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Full text of "Gespräche;"

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Goethes  Gespräche 


Begründet  von 


Woldemar  Frhr.  von  Biedermann 


Zweite,  durchgesehene  und 
stark     vermehrte    Auflage 


Erster  Band 


Leipzig 

F.  W.  V.  Biedermann 

1909 


Goethes  Gespräche 

Gesamtausgabe 

Neu  herausgegeben  von 
Flodoard  Frhr.  von  Biedermann 


unter  Mitwirkung  von 

Max  Morris,  Hans  Gerhard  Graf 
und  Leonhard  L.  Mackall 


Erster  Band 
Von  der  Kindheit  bis  zum  Erfurter  Kongreß 

1754  bis  Oktober  1808 


Leipzig 

F.  W.  V.  Biedermann 

1909 


Zum  Geleit 

Das  erfte  Wort  an  diefer  Stelle  gebührt  dem  An:« 
denken  des  abgefchiedenen  Begründers  von  Goethes 
Gefprächen,  der  das  Werk  in  feinem  72.  Lebensjahre 
begann  und  nicht  aufhörte  daran  zu  bauen,  bis  dem 
86jährigen  die  Kraft  des  Lebens  entfloh. 

Es  ziemt  dem  Sohne  nicht,  die  wiffenfchaftliche 
Bedeutung  Woldemar  von  Biedermanns  einer  Schätzung 
zu  unterziehen,  er  darf  es  aber  wohl  ausfprechen,  wie  er 
überall  bei  Kundigen  einer  dem  Vater  gewidmeten  lieber* 
vollen  Verehrung  und  dankbaren  Würdigung  feiner 
Verdienfte  um  die  Goetheforfchung  insbefondere  auch 
durch  fein  hier  neu   erftehendes  Werk  begegnet   ift. 

Diefe,  ich  darf  fagen,  ausnahmslofe  Anerkennung 
hat  mir  auch  den  Mut  gegeben,  nachdem  die  Auflage 
vergriffen  war,  an  eine  neue  Bearbeitung  von  Goethes 
Gefprächen  heranzutreten.  Mir  lag  dazu  ein  von  meinem 
Vater  bereits  gefammeltes  Material  von  500  Nummern 
vor,  das  er  gedacht  hatte  in  zwei  weiteren  Nachtrags* 
bänden  zu  dem  Stammwerke  selbft  noch  herausgeben 
zu  können,  verlagstechnifchen  Bedenken  gegenüber 
jedoch  für  eine  zu  erwartende  zweite  Auflage  entfagend 
zurücklegte.  Als  dafür  die  Zeit  gekommen  war,  war 
die  Feder  dem  Raftlofen  entfallen. 

Fortgefetzte  Sammlung,  durch  mehrere  Gelehrte, 
denen  mein  Vorhaben  bekannt  wurde,  in  zuvorkom* 
mendfter  Weife  gefördert,  ließ  die  Gefpräche  der  An* 
zahl  nach  auf  die  doppelte  Höhe  der  in  den  10  Bänden 
der  Urausgabe  vorliegenden  Maffe  anwachfen. 
I 


VIII  Zum  Geleit. 


Für  die  Entfcheidung  über  das  Aufzunehmende 
waren  die  anfangs  angenommenen  Grundfätze  bereits 
im  Laufe  des  Erfcheinens  des  Werkes  erweitert  worden, 
und  aus  dem  hinterlaffenen  Materiale  habe  ich  erfehen, 
daß  der  Herausgeber  fich  in  der  eingefchlagenen 
Richtung  auch  die  fernere  Entwickelung  der  Ges^ 
fpräche  gedacht  hatte.  Den  daraus  erfichtlichen  Grund;: 
fätzen  bin  ich  auch  weiter  gefolgt  und  es  ift  dadurch 
mehr  Material  in  die  Sammlung  gekommen,  das  im 
ftrengeren  Sinne  zu  den  Gefprächen  nicht  gerechnet 
werden  kann. 

Der  mit  dem  Herausgeber  in  langjähriger  Freunds^ 
fchaft  verbunden  gewefene  Guftav  v.  Loeper  hatte  ihm 
einft  geschrieben,  ihm  erschienen  die  Gefpräche  als 
die  fchönfte  Goethes=Biographie.  Unter  diefem  Zeichen 
möchte  ich  auch  ganz  befonders  diefe  Neuausgabe 
betrachtet  wiffen. 

»Goethes  Leben  in  Zeugniffen  aus  feinem  Um^ 
gang«  könnte  man  dem  Titel  ergänzend  hinzufügen, 
wenn  man  nicht  vorziehen  möchte,  bei  der  gut  einge^« 
führten  kurzen  Bezeichnung  zu  bleiben.  Demnach  ge^ 
hören  in  unfere  Sammlung  nicht  allein  alle  wörtlichen 
Ausfprüche  Goethes  und  gegenftändliche  Mitteilungen 
über  mit  ihm  geführte  Gefpräche,  fondern  alle  direkten 
oder  indirekten  Nachrichten  und  Urteile,  die  aus  dem 
perfönlichen  Umgange  mit  ihm  gefchöpft  ßnd. 

Diefes  weiter  gefteckte  Ziel  macht  jedoch  die  kri^ 
tifche  Würdigung  im  einzelnen  ebenfowenig  überflüfßg, 
als  die  auf  die  äfthetifche  Wirkung  gerichtete  Auswahl. 
Denn  mein  Beftreben  ging  dahin,  nicht  nur  eine  Samm^ 
lung  glaubwürdiger  Urkunden  zu  geben,  fondem  auch, 
foweit  dies  der  immer  voranftehende  wiffenfchaftliche 
Zweck  zuließ,  eine  harmonifche  Geftaltung  des  reiche 
haltigen  Stoffes  zu  gewinnen.  Nach  diefem  Gefichts*» 
punkte  wird  man  die  Einfchiebung  mancher  an  fich 
weniger  beachtenswerten  Notiz  oder  die  Ausfcheidung 


Zum  Geleit.  IX 


anderer  und  auch  die  Anordnung  zu  beurteilen  haben. 
Das  Ganze  möchte  ich  einem  Mofaikbilde  vergleichen, 
in  welchem  jeder  kleinfte  Stein  an  feinem  Platze  not* 
wendig  ift,  fei  es  auch  nur,  um  einen  leeren  Raum 
oder  den  Rahmen  anzudeuten. 

Alles,  was  darüber  hinaus  fich  als  überfchüffiger 
Stoif  angefammelt  hat,  für  die  Spezialforfchung  aber 
von  Wert  bleibt,  wird  im  Zufammenhang  mit  kurzen 
Erläuterungen  im  fünften  Bande  aufgefpeichert  werden. 
Ebenda  wird  fich  auch  die  Gelegenheit  bieten,  alles 
etwa  im  Laufe  des  Erfcheinens  diefer  Ausgabe  mir  noch 
zufließende  neue  Material  in  richtiger  Folge  einzureihen. 

So  werden  die  Gefpräche  von  allen  zeitgenöffifchen 
Nachrichten  zur  Kenntnis  von  Goethes  Leben  und 
Perfönlichkeit  auch  das  vereinigen,  wofür  fich  fonft 
kaum    eine    befondere    Sammelftelle    gefunden    hätte. 

Um  über  das  umfangreiche  Material  eine  beffere 
Überficht  zu  gewinnen  und  dem  Lefer  gewiffe  Ruhe* 
punkte  zu  bieten,  ist  eine  Gruppierung  in  eine  An* 
zahl  von  Büchern  vorgenommen  worden,  die  gewiffen 
deutlichen  Lebensabfchnitten  entfprechen  und  für  die 
Zeit  bis  1823  fich  leicht  feftftellen  ließen.  Da  in  der 
Folge  durch  das  Eintreten  der  ftändigen  Berichter* 
ftatter  Müller,  Soret  und  Eckermann  fich  der  Stoff 
für  das  letzte  Jahrzehnt  von  Goethes  Leben  ftärker 
anhäuft,  fo  mußten  fich  die  fpäteren  Perioden  verkür* 
zen  und  konnten,  um  eine  gewiffe  Gleichmäßigkeit 
herzuftellen,  nicht  immer  nach  tiefer  eingreifenden  Er* 
eigniffen  bezeichnet  werden. 

Dem  hiermit  verfolgten  Beftreben,  den  Charakter 
der  Materialienfammlung  möglichfi:  zu  verwifchen  und 
ein  flüffig  lesbares,  einheitliches  Buch  zu  fchaffen, 
find  auch  die  fonftigen  Einrichtungen  dienftbar  ge* 
macht. 

Die,  den  Inhalt  oder  die  Teilnehmer  der  Ge* 
fpräche  bezeichnenden  Überfchriften  der  erften  Aus* 
I 


X  Zum  Geleit. 


gäbe  habe  ich  aufgegeben,  da  Re  konfequent  fich 
ohne  gezwungene  oder  umftändliche  Formeln  nicht 
durchführen  ließen  und  fchUeßUch  dem  Lefer  oft  mehr 
hinderUch  waren,  als  daß  ße  ihm  einen  beftimmten 
Anhalt  gewährten.  Anftatt  deffen  ift  jedem  Einzel:* 
ftücke  nur  der  Name  des  Berichterftatters  oder  Gq^ 
währsmannes  vorangeftellt  und  nur  wo  es  für  das 
Verftändnis  erforderlich  war  auch  der  Name  des  Be^ 
richtempfängers  oder  ein  fonftiger  Hinweis  hinzugefügt. 
Freilich  ergeben  fich  diefe  Bezeichnungen  nicht  immer 
als  felbftverftändlich  aus  den  Quellen,  und  ich  habe 
mich  dabei  nicht  ängftlich  an  das  literarifch  Gegebene 
gehalten,  fondern  im  Intereffe  eines  leichten,  unmittel;* 
baren  Verftändniffes  oft  nach  dem  Sinne  der  Mitteilung 
entfchieden.  So  ift  gleich  das  erfte  Gefpräch  ein  Bericht 
Bettinens  in  der  Form  direkter  Rede  von  Goethes 
Mutter.  Es  ift  natürlicher,  diefe  fogleich  als  Berichtes 
erftatterin  einzuführen,  als  den  für  die  Gefpräche  Nr.  3 
und  4  notwendigen  Umweg  zu  wählen.  Gefpräch 
Nr.  5  ift  von  Böttiger  aufgezeichnet;  fein  Gewährst 
mann  war  Gerning,  der  als  Frankfurter  unmittelbar 
unterrichtet  war  und  fomit  auch  für  uns  der  maß^ 
gebende  Berichterftatter  ift.  Weitere  Einzelheiten  des 
hierbei  beobachteten  Verfahrens  wird  man  fich  hiers^ 
nach  ohne  weiteres  erklären  können.  Fefte  Grundfätze 
ließen  fich  darüber  nicht  aufftellen,  da  häufig  nur  die 
Empfindung  für  das  Richtige  oder  Angemeffene  zu 
entfcheiden  hatte.  Die  Nachweifung  der  literarifchen 
Quellen  wird  im  Zufammenhang  im  fünften  Bande  ge* 
geben  werden. 

Durch  diefe  Art  der  Überfchriften  wurden  auch 
die  beim  Lefen  vielfach  ftörenden  erläuternden  Ein* 
fchaltungen  über  die  in  Rede  ftehenden  Perfönlichkeiten 
überflüffig.  Andere  zum  unmittelbaren  Verftändnis 
notwendigen  Ergänzungen  oder  fonftige  Änderungen 
wurden,  foweit  irgend  möglich,   fo  in  den  Text  ver* 


Zum  Geleit.  XI 


woben,  daß  Üq  ftiliftifch  darin  vollftändig  aufgehen, 
hingegen  in  Kurfivfchrift  gefetzt.  So  kann  man  un^ 
gehindert  darüber  hinweglefen,  und  der  Originaltext 
bleibt  doch  völlig  intakt.  Auslaffungen,  gleichviel  von 
welcher  Länge,  find  durch  ^^  gekennzeichnet.  Wo  ein 
Fürwort  nur  durch  einen  Namen  oder  ein  anderes 
Hauptwort  erfetzt  worden,  ift  dies  nur  durch  Kurfivs= 
fchrift  der  letzteren  angedeutet.  Soweit  erforderlich 
und  angängig  wurde  der  Text  durch  folche  redaktionelle 
Einfchiebungen  oder  Abkürzungen  unmittelbar  ver^ 
ftändlich  gemacht,  nur  wo  das  nicht  möglich,  half  ich 
mir  durch  Vorbemerkungen  oder  Anmerkungen.  Irr# 
ungen  der  Berichterftatter  über  Daten  oder  Tatfachen 
wurden  nur  in  unumgänglichen  Fällen  kurzerhand  an^ 
gemerkt.  Unfichere  Daten  und  Namen  find  in  (  ) 
gefetzt,  nicht  näher  datierbare  Stücke  an  der  gehörigen 
Stelle  auch  ohne  Datumangabe  eingefetzt.  Alles  weitere 
für  gelehrte  und  ungelehrte  Lefer  Wünfchenswerte 
bleibt  dem  Anhangsbande  vorbehalten. 

In  der  Behandlung  des  Textes  bin  ich  im  übrigen 
ganz  der  erften  Ausgabe  gefolgt  und  tunlichft  konfer*» 
vativ  verfahren.  Nur  ift  jetzt  die  moderne  Recht:= 
fchreibung  angewandt  worden. 

Kleine  ftörende  Unfchönheiten  in  der  Schreibweife 
find  fchonend  befeitigt,  doch  Charakteriftifches  bei;* 
behalten  worden,  im  allgemeinen  aber  der  Text  quellen* 
getreu  erhalten.  SämtHche  Quellen  find  behufs  Text* 
verbefferung  verglichen  worden,  nur  Weniges,  wie 
befonders  manches  aus  Tageszeitungen  Gefchöpfte  war 
nicht  mehr  erreichbar. 

Diefe  Angaben  mögen  vorerft  genügen,  um  den 
Empfänger  des  erften  Bandes  zu  orientieren;  ausführ* 
lichere  Mitteilungen  werden  in  dem  für  die  Erläute* 
rungen,  Nachträge  und  Regifter  und  unausbleibliche  Be* 
richtigungen  vorbehaltenen  fünften  Bande  des  Werkes 
gegeben  werden. 
I 


XII  Zum  Geleit. 


Dort  werde  ich  auch  im  einzelnen  allen  denen 
Dank  abzuftatten  haben,  welche  mein  Vorhaben  mit 
ihrer  Teilnahme  begleiteten.  Diefen  Dank  fpreche  ich 
hier  zunächft  im  allgemeinen  aus,  in  der  Hoffnung, 
ihn  bis  zum  Abfchluß  des  Werkes  noch  weiter  aus»« 
dehnen  zu  können,  ftets  gewärtig,  durch  Ausgabe  jeden 
Bandes  von  neuem  Anregung  für  Mitteilungen  aus 
verborgenen  Quellen,  fei  es  gedruckten  oder  unge«* 
druckten,  zu  geben. 

Für  drei  befonders  tätige  Freunde  des  Unterst 
nehmens  glaubte  ich  meinem  Dank  durch  Benennung 
auf  dem  Titel  verdienten  Nachdruck  geben  zu  follen. 
Über  Art  und  Umfang  ihrer  Mitwirkung  werde  ich 
mich  auch  erft  am  Schluß  auszufprechen  haben. 

Möge  das  Werk  in  feiner  neuen  Geftalt  die  gleiche 
dankbare  Aufnahme  finden,  die  der  erften  Ausgabe 
in  fo  reichem  Maße  befchieden  war;  möge  es  den 
Namen  Woldemar  von  Biedermann  in  der  Goethe*« 
Gemeinde  in  dauerndem  Gedächtnis  erhalten  und  zur 
Ausbreitung  Goethefchen  Geiftes  weiter  wirken. 

Steglitz,  an  Goethes  hundertfechzigftem  Geburtstage. 
Flodoard  Frh.  v.  Biedermann. 


Inhalt  des  erßen  Bandes 


Seite 

Zum  Geleit VII 

Elftes  Buch.    Nr.  1-126. 

Kindheit  und  Jugend  bis  zum  Eintritt  in  Weimar, 
1754  bis  Oktober  1775 1 

Zweites  Buch.     Nr.  127-272. 

Vom  Eintritt  in  Weimar  bis  zur  Abreife  nach  Italien, 
1775  November  bis  Juli  1786 67 

Drittes  Buch.     Nr.  273-418. 

Vom  Antritt  der  italienifchen  Reife  bis  zum  Beginn 
des  freundfchaftlichen  Umgangs  mit  Schiller,  1786  Juli 
bis  Juli  1794 135 

Viertes  Buch.     Nr.  419-618. 

Vom  Beginn  der  Freundfchaft  mit  Schiller  bis  zum 
Ende  des  achtzehnten  Jahrhunderts,  1794  Juli  bis 
Ende  1800 205 

Fünftes  Buch.     Nr.  619-830. 

Vom  Beginn  des  neunzehnten  Jahrhunderts  bis  zu 
Schillers  Tode,  1801  bis  Mai  1805 297 

Sechftes  Buch.     Nr.  831-1117. 

Vom  Tode  Schillers  bis  zum  Erfurter  Kongreß, 
1805  Mai  bis  Oktober  1808 .     393 


GOETHES  GESPRÄCHE 
I 


1754  bis  Oktober  1808 


Erfies  Buch 

Kindheit  und  Jugend 

bis  zum  Eintritt 

in  Weimar 


1754  bis  October  1775 


1754. 

[1.]     Elifabeth  Goethe. 

Ich  konnte  nicht  ermüden,  zu  erzählen,  fo  wie  er 
nicht  ermüdete,  zuzuhören  <^  Da  faß  ich,  und  da  ver;: 
fchlang  er  mich  bald  mit  feinen  großen  fchwarzen  Augen, 
und  wenn  das  Schickfal  irgend  eines  Lieblings  nicht  recht 
nach  feinem  Sinn  ging,  da  fah  ich,  wie  die  Zornader  an 
der  Stirn  fchwoll,  und  wie  er  die  Tränen  verbiß.  Manche 
mal  griff  er  ein  und  fagte,  noch  eh  ich  meine  Wen^ 
düng  genommen  hatte:  Nicht  wahr,  Mutter,  die  Prin? 
zeffin  heiratet  nicht  den  verdammten  Schneider,  wenn 
er  auch  den  Riefen  tot  fchlägt.  Wenn  ich  neuen  Halt 
machte  und  die  Kataftrophe  auf  den  nächften  Abend  ver^ 
fchob,  fo  konnte  ich  ficher  fein,  daß  er  bis  dahin  alles 
zurecht  gerückt  hatte,  und  fo  ward  mir  denn  meine  Ein? 
bildungskraft,  wo  fie  nicht  mehr  zureichte,  häufig  durch 
die  feine  erfetzt;  wenn  ich  dann  am  nächften  Abend  die 
Schickfalsfäden  nach  feiner  Angabe  weiter  lenkte  und 
iagte:  Du  hafts  geraten,  so  ifis  gekommen,  da  war  er 
Feuer  und  Flamme,  und  man  konnte  fein  Herzchen  unter 
der  Halskraufe  fchlagen  fehen.  Der  Großmutter,  die  im 
Hinterhaufe  wohnte  und  deren  Liebling  er  war,  vertraute 
er  nun  allemal  feine  Anflehten,  wie  es  mit  der  Erzählung 
wohl  noch  werde,  und  von  diefer  erfuhr  ich,  wie  ich 
feinen  Wünfchen  gemäß  weiter  im  Text  kommen  foUe; 
und  fo  war  ein  geheimes  diplomatifches  Treiben  zwifchen 
uns,  das  keiner  an  den  andern  verriet.  So  hatte  ich  die 
Satisfaktion,  zum  Genuß  und  Erftaunen  der  Zuhörenden, 
meine  Märchen  vorzutragen,  und  der  Wolfgang,  ohne 
je  fich  als  den  Urheber  aller  merkwürdigen  Ereigniffe 
zu  bekennen,  fah  mit  glühenden  Augen  der  Erfüllung 
feiner  kühn  angelegten  Pläne  entgegen,  und  begrüßte  das 
Ausmalen  derfelben  mit  enthufialtischem  Beifall. 


Elifabeth  Goethe.  [2 


1755. 

[2.]     November.     Elifabeth  Goethe. 

Betrachtungen  aller  Art  über  das  Erdbeben  von  LiJJa= 
bon  wurden  in  Gegenwart  der  Kinder  vielfeitig  befprochen, 
die  Bibel  wurde  aufgefchlagen;  Gründe  für  und  wider 
behauptet;  dies  alles  befchäftigte  den  Wolfgang  tiefer  als 
einer  ahnen  konnte,  und  er  machte  am  Ende  eine  Aus^ 
legung  davon,  die  alle  an  Weisheit  übertraf.  Nachdem 
er  mit  dem  Großvater  aus  einer  Predigt  kam,  in  welcher 
die  Weisheit  des  Schöpfers  gleichfäm  gegen  die  betroffene 
Menfchheit  verteidigt  wurde  und  der  Vater  ihn  fragte, 
wie  er  die  Predigt  verftanden  habe,  fagte  er:  Am  End 
mag  alles  noch  viel  einfacher  fein  als  der  Prediger  meint, 
Gott  wird  wohl  wiffen,  daß  der  unfterblichen  Seele  durch 
böfes  Schickfal  kein  Schaden  gefchehen  kann. 

1756. 

[3.]     Bettina  Brentano  nach  Erzählung  der  Mutter. 

Oft  fah  er  nach  den  Sternen,  von  denen  man  ihm 
fagte,  daß  fie  bei  feiner  Geburt  eingeftanden  haben;  hier 
mußte  die  Einbildungskraft  der  Mutter  oft  das  Unmög^ 
liehe  tun,  um  feinen  Forfchungen  Genüge  zu  leifien,  und 
fo  hatte  er  bald  heraus,  daß  Jupiter  und  Venus  die  Regen? 
ten  und  Befchützer  feiner  Gefchicke  fein  würden;  kein 
Spielwerk  konnte  ihn  nun  mehr  feffeln,  als  das  Zahlbrett 
feines  Vaters,  auf  dem  er  mit  Zahlpfennigen  die  Stellung 
der  Geftirne  nachmachte,  wie  er  iie  gefehen  hatte;  er 
fiellte  diefes  Zahlbrett  an  fein  Bett  und  glaubte  fich  da? 
durch  dem  Einfluß  feiner  günftigen  Sterne  näher  gerückt. 
Er  fagte  auch  oft  zur  Mutter  forgenvoll :  Die  Sterne  werden 
mich  doch  nicht  vergeffen  und  werden  halten,  was  fie  bei 
meiner  Wiege  verfprochen  haben?  —  Da  fagte  die  Mutter: 
Warum  willft  du  denn  mit  Gewalt  den  Beiftand  der  Sterne, 
da  wir  andere  doch  ohne  fie  fertig  werden  muffen?  Da 
fagte  er  ganz  fi:olz:  Mit  dem,  was  andern  Leuten  genügt, 
kann  ich  nicht  fertig  werden.   Damals  war  erfiebenjahr  alt. 

1759. 

[4.]     Januar. 

Sonderbar  fiel  es  der  Mutter  auf,  daß  er  bei  dem 
Tod  feines  jüngeren  Bruders  Jakob,  der  fein  Spielkamerad 


6]  Frankfurt  —  Knabenjahre.  5 

war,  keine  Träne  vergoß,  er  fehlen  vielmehr  eine  Art 
Ärger  über  die  Klagen  der  Eltern  und  Gefchwifter  zu 
haben.  Da  die  Mutter  nun  fpäter  den  Trotzigen  fragte, 
ob  er  den  Bruder  nicht  lieb  gehabt  habe,  lief  er  in  feine 
Kammer,  brachte  unter  dem  Bette  hervor  eine  Menge 
Papiere,  die  mit  Lektionen  und  Gefchichtchen  befchrieben 
waren;  er  fagte  ihr,  daß  er  dies  alles  gemacht  habe,  um 
es  dem  Bruder  zu  lehren. 

[5.]     J.  J.  V.  Gerning. 

Als  Knabe  war  er  fehr  ernfthaft  und  ärgerte  fich, 
wenn  feine  Gefpielen,  die  er  oft  hofmeifterte,  Poliffon^ 
nerien  begingen.  So  war  er  in  einer  gemeinfchaftlichen 
Zeichenftunde  der  Fleißigfte.  Hüsgen  aber,  noch  jetzt 
ein  Kunftkenner  in  Frankfurt,  war  immer  unfleißig  und 
aß  Wecken.  Da  rief  Goethe  immer:  Der  Hüsgen  frißt 
Wecken!  Auch  war  er  Schiedsrichter,  wenn  fleh  die  an? 
dem  bei  den  Perücken  zerrten,  die  damals  die  Knaben 
noch  trugen. 

1764. 

[6.]     Juli  8.     J.  Andre  an  L.  Yfenburg  v.  Buri. 

Herr  Goethe  ift  vorige  Woche  ungefähr  eine  Viertel;: 
ftunde  bei  mir  gewefen.  Er  brachte  mir  ein  Kompliment 
von  Herrn  Alexis  [Carl  Schweitzer] ,  aber  das  Kompliment 
war  erfunden,  wie  mich  Alexis  geftern  verfichert  hat.  Ich 
wußte  nicht,  was  ich  mit  ihm  reden  follte:  ich  fragte  ihn, 
wie  er  hieß.  Er  nannte  fleh  und  fagte,  Herr  Alexis  wäre 
fein  vertrauter  Freund,  fo  wie  er  denn  auch  meine  Ope? 
rette  bei  demfelben  gefehen  hätte.  Er  fing  nun  an,  das 
Stück  zu  loben.  —  Kann  ich  Ihnen  mit  einer  Schale  Tee 
oder  mit  einem  Glafe  Wein  aufwarten?  unterbrach  ich 
ihn,  weil  ich  ihn  zu  jung  für  einen  Kunftrichter  hielt.  — 
Ich  bin  Ihnen  für  alles  gehorfamft  verbunden,  antwortete 
er  mir.  Hierauf  fagte  er  mir  weiter,  er  wäre  bei  Herrn 
Manskopf  zum  Befuch  und  fing  darauf  an,  von  der  Ko? 
mödie  zu  fprechen,  die  wir  bei  Ihnen  aufgeführt  haben; 
er  lobte  fie  fehr:  Herr  Alexis  hätte  fie  ihm  höchftens 
angerühmt.  Ich  konnte  ihm  nicht  gänzlich  beifallen.  Von 
unferer  Komödie  kamen  wir  auf  die  Frankfurter  Komödie 
und  Opera,  und  das  war  unfer  ganzes  Gefpräch.  Er 
hat  mir  alfo  kein  Wort  von  Gefellfchafts^Angelegenheiten 
I 


6  Andre.  [7 

gefagt.  Nach  Ihnen  hat  er  fich  erkundigt  und  mir  ein 
KompUment  an  Sie  aufgetragen.  ^  Schließlich  bat  er  mich, 
ihn  zu  befuchen.  Ich  fagte  es  ihm  fo  zu,  wie  man  etwas 
wider  Willen  zufagt.  Warum  ich  aber  keine  Neigung  zu 
ihm  trug,  ift  bloß,  daß  er  mir  zu  jung  fchien.  Er  mag 
15  oder  16  Jahr  alt  fein,  im  übrigen  hat  er  mehr  ein 
gutes  Plappermaul  als  Gründlichkeit. 


1766. 

[7.]     Auguft.    J.  A.  Hörn  an  W.  C.  L.  Moors. 

Von  unferem  Goethe  zu  reden!  Das  ift  immer  noch 
der  fiolze  Phantaft,  der  er  war  als  ich  herkam.  Wenn 
Du  ihn  nur  fäheft.  Du  würdeft  entweder  vor  Zorn  rafend 
werden,  oder  vor  Lachen  berften  muffen.  Ich  kann  gar 
nicht  einfehen,  wie  fich  ein  Menfch  fo  gefchwind  ver;; 
ändern  kann.  All  feine  Sitten  und  fein  ganzes  jetziges  Be? 
tragen  find  himmelweit  von  feiner  vorigen  Aufführung 
verfchieden.  Er  ift  bei  feinem  Stolze  auch  ein  Stutzer, 
und  alle  feine  Kleider,  fo  fchön  fie  auch  find,  find  von  fo 
einem  närrifchen  Gout,  der  ihn  auf  der  ganzen  Akademie 
auszeichnet.  Doch  diefes  ift  ihm  alles  einerlei,  man  mag 
ihm  feine  Torheit  vorhalten  fo  viel  man  will. 

Man  mag  Amphion  fein  und  Feld  und  Wald  bezwingen. 
Nur  keinen  Goethe  nicht  kann  man  zur  Klugheit  bringen. 

Sein  ganzes  Tichten  und  Trachten  ift  nur  feiner  gnä^: 
digen  Fräulein  und  fich  felbft  zu  gefallen.  Er  macht  fich 
in  allen  Gefellfchaften  mehr  lächerlich  als  angenehm. 

Er  hat  fich  (bloß  weil  es  die  Fräulein  gern  fieht) 
folche  porte^mains  und  Gebärden  angewöhnt,  bei  welchen 
man  unmöglich  das  Lachen  enthalten  kann.  Einen  Gang 
hat  er  angenommen,  der  ganz  unerträglich  ift.  Wenn  Du 
es  nur  säheft! 

il  marche  ä  pas  comtes 

comme  un  recteur  suivi  des  quatre  facultes. 

Sein  Umgang  wird  mir  alle  Tage  unerträglicher,  und 
er  fucht  auch  denfelbigen  wo  er  kann  zu  vermeiden.  Ich 
bin  ihm  zu  fchlecht,  daß  er  mit  mir  über  die  Straße  gehen 
follte.  Was  würde  der  König  von  Holland  fagen,  wenn 
er  ihn  in  diefer  Pofitur  fähe?    Schreibe  doch  bald  wieder 


8]  Leipzig.    1766. 


einmal  an  ihn  und  fage  ihm  die  Meinung.  Er  bleibt  fonfi 
famt  feiner  gnädigen  Fräulein  närrifch.  -^  Goethe  ift  nicht 
der  Erfte,  der  feiner  Dulzinea  zu  Gefallen  ein  Narr  ist. 
Ich  wünfchte  nur,  daß  Du  fie  ein  einzig  Mal  fäheft,  fie 
ift  die  abgefchmacktefte  Kreatur  von  der  Welt.  Eine  mine 
coquette  avec  un  air  hautain  ift  alles,  womit  fie  Goethen 
bezaubert  hat.  Lieber  Freund!  Ich  wäre  hier  noch  ein^ 
mal  fo  vergnügt,  wenn  nur  Goethe  noch  fo  wäre  wie 
in  Frankfurt.  So  gute  Freunde  wir  auch  fonft  waren, 
fo  vertragen  wir  uns  jetzt  kaum  eine  Viertelftunde.  Doch 
mit  der  Zeit  hoffe  ich  ihn  noch  zu  belehren,  ob  es  fchon 
fchwer  ift,  einen  Narren  klug  zu  machen.  ~  Du  kannft 
ihm  nur  alles  wieder  fchreiben,  was  ich  Dir  hier  erzählt 
habe.  Es  ift  mir  recht  lieb,  wenn  Du  es  tuft.  Es  ift  mir 
weder  an  feinem  noch  an  der  gnädigen  Fräulein  Zorne 
etwas  gelegen.  Denn  er  wird  doch  nicht  fo  leicht  bös 
auf  mich;  wenn  wir  uns  auch  gezankt  haben,  fo  läßt  er 
mich   doch   den  andern  Tag  wieder  zu  fich  rufen. 

[8.]     Herbft.    Hörn. 

Aber  lieber  Moors!  Welche  Freude  wird  Dir  es  fein, 
wenn  ich  Dir  berichte,  daß  wir  an  unferm  Goethe  keinen 
Freund  verloren  haben,  wie  wir  es  fälfchlich  geglaubt. 
Er  hatte  fich  verftellt,  daß  er  nicht  allein  mich,  fondern 
noch  mehrere  Leute  betrog,  und  mir  niemals  den  eigent^^ 
liehen  Grund  der  Sache  entdeckt  haben  würde,  wenn 
Deine  Briefe  ihm  nicht  den  nahen  Verluft  eines  Freundes 
vorher  verkündigt  hätten.  Ich  muß  Dir  die  ganze  Sache, 
wie  er  mir  fie  felbft  erzählt  hat,  erzählen,  denn  er  hat 
mir  es  aufgetragen,  um  ihm  die  Mühe,  die  es  ihm  machen 
würde,  zu  erfparen.  —  Er  liebt,  es  ift  wahr,  er  hat  es  mir 
bekannt  und  wird  es  auch  Dir  bekennen;  allein  feine 
Liebe,  ob  fie  gleich  immer  traurig  ift,  ift  dennoch  nicht 
ftrafbar,  wie  ich  es  fonft  geglaubt.  Er  liebt.  Allein  nicht 
jene  Fräulein,  mit  der  ich  ihn  im  Verdacht  hatte.  Er  liebt 
ein  Mädchen  das  unter  feinem  Stand  ift,  aber  ein  Mäd:^ 
chen,  das  —  ich  glaube  nicht  zu  viel  zu  fagen  —  das  du 
felbft  heben  würdeft,  wenn  Du  es  fäheft.  Ich  bin  kein 
Liebhaber  und  alfo  werde  ich  ganz  ohne  Leidenfchaft 
fchreiben.  Denke  Dir  ein  Frauenzimmer,  wohlgewachfen, 
obgleich  nicht  fehr  groß,  ein  rundes  freundliches,  obs; 
gleich  nicht  außerordentlich  fchönes  Geficht,  eine  offne 
fanfte,  einnehmende  Miene,  viele  Freimütigkeit  ohne  Kos^ 
I 


8  Hörn.  •  [8 

ketterie,  einen  fehr  artigen  Verftand  ohne  die  größte  Er^ 
Ziehung  gehabt  zu  haben.  Er  Hebt  fie  fehr  zärthch,  mit 
den  vollkommen  redlichen  Ablichten  eines  tugendhaften 
Menfchen,  ob  er  gleich  weiß,  daß  fie  nie  feine  Frau 
werden  kann.  Ob  fie  ihn  wieder  liebt,  weiß  ich  nicht. 
Du  weißt,  lieber  Moors!  das  ift  feine  Sache,  nach  der  fich 
nicht  gut  fragen  läßt,  fo  viel  aber  kann  ich  Dir  fagen, 
daß  fie  füreinander  geboren  zu  fein  fcheinen.  Merke  nur 
feine  Lift]  Damit  niemand  ihn  wegen  einer  folchen  Liebe 
im  Verdacht  haben  möchte,  nimmt  er  vor,  die  Welt  grad 
das  Gegenteil  zu  bereden,  welches  ihm  bisher  äußere 
ordentlich  geglückt  ift.  Er  macht  Staat  und  fcheint  einer 
gewiffen  Fräulein,  von  der  ich  Dir  erzählt  habe,  die  Kur 
zu  machen.  Er  kann  zu  gewiffen  Zeiten  feine  Geliebte 
fehen  und  fprechen,  ohne  daß  jemand  deswegen  den  ge^ 
ringften  Argwohn  fchöpft,  und  ich  begleite  ihn  manche 
mal  zu  ihr.  Wenn  Goethe  nicht  mein  Freund  wäre,  ich 
verliebte  mich  felbft  in  fie.  Mittlerweile  hält  man  ihn  nun 
in  die  Fräulein  —  doch  was  brauchft  Du  ihren  Namen 
zu  wiffen,  verliebt,  und  man  vexiert  ihn  wohl  gar  in 
Gefellfchaft  deswegen.  Vielleicht  glaubt  fie  felbft,  daß 
er  fie  liebt,  aber  die  gute  Fräulein  betrügt  fich.  Er  hat 
mich  feit  der  Zeit  einer  näheren  Vertraulichkeit  gewürdigt, 
mir  feine  Ökonomie  entdeckt  und  gezeigt,  daß  der  Auf:; 
wand,  den  er  macht,  nicht  fo  groß  ift,  wie  man  glauben 
sollte.  Er  ift  mehr  Philofoph  und  mehr  Moralift  als  jemals, 
und  so  unfchuldig  feine  Liebe  ift,  fo  mißbilligt  er  fie 
dennoch.  Wir  ftreiten  fehr  oft  darüber,  aber  er  mag  eine 
Partei  nehmen,  welche  er  will,  fo  gewinnt  er;  denn  Du 
weißt,  was  er,  auch  nur  fcheinbaren  Gründen  für  ein 
Gewicht  geben  kann.  Ich  bedaure  ihn  und  fein  gutes 
Herz,  das  wirklich  in  einem  fehr  mißlichen  Zuftande  fich 
befinden  muß,  da  er  das  tugendhaftefte  und  vollkommenfte 
Mädchen  ohne  Hoffnung  liebt.  Und  wenn  wir  annehmen, 
daß  fie  ihn  wieder  liebt,  wie  elend  muß  er  erft  da  sein? 
Ich  brauche  Dir  das  nicht  zu  erklären,  da  Du  das  menfch* 
liehe  Herz  fo  gut  kennft.  Genug  von  diefer  Sache.  Er 
wird  noch  eins  und  das  andre  davon  felbft  an  Dich  fchreiben, 
wie  er  mir  gefagt  hat.  Ich  habe  nicht  nötig  Dir  das  Stille 
fchweigen  hierbei  zu  empfehlen,  da  Du  felbft  fiehft,  wie 
nötig  es  ift. 


11]  Leipzig.     1765/1768. 


1767. 

[9.]     Herbft.     Überlieferung. 

Goethe  ~  traf  '^  Guflav  v.  Bergmann  einft  im  Schau^^ 
fpielhaus  mit  anderen  jüngeren  Studiengenoffen  und  fagte, 
gegen  feine  Bekannten  fich  wendend:  Hier  ftinkts  nach 
Füchfen!  Kaum  hatte  Goethe  diefe  Worte  gefprochen,  fo 
gab  ihm  Bergmann  eine  Ohrfeige ;  die  Folge  war  ein  Zwei:; 
kämpf,  bei  welchem  Goethe  am  Oberarm  verwundet  wurde. 

1765/1768. 

[10.]     G.  Parthey  nach  Marie  Körner. 

Beide  Schweftern,  Marie  und  Doris,  gedachten  gern 
ihres  Vaters,  des  Leipziger  Kupferfiechers  Stock,  von  dem 
Goethe  als  Student  lieh  unterrichten  ließ.  '^  Das  Ge^ 
dächtnis  der  älteren  bewahrte  manche  kleinen  Züge,  die, 
an  lieh  unbedeutend,  zur  Vervollftändigung  von  Goethes 
Lebensbild  dienen  können.  Stocks  Verhältniffe  waren  fehr 
befchränkt.  Eine  geräumige  Bodenkammer  in  dem  großen 
Breitkopffchen  Haufe  zum  Silbernen  Bären  diente  ihm, 
feiner  Frau  und  feinen  beiden  Töchtern  als  Arbeits;:  und 
Empfangszimmer,  in  welchem  auch  der  Schüler  Platz  fand. 
Während  Stock  und  Goethe  je  an  einem  Fenfter  über 
ihren  Platten  fchwitzten,  faßen  die  Töchter  an  dem  dritten 
Fenfter  mit  weiblicher  Arbeit  befchäftigt  oder  fie  beforgten 
mit  der  Mutter  die  Küche.  Das  Gefpräch  ging  ohne 
Unterbrechung  fort;  denn  fchon  damals  zeigte  Goethe  eine 
große  Luft  am  Diskurieren. 

Eines  Tages  fagte  Stock:  Goethe,  meine  Töchter 
wachfen  nun  heran,  was  meinft  du,  worin  foll  ich  die 
Mädchen  unterrichten  laffen?  In  nichts  anderem,  erwiderte 
Goethe,  als  in  der  Wirtfchaft.  Laß  fie  gute  Köchinnen 
werden,  das  wird  für  ihre  künftigen  Männer  das  Befte 
fein.  Der  Vater  befolgte  diefen  Rat,  und  nicht  ohne 
Empfindhchkeit  verficherte  mich  die  ältere  Schwefter,  daß 
fie  dies  Goethen  immer  nachgetragen  habe,  und  daß  fie 
infolge  diefes  Rates  ihre  ganze  Ausbildung  mit  der  größten 
Mühe  fich  felbst  habe  erwerben  muffen. 

[11.]     Marie  Körner. 

Der  Vater  arbeitete  vornehmlich  kleine  Vignetten  für 
den  Verlagsbuchhändler  Breitkopf;  auch  durch  Unterricht 

I 


10  Marie  Körner.  [11 

in  feiner  Kunft  hatte  er  Verdienft.  Von  feinen  Schülern  der 
eifrigfte,  zugleich  aber  auch  zu  allerhand  munteren  Streichen 
der  aufgelegtefte  war  der  fpäter  fo  berühmt  gewordene 
Goethe,  damals  Student  der  Rechte,  fechzehn  Jahre  alt. 
Unferer  guten  Mutter  machte  diefe  Bekanntfchaft  mancher:: 
lei  Sorge  und  Verdruß.  Wenn  der  Vater  in  fpäter  Nach:: 
mittagsftunde  noch  fleißig  bei  der  Arbeit  faß,  trieb  ihn 
der  junge  Freund  an,  frühzeitig  Feierabend  zu  machen  und 
befchwichtigte  die  Einwendungen  der  Mutter  damit,  daß 
die  Arbeit  mit  der  feinen  Radirnadel  im  Zwielicht  die 
Augen  zu  fehr  angreife,  zumal  er  dabei  durch  das  Glas 
fehe.  Wenn  nun  auch  die  Mutter  erwiderte,  durch  das 
Glas  zu  fehen,  greife  die  Augen  nicht  fo  fehr  an,  als  in 
das  Glas  und  manchesmal  zu  tief  zu  fehen,  fo  ließ  doch  der 
muntere  Student  nicht  los  und  entführte  uns  den  Vater 
zu  Schönkopfs  oder  nach  Auerbachs  Keller.  ^^  Diefe  Be^: 
kanntfchaft  hat  unferer  guten  Mutter  manche  Tränen  ge^: 
koftet.  Wenn  aber  am  andern  Morgen  Mosje  Goethe,  — 
denn  vornehme  junge  Herrn  wurden  Mosje  tituliert  — 
fleh  wieder  bei  uns  einfand  und  ihn  die  Mutter  tüchtig 
ausfchalt,  daß  er  den  Vater  in  folche  ausbündige  Studenten^s 
gefellfchaft  führe,  in  welche  ein  verheirateter  Mann,  der 
für  Frau  und  Kinder  zu  forgen  habe,  gar  nicht  gehöre, 
dann  wußte  er  durch  allerhand  Spaße  fie  wieder  freund? 
lieh  zu  ftimmen,  so  daß  fie  ihn  den  Frankfurter  Strubbel:: 
peter  nannte  und  ihn  zwang,  fich  das  Haar  auskämmen 
zu  laffen,  welches  fo  voller  Federn  fei,  als  ob  Spatzen 
darin  geniftet  hätten.  Nur  auf  wiederholtes  Gebot  der 
Mutter  brachten  wir  Schweftern  unfere  Kämme,  und  es 
währte  lange  Zeit,  bis  die  Frifur  wieder  in  Ordnung  ge? 
bracht  war.  Goethe  hatte  das  fchönfte  braune  Haar;  er 
trug  es  ungepudert  im  Nacken  gebunden,  aber  nicht  wie 
der  alte  Fritz  als  fteifen  Zopf,  fondern  fo,  daß  es  in 
dichtem  Gelöck  frei  herabwallte.  Wenn  ich  —  erzählte 
Frau  Körner  —  in  fpäteren  Jahren  Goethe  hieran  erinnerte, 
wollte  er  es  nie  zugeben,  fondern  verficherte,  es  hätte  fich 
die  Mutter  ein  befonderes  Vergnügen  daraus  gemacht,  ihn 
zu  kämmen,  fo  daß  fie  fein  wohlfrifiertes  Haar  erft  in 
Unordnung  gebracht,  um  ihn  dann  recht  empfindlich  durch? 
zuhecheln. 

