die Wiederholung nicht Itattfinde. Goethe
I 24*
372 Ludecus. [784
entließ die Deputation mit der Verficherung: er wolle
überlegen, was fich in der Sache tun laffe, und am folgen?
den Tage kündigte Geifelbrecht — ein anderes Stück mit
der Bemerkung an, daß die Wiederholung der Prinzeffin
unterfagt worden fei.
[784.] Mai. Riemer.
Bei Goethe höre ich einige Kollegia über Metamor?
phofe der Pflanzen, Theorie der Farben; wir befehen den
Mond durch einen fiebenfüßigen Herfchel und wiffen uns
fonft über allerlei zu unterhalten.
[785.] Juni. Nach Steinfchen Papieren.
Als die Nachricht von Moreaus Verurteilung in
Weimar eintraf, behauptete Goethe gegen Charlotte, das
Todesurteil werde nicht vollzogen werden, und er tat fich,
als die Kunde feiner Begnadigung eintraf, in einem der
Freundin zugefandten Billet etwas darauf zugute, daß
er dies vorausgefagt.
[786.] Juli Mitte. H. Voß.
Neulich fuhr ich mit Goethe und Riemer einmal nach
Tiefurt. Da war er unterwegs überaus herzlich. Er fprach
von verfchiedenen Arbeiten, die ernoch vornehmen wolle.
In meinem Alter, fagte er, kommt man denn doch all?
mählich auf den Gedanken, daß es mal zu Ende gehen
könne. Sieh, daran hat Goethe früher niemals gedacht;
das fieht ihm recht ähnlich. Ein andermal fprach er von
einem Quidam, der fchon fehr bejahrt fei, deffen Mutter
aber noch lebte. Da meinte er: das fei gar fchön; der
Mann muffe fich fo viele Jahre, als feine Mutter Vor?
fprung habe, noch recht ficher vorkommen.
[787.] Juni 28. u. Juli 21. H. Voß.
Goethe ift nicht mit der Einlage zufrieden. '^ Er
findet die Charlotte Corday von Luden geiftlos, matt und
nullenartig, auch die Ausarbeitung, nämlich Sprache und
Diktion, Versbau und Rhythmik ufw. äußerft notdürftig.
Er lächelte über die Gutmütigkeit des Verfaffers und hat
mir obiges Urteil mit Ruhe und Wohlwollen gegen den
Verfaffer als Menfch gefagt, fowie er denn nie heftig ur?
teilt. — Aber Du fiehfi wohl, daß an keine Aufführung
1
790] Weimar. 1804. 373
zu denken ift. Ob Goethe ihm antwortet, weiß ich nicht,
ich zweifle aber daran; denn diefer Fall ift ihm fchon
unzählig oft vorgekommen, und Goethe hat fich endlich
über Zeremonien und dergleichen weggefetzt. Wenn er
eine Spur von Talent in ihm gefunden, fo antwortet er
gewiß, aber die fcheint er nicht gefunden zu haben.
[788.] (Auguft.) H. Voß.
Wie war Goethe fröhlich, als ich meine Sachen auf
dem Examen fo gut beendet hatte und wie war ich fröh^
lieh, daß er einen folchen Anteil an mir nahm. Dem
Mann verdanke ich ja faft ebenfoviel, als meinen Eltern:
er hat mir ja Mut und Selbftvertrauen in die Seele ge?
flößt und weiß mir durch fein Beifpiel immer die Be?
fcheidenheit und ein edles Mißtrauen nahe zu erhalten.
— Ich lefe jetzt griechifch mit ihm. Neulich lafen wir
zufammen drei Stunden nach der Reihe, und Goethe ift
jetzt außerordentlich warm für diefe Sprache, befonders
für den Sophokles. Sobald die erften Schneeflocken fallen,
errichten wir einen literarifchen Klub, wo Goethe der
Meifter ift. Goethe fagte mir neulich: Nur zu hitzig
wollen wir nicht beginnen; es ift eine Schande, bei fo
etwas nicht Tempo halten zu können. Lieber nachher
im Eifer geftiegen, als erkaltet. — Wenn wir jungen Leute
um Goethe find, fo gefällt mir das fo befonders an ihm,
daß er nie wie ein Meifter zu den Jüngern, fondern wie
ein Freund zum Freunde fpricht — eine Humanität, die
feine Jünger nur um fo fefier an ihn kettet, indem er es
nicht merken läßt, daß wir Jünger fein follen.
[789.] Sommer. Schiller an F. J. Niethammer.
Wegen Ihres Anliegens das Döderleinfche Monument
betreffend, habe ich gleich vorigen Sommer mit Goethen
gefprochen. Er meinte aber, daß es nicht fchicklich fein
würde, einem theologifchen Gelehrten ein Monument in
einem botanifchen Garten zu fetzen. Deswegen fehlen
ihm der Vorfchlag mit einer Büfte, die in Jena und
Weimar könnte aufgeftellt werden, viel ratfamer zu fein.
[790.] September 5./6. Ch. G. Voigt.
Nach des Herrn Geheimen Rats von Goethe Zurück^
kunft habe ich über die Beilage umftändlich konferiert.
Unfere gemeinfame Meinung war diefe: Es ift nicht ge^t
I
374 Ch. G. Voigt. [791
raten, die Allgemeine Literaturzeitung eine entfchiedene
Meinung in der Politik ergreifen zu laffen, am wenigften
wenn der Fall ift, die fchwächere Partei zu ergreifen.
Daher ift des Herrn Gentz Plan, der franzöfifchen Eitel^
keit, Intrige, Übergewalt ufw. durch das Vehikul öffent=:
licher Blätter entgegenarbeiten zu wollen, für ein gelehrtes
Blatt unanwendbar, welches durch Unbefangenheit und
Neutralität allein beftehen kann. Meine fpezielle Meinung
war, jenen Gedanken vorausgefetzt, doch etwa erft, wenn
man des Herrn Gentz Rezenfion lefen könne, fich zu
determinieren.
[791.] September Ende. H. Voß.
Goethe und Schiller pflichten meinem Urteile wegen
Nichtannahme des Rufs an die Univerßfät Würzburg voll?
kommen bei. Ich habe fehr ernfthaft mit beiden die Sache
erwogen. Beide fahen, während fie ratgaben, väterlich
auf mein Beftes. Goethe fagte am Ende: Ich wollte Sie
gerne auch gegen meine Neigung ziehen laffen, wenn es
wahrhaft ein Glück für Sie wäre. Jetzt rate ich Ihnen
als Vater und Freund, Ihrer Neigung, die ich anerkenne
und heilig achte, zu folgen und hier zu bleiben.
[792.] Erneftine Voß.
Als die Würzburger Angelegenheit fich zerfchlug,
war Voß [der Vater] fehr gerührt über die herzliche Freude,
mit der Goethe diefe Nachricht empfing. Von neuem
fuchte er feine Bedenklichkeiten wegen der Penfion zu
heben, und mancherlei Pläne kamen zur Sprache, die fein
künftiges Leben erheitern follten.
[793.] Oktober 3. H. Voß.
Vor acht Tagen habe ich Goethe einige Arbeiten von
mir vorgelefen. Er fagte mir manchen einzelnen Einwand.
Mehrere Einwendungen habe ich zurückgewiefen, manche
mit Dank angenommen und in feiner Anwefenheit ge?
ändert, wo er felbft mir zum Teil die Änderung angab.
Goethe ift mit einer Rezenfion befonders zufrieden, wie
er an Schiller und zum Teil auch mir felber gefagt hat.
Großes Vergnügen machte ihm eine Anmerkung: Bravo!
fagte er, als ich fie vorgelefen hatte, und klopfte mir
freundlich auf die Schultern, recht als wenn er im Herzen
dächte, ich hätte dir fo viel poetifchen Scharffinn nicht
794] Weimar. 1804. 375
zugetraut: Bravo! fagte er alfo: wenn die G . . aus ihrem
Teeklub kommen, dann wiffen fie freilich nicht, daß ein
Sturm auch das Meer beruhigen kann.
[794.] Oktober 7. H. Voß an K. W. F. Solger.
Ich bin gewöhnlich bei Goethe, wenn feine Familie
mal verreift ift. Nun war Riemer mit Auguft und der
Vulpius nach Oberweimar gefahren, um dort einer Fete
beizuwohnen. Goethe fchickte alfo um 5 Uhr zu mir,
ob ich nicht zu ihm kommen und den Brunckifchen
Sophokles mitbringen wollte. Als ich zu ihm kam, fand
ich's gar behaghch bei ihm. Er hatte eingeheizt, hatte
fich ausgezogen bis auf ein wollen Wämschen, worin der
Mann (ich gar prächtig ausnimmt. Nun bot er mir freunde
lieh und liebreich die Hand und fchüttelte fie recht treu^^
herzig. Jal fagte er, die Jugend ift verreift und fpringt
in der Welt herum, nun wollen wir Alten zufammen
fein. (Er weiß nämlich, daß ich der alte Ehrwürdige
heiße.) Bis gegen 7 Uhr hin fprachen wir; dann kam
Licht und nun fingen wir an griechifch zu lefen. Ich
überfetzte ihm erft den langen Chor aus der Elektra. Und
dann fingen wir an, den König Odipus zu lefen — ich
hatte Deine Überfetzung mitgebracht. Daraus hat Goethe
mit inniger Freude bis zum erften Chor mit lauter Stimme
deklamiert. Der verfteht'sl fagte er einmal; aber er ift
noch glücklicher Anfänger in der Kunft. Noch dröhnt
mir in den Ohren, wie prächtig er den Vers:
vorzutauchen ftrebt bereits
Umfonft ihr Haupt aus Tiefen blut'gen Wogenfchwalls
deklamierte, da wünfchte ich, daß Dir die Ohren klingen
möchten, und wer weiß, ob's nicht gefchehn ift. ^ Solche
frohe Tage foll ich noch oft erleben! Ich fagt' es ihm
felbft mal, wie es mich glücklich macht, daß er nicht gleich?
gültig gegen mich ift, und erhielt ein treuherziges: Gutes
Kind! mit Kuß und Händedruck dafür zur Antwort. Ja,
er behandelt mich wie einen zärtlich geliebten Sohn. Schon
feit lange darf ich unangemeldet zu jeder Tageszeit, fo
oft ich will, zu ihm aufs Zimmer kommen, was wahr?
haftig bei Goethe nichts Geringes ift. Heute Morgen war
ich fchon vor 7 Uhr bei ihm. '^
Goethe ift jetzt mit der neuen Ausgabe feiner ge?
famten Werke befchäftigt. Daß er den Götz von Ber?
I
376 H. Voß. [795
lichingen umgearbeitet hat, wird Dir bekannt fein. Er
ift jetzt fo angefchwollen , daß die Aufführung fechs
Stunden währt. Das erfiemal kamen wir halb 12 Uhr
aus dem Theater; jetzt wird die Aufführung geteih. Das
erftemal gibt man drei Akte und dann vierzehn Tage
darauf die beiden andern. Das zweitemal indes wird des
Zufammenhangs wegen der dritte Akt repetiert, fo daß
wir diefen in Zukunft am öfterften fehn werden. Wie
ift der gute Papa jetzt fröhlich über diefes Stück! Er
fagte mir neulich: Die Narren (vielleicht auch auf Babo
hindeutend) haben es fich recht angelegen fein laffen, die
regellofe Form meines alten Götz nachzuahmen, als ob
ich die mit Bedacht gewählt hätte. Damals verfiand ich's
nicht beffer und fchrieb hin, was mir in den Sinn kam.
— Denke Dir, Solger, wir haben bei diefer Gelegenheit
Hoffnung, daß der ganze Fauft erfcheint; Goethe wird
ihn jetzt fchwerlich als Fragment drucken laffen, befonders
da er fo manchmal die Empfindung im Herzen nährt,
daß man jetzt eilen muffe, bevor die ewige Nacht eintritt.
[795.] qktober 10. H. Voß.
Ich werde viel rezenfieren und es wird mir leicht
werden, da ich in vielen Rezenfionen, z. B. in den mytho^
logifchen, Goethes Beiftand habe. Noch heute morgen
fagte er zu mir: Nun kommen die traulichen Winterabende,
da wollen wir zufammen lefen und brav rezenfieren.
[796.] Oktober Mitte. Schiller an Cotta.
Goethe denkt jetzt an eine Herausgabe feiner fämt^:
liehen Schriften in einer Handausgabe, ohne Pracht und
Verzierung. Nach den Erkundigungen, die ich darüber
eingezogen, ift er gefonnen, das Werk fo zu verakkor^
dieren, daß die fämtlichen Bände im Verlauf von dritt;:
halb Jahren erfcheinen follen und in fünf Jahren, von
Erfcheinung des erften Transports an gerechnet, das
Recht einer neuen Auflage an ihn heimfallen foll. Der
Verleger müßte fich alfo freilich tummeln, um in diefem
kurzen Zeitraum das Werk zu verkaufen. Wie ich ihn
fondiert habe, fo fcheint er nicht weniger als vier Carolin
für den gedruckten Bogen zu erwarten, und er rechnet
das Ganze auf etwa 380—400 Bogen. Einige ungedruckte
Sachen aus feiner früheren Jugend find darunter, auch
denkt er vom Fauft foviel dazu zu geben als er fertig
hat, wenn er auch nicht dazu käme ihn ganz zu vollenden.
798] Weimar. 1804. 377
[797.] Oktober. H. Voß.
Delbrücks Rezenfion von der Eugenie ift fehr brav
und hat Goethe Freude gemacht. Er fagte mir: Nur an
einigen Stellen hätte der Rezenfent den Bohrer noch ein
paarmal umdrehen muffen, aber er bohrte doch wenigftens
jedesmal in der geraden Richtung. — Goethe fagte: Es
tut mir wohl, doch jetzt in einem Zeitalter zu leben, wo
man gerade das verfteht, was ich haben wollte. Dann
fügte er hinzu: Wenn ich doch eine fo gründliche Be^
urteilung vor fünfundzwanzig Jahren an meinem Götz von
Berlichingen und an meinem Werther erlebt hätte 1 Er
fand nicht daran Wohlgefallen, daß er war gelobt worden,
fondern daß er war gründhch verftanden worden. Dann
fetzte er aber hinzu: Wenn nun ein Fremder verftanden
hat und zugleich billigt, fo ift das natürUch eine doppelte
Freude.
[798.] Oktober 29. H. Voß an C. W. Iden.
Ich war nun acht Tage beftändig bei ihm, und faft alle
Abende und Mittage bei ihm, und die Zeit verging unter
Gefprächen und Griechifchlefen. Es ift eine Wonne, mit
Goethe zu lefen; denn bei folchen Gelegenheiten tun fich
die Goldgruben feines Innern auf. Er ift recht wie in
dem arabifchen Märchen das goldene Baffin mit dem
goldenen Waffer, das in alle Regionen hin feine verklärten
Strahlen fendet. Wir haben viel im Sophokles gelefen,
und der Sophokles, durch Goethes Geift belebt, wird zu
einer Schule alles Schönen und Trefflichen. Lieben Freunde!
da faß ich recht in der Nähe des großen und Uebens^s
würdigen Mannes; denn wir fahen aus Einem Buche.
Auf den Winter — in meinen Augen eine heilige Jahres^:
zeit, weil die ftille Traulichkeit mit dem Winter kommt
— da werde ich mit Goethe viel gemeinfchaftlich lefen.
Goethe will nie Meifter fein und ift es darum um fo
ficherer. Er verträgt jeden Widerfpruch und es ift nicht
feiten, daß er in Disputen gern und willig nachgegeben
hat; denn manchmal trifft auch mal folch ein Fall ein,
daß, was der Prophet Bileam nicht fehen konnte, fein
Efel fah. Dabei ift Goethe die Liebe felbft und fucht
in allen Dingen und bei allen Menfchen nur die Vorteiles
haften Seiten auf und beurteilt den Menfchen nach dem
Maßftabe deffen, was er feiner innern Natur nach zu
leiften imftande ift. Wie kämen wir fchwachen Kinder
378 H. Voß. ^
des Staubes auch fonft neben ihm zurecht, wenn er diefe
fchonende und hebe volle Maxime nicht hätte? — Wenn
Du, liebfier Iden, Goethe je gefehen halt, fo wirft Du
wiffen, daß er Stolbergen ähnelt. Sie könnten der Geftalt
nach Brüder fein ; ihrem edlen Wefen nach find fie's ;
denn keiner ift vollkommener als der andere, nur Goethe
von einem noch erhabeneren Geifte befeelt.
[799.] November Anfang. F. Kirms.
Goethe und Schiller hatten nichts getan, um die
Großfürftin im Theater gehörig zu empfangen. Neun
Tage vorher disputierte ich dem Goethe alle Trugfchlüffe
weg und fo verfprach er mir, wenn Schiller nicht wolle,
daß er noch einen Prolog liefern wolle.
[800.] November Anfang. Schiller.
Auf dem Theater wollten wir uns anfangs eben nicht
in Unkoften fetzen, fie zu bekomplimentieren. Aber et::
liehe Tage vor ihrem Anzug wurde Goethen angft, daß
er allein fich auf nichts verfehen habe und die ganze
Welt erwartete etwas von uns. In diefer Not fetzte man
mir zu, noch etwas Dramatifches zu erfinden, und da
Goethe feine Erfindungskraft umfonft anftrengte, fo mußte
ich endlich mit der meinigen noch aushelfen.
[801.] November. H. Voß an B. R. Abeken.
Manchmal geht es auch (dente Theonino) recht über
Böttiger her, oder über Afts Cröfus, und da werden denn
die guten Leutchen nicht bloß bei den Haaren, fondern
auch bei dem Felle gezauft. Dem Böttiger ift er fo gram,
daß er ihm auch nicht ein gefundes Haar läßt. Sonft ift
Goethe mild und fchonend, nur gegen das kapitale
Schlechte ift er ftreng und unerbittlich, recht um zum
Erfatze gegen das Gute recht vom Grunde gerecht fein
zu können. Du wirft bald in der Literaturzeitung eine
heftige Drohung gegen mich von Dr. Aft lefen für die
Rezenfion feines Sophokles. Ich hatte fehr fchneidend
geantwortet — und gewiß auch treffend; als ich es aber
Goethen vorlas, fchüttelte er bedächtig den Kopf und
fagte: Ich muß es Ihnen nur gerade herausfagen, Sie find
ein Hitzkopf. Wollen Sie denn mit Gewalt eine Feinde
fchaft fortfetzen, die Ihnen über kurz oder lang felbft
den Sophokles verleiden wird? Endlich fagte er: Über^s
803 J Weimar. 1804. 379
laffen Sie mir die Antwort! Einen Stoß foUen Sie ihm
wieder verfetzen, aber nicht durch Leidenfchaft, fondern
durch Ruhe. Glauben Sie mir, fuhr er fort, er wird fich
mehr ärgern, wenn Sie fich durch Ruhe eine Superiorität
gegen ihn beilegen, als wenn Sie mit gleicher Leidenfchaft?
lichkeit erwidern. Diefes erwartet er, jenes wird ihn
ftutzig machen. Dazu, fagte er endlich, find wir Alten
ja da, daß wir die Jugend vor Unbefonnenheiten warnen;
als wir jung waren, machten wir es felbfi nicht beffer,
aber es hat uns Verdrießlichkeiten zugezogen in zahllofer
Menge. Nun, lieber Abeken, follft Du Dich freuen, wie
Goethe den Afi: in meinem Namen abgefertigt hat. ^^
Über den ungenannten Überfetzer des ödipus foU
Aft fehr aufgebracht fein, vermutlich weil er ihn fürchtet.
Da mag fich Solger ein wenig durch Goethes Beifall
tröften; denn Goethe fagte neulich, daß er in diefem trotz
aller Härten und Unbiegfamkeit, die den beginnenden
charakterifierte, doch einen fchönen Überfetzer des Sopho?
kies vorausahndete. Die rauhen Ecken werden fich fchon
abfchleifen, und dann, fagte er, haben wir einen Sophokles.
Ich habe in der vorigen Woche Goethen einen Akt
aus Richard III. metrifch überfetzt gebracht, der ihm viele
Freude gemacht hat. Nun hat er mich gebeten den
Othello für die Bühne zu bearbeiten, wobei er mir hei?
fen will.
[802.] Dezember Anfang. Schiller an G. J. Göfchen.
Goethe hat fich mit großem Eifer an die Überfetzung
des Rameau gemacht, und es ift ihm fo ernft, etwas Gutes
zu leiften, daß wir uns gewiß ein vortreffliches Werk
verfprechen können. In der Mitte des Januars könnte er
mit dem erften Wurfe der Überfetzung fertig fein, und
dann könnte auch bald mit dem Druck angefangen werden.
Ich habe mit ihm, nach Ihrer Vollmacht, um 100 Carolin
gehandelt, denn er wollte anfangs noch höher hinaus,
und — im Falle Sie mit dem Werke fehr glücklich wären
— habe ich ihm in Ihrem Namen noch etwas extra ver?
fprochen, wenn es zu einer zweiten Auflage kommt.
[803.] Dezember (20). Schiller an G. J. Göfchen.
Goethe, deffen Billet an mich ich beilege, wünfcht,
daß die Schrift von Diderot nicht eher, als unmittelbar
ehe fie ausgegeben wird, angezeigt werde, und daß man
I
380 Schiller. [804
das Publikum im eigentlichen Sinne damit überrafche.
Übrigens will er Ihrem Wunfeh gemäß fich gern mit
feinem Namen dazu bekennen. Die Verhältniffe unferes
Hofs mit H.E. Grimm in Gotha und Grimms mit den
Diderotifchen Erben machen jene kleine Vorficht nötig,
weil fonft allerlei dazwifchen kommen könnte.
[804.] Riemer.
Äfchylus und Sophokles führen den Pylades nur
ftumm ein. Oreft und Pylades find ja Freunde, eine
Seele in zwei Leibern, alfo was der eine denkt und fagt,
tut der andere auch.
Die alte Tragödie bei Äfchylus hat Ähnlichkeit mit
den alten tragifchen Balladen, befonders den fchottifchen.
Vielleicht ließen fich diefe auf alte Weife zu Dramen
machen.
1805.
[805.] Januar 1. H. Voß.
Am Morgen des letzten Neujahrstages, den Schiller
erlebte, fchreibt Goethe ihm ein Gratulationsbillet; als
er es aber durchlieft, findet er, daß er darin unwillkür:;
lieh gefchrieben hatte: der letzte Neujahrstag ftatt erneute
oder wiedergekehrte oder dergleichen. Voll Schrecken
zerreißt er's und beginnt ein neues. Als er an die ominöfe
Zeile kommt, kann er fich wiederum nur mit Mühe zu^
rückhalten, etwas vom letzten Neujahrstag zu fchreiben.
So drängte ihn die Ahnung! Denfelben Tag befucht er
die Frau von Stein, erzählt ihr, was ihm begegnet fei und
äußert: es ahne ihm, daß entweder er oder Schiller in
diefem Jahre fcheiden werde.
[806.] Januar 26. H. Voß an B. R. Abeken.
Ich wollte Du hättefi Goethe den Abend gefehn, als
er Hebels Gedichte gelefen. Nach neun Uhr abends lud
er mich noch ein. Und wenn Sie im Schlafrock wären,
fagte der Bediente, Sie follten nur fo zu meinem gnädigen
Herrn kommen; er muß Sie noch fprechen. Als ich kam,
fprudelte ein ferapiontifcher Erguß über die Gedichte, der
am andern Morgen um fieben Uhr fchon Rezenfion war.
810] Weimar. 1805. 381
[807.] Januar 30. J. J. Gerning.
Bei Goethe war mir's geftern fehr wohl. Er fprach
von Freund Knebels Unverträglichkeit und leichtem Loss:
ziehen, auch über ihn und bei Leuten, wo er's nicht follte.
Am Tifch fagte er, daß er fich hier des Obftes enthalte,
weil es fo feiten gerate und doch fchlechter ift als am Main.
Er lobte meine griechifchen Münzen ufw., die Erheiterung
und den Genuß an folchen Dingen, felbft wenn fie ein
anderer befitze; doch muffe man etwas davon haben, das
denn manchmal differiere. Kupferfammlungen feien wegen
Allgemeinheit fo gut. Er fagte von dem Sehen mit der
Lupe: Man fieht nur was man weiß und näher der Er^
kenntnis gebracht ift durch Überzeugung. Die Zerrbilder
fah er nicht an, erinnerte fich an Böttiger, verwies fie als
böfen Gefchmack und Gegenftück zu Naturbildern, und
als ich von Kotzebue redete , fagte er : Weg mit Kari*:
katuren !
Januar Ende. Henriette v. Knebel an ihren Bruder Karl,
Wenn ich Dir nur die Memoires von Marmontel
gleich verfchaffen könnte, die wir jetzt ^ mit großem
Vergnügen zufammen lefen. Wir dürfen fie nicht lange
behalten. Marmontel, der von Natur fein jovialifch und
gefellig war, fieht den Rouffeau ganz in fatalem Licht.
Goethe, der die Prinzeß kürzlich befucht hat, fprach hier::
über recht gefcheit. Er meint, daß zwar die Freunde,
die mit Rouffeau in naher Verbindung geftanden hätten,
oft übel daran gewefen wären, daß aber Marmontel nicht
hoch genug geftanden wäre, um nicht einfeitig zu fehen.
[809.] Januar. K. v. Stein.
Goethe fcheint mit Son Altesse Imperiale (der Groß::
fürftin) verlegen. Sie frug ihn nach den Regeln der Zeit?
entfernung als auch der Ortsveränderung in den Akten
eines Stückes. Er hat fich bekanntlich nicht fehr dran
gebunden: ich ftand neben ihm, er antwortete undeut::
lieh. Ich glaube, er fpricht nicht gern franzöfifch.
[810.] Februar Anfang. H. Voß an B. R. Abeken.
Die drei letzten Akte der Überfetzung des Othello
las ich Goethe vor. Am Ende der dritten Szene im drit*
ten Akte rief er mir ein herzlich gemeintes Bravo! zu,
I
382 H. Voß. ^ [811
und da kannft Du leicht denken, daß ich nicht mit kal?
tem Herzen weiter las. Goethe will es haben, daß ich
den Lear überfetzen foll und vor einigen Tagen, als ich
Deinen Brief empfing, erzählte ich ihm, daß ich von Bers
lin aus Hilfe erwartete. Bei der Gelegenheit fagte er:
es könnten allerdings mehrere an einem Werke überfetzen,
nur fei dann notwendig, daß die einzelnen Teile nicht an#
einandergereiht, fondern daß fie von einem einzigen redij:
giert und zur Einheit verbunden würden; wo er denn
offenbar recht hat.
[811.] Februar 8. u. f. T. H. Voß.
Denfelbigen Abend kam Stark, Profejfor der Medizin,
aus Jena (es war am Freitag Abend), der erklärte, wenn
Goethe bis Sonntag früh lebte, fo fei Hoffnung da. ~
Aber ^^ fchon in diefer Nacht hatte die Krankheit um^
gefchlagen, die Krämpfe hatten nachgelaffen, das Fieber
war fanfter gewefen und der Geliebte hatte über die Hälfte
der Nacht ruhig gefchlafen. Um 1 1 Uhr forderte er mich
zu fich, weil er mich in drei Tagen nicht gefehn hatte.
Ich war fehr bewegt, als ich zu ihm trat und konnte aller
Gewalt ungeachtet, die ich mir antat, die Tränen nicht
zurückhalten. Da fah er mir gar freundlich und herz^
lieh ins Geficht und reichte mir die Hand und fagte die
Worte, die mir durch Mark und Gebein gingen: Gutes
Kind, ich bleibe bei Euch; Ihr müßt nicht mehr weinen.
Da ergriff ich feine Hand und küßte fie wie inftinkt;:
mäßig zu wiederholten Malen, aber ich konnte keinen
Laut fagen. ^
Von dem Tage an ift Goethe zufehends beffer ges:
worden. Die Nacht vom Sonnabend bis zum Sonntag
wachte ich bei ihm und da hab' ich recht die Fortfehritte
beobachten können, die er machte. Als er um 12 Uhr
zum erfienmal aufwachte, fragte er mit ängftlicher Stimme:
Hab' ich auch wieder im Schlaf gefprochen? Wohl mir,
daß ich mit gutem Gewiffen der Wahrheit gemäß ver?
neinen konnte, was ich jedenfalls gelogen hätte. Gut!
fagte er nach einer Paufe, das ift wieder ein Schritt zur
Befferung. — Wenn ich ihm dann recht fchmeichelte, fo
nahm er jedesmal ganz geduldig feine Medizin, aber mit
innerer Überwindung. Nun follte ich ihm aber auch den
Leib mit fcharfem Spiritus einreiben und, wie der Arzt
befohlen hatte, zweimal des Nachts. Dazu konnte ich
811] Weimar. 1805. 383
ihn nur mit Mühe bringen. Wie ich aber gar nicht ab::
laffen wollte und immer mehr fchmeichelte, fagte er end::
lieh ganz ruhig: Nun denn, im Namen Gottes! Dann
wachte er einmal von einem Traum auf, wo er einem
Turniere beigewohnt hatte. Diefen Traum erzählte er
mir mit großer Freude, und in dem Augenblicke war er
an energifchem Ausdruck, an Lebendigkeit, ganz Goethe,
trotz feiner Krankheit. Über alles rührte mich feine wirk::
lieh väterliche und zärtliche Fürforge für mich (ob ich
mir nun nicht den Kaffee machen wollte — nun nicht
ein Glas Wein trinken wollte ufw.), wobei er mich denn
immer fein gutes Voßchen nannte. Wenn er denn wie::
der einfchlief und fein Geficht matt beleuchtet wurde,
fchien er mir immer fo leidend auszufehen wie einer, der
eben anfängt, fich aus einem unermeßlichen Jammer her^
auszuarbeiten und noch die Spuren davon in feinen Mie::
nen trägt. Da fielen mir denn die Erzählungen von den
fröhlichen Taten feiner kraftvollen Jugend ein, die ich fo
manches Mal angehört hatte, und ich konnte nicht um::
hin, beide Zuftände mit ihren fchärfften Kontraften zu::
fammenzuhalten. ^^
Zwei Tage nach jener Nacht ftand er zum erftenmal
wieder auf und aß ein gefottenes Ei. Bald fing er auch
wieder an, fich vorlefen zu laffen. Nur hielt hier die
Befriedigung fchwer: Goethe verlangte launige Sachen,
und Du weißt, daß die keiner heutzutage fchreibt. Ich
brachte ihm Luthers Schriften und las ihm daraus vor.
Das ließ er fich gefallen eine Stunde lang. Aber da fing
er auch zu wettern und zu fluchen an über die verfluchte
Teufelsimagination unferes Reformators, der die ganze
fichtbare Welt mit dem Teufel bevölkerte und zum Teufel
perfonifizierte. Bei der Gelegenheit hielt er ein fchönes
Gefpräch über die Vorzüge und Nachteile der Reforma::
tion und über die Vorzüge der katholifchen und prote::
ftantifchen Religion. Ich gab ihm vollkommen recht, wenn
er die proteftantifche Religion befchuldigte, fie hätte dem
einzelnen Individuum zu viel zu tragen gegeben. Ehe::
mals konnte eine Gewiffenslaft durch andere vom Ge:s
wiffen genommen werden, jetzt muß fie ein belaftetes
Gewiffen felbft tragen und verliert darüber die Kraft, mit
fich felber wieder in Harmonie zu kommen. Die Ohren::
beichte, fagte er, hätte dem Menfchen nie follen genommen
werden. Da fprach der Mann ein herrliches wahres Wort
I
384 H. Voß. [812
aus, wie mir in dem Augenblick recht anfchaulich wurde.
Ich felbft bin in dem Fall gewefen. Als im vorigen Som^:
mer fich alles vereinigte, mich von Weimar weg nach
Würzburg ziehn zu wollen, da fand ich nirgends Troft,
folang' ich auf meinem Zimmer war; jedesmal aber, wenn
ich zu Goethe kam und ihm mein ganzes Herz (felbft
alle Schwächen meiner Innerlichkeit) wie einem Beichte
vater ausfchüttete , fo ging ich wie mit neuem Mut ge?
kräftigt in meine Einfamkeit zurück, und ich werde ihm
diefe Wohltat an mir mein Leblang danken. ^^
Den Tag darauf, nachdem Goethe den Luther ge?
noffen hatte, ließ er ihn zur Tür heraustransportieren, —
Nun lieft Goethe die Cervantifchen Novellen, die ihm
Freude machen.
[812.] Februar 24. H. Voß an B. R. Abeken.
Als ich geftern Abend Deinen Brief abbrach, ging
ich zu Goethe, wo ich Fernow und Meyer (den Schweiz
zer) fand. Da haben wir dem alten guten Papa aus den
franzöfifchen, englifchen und italienifchen Miszellen vor?
gelefen. Er kam wieder auf feine Krankheit zu reden;
da fagte er: Ich habe da ein Experiment gemacht, das
beinahe fchlimm abgelaufen wäre. — Was er am Othello
bewundert, ift die unendliche Regelmäßigkeit des Plans
und die große Wahrheit in den Charakteren der Haupt?
perfonen. Vom Caffio fagte er: Er ift betrunken, aber
nur foweit als fich noch Liebenswürdigkeit mit diefem
Zuftande verträgt. Dann, fagte er, hätte es ihm immer
Bewunderung abgezwungen, wie es nur möglich gewefen
wäre, mit einem fo hohen Intereffe eine fo einfache Be?
gebenheit fünf Akte hindurch auszufpinnen. Shakefpeare,
fagte er einmal, fei der erfie Genius gewefen, den die
Natur getragen hätte, und man könne es nicht begreifen,
wenn man's nicht felber erlebt hätte.
[813.] März Anfang. H. Voß.
Der Othello foll nun aufgeführt werden. ^
Goethe fagte neulich: er wäre recht froh, daß er
mal wieder ein Stück von Shakefpeare fehn follte. Er
hat nun meinen Othello ganz gelefen und fagte mir, ich
hätte in der Überfetzung alle feine Wünfche befriedigt.
816] Weimar. 1805. 385
[814.] (März.) H. Voß.
Goethe arbeitet an der Ausgabe feiner fämtlichen
Schriften. Auch an feiner Optik arbeitet er, um nichts
unvollendet zurück zu laffen, und doch ift bei ihm des
Unvollendeten noch fehr viel und wird es auch bleiben.
'^ Riemer und ich haben hiebei auch unfer Gefchäft be^
kommen. Mir hat Goethe ein Exemplar von Herrmann
und, Dorothea gegeben, mit Papier durchfchoffen. Ich
foll die Hexameter muftern und alle meine Einfälle unter
den Namen Änderungen und Vorfchläge beifchreiben.
Darauf wollen wir Konferenzen halten und über die Les^^
arten debattieren.
[815.] April Anfang. H. Voß.
Ick habe Goethes Hermann und Dorothea fchon in
beffere Hexameter umgefchmolzen, wozu ich vierzehn an:s
geSfengte Tage gebraucht. Goethe hat mir feinen Bei:=
fall gegeben und mich gelobt, daß ich fo fchonend ver^
fahren und nie dem Charakter Abbruch getan; er meinte:
ich habe ihm, wenige Stellen ausgenommen, nichts hinein^
gebracht, was feinem Geifte fremd wäre. Er hat mir fchon
andere Sachen aufgegeben, und ich werde auch noch wohl
den Reinecke Fuchs durchzunehmen bekommen. Nun
werde ich all dies noch mit ihm gemeinfchafthch durchs:
gehn, worauf ich mich unfäglich freue.
[816.] Riemer.
Einen profodifchen Fehler, einen Vers mit überzahl
ligem Halbfuß, nämlich
Ungerecht bleiben die Männer und die Zeiten
der Liebe vergehen
rügt das Morgenblatt von 1808, Nr. 123, mit Bedauern,
daß der Vers unverbeffert geblieben, aber — fetzen wir
hinzu — mit Bewußtfein und Abficht in die letzten Auss=
gaben mit eingewandert. Ich hatte Goethen bereits auf?
merkfam darauf gemacht, weil aber der Vers ohne fein
proverbialifches Anfehn zu verlieren und eine gewiffe
grata negligentia einzubüßen, nicht wohl zu ändern war;
ich mich auch erinnerte, daß F. A. Wolf, einmal von
diefem Verfe fprechend, ihn nicht nur entfchuldigt, fon?
dern auch durch homerifche Beifpiele erläutert habe: fo
1 25
386 Riemer. [817
ließen wir ihn ftehen oder hingehen. Nun machte fpäter
auch H. Voß, der Sohn, auf ihn aufmerkfam, und Goe^
the foll, wie jener erzählt, gefagt haben: die fiebenfüßige
Beftie möge als Wahrzeichen ftehen bleiben.
[817.] April um 24. Schiller an G. J. Göfchen.
Goethe wünfcht, daß die Anmerkungen zu Rameaus
Neffe merklich enger als der Text und zwar in einen
Continuo gedruckt werden, fo daß mit einem neuen Ar^s
tikel nicht auch eine neue Seite angefangen wird, wie im
Manufkript. Nach diefer Schätzung werden diefe Noten
gegen drei Bogen füllen.
Nach vollendetem Druck bittet fich G. fein Manu?
fkript wieder aus; auch wünfchte er bald mögUchft eine
korrekte Abfchrift des franzöfifchen Originals zu befitzen.
[818.] April 25. Schiller.
Goethe war fehr krank an einer Nierenkolik mit hef:;
tigen Krämpfen, welche zweimal zurückkehrte; Dr. Stark
zweifelt, ihn ganz herfiellen zu können. Jetzt hat er fich
wieder ganz leidlich erholt; er ging foeben aus meinem
Zimmer, wo er von einer Reife nach Dresden fprach, die
er diefen Sommer zu machen Luft hat. Arbeiten kann er
in feinen jetzigen Gefundheitsumftänden freilich nicht, und
gar nichts vornehmen ift wider feine Natur. So ift ihm
am heften geraten, wenn er unter Kunftanfchauungen lebt,
die ihm einen gebildeten Stoff entgegenbringen.
[819.] März/ April. Riemer.
Ein andermal fagte Goethe: Er hätte den Einfall ge?
habt, auf die Mineralogen, zu der Zeit, wo fie in allen
Gegenden mit Hämmern herumgingen und an die Steine
fchlugen, ein Bild zeichnen zu laffen, wo ihrer zwei von
entgegengefetzten Seiten an einen Fels kämen und daran
fchlugen. Der Felfen fpränge und nun erblickten fich die
Herren ftaunend und grimaffierend. — Er erzählte dies
mit feinem gewöhnlichen humoriftifchen Tone und der
kleinen Andeutung von Geft, die er in folchen Fällen
fich erlaubte.
[820.] Mai erfte Hälfte. H. Voß.
In der letzten Krankheit Schillers war Goethe un?
gemein niedergefchlagen. Ich habe ihn einmal in feinem
820] Weimar. 1805. 387
Garten weinend gefunden; aber es waren nur einzelne
Tränen, die ihm in den Augen blinkten: fein Geift weinte,
nicht feine Augen und in feinen Blicken las ich, daß er
etwas Großes, Überirdifches, Unendliches fühlte. Ich er^
zählte ihm vieles von Schiller, das er mit unnennbarer
Faffung anhörte. Das Schickfal ift unerbittlich und der
Menfch wenig! Das war alles, was er fagte und wenige
Augenblicke nachher fprach er von heitern Dingen. Aber
als Schiller geftorben war, war eine große Beforgnis, wie
man es Goethe beibringen wollte. Niemand hatte den
Mut, es ihm zu melden. Meyer war bei Goethe, als
draußen die Nachricht eintraf, Schiller fei tot. Meyer
wurde hinausgerufen, hatte nicht den Mut, zu Goethe
zurückzukehren, fondern ging weg ohne Abfchied zu nehs:
men. Die Einfamkeit, in der fich Goethe befindet, die
Verwirrung, die er überall wahrnimmt, das Beftreben, ihm
auszuweichen, das ihm nicht entgehen kann — alles diefes
läßt ihn wenig Tröftliches erwarten. Ich merke es, fagt
er endlich, Schiller muß fehr krank fein, und ift die übrige
Zeit des Abends in fich gekehrt. Er ahnte, was gefchehen
war; man hörte ihn in der Nacht weinen. Am Morgen
fagt er zu einer Freundin /C/irz/^iane Vulpius] : Nicht wahr,
Schiller war geftern fehr krank? Der Nachdruck, den er
auf das fehr legt, wirkt fo heftig auf jene, daß fie fich
nicht länger halten kann. Statt ihm zu antworten, fängt
fie laut an zu fchluchzen. Er ift tot? fragt Goethe mit
Feftigkeit. Sie haben es felbfi: ausgefprochen, antwortet
fie. Er ift tot! wiederholt Goethe noch einmal und be^
deckt fich die Augen mit den Händen. — Um 10 Uhr
fehe ich Goethe im Park gehen; ich hatte aber nicht den
Mut, ihm zu begegnen. Drei Tage lang bin ich ihm aus^
gewichen; am vierten paßte ich die Zeit ab, wo er auf
die Bibliothek gegangen war. Ich folgte ihm, wünfchte
ihm einen guten Morgen und fing wohl zehn bibliothe^
karifche Fragen an, bei denen ich fo wenig etwas dachte,
als Goethe bei feinen Antworten, die er mit fichtbarer
Geiftesabwefenheit, aber mit der größten fcheinbaren Ge::
fchäftigkeit mir gab. Er hatte nachher gefagt: es wäre
ihm lieb gewefen, daß ich ihm nichts von Schiller gefagt
hätte, er wäre fchwerlich gefaßt gewefen, mir mit Ruhe
darauf erwidern zu können. — Jetzt fpricht Goethe fehr
feiten von Schiller, und wenn er es tut, fo fucht er die
heitern Seiten ihres fchönen Zufammenlebens auf.
I 25*
388 K. F. A. Conta. [821
[821.] Mai 10. K. F. A. Conta.
Meyer befand fich bei Goethe, als die Nachricht von
Schillers Tod ihm gebracht wurde. Nun, fo ifi denn wie?
der einer dahin gegangen, war alles, was Goethe über
diefen Todesfall äußerte.
[822.] Mai 11. Charlotte v. Stein.
Goethe ift völlig wieder hergeftellt und kommt jetzt
öfter zu mir. Schiller bleibt ihm ein unerfetzlicher Ver:;
luft. Er fprach heute fo fchön und original über den
phyfifchen und geiftigen Menfchen, daß ich's hätte mögen
gleich aufgefchrieben haben.
[823.] Mai 11. Überlieferung.
Karl von Stein erinnerte fich noch fpät, v on feiner
Mutter gehört zu haben, daß Goethe, als diefe ihn bes^
reden wollte, die Leiche Schillers zu fehen, ausgerufen
habe: Nein! die Zerftörungl
[824.] Mai 12. Riemer.
Von dem Eindruck, den Schillers Ableben auf ihn
gemacht, ließ er fich nichts merken. ^ Den Tag über
durfte niemand davon reden. Am dritten Tage fprach er
zuerft felbfi: mit mir von dem Verluft, den die Literatur
erlitten, was Schiller noch alles vorgehabt zu tun und zu
leiften. — Vorigen Abend aber befiel ihn fein alter Seiten:^
fchmerz, doch nicht fo ftark, wie das vorige Mal. Er
hat auch gefchlafen und will nur heute noch fich ruhig
verhalten. Morgen wieder ad laborem.
Nachlefe zum fünften Abfchnitt
Zeitlich nicht näher beftimmbar.
[825.] Riemer.
Goethe wollte in den Unterhaltungen, wie er mir fagte,
eine Art von Taufend und einer Nacht liefern, fo näm;;
lieh, daß eine Erzählung durch die andere hervorgerufen
würde; dankte aber zuletzt Gott, daß er bis an das Mär^j
chen kam.
828] 1801/1805. 389
[826.] Händel.
Nie werde ich der Stunde, der Tage vergeffen, wo
ich als Knabe, als Spielgefährte Auguft von Goethes —
des biedern, freundlichen Sohnes Goethes — im Vereine
mit den beiden Söhnen Schillers, unter den Augen und
in Gegenwart diefer unfierblichen Dichter, fo manchmal
bei dem lärmenden Treiben, das wir oft über die Gebühr
vollführten, den faft gleichmäßigen Ausruf: Jungens! macht
doch keinen fo entfetzlichen Spektakel! ertönen hörte.
Wie oft hat in fpäterer Zeit mein freundlicher Vater und
Gönner, oder vielmehr mein väterlicher Freund Goethe,
mich an jene Zeit erinnert, mit der Frage: Wiffen Sie
noch, wie Ihr Euch, Sie Auguft, Ernft, Friedrich und die
V. E. in meinem Garten meinen Götz von Berlichingen
zum Exerzitium nahmt; wie Ihr in tollem Wahne das
Stück im Freien verlebendigen wolltet!
[827.] Nach mündlicher Mitteilung einer Tochter Karl Schäffers.
Karl Schäffer, ein Sohn des weimarifchen Stiftspredi^s
gers, war als Knabe ein Spielkamerad von Goethes Arn:
guft. Einfi waren die Jungen an einem kalten Tage im
Haufe des Geheimrats und, da fie froren, kamen fie auf
die Idee, (ich in aller Stille Holz heraufzuholen und den
Ofen zu heizen. Wie fie grade darüber waren, ihr Feuer*
chen anzublafen, trat Vater Goethe herein; die Knaben
erfchraken, aber ftatt der erwarteten Schelte hörten fie
freundliches Lob. Das fei recht von ihnen, daß fie nicht
erfi: zu Vater oder Mutter gelaufen und über die Kälte
geklagt hätten, folche Jungen müßten fich fchon felber
gegen das Unbehagliche zur Wehr fetzen und
Mit einem Herren fieht es gut,
der, was er befohlen, felber tut.
[828.] L. Robert.
Als ich einft, ich glaube im Jahr 1804, bei Goethe
zu Tifch war, kamen Almanache, der Chamiffoj^Varn:;
hagenfche war auch darunter, und Goethe nahm einen
nach dem andern, hielt fie an feine und feiner Frau Ohren
und fragte: Hörft du was? Ich höre nichts. Nun, wir
wollen die Kupfer betrachten, das ift doch das Befte. Und
fo legte man die Almanache beifeite.
I
590 K. L. V. Knebel. [829
[829.] Überlieferung der Familie K. L. v. Knebels.
Während eine lebhafte Unterhaltung Jenen/er Freun=
de im Haufe Knebels die Geifter völlig in Anfpruch ge^
nommen hatte, war draußen der erfte Schnee gefallen.
Plötzlich bemerkte Goethe das überrafchend veränderte
Bild, und von deffen Schönheit mächtig ergriffen, fchlug
er vor, jeder folle ein Gedicht darauf machen. Knebel
trat an das Fenfter, blickte eine Zeitlang finnend hinaus
über den Garten, das Tal, zu den Bergen — überall dies:
felbe blendend weiße, weiche Hülle von frifch gefallenem
Schnee. Er nahm ein Blatt Papier zur Hand und fchrieb
das '^ Diftichon:
Tritten des Wandrers über den Schnee fei ähnlich mein
Leben,
Es bezeichne die Spur, aber beflecke fie nicht.
nieder, und Goethe, der andere fo gern anerkannte, war
fo entzückt davon, daß er ausrief: Knebel, für diefes
Diftichon gab' ich einen Band meiner Werke hin!
[830.] K. L. V. Weltmann.
Ich hatte Goethe nur einmal gefehen, fagte die
Gräfin unter andern, fo war ich fchon inne geworden,
daß beinahe alles, was man ihm für Unart und Eigen;:
finn auslegt, ein inneres Bangen feiner Natur fei. Die
Angft, von welcher das Genie in Verhältniffen, die allen
andern Menfchen leicht und handlich find, oft ergriffen
wird, und die uns Rouffeau fo überaus beredt gefchildert
hat, leidet mein Lieblingsdichter im Leben unbefchreiblich.
Man glaubt es ihm nicht, weil er in vielen Dingen fo
ftark ift, weil er fo manches, das andre Menfchen wie
eine ungeheure Laft drückt, leicht handhabt und bes:
wegt. Ift nur ein Menfch gegenwärtig, faft hätte ich
gefagt, nur ein Körper, der mit feiner phyfifchen Natur
in gar keiner Wahlverwandtfchaft fteht, fo ift dadurch
fein Genie wie gelähmt. Da er zugleich die menfch^
liehe Freiheit ftark in fich fühlt, wird er verdrießlich,
angftvoll, daß er über diefe Lähmung nicht Herr werden
kann. Ich geftehe, daß es mich gefchmerzt hat, ihn fo
zu fehen, wenn die andern über feinen vermeintlichen
Hochmut und feine Eigenfucht erbittert waren. Man wird
um fo leichter über ihn irre geführt, weil er nie fein Her;;
kommen aus einer angefehenen und obrigkeitlichen Fa:;
830] 1801/1805. 391
milie einer freien Reichsftadt in feiner äußern Haltung
verleugnet hat. Das Leben an einem kleinen Hofe diente
zur Bewahrung diefer reichsbürgerlichen Feierlichkeit, und
Repräfentation ward bei ihm zur Folie derfelben. Behält
er denn, fragte ich, diefes repräfentative Wefen des Reichsj:
bürgers auch in feiner Freude und Freundlichkeit, auch
während der freien Ergießung feiner Natur? und wie
fehr muß dann deren geniale Schönheit durch folche be^;
engende Steifheit leiden.
Mit nichten, entgegnete die Gräfin rafch, und die
flüchtigfte Röte ging über ihr Geficht, wie bei der Haft
holder Frauen in Verteidigung von etwas, was ihnen fehr
lieb ift. Wenn Goethe fich froh feiner Natur überläßt,
fo ift es wirklich, als wenn die Sonne aufgeht. Vor feinem
Licht verfchwindet immer mehr alle Schranke, und in
feinem Auge, feiner Stirn, feinen Zügen, die fich immer
mehr erweitern, liegt gleichfam das Univerfum. Dennoch
ift wahr, felbft wenn feine Natur in ihrer heitern Fülle
waltete, fteckte bisweilen etwas wieder hervor, das mich
an den Schultheißen von Frankfurt erinnerte. Mich dünkt,
es war in folchen Augenblicken, wo viel einzelnes in
feiner Seele erft zu einem Allgemeinen werden wollte.
Aber dann freute ich mich der rechtlichen Menfchheit
mitten unter feiner dämonifchen Gewalt; und wenn er
auch des einzelnen noch nicht ganz habhaft war, dann
wohl mit der Hand griff, als wollte er Bilder greifen,
fehen Sie, dann hat er mich felbft kindlich gerührt. Das
fcheint mir überhaupt in Goethes Perfönlichkeit wie in
feinen Werken die am meiften durchgehende Eigentum?
lichkeit, daß man fieht, wie das Einzelne in ihm zum All?
gemeinen und das Allgemeine zum Einzelnen wird. Ich
habe ihn einige Male mit Schiller zufammengefehn und
ich würde fagen, durch den Gegenfatz diefer Natur hätte
ich ihn erft ganz gefaßt, wenn ich nicht fchon den An?
fang eines Spottes um Ihren Mund fähe. ^
Schiller ift eigentlich ein Denker, und Goethe ein
Dichter. In jenem war, über wie tiefe Sachen fich das
Gefpräch verbreitete, immer alles fertig, und ich habe nie
bemerkt, daß er mit feinen Gedanken in irgend eine Ver?
legenheit kam; und in meinem Liebling wurde alles, man
fchuf mit ihm, wenn jener nur gab.
Man hat mir gleichwohl viel von der Freundfchaft
der beiden Männer gefagt. Die war fehr fchön und hatte
I
392 K. L. V. Woltmann. [830
einen großen Charakter. Keiner ordnete fich dem andern
unter, und wenn Schiller wohl fühlte, daß die bildende
Kraft in feinem Freunde unendlich größer, wie in ihm
fei, wenn er im eigentlichften Sinne glaubte an die däf
monifche Gewalt desfelben: fo trat Goethe mit Ehrfurcht
in das Gebiet der hohen Ideen, worin Schiller feine Hei^^
mat hatte. Mir fchien freilich nicht, daß er eben den
Dichter in dem Freunde bewunderte, und am wenigften
den dramatifchen. Ich merkte felbfi, als ich einft fallen
ließ, ob deffen Wallenftein denn etwas wirkliches Lebens
diges, feine Darfiellung ein Werk des dramatifchen Ge?
nius fei? daß über Goethes Geficht ein Erröten der Über^
rafchung ging, ein Ausdruck, der gutmütig fragte, warum
man ihm feine geheimfie Überzeugung entlocken wolle?
Und fo bin ich überzeugt, daß er nicht einmal feinen
Freund nur habe ahnen laffen, wie er über den Dichter
Schiller denke. Überhaupt ifi der zarten Schonung, der
Gutmütigkeit in Goethe weit mehr, als die Menfchen
glauben, und ich meine, daß in feinem Charakter viel
weniger Härte fei, als in Schillers. Doch es ift freilich
leichter, keine Härte an fich hervortreten zu laffen, wenn
man in Lebensfülle, reicher Wohlbehaglichkeit und rüftiger
Gefundheit blüht, was doch im ganzen von Goethe gilt,
als wenn ein ftarker Geift feinem Körper, in welchem
das Leben untergraben ifi, die lebendigfte Anfirengung
abtrotzen muß.
Sechftes Buch
Von Schillers Tode bis zum
Erfurter Kongreß
1805 Mai bis Oktober 1808
1805.
[831.] Mai (13). Riemer.
Mit Goethe ficht es gut. Er arbeitet alle Morgen
(unter uns!) an feiner Optik und ich bin ihm treu dabei
behilflich. Die Krankheit fcheint fich einen ordentlichen
Ausweg verfchafft zu haben, der, wenigfiens nach des
jungen Starks Verficherung, unfchädlich, ja unfchuldig
ift. Meyer, Fernow und ich find abwechfelnd feine Unter;;
haltung in den Stunden der Abfpannung und Erholung,
[832.] Mai Mitte. A. Genaft.
Am Tage nach Schillers Tod war die Bühne gefchloffen ge?
wefen und dies in der darüber erlaffenen, wohl von Kirms ver?
faßten Bekanntmachung durch die traurige Stimmung der Schau*
fpieler begründet worden.
Einige Zeit darauf führten mich dringende Gefchäfte
zu Goethe; mit Zittern und Zagen trat ich den Weg an.
Er empfing mich mit ernfter Miene, äußerte aber kein
Wort über Schillers Dahinfcheiden. Als ich feine Be^
fehle eingeholt hatte, wollte ich mich entfernen, da rief
er: Noch einsl Sagt dem, der die fonderbare Annonce
über den Tod meines Freundes verfaßt hat, er hätte es
follen bleiben laffen. Wenn ein Schiller ftirbt, bedarf
es dem Publikum gegenüber wegen einer ausgefallenen
Theatervorfiellung keiner Entfchuldigung.
[833.] Mai 18. H. Voß.
Nach Schillers Tode habe ich mit Goethe einen Auf?
tritt erlebt, den ich nie vergeffen werde. Er hatte einen
kleinen Rückfall von feinem Übel gehabt und ging zum
erftenmal im Park fpazieren, wo ich ihm begegnete. An
dem Tage hatte er durch Riemer erfahren, daß mein Vater
nach Heidelberg gehn würde. Seine Krankheitsfchwäche,
Schillers Tod und der Verlufi meines Vaters — alles lag
I
396 H. Voß. [854
fchwer auf feinem Gemüt; er fing mit einer Heftigkeit an
zu reden, bei der ich vor Entfetzen erftarrte: Schillers
Verlufi, fagte er unter anderm, und dies mit einer Donner;^
ftimme, mußte ich ertragen; denn das Schickfal hat ihn
mir gebracht; aber die Verfetzung nach Heidelberg, das
fällt dem Schickfal nicht zur Laft, das haben Menfchen
vollbracht. Ich vermochte ihm nicht zu antworten, aber
nie habe ich einen größern Jammer gefühlt, als in diefem
Augenblick. Wir gingen wohl fünf Minuten fiumm neben^
einander. Endlich ergriff er meine Hand mit einer leiden?
fchaftlichen Heftigkeit und drückte und fchüttelte fie, wie
er es nie getan.
[834.] Mai 18. H. Voß.
Abends befuchte ich die Vulpius; die fagte mir, er
fei noch auf feinem Zimmer eine Zeitlang bewegt ge?
wefen. Unter anderm hatte er gefagt: Voß wird feinem
Vater nach Heidelberg folgen und auch Riemern wird
man über kurz oder lang wegziehn, und dann fteh' ich
ganz allein.
[835.] Juni 27. K. L. v. Knebel.
Goethe war geftern hier in Jena nebft dem Geheimrat
Jacobi, der nach München, als Präfident der dortigen
Akademie der Wiffenfchaften geht. Wir waren den größten
Teil des Abends bei Voß zufammen, und der Abend hat
mir einen Teil meiner bisherigen Freudenlofigkeit abgeftreift,
da unter zufammengeftimmten Menfchen wirklich eine
Art neuen Lebens entfteht. Goethe fcheint mir den Reft:
feiner Tage bloß dem Gebrauch und zur Vollendung
feiner Geiftesarbeiten verwenden zu wollen, welches denn
fehr rühmlich ift.
[836.] Juni Ende. K. A. Varnhagen v. Enfe.
Als Friedrich Heinrich Jacobi im Jahre 1805 nach
München reifte, kam er auch durch Weimar und fprach
bei Goethen ein, der ihn mit alter Freundfchaft empfing
und fich traulich mit ihm hinfetzte. Manches alte Thema
wurde hervorgerufen und befprochen, wobei fchon einige?
mal Goethe über den Standpunkt und die Meinungen
Jacobi's fehr den Kopf fchütteln mußte. Als fie aber
allein geblieben waren, kam Jacobi mit der vertraulichen
Anfrage: Goethe möchte ihm doch nun einmal unter vier
838] Weimar - Lauchltädt. 1805. 397
Augen offen und wahr bekennen, was er mit feiner
Eugenie eigentlich gewollt habe. Goethen war es, wie
er nachher felbft geftand, als wenn man ihm einen Eimer
kalt Waffer übergöffe; er fah plötzlich eine nie zu füllende
Kluft zwifchen fich und jenem, einen Abgrund ewigen
Mißverftehens, und dabei war das Begehren fo dumm
und albern. Doch faßte er fich, und um nur den Freund
und den Abend leidlich abzutun, fagte er begütigend:
Lieber Jacobi, laffen wir das! Das würde uns für heute
zu weit führen. Ein andermal, wenn es fich fo fügen
will. Und fing fogleich ein anderes Gefpräch an.
[837.] Juni Ende. H. Voß an B. R. Abeken und K. W. F. Solger.
Ich habe in diefen vierzehn Tagen ein Gefchäft eig?
ner Art, das mich ganz befchäftigt und dem ich felbfi:
nur die Augenblicke abftehle, wo ich an Euch fchreibe.