Am  meiften  verdarb  es  der  luftige  Bruder  Studio  mit 
uns  Kindern  dadurch,  daß  er  weit  lieber  mit  dem  Wind? 
fpiele  des  Vaters,  —  es  war  ein  niedliches  Tierchen  und 


11]      Leipzig.    1765/1768. 11 

hieß  Joli  —  als  mit  uns  fpielte  und  ihm  allerhand  Un^: 
arten  geftattete  und  es  verzog,  während  er  gegen  uns  den 
geftrengen  Erzieher  fpielte.  Für  Joli  brachte  er  immer  etwas 
zu  nafchen  mit,  wenn  wir  aber  mit  verdrießlichen  Blicken 
dies  bemerkten,  wurden  wir  bedeutet,  das  Zuckerwerk  ver:s 
derbe  die  Zähne  und  gebrannte  Mandeln  und  Nüffe  die 
Stimme.  Goethe  und  der  Vater  trieben  ihren  Mutwillen  fo 
weit,  daß  fie  an  dem  Weihnachtsabend  ein  Chriftbäumchen 
für  Joli,  mit  allerhand  Süßigkeiten  behangen,  aufftellten, 
ihm  ein  rotwollnes  Camifol  anzogen  und  ihn  auf  zwei 
Beinen  zu  dem  Tifchchen,  das  für  ihn  reichlich  befetzt 
war,  führten,  während  wir  mit  einem  Päckchen  brauner 
Pfefferkuchen,  welche  mein  Herr  Pate  aus  Nürnberg  ge^^ 
fchickt  hatte,  uns  begnügen  mußten.  Joli  war  ein  fo  unver? 
ftändiges,  ja,  ich  darf  fagen,  fo  unchriftliches  Gefchöpf, 
daß  er  für  die  von  uns  unter  unferem  Tifchchen  aufge^ 
putzte  Krippe  nicht  den  geringften  Refpekt  hatte,  alles 
befchnoperte  und  mit  einem  Haps  das  zuckerne  Chrift^ 
kindchen  aus  der  Krippe  riß  und  aufknabberte,  worüber 
Herr  Goethe  und  der  Vater  laut  auflachten,  während  wir 
in  Tränen  zerfloffen.  Ein  Glück  nur,  daß  Mutter  Maria, 
der  heilige  Jofeph  und  Ochs  und  Efelein  von  Holz  waren; 
fo  blieben  fie  verfchont.  ^ 

Unfer  Unterricht  war  auf  fehr  wenige  Gegenftände 
befchränkt.  Um  elf  Uhr  vormittags  fand  fleh  ein  ein^ 
getrockneter  Leipziger  Magifter,  welcher  in  der  Druckerei 
von  Breitkopf  mit  Korrekturen  befchäftigt  wurde,  bei  uns 
ein,  der  fich  durch  feine  fchwarze  Kleidung  und  weiße 
Halskraufe  das  Anfehen  eines  Theologen  geben  wollte. 
Er  unterrichtete  uns  im  Lefen,  Schreiben  und  Rechnen  und 
erhielt  für  die  Stunde  einen  guten  Grofchen.  Was  feinem 
Anzüge  im  eigentlichen  Sinne  die  Krone  auffetzte,  war 
feine  von  haarfeinem  Draht  geflochtene,  in  vielen  Locken 
herabwallende  Perücke.  Beim  Eintreten  rief  er  uns  fchon 
von  der  Türe  her  entgegen:  Ihr  Kinder,  das  Gebet!  Wir 
fagten  nun  unifono  einen  Vers  aus  einem  Gefangbuchliede 
her,  worauf  eine  Stunde  in  der  Bibel  gelefen  wurde  '^ 
Wir  allefamt  waren  auf  eine  einzige  Stube  angewiefen,  und 
fo  gefchah  es  öfter,  daß  Goethe  während  unferer  Lektion 
eintrat  und  fich  an  den  Arbeitstifch  des  Vaters  fetzte. 
Einmal  traf  es  fich  nun,  daß  wir  eben  mitten  aus  einem, 
ihm  für  junge  Mädchen  unpaffend  erfcheinenden  Kapitel 
des  Buches  Efther  laut  vorlefen  mußten.  Ein  Weilchen 
I 


12  Marie  Körner.  [12 

hatte  Goethe  ruhig  zugehört;  mit  einem  Male  fprang  er 
vom  Arbeitstifche  des  Vaters  auf,  riß  mir  die  Bibel  aus 
der  Hand  und  rief  dem  Herrn  Magifier  mit  ganz  furiofer 
Stimme  zu:  Herr,  wie  können  Sie  die  jungen  Mädchen 
folche  H  .  .  .  Gefchichten  lefen  laffen!  Unfer  Magifter 
zitterte  und  bebte;  denn  Goethe  fetzte  feine  Strafpredigt 
noch  immer  heftiger  fort,  bis  die  Mutter  dazwifchentrat 
und  ihn  zu  befänftigen  fuchte.  Der  Magifter  ftotterte  etwas 
von:  Alles  fei  Gottes  Wort,  heraus,  worauf  ihn  Goethe 
bedeutete:  Prüfet  alles,  aber  nur  was  gut  und  fittlich  ift, 
behaltet!  Dann  fchlug  er  das  Neue  Teftament  auf,  blätterte 
ein  Weilchen  darin,  bis  er,  was  er  fuchte,  gefunden  hatte. 
Hier  Dorchenl  fagte  er  zu  meiner  Schwefter,  das  lies 
uns  vor:  das  ift  die  Bergpredigt,  da  hören  wir  alle  mit 
zu.  Da  Dorchen  ftotterte  und  vor  Angft  nicht  lefen 
konnte,  nahm  ihr  Goethe  die  Bibel  aus  der  Hand,  las  uns 
das  ganze  Kapitel  laut  vor  und  fügte  ganz  erbauliche  Be? 
merkungen  hinzu,  wie  wir  fie  von  unferm  Magifter  nie? 
mals  gehört  hatten.  Diefer  faßte  nun  auch  wieder  Miit 
und  fragte  befcheidentlich :  Der  Herr  find  wohl  Studiosus 
theologiae;  werden  mit  Gottes  Hülfe  ein  frommer  Arbeiter 
im  Weinberge  des  Herrn  und  ein  getreuer  Hirte  der  Herde 
werden.  —  Zuverläffig,  —  fügte  der  Vater  fcherzend  hins: 
zu  —  wird  er  fein  Fäßchen  in  den  Keller  und  fein  Schaf? 
chen  ins  Trockne  bringen;  an  frommen  Beichtkindern 
wird's  ihm  nicht  fehlen.  —  So  fchloß  die  Lektion  ganz 
heiter;  alle  lachten  über  den  Witz  des  Vaters,  und  wir 
eigentlich,  ohne  zu  wiffen  warum. 

[12.]     G.  Parthey. 

Bei  einem  kleinen  unfchuldigen  Liebeshandel,  den 
Goethe  mit  der  Tochter  von  Breitkopf  anknüpfte,  war  Marie 
Stock  feine  Vertraute.  Auf  dem  Oberboden  ftand  ein  altes 
fehr  verftimmtes  Spinett,  an  dem  die  beiden  Liebenden  die 
zärtlichften  Duetten  fangen;  Marie  mußte  auf  der  Treppe 
fitzen  bleiben  und  Wache  halten,  um  von  jeder  herannahen? 
den  Störung  fogleich  Nachricht  zu  geben.  Als  fie  Goethen 
viele  Jahre  fpäter  an  diefe  Jugendzeiten  erinnerte,  fagte  er 
halb   unwillig:    Sie  haben  ja  ein  verfluchtes  Gedächtnis! 

Für  die  aufblühenden  Reize  der  jüngeren  Schwefter 
Doris  Stock  war  Goethe  nicht  unempfindlich.  Sie  ver? 
traute  mij:  einmal  ^  die  Goethefche  Elegie:  Alexis  und 
Dora  fei  an  fie  gerichtet  gewefen.    [1796]. 


14]  Frankfurt.    1768. 13 

[13.]     Okt.  26.    Cornelia  Goethe  an  Katharina  Fabricius. 

Dans  ce  moment  mon  frere  est  alle  voir  deux  jeunes 
Seigneurs  de  qualite,  qui  viennent  de  Leipzig,  oü  il  a  eu 
connaissance  avec  eux.  Je  le  priai  de  me  les  decrire,  ce 
qu'il  a  fait  avec  plaisir.  Monsieur  de  Olderogge  l'aine, 
me  dit  il,  a  environ  vingt  six  ans,  il  est  grand,  de  belle 
taille,  mais  son  visage  a  des  traits  peu  flatteurs;  il  a  beau^ 
coup  d'esprit,  parle  peu,  mais  tout  ce  qu'il  dit,  montre 
la  grandeur  de  son  äme,  et  son  jugement  eleve;  il  est  tres 
agreable  en  compagnie,  pousse  la  civilite  jusqu'au  plus 
haut  bout,  supportant  avec  condescendance,  les  personnes 
d'un  merite  inferieur,  enfin  il  possede  toutes  les  qualites 
requises  pour  rendre  un  cavalier  aimable.  —  Son  frere 
aura  vingt  ans,  il  a  la  taille  moins  haute  que  l'aine,  mais 
ses  traits  sont  d'une  beaute  charmante,  comme  vous  aimez 
ä  les  voir  vous  autres  filles;  il  est  beaucoup  plus  vif  que 
l'autre,  parle  souvent,  quoique  quelquefois  mal  ä  propos, 
il  a  le  caractere  aimable,  mele  avec  beaucoup  de  feu,  ce 
qui  lui  va  tres  bien.  Encore  un  peu  d'etourderie,  mais 
9a  ne  fait  rien.  Il  suffit  ä  toi  de  savoir  que  c'etaient  la 
les  cavaliers  les  plus  distingues  de  toute  notre  Academie. 

[14.]     Okt.  27. 

Cornelia  Goethe  läßt  einen  Vetter,  der  fie  gleichzeitig  mit 
den,  ihrem  Bruder  von  Leipzig  her  befreundeten  Herren  von 
Olderogge  befucht  hatte,  fagen: 

Ma  chere  cousine,  je  ne  Vous  ai  pas  encore  com^ 
munique  la  joie  que  j'ai  ressentie  en  trouvantä  mon  retour 
ici  un  Cousin  si  aimable;  <^  on  a  sujet  de  Vous  feliciter 
d'un  frere  si  digne  d'etre  aime.  —  Je  suis  charmee,  Mon^ 
sieur,  que  Vous  etes  convaincu  ä  present,  combien  j'avais 
raison  d'etre  affligee  de  l'absence  de  ce  frere  cheri;  ces 
trois  annees  ont  ete  bien  longues  pour  moi;  je  souhaitais 
ä  tout  moment  son  retour.  —  Ma  soeur,  ma  soeur!  et 
maintenant  que  je  suis  lä,  personne  ne  desire  de  me  voir; 
c'est  tout  comme  si  je  n'y  etais  pas.  —  Point  de  reproches, 
mon  frere!  Vous  le  savez  Vous  meme  que  ce  n'est  pas 
lä  ma  faute:  Vous  etes  toujours  occupe  et  je  n'ose  Vous 
interrompre  si  souvent  que  je  le  voudrais.  —  Mais  ma 
chere  cousine,  comment  va  donc  la  musique?  Vous  excelliez 
dejä  l'hiver  passe,  que  ne  sera  ce  maintenant!  Oserais^je 
Vous  prier  de  me  faire  entendre  Vos  nouveaux  progres? 
je  suis  sür  que  ces  Messieurs  en  seront  charmes.  —  Il 
I 


14  Cornelia  Goethe.  [15 

faut  Vous  dire,  ma  chere,  que  je  me  portais  mieux  ä  tout 
moment,  ~  et  je  commen^ais  ä  recouvrir  toute  ma  presence 
d'esprit.  Je  me  levais  d'abord  et  lorsqu'ils  virent  que  je 
marchais  vers  mon  clavecin,  ils  se  posterent  tous  autour 
de  moi;  le  cadet  d'Olderogge  se  mit  de  fa^on  ä  pouvoir 
me  regarder  ä  son  aise  pendant  que  je  jouais  '^  Mon 
Cousin  me  ramena  ä  ma  chaise  et  en  me  demandant  ce 
qu'il  devait  faire  encore  pour  m'obliger,  je  le  priais  de 
reprendre  sa  place;  Vous  saurez  qu'elle  etait  vis^äs^vis  de 
moi.  —  Je  vois  ä  quoi  9a  aboutit,  s'ecrias^t^il,  Vous  voulez 
que  je  m'eloigne;  c'est  Vous,  Monsieur,  dit^il  au  jeune 
d'Olderogge,  qu'elle  a  elu  pour  etre  toujours  pres  d'elle.  — 
^  Mon  frere,  pour  donner  un  tour  ä  la  conversation, 
parla  de  Leipzig,  du  temps  agreable  qu'il  y  avait  passe 
et  en  meme  temps  il  commen^a  ä  se  plaindre  de  notre  ville, 
du  peu  de  goüt  qui  y  regnait,  de  nos  citoyens  stupides 
et  enfin  il  s'emancipa  que  nos  demoiselles  n'etaient  pas 
supportables.  Quelles  differences  entre  les  filles  Saxonnes 
et  Celles  d'ici,  s'ecria^t^il.  —  Je  lui  coupais  la  parole  et 
m'adressant  ä  mon  aimable  voisin:  Monsieur,  lui  dis^je, 
ce  sont  ces  reproches  qu'il  faut  que  j'entende  tous  les 
jours.  Dites  moi,  je  Vous  prie,  ^  si  c'est  en  effet  la  verite, 
que  les  dames  Saxonnes  sont  tant  superieures  ä  Celles  de 
toute  autre  nation?'  —  Je  Vous  assure,  Mademoiselle, 
que  j'ai  vu  le  peu  de  temps  que  je  suis  ici,  beaucoup  plus 
de  beautes  parfaites  qu'en  Saxe;  cependant  j'ose  Vous 
dire,  ce  qui  porte  tant  Ms.  Votre  frere  pour  elles,  c'est 
qu'elles  possedent  une  certaine  gräce,  un  certain  air  enchan^ 
teur  —  C'est  justement,  interrompit  mon  frere,  cette  gräce 
et  cet  air  qui  leur  manque  ici;  je  suis  d'accord  qu'elles 
sont  plus  belles,  mais  ä  quoi  me  sert  cette  beaute,  si  eile 
n'est  pas  accompagnee  de  cette  douceur  infinie  qui  enchante 
plus  que  la  beaute  meme? 

[15.]     Ende  d.  J.     Cornelia  Goethe  an  Katharina  Fabricius. 

II  faut  que  je  vous  dise  quelque  chose  en  confiance; 
Müller  et  mon  frere  ne  sont  plus  si  bien  ensemble,  qu'ils 
l'ont  ete  autrefois,  leurs  maximes  sont  differentes  parceque 
la  Philosophie  de  mon  frere  est  experimentee  au  Heu  que 
Müller  ne  doit  la  sienne  qu'a  l'etude.  Il  s'est  comporte 
aussi  tres  froidement,  durant  la  derniere  grande  maladie  de 
mon  frere  et  je  commence  ä  entre voir  moi  meme  que  ses 
principes   ne   sons   pas   propres   pour  l'usage  du  monde. 


17j             Straßburg.    1770.  15 

Vous  vous  convaincrez  de  plus  en  plus  vous  meme,  des 

sentiments  de  mon  frere,  si  vous  prenez  garde  ä  sa  con 
duite,  car  il  ne  parle  que  comme  il  pense. 


1769. 

[16.]     April  (8.)     J.  A.  Hörn  an  Käthchen  Schönkopf. 

Goethe  läßt  Sie  grüßen  Mamfell!  Erfieht  immer  noch 
ungefund  aus  und  ift  fehr  ftipide  geworden.  Die  Reichs:^ 
luft  hat  ihn  fchon  recht  angefteckt  ~  Die  Zeit  wird  mir 
aber  entfetzlich  lange,  ob  ich  gleich  feiten  allein  bin. 
Goethe  fpricht,  ich  follte  mich  hängen,  aber  hier  mag  ich 
nicht;  wenn  ich  klug  gewefen  wäre,  fo  hätte  ich  mich  in 
Leipzig  hängen  follen. 

1770. 

[17.]     September.     H.  Jung*Stilling. 

Des  andern  Mittags  gingen  Jung=Stilling  und  Trooß 
zum  erften  Mal  ins  Kofthaus  zu  Tifche.  Sie  waren  zuerft 
da,  man  wies  ihnen  ihren  Ort  an.  Es  fpeiften  ungefähr 
zwanzig  Perfonen  an  diefem  Tifch,  und  fie  fahen  einen 
nach  dem  andern  hereintreten.  Befonders  kam  einer  mit 
großen  hellen  Augen,  prachtvoller  Stirn  und  fchönem 
Wuchs,  mutig  ins  Zimmer.  Diefer  zog  Herrn  Troofts  und 
Stillings  Augen  auf  fich;  erfterer  fagte  gegen  letztern: 
das  muß  ein  vortrefflicher  Mann  fein.  Stilling  bejahte  das, 
doch  glaubte  er,  daß  fie  beide  viel  Verdruß  von  ihm  haben 
würden,  weil  er  ihn  für  einen  wilden  Kameraden  anfah. 
Diefes  fchloß  er  aus  dem  freien  Wefen,  das  fich  der  Student 
ausnahm;  allein  Stilling  irrte  fehr.  Sie  wurden  indeffen 
gewahr,  daß  man  diefen  ausgezeichneten  Menfchen  Herr 
Goethe  nannte.  '^  Nun  kam  auch  ein  Theologe,  der  hieß 
Lerfe,  einer  von  den  vortrefflichften  Menfchen,  Goethens 
Liebling,  und  das  verdiente  er  auch  mit  recht,  denn  er 
war  nicht  nur  ein  edles  Genie  und  ein  guter  Theologe, 
fondern  er  hatte  auch  die  feltene  Gabe,  mit  trockener  Miene 
die  treffendfte  Satire  in  Gegenwart  des  Lafters  hinzuwerfen. 
Seine  Laune  war  überaus  edel.  Noch  einer  fand  fich  ein, 
der  fich  neben  Goethe  hinfetzte,  von  diefem  will  ich  nichts 
mehr  fagen  als  daß  er  —  ein  guter  Rabe  mit  Pfauenfedern 
war.  Noch  ein  vortrefflicher  Straßburger  faß  da  zu  Tifche, 
I 


16 Jung:=Stilling. |18 

Sein  Ort  war  der  oberfte,  und  war'  es  auch  hinter  der 
Tür  gewesen.  Seine  Befcheidenheit  erlaubt  nicht,  ihm  eine 
Lobrede  zu  halten:  es  war  der  Herr  Aktuarius  Salzmann. 
Meine  Lefer  mögen  fich  den  gründlichften  und  empfinde 
famften  Philofophen,  mit  dem  echteften  Chriftentum  ver^ 
paart,  denken,  fo  denken  fie  lieh  einen  Salzmann.  Goethe 
und  er  waren  Herzensfreunde. 

[18.]     Sept.  19.     Jung.Stilling. 

Herr  Trooft  war  nett  und  nach  der  Mode  gekleidet; 
Stilling  auch  fo  ziemlich.  Er  hatte  einen  fchwarzbraunen 
Rock  mit  manchefternen  Unterkleidern,  nur  war  ihm  noch 
eine  runde  Perücke  übrig,  die  er  zwifchen  feinen  Beutel:^ 
perücken  doch  auch  gern  verbrauchen  wollte.  Diefe  hatte 
er  einsmalen  aufgefetzt  und  kam  damit  an  den  Tifch. 
Niemand  ftörte  fich  daran,  als  nur  Herr  Waldberg  von 
Wien  [Meyer  von  Lindau].  Diefer  fah  ihn  an,  und  da  er 
fchon  vernommen  hatte,  daß  Stilling  fehr  für  die  Religion 
eingenommen  war,  fo  fing  er  an  und  fragte  ihn:  ob  wohl 
Adam  im  Paradies  eine  runde  Perücke  möchte  getragen 
haben?  Alle  lachten  herzlich  bis  auf  Salzmann,  Goethe 
und  Troofi:;  diefe  lachten  nicht.  Stillingen  fuhr  der  Zorn 
durch  alle  Glieder  und  antwortete  darauf:  Schämen  Sie 
fich  diefes  Spotts.  Ein  folcher  alltäglicher  Einfall  ifi:  nicht 
wert,  daß  er  belacht  werde.  Goethe  aber  fiel  ein  und 
verfetzte:  Probier  erfi:  einen  Menfchen,  ob  er  des  Spotts 
wert  fei.  Es  ift  teufelmäßig,  einen  rechtfchaffenen  Mann, 
der  keinen  beleidigt  hat,  zum  heften  zu  haben.  Von 
diefer  Zeit  nahm  fich  Herr  Goethe  Stillings  an,  befuchte 
ihn,  gewann  ihn  lieb,  machte  Brüderfchaft  und  Freund^; 
fchaft  mit  ihm  und  bemühte  fich  bei  allen  Gelegenheiten, 
Stillingen  Liebe  zu  erzeigen.  Schade,  daß  fo  wenige  diefen 
vortreif liehen  Menfchen  feinem  Herzen  nach  kennen! 

[19.]     Herbft.     Ph.  F.  Lucius. 

Von  einem  «^  Befuche  Goethes  in  Sejfenheim  im  NOVf 
gerückten  Spätjahr  wußte  eine  alte,  vollkommen  zuverlässige 
Frau  hier  zu  berichten,  die  in  ihren  Kinderjahren  im  Pfarr? 
häufe  täglich  ein:s  und  ausging.  Sie  erzählte  nämlich  —  wie 
der  Gatte  ihrer  Enkelin  mir  mitgeteilt  —  zu  oft  wieder;: 
holten  Malen,  daß  zur  Zeit  des  Welfchkornbaftens,  eine 
gewiffe  Anzahl  größerer  Mädchen  alljährlich  im  Pfarrhofe 


22]         Straßburg.    1770/1771. 17 

fich  eingefunden,  um  das  felbfigepflanzte  fowohl,  als  auch 
das  vom  Zehnten  herrührende  Welfchkorn  des  Pfarrers  zu# 
zurüften,  damit  die  Kolben  in  Büfchel  gebunden  und  im 
Freien  aufgehängt  werden  konnten,  was  immer  eine  große 
Herrlichkeit  war,  auf  welche  die  weibliche  Jugend  lange 
zum  voraus  fchon  lieh  freute,  da  während  der  Arbeit 
allerlei  Scherz  und  Kurzweil  getrieben,  und  nach  Beendijs 
gung  derfelben  ein  Abendbrot  zum  heften  gegeben  wurde. 
Wie  heute  noch,  fo  wurde  wohl  auch  vor  Zeiten  dies  Ge? 
fchäft  vorgenommen,  wenn  die  Feldarbeiten  beendigt  waren 
—  fo  etwa  Ende  Oktober  oder  Anfang  November.  Als 
wir  fo  beifammen  waren,  kam  einft  auch  Herr  Goethe 
zu  uns  in  die  Scheune,  und  machte  uns  durch  feine  Spaße 
und  drolligen  Erzählungen  fo  fehr  lachen,  daß  wir  faft  gar 
nichts  arbeiten  konnten. 

[20.]     Herbft.     Herder. 

Goethe  fing  Homer  in  Straßburg  zu  lefen  an,  und 
alle  Helden  wurden  bei  ihm  fo  fchön,  groß  und  frei 
watende  Störche;  er  fteht  mir  allemal  vor,  wenn  ich  an 
eine  fo  recht  ehrliche  Stelle  komme,  da  der  Altvater  über 
feine  Leier  lieht  (wenn  er  fchon  konnte)  und  in  feinen  an:: 
fehnlichen  Bart  lächelt. 


1770/1771. 

[21.]     H.  Jung.Stilling. 

Herr  Goethe  gab  ihm  in  Anfehung  der  fchönen 
Wissenfchaften  einen  anderen  Schwung.  Er  machte  ihn 
mit  Offian,  Shakefpeare,  Fielding  und  Sterne  bekannt; 
und  fo  geriet  Stilling  aus  der  Natur  ohne  Umwege  wieder 
in  die  Natur.  '^ 

Diefen  Winter  kam  Herr  Herder  nach  Straßburg. 
Stilling  wurde  durch  Goethe  und  Trooft  mit  ihm  bekannt. 

[22.]     Herder. 

Goethe  ift  wirklich  ein  guter  Menfch,  nur  etwas  leicht 
und  fpatzenmäßig,  worüber  er  meine  ewige  Vorwürfe  ge^ 
habt  hat.  Er  war  mitunter  der  Einzige,  der  mich  in  Straß;: 
bürg  in  meiner  Gefangenfchaft  befuchte  und  den  ich  gern 
fahe;  auch  glaube  ich  ihm,  ohne  Lobrednerei  einige  gute 
Eindrücke  gegeben  zu  haben,  die  einmal  wirksam  werden 
I  2 


18 Jung  Stilling. [23 

können.  Jetzt  bin  ich  feit  langer  Zeit  außer  Briefwechfel 
mit  ihm,  ob  ich  ihm  gleich  auf  eine  mir  zugefchickte 
wirklich  fchöne  Produktion  feit  langem  zu  antworten  habe. 


1771. 

[23.]     Mai  14.     H.  Jung. 

Jung  hatte  am  14.  Mai  in  Straßburg  einen  Brief  mit  der 
Nachricht  von  gefährlicher  Erkrankung  feiner  Braut  erhalten  und 
erzählt  dann: 

Stilling  ftürzte  wie  ein  Rafender  von  einer  Wand  an 
die  andere;  er  weinte  nicht,  feufzte  nicht,  fondern  fah 
aus  wie  einer,  der  an  feiner  Seligkeit  zweifelt.  Er  befann 
(ich  endlich  foviel,  daß  er  feinen  Schlafrock  auswarf,  feine 
Kleider  anzog  und  mit  dem  Brief  zu  Herrn  Goethe  hin? 
taumelte.  Sobald  er  in  fein  Zimmer  hineintrat,  rief  er  mit 
Seelenzagen:  Ich  bin  verloren!  Da  lies  den  Brief  1  Goethe 
las,  fuhr  auf,  fah  ihn  mit  naffen  Augen  an  und  fagte: 
Du  armer  Stilling!  Nun  ging  er  mit  ihm  zurück  nach 
feinem  Zimmer.  Es  fand  fich  noch  ein  wahrer  Freund, 
dem  Stilling  fein  Unglück  klagte;  diefer  ging  auch  mit. 
Goethe  und  diefer  Freund  packten  ihm  das  Nötige  in  fein 
Felleifen,  ein  anderer  fuchte  Gelegenheit  für  ihn,  wodurch 
er  wegreifen  könnte.  Und  diefe  fand  fich;  denn  es  lag 
ein  Schiffer  auf  der  Preufch  parat,  der  den  Mittag  nach 
Mainz  abfuhr  ^  Nachdem  nun  Goethe  das  Felleifen  bereit 
hatte,  fo  lief  er  und  beforgte  Proviant  für  feinen  Freund, 
trug  ihm  den  ins,  Schiff.  Stilling  ging  reifefertig  mit. 
Hier  letzten  fich  beide  mit  Tränen. 

[24.]     Ende  Juni. 

Jung,  erzählt,  daß  er  Ende  Juni  nach  Straßburg  zurückge? 
kehrt  fei  und  fährt  fort: 

Sein  erfier  Gang  war  zu  Goethe.  Der  Edle  fprang 
hoch  in  die  Höhe,  als  er  ihn  fahe,  fiel  ihm  um  den  Hals 
und  küßte  ihn:  Bift  Du  wieder  da,  guter  Stilling!  rief 
er;  und  was  macht  dein  Mädchen?  Stilling  antwortete: 
Sie  ift  mein  Mädchen  nicht  mehr,  fie  ift  nun  meine  Frau. 
Das  haft  Du  gut  gemacht!  erwiderte  jener;  Du  bift  ein 
exzellenter  Junge!  Diefen  halben  Tag  verbrachten  fie 
vollends  in  herzlichen  Gefprächen  und  Erzählungen.  ^ 

Goethe,  Lenz,  Lerfe  und  Stilling  machten  jetzt  fo  einen 
Zirkel  aus,  in  dem  es  jedem  wohl  ward,  der  nur  empfinden 


29]  Frankfurt.  19 

kann,  was  fchön  und  gut  ift.  Stillings  Enthufiasmus  für  die 
Religion  hinderte  ihn  nicht,  auch  folche  Männer  herzhch  zu 
Heben,  die  freier  dachten  als  er,  wenn  fie  nur  keine  Spötter 
waren. 

[25.]     Nach  F.  Lerfes  Erzählung. 

Oft  fuhren  Goethe  und  Lerfe  den  Rhein  hinauf  -^ 
Da  geriet  Goethe  oft  in  hohe  Verzückung,  fprach  Worte 
der  Prophezeiung  und  machte  Lerfe  Beforgniffe,  er  werde 
überfchnappen. 

[26.]     Aug.  6.     Nach  F.  Lerfes  Erzählung. 

In  Straßburg  foUte  Goethe  Doctor  juris  werden.  Da^ 
zu  fchrieb  er  eine  Differtation  <^  Sie  paffierte  die  Zen? 
für  des  Dekans  nicht,  und  nun  fchrieb  Goethe  eine,  die 
noch  viel  ketzerischer  war.  Lerfe  war  fein  Refpondent 
und  ftellte  fich  zum  Schein  gewaltig  orthodox.  Er  trieb 
Goethe  fo  in  die  Enge,  daß  diefer  deutfch  anfing:  Ich 
glaube,    Bruder,    Du  willft   an  mir  zum  Hektor  werden! 

[27.]     G.  K.  Pfeffel. 

Un  des  principaux  auteurs  de  cette  Gazette*  est  un 
nomme  Gette,  homme  de  genie  ä  ce  qu'on  dit,  mais 
d'une  Süffisance  insupportable.  J'ai  une  fois  soupe  en  sa 
compagnie  et  meme  re^u  sa  visite,  mais^je  ne  le  connais 
pas  ä  beaucoup  pres  assez  pour  en  juger  d'apres  mes  pro* 
pres  observations. 

[28.]     (Sept./Okt.)    H.  C.  Robinson  nach  Bericht  der  Mutter. 

Goethe  came  home  one  evening  in  high  spirits,  Oh, 
mother,  he  said,  I  have  found  such  a  book  in  the  public 
hbrary,  and  I  will  make  a  play  of  it!  What  great  eyes  the 
Philistines  will  make  at  the  Knight  with  the  Iron^handl 
That's  glorious— the  Ironsjhand! 


1772. 

[29.]    Februar.     J.  G.  Schloffer  an  J.  W.  L.  Gleim. 

Ich  werde   zu  Ende   diefer  Woche   nach   Darmftadt 
gehen  ^^   Ein  junger  Freund  von  mir,  der  fehr  viel  ver^ 

*  Frankfurter  gelehrte  Anzeigen. 


20 J.  G.  Schlosser. [M 

fpricht,  und  der  mir  durch  feine  ernfte  Bemühung,  feine 
Seele  zu  reinigen,  ohne  fie  zu  entnerven,  außerordentlich 
ehrwürdig  ift,  wird  mit  mir  gehen. 

[30,]     März  Anfang.     Caroline  Flachsland  an  Herder. 

Ich  habe  vor  einigen  Tagen  Ihren  Freund  Goethe 
und  Fierrn  Schloffer,  von  dem  ich  Ihnen  fchon  gefchrieben, 
kennen  gelernt.  Sie  haben  Merck  befucht  auf  etliche  Tage, 
und  wir  waren  zwei  Nachmittage  und  auch  beim  Mits^ 
tageffen  beifammen.  Goethe  ift  fo  ein  gutherziger,  muntrer 
Menfch,  ohne  gelehrten  Zierat,  und  hat  fich  mit  Mercks 
Kindern  fo  viel  zu  fchaffen  gemacht  und  eine  gewiffe 
Ähnlichkeit  im  Ton  der  Sprache  oder  irgendwo  mit  Ihnen, 
daß  ich  ihm  überall  nachgegangen  ^^  Nur  einen  Augen^ 
blick  faßen  Goethe,  meine  Schwefter  und  ich  der  Abend== 
fonne,  die  fehr  fchön  war,  gegenüber  und  fprachen  von 
Ihnen.  Er  hat  fechs  Monate  in  Straßburg  mit  Ihnen  ge^ 
lebt  und  fpricht  recht  mit  Begeifterung  von  Ihnen  ^  Den 
zweiten  Nachmittag  haben  wir  auf  einem  hübfchen  Spa^ 
ziergang  und  in  unferem  Fiaufe  bei  einer  Schale  Punfch 
zugebracht.  Wir  waren  nicht  empfindfam,  aber  fehr  munter, 
und  Goethe  und  ich  tanzten  nach  dem  Klavier  Menuetten, 
und  darauf  fagte  er  uns  eine  vortreffliche  Ballade  von 
Ihnen  her,  die  ich  auch  noch  nie  gehört:  Dein  Schwert, 
wie  ift's  von  Blut  fo  rot?  Edward,  Edward!  Er  hat  fie 
mir  auf  meine  öftere  Bitte  den  anderen  Tag  nach  feiner 
Rückkunft  in  Frankfurt,  aber  ohne  Brief,  gefchickt. 

[31.]     April.     Caroline  Flachsland  an  Herder. 

Unfer  Freund  Goethe  ift  zu  Fuß  von  Frankfurt 
gekommen  und  hat  Merck  befucht.  Wir  waren  alle  Tage 
beifammen  und  find  in  den  Wald  zufammengegangen 
und  wurden  auch  zufammen  durch  und  durch  beregnet. 
Wir  liefen  alle  unter  einen  Baum  und  Goethe  fang  uns 
ein  Liedchen,  das  Sie  aus  dem  Shakefpeare  überfetzt: 
Wohl  unter  grünen  Laubes  Dach  und  wir  alle  fangen 
den  letzten  Vers  mit:  Nur  eins,  das  heißt  auch  Wetter. 
Das  zufammen  ausgeftandene  Leiden  hat  uns  recht  vers^ 
traut  gemacht.  Er  hat  uns  einige  der  heften  Szenen  aus 
feinem  Gottfried  von  Berlichingen,  das  Sie  vielleicht  von 
ihm  haben,  vorgelefen  «^  Goethe  fteckt  voll  Lieder.  Eins 
von  einer  Hütte,  die  in  Ruinen  alter  Tempel  gebaut, 
ift   vortrefflich;    er   muß   mir's   geben;    wenn   er   wieder^ 


32]  Darmftadt  -  Wetzlar.  21 

kommt,  und  teil'  ich's  Ihnen,  lieber  befter  Herder,  mit. 
Merck  hat  ihm  von  unferer  Lila  erzählt,  und  hier  teile 
ich  Ihnen  etwas  aus  feinem  Herzen  mit,  das  er  an  einem 
fchönen  Frühlingsmorgen,  da  er  allein  in  dem  Tannen:; 
wald  fpazieren  ging,  gemacht  hat.  Der  arme  Menfch  er^ 
zählte  meiner  Schwefter  und  mir  den  Tag  vorher,  daß  er 
fchon  einmal  geliebt  hätte,  aber  das  Mädchen  hätte  ihn 
ein  ganzes  Jahr  getäufcht  und  dann  verlaffen ;  er  glaubte, 
daß  fie  ihn  liebte,  aber  es  kam  ein  anderer,  und  er  wurde 
der  arme  Koxkox. 

[32J     Mai  Juni.     J.  Ch.  Keftner. 

Im  Frühjahr  kam  hier  ein  gewiffer  Goethe  aus  Franko 
fürt,  feiner  Hantierung  nach  Dr.  juris,  23  Jahr  alt,  ein;; 
ziger  Sohn  eines  fehr  reichen  Vaters,  um  fich  hier  in 
Wetzlar  —  das  war  feines  Vaters  Abficht  —  in  Praxi  ums: 
zufehen,  der  feinigen  nach  aber,  den  Homer,  Pindar  usw. 
zu  ftudieren,  und  was  fein  Genie,  feine  Denkungsart  und 
fein  Herz  ihm  weiter  für  Befchäftigungen  eingeben  würden. 

Gleich  anfangs  kündigten  ihn  die  hiefigen  fchönen 
Geifter  als  einen  ihrer  Mitbrüder  und  als  Mitarbeiter  an 
der  neuen  Frankfurter  Gelehrten  Zeitung,  beiläufig  auch 
als  Philofophen  im  Publico  an,  und  gaben  fich  Mühe,  mit 
ihm  in  Verbindung  zu  ftehen.  Da  ich  unter  diefe  Klaffe 
von  Leuten  nicht  gehöre,  oder  vielmehr  im  Publico  nicht 
fo  gänge  bin,  fo  lernte  ich  Goethen  erft  fpäter  und  ganz 
von  ohngefähr  kennen.  Einer  der  vornehmfi:en  unferer 
fchönen  Geifi:er,  Legationsfekretär  Gotter,  beredete  mich 
einft  nach  Garbenheim,  einem  Dorf,  gewöhnlichem  Spa^ 
ziergang,  mit  ihm  zu  gehen.  Dafelbfi:  fand  ich  ihn  im 
Gräfe  unter  einem  Baume  auf  dem  Rücken  liegen,  indem 
er  fich  mit  einigen  Umftehenden,  einem  epikuräifchen 
Philofophen  (v.  Goue,  großes  Genie),  einem  ftoifchen 
Philofophen  (v.  Kielmannsegge)  und  einem  Mitteldinge 
von  beiden  (Dr.  König)  unterhielt  und  ihm  recht  wohl 
war.  Er  hat  fich  nachher  darüber  gefreuet,  daß  ich  ihn 
in  einer  folchen  Stellung  kennen  gelernt.  Es  ward  von 
mancherlei,  zum  Teil  intereffanten  Dingen  gefprochen.  Für 
diefes  Mal  urteilte  ich  aber  nichts  von  ihm,  als:  er  ift 
kein  unbeträchtlicher  Menfch.  Sie  wiffen,  daß  ich  nicht 
eilig  urteile.  Ich  fand  fchon,  daß  er  Genie  hatte  und 
eine  lebhafte  Einbildungskraft;  aber  diefes  war  mir  doch 
noch  nicht  genug,  ihn  hochzufchätzen. 
I 


22 J.  Ch.  Keftner. [32 

Ehe  ich  weitergehe,  muß  ich  eine  Schilderung  von 
ihm  verfuchen,  da  ich  ihn  nachher  genau  kennen  gelernt 
habe.  Er  hat  fehr  viel  Talente,  ilt  ein  wahres  Genie  und 
ein  Menfch  von  Charakter;  befitzt  eine  außerordentlich 
lebhafte  Einbildungskraft,  daher  er  fich  meiftens  in  Bil*: 
dem  und  Gleichniffen  ausdrückt.  Er  pflegt  auch  felbft 
zu  sagen,  daß  er  fich  immer  uneigentlich  ausdrücke,  nie^^ 
mals  eigentlich  ausdrücken  könne:  wenn  er  aber  älter 
werde,  hoffe  er  die  Gedanken  felbft,  wie  fie  wären,  zu 
denken  und  zu  fagen. 

Er  ift  in  allen  feinen  Affekten  heftig,  hat  jedoch  oft 
viel  Gewalt  über  fich.  Seine  Denkungsart  ift  edel,  von 
Vorurteilen  fo  viel  frei,  handelt  er,  wie  es  ihm  einfällt, 
ohne  fich  darum  zu  bekümmern,  ob  es  Andern  gefällt,  ob 
es  Mode  ift,  ob  es  die  Lebensart  erlaubt.  Aller  Zwang  ift 
ihm  verhaßt. 

Er  liebt  die  Kinder  und  kann  fich  mit  ihnen  fehr 
befchäftigen.  Er  ift  bizarre  und  hat  in  feinem  Betragen, 
feinem  Äußerlichen  verfchiedenes,  das  ihn  unangenehm 
machen  könnte.  Aber  bei  Kindern,  bei  Frauenzimmern 
und  vielen  Andern  ift  er  doch  wohl  angefchrieben.  Für 
das  weibliche  Gefchlecht  hat  er  fehr  viele  Hochachtung. 

In  principiis  ift  er  noch  nicht  feft  und  ftrebt  noch  erft 
nach  einem  gewiffen  Syftem.  Um  etwas  davon  zu  fagen,  fo 
hält  er  fehr  viel  von  Rouffeau,  ift  jedoch  nicht  ein  blinder 
Anbeter  von  demfelben.  Er  ift  nicht,  was  man  orthodox 
nennt.  Jedoch  nicht  aus  Stolz  oder  Kaprize  oder  um 
etwas  vorftellen  zu  wollen.  Er  äußert  fich  auch  über  ge^ 
wiffe  Hauptmaterien  gegen  Wenige;  ftört  Andere  nicht 
gern  in  ihren  ruhigen  Vorftellungen. 

Er  haßt  den  Scepticismum,  ftrebt  nach  Wahrheit  und 
nach  Determinierung  über  gewiffe  Hauptmaterien,  glaubt 
auch  fchon  über  die  wichtigften  determiniert  zu  fein;  fo 
viel  ich  aber  gemerkt,  ift  er  es  noch  nicht.  Er  geht  nicht 
in  die  Kirche,  auch  nicht  zum  Abendmahl,  betet  auch 
feiten.     Denn,  fagt  er,  ich  bin  dazu  nicht  genug  Lügner. 

Zuweilen  ift  er  über  gewiffe  Materien  ruhig,  zuweilen 
aber  nichts  weniger,  als  das. 

Vor  der  chriftlichen  Religion  hat  er  Hochachtung, 
nicht  aber  in  der  Geftalt,  wie  fie  unfere  Theologen  vor^^ 
ftellen.  Er  glaubt  ein  künftiges  Leben,  einen  befferen 
Zuftand.  Er  ftrebt  nach  Wahrheit,  hält  jedoch  mehr  vom 
Gefühl  derfelben,  als  von  ihrer  Demonftration. 


33]  Wetzlar  -  Gießen.    1772.  23 

Er  hat  fchon  viel  getan  und  viele  Kenntniffe,  viel 
Lektüre;  aber  doch  noch  mehr  gedacht  und  räfoniert.  Aus 
den  fchönen  Wiffenfchaften  und  Künften  hat  er  fein  Haupts« 
werk  gemacht,  oder  vielmehr  aus  allen  Wiffenfchaften,  nur 
nicht  den  fogenannten  Brotwiffenfchaften. 

[33.]     Augult  15.     J.  Ch.  Keftner. 

Abends  zehn  Uhr  kam  Goethe  und  fand  uns  vor 
der  Türe  fitzen,  feine  Blumen  wurden  gleichgültig  liegen 
gelaffen;  er  empfand  es,  warf  sie  weg;  redete  in  Gleich? 
niffen;  ich  ging  mit  Goethe  noch  nachts  bis  12  Uhr  auf 
der  Gaffe  fpazieren;  merkwürdiges  Gefpräch,  wo  er  voll 
Anmut  war  und  allerhand  Phantafien  hatte,  worüber  wir 
am  Ende,  im  Mondenfcheine  an  eine  Mauer  gelehnt, 
lachten. 

[34.]     Auguft  17.     Nach  L.  J.  F.  Höpfner. 

Eines  Tags  meldete  fich  ein  junger  Mann  in  vernach? 
läffigter  Kleidung  und  mit  linkifcher  Haltung  zum  Besuche 
bei  Höpfner  mit  dem  Vorbringen  an,  er  habe  dringend 
mit  dem  Herrn  Profeffor  etwas  zu  fprechen.  Höpfner, 
obgleich  damit  befchäftigt,  fich  zum  Gang  in  eine  Vors^ 
lefung  vorzubereiten,  nahm  den  jungen  Mann  an.  Die 
ganze  Art  und  Weife,  wie  fich  derfelbe  beim  Eintreten 
und  Platznehmen  anfiellte,  ließ  Höpfner  vermuten,  daß 
er  es  mit  einem  Studenten  zu  tun  habe,  der  fich  in  Geld? 
Verlegenheiten  befinde.  In  diefer  Anficht  wurde  Höpfner 
dadurch  beftärkt,  daß  der  junge  Mann  damit  feine  Unter? 
haltung  anfing,  in  ausführlichfter  Weife  feine  Familien? 
und  Lebensverhältniffe  zu  fchildern,  und  dabei  von  Zeit 
zu  Zeit  durchblicken  ließ,  daß  diefe  nicht  die  glänzend? 
ften  feien.  Gedrängt  durch  die  herannahende  Kollegien? 
ftunde  entfchloß  fich  der  Profeffor  fehr  bald,  dem  jungen 
Mann  ohne  weiteres  eine  Geldunterftützung  zufließen  zu 
laffen  und  damit  zugleich  der  peinlichen  Unterhaltung  ein 
Ende  zu  machen.  Kaum  gab  er  jedoch  diefe  Abficht  da? 
durch  zu  erkennen,  daß  er  nach  dem  Geldbeutel  in  feiner 
Tafche  fuchte,  fo  wendete  der  vermeintliche  Bettelfi:udent 
das  Gefpräch  wiffenfchaftlichen  Fragen  zu  und  entfernte 
fehr  bald  den  Verdacht,  daß  er  gekommen,  um  ein  Geld? 
gefchenk  in  Anfpruch  zu  nehmen.  Sobald  der  junge  Mann 
bemerkte,  daß  der  Herr  Profeffor  eine  andere  Anficht  von 
ihm  gewonnen,  nahm  das  Gefpräch  jedoch  die  alte  Wen? 
1 


24  Höpfner.  [34 

düng,  und  die  Andeutung  des  Studenten,  daß  es  fchließ? 
lieh  doch  auf  das  Verlangen  nach  einer  Unterfiützung  ab? 
gefehen  fei,  wurde  immer  verftändlicher.  Nachdem  Hopf? 
ner  auf  diefe  Weife  ein  und  das  andere  Mal  fich  in  der 
Lage  befunden  hatte,  dem  jungen  Manne  Geld  anzubieten 
und  dann  wieder  davon  abftehen  zu  muffen  glaubte,  ent? 
fernte  fich  der  Student  rafch  und  ließ  den  Herrn  Pro? 
feffor  voll  Zweifel  und  Vermutung  über  diefen  rätfelhaften 
Befuch  zurück. 

Als  Höpfner  am  Abend  desfelben  Tages,  doch  et? 
was  fpäter  wie  gewöhnlich  in  das  Lokal  trat,  wo  fich  die 
Profefforen  der  Univerfität  gefellfchaftlich  zufammenzu? 
finden  pflegten,  fand  er  dafelbft  ein  vollfi:ändiges  Durch? 
einander.  Die  ganz  befonders  zahlreiche  Gefellfchaft  war 
um  einen  einzigen  Tifch  herum  gruppiert,  teils  fitzend, 
teils  fliehend,  ja,  einige  der  gelehrten  Herren  ftanden  auf 
Stühlen  und  fchauten  über  die  Köpfe  ihrer  Kollegen  in 
den  Kreis  der  Verfammelten  hinein,  aus  deffen  Mitte  die 
volle  Stimme  eines  Mannes  hervordrang,  der  mit  begei? 
fterter  Rede  feine  Zuhörer  bezauberte.  Auf  Höpfners  Frage, 
was  da  vorgehe,  wird  ihm  die  Antwort:  Goethe  aus  Wetz? 
lar  fei  fchon  feit  einer  Stunde  hier.  Die  Unterhaltung 
habe  nach  und  nach  fich  fo  geftaltet,  daß  Goethe  faft 
allein  nur  fpräche  und  alle  verwundert  und  begeiftert  ihm 
zuhörten.  —  Höpfner,  voll  Verlangen  den  Dichter  zu  fehen, 
befi:eigt  einen  Stuhl,  fchaut  in  den  Kreis  hinein  und  er? 
blickt  feinen  Bettelftudenten  zu  einem  Götterjüngling  um? 
gewandelt. 

[35.]     Auguft  17.     Nach  L.  J.  F.  Höpfner. 

Ganz  anders  als  in  ,Dichtung  und  Wahrheit'  nahm 
^  fich  (nach  glaubwürdiger  Erzählung)  die  maskierte  Be= 
gegnung  in  Gießen  im  Munde  Höpfners  aus,  wenn  er  fie 
dramatifierte,  die  feltfame  Erfcheinung  des  wunderfchönen 
jungen  Menfchen  mit  den  feuervollen  Augen  und  dem 
unbeholfenen  linkifchen  Anfi:and  befchrieb,  feine  komifchen 
Reden  wiederholte  und  dann  endlich  zur  Explofion  kam, 
wie  der  blöde  Student  auffprang  und  Höpfnern  um  den 
Hals  fiel  mit  den  Worten:  Ich  bin  Goethe!  Verzeihen 
Sie  mir  meine  Poffe,  lieber  Höpfner,  aber  ich  weiß,  daß 
man  bei  der  gewöhnlichen  Art  durch  einen  Dritten  mit? 
einander  bekannt  gemacht  zu  werden,  lange  fich  gegen? 
über  fteif  und  fremd  bleibt  und  da,  dachte  ich,  wollte  ich 


381      Wetzlar  -  Darmstadt.    1772. 25 

in  Ihre  Freundfchaft  lieber  gleich  mit  beiden  Füßen  hins^ 
einfpringen,  und  fo,  hoff'  ich,  foll's  zwifchen  uns  fein 
und  werden  durch  den  Spaß,  den  ich  mir  erlaubt  habe. 

[36.]     Augult  17.     L.  J.  F.  Höpfner  an  R.  E.  Rafpe. 

Mit  Merck  und  Goethe  habe  ich  Viel  vergnügte  Stunden 
gehabt  (Goethe  in  parenthefi  ift  Doctor  juris  in  Franks: 
fürt  und  hat  unter  anderm  Ihres  Freundes  Klotz  Leben 
par  Mons.  Haufen,  auch  den  polnifchen  Juden  in  der  Franko 
furter  Zeitung  rezenfiert).  Schmidt  kam  einft  in  unfere 
Gefellfchaft.  Aber  Himmel,  wie  ging  es  dem  armen  Sünder. 
Feiner,  witziger  und  boshafter  ift  noch  nie  ein  Menfch 
gegeißelt  worden,  als  er. 

[37.]     September  10.     J.  Ch.  Keftner. 

Abends  kam  Dr.  Goethe  nach  dem  Deutfchen  Haufe. 
Er,  Lottchen  und  ich  hatten  ein  merkwürdiges  Gefpräch 
von  dem  Zuftande  nach  diefem  Leben,  vom  Weggehen 
und  Wiederkommen  ufw.,  welches  nicht  er,  fondern  Lott? 
chen  anfing.  Wir  machten  miteinander  aus,  wer  zuerft 
von  uns  ftürbe,  follte,  wenn  er  könnte,  den  Lebenden 
Nachricht  von  dem  Zuftande  jenes  Lebens  geben;  Goethe 
wurde  ganz  niedergefchlagen ;  denn  er  wußte,  daß  er  am 
anderen  Morgen  weggehen  wollte. 

[38.]     Dezember,  Anfang.    Caroline  Flachsland  an  Herder. 

Goethe  ift  noch  hier  und  lehrt  Merck  zeichnen.  Mich 
dünkt,  er  ift  überhaupt  etwas  ftiller  und  geläuterter  worden. 
Er  will  Dich  das  Frühjahr  zu  mir  führen,  wenn  Sie  in 
Frankfurt  bei  ihm  einkehren,  und  hofft  viel  Gutes  von 
Ihrem  Wiederfehen.  Er  fagt,  Du  warft  ihm  nicht  fo  ganz 
gut;  und  er  ift  Ihnen  doch  gut;  das  fehe  und  höre  ich 
mit  Ohren  und  Herz.  Das  Wiederfehen  knüpft  vielleicht 
den  Knoten  auf,  wie  billig!  Er  denkt  noch  ein  Maler  zu 
werden,  und  wir  rieten  ihm  fehr  dazu.  Da  ihm  doch  alle 
Tugenden  fehlten,  fagte  er,  fo  wolle  er  fich  auf  Talente 
legen.  Aus  dem  Kopf  könnte  da  was  werden.  Uns  Mäd^ 
chen  und  Weibern  ift  er  auch  beffer  als  fonft,  und  ift 
uns  herzlich  gut;  aber  überhaupt  lieben  —  dazu  liegt  noch 
zu  viel  Afche  von  feiner  erften  Liebe  in  feinem  Herzen, 
und  das  fcheint  natürlich.  Wir  haben  ihn  hier  alle  lieb. 
Sie  wiffen  doch,  daß  er  mit  Merck  und  Madame  Merck 
im  Mai  in  die  Schweiz  geht? 
I 


26  Caroline  Flachsland.  [39 

[39.]     Dezember,  6./7.     Caroline  Flachsland  an  Herder. 

Goethe  gab  mir  Ihren  Brief;  ich  fagte  ihm  was  von 
Kurland.  Wenn  Sie  als  Kurator  hinkämen,  meinte  er, 
dann  wär's  gut,  aber  als  Profeffor  würde  es  Ihnen  nir? 
gends  gefallen. 

1773. 

[40.]     Oktober  (11).     G.  F.  E.  Frhr.  v.  Schönborn  an  H.  W.  von 
Gerftenberg. 

Gleich  des  Abends  nach  meiner  Ankunft  in  Frank= 
fürt  habe  ich  auch  H.  Goethe,  den  Verfaffer  des  Götz  ge^ 
fprochen,  und  das  ging  fo  zu.  Es  faß  ein  Mann  in  der  Stube 
des  Gafthofs,  wo  ich  logierte,  in  der  Ecke,  der  eine  Pfeif 
Tabak  rauchte.  Der  Wirt  frug  ihn,  ob  er  mit  bei  Tifche  zu 
Abend  effen  wollte.  Er  antwortete:  Nein,  ich  will  es 
mir  auf  meiner  Stube  ausbitten;  Herr  Doktor  Goethe  wird 
bei  mir  diefen  Abend  fein.  Ich  frug  ihn,  ob  er  den 
Doktor  Goethe  meine,  der  neulich  ein  Drama  heraus? 
gegeben?  Er  antwortete:  Ja.  Ich  fagte  ihm,  daß  ich  einen 
Brief  an  ihn  habe  von  H.  Boie  ^^  Diefer  Mann  ift  ein 
junger  Profeffor  juris  in  Gießen,  welches  drei  Meilen  von 
hier  ift;  fein  Name  ift  Höpfner.  Kurz  daraufkam  Goethe 
felbft  und  wir  wurden  gleich  bekannt  und  gleich  Freunde. 
Es  ift  ein  magerer  junger  Mann  ohngefähr  von  meiner 
Größe.  Er  lieht  blaß  aus,  hat  eine  große,  etwas  gebogene 
Nafe,  ein  längliches  Gefichte  und  mittelmäßige  fchwarze 
Augen  und  fchwarzes  Fiaar.  Wir  find  alle  Tage  beifammen. 
Seine  Miene  ift  ernfthaft  und  traurig,  wo  doch  komifche, 
lachende  und  fatirifche  Laune  mit  durchfchimmert.  Er  ift 
fehr  beredt  und  ftrömt  von  Einfällen,  die  fehr  witzig  find. 
In  der  Tat  befitzt  er,  fo  weit  ich  ihn  kenne,  eine  auss^ 
nehmend  anfchauende,  fich  in  die  Gegenftände  durch  und 
durch  hineinfühlende  Dichterkraft,  fo  daß  alles  lokal  und 
individuell  in  feinem  Geifte  wird.  Alles  verwandelt  fich 
gleich  bei  ihm  ins  Dramatifche.  Er  freute  fich  ungemein, 
da  ich  ihm  fagte,  daß  Sie  fehr  mit  feinem  Stück  Götz  von 
Berlichingen  zufrieden  gewefen.  Ihr  und  Klopftocks  Urteil 
habe  er  längft  gern  vernehmen  mögen,  und  es  folle  ihn 
anfeuern,  es  noch  beffer  zu  machen;  denn  er  wiffe  fehr  wohl, 
wie  weit  er  unter  feinem  Ideal  geblieben.  Von  Ihrem 
Ugolino  fagte  er,  daß  er  mit  Götterkraft  gemacht  fei.    Ich 


42]  Frankfurt.     1775. 27 

fagte  ihm,  daß  ich  wünfchte,  zwei  folche  Männer  wie  er 
und  Sie  möchten  fleh  fchrifthch  unterreden.  Er  wünfcht 
es  auch,  und  da  er  erfuhr,  daß  ich  von  hier  aus  an  Sie 
fchrieb,  fagte  er  mir,  er  wolle  ein  paar  Zeilen  mit  beilegen, 
und  da  find  fie.  Er  fcheint  mit  ausnehmender  Leichtigkeit 
zu  arbeiten;  jetzo  arbeitet  er  an  einem  Drama,  Prometheus 
genannt,  wovon  er  mir  zwei  Akte  vorgelefen  hat,  worin 
ganz  vortreffliche,  aus  der  tiefen  Natur  gehobene  Stellen 
find;  (ich  urteile,  wie  es  mir  beim  erftenVorlefen  vorkam). 
Er  zeichnet  und  malet  gut.  Seine  Stube  ift  voller  fchönen 
Abdrücke  der  heften  Antiken.  Das  Von  deutfcher  Bau^ 
kunft  ift  von  ihm.  Er  fagte  mir,  daß  er  Ihnen  noch  mal 
etwas  von  feinen  poetifchen  Sachen  im  Manufkript  zusj 
fchicken  wolle.  Er  will  nach  Italien  gehn,  um  fich  recht 
in  den  Werken  der  Kunft  umzusehen.  Er  ift  ein  furch:; 
terlicher  Feind  von  Wieland  et  Konforten.  Er  las  mir 
ein  paar  Farcen,  die  er  auf  ihn  und  Jacobi  gemacht,  wo 
beide  ihre  volle  Ladung  von  Lächerlichem  bekommen.  Das 
will  er  aber  nicht  drucken  laffen.  Allein  weh  Wielanden, 
wenn  er  fleh  maufig  gegen  ihn  macht. 

[4L]     Oktober  (11).     L  J.  F.  Höpfner  an  R.  E.  Rafpe. 

Als  ich  das  letztemal  bei  dem  Manne  in  Frankfurt 
logierte,  denn  Sie  müssen  wissen,  daß  es  mein  Freund 
ist,  las  er  mir  ein  angefangenes  exzellentes  Ding  vor.  Das 
Unglück  der  Jacobis.  Wenn  es  fertig  ist,  sollen  Sie  es  auch 
haben.  Die  beiden  Jacobi  werden  darin  wacker  gepeitfcht. 
Goethe  und  Merck  fpeien  vor  den  Kerls  aus,  fo  wie  wir. 

[42.]     Oktober.     J.  G.  Schloffer  an  Lavater. 

Ich  freue  mich,  daß  mein  lieber  Goethe  Ihr  Freund 
ist.  Sein  Herz  ist  fo  edel  als  eins.  Wenn  er  einmal  in 
der  Welt  glücklich  wird ,  so  wird  er  Taufende  glücklich 
machen;  und  wird  er's  nie,  fo  wird  er  immer  ein  Meteor 
bleiben,  an  dem  fleh  unfere  Zeitgenoffen  müde  gaffen, 
und  unfere  Kinder  wärmen  werden.  Lieben  Sie  ihn  ferner, 
ich  fage  Ihnen  aber  zum  voraus,  es  gehört  eine  gewiffe 
Stärke  der  Seele  dazu,  fein  Freund  zu  bleiben.  Er  malt 
fchon  lange  —  oder  er  zeichnet  vielmehr  fchon  lang  an 
meinem  Profil.  Er  fagt  aber,  er  könne  mich  nicht  her^ 
ausbringen,  und  noch  kenne  ich  mich  auch  an  keinem 
feiner  Verfuche.  Morgen  werd  ich  ihm  wieder  fitzen, 
vielleicht  gerät's  ihm  beffer. 
I 


28  Johanna  Fahimer.  [43 

[43.]     Dezember.    Johanna  Fahimer. 

A  propos,  das  Väterchen  ifi  nicht  von  Goethe  felbft, 
einer  feiner  lieben  Bekannten  hat  es  gemacht,  und  er  will 
haben,  man  foll  den  Menfchen  nicht  nach  feinen  Schriften 
beurteilen,  denn  felbiger  feie  ein  guter  Junge. 


1774. 

[44].     Januar.    Susanne  v.  Klettenberg  an  F.  K.  L.  Frhr.  v.  Mofer. 

An  einem  ftillen  empfindungsvollen  Abend,  wo  der 
Mond,  Jupiter  und  die  prächtige  Venus  in  namenlofer 
Majeftät  am  Firmament  funkeln  und  mir  Jehovah  mit  ftar^ 
ker  Stimme  in  mein  fchmelzendes  Herz  rufen,  überlefe 
ich  einmal  wieder  Ihre  beiden  letzten  Briefe,  mein  teuerfter 
Freund  ^^  Beinahe  zwei  Monate  hernach  hätte  Dr.  Goethe 
gerne  feinem  Fr.  M.*  das  bewußte  Päckchen  durch  die 
Luft  gefendet  (es  waren  Angelegenheiten  eines  jungen 
Autors)  feine  inquietudes  lächern  mich.  Lächelnd,  ohne 
Gedanke,  fage  ich :  Soll  ich  Herrn  Präßdent  v.  Mofer  bitten, 
daß  er  es  mitnimmt.  —  O !  wenn  Sie  die  Gnad  wollen  haben. 
Nun  war  ich  ertappt.  Zurückziehen  wollte  ich  nicht  — 
zum  Tun  hatte  ich  keine  Courage,  ich  brach  vor  der  Hand 
ab  —  in  der  Stille  fagte  ich  alles  dem  Heiland  und  machte 
es  mit  ihm  aus,  wenn  das  Wort  von  mir  eine  Übereilung 
gewefen,  fo  foUte  er  es  diefen  Jüngling  vergeffen  laffen, 
ich  wollte  forgfältig  alles  vermeiden,  was  ihn  daran  er^ 
innern  könnte.  Das  tue  ich  und  der  junge  Menfch  ift 
in  feinem  Teil  auch  fo  ftille,  daß  ich  es  für  vergeffen 
hielte  —  ich  wußte,  daß  Sie  bald  abreifen  würden,  ich 
dachte,  Goethe,  Du  kommft  hinten  nach.  Schnell  kommt 
er  an  einem  Abend  wie  ein  Feind  gelaufen:  Herr  v.  M. 
geht  in  wenig  Tagen  ab,  hier  ift  das  Päckchen,  haben  Sie 
die  Gnade,  es  zu  beforgenl  und  fo  läuft  er  wieder  weg. 

[45.]     Februar.     Merck. 

Goethe  ne  fera  plus  le  voyage  de  la  Suisse.  Le  grand 
succes  que  son  drame  a  eu,  lui  a  tourne  un  peu  la  tete. 
II  se  detache  de  tous  ses  amis  et  n'existe  que  dans  les 
compositions,  qu'il  prepare  pour  le  public.  II  doit  reussir 


*  Gemeint  ift  wohl  Merck. 


48]  Frankfurt.    1774.     29 

dans  tout  ce  qu'il  entreprend  et  je  prevois  qu'un  roman, 
qui  paraitra  de  lui  ä  päques,  sera  aussi  bien  re^u  que  son 
drame.  A  cöte  de  cela  il  a  la  petite  Mme  Brentano  ä  con^s 
soler  sur  l'odeur  de  l'huile,  du  fromage  et  des  manieres 
de  son  mari. 

[46.]     April  9.     J.  J.  Björnsthäl. 

Nachmittags  waren  wir  bei  Herrn  Dr.  jur.  Goethe, 
einem  höchst  zuvorkommenden  Manne,  der  uns  nach  dem 
Gymnasium  geleitete,  deffen  Rektor  Herr  Purman  ift. 
Später  befahen  wir  die  Stadtbibliothek,  die  durch  Herrn 
Lichtenftein  geleitet  wird,  der  in  allen  für  einen  Biblioj; 
thekar  erforderlichen  Dingen  wohlbewandert  ift. 

[47.]     April  13.     Derfelbe. 

Wir  waren  in  der  Bibliothek  ^^  Die  Bibliothek  ift  nur 
am  Mittwoch  und  Sonnabend  geöffnet.  Aber  Herr  Lichten^ 
ftein  befaß  die  Liebenswürdigkeit,  fie  heute  nachmittag  auf 
Goethes  Veranlagung  (ür  uns  befonders  offen  zu  halten,  das: 
mit  wir  die  kurze  Zeit  ausnützen  könnten. 

[48.]     Mai,  Anfang.     Johanna  Fahimer. 

Goethe.     Tante. 

Die  Tante  Fahimer  fitzt  vor  ihrem  Klavier,  fpielt  aber 
nicht  mehr  darauf,  fondern  lieft  in  Mad.  du  Boccage. 
Goethe  kömmt  geftiefelt  und  in  einem  englifchen  Überrock. 
Noch  auf  der  oberften  Stubentreppe  ftehend  und  eines 
feiner  geftiefelten  Beine  hervorftreckend : 

Goethe.  Tante  1  Da  komme  ich  '^  Ja,  geftiefelt  und 
eingemummelt.     Das  ift  die  Variation. 

Tante.  Aber  Sie  riechen  doch  als  wie  in  Ambrofia 
getaucht. 

Goethe.  Ich  komme  vom  Dechant  Dumeix.  —  Aber 
was  machen  denn  Sie,  Hebe  Tante? 

Tante.   Da,  mit  Mad.  du  Boccage  unterhalt'  ich  mich 
ganz  gut.     Wie  gefällt  Ihnen  dies  hier?* 
.    Goethe.    O  —  gut!  gut!    Ift  recht  gut! 


Aretins  Grabfchrift: 

L'Aretin  repose  en  ce  lieu, 

De  chacun  il  fit  la  satire, 

Mais  ne  connaissant  point  de  Dieu, 

De  Dieu  seul  il  ne  peut  medire. 


30  Johanna  Fahimer.  [48 

Tante.  Wiffen  Sie?  Sie  haben  mir's  lange  gemacht, 
bis  Sie  wieder  herangekommen  find.  Ich  habe  etwas  be:; 
kommen,  das  für  Sie  zu  allererfi  mit  zum  Genuß  foll 
fein,  aber  mit  der  Zeit  —  o,  dann  kömmt's  zum  General? 
traktement  für  das  Publikum  .... 

(Wir  gingen  miteinander  in  der  Stube  auf  und  ab. 
Des  kleinen  George  Jacobi  Kribbelkrabbel^Briefchen  lag 
auf  meinem  Tifche.) 

Tante.    Da  lefen  Sie  vom  kleinen  George. 

(Goethe  lieft.  Unterdeffen  holt  die  Tante  ihre  Arbeit 
und  die  Blätter  vom  Merkur  und  fetzt  fich  an  ihren 
Schreibtifch,  Goethe  gegenüber.) 

Tante.    Sehen  Sie  hier!     Nun  was  habe  ich? 

Goethe.  Was  ift's?  Was  ift's,  lieb  Täntchen?  laffen 
Sie  fehen. 

Tante.  Es  ift,  worauf  Sie  fich  bei  Bölling  wenn's  ans: 
käme,  als  auf  ein  herrliches  Traktement  zu  Gaft  geladen 
haben.    Aber  ich  habe  noch  mehr. 

(Tante  hält  ihm  die  Rezenfion  über  Götz  von  Ber? 
lichingen  vor  die  Augen  und  gibt  ihm  die  Blätter  zm^ 
fammen.) 

Goethe  (nach  einigem  Lefen).  Nu,  Wieland,  Du 
bift  ein  braver  Kerl!  Ein  ganzer  Kerl!  Was?  fängt  er's 
fo  an?  O,  gut!  Nun,  Sie  wiffen,  Tante,  was  ich  immer 
von  Wieland  gefagt  habe  —  ob  ich  ihm  nicht  immer  gut 
war?  Ich  habe  allezeit  gefagt,  es  ift  ein  ganzer  Kerl,  ein 
guter  Menfch.  Aber  ich  bin  gegen  ihn  aufgebracht  wor^^ 
den.  Den  verfluchten  Dreck,  Götter,  Helden  und  Wie= 
land,  fchrieb  ich  in  der  Trunkenheit.  Ich  war  trunken. 
Und,  wie  ich  Ihnen  gefagt  habe,  in  Ewigkeit  hätte  ich's 
nicht  felber  in  Druck  gegeben;  aber  ich  hatte  es  nicht 
mehr  allein  in  Händen.  Und  ich  bin  wie  der  Herodes; 
in  gewiffen  Augenblicken  kann  man  alles  von  mir  erhalten. 
Schon  lange  haben  mir  die  Kerls  vorgefchwätzt :  Laß's 
drucken!  laß  's  drucken!  —  Nä,  ihr  follt  nicht!  —  Da 
kommen  Sie  mir  aber  aufs  neu:  O  mein!  laß  es  uns 
drucken!  Und  ich  hatte,  Gott  weiß!  weder  neue  Bosheit 
noch  Ärger  gegen  W.  —  Nun,  fo  druckt's  und  fcKert 
euch!  —  Da,  da!  (mit  dem  Finger  auf  das  Blatt  deutend) 
das  ift  juft,  was  mich  an  W.  fo  ärgerte  und  mich  reizte, 
mich  gegen  ihn  auszulaffen.  Da  der  Ton.  Sehen  Sie,  liebe 
Tante;  ich  will's  nicht  fagen,  ich  felbft  hab'  recht,  W.  hat 
unrecht.  Denn  Alter,  Zeitpunkte,  alles  macht  Verfchiedens^ 


48]  Frankfurt.    1774.  31 

heit  in  der  Art  zu  fehen  und  zu  empfinden.  Jetzt  denk' 
ich  nur  fo  und  fo;  vielleicht  in  dem  Alter  von  W.  — 
wer  weiß,  noch  eher?  —  denke  ich  juft  fo  wie  er.  Drum, 
was  foll  ich  fagen?  Hat  er  nun  recht?  Oder  hab'  ich 
nun  recht?  Der  Eindruck,  den  man  itzt  felbft  hat,  gilt. 
W.  hat  recht,  daß  er  fo  urteilt,  aber  mich  ärgert's  nun 
noch.  —  Mit  der  Zeit!  Mit  der  Zeitl  Ja,  das  ift's!  das 
ift'sl  Juft,  juft  fo  fpricht  mein  Vater;  die  nämliche  Händel, 
die  ich  mit  diefem  in  politifchen  Sachen  habe,  hab'  ich 
mit  W.  in  diefen  Punkten.  Der  Vater^Tonl  der  ift's  juft, 
der  mich  aufgebracht  hat.  —  Sagen  Sie  mir  um  Gottes? 
willen,  warum  er  lieh  juft  an  feine  allerfchlechtefte  Arbeit 
machte  und  mit  den  ewigen  Briefen  fie  verteidigte?  Sein 
Mufarion,  ein  Werk,  wovon  ich  jedes  Blatt  auswendig 
lernte,  das  allervortrefflichste  Ganze,  das  je  erfchienen  ift 
—  nichts,  nichts  nimmt  er  fich  an,  als  der  Alcefte,  die  für 
mich  jetzt  das  schlechtefte  von  allen  feinen  Werken  ift.  — 
Ich  muß  weiter  lefen.  —  Ganz  brav!  Ganz  brav!  Nun  Wie;: 
land,  unfere  Fehde  ift  aus;  dir  kann  ich  nichts  mehr  tun. 
Das  garftige  Fratzenzeug  hat  er  fchon  gelefen,  das  feh'  ich. 

Tante.  Ja  freilich!  Kommen  Sie,  lefen  Sie;  das  hier 
ift  die  Antwort  darauf. 

Er  wurde  rot.    Ich  fah,  daß  es  ihn  erfchütterte. 

Goethe.  Beffer  hätt'  er's  nicht  machen  können. 
Sehr  gut!  Ich  fag's  ja,  nun  muß  ich  ihn  auf  immer  gehen 
laffen.  W.  gewinnt  viel  bei  dem  Publico  dadurch,  und 
ich  verliere.     Ich  bin  eben  proftituiert. 

(Tante  lachte  herzlich.) 

Nun  wieder  an  den  Anfang  der  Rezenfion.  Die  Ver? 
gleichung  mit  dem  jungen  Füllen  ufw.  Durchgefchnattert 
und  dabei  vielmal  ausgerufen:  Es  ift  wahr!  er  hat  recht! 
ganz  exzellent!  —  Weiter  gelefen.  —  Gut!  Meinen  Weis? 
lingen  beurteilt  er,  wie  ich  ihn  will  gelefen  haben.  —  Gut! 
Beffer  als  W.  verfteht  mich  doch  keiner.  —  An  der  Stelle, 
wo  er  wegen  der  Vermifchung  der  Sprachen  in  verfchie? 
denen  Jahrhunderten  getadelt  wird,  fagte  er:  Auch  recht! 
auch  gut!  Aber,  wer  Teufel  anders,  als  ein  W.,  Leffing, 
kann  mich  hierinnen  beurteilen?  Freilich  hat  er  ganz  recht. 
Ich  hab's  felber  genug  gefühlt  ufw.  Die  Folge  meiner 
Werke  foll's  zeigen,  ob  ich  meine  Fehler  kannte. 

Tante.   Haben  Sie,  feit  ich  zu  Düffeldorf  war,  nicht 
fonft  noch  etwas  Hübfehes  im  Genre  des  Göttergefprächs 
komponiert? 
I 


32  Elifabeth  Goethe.  [49 

Goethe.  Nichts,  Hebe  Tante.  Den  Satyros  —  nun, 
der  war  fchon  vor  Ihrer  Abreife  fertig. 

Tante.  Gar  nichts?  Ein  dergleichen  freundfchaft? 
Uches  Drama.  (Sie  guckte  ihm  gerade  in  die  Augen.)  Sie 
find  aufrichtig,  Goethe]    Darum  muffen  Sie  mir's  geftehen. 

Goethe.  Das  will  ich.  Ja,  liebe  Tante,  fragen 
Sie  nur! 

Tante.     Das  Unglück  der  Jacobi? 

Goethe.  Ja,  das  ifiwahr.  Aber  fchon  lange,  ehe  ich 
fie  noch  alle  kannte;  es  war  bloß  auf  Anekdoten,  auf  Wisch? 
wafchereien  gebaut,  alles  von  Hörenfagen.  Ihr  alle  feid 
lächerlich  mitgefpielt.  Sie  auch,  Tante  1  Niemand  als  die 
La  Roche,  Merck  und  der  Dechant  haben's  gelefen;  und 
niemand  mehr  in  der  Welt  foll  es  auch  zu  hören  und  zu 
fehen  bekommen;  es  foll  nie  wieder  an  das  Licht  riechen. 
Es  ift  auch  nicht  einmal  ausgemacht  —  gilt  nicht  mehr. 

Tante.    Aber  ich  doch  muß  es  hören? 

Goethe.  Liebe  Tante,  das  kann  unmöglich  fein. 
Verlangen  Sie  es  nicht  1 

Nach  Hin:;  und  Widerreden  wurde  es  klar,  wer  der 
Held  darin  fei  und  was  den  Anlaß  dazu  gegeben  hatte. 
Es  wurde  gleich  nachher,  als  G.  und  Merck  von  Koblenz 
zurückkamen,  gefchrieben  ^^  Wir  hatten  großen  Spaß 
und  Gelächter  über  das  Ding,  wie  und  wohin  er  mich 
fchief  und  übereck  geftellt  hätte  u.  dergl. 

[49.]     (Mai)    Elifabeth  Goethe. 

Der  Menfch  wird  begraben  in  geweihter  Erd,  fo  foll 
man  auch  große  und  feltene  Begebenheiten  begraben  in 
einen  fchönen  Sarg  der  Erinnerung,  an  den  ein  jeder  hin? 
treten  kann  und  deffen  Andenken  feiern.  Das  hat  der 
Wolfgang   gefagt,   wie  er   den  Wertber   gefchrieben  hat. 

[50.]     Juni  23.     J.  C.  Lavater. 

Zu  Goethe,  allein  in  feinem  Zimmer,  mit  Schneider 
von  Darmftadt,  zu  Nacht.  Bift's?  —  Ich  bin'sl  unaus? 
fprechlich  füßer,  unbefchreiblicher  Antritt  des  Schauens  — 
fehr  ähnlich  und  unähnlich  der  Erwartung.  Von  taufend 
Dingen.  Einigemal  fchreckliche  —  Phyfiognomie.  Porträt.  — 
Briefe  von  Haus  noch  einmal  durchlefen.  Von  der  Frau? 
lein  V.  Klettenberg  —  ach!  wie  viel  hundert  Sachen  habe 
ich  vergeffen,  die  er  mir  mit  der  Miene  des  fich  fühlen? 
den  Genius  fagte.    Noch  wünfchten  mir  fein  Vater  und 


Frankfurt.     1774.  33 


Mutter,  eine  trefflich  natürliche  Frau,  eine  gute  Nacht. 
Herzliche  Umarmung!  alles  Geift  und  Wahrheit,  was  er 
fagte,  ich  nicht  mehr  weiß. 

[51].     Juni  24.     Lavater. 

Ich  packt  aus;  zeigte  Zeichnungen  Goethe  ^  Vor 
und  bei    dem  Mittageffen  viel   von  Herder.     Goethe  las 

—  und  gelefen,  gelefen  —  man  hätte  fich  verfchworen  — 
er  fprach  eben  dies  das  eritemal  im  Feuer  mit  mir.  Nach 
dem  Effen  in  feiner  Bilderkammer.  Da  ein  guter  redlicher 
Glettwein,  der  ihm  aufräumen  will,  und  mir  wünfchte, 
daß  ich  mich  aus  meinen  Wirbeln  herauswinden,  und 
ruhiger  leben  könnte.  —  Prächtige  Malereien  feines  Vaters. 

Den  Abend,  wo  alles,  weiß  ich  nicht  mehr.  —  Bei 
Kraft  —  ein  ehrlicher  Theolog  von  Chriftus  —  Joh.  XVII, 
den  neuern.  Goethe  mit  da  —  fprach  wenig  —  ftimmte 
bisweilen  in  wichtigen  Dingen  herzlich  mit  ein. 

Eine  Weile  bei  Klettenberg  allein  und  mit  Goethe. 
Ein  herrlicher  Abend,  von  Gebeterhörungen:  Friede  im 
Krieg,  wenn  ihr  ftille  werdet,  fo  wird  euch  geholfen,  fagte 
Goethe,  in  einem  recht  brüderlichen  Ton.    Vom  Predigen. 

—  Man  kann  nicht  immer  empfinden.  Ich  fordre,  fagten 
beide,  zu  viel.  Nachher  fpazierten  wir  —  vom  Chriften^s 
tum:  Die  einzig  mögliche,  wahre,  menfchliche  Religion! 

Nach  Haufe  zu  Tifch  —  und  bei  Tifch  meift  Zeich;: 
nungen  befehen.  Goethe  las  mir  noch  nach  dem  Nachts 
effen  aus  Werthers  Leiden,  eine  Sentimentals^Gefchichte  in 
Briefen,  vor.  —  O  Szenen— voll,  voll  wahrer,  wahrefter 
Menfchennatur  —  ein  unbefchreiblich  naives  wahres  Ding.  ^^ 

Frau  Rat  Goethe  dankte  mir  für  die  Jonaspredigten, 
befonders  für  die  Schiffgefährten  Jonas.  Goethe  ift  auch 
mit  diefen  gut,  mit  der  von  der  üblen  Laune  am  heften 
zufrieden.    ~ 

Von  Hamann  —  alles,  was  man  fich  Originelles  denken 
kann,  von  unbetrüglich  feftem  Wahrheitgefühl.  Einmal 
fagte  er  zu  Mercken:  Daß  doch  Herder  nicht  deuthch, 
nicht  fimpel  fchreiben  kann,  wenn  er  doch  fo  ganz  uns: 
gekünftelt  fchrieb;  er  war'  ein  trefflicher  Mann,  wenn  er 
doch  nur  fo  plan,   fo  heiter  fchriebe  wie  ich. 

[52.]     Juni  26.     Lavater. 

Goethe  von  Bockenheim.  Spinofa  ^  V4  nach  7  Uhr 
ward  ich  von  Herrn  Paffavant,  Vater  und  Sohn,  in  ihrer 
I  3 


34  Lavater.  [55 

Kutfche  nach  Bockenheim  abgehoh.  Goethe  mit,  fchöner 
Tag  und  Weg.  Wohl  50  bis  60  Kutfchen  und  viele  Fuß^ 
ganger  dahin.  Orgeigefang,  erhebende  Predigt  von  Herrn 
Hilgenbach  —  über  den  Gehorfam  gegen  die  Obrigkeit. 
Nach  der  Predigt  befahen  wir  die  franzöfifche  Kirche, 
simpel  und  zierlich,  ihr  Haus.  Spazierten  in  General  Bauers 
Landgut,  unfer  etwa  24.  kühlten  uns  auf  einer  Altane, 
zu  der  man  durch  einen  kurzen,  bis  zur  Begeifterung  an^ 
genehmen  Irrweg  geht.  —  Goethe  zeichnete  gefchwind  und 
mit  viel  Fertigkeit  den  Plan  zu  einem  Irrgarten.  Im  deut? 
fchen  Haufe  aßen  wir,  unfer  etwa  18.  Goethe,  Deinet, 
Bernus,  der  uns  traktierte,  Kandidat  Hartmann,  Paffavant 
Vater  und  Sohn  u.  f  f.,  von  Mofer,  von  Crügot  — Spalding, 
ich  viel  gutes  -^  von  Gottfched,  ward  zuletzt  herabgefetzt 
über  die  Geographie  zu  lefen.  Von  Geliert  und  Mofer, 
von  der  häuslichen  Tugend  fogenannter  großerMänner. 
—  Goethe:  Sobald  man  in  Gefellfchaft,  nimmt  man  vom 
Herzen  den  Schlüffel  ab,  und  fteckt  ihn  in  die  Tafche; 
die,  welche  ihn  ftecken  laffen,  find  Dummköpfe.  ^ 

Abend.  —  Goethe  und  ich  zu  Cordata,  die  meiner 
Frau  ein  Prefent  gemacht  hatte.  —  Von  den  heutigen  Pre^ 
digten.  Von  dem  vormaligen  Frefenius.  Sobald  er  Beifall 
erhielt  —  weg  war  der  Geifi  und  Segen.  —  Stiller  Genuß 
in  fich  felbft,  das  befte. 

Goethe  machte  an  dem  Plan  des  Irrgartens.  Nach 
Haufe.  G  (?)  aß  mit  uns.  Von  Wieland  und  Jacobi.  Das 
Weimarfche  Schloß  brennte  beim  hellen  Mittag  ab.  Ein=: 
fluß  auf  W.  Schickfal.  Goethe  las  noch  eine  gedruckte 
Brofchüre  —  voll  enigmatifcher  Weisheit  und  Narrheit  — 
der  höhere  Ruf    Über  Hartmann  gefprochen. 

[53.]     Juni  27.     Lavater. 

Bei  dem  Mittageffen  durchfahen  wir  die  Chodowiecki? 
fchen  Zeichnungen;  und  Goethe  rezitierte  auswendig  mit 
der  natürlichften ,  kräftigfien  Deklamation  Satire  auf  ver? 
fchiedne.     Ein  Genie  ohne  feinesgleichen. 

Ich  durchging  mit  Goethe  die  PhyfiognomifchenKupfer? 
tafeln,  gab  ihm  den  Anfang  meines  Menfchen^Gedichts 
zu  lefen.  Wir  befahen  feine  Gipsbilder.  Er  fuchte  die 
Satiren  und  fand  fie  nicht. 

^  ob  dem  Nachteffen  lafen  wir  in  Salis  Memorialien, 
ein  Rat  Schneider  (Oncle  Tobias  im  Shandy)  faß  bei  uns. 
Wir  befahen  nachmals  Chodowieckis  Zeichnungen;  waren 


54]  Von  Frankfurt  nach  Ems.    1774.  35 

herzgut,  ungeniert,  vertrauhch  beieinander.  Goethe  war 
den  Abend  mit  Schmoll,  der  Rat  Goethe  Porträt  heute 
kenntlich  gezeichnet  hatte,  fpazieren  gefahren,  aufm  Main 
in  Sandhof,  wo  fie  nach  Frankfurter  Manier  —  einen  Teller 
voll  Krebfe  miteinander  aßen;  war  aber  Schmoll  nicht  wohl. 
Wir  fprachen  noch  von  der  Chimie.  Goethe  hat  merks; 
würdige  Verfuche,  ganz  eigne,  ganz  neuere  Chimie,  wie  .  .  . 
wo  alles  fo  honett  und  anftändig  gemacht  wird  —  will  recht 
darhinter,  und  hinters  Zeichnen,  wird  gewiß  in  beiden  exzel? 
lieren,  denn  er  exzelliert  in  allem.  Von  dem  allgemeinen 
Verfall  in  allen  Wiffenfchaften ;  der  Decke  ob  aller  Augen. 

[54]     Juni  28.     Lavater. 

Ich  erwachte  um  3  Uhr;  fanft  fchöner  Morgen;  Vögeln 
jauchzen;  ftand  gleich  auf,  räumte  zufammen,  und  holte 
etwas  vom  geftrigen  Tagebuch  nach.  Herzlich  kam  mich 
Goethe  zu  umarmen  und  mir  einen  guten  Morgen  zu 
wünfchen.    Korrefpondenz. 

Um  ^/o5  Uhr  fetzten  wir  uns  ein,  und  fuhren  durch 
die  fanft  von  der  Morgenfonne  erleuchte,  noch  ftille, 
größtenteils  fchlummernde  Stadt,  —  über  prächtige  Felder  — 
wir  befürchteten  ein  fchreckliches  Gewitter.  Aber  es  ging 
uns  vorüber.  Ein  prächtiges  Gebäude,  das  einem  Bolongaro 
gehört,  an  dem  eben  gebaut  war,  frappierte  uns.  Es  regnete 
eine  kleine  Weile.  Goethe  erzählte  mir  viel  von  Spinofa 
und  feinen  Schriften.  Er  behauptet,  keiner  hätte  fich  über 
die  Gottheit  dem  Heiland  fo  ähnlich  ausgedrückt  wie  er. 
Alle  neuern  Deiften  haben  übrigens  nur  ihn  ausfpoliert. 
Er  fei  ein  äußerft  gerechter,  aufrichtiger  armer  Mann  ges: 
wefen.  Homo  temperatiffimus.  Er  fei  in  großem  Anfehen 
geftanden,  die  größten  Männer  haben  ihn  zu  den  wich^ 
tigften  Beratfchlagungen  und  Kalkulationen  gebraucht,  ihn 
wegen  feiner  ausnehmenden  Klugheit  und  Treu  herzlich 
geliebt.  Er  habe  die  Prophezeiungen  beftritten,  und  fei 
lelbft  ein  Prophet  gewefen.  Er  habe  die  unwahrfchein? 
lichften  Staatsverändrungen  vorhergefagt.  Seine  Hausleute 
hab'  er  nach  der  Predigt  von  dem  Inhalt  derfelben  gefragt. 
Sie  vermahnet  die  Kirche  zu  befuchen  und  dem  nachzu? 
kommen,  was  da  gepredigt  würde.  Auf  eine  große  Erb:= 
fchaft,  die  ihm  gehörte  und  die  man  ihm  ftreitig  machen 
wollte,  hab'  er  um  des  Friedens  willen  Verzicht  getan 
und  (ich  nur  feines  Vaters  Schlafbett  ausgebeten.  Er  fei 
fehr  arm  gewefen,  und  habe  lieh  mit  Glasfchleifen  kümmere 


36  Lavater.  [54 

lieh  erhalten  können.  Sein  Briefwechfel  fei  das  intereffantefte 
Buch,  was  man  in  der  Welt  von  Aufrichtigkeit,  Menfchen^ 
liebe  lefen  könne. 

Wir  ftiegen  (wo,  weiß  ich  nicht  mehr)  aus  und  faßen 
unter  einem  Baum  —  Goethe  ein  Glas  Wein,  ich  Himbeere 
effig,  fchrieb  ein  Billettchen.  Er  auf  die  andre  Seite.  Wie:: 
der  fort.  Von  feinem  Julius  Cäfar,  einem  neuen  weit^ 
läufigen  Drama.  Von  der  Zerftörung  und  Einäfcherung  der 
Stadt  Oppenheim  und  Worms  unter  Ludwig  dem  XIV.  — 
Man  fagte  es  den  Einwohnern  vorher,  auf  den  und  den 
beftimmten  Tag  werde  man  die  Stadt  an  allen  vier  Ecken 
anftecken,  fie  können  ausziehen  und  mit  fich  nehmen,  was 
lie  wollen.  Sie  fandten  an  den  kommandierenden  General 
erft  alle  Greifen,  dann  alle  Witwen  und  Waifen  —  dann 
alle  kleinen  Kinder,  Schwangere,  Säugende  —  alle  auf  den 
Knien  baten  mit  Tränen  um  Gottes  willen  um  Schonung. 
Der  General  weinte  mit  ihnen,  aber  er  muß  es  tun.  — 
Sie  zogen  alfo  mit  ihrer  Habe  aufs  Feld  und  fahn  die 
Flammen,  in  denen  die  Stadt  aufging!  O  Gerichtstag! 
Gerichtstag! 

Vor  1 1  Uhr  langten  wir  in  Wiesbaden,  einer  Bad? 
ftadt  an,  befahen  die  heißen  Bäder,  voll  troftloser  Me? 
lancholei  <^  Aß  neben  Goethe  zu  Mittag.  Hufaren  und  Offi? 
ziers,  und  ein  dummer  Pfaff  waren  da;  Eine  fanfte,  junge 
knechtifche  Phyfiognomie  eines  Judenfohns,  der  neben 
dem  Tifch  feil  hatte,  frappierte  uns.  Goethe  fprach  von 
einigen  feiner  Dramen. 

Nach  dem  Effen  Erdbeeren  miteinander.  Von  der 
Phyfiognomie  eines  jüdifchen  Tafchenfpielers ,  der  mich 
lernen  wollte.  ^  Sprach  mit  Goethe  am  Fenfter  von  der 
Auferftehung  Chrifti. 

Um  2  Uhr  reiften  wir  ab.  ^  Goethe  rezitierte  viel 
von  feinem  ewigen  Juden.  Ein  feltfames  Ding  in  Knittel? 
verfen. 

Um  ^1^6  Uhr  langten  wir  nach  einigen  harten  Stößen 
den  Berg  hinab  —  im  ftillen  berühmten  Schwalbach  an; 
Wirtshaus  an  Wirtshaus.  ^  Wir  ftiegen  beim  weißen  Roß 
ab,  ein  ordentlich  Quartier.  ^  Goethe  fing  ein  Briefchen 
an  meine  Frau  an  —  ich  vollendets.  Nachher  gingen  wir 
fpazieren  an  der  breiten,  doppelten,  übereinanderftehen? 
den  Allee.  Herrlich  angenehm.  Trafen  wenige  Perfonen 
an.  Gingen  zum  Brunnen,  der  mit  roten  Steinen  eingefaßt, 
in  einer  Vertiefung,  in  zwon  gevierten  Aushöhlungen  aufs 


56]  Von  Frankfurt  nach  Ems.    1774.  37 

quoll.  Wir  verfuchten  das  Waffer.  Stark,  vitriolifch.  Goethe 
rezitierte  uns  eine  Romanze  aus  dem  Schottifchen.  Ein 
elender  Mann  offerierte  uns  Büchelchen.  '^  Goethe,  Schmoll 
und  ich  aßen  allein  zu  Nacht.  Ich  las  im  Werther.  Noch 
erzählte  mir  Goethe  den  ganzen  Inhalt  der  homerifchen 
iHade,  las  mir  aus  der  lateinifchen  Überfetzung  einige 
Stellen  vor. 