Goethe hat mir die Umarbeitung von Hermann und Doro^^
thea aufgetragen, und ich darf ändern, wo und wie viel
ich will. Dazu hat er mir fein Manufkript gegeben, wo
die einzelnen Verfe fo weit von einander abfiehen, daß
ich viel dazwifchen fchreiben kann. Ich war anfangs
fchüchtern_dah£L_doch nun habe ich, da er es nicht anders
haben will, auch toll hineinkorrigiert. Nicht bloß be:;
gangene Sünden, fagte er, fondern auch die Unterlaffungs^
fänden fuchen Sie zu tilgen. Nun lege ich jeden Hexa;^
meter auf die Goldwage und fehe zu, das Gedicht auch
in diefer Hinficht vollkommen zu machen, ohne daß die
naive Sprache und die vollendete Diktion dabei einbüßt,
Goethe ift jetzt in Lauchfi:ädt; ich geb' ihm alle Wochen
Rechenfchaft, wie weit ich gekommen bin, und wenn er
zurückkommt, da wollen wir das Gedicht noch einmal ge?
meinfchaftlich durchgehn. ^ Goethe ifi: mit dem Anfang
meiner Arbeit, den er nur gefehn hat, zufrieden und fagte :
fie wäre befonnen und mit Eindringung in feinen Sinn ge^j
arbeitet, und dies Zeugnis macht mir Mut, unverdroffen
fortzufahren.
[838.] Juli. E. W. Weber.
So kam auch Johann Friedrich Lortzing aus der König^^
ftadt in Berlin, wo fein Vater Kaufmann war, im Juni 1805
nach Lauchftädt und wurde dafelbft von Goethe in dem
Saale des alten Schloffes geprüft. In diefer Prüfung ließ
der Meifter den jungen Künftler einige Proben feiner Kunft
I
398 H. Voß. [839
ablegen, um feine Befähigung zum Schaufpieler in ver*
fchiedenen Richtungen kennen zu lernen, und hörte ihn
aufmerkfam an, bald in feine Nähe, bald in die Ferne des
Saales tretend: Nun gut, fprach Goethe, ich fehe fchon,
Sie find gut geübt, und was mir lieb ifi, das Wort mit
feinem Ton und Akzent ift Ihnen wichtig, und wer das
Wort zu feinem Rechte bringt, macht wefentlich die Dich?
tung geltend. Sie follen an unferm Theater eine Rolle
finden. Lieb ifi es mir auch, daß Sie fich, wie ich höre,
anfänglich der Malerkunfi widmeten und deshalb die Zei?
chen? und Bauakademie Ihrer Vaterfiadt befuchten. Denn
da haben Sie Ihr Auge frühzeitig daran gewöhnt, die
Merkmale der Gegenfiände aufzufaffen und zu unter?
fcheiden und manches Schöne in der Natur und Kunfi
wird Ihnen aufgefchloffen fein.
Weil Lortzing durch äußere Vorzüge, Jugend, Geftalt,
durch eine freundliche Erfcheinung, durch ein wohlklingen?
des, etwas weiches Organ, fowie durch ein höfliches Be?
nehmen und gefellige Tournure als Darfieller unterftützt
wurde, befiimmte ihn Goethe für die Liebhaber rollen.
[839.] JuH. H. Steffens.
Goethe war von Weimar nach Halle herübergekommen,
und zwar um Gall zu hören. Er war auch in Halle oft mein
Zuhörer gewefen, aber unfichtbar. '^ In der an das Audi=
tovium angrenzenden Stube, dicht an diefer verfchloffenen
Tür, faß nun Goethe, ohne daß ich es wußte. '^ Goethe
faß nun unter den Zuhörern Galls auf eine höchfi im?
ponierende Weife. Selbfi die fiille Aufmerkfamkeit hatte
etwas Gebietendes, und die Ruhe in den unveränderten
Gefichtszügen konnte dennoch das fteigende Intereffe an
der Entwickelung des Vortrages nicht verbergen. Rechts
neben ihm faß Wolf und links Reichardt. Gall ^ fprach
zuerfi von folchen Schädeln, die keine, in einer Richtung
ausgezeichnete Erhebung darfiellen, wohl aber ein fchönes,
bedeutendes Ebenmaß aller; und ein lehrreiches Exem?
plar eines folchen Gebildes erkannte man, wenn man den
Kopf des großen Dichters betrachtete, der feine Vorträge
mit feiner Gegenwart beehrte. Das ganze Auditorium fah
Goethe an. Er blieb ruhig, ein kaum bemerkbares vorüber?
gehendes Mißvergnügen verlor fich in einem unterdrückten
ironifchen Lächeln, aber die fiille, unbewegliche imponie?
rende Ruhe feiner Gefichtszüge ward dadurch nicht gefiört.
841] Halle. 1805. 599
[840.] (Juli.) H. Laube. Nach Mitteilung eines Ungenannten.
Goethe: Von Galls Vortrag ift man im ganzen wohl zu^
frieden. Ift er gleich nicht immer ftreng logifch geordnet,
und laufen gleich zuweilen entbehrliche excursus mit unter,
fo ift er doch immer nicht nur unterhaltend, fondern auch
belehrend. Ich habe den Schlüffel zu manchen von mir
gemachten Beobachtungen gefunden. Auch ift mir Galls
Organenlehre, ob wir gleich noch nicht an das Detail ge^
kommen find, doch fchon ziemlich klar und fcheint mir
fehr annehmlich. Das den Schädel ein wenig empor;;
treibende kleine Partikelchen Hirn tut's freilich nicht, fon?
dern der gefamte Teil des Nervenfyftems, der in jenem
Partikelchen endet. Ich ftelle mir es fo vor: wenn wir
einen Schädel in den Händen haben und auf ein an dem?
felben befindliches fogenanntes Organ hinabfehen, fo
blicken wir aus der Höhe auf einen belaubten Wipfel
eines Baumes, deffen Äfte wir aus unferem Standpunkt
nicht bemerken und noch weniger (den hier in Rücken?:
mark eingehüllten) Stamm fehen können. Aber wenn ich
aus meinem Fenfter meiner oberften Etage auf einen tief
darunter ftehenden Baum hinabfehe, fo unterfcheide ich
gewiß fehr richtig an der Belaubung des Wipfels, ob der
Baum in gefundem fiarkem Trieb ftehe, oder ob er am
Stamm den Brand habe, an der Wurzel von Waffer?
mäufen angenagt fei u. dgl. Selbft die einzelnen kränkeln?
den oder gefunden Äfte erkenne ich fo von oben herab
fehr ficher an der Befchaffenheit ihrer Belaubung. Nicht
als wenn die Kraft des Baumes von dem üppigen Laube
abhinge, fondern ich dort oben, der ich nicht hinabfteigen
und Stamm und Wurzel unterfuchen kann, erkenne nur
die kräftige und kränkelnde Vegetation am Laube des
Wipfels.
1841.] Juli (21). E. Schleiermacher.
Gleich nach meiner Rückkunft nach Halle fah ich
Goethe noch eine Stunde bei Wolf, den Tag darauf ging
er nach Läuchftädt. Vorgeftern, 13. Augufl, war ich auf
einem großen Diner mit ihm bei Wolf. ^ Er war gleich
das erfte Mal fehr freundlich mit mir, aber freilich ins
rechte Sprechen bin ich noch nicht mit ihm gekommen;
denn damals war Gall an der Tagesordnung, und neu?
lieh waren gar zu viel Menfchen da.
I
400 E. Schleiermacher. [842
[842.] Juli (21). E. Schleiermacher.
Als bei dem erflen Befuch Mine Wolf herüberging,
ihm zu fagen, ich wäre da, lag er auf dem Bette und las
und fagte: Ei, das ifi ja ein edler Freund, da muß ich
ja gleich kommen. Und fo kam er denn auch bald und
nahm mich wie einen alten Bekannten und ich auch fo ;
denn man kann das fehr bald. Worüber ich am liobn
fien mit ihm fpräche, darauf bin ich noch nicht gekom?
men; er war eben damals von Gall und Schiller voll.
[843.] Juli/Auguft. A. Carus an K. A. Böttiger.
Gern hätte ich Ihnen erzählt, wie Jacobis wieder;;
holte Unterhaltungen in Leipzig mir in Lauchfiädt Goethes
Bekanntfchaft zuführten, von dem ich ein ganz anderes
Bild mir gemacht hatte, und mit dem ich dort in fo lange
und mir fo intereffante Verhandlungen über Äfthetik und
Philofophie verflochten wurde, daß wir nicht zu Ende
kamen und er mir fogar bei feiner erften Reife nach Leip;?
zig einen Befuch ankündigte.
[844.] Augufi Anfang. Riemer.
Goethe ift wohl und feine Gefundheit fcheint als
wolle fie von nun an befiändiger bleiben. Die Dufch^s
bäder bekommen ihm fehr wohl. Er hält auf Diät und
ißt des Abends nichts, außer Tee und vielleicht fpäter:*
hin eine Suppe. Aber lange wird es wohl nicht dauern:
denn der Hausgeift wird ihm fo lange zureden, daß der
Tee ihn fchwäche und er etwas Ordentliches genießen
muffe ufw., wie wir es fchon erlebt haben.
[845.] Auguft (10). B. R. Abeken.
Die Schaufpielerin Wolf erzählte ~ einmal ^, als
fie den Epilog zu Schillers Glocke bei Goethe einübte^
daß er bei einem befonders treffenden Worte fie faßte,
mit den Worten: Ich kann, ich kann den Menfchen
nicht vergeffenl fie unterbrach und eine Paufe, um fich
zu erholen, verlangte.
[846.] Auguft Mitte. F. Weitze.
Henke, Goethe und Wolf hatten fich vereinigt, um
dem Herrn von Hagen in Nienburg einen Befuch zu
machen. ^^
846] Nienburg. 1805. 401
Als der Wagen vorfuhr, ging der Herr von Hagen
den dreien entgegen und rief ihnen zu: Willkommen,
willkommen, Ihr Erften bei einem der erfien Eurer Ver^s
ehrer I Seine Augen funkelten dabei vor Freude und Be*
wegung. Goethe fchien anfangs etwas zurückhaltend und
gemeffen, aber er taute immer mehr auf, als er fah, wel:^
chen regen Geift und welch redliches Gemüt er vor fich
hatte. Er wurde auf eine Art gefprächig, wie ich es noch
von keinem gehört, fo inhaltsreich und doch fo einfach
und fo darftellend war feine Mitteilung. Er fprach unter
anderm über Gebirgsfchönheiten und Ausfichten und was
fie bedinge; über Farben, Licht und Schatten und über
Landfchaftsmaler, und ich brauche gewiß nicht erft zu
verfichern, daß alle mit gefpannter Aufmerkfamkeit ihm
zuhörten. Einige frappante Witze, welche der Wirt da^:
zwifchen fchleuderte, brachten ihn zum lauten Lachen.
Herr von Hagen wagte fogar mit Goethe zu dispu:;
tieren. Er behauptete als Kantianer, daß eine Perfon,
welche die Erfüllung des kategorifchen Imperativs in fich
darftelle, zugleich als fittlich vollendetfter Charakter, der
höchfte Gegenfiand fchöner Darftellung fei, weil die wahre
Größe ftets zugleich eine fittliche fein muffe. Dem wider^^
fprach Goethe. Die vollendete fittliche Größe, fagte er,
ift in keinem Individuo der Menfchheit vorhanden, wird
alfo nur gedacht und nirgend angefchaut. Eben deshalb
liegt ihre Schilderung über das Intereffe hinaus, in wel;:
chem fich die Schönheit kund gibt und welches nie die
Sinnlichkeit unberührt läßt. Eine folche Darfi:ellung, wie
Sie fich denken, enthält lauter Licht ohne Schatten und
läßt kalt. Es gibt eine dämonifche, ja diabolifche Größe.
Es ift unrecht, fich immer die Größe als etwas an fich
Exiftierendes zu denken und nicht vielmehr als Begreis:
fung des Eindrucks, der auf uns gemacht wird, der aber
bei derfelben Perfon oder Sache nicht immer notwendig
immer wieder, fondern nur unter befiimmten Umftänden
und gegebenen Bedingungen derfelbe ift, weshalb fie fo^^
gar in fchillernden, fchnell wechfelnden, ineinander fließen:^
den Farben und Tönen fich darftellen können. Der kans:
tifche Imperativ fetzt die Menfchen autonomifch und auto:«
kratifch voraus, in welchen die Leidenfchaften kaum ents:
ftehen, viel weniger fiegen können. Nun aber fehen wir
die Menfchen oft in der Gewalt unfichtbarer Mächte, denen
fie nicht widerftehen können, die ihnen ihre Richtung
I 26
402 F. Weitze. [846
geben; und oft fcheinen ihre Neigungen und Handlungen
in einem über alles Gefetz hinausliegenden Gebiete will?
kürlich zu walten. Alles, auch das fittlich Abnormfte,
bietet eine Seite dar, von wo es als groß erfcheinen kann.
Auch auf objektive und fubjektive Darfiellung kam die
Rede. Wolf behauptete, bei den Griechen habe fowohl
bei den Dichtern als bei den Rednern der heften Zeit
die objektive Darftellung vorgeherrfcht , weil die Objekt
tivität zur Subjektivität nicht des Individuums bloß, fon?
dern der Nation geworden fei; als die Nation diefe Rieh?
tung verloren, fei immer mehr das Individuellfubjektive
hervorgetreten. '^ In Beziehung auf poetifche Behandlung
philofophifch ? religiöfer Gegenftände, welche Goethe
einen widerfirebenden Stoff nannte, kam die Rede auf
Tiedge, den der Wirt kannte und an welchem er Wohl?
laut und Mufik der Sprache lobte. Ein nicht gedrucktes,
wirklich fchönes Gedicht, welches er einft von dem Dich?
ter erhalten hatte, trug er mit bewundernswertem Wohl?
klänge und richtigfter Betonung vor. Das nahm Goethe
mit großer Freude auf, bemerkte aber einige Stellen, wo
der alte Herr doch gefehlt hatte. Herr von Hagen fagte:
Die Urania gefällt mir nicht: als Philofophen ftört mich
die Poefie und bei der Poefie fperrt fich der Stoff, der
fich mir immer in philofophifcher Reinheit entgegendrängt.
Stoff und Gewand gehören hier nicht zufammen; es ift
mir dabei fo, als wollte ich dort dem Apoll oder dort
der Venus (er wies auf zwei im Saale befindliche Karton?
ftatuen) ein Kleid von Drapd'or anziehen. Goethe gab
diefem Einfalle feinen Beifall.
Am Abende, als die Gefellfchaft fich in Gruppen
verteilte, würdigte mich Goethe einer kurzen Unterhai?
tung. Er hatte zufällig gehört, daß ich jetzt hier Reli?
gionsunterricht gebe; da erzählte er mir, daß fein Sohn
^ von Herdern konfirmiert und vorher unterrichtet wor?
den fei. Ich habe bei diefer Gelegenheit, fagte er, felbft
zugehört und auf den Lehrgang geachtet. Licht und Finfter?
nis, Gutes und Böfes im Menfchen, im Zwiefpalte und
in Mifchung, war die Grundlage. Dann folgte die Lehre
von des Menfchen Freiheit und Sittlichkeit als Befiimmung
und feine Hilfsbedürftigkeit. Daraus ward die Notwendig?
keit der Erlöfung und Befeligung dargetan und diefe als
in Jefu erfchienen nachgewiefen. Was mir dabei fehr ge?
fiel, war, daß alles dem Konfirmanden fo hingehalten und
846] Nienburg. 1805. 403
überall fo klar dargeftellt wurde, daß er immer felbfi das
Rechte erkennen und bei fleh felbfi fefiftellen konnte. Es
war eine Vollfiändigkeit , welche keinen Fehlgriff oder
Zweifel aufkommen ließ; überall fiand die Frage vor
ihm: ob er dem Lichte oder der Finfiernis angehören
wollte, f^
Am fpätern Abend fetzte fich die Gefellfchaft noch?
mals zu Tifche — mehr der Unterhaltung, als des Effens
wegen. Der Wirt gab eine für die feltenfien Gäfte gt^
fparte Flafche zum befien; er bemerkte, daß diefe Flafche
ein Jahr älter fei, als Goethe und er felbfi: beide waren
1749 geboren. Henke, der gerade etwas an Halsfchmerzen
litt, hatte wenig Wein getrunken und wollte zu Abend
durchaus keinen mehr trinken, fondern hatte fich ein Glas
Bier erbeten. Da wollte ihn der heitere Wirt auf feine
Weife bewegen, feine Rarität auch zu kofien; es entfiand
ein Spaß daraus, der viel Heiterkeit erzeugte. Der Herr
von Hagen ernannte nämlich Goethen zum Gefetzgeber
und Kampfrichter gegen Henke: Es hilft nichts, Hoch^s
würden: Sie muffen fich heute der Exzellenz unterwerfen.
Da diktierte Goethe, jeder folle, wie er es am befien könne,
Henke einladen und treiben, den Wein zu kofien. Der
alte Herr hier, fagte er zu Hagen, von dem ich höre,
daß er ein fefier Kantianer fei, muß es in Form eines
Syllogismus tun, dem Henke nichts anhaben kann; Wolf
muß ihn in einer griechifchen Rede im anakreontifchen
Ton auffordern. Hierauf fah er mich an; ich verneigte
mich mit den Worten: Ich komme bei dem Sympofion
folcher Männer nicht in Betracht. Aber das ließ der
Wirt nicht gelten, fondern fprach: Ei was! der Herr macht
Verfe; geb* er fein Scherflein auch. — Nun gutl fagte
Goethe, fo fchmieden Sie fchnell ein Difiichon. Henke
aber mag fich verteidigen, aber nur in lateinifcher Rede,
die ihm ja fo fehr zu Gebote fieht. — Nein, fagte Henke,
da fitzt der Mann (auf Wolf zeigend), der eine fünfte
Fakultät, die philologifche , geftiftet hat; der läßt mir
nicht ein Wort paffieren. Es wäre Verwegenheit, mit
theologifchem Latein vor ihm zu erfcheinen. — Wenn
das erfie Glas getrunken und das zweite eingefchenkt ifi,
fagte Goethe, muß jeder fertig fein, und wenn Henke
überwunden wird, trinken wir mit ihm auf feine Ge::
fundheit.
I 26*
404 B. R. Abeken. [847
[847.] (September). B. R. Abeken.
Die Schaufpielerin Wolff erzählte mir einmal (1809),
fie habe, da fie die Eugenie habe fpielen follen, bei
Goethe in feinem Zimmer allein Lefeprobe gehabt. Als
fie an das Ende des vorletzten Monologs gekommen:
Und wenn ich dann vom Unbill diefer Welt
Nichts mehr zu fürchten habe, fpült zuletzt
Mein bleichendes Gebein dem Ufer zu,
Daß eine fromme Seele mir das Grab
Auf heim'fchem Boden wohlgefinnt bereite —
habe Goethen fein Gefühl bewältigt; mit Tränen im Auge
habe er fie innezuhalten gebeten.
[848.] Oktober 3. Prinz Ludwig Ferdinand von Preußen.
Ich habe nun Goethen wirklich kennen gelernt; er
ging gefi:ern noch fpät mit mir nach Haufe, und faß dann
vor meinem Bette; wir tranken eine Flafche Champagner,
und er fprach ganz vortrefflich] herrlich deboutonnierte
fich feine Seele; er ließ feinem Geifte freien Lauf; er fagte
viel, ich lernte viel, und fand ihn ganz natürlich und
liebenswürdig.
[849.] November 7. H. Voß.
Goethe fagte mir vorgefi:ern, ich hätte mich feit der
Othelloüberfetzung recht herausgemeiftert, und es mache
ihm Freude, daß ich mich durch diefe Überfetzung als
einen würdigen Shakefpearelefer legitimiert hätte. Er ließ
auch eine Flafche Wein holen, die wir der Überfetzung
zu Ehren auszechten.
[850.] Herbft. F. G. Welcker.
An Goethe hatte ich einen Brief des Profeffors Schaum
mann in Gießen, der mehrere Rezenfionen Goethifcher
Werke für diejenaifche Litteraturzeitung gefchrieben hatte.
Er empfing mich fliehend in der Mitte des Zimmers, ein
kräftiger rüftiger Mann, auch dem Anzüge nach mann^
haft, etwa wie ein Forfimann, und fetzte fich mit mir an
ein Fenfier. Er fragte mich nach den wiffenfchaftlichen
Zufi:änden meiner, ihm ehemals wohlbekannten Heimat
Heffen; das Gefpräch fiel auch auf Wetzlar, und da ich
naiv genug war, auchWertherfche Lokalitäten zu berühren.
852] Weimar. 1805. 405
fagte er: Ja, das war ein Stoff, bei dem man fleh zu^
fammenhalten oder zugrunde gehen mußte. ^
Voß, der täghche Befucher der beiden großen Dich::
ter, erzähhe mir von Goethe, wie angenehm es ihm fei,
wenn er mit ihm Sophokles lefe; wie er die Wörter, die
er zuerft lerne, aufzufaffen und nach allen Beziehungen
zu würdigen verftehe; daß fleh Goethe aus fpanifchen
Büchern, die er von Göttingen erhalte, viele Wörter auf*,
zeichne. Aber auch mit Rührung, wie weife und ge?
fchickt Goethe ihn, als er über eine böswillige Kritik
aufgebracht war, befänftigt und auf alle Erwiderung zu
verzichten bewogen habe, und fo immer wohlmeinend
und edel in feinem Rate fei.
[851.] Dezember. Charlotte v. Stein an ihren Sohn Fritz.
Indes alles nur Krieg und Politik fpricht, hören wir
alle Mittwoch bei Goethen eine gelehrte Vorlefung, die
meiften Male fagt er einen lichten Punkt worauf man
fich dann freut, daß er ihn ausführen wird, aber er be?
rührt ihn nicht wieder, es müßte denn fein, daß er fie
zuletzt wie Raketen zum Himmel fteigen ließ, und fie
nicht vielleicht verhüllt läßt, wie das Büft der Minerva
in feiner Stube mit ein abgelegten Schaul von Mlle. Vul::
pius verfchleiert ift.
[852.] Dezember 8. Achim v. Arnim an C. Brentano.
Meine Überkunft danke ich Goethe, der viel, fehr
viel Güte für mich hat. Er grüßt Dich, dankt für unfre
Sammlung, Des Knaben Wunderhovn, findet fie fehr an^
genehm, hat fie gegen viele in Weimar gelobt und wird
vielleicht felbfi einige Worte darüber in der Jenaer Literat
turzeitung fagen. Er hat mich auf alle Tage eingeladen
zum Mittageffen, faft über jedes Lied gefprochen, er läßt
Dir viel Schönes über des Schneiders Feierabend fagen.
Die Fifchpredigt, die Mißheirat, der Stauffenberg, das
von Procop: Maria auf der Reife y Zwei Nachtigallen,
der Lindenfchmied , der Neidhard mit feinen Mönchen
fchienen ihm am heften. Er fagte mir, die Prinzen und
Prinzeffin hätten es mit Luft gelefen. Es war. mir da^
bei, als wenn eine fchöne Königin mit ihren Fingern
durch meine Mähne ftriche und mir den Hals klatfchte.
Er wünfchte unfre Sammlung auch über die ausländifchen
I
406 Achim V. Arnim. [853
Romanzen, fowohl die heiligen der Edda, als noch die
andern altfranzöfifchen, englifchen, fchottifchen, fpanifchen
ausgedehnt.
[853.] Dezember 11. Henriette v. Knebel.
Goethe hat am vergangenen Mittwoch gar fchön über
die Elaftizität der Luft gefprochen und noch hübfcher
über die moralifche Elaftizität, wie große und ungewohnt
liehe Erfcheinungen und Begebenheiten auf den Menfchen
wirken — ganz nach feiner Art, fchön und frifch.
[854.] (Ende d. J.) J. D. Gries.
Vor vielen Jahren erfchien eine antikifierende Tras;
gödie: Polyidos von ^^ Apel in Leipzig. Man verfprach
fich viel davon, und ich ward aufgefordert, das Stück
bei Frommanns vorzulefen. Goethe felbft wollte zugegen
fein. Ich präparierte mich recht ordentlich und las fo
gut ich konnte. Nach beendigter Vorlefung trat f^ eine
peinliche Stille ein. Endlich erhob fich Goethe, kam auf
mich zu und fagte: ich bin Ihnen um fo mehr ver^
pflichtet, daß Sie diefe Mühewaltung übernommen haben,
da ich, wäre ich allein gewefen, das Stück fchwerlich zu
Ende gebracht hätte.
[855.] B. R. Abeken.
Goethe befuchte damals oft Voßens Haus in den
Abendfiunden, wo er, der um Erwerbung und Erweiterung
von Kenntniffen jeder Art fich bemühende, fich häufig
in ein Gefpräch mit Voß vertiefte. Dies machte die Haus^
frau verlegen, da ihr Mann gern zur gewohnten Stunde
zu Abend aß. Einmal konnte fie nicht umhin, Goethen
zu bitten, er möge mit ihnen vorlieb nehmen, die ein^:
fache Kofi: entfchuldigend. Laffen Sie das gut fein, er?
widerte er, ich komme zu Voß nicht des Effens wegen;
wenn ich einmal nach etwas Gutem lüftern bin, dann habe
ich meine aparten Freunde.
[856.] Riemer.
Goethe: Die Verleger haben die Autoren und fich
felbft für vogelfrei erklärt; wie wollen fie untereinander,
wer will mit ihnen rechten?
860] Weimar. 1806. 407
1806.
[857.] Januar 11. Riemer.
G. : An der Newtonifchen Lehre ifi fchon fo viel ver^
ändert und hinzugeflickt worden; und doch meinen die
Herren, fie hätten noch die alte. Sie ift ein wahrer Bettlers*:
mantel, der fchon aus den FHcken der vierten, fünften
Generation befteht, den die Prorektoren umtun, und immer
wieder Doktoren diefer Bettlerfakultät kreiren.
[858.] Januar. Charlotte v. Stein.
Goethes Vorlefungen gehen alle Mittwoch ihren Weg.
Ein Viertelftündchen wird der Politik gewidmet, oder
vielmehr den jetzigen Begebenheiten, doch hat er dies
nicht gern. Vor acht Tagen war eben feine Schwägerin
(nämhch die jüngere Schwefter feiner Demoifelle)geftorben,
und zwar, wie wir eben da waren, aber alle Todesfälle
in und außer feinem Haufe läßt er fich verheimUchen,
bis er fo doch dahinter kommt. Doch foll er fie beweint
haben. Der arme Goethe! der lauter edle Umgebungen
hätte haben follenl doch hat auch er zwei Naturen. —
Er lieft uns jetzt über die Farben, fagt, daß fie in unfern
Augen liegen, drum verlange das Auge die Harmonien
der Farben, wie das Ohr der Töne.
[859.] Januar 16. Riemer.
Goethe : Der Menfch, wenn er wider Willen von einer
Maxime, Art zu fein oder zu handeln, laffen foll und zur
entgegengefetzten, bisher von ihm gehaßten übergehen,
muß erft von diefer einigen fichtlichen Vorteil, der den
Schaden durch den Verluft jener überwiegt, erhalten haben,
ehe er ihr ganz von Herzen beitritt und mit ihr Eins wird.
[860.] Januar 16. Henriette v. Knebel.
Goethes und Wielands -^ Kampfgefpräch kam über
Tifchbeins Zeichnungen her, die er kürzlich an die Her::
zoginmutter gefchickt. Unter dem Lobe, das ihnen Goethe
erteilte, fprach er viel von Talent und Übung in der
Kunft, welche durchaus zu ehren und zu preifen wäre,
foUte es auch nur an dem Manne fein, welcher einft vor
Alexander dem Großen die Hirfenkörner durch ein Nadeln:
Öhr geworfen hätte. Es war artig, wie Wieland noch
I
408 Henriette v. Knebel. [861
lange ruhig zuhörte und endlich gleich wieder bei den
Hirfenkörnern anfing, welche Kunft er fo dumm und
albern fand, daß er den Mann noch ganz befonders hätte
ftrafen laffen, daß er fo unendlich viel Zeit darauf ver::
wendet hätte. Alle Künfte der Technik, wodurch die
Engländer fich auszeichneten, behauptete Goethe, wären
durch diefe Geduld und Anhaltfamkeit entfianden, und
Alexander als Monarch hätte ganz unrecht gehabt, den
Mann fo verächtlich zu behandeln. Er hätte vielmehr
zu den Urnftehenden fagen follen: Seht! diefer Mann
hat es durch außerordentliche Geduld und Übung zu
folch einer Fertigkeit gebracht. Könntet ihr es nicht in
etwas Gefcheiterm auch fo weit bringen?
[861.] Januar 24. Henriette v. Knebel an ihren Bruder.
Noch lieber möchte ich Dir von Goethes letztem
Vortrag vom vorigen Mittwoch Bericht abftatten können,
der mir ganz außerordentlich wohlgefiel. Es war das
angenehmfie Gefühl, fich mit ihm gleichfam auf eine
höhere Stufe geftellt zu fehen, und wirklich, die fchönfi:e
menfchliche Natur belebte fich aufs neue in ihm. Er
fprach von dem Bezug, den der Menfch zu fich felbft
und zu den Dingen außer ihm hat, fo reich, reif und
mild, daß ich wirklich noch nie fo habe fprechen hören.
Ich wünfchte, er hätte die Rede aufgefchrieben; mich dünkt,
fie allein müßte ihm den Ruhm eines feltnen Menfchen
machen. Ich felbft dünkte mich glücklicher und vor^
nehmer durch die unzähligen Fäden, durch die wir mit
Himmel und Erde zufammenhängen. Es ift eine wahre
Freude, wenn der Geift, wie die Natur alt, und doch
fo verjüngt fich darftellt — ein kräftiger, erfreulicher Früh:;
lingshauch.
[862.] Januar. H. Voß
Goethe ift nicht wie er fein follte. Seine Nieren
find wahrfcheinlich desorganifiert. Er hat täglichen Blut:^
abgang durch den Urin, oft aber ftockt diefer und dann
ift er fehr krank. Ich glaube, daß er alt werden kann,
aber gefund wird er nie wieder. Gott erhalte ihm nur
feine frohherzige Laune. Neulich fagte er: Wenn mir
doch der liebe Gott eine von den gefunden Ruffennieren
fchenken wollte, die zu Aufterlitz gefallen find!
865J Weimar. 1806. 409
[863.] März. Riemer.
Goethe: Lichtenbergs Wohlgefallen an Karikaturen
rührt von feiner unglücklichen körperlichen Konftitution
mit her, daß es ihn erfreut, etwas noch unter fich zu er^
blicken. — Wie er fich wohl in Rom gemacht haben würde
beim Anblick und Einwirkung der Kunft? Er war keine
konftruktive Natur wie Äfop und Sokrates; nur auf Ent^
deckung des Mangelhaften geftellt.
[864.] April. Riemer.
Goethe: Es gibt Tugenden, die man, wie die Gefund?
heit, nicht eher fchätzt, als bis man fie vermißt; von denen
nicht eher die Rede ift, als wo fie fehlen; die man fiill^
fchweigend vorausfetzt; die dem Inhaber nicht zu gute
kommen, weil fie in einem Leiden, in der Geduld be^:
ftehen. Sie fcheinen, wo fie find, nur aus einer Abwefens
heit von Kraft und Tätigkeit zu befi:ehen, und fie find
die höchfi:e Kraft, nur nach innen gewandt und zur Ab^
wehr äußeren Unglimpfs, nur als Gegendruck gebraucht.
Hammer zu fein fcheint jedem rühmlicher und wünfchenss^
werter, als Ambos, und doch was gehört nicht dazu,
diefe unendlichen, immer wiederkehrenden Schläge aus^^
zuhalten.
[865.] Mai 10. Riemer.
G. ; Es ifi: lächerlich, wenn die Philifter fich der
größern Verftändigkeit und Aufklärung ihres Zeitalters
rühmen und die frühern barbarifch nennen. Der Ver^;
fi:and ift fo alt, wie die Welt, auch das Kind hat Ver^
ftand: aber er wird nicht in jedem Zeitalter auf gleiche
Weife und auf einerlei Gegenftände angewendet. Unfer
Zeitalter wendet feinen ganzen Verftand auf Moral und
Selbftbetrachtung; daher er in der Kunft und wo er fonft
noch tätig fein und mitwirken muß, faft gänzlich mangelt.
Die Phantafie wirkte in frühern Jahrhunderten ausfchließend
und vor, und die übrigen Seelenkräfte dienten ihr; jetzt
ift es umgekehrt, fie dient den andern und erlahmt in
diefem Dienft.
Die frühern Jahrhunderte hatten ihre Ideen in An:;
fchauungen der Phantafie; unferes bringt fie in Begriffe.
Die großen Anfichten des Lebens waren damals
in Geftalten, in Götter gebracht; heutzutage bringt
man fie in Begriffe. Dort war die Produktionskraft größer,
heute die Zerftörungskraft, oder die Scheidekunft.
I
410 Sophie V. Schardt. [866
[866.] 1805 Dezember Anfang/ 1806 Juni 11. Sophie v. Schardt.
Unter den uns vorliegenden Aufzeichnungen Sophiens
nach Goethes Vorträgen befindet fich außer den auf die Farbe
bezüglichen eine befonders ausführliche über den Magnet,
fein Wefen, feine Beziehungen erftens auf fich, zweitens
zum Erdmagneten und die Minerale, welche magnetifche
Kraft befitzen. Wir heben daraus die Bemerkung aus : Ver^
fchiedene Arten der Darftellung eines Begriffs; viererlei
Sprachen gibt es dafür. Die erfte möchte man die goldene
nennen, wodurch das Phänomen, die Begebenheit, felbft er:;
fcheint. Die zweite nenne ich die poetifche, wobei eine
Nebenidee, die dem Hauptbegriff eine größere Klarheit mit=
teilt, hervorgerufen wird ; fo find die Erläuterungen durch
Beifpiele: ein guter Regent ift gleich einem fchattenden
Baume, unter dem die Vögel des Himmels niften. Die
mnemonifche, wo man an gewiffe Dinge willkürlich Er:s
innerungen knüpft, um fich diefelben dabei zu vergegen^^
wärtigen. Die mathematifche.
Auf einem befondern Blättchen hatte fie fich aufge^:
zeichnet: Was ift träger als die Starrheit des Steines?
Und fiehel die Natur verleiht ihm Sinne und Hände.
Was ift ftreitbarer, als die Härte des Eifens? Aber es
gibt nach und unterwirft fich der Sitte; denn es wird
vom Magnetftein gezogen. Und fo rennt ein allbeherr^s
fchendes Wefen — wer weiß wie? — einem leeren nach,
und indem es nahe kommt, tritt es heran und wird feft:;
gehalten in umklammernder Umarmung.
Aus einem andern Vortrage hatte fie folgendes aufge^
zeichnet: Zweierlei Vorftellungsarten : dynamifch, atomifch.
1. Das Wirkende, fich Äußernde, Handelnde, Be^^
wegende. Schaffende.
2. Das Erleidende, Duldende, Angeregte, Bewegte,
Gegenfatz des einen zum andern.
1. Ein Unfichtbares, ein Dafeiendes ohne vehiculum,
eine Kraftäußerung ohne ein Wie, das uns bekannt fein
könnte.
2. Atome, wirkliche, fichtbare, zu ergreifende.
1. Die phyfifche, die fich auf das Ganze bezieht.
2. Die chemifche, die fich mit dem Befondern, dem
Realen befchäftigt.
Aus verfchiedenen Vorftellungsarten entfteht ein neues
Refultat: jeder hat die feine; jeder neigt mehr zu der
einen oder zu der andern herüber. Lukrez, Epikur be^j
866] Weimar. 1806. 4n
kannten fich zu der Vorftellungsart, die wir die atomiftifche
oder chemifche nennen möchten; in den realen Stoffen
der Materie fuchten fie Entftehung und Ordnung durch
Hülfe des Zufalls. Andere fuchten es in einer unbekannten,
unfichtbaren, höhern Gewalt, in anregenden Kräften.
Stets fetzt das Wirkende ein Erleidendes, das Be*
wegte wieder ein Erregendes voraus. Nichts ift, nichts
ift geworden, alles ift ftets im Werden, in dem ewigen
Strom der Veränderung ift kein Stillftand. Der Menfch
ift mit jeder Minute ein anderer, doch fich felbft fonder^^
bar gleich beharrlich, in der Veränderung; dies ift ein
Vorzug des höhern Wefens. Die Pflanze z. B., deren
organifche Natur fo viel Ähnlichkeit mit der unfrigen hat,
wird ganz verändert und durchaus — ihre Identität geht
verloren.
Das Gefetz der Schwere, ein Anziehen und Abftoßen,
eine Ausdehnung und ein Infichzufammenziehen des elafti^^
fchen Wefens. Die Erde zieht die Luft, diefe zieht fich
in fich. Diefe gegenfeitige Wogung erhält das Gleich^:
gewicht. Ungeheure Gewalt der Luft, oder Streben, von
ihr alles zu erfüllen, nichts Leeres zu dulden, daher der
in eine verdünnte Luft tretende Körper von der in ihm
felbft enthaltenen fich entlaftet; im Verhältnis der Ver^^
dünnung der äußern ftrebt dann die in ihm haftende
hinauswärts, um diefen leeren Raum zu erfüllen. Diefes
Urfache der Atemlofigkeit, Nafenblutens auf hohen Bergen.
Nach demfelben Prinzip fehe ich Tropfen aus dem Erz
dringen, das unter der Luftpumpe liegt.
Auf einem weitern Blatte lefen wir:
Was ift das Sein? Es äußert fich durch Form und
Bewegung oder Handlung. Warum foU das Sein anders
als durch diefe Darftellung aller Exiftenz definiert werden.
Der Geift ift fo gut wie die Materie das fich geftaltende
und handelnde Sein in feiner Äußerung. Alle Haupte
formen des Erdbodens, die Berge, Steinmaffen ufw. ftreben
vom Mittelpunkte der Erde nach den Polen zu, kleinere
Maffen durchkreuzen feitwärts diefe Strömung, als ob fie
nach kleinern verfchiedenen Anziehungspunkten ftrebten.
Jede verfchiedene Subftanz modifiziert die, mit der
fie fich vermifcht. Diefe gegenfeitige Wirkung bringt
dann unendliche Abweichungen und Abwechslungen her?
vor. Beobachtungen hierüber im Steinreiche ufw. Keine
Subftanz exiftiert auf Erden rein für fich und unvermifcht.
I
412 Sophie V. Schardt. [867
Alles Herabfallende von einer angemeffenen Höhe (ductile)
bildet fich in der Kegelform. Beifpiele: wenn man Blei
gießt, Waffertropfen ufw.
Abgefondert hat Sophie noch folgendes aufgezeichnet :
Strömungen der Berge von Norden nach Süden, von
Ofien nach Weiten. Die Erde ift unter dem Meere fort?
gehend nach denfelben Regeln. Infein find Köpfe der
Berge. In den Richtungen von Norden nach Often [fol]
befindet fich das Eifen, von Weiten nach Oiten die Silber?
ädern. — Wir verbinden die erfte Empfindung von etwas,
z. B. die der Ehrfurcht, der Liebe ufw. mit dem Gegen?
ftande, der fie erweckte, darum find die erften Empfin?
düngen fo dauernd.
[867.] April 23./Juni 14. A. Oehlenfchläger.
Goethe ~ empfing mich väterlich; ich aß oft bei ihm,
und ich mußte ihm meinen ganzen Aladdin und Hakon
Jarl aus dem Stegreif deutfch vorlefen. Da machte ich
mich denn vieler Dänismen fchuldig; er yerwarf fie aber
nicht alle; er meinte, die beiden verwandten Sprachen,
aus Einer Wurzel entfprungen, könnten einander mitunter
mit guten Worten fchwefterliche Gefchenke machen. Hm!
Das ift hübfch, fagte er mitunter, wenn ich etwas vorlas.
Sagen Sie denn das fo deutfch? frug ich. Nein, wir
fagen es nicht, könnten es aber fagen. — Soll ich denn
ein andres Wort brauchen? — Nein, tun Sie das nicht.
— Einen Mann [Reichardt], der mich in Berlin gekannt
hatte und nach Weimar kam, fragte Goethe: Kennen Sie
etwas von Oehlenfchläger? — Nein! war die Antwort;
aufrichtig, ich mag die deutfche Sprache nicht radebrechen
hören. — Und ich, antwortete Goethe mit impofantem
Gefühle, mag die deutfche Sprache fehr gern in einem
poetifchen Gemüte entftehen fehen. '^
Das Nibelungenlied war eben herausgekommen, und
Goethe las uns einige Gefänge vor. Weil nun vieles in
der alten Sprache mit altdänifchen Worten verwandt ift,
fo konnte ich ihnen manches deuten, was die andern nicht
gleich verftanden. Sieh einmal! rief dann Goethe luftig,
da haben wir wieder den verfluchten Dänen! — Nein,
Däne! fagte er einmal in demfelben Ton: hier kommt
etwas, was Ihr doch nicht hättet fagen können:
Es war der große Siegfried, der aus dem Gräfe fprang.
Es ragete ihm vom Herzen eine Speerftange lang. —
868] Weimar. 1806. 413
Es ragete ihm vom Herzen eine Speerftange lang —
wiederholte er ftaunend, die Worte ftark betonend, in
feinem Frankfurter Dialekt: Das ifi kapital!
Einmal bei Tifche fprach er fo feurig und mit fo
vieler Achtung und Kraft für Bürgerrecht und Bürger;:
ehre gegen einen kalten Hofmann [Reichardt], der zur
Unzeit über das wackere Betragen eines Bürgers fpotten
wollte, daß ich es nicht laffen konnte, als der Fremde
weg war, ihm um den Hals zu fallen und ihn zu küffen.
Ja, ja, lieber Däne! fagte Goethe: Ihr meint's auch treu
und gut in der Welt. ^^
Als ich wegreifte, fchrieb ich eine dänifche Über::
fetzung des Erlkönigliedes ins Stammbuch des jungen
Goethe und zum Schluß die deutfchen Zeilen:
Erinnern Sie fich, wenn längft ich fchied,
Bei der Überfetzung des Vaters Lied,
Des Dichters vom Lande, wo Nacht und Wind,
LJnd Elf und Schauder zu Haufe find.
In Weimar weht es fchon mehr gelind;
Gott fegne den Vater mit feinem Kind.
Ja, jal fagte Goethe, als er es gelefen hatte, mir
freundlich ins Auge blickend und die Hand auf meine
Schulter legend: Ihr feid ein Poete. ~
Goethe hatte verfprochen, meinen Hakon Jarl, wenn
er von mir fchriftlich überfetzt wäre, auf die deutfchen
Bühnen zu bringen.
.] April 23./Juni 28. Riemer.
Wie Goethe fich die Infolenz des wandernden An^s
tiquarius Arendt hatte gefallen laffen, fo ertrug er auch
andere Unarten des freilich fchönen und liebenswürdigen
Oehlenfchläger, der fich überdies damals als angehender,
aber vielverfprechender Dichter empfahl. Beinah' ein hal?
bes Jahr hielt er fich in Weimar und Jena abwechfelnd
auf und war häufiger Tifchgenoffe Goethes und in allen
Weimarifchen und Jenaifchen Zirkeln gern gefehen. Jetzt
nur von feiner fonderbaren Angewöhnung zu reden, fo
hatte er — wohl kann man fagen — die Wut, unver::
fehens ein halb dutzendmal hintereinander mit allen fünf
Fingern fchlenkernd fo zu knacken, daß man darüber er^s
fchrak, irgend eine Verletzung fürchtend, ja fie beinah'
I
414 Riemer. [869
an fich zu empfinden glaubend. Goethe fagte eine Zeit;;
lang nichts dazu; als fich aber die Sache zu oft repetierte,
bat er ihn mit freundlicher Verwunderung über die felt^
fame Gymnafi:ik, in feinem treuherzigen und familiären
Tone: Tut mir das nicht zuleide! oder: Laßt mir das unter?
wegs, Ihr wißt, daß es mir fatal ifil und dergleichen. Die
Vermahnung hielt freilich nicht lange vor, und zwifchen?
durch entwifchte doch wieder ein halber Knick oder Knack,
der dann gutmütig überhört wurde.
Goethe wußte '^ uns andern diefes gefährlich klin?
gende Manoeuvre phyfiologifch und ofi:eologifch zu er?
klären, f^
[869.] A. Oehlenfchläger.
Goethe fagte »^ daß er lange keinen Menfchen ge::
troffen habe, den er fo hoch fchätze, als mich.
[870.] Juni 30. Riemer.
Als wir auf der Reife nach Franzenbrunn in Afch
übernachten mußten und dafelbfi: Die Huffiten vor Naum?
bürg von Kotzebue in einer Scheune gegeben wurden, wo?
von wir fpaßeshalber ' einen Akt mit anfahen, fagte Goe?
the: Er könne mit Recht hier anwenden: Und hätt' ich
Flügel der Morgenröte, und flog' an die äußerften Ende
der Erde, fo würde feine Hand mich doch treffen ufw.
— Übrigens fei Kotzebue ein vortrefflicher Mann; was
für eine Menge Menfchen er abfpeife, die wie hungrige
Raben auf ihn warteten.
[871.] (Juli.) E.M.Arndt.
Goethe war in Karlsbad, kam von einei^i Morgen?
fpaziergange zu Haufe und fagte : Man ftößt in der Welt
doch immer und allenthalben auf unfaubere Geifter, da
habe ich von fern einen Mann vorbeirutfchen gefehen,
der Kerl hat mich ordentlich erfchreckt; ich glaubte den
leibhaftigen Böttiger erblickt zu haben. O! erwiderte
der Freund Graf Geßler, Ihre Augen haben fich da nicht
verfehen, Sie haben wirklich den Leibhaftigen gefehen.
Bei diefen Worten rief Goethe aus, wie einer, der von
einem Schrecken wieder aufatmet: Gottlob] gottlob! daß
Gott nicht ein zweites folches A . . . geficht gefchaffen hat.
873]' Karlsbad - Jena. 1806. 415
[872.] Juli (28). Ulrike v. Levetzow.
Meine Mutter hatte Goethe als ganz junge Frau in
Karlsbad kennen gelernt oder wieder angetroffen; denn
lie erzählte oft, daß fie durch Goethe in große Verlegen?
heit gefetzt wurde, da er fie in Karlsbad bei einem Spazier?
gange gefragt habe, welche Gedichte ihr lieber, die feinen
oder die von Schiller; Mutter hatte erwidert: Ich ver?
ftehe wohl beide nicht immer, doch die von Schiller fühle
ich. Goethe nahm ihr die Antwort nicht übel, fondern
blieb fehr freundlich mit ihr und zog fie fehr viel ins
Gefpräch.
[873.] Auguft 10. H. Luden.
Heinrich Luden hatte nach feiner Berufung als Profeffor
nach Jena einen vorläufigen Beluch dort gemacht und dabei fo#
gleich durch Vermittelung des zufällig auch anwefenden Hufe?
land Einladung zu einer Abendgefellfchaft zu Knebels erhalten,
um Goethe da kennen zu lernen. Vorher machte er einen Spa*
ziergang, er verspätete fich und wurde von Frau von Knebel mit
der Bemerkung empfangen, daß Goethe darüber verftimmt fei.
Er erzählt dann weiter:
Frau von Knebel führte mich in das Zimmer: Hier
ift der Zauderer! fagte fie. In dem Zimmer befanden
fich außer den Herren von Knebel und Hufeland nur
Goethe und Riemer, der Goethe zu begleiten pflegte.
Alle ftanden fchweigfam da ; kein Geficht zeigte fich freund?
lieh. Hufeland fah gutmütig vor fich hin, Riemer gleich?
gültig, Knebel verlegen, Goethe verdrießlich. Knebel, gegen
Goethe gewendet, wies mit der Hand nach mir her: Herr
Profeffor Luden. Goethe machte eine kleine verftümmelte
Bewegung, in welcher kaum der Anfang zu einer Ver?
beugung zu erkennen war, ohne nur ein Wort zu fagen.
Das war die ganze Vorfi:ellung; und vielleicht war fie die
befte: denn nun brauchte ich auch nichts zu fagen und
hatte doch Zeit gehabt, mir den Heros anzufehen. Ich
wandte mich daher fogleich an den Herrn von Knebel:
Frau von Knebel hat mir foeben gefagt, daß auf mich ge?
wartet worden ift. Das tut mir unendlich leid, aber ich
glaube, Abfolution von meiner Sünde zu verdienen, auch
ohne Buße. Eine Stunde war mir nicht beftimmt, und
als Neuling bin ich natürlich unbekannt mit der Weife
der Götter in diefem Lande. Was ich diefen Morgen
aus diefen Fenftern gefehen hatte, das übte auf mich eine
I
416 H. Luden. [873
unwiderftehliche Anziehungskraft. Ich mußte die Herr^;
lichkeiten, den Fluß, die Berge, alles foweit als möglich
in der Nähe fehen. Alfo bin ich hinausgelaufen, habe
die Fluren durchfireift und mehre Berge beftiegen; und
in meiner Begeifterung habe ich nicht an die Zeit ge^;
dacht und ganz vergeffen, daß der Rückweg fo lang zu
fein pflegt, als der Anmarfch. So habe ich mich in aller
Unfchuld verfpätet. Während ich diefe Worte fprach,
ließ Goethe ein paar Male ein beifälhges Hm! hml ver?
nehmen und Knebel warf fein gewöhnliches Jo, jol Jo,
jol hinein. Endlich fagte Goethe: Die Entfchuldigung
des Herrn Profeffors ift ausreichend; wir wollen ihm vollst
kommene Abfolution erteilen, unter der Bedingung, daß
er künftig, da er nunmehr mit der Weife der Götter in
diefem Lande bekannt geworden ift, pünktlicher fei. Ich
fprach fogleich das Gelübde aus. So ift, rief Frau von
Knebel, mein Beiftand, den ich dem Herrn Profeffor zu^
gefagt, wohl gar nicht nötig? — Gar nicht, fchöne Frau!
antwortete Goethe; aber wir muffen die Zeit wieder ein^
bringen; darum geben Sie uns nur bald zu effen und zu
trinken 1
Fünf Minuten nachher faßen wir um einen runden
Tifch. «^ Anfangs wurde hin und her geplaudert in ge^
gewöhnlicher Weife. Kaum aber mochte eine Viertele
ftunde verlaufen fein, fo hatte Goethe es übernommen,
die Gefellfchaft zu unterhalten. Und er unterhielt fie
auf eine bewunderungswürdige Weife. Er erzählte Anek^s
doten und Abenteuer von feinen Reifen, im befondern
von feinem letzten Aufenthalte im Karlsbade, charakteris:
fierte die Menfchen auf das Lebendigfte, warf mit Schere
zen und Witzworten um fich und fchien aus feinem un^;
ermeßlichen Vorrate um fo freigebiger und lieber mitzu^
teilen, je aufmerkfamer wir fämtlich auf feine Worte waren
und je dankbarer für feine Mitteilungen. Die Gefellfchaft
wurde ungemein lebendig und brach zuweilen in ein fchals^
lendes Gelächter aus, nur dem Lachen der unfterblichen
Götter vergleichbar. An diefem Lachen nahm Goethe
felbft nur mäßigen Anteil, fchien aber mit großer Luft in
dasfelbe hineinzufchauen und nur den Wunfeh zu haben,
es nicht ausgehen zu laffen. Im allgemeinen hatte er das
Wort ganz allein; nur Herr von Knebel ließ fich fein
Hausrecht nicht nehmen, brach hier und dort ein und
gab damit Veranlaffung zu neuen Witzen und Anekdoten.
873J Jena. 1806. 417
Wir übrigen machten alles mit Lachen gut. Zuweilen
jedoch richtete Goethe auch wohl eine Frage an diefen
oder jenen und im befondern wiederholt an mich, fei es,
daß er feine erfte Unfreundlichkeit noch mehr gutmachen,
fei es, daß er mir, dem Ankömmling, wie man zu fagen
pflegt, auf den Zahn fühlen wollte. Und in der Stirn*
mung, in welcher ich war, blieb ich eben keine Antwort
fchuldig. Ein paar Male fang auch Frau von Knebel ein
Goethefches Lied nach Zelters Kompofition fehr fchön.
Sie wurde zuerft durch Hufeland erfucht, der, wie er ver?
fieberte, eine wahre Sehnfucht hatte, die herrliche Stimme
diefer Frau einmal wieder zu hören; alsdann wünfchte
Goethe felbft, daß fie noch einmal fingen möchte. Er
fühlte wohl, wie Hufeland, daß der ganzen Gefellfchaft
eine Erholung Bedürfnis fei. Und Frau von Knebel er^
füllte bereitwillig die ausgefprochenen Wünfche. '^ Nach
den Gefangen aber ging es von neuem weiter in der
alten Weife.
Mehr als eine Anekdote, die von Goethe erzählt
ward, ilt mir noch im Gedächtnis. Aber fie zu erzählen,
wage ich nicht. Jedesfalles würde das Anmutigfte und
Pikantefte fehlen : Goethes Augen, Stimme und Gebärden*
fpiel; denn er erzählte nicht bloß, fondern er (teilte alles
mimifch dar. Befonders kam er wiederholt auf zwei alte
Gräfinnen, mit welchen er in Verkehr gebracht worden
war. Sie hätten einen unermeßlichen Umfang gehabt und
deswegen eine bewunderungswürdige Unbeweglichkeit ge*
zeigt, fobald fie einmal Platz genommen. Dabei hätten
fie eine große Geläufigkeit der Zunge behalten und ein
endlofes Gefchwätz geführt. Ihre Stimme fei Jungfrau*
lieh gewefen, fei aber oft, wenn fie lebhaft geworden,
oder das Gefühl ihrer Würde an den Tag zu legen für
nötig gehalten, bald in ein artiges Krähen, bald in ein
girrendes Zwitfchern übergegangen. Mir felbft, fagte Goe*
the, waren die wunderlichen Kugelgeftalten diefer Damen
am merkwürdigften. Ich konnte nicht begreifen, wie es
einem Menfchen, Mann oder Weib, gelingen könne, es
zu einer folchen Maffe zu bringen; auch hätte ich die
Dehnbarkeit der menfchlichen Haut nicht für fo grenzen*
los gehalten. Sobald ich aber die Ehre erhielt, einmal
mit den edlen Damen zu fpeifen, wurde mir alles klar.
Wir andern wiffen doch wahrlich auch, was effen und
trinken heißt, und ich denke, wir geben unferer vortreff*
I 27
418 H. Luden. [873
liehen Wirtin einen fchlagenden Beweis; aber ein folches
Effen — vom Trinken fage ich nichts — überfiieg doch
meine Vorfiellungen. Jede der beiden Damen nahm z. B.
fechs harte Eier zum Spinat, fchnitt jedes Ei in der Mitte
durch und warf nun das halbe Ei mit fo großer Leichtigs:
keit hinunter, wie der Strauß ein halbes Hufeifen. Übri^
gens teilte Goethe noch einzelne Bemerkungen der edlen
Damen mit über die Wirkungen des Karlsbader Sprudels
auf ihren Körper, über die Zeitläufe und über die Ge^
fellfchaften , und einzelne Urteile über Schriftfieller und
Kunftwerke, die prächtig waren, naiv, drollig, barock, toll.
Und ernfthaft fetzte er alsdann hinzu: es fei viel Wahres
in diefen Bemerkungen und Urteilen, und er habe man^
ches von den Damen gelernt.
Noch eine Anekdote mag mitgeteilt werden, weil fie
uns ungemein ergötzte durch die Weife, in welcher fie
erzählt wurde. Ich will fie mit Goethes Worten wieder:;
geben; die Weife muß freilich ein jeder hinzudenken:
In meiner Art auf und ab wandelnd, war ich feit
einigen Tagen an einem alten Manne von etwa 78 bis
80 Jahren häufig vorübergegangen, der auf fein Rohr mit
einem goldenen Knopfe gefi:ützt diefelbe Straße zog, kom?
mend und gehend. Ich erfuhr, es fei ein vormaliger hoch^
verdienter öfterreichifcher General aus einem alten, fehr
vornehmen Gefchlechte. Einige Male hatte ich bemerkt,
daß der Alte mich fcharf anblickte, auch wohl, wenn ich
vorüber war, ftehen blieb und mir nachfchauete. Indes
war mir das nicht auffallend, weil mir dergleichen wohl
fchon begegnet ift. Nun aber trat ich einmal auf einem
Spaziergang etwas zur Seite, um, ich weiß nicht was, ge?
nauer anzufehen. Da kam der Alte freundlich auf mich
zu, entblößte das Haupt ein wenig, was ich natürlich an?
ftändig erwiderte, und redete mich folgendermaßen an:
Nicht wahr, Sie nennen fich Herr Goethe? — Schon
recht. — Aus Weimar? — Schon recht. — Nicht wahr,
Sie haben Bücher gefchrieben? — O ja. — Und Verfe
gemacht? — Auch. — Es foll fchön fein. — Hml — Haben
Sie denn viel gefchrieben? — Hml es mag fo angehen. —
Ift das Verfemachen fchwer? — So, fol — Es kommt
wohl halter auf die Laune an : ob man gut gegeffen und
getrunken hat, nicht wahr? — Es ift: mir faft fo vorge?
kommen. — Na fchauen S'l da follten Sie nicht in Weis=
mar fitzen bleiben, fondern halter nach Wien kommen.
875] Jena. 1806. 419
— Hab' auch fchon daran gedacht. — Na fchauen S', in
Wien ifi's gut; es wird gut gegeffen und getrunken. —
Hm! — Und man häh was auf folche Leute, die Verfe
machen können. — Hm! — Ja, dergleichen Leute finden
wohl gar — wenn f fich gut halten, fchauen S', und zu
leben wiffen — in den erften und vornehmften Häufern
Aufnahme. — Hml — Kommen S' nur; melden S' fich bei
mir; ich habe Bekanntfchaft , Verwandtfchaft , Einfluß;
fchreiben S' nur: Goethe aus Weimar, bekannt von Karls?
bad her. Das letzte ift notwendig zu meiner Erinnerung,
weil ich halter viel im Kopf habe. — Werde nicht ver^j
fehlen. — Aber fagen S' mir doch, was haben S' denn
gefchrieben? — Mancherlei, von Adam bis Napoleon,
vom Ararat bis zum Blocksberg, von der Zeder bis zum
Brombeerftrauch. — Es foll halter berühmt fein. — Hm!
Leidlich. — Schade, daß ich nichts von Ihnen gelefen und
auch früher nichts von Ihnen gehört habe. Sind fchon
neue verbefferte Auflagen von Ihren Schriften erfchienen?