Von  meinem  Gedichte.  Die  Art  wolle  ihm  noch  nicht 
recht  in  Kopf.  Doch  gab  er  nach  —  da  ich  die  Idee  näher 
beftimmte. 

[55.]     Juni  29.     Lavater. 

V2  6  Uhr  ab  <^  Goethe  von  feinem  Julius  Cäfar  — 
rezitierte  ganze  Stellen  aus  Voltaire.  —  — 

Um  ^/g  12  Uhr  zu  Naffau  an  <^  Befuchten  fogleich 
die  Frau  Baron  von  Stein  ^  Von  den  reifenden  Schweden. 
Von  Salzmanns  Vater.  Von  Ems  und  la  Roche.  Sie  lud 
uns  zum  Mittageffen,  wir  gingen  ins  Wirtshaus,  aßen  da. 
Sie  ließ  uns  nochmals  einladen,  aber  wir  blieben,  weil  wir 
fortwollten.  Um  ^/o  5  Uhr  langten  wir  zu  Ems  an.  ^  Wir 
nahmen  unfer  Quartier  im  Naffauer  Haufe  Nr.  48.  49.  ^^ 
Wir  packten  aus,  ich  fchrieb  ein  paar  Billets  auf  Zürich, 
Goethe  mit. 

Nachher  ging  ich  mit  ihm  in  den  Spielfaal  «^  Ich 
kam  in  unteren  Saal,  wo  viele  vornehme  Herren  und 
Frauen  fpeifeten,  neben  Kanzleidirektor  Fifcher  und  Goethe 
zu  fitzen.  Unter  anderm  urteilte  Herr  Fifcher  über  Götter, 
Helden  und  Wieland.  —  Konnte  mich  Goethes  wegen  des 
Lachens  kaum  enthalten.  —  Von  Wieland,  Geßner,  Ifelin. 
Goethe  fagte,  daß  er  nach  feiner  Rückreife  auf  Frankfurt 
ein  —  kurzes  Drama  verfertigen  wolle.  —  Ich  fragte  meinen 
Nachbar  vom  Götz  vom  Berlichingen.  Er  wollte  nicht  viel 
daraus  machen  und  verwunderte  fich  fehr,  daß  ich  ihn 
bewunderte. 

[56.]     Juli  15.     Lavater. 

Nach  dem  Bade  Goethe  da. von  Baledow  und 

der  Reife  ~  zum  Effen  neben  Goethe.  Von  Herder  ^^ 
von  Leuten  in  Schwalbach,  ihrem  Urteil  über  mich;  feinem 
ewigen  Juden.  Bafedows  Einfalt  und  Stärke.  Paffavant. 
Herrlichs  Briefchen  von  Lenze  an  Goethenufw.  ^^  Goethe 
gab  mir  ein  griechilch  Teftamentchen.  ~  Ich  ging  zu 
Meyern,  bei  dem  Goethe  war.  ^ 
I 


38  Lavater.  [57 

Ob  dem  Nachteffen  von  dem  Verfaffer  des  Lebens 
Jefu  —  Goethe  neben  mir.  ^^  Goethe  machte  noch  ein  paar 
Silhouetten.  Graf  Oftein  bat  um  meine.  Ich  ging  heim 
zu  Bafedow  und  Wieb,  fo  wahr  ich  lebe,  wider  des  nach^ 
kommenden  Goethes  Rat  wieder  bis  Nacht  um  1  Uhr  bei 
ihm  ^  Gal.  III  lafen  wir  in  Goethes  Gegenwart. 

[57.]     Juli  16.     Lavater. 

Goethe  kam  —  klagte  ihm  —  ich  ging  nicht  hinab  zum 
Nachteffen  ^  aß  mit  Goethe  auf  meinem  Zimmer  zu  Nacht. 
Clavigo,  der  Hauptfache  nach,  ohne  den  Tod,  eine  wahre 
Gefchichte;  und  fogar  die  Namen  der  Perfonen  wahre 
Namen.  —  Er  gab  mir  viele  herrliche  Lehren  von  der  Kollek? 
tion  meiner  Kräfte.  Ich  verfchwende  fie,  und  klage  immer 
über  Mangel.  —  Beim  1.  Teil  Tagebuch  fähe  er  einen 
Menfchen,  der  das  Schnupftuch  immer  in  der  Hand  hat, 
zu  fchneuzen,  und  unwillig  wird,  wenn  er  nicht  heraus? 
zufchneuzen  findet. 

[58.]     Juli  18.     Lavater. 

^/.»ö  Uhr  ^  erwach'  ich,  fitz  auf  —  nehme  mein 
Tagbuch  und  fchreib  ^  Unterdes,  diktiert  mir  Goethe  aus 
feinem  Bett  herüber,  unterdes  geht's  immer  fo  geradezu  in 
die  Welt  'nein.  Es  fchläft  fich,  ißt  fich,  trinkt  fich  und 
liebt  fich  auch  wohl  an  jedem  Orte  Gottes,  wie  am  andern, 
folglich  alfo  —  izt  fchreib  er  weiter  '^ 

Goethe  diktiert  weiter: 

IL  Sura. 
Es  ift  fo  viel  Heimweh  in  der  Welt,   daß  eins  dem  an? 

dem  die  Wage  hält; 
Da   ftreckt   er   fich   in   feinem    Bett   —  denkt,  o  daß  ich 

mein  Weibchen  hätt'. 
Ich  kröne  mich  in  meinem  Sinn;  fort  ift  die  gute  Meyerini 
Doch  hoffen  wir  wieder  Maienfreud', 
Er  lehret  und  bekehrt  die  Leut', 
Ich  fahr'   zum  fchönen  Liefel  heut'. 

explicit  Sura. 

[59.]     Juli    18.     Lavater. 

In  einem  wohlbefetzten  Schiff  auf  der  Lahn  —  wo 
Bafedow  raucht  und  Grammatik  doziert,  Goethe  Reim? 
endungen  für  die  Gefellfchaft  fchreibt,   Ulrich  und  Als? 


60]  Von  Ems  nach  Düsseldorf.    1774..  39 

dort  den  Schirm  hält,  hier  einer  einen  profaifchen  Gq^ 
danken  in  Verfen  oder  einen  poetifchen  in  Profa  in  ein 
Papierchen  hinfchreibt  —  Kaffee  getrunken  wird;  —  ob 
wir  gut  Wetter  kriegen  beim  Sieden  des  Rindfleifches, 
deliberiert  wird,  —  fchreib  ich  dies  «^ 

Wir  fliegen  bei  der  Aalen  nicht  aus,  wo  der  Herr 
von  der  Nil  uns  einzuladen  kam.  ^ 

Goethe:  Wir  werden  nun  recht  gut  geführt. 
Weil  Bafedow  das  Ruder  rührt.   — 

Herrliches  altes  Schloß  Lahnegg  herab  auf  die  Lahn 
blinkend. 

Goethe  diktierte: 
Hoch  auf  dem  alten  Turne  fteht 
Des  Helden  edler  Geift, 
Der,  wie  das  Schiff  vorüber  geht. 
Es  wohl  zu  fahren  heißt. 
,Sieh,   diefe  Sehne  war  fo  ftark. 
Dies  Herz  fo  feft  und  wild  — 
Die  Knochen  voll  von  Rittermark, 
Der  Becher  angefüllt  — 
Mein  halbes  Leben  ftürmt'  ich  fort. 
Verdehnt  die   Hälft'  in  Ruh'. 
Und  du,  du  Menfchenfchifflein  dort, 
Fahr  immer,  immer  zu  — * 

Itzt  fahren  wir  Lahnftein  vorbei,  zur  Rechten  liegt 
der  Fleken  ^^  Itzt  liegen  wir  am  Bord  ^  Ich  ftieg  aus. 
Bafedow  vor  uns  in  ein  Haus,  wo  man  zu  Mittag  aß,  über? 
fiel  und  aß  mit,  Speck  und  Bohnen  —  alle  ihm  nach!  Gewirr 
und  Leben  und  Freude  —  wieder  ins  Schiff.  —  Kapelle 
—  ein  zerftörtes  Schloß  vorbei.  Goethe  über  die  Kerls  in 
Schlöffern  —  nun  von  der  Lahn  in  den  Rhein  —  Goethe 

las wir  fuhren  Horchheim  vorbei.    Von  der  Staats? 

nafe  —  der  regierenden  Frau  Gräfin  von  Dierdorf. 

Die  Feftung  und  Thal  Ehrenbreitftein.  Fliegende  Brücke 
zwifchen  Thal  und  Koblenz.  Stiegen  da  aus  —  aßen  zu 
Mittag  '^  um  3  Uhr  ins  Schiff—  fuhren  das  Trierifche  Schloß 
und  Feftung  vorbei  ~  Goethe  ging  bis  Fallendar  voraus. 

[60.]     Juli  20.     Lavater. 

Morgens  nach  6  Uhr.  Im  Schiff  unterm  naffen  Deck? 
tuch,  vor  Schmoll,  und  neben  Goethe,  der  in  romantifcher 
I 


40  Lavater.  [61 

Geftalt,  grauem  Hut,  mit  halbverwelktem  lieben  Blumen^ 
bufch  fein  Butterbrod  hinter  dem  braunfeidnen  Halstuch 
und  grauen  Kaputkragen,  wie  ein  Wolf  verzehrt  und  fich 
nach  dem  übrigen  eingepackten  Effen  fchon  weiters  um^ 
fieht  ^  Wir  fehen  Höningen  des  Grafen  v.  d.  Leyen  vor 
uns  —  fchöne  aber  benebelte  Ausficht.  Laß  regnen,  wenn 
es  regnen  will,  dem  Wetter  feinen  Lauf.  Denn  wenn  es 
nicht  mehr  regnen  will,  fo  hörts  von  felber  auf 

Goethe  las  uns  aus  feiner  Elmire,  einer  Operette  und 
ich  verfchlummerte  eine  Stunde.  Itzt  fchlummert  Goethe 
und  Schmoll  noch  unter  der  leinwandnen  Bogendecke 
neben  mir,  als  wie  unter  einem  Zelt.  Man  öffnet,  und  kühler 
Wind  öffnet  beiden  die  Augen,  fie  fehen  die  herrliche  Stadt 
Bonn  vor  fich,  die  Refidenz  des  Kurfürften  von  Köln 
, Macht  doch  wieder  zuT  ^ 

Um  12  Uhr  zu  Bonn  an.  '^  Fuhren  um  2  Uhr  ab. 
Regen.  Viel  Schlummer,  wenig  gefprochen.  Schöne  Alleen 
an  einem  fort  bis  auf  Köln.   ^ 

Schmoll  und  Goethe  auf  Düffeldorf,  ich  auf  Mülheim. 

[6L]     Juli  (21).    H.  Jung.StilHng. 

Stilling  wurde  einftmals  des  Morgens  in  Elberfeld  in 
einen  Gafthof  gerufen ;  man  fagte  ihm,  es  fei  ein  fremder 
Patient  da,  der  ihn  gern  fprechen  möchte.  Er  zog  fich 
alfo  an  und  ging  hin;  man  führte  ihn  ins  Schlafzimmer 
des  Fremden.  Hier  fand  er  nun  den  Kranken  mit  einem 
dicken  Tuch  um  den  Hals  und  den  Kopf  in  Tücher  ver^ 
hüllt.  Der  Fremde  itreckte  die  Hand  aus  dem  Bett  und 
fagte  mit  fchwacher  und  dumpfer  Stimme:  Herr  Doktor! 
fühlen  Sie  mir  einmal  den  Puls;  ich  bin  gar  krank  und 
fchwach.  Stilling  fühlte  und  fand  den  Puls  fehr  regeU 
mäßig  und  gefund;  er  erklärte  fich  alfo  auch  fo  und  er:: 
widerte :  Ich  finde  gar  nichts  Krankes ;  der  Puls  geht  recht 
ordentlich.    Sowie  er  das  fagte,  hing  ihm  Goethe  am  Hals. 

[62.]     Juli  21.     W.  Heinfe  an  Klamer  Schmidt. 

Denket  Euch  indeffen  uns  von  ohngefähr  in  einer 
Stube  zufammengeführt :  zuerft  Goethe,  den  wilden  Ver^^ 
faffer  von  Götter,  Helden  und  Wieland;  Heinfe,  den  Ver:= 
faffer  des  Petron  und  der  Laidion;  Lavater,  den  Auffeher 
darüber;  nach  diefem  den  größten  Pietiften  unferer  Gegend, 
Hafenkamp ;  dann  den  Doctor  Jung,  der  die  Afino'ide  im 
Merkur  gemacht  hat,  auch  einen  Pietiften;  dann  Defchen^: 


64]  Elberfeld.    1774.  41 

macher,  auch  einen  berühmten  Pietiiten,  und  meinen  Fritz 
Jacobi,  und  einen  Maler  [Schmoll],  Goethes  Freund,  und 
fechs  Damen  und  Herren,  auch  Pietiften,  die  uns  zufammen 
zu  fehen  kamen,  und  höret  Goethen  Klopftocks  Meffias 
gegen  Hafenkamp  verteidigen  und  Herders  Urkunden,  und 
höret  ihn,  mich  loben  und  feht  ihn  dann  Lavatern  zärtlich 
küflen  und  feht  die  Gelichter  voll  Verwunderung  und  Er? 
ftaunen  darob,  und  feht  uns  dann  alle  zufammen  friedlich  ein 
Glas  Wein  trinken  und  unferer  Pferde  Sattel  beforgen, 
wieder  zurückkehren  und  Lavatern  fchon  eine  Betfiunde 
halten  fehen  und  Abfchied  von  ihm  nehmen.  Alles  dies 
gefchah  zu  Elberfeld.  Goethe,  Fritz  Jacobi  und  ich  ritten 
dann  nach  Düffeldorf  und  Goethe  blieb  zwei  Tage  bei  uns. 
Wir  begleiteten  ihn  bis  Bensberg  ^  und  Köln,  wo  wir  mit 
ihm  einen  Abend  verlebten,  den  ich  unter  die  fchönften 
meines  Lebens  zähle. 

[63.]     Juli  2L     J.  G.  Hafenkamp. 

Bei  Cafpari  trafen  wir  den  Frankfurter  Zuchtmeifter, 
unferen  Dichter,  Herrn  Dr.  Goethe.  Dem  legte  ich  die 
Frage  vor:  ob  nicht  Klopftocks  Meffiade  fo  umgearbeitet 
werden  könnte,  daß  alle  fcholaftifchen  Ideen,  welche  das 
Evangelium  der  Herrlichkeit  verdunkeln,  durch  lauter 
Schriftwahrheiten  erfetzt  würden.  Auch  forderte  ich  ihn 
auf,  wie  Geliert  eine  Komödie  Die  Betfchwefter  gefchrie^: 
ben  habe,  fo  möchte  er  eine  fchreiben  Der  Gebetsver? 
ehrer.  Er  war  nicht  unwillig  darüber.  Die  Ungläubigen, 
wenn  fie  ihre  Zweifel  überwinden,  werden  nachher  die  heften 
Verteidiger  des  Glaubens. 

[64.]     Juli  2L     Nach  Lavaters  Erzählung. 

Als  Goethe  mit  Lavatern  die  kleinen  Reifen  machte 
^  begegnete  es  ^  in  Elberfeld,  daß  auch  der  Rektor 
Hafenkamp  der  ältere  zu  Duisburg  einmal  in  großer  Ge? 
fellfchaft  mit  Lavater  und  Goethe  zu  Mittag  (oder  Abend) 
aß  und  nicht  weit  von  Goethe  zu  fitzen  kam;  man  war 
in  der  heiterften  Stimmung  und  Goethe  fowohl  als  La? 
vater  erfreuten  alles  durch  ihre  heitere  und  belebende 
Unterhaltung.  Auf  einmal  richtet  Hafenkamp,  ein  gottes? 
fürchtiger  Mann,  der  aber  aus  Mangel  an  Sinn  für  das 
Schickliche  nicht  immer  bedachte,  was  Zeit  und  Ort  ge? 
ftatten  möchte,  feine  Rede  an  Goethe  und  fragt  in  feier? 
lichem  Tone:  Sind  Sie  der  Herr  Goethe?  ^  —  Ja!  — 
I 


42  Nach  Lavaters  Erzählung.  [65 

Und  haben  Sie  das  berüchtigte  Buch  Die  Leiden  des 
jungen  Werther*  gefchrieben?  —  Ja.  —  So  fühle  ich  mich 
in  meinem  Gewiffen  verpflichtet,  Ihnen  meinen  Abfcheu 
an  diefer  ruchlofen  Schrift  zu  erkennen  zu  geben.  Gott 
wolle  Ihr  verkehrtes  Herz  befferni  Denn  wehe,  wehe 
dem,  der  Ärgernis  gibt!  ufw.  —  Jedermann  geriet  in  die 
peinlichfte  Verlegenheit,  jedermann  war  voll  banger  Er^ 
Wartung,  wie  es  dem  ehrlichen,  aber  pedantifch?fchul=: 
gerechten  Hafenkamp  ergehen  würde.  Aber  Goethe  ver? 
fetzte  alle  Anwefenden  in  die  heiterfte  Stimmung,  als  er 
erwiderte:  Ich  fehe  es  ganz  ein,  daß  Sie  aus  Ihrem  Ge? 
fichtspunkte  mich  fo  beurteilen  muffen,  und  ich  ehre  Ihre 
Redlichkeit,  mit  der  Sie  mich  beftrafen.  Beten  Sie  für 
mich!  —  Das  Wohlgefallen  an  der  edeln  Art,  mit  der 
Goethe  fich  benahm,  war  allgemein;  der  Rektor  ward  auf 
eine  Weife,  wie  er  fich  nicht  hatte  träumen  laffen,  ent^ 
waffnet,  und  die  Unterhaltung  nahm  wieder  ihren  vorigen 
fröhlichen  Gang. 

[65.]     Juli.     W.  Heinfe. 

Goethe  war  bei  uns,  ein  fchöner  Junge  von  fünfund? 
zwanzig  Jahren,  der  vom  Wirbel  bis  zur  Zehe  Genie  und 
Kraft  und  Stärke  ift;  ein  Herz  voll  Gefühl,  ein  Geift  voll 
Feuer  mit  Adlerflügeln,   qui  ruit  immensus  ore  profundo. 

[66.]     Juli.     W.  Heinfe. 

Von  Goethen  foll  und  muß  nunmehr  fchon  ein  Roman 
die  Preffe  verlaffen  haben:  Die  Leiden  des  jungen  Werthers, 
welcher,  nach  dem,  was  ich  davon  gehört  habe,  ein  Meifter^ 
ftück  ift.  —  Ich  kenne  keinen  Menfchen  in  der  ganzen  ge^ 
lehrten  Gefchichte,  der  in  folcher  Jugend  fo  rund  und  voll 
von  eigenem  Genie  gewefen  wäre,  wie  er.  Da  ift  kein 
Widerftand;  er  reißt  alles  mit  fich  fort,  und  feine  Götter 
Helden  und  Wieland  —  ein  Werk  von  herkulifcher  Stärke, 
wenn  man's  recht,  Zeile  vor  Zeile,  durchdenkt  und  durchs 
fühlt,  und  wofür  Wieland  immer  feine  Mufarion  geben 
würde,  wenn  er  es  vernichten  könnte  —  kömmt  in  keine 
große  Betrachtung,  wenn  man  ihn  perfönlich  reden  hört. 

[67.]     Juli.     W.  Heinfe  an  Klamer  Schmidt. 

Goethe  fagte:  Laidion  wird  fchon  eingreifen,  fo  wie 
die  Vorrede  zum  Petron,  ob's  gleich  was  ganz  anders  ift; 

*  Doch  erfchien  Werther  erft  im  Herbft. 


70]  Elberfeld.    1774.  43 

laßt  die  Kerls  raifonnieren ,  was  fie  wollen;  lie  machen 
uns  unfere  Leute  damit  nicht  anders;  in  den  Charakteren 
iit  hier  und  da  ein  bißchen  gelogen,  aber  mich  hat's  ent? 
zückt.  —  Und  was  die  Stanzen  betrifft,  fo  was  hab'  ich 
für  unmöglich  gehalten.  Es  ift  weiter  doch  nichts  als  eine 
Jouissance,  aber  der  Teufel  mach'  dir  50  folche  Stanzen 
darüber  nach. —  Kurz;  ich  darf  nichts  darüber  fagen;  es 
ift  fo  vieles  darin,  das  nicht  anders  ift,  als  ob  ich's  felbft 
gefchrieben  hätte.  —  Ein  anderer  verhurt  feine  Säfte,  ihr 
habt  Stanzen  daraus  gemacht.     So  ift's.   '^ 

Schreibe  Herdern,  wenn  Du  gut  mit  ihm  ftehft;  der 
hat  eine  Sammlung  von  alten  Romanzen  und  aus  den  alten 
englifchen  überfetzten,  wovon  ich  fchon  Meifterftücke  von 
Goethe  gehört  habe,  daß  nichts  darüber  geht. 

[68.]     (Juli  und  vorher.)    W  Heinfe. 

Daß  Goethe  Götterkraft  hat  in  feinem  Wefen,  weiß 
jedermann;  und  auch  darauf  bin  ich  ftolz,  daß  er  von  mir 
fagte,  als  er  meine  Laidion  gelefen :  Das  ift  ein  Mann  —  der? 
gleichen  Fülle  hat  (ich  fo  leicht  mir  nicht  dargeftellt;  man  muß 
ihn  bewundern,  oder  mit  ihm  wetteifern.  —  ohne  noch  meinen 
Namen  zu  wiffen,  ohne  zu  wiffen,  wo  ich  exiftierte  —  und 
dann  im  Beifein  Brentanos  fagte:  Ich  glaubte  nicht,  daß 
fo  was  in  der  deutfchen  Sprache  möglich  wäre  ufw.  ~ 

Klopftock  und  Goethe  halten  meine  entfetzlichen  Hen* 
dekafilben  für  ein  Meifterftück,  und  Goethe  foll  fie  vor? 
trefflich  deklamieren  können. 

[69.]     (Juli  21./23.)    F.  Nicolai. 

Man  meldet  mir  eben  fo  glaubwürdig,  Goethe  habe 
Dr.  Jung  zu  der  Herausgabe  des  erbärmlichen  Dinges 
Die  Schleuder  des  Hirtenknaben  aufgemuntert,  und,  da 
er  die  Schimpfworte  ausftreichen  wollen,  die  Worte  gefagt : 
Er  wolle  ihn  in  Schutz  nehmen,  wenn  er  angegriffen  würde. 

[70.]     (Juli.)     Lavater. 

Goethe  behauptet,  Hamann  fei  der  Autor,  von  dem 
er  am  meiften  gelernt.  Ich  läge  von  Herder  (von  dem 
Hamann  fagt:  alles  recht,  wenn  der  gute  Mann  nur  auch 
fo  limpel  fchriebe,  wie  Er!) :  wenn  Herder  in  feiner  Urkunde 
nichts  gefchrieben,  als  was  ich  auszog,  verdiente  er  keine  fo 
bübifche  Abfertigung  wie  durch  Wieland  im  Merkur.  Ein 
folch  Werk  mit  einer  fo  paflionvollen  verächtlichen  Anzeige 
verächtlich  machen  zu  wollen,  heiß  ich  Pyramiden  wegferzen 
I 


44  J.G.  Jacobi.  [71 

wollen.  Das  find  mir  Hunde!  hör'  ich  Goethe  ftampfend 
rufen.  Und  diesmal  wollt  ich  ihm  den  Mund  mit  der 
Hand  nicht  zuhalten  1 

[71.]     JuH  24.  J.  G.  Jacobi. 

Ich  eilte  nach  Düffeldorf,  wo  mein  Bruder  und  Herr 
Goethe  mich  erwarteten. 

Herr  Goethe  hat  mich  in  öffentlichen  Blättern  emp? 
findlich  beleidigt,  aber  auch  hat  er  das  Trauerfpiel  Götz 
von  Berlichingen  gefchrieben.  Wir  gaben  uns  die  Hand. 
Ich  fah  einen  der  außerordentlichften  Männer,  voll  hohen 
Genies,  glühender  Einbildungskraft,  tiefer  Empfindung, 
rafcher  Laune,  deffen  ftarker,  dann  und  wann  riefenmäßiger 
Geifi:  einen  ganz  eigenen  Gang  nimmt  Seine  Tafelreden 
hätte  ich  aufzuzeichnen  gewünfcht. 

Sonntag,  24.  Mein  Bruder,  Herr  Roft,  Goethe  und 
ich  fetzten  uns  morgens  um  5  Uhr  in  den  Wagen,  um 
das  Schloß  Bensberg  zu  befehen.  Ich  reifte  gern  mit  un=: 
ferm  Fremden,  fo  fehr  auch  wir  beide  in  unferer  Art  zu 
fehen,  zu  hören  und  zu  fühlen  verfchieden  find.  Ebenfo 
wie  ich  unter  den  alten  Griechen,  fo  lebt  er  unter  den 
alten  Schotten,  Kelten  und  Deutfchen,  nur  mit  dem  Unter? 
fchiede,  daß  ich  zuweilen  mit  Luft  auf  feinen  rauhen  Ge=: 
birgen  oder  in  feinen  Felfenfchlöffern  oder  in  den  weiten 
Sälen  ihn  befuche,  wo  Pfeil  und  Bogen  famt  der  Harfe 
an  der  Wand  hängen  und  die  Harfe  von  felbft  einen  Klang 
gibt,  weil  die  Seelen  der  Väter  hinkommen  und  fie  be:* 
rühren,  er  aber  in  meine  luftigen  Täler,  wo  eine  Grazie 
auf  'der  Leier  fpielt,  nicht  herabfteigen  mag. 

Wir  langten  in  Bensberg  an  ^  Wir  fpeiften  in  einer 
fchönen  Laube,  dicht  an  einem  Gärtchen  voll  Blumen  '^ 
Nach  Tifche  gingen  wir  auf  das  Schloß,  deffen  Wände 
größtenteils  von  berühmten  niederländifchen  und  Italien 
nifchen  Meiftern  gemalt  find  '^ 

Nachdem  Goethe  die  Natur  und  das  wahre  Leben 
einiger  Jagdfi:ücke  genug  betrachtet  und  ich  bei  dem  Reize 
der  artigften  Nymphen  und  Göttinnen  mich  aufgehalten 
hatte,  reiften  wir  nach  Köln  ■^  Unfer  erftes  Gefchäfte  war, 
ein  Gemälde  von  Rubens  in  der  St.  Peterskirche  aufzu? 
fuchen.    Diefes  ftellt  die  Kreuzigung  des  hl.  Petrus  vor  ^ 

Von  hier  ließen  wir  uns  in  die  ehemalige  Wohnung 
der  Familie  v.  Jabach  führen,  und  befahen  in  einem  ge? 
wölbten,  gleich  einer  Kapelle  gebauten  Gemach  eine  Schilde? 


73]  Düsseldorf  -  Bensberg  -  Köln.    1774.  45 

rung  des  Le  Brun,  worauf  die  Familie  abgebildet  ift.  ^^  Der 
Gedanke,  daß  diejenigen,  deren  Bildniffe  wir  vor  uns 
hatten,  alle  dahin  wären,  daß  der  Geift  des  Jabach  öfter 
diefen  Tempel  befuchte,  die  irdifche  Geftalt,  das  Fleifch 
feiner  Gattin  und  feiner  Kinder  anfchaute,  daß  fein  Familien^ 
ftück  in  kurzem  verkauft,  aus  dem  Tempel  herausgeriffen, 
den  Blicken  der  Unheiligen  bloßgeftellt ,  nichts  als  ein 
Galerieftück  fein  würde  —  diefer  Gedanke  machte  auf  uns: 
fern  Fremdling  einen  gewaltigen  Eindruck  -^ 

Nun  kehrten  wir  in  unferen  Gafthof  zurück,  wo  Goethe 
uns  in  der  Dämmerung  altfchottifche  Romanzen  voll  wahren 
Gefühls  der  Natur  mit  Geifiererfcheinungen  vermifcht  in 
einem  unübertrefflichen  Tone  dergeftalt  herfagte,  daf^  wir 
bei  der  letzten  ohne  falfche  Nebenempfindung  der  Kunft 
fo  wahrhaftig  zufammenfuhren,  fo  im  Ernfte  bange  wur? 
den,  als  ehemals  in  unferen  Kinderjahren,  wenn  wir  den 
abenteuerlichen  Gefchichten  unferer  Wärterinnen  vongan=: 
zer  Seele,  mit  allem  möglichen  Glauben  daran,  zuhörten. 

Unfere  Abendmahlzeit  war  fröhlich.  Wir  fahen  nicht 
weit  von  uns  den  Rhein,  welchen  der  Mond  verfilberte 
und  deffen  Geräufch  in  der  Stille  der  Nacht  etwas  Feier;: 
liches  hatte.  Das  Ende  diefes  Tages  follte  fo  fchön  als 
der  Morgen  fein. 

[72.]     Juli  24.     F.  H.  Jacobi  an  Goethe. 

Sorge  nur,  daß  ich  die  Erfcheinung  diefes  dritten  Teils 
auch  noch  erlebe.  Ich  hoffe.  Du  vergiffeft  in  diefer  Epoche 
nicht  des  Jabachfchen  Haufes,  des  Schloffes  zu  Bensberg 
und  der  Laube,  in  der  Du  über  Spinofa  mir  fo  unver:; 
geßlich  fprachft;  des  Saals  in  dem  Gafthofe  zum  Geift,  wo 
wir  über  das  Siebengebirg  den  Mond  herauffteigen  fahen, 
wo  Du  in  der  Dämmerung  auf  dem  Tifche  fitzend  uns 
die  Romanze :  Es  war  ein  Buhle  frech  genug  —  und  andere 
herfagteft  '^  Welche  Stunden!  Welche  Tage!  —  Um  Mitter:= 
nacht  fuchteft  Du  mich  noch  im  Dunkeln  auf  —  mir  wurde 
wie  eine  neue  Seele.  Von  dem  Augenblick  an  konnte  ich 
Dich  nicht  mehr  laffen. 

[73.]     Juli.     F.  H.  Jacobi  an  Wieland. 

Je  mehr  ich's  überdenke,  je  lebhafter  empfinde  ich  die 
Unmöglichkeit,  dem,  der  Goethe  nicht  gefehen,  noch  ge^ 
hört  hat,  etwas  Begreifliches  über  diefes  außerordentliche 
Gefchöpf  Gottes  zu  fchreiben.    Goethe  ift,  nach  Heinfes 

I 


46  Jacobi  an  Wieland.  [74 

Ausdruck,  Genie  vom  Scheitel  bis  zur  Fußsohle;  ein  Be^ 
feffener,  füge  ich  hinzu,  dem  faft  in  keinem  Falle  gQ^ 
ftattet  ift,  willkürlich  zu  handeln.  Man  braucht  nur  eine 
Stunde  bei  ihm  zu  fein,  um  es  im  höchsten  Grade  lächere 
lieh  zu  finden,  von  ihm  zu  begehren,  daß  er  anders  den:= 
ken  und  handeln  foll,  als  er  wirklich  denkt  und  handelt. 
Hiermit  will  ich  nicht  andeuten,  daß  keine  Veränderung 
zum  Schöneren  und  Befferen  in  ihm  möglich  fei;  aber 
nicht  anders  ift  fie  in  ihm  möglich,  als  fo  wie  die  Blume 
fich  entfaltet,  wie  die  Saat  reift,  wie  der  Baum  in  die 
Höhe  wächft  und  fich  krönt.  Sie  wiffen,  mein  Befter,  daß 
am  Anfange  im  großen  All  auch  die  Götter  eingefchloffen 
waren;  daß  fie  gefangen  lagen  zwifchen  den  Elementen; 
Sie  wiffen  auch,  wie  die  Götter  neulich  durchbrachen 
und  fich  wider  die  Titanen  lagerten. 

Was  Goethe  und  ich  einander  fein  follten,  fein 
mußten,  war,  fobald  wir  vom  Himmel  runter  nebenein? 
ander  hingefallen  waren,  im  Nu  entfchieden.  Jeder  glaubte 
von  dem  anderen  mehr  zu  empfangen,  als  er  ihm  geben 
könne;  Mangel  und  Reichtum  auf  beiden  Seiten  um? 
armten  fich  einander;  fo  ward  Liebe  unter  uns.  Sie  kann's 
ausdauern,  feine  Seele,  —  zeugte  in  fich  der  eine  vom 
anderen,  —  die  ganze  Glut  der  meinigen;  nie  werden 
fie  einander  verzehren. 

[74.]     (Sommer).    F.  M.  Klinger. 

Nun  wollte  ich  auf  Akademieen  gehn,»hatte  keine 
100  fl.  Ich  ward  mit  Goethe  bekannt.  Das  war  die  erfte 
frohe  Stunde  meiner  Jugend.  Er  bot  mir  feine  Hilfe  an. 
Ich  fagte  nicht  alles  und  ging  fo,  weil  ich  lieber  fterben 
wollte,  als  unverdient  was  annehmen.  Die  100  fl.  waren  bald 
all.  Der  große  Goethe  drang  in  mich,  machte  mir  Vorwürfe, 
und  nun  leb'  ich  fchon  ein  ganzes  Jahr  von  feiner  Güte. 

[75.]    Oktober,  erfte  Hälfte.    F.  A.  Werthes. 

Diefer  Goethe,  von  dem  und  von  dem  allein  ich 
vom  Aufgang  bis  zum  Niedergang  der  Sonne  und  von 
ihrem  Niedergang  bis  wieder  zu  ihrem  Aufgang  mit  Ihnen 
fprechen  und  ftammeln  und  fingen  und  dithyrambifieren 
möchte,  deffen  Genius  zwifchen  Klopftock  und  mir  ftand, 
und  über  die  Alpen  und  Schneegebirge  gleichfam  einen 
Sonnenfchleier  herwarf,  er  felbft  immer  mir  gegenüber 
und  neben  und  über  mir,   diefer  Goethe  hat  fich  gleich? 


77]  Frankfurt.    1774.  47 

fam  über  alle  meine  Ideale  emporgefchwungen ,  die  ich 
jemals  von  unmittelbarem  Gefühl  und  Anfchaun  eines 
großen  Genius  gefaßt  hatte.  Noch  nie  hätt'  ich  das  Ge^ 
fühl  der  Jünger  von  Emmaus  im  Evangelio  fo  gut  exege* 
fieren  und  mitempfinden  können,  von  dem  fie  fagten: 
Brannte  nicht  unfer  Herz  in  uns,  als  er  mit  uns  redete? 
Machen  wir  ihn  immer  zu  unferem  Herrn  Chriftus,  und 
laffen  Sie  mich  den  letzten  feiner  Jünger  fein.  Er  hat  fo 
viel  und  fo  vortrefflich  mit  mir  gefprochen;  Worte  des 
ewigen  Lebens,  die,  fo  lange  ich  atme,  meine  Glaubens? 
artikel  fein  foUen. 

Bei  Klopftocken  bin  ich  von  nachmittags  fünf  bis 
nachts  zehn  Uhr  gewefen.  Ich  fand  einen  edlen  und 
großen  Mann  an  ihm;  weniger,  wie  auch  Goethe  fagte, 
den  Verfaffer  des  Meffias  als  den  der  Republik. 

[76.]     Oktober  15./17.    H.  Ch.  Boie. 

Einen  vortrefflich  fchönen  Tag  gehabt! 

Einen  ganzen  Tag  allein,  ungeftört  mit  Goethen  zu? 
gebracht,  mit  Goethen,  deffen  Herz  fo  groß  und  edel 
wie  fein  Geift  ift  ^  Er  hat  mir  noch  einiges  und  befon? 
ders  ein  paar  Gedichte  voll  Seele  und  Herz  von  ihm  ge? 
lefen.  Wenn  er  fie  mir,  wie  er  verfpricht,  gefchrieben 
gibt,  foUen  Sie  fie  lefen. 

Den  17.,  um  2  Uhr  waren  wir  wieder  in  Frankfurt, 
wo  mich  Goethe  in  unferem  Wirtshaufe  mit  offenen  Armen 
empfing.  Wir  blieben  bis  Mitternacht  beieinander  und 
mußten  endhch  die  Tür  abfchheßen,  um  nur  allein  zu 
fein.  Er  las  mir  etwas;  wir  ließen  aber  bald  das  Lefen 
fein  und  die  Unterredung  fiel  auf  die  wichtigften  Gegen? 
ftände  des  Denkens  und  Empfindens,  wo  wir  uns  fehr 
oft  in  unferen  Gefinnungen  begegneten.  Goethes  Herz 
ift  fo  groß  als  fein  Geift. 

[77.]     Oktober.     F.  H.  Jacobi  an  Wieland. 

Die  Aufforderung  oder  der  Zuruf,  man  muffe  den 
wankenden  Götzen  Wieland  vollends  niederreißen,  ift  mir 
nicht  durch  Goethen  zu  Ohren  gekommen;  diefer  fpottete 
nur,  ohne  jene  lächerliche  Rede  anzuführen,  der  Schurken 
und  Narren,  welche  fleh  in  den  Kopf  gefetzt  hatten,  er 
wolle  und  muffe  an  Wieland  zum  Ritter  werden.  "^ 

Ich  müßte  zu  weitläufig  werden,  mein  liebfter  Bru? 
der,  wenn  ich  Ihnen  noch  erklären  wollte,  in  welchem 
I 


48  Jacobi  an  Wieland.  [78 

Sinne,  nach  welcher  Vermifchung  von  Charakter  und  Genie 
man  Sie  befchuldigt,  Sie  feien  auf  einmal  vom  Kinde  zum 
Greis  geworden.  Daß  Sie  bereits  zu  fehr  empfinden, 
quantum  est  in  rebus  inane,  gehört  mit  dazu.  Auch  Goethe 
jammerte  hierüber  bei  Gelegenheit,  daß  er  mit  Bewunde^ 
rung  und  Entzücken  von  Ihrem  Gedicht  An  Pfyche  fprach. 
Wielands  Weisheit,  fagte  er,  konnt's  doch  nicht  uner? 
örtert  laffen,  daß  die  Wonne  des  Mädchens  frühzeitig 
ein  Ende  nehmen  würde;  da  macht  er  ihm  einen  herr;: 
liehen  Nektarbecher  zurecht,  gießt  aber  beim  Hinreichen 
einen  vollen  Löffel  Rhabarbertinktur  darunter  und  rührt's 
brav  durch,  daß  das  arme  Ding  nun  den  ganzen  Soff 
nicht  mag. 

[78.]     (Oktober,  Ende.)     Mit  F.  H.  Jacobi. 

Goethe  f^  fagte  von  Jung  Stilling:  Der  wunderliche 
Menfch  glaubt  eben,  er  brauche  nur  zu  würfeln,  und  unfer 
Herr  Gott  muffe  ihm  die  Steine  fetzen. 

[79.]    (Oktober,  Ende.)    F.  H.  Jacobi  an  K.  L.  v.  Knebel. 

Als  ich  Ihren  Brief  las,  fiel  mir  ein,  daß  ich  vor 
fechs  Jahren,  als  Klopftock  bei  mir  zu  Mannheim  war, 
über  Lavater  mit  ihm  zu  reden  kam.  Mein  Freund  Lavater, 
fagte  Klopftock,  ift  fehr  eitel;  der  gute  Mann  weiß  es 
felber  nicht,  wie  fehr]  —  Einige  Tage  darauf  erwähnte 
Goethe  einer  gewiffen  Dame  gegen  mich,  die  Herder  der 
Eitelkeit  befchuldige  und  fich  nicht  mit  ihr  vertragen 
könne,  weil  er  felbft  der  eitelfte  unter  allen  Menfchen 
fei.  —Was  Goethe  von  Herder  fagte,  fagt  ganz  Deutfehs: 
lann  wieder  von  ihm:  er  fei  aus  Eitelkeit  und  Hochmut 
zum  Narren  geworden. 

[80.]     (Oktober.)    F.  H.  Jacobi  an  Goethe. 

Zwanzig  Jahre  find  verfloffen,  feitdem  unfere  Freund? 
fchaft  begann.  Damals  fragte  jemand  Dich  in  meiner 
Gegenwart:  ob  wir  nicht  Freunde  wären  fchon  von  Kindes? 
beinen  an?  und  Du  gabft  zur  Antwort:  diefe  Liebe  wäre 
fo  neu,  daß  fie,  wenn  es  Wein  wäre,  nicht  zu  genießen 
fein  würde.  —  Ein  edler  Wein  ift  fie  geworden!  —  Lie? 
bend,  zürnend,  drohend,  riefft  Du  mir  zu  in  jenen  Zeiten: 
der  Genügfamkeit,  die  fich  mit  Teilnahme  an  Anderer 
Schöpfungsfreude  fättigte,  zu  entfagen;  nicht  länger  zu 
gaffen,  fondern  in  die  eigenen  Hände  zu  fchauen,  die 
Gott  auch  gefüllt  hätte  mit  Kunft  und  allerlei  Kraft. 


83] Frankfurt.    1774. 49 

[81.]     November  14.     Bettina  Brentano  an  Goethe. 

An  einem  hellen  Wintertag,  an  dem  Deine  Mutter 
Gäfte  hatte,  machteft  Du  ihr  den  Vorfchlag,  mit  den 
Fremden  an  den  Main  zu  fahren.  Mutter,  Sie  hat  mich 
ja  doch  noch  nicht  Schlittfchuhe  laufen  fehen  und  das 
Wetter  ift  heut  fo  fchön  ufw.  Ich,  erzählte  die  Mutter, 
zog  meinen  karmoifinroten  Pelz  an,  der  einen  langen 
Schlepp  hatte  und  vorn  herunter  mit  goldenen  Spangen 
zugemacht  war,  und  fo  fahren  wir  denn  hinaus,  da  fchleift 
mein  Sohn  herum  wie  ein  Pfeil  zwifchen  den  andern  durch, 
die  Luft  hatte  ihm  die  Backen  rot  gemacht  und  der  Puder 
war  aus  feinen  braunen  Haaren  geflogen,  wie  er  nun  den 
karmoifinroten  Pelz  fieht,  kommt  er  herbei  an  die  Kutfche ; 
und  lacht  mich  ganz  freundlich  an.  —  Nun,  was  willft  Du? 
fag  ich :  Ei,  Mutter,  Sie  hat  ja  doch  nicht  kalt  im  Wagen, 
geb'  Sie  mir  Ihren  Sammetrock.  —  Du  wirft  ihn  doch  nicht 
anziehen  wollen!  —  Freilich  will  ich  ihn  anziehen.  —  Ich 
zieh  halt  mein  prächtig  warmen  Rock  aus,  er  zieht  ihn  an, 
fchlägt  die  Schleppe  über  den  Arm,  und  da  fährt  er  hin  wie 
ein  Götterfohn  auf  dem  Eis. 

[82]     Dezember  12.     Elifabeth  Goethe. 

Des  Abends,  da  die  andern  Freunde  weg  waren,  und 
ich  allein  bei  Sufanne  von  Klettenberg,  fagtefie:  Der  Dok^s 
torl  Ich  bildete  mir  ein,  fie  meine  den  Medikus,  undfagte: 
Er  ift  weggegangen.  Nein,  fagte  fie  und  deutete  auf  mich. 
Meinen  Doktor  meinen  Sie?  Sie  nickte  mit  dem  Kopfe. 
Ach,  fagte  ich,  der  glaubt  fo  wenig,  daß  Sie  fterben,  daß 
er  mir  aufgetragen  hat,  Ihnen  zu  fagen,  wie  er  morgen  mit 
dem  Prinzen  von  Weimar  nach  Mainz  reifen  werde  —  drei^ 
mal  hab'  ich  fchon  angefangen,  ihn  auf  Ihren  Tod  vorzu? 
bereiten,  es  ift  aber  alles  vergebens.  Sie  fiirbt  nicht!  fagt 
er  immer,  das  kann  nicht  fein,  fie  ftirbt  nicht! 

[83.]     Dezember  11./14.     K.  L.  v.  Knebel  an  F.  J.  J.  Bertuch. 

Von  Wielanden  werden  Sie  erfahren  können,  daß 
ich  Goethes  Bekanntfchaft  gemacht  habe,  und  daß  ich 
etwas  enthufiaftifch  von  ihm  denke.  Ich  kann  mir  nicht 
helfen,  aber  ich  fchwöre  es,  Ihr  alle,  Ihr  Leute,  die  Ihr 
Kopf  und  Herz  habt,  Ihr  würdet  fo  von  ihm  denken, 
wenn  Ihr  ihn  kennen  folltet.  Dies  bleibt  mir  immer  eine 
der  außerordenthchften  Erfcheinungen  meines  Lebens.  Vieles 
leicht  hat  mich  die  Neuheit  zu  fehr  frappiert;  aber  was 
I  4 


50 K.  L.  V.  Knebel. [85 

kann  ich  dafür,  wenn  natürliche  Urfachen  natürliche  Wir* 
kungen  bei  mir  hervorbringen.  ^^ 

Was  fagt  unfer  Wieland  zu  Goethens  Brief  an  ihn? 
Nur  böfe  muß  er  niemals  auf  ihn  werden.  Keine  Menfchen 
in  der  Welt  würden  fleh  gefchwinder  verftehen,  wenn  fie 
beifammen  wären,  als  Wieland  und  Goethe.  Ich  bin  ver^s 
fiebert  und  fehe  es  aus  allem,  daß  fich  Klopftock  und 
Goethe  lange  nicht  fo  verfianden  haben.  Goethes  Kopf 
ift  fehr  viel  mit  Wielands  Schriften  befchäftigt.  Daher 
kommt  es,  daß  fie  fich  reiben.  Goethe  lebt  in  einem  be^ 
fiiändigen  innerlichen  Krieg  und  Aufruhr,  da  alle  Gegen* 
ftände  aufs  heftigfte  auf  ihn  wirken.  Daher  kommen  die 
Ausfälle  feines  Geifies,  der  Mutwillen,  der  gewiß  nicht 
aus  böfem  Herzen,  fondern  aus  der  Üppigkeit  feines 
Genies  fließt.  Es  ift  ein  Bedürfnis  feines  Geiftes,  fich 
Feinde  zu  machen,  mit  denen  er  fireiten  kann;  und  da^ 
zu  wird  er  nun  freilich  die  fchlechteften  nicht  ausfuchen. 
Er  hat  mir  von  allen  denen  Perfonen,  auf  die  er  los== 
gezogen  ift,  mit  ganz  befonderer  empfundener  Hochachtung 
gefprochen.  Aber  der  Bube  ift  kampfluftig,  er  hat  den 
Geift  eines  Athleten.  Wie  er  der  allereigenfte  Menfch 
ift,  der  vielleicht  nur  gewefen  fein  mag,  fo  fing  er  mir 
einmal  abends  in  Mainz  ganz  traurig  an:  Nun  bin  ich 
mit  all  den  Leuten  wieder  gut  Freund,  den  Jacobis,  Wie* 
land  —  das  ift  mir  gar  nicht  recht.  Es  ift  der  Zuftand 
meiner  Seele,  daß,  fo  wie  ich  etwas  haben  muß,  auf  das 
ich  eine  Zeitlang  das  Ideal  des  Vortrefflichen  lege,  fo 
auch  wieder  etwas  für  das  Ideal  meines  Zorns.  Ich  weiß, 
das  find  lauter  vortreffliche  Leute;  aber  juft  deshalb;  was 
kann  ich  ihnen  fchaden?  Was  nicht  Stroh  ift,  bleibt 
doch,  und  die  Woge  des  Beifalls,  wenn  fie  fich  auch  eine 
Zeitlang  abgewendet  hat,  fällt  doch  wieder  zurück  ufw. 

Ich  mußte  herzlich  über  feine  Naivitäten  diefer  Art 
lachen,  denn  der  Rektifiziergeift  ift  bei  ihm  übel  ange* 
bracht.  Genug,  ich  konnte  mich  in  die  Möglichkeit  feines 
Falles  fetzen  und  lachte  ihn  damit  aus.  Den  älteften 
Jacobi  liebt  er  über  alles.  Er  tat  mir  fogar  die  Ehre, 
außerordentliche  Ähnlichkeit  mit  ihm  bei  mir  zu  finden. 
Indeffen  hat  er  eine  Schrift  auf  ihn  gemacht,  die  er  mir 
verfichert,  daß  es  das  Böfte  fei,  was  er  in  diefer  Art  ge* 
macht  habe.  Sogar  ein  Frauenzimmer  in  Frankfurt,  das 
mit  Jacobi  liiert  ift,  hat  er  hineingebracht.  Sie  hat  ihn 
bei  allem  befchworen,  ihr  die  Schrift  lefen  zu  laffen  und 


84]  Frankfurt.    1775.  51 

beteuert,  daß  fie  nichts  übel  empfinden  wolle.  Er  hat 
ihr  aber  geradezu  verfichert,  daß  es  unmöglich  fei,  daß 
irgend  ein  Frauenzimmer  in  der  Welt  die  Stellen  nicht 
übel  empfinden  follte.  Nun  wartet  er,  bis  Jacobi  nach 
Frankfurt  kommt;  dem  muß  er  es  vorlefen,  und  dann 
will  er  es  zerreißen. 

So  viel  von  Goethe!  Aber  lange  noch  das  geringfie. 
Die  ernfthafte  Seite  feines  Geiftes  ift  fehr  ehrwürdig.  Ich 
habe  einen  Haufen  Fragmente  von  ihm,  unter  anderem 
zu  einem  Doktor  Fauft,  wo  ganz  ausnehmend  herrliche 
Szenen  find.  Er  zieht  die  Manufkripte  aus  allen  Win*: 
kein  feines  Zimmers  hervor.  An  den  Leiden  des  jungen 
Werthers  hat  er  zwei  Monate  gearbeitet,  und  er  hat  mir 
verfichert,  daß  er  keine  ganze  Zeile  darin  ausgefirichen 
habe.  An  Götz  von  Berlichingen  fechs  Wochen.  Er 
macht  wieder  fo  eins,  und  noch  ein  Dutzend  andere  — 
doch  davon  ein  andersmal. 

[84.]    Karl  Auguft,  Prinz  von  SachfensMeiningen. 

Goethe,  fagte  Lavater,  wäre  lauter  Kraft,  Empfin:= 
düng,  Imagination;  er  handelte  danach,  ohne  zu  wiffen, 
warum  und  wozu  es  wäre,  wie  ein  Strom,  der  ihn  fort? 
riffe;  Goethe  wäre  aber  doch  ein  Original^Genie. 

1775. 

[85.]     Januar  (Anf.).     J.  G.  v.  Zimmermann  an  Charlotte  v.  Stein. 

Vous  voules  que  je  vous  pari  de  Goethe ;  vous 
desires  de  le  voir?  —  Le  vous  en  parlerai  tantot.  —  Mais 
pauvre  amie,  vous  n'y  penses  pas,  vous  desires  de  le 
voir,  et  vous  ne  saves  pas  ä  quel  point  cet  homme 
aimable  et  charmant  pourait  vous  devenir  dangereuxl 
—  Je  coupe  une  planche  de  la  Physiognomique  de  La^ 
vater,  pour  vous  faire  present  de  cette  Physionomie  d'Aigle. 

Mr.  Goethe  est  Fils  unique  d'un  homme  tres  riche, 
der  den  Titel  von  einem  Kaiferlichen  Rate  hat,  et  qui 
vit  ä  Francfort  de  ses  rentes.  Son  Pere  a  voulu  qu'il  ait 
un  etat;  c'est  pourquoi  il  est  devenu  Docteur  en  Droit 
et  fait  bon  gre  mal  gre  quelquefois  l'avocat,  dont  il 
s'aquitte  superieurement  bien.  Il  entend  en  maitre  la 
musique,  le  Dessein,  la  peinture,  la  gravure,  et  ä  ce  que 
bien  des  personnes  m'ont  assure,  il  est  verse  presque  dans 
tous  les  arts  et  dans  toutes  les  sciences. 
I  4* 


52  J.  G.  V.  Zimmermann.  [86 

Un  etranger  qui  a  passe  dernierement  ches  moi  a 
fait  de  Mr.  Goethe  le  Portrait  suivant:  Er  ift  24  Jahre 
alt;  ift  Rechtsgelehrter,  guter  Advokat,  Kenner  und  Leser 
der  Alten,  befonders  der  Griechen;  Dichter  und  Schrifts: 
fteller;  Orthodox  (S.  Brief  des  Paftors  zu  '\"\"\'  an  den 
Paftor  zu  i"i"i");  Heterodox  (S.  zwo  unerörterte  Fragen 
von  einem  Landgeiftlichen  in  Schwaben);  Poffentreiber 
(S.  Puppenfpiel) ,  Mufikus;  zeichnet  frappant;  ätzt  in 
Kupfer,  gießt  in  Gips,  fchneidet  in  Holz;  kurz,  er  ift 
ein  großes  Genie,  aber  ein  furchtbarer  Menfch. 

Une  Femme  du  monde  qui  l'a  vu  souvent,  m'a  dit 
que  Goethe  etait  Fhomme  le  plus  beau,  le  plus  vit,  le 
plus  original,  le  plus  ardent,  le  plus  impetueux,  le  plus 
doux,  le  plus  seduisant,  et  le  plus  dangereux  pour  le 
coeur  d'une  Femme   qu'elle  avait  vü  en  sa  vie. 

Mon  ami  Lavater  m'a  ecrit  le  23  juin  1774  de  Franc;: 
fort:  Goethe  macht  ein  Ding,  oder  hat's  gemacht.  Wer:: 
thers  Leiden!  Wenn  Du  etwas  Wahres  in  Deinem  Leben 
gelefen  haft  —  fo  lies  nichts  mehr  auf  mein  Wort.  Le 
27  Aout  1774  de  Zürich:  Werthers  Leiden  werden  Dich 
entzücken  und  in  Tränen  fchmelzen.  Du  würdeft  den 
Doktor  Goethe  vergöttern.  Er  ift  der  furchtbar fte  und 
der  liebenswürdigfte  Menfch. 

[86.]     Januar,  vor  27.     F.  H.  Jacobi  an  Wieland. 

Ich  foll  die  Hand  aufs  Herz  legen,  trauter  Freund 
und  zeugen,  ob  der  außerordentliche  Beifall,  den  Goethe 
Ihrer  Kantate  des  Apollo  im  Midas  gegeben,  nicht  Per:; 
fiflage  fei.  O  tausendmal  kann  ich  hierüber  die  Hand 
aufs  Herz  legen  und  zeugen,  daß  diefer  Beifall  fo  ganz 
und  fo  innig  gewefen,  als  einer  fein  kann.  Wenn  Sie 
mit  Goethes  epifchem  Shandysmus  bekannter  wären,  fo 
würden  Sie  darin  nichts  Unbegreifliches  finden.  Über:; 
dies  ift  Perfiflage  Goethes  Lieblingsfigur  nicht,  ja,  ich 
dürfte  wohl  behaupten,  daß  er  niemals  fich  derfelben  be^^ 
diene,  denn  immer  ift  feine  Ironie  offenbarer  deutlicher  Spott. 

Ohne  eben  ein  Wundermann  zu  fein,  wollte  ich 
Ihnen  von  Goethe  Beiträge  zum  Merkur  verfchaffen,  wenn 
nicht  Goethe  mit  verfchiedenen  Ausarbeitungen  im  Merkur 
fo  gar  fchlecht  zufrieden  wäre,  daß  er  die  Vorftellung  nicht 
ausftehen  kann,  in  Gefellfchaft  ihrer  Verfaffer  vor  dem 
Publikum  aufzutreten.  Sie  achtet  er  vom  Grunde  der  Seele 
hoch;  aber  als  Herausgeber  des  Merkurs  find  Sie  ihm  ärger:: 


90]  Frankfurt.    1775.  53 

lieh.  Zur  Iris  hat  er  verfchiedene  Beiträge  geUefert  und 
in  den  dritten  Teil  1775  kommt  ein  Drama  mit  Arien  Erwin 
und  Elmire  von  ihm  ^ 

Goethe  grüßt  Sie  herzlich  und  bittet  Sie,  uns  Ihre 
Silhouette  zu  fchicken.  Wir  wollen  sie  in  Kupfer  ftechen 
laffen  wie  die  inliegenden  von  Klopfiock  und  Lavater. 

[87.]     (Januar.)    F.  H.  Jacobi. 

Kurz  es  ift  Merck  ein  Menfch  ohne  Treu  und  Glauben, 
der  keinen  Fetzen  Herz  im  Leibe  hat;  ein  Kerl  von  Leder, 
wie  Goethe  deswegen  von  ihm  zu  fagen  pflegte. 

[88.]     (Januar.)    F.  H.  Jacobi. 

Goethe  Tagte  von  Herder  (ehemals);  er  exiftierte  in 
einem  unaufhörlichen  Blafenwerfen.  —  Auch  zerplatzt 
ihm  alles,  und  alles  ekelt  ihn  im  voraus  fchon  an.  Schwer^; 
lieh  hat  je  ein  Menfch  einen  anderen  Menfchen  fo  ge^ 
drückt,  wie  er  (ich  felbft  drückt. 

[89.]     Februar  4.     Karl  Auguft,  Prinz  von  Sachfen*Meiningen. 

Der  Herr  Goethe  hat  bei  uns  zu  Mittag  gegeffen. 
Es  war  mir  fehr  lieb,  daß  er  neben  mir  faß,  damit  ich 
ihn  defto  näher  bemerken  konnte.  Er  fpricht  viel,  gut, 
befonders,  original,  naiv  und  ift  erftaunlich  amüfant  und 
luftig.  Er  ift  groß  und  gut  gewachfen,  in  der  Statur  des 
Gotters  und  hat  feine  ganz  eigene  Fa^ons,  fowie  er  über:; 
haupt  zu  einer  ganz  befonderen  Gattung  von  Menfchen 
gehört.  Er  hat  feine  eigenen  Ideen  und  Meinungen  über 
alle  Sachen;  über  die  Menfchen,  die  er  kennt,  hat  er 
feine  eigene  Sprache,  feine  eigenen  Wörter.  —  Er  hat  mir 
fehr  wohl  gefallen. 

Sein  fanftes  Gefühl,  feine  Richtigkeit  des  Ausdruckes, 
der  Denkungsart,  des  Urteils,  feine  angenehme  Lebhaftig;: 
keit  verdienen  Bewunderung.  Er  fagte  mir,  daß  er  jetzt 
an  zwei  Stücken  arbeite:  Der  Tod  J.  Cäfars,  ein  Trauerfpiel, 
und  eine  Oper. 

Er  blieb  bis  5  Uhr  nachmittags  bei  uns,  worüber 
wir  fehr  erfreut  waren. 

[90.]     (Februar.)    H.  G.  v.  Bretfchneider. 

Mit  Goethe  habe  ich  vor  einiger  Zeit  gefprochen;  dem 
wollen  die  Freuden  Werthers  gar  nicht  fchmecken.  Er  be^ 
hauptet  ganz  kühn  gegen  mich,  man  habe  ihn  nicht  verftanden. 

I 


54  G.  M.  Kraus.  [91 

[91.]    Februar  Ende/März  Anfang.   G.  M.  Kraus  an  F.  J.  J.  Bertuch. 

Nun  hören  Sie,  was  Goethe  fagt.  Diefer  hat  mich 
fchon  etUche  Male  befucht.  Des  Herrn  Hofrats  Wie:: 
land  Porträt  lobt  er  über  alle  Maßen;  diefe  ganze  Familie 
gefällt  ihm.  Karolinchen  heißt  er  feine  Favorite:  Man 
fieht  ihr  die  Gutheit  in  ihren  Gefichtszügen.  Sophiechen 
—  fagt  er  —  ift  eine  kleine  Schönheit,  aber  etwas  fchalk:; 
haft  und  gefährlich!  Die  wird  Männer  rafen  machen! 
Dorchen  ift  ein  kleiner  Teufel,  Malchen  fehr  unfchuldig 
und  angenehmes  Kind.  Das  ift  das  Urteil  von  Goethe 
über  diefe  Porträts,  welches  er,  wie  er  mir  noch  heute 
fagte,  felbften  an  Herrn  Hofrat  fchreiben  wird.  Die  Kn^ 
Ordnung  vom  ganzen  Bild  gefällt  ihm  nach  meiner  Skizze 
fehr  wohl,  nur  mit  der  Einrichtung  des  Zimmers  ift  er 
nicht  ganz  zufrieden,  es  fcheinen  ihm  die  darinnen  an^: 
gebrachten  Meubles  zu  reich  und  zu  prächtig  für  einen 
Autor  zu  fein.  Daran  läßt  fich  denken  und  ändern, 
ohne  dem  Ganzen  zu  fchaden.  Goethe  ift  jetzt  luftig 
und  munter  in  Gefellfchaften,  geht  auf  Bälle  und  tanzt 
wie  rafend!  Macht  den  Galanten  beim  fchönen  Ge^ 
fchlecht:  das  war  er  fonften  nicht.  Doch  hat  er  noch 
immer  feine  alte  Laune.  Im  eifrigften  Gefpräch  kann 
ihm  einfallen,  aufzuftehen,  fortzulaufen  und  nicht  wieder 
zu  erfcheinen.  Er  ift  ganz  fein,  richtet  fich  nach  keiner 
Menfchen  Gebräuche,  wenn  und  wo  alle  Menfchen  in 
feierlichften  Kleidungen  fich  fehen  laffen,  fieht  man  ihn 
im  größten  Neglige  und  ebenfo  im  Gegenteil.  Goethe 
will  oft  zu  mir  kommen  und  bei  mir  zeichnen,  welches 
ich  ihm  fehr  gern  erlauben  werde.  Er  hat  feit  einem 
Jahr  viel  gezeichnet  und  auch  etwas  gemalt.  Viele  Schatten^ 
bilder  und  auch  andere  Gefichter  im  Profil  macht  er, 
trifft  öfters  recht  gut  die  Gleichheit  ^  Goethe  hat  mir 
angekündigt,  daß  ich  in  hiefiger  Stadt  nicht  viel  Sub^^ 
fkribenten  für  Ihren  Don  Quixote  anwerben  würde.  Ein 
garftiges  Zeichen  vom  Gefchmack  meiner  Landsleute. 

[92.]     Frühjahr.     Überlieferung  der  Familie  Andre. 

Lili  Schönemann  hielt  fich  im  Frühling  des  Jahres  1775 
zuzeiten  in  dem  Landhaufe  ihres  Oheims  Bernhard  zu  Offene 
bach  auf.  Johann  Andre,  unerfchöpflich  in  Gefangen  und 
Schwänken  zum  Klavier,  ließ  fich  dann  oft  bis  der  Nacht;: 
Wächter  die  zwölfte  Stunde  abrief,  von  den  Liebesleutchen 
ans  Klavier  feffeln,  wodurch  fie  fich  eines  längeren  Bei:= 


95] Frankfurt.    1775. 55 

fammenfeins  erfreuen  konnten.  Überhaupt  wird  noch 
mancher  harmlofe  Zug  aus  diefer  Periode  von  dem  Dichter 
erzählt,  der  damals  noch  an  der  ganzen  lyrifchen  Zerfahren^ 
heit  der  Jugend  litt. 

Bei  einer  dämmernden  Mondnacht  hat  er  fich  einft 
in  weiße  Laken  gehüllt  und  fo,  auf  hohen  Stelzen  in  dem 
Städtchen  herumfchreitend  —  Goethe  war  nämlich  in  feiner 
Jugend  ein  fehr  geübter  Stelzengänger  —  vielen  Leuten 
zu  den  Fenftern  des  erften  Stockwerkes  hineingefchaut, 
daß  jen^  ein  panifcher  Schreck  befiel  ob  der  langen, 
weißen,  geifterhaften  Gefialt.  Ein  anderes  mal,  bei  der 
Taufe  des  Anton  Andre,  faß  die  ganze  Gefellfchaft  bei 
dem  Kindtauffchmaufe.  Da  tritt  Goethe  nach  kurzer  Ent;: 
fernung  mit  einem  verdeckten  Gerichte  herein,  das  er 
fchweigend  auf  den  Tifch  fetzt.  Und  als  man  fpäter  die 
Serviette  von  der  Platte  hob,  lag  der  kleine  Täufling,  forg= 
fam  eingewickelt,  darin. 

[93.]     Mai.     Herder  an  Hamann. 

Ihre  Prolegomena  find  an  Mofer  und  Lavater  abge^s 
gangen.  Von  mir  hat  Goethe  ein  Exemplar  bekommen, 
der  Sie  fi:umm  aber  defi:o  ftärker  hochhält.  Ich  höre  nur 
manchmal  von  ihm  ein  Wort,  und  wie  das  auch  falle, 
ifi:'s  ein  Kerl  von  Geift  und  Leben.  Er  will  nichts  fein, 
was  er  nicht  von  Fierzen  und  mit  der  Fauft  fein  kann. 

[94.]     Mai  (9).     Grf.  Ch.  z.  Stolberg. 

Haugwitz  ^  war  bei  Goethen.  Gleich  ließen  wir 
ihn  holen.  Goethe  kam  bald  zu  uns,  er  war  in  wenigen 
Tagen  mit  Fiaugwitz  intim  geworden  und  ward  es  auch 
gleich  mit  uns.  Er  aß  mit  uns  und  wir  waren,  als  hätten 
wir  uns  jahrelang  gekannt.  Er  ift  ein  gar  herrlicher  Mann. 
Die  Fülle  der  heißen  Empfindung  ftrömt  aus  jedem  Wort, 
aus  jeder  Miene.  Er  ift  bis  zum  Ungeftüm  lebhaft,  aber 
auch  aus  dem  Ungefi:üm  blickt  das  zärtlich  liebende  Fierz 
hervor.  Wir  find  immer  beifammen  und  genießen  zu^: 
fammen  alles  Glück  und  Wohl,  das  die  Freundfchaft 
geben  kann.  Er  kann  fich  nicht  von  uns  trennen  und  will  zu 
unferer  größten  Freude  einen  Teil  der  Reife  mit  uns  machen. 

[95.]    Mai,  Mitte.     Grf.  Chr.  z.  Stolberg. 

Das  macht  uns  herrliche  Freude,  daß  wir  mit  Goethe 
reifen.  Es  ift  ein  wilder,  unbändiger,  aber  fehr  guter 
Junge.  Voll  Geift,  voll  Flamme.  Und  wir  lieben  uns 
I 


56  Grf.  Chr.  z.  Stolberg.  [96 

fchon  fo  fehr.  Schon,  fag  ich.  Seit  der  erften  Stunde 
waren  wir  Herzensfreunde.  Wir  find  bei  Gott  eine  Ge? 
fellfchaft,  wie  man  fie  von  Peru  bis  Indoftan  umfonft 
fuchen  könnte.  Und  fo  herrUch  fchicken  wir  uns  zu^ 
fammen.  In  Frankfurt  haben  wir  uns  alle  Werthers  Uni:^ 
form  machen  laffen.  Einen  blauen  Frack  mit  gelber  Wefte 
und  Hofe;  runde  graue  Hüte  haben  wir  dazu. 

[96.]    Mai  (25.)     Karl  Auguft,  Prinz  v.  Sachfen=Meiningen. 

Wie  erfchrak  ich  nicht,  als  der  Doktor  Goethe  her? 
eintrat!  Ja,  er  war  es  felbften  und  war  von  Frankfurt 
gekommen,  feine  Schwefter  im  Badenfchen  zu  befuchen, 
hatte  in  Karlsruhe  die  Prinzen  von  Weimar  gefprochen 
und  war  hergereift,  um  feinen  Freund  Lenz  zu  fehen. 
Er  mußte  fich  neben  mir  aufs  Kanapee  fetzen,  und  der 
Herr  v.  Dürkheim  und  Herr  Heim  fetzten  fich  auch  da? 
zu,  und  wir  fprachen  recht  vertraut  zufammen.  Nur  eine 
halbe  Stunde  blieb  er  da;  ich  bat  ihn,  noch  vor  feiner 
Abreife  zu  mir  zu  kommen.  Diefer  unvermutete  Befuch 
machte  mir  viel  Spaß,  da  ich  den  Goethe  recht  gern 
habe,  weil  er  fo  natürlich  ift. 

[97.]    Mai  (25.)  J.  G.  v.  Zimmermann  an  Charlotte  v.  Stein. 

AStrassbourgj'ay  montre  entre  cent  autres  silhouettes 
la  votre,  Madame,  ä  Mr.  Goethe.  Voici  ce  quil  a  ecrit 
de  sa  propre  main  au  bas  de  ce  Portrait.  Es  wäre  ein 
herrliches  Schaufpiel  zu  fehen,  wie  die  Welt  fich  in  diefer 
Seele  fpiegelt.  Sie  fieht  die  Welt  wie  fie  ift,  und  doch 
durchs  Medium  der  Liebe  ^  J'ay  ete  löge  ä  Francfort  ches 
Monsieur  Goethe,  un  des  genies  les  plus  extraordinaires 
et  les  plus  puissants  qui  ayent  jamais  pases  dans  le  monde. 
II  viendra  sürement  vous  faire  visite  ä  Weimar.  Rapelles? 
vous  allors  que  tout  ce  que  je  lui  ai  dit  de  vous  ä  Strass? 
bourg,  lui  a  fait  perdre   le  sommeil  pendant  trois   nuits. 

[98].    Mai  Ende  .  Gräfin  Henriette  v.  Bernftorff  an  Graf  z.  Stolberg. 
Mein  Mann  ^   umarmt   Dich   aufs   zärtlichfte,   und 
wir  beide  —  foll  ich  ihn  wie  Goethe  Chriftel  nennen? 
—  meinen  Bruder. 

[99.]     Mai.     Graf  F.  L.  z.  Stolberg. 

Goethe  hat  uns  fchon  feit  drei  Tagen  verlaffen  und 
ift  bei   feiner  Schwefter   in  Emmendingen,   fechs   Meilen 


102] Zürich.    1775. 57 

von  hier  auf  dem  Wege  nach  Bafel.  Da  gehen  wir 
morgen  auch  hin.  Ob  er  noch  mit  uns  geht,  weiß  ich 
nicht;  einesteils  hat  er  große  Luft,  nach  Italien  zu  gehen, 
zum  anderen  zieht  ihn  fein  Herz  nach  Frankfurt  zurück. 
Sonft  ging  er  gern  mit  uns,  zum  wenigfien  nach  Zürich, 
weil  Lavater  fein  fehr  großer  Freund  ifi.  An  Goethe 
haben  wir  gleich  einen  herzlichen  Freund  gefunden,  fein 
Herz  ift  nicht  unter  feinem  Geift,  das  ift  wahrlich  alles, 
was  man  nur  fagen  kann! 

[100.]     Juni.    J.  J.  Bodmer. 

Goethe  ift  ein  Mann  von  wenig  Worten.  Er  ift 
mit  meiner  Munterkeit  recht  wohl  zufrieden.  Er  hat  mir 
die  Freude  machen  wollen,  daß  ich  ihn  vor  meinem 
Ende  fähe,  und  es  ward  ihm,  da  er  fchon  in  Efchers 
Haufe  war,  noch  bange,  daß  er  zu  fpät  gekommen  wäre, 
fich  vor  dem  alten  Manne  fehen  zu  laffen.  Ich  machte 
ihm  das  Kompliment,  daß  er  mich  11  Jahre  auf  fich 
habe  warten  laffen. 

[101.]     Juni.     J.  J.  Bodmer. 

Herr  Lavater  hat  Goethen  und  die  Grafen  von  Stob 
berg  zu  mir  gebracht.  Ich  habe  auch  Goethen  bei  La* 
vater  einen  Befuch  gemacht  ^^  Herr  Lavater  hat  Goethen 
eine  vorteilhafte  Opinion  von  mir  gemacht,  die  ich  noch 
nicht  verdorben  habe.  Er  ift  mit  meiner  Munterkeit  am 
heften  zufrieden.  Er  hat  Brutus  und  Caffius  für  nieder* 
trächtig  erklärt,  weil  fie  den  Cäfar  ex  insidiis,  von  hinten, 
um  das  Leben  gebracht  haben.  Ich  fagte,  daß  Cäfar 
durch  fein  Leben  nichts  anderes  getan,  als  die  Republik, 
feine  Mutter,  getötet,  und  die  meifte  Zeit  durch  falfche 
Wege.  Cicero  ift  nach  ihm  ein  blöder  Mann,  weil  er 
nicht  Cato  war  ~  Man  fagt,  Goethe  wolle  bei  uns  an 
einem  Trauerfpiel  von  Dr.  Fauftus  arbeiten.  Eine  Farce 
läßt  fich  von  einem  Schwindelkopf  leicht  daraus  machen. 

[102.]    Juni.     GrafF.L.z.  Stolberg. 

Goethe  ift  mit  einem  hiefigen  Freunde  zum  St.  Gott* 
hard  gereift;  da  er  nicht  lange  von  Frankfurt  fein  kann, 
wollte  er  den  doch  fehen.  ^^  Er  hat  uns  viele  Manu* 
fkripte  gelefen,  welche  alle  würdige  Brüder  des  Götz  von 
Berlichingen  find. 
I 


58  Überlieferung  der  Familie  Paffavant.  [103 

[103.]     Juni  22.     Überlieferung  der  Familie  Paffavant. 

Wenn  man  Goethes  Darftellung  Glauben  fchenkt,  fo 
wollte  Paffavant  ihn  beftimmen,  vom  Gotthard  aus  mit 
ihm  nach  Mailand  zu  wandern,  indem  er  darauf  hinwies, 
daß  dort  bei  mehr  als  einem,  von  den  Meffen  her  be^* 
kannten  Handelsfreunde  Kredit  fich  finden  werde.  Paffa^; 
vant  hätte  gehofft,  mit  liebevoller  Arglifi  ihn  an  Ort  und 
Stelle  zu  überrafchen,  nachdem  er  fich  eine  Reife  nach 
Italien  Ichon  früher  ausgedacht.  Diefer  Darftellung  tritt 
nun  aber  die  Familienüberlieferung  entfchieden  entgegen, 
nach  welcher  vielmehr  Goethe  den  jüngeren  Freund  zu 
einer  Wanderung  nach  Mailand  und  zur  Erhebung  einer 
Summe  bei  Meßfreunden  habe  beftimmen  wollen,  wäh:: 
rend  diefer  in  gewohnter  Gewiffenhaftigkeit  den  Plan  be^s 
kämpft  habe.  Goethe  hat  in  der  Tat  hier  den  wahren 
Sachverhalt  unrichtig  wiedergegeben,  vermutlich  aus  einer 
Art  Neckerei  gegen  den  nachmaligen  Pfarrer,  dem  er  hier 
die  eigene,  etwas  leichtfertige  Gefinnung  unterfchob. 

[104.]     Ende  Juni.     J.  J.  Bodmer. 

Goethe  hat  mich  nach  feiner  Wiederkunft  vom  Gott* 
hardberge  wieder  befucht.  '^  Er  ift  aber  ganz  zurück? 
haltend.  Er  fpricht  kein  Wort  von  feinen  Schriften;  auch 
nichts  von  Wieland.  Von  Klopstock  mit  FJochachtung, 
auch  von  FJomer  und  der  Natürlichkeit  feiner  Perfonen. 
Von  FJerder  nichts. 

[105.]  Juni  30.  Grf  F.  L.  z.  Stolberg  an  die  Schwefter  Henriette. 
Da  ich  Goethe  fagte,  daß  ich  an  Dich  fchreiben 
wolle,  trug  er  mir  auf.  Dich  zu  grüßen.  Es  wäre  mir 
unmöglich,  einen  Freund  zu  haben,  ohne  mit  ihm  von  Dir 
zu  fprechen.  Er  kennt  Dich  gewiß  beffer  als  viele,  die 
Dich  oft  fehen.     Übermorgen  reift  er  nach  Frankfurt. 

[106.]     Juni.     K.  F.  v.  Beyme  an  K.  A.  Varnhagen  v.  Enfe. 

Eine  Anekdote,  die  ich  dem  Minifier  Grafen  Haug^ 
witz  verdanke,  daß  Goethe  vor  etwa  50  Jahren,  als  er 
in  des  erftern  und  der  beiden  Stolberge  Gefellfchaft  La? 
vatern  den  Befuch  in  Zürich  machte,  zu  einer  Predigt,  wo? 
von  der  letztere  nur  den  erften  Teil  konzipiert  hatte,  die 
beiden  fehlenden  Teile  in  deffen  Abwefenheit  zugefchrie? 
ben  hat,  welche  Lavater  tags  darauf  ohne  die  mindefte 
Abänderung  von  der  Kanzel  gehalten. 


109]  Zürich.    1775.  59 

[107.]     Lavater  an  Wieland. 

Wer  ]<:ann  verfchiedener  denken,  als  Goethe  und  ich; 
und  dennoch  heben  wir  uns  fehr.  ^  Goethe  war  voll  Bon? 
homie  zu  Ihnen  zu  kommen.  Das  weiß  ich.  Sie  werden 
über  den  Mann  erftaunen,  der  mit  dem  Grimm  des  TU 
gers  die  Gutherzigkeit  eines  Lämmleins  verbindet.  Ich 
habe  noch  keinen  feftern  und  keinen  leitfamern  Men? 
fchen  gefehen.  Prometheus?  Eh'  ich  wußte,  daß  Wag:^ 
ner  Verfaffer  war,  fagt'  ich,  fagt's  ihm  felbft  —  Goethes 
unwürdig.  —  Liebfter  Wieland,  Sie  irren  fich  gewiß,  wenn 
Sie  Goethe  für  den  Verfaffer  des  Prometheus  halten.  Das 
ift  fo,  fo  wenig  Sie  die  Menfchen,  Thiere  und  Goethe,  die 
man  hier  Ihnen  zufchreiben  wollte,  gemacht  haben.  Beides 
beftreit  ich  mit  gleicher  Zuverficht.  Das  erfte  ift  Goethen, 
das  andere  Ihnen  —  unmöglich.  —  Goethe  ift  der  liebens:^ 
würdigfte,  zutraulichfte,  herzigfte  Menfch.  Bei  Menfchen 
ohne  Prätenfion  der  zermalmendfte  Herkules  aller  Präten? 
fion.  Nehmen  Sie  zum  Pfand  feines  edlen  Herzens  feine 
brüderliche  Liebe  zu  mir  taufendmal  Schwächern.  Der 
Wurm  darf  dem  Adler  um  den  Schnabel  kriechen.  Seine 
Größe  ift  wirklich  übern  Neid  erhaben,  und  der  Wurm 
darf  ihm  dennoch  ins  lächelnde  Herz  flüftern:  Deiner 
Flügel  Schlag,  und  ihren  Todeston  —  laß  ruhn!  Billiger 
ift  kein  Menfch  in  mündlicher  Beurteilung  anderer.  — 
Toleranter  niemand,  als  Er.  Ich  hab'  Ihn  neben  Bafedow 
und  Hafenkamp  —  bei  Herrenhutern  und  Myftikern,  bei 
Weibchens  und  Männinnen,  bei  Kleinjoggen  und  Boß== 
hard  (zwei  unendlich  verfchiedene  Himmelsprodukte  unferes 
Landes)  allenthalben  denselben  edeln,  alles  durchfchauen? 
den  duldenden  Mann  gefehen.  Aber  ja!  —  wehe  dem, 
der  Prätenfionen  gegen  ihn  macht  —  und  —  der  , feine  kano? 
nifchen  Bücher'  angreift.   — 

[108.]     JuH  Anfang.     J.  J.  Bodmer. 

Jemand,  der  Goethen  nach  feiner  Abreife  in  Baden 
gefehen  hat,  erzählt,  daß  er  mit  mir  überaus  wohl,  und 
mit  keinem  Zürcher  beffer  zufrieden  fei. 

[109.]     JuH  (16).    J.  M.  Miller  an  J.  H.  Voß. 

Klinger  läßt  Dich  herzlich  grüßen.  Nach  feiner  Ver:s 
ficherung  muß  ich  nun  gewiß  glauben,  daß  Wagner  ohne 
Goethens  Vorwiffen  den  Prometheus  gemacht  hat.  Goethe 

I 


60 J.  M.  Miller. [HO 

ift  noch  in  der  Schweiz.  Er  foll  auf  Claudius  fehr  übel 
zu  fprechen  fein,  ich  hab'  aber  fchon  vieles  ins  Reine  ge? 
bracht  und  Klinger  denkt  fchon  billiger  von  ihm.  Goethe 
fchreibt  ein  Schaufpiel  für  Liebende,  das  herrlich  fein  foll. 

[110.]     Juh  21./28.     Herder  an  J.  G.  Hamann. 

Goethe,  der  uns  zugut  aus  Straßburg  von  feiner 
Schweizerreife  heraufeilte  und  von  Darmstadt  nach  Franko 
fürt  begleitete,  ift  weidlich  voll  von  Friedrich  Nicolai  und 
wird,  glaub'  ich,  nächftens  reiben.  Sie  ehrt  er  fehr.  Da 
ich  ihm  im  Spaß  Kanters  Märchen  fagte,  freute  er  fich 
darüber  recht  im  Ernfte.  Sie  glauben  nicht,  wie  er  alles 
aufhafcht,  was  Sie  betrifft  und  ift  überhaupt  mit  feinen 
Schriften  nur  Komödiant,  in  feinem  Leben  wilder  Menfch 
und  Zeichner  und  guter  Junge. 

[111.]     September  2./3.     J.  G.  Sulzer. 

Ich  hatte  doch  in  Frankfurt  das  Vergnügen,  des  be=: 
reits  in  jungen  Jahren  durch  verfchiedene  Schriften  in 
Deutfchland  berühmt  gewordenen  D.  Goethens  Befuch 
zu  genießen.  Diefer  junge  Gelehrte  ift  ein  wahres  Ori^ 
ginalgenie  von  ungebundener  Freiheit  im  Denken^ Jjawohl 
über  politi{che_iIsIi;geldlilC'^^  Er  befitzt 

bel~wifklich  fcharfer  Beurteilungskraft  eine  fehr  feurige 
Einbildungskraft  und  fehr  lebhafte  Empfindfamkeit.  Aber 
feine  Urteile  über  Menfchen,  Sitten,  Politik  und  Gefchmack 
find  noch  nicht  durch  hinlängliche  Erfahrung  unterftützt. 
Im  Umgang  fand  ich  ihn  angenehm  und  liebenswürdig. 

[112.]     September  2./3.     J.  G.  Sulzer. 

Goethe  ift  in  Frankfurt  drei  Stunden  lang  bei  mir 
gewefen  und  würde  allem  Anfchein  nach  noch  länger  mit 
mir  geplaudert  haben,  wenn  ihn  nicht  die  Nacht  wegge^ 
rufen  hätte.  Die  Seite,  von  der  er  mir  fich  zeigte  (jeder?: 
mann  fagt  mir,  er  habe  zwei  ganz  verfchiedene)  hatte 
nichts,  das  mir  nicht  gefiel.  Ich  irre  mich  fehr,  wenn 
diefer  junge  Mann  bei  reifren  Jahren  nicht  ein  rechtfchaff^: 
ner  Mann  fein  wird.  Jetzt  hat  er  den  Menfchen  und  das 
menfchliche  Leben  noch  nicht  von  vielen  Seiten  betrachtet. 
Aber  fein  Blick  ift  fcharf. 

[113.]     September.     J.  G.  v.  Zimmermann. 

Von  diefer  Cenci  hat  man  ein  Bild  von  Guido  Reni 
in  Rom.   f^  Von  diefem  Bilde  hat  ein  junger   deutfcher 


117]  Frankfurt.     1775.  61 

Maler  namens  Naumann,  ein  Schüler  und  Vertrauter  von 
Mengs,  vier  Kopien  gemacht.  Eine  befaß  der  Baron  von 
Haugwitz  und  fchenkte  fie  an  Goethe,  bei  dem  ich  fie 
gefehen  habe,  f^  Goethe  fagte  mir:  diefes  Geficht  der 
Cenci  enthalte  mehr,  als  alle  Menfchengefichter,  die  er  je 
gefehen  habe.  Er  glaubte,  daß  es  die  höchfte  Zierde  für 
Lavaters  Phyfiognomik  fein  würde  und  war  der  Meinung, 
daß  mit  diefem  Stücke  Lavaters  Werk  gefchloffen  werden 
muffe.  Nur  fchmeichelte  er  fich  damals  nicht,  daß  es  mög^ 
lieh  fein  werde,  in  Deutfchland  einen  Zeichner  zu  finden, 
der  würdig  wäre,  diefes  Gemälde  abzuzeichnen,  noch  einen 
Kupferftecher,  dasfelbe  zu  ftechen. 

[114.]     September.     Nach  J.  G.  v.  Zimmermann. 

Faust  avait  ete  annonce  de  bonne  heure,  et  Ton  saU 
tendait  alors  ä  le  voir  paraitre  prochainement.  Zimmern 
mann  ^^  demanda  ä  son  ami  des  nouvelles  de  cette  com^ 
Position.  Goethe  apporta  un  sac,  rempli  de  petits  chif^ 
fons  de  papier.  II  le  vida  sur  la  table  et  dit:  Voilä 
mon  Faust! 

[115.]     September.     J.  G.  v.  Zimmermann. 

Goethe  habe  ich  zweimal  gefehen  und  das  zweite 
Mal  bei  ihm  logiert,  deffen  ich  mich  mein  Lebtag  freue. 
f^  In  Frankfurt  fah  ich  mit  eignen  Augen,  daß  der  Her;= 
zog  ganz  in  Goethe  verliebt  war,  und  er  hat  recht. 

[116.]     September.    J.  G.  v.  Zimmermann  an  Lavater. 

Ich  habe  es  an  Goethe  in  Frankfurt  gefagt,  und  er 
war  meiner  Meinung,  daß  Du  aber  auch  wirklich  ein 
wenig  Tracaffier  bift,  Trakafferien  liebfi:,  id  est,  denfelben 
Gehör  gibft. 

[117.]     Herbft.     J.  H.  Merck  an  F.  Nicolai. 

Mir  tut's  leid,  daß  Sie  von  einem  meiner  Freunde 
gekränkt  werden  und  daß  dies  durch  die  niederträchtigen 
Hände  von  Zuträgern  und  Anekdotenfammlern  gefchieht. 
Haben  Sie  denn  nicht  fchon  längftens  den  Menfchen  ver^: 
achtet,  der  fo  etwas  fähig  ift?  Entweder  ifi:  es  Schaden^: 
freude,  oder  Willen,  Goethen  zu  fchaden.  —  Freundfchaft 
kann's  nicht  fein,  die  Märchen  und  Tifchreden  zuträgt. 
Was  wird  von  derjj  fonderbaren  Menfchen  nicht  alles  er^ 
zählt!  War'  Er  Ich,  fo  hätt'  ich  ihm  längft  die  Imputa^^ 
I 


62 J.  H.  Merck. [US 

tion  gemacht,  fo  aber  kann  ich  von  ihm  auch  gegen  mich 
nichts  anderes  fagen  als:  dies  tut  wohl,  und  jenes  weh. 
Er  folgt  ganz  seiner  Laune,  unbekümmert  über  die  Folge 
ihrer  Moralität,  allein  was  er  auch  über  Sie  gefprochen 
und  gefchrieben  haben  mag,  fo  ifi's  nichts  als  faunifcher 
Mutwillen.  —  Zu  rachfüchtigen  Abfichten,  deren  Ausgang 
Pasquillen  und  Trätfchereien  wären,  dazu  hat  er  erftlich 
nicht  die  Seele,  und  zweitens  nicht  die  Zeit;  weil  fein  Kopf 
voll  immer  neuer  Träumereien  fchwirbelt.  f^  Das  muß 
ich  Ihnen  doch  aufrichtig  verfichern,  daß  er  mit  Wieland 
nicht  fpielt,  daß  er  vielen  Mutwillens,  aber  keiner  Dupli^; 
zität  fähig  ift,  und  daß,  wenn  Sie  mit  ihm  auf  einige 
Abende  nur  fo  nahe  wie  Wieland  zufammengefperrt  wür^ 
den,  fie  einander  ^  lieb  gewinnen  würden.  ^  Wenn  Sie 
wüßten,  wie  ich  oft  mit  ihm  über  Rationem  artis  difpu^ 
tiere,  und  Sie  fähen  den  Burfchen  im  Schlafrock  und 
Nachtwams  der  Bonhomie,  er  würde  Ihnen  gefallen. 
Sein  Fauft  ift  aber  ein  Werk,  daß  mit  der  größten  Treue 
der  Natur  abgefiohlen  ift,  und  die  Stella,  wie  Clavigo  find 
aufrichtig  nichts  weiter  als  Nebenftunden.  Ich  ftaune,  fo 
oft  ich  ein  neu  Stück  von  Fauft  zu  fehen  bekomme,  wie 
der  Kerl  zufehends  wächft,  und  Dinge  macht,  die  ohne 
den  großen  Glauben  an  fich  selbft  und  den  damit  ver? 
bundenen  Mutwillen  unmöglich  wären. 

[118.]     Henriette  v.  Beaulieu. 