— O ja, wohl auch. — Und es werden wohl noch mehr
erfcheinen? — Das wollen wir hoffen. — Ja, fchauen S',
da kauf ich Ihre Werke nicht. Ich kaufe halter nur Auss^
gaben der letzten Hand; fonft hat man immer den Ärger,
ein fchlechtes Buch zu befitzen, oder man muß dasfelbe
Buch zum zweiten Male kaufen. Darum warte ich, um
ficher zu gehen, immer den Tod der Autoren ab, ehe ich
ihre Werke kaufe. Das ift Grundfatz bei mir, und von
diefem Grundfatz kann ich halter auch bei Ihnen nicht
abgehen. — Hm! —
Die Sitzung dauerte bis gegen 1 Uhr, Etwa in der
letzten halben Stunde wurde die Unterhaltung matter, ja
flau. Endlich fah Goethe nach der Uhr. Wir erhoben
uns. Goethe fagte alsdann noch jedem einzelnen einige
verbindliche Worte. Zu mir fagte er: Es freuet mich
wirklich, Herr Profeffor, Ihre Bekanntfchaft gemacht zu
haben. Ich hoffe, das wird weiter führen. Sie werden
gewiß oft nach Weimar kommen; alsdann bitte ich, mich
zu befuchen. In Jena wird es Ihnen fchon gefallen, wenn
Sie fich nur erft gewöhnt haben. Nach diefen Worten,
welche ich fo gut als ich vermochte, beantwortete, wandte
er fich ab und ging ein paar Schritte weiter, drehte fich
aber fogleich wieder um: Man muß nichts verfchieben.
Mit einem neuen Freunde muß man doch auch ein ern?
ftes Wort fprechen; und dazu find wir heute nicht ge?
I 27*
420 H. Luden. [m
kommen. Die Nachwirkung des Bades hat uns auf tolle
Dinge gebracht und das ift für alle recht gefund gewefen.
Ich reife aber erfi übermorgen* nach Weimar, und habe
morgen den Morgen frei. Kommen Sie früh zu mir. Er
beftimmte 8 Uhr. Hierauf gingen wir vier Gäfte zu?
fammen nach der Stadt zurück, aber in tiefem Schweigen.
Am Tore trennten wir uns; Goethe und Riemer gingen
um den Graben, Hufeland und ich in die Stadt und nach
der Sonne.
[874.] Auguft 19. H. Luden.
Goethe empfing mich ungemein heiter und freund?
lieh, lobte meine Pünktlichkeit und erinnerte fich mit Ver?
gnügen an den (gefirigen) Abend. Alsdann ging er ans
Fenfter. Es ift ein fchöner Tag, fagte er, warm bei be?
decktem Himmel. Ich denke, wir gehen in den Garten.
Wir gingen und wandelten auf und ab, kreuz und quer,
und ließen uns auch von Zeit zu Zeit etwas nieder. Er
fragte mich zuvörderft über die Städte, in welchen ich
mich in den letzten Jahren aufgehalten hatte, über Göt?
tingen und über Berlin. Über Göttingen nicht viel; denn
er kannte die Anfialten und Einrichtungen felbft genau;
unter den gelehrten Männern fchien ihn eigentlich nur
Blumenbach zu intereffieren , und mit Blumenbach war
ich nur fehr wenig bekannt geworden. Mehr über Ber?
lin. Er erkundigte fich nach Menfchen und Dingen. Ich
vermochte über das meifte Auskunft zu geben: ^^ Goethe
fchien mit meiner Auffaffung der Dinge und mit meinen
Urteilen über die Menfchen keineswegs unzufrieden zu fein.
Er hörte mich ruhig an, ließ zuweilen ein beifälliges
Hm! Hml vernehmen und fprach fich auch wohl zu?
fiimmend aus, bald erläuternd, bald beftätigend. Damals
hatte ich die Gewohnheit, meine ausgefprochenen An?
fichten, Meinungen oder Urteile mit einem tüchtigen Worte
aus dem Faufi: zu bekräftigen; eine Gewohnheit, der ich
nicht gänzlich entfagt habe bis diefen Tag. Ich muß aber
bemerken, daß hier nur von dem alten Fauft die Rede
ift, von dem Fragmente, das fich noch nicht für eine Tra?
* Nach Luden war diefes Gefpräch am 18., nach Goethes
Tagebuch am 10. Auguft; am 11. früh fuhr Goethe nach Weimar,
war am 15. wieder in Jena und notiert am 19. Befuch von Luden
im Tagebuch.
8741 Jena. 1806. 421
gödie gab. ^ Als ich nun einige Male diefen Faufi an::
geführt hatte, fagte Goethe, den bisherigen Gang des Ge*
fpräches abbrechend:
G. Sie fcheinen fehr belefen im Fauft. Hat das
wunderliche Gedicht auch Sie fo ftark angezogen?
L. Ich glaube, Ew. Exzellenz, ich würde den Fauft
vom Anfange bis zum Ende herrezitieren können; nur
die tolle Wirtfchaft in der Hexenküche dürfte mich in
einige Verwirrung bringen.
G. Wo und wie haben Sie die Bekanntfchaft ge^^
macht? Doch wohl in Berlin; denn in Göttingen be::
kümmert man fich wohl nicht viel um den tractatum de
Faufto.
L. So arg, Ew. Exzellenz, ift die Philifterei denn
doch in Göttingen nicht. Und ich habe wirklich in Götj:
tingen viel Intereffe für den Faufi gefunden. Ich felbft
hatte ihn aber fchon vor acht Jahren, als ich in Bremen
auf der Schule war, gelefen, aber freilich damals nicht
mit fehr großer Teilnahme. '^ Während meines Aufents^»
haltes in Göttingen, vom Jahre 1799 an, kamen einige
Studierende aus Jena nach diefer Univerfität. Es waren
zum Teil fchon reifere Jünglinge. Einige waren Fichtes
Zuhörer gewefen; viele hatten Schelling gehört und die
Schlegel; auf alle hatte das damalige philofophifche und
äfihetifche Treiben in Jena eingewirkt, und das Theater
in Weimar hatten fie nur fo oft verfäumt, als der leere
Beutel Einfprache tat. Mehrere von diefen jungen Män^
nern wurden mir befreundet, unter ihnen ein Dr. Winckel^
mann.
G. Winckelmann?
L. Ja, Ew. Exzellenz, Winckelmann aus Braunfchweig,
ein Verwandter des berühmten Winckelmann. Es war eine
große derbe Gefialt. Aber auf dem unbehilflichen Rumpf
faß ein fehr fchöner Kopf.
G. Ich glaube ihn gefehen und auch einige Worte
mit ihm gefprochen zu haben.
L. Er rühmte und freuete fich diefer Ehre. — Da
nun mein häufiges Berufen auf den Faufi zunächfi die Ver^
anlaffung zu unferer näheren Bekanntfchaft gegeben hatte,
fo wurde der Faufi gar oft der Gegenfiand unferer Ges^
fpräche, unferer Diskuffionen und Disputationen.
G. Wie fo? wie kam es denn unter Ihnen zu Dis^
putationen?
I
422 H. Luden. [874
L. Meine Freunde hatten den Kopf voll von allere
lei Anflehten und Ideen, die mir nicht immer recht klar
und faßlich waren, fprachen diefelben in Worten aus,
die mir oft wunderlich vorkamen, fchienen aber doch fo
viel bei diefen Worten zu denken, daß fie unfereinen
halb vornehm, halb mitleidig anblickten, fo daß man nicht
umhin konnte, einmal herauszufahren und den Selbft^
feiigen entgegen zu treten.
G. Ich kenne das! Aber was brachten fie denn
über den Fauft vor, diefe Philofophen?
L. Genau, Ew. Exzellenz, wüßte ich das in der Tat
nicht mehr zu fagen; auch würde ich es vor Ihnen nicht
ohne einige Befangenheit ausfprechen können.
G. Sagen Sie es nur immer ganz unbefangen. Es
würde mir doch intereffant fein, zu hören, wie von den
jungen Leuten die Ideen ihrer Lehrer aufgefaßt werden.
Denn diefe Ideen waren es doch wohl im Grunde, welche
fie fich in ihrem Kopf und auf ihre Weife zurechtgelegt
hatten.
L. Ohne Zweifel. Es waren aber lauter hohe In^^
tuitionen. Es waren myftifche Worte, die aus dem Un^^
geheuern hervorzukommen und an das Ungeheuere ge^
richtet zu fein fchienen. Sie verwarfen meine Auffaffung
des einzelnen im Faufi:, welchem ich den Sinn gab, der
in den Worten liegt, und behaupteten, man muffe fich
zu der Anfchauung des Geiftes erheben, aus welchem
das einzelne hervorgegangen fei.
Es folgt eine längere Darlegung über die Idee des Fauft.
In diefen oder ähnlichen Worten, welche mir unge^
fähr dasfelbe zu bedeuten fchienen, teilten meine Freunde
ihre Jenaifche Weisheit mit; und diefelben Phrafen habe
ich fpäter auch in Berlin häufig genug anhören muffen.
G. Liaben Sie Schlegels Vorlefungen beigewohnt?
L. Nein, Ew. Exzellenz. Ich habe nur ein paar
Male hofpitiert. Überhaupt bin ich in Berlin nur Fich^
tes Zuhörer gewefen, und auch nur in den wiffenfchaft^
liehen Vorträgen, nicht in den populären.
G. Sie fcheinen alfo nicht viel auf Schlegel zu hal:=
ten, oder find wohl felbfi ein Gegner?
L. Keinesweges. Ich verehre Schlegels Verdienfi:e
um die deutfche Literatur auf das Höchfte, und bin ihm
felbft große Dankbarkeit fchuldig. ^ Übrigens habe ich
bei den Worten, daß ich in Berlin diefelben Phrafen hätte
874] Jena. 1806. 423
anhören muffen, die ich in Göttingen angehört hatte, durch;:
aus nicht an Schlegel gedacht.
G. Aber Sie haben nicht bloß angehört, fondern
Sie haben disputiert.
L. Nur in Göttingen mit meinen jungen Freunden.
In Berlin habe ich die Redensarten nur angehört, habe
zugefiimmt und zuweilen etwa gelacht.
G, Gelacht?
L. Verfteht fich, in mich hinein.
G. Aber eben damit haben Sie ftillfchweigend das
Disputieren fortgefetzt. Sie find nicht zu der Meinung
Ihrer Gegner übergegangen, fondern in der Oppofition
geblieben. Sie haben Ihre Argumente alfo fortwährend
für ftark genug gehalten um die Gegner aus dem Felde
zu fchlagen. Darf man denn die Gründe nicht kennen,
mit welchen Sie gefiritten haben?
L. In der Tat, Ew. Exzellenz, würde ich kaum im?
ftande fein, vor Ihnen diefe Gründe auszufprechen. Sie
waren gar verfchieden, heute andere, als geftern, wie der
Augenblick fie eingab. Auch waren fie von fehr ver::
fchiedener Art.
G. Es würde mich doch intereffieren, fie kennen zu
lernen, wenigftens in der Hauptfache. Auch fcheint mir
billig, da Sie fo gütig gewefen find, die Meinungen des
einen Teiles mitzuteilen, die entgegenftehenden Meinungen
auszufprechen. Und tun Sie das nur mit völliger Unbe?
fangenheit; vergeffen Sie, daß der Dichter des Fauft mit
Ihnen fpricht.
L. Meine Freunde aus Jena waren natürlich fämt?
lieh große Philofophen. ^^ Bei diefen philo fophifchen Dis:J
putationen mit ihnen kamen wir denn auch oft auf den
Fauft zurück, und ich holte bald diefes, bald jenes Ge?
fchütz aus meinem Arfenal hervor, um den Bau meiner
Freunde zu befchießen.
G. Das ifi recht hübfch. Ich hätte kaum geglaubt,
daß man es in diefer Weife in Göttingen getrieben habe.
Ihre übrigen Disputationen würden uns zu weit führen;
was Sie aber gegen die Anfichten Ihrer Freunde vom
Fauft vorgebracht haben, wäre ich wohl begierig der
Hauptfache nach zu erfahren. Gelang es Ihnen, den
Feind mit Ihrem Gefchütz aus dem Felde zu treiben?
L. Nein, Ew. Exzellenz; aber ich habe ihn doch
zuweilen in feinem Lager ftark beunruhigt. ~
I
424 H. Luden. [874
G. Nun, fo fahren Sie doch eine oder die andere
Ihrer Batterien vor, damit man ihre Stärke und Tragweite
erkenne!
L. Wenn Ew. Exzellenz es wollen, fo gehorche ich
dem wiederholten Befehl; ich muß aber um Nachficht
und zu erwägen bitten, daß ich Student war. Auch können
natürlich nur ein paar Beifpiele gegeben werden.
G. Ganz recht, ganz recht. Geben Sie nur.
L. Meine Freunde hatten, wie gefagt, behauptet: der
Fauft fei oder werde fein eine divina tragoedia, in welcher
der Geift der ganzen Weltgefchichte dargeftellt, in welcher
das ganze Leben der Menfchheit fei, Vergangenheit, Gegen?
wart und Zukunft umfaffend. Diefer Behauptung ftellte
ich den Begriff der Tragödie entgegen, wie derfelbe von
alten und neuen Philofophen beftimmt worden, und be?
hauptete alsdann, eine Darf teilung der Weltgefchichte könne
unmöglich ein Tragödie fein. ^^ Es wäre nicht nur mög?
lieh, fondern fogar wahrfcheinlich, und ich glaubte, wir
müßten es wünfchen, daß unfere Nachkommen nach
10000 Jahren die Weltgefchichte ganz anders auffaßten,
als wir, und in ihr, wenn nicht einen ganz anderen Geift,
doch denfelben Geift viel klarer, deutlicher und beftimmter
erkennen würden; es wäre möglich, daß fie alles, worin
wir es fo herrlich weit gebracht zu haben glaubten, nur
als Anfänge, als kindifche Verfuche betrachteten und all
unfere Weisheit als knabenhafte Torheit.
G. Lim] Lim! — (dem Laute nach halb beifällig
und halb zweifelnd.) —
L. Eben deswegen hielte ich nicht für denkbar, daß
irgend einem Menfchen der ungeheure Gedanke in den
Kopf kommen könne, das Leben der Menfchheit, wenn
nicht für das Theater, doch jedesfalles in dramatifcher
Weife zu bearbeiten; und am wenigfien könnte ich mir
diefes von dem Dichter des Fauft vorftellen, in deffen
übrigen Schöpfungen, z. B. in meinen Lieblingsgedichten
der Iphigenia und dem Torquato Taffo, alles fo hell und
lauter erfcheine, fo wahr, menfchlich und fchön, fo fcharf
und gerundet.
Diefes letzte Argument ward aber auf eine Weife
fchnöde verworfen, welche ich, da ich einmal in das
Schwatzen hineingekommen bin, nicht unberührt laffen
möchte, weil fie am heften zeigen kann, wie es in den
Köpfen einiger meiner Freunde ausfah.
S74] Jena. 1806. 425
G. Nun, ich bin begierig 1
L. Meine Freunde gaben zu, daß der Dichter des
Fauft den Gedanken gar nicht gehabt haben möge, ja
vielleicht einen ganz anderen, aber fie behaupteten, daß
er diefen Gedanken dennoch gegen fein Wiffen und feinen
Willen dem Gedichte zum Grunde gelegt und die ganze
Dichtung mit demfelben durchdrungen habe. '^ Sie nahmen
an, die Dichtung dringe aus dem f g. Dichter hervor,
wie etwa der Quell aus dem Felfen. ^ Rhythmus, Me^:
trum, Reim, alles ift nicht Werk des dichtenden Menfchen,
fondern die Wirkung des dichterifchen Geiftes, welchem
der Menfch nicht zu widerftehen vermöge, er möge fich
ftellen, wie er wolle.
G. So? Ei, das ift ja ganz scharmant!
L. Meine Gegenbemerkungen, ^ auch der Dichter
habe feine Werkftatt, und er empfinde bei der Arbeit
diefelben Geburtswehen, an welchen andere Sterbliche zu
leiden hätten —
G. Da haben Sie wohl recht.
L. — Diefe Gegenbemerkungen wurden als un?
philofophifch , profaifch und gemein zurückgewiefen. ^
Luden führt an, man erzähle eine Anekdote, wie Goethe
einmal unbewußt eine Zeichnung hervorgebracht habe.
G. So?
L. Ein zweites Beifpiel. Meine Freunde behaupteten,
Fauft fei, oder folle fein, der Repräfentant der Menfchi=
heit und Mephiftopheles das personifizierte Böfe.
Ich leugnete beides. Was Fauft fein folle, fagte ich,
oder was er einft fein werde, wenn die ganze Tragödie
vollendet fei, laffe ich auf fich beruhen, Aber in dem
Fragment fei er offenbar nicht Repräfentant der Menfch:^
heit, fondern ein einzelner. Neben ihm erfchienen ja auch
andere Menfchen, wie der ehrliche Wagner, die tapferen
Burfchen, Frofch, Brander, Siebel und Konforten, die
lüfterne Frau Marthe und das wunderliebliche Gretchen,
welche fämtlich doch auch zur Menfchheit gehörten und,
fo zu fagen, einen Teil der Menfchheit in fich trügen,
wenn auch nur einen fehr kleinen. Wollte man aber
den Fauft etwa einen Repräfentanten der Menfchheit nen^
nen, wie ein Gefandter der Repräfentant eines Reiches
oder eines Volkes fei, oder ein Deputierter im englifchen
Parlamente der Repräfentant einer Graffchaft, einer Stadt,
eines Fleckens: fo fürchtete ich, es würde ihm nicht mög*
1
426 H. Luden. [874
lieh fein, feinen Vollmachtsbrief vorzuzeigen. Auch fei
es doch fonderbar, daß das Böfe, welches fich im Leben
der Menfchheit finden möge, hier als Perfon neben dem
Repräfentanten der Menfchheit als gehorfamer Diener her^
laufe und dergleichen mehr.
G. Alles diefes läßt fich hören; es find jedoch nur
Negationen, was Sie vorbringen oder vorgebracht haben,
die nicht weiter führen. Indem Sie aber die Anfichten
anderer von dem Fauft zu widerlegen fuchten und zu
diefem Zweck den Faufi: abermals und abermals lefen
mußten, find Sie ohne Zweifel zu einer eigenen Anficht
von dem wunderlichen Gedicht gekommen, die folchen
Gründen, als Sie aufgefiellt haben, zu widerfi:ehen im^
ftande ifi:. Wollen Sie nicht wenigftens zum Schluffe
unferer Unterhaltung diefe Anficht, die Sie felbfi: aus der
Lektüre des Fauft gewonnen haben, mitteilen?
L. In der Tat, Ew. Exzellenz, habe ich wohl Vers:
fuche gemacht, die Idee, welche der Dichter darzuftellen
unternommen habe, aufzufinden, und aus derfelben das
Einzelne in dem Gedichte zu erklären ; es hat auch wohl
Augenblicke, vielleicht Stunden und Tage gegeben, in
welchen ich an die Richtigkeit diefer Idee geglaubt habe.
Aber fie ift mir immer wieder, wie man zu fagen pflegt,
unter den Händen zerronnen, und mein Glaube ifi ver^s
fchwunden. Daher, wie ich alles Streiten längft aufge^^
geben habe, fo habe ich auch aller Grübelei entfagt. Ich
freue mich deffen, was wir haben, nehme es, wie es vor^s
liegt, und überlaffe anderen zu ergründen, was vielleicht
unergründlich ift.
G. Wie ifi denn das möglich?
L. Ich lefe die einzelnen Szenen, und oft, und mache
das Büchlein immer mit neuer Luft wieder auf. Des ge^;
lehrten Doktors Selbftpeinigung, die allerdings bei einem
Manne von 54 Jahren etwas auffallend ifi —
G. Warum geben Sie ihm denn grade 54 Jahre?
L. Auf und ab. Da Fauft fich durch den Hexen^:
trank 30 Jahre vom Leibe fchaffen, und doch wohl, weil
er nach gewiffen Genüffen iüftern ift, nicht als unreifer
Burfche erfcheinen will, fo dächte ich 54 Jahre wären un:=
gefähr ein angemeffenes Alter.
G. Nun, ich habe Sie unterbrochen; fahren Sie doch fort.
L. Des Doktors Selbftpeinigung erregt mein Mit^
leid und macht mich beforgt für den Mann; feine weifen
874] Jena. 1806. 427
Lehren gewinnen meinen Beifall, fein Streben nach tieferer
Erkenntnis meine Achtung, fein Gebet im Walde greift
tief in meine Bruft, und fein Gefpräch mit Gretchen über
Religion fpricht lebendig zu meinem Herzen. Bei allen
diefen Vorgängen nehme ich ihn, wie er eben erfcheint,
und fuche weder den eitlen Hans in der Hexenküche,
noch den groben Gefellen im Verkehre mit Mephiftoj:
pheles, oder den argliftigen Verführer der Margaretha mit
ihm, in jenen Vorgängen, in Übereinfiimmung zu bringen.
Und auf diefelbe Weife faffe ich die übrigen Perfonen,
wie fie fich eben geben, jedes ihrer Worte in dem ein^
fachen Sinne nehmend, den fie in der Sprache haben.
G. Ja; fo mögen denn die Orakelfprüche, Sentimen::
talitäten, Schelmereien, Spitzbübereien und Schweinereien
auch ihr Intereffe haben. Aber es ift ein kleinliches,
ein zerhacktes Intereffe. Ein höheres Intereffe hat doch
der Fauft, die Idee, w^elche den Dichter befeelt hat, und
welche das einzelne des Gedichtes zum Ganzen verknüpft,
für das einzelne Gefetz ift und dem einzelnen feine Be^
deutung gibt.
L. Darüber könnte freilich der Dichter den heften
Auffchluß geben.
G. Mit diefem Auffchlußgeben wäre die ganze Herr^
lichkeit des Dichters dahin. Der Dichter foll doch nicht
fein eigener Erklärer fein und feine Dichtung in alltags
liehe Profa fein zerlegen; damit würde er auf hören Dichter
zu fein. Der Dichter ftellt feine Schöpfung in die Welt
hinaus; es ift die Sache des Lefers, des Äfthetikers, des
Kritikers, zu unterfuchen, was er mit feiner Schöpfung
gewollt hat.
L. Ich gebe diefes alles fehr gern zu, Ew. Exzellenz,
aber mir fcheint doch auch, daß es dem Lefer oder Kri^
tiker unmöglich fein werde, die Idee der ganzen Schöpfung
anders, als aus der ganzen Schöpfung zu gewinnen.
G. Aber wir erkennen doch im Torfo den Herkules.
L. In tantum, Ew. Exzellenz. Wir erkennen in dem
fchön bearbeiteten koloffalen Block, den ich leider nicht
gefehen habe, daß derfelbe der Rumpf einer koloffalen
Statue gewefen fein muffe, und wir find, fo zu fagen,
ftillfchweigend übereingekommen, in diefer Statue den
Herkules zu fehen, weil wir fie fonft nicht unterzubringen
wiffen. Wenn aber irgend ein Zauberer die Statue wieder
herftellte und ihr den Torfo ohne Euge und Naht ein::
I
428 H. Luden. [874
verleibte: fo würde fleh doch vielleicht zeigen, daß felbft
Winckelmann fich geirrt habe, und daß der Torfo nicht
einem fitzenden Herkules den Kopf auf die Hand geftützt
und das Auge zum Himmel gerichtet angehöret habe. Ich
fage, das wäre möglich.
G, Soll ich etwa an Statt des Torfo die Löwenklaue
nennen?
L. Wenn uns eine abgefchnittene Klaue dargeboten
würde, als ein Fragment eines Löwen, fo würden wir ge^s
wiß erkennen, daß es eine Löwenklaue fei, aber ich fürchte
den Löwen, von welchem fie abgefchnitten ift, würden
wir nimmermehr erkennen. ^^ Aber für unmöglich halte
ich, aus dem Fragment einen ganzen Faufi zu konftruieren,
oder in dem Fragment eine Idee aufzufinden, aus welcher
die vorliegenden Szenen ebenfowohl erklärt werden könn^^
ten, als was noch an einem Ganzen fehlen mag.
G. Und dennoch hat man allgemein einen Mitteln
punkt gefucht, aus welchem heraus das einzelne, fich gegen^
feitig ergänzend, erwachfen fei und ferner erwachfen könnte.
Und große Gelehrte und geifireiche Männer haben es
nicht für zu gering gehalten, fich nach diefem Mittelpunkt
umzufehen.
L, Das zeugt jedes Falles für das allgemeine Be^
dürfnis eines folchen Mittelpunktes.
G. Was hat denn aber diefes Bedürfnis erzeugt?
Doch ohne Zweifel das Fragment felbft. Das einzelne,
das Ihnen zu genügen fcheint, hat andere nicht befriedigt,
und doch haben fie das Büchlein nicht hinweg geworfen,
fondern fie haben es feftgehalten , oder es von neuem
und abermals wieder in die Hand genommen. Es muß
alfo doch etwas in dem Büchlein fein und durch das
Büchlein hindurch gehen, das auf den Mittelpunkt hin;;
weift, auf die Idee, die in allem und jedem hervortritt.
L. Ich habe nicht gerade gefagt, Ew. Exzellenz,
wenigftens hätte ich nicht fagen follen, daß mir das Ein^
zelne genüge, fondern ich habe nur fagen wollen, ^^ daß
ich mich des Vorhandenen freue, und daß ich das tiefere
Forfchen darum aufgegeben habe, weil meine Verfuche
mißlungen wären, und weil mir auch die Verfuche anderer
mißlungen zu fein fchienen. Und dann geftehe ich auch,
daß die beftändige Erneuerung diefer Verfuche, den Mitteln
punkt oder die Grundidee des Fauft aufzufinden, nicht
874] Jena. 1806. 429
gerade fo zu erklären fein dürfte, wie Ew. Exzellenz fie
zu erklären geruhet haben.
G. Wie wollten Sie diefelben denn anders erklären,
als aus der poetifchen Richtung des einzelnen, welche
auf einen notwendigen Zufammenhang , alfo auf einen
Mittelpunkt, auf eine Grundidee hinweift überall?
L. Das könnte vielleicht auf mehr als eine Weife
gefchehen. Wenn aber Ew. Exzellenz mir verftatten wollen,
nur eins anzuführen, das mitgewirkt haben könnte zu
diefem allgemeinen Eifer in der Erklärung des Fauft, fo
möchte ich mir fafi erlauben, mit Worten aus dem Fauft
zu fprechen, wenn es auch Hexens: und Teufelsworte find :
Aus Eins mach' Zehn,
Und Zwei laß gehn.
Und Drei mach' gleich.
So bift du reich.
Und Neun ift Eins,
Und Zehn ift keins.
G. Wie gehört diefes Hexeneinmaleins hierher? Was
wollen Sie damit fagen?
L. Mit andern Worten:
— ein vollkommner Widerfpruch
Bleibt gleich geheimnisvoll für Kluge wie für Toren.
Und je geheimnisvoller der Widerfpruch ift und je
rafcher fich ein Widerfpruch an den anderen drängt, als
follten fie fich gegenfeitig, wie ergänzen, fo erklären oder
auflöfen, defto ftärker und allgemeiner, denke ich, muß
das Verlangen werden, wenn der allgemeine Ausdruck
verftattet ift, dahinter zu kommen.
G. Im allgemeinen möchte in diefer Bemerkung
immer einige Wahrheit fein. Auf den befonderen Fall
aber angewandt, fcheinen Sie die große Teilnahme, welche
der Fauft gefunden hat, nicht dem Werke felbft, nicht
der Macht der Poefie zuzufchreiben, fondern einem myfiis
fchen Etwas, das hinter dem Fauft liegt; die Lefer werden
nicht angezogen durch das, was ihnen dargeboten ift,
fondern durch etwas, was fie zu fuchen veranlaßt werden,
und was fie niemals zu finden vermögen.
L. So ift es nicht gemeint, Ew. Exzellenz. Ich habe
ja von mir felbft gefagt, daß ich mich des Gegebenen
herzlich erfreue. ~ Würden dem Verftand die Widers^
430 H. Luden. [874
fprüche in fchlichter Profa dargeboten, oder in Reimen
ohne Poefie, fo würde er die Widerfprüche ohne Weiteres
als unvernünftig zur Seite fchieben.
G. Alfo abermals die Widerfprüche? Wollten Sie
nicht die Güte haben, den einen oder den anderen diefer
Widerfprüche etwas näher zu bezeichnen, an welchen Sie
Anfioß genommen haben, oder welche Ihnen fo geheim^
nisvoll zu fein fcheinen, daß Kluge und Toren fich zu
der Auflöfung aufgefordert fühlen?
L. Legt dar, was ihm als Widerfprüche der Dichtung er?
fchienen.
G. Alles, was Sie da vorbringen, kann nichts gelten.
In der Poefie gibt es keine Widerfprüche. Diefe find
nur in der wirklichen Welt, nicht in der Welt der Poefie.
Was der Dichter fchafft, das muß genommen werden,
wie er es gefchaffen hat. So wie er feine Welt gemacht
hat, fo ifi: fie. Was der poetifche Geift erzeugt, muß von
einem poetifchen Gemüt empfangen werden. Ein kaltes
Analyfieren zerftört die Poefie und bringt keine Wirk^
lichkeit hervor. Es bleiben nur Scherben übrig, die zu
nichts dienen und nur inkommodieren.
L. Eben deswegen habe ich alles Räfonnieren ver^
worfen, und nehme die Handlung rein und lauter, wie
fie dargeftellt, und jedes Wort, wie es gefprochen worden ift.
G. Aber Sie nehmen nur immer die einzelnen Szenen,
Sprüche, Wörter, und wollen von dem Ganzen nichts
wiffen.
L. Weil es dem Dichter nicht gefallen hat, uns ein
Ganzes zu geben. Wir haben ja nur Bruchftücke.
G. Aber eben weil es Bruchftücke find, muffen fie
ja zu einem Ganzen gehören, und im ganzen poetifch
aufgefaßt werden.
L. Ich gefiehe, daß dazu eine größere poetifche
Empfänglichkeit gehören würde, als deren ich mich rühmen
kann. Sollte es dem Dichter gefallen, einmal das Ganze
vorzulegen, fo werde ich gewiß verfuchen, diefes Ganze
in mich aufzunehmen, und die Idee zu erkennen, von
welcher er bei feiner Schöpfung ausgegangen ift. Nur
würde es mir fehr wehe tun, wenn irgend etwas von
diefem Fragmente, das mir fo wohl bekannt und fo lieb
geworden ift, in dem Ganzen verloren ginge.
G, Wie könnten aber diefe Bruchftücke in einem
Ganzen verloren gehen, aus welchem fie herausgenommen
874] Jena. 1806. 431
find? Sie werden in demfelben als organifche Teile qt^
fcheinen und erft ihre wahre Bedeutung erhalten.
L. Diefe Äußerung Ew. Exzellenz fcheint zu be?
weifen, daß das Ganze fchon wirklich vorhanden ift. Als::
dann würde ich mich unendlich freuen, wenn es bald er^^
fchiene, und durch die Erfcheinung würde auch allem
Streit ein Ende gemacht werden.
G. Es ift vorhanden, noch nicht alles gefchrieben,
aber gedichtet. — Nun? Sie fchweigen? Sie fehen mich
ungläubig an?
L. Wie könnte ich wagen, den Worten Ew. Exzellenz
meinen Glauben zu verfagen? Ich bin nur überrafcht und
muß befchämt meinen Irrtum und meine Schwäche bekennen.
G. Wie fo? — Beichten Sie einmal!
L. Da Ew. Exzellenz die Gnade gehabt haben, mir
fo lange geneigteft zuzuhören, daß ich felbft betreten bin
über alles, was ich zu fagen mir erlaubt habe, fo will
ich denn auch ehrlich bekennen, daß ich wirklich oft,
weil ich es glaubte, auch behauptet habe: diefes foge^^
nannte Eragment gehöre keineswegs einem Ganzen an. ~
Nach dem aber, was Ew. Exzellenz foeben zu verfichern
die Gnade gehabt haben, muß ich allerdings einräumen,
daß ich im Irrtume gewefen bin; aber Sie werden mir
auch gewiß verzeihen, wenn ich bekenne, daß ich nur
durch die Erfcheinung des ganzen Fauft felbft von meinem
Irrtum völlig geheilt werden kann.
G. Es ift Ihnen nicht zu verargen, daß Sie fehen
und nicht glauben wollen. Wie aber haben Sie (ich denn
die Entftehung des Fauft gedacht? Habe ich Sie recht
verftanden, fo find Sie der Meinung gewefen, und find
noch der Meinung, daß der Dichter gar nicht ge^
wüßt hat, was er wollte, als er die Dichtung begann,
fondern daß er auf das Geratewohl, daß er in das Blaue
hinein gedichtet und fich nur des Namens Fauft wie einer
Schnur bedient habe, um die einzelnen Perlen aufzuziehen
und vor der Zerftreuung zu bewahren.
L. Es bleibt mir nur übrig, Ew. Exzellenz einfach
und kurz zu erzählen, wie mir durch häufiges Lefen des
Fauft die Sache erfchienen ift.
Folgt eine Analyfe des Fauft, nach der von Luden ver*
muteten allmählichen Entftehung.
Zuletzt von allem fchien mir der Monolog gedichtet
zu fein, mit welchem Fauft das Fragment eröffnet. Der
I
432 H. Luden. [874
Hans Lüderlich follte zu Ehren gebracht; es foUte ihm ein
Empfehlungsfchreiben an die Welt mitgegeben werden,
damit man ihn zuließe, auch in honette Gefellfchaft.
G. Nun, nun, das ifi auch eine Meinung, und eine
Meinung, die fchon beftritten, vielleicht fchon widerlegt
ift. Sie gäbe Stoff zu neuen Gefprächen oder zur Fort^j
fetzung des gegenwärtigen. Wir wollen indes für diefes
Mal abbrechen, und den Gegenftand nicht wieder auf^
nehmen, bis die ganze Tragödie vorliegt. —
So weit habe ich Goethes Unterhaltung mit mir,
wenige Tage nach derfelben, aufgefchrieben , und hier
nur einiges, im befondern einzelne Namen, ausgelaffen,
und einige Sätze abgekürzt. Als jetzt eine kleine Paufe
entftand und ich Goethen beftimmter ins Angehebt fchaute,
kam mir vor, als ob feine Züge weniger freundlich feien,
als früher. Zwar hatte ich auch während des Gefpräches
zuweilen bemerkt, daß feine Augen fiark hin und her
rollten; aber das war auch am vorigen Abend bei der
heiterften Stimmung der Fall gewefen, und darum hatte
ich weder auf diefes Rollen, noch auf eine Veränderung
der Stimme zum Kurzen und Scharfen hin geachtet. Jetzt
fiel mir fein Geficht etwas auf, und diefe Bemerkung
brachte eine kleine Unruhe in mir hervor. Als er nach
einigen Augenblicken von neuem das Wort nahm, zeigte
fein Geficht abermals eine große Freundlichkeit, aber es
war derfelben ein Zug beigemifcht, den ich weder jetzt
zu benennen weiß, noch damals zu deuten wußte. In^
des fammelte ich mich und faßte den Entfchluß, mich in
keiner Weife verblüffen zu laffen, überall befcheiden nächst
zugeben, aber auch jedesfalles auf dem Weg fortzu;?
wandeln, den ich einmal eingefchlagen hatte, oder viel?
mehr, auf den ich, ohne zu wiffen wie, geraten war. Und
bald nach dem Beginne des Gefpräches kam mir vor, als
habe er die Abficht, mich ein wenig zu necken, um zu
verfuchen, ob ich fefi:, und wie feit ich im Sattel fäße.
Das fchien mir aus den Wendungen feiner Fragen und
Einwürfe hervor zu gehen, welche letztere mir zuweilen
etwas wehe taten, mir, einem jungen Manne, der ich, wie
ich wohl fagen darf, begeiftert war für meinen neuen
Beruf, und große Dinge erwartete von meiner künftigen
akademifchen Wirkfamkeit. Goethe begann:
G. Ja, wir haben lange geplaudert. Und doch find
wir noch gar nicht auf das gekommen, worüber ich mich
874] Jena. 1806. 455
mit Ihnen zu unterhalten gedachte, auf Ihr eigenes Vor;;
haben, auf Ihr Tun und Treiben. Sie wollen alfo — Ge^
fchichte lehren? wollen ein — Hiftoriker werden? oder
vielmehr find ein — Hiftoriker?
L. Meine Abficht ifi allerdings, einen Verfuch zu
machen, Gefchichte zu lehren: Ob es mir gelingen werde,
Teilnahme zu finden oder zu erregen, ift eine andere Frage.
Übrigens würde das eine unverzeihliche Anmaßung fein,
wenn ich fagen wollte, ich fei ein Hiftoriker; dagegen
leugne ich nicht, daß es mein heißefter Wunfeh ift, einft
diefen hohen Namen zu verdienen. Und an Fleiß und
Anftrengung foll es gewiß nicht fehlen. Der Erfolg liegt
in Gottes Hand.
G. Warum follte das Lehren der Gefchichte Ihnen
nicht gelingen? Sie haben eine reine, wohlklingende Stim^:
me und gute Manieren; Sie werden gut erzählen und das
Erzählen ift leicht. Und wer hört nicht gern guten Erzäh:s
lungen zu? Das Kind liebt es, fich was erzählen zu laffen,
und der Greis hat noch diefelbe Luft oder diefelbe Schwache
heit, gleichviel. Und warum wollten Sie fich gegen den
hohen Namen eines Hiftorikers fperren? Ein jeder, der
fich mit der Historia befchäftigt, ift ein Historicus.
L. Die Worte Ew. Exzellenz find eben nicht fehr
ermunternd für einen jungen Mann, der entfchloffen ift,
fein Leben der Gefchichte zu widmen, der Forfchung,
dem Lehren, der Darftellung.
G. Warum nicht? Ich dächte, ich hätte einen hei;:
teren Glanz auf diefe heilige Dreieinigkeit geworfen.
L. Eine Erzählung, welcher jung und alt ein ge:s
neigtes Ohr leiht, die Erzählung einer Anekdote nämlich,
mag leicht fein; und doch gibt es nicht viele Menfchen,
die eine Anekdote gut zu erzählen wiffen. Die Erzäh^;
lung großer und komplizierter Ereigniffe und Begeben^;
heiten hingegen, wie fie im Leben der Völker und Staaten
vorkommen, hat denn doch wohl einige Schwierigkeiten,
die nicht oft überwunden werden. ^ Was aber das Stu;;
dium der Gefchichte betrijfft, fo ift dasfelbe, weil das Feld
unermeßlich ift, gewiß das fchwierigfte von allen Studien.
G. Zu diefer Meinung find Sie wohl zunächft ge^;
kommen, weil Sie fich am meiften mit der Gefchichte be^:
fchäftigt haben. Wäre Mephiftopheles gegenwärtig, fo
würde er etwa folgenden Knittelreim pathetifch herdekla?
mieren :
I 28
434 H. Luden. [874
So war es fchon in meinen Tagen:
Ein jeder fchlägt gar hoch fich an,
Und würdeft du fie alle fragen:
Das Wichtigfte hat er getan.
Es lafiet fchwer die fchwere Laft,
Die felber du zu tragen haft,
Und ob ein andrer ächzt und keucht,
Für dich ift feine Bürde leicht.*
Ganz unwahr mag der Spruch nicht fein; und viel*
leicht hält darum z. B. jeder Philofoph feine eigenen Ge^
danken für die richtigften, ja fein eigenes Syftem für das
einzig Wahre, weil er beides nur mit großer Mühe zu?
tage gefördert hat, während er fremde Gedanken bequem
vom Blatte abliefet. In Beziehung auf die Gefchichte in^s
des bin ich doch der Meinung des guten Wagner, daß
fchon die Mittel fchwer zu erwerben find, womit man zu
den Quellen fieigt, und weiß gar wohl, daß die Zahl
diefer Quellen, zu welchen man fieigen muß, nicht gering
ift. Es ift doch auch viel vorgearbeitet, viel getan. Die
meiften Quellen find längft durchforfcht ; was fie an reiner
Flut enthielten, ift ausgefchöpft, nur trübes Waffer zurück:^
geblieben.
L. Es wäre aber doch mögUch, daß die Forfcher
das Waffer auch zuweilen getrübt hätten, und daß man,
würde dasfelbe abgeklärt, neue Entdeckungen machen
würde. Auch dürfte noch manche Quelle nicht durchs
forfcht und ausgebeutet fein.
G. Und wenn Sie nun auch alle Quellen zu klären
und zu durchforfchen vermöchten: was würden Sie fin^
den? Nichts anderes als eine große Wahrheit, die längft
entdeckt ift, und deren Beftätigung man nicht weit zu
fuchen braucht; die Wahrheit nämlich, daß es zu allen
Zeiten und in allen Ländern miferabel gewefen ift. Die
Menfchen haben fich ftets geängftigt und geplagt ; fie haben
fich untereinander gequält und gemartert; fie haben fich
und anderen das bißchen Leben fauer gemacht, und die
Schönheit der Welt und die Süßigkeit des Dafeins, welche
die fchöne Welt ihnen darbietet, weder zu achten noch
* Diefe Verfe find wohl nicht ganz richtig, obgleich ich fie
oft ins Gedächtnis zurückgerufen habe. Nur den Reim glaube
ich als echt bezeichnen zu können, und den Sinn gewiß.
874] Jena. 1806. 435
zu genießen vermocht. Nur wenigen ift es bequem und
erfreulich geworden. Die meiften haben wohl, wenn fie
das Leben eine Zeitlang mitgemacht hatten, lieber hinaus:^
fcheiden, als von neuem beginnen mögen. Was ihnen
noch etwa einige Anhänglichkeit an das Leben gab oder
gibt, das war und ift die Furcht vor dem Sterben. So
ift es; fo ift es gewefen; fo wird es wohl auch bleiben.
Das ift nun einmal das Los der Menfchen. Was brauchen
wir weiter Zeugnis?
L. Ich fah Goethe an; er machte ein fehr ernftes
Geficht. Dennoch antwortete ich halb lachend: Ich kann
unmöglich glauben, daß diefes Ew. Exzellenz eigene Mei::
nung fei. Mir kommt vor, Mephiftopheles habe aberss
mals gefprochen. (Goethe lächelte.) Wenn auch viele
Menfchen in alten und neuen Zeiten fo gelebt haben
mögen, fo ift deswegen ein folches Leben noch nicht das
Los der Menfchen, und das Los der Menfchen ift auch
nicht das Schickfal der Menfchheit.
G, Die Menfchheit? Das ift ein Abftraktum. Es
hat von jeher nur Menfchen gegeben und wird nur Men^
fchen geben.
L. Das Wort bezeichnet, denke ich, den Menfchen::
geift, wie derfelbe fich in dem gefamten Leben der Men^s
fchen entwickelt und offenbart. ^^ Und der Gefamtgeift
aller Völker ift die Menfchheit.
G. Es ift mit den Völkern, wie mit den Menfchen.
Die Völker beftehen ja aus Menfchen. Auch fie treten
ins Leben, wie die Menfchen, treiben's, etwas länger, in
gleich wunderlicher Weife, und fterben gleichfalls ent^*
weder eines gewaltfamen Todes, oder eines Todes vor
Alter und Gebrechlichkeit. Die Gefamtnot und die Qt^
famtplage der Menfchen ift eben die Not und die Plage
der Völker.
L. Aber wie Menfchen fpäteren Menfchen, fo laffen
Völker fpäteren Völkern etwas zurück, das nicht mit ihnen
ftirbt.
G. Sie laffen etwas zurück? Freilich. Mephifto^
pheles würde vielleicht in feiner Weife fagen:
Was Völker fterbend hinterlaffen,
Das ift ein bleicher Schattenfchlag;
Du fiehft ihn wohl; ihn zu erfaffen,
Läufft du vergeblich Nacht und Tag.
I 28*
436 H. Luden. [874
Und vielleicht fetzte er gutmütig warnend hinzu, der
Schalk:
Wer immerdar nach Schatten greift,
Kann fiets nur leere Luft erlangen;
Wer Schatten ftets auf Schatten häuft,
Sieht endlich lieh von düfirer Nacht umfangen.
L. Der Schatten, den ein Volk wirft, es mag blühen
oder zugrunde gehen, fällt zurück, nicht vorwärts; er fällt
auf die früheren Völker und nicht auf uns, die fpäteren
Enkel, oder wir müßten uns freiwillig und einfältig zu:^
gleich hineinfiellen. Was uns ein Volk hinterläßt, wenn
es nicht überhaupt ohne Nachlaß verfcheidet, ift der Geift
feines Lebens. Wir muffen uns nur bemühen, die Erb^
fchaft gehörig zu würdigen und zu benutzen, und uns
nicht mit dem Inventario begnügen. Wir muffen die
Gefchichte des Volkes ftudieren, und was fie zeigt, ver?
wenden. Denn die Gefchichte eines Volkes ift das Leben
des Volkes.
G. Die Gefchichte eines Volkes, das Leben des
Volkes? Das ift kühnl Wie wenig enthält auch die aus^?
führlichfte Gefchichte, gegen das Leben eines Volkes ge?
halten? Und von dem Wenigen, wie weniges ift wahr?
Und von dem Wahren, ift irgend etwas über allen Zwei:*
fei hinaus? Bleibt nicht vielmehr alles ungewiß, das
Größte, wie das Geringfte? Daher fcheint doch das Wort
von Fauft feftzuftehen:
Die Zeiten der Vergangenheit
Sind uns ein Buch von fieben Siegeln?
L. Gewiß, Ew. Exzellenz, fo weit hat der Dichter
vollkommen recht; er würde aber unrecht gehabt haben,
wenn er hinzugefetzt hätte, daß auch nur eins diefer
fieben Siegel unlösbar wäre.
G. Lösbar find fie vielleicht; es fehlt aber das In:^
ftrument, fie zu fprengen.
L. Ich möchte doch glauben, daß diefes Inftrument
nicht fehle. Wir vermögen fogar an jedes gefchichtliche
Werk, an jede Überlieferung einen dreifachen Liebel an:^
zulegen: die Kenntnis der Zeit, die jener Zeit voraus^
gegangen ift, von welcher die Überlieferung berichtet, die
Kenntnis der Zeit, die jener Zeit nachfolgte und gleich;^
fam ein Produkt derfelben gewefen ; und endlich dieWahr;^
874] Jena. 1806. 437
heit, die jede Überlieferung teils durch ihr bloßes Da?
fein, teils durch ihre Eigentümlichkeiten der Anficht, der
Auffaffung, der Darftellung, in fich trägt. Der Stütz::
punkt für jeden diefer Hebel ift die menfchliche Natur,
das Gewicht der eigene Geift des Forfchers.
G. Ihre Ausdrücke erinnern mich daran, daß Sie
vorhin fagten, Sie wären von Thibaut für die Mathematik
gewonnen worden. Haben Sie fich mit diefer Wiffen::
fchaft viel befchäftigt?
L, Einige Jahre hindurch nach Zeit und Umfiänden
ziemlich viel. Ich habe fogar felbft ein mathematifches
Buch gefchrieben, das ich bald, wie einen verlorenen Sohn,
in die Welt hineinlaufen zu laffen gedenke.
G. Um fo mehr wundert mich, daß Sie diefe erfte
aller Wiffenfchaften, in welcher alles Gewißheit und Wahrst
heit ift, verlaffen haben, um fich auf der Bahn der Ge^^
fchichte zu verfuchen, die bei jedem Schritte fchwankt,
und in einer Arbeit zu verharren, in welcher Sie, felbft
mit drei Hebeln, nichts zutage fördern werden, das Ihnen
nicht ftreitig gemacht werden könnte. Gewiß hat Jo?
hannes Müller Sie zu diefer Veränderung beftimmt.
L. Johannes Müller hat allerdings einen großen Ein?
fluß auf mich gehabt. Er hat mich fchneller zum Ent?
fchluffe gebracht. Aber auch ohne ihn würde ich mich
für die Gefchichte entfchieden haben. ^ Auch haben
meine Verhältniffe mir nicht verftattet, mich z. B. durch
die Beobachtung der Wunderwerke des Himmels zu er?
götzen oder zu erbauen, oder nur auf der Erde mich einer
bedeutenden Anwendung meiner theoretifchen Kenntniffe
zu erfreuen; und bei dem beftändigen Verkehren mit
Zahlen, Buchftaben und Figuren ift mir, ich muß es ge?
ftehen, begegnet, was Mephiftopheles dem Schüler bei
feiner Gottähnlichkeit weisfagt: es ift mir bei aller Wahr?
heit und Gewißheit recht herzlich bange geworden.
G. Gibt denn Ihnen die Gefchichte, bei aller Un?
gewißheit, mehr Befriedigung, als die Wahrheit der Mathe?
matik?
L. Freilich! Die Gefchichte ift gleich befriedigend
für den Geift und das Herz, für den Verftand und das
Gemüt, und zugleich regt fie die Phantafie allgewaltig
auf und treibt, wie zum Denken, fo zum Dichten. Auch
wüßte ich nicht, warum eine gefchichtlicheWahrheit weniger
wahr fein follte, als eine mathematifche.
438 H. Luden. [874
G. Gewiß! nur kommt es darauf an, die Wahrheit
herauszubringen. Könnte man die gefchichthche Wahr^
heit demonfirieren, wie die mathematifche, fo wäre aller
Unterfchied verfchwunden; fo lange man das nicht kann,
fo lange wird wohl ein Unterfchied bleiben, nicht zwifchen
dem, was wirklich wahr ift, fondern zwifchen dem, was
hier als wahr demonfiriert, dort als wahr angenommen wird.
L. Was wirklich Gefchichte ift, das ift auch wirk^
lieh wahr.
G. Aber nicht alles ift wirklich gefchehen, was uns
als Gefchichte dargeboten wird, und was wirklich ge?
fchehen, das ift nicht fo gefchehen, wie es dargeboten
wird, und was fo gefchehen ift, das ift nur ein Geringes
von dem, was überhaupt gefchehen ift. — Sie wiffen ohne
Zweifel, warum Sir Walter Raleigh feine Gefchichte nicht
fortgefetzt, fondern das Manuf kript ins Feuer geworfen hat?
L. O, ja, Ew. Exzellenz. Er tat es, wie die Anek:^
dote fagt —
G. Er fagt es felbft.
L. Das hab' ich nicht gewußt; denn ich muß be:;
kennen, daß ich nichts von Sir Walter gelefen habe. Die::
fer alfo warf die Handfchrift ins Feuer; weil er Augen^^
zeuge eines Vorganges gewefen war, den andere Augen^
zeugen, abweichend voneinander, auch ganz anders er^^
zählten, als er denfelben felbft wahrgenommen hatte.
G. Das ift uns anderen wohl auch fchon ebenfo gtf
gangen, und es wird in früheren Tagen nicht anders ge^^
wesen fein.
L. Mich wundert nur, daß Sir Walter eine befondere
Erfahrung nötig gehabt hat, um die Entdeckung zu machen,
daß verfchiedene Menfchen jeden Gegenftand verfchieden
auffaffen. Schon das alte Sprichwort: Duo, quum faci^^
unt idem, welches doch gewiß ebenfowohl vom Anfchauen
und Erzählen, als vom Handeln gilt, hätte ihm ja die
große Wahrheit lehren können, und das Lefen mehrer
Gefchichtfchreiber, welche denfelben Gegenftand darftel^s
len, hätte diefelbe beftätigen mögen. Alfo, meine ich,
hätte er fein Werk niemals anfangen oder hätte es auch
fortfetzen follen.
G. Sir Walter wußte gewiß längft, was wir alle
willen; er war aber in dem alten Schlendrian fortgegangen.
Jetzt nun, als er den Vorfall vor feiner Wohnung mit
eigenen Augen angefehen und alsdann die verfchiedenen.
874] Jena. 1806. 439
abweichenden unwahren Erzählungen vernahm, jetzt trat
ihm plötzUch der Gedanke, daß es keine Wahrheit in
der Gefchichte gebe, in die Seele, und fogleich faßte er
in feinem Unmut den Entfchluß, nicht ferner mitzuwir^
ken zur Erhaltung und Verbreitung des Truges, nicht
ferner feinen Zeitgenoffen von der Welt der Vergangen:!
heit ein falfches, ein lügenhaftes Bild vorzuhalten.
L. Er muß aber doch, wie mir fcheint, eine wundere
liehe Vorftellung von der Wahrheit der Gefchichte ge^
habt haben. Denn es verfteht fich ja von felbfi, daß der
Hiftoriker von den Begebenheiten und Ereigniffen früherer
Zeiten nichts anderes wiffen kann, als was uns überliefert
worden ift. Wenn er diefes redlich erforfcht und ehrlich
wiedergibt, fo, denk' ich, ift er alles Truges frei.
G. Aber der Trug bleibt. Er ift nicht Urheber der
Lüge, aber der Verbreiter; nicht der Dieb, aber der Hehs:
1er. Die Lüge fällt nur auf Eure fogenannten Quellen?
fchriftfteller zurück.
L. Wenn diefe Schriftfteller ehrlich und redlich aufp
gezeichnet haben, was fie wahrnahmen oder was zu ihrer
Kenntnis kam, fo find fie ebenfo frei von Lug und Trug.
Sie konnten nicht mehr geben, als fie hatten.
G. Die Lüge bleibt immer; fie ift nur abermals
zurückgeworfen, und zurückgeworfen auf die Sache felbft;
und wir bekommen ftets ein unwahres, ein verzerrtes, ein
fchiefes und falfches Bild von der früheren Welt. Und
beffer wäre doch wohl, fich gar nicht um die Vergangen::
heit zu kümmern, als falfche, alfo unnütze und verwirr
rendeVorftellungen von derfelben mit uns herumzutragen.
Dadurch werden wir nur verführt, auch die Welt, in
welcher wir leben, falfch aufzufaffen und verkehrt in ihr
und auf fie zu wirken.
L. Das wäre, wenn es fo wäre, gewiß fehr fchlimm,
aber es würde auch zu dem Lofe der Menfchen gehören,
und wir würden genötigt fein, es zu tragen. Aber fo ift
es nicht. Die Abweichungen in den Erzählungen find
keineswegs fofort als falfche Angaben zu bezeichnen; fie
entftehen vielmehr meiftens daraus, daß der eine etwas
anderes von dem Vorgange aufgefaßt hat, als der andere.
^ Die verfchiedenen Angaben über die übrigen Erfchei::
nungen, unter welchen und in welchen jene feftftehenden
Tatfachen ftattfanden, hat der Hiftoriker zuerft kritifch
auf ihren wahren Wert zurückzuführen ; er hat fie unter?
I
440 H. Luden. [874
einander und mit den Tatfachen zu vergleichen; er hat
fie, nach feinen Kenntniffen von der Lage und der Natur
der Länder, von der Stellung der Völker zueinander, von
der früheren und fpäteren Gefchichte, von dem inneren
Zuftande der Staaten, von den Charakteren und den Ge^
finnungen der handelnden Menfchen zu prüfen, und als^
dann wird die Ungewißheit verfchwinden, und dasjenige
wird fich als die Wahrheit herausftellen , was er als gQ^
eignet zu Nerven, Fafern, Muskeln, Mark und Haut für
jenes Gerippe erkennt, um dasfelbe mit fchaffendem Geift
und künftlerifcher Hand als einen lebendigen Leib hinzu^
ftellen.
G. Das wird freilich eine große Operation fein;
aber was der Hiftoriker nach folcher Plage für Wahrheit
hält, ift immer nur für ihn, ift nur fubjektive Wahrheit;
unbeftreitbare, objektive Wahrheit ift es nicht.
L. Fichte beantwortete die Frage des Pilatus: was
ift Wahrheit? — einmal mit folgenden Worten: Wahr?
heit ift, was notwendig fo gedacht werden muß, wie es
gedacht ift, was fchlechthin nicht anders gedacht werden
kann.
G. Nämlich von Fichte oder von mir. Alfo hat
ein jeder feine eigene Wahrheit. Die mathematifche Wahr?
heit aber ift für alle diefelbe.
L. Fichte erläuterte feinen Satz mit mathematifchen
Beifpielen. Zwei zweimal gefetzt fei vier, weil es un?
möglich fei, die Sache anders zu denken, fobald man nur
wiffe, was zwei und was vier. Er habe, fagte er, das
Lachen nicht laffen können, als ihm zum erften Male de?
monftriert worden fei, daß vier Einheiten nicht mehr ge?
trennt, fondern vereint gedacht, eben vier feien: denn
das, habe er gemeint, verftehe fich ja von felbft und könne
gar nicht anders gedacht werden. Und fo würde alles,
was nicht anders gedacht werden könne, notwendig all?
gemein als Wahrheit erkannt werden, fobald es nur all?
gemein verftanden würde.
G. Da eben liegt es. Der Unterfchied ift, daß die
Mathematik jeden Menfchen zwingen kann, anzuerkennen,
daß alle rechte Winkel gleich find; daß Sie hingegen in
hiftorifchen Dingen mich niemals zwingen können, Ihrer
Meinung zu fein.
L. Nein, aber ich glaube doch, daß ich jeden von
der Wahrheit zu überzeugen imftande fein würde, der
874] Jena. 1806. 441
nicht etwa entfchloffen wäre, (ich nicht überzeugen zu
laffen. Und das fcheint mir ein Vorzug. Der Mathes^
matiker zwingt die Menfchen, die Wahrheit feiner Sätze
anzunehmen; er unterwirft die Geifter einem gewiffen
FataHsmus, bei welchem keine Freiheit der EntfchUeßung
mögUch ift. Der Hiftoriker läßt die Geifter frei; er wen^
det fich an den ganzen Menfchen, an Verftand, Herz
und Gemüt, und will nur die freie Überzeugung gewinnen.
G. Man braucht wahrlich nicht den Widerfpruch zu
feinem Grundfatze gemacht zu haben, um den Gang der
Dinge anders zu denken, als fie uns überliefert oder von
irgendeinem Hiftoriker dargeftellt worden find oder dar?
geftellt werden können. Und fo lange diefes der Fall
ift, fo lange wird es verftattet fein, die Gefchichte des
Irrtums zu zeihen, und ihre Überlieferungen als falfch
anzufehen.
L. Es leidet gar keinen Zweifel, daß auch der ge^
lehrtefte, redlichfte, fcharffinnigfte und geiftreichfte Hifto^^
riker in Irrtümer verfallen kann, ja daß er in Irrtümer
verfallen muß, weil auch er feinen Teil von dem allges:
meinen Lofe der Menfchen zu tragen hat. ^ So will ich
auch in der Gefchichtfchreibung nicht die nackte, tote,
aber treue Wirklichkeit, fondern eine lebensvolle, färben^
reiche Welt, welche die unzweifelhaften Tatfachen unver?
kürzt und unentftellt darbietet, aber mit poetifchem Geifi
aufgefaßt und mit künftlerifcher Hand ausgearbeitet.