Die  vortreffliche  Frau  v.  Türckheim  geftand  mir  mit 
rührender  Offenheit,  fie  habe  erfahren,  in  welcher  engen 
Verbindung  ich  mit  Weimar  ftünde  und  bloß  deshalb 
meine  Bekanntfchaft  gewünfcht,  um  etwas  Näheres  von 
Goethes  Leben  und  Schickfalen  zu  vernehmen,  den  fie 
den  Schöpfer  ihrer  moralifchen  Exiftenz  nannte.  Die 
Innigkeit,  ja  ich  darf  fagen,  die  Begeifterung,  womit  fie 
von  ihm  fprach,  rührten  mich  unausfprechlich.  <^  Im  Laufe 
unfrer  traulichen  Unterhaltungen  erzählte  fie  mir  die  Ge^: 
fchichte  ihres  Herzens,  woraus  ich  deutlich  erfah,  daß  fie, 
wenn  auch  nicht  vollkommen  glücklich,  doch  mit  ihrem 
Schickfal  zufrieden  war,  weil  Goethe  es  ihr  vorgezeichnet 
hatte.  Mit  feltner  Aufrichtigkeit  geftand  mir  Frau  v. 
Türckheim,  ihre  Leidenfchaft  für  denfelben  fei  mächtiger 
als  Pflicht  und  Tugendgefühl  in  ihr  gewefen,  und  wenn 
feine  Großmut  die  Opfer,  welche  fie  ihm  bringen  wollte, 
nicht  ftandhaft  zurückgewiefen  hätte,  fo  würde  fie  fpäter=: 


120]  Frankfurt.    1775.  63 

hin  ihrer  Selbftachtung  und  der  bürgerUchen  Ehre  beraubt 
auf  die  Vergangenheit  zurückgefchaut  haben,  welche  ihr 
im  Gegenteil  jetzt  nur  befeligende  Erinnerungen  darböte. 
Seinem  Edelfinne  verdanke  fie  einzig  und  allein  ihre  geiftige 
Ausbildung  an  der  Seite  eines  würdigen  Gatten  und  den 
Kreis  hoffnungsvoller  Kinder,  in  welchen  fie  Erfatz  für 
alle  Leiden  fände,  die  der  Himmel  ihr  auferlegt.  Sie 
muffe  fich  daher  als  fein  Gefchöpf  betrachten  und  bis  zum 
letzten  Hauch  ihres  Lebens  mit  religiöfer  Verehrung  an 
feinem  Bilde  hangen.  Da  ihr  aller  Wahrfcheinhchkeit 
nach  nicht  vergönnt  fein  würde,  Goethen  wiederzusehen, 
fo  bäte  fie  mich,  dem  unvergeßlichen  Freunde  dasjenige 
mitzuteilen,  was  fie  mir  in  diefer  Abficht  vertraut  habe. 

[119.]     (Herbft.)     H.  G.  v.  Bretfchneider. 

Ein  Umftand,  den  ich  noch  nicht  gewußt  habe  und 
der  ihn  bewogen  haben  foll,  eine  Zeitlang  fich  zu  ent^ 
fernen,  ift  diefer:  Es  ift  in  Frankfurt  eine  reiche  Bankiers:^ 
witwe  Schönemann,  reformierter  Religion,  die  eine  artige 
Tochter  hat,  mit  welcher  fich  Goethe  fchon  lange  führt. 
Er  hielt  endlich  förmlich  um  fie  an,  die  Mutter  bat  fich 
Bedenkzeit  aus,  ließ  nach  einigen  Wochen  Goethen  zum 
Effen  bitten  und  deklarierte  in  einer  großen  Gefellfchaft 
Goethes  Anfuchen  mit  der  Antwort,  daß  fich  die  Heirat 
wegen  der  Verfchiedenheit  der  Religion  nicht  wohl  fchicke. 
Eine  Grobheit,  die  Goethe  freilich  fehr  übel  nehmen 
mußte,  weil  fie  ihm  diefelbe  ebenfowohl  hätte  allein  fagen 
können,  die  Frau  fagt  aber,  fie  hätte  der  Sache  auf  ein^ 
mal  ein  Ende  zu  machen  kein  befferes  Mittel  gewußt  und 
fich  bei  einer  Zufammenkunft  tete  a  tete  für  feinem  Diss^ 
putieren  gefürchtet. 

[120.]     Oktober  29.     Überlieferung  der  Familie  Paffavant. 

In  Frankfurt  bereitete  Goethe  Paffavant  nach  feiner 
Rückkehr  aus  Zürich  eine  feltfame  Überrafchung,  indem 
er  ihn  am  29.  Oktober  abends  geheimnisvoll  zu  einem 
Stelldichein  beftimmte,  wobei  er  ihm  mitteilte,  daß  er  im 
Begriff  ftehe,  plötzlich  nach  Italien  zu  reifen  ^^  Goethe 
foll  bei  diefer  Gelegenheit  den  jungen  Kandidaten  fehr 
geneckt  haben  über  das  Eintreffen  beim  Rendezvous,  fo 
daß  das  freundfchaftliche  Verhältnis  faft  einen  Stoß  er^: 
halten  hätte;  doch  hat  der  treue  Paffavant  den  Scherz 
jedenfalls  vergeben,  da  Goethe  am  21.  Dezember  von 
ihm  liebe  Briefe  erhalten  hat. 
I 


64 Elifabeth  Goethe. [121 

Nachlese  zum  erften  Abfchnitt 

Zeitlich  nicht  näher  beftimmbar. 
[121.]     Elifabeth  Goethe. 

Die  Sehnfucht,  Rom  zu  fehen  ^^  war  von  Jugend 
auf  fein  Tagesgedanke,  nachts  fein  Traum. 

[122.]     Überlieferung. 

In  feiner  Jugend  und  Genieperiode  war  er  als  einer 
der  fchönften  Männer  von  Mädchen  und  Frauen  ange^^ 
betet.  Oft  ging  er,  als  er  noch  in  Franlcfurt  war,  zu  Fuß 
nach  Darmftadt.  Da  gaben  ihm  die  artigften  Frauen  das 
Geleite  bis  zur  Stadt  hinaus,  und  in  Darmftadt  fetzte  er 
fich  vor  Mercks  Haus,  wo  auf  einer  fteinernen  Treppe 
einige  Bänke  vor  der  Haustür  ftanden,  um  den,  um  ihn 
verfammelten  Mädchen  Genieaudienz  zu  geben,  die  oft 
länger  als  eine  Stunde  dauerte. 

[123.]     Elifabeth  Goethe. 

Mein  Sohn  hat  gefagt:  was  einen  drückt,  das  muß 
man  verarbeiten,  und  wenn  er  ein  Leid  gehabt  hat,  da 
hat  er  ein  Gedicht  daraus  gemacht. 

[124.]     Elifabeth  Goethe  an  den  Sohn. 

Wie  Du  mir  befonders  beim  Doktor  Jung  feiner 
Hirtenfchleuder  fchuld  gabft  —  ich  erfparte  den  Leuten 
eine  Ohrfeige  —  damit  fie  ein  Loch  in  Kopf  bekämen. 

[125.]     C.  G.  Küttner  an  F.  J.  J.  Bertuch. 

Empfehlen  Sie  mich  Goethen,  wenn  ich  bitten  darf, 
herzlich,  wenn  er  fich  meiner  noch  erinnert  und  den  guten 
Jungen,  wie  er  mich  einft  nannte,  nicht  verkennt. 

[126.]     H.  G.  V.  Bretfchneider  an  F.  Nicolai. 

Goethe  kam  als  junger  Menfch  nach  Leipzig,  um  da 
zu  ftudieren,  und  weil  er  Geld  hatte,  fo  wurde  er  in 
vielen  Gefellfchaften  zugelaffen  und  fand,  daß  es  eine 
fchöne  Sache  um  einen  fchönen  Geift  fei.  Er  nahm  fich 
alfo  vor  coute  qui  coute  einer  zu  werden.  In  diefer  Ver^ 
faffung  habe  ich  ihn  in  Leipzig  kennen  lernen  und  ihm 
dermalen  nichts  weniger  zugetraut,  als  daß  er  einmalen 
das  geringfte  Auffehen  bei  der  Literatur  machen  würde. 
Und  noch  itzo,  kann  ich  Ihnen  auf  meine  Ehre  ver? 
fiebern,  können  Sie  nicht  die  geringfte  Spur  in  diefes 
Menfchen  Umgang  finden,  daß  er  der  Verfaffer  der  Lei;: 


126J  Frankfurt.    1775.  65 

den  Werthers  ift.  Er  urteilt  fchief,  und  es  fcheint  faft, 
daß  er  es  weiß,  daß  fein  Verftand  ohne  langes  Nachts 
denken  nicht  zuverläffig  ift,  denn  er  gibt  Leuten,  von 
denen  er  mutmaßt,  daß  (ich  ihre  Einfichten  über  die  ge^ 
meinen  erheben,  lieber  recht,  als  daß  er  fich  die  Ver:: 
legenheit  über  den  Hals  zöge,  eine  Materie  mit  ihnen 
durchzufprechen,  wobei  er  feine  Schwäche  fehen  ließe. 
Mit  einem  Worte,  er  ift  ein  fchlechter  Philofoph  und  ein 
Menfch  mit  einem  unbeftändigen  Gemüte,  der  bei  keinem 
Syftem  ftehen  bleibt,  fondern  der  von  dem  einen  gar  leicht 
zu  dem  anderen  Extremo  überfpringt  und  der  eben  fo 
leicht  zum  Herrnhuter  als  zum  Freigeift  zu  bereden  wäre, 
wenn  er  nicht,  zum  Glück  für  ihn,  fo  eine  ftarke  Dofis 
Stolz  befäße,  daß  er  faft  alle  Menfchen  außer  ihm  für 
fchwache  Kreaturen  hält;  weil  es  aber  doch  noch  Leute 
geben  kann,  die  wenigftens  fo  gefcheit  find,  als  er,  fo 
kann  es  fein,  daß  er  ihre  Exiftenz  glaubt.  Er  felbft  aber 
ift  nicht  imftande,  zu  prüfen,  fondern  richtet  fich  in  dem 
Falle  nach  dem  allgemeinen  Urteile  der  Welt.  Daher 
muß  es  Ihnen  nicht  wundern,  daß  er  ein  Freund  Lavaters 
und  des  Augendoktors  Jung  ift,  der  Lavatern  anhängt. 
Diefen  zwei  Leuten  redet  Goethe  nach  dem  Munde  und 
flattiert  fie,  teils  weil  Üq  ihn  bewundern,  teils  weil  fie 
in  hiefiger  Gegend  in  den  Befitz  eines  entfchiedenen 
Ruhmes  fitzen.  Ich  glaube,  daß  Goethe  den  Jung  zur 
Verfertigung  der  Piece,  der  Schleuder  eines  Hirtenknaben, 
perfuadiert  hat.  Sie  können  nicht  glauben,  was  bei  der 
ordinären  Sorte  Menfchen  in  hiefiger  Gegend  ein  folches 
Buch  ausrichtet.  Er  wollte  vielleicht  Leute  haben,  die 
Ihre  Feinde  werden  follten,  da  er  es  durch  feine  flüchtigen 
Blätter  nicht  ausrichten  konnte;  doch  das  kann  Mißtrauen 
von  mir  fein  ^^  Es  liegt  in  Goethe  ein  gewiffer  Same 
von  Fähigkeit,  oder  vielmehr  er  hat  ein  poetifches  Genie, 
das  alsdann  wirkt,  wenn  er,  nachdem  er  lange  Zeit  einen 
Stoff  herumgetragen  und  in  fich  bearbeitet  und  alles  ge* 
fammelt  hat,  was  zu  feiner  Sache  dienen  kann,  fich  an 
feinen  Schreibtifch  fetzt.  Zum  Gelegenheitsdichter  hätte 
er  fich  nicht  gefchickt,  denn  er  kann  außer  feiner  Ord^ 
nung  nichts  machen.  Wenn  ihm  etwas  auffällt,  fo  bleibt 
es  in  feinem  Gemüte  oder  Kopfe  hangen;  alles  was  ihm 
nur  aufftößt,  fucht  er  mit  dem  Klumpen  Ton  zu  ver^ 
kneten,  den  er  in  der  Arbeit  hat,  und  denkt  und  finnt 
auf  nichts  anderes  als  dies  Objekt.  Der  Umgang  mit 
I  5 


66 H.  G.  V.  Bretfchneider. [126 

witzigen  Köpfen  in  Leipzig  und  die  Kenntnis,  die  er  da^ 
durch  mit  guten  Büchern  erlangt  hat,  war  Urfache,  daß 
er  was  gelefen  hat,  und  daß  fein  Genie  fubfidia  zu  wählen 
weiß.  Es  ift  aber  in  feiner  Seele  keine  männliche  fefte 
Unterfcheidungskraft,  keine  durchdringende  Einficht  und 
Gabe,  die  Sachen  in  ihrem  wahren  Lichte  zu  befehen. 
Bloß  fein  Stolz  und  die  daraus  entfpringende  Begierde 
oder  auch  eine  Überzeugung  oder  Täufchung  ein  genie 
superieur  zu  fein,  macht,  daß  er  nicht  dem  gemeinen 
Haufen  nachläuft.  Goethe  ift  nichts,  als  ein  Dichter  von 
Natur,  fo  wie  M.  Hoppe  [?]  auch  war,  nur  daß  der  letzte 
arme  Teufel  nicht  Gelegenheit  hatte,  fo  viel  zu  fehen, 
zu  lefen  und  zu  hören  als  Goethe,  im  übrigen  aber  ein 
ftolzer  Menfch,  der  nichts  vertragen  kann  und  den  zum 
Glück  für  ihn  zur  Zeit  die  gewöhnlichen  Anliegen  diefes 
Erdbodens  noch  nicht  gedemütigt  oder  aus  der  Welt  ge;^ 
fchafft  haben. 


Zweites  Buch 

Vom  Eintritt  in  Weimar 
bis  zur  Abreise  nach  Italien 


1775  November  bis  Juli  1786 


1775. 

[127.]     November  7/13.     Wieland  an  Lavater. 

Ich  muß  Ihnen  fagen,  daß  feit  letztem  Dienstag 
Goethe  bei  uns  ift,  und  daß  ich  den  herrlichen  Menfchen 
binnen  drei  Tagen  so  herzHch  liebgewonnen  habe,  fo  ganz 
durchfchaue,  fühle  und  begreife,  fo  ganz  voll  von  ihm 
bin  —  wie  Sie  beffer  fleh  felbft  vorftellen,  als  ich  Ihnen 
befchreiben  könnte.  Er  hat  eine  fehr  glücklich  geratene 
Silhouette  von  mir  gemacht,  wovon  Sie  ein  Exemplar  be^s 
kommen  follen.  Inzwifchen  laben  wir  uns  an  den  Kupfern 
zum  zweiten  Teil  der  Phyfiognomifchen  Fragmente,  die 
er  bei  fich  hat.  ^^  Ich  fehe  wohl,  man  muß  einander  von 
Angefleht  zu  Angefleht  fehen,  um  einander  recht  kennen 
zu  lernen.  BeiMenfchen  von  Goethens  Klaffe  ift's  wenigftens 
fchlechterdings  nötig.  ^  Ich  habe  Goethen  noch  wenig 
allein  haben  können.  Ich  muß  ihn  mit  fo  vielen  teilen! 
Aber  es  wird  noch  beffer  werden,  und  er  foll  mir  noch 
recht  viel  von  unferm  Lavater  erzählen.  ^^  Goethe  bittet 
Sie,  ihm  alles,  was  Sie  ihm  von  den  Phyflognomifchen 
Fragmenten  zu  fchicken  hätten,  nach  Frankfurt  zu  fchicken. 
-^  Wir  haben  das  Briefchen  einen  Pofttag  liegen  laffen, 
um  Ihnen  meine,  meines  Weibes  und  meines  älteften 
Mädchens  (eines  Kindes  von  7  Jahren)  Silhouetten  zu:: 
gleich  fchicken  zu  können.  Goethe  hat  fle  felbft  gemacht, 
und  flnd  ganz  herrlich  geglückt  —  wie  alle  Welt  fagt. 

[128.]     November  7/10.     Wieland  an  F.  H.  Jacobi 

Wenn  Sie  Allwill's  Papiere  in  einem  Feuer  fortfchreiben 
könnten,  fagt  Goethe  und  Wieland  mit  ihm,  so  würde 
es  ein  gar  herrliches  Werk  werden. 

[129.]     November  18.     Ph.  Seidel. 

Am  Freitag  den  17.  huj.  waren  wir  auf  der  Redoute  ^ 
Die  Nacht   fchliefen   wir   alfo   nicht.     Die   folgende,  als 

I 


70 Ph.  Seidel. [150 

Samstags,  den  18.  Nov.  um  12^/^  Uhr  legten  wir  uns. 
Wir  fchliefen  nun  zu  Dreien  in  einer  Kammer.  Da  kamen 
wir  ins  Gefpräch  aus  einem  ins  andere  bis  zu  allen  Teufeln. 
^  Von  Liebesgefchichten  auf  die  Infel  Corfica,  und  auf 
ihr  blieben  wir  in  dem  größten  und  hitzigften  Hand;: 
gemenge  bis  morgens  gegen  viere.  Die  Frage,  über  die 
mit  fo  viel  Heftigkeit  als  Gelehrfamkeit  geftritten  wurde, 
war  diefe:  Ob  ein  Volk  nicht  glücklicher  fei,  wenn's  frei 
ift,  als  wenn's  unter  dem  Befehl  eines  fouveränen  Herrn 
fteht.  Denn  ich  fagte:  die  Corfen  find  wirklich  Unglück? 
lieh.  Goef/ie  fagte:  nein  es  ift  ein  Glück  für  fie  und  ihre 
Nachkommen ;  fie  werden  nur  verfeinert,  entwildert,  lernen 
Künfte  und  Wiffenfchaften,  fiatt  Üq  zuvor  roh  und  wild 
waren.  Herr!  —  fagte  ich  —  ich  hätt'  den  Teufel  von 
feinen  Verfeinerungen  und  Veredelungen  auf  Koften  meiner 
Freiheit,  die  eigentlich  unfer  Glück  macht. 

[130.]     November  Ende.     Wieland  an  Lavater. 

In  der  Not  nimmt  man  zu  den  heften  Menfchen  Zu? 
flucht.  Goethe  fagt  mir,  Sie  könnten  und  würden  mir 
helfen;  und  mein  Herz  fagt  mir,  Sie  werden's  tun,  wenn 
Sie  können. 

Die  ganze  Sache  ift  diefe. 

Aus  beiliegender  Note  werden  Sie  fehen,  wozu  ich 
mich  gegen  das  Publikum  anheifchig  gemacht  habe.  Kraus 
(der  die  beigehende  Zeichnung  des  herrlichen  Kopfs  von 
Sebaftian  Brant  gemacht  hat)  gab  mir  große  Hoffnung, 
einer  von  feinen  Freunden,  der  ein  guter  Kupferftecher 
ift,  würde  den  Auftrag,  diefen  Kopf  und  alle  folgende, 
die  künftig  von  Monat  zu  Monat  im  Merkur  erfcheinen 
follen,  zu  ftechen  willig  annehmen.  Allein  heute  erhalten 
wir  eine  abfchlägige  Antwort  unter  dem  Vorwand,  er 
könne  nicht.  ^ 

Goethe  verfichert  mich,  Ihr  Lips  wäre  der  Mann, 
durch  den  Sie  mir  helfen  könnten,  und  er  glaubt,  die 
Sache  ließe  fich  tun,  wiewohl  Herr  Lips  viel  für  die 
Phyfiognomifchen  Fragmente  zu  arbeiten  habe.  Ich  bitte 
Sie  alfo,  Teuerfter,  bewegen  Sie  diefen  Künftler  dazu,  daß 
er  den  beigehenden  Kopf  baldmöglichft  in  Arbeit  nehme. 
Die  Proben  von  feinem  Talent,  die  mir  Goethe  gezeigt 
hat,  geben  eine  gute  Hoffnung,  daß  er  auch  dem  feinen 
Lucianifchen  Geift,  der  in  diefem  Kopfe  webt,  feine  Ge? 
bühr  antun  werde.  <^ 


134]  Weimar.    1775.  71 

Wenn  ich  Ihnen  wieder  fchreibe  und  mehr  Muße 
habe  als  itzt,  will  ich  Ihnen  melden,  wie  mir's  mit  dem;; 
jungen  Prof.  Meifter  gegangen  ift.  Er  hat  einen  freundes 
fchaftlichen  Brief  von  mir  erfchlichen.  Es  wird  ihm  aber 
nicht  wohl  bekommen.  Ich  habe  etliche,  noch  ziemlich 
unfchuldige  Auszüge  aus  feinem  Gefchwätz  über  die 
Schwärmerei  in  den  November  des  Merkur  gefetzt  mit 
einer  Zugabe,  worin  Gegengift  für  fein  Gift  ift.  Ich  merkte 
zwar  fchon  etwas  beim  Durchlefen  der  drei  erften  Bogen, 
'^  aber  Goethe  gab  mir  erft  hinterdrein  den  rechten  Auf;? 
fchluß.  - 

Nach  allem,  was  mir  Goethe  und  die  Stolberge  von 
Ihnen  gefagt  haben,  wag'  ich's  kaum  zu  wünfchen,  daß 
ich  etliche  Tage  mit  Ihnen  leben  möchte.  Denn  ich  fühl 
es  im  Grunde  meiner  Seele,  mein  Herz  würde  zerreißen, 
wenn  ich  wieder  von  Ihnen  fcheiden  müßte. 

[131.]     Dezember  Anfang.     F.  L.  Graf  zu  Stolberg. 

Einen  Nachmittag  las  Goethe  feinen  halbfertigen  Fauft 
vor.  Es  ift  ein  herrliches  Stück,  die  Herzoginnen  waren 
gewaltig  gerührt  bei  einigen  Szenen. 

[132.]     Dezember.     F.  L.  Graf  zu  Stolberg. 

Goethe  ift  nicht  bloß  ein  Genie,  fondern  er  hat  auch 
ein  wahrhaft  gutes  Herz,  aber  es  ergriff  mich  ein  Graufen, 
als  er  mir  an  einem  der  letzten  Tage  meiner  Anwefenheit 
in  Weimar  von  Riefengeiftern  fprach,  die  fich  auch  den 
ewigen  geoffenbarten  Wahrheiten  nicht  beugen.  Diefer 
unbeugfame  Trotz  wird,  wenn  er  in  ihm  weiter  wuchert, 
auch  fein  Herz  kalt  machen.  Armer  Erdenwurm  1  Sich 
den  ewigen  geoffenbarten  Wahrheiten  nicht  beugen,  gleich:^ 
fam  rechten  wollen  mit  Gottl 

[133.]   Dezember,     F.  L.  Graf  zu  Stolberg. 

Shakefpeare  gehört  zu  den  Dingen,  von  denen  Goethe 
fagt,  daß  man  nicht  von  ihnen  reden  kann,  zum  wenigften 
nicht  über  fie  disputieren. 

[134.]     Dezember.     F.  L.  Graf  zu  Stolberg  an  Klopftock. 

Ich  kenne  zwar  ganz  Goethens  unbeugfames  Wefen, 
aber  daß  er  einen  folchen  Brief  von  Ihnen  fo  beantworten 
könnte,  davon   hatt'  ich   keine  Idee.     Es  tut  mir  in  der 

I 


72 F.  L.  Graf  zu  Stolberg. [135 

Seele  weh  für  ihn,  er  verdient's,  Ihre  Freundfchaft  zu  ver^ 
lieren,  und  doch  weiß  ich,  wie  er  im  Herzen  Sie  ehrt  und 
liebt;  das  fag  ich  nicht,  ihn  zu  entfchuldigen,  ich  kann 
und  mag  hierin  ihn  nicht  entfchuldigen  und  bin  indigniert 
über  feinen  Brief.  Starrkopf  ift  er  im  allerhöchften  Grade, 
und  feine  Unbiegfamkeit,  welche  er,  wenn  es  möglich  wäre, 
gern  gegen  Gott  behauptete,  machte  mich  fchon  oft  für 
ihn  zittern.  Gott  welch  ein  Gemifch,  ein  Titanenkopf 
gegen  feinen  Gott,  und  nun  fchwindelnd  von  der  Gunft 
eines  Herzogs.  ^  Und  doch  kann  er  fo  weich  fein,  ift 
fo  liebend,  läßt  fich  in  guten  Stunden  leiten  am  feidnen 
Faden,  ift  feinen  Freunden  fo  herzlich  zugetan,  —  Gott 
erbarme  fich  über  ihn  und  mach  ihn  gut,  damit  er  trefflich 
werde,  aber  wenn  Gott  nicht  Wunder  an  ihm  tut,  fo  wird 
er  der  Unfeligften  einer.  Wie  oft  fah  ich  ihn  fchmelzend 
und  wütend  in  einer  Viertelftunde. 

[135.]     Dezember  28.     F.  W.  Gotter. 

Goethe  war  vorige  Woche  hier  in  Gotha,  aber  wie 
kurz!  Er  kam  nach  Mitternacht  auf  der  Redoute  an,  brachte 
den  folgenden  Tag  bei  Hofe  zu  und  reifte  fodann  mit 
der  Weimarifchen  Herrfchaft  wieder  zurück.  Ich  hab'  ihn 
in  allem  kaum  eine  Viertelftunde  gefprochen.  Er  weiß 
noch  nicht,  wie  lang'  er  in  Weimar  bleiben  wird,  wo  er 
den  Günftling  in  befter  Form  und  Ordnung  fpielt  und 
den  ihm  eigenen  vertraulichen,  nachläffigen,  hingeworfenen 
Ton  überall  eingeführt  hat. 

[136.]     Überlieferung. 

Damals  war  dasWort , unendlich*  überall  wiederkehren:: 
des  Stichwort.  Wenn  Goethe  abends  bei  Wieland  effen 
wollte,  fo  fchickte  er  feinen  Bedienten  ^  vorher  ins  Haus 
und  ließ  fich  eine  unendliche  Schüffei  unendlicher  Bors? 
dorfer  Äpfel  (gedämpft)  ausbitten. 

[137,]     J.  G.  V.  Zimmermann  an  Charlotte  v.  Stein. 

Mr.  Goethe  fait  trop  d'honneur  ä  ma  fille,  qui  n'est 
point  developee  encore,  qui  a  ete  timide  et  craintive  dans 
sa  maison  ou  on  nous  a  fait  une  reception  infiniment 
charmante,  et  ou  j'ay  passe  d'aussi  heureux  jours  que  j'ay 
Jamals  passe  en  ma  vie.  «^  Si  Mr.  Goethe  a  trouve  que 
votre  Silhouette  n'a  pas  marque  les  traits  les  plus  sail? 
lants  de  votre   caractere  (qu'apresent  il  a  le  bonheur  de 


140]  Weimar.    1776.  73 

connaitre  et  d'etudier  de  pres)  il  a  sürement  trouve  en 
vous  de  nouvelles  vertus  et  de  nouvelles  beautes,  qu'une 
ombre  ne  peut  pas  rendre. 

Je  ne  suis  du  tout  point  surpris  que  Mr.  Goethe  ait 
plü  generalement  ä  Weimar.  Precede  par  une  reputation 
aussi  brillante  et  aussi  generalement  reconnue  que  la  sienne, 
portant  d'ailleurs  ä  la  premiere  vue  la  foudre  dans  ses 
yeux,  il  a  du  toucher  tous  les  coeurs  par  sa  bonhomie 
infiniment  aimable,  et  par  l'honnetete  qui  va  de  pair  avec 
son  genie  sublime  et  transscendant.  Ah  si  vous  l'avies  vu 
que  ce  grandhomme  est  vis  a  vis  de  son  pere  et  de  sa 
mere  le  plus  honnete  et  le  plus  aimable  de  fils,  vous 
auries  eu,  ah  vous  auries  eu  bien  de  la  peine  um  ihn  nicht 
durchs  Medium  der  Liebe  zu  fehenl 

f^  Insgemein  hat  man  nur  eine  Seele,  dit  Lavater, 
aber  Goethe  hat  hundert. 


1776. 

[138.]     Januar  Anfang.     Wieland. 

Ich  lebe  nun  neun  Wochen  mit  Goethen,  und  lebe 
feit  unferer  Seelenvereinigung,  die  unvermerkt  und  ohne 
allen  effort  nach  und  nach  zuftande  gekommen,  ganz  in 
ihm.  Er  ift  in  allen  Betrachtungen  und  von  allen  Seiten 
das  größte,  befie,  herrlichfte  menfchliche  Wefen,  das  Gott 
erfchaffen  hat.  ^  Heute  war  eine  Stunde,  wo  ich  ihn  erft 
in  feiner  ganzen  Herrlichkeit  —  der  ganzen  fchönen  ge^ 
fühlvollen  reinen  Menfchheit  fah.  Außer  mir,  kniet'  ich 
neben  ihn,  drückte  meine  Seele  an  feine  Bruft,  und  betete 
Gott  an. 

[139.]     Januar  Anfang.     Wieland  an  Luife  Karfch. 

Goethe,  der  König  der  Geifier,  der  liebenswürdigfte, 
größte  und  befte  Menfchenfohn,  den  ich  jemals  gefehen 
habe,  ift  feit  zehn  Wochen  bei  uns  und  wird  noch  viel? 
leicht  lange  bei  uns  bleiben.    Er  grüßt  Sie,  liebe  Sappho. 

[140.]     Februar  Anfang.     Wieland. 

Hans  Sachs  kann  erft  im  März  kommen,  weil  Goethe 
noch  etwas  über  ihn  in  hansfachfifcher  Reimweise  dichten 
will.  Goethe  bleibt  vermutlich  vielleicht  noch  lange  hier 
—  er  ift  mächtig  umfponnen,  und  verfucht  nun  das  Abens= 
I 


74  Wieland.  [141 

teuer,  von  welchem  ich  abgeftanden  bin,  fo  wie  ich  fah, 
daß  es  für  einen  andern  aufgehoben  fei.  ^  Goethe  ift  feit 
Sonnabend  früh  mit  dem  Herzog  in  Erfurt  und  kommt 
erfi  morgen  wieder.  Er  tut  das  Mögliche  und  was  Hun^ 
dert  andern  unmöglich  wäre  noch  dazu,  um  feinen  La^ 
vater  nicht  im  Stich  zu  laffen.  Aber  ol  wieviel  mehr 
könnte,  würde  der  herrliche  Geift  tun,  wenn  er  nicht  in 
dies  unfer  Chaos  gefunken  wäre,  aus  welchem  er  doch  — 
mit  allem  feinen  Willen,  aller  Kraft  —  doch  keine  leid? 
liehe  Welt  fchaffen  wird.  Aber  —  war  ich  nicht  fchon 
38  Jahr  alt,  da  ich  mich  noch  durch  eine  magifche  Einj: 
bildung  und  die  noch  fiärkere  Magie  des  verführerifchen 
Gedankens  viel  Gutes,  im  großen,  auf  Jahrhunderte  zu 
tun,  an  diefen  Hof  ziehen,  in  diefes  gefahrvolle  mit  Pre? 
cipicen  umgebene  —  und  beim  Tageslicht  befehen,  doch 
immer  unmögliche  Abenteuer  verwickeln  ließ?  Goethe 
ift  erft  26  Jahr  alt.  Wie  follt'  er,  mit  dem  Gefühl  fob 
eher  Kräfte,  einer  noch  größern  Reizung  widerstehen 
können?  Denn  fein  afcendant  über  unfre  Fürstenkinder, 
alt  und  jung,  ift  unglaublich.  Und  doch  —  doch,  doch, 
wollen  wir  fehenl  Wenn'sauch  nur  nicht  ganz  fo  fchlimm 
wird,  als  es  fonft  geworden  wäre,  wenn  auch  nur  etwas 
Gutes  gefchieht,  das  fönst  nicht  gefchehen  wäre,  —  fo 
war's  ja  der  Mühe  werti 

f^  In  meinen  Haufe  ist  er  wie  einer,  der  zu  uns  ge? 
hört.  Er  atmet  wieder  Ruhe  und  Liebe  bei  uns,  und  das 
hilft  dann  dazu,  daß  er  das  Herumtreiben  in  dem  großen 
Rade  wieder  defto  beffer  aushalten  kann.  ^ 

[141.]     Januar/Februar.    Wieland  an  Lavater. 

Unfer  Goethe  ift  '^  auch  ein  Müdling,  nur  auf  eine 
andre  Art:  denn  ach!  lieber  Lavater  denken  Sie  fich  ein? 
mal  Favorit  und  fac  totum  und  Goethe  zufammenl  Und 
fac  totum,  das  am  Ende  doch  —  nicht  den  hundertften 
Teil  von  dem  tun  kann,  was  er  gern  täte.  Und  gleich? 
wohl  fehen  Sie  aus  Herders  Berufung  zum  Generalfuper? 
intendenten  und  Oberhofprediger,  daß  Goethe  etwas  tut. 
Ich  fielle  mir  feine  hiefige  Exiftenz  als  ein  Pharofpiel 
vor;  der  Herzog  hält  die  Bank,  Goethe  pointiert  wider 
ihn.  Goethe  fetzt  ein,  zwei,  drei,  vier  oft  acht  und  mehr 
Tage  auf  eine  Karte ;  verliert  manchmal ;  aber  weil  er  fein 
Spiel  pouffiert,  fo  braucht  er  auch  nur  wieder  ein  einziges 
trente?leva   oder  soixante?leva  zu  gewinnen,   fo   ift  alles 


145] Weimar.    1776. 75 

wieder  erfetzt.  —  So  ein  trente4eva  gewann  er  mit  Hers: 
dern.  ^^  Verlaffen  Sie  fich  inzwifchen  darauf,  daß  Goethe, 
in  allem  den  Wirbel,  worin  er  fich  dreht,  Sie  und  die 
Phyfiognomik  nicht  vergißt,  und  daß  er  alles  in  Gang  erhält. 

[142.]    März  Anfang.    Charlotte  v.  Stein  an  J.  G.  v.  Zimmermann. 

GcEthe  est  ici  un  objet  aime,  et  hais,  vous  sentirez 
qu'il  y  a  bien  de  grosses  tetes  qu'ils  ne  le  comprennent 
pas.  Louise  augmente  pour  moi  de  jour  en  amitie,  mais 
beaucoup  de  froideur  entre  les  Epoux  pourtant  je  ne 
desespere  pas,  deux  etres  si  raisonnables,  si  bons,  doivent 
enfin  s'accorder. 

Au  moment  Goethe  m'envoit  votre  billet  je  vous  ai 
deja  confesse  mes  peches.  Adieu,  avant  le  depart  de  la  poste 
je  vous  dirai  eher  ami  encore  une  fois  bon  soir  et  bonjour. 

Ich  komme  jetzt,  Ihnen  eine  gute  Nacht  zu  fagen.  Ich 
war  den  Abend  im  Konzert.  Goethe  nicht;  vor  einigen 
Stunden  war  er  bei  mir,  für  Sie  das  beigefchloffene  Billet 
und  war  toll  über  Ihren  Brief,  den  er  mir  auch  vorlas; 
ich  verteidigte  Sie,  geftund  ihm,  ich  wünfchte  felbft,  er 
möchte  etwas  von  feinem  wilden  Wefen,  darum  ihn  die 
Leute  hier  fo  fchief  beurteilen,  ablegen,  das  im  Grunde 
zwar  nichts  ift,  als  daß  erjagt,  fcharf  reitet,  mit  der  großen 
Peitfche  klatfcht,  alles  in  Gefellfchaft  des  Herzogs.  Ge? 
wiß  find  dies  feine  Neigungen  nicht,  aber  eine  Weile  muß 
er's  fo  treiben,  um  den  Herzog  zu  gewinnen  und  dann 
Gutes  zu  ftiften,  fo  denk'  ich  davon.  Er  gab  mir  den 
Grund  nicht  an,  verteidigte  fich  mit  wunderbaren  Grün:; 
den,  mir  blieb's  als  hätt'  er  unrecht.  Er  war  fehr  gut 
gegen  mich,  nannte  mich  im  Vertrauen  feines  Herzens 
Du,  das  verwies  ich  ihm  mit  dem  fanfteften  Ton  von  der 
Welt  fich's  nicht  anzugewöhnen,  weil  es  nun  eben  nie^ 
mand  wie  ich  zu  verftehen  weiß  und  er  ohne  dies  oft  ge^ 
wiffe  Verhältniffe  aus  den  Augen  fetzt,  da  fpringt  er  wild 
auf  vom  Kanapee,  fagt,  ich  muß  fort,  läuft  ein  paarmal 
auf  und  ab,  um  seinen  Stock  zu  fuchen,  find't  ihn  nicht, 
rennt  fo  zur  Türe  hinaus  ohne  Abfchied,  ohne  gute  Nacht ; 
fehen  Sie,  lieber  Zimmermann,  fo  war's  heute  mit  unferm 
Freund. 

[143.]     März  7.     Charlotte  v.  Stein. 

~  Ich  follte  geftern  mit  der  Herzogin  Mutter  zum 
Wieland  gehen,  weil  ich  aber  furchte,  Goethen  da  zu  fin:; 
I 


76  Charlotte  v.  Stein.  [144 

den,  tat  ich's  nicht.  Ich  habe  erfiaunlich  viel  auf  meinem 
Herzen,  das  ich  dem  Unmenfchen  fagen  muß.  Es  ift  nicht 
möglich,  mit  feinem  Betragen  kommt  er  nicht  durch  die 
Welt;  wenn  unfer  fanfter  Sittenlehrer  gekreuzigt  wurde, 
fo  wird  dieser  bittere  zerhackt.  Warum  fein  beftändiges 
Pasquillieren,  es  find  ja  alles  Geschöpfe  des  großen  Wefens; 
das  duldet  üq  ja,  und  nun  fein  unanftändiges  Betragen 
mit  Fluchen,  mit  pöbelhaften,  niedern  Ausdrücken.  Auf 
fein  Moralifches,  fo  bald  es  aufs  Handeln  ankommt,  wird's 
vielleicht  keinen  Einfluß  haben,  aber  er  verdirbt  andere; 
der  Herzog  hat  fich  wunderbar  geändert;  geftern  war  er 
bei  mir,  behauptete,  daß  alle  Leute  mit  Anftand,  mit  Ma? 
nieren  nicht  den  Namen  eines  ehrlichen  Mannes  tragen 
könnten,  wohl  gab  ich  ihm  zu,  daß  man  in  dem  rauhen 
Wefen  oft  den  ehrlichen  Mann  fände,  aber  doch  wohl 
ebensooft  in  den  gesitteten;  daher  er  auch  niemanden 
mehr  leiden  mag,  der  nicht  etwas  ungefchliffenes  an  fich 
hat.  Das  ift  nun  alles  von  Goethen,  von  dem  Menfchen, 
der  vor  Tausende  Kopf  und  Herz  hat,  der  alle  Sachen 
fo  klar  ohne  Vorurteile  fieht,  fo  bald  er  nur  will,  der 
über  alles  kann  Herr  werden,  was  er  will.  Ich  fühl's, 
Goethe  und  ich  werden  niemals  Freunde;  auch  feine  Art 
mit  unferm  Gefchlecht  umzugehen,  gefällt  mir  nicht,  er 
ift  eigentlich,  was  man  coquet  nennt;  es  ift  nicht  Ach^ 
tung  genug  in  feinem  Umgang. 

Zerreißen  Sie  meinen  Brief,  es  ift  mir,  als  wenn  ich 
eine  Undankbarkeit  gegen  Goethen  damit  begangen  hätte, 
aber  um  keine  Falfchheit  zu  begehen,  will  ich's  ihm  alles 
fagen,  fobald  ich  nur  Gelegenheit  finde. 

[144.]     März.     Wieland. 

Goethe  bleibt  nun  wohl  hier,  folange  Karl  Auguft 
lebt,  und  möchte  das  bis  zu  Neftors  Alter  währen!  Er 
hat  fich  ein  Haus  gemietet,  das  wie  eine  kleine  Burg  auss^ 
fieht,  und  es  macht  ihm  großen  Spaß,  daß  er  mit  feinem 
Philipp  ganz  allein  fich  im  Notfall  etliche  Tage  gegen  ein 
ganzes  Korps  darin  wehren  könnte,  infofern  fie  ihm  das 
Neft  nicht  überm  Kopf  ganz  anzündeten.  Er  ift  auch  im 
Begriff  einen  Garten  zu  kaufen,  welches  ich  auch  getan 
habe,  alfo  und  dergeftalt,  daß  wir  beide  notabene  ohne 
vorgängige  Abrede,  uns  beinahe  in  ein  und  ebendems^ 
felben  Augenblick  in  den  Weimarifchen  Philifterorden  be;: 
geben  haben  —  welches  denn  mit  alle  dem  luftig  genug  ift. 


146]  Leipzig  -  Weimar.    1776.  11 

[145.]     März  26./April  4.     Chr.  F.  Weiße. 

Vor   kurzem   fprach  ich  Goethen,   der,  wie  er  fagt, 
feine  literarifche  Laufbahn  Lenzen  überlaffen. 

[146.]     April.     Wieland  an  Bürger. 

Taufend  Dank  aus  vollem  Herzen  für  das  kofibare 
Pfand  Ihrer  Liebe,  das  Sie  mir  im  fechften  Buch  Ihrer 
deutfchen  Ilias  überfchickt  haben,  und  für  die  Erlaubnis, 
fo  Sie  mir  geben,  meine  Freude  daran  mit  den  Lefern  des 
Merkurs  zu  teilen.  Dies  würde  fogleich  im  Aprilmonat, 
der  jetzt  gedruckt  wird,  gefchehen  fein,  wenn  Goethe  nicht 
gewünfcht  hätte,  das  Manufkript  vorher  genauer  mit  dem 
Original  zu  vergleichen,  und  (wie  ich  vermute)  nach  Ihrem 
Verlangen,  hier  oder  da  eine  Kleinigkeit  zu  ändern;  z.  E. 
ein  ehrliches  obfoletes  Wort  an  fchicklicher  Stelle  anzu^ 
bringen  und  dergleichen.  Wir  find  jetzt  ftark  daran,  et^ 
liehe  Hundert  dergleichen  Wörter,  so  Gott  will,  wieder 
ins  Leben  zu  rufen;  und  wir  haben  große  Freude  dar^ 
über,  daß  Sie  ein  gleiches  in  Ihrem  Homer  tun.  Wie 
könnten  Sie  auch  ohne  dies  einen  deutfchen  Homer  geben? 
Sie  brauchen  den  ganzen  Reichtum  unferer  Sprache  dazu; 
und  ich  bin  ganz  überzeugt,  daß  der  einzige  Umftand, 
wenn  Ihnen  der  Gebrauch  der  veralteten  Wörter  aus 
Deutfchlands  Ritter^;  und  Heldenzeit  nicht  erlaubt  wäre, 
eine  gute  Überfetzung  Homers  unmöglich  machte.  Auch 
gewinnt  das  Kolorit  und  der  Ton  dadurch  etwas  Antikes, 
Naturkräftiges,  von  der  modernen  Zierlichkeit  Abfiechen^ 
des,  kurz,  etwas  Homerifches,  das  ich  beffer  fühlen  als 
sagen  kann.  Überhaupt  find  wir,  Goethe  und  ich,  innig? 
lieh  mit  Ihrer  Verdeutfchung  des  göttlichen  Dichters  zu? 
frieden  und  freuen  uns  mit  einer  Freude,  die  uns  wohl 
nur  wenige  nachempfinden  können,  daß  unfere  Nation 
Ihnen  den  Vorzug  zu  danken  haben  wird,  die  wahrefte, 
treuefi:e,  Homers  am  wenigfi:en  unwürdige  Überfetzung  zu 
haben,  die  irgend  eine  Sprache  aufweifen  kann,  —  und  daß 
der  Dichter,  deffen  Werke  uns  Wort  Gottes  find,  durch 
Sie  eine  Menge  von  Jüngern,  Liebhabern  und  Anbetern 
bekommen  wird,  die  der  Glückfeligkeit  ihn  zu  fühlen, 
ihn  zu  ihrem  ewigen  Lieblingsbuch  zu  machen,  ohne  Sie, 
hätten  entbehren  muffen.  Ich,  infonderheit  freue  mich 
über  den  heilfamen  Einfluß,  den  Ihr  Homer  auf  den  gegen? 
wärtigen  Moment  unferer  literarifchen  Verfaffung  haben 
I 


78 Wieland.  [147 

wird.  Denn  der  Meffias  felbft  hätte  nicht  zu  einer  ge^ 
legenern  Zeit  kommen  können.  Kurz,  wenn  man  allere: 
orten  fo  für  Sie  und  Ihre  edle  Unternehmung  einge:= 
nommen,  und  von  dem  göttlichen  Beruf,  den  Ihnen  die 
Natur  dazu  gegeben  hat,  fo  überzeugt  wäre,  wie  Ihre 
Freunde  in  Weimar:  So  follten  Sie  keine  Urfache  haben 
über  die  von  außen  nötige  Aufmunterung  zu  einem  fo 
furchtbar  schwierigen  und  fo  großen  Mut  und  hartnäckigen 
Eifer  erfordernden  Werke  zu  klagen. 

Diefer  Tage  ftritten  Goethe  und  ich  mit  einem  enthus; 
fiaftifchen  Anbeter  des  griechifchen  Homer  über  das  Silben;: 
maß,  das  Sie  zu  Ihrer  Überfetzung  gewählt  haben.  Er 
beftand  darauf,  der  Hexameter  würde  beffer  gewefen  fein; 
wir,  Sie  hätten  Recht  gehabt,  den  Jamben  vorzuziehen. 
Wir  find  gewiß,  daß  es  unnötig  wäre,  Ihnen  die  Gründe 
pro  und  contra  zu  fagen:  ohne  mindeften  Zweifel  haben 
Sie  das  alles  längft  erwogen  und  durchgedacht.  Aber  viel^ 
leicht  möcht'  es  doch  von  einigem  Nutzen  fein,  wenn  Sie 
etwan  Ihre  Gründe  für  den  jambifchen  Vers  (nisi  quid 
obstat)  in  einem  kleinen  Sendfehreiben  an  Goethen  oder 
mich  im  Merkur  bekannt  machten.  Wir  behaupten,  Ho^^ 
mersVerfifikation  verliere  in  jeder  Überfetzung  notwendig, 
würde  aber  im  deutfchen  Hexameter  weit  mehr  verlieren, 
als  im  jambifchen  Vers,  der  unfrer  Meinung  nach  das 
echte,  alte,  natürliche,  heroifche  Metrum  unfrer  Sprache  ift. 

[147.]     Mai.     Charlotte  v.  Stein  an  J.  G.  v.  Zimmermann. 

Mir  geht's  mit  Goethen  wunderbar;  nach  acht  Tagen, 
wie  er  mich  fo  heftig  verlaffen  hat,  kommt  er  mit  einem 
Übermaß  von  Liebe  wieder.  Ich  hab'  zu  mancherlei  Be:^ 
trachtungen  durch  Goethen  Anlaß  bekommen;  je  mehr 
ein  Menfch  faffen  kann,  däucht  mir,  je  dunkler,  anftößiger 
wird  ihn  das  Ganze,  je  eher  fehlt  man  den  ruhigen  Weg; 
gewiß  hatten  die  gefallenen  Engel  mehr  Verftand,  wie  die 
übrigen.  ^  Ich  bin  durch  unfern  lieben  Goethe  ins  Deutfch^: 
fchreiben  gekommen,  wie  Sie  fehen,  und  ich  dank's  ihm, 
was  wird  er  noch  aus  mir  machen?  Denn,  wenn  er  hier, 
lebt  er  immer  um  mich  herum:  jetzt  nenn'  ich  ihn  meinen 
Heiligen  und  darüber  ift  er  mir  unfichtbar  worden,  feit 
einigen  Tagen  verfchwunden,  und  lebt  in  der  Erde  fünf 
Meilen  von  hier  im  Bergwerke.  ^^  Goethe  und  ich  haben 
bei  ^  Wieland  zu  Gevatter  geftanden,  unfer  Patchen 
ift  ein  liebes  hübfches  Mädchen.  ^^  In  Goethens  Garten 


151]  Weimar.    1776.  79 

hab'  ich  fchon  einmal  Kaffee  getrunken  und  von  seinem 
Spargel  gegeffen,  den  er  felbft  gefiochen  und  in  feinem 
Ziehbrunnen  gewafchen  hatte. 

[148.]     Mai.     Wieland  an  F.  H.  Jacobi. 

Die  Allwills  Papiere  haben  diesmal  im  Deutfchen 
Merkur  so  viel  Platz  weggenommen,  daß  verfchiedene 
Rezenfionen  liegen  bleiben  mußten  ^^  Was  dünlct  Euch 
übrigens  von  dem  Manne,  der  fo  herrliche  Materialien 
roh  verkauft,  und  so  viel  hätte  daran  gewinnen  können, 
wenn  er  fie  verarbeitet  hätte?  Er  ift  gleich  einem  Manne, 
der  auf  feinem  Gut  einen  köftlichen  Marmorbruch  von 
fchönem  milchweißen  Marmor  gefunden  hätte,  und  weil 
er  fich  nun  nicht  die  Mühe  nehmen  möchte,  oder  es  nicht 
erwarten  könnte,  ihn  zu  brechen  und  in  großen  Stücken 
auf  die  Ebene  herabzuführen  und  dann  zu  behauen  und 
zu  glätten  und  Götter  und  Helden  und  Wohnungen  für 
Götter  daraus  zu  machen,  kam'  er  mit  Brecheifen  und  Ham^ 
mer,  fchlüge  alles  kurz  und  klein  zufammen  und  brächt's 
uns  fchubkarrenweise  angefahren. 

Das  Gleichnis  ift,  wie  Ihr  feht,  aus  Goethens  Hirn^ 
kaften,  und  paßt  wie  alle  feine  Gleichniffe  nur  gar  zu  wohl. 

[149.]     Mai.     Wieland. 

Goethe  lebt  und  regiert  und  wütet,  und  gibt  Regent 
wetter  und  Sonnenfchein,  tour  ä  tour  comme  vous  scavez, 
und  macht  uns  glücklich,  er  mache  was  er  will. 

[150.]     Juni  10.     Klinger. 

Am  Montag  kam  ich  hier  an  —  lag  an  Goethes  Hals 
und  er  umfaßte  mich  innig  mit  aller  Liebe:  Närrifcher 
Junge!  Und  kriegte  Küffe  von  ihm:  Toller  Junge!  und 
immer  mehr  Liebe. 

[151.]     Juni.     Klinger. 

Montag  Abend  noch  umarmte  ich  Goethe  und  er 
mich  mit  aller  Liebe.  Hier  fah  ich  und  feh  ich  tägUch, 
daß  wirklich  über  Goethe  fich  fo  wenig  fagen  läßt,  als 
man  eigentlich  über  den  Sohn  Gottes  fagen  follte,  wenn 
man  ihn  glaubt.  Und  fo  will  ich  auch  fchweigen.  Er 
fteckt  in  politifchen  Gefchäften  und  hat  diefem  Lande 
genutzt  und  tut  Sachen  —  wie  foll  man  ihn  nennen?  ^^ 
I 


80 Klinger. [152 

Goethe  ift  geliebt  durchaus  und  des  Landes  Heil.  ~  Glaub 
mir,  daß  nach  Goethe  kein  größerer  exiftiert,  das  fag  ich 
ohne  Überfpannung.  Er  ift  ein  erfchrecklich  großer,  guter 
Menfch,  ganz  für  unfer  Herz  und  Geift.  Und  wir  haben 
uns  keinen  Strich  feines  Charakters  imaginiert  und  auch 
nicht  imaginieren  können.  Aber  weh  dem  Menfchen,  der 
um  ihn  war,  an  feinem  Herzen  lag,  mit  feinem  Geift 
redete,  ihn  begriff  und  ihn  noch  verkennt!  ^^  Hier  ift 
Balfam  auf  alle  Wunden,  wo  man  nur  hinblickt  —  und 
befonders  bei  diefem  Menfchen,  der  ganz  Liebe,  Größe, 
Demut  und  Befcheidenheit.  Steinige  den  Menfchen,  deffen 
Zunge  die. Götter  hier  läftert.  Wieland  will  mich  nicht 
mehr  fortlaffen  und  Goethe  fpricht  von  bleiben. 

[152.]     Juni  Mitte.     Klinger. 

Goethes  Liebe  für  mich  ift  unendlich  reich  und  groß. 
Und  verflucht  feien  alle  Augenblicke  des  Zweifels  und 
Wankens.  Mein  Schickfal  quälte  und  drängte  ihn  seit  er 
hier  ift,  und  er  geftund  mir,  daß  ich  ganze  Tage  vor  feinem 
Geift  geftanden.  ^  Wieland  meint,  ich  follte  Leutnant 
unter  den  Preußen  werden.  Das  find  nur  aber  alles 
Zuckungen.  Goethe  hat  mit  mir  über  alles  ein  für  alle? 
mal  geredt. 

[153.]     Juni  24.     Wieland. 

Goethe  ift  feit  14  Tagen  mit  dem  Herzog  zu  Ilmenau, 
und  kommt  erft  ausgangs  der  Woche  wieder.  Er  lebt 
nur  ganz  für  den  Herzog  und  feine  Gefchäfte.  In  feinen 
Erholungsftunden  zeichnet  er.  Er  hat  mein  Profil  vor 
einigen  Wochen  mit  einer  Liebe  gezeichnet,  womit  er  allein 
es  zeichnen  konnte.  Es  foll  mir  fehr  gleichen,  und  ift 
alfo  das  erfte  in  feiner  Art.  f^  Weil  aber  dies  nur  mein 
Werkeltagsgeficht  ift,  fo  hat  er  fich  in  den  Kopf  gefetzt, 
auch  mein  Sonntagsgeficht  zu  zeichnen.  Unfer  Verhältnis 
gegeneinander  macht  auch  mich  fehr  glücklich.  Es  ift  fo 
rein  und  fchön,  als  in  diefer  fublunarifchen  Welt  je  eins 
zwifchen  zween  ganz  natürlichen  Menfchen  gewefen  fein 
mag.  f^  Herder  wird  nun  in  kurzem  hier  eintreffen,  fagt 
man.     Goethe  und  ich  find  darauf  gefaßt. 

[154.]     Wieland. 

Goethe  hat  freilich  in  den  erften  Monaten  die  Meiften 
(mich   niemals)   oft    durch    feine    damalige   Art    zu    fein 


155] Weimar.     1776. 81 

flcandalifiert,  und  dem  Diabolus  prise  über  fich  gegeben. 
Aber  fchon  lange,  und  von  dem  Augenblick  an,  da  er 
dezidiert  war,  fleh  dem  Herzog  und  feinen  Gefchäften  zu 
widmen,  hat  er  fleh  mit  untadeliger  Gcoq)QO(jvvt]  und  aller 
ziemlichen  Weltklugheit  aufgeführt.  Kurz,  Ihr  dürft  ficher;: 
lieh  glauben  und  adversus  quoscunque  behaupten,  daß 
die  Kabale  gegen  Goethe  und  feine  Freunde  nichts  als 
Neid  und  Jaloufie  und  Mißvergnügen  über  fehlgefchlagene 
Hoffnungen  zur  Quelle  hat.  ^^  So  wird  doch  Weimar 
noch  der  Berg  Ararat,  wo  die  guten  Menfchen  Fuß  faffen 
können,  während  daß  allgemeine  Sündflut  die  übrige  Welt 
bedeckt. 

[155.]     Juli.     F.  W.  H.  V.  Trebra. 

Ich  war  nur  feit  wenigen  Tagen  erft  in  diefen  lebens* 
vollen  Weimarer  Zirkel  eingetreten,  angefchwommen  aus 
einer  Region,  wo  naher  und  ferner  Dienftverhältniffe  wegen 
das  Benehmen  geräufchlos,  fehr  klüglich  ftill  und  forfchend 
aus  andern  eingerichtet  fein  mußte,  alle  frohe  Herzenss; 
ergießung  zurückpreffend  —  hier  war  alles  erlaubt.  Un^: 
bewacht  ausgelaffen  zu  fein,  war  hier,  wo  nicht  gefordert, 
doch  nicht  ungern  gefehen,  wohl  gar  gewünfcht.  So  hatte 
auch  ich  nach  vorleuchtendem  hohen  Beifpiel  bald  die 
Überzeugung  erlangt,  obwohl  auch  bis  hierher  Behutfam? 
keit  gebietende  Dienftverhältniffe  mich  begleitet  hatten, 
denn  daß  alle  übrige,  hoher  Adel  und  niederer,  und  Bürger 
es  glaubten,  bewiefen  allefamt  mit  Händen  und  Beinen 
im  Gebrauch  gegen  fleh  untereinander  und  gegen  die 
Höheren.  Nicht  das,  —  flüfterte  der  Ernftere  von  ihnen 
[Goethe/  mir  zu,  den  ich  fchon  vom  erften  Moment  der 
Bekanntfchaft  an  im  Auge  behielt  —  nur  von  ihren  Leibern 
haltet  Euch  fern,  und  duldet  lieber,  was  fie  körperlich  Euch 
zufügen,  wenn  fie  fich  zur  handfälligen  Luftigkeit  herab? 
laffen. 

Noch  manche  andere  folche  tief  liegende  Wahrheiten 
hatte  ich  ihm  fchon  abgehorcht,  wo  Großes  im  Wirken 
auf  Bemerkungen  im  Kleinen  lag.  ,Ich  will  mir  auch  gleich 
die  Seitenhaare  am  Kopfe  ganz  wegfchneiden!*  war  ein? 
mal  der  Einfall  des  höhern  Frohfinns.  —  Das  kann  man 
bald  machen,  war  die  Entgegnung  des  kalten  Ernftern  da? 
rauf,  nicht  fo  fie  wieder  wachfen  machen. 


82  Fürftin  von  HohenlohesKirchberg.  [156 

[156.]     Auguft  22.     Fürftin  von  Hohenlohe?Kirchberg  (an  Gräfin 
Wartensleben). 

En  arrivant  ä  Weimar,  je  rencontre  notre  Eule,  den 
Schardt,  je  descend  vite  de  la  voiture,  et  il  me  mena, 
chez  sa  soeur  Frau  v.  Stein,  qui  füt  tres  etonnee  de  mevoir; 
je  trouvais  chez  eile  le  fameux  Goethe  qui  n'a  pas  l'air 
d'un  Bürger,  mais  d'un  savant,  gäte  par  les  egoles.  Malgre 
cet  air  que  je  n'aime  pas,  je  Tai  pourtant  trouve  assez 
aimable  und  bin  ihm  ganz  gut  geworden.  II  sache  de  toi 
comme  s'il  venait  de  te  voir  et  t'aime  comme  s'il  te  voyait 
encore;  il  etudit  ton  caractere  sur  ta  Silhouette,  et  il  juge 
de  ton  esprit  par  le  nez  et  le  tout  de  ton  visage. 

[157.]     Auguft.     Wieland. 

Goethe  ifi  lieb  und  brav  und  feft  und  männlich. 
Alles  geht  fo  gut  es  kann,  und  die  Welt,  die  fo  viel  dummes 
Zeug  von  uns  fagt  und  glaubt,  hat  groß  Unrecht. 

[158.]     September  Anfang.     Wieland  an  Merck. 

Von  Eurem  Erbprinzen  Ludwig  von  HeJfen=Darmßadt 
kann  und  foll  ich  viel  Gutes  melden.  Er  ift  vom  Herzog 
und  allen  feinen  kleinen  parties  de  plaisir  unzertrennlich 
gewefen,  hat  Goethen  liebgewonnen  und  Goethe  ift  auch 
ihm  gut.  Sein  hiefiger  Aufenthalt  ift  ihm  im  ganzen 
vorteilhaft  gewefen,  denken  wir,  und  Ihr,  lieber  Herr  und 
Freund,  werdet's  fpüren,  wenn  er  wieder  nach  Darmftadt 
kommt.  Goethe  bittet  Sie  nur,  etwas  von  Ihrer  gewöhn? 
liehen  Referve  mit  den  Fürfien  bei  ihm  nachzulaffen  und 
fo  offen  und  natürlich  mit  ihm  zu  fein,  als  er  feines  Orts 
Sie  durch  fein  Betragen  dazu  einladen  wird.  Er  hat  ftarke 
Eindrücke   bekommen,   was   ein  Mann  wie    Ihr  wert  ift. 

[159.]     September  29.     Mit  Wieland. 

Herr  Kaufmann  kam  den  zweiten  Tag  nach  feiner 
Ankunft  nachmittags  mit  Klingern  in  meinen  Garten  und 
blieb  ungefähr  eine  halbe  Stunde.  Den  folgenden  Morgen 
fand  ich  ihn  bei  Goethe.  Der  Mann  hatte,  ungeachtet 
feiner  um  fich  gezogenen  Nebelkappe,  was  Anziehendes 
für  mich.  Ich  näherte  mich  ihm  voll  Gutwilligkeit  und 
vielleicht  nach  meiner  Art  etwas  zu  fchnell;  er  zog  fich 
aber  ganz  in  feine  Schale  hinein,  und  fo  haben  wir's  denn 
dabei  bewenden  laffen.  '^  Goethe  war  geftern   morgens 


164]  Weimar.     1776.  83 

bei  mir  und  erklärte  mir  alles:  die  Schuld,  warum  die 
Enthufiaften  nicht  mit  mir  und  ich  nicht  mit  ihnen  leben 
können,  liegt  weder  an  ihnen,  noch  mir,  fondern  an 
den  Göttern,  die  uns  fo  gemacht  haben.  Ich  habe  das  Un? 
glück,  unter  die  Lauen  zu  gehören,  die  von  den  Warmen 
und  Kalten  ausgefpieen  werden.  Leute,  die  lange  mit  mir 
gelebt  haben,  finden,  daß  ich  mit  allen  meinen  Launen 
und  Ungleichheiten  ein  guter  Menfch  bin;  aber  die  andern 
fehen  das  nicht  und  können  nicht  aus  mir  klug  werden, 
fagt  man. 

[160.]    September  Ende/Oktober  Anfang.    Wieland  an  Merck. 

Freuen  Sie  fich  nicht  auch  mit  mir  und  über  mich, 
daß  ich  Goethen  endlich  Hand  in  Hand  verfprochen  habe, 
keine  Noten  noch  postfacen  mehr  zu  andrer  Leute  Auf? 
fätzen  zu  machen? 

[161.]     Oktober.     Wieland. 

Goethe  ift  immer  der  nehmliche  —  immer  wirkfam 
uns  alle  glücklich  zu  machen,  oder  glücklich  zu  erhalten  — 
und  felbft  nur  durch  Teilnehmung  glücklich.  —  Ein  großer, 
edler,  herrlicher,  verkannter  Menfch,  eben  darin  verkannt, 
weil  fo  wenige  fähig  find,  fich  einen  Begriff  von  einem 
folchen  Menfchen  zu  machen. 

[162.]     Oktober  Anfang.     Wieland  an  Bürger. 

Ihr«Brief  über  Homer  in  Jamben  ift  im  Oktober  des 
Deutfchen  Merkur  und  alfo  fchon  vor  14  Tagen  abge? 
druckt.  Er  hat  Herders,  Goethes  und  meinen  völligften 
Beifall.  ^^  Die  kleine  Abänderung  in  der  Auffchrift,  und 
die  Subftitution  des  Buchftaben  A.  an  die  Stelle  meines 
Namens,  fand  unfer  Freund  Goethe  nötig  um  Ihrent;:  und 
meinetwillen. 

[163.]     Herbft.     J.  K.  A.  Mufäus. 

Es  geht  mit  unferm  Liebhabertheater  noch  immer  ganz 
gut  vonftatten.  ^  Herr  Goethe  hat  ein  Paar  von  feinen 
Schriften  zum  heften  gegeben:  Die  Gefchwifter,  in 
einem  Akt,  und  ein  Stück :  D  i  e  M  i  t  f  c  h  u  1  d  i  g  e  n.  Er  felbft 
hat  viel  wahre  Aktion,  und  macht  eine  angenehme  Figur. 

[164.]     Dezember  3.    Fürft  Franz  v.  Deffau. 

Ich  hatte  befohlen  einen  Jagdwagen  bereit  zu  halten, 
der  Goethen,  welcher  zu  einer  genau  beftimmten  Stunde  in 
I  6* 


84  Fürft  Franz  v.  Deffau.  [165 

Deffau  ankommen  würde,  fofort  nach  Wörlitz  bringen 
folle.  Auch  follte  der  Leibarzt  Kretfchmar  benachrichtigt 
werden,  fich  beizeiten  auf  dem  Schlöffe  einzufinden,  um 
mitzufahren.  Beide  kannten  fich  noch  nicht  und  der  HoS 
marfchall  hatte  verfäumt,  fie  einander  vorzuftellen.  Eine 
Zeitlang  faßen  fie,  Goethe  gerade,  feierlich  wie  ein  Licht, 
Kretfchmar  leicht  und  beweglich,  wie  ein  junger  Rehbock, 
nebeneinander.  Endlich  dreht  Goethe  ein  wenig  den 
Kopf  nach  Kretfchmarn  und  fragt  über  die  Schulter:  Wer 
ift  Er?  Schnell  und  barfch,  Goethen  den  Rücken  zu;: 
kehrend,  erwidert  Kretfchmar:    Und  wer  ift  Er? 

[165.]     F.  D.  Gräter. 

Zwanzig  Jahre  fpäter  ^  erzählte  Wieland,  es  fei  wahr? 
haft  bewunderungswürdig  gewefen,  wie  Goethes  Genie 
fich  damals  bei  jeder  Gelegenheit  offenbart  habe.  Er  habe 
nicht  nur  die  fchönften  Gedichte,  fondern  ganze  Dramen 
improvifiert.  Namentlich  erinnere  er  fich,  wie  fie  eines 
Tages  davon  gefprochen,  welch  herrliches  Stück  Cäfar 
geben  könne.  Goethe  habe  fofort  angefangen,  die  Perfonen 
zu  charakterifieren,  und  eine  Szene  des  Stücks  nach  der 
andern  vom  Anfange  bis  zu  Ende  des  Dramas  vorzu? 
tragen.  Wenn  man  die  Stücke,  die  er  fo  improvifiert, 
hätte  auffchreiben  können,  würde  die  Welt  einige  erhalten 
haben,  die  noch  bewundernswürdiger  wären,  als  feine  be? 
kannten. 

[166.]     Herder. 

Eine  der  lächerlichften  Genieperioden  war  die  berg? 
männifche  in  Weimar,  als  die  Bergwerke  in  Ilmenau  wieder 
gangbar  gemacht  werden  follten.  Da  war  der  Menfch 
gar  nichts,  der  Stein  alles.  Goethe  fand  in  der  Organi:: 
fation  des  Granits  die  göttliche  Dreieinigkeit,  die  nur  durch 
ein  Myfterium  erklärt  werden  könne  1 

1777. 

[167.]     (Anfang  d.  J.)     Wieland. 

Mit  Goethe  —  was  für  herrliche  Stunden  und  halbe 
Tage  lebt'  ich  mit  ihm  im  erften  Jahre!  Nun  ift's,  als  ob 
in  den  fatalen  Verhältniffen,  worin  er  fieckt,  ihn  fein  Ge^^ 
nius  ganz  verlaffen  hätte ;  feine  Einbildungskraft  fcheint  er? 


172]  Weimar.    1777.  85 

lofchen ;  ftatt  der  allbelebenden  Wärme,  die  fonft  von  ihm 
ausging,  ift  politifcher  Froft  um  ihn  her.  Er  ift  immer 
gut  und  harmlos,  aber  —  er  teilt  fich  nicht  mehr  mit  — 
und  es  ift  nichts  mit  ihm  anzufangen.  Auch  fehen  wir 
uns  nur  feiten,  wiewohl  ich  feft  glaube,  daß  er  nichts 
wider  mich  hat,  und  von  mir  überzeugt  ift,  daß  ich  ihn 
herzlich  liebe. 

[168.]     (Anfang  d.  J.)   E.  A.  A.  v.  Göchhaufen  an  E  J.  J.  Bettuch. 

Goethe  hat  gegen  jemand  gefagt,  er  habe  in  meinem 
Wertherfieber  Satire  über  Werthers  Leiden  gefunden.  Ift's 
möglich  überhaupt?  Und  wär's  möglich,  daß  Goethe  Sie 
hintergangen  hätte,  als  er  Ihnen,  wie  Sie  mir  meldeten, 
fagte:    er  erkenne  meine  Abficht  und  danke  fie  mir? 

[169.]     Februar.     Wieland  an  Bürger. 

Wir  haben  hier  große  Freude  von  Ihrer  Ausforderung 
an  Fritz  Stolberg  im  Mufeum  Dezember  1776  gehabt.  Wenn 
er  klug  ift,  fagt  Goethe,  fo  läßt  er's  nun  dabei  bewenden 
und  zieht  fich  in  fein  Gezelt  zurück. 

[170.]     März  24.     Wieland  an  F.  H.  Jacobi. 

Goethe,  dem  ich  Deinen  Brief  lefen  laffen,  grüßt  Dich. 
Er  ift  der  Meinung,  Du  foUft  die  Reife  nach  Weimar  nicht 
fchreiben.  Er  meint,  es  fchickte  fich  für  uns  am  heften, 
in  unferm  heiligen  Dunkel  zu  bleiben  —  es  würde  nur 
dienen,  viele  boshafte,  hämifche  Seelen  hier  und  dort  auf^ 
zuwiegeln. 

[171.]     April  Anfang.     Wieland  an  Merck. 

Goethe  grüßt  Sie,  und  läßt  Ihnen  wiffen,  daß  er 
fleißig  in  feinem  Garten  arbeite,  und  hoffe,  daß  Sie  einft 
zu  ihm  kommen  und  mit  Augen  fehen  und  Freude  dran 
haben  werden.  Zeichnen  ift  außerm  Pflanzen  jetzt  fein 
Lieblingsgefchäft;  Sie  werden  auch  hierin  über  die  Wun^ 
der  feines  Genies  erftaunen.  Er  zeichnet  völlig,  wie  er 
dichtet  und  fchreibt.  Nur  follen  Sie  feinen  Pflanzungen 
Zeit  laffen,  recht  einzuwachfen,  ehe  Sie  kommen. 

[172.]     Mai  Mitte.     Wieland  an  F.  H.  Jacobi. 

Ich  habe  nun  auch  Goethes  Meinung  von  meiner  Oper 
Rofamunde,  und  fie  ftimmt  vöflig  zu  der  Deinigen.  Er 
hat  mir  alles  fehr  begreiflich  gemacht.     Seiner  Meinung 

I 


86 Wieland. [173 

nach  liegen  die  Hauptgebrechen  im  Sujet  selbft;  der  erfte 
Fehlgriff"  aber  liegt  nach  ihm  darin,  daß  ich  das  Ding, 
anfiatt  mit  dramatifchem,  mit  epischem  Sinn  gefaßt  habe. 

[173.]     Juni  1.     Wieland  an  Merck. 

In  den  Parkanlagen  trafen  wir  Goethen  in  Gefellfchaft 
der  fchönen  Schröterin  an,  die  in  der  unendlich  edlen  aU 
tifchen  Eleganz  ihrer  ganzen  Geftalt  und  in  ihrem  ganz 
fimpeln  und  doch  unendlich  raffinierten  und  infidiofen  An;= 
zug  wie  die  Nymphe  diefer  anmutigen  FeHengegend  auss: 
fah.  Wir  hießen  einander  alfo  auch  willkommen,  und 
Goethe  war  zwar  fimpel  und  gut,  aber  äußerft  trocken 
und  verfchloffen,  wie  er's  fchon  lange,  fonderlich  feit  meiner 
Rückkunft  von  der  Reife  in  Eure  Gegend  ift.  Ich  glaube 
indeffen  gerne  und  am  liebften,  daß  der  wahre  Grund  da:; 
von  doch  bloß  in  der  Entfernung  Hegt,  worin  wir  durch 
die  Umftände  voneinander  gehalten  werden.  Vor  2  Jahren 
lebten  wir  noch  miteinander;  das  ift  jetzt  nicht  mehr  und 
kann  nicht  mehr  fein,  da  er  Gefchäfte,  liaifons,  Freuden 
und  Leiden  hat,  an  denen  er  mich  nicht  teilnehmen  laffen 
kann;  und  an  denen  ich  meines  Ortes  ex  parte  auch  nicht 
teilnehmen  könnte  noch  möchte. 

1 174.]    Juni  Ende.    J.  W.  L.  Gleim. 

Kurz  darauf,  nachdem  Goethe  feinen  Werther  ge^^ 
fchrieben  hatte,  kam  ich  nach  Weimar  und  wollte  ihn 
kennen  lernen.  Ich  war  abends  zu  einer  Gefellfchaft  bei 
der  Herzogin  Amalie  geladen,  wo  es  hieß,  daß  Goethe 
fpäterhin  auch  kommen  würde.  Als  literarifche  Neuig* 
keit  hatte  ich  den  neueften  Göttinger  Mufenalmanach  mit* 
gebracht,  aus  dem  ich  eins  und  das  andere  der  Gefell* 
fchaft  mitteilte.  Indem  ich  noch  las,  hatte  fich  auch  ein 
junger  Mann,  auf  den  ich  kaum  gemerkt,  mit  Stiefeln  und 
Sporen  und  einem  kurzen,  grünen  aufgefchlagenen  Jagd* 
rocke  unter  die  übrigen  Zuhörer  gemifcht.  Er  faß  mir 
gegenüber  und  hörte  fehr  aufmerkfam  zu.  Außer  einem 
Paar  fchwarzglänzender,  italienifcher  Augen,  die  er  im 
Kopfe  hatte,  wüßte  ich  fonft  nichts,  das  mir  befonders 
an  ihm  aufgefallen  wäre.  Allein  es  war  dafür  geforgt, 
ich  follte  ihn  fchon  näher  kennen  lernen.  Während  einer 
kleinen  Paufe  nämlich,  wo  einige  Herren  und  Damen  über 
dies  oder  jenes  Stück  ihr  Urteil  abgaben,  eins  lobten,  das 
andere  tadelten,  erhob  fich  jener  feine  Jägersmann  —  denn 


174]  Weimar.    1777.  87 

dafür  hatte  ich  ihn  anfänghch  gehalten  —  vom  Stuhle, 
nahm  das  Wort  und  erbot  fich  in  demfelben  Augenblicke, 
wo  er  fich  auf  eine  verbindliche  Weife  gegen  mich  vers^ 
neigte,  daß  er,  wofern  es  mir  fo  beliebte,  im  Vorlefen, 
damit  ich  nicht  allzufehr  ermüdete,  von  Zeit  zu  Zeit  mit 
mir  abwechfeln  wollte.  Ich  konnte  nicht  umhin,  diefen 
höflichen  Vorfchlag  anzunehmen  und  reichte  ihm  auf  der 
Stelle  das  Buch.  Aber  Apollo  und  die  neun  Mufen,  die 
drei  Grazien  nicht  zu  vergeffen,  was  habe  ich  da  zuletzt 
hören  muffen!    Anfangs  ging  es  zwar  ganz  leidlich: 

Die  Zephir'n  laufchten, 

Die  Bäche  raufchten, 

Die  Sonne 

Verbreitet'  ihr  Licht  mit  Wonne. 

Auch  die  etwas  kräftigere  Kofi:  von  Voß,  Leopold 
Stolberg,  Bürger  wurde  fo  vorgetragen,  daß  fich  keiner 
darüber  zu  befchweren  hatte.  Auf  einmal  aber  war  es, 
als  ob  den  Vorlefer  der  Satan  des  Übermutes  beim  Schöpfe 
nehme,  und  ich  glaubte,  den  wilden  Jäger  in  leibhaftiger 
Geftalt  vor  mir  zu  fehen.  Er  las  Gedichte,  die  gar  nicht 
im  Almanach  ftanden,  er  wich  in  alle  nur  mögliche  Ton^s 
arten  und  Weifen  aus.  Hexameter,  Jamben,  Knittelverfe 
und  wie  es  nur  immer  gehen  wollte.  Alles  untere  und 
durcheinander,  wie  wenn  er  es  nur  fo  herausfchüttelte. 

Was  hat  er  nicht  alles  mit  feinem  Humor  an  diefem 
Abend  zufammenphantafiert  I  Mitunter  kamen  fo  präch? 
tige,  wiewohl  nur  ebenfo  flüchtig  hingeworfene,  als  ab:: 
geriffene  Gedanken,  daß  die  Autoren,  denen  er  fie  unteres 
legte,  Gott  auf  den  Knien  dafür  hätten  danken  muffen, 
wenn  fie  ihnen  vor  ihrem  Schreibpulte  eingefallen  wären. 
Sobald  man  hinter  den  Scherz  kam,  verbreitete  fich  eine 
allgemeine  Fröhlichkeit  durch  den  Saal.  Er  verfetzte  allen 
Anwefenden  irgend  etwas.  Auch  meiner  Mäzenfchaft,  die 
ich  von  jeher  gegen  junge  Gelehrte,  Dichter  und  Künftler 
für  eine  Pflicht  gehalten  habe  —  fo  fehr  er  fie  auf  «der 
einen  Seite  belobte,  fo  vergaß  er  doch  nicht  auf  der  andern 
Seite  mir  einen  kleinen  Stich  dafür  beizubringen,  daß  ich 
mich  zuweilen  bei  den  Individuen,  denen  ich  diefe  Untere 
ftützung  zuteil  werden  ließ,  vergriffe.  Deshalb  verglich, 
er  mich  witzig  genug  in  einer  kleinen  ex  tempore  in  Knittel? 
verfen  gedichteten  Fabel  mit  einem  frommen  und  dabei 
über  die  Maßen  geduldigen  Truthahn  [I],  der  eigene  und 
I 


88 J.  W.  L.  Gleim. [175 

fremde  Eier  in  großer  Menge  und  mit  großer  Geduld  be:= 
fitzt  und  ausbrütet,  dem  es  aber  en  passant  wohl  auch  ein^ 
mal  begegnet,  und  der  es  nicht  übelnimmt,  wenn  man  ihm 
ein  Ei  von  Kreide  fiatt  eines  wirklichen  unterlegt. 

Das  ift  entweder  Goethe  oder  der  Teufel]  rief  ich 
Wieland  zu,  der  mir  gegenüber  am  Tifche  faß.  Beides 
—  gab  mir  diefer  zur  Antwort;  —  er  hat  einmal  heute 
wieder  den  Teufel  im  Leibe;  da  ift  er  wie  ein  mutiges 
Füllen,  das  vorn  und  hinten  ausfchlägt,  und  man  tut  wohl, 
ihm  nicht  allzunahe  zu  kommen. 

[175.]     J.  W.  L.  Gleim  an  Herder. 

Grüßt  die  Freunde  dort,  die  Wielande,  die  Einfiedel, 
die  Bertuche,  die  Seckendorffe.  Könnt'  ich  mich  rühmen, 
daß  ich  Euern  Goethe  gefunden  hätte,  wie  Lavater  neu^ 
lieh  in  einem  Briefe  (nicht  an  mich)  fich  rühmte,  daß  er 
die  Fürftin  von  Deffau  gefunden  hätte,  fo  bat'  ich  auch 
ihn  zu  grüßen;  ich  hab'  ihn  aber  nicht  gefunden,  er  war 
mir  hier  zu  kalt,  zu  hofmännifch  und  dort  zu  feurig  und 
zu  ftolz  —  ich  lieb'  ihn  aber  doch,  wie  man  die  Mädchen 
liebt,  von  welchen  man  geliebt  zu  werden  keine  Hoffnung 
hat,  und  beklage,  daß  er  ftolz  und  feurig  nicht  geblieben  ift. 

[176.]    Juli  9.     K.  L.  V.  Knebel. 

Goethe  ift  jetzt  zuweilen  bei  uns  [K.  und  Prinz  Kom 
flantinjy  bringt  eine  halbe  Nachtwache  und  einen  Morgen 
bei  uns  zu  und  macht  uns  die  Stunden,  die  er  hier  ift, 
fehr  angenehm.  Er  hat  uns  feine  neue  Kompofition  von 
Wilhelm  Meifters  theatralifcher  Sendung  vorgelefen,  wel? 
ches  ein  fehr  fein  Werk  ift.  Sonft  zeichnet  er,  liefert  unfere 
Köpfe  nach  feiner  Vorftellungsart ,  fcheint  auch,  er  will 
das  Werk  feiner  Statthalterfchaft  mit  dem  ihm  anftändigen 
Eifer  fich  angelegen  fein  laffen. 

[177.1     Juli.     Wieland. 

Goethe  und  ich  find  feit  meinem  letzten  wieder  näher 
und  näher  zusammengerückt  —  und  ich  habe  ihn  wieder:; 
gefunden,  wo  ich  ihn  nun  bald  vor  Jahr  und  Tag  ge^ 
laffen  hatte,  habe  auch  mir  felbft  gefchworen,  daß  mich 
nimmer  und  nimmermehr  nichts  an  ihm  irre  machen,  noch 
von  feiner  Liebe  fcheiden  foll. 


178]  Wartburg.    1777. 89 

[178.]     September  19.     F.  Oberthür. 

Warm,  enthufiaftifch,  fo  wie  man  vom  Heiligtum  des 
Apollo  kommt,  komme  ich  früh  ein  halb  10  Uhr  von  der 
Wartburg,  wo  Goethe  wohnet,  nach  meinem  Gafthof  Zum 
Rautenkranz  zurücke.  '^ 

Faft  eine  halbe  Stunde  mußte  ich,  wie  im  Vorhofe 
des  Tempels,  warten,  bis  ich  Goethen  zu  fehen  bekam.  '^ 

Ich  glaubte  einen  tiefdenkenden,  ernfihaften,  kalten 
Engländer,  dem  Kleide  und  der  Miene  nach,  zu  fehen; 
ich  konnte  leicht  den  Verfaffer  des  Götzens  von  Ber^s 
lichingen,  der  Leiden  des  jungen  Werthers,  des  Clavigo 
finden,  und  das  Bild  in  Lavaters  Phyfiognomik  hat  viel 
Ähnlichkeit  mit  dem  Urbild.  Aber  den  luftigen,  launigten, 
auch  ein  wenig  mutwillig  —  nehmen  Sie  diefes  Wort  nur 
in  keiner  üblen  Bedeutung  —  luftigen  Gefellfchafter,  wie 
man  mir  Goethe  befchrieben,  hätte  ich  bei  diefem  Befuch 
nie  erraten. 

Er  hatte  foeben  die,  feinem  Fenfter  geradeüberftehen^ 
den  zwei  von  der  Natur  gefetzten  Spitzfäulen  gezeichnet, 
die  unter  dem  Namen  des  Mönchs  und  der  Nonne  ht^ 
kannt  find  und  auch  nicht  lange  zuvor  von  Wieland  im 
Teutfchen  Merkur  befungen  worden.  Diefe  betrachtete 
ich  durch  ein  Sehrohr,  von  diefem,  dazu  fehr  bequemen 
Standpunkte  einige  Augenblicke;  überfahe  dann  die  Gegend, 
die  Ausfichten  von  diefer  Burg  hinab  in  die  Tiefe  und 
lobte  die  Wahl  des  Dichters,  der  diefen,  feiner  Phantafie 
und  feiner  Mufe  fo  fchicklichen  Ort  dem  Palafte  des  Fler^: 
zogs  in  der  Stadt  vorgezogen. 

Die  ganze  übrige  Unterredung  hatte  den  Zuftand  der 
Wiffenfchaften  und  Künfte  in  meinem  Vaterlande  Franken 
zumGegenftand,  und  ich  muß  geftehen,  daß  Goethe  meinem 
Nationalftolz  nicht  wenig  gefchmeichelt ;  er  hatte  fchon  in 
feiner  Vaterftadt  etliche  meiner  Landsleute  gekannt,  und 
auch  in  Thüringen  bekam  er  von  ficherer  Hand  vorteile 
hafte  Nachrichten  von  Franken  und  unferm  gefchickten 
Hofmaler  Treu  in  Würzburg;  von  ihm  felbft  verfertigte 
Porträts  hatte  er  in  Erfurt  gefehen,  und  diefes  waren  die 
Data  und  Gründe  zu  feinem  Lobe  über  Franken  und  den 
Zuftand  der  Wiffenfchaft  und  Künfte  dafelbft.  —  Sie  können 
wohl  denken,  daß  ich  ihm  noch  mehr  Gutes  von  meinem 
Vaterlande  gefagt,  foweit  es  Wahrheit  und  Befcheidenheit 
litten. 
I 


90 F.  Oberthür. [179 

Nach  und  nach  merkte  ich,  daß  der  Dichter  fich  noch 
mehr  in  fich  felbft  zurückzog,  ftille  wurde,  ernfthaft  und 
kalt  wie  in  einem  Spleen  daftund.  Da  dachte  ich:  viel:: 
leicht  hat  fich  irgend  ein  großer  Gegenfi:and  feiner  Seele 
bemächtigt,  und  Apollo  heißt  ihn  darüber  dichten  und  be^^ 
urlaubte  mich. 

[179.]     September.     Merck  an  F.  Nicolai. 

Ich  hab'  Goethe  neuerlich  auf  Wartburg  befucht,  und 
wir  haben  10  Tage  zufammen  wie  Kinder  gelebt.  Mich 
freut's,  daß  ich  von  Angeficht  gefehen  habe,  was  an  feiner 
Situation  ifi.  Das  Befi:e  von  Allem  ifi:  der  Herzog,  den 
die  Efel  zu  einem  fchwachen  Menfchen  gebrandmarkt 
haben,  und  der  ein  eifenfefi:er  Charakter  ifi:.  Ich  würde 
aus  Liebe  zu  ihm  eben  das  tun,  was  Goethe  tut.  Die 
Märchen  kommen  alle  von  Leuten,  die  ungefähr  fo  viel 
Auge  haben  zu  fehn,  wie  die  Bedienten,  die  hinterm 
Stuhle  fiehn,  von  ihrem  Herrn  und  deren  Gefpräch  ur^: 
teilen  können.  ^  Ich  fage  Ihnen  aufrichtig,  der  Herzog 
ifi  einer  der  refpektabelfien  und  gefcheuteften  Menfchen, 
die  ich  je  gefehen  habe  —  und  überlegen  Sie,  dabei  ein 
Fürft  und  ein  Menfch  von  20  Jahren.  Ich  dächte,  Goethes 
Gefellfchaft,  wenn  man  mutwillig  vorausfetzen  will,  er  fei 
ein  Schurke,  follte  doch  mit  der  Zeit  ein  wenig  guten 
Einfluß  haben.  Das  Geträtfche,  daß  er  fich  nach  Goethe 
bilde,  ifi  fo  unleidlich  unwahr  als  etwas,  denn  es  ifi  ihm 
niemand  unausfiehlicher  als  Goethes  Affen. 

[180.]     September.     Merck  an  Lavater. 

Dagegen  hab  ich  Ihnen  auch  einige  gute  Nachrichten 
Goethen  betreffend  zum  Voraus  in  Kauf  zu  geben.  Ich  habe 
mich  vorigen  Herbfi  im  Monat  September  auf  meinen  Fuchs 
gefetzt,  und  bin  nach  Eifenach  zu  dem  herrlichen  Menfchen 
wallfahrten  gegangen,  allwo  ich  denn  auf  der  Wartburg  an 
14  Tage,  wie  Sie  denken  können,  in  Wohlleben  mit  ihm 
verbracht  habe.  Seine  Situation  ifi  die  befie,  die  er  fich 
wünfchen  kann.  Er  lebt  völlig  nach  feinem  Kopfe  in  dem 
Haufe  des  Herzogs,  als  wenn's  in  dem  meinigen  wäre; 
hat  nicht  das  geringfie,  wie  die  Efel  prätendieren,  von 
feiner  ehemaligen  poetifchen  Individualität  abgelegt,  das 
gegen  aber  an  Hunger  und  Dürft  nach  Menfchenkenntnis 
und  Welthändeln  und  der  daraus  folgenden  Weisheit  und 
Klugheit  wie  ein  Mann  zugenommen.  ^  Goethe  liebt  den 


183]  Weimar.    1778.  91 

Herzog  wie  keinen  von  uns,  weil  vielleicht  keiner  ihn  fo 
nötig  hat,  als  diefer,  und  fo  wird  ihr  Verhältnis  ewig 
dauern,  —  denn  Goethe  kann  ihn  nicht  verlaffen,  oder 
er  müßte  nicht  mehr  der  fein,  der  er  ift,  und  der  Herzog 
wird  fo  wenig  mit  ihm  brechen,  als  einer  von  denen,  die 
Goethes  Freunde  find. 

[181.]     November  7.     Wieland  an  Merck. 

Lieber  Herr  und  Kumpan,  eine  große  Bitte!  von 
Goethen  und  mir  gemeinfchaftlich.  Sie  haben  doch  fchon 
das  große  opus  des  jungen  Kramers:  Klopftock,  in  Frag? 
menten  aus  Briefen  von  Tellow  an  Elifa  ^  und  wir  bitten 
Sie  nun  mit  aufgehobenen  Händen  um  eine  Rezenfion 
desfelben,  aber  um  eine  Rezenfion,  daß  der  König  und 
die  Königin  fagen  follen:  Liebes  Löwchen,  brülle  noch 
einmall  —  Hier  ifi:  doch  wieder  einmal  Gelegenheit,  ein 
Meifiierftück  zu  machen  —  eine  Rezenfion,  die  Ihnen  fo 
viel  Ehre  machen  foll,  als  die  befi:e  Kompofition  von  der 
Welt  —  kurz  eine  Rezenfion,  wie  nur  Sie  allein  eine  machen 
können.  Goethe  fagt:  Sie  follen  nicht  bloß  die  Seide 
draus  ausbrennen,  fondern  das  Metall  felbfi:  fo  lange 
durch's  Feuer  gehen  laffen  und  fo  lange  fchmelzen,  fcheiden 
und  läutern,  bis  vom  ganzen  Werk  nichts  als  der  Titel 
Klopftock  übrig  bleibe.  ^^ 

Ich  war  geftern  Nachmittag  bei  Goethen  auf  feinem 
Altan.  Kein  lieberes,  fich  wärmer  an  einen  anlegendes, 
oder,  wie  die  Schwaben  fagen,  einen  mehr  anheimelndes 
Plätzchen  auf  Gottes  Boden  muffen  Sie  nie  gefehen  haben. 
'^  Wenn  doch  nur  Merck  itzt  bei  uns  wäre  und  das  auch 
fehen  und  nießen  könnte,  fagte  ich;  das  hier!  —  und  das 
dort!  Das  wäre  fo  was  für  ihn.  Sei  ruhig!  Er  wird 
fchon  kommen,  fagte  Goethe,  und  die  Gewißheit,  womit  er's 
fagte,  machte,  daß  ich  Sie  fchon  halb  gegenwärtig  fühlte. 

[182.]     Wieland  an  Merck. 

Haben  Sie  denn  mein  opus  an  Olympien  noch  nicht 
bekommen  ~  hier  hat's  Herdern  und  Goethen  mächtig  wohl 
gefallen. 

1778. 