G. Sie machen alfo den Hiftoriker zum Dichter.
L. Da ich felbft noch nichts in der Gefchichte ge^
leiftet habe, Ew. Exzellenz, fo darf ich ja wohl meine
Meinung ausfprechen; denn ich rede nicht pro domo mea.
Ich glaube wirklich, daß Gefchichte nicht würdig ges:
fchrieben werden könne, ohne eine wahre noifiGi^g, und
daß niemand ein Hiftoriker fein könne im fchönften Sinne
des Wortes, dem die fchöpferifche oder dichterifche Kraft
fehlt. Denn er muß ja die Welt der Vergangenheit vor
Augen haben, in welcher die Ereigniffe ftattfanden, die
er darftellen will, und die er nur in der Anfchauung
diefer Welt darftellen und in ihrer ganzen und echten
Bedeutung darfteilen kann. Diefe Welt aber wird ihm
nicht zur Anfchauung dargeboten, fondern er muß fie
fchaffen, um fie anfchauen zu können.
G. Wenn man auch diefes zugäbe, fo würde doch
ein großer Unterfchied zwifchen dem Dichter und dem
I
442 H. Luden. [874
Hiftoriker bleiben. Der Dichter fchafft feine Welt frei,
nach feiner eigenen Idee, und darum kann er fie volles
kommen und vollendet hinftellen; der Hiftoriker ift ge^
bunden; Denn er muß feine Welt fo aufbauen, daß die
fämtlichen Bruchfiücke hineinpaffen, welche die Gefchichte
auf uns gebracht hat. Deswegen wird er niemals ein
vollkommenes Werk liefern können, fondern immer wird
die Mühe des Suchens, des Sammeins, des Flickens und
Leimens fichtbar bleiben.
L. Um fo größer ift die Aufgabe des Hiftorikers,
um fo fchwieriger feine Arbeit, um fo mehr verdient ein
gelungenes gefchichtliches Werk Dank, Ehre und Preis,
ein weniger gelungenes Nachficht und Schonung. Auch
darf nicht überfehen werden, daß der Dichter nur feine
eigene Idee, fo tief und groß, als die Kraft feines Geiftes
fie zu faffen vermag, darzuftellen fucht, der Hiftoriker
aber die Idee Gottes, wie fie fich im Leben der Menfchen
offenbart hat.
G. Am Ende fteht Ihnen der Hiftoriker über dem
Dichter.
L. Ja nicht, Ew. Exzellenz. Ich kann mich über^s
haupt mit der Stufenleiter, auf welche man die Geifter
zu ftellen pflegt, nicht recht vertragen, und möchte glauben,
daß die Bahnen des Geiftes nicht untereinander gebaut
find, fondern nebeneinander fortlaufen. Jedenfalls glaube
ich, daß derjenige, der Tüchtiges in der Gefchichte leiftet,
niemandem feine Stelle zu beneiden brauche.
G. Wenn ich nun aber aus Ihren Bemerkungen über
gefchichtliche Forfchung und Gefchichtfchreibung das Re:;
fultat ziehe, fo fcheint doch, mit Schillers Worten, der
langen Rede kurzer Sinn zu fein, daß Fauft recht habe:
Was man den Geift der Zeiten heißt.
Das ift im Grund der Herren eigner Geift,
In dem die Zeiten fich befpiegeln.
L. Mit diefem klaffifchen Spruche bin ich vollkommen
einverftanden. Wenn uns aber die Herren Geift geben
und wäre es auch der eigene, und wenn fie uns in diefem
Geifte das Spiegelbild der Zeiten zeigen, fo können wir,
denke ich, einigermaßen zufrieden fein.
G. Aber nun doch noch eine Frage. Was wollen
Sie denn zuletzt mit Ihrer Gefchichte, mit allen diefen
874] Jena. 1806. 443
hiftorifchen Wahrheiten, Irrtümern, Dichtungen? Welches
ift das endhcheZiel Ihrer Studien und Ihrer Beftrebungen?
L. Das ift eine große Frage, Ew. Exzellenz, die eine
weitläufige Antwort notwendig macht. In der Kürze
wüßte ich fie in der Tat nicht beffer zu beantworten als
mit Faufis Worten:
— Was der ganzen Menfchheit zugeteilt ift,
Will ich in meinem innern Selbft erkennen.
G. Genießen, wollen Sie fagen.
L, Ew. Exzellenz haltens zu Gnaden; ich möchte
doch bei dem Erkennen bleiben, und mich mit dem Ge^s
nuffe begnügen, den etwa das Erkennen abwirft. Das
Erkannte aber möchte ich alsdann durch Lehre und Schrift
mitteilen. Übrigens darf ich wohl nicht hinzufügen, daß
ich natürlich nur von meinem Wunfeh und Willen ge^
fprochen habe; das Vollbringen liegt nur zum kleinften
Teil in des Menfchen Hand. Aber in magnis voluisse
sat est.
G. Ja, ja. Wir haben nunmehr Stoff zu vielen
künftigen Unterhaltungen. Aber es ift fchon weit am
Tage; wir müffen's diesmal unterbrechen.
L. Indem ich nun meine Entlaffung zu nehmen ge:=
dachte, fagte ich ungefähr folgende Worte : Ich kann nicht
ausfprechen, mit welchen Gefühlen ich von Ew. Exzellenz
fcheide. Der (geftrige) Abend hatte mir die Bruft mit
der heiterften Freude angefüllt, und mit diefer Freude
trat ich diefen Morgen bei Ihnen ein. Im Laufe des Ge^;
fpräches aber ift ein Schatten in diefe reine Heiterkeit ge^
fallen, dem ich nicht auszuweichen vermocht habe, und
der mich jetzt, da ich Ew. Exzellenz verlaffen foll, etwas
ftark zu inkommodieren anfängt.
G. Wiefo, Lieber? Was ift denn das?
L. Seit ich die Vokation nach Jena angenommen
hatte, hat mich der Gedanke begleitet, daß mir nun auch
das Glück befchieden fein möchte, nach welchem ich mich
fchon lange gefehnt hatte, das Glück, in die Nähe Ew.
Exzellenz zu kommen, Sie zu fehen, Sie zu fprechen.
Und doch vermochte ich die Erfüllung diefes Wunfehes
nicht ohne große Ängftlichkeit zu denken. Zu meiner
Sehnfucht mifchte fich, bei meiner Verehrung und Be?
wunderung des Fürften der Dichter, ich möchte fagen,
I
444 H. Luden. [874
eine heilige Scheu. Ich fürchtete, daß ich, wenn mir ein?
mal die Ehre zuteil werden möchte, Ew. Exzellenz vor^^
gefiellt zu werden, wie ein Beraufchter vor Ihnen er?
fcheinen möchte, unbehülflich, hölzern, verwirrt, tölpelhaft.
Der geftrige Abend hat mich nun über alle Verlegenheit
rafch und glückUch hinweggeriffen ; aber ich fürchte, er
hat mich zu weit hinweggeriffen; ich fürchte, daß ich
heute gefprochen habe, wie ich nicht hätte fprechen follen.
Ich bin aber in die Rednerei hineingekommen, ich weiß
felbft nicht wie. Ich habe wohl gefühlt, daß ich nicht
hätte hineinkommen follen; da ich aber einmal hinein?
gekommen war, fo vermochte ich mich nicht wieder hin?
auszufinden. Was ich Irriges gefagt haben mag, das
werden Ew. Exzellenz gewiß nicht beachtet haben; aber
ich bitte fo untertänig als herzlich, mir auch zu Gnaden
zu halten, was etwa Ungebührliches und Ungehöriges
vorgekommen ift.
G. Ei, lieber Herr Profeffor, feien Sie darüber ganz
ruhig. Wir haben unter vier Augen gefprochen, im Ernft
und im Scherz, und ich wüßte nicht, was wir, einer dem
andern, vorzuwerfen oder iibel zu nehmen hätten. Unfer
Gefpräch hat mich intereffiert und unterhalten, fonft würde
es wohl auch nicht fo lange gedauert haben. Ich habe
in Ihnen einen jungen Mann kennen gelernt, der klar
fehen will, der fich nicht durch hohle Worte verwirren
und nicht durch Blendwerke irre führen läßt. Sie fireben
eifrig nach Wahrheit, ohne der Poefie entfremdet zu fein;
felbft ihre täufchenden Gebilde mögen Sie wohl leiden.
Das ift löblich und gut. In Ihrem wiffenfchaftlichen
Treiben find Sie auch auf gutem, auf dem rechten Wege.
Fahren Sie fort, in der Gefchichte zu leben und kühn
in die vergangenen Zeiten zu fchauen, ungeftört von den
Wirrungen der Gegenwart. Forfchen Sie mit Anftrengung
aller Kräfte in den Jahrbüchern der Völker; teilen Sie
ehrlich und redlich mit, ohne alle Nebenabficht, was Sie
durch Ihre Forfchung als wahr erkannt zu haben glauben,
in Wort und Schrift; in Ihrer Darfteilung aber machen
Sie fich frei von jedem Vorbilde, und geben Sie nament?
lieh jede Hämmerung und Verrenkung auf, die an Jo?
hannes Müller, der felbft nur ein Nachahmer von Tacitus
ift, erinnern könnte; überhaupt frönen Sie nicht der Ge?
fchmacklofigkeit der Zeit und verachten Sie die Weisheit,
die in den f. g. literärifchen Blättern altklug verkündigt
875] Jena. 1806. 445
zu werden pflegt. Schreiben Sie vielmehr klar und ein^^
fach, ohne Scheu vor einem poetifchen Anflug, und ziehen
Sie eine bequeme Entwickelung der gefchraubten Kürze
vor, die man fchlagend zu nennen und hoch zu bewundern
pflegt. Sie werden fpäteren Gefchlechtern gefallen, wenn
Sie auch den Tadel Ihrer Zeitgenoffen zu erdulden haben
follten. Jedenfalls hoffe ich von Ihrer Anftellung in Jena
Gutes für Sie felbft und für die Univerfität. Und nun
(mir die Hand reichend) leben Sie recht wohl. Auf
baldiges Wiederfehenl
Ich mochte mich zwölf bis fechzehn Schritte entfernt
haben, als Goethe mir nachrief: Herr Profeffor Luden. —
Rafch kehrte ich um, und fragte nach feinen Befehlen.
Ich habe Sie, fagte er, gebeten, mich in Weimar zu be^s
fuchen; habe aber vergeffen hinzuzfetzen : kehren Sie ja
nicht in einem Wirtshaufe ein, fondern fahren Sie bei mir
vor. Es foll immer ein Kuvert für Sie bereit gehalten
werden, und fo oft Sie über Nacht in Weimar bleiben
können und wollen, follen Sie auch ein Bette finden. Und
fo noch einmal: leben Sie recht wohl 1
[875.] Auguft 20. H. Luden.
Auf diefer Fahrt nach Dornburg nun fragte Hufeland
mich, wie ich denn geftern mit Goethe ausgekommen fei?
Er habe die Exzellenz geftern abend noch gefehen und
von ihr erfahren, daß ich gar lange bei derfelben gewefen
fei. Goethe habe gefagt, er habe ein wahres Examen mit
mir angeftellt, und diefes fei in eine Diskuffion, ja in eine
Disputation übergegangen; wir hätten uns fo in dem Ge*
fpräch verwickelt, daß das Netz zweimal gewaltfam hätte
durchbrochen werden muffen. Auf meine Frage, ob denn
Goethe nicht die Gegenftände unferes Gefprächs genannt
und kein Urteil über meine Anflehten und Weifen hin^j
zugefügt habe, erhielt ich eine verneinende Antwort. Es
fei dazu auch keine Zeit und keine Gelegenheit gewefen.
Goethe habe nur gefagt, ich fei nicht übel beftanden;
er hoffe Gutes von meiner Anftellung für die Univerfität,
und glaube, daß es mir gelingen werde, das Studium der
Gefchichte emporzubringen. Hierauf erzählte ich Hufe^
landen den Inhalt, den Gang und das Ende meiner Ge^s
fpräche mit Goethe.
446 Riemer. [876
[876.] Auguft 31. Riemer.
Goethe: Das Befie in den Briefen des Bonifacius find
die Stellen aus der Bibel, weil es ewig nur Mofaik ift,
was die Leute machen, aber in dem Sinne gut.
Wir haben ja auch unfere Koteriefprache, und von
den Humanifien, welche römifch fchreiben, kann man das^^
felbe fagen.
[877.] Auguft 31. Riemer.
Goethe : Die beiden erften Akte der Minna von Barn;!
heim find fchön und gut, fie haben Handlung und Fort;:
fchritt, im dritten ftockt's. Man weiß nicht, woran es fich
accrochiert. Da erfcheint ein retardierender Auftritt zwi;:
fchen dem Wachmeifier und Franziska. Man fieht, Leffing
hat Luft an den Charakteren felbft gewonnen und fpielt
mit denen, malt fie zu einzelnen Szenen aus, die als folche
recht fchön find. Senfation des Stücks bei feiner erften
Erfcheinung. Im Teilheim die Anficht feiner Zeit und
Welt im Punkt der Ehre, in Minna Leffings Verftand.
[878.] September Ende. G. v. Reinbeck.
Bei dem Dichterfürften Goethe glaubte ich keiner
fremden Empfehlung zu bedürfen; denn er hatte mehrere
meiner Dramen auf die Bühne zu bringen gewürdigt und
hatte mir öfter durch Reifende nach Petersburg freunde
liehe, mich ehrende Grüße gefendet. ^^ fr nahm mich wie
einen Bekannten auf, erkundigte fich nach meinen Zwecken,
meinen Arbeiten und erzählte mir von der nicht ungünftigen
Aufnahme meiner Dramen und von feiner Abficht bei
der Aufführung meiner, nach Monsieur de Pourceaugnac
des Moliere bearbeiteten Poffe Herr von Hopfenkeim.
Er klagte darüber, daß das deutfche Publikum zu prüde
fei und nicht recht Spaß verftehe, wodurch der Bühne
ein Gebiet verfchloffen werde, das wenigfi:ens dem Ge;:
nuß größere Mannigfaltigkeit geben könnte, und, recht
behandelt, könne das Groteskkomifche gerade ein Vehikel
fein, fo manches zur Sprache zu bringen, was in zarterer
Behandlung einen zu ernfien Charakter gewinne. '^ Der
Komiker Becker war damals Regiffeur der weimarifchen
Bühne, und Goethe wies mich an diefen in Theateran;;
gelegenheiten; in Kunftangelegenheiten an feinen Freund
Meyer, '^ in Bibliotheksangelegenheiten an Vulpius. ^^
880j Weimar. 1806. 447
Goethe und Bertuch hatten keine befonders hohe
Meinung von KHngers Charakter und erzählten mir
manche x\nekdote aus feinem früheren Leben, die ihn
als einen Phantaften, befonders in der Sturm^; und Drang::
Periode, darfteilt, der bloß durch ein angenommenes faft
brutales Wefen habe Auffehen erregen wollen.
[879.J März/ September. Riemer.
Das Stück Elpenor war urfprünglich in der foge^
nannten poetifchen, das heißt rhythmifchen Profa, wie auch
die erfte Iphigenia, und zwar in fortlaufendem Kontext
gefchrieben; als aber Goethe die Ausgabe in Oktav be^:
forgte und mir das Manufkript zur Durchficht gab, be^^
wog ich ihn, den größtenteils fchon jambifch hinfchreiten^:
den Text vollends in Verfe abzuteilen. Er überließ je^
doch, da er faft kein Intereffe mehr daran hatte, die Arbeit
mir, der fie, als feine erfte der Art, noch furchtfam und
vielleicht zu ängftlich gewiffenhaft ausführte, in der Mei^^
nung, es fei fo wenig als möglich durch Zufätze oder
Weglaffung daran zu ändern; daher denn hie und da
Verfe mit zu viel oder zu wenig oder gar keinen Füßen
unterlaufen. Goethe war indes damit zufrieden, und fo
ward das Manufkript zum Druck abgefendet.
[880.] Oktober Anfang. Ein preußifcher Artillerieoffizier (Schmidt).
Goethe: nahm mich mit der früheren alten Ereund*
fchaft und Herzhchkeit auf, lud mich auch zu Tifche, und
wir plauderten viel von den im Feldzug von 1792 in
Frankreich und dann bei der Belagerung von Mainz ge^
meinfchaftlich beftandenen Abenteuern. Im übrigen fand ich
Goethe in einer fehr forgenvollen, gedrückten Stimmung,
wozu er als Minifter des Herzogtums Weimar freiUch
auch alle Urfache hatte. Er war ein zu klarer Kopf und
befaß eine zu gereifte Menfchenkenntnis, als daß er fich
die ungemein vielen Gebrechen und Schwächen aller Art,
die fich in unferem ganzen Heere und befonders in der
oberften Leitung zeigten, nur im allermindeften verhehlen
konnte. So hegte er denn nichts wie Angft und Be:;
forgnis vor dem Ausgang diefes Krieges und prophezeite
uns ein fchlimmes Ende, worin ich ihm als preußifcher
Offizier natürlich mit aller Entfchiedenheit zu widerfprechen
für meine Pflicht hielt, obgleich ich in meinem Innern
leider manche feiner Befürchtungen nur zu fehr teilte.
I
448 Schmidt. [881
Daß fich jetzt der Kriegsfchauplatz in das Gebiet des
Herzogtums Sachfen ^ Weimar hingezogen hatte, mußte
Goethen als Minifier dort fehr unangenehm fein; denn
nicht allein, daß er felbfi viel Plage und Arbeit dadurch
hatte, fo litt das Land ganz ungemein. Wenn auch die
Disziplin in unferem Heere bis jetzt noch fehr ftrenge
gehandhabt wurde, fo war es doch nicht zu vermeiden,
daß Unordnungen und Exzeffe in Menge vorkamen.
~ Alle diefe vielen Plagen und Scherereien der ver^;
fchiedenften Art ^^ mochten ebenfalls wohl viel mit dazu
beitragen, daß fein Unmut über diefen ganzen Krieg und
befonders auch die Art und Weife, wie folcher bisher
von uns geführt wurde, ein fo überaus heftiger war, daß
er ganz die Ruhe und Würde, die ihm fonft fiets in fo
hohem Grade innewohnte, darüber vergaß. Befonders
hart tadelte er auch, daß wir nicht die Feinde in der
Gegend füdwärts des Thüringer Waldes felbft angriffen,
ftatt, wie es jetzt den Anfchein hatte, uns nordwärts davon
von ihnen angreifen zu laffen. So glaube ich, daß der Ein?
fluß Goethes wirklich dabei mit im Spiel gewefen ifi, daß
der Herzog Karl Augufi von Sachfen? Weimar, der wieder
in aktive preußifche Dienfte getreten war, es durchzu?
fetzen vermochte, daß er mit einem auserlefenen Korps
von zehntaufend Mann Infanterie und Artillerie ^ über
den Thüringer Wald gefandt wurde, um dem Feind, den
wir damals noch immer zwifchen Koburg und Bamberg
vermuteten, in die Flanke zu fallen.
[881.] Oktober 8. A. Oehlenfchläger.
Ich fügte mich alfo dem Wunfche von Bröndfled
und Koes, um mich nicht von den lieben Landsleuten
zu trennen, und um Goethe noch einmal zu fehen. Als
wir nach Weimar kamen, trafen wir ihn im Schaufpiels^
häufe in feiner Loge. Nun feid Ihr, fagte er, wo Ihr
billig nicht fein folltet; weil Ihr aber hier feid, fo feid
willkommen. Diefen Abend und den nächften Mittag
brachte ich noch in der Annehmlichkeit des Friedens bei
ihm zu. Wir fanden es nicht ratfam, weiter zu reifen;
wir befchloffen in Weimar zu bleiben, um den Ausfall
des Kampfes abzuwarten und fahen ihn denn auch bald
in der Nähe.
885] Weimar - Bei Jena. 1806^ 449
[882.] Oktober Anfang. J. D. Falk.
Einige Zeit vor dem unglücklichen 14. Oktober, als
alle andern begeiftert waren und an nichts als an Kriegs^
lieder dachten, fagte Wieland eines Abends bei der Her«:
zogin Amalie : Warum fchweigt nur unfer Freund Goethe
fo ftill? — Da fagte Goethe: Ich habe auch ein Kriegs^
lied gemacht] — Man bat ihn fchön es zu lefen. Da
hub er an und las fein Lied: Ich habe meine Sach' auf
nichts geftelltl — Was ihm Wieland noch zwei Jahre
nachher übel nahm.
[883.] Oktober (11). Charlotte v. Stein.
Goethe fagte, die Franzofen hätten ja fchon längft
die Welt überwunden, es brauchte keinen Bonaparte. Die
Sprache, Kolonien von Refugies, Emigrierte, Kammerdiener,
Köche, Kaufleute ufw., alles dies hinge an ihrer Nation,
und wir wären verkauft und verraten.
[884.] Oktober 12. Johanna Schopenhauer.
Den 12. befuchte mich Bertuch, der mich fehr be^^
ruhigte; man glaubte beftimmt, die Franzofen zögen nach
Leipzig, alles könne gut werden, wir wären nicht in Ge::
fahr. Kurz darauf meldete man mir einen Unbekannten.
Ich trat ins Vorzimmer und fah einen hübfchen ernft?
haften Mann im fchwarzen Kleide, der fich tief mit vielem
Anftande bückte und mir fagte: Erlauben Sie mir, Ihnen
den Geheimen Rat Goethe vorzuftellen. Ich fah im Zim^
mer umher, wo der Goethe im Bildniffe wäre; denn nach
der fteifen Befchreibung, die man mir von ihm gemacht
hatte, konnte ich in diefem Manne ihn nicht erkennen.
Meine Freude und meine Beftürzung war gleichgroß, und
ich glaube, ich habe mich deshalb beffer benommen, als
wenn ich mich darauf vorbereitet hätte. Als ich mich
wieder befann, waren meine beiden Hände in den feinigen,
und wir auf dem Wege nach meinem Wohnzimmer. Er
lagte mir, er hätte fchon geftern kommen wollen; beruhigte
mich über die Zukunft und verfprach wiederzukommen.
[885.] Oktober 13. J. H. C. Koes.
Spaziergang mit Goethe und dem Major v. Hendrich
neben dem großen Lager. Der König fteht jetzt hier mit
95 000 Mann; die Großfürftin ift fort nach Altftädt, geftern
fchlugen die Sachfen bei Jena ein Lager auf. So weit
I 29
450 J. H. C. Koes. [886
wir über die Berge umher fehen konnten, ftanden Zelte;
die Soldaten kochend Kohl und Kartoffeln, andre Holz
umhauend aus den Alleen, andre Ochfen oder Kühe fchlach::
tend, die nachher ftückweife auf Pfählen ins Lager ge^
tragen wurden. Marketenderinnen mit Branntwein und
Kaffee, Feldwachen, Hauptwache, Kavallerieregimenter de^
filierten vorbei, ringsherum ftieg Rauch aus dem Lager
herauf. Es war ein fchöner Herbfitag. Goethe ifi ein
anfehnlicher Mann, herrliche Augen; doch fchien fein
Gemüt niedergedrückt durch die kritifchen Umftände.
Gefiern zerfchlugen ihm die Soldaten die Fenfter und
Möbel in feinem Gartenhaufe.
[886.] Oktober 14. Riemer.
Ich eilte alfo, da franzößfche Soldaten in das Haus ein=
gedrungen waren, zu Goethe hinauf, erzählte mit kurzen
Worten den Hergang, und wie ich mir nicht weiter zu
helfen wüßte und ihn bäte herunterzukommen, fich den
Leuten zu zeigen und fie mit mehr Gewicht abzuweifen,
als ich haben könne.
Er tat es auch, ohne betroffen zu fein oder zu fchei:=
nen. In Erinnerung ähnlicher Auftritte der deutfchen
Krieger in der Champagne mochte er wohl denken, daß
jetzt die Reihe an die Deutfchen komme, und wie er fich
in alles zu finden und zu fügen wußte, fo auch in diefes.
Obgleich fchon ausgekleidet und nur im weiten Nachts
rock — der fonft fcherzhaft Prophetenmantel von ihm
genannt wurde — fchritt er die Treppe herab auf fie zu,
fragte was fie von ihm wollten, und ob fie nicht alles
erhalten, was fie billigerweife verlangen könnten, da das
Haus bereits Einquartierung habe und noch einen Mar;:
fchall mit Begleitung erwarte. Seine würdige, Ehrfurcht
gebietende Gefi:alt, feine geiftvolle Miene fchien auch ihnen
Refpekt einzuflößen, {it waren auf einmal wieder die höf?
liehen Franzofen, fchenkten ein Glas ein und erfuchten
ihn, mit ihnen anzufi:oßen. Es gefchah auf eine Weife,
die jeder Unbefangene den Umfi:änden gemäß und feiner
nicht unwürdig erkannt haben würde. Nach einigen gtf
wechfelten Reden entfernte er fich wieder.
[887.] Oktober 14./16. Johanna Schopenhauer.
Am befi:en kamen diejenigen weg, die, wie wir, Mut
genug hatten, keine Angfi zu zeigen, der Sprache und
892] Weimar. 1806. 451
der franzöfifchen Sitte mächtig waren, darunter gehörte
Goethe, der die ganze Nacht in feinem Haufe die Rolle
fpielen mußte, die bei mir Sophie und Conta fpielten. ^^
Ich fchickte den Verwundeten Leinwand zum Verbins^
den, Wein, Tee ufw. ^^
Goethe und andre haben davon gehört, und find
meinem Beifpiele gefolgt. ^^
Noch heute fagte mir Goethe, daß man in feinem
Haufe überall zerftreutes Pulver und gefüllte Patronen
gefunden hat. In einem Haufe ihm gegenüber ift form?:
lieh Feuer angelegt und nur durch Zufall entdeckt und
ausgelöfcht worden.
Oktober. H. Voß.
Goethe war mir in den traurigen Tagen ein Gegen::
ftand des innigften Mitleidens. Ich habe ihn Tränen ver?
gießen fehen. Wer, rief er aus, nimmt mir Haus und
Hof ab, damit ich in die Ferne gehen kann.
Oktober 18. H. Voß.
Mir war es rührend, wie Goethe am zweiten [?] Abend
nach der Schlacht, als wir um ihn verfammelt waren, der
Vulpius für ihre Treue in diefen unruhigen Tagen dankte ^
und mit den Worten fchloß: So Gott will, find wir
morgen mittag Mann und Frau.
[890.] Oktober 19. Johanna Schopenhauer.
Goethe fagte mir heute, ich wäre durch die Feuer^s
taufe zur Weimaranerin geworden. ^^ Er fagte mir, jetzt,
da der Winter trüber als fonft heranrücke, muffen wir
auch zufammenrücken , um einander die trüben Tage
wechfelfeitig zu erheitern.
[891.] Oktober 20. J. A. Ludecus.
Seine täglichen Hauss: und Gefchäftsfreunde waren
nicht wenig überrafcht als er ihnen feine Gattin mit den
Worten vorftellte: Sie ift immer meine Frau gewefenl ^'
[892.] Oktober (20.) Johanna Schopenhauer.
Die Stadt ift förmlich der Plünderung preisgegeben.
~ Meyers Schwiegervater Herr von Koppenfels ift ein alter
kränklicher, hypochondrifcher Mann, der eine Kaffe zu ^
I 29*
452 Johanna Schopenhauer. [893
verwalten hat und ängftlich Ordnung liebt. Goethe fagte
mir nachher, er hätte nie ein größeres Bild des Jammers
gefehen, als diefen Mann im leeren Zimmer, rund um
ihn alle Papiere zerriffen und zerftreut. Er felbft faß auf
der Erde kalt und wie verfteinert. Goethe fagte: Er fah
aus, wie König Lear, nur daß Lear toll war und hier
war die Welt toll.
[893.] Oktober (20). G. v. Reinbeck.
Jetzt zog man auch Erkundigungen ein, wie's den
Bekannten und Freunden ergangen fei, und man hörte
mit Überrafchung die Kunde: Geheimrat Goethe habe
fich mit feiner Hausverwalterin, Demoifelle Vulpius, kirchs:
lieh trauen laffen. — Die Dame war in jeder Hinficht
ausgezeichnet praktifcher Natur. Sie hatte, überzeugt,
daß der Geheimrat, wie fie ihn nannte, wo's aufs Han?
dein ankam, gänzlich ratlos fei, und daß fie für den Riß
fieheri muffe, fobald der Ausfchlag zweifelhaft wurde und
eigentlich für Freund und Feind zu forgen war, fich mit
reichlichen Vorräten verfehen und unten im Haufe Tifche
mit Speife und Getränke aufftellen laffen, daß jeder Her?
zutretende gleich Befriedigung fände und der Geheimrat
oben in feinen Zimmern nicht beläftigt würde. Sie felbft
war dabei gefchäftig. Dies war für den erfien Anlauf
fehr verftändig berechnet, und bald erhielten ^ Goethe und
Wieland Sauvegarden, und Marfchall Auger eau nahm
bei Goethe Quartier. Der Marfchall fah die Gefchäftig?
keit der Demoifelle Vulpius und ihre verftändigen An?
Ordnungen, Goethe ftellte ihm feinen Sohn vor, — und
es war fehr' natürlich, daß er die unten gefchäftige Haus?
frau für Goethes Gattin hielt und überrafcht war zu hören,
daß fie zwar die Mutter des einzigen Sohnes Goethes,
aber nicht feine Gattin fei. — Er überredete Goethe, fie
als folche anzuerkennen und dazu diefen Augenblick zu'
benutzen, wo die Aufmerkfamkeit des Publikums geteilt
fei und nicht läftig fallen werde, und als es gefchehen
war, war's gefchehen.
[894.] Oktober. A. Oehlenfchläger.
Goethe machte während der Schlacht mit Fräulein
Vulpius Hochzeit «^ ohne daß es die geringfi:e Verände?
rung in Etwas machte, außer daß fie nun Frau Geheim?
rätin von Goethe hieß. ^ Für Poefie hatte fie durchaus
897] Weimar. 1806. 453
keinen Sinn, und Goethe fagte einmal felbft im Scherz:
Es ift doch wunderHch, die Kleine kann gar kein Gedicht
verftehen. «^ Die Neuvermählte erwies ihrem Manne ftets
Ehrerbietung und nannte ihn immer: Herr Geheimrat.
Das taten wir andern auch. Als ich ihn im Anfange
Exzellenz nannte, fagte er gutmütig: Laffen Sie es beim
Geheimrat bewenden. Und diefer Titel klingt in Deutfeh::
land fehr bürgerlich. Frau Goethe war von einer rafchen,
beweglichen Natur und hielt nicht viel von dem fiillen
Leben, das ihr Mann führte. Der Herr Geheimrat und
ich, foll fie einmal gefagt haben, wir fitzen immer und
fehen einander an. Das wird am Ende langweilig.
[895.] (November.) Caroline v. Wolzogen.
An diefem Fenfter der früheren Wohnung faß ich
mit Goethe, als er mir die Verlegenheit entdeckte, daß
er uns fo feiten in feinem Haufe fehe, da wir doch feine
ältelten und liebften Freunde wären. Der Wunfeh, feine
Frau in die gute Sozietät einzuführen, lag offen; ich fagte,
wir würden fie gewiß freundlich aufnehmen als feine Frau,
wenn fie uns befuchte. Es ift ein kleines närrifches Ding,
fagte er, das nicht fchreiben, knapp lefen kann; aber Sie
denken doch, daß, wenn man fo lange mit uns umgeht,
etwas übergehen muß.
[896.] November 2. Riemer.
Goethe: Es ift ein gräuliches Verfahren, welches die
Mineralogen bei der Beftimmung der Farben beobachten.
Nicht nur mengen fie apparente Farben, chemifche, und
unter diefen durchfichtige und Erdfarben untereinander;
fondern auch die phyfifchen mifchen fie mit chemifchen
wie auf der Palette durcheinander : Morgenrot mit gelblich
braun u. dgl.
[897.J November. Riemer.
G. : Wenn Paulus fagt: gehorchet der Obrig?
keit, denn fie ift Gottes Ordnung, fo fpricht dies
eine ungeheuere Kultur aus, die wohl auf keinem frühern
Wege als dem chrifthchen erreicht werden konnte: eine
Vorfchrift, die, wenn fie alle Überwundenen jetzt be^^
obachteten, diefe von allem eigenmächtigen und unbilligen,
zu ihrem eigenen Verderben ausfchlagenden Verfahren
abhalten würde.
I
454 Riemer. [898
[898.] November 6. Riemer.
Angefangen an dem Schema und der Einleitung zur
Morphologie, des Abends um 8 Uhr.
Goethe: Das G all fche Syftem kann dadurch zu einer
Erläuterung, Begründung und Zurechtfiellung gelangen.
Es ifi ein fonderbarer Einwurf, den man gegen das^
felbe davon hergenommen hat, daß es eine partielle Er^s
klärungsweife fei von Erfcheinungen, die aus dem gefam?
ten organifchen Wefen ihre Erklärung fchöpfen. Als
wenn nicht alle Wiffenfchaft in ihrem Urfprunge partiell
und einfeitig fein müßte! Das Buchftabieren und Sylla^
bieren ifi noch nicht das Lefen, noch weniger Genuß und
Anwendung des Gelefenen; es führt doch aber dazu. Eine
Würdigung diefer erfi aufkeimenden Wiffenfchaft oder
diefer Art des Wiffens ifi noch viel zu früh.
[899.] November. Riemer.
Goethe: Wie die Schaltiere im nächfien Bezug auf
den Kalk fiehen, daß man fagen kann, fie feien organi^
fierter Kalk, fo kann man fagen, daß diejenigen Infekten,
welche auf färbenden Pflanzen leben und gleichfam leben^
dig den Farbeftoff derfelben darfiellen, als die Kokkus^;
arten, gleichfam die organifierten Pflanzen find. Stefi^ens
nannte gewiffe Käfer in bezug auf den Blumenftaub, den
fie der Blume zuführen, das fliegende Gehirn derfelben.
Mit demfelben Rechte einer witzigen Kombination, wenn
es weiter nichts wäre, kann man jene Infekten organi;;
fierten Farbefioff nennen. Lebendiger Farbeftoff, wie jeder
fagen würde und könnte, drückt das Nämliche aus, nur
verfteckter.
[900.] November 7. Riemer.
Goethe: Die Naturphilofophie konfiruiert zuerft aus
dem Lichte die Solidität und die Schwere. Den, die
Schwere konftituierenden Kern des Erdkörpers bilden die
Metalle. Demnach müßte man fagen: die Metalle feien
das folidierte Licht und Darfieller der Schwere; daher
auch ihr übriger Bezug zum Lichte teils durch ihren
Glanz, teils durch die Farbe, die fie in ihrem regulinifchen,
krifiallifchen und kalkhaften Zuftande bereits haben und
noch annehmen.
904] Weimar. 1806. 455
[901.] November 7. Riemer.
Goethe: Bücher werden jetzt nicht gefchrieben, um
gelefen zu werden, um fich daraus zu unterrichten und
zu belehren, fondern um rezenfiert zu werden, damit man
wieder darüber reden und meinen kann, fo ins Unend;:
Hche fort.
Seitdem man die Bücher rezenfiert, Ueft fie kein Menfch
außer dem Rezenfenten, und der auch fo fo. Es hat aber
jetzt auch fehen jemand etwas Neues, Eigenes Selbjftge*:
dachtes und Unterrichtendes, mit Liebe und Fleiß Aus*:
gearbeitetes zu fagen und mitzuteilen, und fo ift eins des
andern wert.
[902.] November 9. Chriftiane Kotzebue an Auguft v. Kotzebue.
Es wird Dich von Goethe freuen, daß er kurz nach
der Plünderung, wie Kraus begraben wurde, auf dem
Kirchhofe zu mir kam, mich fragte, wie es mir gegangen,
und wünfchte, daß ich in fein Haus gekommen wäre. Er
fei nicht ausgeplündert, weil er fich eine Sauvegarde, die
ihm zwar viel gekoftet, ausgebeten. Er habe bis auf den
Wein doch das Seinige behalten, und bedauerte mich fehr
freundfchaftlich über meinen Verluft.
[903.] November 10. Riemer.
Goethe: Qualis rex, talis grex paßt niemals mehr
als jetzt, und miles gregarius verfi:eht man jetzt, wovon
es ausgeht.
Es bemerktejemand fehr gut, daß Napoleon in feinem
Zimmer wie ein Löwe oder Tiger in feinem Käfig unruhig
auf und ab geht und fich dreht.
[904.] November 10. Johanna Schopenhauer.
Die Gefellfchaft bei Goethe war klein, ich, Bertuchs,
Meyer, Knebel aus Jena, ^^ und feine Frau ^^ und einige
Fremde. Ich kann Goethe nicht genug fehen; alles an
ihm weicht fo vom Gewöhnlichen ab, und doch ift er
unendlich liebenswürdig. Diesmal habe ich ihn einmal
böfe gefehen. Sein Sohn, der im Äußeren viel vom Vater
hat, zerbrach mit großem Geräufch ein Glas; Goethe ers:
zählte eben etwas und erfchrak über den Lärm fo, daß
er auffchrie. Ärgerlich darüber, fah er den Auguft nur
einmal an, aber fo, daß ich mich wunderte, daß er nicht
I
456 Johanna Schopenhauer. [905
unter den Tifch fiel. Ein ausdrucksvolleres, mobileres
Geficht habe ich nie gefehen. Wenn er erzählt, ift er
immer die Perfon, von der er fpricht. Der Ton feiner
Stimme ift Mufik. Jetzt ifi: er alt, aber er muß fchön wie
ein Apoll gewefen fein. ^^ Goethe war in einem feltenen
Humor; eine Anekdote jagte die andere; es war ganz
prächtig.
[905.] November 18. Riemer.
Goethe: Der Freiheitsfinn und die Vaterlandsliebe,
die man aus den Alten zu fchöpfen meint, wird in den
meifien Leuten zur Fratze. Was dort aus dem ganzen
Zuftand der Nation, ihrer Jugend, ihrer Lage zu andern,
ihrer Kultur hervorging, wird bei uns eine ungefchickte
Nachahmung. Unfer Leben führt uns nicht zur Abfonde?
rung und Trennung von andern Völkern, vielmehr zu
dem größten Verkehr; unfere bürgerliche Exiftenz ift
nicht die der Alten; wir leben auf der einen Seite viel
freier, ungebundener und nicht fo einfeitig befchränkt
als die Alten, auf der andern ohne folche Anfprüche des
Staats an uns, daß wir eiferfüchtig auf feine Belohnung
zu fein Urfache und deswegen einen Patrizieradel zu
foutenieren hätten. Der ganze Gang unferer Kultur, der
chrifilichen Religion felbft führt uns zur Mitteilung, Gq^
meinmachung, Unterwürfigkeit und zu allen gefellfchaft^
liehen Tugenden, wo man nachgibt, gefällig ift, felbft mit
Aufopferung der Gefühle und Empfindungen, ja Rechte,
die man im rohen Naturzuftande haben kann. Sich den
Obern zu widerfetzen, einem Sieger ftörrig und widere
fpenftig zu begegnen, darum weil uns Griechifch und
Lateinifch im Leibe fteckt, er aber von diefen Dingen
wenig oder nichts verfteht, ift kindifch und abgefchmackt.
Das ift Profefforftolz, wie es Handwerksftolz, Bauernftolz
und dergleichen gibt, der feinen Inhaber ebenfo lächere
lieh macht, als er ihm fchadet.
[906.] November (19). Charlotte v. Stein an ihren Sohn Fritz.
Goethe läßt Dir Glück wünfchen zum neugebornen
Sohn, es fchien ihn zu freuen. Seine Befuche find mir
nicht wohltätig, ich kann nicht offnen gegen ihn fein,
manchmal ift er ganz wie verrückt und nicht allein mir
kommt er fo vor, fondern mehreren Menfchen.
910] Weimar. 1806. 457
[907.] November 20. Riemer.
Goethe: Der Streit, ob die männliche Schönheit in
ihrer Vollkommenheit, oder die weibliche in ihrer Art
höher ftehe, kann nur aus der größern oder geringern
Annäherung der männlichen oder der weiblichen Form
an die Idee gefchlichtet werden. Nun reicht die mann?
liehe aber mehr an die Idee, denn in ihr hört das Reale
auf; des Mannes Bildung geht ojffenbar über die des
Weibes hinaus und ift keineswegs die vorletzte Stufe.
[908.] November. Riemer.
Goethe: Den Verftandesphilofophen begegnet's und
muß es begegnen, daß fie undeutlich aus gar zu großer
Liebe zur Deutlichkeit fchreiben. Indem fie für jede
Enunziation die Quelle oder ihr Acheminement nachweifen
wollen, von dem Orte an, wo fie ins Räfonnement ein;:
greift, bis zu ihrem Urfprunge, auf welchem Wege wieder
anderes acheminiert und einläuft, geht es ihnen wie dem,
der einen Fluß von feiner Mündung an aufwärts ver?
folgt, und fo immer auf einfallende Bäche und Flüßchen
fiößt, die fich wieder verzweigen, fo daß er am Ende
ganz vom Wege abkommt und in Deverticulis logiert.
Beifpiele geben Kant, auch Hegel. Ariftoteles ift noch
mäßig mit feinen Denns und ya^. Sie weben eigent?
lieh nicht den Teppich, fondern fie dröfeln ihn auf und
ziehen Faden aus; die Idealphilofophen fitzen eigentlich
am Stuhl, zetteln an und fchießen ihr Schiffchen durch.
Manchmal reißt wohl ein Faden, oder es entftehen Nefter,
aber im Ganzen gibt's doch einen Teppich.
[909.]
G. ; Es wird bald Poefie ohne Poefie geben, eine
wahre noiriGig, wo die Gegenftände iv noirjcrei^ in der
Mache find, eine gemachte Poefie. Die Dichter heißen
dann fo, wie fchon Moritz fpaßte, a spissando, densando,
vom Dichtmachen, weil fie alles zufammendrängen, und
kommen mir dann vor, wie eine Art Wurftmacher, die
in den fechsfüßigen Darm des Hexameters oder Trimeters
ihre Wort? und Silbenfülle ftopfen.
[910.]
G.; Die Stelle aus Delille's l'Imagination Chant IV,
p. 224, welche den Eindruck der Verödung von Ver?
I
458 Riemer. ^
failles fchildert, ift poetifch durch den Gegenfiand, und
die rhetorifch^jenergifche Behandlung, welche die Franzofen
ihren Poefien geben, tut hier gut und ift an ihrer Stelle.
Wie aber da, wo der Mann fich im Gegenftand ver^
greift und diefen Xrj%vd^og (Farbenkaften) an unrechten
Stellen ausfchmiertl
[911.] November. Riemer.
Goethe: Die Weiber haben das Eigene, daß fie das
Fertige zu ihren Abfichten verarbeiten und verbrauchen.
Das Wiffen, die Erfahrung des Mannes nehmen fie als
ein Fertiges und fchmücken fich und anderes damit. Nicht
die Raupe zu erziehen, das Kokon abzuhaspeln, die Seide
zu fpinnen, zu färben und zu appretieren, fondern fie zu
Blumen zu verfticken oder in fchon gewebtem Stoffe fich
damit zu putzen, ift im allegorifchen Sinne diefes Bildes
ihre Sache. Daher folgen fie dem Manne nicht in feiner
Deduktion und Konftruktion, ob fie ihnen fchon manches
mal artig vorkommen kann, fondern fie halten fich an
das Refultat; und wenn fie ihm auch folgen, fo können
iie ihm doch darin nicht nachahmen und es in anderem
Falle wieder fo machen. Der Mann fchaftt und erwirbt,
die Frau verwendet's : das ift auch im intellektuellen Sinne
das Gefetz, unter dem beide Naturen ftehen. Daher
muß man einer Frau das Fertige geben; und aus eben
diefer Urfache find fie das wünfchenswertefte Auditorium
für einen Dogmatiker, der nur Geift genug hat, das, was
er ihnen fagt, angenehm und finnlich ergreifend zu fagen.
Das Pofitive lieben fie in diefem Falle, folche Unduliften
fie auch in anderen Rückfichten fein mögen.
[912.]
Horaz. Sein poetifches Talent anerkannt nur in Ab;;
ficht auf technifche und Sprachvollkommenheit, d. h. Nach;;
bildung der griechifchen Metra und der poetifchen Sprache,
nebft einer furchtbaren Realität ohne alle eigentliche Poefie,
befonders in den Oden.
[913.]
Goethe: Die guten Vorfätze im Menfchen, die Grunde
fätze, die immer wieder von der Natur überwältigt werden,
find wie die Reinigung, Scheuerung und Schmückung an
916] Weimar. 1806. 459
Sonn^, Fefts: und Ehrentagen. Man wird zwar immer wieder
fchmutzig, aber es ift doch gut, daß man durch folche
partielle Reinigung die Reinlichkeit überhaupt nicht un^:
möglich macht.
[914.] November 23. Riemer.
Goethe: Obgleich die Natur einen beftimmten Etat
hat, von dem fie zweckmäßig ihre Ausgaben beftreitet,
fo geht die Einnahme doch nicht fo genau in der Ausss
gäbe auf, daß nicht etwas übrig bliebe, welches fie gleiche
lam zur Zierde verwendet. Die Natur, um zum Menfchen
zu gelangen, führt ein langes Präludium auf von Wefen
und Geftalten, denen noch gar fehr viel zum Menfchen
fehlt. In jedem aber ift eine Tendenz zu einem andern,
was über ihm ift, erfichtlich. Die Tiere tragen gleichfam
das, was hernach die Menfchenbildung gibt, recht zier*:
lieh und fchön geordnet als Schmuck, zufammengepackt
in den unverhältnismäßigen Organen, als da find Hörner,
lange Schweife, Mähnen ufw., welches alles beim Menfchen
wegfällt, der fchmucklos, durch fich felbft fchön und in
fich felbft fchön, vollendet dafteht; der alles, was er hat,
auch ift, wo Gebrauch, Nutzen, Notwendigkeit und Schöne
heit alles eins ift und zu einem ftimmt. Da beim Menfchen
nichts Überflüffiges ift, fo kann er auch nichts entbehren
und verlieren, und was er verliert, kann er deswegen
auch nicht erfetzen (Haare und Nägel ausgenommen und
die geringe Reproduktionskraft in Rückficht auf Haut,
Fleifch und Knochen), dagegen bei den Tieren, und je
niedriger die Tiere ftehen, die Reproduktionskraft ebenfo
wie die Zeugungskraft größer ift. Die Reproduktions^s
kraft ift nur eine unabgelöfte Zeugung, und umgekehrt.
[915.] November 26. Riemer.
Goethe: Daß derMenfch, zu Behauptung feiner Freies
heit, den Gegenfatz des Gegebenen felbft hervorruft, diefe
Erfcheinung zeigt fich auch im Phyfifchen, wo das Auge
den Gegenfatz einer gegebenen Farbe felbft hervorbringt,
und mit dem Gegebenen und dem felbft Hervorgebrachten
die Totalität abfchließt.
[916.] November 27. St. Schütze.
Goethe hatte ~ eines Abends bei Frau Schopenhauer
~ zu einer ausführlichen Erörterung der Gefellfchaft die
I
460 St. Schütze. [917
Frage vorgelegt, welchen Sinn der Titel von Werner's
Luther: Weihe der Kraft, wohl haben möchte. Jeder
follte feine Meinung fagen, ob eine geweihte Kraft, oder
eine Weihung der Kraft, oder eine Weihung durch die
Kraft oder was fonft darunter zu verliehen fei. Seine
Abficht ging indes weniger dahin, jene Worte erklärt zu
wiffen, als darüber zu fcherzen.
[917.] November 27. Johanna Schopenhauer.
Goethe fühlt fich recht wohl bei mir und kommt
recht oft. Ich habe einen eigenen Tifch mit Zeichen?
materialien für ihn in eine Ecke geftellt '^ wenn er dann
Luft hat, fo fetzt er fich hin und tufcht aus dem Kopfe
kleine Landfchaften, leicht hingeworfen, nur f kizziert, aber
lebend und wahr, wie er felbft und alles, was er macht.
Welch ein Wefen ift diefer Goethe! wie groß und wie
gut! da ich nie weiß, ob er kommt, fo erfchrecke ich
jedesmal, wenn er ins Zimmer tritt; es ift, als ob er eine
höhere Natur als alle übrigen wäre; denn ich fehe deut?
lieh, daß er denfelben Eindruck auf alle übrigen macht,
die ihn doch weit länger kennen und ihm zum Teil auch
weit näher ftehen, als ich. Er felbft ift immer ein wenig
fiumm und auf eine Art immer verlegen, wenn er kommt,
bis er die Gefellfchaft recht angefehen hat, um zu wiffen,
wer da ift. Er fetzt fich dann immer dicht neben mich,
etwas zurück, fo daß er fich auf die Lehne von meinem
Stuhle ftützen kann; ich fange dann zuerft ein Gefpräch
an, dann wird er lebendig und unbefchreiblich liebens?
würdig. Er ift das vollkommenfte Wefen, das ich kenne,
auch im Äußeren; eine hohe, fchöne Geftalt, die fich
fehr gerade hält, fehr forgfältig gekleidet, immer fchwarz
oder ganz dunkelblau, die Haare recht gefchmackvoll
frifiert und gepudert, wie es feinem Alter ziemt, und ein
gar prächtiges Geficht mit zwei klaren braunen Augen,
die mild und durchdringend zugleich find. Wenn er
fpricht, verfchönert er fich unglaublich; ich kann ihn
dann nicht genug anfehen. Er fpricht von allem mit,
erzählt immer zwifchendurch kleine Anekdoten, drückt
niemand durch feine Größe. Er ift anfpruchslos wie ein
Kind; es ift unmöglich, nicht Zutrauen zu ihm zu faffen,
wenn er mit einem fpricht, und doch imponiert er allen,
ohne es zu wollen. Letztens trug ich ihm feine Taffe
zu, wie das in Hamburg gebräuchlich ift, daß fie nicht
918] Weimar. 1806. 461
kalt würde, und er küßte mir die Hand. '^ Alle, die in
der Nähe waren, fahen es mit Staunen. Es ift wahr, er
fieht fo königlich aus, daß bei ihm die gemeinfte Höf*
lichkeit wie Herablaffung erfcheint, und er felbft fcheint
das gar nicht zu wiffen, fondern geht fo hin in feiner
ftillen Herrlichkeit wie die Sonne.
[918.] November (30). K. L. Fernow an K. A. Böttiger.
Am Abend desfelben Tages, wo ich meinen Brief
an Sie abfandte, hatte ich eine fehr intereffante Unter?
haltung mit Goethe. '^ Ich kam zufällig mit G. über
das Journal;: und Zeitungswefen unfers Vaterlandes zu
fprechen. Sie wiffen, wie G. von jeher über die Neuig:=
keitskrämereien der Journale gedacht hat, und er war auch
jetzt indigniert über fo manche Nachrichten, welche in
den letzten Zeiten über Weimar befonders in der All;;
gemeinen Zeitung geftanden haben, z. B. die Notiz, unfere
verwitwete Herzogin und ihre Flucht von Weimar vor
der Schlacht, welche hier allgemein gemißbilligt worden,
um fo mehr, da die Beweggründe zu ihrer Abreife dort
völlig falfch angegeben worden, und die andere, daß die
Herzogin von Weimar dem gefallenen Prinzen Louis
Ferdinand von Preußen einen Lorbeerkranz geweihet habe,
woran, wie Sie leicht denken können, kein wahres Wort
ift, und andere Indiskretionen mehr, die Ihnen bekannt
find. Er fagte mir, er habe deshalb auch fehr ernftlich
an Cotta gefchrieben, daß er jetzt befonders, wo Deutfeh::
land nur eine große und heilige Sache habe — die, im
Geifte zufammenzuhalten, um in dem allgemeinen Ruin
wenigftens das bis jetzt noch unangetaftete Palladium
unferer Literatur aufs eiferfüchtigfte zu bewahren — der?
gleichen Frivolitäten, welche nur zum Gefpött der Schaden?
frohen und zum Geklatfche der Müßiggänger dienen,
nicht in feinen Blättern hegen und pflegen muffe. Er
fagte, nach dem 14. Oktober muffe kein Freimütiger mehr
exiftieren; befonders muffe man in Sachfen, welches vor
vielen andern gefchont worden und fo günftige Beding?
ungen für feine fernere Exiftenz erhalten, jetzt mehr als
je zufammenhalten, da Dresden, Leipzig, Jena und Weimar
künftig leicht der Hauptfitz der germanifchen Kultur im
nördlichen Deutfchland bleiben dürften, fo wie fie es auch
fchon früher größtenteils gewefen feien. Alle die Necke?
reien, welche ehemals in Zeiten der Ruhe und friedlicher
462 K. L. Fernow. [919
Verhältniffe , wenn auch unanftändig, doch im wefent?
liehen unfchädlich gewefen, würden jetzt höchfi nach*
teiUg werden, wenn fie dazu beitragen könnten, daß die
Franzofen die einzige Achtung, die fie jetzt noch für die
Deutfchen haben konnten, verUeren müßten. Es fei alfo
jetzt, wo alles auf der Spitze fiehe, eine wahre Verräterei,
mit dem alten Leichtfinne fortzufahren, Orte, welche als
ein Sitz der Kultur, und Männer, welche als tätige Be?
förderer derfelben einige Anfprüche auf öffentliche Ach*
tung haben können, unwürdig zu behandeln, und daß
der Feind uns um fo weniger ehren werde, wenn wir
uns felbfi fo wenig ehren und achten, daß wir nichts
befferes zu tun wiffen, als vor feinen Augen unfere Blößen
aufzudecken. Befonders muffe Weimar und diejenigen
in W., welche zum Teil dazu beigetragen, auch felbit in
den Augen der Franzofen unfere Literatur achtungswürdig
zu machen, jetzt mit gebührender Rückficht behandelt
werden, um fo mehr, da der Kaifer Napoleon felbft auf
Weimar aufmerkfam geworden, fo daß er den berühmten
Johannes Müller in einer Unterredung gefragt hat, ob
denn W. auch in Deutfchland felbft: wegen feiner höhern
Bildung in demfelben Anfehen fi:ehe, wie bei den franzö*
fifchen Gelehrten. Man muffe alfo auf alle Weife ver*
hüten, daß der, in deffen Hand jetzt das Schickfal liege,
die Achtung, die wir ihm durch ein höheres geiftiges
Übergewicht abgenötigt haben, nicht verliere ufw.
[919.] Dezember 2. Riemer.
Goethe: Wenn die Natur einen befi:immten Etat für
die genera der organifchen Wefen hat, demzufolge fie
eine ftarke Ausgabe durch eine Erfparnis wieder kom*
penfieren muß, fo hat fie ihn wahrfcheinlich auch bei den
Individuen. Um nur vom Menfchen zu reden, fo fcheinen
die fi:arken Ausgaben an gewiffen Teilen der Organifation
gewiffe Schwächen an anderen nach fich zu ziehen. Und
auf diefer Läffigkeit, auf diefer Balancierung, fcheint es,
beruht alle Verfchiedenheit der Bildung, und nur auf
diefem Wege dürfte Galls Theorie zu begründen fein.
[920.] Dezember 3. Johanna Schopenhauer an ihren Sohn.
Goethe hatte einen von Runge in Papier ausgefchnittenen
Blumenftrauß zur Anficht in die Abendgefellfchaft der Schopen?
hauer mitgebracht, wodurch letztere bewogen worden war, einen
922] Weimar. 1806. 463
von einer Fuchfie umfchlungenen Kaftanienzweig auszufchneiden
und diefen am 3. Dezember 1806 Goethen vorzulegen. Sie fchreibt
darüber:
Nun hätteft Du ihn und feine Freude über meine ^
Kunft fehen follen, wie er es gewahr wurde. Gegen
Runges Bukett mußte ich freiUch zurückfiehen , aber
meines war in der Art ein erfter Verfuch; denn die
Blumen find in Lebensgröße. Nun kamen verfchiedene,
die meine Arbeit für Runges Arbeit hielten, welche fie
früher gefehen hatten, und Goethe rief dann ganz trium?
phierend, wenn fie lange bewundert hatten: Nein, die
Frau, die kleine Frau hat das gemacht! Solche Streiche
macht fiel Sehen Sie einmal, fehen Sie einmal recht, wie
hübfch das ifi:l Er freute fich darüber wie ein Kind zum
Weihnachten. ^ Die übrigen gingen ans Klavier im Neben^
zimmer, ich blieb allein bei Goethe an feinem Zeichen?
tifche; denn ich kann ihn nicht genug fehen und hören.
Nun erzählte er mir von einem Ofenfchirme, den ich
fo machen müßte, machte mir mit ein paar Strichen eine
Zeichnung dazu und will mir auch beim Aufkleben helfen.
Hernach verfammelten fich Meyer, Fernow und Schütze
um uns; wir machten einen kleinen Kreis, die Bardua
kam dazu, mit welcher heillos umgegangen ward, und
der Abend verging unter Scherz und Lachen.
[921.] Dezember 7. Johanna Schopenhauer an ihren Sohn.
Die Frau des Marfchall Lannes kommt hier durch
und follte bei Goethe logieren. Weil fie fchon viele
Tage erwartet wurde und nicht kam, fo meinte er, fie
käme gar nicht, aß richtig zu Mittag eine kalte Gänfe?
leberpafi:ete, die für die Dame bereitet war und kam den
Abend zu mir. Nun kam die Dame, und die Pafi:ete
war verzehrt, und er war bei mir und mußte fort.
[922.] Dezember 8. Riemer.
Goethe: Es werden die Franzofen nach innen zu
genötigt, fich tugendhaft zu zeigen, ehrlich, honett, recht?
fchaffen ufw. zu fein, da fie nach außen zu als Räuber,
Spitzbuben und Mörder zu agieren gezwungen find. Wir
Deutfche waren im Bewußtfein unferer Tugenden früher?
hin im Ausdruck freier und lofer, da wir jetzt bei un?
gebundenen Sitten zu einer Dezenz des Ausdrucks fi:reben
muffen.
I
464 ■ Riemer. [923
[923.] Dezember. Riemer.
Goethe: Man kann die Phalangen (Wirbel im Rücken
und fonft) als die Knoten anfehen bei den Pflanzen. Wie
die Pflanze von Knoten zu Knoten wächft, fo die Or^
ganifation der Tiere. Die Knochen der Arme und Beine
find auch nichts anderes als größere Knoten oder Pha^
langen. Von eins fängt's an, geht im Vorderarm und im
Unterfchenkel in zwei, dann in drei, vier, fünf über ufw.
[924.]
G. ; Die Farbe zeigt eine Polarität, fie oxydiert
und desoxydiert, und wird es: beides Erfcheinungen wie
bei Magnet und Elektrizität. Sollte die Farbe nicht eine
nur für den Sinn des Auges erfolgende Erfcheinungs^
weife eines und desfelben Entis fein, das fich bald als
Magnetismus, bald als Elekrizität, bald als Chemismus
zeigt? Sollte nicht beim Erfcheinen der prismatifchen
Ränder gleichfam eine Oxydation und Desoxydation des
Lichtes durch das Medium des brechenden Mittels und
auf Anlaß deffen vorgehen? Daß alfo das Prisma
nur für den Sinn des Auges täte, was bei dem Galvanis^
mus die beiden Drähte im Waffer tun, eine Zerfetzung
des Lichts hervorbringen. Elektrizität wird ja fehr leicht
für die taktifche Empfindung als Galvanismus erregt,
warum nicht eben fo leicht für die Empfindung des Auges
durch das prismatifche Medium als Farbe?
[925.] Dezember 11. Riemer.
Goethe: Die Nationen laffen fich auch mit Pflanzen,
ihren Blüten und Früchten vergleichen. Die untern
Stände find die Kotyledonen und die daraus fich enU
wickelnden erften Stengelblätter; die höhern Stände und
die Kulturen derfelben repräfentieren die fernem Blätter,
Blüten, Früchte.
Hier öffnete fich ein weites und artiges Feld für
die Rungifche allegorifch^fymbolifch^smyftifche Pflanzen?:
metamorphofe.
[926.] Dezember 12. Riemer.
Goethe liebte in feiner Jugend einen jungen Freund
außerordentUch. Diefer ftarb; bei feinem Begräbnis warf
ihm Goethe den linken Handfchuh nach ins Grab. Dies
erregte äußerfte Bewegung und Senfation unter den An?
930] Weimar. 1806. 465
wefenden, die diefe Äußerung jeder anders anklagten und
entfchuldigten.
K— er ließ dem Herzog Friedrich Augufl von Braun=
fchwegf Oels noch im Grabe das Hemd des Herzogs von
Weimar wieder ausziehen, das von jenem geliehen, und
verbrannte es eigenhändig im Park.
Der fogenannte Aberglaube beruht auf einer viel
größeren Tiefe und Delikateffe, als der Unglaube.
[927.] Dezember 13. Riemer.
Goethe: Der Krieg ift in Wahrheit eine Krankheit,
wo die Säfte, die zur Gefundheit und Erhaltung dienen,
nur verwendet werden, um ein Fremdes, der Natur Unss
gemäßes, zu nähren.
[928.] Dezember 15. Riemer.
Von Jean Pauls neueftem Erziehungsbüchlein fagte
G. : Es komme ihm vor wie ein Züchtling, deffen Ketten
man immer klirren höre, wenn er auch noch fo leife Be:^
wegungen mache. Man höre immer die Catena von
Zitaten, Exzerpten, Kollektaneen und fo fort.
[929.] Dezember 16. Riemer.
Goethe bemerkte, daß, da er nach Gall die Gabe
habe, fich nur gleichnisweife auszudrücken, er nun auch
das Verhältnis der Newtonfchen Lehre zu feiner und
der frühern in einem Gleichnis darftellen wolle. Er habe
diefes gefunden in den verfchiedenen aftronomifchen Sys=
fiemen. Das Newtonfche verhalte fich zu dem neueften
feinen, wie das Ty cho ^ de ^s Brahifche zu dem Koperni^
kanifchen.
[930.] Dezember 18. Johanna Schopenhauer an ihren Sohn.
Geftern war mein Zirkel kleiner, aber um fo inter^s
effanter, obgleich niemand etwas zum Vorlefen mitge^
bracht hatte. Ich fchnitt wieder Blumen aus, und Goethe
war gewaltig gefchäftig, fie zu einem Ofenfchirme zu
ordnen, den er felbft aufkleben will. Dabei erzählte er
Anekdoten aller Art. Die Bardua malt jetzt Goethe;
ich glaube faft, er würde mir auch fitzen, wenn ich ihn
darum bäte. Den Mut dazu hätte ich wohl, aber wenn's
zur Ausführung käme und er mich dann fo ernfthaft mit
I 30
466 Johanna Schopenhauer. [931
feinen durchdringenden Augen anfähe, dann wäre ich in
Gefahr, davonlaufen zu muffen. Alfo laffe ich es lieber;
die Bardua wird mir aber das Bild, welches fehr ähnlich
werden foll, kopieren. — Letzt fprach man bei mir vom
Latein, wie notwendig es wäre und wie wenig es jetzt
gelernt würde. Ich fagte. Du hättefi es in Deiner Kind^
heit durchaus nicht lernen können, obgleich Du lebende
Sprachen fehr leicht vollkommen begriifeft. Goethe fagte :
es wundere ihn nicht; es wäre ungeheuer fchwer, da hälfe
keine Methode, die ganze Kindheit muffe darauf zuges^
bracht werden: Wenn zehn Louisdor auf einem Tifche
liegen, kann man fie leicht einftreichen , aber wenn fie
tief in einem alten Brunnen liegen und Steine, Schutt
und Gebüfch obendrauf, dann ift's ein ander Ding; ein
Kind kriecht dann wohl mühfam hinein, aber ein Er^
wachfener muß es bleiben laffen. Ich fagte. Du hätteft
Luft, es noch zu lernen, ich wolle Dir aber abraten. Dies
folle ich auch nicht tun, fagte er; es bliebe doch immer
etwas hängen, und wenn Du es noch tun wolltefi, fo
wäre es fehr gut und nützlich, obgleich Du es zur VolU
kommenheit nicht bringen wijrdeft.
[93L] Dezember (22). H. Meyer an H. K. A. Eichftädt.
Es gefchahe auf Herrn Geheimrat von Goethes Ge?
heiß, daß ich die Stelle über den Verkauf der Gemmen;^
fammlung dem Manufkript eingerückt, und glaubte, er
habe mit Ihnen darüber Rückfprache genommen. Ich bin
die Weglaffung darum wohl zufrieden und habe ferner
mit Goethe gefprochen, der es ebenfalls genehmigt und
wünfcht, Sie möchten auch mit der Anzeige des Verkaufs^:
anerbietens im Intelligenzblatt fo lange warten, bis die
gegenwärtigen Befitzer diefer Sammlung fich folches von
Ihnen felbft ausbitten würden.
[932] Dezember 24. Riemer.
Goethe wünfchte einmal die Frage : ob ein nützlicher
Irrtum, eine nützliche Lüge einer fchädlichen Wahrheit
vorzuziehen fei, in einer Fabel zu behandeln. Ich foll
ihn daran erinnern, wiewohl fie in der Iphigenie fchon
durchgeführt fei. Während Oreft und Pylades ihre Zwecke
durch Lug und Trug zu erreichen ftreben, fucht fie auf
ihre Weife durch die Wahrheit dahin zu gelangen.
935] Weimar. 1806. 467
[9331 Dezember 24. Riemer.
G. habe nur drei Arten, fein Urteil zu äußern, in^s
dem er lobe^ oder fchweige, oder fchelte.
[934.J Dezember 24. H. Schmidt.
Als ich von Berlin nach Wien meine Tour über
Weimar nahm, fäumte ich natürlich nicht, fondern war
vielmehr im Drange jugendlicher Dankbarkeit hochbes:
glückt, den göttlichen Mann wieder zu fehen, um ihm
nochmals danken zu können. Bald nach meinem Ein:^
tritt fragte er mich: Nun, wie geht's und wie ifi's ge^
gangen? Wie haben Sie fich mit dem Theater zurecht:^
gefunden? Erfreut legte ich fogleich eine vollkommene,
doch kurzgefaßte Beichte ab, deren Kern im wefentlichen
darin beftand, daß ich ihm feinen eigenen früheren Aus^«
fpruch zurückrief, der dahin lautete, daß er fürchtete,
meine Neigung zum Gefchäft des Schaufpielers würde
nicht ftandhalten, um dabei mit Erfolg zu beharren, wie
es die Aufgabe erfordere. Wie fehr beftätigte fich dies.
'^ Dies immer mehr einfehend, war mir daher auch nichts
willkommener, als daß fich mir eine in jeder Hinficht
erwünfchte Gelegenheit darbot, meine Vorliebe für das
Theater, befonders aber auch für Mufik und Oper auf
andere Weife zu betätigen, indem das fürfilich Efi:erhazy^
fche Theater im Schloß zu Eifenfiadt eröffnet werden
foUte und mir die Mitwirkung bei der Her^s und Ein^
richtung fowohl als auch bei der Fortführung des Ganzen
zuteil wurde. Nun fand fich erft, wofür meine Neigung
die eigentliche Richtung erhalten follte. Goethe fagte
hier die für mich fo wohltuenden Worte: Nun das freut
mich. So, wie ich mir's gedacht hatte, als ich damals
mit Schillern davon fprach. Nun! Glück zu!
[935.] Dezember 25. Johanna Schopenhauer an ihren Sohn.
Er ift ein unbefchreibliches Wefen; das Höchfte wie
das Kleinfte ergreift er. So faß er denn an diefem Abend
eine lange Weile im letzten meiner drei ^^ Zimmer mit
Adele ^ und der jüngften Conta, einem hübfchen, uns:
befangenen fechzehnj ährigen Mädchen. Wir fahen von
weitem der lebhaften Konverfation zwifchen den dreien
zu, ohne fie zu verftehen; zuletzt gingen fie alle drei
hinaus und kamen lange nicht wieder. Goethe war mit
I 30*
468 Johanna Schopenhauer. [936
den Kindern in Sophies Zimmer gegangen, hatte fich dort
hingefetzt und fich Adeles Herrlichkeiten zeigen laffen,
alles Stück vor Stück befehen, die Puppen nach der Reihe
tanzen laffen, und kam nun mit den frohen Kindern und
einem fehr lieben milden Gefichte zurück, wovon kein
Menfch einen Begriff hat, der nicht die Gelegenheit hat,
ihn zu fehen, wie ich.
[936.] Dezember 26. H. Schmidt.
Schmidt war von Wien nach Berlin und Weimar gefandt
worden, um bei etwaiger Auflöfung der dortigen Bühnen nach
der Schlacht von Jena Schaufpieler anzuwerben und traf Ab#
machungen mit zweien. Er erzählt dann weiter:
Auch in bezug auf die andern vorzüglichen Mit;:
glieder unterließ ich jedoch nicht, meinem Auftrag ge^^
maß weitere Schritte zu tun, worüber mir Goethe, als
ich vor meiner Abreife das letztemal bei ihm fpeifte, das
aus feinem Munde mir höchft erfreuliche Zeugnis gab,
daß er meine Schritte, die ihm nicht unbekannt geblieben
wären, ganz gebilligt, und daß ich es zu vereinigen ge^
wüßt habe, meinen Pflichten ganz treu zu bleiben und
doch dem Theater in Weimar nicht nachteilig zu werden.
<^ Zugleich bedauerte er, daß es nicht möglich gewefen
fei, mich während meines Aufenthaltes feinen Egmont
fehen zu laffen. Ich hätte dabei abnehmen können, auf
welche finns: und effektvolle Art Klärchens Erfcheinung
am Schluffe, die er nun befchrieb, plaftifch bewirkt würde.
Ich fragte ihn hierauf, ob das Stück noch mit den Ab?
änderungen in Weimar gegeben würde, wie fie mir von
Ifflands Gaftfpiel her, der 1796 den Egmont als Gaft
gab, erinnerlich waren. Goethe fragte,. worin fie beftanden
hätten. Ich erwähnte nur die eine, daß nämlich bei der
Unterredung Egmonts mit Ferdinand im Kerker, im fünften
Akt, auch Alba im weiten, fchwarzen Gewände mit der
Kapuze über den Kopf herabgezogen und dem Henker?
fchwert an der Seite gegenwärtig gewefen fei, und daß dann
Egmont bei einem Ausbruch feines Unmuts (es war bei
der Rede: Und ich falle ein Opfer feines — Albas —
niedrigen Haffes, feines kleinlichen Neides ufw.) noch
die Worte hinzugefügt habe: Ja, ich darf es fagen, und
wenn Herzog Alba felbfi es hören follte — womit er
Alba die Kapuze vom Geficht herabriß und diefer in feines
Nichts durchbohrendem Gefühle dafiand. Ja, erwiderte
938] Weimar. 1806. 469
Goethe, ich erinnere mich, daß es damals fo arrangiert war,
und zwar von Schiller felbft. In Schillerfche Stücke hätt* es
auch wohl gepaßt, allein das ift mein Genre nicht.
Dies ganz feine eigenen Worte.
[937.] Dezember 26. H. Schmidt.
Schmidt erzählte mittags bei Goethe ein Gefchichtchen von
der Schaufpielerin Bethmann bei Aufführung des Don Carlos.
Der Darfteller des letzteren, Mattaufch, hatte beim Abgang am
Schluß des achten Auftritts im zweiten Aufzug den Verhängnis*
vollen Brief fallen laffen und die Bethmann, Eboli, war durch
die unter den Zufchauern entftehende Unruhe darauf aufmerk*
fam gemacht worden. Schmidt fährt nun fort:
Bis hierher hatte ich, als ich bald darauf nach Weimar
kam und bei Goethe fpeifie, über Tifche den Vorfall er^
zählt und bat ihn nun zu raten, was die Bethmann wohl
in diefem Augenblicke getan haben möchte; denn er hatte
uns vorher auch lange auf den Namen des damals noch
anonymen Verfaffers von dem Lufifpiel Das Rätfei, Con=
tejfa, raten laffen. Er ftand einige Augenblicke an, und
Frau von Goethe f^ meinte, fie würde getan haben, als
fehe Üq den Brief nicht. Da wären denn freilich Madame
wohlfeilen Preifes davon gekommen, erwiderte Goethe
und forderte mich auf weiter zu erzählen; denn wer
kann erraten, fügte er hinzu, was eine kluge verftändige
Schaufpielerin in fo kritifchem, dringendem Augenblick
tut! — Die Bethmann, in demfelben Moment, als fie den
Brief erblickte, bezeigt die höchfte, freudigfte Überrafchung
und ftürzt mit der auffallendften Haft auf den Brief hin,
ergreift ihn begierig, durchfliegt ihn mit vor Hoffnung
funkelnden Augen — und wirft ihn endlich mit dem Geft
getäufchter Erwartung wieder hin, als fei es ein falfches
Papier.
[938.] Dezember 26./27. Riemer.
Goethe: Hauy gehört zu den wiederkäuenden Tieren,
wie die Newtonianer find, bei denen der Schlund fich in
lauter aufeinanderfolgende Magen zufammenfaltet. Das
Newtonifche Heu fchlucken fie hinunter, aber fie können's
im Magen weder verdauen noch fonft los werden. Sie ru:5
minieren es alfo durch alle Magen herauf und können's
immer nicht digerieren, da hingegen andere edlere Tiere
das ihrem Magen Widerfpenftige gleich von fich geben. —
I
X
470 Riemer. [939
Den Hauy müßte man in ein Ragout zerpflücken
(diszerpieren) und ihn recht zierUch auf einem filbernen
Teller über einer Lampe ä la * * * zurechte machen.
[939.] Dezember, Ende. Nach Caroline Bardua.
Caroline war jedem dankbar, der ihr fitzen mochte.
^ Das merkwürdigste war das Bild Goethe's; er war der
erfie, der ihr faß* ^^ Goethe erfcheint mit noch dunkeln
Haaren, in bloßem Hals, einen roten Mantel [Toga?] um
die Schultern geworfen; im grünen Damaft des Hintere
grundes bildet fich wie zufällig ein Lorbeerkranz um den
Kopf. Man ficht wohl, daß es das Bild eines Anfängers
ifi: der Kopf erfcheint etwas koloffal, aber majeftätifch
wie eines Imperators. Oft hörte man Carolinens Vater
den Freunden, welche kamen, das Bild zu fehen, wieder^
holen, was Goethe gefagt habe: Mit diefem Bilde fei er
für die Nachwelt zufrieden.
[940.] Dezember 30. Riemer.
Auf meine Bemerkung, daß die Deutfchen den Franz
Moor nicht los werden könnten, erwiderte G., daß l&^
land ihn in feiner Jugend gut gefpielt habe, und weil
er ihn nicht losgeben wolle, ihn nun in das Würdige
ziehe, einen Richard aus ihm mache ufw. Was es denn
aber helfe, eine grelle Figur abzudämpfen, wenn die
übrigen es noch blieben, ja nur ftärker hervorträten?
Schillers Intention, als Mann von Genie, fei vielmehr ge^
wefen in diefem fratzenhaften Stücke auch einen fratzen?
haften Teufel auftreten zu laffen, der die andern über?
trumpfe. — Aber nun befchneiden fie ihm die Krallen,
und da foll es ein würdiger Hundsfott werden, damit
ihn ein würdiger Mann fpielen könne.
[94L] (Ende d. J.) Riemer.
Goethe: Der Charakter, d.h. die Mifchung der erften
menfchlichen Grundtriebe, der Selbfterhaltung, der Selbft^
fchätzung ufw. ifi das, wovon auch die Ausbildung der
übrigen Seelenkräfte ausgeht und worauf fie ruht.
* [Aber wahrfcheinlich nicht zu dem nachbefchriebenen
Bilde; zum erften fcheint er 1805 gefeffen zu haben, zu obigem
faß er im Dezember 1806.1
944] Weimar. 1807. 471
Die Franzofen haben d i e f e n Verftand, weil fie d i e f e n
Charakter haben ; es ift nur d i e f e r Verftand und kein anderer.
Aus ihrem Charakter geht es hervor, daß fie die
Welt bezwingen, nicht aus ihrem Verftande; denn ihr
Verftand hat fchon die Farbe ihres Charakters und redet
bloß ihren urfprünglichen Tendenzen und Neigungen das
Wort. Das Eigennützige, das Habfüchtige, das alles fich
Aneignende, Fremdes Ausfchließende, diefes beftimmt fie
mehr, als was nicht fo ift. Wenn nun eine ganze Nation
fo ift, muß fie ja die Welt gewinnen.
[942.] Riemer.
G. : Im Homer reflektiert fich die Menfchenwelt
noch einmal im Olymp und fchwebt wie eine Fata Mors:
gana über der irdifchen. Diefe Spiegelung tut in jedem
poetifchen Kunftwerk wohl, weil fie gleichfam eine Totalität
hervorbringt und wirklich ein Menfchenbedürfnis ift. Das:
her auch in der katholifchen Religion: Im Himmel ift
ein Vater, wie es irdifche gibt, eine Mutter wie hier,
einer der gelitten hat, wie es hier viele Leidende gibt.
So auch im Paganismus: Der Baum foll mehr fein, als
ein Baum, es ift eine Dryas, die Quelle eine Najade.
Die Einfamkeit des Mittags ift perfonifiziert in allen Wald:^
göttern ufw. In den Nibelungen ift ein eherner Himmel,
keine Spur von Göttern, von Fatum. Es ift bloß der
Menfch auf fich geftellt und feine Leidenfchaften. — Schon
dies ift Goethen ein Hauptbeweis, daß es eine nordifche
und heidnifche Fabel ift.
[943.] Riemer.
Der Sultan wider Willen. Goethe hatte fich immer
und zumeift im Jahre 1806 mit diefer Gefchichte getragen,
für die er eine befondere Liebe zu haben fchien. Vier
Damen von ganz verfchiedenen Charakteren intereffieren
fich alle für einen Mann. Jede ift auf eine eigene Art
liebenswürdig, jede findet er, wenn er fich ihr nähert,
feinem Zuftande angemeffen, allein liebenswürdig, und
unbegreiflich, wie er eine andere lieben kann ufw.
1807.
[944.] Januar 2. H. Schmidt.
Beim Abfchied von Weimar drang ich mit der wieders;
holten Bitte in Goethe (es war fchon früher mehrmals
I
472 H. Schmidt. [945
davon gefprochen worden), in diefem Sommer nach Wien
zu kommen. ^^ Er fagte die Erfüllung der Bitte halb zu,
fowie er auch verfprach , einige feiner Stücke für Wien
bearbeitet zu fchicken.
[945.] Anfang d. J. Riemer.
Goethe: Weiber verftehen alles ä la lettre oder au
pied de la lettre, verlangen aber, daß man fie nicht fo
verftehen foll.
[946.] Anfang d. J. Riemer.
G. ; Ein Gott kann nur wieder durch einen Gott
balanciert werden. Die Kraft foll fich felber einfchränken,
ift abfurd. Sie wird nur wieder durch eine andere Kraft
eingefchränkt. Diefes fpezifizierte Wefen kann (ich nicht
felbft einfchränken, fondern das Ganze, welches fich
fpezifiziert, fchränkt fich eben dadurch felbft ein, aber
nicht das einzelne fich.
[947.] Anfang d. J. Riemer.
G. ; Nur nichts als Profeffion getrieben 1 Das ift mir
zuwider. Ich will alles, was ich kann, fpielend treiben,
was mir eben kommt und fo lange die Luft daran währt.
So hab' ich in meiner Jugend gefpielt unbewußt; fo will
ich's bewußt fortfetzen durch mein übriges Leben. Nütz^
lieh — Nutzen, das ift eure Sache. Ihr mögt mich be^
nutzen; aber ich kann mich nicht auf den Kauf oder
Nachfrage einrichten. Was ich kann und verftehe, das
werdet ihr benutzen, fobald ihr wollt und das Bedürfnis
danach habt. Zu einem Inftrument gebe ich mich nicht
her; und jede Profeffion ift ein Inftrument oder, wollt ihr
es vornehmer ausgedrückt, ein Organ.
[948.] Januar 4. Johanna Schopenhauer an ihren Sohn.
Am Abend f^ fing Goethe an von feinem heran^
nahenden Alter zu fprechen mit einer Weichheit des
Tones, mit einem fo edlen Selbftbewußtfein, daß es uns
alle tief rührte. Dabei hielt er mich feft bei der Hand;
er tut das oft und erinnert mich dabei lebhaft an Deinen
Vater, der mich dann auch fo fefthalten konnte.
952] Weimar. 1807. 473
[949.] Januar 13. Riemer.
Abends bei Goethe Newtons zweites Buch der Optik
befprochen. Wie es fich damit verhalte, daß der Spek^
tator die Farben umgekehrt fehe im Prisma gegen die,
welche das Prisma an die Wand werfe. Verfuch mit dem
Kerzenlichte. Es ift gar nicht dasfelbe, was er im Prisma
und an der Wand fleht. Jenes ift das ganze Bild des
Lichts vom Auge rückwärts gefärbt, das an der Wand
find die Ränder des Prismas.
[950.] Januar 14. Riemer.
Goethe: Die mathematifchen Formeln außer ihrer
Sphäre, d. h. dem RäumUchen, angewendet, find völlig ftarr
und leblos, und ein folches Verfahren höchft ungefchickt.
Gleichwohl herrfcht in der Welt der von den Mathe:;
matikern unterhaltene Wahn, daß in der Mathematik allein
das Heil zu finden fei, da fie doch, wie jedes Organ,
unzulänglich gegen das All ift. Denn jedes Organ ift
fpezififch und für das Spezififche.
[951.] Januar 18. Johanna Schopenhauer an ihren Sohn.
Am Dienstag gab ich einmal eine Extragefellfchaft.
'^ Die Goethen kam allein und fagte mir, er wäre nicht
wohl, würde aber, wenn es ihm möglich wäre, eine halbe
Stunde kommen, doch fei dies nicht gewiß. Miteins fah
ich ihn aber im Nebenzimmer zwifchen der Bardua und
der Conta ganz gemütlich fitzen. Ich lief gleich voller
Freude zu ihm, die Mädchen machten mir Platz und ich
habe faft eine Stunde mit ihm geplaudert. Er erzählte
mir viel von Huber, deffen Leben jetzt herausgekommen
ift. Er war ungemein fanft und liebenswürdig geftimmt.
Du meinft, es fei unmöglich, vis^ä^vis ihm nicht ein wenig
fcheinen zu wollen. Säheft Du ihn nur. Du würdeft
fühlen, wie unmöglich es ift, ihm gegenüber fich anders
als natürlich zu zeigen. Er ift ganz Natur und feine
klaren hellen Augen benehmen alle Luft fich zu ver^s
ftellen; man fühlt, daß er doch durch alle Schleier fieht,
und daß diefem hohen reinen Wefen jede Verftellung
verhaßt fein muß.
[952.] Januar 19. Riemer.
Abends Der Amerikaner, Luflfpiel von Vogel, Goethe
bemerkte, daß er fich zu einer vortrefflichen Oper machen
ließe.
I
474 Johanna Schopenhauer. [953
[953.] Januar (Ende). Johanna Schopenhauer.
Ich habe Goethe auch die Nachtlampe, um nach der
Uhr zu fehen, gegeben, weil er letzt darüber klagte, daß
er oft aufwache und dann nicht wiffen könne, wie viel
es an der Zeit wäre. Dafür hat er mir den Kaften mit
transparenten Mondfcheinen gegeben, und er wird mir
zu dem Kafien immer mehr neue Mondfcheine erfinden.
~ Der Ofenfchirm ift fertig und die Bewunderung aller
Welt. ^> Goethe hat letzt mit dem Lichte in der Hand
wohl eine halbe Stunde davor gefeffen und ihn befehen,
und wer ihm näher kam, der mußte mit bewundern und
befehen.
[954.J Januar (Ende). Riemer an K. F. E. Frommann.
Goethe ift zeither nicht ganz wohl. Er will zwar
nicht, daß man es laut werden laffe ^ allein er kann es
doch nicht verbergen. ~ Das alles unter uns; denn er
hat's nicht gern, wenn ihm aus der Nähe und Ferne die
Wirkungen feines Zufiandes zurückfirahlen.
[955,] Januar (Ende). Johanna Schopenhauer an J.H.W.Tifchbein.
Sie wünfchen einen Kommentator zu Ihren Zeich?
nungen zu haben, wozu foll Ihnen noch ein Kommen?:
tar; geben Sie es der Welt wie es ift; wer Sinn dafür
hat, dem fpricht Ihr Pinfel deutlicher, als die beredtefie
Feder, wer ihn von der Natur nicht erhielt, der faßt fie
nicht, und wenn Engelszungen es ihm erklärten. Ihr
Werk ift ein vollendetes Ganze, mehr hinzutun wäre zu
viel und würde der fchönen Einheit fchaden. Diefe
Meinung habe ich Goethen abgefragt.
[956.] Februar 3. Riemer.
Goethe: Die Reflexion führt darum fo leicht aufs
Unrichtige, aufs Falfche, weil fie eine einzelne Erfcheinung,
eine Einzelheit, ein Jedesmaliges zur Idee erheben möchte,
aus der fie alles ableite; mit einem Worte, weil es eine
partielle Hypothefe ift. Z. E. wenn man fagt: Jeder
handle aus Eigennutz. — Die Liebe fei nur Selbftfucht.
— Als wenn die Natur nicht fo eingerichtet wäre, daß
die Zwecke des einzelnen dem Ganzen nicht widerfprechen,
ja fogar zu feiner Erhaltung dienen; als wenn ohne Motive
etwas gefchehen könnte, und als wenn diefe Motive außer?
961] Weimar. 1807. 475
halb des handelnden Wefens liegen könnten und nicht
vielmehr im Innerften desfelben; ja, als wenn ich die
Wohlfahrt des andern befördern könnte, ohne daß fie
auf mich inundierte, keineswegs mit meinem Verluft, mit
meiner Aufopferung, welche nicht immer dazu erfordert
wird, und welches nur in gewiffen Fällen gefchehen kann.
Wäre es wahr, daß jeder nur aus und zu feinem
Vorteil handle, fo würde einmal folgen, daß, wenn ich
zu meinem Abbruch, Nachteil, Detriment handelte, ich
erft die Wohlfahrt des andern beförderte, welches abfurd
ift. Ferner, daß, wenn ich dem andern Schaden täte,
wenn ich in Zorn gegen ihn aufwallte und ihn fchlüge
oder dgl., daß ich alsdann zu meinem Vorteil, für mein
Intereffe handelte, welches ebenfo abfurd ift. Man unter?
fcheidet hier nicht die Aufwallung, die Regung der Natur,
die in jedem einzelnen den Mittelpunkt vom Ganzen aufs:
fchlagen will.
[957.] Februar 3. Riemer.
Goethe : Außerordentliche Menfchen, wie Napoleon,
treten aus der Moralität heraus. Sie wirken zuletzt wie
phyfifche Urfachen, wie Feuer und Waffer.
[958.]
G. : Ja fchon jeder, der aus der Subordination heraus?
tritt — denn die ift das Moralifche — ift infofern un?
moralifch.
[959.]
G. ; Wer von feinem Verftande zum Schaden an?
derer Gebrauch macht, oder diefe auch nur dadurch ein?
fchränkt, ift infofern unmoralifch.
[960.]
G. ; Jede Tugend übt Gewalt aus, wie auch jede
Idee, die in die Welt tritt, anfangs tyrannifch wirkt.
[961 ] Februar 3. Johanna Schopenhauer.
Bei Goethen war's den Abend -^ ganz allerliebft,
er hatte einige junge Schaufpieler, die er oft bei fich de?
klamieren läßt, um fie für ihre Kunft zu bilden, einge?
laden, und las mir mit ihnen eine feiner früheften Ar?
I
476 Johanna Schopenhauer. [962
beiten, ein Stück voll Laune und Humor, Die Mit;;
fchuldigen betitelt, vor. Er hatte felbft die Rolle eines
alten Gaftwirts darin übernommen, was bloß mir zu Ehren
gefchah, fonft tut er das nicht. Ich habe nie was ähn^
liches gehört, er ift ganz Feuer und Leben, wenn er de:^
klamiert, niemand hat das Komifche mehr in feiner Ge?
walt, als er. Zwifchendurch meifterte er die jungen Leute,
ein paar waren ihm zu kalt: Seid ihr denn gar nicht
verliebt? rief er komifch erzürnt, und doch war's ihm
halber Ernfi. Seid ihr denn gar nicht verliebt? Ver^
dammtes junges Volk! Ich bin fechzig Jahre alt und ich
kann's befferl
[962.] Februar 5. Johanna Schopenhauer an ihren Sohn.
Am Donnerstag ^^ befiand mein Zirkel fafi nur aus
Herren, aber es waren gerade die intereffanteften ; Frau
von Goethe war die einzige Dame. Weil wir eben in
folchem kleinen vertraulichen Zirkel find, fing er an, fo
will ich denn eine Naturnotwendigkeit mitteilen; es ift
billig, daß man unter Freunden fich dergleichen wechfel?
feitig mitteilt. Und damit fing er aus einem Briefe eine
Gefchichte von einer Mamfell, die in die Wochen ge^
kommen war, zu lefen an. Darüber kam die Bardua.
Gerechter Himmel, da kommt die Bardua I rief er aus;
nun darf ich nicht weiter lefen. Es tut nichts, fagte ich;
die Bardua muß draußen bleiben. Das war Waffer auf
feine Mühle. Der Bardua kündigte er gleich gravitätifch
an, fie muffe draußen bleiben. Den Bertuch, den Sohn,
der gewaltig lang ift, fiellte er an die zugemachte Tür,
welche die Bardua von außen gewaltig berannte. Halten
Sie Ihren Poften wohl, Bertuch! Denken Sie, Sie find
in Breslau. Es foll Ihr Schade nicht fein; ich will fchon
fo lefen, daß Sie dort fo gut hören follen, wie hier. Die
Bardua machte einen erbärmlichen Spektakel; er ließ fich
nicht fiören und verwies fie nur von Zeit zu Zeit mit
ein paar Worten zur Ruhe und Geduld. Zuletzt fpielte
fie aus Leibeskräften auf dem Klaviere. Eine Kriegslift 1
fagte er; hilft nichts! wir lefen lauter. Und fo erhob
er die Stimme oder ließ fie finken, nachdem fie akkom^
pagnierte, wie in einem Melodram bis ans Ende, wo fie
dann feierlich hereingeholt ward. Alles dies ift nichts,
aber man muß es fehen. Diefes kleine Intermezzo ftimmte
uns alle luftiger; es wurde viel den Abend gelacht. Zu?
965] Weimar. 1807. 477
letzt aber kam das Gefpräch auf die alemannifchen Ge^
dichte von Hebel. Meyer, als Schweizer, und Legations::
rat Weyland, als Elfaffer, find der Sprache mächtig und
lefen manches daraus fehr hübfch vor. Goethe ift die
Sprache fremd, er las aber doch fein Lieblingsftück, Das
Gefpenft an der Kanderer Straße, und er las es, wie nur
er lefen kann.
[963.] Februar 10. Charlotte v. Stein.
Wir kommen oft in Streit, das letztemal war's über
Meyer. Ich tadelte, er machte Goethe nach. Den Teufel
noch einmal, Dame! fagte er. Ich will doch fehen, wer
immer mit mir lebt und mir nicht ähnlich werden foll.
Ich erwiderte, es wäre aber nur in feiner Ruchlofigkeit.
Wie es Nacht war, ging er, um fich von Meyer die Weihe
der Kraft von Zacharias Werner vorlefen zu laffen.
[964 ] Februar 7. K. L. Fernow an G. v. Kügelgen.
Seit vierzehn Tagen bin ich nun im Befitze der
mir überfandten vier Porträts.* ^ Goethe ift ganz vor^
züglich befriedigt und zufrieden, fowohl über die tech^^
nifche Vollendung, welche den viel geübten Künftler
zeigt, als auch über das Charakteriftifche, was in jedem
Bilde fo glücklich aufgefaßt und als Einheit durchs Ganze
gehend ausgedrückt ifi:. Vorzüglich gefällt ihm die In;;
dividualität des Kolorits in jedem Kopfe, fowie die Be:=
fiimmtheit der Formen, die Du befonders in meinem Kopfe
beobachtet haft, ^^
Bei Goethe haft Du mit Deiner Kunfi: einen großen
Stein im Brette gewonnen. Er fucht und fchätzt nur das
Solide und läßt fich nicht von leerem Scheine blenden.
Er meint, daß man jetziger Zeit wohl keinen Porträt?
maier finden möchte , der imftande wäre , beffere
Porträts wie diefe zu liefern, und wünfcht auch einmal
etwas von Deinen größeren Arbeiten und Erfindungen
zu fehen.
[965.] Februar 11. Riemer.
Die Wahlfprüche, bemerkte Goethe, deuteten auf das,
was man nicht hat, fondern wonach man ftrebt. Nee
temere nee timide.
* Fernow, Oehlenfchläger, Müller und Saume von Kügelgen.
478 Riemer. [966
Richter in Göttingen hatte ebenfowenig auream medio?
critatem als Wieland, der fein ganzes Leben in Extremis
zubrachte.
[966.] Februar 22. Riemer.
Es ift ganz einerlei, auf welcher Seite Ihr zugrunde
geht, auf der aktiven oder paffiven, erwiderte Goethe
fcherzhaft auf die Bemerkung, daß ein kleiner, zeither
wilder vorwitziger Knabe auf einmal wie geknickt und
umgekehrt erfcheine, ohne krank zu fein, fo daß man
ihn nicht wiedererkenne.
[967.] Februar 14./26. K. L. Fernow an G. v. Kügelgen.
Ich fchrieb Dir neuhch; dies Urteil, nach welchem
Du mir zu viel Bewegung gegeben, war nur das einiger
Menfchen, die mich vielleicht nicht anders, als in einer
gewöhnlichen und gleichgültigen Stimmung aufgefaßt haben.
Halte Dich an Goethens Urteil, welcher, fehr zufrieden
damit, zu einem jener Wenigen, der in der Gefellfchaft,
wo auch ich mich befand, diefe Einwendung machte, fagte :
Ift denn Fernow nicht lebhaft? Laffen Sie fich nur mit
ihm ein, und Sie werden ihn finden, wie ihn fich Kügelgen
gedacht hat. Wenn man vier folche Bilder von einem
Maler fieht, fo kann man überzeugt fein, er hat über
jeden Charakter reflektiert, er hat ihn nach feiner Anficht
genommen, und damit muß man zufrieden fein, und ihm
die Ehre geben, daß er recht getan hat, was er tun follte.
Wenn Kügelgen Fernows Porträt noch viermal malte, fo
würde er ihn vielleicht viermal anders nehmen und alle
vier Variationen könnten vortrefflich fein.
[968.] März 1. Riemer.
Kotzebue fei wie ein Pagliaffo: Wenn er die Leute
auf dem Drahte tanzen fieht, fo fagt er: Was ift denn
das weiter? Das kann ich auch (nämlich auf dem Erds:
boden). Was foll denn das dort heißen? Warum nicht
hier? Das kann ich und noch dazu * * * Das macht
mir einmal nach auf eurem Drahte 1
[969.] März 5./8. Johanna Schopenhauer.
Goethe fagt, ich mache die ausgefchnittenen Blumen
ebenfo gut wie Runge; das ift aber nicht wahr. Dann
972] Weimar. 1807. 479
ift fein Geficht in Kreide gezeichnet. Goethe fagte, er
habe nie ein Geficht wie feines gefehen. ^ Hernach
führte er mich im Parke fpazieren. ^
Seit ein paar Abenden Ueft Goethe felbft bei mir
vor und ihn dabei zu hören und zu fehen ift prächtig.
Schlegel hat ihm ein überfetztes Schaufpiel von Calderon,
Der flandhafte Prinz, im Manufkripte gefchickt; es ift
Klingklang und Farbenfpiel, aber er lieft auch den Abend
keine drei Seiten: fein eigner poetifcher Geift wird gleich
rege. Dann unterbricht er fich bei jeder Zeile, und taufend
herrliche Ideen entftehen und ftrömen in üppiger Fülle,
daß man alles vergißt und den einzigen anhört.
[970.] März 19. Riemer.
Goethe: Man wird fich deffen, was man hat oder
nicht hat, ift oder nicht ift, erft am Gegenteile von diefem
bewußt oder inne.
Darum werden fo viele Menfchen durch die Er^
fcheinung eines neuen, fremden Menfchen in der Gefeilt:
fchaft beunruhigt. Er entdeckt ihnen, was fie nicht haben,
und dann haffen fie ihn, oder er entdeckt ihnen durch
fein Gegenteil, was fie haben, und fo verachten fie ihn
wieder. Ift er befonders höflich und galant, fo ift er den
Groben zuwider; ift er grob, fo ift er den Höflichen
und im Grunde allen zuwider; und fo durch alles durch.
[971.] März 19. Riemer.
Goethe: Die Natur kann zu allem, was fie machen will,
nur in einer Folge gelangen. Sie macht keine Sprünge. Sie
könnte z. E. kein Pferd machen, wenn nicht alle übrigen
Tiere voraufgingen, auf denen fie wie auf einer Leiter
bis zur Struktur des Pferdes heranfteigt. So ift immer
Eines um Alles, Alles um Eines willen da, weil ja eben
das Eine auch das Alles ift. Die Natur, fo mannigfaltig
fie erfcheint, ift doch immer ein Eines, eine Einheit, und
fo muß, wenn fie fich teilweife manifeftiert, alles Übrige
diefem zur Grundlage dienen, diefes in dem Übrigen
Zufammenhang haben.
[972.] März 20. Riemer.
Franzofen find Pedanten, — bemerkte Goethe, das
heißt, fie können aus der Form nicht heraus.
I
480 Riemer. [973
[973.] März 22. Riemer.
Morgens bei Goethe. Intereffante Materien im Ge?
fpräch. Fürftin Gallitzin ging noch in der Blüte ihrer
Jahre vom Hofe ab, aus ReHgiofität. Sie fagte zu Goethe,
als fie ihm was Großes anvertraute (es waren die ge^:
fchnittenen Steine) : Wenn Ihr mich betrügt, fo fchadet's
auch nichts, fo bin ich um eine Erfahrung reicher. —
Es hat wohl jeder im Leben Momente, Vorfälle gehabt,
über die er nicht hätte hinauskommen follen (und doch
ift er's, wie Goethe über den Werther).
[974.] März 12./22. Johanna Schopenhauer an ihren Sohn.
Er hat jeden Abend feinen Standhaften Prinzen ftand?
haft gelefen bis geftern, wo er ihn zu Ende brachte. Es
ift ein wunderfames Wefen darum, und es find wahrlich
Dinge darin, die gerade ins Herz dringen, und wo es
mir anfängt möglich zu erfcheinen, daß man Calderon
neben Shakefpeare nennt. Aber wie viel Wuft, Haupt:;
und Staatsaktionen find mit hineingewebt, und dann das
ganze füdfiche Wefen, das Farbenfpiel, das Spiel mit
Bildern und Tönen, die unfere nördliche Naturen gar
nicht anfprechen. Indeffen ift es doch ein hoher Genuß,
von Goethe dies lefen zu hören; mit feiner unbefchreib^
liehen Kraft, feinem Feuer, feiner plaftifchen Kunft reißt
er uns alle mit, obgleich er eigentlich nicht kunftmäßig
gut lieft. Er ift viel zu lebhaft, er deklamiert, und wenn
etwa ein Streit oder gar eine Bataille vorkommt, macht
er einen Lärm wie in Drurylane, wenn es dort eine Schlacht
gab. Auch fpielt er jede Rolle, die er Heft, wenn fie
ihm eben gefällt, fo gut es fich im Sitzen tun läßt. Jede
fchöne Stelle macht auf fein Gemüt den lebhafteften Ein^:
druck: er erklärt fie, lieft fie zwei?, dreimal, fagt taufend
Dinge dabei, die noch fchöner find — kurz, es ift ein
eigenes Wefen, und wehe dem, der es ihm nachtun wollte.
Aber es ift unmöglich, ihm nicht mit innigem Anteile,
mit Bewunderung zuzuhören, noch mehr, ihm zuzufehen;
denn wie fchön alles diefem feinem Gefichte, feinem
ganzen Wefen läßt, mit wie einer eigenen hohen Grazie
er alles dies treibt, davon kann niemand einen Begriff
fich machen. Er hat etwas fo rein Einfaches, fo Kind:;
liches. Alles, was ihm gefällt, fieht er leibhaftig vor fich;
bei jeder Szene denkt er fich gleich die Dekoration und
wie das Ganze ausfehen muß.
975] Weimar. 1807. 481
Zwifchendurch fingt die Bardua uns ein Lied von
Goethe, von Zelter oder Himmel komponiert. Er hat
das gern und extert die gute Bardua nicht wenig, wenn
fie undeutlich ausfpricht oder gar die Verfe verwechlelt.
Letzt habe ich entdeckt, daß fein Lied: Ich hab' mein'
Sach' auf nichts geftellt, recht gut zur Melodie, Es gingen
drei Burfche zum Tore hinaus, fich paßt. Darüber hatte
er große Freude, und nun muß die Bardua es jeden
Abend fingen.
[975.] Oktober 1806/März 1807. G. v. Reinbeck.
In der Gesellfchaft im Haufe der Frau Hofrätin
Schopenhauer '^ hatten wir das Vergnügen, Bertuch,
Vater und Sohn, Riemer, Falk, Fernow, Stephan Schütze
u. m. und einige Damen zu finden. Zum erften Male
erfchien die Frau Geheimrätin von Goethe darin: eine
Frau von noch vielem materiellen Reiz, an welcher man
Gutmütigkeit und einen ftets gleich heitern Sinn rühmte,
wie dies mit Temperamenten der Art gewöhnlich yqt^
bunden ift. Später kam der Geheimrat. Er trat mit einem
freundlich gezogenen Hml Hml nach allen Seiten grüßend
ein und fah fich gleich nach einem Stuhle um. Jetzt be^s
fchaute er fich den Kreis und als fein Auge auf mich
fiel, fi:and er auf und kam auf mich zu. Natürlich er^:
hob ich mich fogleich. Er bückte fich feierlich und fagte:
er habe mir feinen Dank abzufiiatten. Ich fragte, wo;:
durch ich fo glücklich gewefen fei, mir diefen zu er^s
werben? Ich hatte immer den Vorfatz, Rußland einmal
zu befuchen, antwortete er, Sie haben mich aber voll^
kommen davon geheilt. Das würde ich fehr bedauern,
erwiderte ich, zunächft für Rußland '^ dann aber auch,
erlauben Ihre Exzellenz, daß ich es fage, um Ihrer felbft
willen, f^ Es war von feiner Seite eine fcherzhafte Wen:s
düng, mir anzudeuten, daß er meine damals erfchienenen
Flüchtige Bemerkungen auf einer Reife über Moskau ufw.
gelefen habe, die einiges Auffehen machten durch die
von den gewohnten Lobpreifungen eines Storch hier und
da abweichenden Anfichten und Schilderungen nach einem
14 jährigen Aufenthalt in Petersburg. Ich ftellte ihm nun
meine Frau vor, mit welcher er fich fehr freundlich unteres
hielt. ^ Goethe war in der heften Laune von der Welt.
Er fprach viel mit mir über Rußland, fragte nach mehreren
Bekannten dafelbft, wir kamen auf das wieder eröffnete
I ' 31
482 G. V. Reinbeck. [976
Theater, die Konverfation wurde allgemein und war unges;
niert, und ich dankte meinem lieben Fernow für diefe reiche
Quelle des Genuffes, die er mir in Weimar eröffnet hatte
und die ich von diefem Abend an nie unbenutzt ließ.
Ich machte hier die intereffanteften Bekanntfchaften. Goethe
fehlte feiten dabei. ^ Da fand fich immer etwas Neues
zu berichten oder vorzuzeigen, wozu dann auch Goethe
und Meyer hilfreich waren. «^ Oft wurde auch vorge^
lefen, befonders Calderon in der Überfetzung von Schlegel.
Die Rollen wurden verteilt und an den Chören mußten
auch die Frauen teilnehmen. Goethe wies fie an, wie
fie fprechen foUten, wobei es denn oft beluftigenden
Widerfpruch gab. Im Tragifchen gefiel mir Goethes Vor?
trag nicht, ich fand zuweilen falfches Pathos darin, aber
im Komifchen war er ganz unvergleichlich. Oft betraf
auch die Unterredung die Sprache, und ich erinnere mich
noch des Aufwandes von Scharffinn, für aufgegebene
Fremdwörter echt deutfche zu fuchen. So fchuf Goethe
für balancieren: in der Schwebe, und ich glaube, der
Ausdruck, der in den meiften Fällen «^ fo treffend ift,
trat an diefem Abend zuerft hervor. Der unlängft er?
lebten Kataftrophe wurde faft gar nicht gedacht, und ich
erinnere mich nicht, daß Goethe jemals über Politik ge?
fprochen hätte.
[976.1 März 24. Riemer.
Goethe: Die Formel der Steigerung läßt fich auch
im Äfihetifchen und Moralifchen verwenden.
Die Liebe, wie fie modern erfcheint, ift ein Gefteigertes.
Es ift nicht mehr das erfte einfache Naturbedürfnis und
Naturäußerung, fondern ein in fich kohobiertes, gleich?
fam verdichtetes und fo gefteigertes Wefen.
Es ift einfältig diefe Art zu verwerfen, weil fie auch
noch einfach exiftiert und exiftieren kann.
Wenn man in Küche und Keller ein Gefteigertes
fucht und darauf ausgeht, warum foll man nicht auch
diefen Genuß für die Darftellung oder für das unmittel?
bare Empfinden fteigern dürfen und können?
Jeder Koch macht auf diefe Weife feine Brühen und
Saucen appetitlicher, daß er fie in fich kohobiert.
[977.] März (28). Riemer.
Goethe: In dem, was der Menfch techniziert, nicht
bloß in den mechanifchen, auch in den plaftifchen Kunft?
979] Weimar. 1807. 483
Produktionen ift die Form nicht wefentlich mit dem Ins;
halt verbunden, die Form ift dem Stoff nur auf:s oder ab::
gedrungen. Die Produktionen der Natur erleiden zwar
auch äußere Bedingungen, aber mit Gegenwirkung von
innen. Kurz es ift hier ein lebendiges Wirken von außen
und innen, wodurch der Stoff die Form erhält.
Die Form des Leuchters ift dem flüfligen Meffing
aufgenötigt. Sich felbft überlaffen, hätte es fich aus (ich
und durch die einwirkende Luft geformt.
Man könnte einen Leuchter auch aus Salz gerinnen
laffen. Hier würde fich das Salz zwar innerlich kriftallifieren,
aber nach außen zu wird ihm die Form des Leuchters
aufgedrungen I
[978.] April 15. Henriette v. Knebel an ihren Bruder.
Goethe hat mir fagen laffen, daß er Dir heute die
Trauerrede auf die Herzogin Amalie felbft fchicken würde.
Er hat diefen Morgen die Prinzeß mit fchönen Blumen
befchenkt, die fie fehr erfreuen, einem Lack:: und einem
Levkojenftock in fchönfter Blüte. Vorigen Mittwoch waren
wir vormittags bei ihm, der Geheimrat Wolf war da und
hielt anfangs auch einen kleinen Vortrag über die Alten,
ihre Gefchichte, ihre Sprache ufw., dann brachte uns
Goethe einige Frühlingsblumen und zeigte uns recht
hübfche Sachen, mit guten Bemerkungen; wobei ich das
artige Hungerblümchen befonders lieb gewann, das fo
wenige Bedürfniffe hat, und bei wenig Saft und geringer
Wärme fich fo fchnell entwickelt und hervorkommt, daß
man es faft wachfen fehen kann.
[979.] April 23. Bettina Brentano an Elifabeth Goethe.
Da ging die Tür auf und da ftand er feierlich ernft,
und fah mich unverwandten Blickes an; ich ftreckte die
Hände nach ihm, glaub ich, — bald wüßt ich nichts
mehr, Goethe fing mich rafch auf an fein Herz. Armes
Kind, hab ich Sie erfchreckt, das waren die erfien Worte,
mit denen feine Stimme mir ins Herz drang; er führte
mich in fein Zimmer und fetzte mich auf dem Sofa
fich gegenüber. Da waren wir beide ftumm, endlich
unterbrach er das Schweigen: Sie haben wohl in der
Zeitung gelefen, daß wir einen großen Verluft vor wenig
Tagen erlitten haben, durch den Tod der Herzogin Amalie.
Achl fagte ich, ich lefe die Zeitung nicht. — So! — ich
I 31*
484 Bettine Brentano. [980
habe geglaubt, alles intereffiere Sie, was in Weimar vor^
gehe. — Nein, nichts intereffiert mich als nur Sie, und
da bin ich viel zu ungeduldig, in der Zeitung zu blättern.
— Sie find ein freundliches Kind. — Lange Paufe — ich
auf das fatale Sofa gebannt, fo ängftlich. Sie weiß, daß
es mir unmöglich ifi, fo wohlerzogen da zu fitzen. —
Ach Mutter! Kann man fich felbft fo überfpringen? —
Ich fagte plötzlich: Hier auf dem Sofa kann ich nicht
bleiben, und fprang auf. — Nun! fagte er, machen Sie
fich's bequem; nun flog ich ihm an den Hals, er zog
mich aufs Knie und fchloß mich ans Herz. ^^
Es war voriges Jahr im Eingang Mai, da ich ihn fah
zum erfienmal, da brach er ein junges Blatt von den
Reben, die an feinen Eenftern hinaufwachfen, und legt's
an meine Wange und fagte: Das Blatt und deine Wange
find beide wollig; ich faß auf dem Schemel zu feinen
Füßen und lehnte mich an ihn, und die Zeit verging
im ftillen. — O wie oft hab ich an diefes Blatt gedacht,
und wie er damit mir die Stirne und das Geficht fi:reichelte,
und wie er meine Haare durch die Finger zog und fagte:
Ich bin nicht klug; man kann mich leicht betrügen, du
haft keine Ehre davon, wenn du mir was weismachft
mit deiner Liebe. — Da fiel ich ihm um den Hals. ~
Er hat gefagt, ich foU ihn vertreten bei Ihr, und foll
Ihr alles Liebe tun was er nicht kann, und foll fein gegen
Sie, als ob mir all die Liebe von Ihr angetan war die er
nimmer vergißt. — Wie ich bei ihm war, da war ich fo
dumm und fragte, ob er Sie lieb habe, da nahm er mich
in feinen Arm und drückte mich ans Herz und fagte:
Berühr eine Saite, und fie klingt, und wenn fie auch in
langer Zeit keinen Ton gegeben hätte. Da waren wir
ftill und fprachen nichts mehr hiervon.
[980.] April 24./25. Henriette v. Knebel.
Eine gute Lektüre, die uns etwas von der Gegens:
wart entfernt, ifi: jetzt von großem Wert, und es war
mir fehr fchmeichelhaft, als Goethe gefi:and, da wir ihm
kürzlich auf dem Spaziergang begegneten, daß er jetzt
am liebften Taufendundeine Nacht läfe; denn juft fo
mache ich es auch.
[98L] April (24). Bettina Brentano an Elifabeth Goethe.
In diefer Tafche liegt verborgen ein Veilchenfi:rauß,
den Ihr Herr Sohn, in Weimar in Gefellfchaft bei Wie^;
983] Weimar. 1807. 485
land, mir heimlich im Vorübergehen zuwarf. — Frau
Mutter, damals war ich eiferfüchtig auf den Wolfgang
und glaubte, die Veilchen feien ihm von Frauenhand ge^^
fchenkt; er aber fagte: Kannft du nicht zufrieden fein,
daß ich fie dir gebe? — Ich nahm heimlich feine Hand
und zog fie an mein Herz, er trank aus feinem Glas und
ftellte es vor mich, daß ich auch daraus trinken follte;
ich nahm es mit der linken Hand und trank, und lachte
ihn aus, denn ich wußte, daß er es hier hingeftellt hatte,
damit ich feine Hand loslaffen follte. Er fagte: Haft du
folche Lift, fo wirft du auch wohl mich zu feffeln wiffen
mein Leben lang.
[982.1 Mai 3. F. Paffow an Hudtwalker.
Ich ging zu Goethe. Er erinnerte fich gleich meiner
von Halle. Ich hegte die fchönfte Hoffnung. Ich fagte
ihm meinen Plan, von Johannis bis Michaelis in Weimar
zu leben, und meinen Wunfeh, ihn dann als meinen
Lehrer anfehn zu dürfen. Aber er antwortete mir, er
ginge im Juni fchon ins Karlsbad, wo er bis Ende des
Augufts bliebe. Du kannft denken, wie wenig erfreulich
mir das war. Er fragte mich indes, welchen Lebensplan
ich verfolge, und ließ mich ihm von meinen Arbeiten
Rechenfchaft ablegen. Mit Entzücken glaubte ich in feinem
Geficht zu bemerken, daß er mein Ziel als würdig er?
kenne, und daß er mit mir zufrieden fei. Ich blieb faft
zwei Stunden bei ihm. Beim Weggehen reichte er mir
feine Hand und fagte: Ich hoffe Sie dennoch bald wieder
in unferer Nähe zu fehn. Indem ward ein Fremder herein?
geführt, und ich mußte mich entfernen, ohne mir über
feine letzten rätfelhaften Worte Licht erbitten zu können.
Am letzten Mittwoch erhielt ich das Unerwartetfte. —
Ich erhielt einen Brief vom Minifter von Voigt aus Weimar,
der Herzog von Weimar habe ihm befohlen, mir hier?
mit die durch den Abgang des Profeffor Voß nach Heidel?
berg erledigte Profeffur der griechifchen Sprache am Wei?
marfchen Gymnafium zu übertragen, die ich fogleich am
1. Juli d. J. antreten folle.
[983.] Mai 2./4. Riemer.
Goethe wollte im Wertherfchen Gefchmack eine Reife?
befchreibung durch die Schweiz liefern und die Briefe
unter mehrere verteilen, um objektiv zu werden, wie er
I
486 Riemer. [984
mir fagte, als wir zufammen diefe Briefe durchgingen,
um fie in die Ausgabe von 1806 zum erftenmal aufzus:
nehmen.
[984.] Mai (8). G. v. Reinbeck.
Wir befuchten zum letztenmal die Gefellfchaft im
Schopenhauerfchen Haufe und fanden fie zahlreicher als
gewöhnlich. Goethe unterhielt fich viel mit mir von
meinen Plänen, die damals noch ins Weite gingen und
nach dem fchönen Italien firebten und man kann fich
leicht vorftellen, wie unterhaltend und belehrend feine
Äußerungen waren. Gelefen wurde diefen Abend nicht,
und wenn dies der Fall war, fo pflegten Goethe und
Meyer, nachdem etwa eingetroffene neue Kunftblätter be^
fchaut und beurteilt waren, auf kleinen Papierblättern mit
Bleiftift zu zeichnen, Goethe gemeiniglich Landfchaften,
die er dann wohl in Sepia ausführte. Dies gefchah auch
diesmal. Ich faß am Zeichentifche Goethe gegenüber.
Er hatte ein Blatt vollendet, fah zu mir herüber und
fchnellte das Blättchen mir zu und ich — ich muß mich
fchon auslachen laffen — fi:att es fogleich einzuftecken
als ein höchft willkommenes Andenken, war zu fchüchtern
dazu. Ich befah es und legte es dann wieder zu Goethe
hinüber auf den Tifch. Als er aufgeftanden war, wollte
ich das Verfäumie nachholen, allein das Blättchen war
nicht zu finden. Wahrfcheinlich war ein anderer ge^
fcheiter gewefen und hatte es an fich genommen. In Hins^
ficht der Kunft waren diefe Zeichnungen nicht eben be^
deutend. Auch zeigte fich in Goethe kein befonderer
mufikalifcher Sinn, aber feine Lieder in Reichardtfchen
oder Zelterfchen Kompofitionen zu hören, machte ihm
auch bei mittelmäßigem Vortrag Vergnügen.
[985.] Mai 9. G. v. Reinbeck.
Ich machte ~ meinen Abfchiedsbefuch bei Goethe,
den ich fo gar liebgewonnen hatte. Er war allein. Ich
mußte auf dem Sofa Platz nehmen, und er fetzte fich auf
einen Stuhl, mir gegenüber. Es war eine gewiffe Feiere
lichkeit, nicht Vornehmigkeit, die ich auch wohl kannte,
in feinem Benehmen und mir war's recht fchwer ums
Herz. Unfer Gefpräch betraf meine Reife und meinen
Aufenthalt in Heidelberg. Die Natur und die Vergangen^
heit bieten Ihnen dort viel, fagte er, ob aber das Leben?
987] Weimar. 1807. 487
Ich weiß nicht, ob Sie mit dem deutfchen Univerfitäts^
wefen bekannt find? Es ift nicht eben das angenehmfte,
und in Heidelberg befonders fcheint viel Parteiwut zu
herrfchen, und die Wiffenfchaft trennt ftatt zu vereinigen.
Es ift wie mit der Kirche dort. Proteftanten und Katho^
liken find in einem Gebäude unter dem nämlichen Dache
vereint, allein in der Mitte ifi: zwifchen beiden eine dicke
Mauer. Haben Sie dort Bekannte? Ich fagte ihm, daß
ich von Dresden aus an Profefl^or Fries und von dem
guten Generalfuperintendenten (Voigt) an Heinrich Voß
Briefe hätte. Da find Sie gut verfehen, erwiderte er,
grüßen Sie mir den Heinrich, das ift ein lieber kindlicher
Menfch, und grüßen Sie auch den Alten von mir! Unfer
Gefpräch verbreitete fich über mehreres und auch mit
Wehmut von meiner Seite über meinen achtmonatlichen
Aufenthalt in Weimar und das darin Erlebte, wobei ich
es für ein wahres Glück fchätzte, zu einem fo langen
Aufenthalt gleichfam gezwungen worden zu fein. Was
Sie an Ihrem Aufenthalt hier etwa zu tadeln finden, ver^
fetzte er, wird Ihnen in der Erinnerung vielleicht noch
mehr Genuß gewähren, als was Sie jetzt zu loben haben.
Überftandenes Ungemach hat einen eigentümlichen Reiz.
Ich konnte das aus einer reichen Erfahrung nur beftätigen.
Endlich mußte doch aber an den Aufbruch gedacht werden
und ich konnte den Entfchluß dazu nicht finden. Als
ich zuletzt faft gewaltfam aufbrach, verfagte mir das Wort.
Ich ftammelte einiges — ich weiß felbft nicht was. Goethe
war fichtbar bewegt. Er reichte mir die Hand. Reifen
Sie glücklich, fagte er, und vergeffen Sie uns nicht! Nie,
nie! rief ich, und man wird's natürlich finden, daß ich
Wort hielt, und ich habe auch die Freude, daß ich in
Weimar nicht ganz vergeffen wurde.
[986.] Mai 11. Riemer.
Als über Tifch von Erasmus die Rede war, fagte
Goethe: Erasmus gehöre zu denen, die froh find, daß fie
felbft gefcheit find, und keinen Beruf finden, andre ge*
fcheit zu machen, — was man ihnen auch nicht verdenken
könne.
[987.] Mai. F. Paffow an Hudtwalker.
Goethe ift noch nicht hier, kommt aber im Auguft,
da er feinen Plan mit Wien aufgegeben hat, mich an
I
488 F. Paffow. [988
fein Haus zu knüpfen. Seine jetzige Frau hat mir das
fchon zu verfiehen gegeben. Und nicht umfonftl — Einen
zweiten gefellfchaftUchen Berührungspunkt hat mir eine
Landsmännin von Dir, eine hier lebende Fiofrätin von
Schopenhauer gegeben, die Ou vielleicht kennfi. Ihr
Fiaus ift das einzige, was Goethe befucht, und wo man
ihn ganz Goethe findet. Im Winter ift er und noch einigie
Weimaraner, z. B. Einliedel, Meyer, Fernow, Weiffer alle
Abende des Donnerstags und Sonntags bei ihr, wo er
zum Entzücken liebenswürdig fein foll. Noch vor feiner
Reife hat er gleich nach meiner Berufung die Schopen::
hauer gebeten, auch mich in diefen Zirkel zu zählen.
[988.] Mai 16. Riemer.
Um 12 Uhr in Jena. Unterwegs das Schlachtfeld
betrachtet. Mittags beim Herrn Major von Knebel. Nach
Tifche bei Frommanns. — Goethes Verftimmung durch
die politica und das Hundegebell. Ging noch mit mir
um die Stadt. Spaße aus dem Zinkgräf*. Gefchwätz mit
Goethe. Aus Zinkgräfs Apophthegmen. Gott definiert
er alfo, daß er fei ein unausfprechlich Seufzen, im Grund
der Seelen gelegen. Ein anderes führte Goethe an: Nihil
contra Deum, nisi Deus ipse.
[989.] Mai 17. Riemer.
Zu Goethe. Flucht nach Ägypten diktiert. Goethe
äußerte, er habe nie auf Despoten fchimpfen hören, als
die felbft Despoten gewefen, kleine oder große. Mit Be?
Ziehung auf die Jenaifche Brandftätte bemerkte er: Nie^:
mals werde ein Fürft oder großer Herr von einer Sache
fchlechter unterrichtet, als wenn er fich felbft dahin bes:
gebe, um fich zu unterrichten. Ferner äußerte er: Die
Franzofen hätten keine Imagination, fonft hätten fie ftatt
der zwanzig Häufer in Jena und Weimar, wenn fie nicht
zufällig abgebrannt, fondern von ihnen angezündet find,
die Stadt an allen Ecken angezündet und mit Stumpf und
Stiel abgebrannt; das hätte dann anders in die Welt hin:;
eingeklungen. Er fagte weiter:
* Zinkgräfs Deutsche Apophthegmata, das ift: der Deutfchen
kluge Sprüche. Straßburg 1626.
994] Jena 1807. 489
Die Weiber müßten nur lieben oder haffen; dawären
fie ganz fcharmant. Die Männer aber müßten weder lieben
noch haffen. So käme alles wieder ins Gleichgewicht.
Die Irrtümer des Menfchen machen ihn eigentlich
liebenswürdig.
[990.] Mai. Riemer.
Goethe: Die Arzneikunde ift viel mehr politifch als
ein anderes. Man muß auf die Krankheit losgehen, wie
auf einen großen Herrn oder ein hübfches Mädchen, die
man be— will, wie ein Diplomat den andern durch einen
Pfiff, um ihr etwas abzugewinnen. Nur en tant, daß er
pfiffig ift, ift einer ein guter Arzt.
[991.] Mai 19. Riemer.
Gefpräch über Kunft. In der Malerei fehle fchon
längft die Kenntnis des Generalbaffes, es fehle an einer
aufgeftellten approbierten Theorie, wie es in der Mufik
der Fall ift.
[992.] Mai 19. Riemer.
Als die Rede davon war, daß Napoleon feinen
Soldaten den Sold vorenthalte, fagte Goethe: da alle
Welt über den Egoismus, der jetzt herrfche, Klage führe,
fo fei Napoleon gekommen, die Menfchen uneigennützig
zu machen.
[993.] Mai (20). K. L. v. Knebel.
Wir haben Goethe noch hier, und er wandelt in
feiner halben Hypochondrie, wie er fie nennt, unter uns
herum und feine Gegenwart tut uns wohl. ~ Auch fcheint
es mir, daß er froh ift, der weimarifchen böfen Luft auf
eine Weile entronnen zu fein.
[994.] Mai 21. Riemer.
Zu Goethe. Die neue Melufine. Abends zu From^
manns. Über die Eitelkeit. Man mutzte fich jetzt in der
Gefellfchaft einander die Eitelkeit auf. Dadurch gehe die
Gefellfchaft zugrunde, denn nun würden die einen bloß
paffiv, indem fie dächten: wenn ich die angenehme Eigenes
fchaft, die ich befitze, nicht zeigen foll, fo will ich tun,
als hätte ich gar keine. Und nun paffen fie den andern
I
490 Riemer. [995
auf. Dadurch bemächtigt (ich gerade der Schlechtefie der
Gefellfchaft, der dreifi genug ifi. — Im Alter fchlafe man
eigentUch nicht, der Schlaf ziehe fich nur über die Gegen^
ftände des Tags wie eine Art von Flor und laffe fie durch::
fcheinen. So fah Goethe vorige Nacht fein Märchen von
der Melufine unter einer Architektur hervorfchimmern.
Er hielt das im Traume für das Schöne und Rechte und
wollte es fefthalten; aber wie er erwachte, verfchwand
der Unfinn. — Die Nachtigallen, bemerkte Buffon, fchlagen
nur fo fchön während der Begattungszeit. Nachher ift
ihre Stimme rauh und ganz anders, fo daß man einen
andern Vogel zu haben glaubt. Die Griechen kannten
daher die Nachtigall als zwei verfchiedene Vögel unter
zweierlei Namen, wie Plinius bemerkt. Die Tiere werden
erft vokal in diefer Zeit, als Hirfche, Auerhähne u. dgl.
[995.] Mai 22. Riemer.
Elektrometer. Die Luft ifi niemals elektrifch, fondern
der Gegenfiand in ihr wird es durch feine Pofition und
Berührung mit einem anderen.
[996.] Mai 23. G. Schloffer.
Im Frühling des Jahres 1 807 wollte ich das Schlacht:^
feld befehen, fiieg den hohen, fieilen apoldaifchen Berg
hinauf, auf deffen Gipfel, der Windknollen genannt, man
Napoleon zu Ehren, oder vielmehr zur Aufnahme der
vielen Befucher, ein kleines Tempelchen gebaut hatte. Als
ich in diefes trat, fand ich darin den Geheimen Rat von
Goethe, dem ich bekannt zu fein die Ehre hatte. Er kam
mir mit feiner gewöhnlichen Freundlichkeit entgegen, und
da er eben im Begriffe war, einigen Frauenzimmern, die
er begleitete, den Verluft der Schlacht zu erklären, fo
vernahm ich folgendes: Als die Franzofen bemerkten, daß
der Windknollen nicht befetzt war, wagten es zwanzig
Mann hinaufzufchleichen, um zu fehen, ob fie dort feften
Fuß faffen könnten. Kaum hatten die preußifchen Hu?
faren in dem gegenüberliegenden Dörfchen Ifferftädt fie
bemerkt, als fie auch ihren Rittmeifter um die Erlaubnis
baten, diefe Wagehälfe den Berg hinunterzufiürzen. Er
wagte aber nicht, diefe Erlaubnis aus eigner Macht zu
geben, fondern fchickte nach Kapellendorf an den Felds:
marfchall Fürfien von Hohenlohe^^Ingelfingen, diefer aber
an den Oberfeldherrn, Herzog von Braunfchweig inHaffen::
997] Jena. 1807. 491
häufen, und es kam ein Verbot zurück. Aus den zwanzig
Franzofen waren indeffen zweihundert geworden. Neue
Anfrage, neue Sendungen, neues Verbot. Nun hatten
fich die zweihundert Mann zu einem fiarken Regimente
vermehrt. Die Preußen brannten vor Begierde fie an^
zugreifen, der Fürft erhieh aber zur Antwort noch ein
ftrengeres Verbot bei Verluft feines Kopfes; denn es
foUten die Feinde durchaus nicht auf der jenaifchen Seite
gereizt werden, um fie nach Haffenhaufen zu ziehen, und
dort en bataille rangee nach aher preußifcher Art zu
fchlagen. So waren denn die Franzofen bald in großer
Maffe oben auf den fteilen Bergen, von denen fie leicht
hätten können abgehalten werden. Als der Fürfi: bald
nach dem Beginne der Schlacht fehen mußte, daß er eine
überlegene Macht gegen fich hatte, fchickte er an den
General Rüchel, welcher mit der Referve in dem Gehölze
Webicht vor Weimar ftand, daß er ihm zu Hilfe kommen
möchte. Aber Rüchel kam nicht und fo wurde er dreist
mal vergeblich aufgefordert. Um fich für eine wirkliche
oder vermeintliche Zurückfetzung, die er früher im Kriege
am Rhein vom Fürfi:en erlitten zu haben glaubte, zu
rächen, wollte er die Schlacht verlieren laffen, um fie dann
wieder herzuftellen und den Ruhm allein zu haben. Als
er endlich kam, fand er fchon alles in Flucht und Ver;s
wirrung, kommandierte: linke Schulter vorl Feuer! und
war kaum zu überzeugen, daß er Preußen auf Preußen
fchießen ließ. Der eingebildete Wiederherfi:eller der ver^
lorenen Schlacht mußte mit den Fliehenden fliehen.
[997.] Mai 16./24. H. Luden.
Nach der Schlacht bei Jena erkundigte ich mich bei
jeder Gelegenheit: wie es Goethen in den unglücklichen
Tagen gegangen wäre, und alle Erkundigungen brachten
mich zu dem Glauben, daß auch er fein Kreuz zu tragen
gehabt und den Jammer geteilt hätte, den ein fiegreicher
Feind, übermütig und trotzig, wie über die Befiegten, fo
über die wehrlofen Angehörigen der Befiegten zu bringen
pflegt. Etwa vier Wochen nach dem unglücklichen Tage
fand ich Goethe bei Knebel. Er war zum erfi:enmal wieder
in Jena.* Sein Geficht war fehr ernfi;, und feine Haltung
* [Ich finde nicht, daß Goethe nach der Schlacht eher, als
im Mai 1807 nach Jena gekommen fei.]
I
492 H. Luden. [997
bewies, daß auch auf ihm der Druck der Zeit lag. Der
Mann, fagte Knebel, hat's empfunden. — Ich habe fchon
gehört, fügte Goethe zu mir gewendet hinzu, daß Sie
fehr hart mitgenommen find. Ich konnte mein Schickfal
in wenige Worte zufammenfaffen und tat es. Von allem,
fagte ich, was wir während meiner Anwefenheit nach Jena
gefchafft hatten, und was ich bei meiner Abreife zurück;;
ließ, habe ich nicht das Geringfte wiedergefunden bei
meiner Zurückkunft, einige zerbrochene Kiften, Kaften
und Koffer ausgenommen. Ich habe den Schmerz gehabt,
meine junge Frau in eine völlig leere und kalte Wohnung
einzuführen, die kaum notdürftig gereinigt war von ab^
fcheulichem Schmutze. Herr von Knebel rief aus und
nicht zum erftenmal: Es ift greulich! es ift ungeheuer!
Goethe aber fagte einige Worte fo leife, daß ich fie nicht
verfiand. Als ich hierauf Gelegenheit nahm, zu fragen,
wie denn Se. Exzellenz durch die Tage der Schmach und
des Unglücks hindurchgekommen, antwortete Goethe mit
folgenden Worten: Ich habe gar nicht zu klagen. Etwa
wie ein Mann, der von einem feften Felfen hinab in das
tobende Meer fchauet und den Schiffbrüchigen zwar keine
Hilfe zu bringen vermag, aber auch von der Brandung
nicht erreicht werden kann, und nach irgendeinem Alten
foll das fogar ein behagliches Gefühl fein; — NachLukrez!
rief Knebel hinein* — fo habe ich wohlbehalten dage^;
fianden und den wilden Lärm an mir vorübergehen laffen.
Ich will nicht leugnen: bei diefen Worten, in der Tat
mit einer gewiffen Behaglichkeit ausgefprochen, lief mir
einige Kälte über die Bruft hinweg. Aber fie war fchnell
verflogen. Und da Knebel kein Wort fagte, fondern fich
mit feiner gewöhnlichen Beweglichkeit abgewendet etwas
zu tun machte, fo erlaubte ich mir das Schweigen zu
unterbrechen: Zuletzt ift es auch nicht der Mühe wert,
von meinem Verluft zu fprechen. Er ift mir nur ver^
drießlich, weil ich zurzeit noch jeden Augenblick daran
erinnert werde; denn ich bin in meinen Arbeiten unteres
brochen und geftört; ich kann die alten nicht fortfetzen
und keine neuen beginnen, weil es mir an allem not:;
wendigen Gerät und Gezeug gebricht. Überhaupt ver^s
fchwindet das Unglück der einzelnen, der Städte, Ge*
meinden und Familien, vor dem ungeheueren Unglücke,
* [De rerum natura, II, 1 sqq.]
999] Jena. 1807. 493
das auf Deutfchland, unferem Vaterlande liegt. Mich
drückt und quält lediglich die Zeit der Schmach und
Schande, die über uns eingebrochen ift, die uns bevor^
fteht. Wäre die Schlacht bei Jena gewonnen worden:
gern hätte ich jegliches Opfer dargebracht und auch nackt
und bloß den fliehenden Feinden nachgejubelt. Und dann
— alles, was mir genommen worden, kann erfetzt werden.
Das befte ift mir doch gebUeben; und fo lange wir felbft
find und die Berge da feftftehen und die ewige Sonne
fcheint, fo lange gebe ich nicht verloren weder meine
eigene Sache noch die Sache des Vaterlandes. Knebel
antwortete mit einigen Ausrufungen: Bravo, fo recht!
und dergleichen; Goethe aber fagte kein Wort und ver^
zog keine Miene. Hierauf lenkte Knebel das Gefpräch
auf etwas Literarifches ; ich aber beurlaubte mich bald.
[998.] Mai 16./21. K. L. v. Knebel.
Goethe ift geftern in der Frühe von hier abgereift.
Wir grüßten ihn noch beim Wegfahren aus unferem Fenfier.
Er fcheint fich faft ganz in fich und den weiten Umfang
feiner Befchäftigungen und Kenntniffe zu konzentrieren,
um den böfen Einflüffen der Zeit und der Umftände
widerftehen zu können und das mannigfaltige moralifche
und politifche Übel von fich zu halten. Es ift fchlimm,
wenn man gewiffermaßen an der Welt zu verzweifeln
anfängt und fich das Gemüt der freien Mitteilung ver^
fchheßt. Man bewahrt dadurch Übel, die fich doch viel^
leicht lindern ließen. Doch was läßt fich fagen! Die
Umftände machen vorher das Gemüt krank, und dann
kann das kranke Gemüt nicht, wie das gefunde, fich freie
Vorftellungen fchaffen. Goethe ift indeffen glückhch, daß
er fich einen fo reichen Vorrat von tiefen Kenntniffen
und Fähigkeiten aller Art hat anzufchaffen und zu er:=
halten gewußt.
[999.] Mai 25. Riemer.
Nach 4 Uhr von Jena weggefahren. Prächtiger Morgen.
Über Reinhold Lenz und Moritz gefprochen. Lenz hatte
einen befonderen Hang zur Intrige, auch gegen Goethe trotz
feiner Anhänglichkeit. Sie hatten zufammen in Straßburg
ftudiert. — Moritz' italienifche Reife ift gewiffermaßen
verdorben durch das Beftreben, es Goethe nachzutun.
Seinen Auffatz über die Kunft ift Goethe durchgegangen.
I
494 Riemer. [1000
[1000.] Mai 27. Riemer.
/\ Goethe: In der Jugend fleht man das Detail alsMaffe,
die Maffe als Detail; im Alter umgekehrt.
[1001.] Mai 30. Chriftine Reinhard an ihre Mutter.
Vous ne devinerez jamais, chere mere, avec qui nous
sommes en relations ä present a Karlsbad. Je veux laisser
votre curiosite en suspens et continuer mon recit. — Avant-
hier on causait dans mon salon et on se demandait si l'AUe^
magne et la langue allemande etaient destinees ä dis^s
paraitre entierement. Non, je ne le croirai jamais, me
dit quelqu'un, les Allemands, comme les juifs, se lais^
seront opprimer, mais pas plus qu'eux ils ne se laisseront
exterminer. Ils ne se decourageront pas et resteront forte^^
ment unis, meme s'il leur arrivait de n'avoir plus de
patriel Devinez qui parlait ainsi: c'etait Goethe!
II etait arrive peu de jours avant et, des le lende^
main, il m'avait envoye une lettre de Mme. Fromann,
par l'entremise du pvrofesseur Riemer, et m'avait annonce
sa Visite. Mon mari voulut le prevenir et se rendit chez
lüi apres le diner. On l'introduisit dans une chambre
oü il vit un homme äge, assez corpulent, vetu d'un veston,
qui disparut prestement dans la piece voisine et revint
un instant apres, revetu d'une redingote. II s'assit sur
le canape et eut soin de se mettre ä droite. Ses manieres
n'ont rien de fran^ais, rien d'afFable, elles sont brusques
et saccadees. Son expression est serieuse, mais lorsqu'il
sourit ses yeux petillent et l'esprit malin parait dans toutes
les rides de son visage. Il a ete tres prevenant parle de
Jassy, de notre internement, et s'est rappele un voyage
qu'il avait fait dans ces contrees.
Ainsi qu'il arrive frequemment pour les hommes celes:
bres, l'image que je m'etais faite de Goethe n'est nulle::
ment exacte. Il ressemble plus ä Antonio qu'au Tasse.
Toute sa maniere d'etre est celle d'un conseiller d'Etat,
son oeil seul denote le poete.
[1002.] (Juni.) Riemer.
Goethe: Die Welt ift wie ein Strom, der in feinem
Bette fortläuft, bald hier bald da zufällig Sandbänlce an^^
fetzt und von diefen wieder zu einem andern Wege ge^
nötigt wird. Das geht alles fo hübfch und bequem und
1008] Karlsbad. 1807. 495
nach und nach; dagegen die Wafferbaumeifter eine große
Not haben, wenn fie diefem Wefen entgegenarbeiten
wollen.
[1003.] (Juni.) Riemer.
G. ; Man ift fehr übel dran, daß man den Ärzten
nicht recht vertraut und doch ohne fie fich gar nicht zu
helfen weiß.
[1004.]
G. ; Wir find nicht darauf eingerichtet, das Leben
zu verlaffen, wenn es nichts mehr wert ift, und da muß
derjenige immer noch gepriefen werden, der es als er?
träglich haltbar verfpricht.
[1005.]
G. ; Daß die Pfaffen fo dumm gewefen, fich ein
folches Befitztum, wie ein Bad, ein Gefundbrunnen ift,
entgehen zu laffen und keine Anlagen und Anftalten für
Wunderkuren damit zu verbinden, wie beim Teich Bethesda.
— Die Naturlehre war damals völlig getrennt von der Idee.
Das Ideale war bloß geiftlich, chriftlich und in der Natur,
glaubte man, feien Zauberer, Gnomen, die alle unter
dem Teufel fianden. Die Welt gehörte dem Teufel, felbft
bis auf Luther.
[1006.] Juni 2. Riemer.
G. ; Man kann fchon Einen nicht, gefchweige denn
Viele unter einen Hut bringen, denn jeder fetzt ihn fich
anders zurecht I — Bei Gelegenheit von einem Apopthegma
im Zinkgräf.
[1007.] Juni 6. Riemer.
G. ; Man muß nicht auf die Sachen böfe werden;
denn das tut den Sachen ganz und gar nichts, fagt Marc
Aurel. — Alfo indignieren die Menfchen mich dann
und wann wohl; aber die Sachen finden mich immer
entfchloffen.
[1008.] Juni 10. Chriftine Reinhard an ihre Mutter.
Chere mere, je voulais vous ecrire hier apres une
longue promenade, lorsque Goethe est venu prendre le
the. II nous a fait un vrai cours sur sa nouvelle theorie
I
496 Chriftine Reinhard. [1009
de Couleurs. Sa fa^on de l'envisager, de l'expliquer, est
tres interessante; pourtant, quand on n'est plus sous le
rayonnement de son genie, on se dit que beaucoup de
ses deductions seront releguees, par les gens competents,
dans le royaume des chimeres. Charles suit mieux que
moi cet esprit etincelant. Le monde intellectuel dans
lequel il se meut embrasse tout: la philofophie, la bota^:
nique, l'astronomie, aucune science ne lui est inconnue.
Lorsque je Tai suivi pendant quelque temps, effleurant
tous les sujets et se maintenant toujours ä des hauteurs
inaccessibles, mon intelligence me refuse tout Service et
le sentiment de mon inferiorite m' ecrase. Je me rends
compte que c'est l'effet qu'il recherche et qui le flatte le
plus. Un meme jour il est venu quatre fois: dans la
matinee pour m'aider dans la copie que je fais de sa
carte des hauteurs, ensuite pour me rendre le Journal de
notre internement qu'il avait demande ä lire, puls pour
nous apporter des verres de couleur relatif ä son travail;
enfin, dans la soiree, pour s'excuser de ne pouvoir venir
souper.
Le duc de Weimar est ici depuis une huitaine et
nous le voyons constamment. Il est insignifiant; son
attachement pour Goethe date du temps oü, jeunes tous
les deux, les memes plaisirs les reunissaient. Leurs rapports
amicaux se sont maintenus, malgre la difference de leur
fortune, et cela parle en leur faveur. Le duc est tres
naturel, sans aucune morgue. Au cours d'une partie de
campagne ä laquelle Goethe l'avait amene, il s'est pro^
eure des lignes et il s'est mis ä pecher des petits pois?
sons dans la Toppel.
Le poete nous a apporte son livre d'amis en nous
demandant de nous y inscrire: j'en fus tout intimidee,
car il a ses theories sur les ecritures qui, selon lui,
donnent des aper^us sur le caractere des personnes; il
a fait une veritable etude de celle de Napoleon et il est
arrive ä fort bien la juger. Nous nous sommes tires de
cette epreuve en louant le genie universel du grand homme,
pour qui la nature et le coeur humain n' ont plus de
mysteres, et cette flatterie a ete bien accueillie.
[1009.] Juni 13. Mit Riemer.
Abends mit Goethe fpazieren. Jugendgefchichten
aus Wetzlar. Goue, Gotter, von Braun, ufw. Geheime
1010] Karlsbad. 1807. 497
Ritterorden. Myitifikationen. ZuderZeit,woganzDeutfch:J
land feinen Götz von Berlichingen bewunderte, befand
lieh Goethe in größter Verlegenheit, wie er das Papier
dazu bezahlen follte; denn er hatte mit Merck gemein:^
fchaftlich es drucken laffen, jener den Druck, er das
Papier beforgt, und hernach in Kommiffion gegeben, aber
fein Lebtag nicht einen Heller dafür eingenommen. — Zinks:
gräf Apophth. : Wer einen Stein nicht allein erheben mag,
der foU ihn auch felbander liegen laffen.
[1010.) Juni (15./24.) Chriltine Reinhard an ihre Mutter.
Mon mari avait rencontre Goethe dans la matinee
et il lui avait dit que la bataille prevue (Friedland) avait
ete livree : II y en aura bien d'autres, lui repondit Goethe,
et, pour la premiere fois, il s'exprimait en frangais.
Apres le concert, le poete est venu ä notre rencontre et
s'est promene avec nous ostensiblement. Cette demons:
stration a ete remarquee. Goethe passe presque toutes
ses soirees chez nous. La politique est alors bannie de
la conversation; les messieurs s'entretiennent d'art, de
science, de litterature, et l'esprit petillant du savant sait
donner un tour nouveau aux questions les plus ardues.
On ne peut le juger ä premiere vue et il ne se revele
tel qu'il est, c'est^^ä^dire un genie universel, que lorsqu'on
est seul avec lui; des qu'on est plus nombreux, il devient
taciturne, s'absorbe dans ses pensees et c'est ainsi qu'il
se montre dans les reunions. Vous avez raison de dire
que notre rencontre avec lui doit compter parmi les
hasards heureux de notre vie; ils deviennent de plus en
plus rares. Le mouvement intellectuel qui resulte de
notre intimite est d'un effet plus salutaire pour mon mari
que ne le sont tous les remedes qu'il emploie; Goethe
et lui paraissent se convenir et s'apprecier chaque jour
davantage. Nous passons des journees entieres ensemble.
Un soir, Goethe a lu et declame plusieurs de ses poesies;
c'etait une vraie jouissance de l'entendre. Le temps me
fait defaut pour vous parier plus longuement de son
debit, mais je le ferai une autre fois et je vous donnerai
mon appreciation sur cet homme extraordinaire qui ocs:
cupe tout mon esprit sans rien dire ä mon coeur. Mon
jugement est il impartial? Je l'espere. Il n'en serait
pas de meme de celui de mon mari, auquel Goethe a
I 32
498 Chriftine Reinhard. [1011
vole une parcelle de son coeur. Peut^etre a^its^il dedaigne
de s'en donner la peine pour moi, sans quoi ce ma.gu
cien eüt du reussir.
[1011.] Juli 1. Riemer.
Als ich in Einbogen einiges gezeichnet hatte, riet er
mir, Everdingens Sachen zu ftudieren, weil ich das Apercu
der Silhouette habe.
[1012.] Juli Anfang. Chriftine Reinhard an ihre Mutter.
Ich fagte neulich im Spaß zu Goethe, daß Sie fein
Urteil über die Schlegel verlangten. Er läßt Ihnen fagen;
daß er das Urteil der ganzen Welt unterfchreibe, denn
wenn man alles, was diese Gutes und Böfes von den
beiden Brüdern gefagt habe, zufammen addiere, fo würde
das Fazit, das herauskäme : Wilhelm und Friedrich Schlegel
heißen.
Goethe fordert uns auf, unfern Weg über Weimar
zu nehmen. Bei diefer Gelegenheit fagte er Karl: Sehr
. wünfche ich, daß Sie die Bekanntfchaft meiner Frau machen.
Ich bin Ihnen eine Schilderung von ihr fchuldig, vor
Ihrer Frau würde ich es nicht wagen, denn fie hat eine
zu autokratifche Natur. Zuerft muß ich Ihnen fagen,
daß von allen meinen Werken meine Frau keine Zeile
gelefen hat. Das Reich des Geiftes hat kein Dafein für
fie, für die Haushaltung ift fie gefchaffen. Hier überhebt
fie mich aller Sorgen, hier lebt und webt fie; es ift ihr
Königreich. Dabei liebt fie Putz, Gefelligkeit und geht
gern ins Theater. Es fehlt ihr aber nicht an einer Art
von Kultur, die fie in meiner Gefellfchaft und befonders
im Theater erlangt hat. Überhaupt glaubt man nicht,
wie fehr das Theater, wenn man fo zehn Jahre lang es
alle Abende befucht, bildet. Da kommt denn doch alles
vor: Welt, Kunft, Moral tritt durch das Spiel der Per:=
fönen hervor und durch die Freiheit des Urteils gewinnt
es für die Zufchauer neues Intereffe und Lebendigkeit.
Auch bei meinem Sohne habe ich es bemerkt.
[1013.] Juli Anfang. Chriftine Reinhard an ihre Mutter.
Dans l'antiquite, le spectacle passionnait les Grecs,
et leurs plus celebres orateurs se preparaient aux lüttes
de la tribune en pronon9ant des discours sur les places
publiques.
1015] Karlsbad. 1807. 499
Goethe nous a fait un fort joli cadeau en nous
donnant la nouvelle edition de ses oeuvres completes, qui
vient de paraitre. II a colle lui meme sur la premiere
page une vue de Carlsbad, prise d'apres nature et peinte
par lui avec cette dedicace: «Au digne couple Reinhard»,
et cette attention nous a touches. Mon mari s'est pro^s
eure plusieurs auteurs fran^ais qu'il veut lui oflfrir. En ce
moment, il n'est question que de Corinne /von Frau v. Stael].
Le duc en a fait venir un exemplaire sur la demande de
Goethe, il l'a en mains depuis peu de jours et il parait
en etre emerveille. Il loue cet ouvrage sans aucune re^
serve et en est aussi enthousiasme que vous l'etes vouss:
meme.
[1014.] Juli 8. Riemer.
Goethe: Die Kunft fiellt eigentlich nicht Begriffe dar,
aber die Art, wie fie darfteilt, ift ein Begreifen, ein Zu^
fammenfaffen des Gemeinfamen und Charakterifiifchen,
d. h. der Stil.
[1015.] Mai 20./Juli 9. Chriftine Reinhard an ihre Mutter.
Goethe parut alorsl ^ Je vous ai parle de nos rap::
ports journaliers et de l'interet que j'ai pris ä contempler
ce genie aussi extraordinaire qu'universel. Je dis con«:
templer, car malgre toutes les avances qu'il a faites, nos
rapports, en ce qui me concerne du moins, n' ont jamais
ete cordiaux. II y a chez lui trop d'appret et un mans
que de naturel qui n'appellent pas la confiance et qui,
au contraire, excluent tout effusion. II serait presomp;;
tueux de ma part de vouloir le juger et de pretendre avoir
compris cet etre unique. Je tenterai pourtant de repro?
duire l'impression qu'a faite sur moi cet esprit etincelant,
mais il faudrait, pour bien le faire, avoir son don d'obj:
servation et sa hardiesse. Le profeffeur Huber dit avec
raison que Goethe evite toute individualite, c'est pourquoi
il n'a jamais emu mon cceur, il plane au^dessus des
miseres humaines, pareil ä un habitant d'une autre sphere.
Jamais il ne parle de lui meme, jamais je ne Tai vu
s'interesser aux joies ou aux chagrins des autres. On
obtient rarement de lui une marque d'approbation ou de
deplaisir. Lorsqu'on lui raconte les peines, les deceptions
de personnes qui lui sont connues, il envisage ces recits
comme des faits divers et en cite de pareils. Rien ne
I 32*
500 Chriftine Reinhard. [1015
Temeut. II vit dans le cercle de ses idees et de son
savoir, cercle immense qui englobe toutes les sciences, et
il se fait un jeu des matieres les plus abstraites. II s'occupe
avec ardeur de botanique, de chimie, de mineralogie,
d'astronomie; tout lui est familier. La theorie des couleurs
est son cheval de bataille actuel, et le resume qu'en a
fait mon mari prouve que, partant de la chimie, eile
aboutit ä la philosophie. Adule comme il est habitue de
Tetre, aucun hommage ne l'etonne. Au cours d'une con^
versation pendant laquelle Goethe s'etait exprime avec un
feu, un elan inusites, Charles lui dit que, bien qu'a
difFerentes reprises il eüt ete en rapports presque intimes
avec des hommes remarquables , il n'avait trouve chez
aucun d'eux une teile richesse d'idees, une teile harmonie,
une teile elevation de sentiments, enfin un ensemble aussi
parfait que chez lui. Il lui avoua qu'il avait de la peine
ä le suivre, car son esprit devait revenir sans cesse sur
ce qu'il lui avait entendu dire, et qu'il etait souvent comme
ebloui par la justesse et par l'audace de ses conceptions.
C'et hommage ne parut pas etonner le poete, il lui repondit
qu'il fallait en effet, etre habitue ä son langage pour
pouvoire le comprendre; que lui^meme, ä cause de cela,
avait renonce ä la conversation et ne daignait plus causer
que lorsqu'il trouvait des hommes ä sa hauteur, comme
l'etait mon mari et comme l'avait ete Schiller. Il fit alors
l'eloge de ce dernier sans aucune arriere^^pensee de riva:«
lite et sans chercher etablir de comparaison.
Vous savez, chere mere, que pareil a bien des hommes
superieurs, Goethe s'accomode volontiers, chez les femmes,
d'un niveau intellectuel peu eleve, et qu'il prefere pres:=
que chez elles une nature vulgaire ä une intelligence plus
raffinee. Dans ses relations, il se laisse aller ä l'impression
du moment, et les maximes ne lui manquent pas pour
justifier ses caprices et toutes leurs consequences. Mais
dans ses ouvrages, ses heroines, douees de sentiments
eleves, n'emeuvent et ne plaisent pas, parce que le poete
ne les a parees de tant de vertus et ne les a creeses avec
tant d'amour que pour paraitre avoir fait mieux que le
Createur.
Faite par lui, la lecture de ses poesies est une veri^^
table jouissance. Sa voix est sonore, forte et bien modulee.
Le feu de son regard, son expression, ses gestes sont
justes et impressionants. Il declame de preference, des
1016] Karlsbad. 1807. 501
ballades et des poesies ä actions. II nous avait prevenus
que son choix se partait d'habitude sur des sujets represen^
tant une Situation bien frappante et non sur un expose
de sentiments ou d'aspirations.
Ma main inhabile en a dit assez sur ce maitre en
tout art; il me resterait ä vous communiquer l'appreciass
tion de mon mari sur Goethe en tant qu'homme, sinon
en tant qu'ecrivain, mais le temps me manque. Elle
differe de la mienne ä plusieurs points de vue, car il
porte son ami tellement aux nues que la tete de son
heros se trouve presque entouree d'une aureole. Moi,
je me borne ä admirer en lui deux yeux d'un eclat in?
comparable et tels que je n'en ai jamais vu de semblables,
car ils refletent une intelligence hors ligne. ^^
Notre depart est fixe au 15; je ne puis quitter sans
emotion cette valee oü l'aire que je respirais me semblait
plus leger, oü les soucis m'effleuraient sans m'atteindre
et oü la societe de Goethe a imprime a notre sejour un
charme bien particulier. Ces relations, amenees par le
hasard, devriendront durables, car de part et d'autre on a
le desir de se revoir et on s'est promis de s'ecrire.
[1016.] Mai 30./Juli 10. K. F. Reinhard.
Einmal, wie der Alten gedacht war, fagte er: Wenn
man bedenkt, wie weit es die Griechen fchon gebracht
hatten, was für Kenntniffe bei ihnen blühten, und wie
das Alles untergegangen ifi! dann fich ein bißchen um;:
fieht nach dem, was uns bevorfteht, möchte man fich nur
gleich auf die faule Haut legen. Aber man darf doch
den Mut nicht verlieren. Es trieb mich auch immer und
ich habe es mir fauer werden laffen.
Goethe fprach von feiner Reife nach Italien und wie
er erfi: an Ort und Stelle gefunden, daß er von Kunft
keinen Begriff hatte. Dadurch ifi mein Aufenthalt in
Italien, fagte er, mühfam und von den gewöhnlichen
Reifenden fehr verfchieden geworden. Lange nahm ich
gelehrig alles in mir auf, las, hörte, verglich, fah, bis ich
endlich in mir felbft zur Klarheit kam. Ich hatte bis
Rom, befonders in Venedig, ein fehr weitläufiges Tage?
buch geführt, auch viele Briefe gefchrieben, die ich größten?
teils wieder zurück erhalten habe und die mir noch jetzt
viel Vergnügen machen, weil fie meifi mit vieler Freiheit
und in der heiterften Stimmung meines Lebens gefchrieben
I
502 K. F. Reinhard. [1017
find. In Rom ließ ich mein Tagebuch hegen oder fchrieb
wenig. Ich gedenke jenes Tagebuch, jene Briefe drucken
zu laffen mit Anmerkungen. Es fehke wenig, fo wäre
ich ganz in Itahen gebheben.
Mein Sohn, fagte er, hat das Gute, auch nicht die
geringfte Anlage zur Poefie zu haben. Meine Maxime
wäre gewefen, ihn von felbfi das werden zu laffen, wozu
die Anlage ihn treibt; es gibt in der menfchlichen Natur
eine Periode für die Vernunft wie für die Pubertät, und
oft gefchieht es, daß die Menfchen erfi nach der Ver^?
nunft zum Verftand kommen. Allerdings, fagte Goethe,
muß man meine Sprache erft eine Zeitlang hören, um mich
zu verftehen, da ich mit niemandem fpreche als mit
Männern, die mich f äffen können, wie Sie z. B., fo habe
ich mich verwöhnt, befonders mit Schiller. Da ging es
Schlag auf Schlag.
Schiller war im höchfien Grade Idealift und reflek^
tierend, fchon in unfern Anflehten über Poefie gingen
wir durchaus voneinander ab. Er war für die moderne
fentimentale, reflektierende Poefle, mir war diefe ein Greuel,
da ich die alte, naive durchaus vorzog. Diefe Verfchieden^
heit kränkte Schiller. Aus Schonung und Delikateffe
hörten wir endlich auf zu ftreiten, aber Schiller behielt
es auf dem Herzen, und fo erfchien plötzlich in den Hören
fein Auffatz über antike und moderne, über fentimentale
und naive Poefle. Mir, der ich meiner Einfeitigkeit mir be^:
wüßt war, (fo wie überhaupt jeder Menfch einfeitig ifi:
und fein muß) mir machte diefer Auffatz große Freude
und ich erkannte, daß auch ich durch mein Zeitalter und
meine Ausbildung zur modernen Poefle gehörte.
Von Schiller fagte er noch: Es ifi: unglaublich wie
diefer Mann fleh in den letzten Jahren ausgebildet, wie
frei er fleh bewegt hat. Seit zehn oder zwölf Jahren
glaubte man er könnte kein Jahr mehr leben; man hatte
fleh daran gewöhnt und glaubte nicht mehr, daß er fterben
könnte.
[1017.] Juli 10. Mit Riemer.
Goethe: Die Götter haben im menfchlichen Körper
eine unmögliche Synthefe geleiftet: das Tier und den
Menfchen zu verbinden. Die Eingeweide kommen alle
übereinander zu flehen, da fle bei den Tieren hängen, in
der Wampe. Sie hätten auch den Vogeltypus nehmen
1020] Karlsbad. 1807. 503
können; dann, fcherzte er — legten die Weiber Eier und
brüteten fie aus; dann ufw.
[1018.] Juli 14. Riemer.
Goethe : Das Stück Amphitryon von Kleiß enthält nichts
Geringeres, als eine Deutung der Fabel ins Chriftliche, in
die Überfchattung der Maria vom Heiligen Geifi. So ift's
in der Szene zwifchen Zeus und Alkmene. Das Ende
ift aber klatrig. Der wahre Amphitryon muß es fich ge^^
fallen laffen, daß ihm Zeus diefe Ehre angetan hat.
Sonft ift die Situation der Alkmene peinlich und die des
Amphitryon zuletzt graufam.
[1019.] Juli 23. Riemer.
Goethe: Vokalmufik heißt fie, weil man beim (jetzigen)
Singen nur die Vokale hört.
[1020.] Juli 24. Riemer.
Goethe: Die Bildung wird zwar von einem Wege
(ins Holz) angefangen, aber auf ihm nicht vollendet. Ein;;
feitige Bildung ift keine Bildung. Man muß zwar von
einem Punkte aus^^, aber nach mehreren Seiten hingehen.
Es mag gleichviel fein, ob man feine Bildung von der
mathematifchenoderphilologifchen oder künftlerifchen Seite
her hat, wenn man fie nur hat; fie kann aber in diefen
Wiffenfchaften allein nicht beftehen. Die Wiffenfchaften
einzeln find gleichfam nur die Sinne, mit denen wir den
Gegenftänden Face machen; die Philofophie oder die
Wiffenfchaft der Wiffenfchaften ift der sensus communis.
Aber fo wie es lächerlich wäre, wenn einer das Sehen
durch das Hören, das Hören durch das Sehen kompen::
fieren und erfetzen wollte, fich bemühte, die Töne zu
fehen ftatt zu hören : fo ift es lächerlich, durch Mathematik
die übrigen Erkenntnisarten zu kompenfieren und vice
versa, fo in allen übrigen; oder es wird eine Phantafterei.
Daher gibt es jetzt fo manche Phantaften, die ohne pofitive
Kenntniffe durch phantaftifche Kombination deffen, was
von jenen öffentlich verlautet, fich das Anfehen tiefer
Einficht in das Wefen eines jeden zu geben wiffen.
Exempla sunt odiosa.
504 Riemer. [1021
[1021.] Juli 24. Riemer.
Goethe: Die fioifche Philofophie ift, wie ich fchon
fonfi bemerkte, eine Philofophie für die Armen, nämHch
beruhend auf dem Ab weifen des Objekts als in nostra
potestate non situm.
[1022.] Juli (24). G. H. v. Schubert.
In Karlsbad fand ich Goethe, den bewunderten Mann,
den ich in Weimar fo oft mit Ehrfurcht angefchaut, dem
ich mich aber niemals zu nahen gewagt hatte. Ich hatte
kurz vorher feine Farbenlehre mit wahrhaftem Jugend?
liehen Entzücken gelefen, hatte aus feiner Morphologie,
diefer geijftvollen Formenlehre der organifchen Welt, Licht?
blicke einer tieferen Naturanfchauung in mich aufge?
nommen, deren weitere eigentümliche Entwickelung mir
eine Aufgabe für fpätere Zeit wurde. Zunächft von diefen
Dingen fprach ich mit dem großen, hellblickenden Meifter,
der in jedem Gebiete, das fein fchöpferifcher Geift betrat,
ein Neues hervorrief und auffand. Mit unbefchreiblicher
Nachficht kam er meinen unreifen Gedanken entgegen,
wies mich mit wenig Worten auf die rechte Spur, billigte
an dem, was ich ihm von meinen Arbeiten mitteilte, das,
was ihm zu billigen fehlen, belehrte mich über beffere
Form und Deutlichkeit, und fo nahm ich aus den wenigen
Stunden, die ich mit ihm zubringen durfte, milde Gaben
für viele künftigen Jahre mit.
[1023.] Juli 30. Riemer.
Bei Gelegenheit einer Adam Müllerfchen Vorlefung
über das fpanifche Drama: Alles Spinoziftifche in der
poetifchen Produktion (oder: Was in der poetifchen Pro?
duktion Spinozismus ift) wird in der kritifchen Reflexion
Macchiavellismus.
[1024.] Auguft 1. Riemer.
Bei Gelegenheit eines geiftreichen, wiewohl malitiöfen
Urteils über Corinna der Frau von Stael von Reinhard:
Goethe ift einer von den gutwilligen Lefern, die das Brot
des Autors mit der Butter guten Willens überftreichen
und fo die Lücken zukleben, wenn fie nicht gar zu groß
find:R. ißt das Brot trocken, und da kann er freilich
fonderbare Dinge erzählen von dem, wie es ihm gefchmeckt.
1026] Karlsbad. 1807. 505
[1025.] Auguft 2. Riemer.
Fernow hatte das Bouterweck'fche Buch über die
franzöfifche Literatur fchon gefiern den 1 . Auguft gebracht,
worin der luftige Vorfchlag zu einer Tragödie : daß man
einer Dame das Herz ihres Geliebten zu effen gibt. Mittags
nach Tifche über Bouterwecks Vorfchlag uns luftig ge?
macht und das Trauerfpiel fchematifiert. Zu einer roman^
tifchen Tragödie, worin man das Herz eines Liebhabers
der Geliebten zu effen gibt, entwarf Goethe das Scenario.
[1026,] Auguft 2. Riemer.
Goethe: Alle Philofophie über die Natur bleibt doch
nur Anthropomorphismus, d. h. der Menfch, eins mit fich
felbft, teilt allem, was er nicht ift, diefe Einheit mit, zieht
es in die feinige herein, macht es mit fleh felbft eins.
Um die Natur zu erkennen, müßte er fie felbft fein.
Was er von der Natur ausfpricht, das ift etwas, d. h.
es ift etwas Reales, es ift ein Wirkliches, nämlich in be:=
zug auf ihn. Aber was er ausfpricht, das ift nicht alles,
es ift nicht die ganze Natur, er fpricht nicht die Totalität
derfelben aus.
Wir mögen an der Natur beobachten, meffen, rechnen,
wägen ufw., wie wir wollen, es ift doch nur unfer Maß
und Gewicht, wie der Menfch das Maß der Dinge ift.
Das Maß könnte größer oder kleiner fein, es ließe (ich
mehr oder weniger damit abmeffen, aber das Stück, das
Gewebe, bleibt nach wie vor, was es ift, und nichts
weiter von ihm als feine Ausdehnung in bezug auf den
Menfchen ift durch jene Operation ausgefprochen. Mit
Duodezimals: oder Dezimalmaß wird nichts von der fon^
ftigen anderweitigen Natur des Dinges ausgefprochen und
verraten.
Dies zur Verftändigung und Vereinigung mit denen,
welche noch von Dingen an fich fprechen. Ob fie gleich
von den Dingen an fich nichts fagen können, eben weil
es Dinge an fich, das heißt außer Bezug auf uns und
wir auf fie find, und fie alles, was wir von den Dingen
fagen, für unfere Vorftellungsart halten (wobei nur zu
bemerken ift, daß es nicht bloße Vorftellungsart fein kann,
fondern das Ding in unferer Vorftellungsart, von ihr be^:
kleidet), fo leuchtet doch daraus foviel ein, daß fie mit
uns darin einig find, daß, was der Menfch von den Dingen
I
506 Riemer. [1027
ausfagt, nicht ihre ganze Natur erfchöpft, daß fie diefes
Ausgefagte nicht nur allein, einzig, fondern noch viel
mehr und anderes find. Und das ift doch wahr; denn
man entdeckt täglich mehr Relationen der Dinge zu uns,
empfindet ihnen noch immer etwas ab. Das heißt, die Dinge
find unendlich. Das wiflen wir ja. Mit einem Worte:
der Menfch fpricht das Objekt nicht ganz aus. Aber
was er davon ausfpricht, das ifi: ein reales, wäre es auch
nur feine Idiosynkrasie, das heißt der Bezug, den es auf
ihn allein hat. Wäre das nicht, wer follte den Bezug
ausfprechen? Der Menfch ifi: in dem Augenblicke, als
er das Objekt ausfpricht, unter und über ihm, Menfch
und Gott in einer Natur vermittelt. Wir follten nicht
von Dingen an fich reden, fondern von dem Einen an
fich. Dinge find nur nach menfchlicher Anficht, die
ein Verfchiedenes und Mehreres fetzt. Es ift alles nur Eins ;
aber von diefem Einen an fich zu reden, wer vermag es?
Dinge find ja felbfi: nur Verfchiedenheiten, durch
den Menfchen gefetzt und gemacht; und die Verfchieden^
heiten, die er fetzt und macht, wird er ja wohl auch als
folche Verfchiedenheiten, nämlich als das, wofür er fie
erkennt, als verfchieden ausfprechen können!
[1027.] Auguft 2. Riemer.
Über Tifch: Betrachtungen über die Natur, welche,
immer diefelbe, zu verfchiedenen Sinnen anders rede.
G. : Die Farbe ift fürs Auge, aber fie ifi: nicht bloß
fürs Auge. Das Blaue z. B. ifi: etwas, kein bloßer Name,
es ift ein Chemifches, es beruht auf der Natur des Körpers.
Daher die Farben auch zu fühlen fein muffen ufw.
[1028.] Auguft 3. Riemer.
Goethe bemerkte bei dtr Adam Müllerfchen Vorlefung
über die fpanifche Poefie und feinem Lobe von Schlegels
Überfetzung des Calderon: Sie fei denn doch nur ein
ausgefi:opfter Fafan gegen einen wirklichen, aber ein gut
ausgeftopfter.
[1029.] Auguft 8. Riemer.
Goethe: Es find zwei Formeln, in denen fich die
fämtliche Oppofition gegen Napoleon befaffen und aus^
fprechen läßt, nämlich Afterredung (aus Befferwiffenwollen)
und Hypochondrie.
1033] Karlsbad. 1807. 507
[1030.] Auguft 8. Riemer.
G. : Wenn ein Weib einmal vom rechten Wege ab ift,
dann geht es auch blind und rückfichtslos auf dem böfen
fort; und der Mann ift nichts dagegen, wenn er auf
böfen Wegen wandelt. Bei ihr aber wirkt dann die
bloße Natur.
[1031.] Auguft. Riemer.
Goethe: Die Phänomene, wenn man fie auch gut
apercepiert hat, werden immer wieder dadurch entfiellt
und zugrunde gerichtet, daß man fie aus der jedesmaligen
Philofophie zu erklären und diefer zu fubfummieren fucht ;
fo wie umgekehrt die herrfchende Philofophie fich wieder
folche phyfifche Vorfiellungsarten aneignet, die in ihren
Kram dienen, z. B. die Naturphilofophie die Newtonfche
Lehre, damit fie auch hier alles aus dem Lichte ableiten
können.
[1032.] Riemer.
Goethe: Der Mann foll gehorchen, das Weib foll
dienen. Beide ftreben nach der Herrfchaft. Jener er^
reicht fie durch Gehorchen, diefe durch Dienen. Ge?
horchen ift dicto audientem esse; dienen heißt zuvor^
kommen. Jedes Gefchlecht verlangt von dem andern,
was es felbft leiftet, und erfreut fich dann erft: der Mann,
wenn ihm das Weib gehorcht (was er felbft tut und
tun muß); das Weib, wenn ihr der Mann dient, zuvor^
kommt, aufmerkfam, galant und wie es heißen mag ift.
So taufchen fie in der Liebe ihre Rollen um; der Mann
dient, um zu herrfchen, das Weib gehorcht, um zu
herrfchen.
[1033.] Auguft 13. Riemer.
Goethe: Die femmes auteurs (und wohl überhaupt)
faffen die Männer nur unter der Form des Liebhabers
auf und ftellen fie dar; daher alle Helden in weiblichen
Schriften die Gartenmannsfigur machen. — Goethe äußerte :
Koketterie ift Egoismus in der Form der Schönheit. Die
Weiber find rechte Egoiften, indem man nur in ihr
Intereffe fällt, fofern fie uns lieben oder wir ihre Lieb?
haber machen, oder fie uns zu Liebhabern wünfchen.
Eine ruhige, freie, abfichtslofe Teilnahme und Beurteilung
fällt ganz außer ihrer Fähigkeit. Sie fehen alles nicht
I
508 Riemer. [1034
etwa nur aus ihrem Standpunkt, fondern in perfönlichem
Bezug auf fich. Die Weiber beftreben fich innerlich und
äußerhch anmutig, Uebenswürdig zu erfcheinen, zu ge^s
fallen mit einem Worte, und wenn wir dasfelbe tun, fo
nennen fie uns eitel.
[1034.] Auguft 18. Riemer.
G. : Der Philifier negiert nicht nur andere Zuftände,
als der feinige ift, er will auch, daß alle übrigen Mens:
fchen auf feine Weife exifiieren follen. Er geht zu Fuß
und ift fein Leben lang zu Fuß gegangen. Nun fieht
er jemand in einem Wagen fahren. Was das für eine
Narrheit ift, ruft er aus, zu fahren, fich dahin fchleppen
zu laffen von Pferden! Hat der Kerl nicht Beine! wo^
zu find denn die Beine anders als zum Gehen? Wenn
wir fahren follten, würde uns Gott keine Beine gegeben
haben! — Was ift es denn aber auch weiter! Wenn ich
mich auf einen Stuhl fetze und Räder unten anbringe
und Pferde vorfpanne, fo kann ich fahren fo gut wie
jener. Das ift keine Kunft!
Man wird in philifterhaften Äußerungen immer finden,
daß der Kerl immer zugleich feinen eignen Zuftand aus^^
fpricht, indem er den fremden negiert, und daß er alfo
den feinigen als allgemein fein follend verlangt. Es ift
der blindefte Egoismus, der von fich felbft nichts weiß,
und nicht weiß, daß der der andern ebenfoviel Recht
hätte, den feinigen auszufchließen, als der feinige hat, den
der andern.
[1035.] Auguft 22. F. Schubart.
Es ift mir erzählt worden, wie er in jenen Jahren
Kinder durch den Tod verloren hat, und wie ihn der
Vaterfchmerz dabei fo überwältigte, daß er fich in un^^
gemäßigten Äußerungen desfelben an die Erde warf. Wie
ihn aber auch Familienfreude gleichmäßig ergriff, davon
hat mir der ^^ Dichter Stephan Schütze eine Szene ge?
fchildert. ^^
Bei dem jährlichen Aufenthalte Goethes in Karls?
bad pflegte letzterer während der Badezeit dafelbft auch
mehrere aus Weimar anwefende Perfonen an fich zu
ziehen und in feine Gefellfchaft aufzunehmen, obgleich
fie nachher bei der Rückkehr in die fürftliche Refidenz
wieder in das hier beobachtete Verhältnis der Erftarrung
1056] Karlsbad. 18(>7. 509
zurücktraten, wie es auch mit '^ Schütze gehalten wurde.
Einft, an einem fchönen Sommertage, faß der große Dichter
dort in Karlsbad im Freien mit weimarifchen Bekannten
an einem Tilch mit Holzbänken an beiden Seiten. Stephan
Schütze faß ihm gegenüber mit mehreren Perfonen und
auch an Goethes Seite faßen noch einige. Da fah man,
in das Gefpräch vertieft, Goethes Sohn von einer Anhöhe
herabkommen. Der junge Mann ftudierte zu diefer Zeit
in Heidelberg und hatte eine unternommene Fußreife auch
nach Karlsbad geleitet, um den Vater dort mit feinem
Befuche zu überrafchen. Als er fleh nun der Gefeilt
fchaft an jenem Tifch fo näherte, daß ihn der Vater im
Rücken hatte und feine Annäherung nicht bemerken
konnte, winkte er den Gegenüberfitzenden eifrig zu, fich
ftill zu verhalten und den Vater nicht auf feine Ankunft
aufmerkfam zu machen. So fchlich er endlich leife bis
an den Rücken des Vaters heran und hielt ihm plötzlich
nach dem gebräuchlichen weimarifchen Scherze die Hände
vor die Augen. Wie nun Goethe fich loswindet und
umkehrt und fo höchfi: unerwartet den Sohn erblickt, da
ergreift ihn das freudige väterliche Gefühl auf eine Weife,
die in den anderen gegenwärtigen Perfonen eine tiefe
Erfchütterung hervorbrachte. Die maßlofen Äußerungen
der Gefühlsüberwältigung, mit welcher der erhabene Mann
hier erfchien, waren von folcher Stärke, daß die Zeugen
diefer Szene wirklich dabei erfchraken und in Beforgnis
für feinen Geifi: die Beruhigung herbeiwünfchten.
[1036.] Auguft 28. Mit Riemer.
Goethe: Der böfe Wille, der den Ruf eines be^^
deutenden Mannes gern vernichten möchte, bringt fehr
oft das Entgegengefetzte hervor. Er macht die Welt auf:*
merkfam auf eine Perfönlichkeit; und da die Welt, wo
nicht gerecht, doch gleichgültig ifi:, fo läßt fie fich's ge^
fallen nach und nach die guten Eigenfchaften desjenigen
gewahr zu werden, den man ihr auf das fchlimmfte zu
zeigen Lufi: hatte. Ja, es ift fogar im Publikum ein Geifi: des
Widerfpruchs, der fich dem Tadel wie dem Lobe entgegen:;
fetzt, und im ganzen braucht man nur nach Möglichkeit zu
fein, um gelegentlich zu feinem Vorteil zu erfcheinen; woj:
bei es dann hauptfächlich darauf ankommt, daß die Augen«!
blicke nicht allzu kritifch werden und der böfe Wille nicht
die Oberhand habe zur Zeit, wo er vernichten kann.
510 Riemer. [1057
[1037.] September 3. Riemer.
Gefpräch über Einrichtungen des Lebens und Ver?
fahrens bei jetzigen politifchen Umftänden, was ein junger
Menfch zu tun habe. Es ift weiter nichts, als das ge^;
fellfchaftliche Betragen, ausgedehnt auf eine größere Ge^
fellfchaft, auf Franzofen ufw.
[1038.] September 12. A. Genaft.
Als wir vom Leipziger Gefamtgaflfpiel nach Weimar
zurückgekehrt waren, ging ich zu Goethe, um ihm über
alle Vorkommniffe Rapport abzuftatten. Er empfing mich
mit den Worten: Nun, Ihr habt Euch ja recht wacker
gehalten, und unfere Gefellfchaft hat, wie ich von allen
Seiten höre, Ehre eingelegt; befonders hat Mahlmann ge?
wichtige Worte über unfer Streben gefprochen. Der Mann
hat vollkommen recht: Virtuofität muß von der dramas:
tifchen Kunfi ferngehalten werden, keine einzelne Stimme
darf fich geltend machen, Harmonie muß das Ganze be^
herrfchen, wenn man das Höchfte erreichen will. Darum
laßt uns in unferem Streben fo fortfahren; denn manches
findet fich noch, was, beffer ins Auge gefaßt, zu größerer
Geltung gebracht werden kann. An Ausdauer von
meiner Seite, gutem Willen und Fleiß von feiten des Per^
fonals fehlt es nicht, und fo ift mit der Zeit das Befte
zu erwarten.
[1039.] September 26. Riemer.
Vernunftkultur hätten am Ende einzig nur die From::
men. Bei den andern (Jacobi ufw.) gewinnt zuletzt der
Verftand doch die Überhand, daß man das Höchfte zu
irdifchen Zwecken benutzt. So eine finnlich verftändige
Kultur, wie z. E. Wegwoods, fei auch fchätzbar, und
fchätzbarer als diefe. Es feien zu allen Zeiten nur die
Individuen, welche für die Wiffenfchaft gewirkt. Nicht
das Zeitalter. Das Zeitalter war's, das den Sokrates durch
Gift hinrichtete, das Zeitalter, das Huß verbrannt; die
Zeitalter find immer fich gleich geblieben.
[1040.] Oktober 1. Riemer.
Mit Goethe im Garten, über Motive und über Ge^s
fchichte der Philofophie: Die Wiffenfchaften bilden fich
auch aus und im Gegenfatze. Das Zeitalter der Sophifien
1044] Weimar. 1807. 511
forderte den natürlichen Menfchenverftand und das recht?
liehe Gefühl des Sokrates. Das Zeitalter der Scholaftiker
einerfeits das Sittliche des Petrarca und in der Phyfik den
Forfchungsgeift des Roger Baco ufw.
[1041.] Oktober 1. Riemer.
Goethe: Die norddeutfchen Poefien, infonderheit die
moralifchen Lieder, kommen mir vor wie die reformierten
Kirchen, die auch ohne Bilder find.
[1042.] Oktober Mitte. L. Spohr.
In Weimar, wohin wir* durch die Herzogin von
Gotha empfohlen waren, fpielten wir mit großem Beifalle
bei Hofe und wurden von der Erbgroßherzogin, der Groß:;
fürftin Maria, reich befchenkt. Unter den Zuhörern im
Hof konzert befanden fleh auch die beiden Dichter:;Heroen
Goethe und Wieland. Letzterer fehlen von den Vor*:
trägen des Künftlerpaares ganz hingeriffen zu fein und
äußerte dies in feiner lebhaft? freundlichen Weife. Auch
Goethe richtete mit vornehm^kalter Miene einige lobende
Worte an uns.
[1043.] Oktober 21. Riemer.
Goethe: Die Gefchichte der Wiffenfchaften ift eine
große Fuge, in der die Stimmen der Völker nach und
nach zum Vorfchein kommen.
[1044.] Oktober/ November. Riemer.
G. ; Der Menfch ift wie eine Republik oder viel?
mehr wie ein Kriegsheer. Hand, Fuß und alle GUed?
maßen dienen und helfen zu dem Zwecke, den fich das
Haupt vorgefetzt hat, und ermüden nicht, befeelt von
der Vorfiellung des Zwecks; darum nennen es auch die
Alten das iiyeuovtxöv.
Aber das rjyefiovcxov muß auch die Einficht haben,
und den Soldaten die gehörige Erholung laffen.
An den Franzofen fieht man recht die Zufammen?
Wirkung von Geift und Leib, die ganze Armee ift ein
Menfch, der keine Anftrengung, keine Ermattung und
nichts fcheut.
* Spohr mit feiner Frau Dorette geb. Scheidler.
512 Riemer. [1045
Das Ganze ift ein großer Riefe, dem vielleicht hie
und da ein Finger oder eine Hand verloren geht, oder
ein Bein ufw. abgefchoffen wird, das er wie der Fierabras
erfetzt, aber den Kopf verliert er nie.
[1045.] November 10. Charlotte v. Stein.
Geftern ^^ war ich bei der Herzogin. Goethe hat
neue Szenen in feinen Faufi gemacht und las fie vor; fie
werden in fechs Wochen ungefähr gedruckt erfcheinen.
Es ift ein fehr genialifches Stück, und mit Wahrheit fagt
er in der Vorrede, daß er einen vom Himmel bis zur
Hölle führt. ^
Ich habe zwei Reden von ihm bekommen aus der
Münchener Akademie der fchönen Wiffenfchaften , eine
von Jacobi und eine von Schelling gehalten. Die von
Jacobi hat mich fehr belehrt, die von Schelling, welche
Goethe der erfteren vorzieht, habe ich aber gar nicht ver*
ftanden, doch hat er mir's vorausgefagt.
[1046.] November 11. Riemer.
Die Dame Bettina Brentano beklagte fich fchon 1807
'^ an einem fchönen Morgen gegen mich, der damals in
Goethes Haus lebend, von manchem Augen? und Ohren?
zeuge war, daß Goethe fo wunderlich und fonderbar fich
gegen fie zeige, das heißt in feiner Sprache: nur eben
paffiv verhielt. ^^
Bettine war diesmal mit Schwefiern und Bruder vom
1.— 10. November in Weimar gewefen, und am 10., wo
fie jene Klage gegen mich führte, wieder abgereift. Den
folgenden Tag fuhr Goethe mit mir nach Jena, wo wir
bis zum 18. Dezember inkl. blieben, und erklärte fich
im Gefpräch mit mir über Bettine nicht eben als leiden?
fchaftlicher Liebhaber, fondern nur als Bewunderer ihres
geiftreichen aber, auch barocken Wefens.
[1047.] November 11. Riemer.
Goethe trug mir eines Morgens, den 11. November
1807 auf der Reife nach Jena, die ganze Idee und Ten?
denz feines Gedichts Pandora fo umftändlich und aus?
führlich vor, daß es mir leid tat, fie nicht auf der Stelle
niederfchreiben zu können.
1051] Jena. 1807. 5^
[1048.] November Mitte. K. L. v. Knebel.
Goethe lebt fo ganz ftill weg und betreibt feine Gq^
Ichäfte. Er befucht mich zuweilen und wir disputieren
uns auch ein wenig. Bei irgendeinem Anfpruche auf
das Betragen der Menfchen gegen uns können wir fo
leicht auf lieblofe Meinungen kommen. Wer oben fieht,
muß fchlechterdings nur von fich fodern, das Übrige
mag und wird von fich felbft kommen. Schauen wir auf
andre, fo find wir oft falfch gefällig und zuweilen un:;
zeitig ftreng. Wenn Eltern und Fürften Refpekt und Liebe
fodern müßten, dann ift es fchon fchlimm. Das Menfchenss
gefchlecht ift zuweilen etwas verkehrt; aber wo ihm
Wärme und Güte herkommt, da fteckt es doch bald die
Köpfe hin. Gerechtigkeit gehört aber auch zu Wärme
und Güte; denn ungerechte Güte ift Härte gegen den
Gerechten felbft. Und fo geht es auch dem guten Goethe,
der nicht immer mit gleichgemeffenem Maße teilt.
[1049.] November 24. Riemer.
Goethes Apercu über die Alchymiften, welche die
drei Ideen: Gott, Tugend und Unfterblichkeit in der
Empirie darftellen wollen, durch den Stein der Weifen
(als die prima materia), nämlich vis^äs^vis von
Gott, Gold,
Tugend, Gefundheit,
Unfterblichkeit, ewiges Leben,
als die Allmacht: Sana mens in corpore sano.
[1Q50.] November 25. Riemer.
Goethe : Was die Menfchen bei ihren Unternehmungen
nicht in Anfchlag bringen und nicht bringen können, und
was da, wo ihre Größe am herrlichften erfcheinen foUte,
am auffallendften waltet — der Zufall nachher von ihnen
genannt, — das ift eben Gott, der hier unmittelbar mit
feiner Allmacht eintritt und (ich durch das Geringfügigfte
verherrlicht.
[1051.] November 26. Riemer.
Goethes Vorfchlag (wahrfcheinlich fcherzhaft), die
Weiber in gewiffen Fächern des Finanz;^ und Kammer*^
wefens zu brauchen, wurde von mir verworfen.
I 33
514 K. L. V. Knebel. [1052
[1052.] November 26. K. L. v. Knebel an feine Schwefter Henriette.
Gefiern abend war Goethe mit Riemern hier, und
wir waren ganz munter und luftig. In die letzte Stim^j
mung fetzten uns hauptfächlich des altdeutfchen Fifch?
arts Poffen nach Rabelais, den wir lafen. ^^ Goethe
denkt noch acht bis vierzehn Tage zu bleiben.
[1053.] Dezember 6. Riemer.
Goethe: So wie etwas ausgefprochen wird, fogleich
wird ihm auch widerfprochen , wie der Ton gleich fein
Echo hat.'
Seitdem man die dunkeln Empfindungen und Ah^
nungen des unendlichen Zufammenhangs der Geifter^^ und
Körperwelt (Myftik) allgemeiner und öffentlich auszu^
fprechen anfängt, ift keiner, der nicht das in Worten be^
ftritte, was er in Empfindung und Ahnung gelebt und
geleiftet hat.
Die fublimierten Gefühle der Liebe ausgefprochen,
erregen den Widerfpruch aller nicht fo Gefinnten. Das
ift Überfpannung, krankhaftes Wefen — heißt es da. Als
wenn Überfpannung, Krankheit nicht auch ein Zuftand
der Natur wäre! Die fogenannte Gefundheit kann nur
im Gleichgewicht entgegengefetzter Kräfte beftehen, wie
das Aufheben derfelben entfteht und befteht nur aus
einem Vorwalten der einen über die andern; fo daß der
Zuftand hyperfthenifch und afthenifch heißen würde, wenn
man fthenifch als das Harmonifche (als die Indifferenz)
fetzen wollte.
[1054.] Dezember 7. Riemer.
Äußerte Goethe: Jean Paul ift das perfonifizierte
Alpdrücken der Zeit.
[1055.] Dez. An£ K. L. v. Knebel an feine Schwefter Henriette.
Goethe lebt hier recht wohl, und ich fehe ihn faft
täglich. Zuweilen bringt er die Abende bei uns zu, und
da ift dann jetzt der poetifche Luther auch zugegen. Wir
haben Goethe diefe letzten Male befonders geiftig und
mitteilend gefunden, und es fcheint, als wenn er es in
diefem Kreife mehr noch fei als anderwärts. Es ift zu
bewundern, wie tief er den Grund fo verfchiedener Dinge
erforfcht hat. Oft befragt er mich nach Deinem und
1058] Jena. 1807. 515
Prinzeßchens Wohlfein, und da nehme ich mir die Freiheit,
von beiden einen Gruß auszurichten.
[1056.] Dezember erfte Hälfte. Charlotte v. Stein.
Beim Goethe ift Zacharias Werner beliebt; er hatte
zuerft in Jena feine Bekanntfchaft gemacht. Sie waren
einmal zufammen beim Knebel; die Frau fchenkte Tee ein,
der Kleine fpielte mit Steinen, und Werner war in höchfter
Deklamation. Auf einmal fagt der Bube: Der Menfch
ift ja verrückt! Knebel fährt auf: Halts Maul, Bube!
Die Mutter wurde verlegen. Goethe wollte fich totlachen.
Laßt ihn gehen! fagte er, der Junge hat eine halbe Welt
in fich.
1057.] Dezember 8./ 14. K. L. v. Knebel.
Goethe hat mir kürzlich einen einfamen Abend ge?
fchenkt, wobei er mir ein neues Gedicht von ihm, das
er wahrfcheinlich erft hier angefangen, Pandorens Wieder^
kunft, vorgelefen hat. Ich kann Dir weiter nichts davon
fagen, als daß es herrlich gedacht und ausgeführt ift.
Die Perfonen find gewiffermaßen alle neu und mit großer
Lieblichkeit entworfen. Vorzüglich gefällt mir die Idee
von Pandorens Büchfe oder Urne, die nach der Fabel
alle menfchlichen Übel foll enthalten haben, und an deren
Grunde die Hoffnung allein noch zurückblieb. Goethe
hat diefe Übel in liebliche Traumgefi:alten verwandelt,
die fich bei eröffneter Urne dürften gleich in die Höhe
ziehen, nach deren Bildern die Sterblichen immer rennen,
aber nur durch den törichten Verfolg derfelben Unglück:^
lieh werden. Die Hoffnung verfpricht er fich noch unter
dem griechifchen Namen Elpore glücklich auszumalen.
Der fogenannte Gemahl der Pandora, Epimetheus, hat
mir auch fehr gefallen.
[1058.] Dezember 16. K. L. v. Knebel an feine Schwefter Henriette.
Es traf fich recht glücklich, daß Goethe geftern eben
bei mir war, als ich Dein kleines Päckchen erhielt, und
da konnte ich Deiner gewaltigen Vorfurcht wegen künftig
auszuleidender Trauern und Schaufpiele doch einige Lindes^
rung zu verfchaffen fuchen. Es gelang mir auch wirklich,
und Goethe verficherte mich, daß das zum nächften Ge^s
burtstag der Herzogin des Herrn Werner, Wanda, gewiß
keine drei Stunden fpielen könne. Auch wird das Vor::
I 33*
516 K. L. V. Knebel. [1059
fpiel, das er wie es fcheint felbfi dazu machen wollte,
wegbleiben, da es nicht fertig wird. Überhaupt fcheint
Goethe von der Befchwerlichkeit der Ausdauerung bei
folchen feftlichen Operationen gänzlich überzeugt zu fein,
und er verficherte mich, daß er es felbfi bei Schillers
Stücken niemals über den vierten Akt habe aushalten
können.
f^ Goethe, der morgen wieder nach Weimar zurück?
kehrt, hat uns gefiern noch äußerfi niedliche, hier ver^^
fertigte Sonette vorgelefen.
[1059.] (Ende d. J.) A. Stahr.
Bei Rat Kräuter, Goethes langjährigem Sekretär, fah
ich eine Büfie Goethes von Weißer^ die zu den Selten?
heiten gehört. Goethe hat dazu einen Abguß über feinem
Gefichte machen laffen; er tat es, wie uns Herr Kräuter
erzählte, um einem armen jungen Bildhauer aufzuhelfen.
Der Gefichtsausdruck ift von höchfier Naturwahrheit, die
Formen noch nicht fchlaff hängend, fondern kräftig und
machtvoll. Nur der Ernfi der Züge hat etwas, das finfier
zu nennen ift. Als Kräuter dies einmal als das Einzige
bemerkte, was ihm an dem fonfi fo vollkommen ge?
troffenen Abbilde nicht ganz recht fei, erwiderte Goethe
'^r Meinen Sie denn, daß es ein Spaß ift, fich das naffe
Zeug ins Geficht fireichen zu laffen, ohne eine Miene
zu verziehen? Da ifi's eine Kunfi, nicht noch viel un?
wirfcher auszufehenl
Nach Riemer lautete der Ausdruck:
Glaubt mir, guter Kräuter, es ifi keine Kleinigkeit,
fich folchen naffen Dreck auf das Geficht fchmieren zu
laffen.
[1060.] Riemer.
Die Achilleis geriet '^ ganz ins Stocken, dergeftalt,
daß fie erft wieder bei der Herausgabe feiner Schriften
1806, wobei ich ihm an Händen ging, gegen mich zur
Sprache kam; wo er mir feine Abficht, die Achilleis in
einen Roman zu verwandeln, mitteilte und die Motive
befprach. Als er noch fpäter das Schema derfelben auf?
gefunden hatte, brachte ich ihn durch meine Bemerkung,
daß jede Zeit die antiken Mythen mit ihrem Geifte be?
handele, ja behandeln muffe, indem jene Anfänge ja nur
1062] Weimar. 1808. 517
die Kotyledonen der Sache feien und die Alten ja felbft
ihre Sagen und Fabeln weiter ausgebildet hätten, auf die
Eröffnung über die Idee des Ganzen, die er fo ausj^
drückte: Achill weiß, daß er fterben muß, verliebt fich
aber in die Polyxena und vergißt fein Schickfal rein dar?
über, nach der Tollheit feiner Natur.
1808.
[1061.] Januar. Riemer.
Durch das jetzt in Deutfchland allgemein verbreitete
Intereffe an Kunft und Poefie wird weder für diefe beiden,
noch für die Erfcheinung eines originalen und erften und
einzigen Meifterwerks etwas gewonnen. Der Kunftgenius
produziert zu allen Zeiten, in mehr oder minder ge?
fchmeidigem Stoff, wie die Vorwelt Homer, Aefchylos,
Sophokles, Dante, Arioft, Calderon und Shakefpeare gt^
fehen hat (die Mitwelt Goethe und Schiller); es ift nur
dies der Unterfchied, daß jetzt auch die Mittelmäßigkeit
und die fekondären Figuren dran kommen und alle untern
Kunfieigenfchaften , die zur Technik gehören. Es wird
nun auch im Tale licht, ftatt daß fonft nur die hohen
Berggipfel Sonne trugen.
So ift es auch mit andern Stimmungen des Geiftes,
mit der religiöfen, amouröfen, bellikofen und andern. In
einzelnen Individuen find fie zu allen Zeiten gewefen
und noch. Aber allgemein verbreitet nur zu gewiffen
Zeitaltern, und immer find fie der Kometenfchwanz irgend?
eines in diefen ausgezeichneten Mannes oder mehrerer,
in denen, wie an den Spitzen der Berge, zuerft diefe
Morgenröte fchimmerte. Jede folche Stimmung lebt einen
Tag, hat ihren Morgen, Mittag, Nachmittag und Abend.
So ift's mit der Kunft; fo wird es auch mit der Poefie
werden, die jetzt im Nachmittag ift. Oder wie Goethe
fonft zu fagen liebte: Es ift wie eine Krankheit, durch
die man hindurch muß.
[1062.] Januar 8. Riemer.
Es gibt — äußerte Goethe — im Menfchen auch ein
Dienenwollendes; daher die Chevallerie der Franzofen,
Servage.
I
518 Riemer. [1065
[1063.] Februar 8. Riemer.
Als man Goethe einen göttlichen Mann nannte, fagte
er: Ich habe den Teufel vom Göttlichen] Was hilft's
mir, daß man mir nachfagt: Das ift ein göttlicher Mann,
wenn man nur nach eigenem Willen tut und mich
hintergeht. Göttlich heißt den Leuten nur der, der fie
gewähren läßt, wie ein jeder Luft hat. Er drückte dies
ein andermal fo aus: Man hält niemanden für einen Gott,
als daß man gegen feine Gefetze handeln will, weil man
ihn zu betrügen hofft; weil er fich was gefallen läßt;
weil er entweder von feiner Abfolutheit foviel nachläßt,
daß man auch abfolut fein kann.
[1064.] Januar 30. K. v. Holtei.
Goethe ließ ein Wernerfches Stück, ich dächte Wanda
war' es gewefen, aufführen. Am Tage der Darftellung
waren der Dichter und einige nähere Freunde, unter diefen
die Schopenhauer, bei Goethe zum Effen. Auf die Frage,
wo man fich nach dem Theater verfammeln würde, fuchte
der Vorfichtige, der allzu großen Andrang fürchtete, die
Laft von fleh ab und fie, wie er es oft in ähnlichen
Fällen tat, der armen Schopenhauer zuzuwenden, die,
gafifrei und gefällig, dergleichen Schickfale über fich er^:
gehen laffen mußte. ^
Als nun nach höchft zweifelhaftem, aber doch fcheins;
barem Erfolge die Gäfte eintrafen, nahmen die Frauen
an der improvifierten Tafel Platz, die Herren ftanden
mit ihren Tellern umher. Für Goethe und Werner waren
zwei Stühle in der Mitte beftimmt; zwifchen ihnen auf
dem Tifche fiand ein wilder Schweinskopf, von welchem
die Wirtin fchon des Tages zuvor gegeffen; in ihrer
Angft hatte die Haushälterin durch einen großen Kranz
von Lorbeerblättern die Anfchnittswunde zu verdecken
gefucht. Goethe erhob , diefen Schmuck erblickend,
mächtig feine Stimme und rief dem, bekanntlich fehr
zynischen und nicht immer fauber gewafchenen Werner
zu: Zwei gekrönte Häupter an einer Tafel? Das geht
nicht! Und er nahm dem wilden Schweinskopf feinen
Kranz und fetzte ihn dem Dichter der Wanda auf den Kopf.
[1065.] Februar 1. Riemer.
Goethe äußerte hinfichtlich Werners und feiner Rüh^s
merei :
1069] Weimar. 1808. 519
Nur die ungebildete Seite an uns ift es, von der
her wir glücklich lind. Jeder Menfch hat fo eine.
[1066.] (März 3.) E. Genaft.
Der zerbrochene Krug von Kleift folgte am 2. März. ^^
Bei der Aufführung diefes Stücks ereignete fich ein Vor^
fall, der in dem kleinen weimarifchen Hoftheater noch
nie dagewefen und als etwas Unerhörtes bezeichnet werden
konnte: ein herzoglicher Beamter hatte die Frechheit, das
Stück auszupfeifen. Karl Auguft, der feinen Platz f^
auf dem fogenannten bürgerlichen Balkon hatte, bog fich
über die Brüftung heraus und rief: Wer ift der freche
Menfch, der fich unterfteht, in Gegenwart meiner Ge^
mahlin zu pfeifen? Hufaren, nehmt den Kerl feft! Dies
gefchah '^ und er wurde drei Tage auf die Hauptwache
gefetzt. — Den andern Tag foll Goethe gegen Riemer,
der es mir mitteilte, bemerkt haben: Der Menfch hat
gar nicht fo unrecht gehabt; ich wäre auch dabei ge:;
wefen, wenn es der Anftand und meine Stellung erlaubt
hätten. Des Anftands wegen hätte er eben warten foUen,
bis er außerhalb des Zufchauerraumes war.
[1067.] März 9. Riemer.
Nach Tifche die Steindrücke der Albrecht Dürerfchen
Federzeichnungen befehen. Goethe fagte fchon neulich,
daß er fich ärgern würde, wenn er gefiorben wäre, ohne
fie zu fehen.
[1068.] März 10. Riemer.
Mittags Dispute über Goethes paradoxe Maxime,
alle öffentlichen Lehranftalten in Deutfchland aufzuheben
und den Lehrfubjekten freizugeben, Inftitute, Penfions^
anftalten u. dgl. auf ihre Koften zu errichten.
[1069.] (März.) J. Falk.
Mit kräftiger Ironie führte übrigens Goethe einftmals
Werner bei feinem Aufenthalt in Weimar (Winter 1807
bis 1808) ab. Werner meinte ^^ ein Grund, warum er
nicht (wieder) heirate, fei auch der, weil man im Anfang
des Eheftandes fo miferable Suppen zu effen bekäme, daß
dies ein Regime fei, was jeder junge Ehemann durch::
machen muffe. Goethe erwiderte ihm, dies fei bloß dann,
I
520 J. Falk. [1070
wenn die Ehen kinderlos wären, fobald fich Kinder ein:;
fänden, fo würden drei, vier Pfund Fleifch gekocht. Für
ein Paar Leute koche man ein halb Pfund Fleifch, das
könne dann freilich nur eine magere Suppe geben. Das
befie Mittel zur Amelioration der Suppe fei das, recht
viele Kinder zu haben. In dem Maße wie Kinder auf
Kinder ankämen, würde auch die Suppe beffer.
[1070.] März 31. F. v. Müller.
Goethe teilnehmend und mitteilend, befchrieb Karls^
bad, die Auchfche Windfahne, und kam auf die großen
Orkane zu fprechen, deren fehr kleine Breite man auf
drei^ bis vierhundert Schritt berechnet habe und die eine
Spirallinie im Wirbel bilde. — Von Schröder behauptet
er, daß er kein wahrer Künfiler fei, weil er foviel Kunft^
fiücke gemacht und in höchft tragifchen Momenten ver^
ruchter Spaße fähig gewefen fei: Ohne Gemüt fei keine
wahre Kunft denkbar.
i:i071.] April 5. Riemer.
Mittags allein mit ihm. Über Galvanismus, Sideris^^
mus, Wünfchelrute ufw. Goethe bemerkte:
Werner verwechsle die dydnfj mit dem SQcog.
Er äußerte weiter:
In der Kultur der Wiffenfchaften haben die Bibel,
Ariftoteles und Plato hauptfächlich gewirkt, und auf diefe
drei Fundamente kommt man immer wieder zurück. Neu^
platoniker fagt man, alfo Rückkehr auf den Plato.
Scholaftiker, und daß Kant wieder die Scholaftik bringe,
alfo Ariftoteles. Jetzt Rückkehr zur Bibel. Man kann
aus diefen Elementen nicht heraus, und fo ifi es lächere
lieh, wenn die Menfchen fagen, die Scholaftik kehre wieder,
Ariftoteles oder Plato.
[1072.] April 6. Riemer.
Mittags Seebeck zu Tifche. Über Galvanismus und
modernen Myfticismus bemerkte Seebeck, daß man leicht
glauben könne: der Meffias könne aus den Tremellen,
die bei Gewitterregen zum Vorfchein kommen als eine
Gallerte, entftehen. Goethe faßte es auf und wollte ein
Gedicht Maranatha, oder Der Herr kommt, machen.
1074] Weimar. 1808. 521
Goethe bemerkte über die neueften Äfthetiker, die
Schlegels, Aft ufw., daß ihr ganzes Urteil und Abfprechen
bloß darauf beruhe, daß ein jeder wie im Dominofpiel
bloß den Stein lobt, an den er feine Zahl anfchieben kann.
Er äußerte ferner:
Engländer haben kein äfthetifch moralifches Urteil,
fprechen von einzelnen Schönheiten. Als wenn für den
Dichter etwas fchöner wäre als das andere! Was er aus^
fpricht, ift infofern etwas, daß er es ausfpricht. Sie meinen,
daß er nur etwas fage, wenn er gerade ihr Intereffe
ausfpricht.
[1073.] April. Riemer.
Ohne bettlägerig zu fein, fühlt Goethe denn doch
alle Tage, gewöhlich mittags und abends, wie man feinem
Geficht und fonftigen Gebärden abmerken kann, große
Schmerzen. Es ift auch noch eine Art von Gicht, die
ihn an den Schienenbeinen fehr inkommodiert. ^ In den
übrigen Stunden ift Goethe fo ziemlich. Er geht auch
ins Theater; aber feine Tätigkeit ift natürUch nicht groß,
und dies macht ihn eigentlich mehr unzufrieden, als das
Übel an fich.
[1074.] April 17. J. D. Falk.
Am zweiten Ofierfeiertage 1808 abends war ich mit
Goethe in einer kleinen, auserlefenen Gefellfchaft zu:^
fammen gewefen.
So ift es ihm eben recht. Auch tat er feinem Humor
keinen Zwang an, fondern ließ ihm freien Lauf, befonders,
als wir auf Theater und die neue Literatur zu fprechen
kamen, die er mit politifchen Zufiänden verglich und
feinen Vergleich mit der anmutigften und lebendigften
Laune durchführte. Eben hatten wir am vergangenen
Sonnabend Die Piccolomini gefehen; die nächfie Mittwoch
follte nach einer langen Zwifchenpaufe auch der Wallen^
ftein darankommen.
Es ift, fagte Goethe, mit diefen Stücken wie mit
einem ausgelegten Weine. Je älter fie werden, je mehr
Gefchmack gewinnt man ihnen ab. Ich nehme mir die
Freiheit, Schiller für einen Dichter und fogar für einen
großen zu halten, wiewohl die neueften Imperatoren und
Diktatoren unferer Literatur verfichert haben, er fei keiner.
I
522 J. D. Falk. [1074
Auch den Wieland wollen fie nicht gelten laffen. Es
fragt fich nur, wer dann gelten foU?
Kürzlich hat eine Gelehrtenzeitung in einer von
beiden Städten, ich weiß nicht recht, ob in Ingolftadt
oder in Landshut, Friedrich Schlegel als den erften deut^
fchen Dichter und Imperator in der Gelehrtenrepublik
förmlich ausgerufen. Gott erhalte Se. Majeftät auf Ihrem
neuen Throne und fchenke denenfelben eine lange und
glückliche Regierung! Bei alledem möchte man es nicht
bergen, daß das Reich dermalen noch von fehr rebellifchen
Untertanen umlagert ift, deren wir einige, indem er einen
Seitenblick auf mich warf, fogar in unferer eigenen Nähe
haben.
Übrigens geht es in der deutfchen Gelehrtenrepublik
jetzt völlig fo bunt zu wie beim Verfall des römifchen
Reiches, wo zuletzt jeder herrfchen wollte, und keiner
mehr wußte, wer eigentlich Kaifer war. Die großen
Männer leben dermal faft fämtlich im Exil und jedes
verwegene Marketendergeficht kann Imperator werden,
fobald es nur die Gunft der Soldaten und der Armee
befitzt, oder fich fonfi eines Einfluffes zu erfreuen hat.
Ein paar Kaifer mehr oder weniger, darauf kommt es in
folchen Zeiten gar nicht an. Haben doch einmal im
römifchen Reiche dreißig Kaifer zugleich regiert, warum
follten wir in unfern gelehrten Staaten der Oberhäupter
weniger haben? Wieland und Schiller find bereits ihres
Thrones verluftig erklärt. Wie lange mir mein alter
Imperatormantelnoch auf den Schultern fitzen wird, läßt
fich nicht vorausbeftimmen ; ich weiß es felbft nicht. Doch
bin ich entfchloffen , wenn es je dahin kommen follte,
der Welt zu zeigen, daß Reich und Zepter mir nicht
ans Herz gewachfen find, und meine Abfetzung mit Gq^
duld zu ertragen; wie denn überhaupt feinen Gefchicken
in diefer Welt niemand fo leicht entgehen mag. Ja, wo^;
von fprachen wir doch gleich? Ha, von Imperatoren!
Gut! Novalis war noch keiner, aber mit der Zeit hätte
er auch einer werden können. Schade nur, daß er fo
jung gefiiorben ift, zumal,, da er noch außerdem feiner
Zeit den Gefallen getan und katholifch geworden ift.
Sind ja doch fchon, wie die Zeitungen befagten, Jung^
frauen und Studenten rudelweife zu feinem Grabe ge?
wallfahrtet und haben ihm mit vollen Händen Blumen
geftreut. Das nenn' ich einen guten Anfang, und es
1074] Weimar. 1808. 523
läßt fich davon fchon etwas für die Folge erwarten. Da
ich nur wenig Zeitungen lefe, fo erfuche ich meine an?
wefenden Freunde, wenn etwas weiter von diefer Art,
was von Wichtigkeit, eine Kanonifierung oder dergleichen
vorfallen foUte, mich davon fogleich in Kenntnis zu fetzen.
Ich meinerfeits bin damit zufrieden, daß man bei meinen
Lebzeiten alles nur erdenkUche Böfe von mir fagt; nach
meinem Tode aber follen fie mich fchon in Ruhe laffen,
weil der Stoff fchon früher erfchöpft ift, fo daß ihnen
wenig oder nichts übrig bleiben wird. Tieck war auch
eine Zeitlang Imperator, aber es währte nicht lange, fo
verlor er Zepter und Krone. Man fagt, es fei etwas zu
Titusartiges in feiner Natur, er fei zu gütig, zu milde
gewefen, das Reich aber fodere in feinem jetzigen Zuj=
fiande Strenge, ja, man möchte wohl fagen, eine faft bar?
barifche Größe. Nun kamen die Schlegel ans Regiment;
da ging's befferl Auguft Schlegel, feines Namens der
Erfte, und Friedrich Schlegel der Zweite — die beiden
regierten mit dem gehörigen Nachdrucke. Es verging
kein Tag, wo nicht irgend jemand ins Exil gefchickt, oder
ein paar Exekutionen gehalten wurden. So ift's recht!
Von dergleichen ift das Volk feit undenklichen Zeiten ein
großer Liebhaber gewefen. Vor kurzem hat ein junger An?
fänger den Friedrich Schlegel irgendwo als einen deutfchen
Herkules aufgeführt, der mit feiner Keule im Reiche herum?
ginge und alles totfchlüge, was ihm irgend in den Weg
käme. Dafür hat jener mutige Imperator diefen jungen
Anfänger feinerfeits fogleich in den Adelftand erhoben
und ihn ohne weiteres einen fieroen der deutfchen
Literatur genannt. Das Diplom ift ausgefertigt; Ihr könnt
Euch darauf verlaffen, ich habe es felber gelefen. Dota?
tionen, Domänen, ganze Fächer in Gelehrtenzeitungen,
die fie ihren Freunden zum Rezenfieren verfchaffen, find
auch nicht feiten, die Feinde aber werden oft heimlich
aus dem Wege geräumt, indem man ihre Schriften bei?
feite legt und fie lieber gar nicht anzeigt. Da wir nun
im Deutfchen ein fehr geduldiges Publikum haben, das
nichts lieft, als was zuvor rezenfiert ift, fo ift diefe Sache
gar fo übel nicht ausgefonnen. Das Befte noch bei der
ganzen Sache ift denn aber doch immer das Ungefähr?
liehe. Z. B. es legt fich einer jetzt abends als Imperator
gefund und vergnügt zu Bette. Des andern Morgens
darauf erwacht er und fieht mit Erftaunen, daß die Krone
I
524 J. D. Falk. [1074
von feinem Haupte hinweg ift. Ich geb' es zu, es ift
ein fchlimm^r Zufall, aber der Kopf, fofern der Imperator
überhaupt einen hatte, fitzt doch noch immer auf der^
felben Stelle, und das ift, meines Erachtens, barer Gewinn.
Wie häßlich dagegen ift es von den alten Imperatoren
zu lefen, wenn fie dutzendweife in der römifchen Ge^
fchichte erdroffelt und nachher in die Tiber geworfen
werden. Ich meinerfeits gedenke, wofern ich auch Reich
und Zepter verlieren follte, hier ruhig an der Um auf
meinem Bette zu fterben. Von unfern Reichsangelegen?
heiten und befonders von Imperatoren weiter zu fprechen :
ein andrer junger Dichter in Jena [A. Bode?] ift auch
zu früh geftorben. Imperator konnte der zwar nicht werden,
aber Reichsverwefer, Major Domus oder fo etwas, das
war' ihm nicht entgangen. Wo nicht, fo ftand ihm noch
immer als einem der erften Heroen in der deutfchen
Literatur ein Platz offen. Eine Pairskammer zu ftiften,
wozu Vermögen gehört, wäre überhaupt in der deutfchen
Literatur kein verwerflicher Gedanke. Hätte jener nur
ein paar Jahre länger in Jena gelebt, fo könnte er Pair
des Reiches geworden fein, ehe er fich umfah. So aber,
wie gefagt, ftarb er zu frühe. Das war allerdings übereilt.
Man foll fich, wie es der rafche Gang unferer neueften
Literatur fordert, fo fchnell als möglich mit Erde bedecken.
Das ift Grundfatz. Mit der Herausgabe von einigen
Sonetten und ein paar Almanachen ift die Sache noch
keineswegs getan. Die literarifchen Freunde des jungen
Mannes haben zwar in öffentlichen Blättern verfichert,
feine Sonetten würden auch lange nach feinem Tode noch
fortleben, ich habe mich aber nachher nicht weiter da?
nach erkundigt, kann daher auch nicht fagen, ob es in
Erfüllung gegangen ift, oder wie es fich überhaupt mit
diefer Sache verhält.
Als ich noch jung war, hab' ich mir freilich von
verftändigen Männern fagen laffen, es arbeite oft ein
ganzes Zeitalter daran, um einen einzigen tüchtigen großen
Maler oder Dichter hervorzubringen, aber das ift lange
her. Jetzt geht das alles viel leichter vonftatten. Unfre
jungen Leute wiffen das beffer einzurichten und fpringen
mit ihrem Zeitalter um, daß es eine Luft ift. Sie arbeiten
fich nicht aus dem Zeitalter heraus, wie es eigentlich fein
follte, fondern fie wollen das ganze Zeitalter in fich hin?
einarbeiten, und wenn ihnen das nicht nach Wunfche
1076] Weimar. 1808. 525
glückt, fo werden fie über die Maßen verdrießlich und
fchelten die Gemeinheit des Publikums, dem in feiner
gänzlichen Unfchuld eigentlich alles recht ift. Neulich
befuchte mich ein junger Mann, der foeben von Heidel^
berg zurückkehrte; ich konnte ihn kaum über neunzehn
Jahre fchätzen. Diefer verficherte mich im vollen Ernfte,
er habe nunmehr mit fich abgefchloffen, und da er wiffe,
worauf es eigentlich ankomme, fo wolle er künftighin fo
wenig wie möglich lefen, dagegen aber in gefellfchaft::
liehen Kreifen feine Weltanfichten felbftändig zu ent^
wickeln fuchen, ohne fich durch fremde Sprachen, Bücher
und Hefte irgend darin hindern zu laffen. Das ift ein
prächtiger Anfang! Wenn jeder nur erft wieder von Null
ausgeht, da muffen die Fortfehritte in kurzer Zeit äußere
ordentlich bedeutend werden.
[1075.] April 17. F. J. J. Bertuch.
Goethe denkt bald nach Karlsbad zu reifen. Letzt;;
hin war er göttlich bei Mde. Schopenhauer, wo er über
Schillers Zyklus Wallenftein fprach, welcher heute (21.
April) und den Sonnabend gegeben wird. Freilich, fagte
er unter anderm, verlautet jetzt von dem guten Schiller,
daß er kein Dichter fei (diefes predigt Paffow feinen
Primanern, und ftand zwei Schritte von Goethe), doch
wir haben da fo unfere eigene Meinung darüber. Mit
dreimal kauftifcher Lauge fprach er fcherzend über die
poetifche Anarchie, wo der neuefte Dichter zum größten
ausgerufen werde und kam auf die Landshuter Erklärung
(von Aft?), daß Friedrich Schlegel zum Herkules unter
den Dichtern proklamiert fei, und jetzt, anftatt mit dem
Schlegel, mit der Keule herumwandle, an der als Exkresj:
zenz auch ein Äftchen bemerkbar fei. Kurz, Goethe
dokumentierte hier fo ganz feine hohe Meifterfchaft und
ließ einmal hell fehen, wie er über die Alfanzereien der
Zeit eigentlich denkt.
[1076.] April 18. Riemer.
* Bei Gelegenheit der Rezenfion feiner Werke in den
Heidelberger Jahrbüchern von F. Schlegel fagte G. , er
fei damit zufrieden. Der Rezenfent habe fich viel Mühe
gegeben und alles bedacht und bemerkt. Nur muffe er
(G.) felbft am heften wiffen, wo die Zäume hingen. Er
verftehe die Rezenfion recht gut, aber gegen feine Lefer,
l
526 Riemer. [1077
d. h. die Lefer feiner Werke, habe der Rezenfent einen
kuriofen Stand.
Es feien ja dies alles nur Fetzen und Lappen von
feiner Exiftenz; da einmal ein alter Hut, und dort ein
paar Schuhe, und dort ein Lappen von einem Rock, den
er einmal getragen.
Die große Kluft, die durch die Reife nach Italien
gemacht wird, zwifchen den italienifchen und andern Ge^:
dichten, könne man freilich nicht verlangen, daß fie der
Rezenfent ausfüllen folle.
[1077.] April 18. Riemer.
Äußerte Goethe: Schelme, Halbfchelme find wie die
doppelfarbigen Mäntel, die man nach Gefallen umkehren
kann, um immer nach einer Seite zu erfcheinen.
[1078.] April (20). Charlotte v. Stein an ihren Sohn Fritz.
Goethe führte mich neulich in feinen Garten am
Haus, um mir etwas Neues zu zeigen; es war Deine alte
Hütte, die er wieder hatte reparieren laffen; und das war
das erftemal feit fo vielen Jahren, daß er von feinem
alten Verhältnis mit Dir etwas erwähnt. <^
Vor einigen Tagen las Goethe aus feiner Fortfetzung
von Wilhelm Meifter, welche Wilhelms Wanderjahre heißt,
bei mir zwei Gefchichten vor. Gräfin Henckel, ihre Tochter,
Mama Seebach, Henriette Seebach, die Schillern, Bofe
waren eben bei mir. Er war gekommen, um mir etwas
Botanifches zu erklären, welches ein befonderer Auswuchs
an einem Lackftock, den ich befitze, veranlaßte. Er hat
dies mit einer Deutfichkeit getan, daß man das innere
Leben davon ergreifen konnte. Die Damen hätten ihm
gern die Hände geküßt.
[1079.] April. B. R. Abeken.
Ein Befuch, den ich Goethen nach meiner Ankunft
in Weimar machte, wurde freundlich angenommen. Ich
fand ihn in feinem Hausgarten, in welchem er eine Zeit:;
lang mit mir auf und ab wandelte. Dabei nahm ich
wahr, daß er, feiner Weife gemäß, mich fcharf fixierte,
wie um zu fehen, ob vielleicht etwas an mir fei.
1081] Weimar. 1808. 527
[1080.] B. R. Abeken an H. Voß.
Auch Goethe habe ich gefehn. Ich befuchte ihn
auf Dein Wort und überbrachte ihm Deine Empfehlung
und Beftellung. Er empfing mich in feinem Garten und
ging eine Weile mit mir auf und ab. Er fprach fehr
freundfchaftlich von Dir und freute fich, daß fein Sohn
Dich fände.
[1081.] Mai 9. J. D. Falk.
Der fchwer beleidigte Kaifer Napoleon verftattete zwar
dem Herzoge die Rückkehr in feine Staaten, aber nicht
ohne das höchfte Mißtrauen in ihn zu fetzen, fo daß der
edle, offne deutfche Mann von diefem Augenblicke an von
allen Seiten mit Horchern, fogar an feiner Tafel umftellt
war. Da mich um diefe Zeit meine Gefchäfte oftmals
nach Berlin und Erfurt führten, gaben mir die dortigen
höhern Behörden nicht feiten Bemerkungen anzuhören,
von denen ich gewiß war, daß man fie als Refultate der
dort gehaltenen geheimen Polizeiregifter dem Kaifer vor*
legte, und die ich eben deshalb dem Herzoge nicht ver;:
fchweigen durfte. Mit wörtlicher Treue, wie ich fie emp^s
fangen hatte, fetzte ich fie fchriftlich auf, um fie höhern
Orts zu übergeben. Bei diefer Gelegenheit hat Goethe
eine fo fchöne perfönliche Anhänglichkeit für den Herzog
an den Tag gelegt, daß ich mir ein Gewiffen daraus
machen würde, dem deutfchen Publikum dies fchöne Blatt
aus der Lebensgefchichte feines großen Dichters vorzu^
enthalten. Es gefchah um diefe Zeit häufig genug, wenn
ich Goethe befuchte, daß die bedenklichen Zeitumftände
— in welche ich felbft damals, nicht aber zum Unglück,
fondern, wofür ich Gott herzlich danke, zum Segen des
Landes, das ich bewohnte, handelnd verflochten war —
mit männlicher Umficht von uns nach allen Seiten durch::
gefprochen wurden. So kam denn auch diesmal, als
ich Goethe nach meiner Zurückkunft von Erfurt in feinem
Garten befuchte, die Rede auf die Befchwerden der fran?
zöfifchen Regierung. Ich teilte fie ihm Punkt für Punkt
und fo mit, wie fie auch nach diefem der Herzog un#
verändert gelefen hat. Es fei bekannt, hieß es unter
anderm in diefer Schrift, daß der Herzog von Weimar
dem feindlichen General Blücher, der fich zu Hamburg
mit feinen Offizieren nach der Niederlage von Lübeck
I
528 J. D. Falk. [1081
in der größten Verlegenheit befunden, 4000 Taler auf
Wechfel vorgefchoffen habe. Ebenfo wiffe jedermann,
daß ein preußifcher Offizier, der Hauptmann v. Ende, ^^
als Hofmarfchall bei der Frau Großfürftin angeftellt fei.
Es fei nicht zu leugnen, daß die Anftellung fo vieler
preußifcher Offiziere fowohl im Militärs als Zivilfach,
deren Gefinnungen bekanntlich nicht die heften feien, für
Frankreich etwas Beunruhigendes mit fich führe. Schwer;:
lieh werde es der Kaifer billigen oder jemals zugeben,
daß man mitten im Herzen des Rheinbundes gleichfam
eine fiillfchweigende Verfchwörung wider ihn anlege. Sos:
gar zum Hofmeifter feines Sohnes, des Prinzen Bernhard,
habe man einen ehemaligen preußifchen Offizier, den
Herrn von Rühle »^ gewählt; Herr von Müffling, eben?
falls gedienter Offizier und Sohn des preußifchen Generals
diefes Namens, ^^ fei mit großem Gehalte in Weimar
als Präfident eines Landeskollegiums angeftellt; der Herzog
ftehe mit demfelben in einem vertrauten perfönlichen Um?
gange, und es fei natürlich, daß alle folche Verbindungen
nur dazu dienten, einen ohnehin fchlecht genug verheim?
lichten Groll gegen Frankreich zu nähren. Es fcheine,
daß man gleichfam alles abfichtlich hervorfuche, um den
Zorn des Kaifers, der doch manches von Weimar zu ver?
geffen habe, aufs neue zu reizen und herauszufordern.
Unvorfichtig wenigftens feien die Schritte des Herzogs
in einem hohen Grade, wenn man ihnen auch nicht ge?
radewegs eine böfe Abficht unterlegen wolle. So habe
derfelbe auch den Herzog von Braunfchweig, den Tod?
feind Frankreichs, nebft Herrn von Müffling, nach dem
Gefechte von Lübeck zu Braunfchweig auf feinem Durch?
marfch befucht.
Genug! fiel mir Goethe, als ich bis dahin gelefen
hatte, mit flammendem Gefichte ins Wort. Was wollen
fie denn, diefe Franzofen? Sind fie Menfchen? Warum
verlangen fie geradeweg das Unmenfchliche? Was hat
der Herzog getan, was nicht lobens? und rühmenswert
ift? Seit wannift es denn ein Verbrechen, feinen Freunden
und alten Waffenkameraden im Unglück treu zu bleiben?
Ift denn eines edlen Mannes Gedächtnis fo gar nichts in
euren Augen? Warum mutet man dem Herzoge zu, die
fchönften Erinnerungen feines Lebens, den Siebenjährigen
Krieg, das Andenken an Friedrich den Großen, der fein
Oheim war, kurz alles Ruhmwürdige des uralten deutfchen
1081] Weimar. 1808. 529
Zuftandes, woran er felbft fo tätig Anteil nahm, und wo^s
für er noch zuletzt Krone und Zepter aufs Spiel fetzte,
den neuen Herren zu gefallen, wie ein verrechnetes Ex=
empel plötzlich über Nacht mit einem naffen Schwämme
von der Tafel feines Gedächtniffes hinwegzuftreichen?
Steht denn euer Kaifertum von gefiern fchon auf fo feften
Füßen, daß ihr keine, gar keine Wechfel des menfch^
liehen Schickfals in Zukunft zu befürchten habt? Von
Natur zu gelaffener Betrachtung der Dinge aufgelegt,
werde ich doch grimmig, fobald ich fehe, daß man dem
Menfchen das Unmögliche abfordert. Daß der Herzog
verwundete, ihres Soldes beraubte preußifche Offiziere
unterftützt, daß er dem heldenmütigen Blücher nach dem
Gefecht von Lübeck einen Vorfchuß von 4000 Talern
machte, das wollt ihr eine Verfchwörung nennen? Das
gedenkt ihr ihm übel auszulegen? Setzen wir den Fall,
daß heute oder morgen Unglück bei eurer großen Armee
einträte: was würde wohl ein General oder Feldmarfchall
in den Augen des Kaifers wert fein, der gerade fo handelte,
wie unfer Herzog in dem vorliegenden Falle wirklich
gehandelt hat? Ich fage euch, der Herzog foll fo handeln,
wie er handelt! Er muß fo handeln! Er täte fehr unrecht,
wenn er je anders handelte! Ja, und müßte er darüber
Land und Leute, Krone und Zepter verlieren, wie fein
Vorfahr, der unglückliche Johann, fo foll und darf er
doch um keine Hand breit von diefer edeln Sinnesart
und dem, was ihm Menfchen:; und Fürftenpflicht in folchen
Fällen vorfchreibt, abweichen. Unglück! Was ifi Un^^
glück? Das ifi: ein Unglück, wenn fich ein Fürft der:;
gleichen von Fremden in feinem eignen Haufe muß ge;;
fallen laffen. Und wenn es auch dahin mit ihm käme,
wohin es mit jenem Johann einft gekommen ift, daß beides,
fein Fall und fein Unglück, gewiß wäre, fo foll uns auch
das nicht irre machen, fondern mit einem Stecken in der
Hand wollen wir unfern Herrn, wie jener Lukas Cranach
den feinigen, ins Elend begleiten und treu an feiner Seite
aushalten. Die Kinder und Frauen, wenn fie uns in den
Dörfern begegnen, werden weinend die Augen auffchlagen
und zueinander fprechen: das ift der alte Goethe und
der ehemalige Herzog von Weimar, den der franzöfifche
Kaifer feines Thrones entfetzt hat, weil er feinen Freunden
fo treu im Unglück war; weil er den Herzog von Braun;:
fchweig, feinen Oheim, auf dem Todbette befuchte;
I 34
530 J. D. Falk. [1082
weil er feine alten WafFenkameraden und Zeltbrüder nicht
wollte verhungern laffenl — Hier rollten ihm die Tränen
ftromweife von beiden Backen herunter; alsdann fuhr er
nach einer Paufe, und fobald er wieder einige Faffung
gefammelt, fort: Ich will ums Brot fingen! Ich will ein
Bänkelfänger werden, und unfer Unglück in Liedern ver^
faffenl Ich will in alle Dörfer und in alle Schulen ziehen,
wo irgend der Name Goethe bekannt ift; die Schande
der Deutfchen will ich befingen, und die Kinder follen
mein Schandlied auswendig lernen, bis fie Männer werden,
und damit meinen Herrn wieder auf den Thron herauf:^
und euch von dem euern herunterfingen 1 Ja, fpottet nur
des Gefetzes, ihr werdet doch zuletzt an ihm zufchanden
werden! Komm an, Franzos! Hier oder nirgend ift der
Ort mit dir anzubinden! Wenn du diefes Gefühl dem
Deutfchen nimmft oder es mit Füßen trittft, was eins ift,
fo wirft du diefem Volke bald felbft unter die Füße
kommen! Ihr feht, ich zittre an Händen und Füßen.
Ich bin lange nicht fo bewegt gewefen. Gebt mir diefen
Bericht! Oder nein, nehmt ihn felbft! Werft ihn ins
Feuer! Verbrennt ihn! Und wenn Ihr ihn verbrannt
habt, fammelt die Afche und werft fie ins Waffer! Laßt
es fieden, brodeln und kochen! Ich felbft will Holz dazu
herbeitragen, bis alles zerftiebt ift, bis jeder, auch der
kleinfte Buchftabe, jedes Komma und jeder Punkt in
Rauch und Dunft davonfliegt, fo daß auch nicht ein
Stäubchen davon auf deutfchem Grund und Boden übrig
bleibt! Und fo muffen wir es auch einft mit diefen
übermütigen Fremden machen, wenn es je beffer in Deutfeh:«
land werden foU.
Ich brauche kein Wort zu diefem wahrhaft mannst
liehen Gefpräche hinzuzufetzen , das ebenfo ehrend für
Goethe, als für den Herzog ift.
Als ich Goethe beim Abfchied umarmte, ftanden
auch mir die Augen voll Tränen.
[1082.] Mai 14. Riemer.
Auf mitunter fehr fchlechten Wegen nach Franzensj^
bad. Am Brunnen gewefen. Schöne Kobellfche Land^
fchaft mit blauen Bergen. Befonders Politica befprochen.
Europa — äußerte Goethe — war fonft eine der
feltenften Republiken, die jemals exifiiert, und ging da^^
durch zugrunde, daß ein Teil das fein wollte, was das
1086] Karlsbad. 1808. 531
Ganze war; nämlich Frankreich wollte Republik werden. —
Jetzt nirgends Schutz und Hilfe. Omnia in propatulo.
Sonft, der Menfch auf fich allein geftellt, fuchte er
Hilfe bei anderen: in Burgen, Schlöffern, bei Freunden.
Jetzt, in der öffentlichften Kommunikation hilflos, und nur
durch fein Inneres zu tröfien und zu helfen.
Sonft verfchloffen nach außen, offen nach innen;
jetzt offen nach außen, verfchloffen nach innen.
[1083.] Mai 17. Riemer.
Nach Tifche Metra für Goethe. Abends mit ihm
den Chodekfchen Weg. Über Pandora: über Systole
und Diastole des Weltgeiftes. Jene gibt die Spezifikation,
diefe das Unendliche. In der Natur fei das Unmögliche,
daß nichts nicht werde: das Leben fei gleich da.
[1084.] Juni Ende. Riemer an Johanna Frommann.
Goethe befindet fich ununterbrochen wohl und ifi
fehr tätig. Die Pandora ift bis zur Hälfte dem Prome:«
theus zugeführt. ^ Dann find andere poetifche Arbeiten
daran gekommen, die zu ihrer Zeit auch an das Licht
treten werden, zunächft wenigftens an das Kerzenlicht
des gefelligen Teezimmers. Allmählich rücken wir in die
Profe ein und da ift die Farbenlehre das nächfte.
[1085.] Juni 14./Juli 17. Pauline Gotter.
Gleich in den erften Tagen lernten wir Goethe kennen.
'^ Er war fo holdfelig und gütig, und befuchte uns oft,
und wir haben in feiner Gefellfchaft die reizendften Land:=
Partien gemacht, die fein Geift, feine Liebenswürdigkeit
und feine gute Laune erfi recht würzte. Der Kreis unfrer
Bekannten war fehr eng gefchloffen: außer ihm, feinem
Freund Riemer und Ziegefars, wo wir uns alle Abende
vereinigten, haben wir fehr wenig Menfchen gefprochen,
'^ aber wir verlangten auch nach niemand anders. Goethe
hat auch einigemal vorgelefen und uns manches mitge^;
teilt, was noch nicht gedruckt war. Er war fo gütig und
kam mehrmals früh, mir botanifche Stunden zu geben,
und mehrmals habe ich ganz allein weite Spaziergänge
mit ihm gemacht.
[1086.] Juli 28. Frau Baffenge an Ph. O. Runge.
Ich fchreibe heute nur ein paar Zeilen, um den Brief
von Goethe zu begleiten und Dir von diefem lieben
I 34*
532 Frau Paffenge. [1087
Manne etwas zu erzählen. Ich habe ihn in Karlsbad
zwar nicht viel gefehen, denn unglücklicherweife ging er
ein paar Tage nach meiner Ankunft nach Eger ab. Ich
hatte ihn die drei erften Tage an allen Brunnen gefucht,
er war nirgends, endlich erfahre ich, daß er foeben nach
Eger geht, und fchicke ihm Deinen Brief; ein paar Tage
vor meiner Abreife fchickt er mir die Antwort und den
andern Tag war er fo gütig, mich felbft zu befuchen.
Wir haben viel von Dir gefprochen, und er fagte, wie
herzlich es ihn erfreut habe, an Dir einen in fo vielen
Punkten mit ihm gleichdenkenden Mann gefunden zu
haben. Er wünfchte fehr, fich mit Dir über verfchiedene
Sachen ausführlich zu befprechen; durch Briefe fei das
eine fehr weitläufige und doch nicht genügende Sache.
Ob es denn nicht möglich wäre, daß Du auf einige
Wochen nach Weimar kommen könnteft, im Oktober
oder November?
[1087.] Auguft 2. Riemer.
Abends Armenkonzert von Pixis und Holbein ge^
geben, der deklamierte und fang, Goethes Hochzeitslied
und Schillers Glocke. Nicht befonders. Um 9 Uhr nach
Haufe mit Goethe. Darüber gefprochen.
Hier gibt man, fagt Goethe, Konzerte und Bälle,
um wohltätig zu fein, und ift wohltätig, um mit Ehren
fingen und tanzen zu können. Das ift die Art von Bittere
falz, womit die moderne Welt ihre Pflicht und Ver==
gnügen zugleich abführt, damit ja alles recht kurmäßig
gefchehen möge.
[1088.] Auguft 13. Riemer.
Goethe: Es geht den Leuten, oder uns, mit den Wiffen*
fchaften wie dem Zadig (von Voltaire) mit dem ver^
laufenen Hund und Pferde, das jedermann an der Bes^
fchreibung erkennt, aber niemand gefehen haben will.
Ein ähnlicher Fall ift, daß die Leute auch von diefer
oder jener Sache etwas wollen gehört oder gelefen haben,
aber nicht angeben können was und wo.
[1089.] (Auguft.) Riemer.
Goethe äußerte in Karlsbad : Das Ideale im Menfchen,
wenn diefem die Objekte genommen oder verkümmert
1090] Karlsbad. 1808. 533
werden, zieht fich in fich, feinert und fteigert fich, daß
es fich gleichfam übertrumpft.
Die meiften Menfchen im Norden haben viel mehr
Ideales in fich, als fie brauchen können, als fie verarbeiten
können; daher die fonderbaren Erfcheinungen von Sentit
mentalität, Religiofität, Myfiizismus ufw.
[1090.] Auguft 27. Riemer.
Über Tifche vom Charakter. Er fei, fagte Goethe,
die Tüchtigkeit vis^ä^vis von etwas Höherem, das er über
fich erkenne, und feine Selbftfchätzung. Der Charakter
ruhe auf der Perfönlichkeit, nicht auf dem Talente.
Der Charakter ift eine pfychifche Gewohnheit, eine
Gewohnheit der Seele, und feinem Charakter gemäß
handeln, heißt feinen pfychifchen und geiftigen Gewohn;:
heiten gemäß handeln, denn diefe find ihm allein bequem,
und nur das Bequeme gehört uns eigentlich an.
Wer nicht nachgibt, ob er fchon einfieht, daß der
andere recht hat, heißt ein trotziger Charakter. Es wird
ihm aber leichter, nicht nachzugeben (wie es mancher ges:
wohnt ift, mit der linken Hand alles zu tun, was vielen
fchwer däucht), es ift feine Gewohnheit. Man muß Ge*
wohnheit aber fo verftehen: wir können uns eigentlich
nichts angewöhnen, nichts was nicht eigentlich fchon
unfer wäre. Es ift nur das Wiederholen des erften ur^
fprünghchen Tuns, und der Charakter ift eigentlich vor
aller Gewöhnung und Gewohnheit. Er erfcheint uns
nur als Gewohnheit, denn wir muffen etwas wiederkehren
fehen, wenn wir wiffen follen, daß es da ift, und diefe
Wiederkehr, diefes Wiederholen des Erften und Einen
heißen wir Gewohnheit.
Die gewöhnlichen Vorftellungsarten find abfurd. Man
fagt: weil er das und das fo oft getan hat, ift es ihm zur
Gewohnheit worden. Dies ift ein Idem per Idem. Es
ift, wie wenn ich fagte: weil ich den Handfchuh fo oft
aus? und angezogen habe, ift er weit geworden. Wenn
es nicht die Natur des Handfchuhleders wäre, fich zu
dehnen, fo hätte ich ihn taufend und abertaufendmal an?
ziehen können, er wäre nicht weiter geworden. Warum
wird es denn kein Stahlhandfchuh, oder ein fteinerner?
ich mag fie noch fo oft anziehen.
Nein! er hat es getan, fo oft und fo oft, weil er's
mußte, weil es feine Eigenfchaft ift; und diefe Eigenfchaft
I
534 Riemer. [1091
erfcheint uns als Gewohnheit, weil wir fie wiederholt
fehen. Charakter ifi alfo Eigenfchaft und Gewohnheit
zugleich. Jenes a priori angefehen; diefes a posteriori.
Nimmt man das Willkürliche aus dem Leben und
Handeln und Verfahren hinweg, fo hat man das Befte
hinweggenommen. Sei ich noch fo weife und verftändig und
zweckmäßig: ich muß fierben wie der Allerunvernünftigfte,
wie der Tor. Und ich habe keine Freude davon gehabt,
und andern keine damit gemacht.
[1091.] Auguft 28. Riemer.
Goethes Geburtstag. Mit ihm über den neueren
Roman, befonders den feinigen. Er äußerte:
Seine Idee bei dem neuen Roman Die Wahlver;;
wandtfchaften fei: foziale Verhältniffe und die Konflikte
derfelben fymbolifch gefaßt darzuftellen.
Abends über das antike Tragifche und das Romanos
tifche. Das antike Tragifche ift das menfchlich Tragierte.
Das Romantifche ifi kein Natürliches, Urfprüngliches,
fondern ein Gemachtes, ein Gefuchtes, Gefieigertes, Über^
triebenes. Bizarres, bis ins Fratzenhafte und Karikatur^
artige. Kommt vor wie ein Redoutenwefen, eine Maskerade,
grelle Lichterbeleuchtung. Ifi humorifiifch (d. h. ironifch,
vgl. Ariofi, Cervantes; daher ans Komifche grenzend und
felbft komifch) oder wird es augenblicklich, fobald der
Verfiand fich daran macht, fonfi ifi es abfurd und phan^
tafiifch. Das Antike ifi noch bedingt (wahrfcheinlich,
menfchlich), das Modern willkürlich, unmöglich.
Das antike Magifche und Zauberifche hat Stil, das
moderne nicht. Das antike Magifche ifi Natur, menfch^
lieh betrachtet, das moderne dagegen ein bloß Gedachtes,
Phantafiifches.
Das Antike ift nüchtern, modefi, gemäßigt, das
Moderne ganz zügellos, betrunken. Das Antike erfcheint
nur ein idealifiertes Reales, ein mit Großheit (Stil) und
Gefchmack behandeltes Reales; das Romantifche ein Uns:
wirkliches, Unmögliches, dem durch die Phantafie nur
ein Schein des Wirklichen gegeben wird.
Das Antike ifi plafiifch, wahr und reell; das Romanik
tifche täufchend wie die Bilder einer Zauberlaterne, wie
ein prismatifches Farbenbild, wie die atmofphärifchen
Farben. Nämlich eine ganz gemeine Unterlage erhält
durch die romantifche Behandlung einen feltfamen wunderst
1092] Karlsbad. 1808. 535
baren Anftrich, wo der Anfirich eben alles ifi und die
Unterlage nichts.
Das Romantifche grenzt ans Komifche (Hüon und
Amanda, Oberon), das Antike ans Ernfte und Würdige.
Das Romantifche, wo es in der Großheit an das
Antike grenzt, wie in den Nibelungen, hat wohl auch
Stil, d. h. eine gewiffe Großheit in der Behandlung, aber
keinen Gefchmack. Die fogenannte romantifche Poefie
zieht befonders unfere jungen Leute an, weil fie der Will::
kür, der Sinnlichkeit, dem Hange nach Ungebundenheit,
kurz der Neigung der Jugend fchmeichelt. Mit Gewalt
fetzt man alles durch. Seinem Gegner bietet man Trotz. Die
Weiber werden angebetet: Alles wie es die Jugend macht.
Alle irdifche Poefie ift immer noch zu charakterifiifch,
rein objektiv zu fein, d. h. noch zu individuell, nicht
generell genug. Ja, was uns als reines Objekt vorkommt,
ifi: felbft noch Individuum. Die Sonne felbft ift ein In^
dividuum, ob fie uns gleich als das reinfte Objekt er^
fcheint, da fie mit nichts zu vergleichen ift. Alle empirifche
Poefie, felbft die uns am meiften objektiv erfcheint, die
griechifche oder antike, ift doch nur charakteriftifch und
individuell, und imponiert uns nur dadurch, durch ihr
ftreng Charakteriftifches. Es ift ein erhöhtes Griechen::
tum, was uns entgegenkommt. Alles, was uns imponieren
foU, muß Charakter haben. Die Poefie an fich, ohne
Charakter, ift nicht empirifch darzuftellen.
Das Eigene einer jeden Landes:: und Volkspoefie,
befonders im Dramatifchen , befteht darin, daß fie auf
einem Gegenfatz beruht, auf einen Gegenfatz hinarbeitet,
gleichfam vis^ä^vis eines Gegenfatzes fich in bezug auf
ihn heraushebt.
Das Drama macht bei den Franzofen einen viel
ftärkeren Gegenfatz mit dem Leben, zum Zeichen, daß
ihr gewöhnliches Leben ganz davon entfernt ift. Bei den
Deutfchen weniger, indem fie felbft fchon im Leben wenig::
ftens naiv, gemütlich und poetifch find.
[1092.] Auguft 30. Riemer.
Um 6 Uhr von Karlsbad weggefahren. Über die
Wahlverwandtfchaften und was noch zu tun fein möchte.
Gegen Mittag in Maria::Culm. Über eine Gefchichte in
CaftiTchem Sinn und Gefchmack und höchft moralifch
(erfte Idee zu dem Gedichte Das Tagebuch. 1810).
I
536 G. W. V. Valentini. [1093
[1093.] Auguft. G. W. V. Valentini.
Unter den intereffanten Fremden in Karlsbad muß
ich Goethen wohl obenanftellen. Eine Beftellung, die mir
der Herzog von Weimar an ihn aufgetragen hatte, ver?
fchaffte mir Eingang bei ihm und fo habe ich ihn einige
Male befucht und mich an feinem cauftifchen Humor,
mit welchem er auch die neueften Weltbegebenheiten be^s
trachtet, ergötzt. Er ift auch der Meinung, daß nichts
Neues heutzutage gefchehe. Als ich mich über die kleinen
Könige aufhielt, die aus dem Schlamm unferes Zeiten?
ftroms erwachfen, hat er mich an den Agamemnon er?
innert. Von diefem Heros unferer Dichter kann man
mit Recht fagen, daß er das Leben zu genießen verfieht.
Er hat einen reinen Sinn für die Schönheiten der Natur,
und findet Intereffe an fo manchem, vor welchem man
gewohnt ift gleichgültig vorüber zu gehen. Seine Be?
fchäftigung in Karlsbad, wo er fich faft den ganzen Sommer
hindurch aufhielt, ift Landfchaftsmalen und Mineralogie,
welche beiden ihn viel ins Freie hinaustreiben. Was fein
Geift zutage fördert, das entfteht fo lebendig in ihm,
daß es ihn nicht an den Schreibtifch feffelt.
[1094.] September. K. L. v. Weltmann.
Herr von Goethe trägt fich mit der Idee, in dem
bevorfiehenden Winter einen Kongreß ausgezeichneter
deutfcher Männer in Weimar zuftande zu bringen, damit
fie über Gegenftände der deutfchen Kultur fich gemein?
fchaftlich beraten.
[1095.] September 17. Riemer.
Glücklich wären wir nun wohl in Weimar angekommen
und auch freundlich aufgenommen! Die jungen Schau?
fpieler hatten die Treppe mit Teppichen und Blumenge?
winden und Orangerie gefchmückt, das einen fehr guten
Anblick machte. Goethe war fehr erfreut. Den Nachmittag
aber kam die Trauerpoft, daß feine Mutter geftorben fei.
Es hat ihn natürlich fehr betrübt; und wir vermeiden
alles, was den Schmerz in ihm erneuern kann. Sonft ift
er wohl.
[1096.] September (20). Henriette v. Knebel.
Goethe hat die Prinzeß befucht. — Seine Mutter ift
geftorben, doch fpricht er nicht gerne davon.
1098] Erfurt. 1808. 537
[1097.] September 29. und folgende Tage. F. v. Müller.
Der Herzog berief in diefen Tagen unfern Goethe
nach Erfurt, der nach feiner eigentümhchen Sinnesweife
fich bisher ganz fern gehalten hatte. Es war mir ges^
lungen, eine bequeme Wohnung in der Nähe des Herzogs
aufzufinden, und Goethe bheb mehrere Tage in Erfurt.
Das franzöfifche Theater gewährte ihm unfäghchen Ge^
nuß, und es war höchft intereffant, ihn nach jeder Vor?
ftellung noch fiundenlang bei dem Herzog über die Eigen?
tümhchkeiten der franzöfifchen Tragiker und dramatifchen
Künftler fprechen zu hören; er war dabei ftets in der
höchften Aufregung, voll Feuer und hinreißender Be?
redfamkeit.
Napoleon hatte fchon mehrmalen den Wunfeh blicken
laffen, daß die Herzogin von Weimar ihm und feinem kaifer?
liehen Gsi^t Alexander I. einen Ball zu Weimar geben möchte.
Der Herzog überlegte hin und her, welche noch weiteren
Feftlichkeiten und Anordnungen fchicklicherweife getroffen
werden müßten, wenn fo hohe Gäfte nach Weimar kämen.
^ Der Herzog forderte Goethe auf, auszufinnen, was
etwa am würdigften zur Verherrlichung der bevorftehenden
merkwürdigen Tage in Weimar gefchehen könnte. Goethe
gab wirklich auch mehre höchft großartige und impofante
Ideen an; teils aber hätte ihre Ausführung zu viel Zeit
erfordert, teils erfchienen fie in der Tat zu gigantifch. Der
Herzog befchloß daher, fich außer einem Feftmahle und
Hof balle auf eine große Hirfchjagd am Ettersberg, für
den erften Tag der kaiferlichen Anwefenheit, und für
den andern Tag auf eine andere große Jagd auf den
Bergen gegen Jena hin zu befchränken, da Napoleon
gewünfcht hatte, dem Kaifer Alexander das Schlachtfeld
von Jena zu zeigen.
[1098.] Oktober 2. F. v. Müller.
Bei Frau von der Recke lernte Goethe den Minifter
Maret kennen, auf den er einen außerordentlichen Ein?
druck machte, und der davon dem Kaifer erzählte, wor?
auf Napoleon ihn fogleich am 2. Oktober zu fich ein?
laden ließ. Die Audienz dauerte faft eine volle Stunde.
Ich hatte Goethe bis ins Vorzimmer begleitet und harrte
da feiner Rückkehr. NurTalleyrand, Berthier und Savary
waren bei diefer Audienz gegenwärtig; gleich nach Goethes
I
538 F. V. Müller. [1098
Eintritt in das kaiferliche Kabinett kam auch noch der
Generalintendant Daru dazu.
Der Kaifer faß an einem großen runden Tifche frühst
fiückend. Zu feiner Rechten fiand Talleyrand, zu feiner
Linken Daru, mit dem er fich zwifchendurch über die
preußifchen Kontributionsangelegenheiten unterhielt. Er
winkte Goethe, näher zu kommen, und fragte, nachdem
er ihn aufmerkfam betrachtet hatte, nach feinem Alter.
Als er erfuhr, daß er im fechzigften Jahre ftehe, äußerte
er feine Verwunderung, ihn noch fo frifchen Ausfehens
zu finden, und ging alsbald zu der Frage nach Goethes
Trauerfpielen über, wobei Daru Gelegenheit nahm, fich
näher über fie auszulaffen und überhaupt Goethes dichter
rifche Werke zu rühmen, namentlich auch feine Über?
fetzung des Mahomet von Voltaire. Das ift kein gutes
Stück! fagte der Kaifer und fetzte umfi:ändlich ausein^j
ander, wie unfchicklich es fei, daß der Weltüberwinder
von fich felbft eine fo ungünftige Schilderung mache.
Werthers Leiden verficherte er fiebenmal gelefen zu haben
und machte zum Beweife deffen eine tief eindringende
Analyfe diefes Romans, wobei er jedoch an gewiffen
Stellen eine Vermifchung der Motive des gekränkten
Ehrgeizes mit denen der leidenfchaftlichen Liebe finden
wollte. Das ift nicht naturgemäß und fchwächt bei dem
Lefer die Vorftellung von dem übermächtigen Einfluß,
den die Liebe auf Werther gehabt. Warum haben Sie
das getan?
Goethe fand die weitere Begründung diefes kaifer?
liehen Tadels fo richtig und fcharffinnig, daß er ihn
fpäterhin oftmals gegen mich mit dem Gutachten eines
kunfiverftändigen Kleidermachers verglich, der an einem
angeblich ohne Naht gearbeiteten Ärmel fobald die fein
verfteckte Naht entdeckt.
Dem Kaifer erwiderte er: Es habe ihm noch niemand
diefen Vorwurf gemacht, allein er muffe ihn als ganz
richtig anerkennen; einem Dichter dürfte jedoch zu ver?
zeihen fein, wenn er fich mitunter eines nicht leicht zu
entdeckenden Kunftgriffs bediene, um eine gewiffe Wirkung
hervorzubringen, die er auf einfachem, natürlichem Wege
nicht hervorbringen zu können glaube.
Nun auf das Drama zurückkommend, machte Napoleon
mehrfache fehr bedeutende Bemerkungen, die den Beweis
lieferten, daß er die tragifche Bühne mit der größten Auf?
1098] Erfurt. 1808. 539
merkfamkeit, gleich einem Kriminalrichter, betrachte, und
die deutlich genug zeigten, wie tief er das Abweichen
des franzöfifchen Charakters von Natur und Wahrheit
empfinde. Auf die Schickfalsfiücke übergehend, mißs:
billigte er fie höchlich: Sie haben einer dunkleren Zeit
angehört; was will man jetzt mit dem Schickfal? Die
Politik ift das Schickfall
Hierauf fprach er lange mit Daru über die Kon^:
tributionsangelegenheiten, während deffen der Marfchall
Soult hereintrat, den der Kaifer fcherzend über einige
unangenehme Ereigniffe in Polen anfprach. Auf einmal
ftand Napoleon auf, ging auf Goethe zu und fragte mit
gemäßigterer Stimme nach Goethes Familie und feinen
Verhältniffen zu den verfchiedenen Perfonen des herzog^s
liehen Haufes. Die Antworten, die er erhielt, überfetzte
er fich fogleich nach feiner Weife in entfchiednere Ur^
teile. Doch bald wieder auf das Trauerfpiel zurück:;
kommend, fagte er: Das Trauerfpiel follte die Lehrfchule
der Könige und der Völker fein; das ift das Höchfte,
was der Dichter erreichen kann. Sie z. B. follten den
Tod Cäfars auf eine vollwürdige Weife, großartiger als
Voltaire, fchreiben. Das könnte die fchönfte Aufgabe
Ihres Lebens werden. Man müßte der Welt zeigen, wie
Cäfar fie beglückt haben würde, wie alles ganz anders
geworden wäre, wenn man ihm Zeit gelaffen hätte, feine
hochfinnigen Pläne auszuführen. Kommen Sie nach Paris I
Ich fordere es durchaus von Ihnen. Dort gibt es größere
Weltanfchauung, dort werden Sie überreichen Stoff für
Ihre Dichtungen finden.*
Jedesmal, wenn er über etwas fich ausgefprochen
hatte, fetzte er hinzu: Qu'en dit Monsieur Goet?
Als nun Goethe endlich abtrat, hörte man den
Kaifer bedeutfam zu Berthier und Daru fagen: Voilä un
homme!
Goethe beobachtete lange ein tiefes Schweigen über
den Hergang bei diefer Audienz, fei es, weil es über:;
haupt in feinem Charakter lag, fich über wichtige, ihn
perfönlich betreffende Vorgänge nicht leicht auszufprechen,
fei es aus Bescheidenheit und Delikateffe. Daß aber
* [Von den Worten Doch bald wieder auf das Trauerfpiel
zurückkommend an ift das Gefpräch irrtümlich hier aufgeführt
und fand unzweifelhaft am 6. Oktober ftatt.]
I
540 F. V. Müller. [1099
Napoleons Äußerungen ihm einen mächtigen Eindruck
hinterließen, konnte man ihm fehr bald abmerken, ob?
fchon er felbft den Fragen feines Fürften nach dem In?
halte der Unterredung auf gefchickte Weife auszuweichen
verfiand. Die Einladung nach Paris insbefondere be?
fchäftigte ihn noch geraume Zeit recht lebhaft; er fragte
mich mehrmalen nach dem ohngefähren Betrag des Auf?
wandes, den fie wohl erfordern würde, nach den ver?
fchiedenen, für ihn nötigen Einrichtungen in Paris, Zeit?
abteilungen ufw. Späterhin mochte ihn wohl die Er?
wägung fo mancher nicht zu befeitigenden Unbequem?
lichkeiten in Paris von dem Vorhaben abgebracht haben.
Erfi lange nachher teilte er mir nach und nach die
Einzelheiten jener Unterredung mit, aber erfi: kurz vor
feinem Tode konnte ich ihn bewegen, darüber die ^^
Niederfchrift zu machen.
[1099.] Oktober 2. K. v. Bonftetten.
Bonaparte fagte zu Goethe: Je n'aime pas la fin de
votre roman — Werther. — Je ne croyais pas, antwortete
Goethe, que votre Majeste aimät que les romans aient
une fin.
[1100.] Oktober 2. Ch. M. de Talleyrand.
Napoleon fidele ä son Systeme momentane de lenteur
avait distribue les premieres journees de maniere ä ce que
Ton ne trouvät jamais le moment de parier d'affaires. Ses
dejeuners etaient longs: il y recevait du monde, il y cau?
sait volontiers, ^^ J'ai vu plusieurs de ces dejeuners durer
plus de deux heures. C'est lä que Napoleon faisait
venir les hommes considerables et les hommes de merite
qui s'etaient rendus ä Erfurt pour le voir. Tous les matins
il lisait avec complaisance la liste des personnes nouvelle?
ment arrivees. Le jour oü il y trouva le nom de M.
Goethe, il l'envoya chercher.
Monsieur Goethe, je suis charme de vous voir. —
Sire, je vois que quand Votre Majeste voyage, eile ne
neglige pas de porter ses regards sur les plus petites
choses. — Je sais que vous etes le premier poete tragique
de l'Allemagne. — Sire, vous faites injure ä notre pays;
nous croyons avoir nos grands hommes : Schiller, Lessing et
Wieland doivent etre connus de Votre Majeste. — Je
1100] Erfurt. 1808. 541
vous avoue que je ne les connais guere; cependant j'ai
lu la guerre de Trente ans; cela, je vous en demande
pardon, ne m'a paru fournir des sujets de tragedie que
pour nos Boulevards. — Sire, je ne connais pas vos boules:
vards; mais je suppose que c'est lä que se donnent les
spectacles pour le peuple, et je suis fache de vous en*
tendre juger si severement un des plus beaux genies des
temps modernes. — Vous habitez ordinairement Weimar;
c'est le lieu oü les gens de lettres celebres de l'Allemagne
se reunissent? — Sire, ils y sont fort proteges; mais nous
n'avons dans ce moment^ci ä Weimar d'hommes connus
dans toute l'Europe que Wieland, car Müller habite Berlin.
— Je serais bien aise de voir M. Wieland. — Si Votre
Majeste me permet de le lui mander, je suis sür qu'il se
rendra ici immediatement. — Parle^^t^il le fran^ais? — II
le sait, et il a lui^meme corrige plusieurs traductions de
Ses ouvrages faites en fran^ais. — Pendant que vous etes
ici, il faut que vous alliez tous les soirs ä nos spectacles.
Cela ne vous fera pas de mal de voir representer les
bonnes tragedies fran^aises. — Sire, j'irai tres volontiers,
et je dois avouer ä Votre Majeste que cela etait mon
projet; j'ai traduit, ou plutöt imite quelques pieces fran*
(;aises. — Lesquelles? — Mahomet et Tancrede. — Je ferai
demander ä Remusat si nous avons ici des acteurs pour
les jouer. Je serai bien aise que vous les voyez repre*
senter dans notre langue. Vous n'etes pas si rigoureux
que nous dans les regles du theätre. — Sire, les unites
chez nous ne sont pas essentielles. — Comment trouvez
vous notre sejour ici? — Sire, bien brillant, et j'espere
qu'il sera utile ä notre pays. — Votre peuple est^il heureux?
— Il espere beaucoup. — Monsieur Goethe, vous devriez
rester ici pendant tout le voyage, et ecrire l'impression
que fait sur vous le grand spectacle que nous vous don;^
nons. — Ahl sire, il faudrait la plume de quelque ecri?
vain de l'antiquite pour entrependre un travail semblable.
— Etes vous de ceux qui aiment Tacite? — Oui, sire,
beaucoup. — Eh bien, pas moi; mais nous parlerons de
cela une autre fois. ficrivez ä M. Wieland de venir ici;
j'irai lui rendre sa visite a Weimar oü le duc m'a invite
ä aller. Je serai bien aise de voir la duchesse; c'est une
femme d'un grand merite. Le duc a ete assez mal pendant
quelque temps, mais il est corrige. — Sire, s'il a ete mal,
la correction a ete un peu forte; mais je ne suis pas juge
I
542 Ch. M. de Talleyrand. [1101
de pareilles choses; il protege les lettres, les sciences, et
nous n'avons tous qu'ä nous louer de lui. — Monsieur
Goethe, venez ce soir ä Iphigenie. C'est une bonne piece;
eile n'est cependant pas une de Celles que j'aime le mieux,
mais les Fran^ais l'estiment beaucoup. Vous verrez dans
mon parterre un bon nombre de souverains. Connaissez?
vous le prince primat? — Oui, sire, presque intimement;
c'est un prince qui a beaucoup d'esprit, beaucoup de
connaissances et beaucoup de generosite. — Eh bien, vous
le verrez ce soir, dormir sur l'epaule du roi de Wurttem?
berg. Avez::vous dejä vu l'empereur de Russie? — Non,
sire, jamais, mais j'espere lui etre presente. — II parle
bien votre langue; si vous faites quelque chose sur Ten?
trevüe d'Erfurt, il faut le lui dedier. — Sire, ce n'est pas
mon usage; lorsque j'ai commence ä ecrire, je me suis
fait un principe de ne point faire de dedicace, afin de
n'avoir jamais ä m'en repentir. — Les grands ecrivains
du siecle de Louis XIV n'etaient pas comme cela. — C'est
vrai, Sire, mais votre Majeste n'assurerait pas qu'ils ne
s'en sont jamais repentis. — Qu'est devenu ce mauvais
sujet de Kotzebue? — Sire, on dit qu'il est en Siberie
et que Votre Majeste demandera sa gräce ä l'empereur
Alexandre. — Mais savez^^vous que ce n'est pas mon
homme? — Sire, il est fort malheureux et il a beaucoup
de talent. — Adieu, Monsieur Goethe.
Je suivis M. Goethe et l'engageai ä venir diner chez
moi. En rentrant, j'ecrivis cette premiere conversation,
et pendant le diner je m'assurai, par les differentes questions
que je lui fis, que teile que je l'ecris ici, eile est parfaite?
ment exacte. En sortant de table, M. Goethe se rendit
au spectacle; je mettais de l'interet a ce qu'il fut pres du
theätre, et cela etait assez difficile, parce que les tetes
couronnees occupaient sur des fauteuils le premier rang;
les princes hereditaires, presses sur des chaises, remplis^^
saient le second; et toutes les banquettes qui etaient der:=
riere eux etaient couvertes de ministres et de princes
mediatises. Je confiai donc M. Goethe ä Dazincourt,
qui, Sans blesser aucune convenance, trouva le moyen
de le bien placer.
[HOL] Oktober 4. Riemer.
Goethe. Mit ihm in den Garten und dann auf
feinem Zimmer. Über die Erfurter Sachen. Daß er den
1103J Weimar. 1808. 543
Kaifer gefprochen. Wolle es auffchreiben , was er mit
ihm gefprochen. Er hat ihm gleichfam das Tippelchen
auf das i gefetzt.
[1102.] Oktober 6. F. v. Müller.
Auf dem Hofball zu Weimar hatte Napoleon gleich anfangs
mit Goethe fich unterhalten und fpäter wiederholt.
Der Kaifer fprach während des Balles noch einmal
mit Goethe und drückte ihm fein lebhaftes Intereffe an
Veredlung der tragifchen Kunft aus. Er wiederholte dabei,
daß man das Trauerfpiel nicht nur für die würdigfte
Schule der Fürften und Staatsmänner achten muffe, fon^;
dern daß es in gewiffer Hinficht felbft weit über der Gq^
fchichte ftehe.
[1103.] Oktober 6. Ch. M. de Talleyrand.
L'empereur avait envoye toute la Comedies^Fran^aise
ä Weimar. ^ On jouait La Mort de Cesar devant tous
les souverains et princes qui d' Erfurt etaient venus ä
Weimar. Du spectacle, on passa dans la salle de bal. ^^
Apres avoir fait le tour de la salle, et s'etre arrete pres
de quelques jeunes femmes dont il, Napoleon, demandait
le nom ä M. Frederic de Müller ^ qui avait re^u l'ordre
de l'accompagner, il s'eloigna de la grande enceinte et
pria M. de Müller de lui amener M. Goethe et M. Wie^
land. f^ II alla chercher ces messieurs qui, avec quelques
autres membres de cette academie, regardaient ce beau et
singulier spectacle. M. Goethe, en s'approchant de l'em^
pereur, lui demanda la permission de les lui nommer. '^
Vous etes, j'espere, content de nos spectacles, dit
l'empereur ä M. Goethe; ces messieurs y sont^ils venus?
— A celui d'aujoud'hui, Sire, mais pas ä-ceux d'Erfurt. ^^
J'en suis fache; une bonne tragedie doit etre regardee
comme l'ecole la plus digne des hommes superieurs. Sous
un certain point de vue, eile est au dessus de l'histoire.
Avec la meilleure histoire, on ne produit que peu d'effet.
L'homme, seul, n'est emu que faiblement; les hommes
rassembles re^oivent des impressions plus fortes et plus
durables. Je vous assure que l'historien que vous autres
citez toujours, Tacite, ne m'a jamais rien appris. Con:;
naissez^vous un plus grand et souvent plus injuste de;;
tracteur de l'humanite? Aux actions les plus simples, il
trouve des motifs criminels; il fait des scelerats profonds
de tous les empereurs, pour faire admirer le genie qui
I
544 Ch. M. de Talleyrand. [1104
les a penetres. On a raison de dire que ses Annales
ne sont pas une histoire de l'empire, mais un releve
des greffes de Rome. Ce sont toujours des accusations,
des accuses et des gens qui s'ouvrent les veines dans
leur bain. Lui qui parle sans cesse de delations, il est le
plus grand des delateurs. Et quel style! Quel nuit tou^
jours obscurel Je ne suis pas un grand latiniste, moi, mais
l'obscurite de Tacite se montre dans dix ou douze traduc^
tions italiennes ou fran^aises que j'ai lues; et j'en conclus
qu'elle lui est propre, qu'elle nait de ce qu'on appelle
son genie autant que de son style; qu'elle n'est si in^
separable de sa maniere de s'exprimer que parce qu'elle
est dans sa maniere de concevoir. Je Tai entendu louer
de la peur qu'il fait aux tyrans; il leur fait peur des
peuples, et c'est lä un grand mal pour les peuples memes.
N'aisije pas raison, M. Wieland? Mais je vous derange;
nous ne sommes pas ici pour parier de Tacite. Regarde?
comme l'empereur Alexandre danse bienl
[1104.] Oktober 6. Ad. Thiers.
Une reception somptueuse attendait ä Weimar les
deux empereurs. Apres un repas splendide, un bal reunit
la plus brillante societe allemande. Goethe et Wieland
s'y trouvaient. Napoleon laissa cette societe pour aller
dans le coin d'un salon converser longuement avec les
deux celebres ecrivains de l'Allemagne. Il leur parla du
christianisme, de Tacite, de cet Historien, l'effroi des tyrans,
dont il pronon^ait le nom sans peur, disait^il en souriant;
soutint que Tacite avait charge un peu le sombre tableau
de son temps, et qu'il n'etait pas un peintre assez simple
pour etre tout ä fait vrai. Puis il passa ä la litterature
moderne, la compara ä l'ancienne, se montra toujours le
meme, en fait d'art comme en fait de politique, partisan
de la regle, de la beaute ordonnee, et, ä propos du drame
imite de Shakespeare, qui mele la tragedie ä la comedie,
le terrible au burlesque, il dit ä Goethe: Je suis etonne
qu'un grand esprit comme vous n'aime pas les genres
tranches. — Mot profond, que bien peu de critiques de
nos jours sont capables de comprendre.
[1105.] Oktober 7. Nach Charlotte v. Stein.
Abends hatte fie Frau von Schiller bei fich zum Tee,
wo fie fich den Spaß machten, in der Weife der franzö^
1109] Weimar. 1808. 545
fifchen Schaufpieler den Cesar zu deklamieren, als Goethe
kam, der am Morgen ein großes Frühftück zu Ehren des
bei ihm wohnenden Minifters Maret und des Marfchalls
Lannes gegeben hatte. Um Gotteswillen legt das Buch
hin! rief er. Kaum hatte er lieh niedergefetzt, fo fiel er
in tiefen Schlaf. '^ Als er endlich wach wurde, bat er
um Verzeihung, daß er vor Müdigkeit ihr nichts habe
erzählen können, und entfernte fich fogleich.
[1106.] Oktober 8. K. Morgenftern.
Auf der Treppe der Bibliothek zu Weimar begegnete
ich dem Geheimen Rat von Goethe. Wir fprachen einige
Minuten zufammen über das franzöfifche Theater. Ich
hatte ihn fchon in Erfurt beim Präfidenten von der Reck
gefprochen und ^^ ihn bald darauf eines Morgens mit
Falk im Gafthof (der Schlehdorn) befucht, wo er etwa
drei Viertelftunden fehr intereffant fprach über deutfchen
Geift, im füdlichen Deutfchland zumal, und manches
andere, das ich leider nicht angemerkt habe. Er fprach
mit der Milde, Ruhe, Klarheit und Natürlichkeit des
großen Geifies, zugleich vertraulich, zumal da Falk, den
er genau kennt, dabei war.
[1107.] Oktober 14. K. Morgenftern.
Gegen Mittag war ich eine kurze Weile bei Ges=
heimem Rat von Goethe. ^ Gefpräch über Jacobi und
Johannes Müller, die er grüßen läßt; über Klinger:
Klinger würde fich, meint er, in Deutfchland jetzt nicht
gefallen, weil er hinter der Zeit in manchem zurückge^
blieben fei; über gewiffe Dinge fpreche man gar nicht
mehr, die feien aus:: und abgemacht.
[1108.] Oktober 14. Caroline Sartorius.
Goethe war den Mittag bei Hof -^ da meldete fich
der Schaufpieler Talma und feine Frau. Goethe bat mich,
in feiner Abwefenheit, ihnen und einem Sekretär des
Kaifers, der auch im Haufe logieren foUte, die Honneurs
zu machen ^^ den anderen Tag gab Bertuch «^ ein
Dejeuner dinatoire, Goethe, Wieland, Talmas, der Ge^
fandte Bourgoing waren da.
[1109.] Oktober 14. J. D. Falk.
Wir aßen kurz nach dem 6. Oktober zufammen bei
Wolzogens zu Mittage. Es war der Tag, als der ruffifche
I 35
546 J. D. Falk. [1109
Kaifer zu Weimar zum zweiten Male eintraf, der 14. Ok^
tober. (Da man bei Hofe gut ein paar Stunden warten
mußte, ehe man fich zu Tifch fetzte, fo kam Goethe und
nahm vorher mit uns einige Biffen ein.) Er fehlen bei
gutem Humor, und ich will das Refultat unfrer Unteres
haltung hier im Auszug herfetzen.
Goethe fand für die Ruhe der Beobachtung bloß
einen Menfchen, der mit dem Kaifer Napoleon Ähnlichst
keit gehabt hätte, es fei diefes Lavater gewefen. — Er
verglich den Kaifer mit einem Juden, der wie mit einem
Probierfteine durch die Welt geht, alle Menfchen anftreicht
und fodann gelaffen nachfieht, ob es Gold, Silber oder
Kupfer ift. Bildet euch nur nicht ein, klüger zu fein als
er — fagte Goethe zu einem der Anwefenden — er ver::
folgt jedesmal einen Zweck; was ihm in den Weg tritt,
wird niedergemacht, aus dem Wege geräumt, und wenn
es fein leiblicher Sohn wäre. Wenn die anderen Fürften
und Großen fich gar vielen Abneigungen und Zuneigungen
überlaffen, fo liebt er alles, was ihm zu feinem Zwecke dienen
kann, fo fehr es auch von feiner individuellften Gemüts^:
fiimmung abweicht, wie ein tüchtiger Konzertmeifter, der,
wenn jeder Liebhaber fein Inftrument hat, dem er den
Vorzug gibt, ohne Liebe wie ohne Haß fie alle für fein
Orchefter zu benutzen weiß. Daher kommt es auch auf
eins heraus und bringt fchlechterdings dem Individuum
keinen Vorteil, ob man von ihm gehaßt oder geliebt wird.
Er liebt den Herzog von Weimar gewiß nicht, ohne daß
derfelbe fichtlichen Nachteil davon verfpürt, und denen,
die er liebt, wird ebenfowenig Vorteil daraus erwachfen.
Er lebt jedesmal in einer Idee, in einem Zweck, in einem
Plan, und nur diefem muß man fich in acht nehmen, in
den Weg zu treten, weil er in diefem Punkte keine Schonung
kennt. — Kurz, Goethe gab zu verfi:ehen, daß Napoleon
ungefähr die Welt nach den nämlichen Grundfätzen diri^s
giere, wie er das Theater. Er fand es ganz in der Regel,
daß er einem Schreier wie Palm, einem Prätendenten wie
d'Enghien eine Kugel vor den Kopf fchießen läßt, um das
Publikum, das die Zeit nicht abwarten kann, fondern
überall fiörend in die Schöpfungen des Genies eingreift,
ein für allemal durch ein eklatantes Beifpiel abzufchrecken.
Er kämpft mit den Umfiänden, mit einem verdorbenen
Jahrhundert mitten in einem verdorbenen Volk. Laffet
uns ihn glücklich preifen, ihn und Europa, daß er bei
1109] Weimar. 1808. 547
feinen großen ungeheuren Weltplänen felbft nicht ver^
dorben ift.
Er (Napoleon) nimmt alles mit hohem Ernft, felbft
das franzöfifche Theater, das ihn durch römifche Charak^s
tere, große Sentenzen, wie eine Art Regentenfchule not^^
wendig anzieht und einen Geifi wie den feinen anziehen
muß. Welche hohe Bedeutung legte z. B. der Zufall in
folgende Stelle des Cinna, des erften Stückes, das vor
der glänzenden Fürfienverfammlung zu Erfurt aufgeführt
wurde, wenn Auguftus fagt . . .* Wahre Frageftücke aus
einem Kaiferkatechismus! — So aufmerkfam fitzt Napoleon
vor dem Cäfar, als gälte es einen Kriminalprozeß an::
zuhören. Es ift der ungeheure bon sens, der den Kaifer
in allem, was er unternimmt und vor hat, auszeichnet. Er
kennt die faibles des franzöfifchen Theaters fo gut wie
wir. Es würde möglich fein, ihm diefelben Sujets in einer
anderen, der Naivität der Griechen fich mehr annähernden
Bearbeitung vorzulegen. Aber aus den einmal beftimmten
Formen muß man diefe Nation nicht hinausnötigen. Man
follte ungleich lieber das Theater nach griechifcher Manier
feft aufbauen, damit aller Streit über die Einheit des Ortes
ein Ende nähme. Es ift auch viel, fehr viel zurück, was
man dem Kaifer felbft in diefer befchränkten Form bieten
könnte. Wenn nur ein Menfch von Genie in Frankreich
aufftände, der fich des Theaters zum Trotz des Feuille:*
tons bemächtigte; an dem Kaifer würde er gewiß keinen
Gegner finden. Dahin zielt, was der Kaifer einft zu
Talma fagte: Je voudrais bien voir la traduction d'une
piece de Sophocle au pied de la lettre. Er kennt die
faibles des franzöfifchen Theaters ebenfogut wie wir. Bildet
euch nur nicht ein, klüger zu fein als er. Wie ich ein
paar Worte mit ihm über diefe Materie gefprochen hatte,
fiel mir fogleich ein: Schiller, wenn er doch noch lebte
und zuhörte! Diefelbe ftrenge Zufammenhaltung kündet
fich auch in der Form und im Ganzen des Stückes an.
Nichts ift hier zufällig. Das Auge der Franzofen leidet
keine Königinnen Elifabeth, die auf die Erde hinfallen
und ohnmächtig werden, keine Marquis Pofa, die er:=
fchoffen werden und auf dem Theater umfallen.
* Hier ift eine Lücke in Falks Bericht.
35'
548 Caroline Sartorius. [1110
[1110.) Oktober 15. Caroline Sartorius.
Des Mittags hatte Goethe Talmas geladen, und hier
fchien ein wahrer Wettftreit zwifchen dem Wirt und feinen
Gälten einzutreten, wer den andern an Liebenswürdigkeit
übertreffen könnte. Goethe ift des Franzöfifchen nicht
ganz mächtig, aber feinem Geift legt keine Sprache, die
er nur einigermaßen kann, fo leicht Feffeln an, Talmas
baten ihn dringend nach Paris zu kommen und bei ihnen
zu logieren. Das Glück, den Autor vom Werther bei
fich zu befitzen, würde ganz Frankreich ihnen beneiden,
keine Frau in Paris würde ruhen, ehe fie ihn gefehen,
auf allen Toiletten, in allen Boudoirs würde er fein Buch
finden, das, immer von neuem gelefen, von neuem über^j
fetzt, jetzt wie vor dreißig Jahren, den Reiz der Neuheit
befäße. Es gab keine Art der feinen Schmeichelei, die
fie nicht mit der Leichtigkeit des guten franzöfifchen Tons,
der nie fade noch kriechend wird, ihm ausgefpendet hätten.
Goethe antwortete heiter und artig, wollte fich aber auch
auf kein Verfprechen einlaffen und meinte fpaßhaft: Das
Glück, in Paris eine folche Senfation bei feinen jetzigen
Jahren zu machen, wäre für feine Schultern zu fchwer.
Nun rückte Talma mit dem Plan eines Trauerfpiels los,
in welches er und Dulife den Werther verwandeln wollten.
Diefes fchien in der Tat ziemlich ungewafchenes Zeug
zu fein. Goethens unerfchöpfliche gute Laune ließ fich
indes durch die Verunfialtung feines Kindes nicht irre
machen, zuletzt nur fagte er mit einer faft unmerklich
fpöttifchen Miene: Wenn fie mit ihrem Trauerfpiel im
reinen wären, fo möchten fie es ihm fchicken, damit er
es überfetzen und bei fich könne aufführen laffen.
Mon Dieu, fagte Talma, der, um mit der Herzogin
von Orleans zu reden, wohl fühlen mochte, wo Barthel
den Mofi: holt, mon Dieu, qu'avez vous besoin de notre
piece, vous qui feriez cent fois mieux que nous? — C'est
qu'on n'aime pas ä refaire ce qu'on a fait une fois, ant*
wortete Goethe. Sein Kammerdiener brachte ihm in?
zwifchen einen dicken Brief, den er erbrach, durchfah
und ohne weiter feiner zu erwähnen ins Fenfter legen
ließ. Talma fragte jetzt ziemlich indiskret, ob es wahr
fei, wie man allgemein verfichere, daß eine wahre Ge?
fchichte dem Roman zugrunde läge? Beforgt über die
Wirkung diefer Frage blickte ich nach Goethe, auf deffen
Geficht fich aber keine Spur von Verfi:immung zeigte.
Uli] Weimar. 1808. 549
Diefe Frage, erwiderte er freundlich, ift mir fchon oft
vorgelegt worden, und da pflege ich zu antworten: daß
es zwei Perfonen in einer gewefen, wovon die eine untere
gegangen, die andere aber leben geblieben ift, um diefe
Gefchichte der erfteren zu fchreiben, fo wie es im Hiob
heißt: Herr alle deine Schafe und Knechte find erfchlagen
worden, und ich bin allein entronnen dir Kunde zu bringen.
Unfer lautefter Beifall lohnte den herrlichen Einfall; ernft::
hafter mit einem unbefchreiblich tiefen Ausdruck fetzte
er hinzu: So etwas fchreibt fich indes nicht mit heiler
Haut. Er hatte bisher franzöfifch gefprochen, diefes Wort
aber fprach er deutfch, und fich zu Sartorius wendend:
Traduisez cela ä nos amis, monsieur. — Talma, mit dem
Gepräge der großen Leidenfchaften bekannt, faßte leicht
den Sinn, ohne die Worte zu verftehen. Goethe ging
fchnell wieder in feine vorige Heiterkeit über. Gewöhnst
lieh, fagte er, muß man fchwer feine Jugendtorheiten ab::
büßen; ich aber gehöre zu den wenigen Glücklichen,
denen fie noch in fpäteren Jahren Heil und Segen bringen;
erftlich fo manche erfreuliche und intereffante Bekannt:*
fchaft, wie dies heute noch der Fall ift, dann hat vor::
geftern mir der Kaifer Napoleon das Ehrenkreuz gegeben,
und eben befchenkt auch Alexander mich mit einem
Orden; und nun zeigte er das Paket, das der Kammer^:
diener ihm früher gebracht, und welches das große Band
des Annaordens mit einem brillantnen Stern enthielt. Hier::
mit entfernte er fich, um fich anzukleiden, weil er nach
Hof zu der obenerwähnten Deklamation gebeten war.
Er hinterließ Talmas wie uns alle von feiner Liebens^
Würdigkeit entzückt, die wirklich diefen Tag über alle
Befchreibung war. ^^ Als Talmas weg waren, trat
Goethe in feiner Hofuniform mit Stern und Ordensband
gefchmückt herein: Ich komme, fagte er, mich Ihnen zu
zeigen und zu fragen, ob Sie mich akkreditieren wollen?
Er war in diefer Kleidung fo jugendlich und fchön,
daß ich ihm um den Hals fiel und ausrief: Ew. Exzellenz,
Ihnen zu widerftehen ift unmögfich, aber ich hoffe, Sie
werden mein Unglück nicht wollen.
[1111.] Oktober 16. Caroline Sartorius.
Für den Abfchiedsabend hatte der Dichter feine
fchönfte Gabe, feine Gedichte uns aufgefpart. Er erfchien
abends bei Tifch mit einer Handvoll Papiere, die er
550 Caroline Sartorius. [1112
neben fich hinlegte und war über alle Maßen wohlge^
launt.
Nach dem Effen fing er an vorzulefen, aus dem
Kopfe zu rezitieren, bis nachts 1 Uhr; an diefem Abend
übertraf er fich felbft. Des Dichters Glück war von jeher:
Weiber, Wein, Gefang, und unferen Freund, für den ein
ewiger Frühling blüht, begeiftern die beiden erften noch
im Herbft feines Lebens zu den herrlichften Gefangen.
Verliebt fein ift die Weife des Haufes; verliebt ift jeder::
mann, der darin aus und ein geht; ich war zuletzt wahres
haftig beforgt, auch uns würde die Epidemie ergreifen.
So hat er diefen Sommer in Karlsbad ein Liebchen ge^:
habt, dem er feine füßeften Lieder gefungen, und diefe
Sonnette, die noch fämtlich ungedruckt find, teilte er uns
mit. Schön waren fie alle, am fchönften aber die, in
welchen er fie fprechen ließ, und mit deren Zartheit ich
nichts zu vergleichen wüßte, wie es denn wohl nie einen
Dichter gegeben hat, der in das weibliche Gemüt fo tiefe
Blicke getan hat, es ift als ob das ganze Gefchlecht von
der Edelften bis zur Niedrigften bei ihm Beichte gefeffen.
In denjenigen Liedern, worin er fprach, herrfchte fchon
mehr das gemäßigte Feuer der reiferen Jahre, als die Glut,
die im Werther z. B. alles entzündet und verzehrt, was
feinem Kreife naht. — Alsdann gab er allerhand Gelegene
heitsgedichte , zum Teil aus früheren Zeiten, die wegen
mancherlei Perfonalitäten nicht gedruckt find, noch es
werden können, in denen aber eine Laune herrfchte, die
uns bald in das unfinnigfte Lachen verfetzte; in meinem
Leben glaube ich nicht fo gelacht zu haben. In diefer
Nacht fchieden wir endlich voneinander, nachdem er uns
in diefen wenigen Stunden durch alle Stufen des Ver^
gnügens geführt hatte.
Ich glaube gern, daß Goethe nur gegen wenige und
nur feiten ift, wie ich ihn gefehen habe; aber fo wie er
war, habe ich nie einen liebenswürdigeren Mann gefehen.
Nachlefe zum fechften Abfchnitt
Zeitlich nicht näher beßimmbar.
[1112.] (1805. Auguft 16.) Riemer.
Goethe: Die Natur hat offenbar gewollt, daß wir
nicht eben unfre körperlichen Kräfte in dem Grade des
1114] Weimar. 1808. 551
natürlichen Zuftandes erhalten follten, daß wir fchwächer
werden follten, ohne doch darum einzubüßen; denn fie
hat uns in der menfchlichen Gefellfchaft, im Zufammens:
leben und in der Gewalt des Verftandes eine Stärke zu*
bereitet, die alle Stärke der wildeften Tiere übertrifft. Und
gewiffe Operationen des Geiftes gelingen nicht anders,
als bei einer zarteren Organifation.
[1113.] (1806.) Nach Caroline Bardua.
Oft mußte fie ihm vorfingen. Wenn fie aber die
Worte feiner Lieder nicht deutlich ausfprach, war er un*
gehalten und fragte: ob das italienifch oder deutfch fei?
Caroline hatte viel natürliche Gabe für Harmonie
und nahm Unterricht im Generalbaß bei Destouches.
Eines Abends bei Goethe fiel es ihr ein, alle Freunde
und Bekannte aus Goethes Kreis, auf dem Fortepiano
phantafierend, zu charakterifieren und fie nach der ver*
fchiedenen Art ihrer Eigentümlichkeit, in den entgegen::
gefetzten Stimmungen, einen nach dem andern, darzu::
fi:ellen. Goethe ergötzte fich lebhaft an diefem Scherz
und ließ ihn fich öfter von ihr wiederholen.
Von feinen Liedern hörte er befonders gern: Fülleft
wieder Bufch und Tal. Caroline mußte es ihm oft vor::
fingen, wobei er bewegt und finnend auf und nieder ging.
[1114.] (1776/1806.) K. L. v. Knebel.
Mich hat immer eine unüberwindliche Scheu vor dem
Publikum begleitet; darum habe ich unfäglich Vieles ver::
brannt oder vernichtet, das ich gedichtet hatte. Goethe
hat mich oft darüber gefcholten. Man muß jung vor
dem Publikum auftreten, fagt er, und alsdann oft er::
fcheinen. Diefes Tier denkt, wer viel gibt, muß viel haben,
und wer oft bringt, muß reich fein. Und hat man es
nur erft dahin gebracht, daß man Bewunderer findet, fo
wird es auch nicht lange an unbedingt Ergebenen fehlen,
welchen alles vortrefflich ift, was den Namen des Be::
wunderten an der Stirn trägt.
Goethe verwirft Rauchen und Schnupfen. <^ Das
Rauchen, fagt er, macht dumm; es macht unfähig zum
Denken und Dichten. Es ift auch nur für Müßiggänger,
für Menfchen, die Langeweile haben, die ein Dritteil des
Lebens verfchlafen, ein Dritteil mit Effen, Trinken und
andern notwendigen oder überflüffigen Dingen hindudeln,
I
552 K. L V. Knebel. [1115
und alsdann nicht wiffen, obgleich fie immer vita brevis
fagen, was fie mit dem letzten Dritteil anfangen follen.
Für folche faule Türken ift der liebevolle Verkehr mit
den Pfeifen und der behagliche Anblick der Dampfwolke,
die fie in die Luft blafen, eine geiftvolle Unterhaltung,
weil fie ihnen über die Stunden hinweghilft. Zum Rauchen
gehört auch das Biertrinken, damit der erhitzte Gaumen
wieder abgekühlt werde. Das Bier macht das Blut dick
und verfiärkt zugleich die Beraufchung durch den narko^
tifchen Tabaksdampf. So werden die Nerven abgeftumpft
und das Blut bis zur Stockung verdickt. Wenn es fo
fortgehen follte, wie es den Anfchein hat, fo wird man
nach zwei oder drei Menfchenalter fchon fehen, was diefe
Bierbäuche und Schmauchlümmel aus Deutfchland ge^^
macht haben. An der Geifilofigkeit, Verkrüppelung und
Armfeligkeit unferer Literatur wird man es zuerft be^
merken, und jene Gefeilen werden dennoch diefe Mifere
höchlich bewundern. Und was koftet der Greuel 1 Schon
jetzt gehen 25 Millionen Taler in Deutfchland in Tabaks:^
rauch auf, die Summe kann auf 40, 50, 60 Millionen
fieigen. Und kein Hungriger wird gefättigt und kein
Nackter gekleidet. Was könnte mit dem Gelde gefchehenl
Aber es liegt auch im Rauchen eine arge Unhöflichkeit,
eine impertinente Ungefelligkeit. Die Raucher verpeften
die Luft weit und breit und erfticken jeden honetten
Menfchen, der nicht zu feiner Verteidigung zu rauchen
vermag. Wer ift denn imfiande in das Zimmer eines
Rauchers zu treten, ohne Übelkeit zu empfinden? Wer
kann darin verweilen, ohne umzukommen? In allen diefen
Klagen hat Goethe recht, aber unrecht hat er wegen
des Schnupfens, f^ Er weiß auch nichts Gefcheutes gegen
das Schnupfen zu fagen. Es ift eine Schmutzerei, fagt er.
[1115.] (1806.) K. W. V. Knebel.
Goethe hatte mich bereits in meinem elften Jahre bei
Vorzeigung meiner Siegelfammlung gefragt, woher ich
die Siegel, worunter auch Gemmen fich befanden, ges:
nommen; ich erzählte ihm, daß ich fie von den auf dem
Boden zerftreut herumliegenden Briefen an meinen Vater
genommen. Da nahm er ganz kaltblütig die eine Tafel,
welche Wappen enthielt, zerriß fie und warf fie in den
Ofen, nur die Gemmen begnadigend. Mein Junge! rief
er, fuche alle Briefe zufammen, ordne fie chronologifch.
1116] Weimar. 1808. 553
und du (zu meinem Vater), der du mit ihnen fo lieder^:
lieh umgehft, läßt deinem Jungen einen Fachkaften dazu
machen und fchenkft fie ihm fchrifthch.
[1116.] Frhr. v. CzettritzsNeuhauß an den Herausgeber.
Die Ihnen gewordene Mitteilung meiner genauen
Bekanntfchaft mit Herrn von Goethe ift nicht ganz richtig,
da meine äußere Stellung zu der feinigen fo verfchieden
war und Herr von Goethe fiolz und abflößender Natur
war. Von dem Spätjahre 1798—1808 habe allerdings
diefen Dichterfürft öfter gefehen, da der damalige Herzog
Karl Auguft mir ein gnädiger Herr war, fo daß, wenn
in Weimar, derfelbe mich öfterer zu feinen kleinen Soupers
befahl, bei welchen Goethe nie fehlte. ^^
Doch -^ erlaube ich mir Ihnen eine Erzählung des
Herrn von Goethe, die er allerliebft humoriftifch vortrug,
in meiner trocknen Manier mitzuteilen.
Bei einem fo kleinen Souper, zu welchem ich be?
fohlen, kam Goethe fpät, und der Herzog rufte ihm zu:
Warum fo fpät? Aber es muß dir heute etwas Befonderes
begegnet fein : das lefe ich auf deinem Geficht. ^^ Worauf
derfelbe Nachiftehendes mitteilt.
Eine reiche Bürgerfrau aus Berlin, enthufiafiifche Ver^:
ehrerin Goethes, entfchloß fich, die damals lange Reife
bei fchlechten Wegen nach Weimar zu unternehmen, um
den großen Mann wie Dichter von Angefleht zu fehen.
Glücklich an Ort und Stelle angekommen, läßt fie fich
bei Goethe melden und bittet um Audienz, die ihr ab^
gefchlagen wird. Trofllos und voller Schmerz läuft fle
zu dem Geheimrat von Müller, intimen Freund Goethes
— wie fle deffen Bekannte gewefen, berührte Goethe in
feinem Vortrage nicht — und bittet um deffen Vermitt^:
lung, der er fleh unterzieht, und diefen endlich dahin:^
bringt, ihm zu fagen: Laß deine Klientin wiffen, daß ich
fle morgen früh 11 Uhr empfangen will. Spät abends
erhält die Supplikantin diefe fle beglückende Nac'
welche ihr eine fchlaflofe Nacht macht, fowie
frühem Morgen fleh fehon in höchften Glanz v
ihr der Zeiger der Stadtuhr eine fäumige Schnee
Endfleh zeigt er ^/^ auf 11, und fle eilt nach
nung des großen Mannes, wo fle von einem F
fangen und in den Empfangfalon eingeführt
höchften Grade aufgeregt, durchmißt die g
I
554 Frhr. v. Czettritz*Neuhauß. [1117
Saal auf und ab, bis endlich der Erfehnte erfcheint, fie
auf ihn zuftürzt, auf die Knie wirft und pathetifch de^
klamiert :
Fefi gemauert in der Erde
Steht das Haus aus Ton gebrannt!
worauf Goethe ihr fagt: Es freut mich, daß Sie meinen
Freund Schiller ehren! — und fortgeht.
[1117.] (Um 1808.) O. L. B. Wolff.
In ihrer Sprache, ihrem Wefen war Chvißiane von
Goethe ganz thüringifch und blieb es bis an ihr Ende.
Den Vater ihrer Kinder zu pflegen und ihm das körper?
liehe Leben behaglich zu machen, ward die Hauptaufgabe
ihres Dafeins, die fie mit Eifer zu löfen fuchte. In allem
Übrigen ließ fie fich aber nichts anfechten und verharrte
unwandelbar bei ihrer Sitte und ihrem Treiben. Sollte
man wohl glauben, fagte Goethe einft mit feiner antiken
Ruhe zu Freunden, daß diefe Perfon fchon zwanzig Jahre
mit mir gelebt hat? Aber das gefällt mir eben an ihr,
daß fie nichts von ihrem Wefen aufgibt und bleibt, wie
fie war.
Vorze
die Sieg
nommen,
Boden ze
genommen
welche Wa^
Ofen, nur c
er, fuche all
Berichtigungen
Nr. 188 gehört ins Jahr 1780 vor 215.
Nr. 197 ift Bericht von Forfter, nicht Förfter.
Seite 99 im Kolumnentitel lies Bern, nicht Bonn.
Verlag von F. W. v. BIEDERMANN in LEIPZIG.
nnöthofArOPhnndon vonWoldemar Freiherr von Bieder-
üUcLUCiUlbOUUUgCU mann. Neue Folge. Mit zwei Bildniffen
und zwei Faksimile. Gebunden 12 Mk.
Enthält in anregender Weise geschriebene Auffätze zu verschiedenen Gebieten
der Goetheforfchung, die — wie fich die Beurteiler ausdrücken — nicht nur für den
zünftigen Goethegelehrten von Intereffe find, fondern fich an den weiteren Kreis
aller Gebildeten wenden.
(lAOthafArcPhlindon ^on Woldemar Freiherr von Bieder-
üUeillCiülbOllUllgCll mann. Anderweite Folge. Mit drei
Bildniffen und dem Bildnis des Verfaffers. Geheftet 10 Mk.,
gebunden 11 Mk.
Eine letzte Reihe von Goethe«Auffätzen des Verfassers, denen eine Abhandlung
über »äußere Formen der Dichtung« beigegeben ift.
Goethes Tag- nnd Jahreshefte. S^maf Frh™" ^on
Biedermann.
Geheftet 5 Mk., gebunden in Halbfranz 7 Mk. Ein unentbehrliches Nach»
fchlagebuch beim Studium von Goethes Leben.
FlnPnnr Xrauerfpiel. Fragment von Goethe, Fortfetzung dritter
JjlJICiiUi bis fünfter Außug von Woldemar Freiherr von
Biedermann. Geheftet Mk. 1.60, gebunden Mk. 2.50.
Die Abficht des Verfafl^ers der Fortfetzung war, diefe ihres fragmentarifchen
Zufiandes wegen der Bühne entrückte gefühlstiefe Dichtung zur Aufführung auf dem
Theater zu bringen. Inwieweit es ihm gelungen der Dichtweife Goethes nahezu»
kommen und die Einheitlichkeit des Dramas herzußellen, möge der Lefer entfcheiden.
Goethes Briefwechsel lit Friedrich Rochlitz.
Herausgeber Woldemar Freiherr von Biedermann. Mit
Bildnis und Handfchriftnachbildung. Brofch. 8 Mk., gebun#
den 9 Mk.
Der Briefwechfel mit dem gemütvollen Mufik«, Theater« und Romanfchrift»
fteller Rochlitz ift reich an Schönheiten , welche jeden Lefer feffeln. Rochlitz war
Goethes Berichterfiatter und Vermittler für Leipzig. Das Buch bietet daher eine not«
wendige Ergänzung zu des Herausgebers „Goethe und Leipzig".
ü06lll6 flnU üie d1D61 Brofch!^ 2 'Mk.ygebunde*n"2Mk^50P£
Weift Goethes Verhältnis zur Bibel und die Stellen in feinen Werken, Briefen
und Gefprächen nach, welche auf Bibelftellen zurückzuführen find, oder darauf Be«
zug haben.
Goethes Sprache und die Antilie. IÄ:np'i"cSe„'fuf
Goethes Stil von Dr. Carl Olbrich. Brofch. 2 Mk.
Leißet in ähnlicher Weife, wie das Henkeische Werk, die Nachweise zum
Griechifchen und Lateinifchen, obwohl hier mehr das philologifche Intereffe in den
Vordergrund tritt.
W\Ck WalnnrrtionaAllf ^^ erften Teil von Goethes Fauft von
UlC H aip 111 glbllalllL Georg Witkowski. Geheftet 2 Mk.
Weift die Entfiehung, Quellen dramatifche Entwickelung und Bedeutung der
»Walpurgisnacht« nach, in welcher Goethes Anfchauungen vom deutfchen Volksaber«
glauben dichterifchen Niederfchlag gefunden haben.
IMk. 50 Pf. Bildgröße 18,5/8 cm, Papiergröße 45/31 cm.
rrAOinfl >1 in ATI Dito Stellt den jugendlich fchlanken Goethe aus der erften
UuuliiU'ÜiillUUCllCi Zeft feines Weimarer Aufenthaltes dar. Ein originell
reizvolles Bild.
Druck von Heffe &. Becker in Leipzi
324
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