[183.]     Januar  30.     J.  F.  Kranz  an  Elifabeth  Goethe. 

Von  dem  neuen  Stücke,  welches  Ihr  lieber  Doktor 
und  unfer  Geh.  L.  Rat  Goethe  am  30.  Januar  und  her? 
I 


92  J.  F.  Kranz.  [184 

nach  am  10.  Februar  hier  aufgeführt,  würde  ich  Ihnen 
viel  fchreiben,  wenn  nicht  der  glückliche  Philipp  Seidel 
Ihr  Korrefpondent  wäre.  Doch  eins  muß  ich  wegen  der 
großen  Ähnlichkeit  zwifchen  Ihnen  und  ihm  doch  melden. 
Goethe  als  Andrafon  kommt  vom  Orakel;  ihn  empfangen 
nebft  feiner  Schwefter  vier  feurige  Mädchen,  freuen  fich 
herzlich  ihn  wieder  zu  haben,  fragen  ihn,  was  er  für  eine 
Antwort  mitbringe,  wie  es  dort  ausfähe  ufw.  Er  fängt 
an  zu  erzählen,  aber  vor  allem  Fragen  der  neugierigen 
Mädchen  kann  er  in  feiner  Erzählung  nicht  fortkommen; 
endlich  kommt  er  auf  den  Ausfpruch  des  Orakels  Andr. 
Wann  wird  ein  preislich  Gefpenft  ufw. 
O  wenn  Sie  ihn  nur  da  hätten  fehen  follenl  Augen, 
Gebärde,  Ton,  Geftikulation,  alles  in  allem,  fage  ich  Ihnen, 
ich  war  gar  nicht  mehr  im  Orchefier,  ganz  in  der  Atmo;: 
fphäre  von  Casa  santa.  ^  Der  Geh.  L.  Rat  läuft  dann 
und  wann  mit  den  Herrfchaften  abends  Schlittfchule 
[sie]  und  zwar  en  masque.  ^ 

[184.]     (Mai.)    F.  v.  Matthiffon. 

In  früheren  Zeiten  befuchte  Goethe  in  feines  fürfi^ 
liehen  Freundes  Gefolge  Wörlitz  oft  auf  mehrere  Wochen. 
Einft  an  einem  heiteren  Sommernachmittage  gefeilte  man 
fich  unter  der  Vorhalle  des  Schloffes  zufammen.  Die 
Fürftin  war  mit  einer  Stickerei  befchäftigt,  der  Fürft  las  etwas 
vor,  Goethe  zeichnete,  und  ein  Ffofkavalier  überließ  ohne 
Zwang  und  Sorge  fich  indes  der  behaglichen  Verführung 
des  Nichtstuns.  Da  zog  ein  Bienenfchwarm  vorüber. 
Goethe  fagte:  Die  Menfchen,an  welchen  ein  Bienenfchwarm 
vorüberfi:reicht,  treiben  nach  einem  alten  Volksglauben  das^ 
jenige,  was  gerade  im  Augenblicke  des  Anfummens  von 
ihnen  mit  Vorliebe  getrieben  wurde,  noch  fehr  oft  und 
fehr  lange.  Die  Fürftin  wird  noch  viel  und  noch  recht 
köftlich  fticken,  der  Fürft  wird  noch  unzähligemal  intern 
effante  Sachen  vorlefen,  ich  felbft  werde  gewiß  unauf:= 
hörlich  im  Zeichnen  fortmachen,  und  Sie,  mein  Herr 
Kammerherr,  werden  bis  ins  Unendliche  faulenzen. 

[185.]     Mai  20.     Caroline  Luife  Hempel  geb.  Karfch  an  Gleim. 

Wenn  Sie  ihn  hätten  kommen  fehen,  unerwartet  in 
unfre  Tür  treten,  mit  den  Augen  meine  Mutter  fuchend, 
mit  feinen  Augen,  achl   unausfprechlich  reizend  war  die 


187] Berlin.    1778. 93 

Szene.  So  kommt  nur  reuige  Liebe  zu  Liebe.  ~  Das 
weiß  ich,  daß  in  feinen  großen  hellen  Augen  der  ganze 
Goethe  ftrahlte,  nicht  der  flammende,  zugreifende,  un:5 
genügfame  Goethe;  Der,  welcher  Lotten  Brot  fchneiden 
fah,  der  war's  ungefähr,  nur  daß  fein  Mund  fiumm  blieb, 
und  Goethe  ftumm  blieb  beim  Eintritt,  beim  Umarmen 
und  einiger  Wendung  bis  zum  Sitze,  da  denn  meine 
Mutter  die  erfte  Frage  an  ihn  tat.  Ich  hätte  gar  zu  gern 
die  Hand  auf  feine  hebe  Bruft  gelegt,  ob  nur  fein  Herz 
auch  das  gefchlagen  hätte,  was  fein  feraphgleiches  Stumm^j 
fein  verkündigte,  aber  der  Menfch  wirft  fo  viel  Refpekt 
aus  feinen  Augen,  daß  ich  mich  kaum  traute,  in  feiner 
Gegenwart  zu  bleiben.  Ich  mußte  ein  paarmal  hinaus, 
lief  aber  gefchwind  wieder  hinein  und  da  hört'  ich  ein^s 
mal,  daß  meine  Mutter  von  Ihnen  frug;  er  antwortete 
wider  feine  Gewohnheit  in  dreien  Teilen  darauf,  und  ich 
fühlt'  es,  daß  Ihr  Name  fein  Ohr  tränkte  und  daß  er 
gerne  von  Ihnen  gefprochen  hätte,  wenn  bei  einem  Fefi? 
befuche  die  Reden  nicht  zur  bloßen  Kur  wären.  ^^  Mama 
fagte  zu  Goethe:  fie  habe  eine  neugeborene  Dichterin 
zur  Enkelin.  Wie  alt  ift  fie?  Vierzehn  Wochen,  fagte 
fie.  So  laffen  Sie  diefelbe  Dichterin  fein  bis  fie  fprechen 
kann.   War  das  wohl  menfchenfreundlich  von  dem  Unart? 

[186.]     Mai  20.     Luife  Karfch. 

Ich  frug  ihn,  ob  er  nicht  auch  das  Vergnügen  koften 
wollte,  Vater  zu  fein.  Er  fchien's  nicht  weit  von  fich  zu 
werfen;  er  ift  ein  großer  Kinderfreund,  und  eben  diefer 
Zug  läßt  mich  hoffen,  daß  er  auch  ein  guter  Ehemann 
werden  wird.  ^  Vielleicht  kommt  er  bald  mit  feinem 
Herzog  allein  auf  längere  Zeit  her:  beim  Abfchied  ließ 
er  fich  fo  was  verlauten.  Ich  gab  ihm  ein  paar  frifche 
Rofen,  und  gefchwind  hub  er  einen  Strohhalm  von  der 
Erde  auf,  band  damit  die  Rofen  zufammen  und  fieckte 
fie  auf  den  Hut.  Er  liebt  die  freimütigen  offenherzigen 
Leute  und  mag's  gern  haben,  wenn  er  geliebt  wird;  das 
gefällt  ihm  beffer,  als  hohes  Lob. 

[187.]     Mai.     J.  W.  L.  Gleim  an  Caroline  Herder. 

Wer,  um  Gottes  willen,  befte  Schwefter,  hat  das 
einzige  Berlin  «^  wer  hat  fo  garftig  von  Berlin  mit  Ihnen 
gefprochen?  War's  Goethe,  fo  hat  er  fich  gröblich  ver? 
fündigt;  denn  er  urteilte  nicht  unparteiifch.    Den  Berlinern 

I 


94  J.  W.  L.  Gleim.  [188 

kam  er  ftolz  vor,  und  wurde  deswegen  nicht  eben  überall 
gut  aufgenommen.  Sie  wiffen,  daß  er  einft  mir  auch  fo 
vorkam.  Alfo  mögen  die  Berliner  nicht  ganz  unrecht 
haben. 

[188.]     Auguft  8.     J.  A.  Leifewitz. 

Zu  Goethen,  der  auf  einem  fehr  fimpeln  Gartens 
häufe  in  der  Gegend  des  Sternes  wohnt.  Er  gefiel  mir 
doch  fehr  —  fchon  feine  Phyfiognomie  nahm  mich  fehr 
ein.  Von  Jacobi.  Goethe  fagte,  er  hätte  fchon  von  der 
Natur  ein  kleines  Vulkanchen  bekommen,  durch  Wein 
Schwefel  zugegoffen,  und  durch  Leidenfchaften  fleißig  zu^ 
gefchürt.  —  Von  meiner  Gefundheit.  —  Bode  hat  mir  ge^ 
raten,  nach  Ilmenau  zu  gehen  und  Goethe  riet  mir  auch 
dazu,  weil  er  die  harzigen  Ausdünftungen  der  Fichten  für 
fehr  gefund  hielt.  —  Ich  habe  keine  Luft  dazu.  Wir  waren 
nur  kurze  Zeit  da,  weil  wir  fpäter  hinkamen,  als  er  uns 
beftellt  hatte.  Er  bat  mich  aber  doch,  ihn  mehr  zu  be^ 
fuchen.  Auf  dem  Hin^  und  Herwege  fprachen  Bode  und 
ich  viel  Gefcheutes,  befonders  über  Goethens  Stolz  und 
Wielands  Eitelkeit. 

[189.]     Auguft  vor  27.    Wieland  an  Merck. 

Verwichenen  Sonnabend  fuhren  wir  zu  Goethe,  der 
die  Herzogin  auf  den  Abend  in  feinen  Garten  eingeladen 
hatte,  um  fie  mit  allen  den  Poemen,  die  er  in  ihrer  Ab? 
wefenheit  an  dem  Ufer  der  Um  zuftande  gebracht,  zu 
regalieren.  Wir  fpeifeten  in  einer  gar  holden  kleinen 
Einfiedelei  und  da  fand  fich,  daß  casu  quodam  der  fiebente 
Stuhl  an  einer  Tafelrunde,  woran  wir  faßen,  leer  war.  Dies 
brachte  in  allen  einmütig  den  Wunfeh  hervor,  daß  es  der 
deinige  fein  möchte;  und  da  wir  denn  doch  nicht  Enthufiaften 
genug  find,  uns  einzubilden,  daß  du  wirklich  dafitzeft,  fo 
taten  wir  uns  jeder  nach  feiner  Weife  defto  mehr  mit  der 
Erinnerung  der  Tage  und  Stunden,  die  wir  mit  dir  gelebt 
hatten,  und  mit  der  Hoffnung,  daß  du  mit  der  Frau  Aja 
kommenden  Winter  oder  Frühling  zu  uns  kommen  werdeft, 
eine  Güte.  Goethen  befonders  wurde  gar  wohl  ums  Herz, 
die  Herzogin  fo  von  dir  reden  zu  hören,  wie  eine,  die 
den  Wert  der  ganzen  Totalfumme  deiner  Individualität 
fühlt.  Wir  tranken  auf  deine  und  Frau  Aja's  und  Freund 
Bölling,  des  Kornhändlers,  Gefundheit  eine  Flafche  Jo? 
hannisberger  60er   aus,    und   wie   wir   nun  aufgeftanden 


192] Weimar.    1779. 95 

waren  und  die  Tür  öjfifneten,  flehe  da  ftellte  fich  uns,  durch 
geheime  Anftalt  des  Archi^Magus,  ein  Anbhck  dar,  der 
mehr  einer  reaUfierten  dichterilchen  Vifion  als  einer  Natur:; 
fzene  ähnhch  fah.  Das  ganze  Ufer  der  Um,  ganz  in 
Rembrandts  Gefchmack,  beleuchtet  —  ein  wunderbares 
Zaubergemifch  von  hell  und  dunkel,  das  im  ganzen  einen 
Effekt  machte,  der  über  allen  Ausdruck  geht.  Die  Herzogin 
war  davon  entzückt,  wie  wir  alle.  Als  wir  die  kleine 
Treppe  der  Einfiedelei  herabftiegen  und  zwifchen  den 
Felfenftücken  und  Bufchwerk  längs  der  Um  gegen  die 
Brücke,  die  diefen  Platz  mit  einer  Ecke  des  Sterns  ver;: 
bindet,  hingingen,  zerfiel  die  ganze  Vifion  nach  und  nach 
in  eine  Menge  kleiner  Rembrandtfcher  Nachtftücke,  die 
man  ewig  hätte  vor  fich  fehen  mögen,  und  die  nun  durch 
die  dazwifchen  herumwandelnden  Perfonen  ein  Leben  und 
ein  Wunderbares  bekamen,  das  für  meine  poetifche  Wenige; 
keit  was  Herrliches  war.  Ich  hätte  Goethen  vor  Liebe 
freffen  mögen. 

[190.]     Oktober.     Wieland  an  Merck. 

Ich  hab'  Dir  letzthin  gemeldet,  daß  fich  unfere  Her^; 
zogin  jetzt  eine  große  fete  mit  Goethens  Puppenfpiel  macht. 
Kranz  als  Orcheftermeifter  und  Kraus  als  Dekorateur  haben 
seit  vierzehn  Tagen  alle  Hände  voll  zu  tun.  Goethe  kommt 
dann  und  wann  darnach  zu  fehen  und  das  Werk  in  Gang 
zu  bringen.  ^  Ich  gäbe  Geld  darum,  wenn  Du  den  Spaß 
mit  uns  teilen  könnteft.  Aber  ohne  Zweifel  wirfi:  Du  da^; 
mit  regaliert  werden,  wenn  Du  kommft,  wiewohl  Goethe 
haben  will,  daß  Du  erft  kommen  follft,  wenn  die  Nachti^ 
gallen  wieder  fingen. 

1779. 

[191.]     Februar  3.     Herder  an  Lavater. 

Die  Herzogin  Luife  ^^  hat  eine  Prinzeffin,  die  Luife 
Augufte  Amalie  heißen  foll  und  gewiß  morgen  getauft 
wird:  ein  großes,  fchönes  Kind,  und  Goethe  verfichert, 
daß  es  gerade  die  Geniesnafe  mit  breitem  Sattel  nach 
Deiner  Angabe  habe.  -^ 

[192.]     Frühjahr.     K.  Lenz. 

Um  meinen  kranken  Bruder  von  den  Grenzen 
der  Schweiz  abzuholen,  erhielt  ich  von  Weimar  aus 
I 


96  K.  Lenz.  [193 

der  Großmut  der  weiland  verwitweten  Frau  Herzogin 
durch  Goethe  eine  bare  Geldunterfiützung,  welche,  wie 
mich  däucht,  an  60  Louisdor  betrug.  «^  Goethe  nahm 
mich  übrigens  auf  feinem  Gartenhaufe  fehr  gütig  auf  und 
unterhielt  fich  mit  mir  bei  unferer  Promenade  in  dem  Luft? 
Wäldchen,  der  Stern  genannt,  meiftens  in  fehr  liebreichem 
Andenken  an  Jakob  Lenz,  und  felbft  feine  Schwächen  be* 
rührte  er  nur  mit  vieler  Delikateffe. 

[193.]     Frühjahr.     Wieland. 

Goethe  ^^  hat  wieder  was  gar  Köfiliches  produziert 
und  ift  überhaupt  gar  lieb  und  gut  feit  einiger  Zeit,  der 
Friede  macht  ihm  eben  auch  wieder  Luft  ums  Herz  — 
denn  wir  waren  hier  in  einer  garftigen  Lage. 

[194.]     Juni  26.     Wieland. 

Mit  Goethen  hab'  ich  vergangene  Woche  einen  gar 
guten  Tag  gehabt.  Er  und  ich  haben  uns  entfchließen 
muffen,  dem  Rat  May  zu  fitzen,  der  uns  ex  voto  der  Her? 
zogin  von  Württemberg  für  Ihre  Durchlaucht  malen  foll. 
Goethe  faß  vor?  und  nachmittags  und  bat  mich,  weil 
Serenissimus  absens  war,  ihm  bei  der  leidigen  Seffion  Ge? 
fellfchaft  zu  leiften  und  zur  Unterhaltung  der  Geifter  den 
Oberon  vorzulefen.  Zum  Glück  mußte  fich's  treffen,  daß 
der  faft  immer  wütige  Menfch  diefen  Tag  gerade  in  feiner 
heften  rezeptivften  Laune  und  fo  amufable  war,  wie  ein 
Mädchen  von  fechzehn.  Tag  meines  Lebens  hab'  ich  nie? 
mand  über  das  Werk  eines  andern  fo  vergnügt  gefehen, 
als  er  es  mit  dem  Oberon  durchaus,  fonderlich  mit  dem 
fünften  Gefang  war,  worin  Hyon  fich  von  dem  kaifer? 
liehen  Auftrag  verbotenus  akquittieret.  Es  war  eine  wahre 
Jouissance  für  mich,  wie  Du  leicht  denken  kannft.  Ein 
paar  Tage  darauf  geftund  er  felbft,  daß  er  in  drei  Jahren 
vielleicht  nicht  wieder  in  diefen  Grad  von  Rezeptivität 
und  Offenheit  jedes  Sinnes  für  ein  opus  hujus  furfuris 
et  farinae  kommen  würde. 

[195.]     Sommer.     Sophie  von  La  Roche  an  Wieland. 

Nun  habe  ich  eine  Angelegenheit,  die  ift,  zu  hören, 
wie  viel  an  der  Begebenheit  mit  Woldemars  Briefen  wahr 
ift  oder  nicht,  daß  unter  einem  Eichbaume  zu  Ettersburg 
etliche  davon  vorgelefen  worden   und   dann  Goethe  auf 


197]  Kaffel.    1779.  97 

- — r 

den  Baum  flieg,  eine  geiftvolle  Standrede  über  das  fchlechte 
Buch  hielt  und  es  endlich  zur  wohlverdienten  Strafe  und 
andern  zum  abfchreckenden  Beifpiele  an  beiden  Enden  der 
Decke  an  die  Eiche  nagelte,  wo  dann  eine  große  Freude 
über  die  im  Wind  flatternden  Blätter  war. 

196.]     September  14.     J.  H.  W.  Tifchbein. 

Goethe  hat  anjetzo  das  Porträt  des  Prinzen  Confian^ 
tin  von  Weimar;  wenn  er  aber  nicht  weiß,  auf  was  Art, 
und  in  wie  kurzer  Zeit  es  gemacht  ift,  fo  wird  er  keine 
gute  Meinung  von  mir  haben.  Ich  habe  es  an  einem  Tag 
gemacht.  ^  Es  war  den  Tag  kaltes  Regenwetter  und  der 
Himmel  ganz  grau;  an  fo  einem  Tag  ift  es  fchlimm;  man 
ift  nicht  ficher,  ob  man  etwas  von  der  Farbe  ab^  oder  zus^ 
geben  foll;  auch  ift  es  fchlimm,  weil  jeder  Strich  unver^ 
änderlich  ftehen  bleiben  muß;  man  verfieht  fleh  leicht;  fo 
lange  das  Tuch  noch  platt  ift,  ohne  Vertiefungen;  fo  fcheint 
einem  alles  kleiner,  und  wenn  es  gemalt  und  mit  Vertie^^ 
fungen  und  Erhöhungen  gemacht  ift,  fo  flehet  man  erft, 
daß  einige  Teile  zu  kurz  oder  zu  lang  flnd,  und  man 
kann  es  nicht  ändern,  weil  die  Farben  fonft  fchmutzig 
werden;  man  hat  auch  keine  Zeit,  wenn  man  nicht  mehr 
als  einen  Tag  arbeiten  kann.  Die  Farben  mit  einem  Strich 
hinfetzen,  ift  die  rechte  Art,  denn  wenn  man  fle  lange 
mit  dem  Pinfel  hin  und  her  treibt,  fo  werden  fle  fchmutzig 
und  matt.  Das  ift  auch  Goethes  Meinung;  fo  ift  mir 
erzählt,  daß  er  es  gefagt,  als  er  die  Kaffelifche  Galerie 
befah. 

[197.]     September.    J.  G.  Förfter  an  F.  H.  Jacobi. 

Ich  habe  Goethen  gefehen,  aber  nicht  genug,  um  ihn 
zu  kennen.  Sein  Freund  Behrifch  in  Deffau  hat  mir  feine 
ausgelaffene  Laune  nicht  verhehlt,  ich  aber  habe  ihn  nicht 
darin  gefunden.  Hier  in  Kaffel  war  er  ernfthaft,  machte 
wenig  Worte,  frug  mich  wegen  der  Südländer,  über  deren 
Einfalt  er  fleh  freute,  und  hörte  die  meifte  Zeit  zu,  da 
mich  der  Herzog  befragte,  in  deffen  Gegenwart  wir  uns 
faft  immer  nur  gefehen  haben.  Hätte  ich  vermuten  können, 
ja  nur  geahndet,  daß  Goethe  Ihnen,  mein  Befter,  fo  liebst 
los  und  ungerecht  begegnen  könnte,  ich  hätte  doch  auf 
meine  und  feine  Worte  beffer  acht  gegeben.  Allein  ich 
habe  auch  nichts  gemerkt,  das  Unbilligkeit  gegen  Sie  ver^: 
raten  hätte.  Als  ich  Ihnen  fchrieb,  wir  hätten  viel  von 
I  7 


98  J.  G.  Förfter.  [198 

Ihnen  gefprochen,  follte  ich  eigentlich  gefagt  haben,  Ich 
habe  viel  von  Ihnen  gefprochen;  ich  fprach  von  der  Art, 
wie  wir  bekannt  wurden,  wie  fich  Ihr  Herz  mir  öffnete, 
wie  lange  ich  bei  Ihnen  blieb,  und  wie  ungern  ich  Sie 
verließ.  Es  war,  indem  wir  aus  des  Landgrafen  Antiqui=: 
tätenfammlung  in  den  Gafthof  zurückgingen.  Der  Her? 
zog  war  mit  jemand  anderen  einige  Schritte  voraus.  Goethe 
hörte  mir  mit  Teilnehmung  und  in  Gedanken  zu.  Ich  er? 
zählte,  daß  Sie  mir  aus  Woldemar  vorgelefen  hätten  und 
fagte,  was  mein  Herz  mir  eingab.  Ganz  lakonifch  gab 
er  zuweilen  ein  Ja!  drauf,  welches  meinem  Urteil  feinen 
Beifall  zu  erteilen  fchien.  Der  erfte  Teil  ift  nunmehr  er? 
fchienen,  fagte  er.  Auch  find,  erwiderte  ich,  vom  zweiten 
Teile  Bruchftücke  im  Mufeum  erfchienen.  —  Daß  er  doch 
nicht  hat  warten  können]  rief  er  aus;  warum  Bruchftücke? 
Könnt'  er's  nicht  ersparen,  bis  der  zweite  Teil  ganz  fertig 
gewefen  wäre?  —  Ich  fagte  etwas  Gleichgültiges  dazu; 
mich  dünkt,  daß  doch  manchem  die  Stücke  fchon  viel 
Freude  gemacht  hätten.  Wir  hatten  eben  den  Gafthof 
erreicht.  Er  hatte  nur  noch  Zeit,  zu  fragen,  ob  ich  kürz? 
lieh  Briefe  gehabt  und  bald  an  Sie  fchreiben  würde?  Ich 
follte  Sie  doch  von  ihm  grüßen.  Nun  fpeiften  wir  mit 
dem  Herzoge,  und  kaum  war  das  Mittagseffen  verzehrt, 
fo  fuhren  fie  ab.  Faft  fein  Letztes  war,  den  Gruß  an  Sie 
zu  wiederholen.     Er  nannte  Sie  noch  immer  Fritz. 

[198.]     September  27.     Johanna  Schloffer  an  F.  H.  Jacobi. 

Goethe  fagte  mir  gleich  eine  halbe  Stunde  nach  feiner 
Ankunft  von  Deinem  Briefe  an  ihn,  den  er  in  Frankfurt 
erhalten  hätte,  und  was  Du  ihm  darinnen  vorwirfft;  näm? 
lieh  Dinge,  die  durch  den  Weg  der  fchändlichen  Klat? 
fcherei  Dir  endlich  zu  Ohren  gekommen  find.  Er  er? 
zählte  offenherzig  den  ganzen  Verlauf:  daß  er  manche 
mutwillige  Parodie  nicht  gefchrieben,  aber  mündlich  über 
.  Deinen  Woldemar  gefchwatzt  habe.  Sagte :  So  fchöne 
Dinge,  fo  viel  großer,  herrlicher  Sinn  auch  darin  fei,  fo 
könne  er  nun  einmal  für  fich  das,  was  man  den  Geruch 
diefes  Buchs  nennen  möchte  (anders  wiffe  er  fich  nicht 
auszudrücken),  nicht  leiden.  Auch  habe  er,  wie  lieb  Du 
ihm  feift  und  wie  ungerne  er  Dir  etwas  zuleide  fagen  oder 
tun  möchte,  dem  Kitzel  nicht  entgehen  können,  das  Buch, 
zumal  den  Schluß  desfelben,  fo  wie  es  ihm  einmal  auf? 
gefallen  fei,  zu  parodieren,  nämlich,  daß  Woldemarn  der 


200]  Emmendingen  -  Bei  Bonn.    1779.  99 

Teufel  hole.  Man  dürfe  nur  ein  paar  Zeilen  ändern;  fo 
fei  es  unausbleiblich  und  nicht  anders,  als  der  Teufel  muffe 
ihn  da  holen.  Er  fprach  mit  ganz  arglofem  Wefen  da? 
von  und  fuchte  mir  zu  bedeuten,  was  dergleichen  lau? 
nichtes  Getreibe,  in  ihm,  für  eine  abgefonderte  Sache 
fei  ufw.  Er  fchwur  darauf,  daß  er  wünfchte,  Du  wäreft 
mit  zugegen  gewefen.  Du  felber  hätteft  mit  eingefchlagen, 
mutwillig  im  Abftrakten  die  Sache  einmal  zu  nehmen.  Nur 
möchte  er  (ich  nicht  gerne  fchriftlich  in  dergleichen  Expli? 
kationen  einlaffen,  befonders  nach  dem,  worauf  Dein 
Brief  gefiellt  wäre.  Doch  fchrieb  er  Dir  vielleicht,  viel? 
leicht  noch  bei  mir.  Ich  befiand  darauf,  es  fei  Pflicht,  er 
muffe;  —  das  gefchah  nun  freilich  nicht.  Indeffen  fchien 
ihm  Dein  Verdruß  über  die  Sache  aufrichtig  leid  zu  fein. 
Wie  peinlich  diefe  Neuigkeiten  für  mich  waren,  kannft 
Du  denken.  Goethe  kann  gut  und  brav,  auch  groß  fein, 
nur  in  Liebe  ift  er  nicht  rein  und  dazu  wirklich  nicht 
groß  genug.  Er  hat  zu  viele  Mifchungen  in  fich,  die 
wirren,  und  da  kann  er  die  Seite,  wo  eigentlich  Liebe 
ruht,  nicht  blank  und  eben  laffen.  Goethe  ift  nicht  glück? 
lieh  und  kann  fchwerlich  glücklich  werden. 

[199.1     Oktober  17.     N.  A.  Kirchberger. 

Mit  Goethe  habe  eine  intereffante  Unterredung  von 
1  \'o  Stunden  auf  dem  Lande  ganz  allein  gehabt.  Ich  be? 
rührte  einige  von  feinen  Saiten,  die  mit  den  meinigen 
übereinftimmten,  hierauf  blitzte  er  mit  eigenen  Begriffen 
um  fich  her,  die  aufeinander  folgten  wie  Wetterleuchten 
an  einem  Sommerabend.  Ich  konnte  ihm  mein  Herz  über 
die  wichtigften  Gegenftände  öffnen.  Er  ift  aber  nur  Goethe, 
wenn  man  ihn  allein  hat;  bei  feinem  Fürften  ift  er  ein 
ganz  anderer  Mann. 

[200.]     Oktober  17.     N.  A.  Kirchberger. 

Goethe  verurfachte  mir  viel  Vergnügen.  Beim  An? 
laß  meiner  herzlichen  Abneigung  gegen  die  Berliner  haben 
wir  von  Religion  gefprochen;  er  ift  über  die  gewöhnlichen 
Vorurteile  fo  weit  hinweggefetzt,  daß  er  fogar  eine  befon? 
dere  Hochachtung  für  Perfonen  trägt,  die  vom  gemeinen 
Haufen  der  Gelehrten  und  Ungelehrten  verachtet  find, 
und  die  ich  äußerft  hoch  fchätze.  Wir  fprachen  auch  von 
der  Macht  der  menfchlichen  Seelen  nicht  nur  in  Rückficht 
ihrer  Größe,  fondern  infolge  eines  wirklichen  Ausfluffes, 
I  7* 


100  .       N.  A.  Kirchberger.  [201 

der  in  die  Umfiehenden  auch  ohne  ein  Wort  zu  fprechen 
wirkt.  Hierüber  war  er  zu  meiner  Verwunderung  auch 
meiner  Meinung,  fo  daß  ich  bei  diefer  Übereinftimmung, 
die  ich  wirklich  in  feinem  Innerften  antraf,  ihm  alle  meine 
Gedanken  auffchließen  konnte.  Er  war  auch  fo  gefällig, 
mir  feine  Art  mitzuteilen,  wie  er  an  einem  Gegenftand 
arbeitet,  wie  außerordentlich  lang  er  folchen  in  feinem 
Bufen  wärmt,  bis  er  ihn  der  Welt  darftellt.  Dies  ift  auch 
das  Mittel,  um  fein  ganzes  Zeitalter  mit  fich  fortzureißen. 

[201.]     November  26.    J.  J.  Bodmer. 

Gefiern  den  20.  [sie]  November  ein  wenig  nach  9  Uhr 
bracht'  Lavater  Weimarn  und  Goethen  mit  noch  einem 
Edelmann  zu  mir.  Der  Herzog  fagte  gleich,  daß  er  käme, 
den  Vertrauten  Homers  zu  begrüßen.  Goethe  küßte  mich, 
fragend,  ob  ich  Goethen  noch  kennte.  Beide  fagten  mir 
viel  Fleurettes  über  meinen  Homer.  Goethe:  er  fei  ihr 
Reifegefährte;  er  habe  die  Odyffee  ex  profeffo  auf  dem 
Lemanifchen  See  gelefen,  fich  mit  Ulyffes  auf  die  Be:: 
fchwerden  in  den  Alpen  und  der  glaciers  zu  ftärken.  Auf 
den  Alpen  habe  er  den  Homer  den  Alpinern  vorgelefen. 
f^  Herr  von  Wedel,  des  Herzogs  Günfiling,  laffe  fich 
laut  vorlefen.  Erft  jetzt  habe  man  ihn,  und  wiffe,  was 
er  fei.  Leute  von  allen  Ständen  und  jedem  Alter  können 
ihn  verfi:ehn.  Man  muffe  Griechifch  können,  Stolbergs 
Homer  zu  verfi:ehn.  ^^ 

Stolbergs  Ilias  und  die  Abfchrift  des  Gedichtes  von 
den  Nibelungen  lagen  auf  meinem  Pult.  Ich  fagte,  Goethe 
möchte  mir  Zeugnis  geben,  daß  ich  in  Stolbergs  Ilias  ftu:; 
dierte;  ich  könnte  ihn  doch  nur  per  intervalla  lefen,  er 
fchlüge  mich  zurücke.  Der  Graf  muffe  mir  diefes  ver:^ 
zeihn,  wie  ich  ihm  verzeihe,  wenn  mein  Homer  ihn,  oder 
er  felbft  diefen  hinter  fich  würfe.  Es  fei  natürlich,  daß 
der  meine  ihn  fo  wenig  annehme  als  der  feine  mich. 
^  Warum  hat  Klopftock  fich  nicht  an  Homer  gemacht, 
der  Mann  war  dafür  nicht  zu  groß,  der  fo  klein  war, 
für  feine  Zefianifche  Rechtfehreibung  in  Enthufiasm  zu 
kommen.  ^  Goethe  fagte:  Klopftock  habe  eine  Buch^ 
druckerei;  er  möchte  durch  feine  chimärifche  Orthographie 
die  fchon  gedruckten  Bücher  unnütze  machen,  damit  er 
fagen  könne,  er  drucke  nur  ungedruckte  Bücher.  Lava^ 
ter  fagte,  Klopftock  follte  die  Penfion  von  dem  Markst 
grafen  nicht  mehr  annehmen,  nachdem  er  nicht  in  Karls^ 


201] Zürich.    1779. 101 

ruhe  leben  wollte.  Goethe  mit  einiger  Wärme:  er  wäre 
fo  gewohnt  genug,  daß  man  Penfionen  in  der  Entfernung 
nehme.  Der  Markgraf  habe  Klopftock  mit  Etikette  und 
mit  Aufwartungsdienften  exzediert,  daß  es  jedem  braven 
Mann  unausftehlich  fein  würde.  Er  verwunderte  fleh,  da 
wir  ihm  fagten,  daß  Klopftock  ein  Verlangen  habe,  ein 
Bürger  in  Zürich  zu  werden.  '^  Dann  bat  ich  den  Her^ 
zog,  daß  er  Veldigs  Eneas,  der  in  der  Sachfen:; Gothas: 
ifchen  Bibliothek  liegt,  vor  dem  Untergange  retten  möchte. 
Lavater  fchrieb  es  auf  Goethens  Tabletten.  ^  Ich  klagte 
über  die  Barbarei  der  Abtei  St.  Gallen,  und  Goethe  er^ 
zählte  mit  Wärme  von  einem  Griechen,  der  gewußt  habe, 
daß  in  einer  Klofterbibliothek  eine  alte  griechifche  mem^ 
brana  lag,  die  Bücher  feien  in  einem  Chaos  gelegen,  mit 
Not  haben  die  Mönche  ihm  erlaubt,  fie  zu  erlefen,  auf:: 
zufiellen  und  zu  katalogifieren.  Und  fo  habe  er  den  Code 
aufgefpürt.  Als  wir  ftanden,  ftellte  Lavater  Goethe  vor 
mich  und  fagte,  ich  folle  die  Augenbraunen,  die  Stirne, 
den  Mund  (alles  in  feinen  Kunftwörtern)  begucken,  ob 
ich  darinn  nicht  einen  böfen  Menfchen  erblicke.  Ich  gab 
die  Antwort:  Ich  fehe  da  nichts  Fürchterliches,  ich  hielt 
ihn  doch  für  tapfer  und  ich  freute  mich,  den  tapfern  Mann 
zum  Freunde  zu  haben.  Zuweilen  gefchähen  mir  Unfugen, 
die  mir  einen  Befchützer  notwendig  machten.  Goethe  folle 
mein  Ritter  fein.  Der  Herzog  redete  viel,  ganz  fanft  und 
vertraulicher,  als  einer  unfrer  Zunftmeifter,  Goethe  weniger 
und  ernfthaft.  ^  Ich  fagte  zu  Lavater,  er  würde  fie  doch 
auch  zu  Herrn  Chorherr  Geßner  führen.  Goethe  fuhr 
auf:  Zu  Geßner!  Lavater:  Nicht  zu  dem  Poeten,  zu  dem 
Phyfikus.  Von  der  Noachide,  der  Kalliope  ward  kein 
Wort  gehört.  Das  verdroß  mich  ein  wenig,  doch  machte 
es  mir  den  Gefchmack  diefer  Herren  verdächtig.  Ich  habe 
ihnen  auch  gefagt,  daß  ich  viel  Tinte  vergoffen  habe,  doch 
nicht  in  der  erften  Begierde  nach  großem  Namen,  mehr 
zur  Befchäftigung;  man  habe  in  achtzig  Jahren  viele  un^s 
befchäftigte  Stunden.  Alfo  hab'  ich  meinen  Lohn  emp^ 
fangen.  Wenn  meine  Werke  doch  nützten  oder  beluftig^ 
ten,  fo  hab'  ich  keine  hörnerne  Fibern,  daß  es  mir  nicht 
Freude  mache.  Es  war  nicht  weit  von  11  Uhr,  als  fie 
von  mir  fchieden.  Sie  gingen  in  der  Fortifikation  nach 
dem  Wolfbache.  Abends  desfelben  Tages  fchickte  ich 
Herrn  Lavater  ihnen  zu  übergeben:  Apollons  Argonau^^ 
tica  dem  Herzog;  die  Literarifchen  Nachrichten  und  Evad^ 
I 


102 J.  J.  Bodmer. [202 

nen  und  Kreufa  Goethen.  Auch  erwähnte  diefer  nicht 
mit  einer  Silbe  der  politifchen  Dramen,  die  ich  ihm  im 
Sommer  1776  zugefertigt  hatte. 

[202.]     November  26.    J.  J.  Bodmer. 

Campens  Robinfon  lag  auf  dem  Pult,  ich  ließ  mer^: 
ken,  daß  ich  wenig  daraus  machte,  und  mehr  tadeln  würde, 
wenn  ich  nicht  fürchtete  zu  beleidigen.  Goethe  fagte,  daß 
ich  mich  nicht  fcheuen  dürfte;  alfo  fagte  ich,  daß  Campe 
den  Kindern  kaum  mehr  als  eine  Wiffenfchaft  von  Wör^ 
tern  beibrächte  ufw.  Von  Wieland,  Klopftock,  Stolberg 
ward  nicht  gedacht.  Ich  gab  Goethen  das  Denkmal  König 
aufgerichtet*,  nett  ins  Reine  gefchrieben,  aber  bat  ihn, 
es  für  lieh  im  Pult  zu  bewahren.  Er  nahm  es  mit  Emp:= 
findfamkeit  an,  und  fchob  es  in  den  Bufen.  Dann  bat 
ich,  Herrn  Lavater  vorzuftellen,  daß  er  fich  durch  unauf? 
hörliches  Kanzelbefteigen,  oft  vom  Pferde  auf  die  Kanzel, 
den  Körper  vor  der  Zeit  abnutzte;  bei  mehr  Langfam:; 
keit  und  Ausruhen  würde  er  mehr  Jahre  leben  und  mehr 
ausrichten;  Goethe  fagte,  daß  Lavater  einmal  fo  gemacht 
fei.  Das  war  fchier  alles,  was  er  redete.  Aber  er  be? 
ftätigte  mein  Gefchwätze  mit  Zuwinken  und  ftillem  Bejahen. 

[203.]     Dezember  13./15.     J.  Hartmann. 

Den  13.  Dezember  1779  ging  ich  nach  Stuttgart  und 
traf  bei  meinem  Vetter  Hofi  und  Domänenrat  Georg  Hart= 
mann  den  Herrn  Geheimrat  Goethe  von  Weimar,  der 
eben  von  Zürich  gekommen  war.  Über  eine  Stunde  fprach 
ich  mit  ihm.  Er  fagte  von  Lavaters  unermüdeter  Tätige 
keit.  Wenn  der  Tag  mehr  als  24  Stunden  hätte,  er  wirkte 
in  einem  fort.  Am  15.  kam  Goethe  auch  mit  feinem  Her? 
zog  nach  Ludwigsburg  und  noch  des  Nachts  auch  in  mein 
Waifenhaus.  In  meiner  Schule  fiellte  er  mich  dem  Her? 
zog  vor  als  des  verfiorbenen  Profeffor  Hartmanns  Vater. 
Goethe  freute  fich  über  meinen  kleinen  Immanuel  Israel, 
von  dem  er  meinte,  er  habe  einen  Profefforenkopf. 

[204.]     Dezember  13./ 15.     J.  Hartmann. 

Wir  redeten  von  Hahn  und  feinen  Werken.  Goethe 
war  fehr  begierig,  Hahn  zu  fehen  und  zu  fprechen.  Beim 
Abfchied  war  er  herzlich,  bot  mir,  da  ich  ihm  die  Hand 
küßte,  das  Geficht,  küßte  mich  —  ich  ihn. 


*  Eine  kleine  Schrift  Bodmers. 


206]  Mannheim.    1779.  103 

[205.]     Dezember  22.     Louife  Piftorius  geb.  Schwan. 

Dann  erinnere  ich  mich  wieder,  wie  Goethe  auf  der 
Reife  nach  Italien*  durch  Mannheim  kam  und  von  meinem 
Vater  zu  einem  flotten  Effen  eingeladen  ward,  wobei  noch 
mehrere  Gelehrte,  u.  a.  auch  Profeffor  Heyne  aus  Göts; 
tingen  war.  Diefer  und  fein  Nebenmann  vertieften  fich 
fo  fehr  in  gelehrte  Debatten  und  Rheinwein,  daß  dem 
einen  die  Perücke  auf  dem  rechten  Ohr,  dem  andern  auf 
dem  linken  faß,  was  mich  fehr  gaudierte  und  ich  wünfchte 
fehnlich,  daß  doch  Goethe  auch  eine  Perücke  haben  möchte; 
aber  der  unterhielt  fich  mit  meiner  Schwefier  von  Werthers 
Leiden.  Als  er,  ich  glaube,  erft  nach  einigen  Jahren  wieder 
zurückkam,  war  es  derfelbe  Fall,  daß  er  bei  uns  fpeifie, 
und  zwar  in  Gefellfchaft  von  Knigge  und  Meißner,  welche 
beide  Herren  fchrecklich  abflachen  gegen  den  lebendigen 
und  gewandten  Goethe. 
* 
[206.]     Dezember  22.     A.  W.  Iffland  an  feinen  Bruder. 

Den  21.  kamen  Goethe  und  der  Herzog  von  Weimar 
hier  in  Mannheim  an.  Sie  fahen  Die  Ehefcheuen.  Den  22. 
war  Goethe  zu  Ehren  freier  Eingang  für  jedermann  und 
Clavigo.  Er  ließ  um  4  Uhr  vor  der  Komödie  mich  zu 
fich  bitten:  Liegt  Ihnen  etwas  daran  —  fo  fagte  er  —  fo 
verfichere  ich  Ihnen  meine  ganze  Bewunderung.  Mit  fo 
viel  Wahrheit  und  Delikateffe  fah  ich  feit  Ekhof  nicht 
fpielen.  Folgen  Sie  meinem  Rat,  fpielen  Sie  entweder 
oder:  Immmer  das  Äußerfte,  das  niedrigft  Komifche  und 
höchfte  Tragifche.  Es  ift  ein  odieufer  Kerl,  der  einmal 
Zeug  zu  was  Außerordentlichem  hat,  und  bleibt  im  Mittel, 
Uff!  —  und  dabei  fpannte  er  jede  Nerve,  hinauf!  hin# 
auf!  oder  ganz  im  Drecke.  Bei  Gott,  ich  wundere  mich, 
daß  Sie  fo  jung  find  und  Refignation  genug  haben,  Alte 
zu  fpielen.  Wenn  ich  vierzehn  Tage  dabliebe,  fo  wollte 
ich  Ihretwegen  den  Cid  von  Corneille  umarbeiten,  fo  ge;: 
fallen  Sie  mir.  Adieu.  Ich  empfehle  Ihnen  den  Carlos. 
—  Ich  fprach  ihn  den  Tag  nach  Clavigo  bei  Herrn  von 
Dalberg,  und  er  war  mit  meinem  Carlos  fehr  zufrieden. 
Ein  bißchen  zu  gefchwinde  wäre  ich  gewefen,  meinte  er. 
Den  23.  fahe  er  den  Baron  Abslut  in  den  Nebenbuhlern 


*  Ift  ein  Irrtum.  Auf  dem  Wege  nach  Italien  kam  Goethe 
nicht  durch  Mannheim,  wohl  aber  auf  dem  Rückweg  von  der 
zweiten  Schweizerreife. 

I 


104  A.  W.  Iffland.  [207 

von  mir.  Nach  der  Vorftellung  kam  der  Herzog  und 
Goethe  auf  das  Theater;  der  Herzog  fagte  mir  fo  wie 
Goethe  viel  Schönes.  Gehen  Sie  ftracks  fort  auf  Ihrer 
Bahn,  Sie  find  den  Beifall  wert,  den  Sie  überall  erhalten 
muffen.  Adieu!  Adieu  1  Hier  gab  er  mir  die  Hand.  Leben 
Sie  glücklich]  Denken  Sie  zuweilen  an  Goethe:  er  hat 
Sie  lieb.  —  Daß  ich  mir  vor  Freude  hätte  einen  Raufch 
trinken  mögen,  kannft  Du  denken.  Goethe,  Goethe  fagte 
mir  das!  —  Eine  Anekdote!  Es  war  eine  Seitentür  auf 
dem  Theater,  durch  die  der  Herzog  und  fein  Gefolge 
vom  Theater  ging.  Goethe,  als  ob  er  mechanifch  überall 
Original  wäre,  ging  fchnell  hinein  und  kam  eher  als  der 
Herzog.  In  der  Art,  mit  der  er  es  tat,  fteckte  das  Sonder? 
bare.  ^  Goethe  hat  einen  Adlerblick,  der  nicht  zu  er? 
tragen  ift.  Wenn  er  die  Augenbrauen  in  die  Höhe  zieht, 
fo  ifi's,  als  ginge  der  Hirnknochen  mit. 


1780. 

[207.]     Anfang  d.  J.     Wieland  an  Merck. 

Könnt  Ihr  Euch  leicht  vorftellen,  daß  der  glückliche 
Ausgang  diefer  Reife,  des  Herzogs  herrliches  Wohlbefinden 
'^  bei  männiglich  einen  großen  Effekt  gemacht  und  Goethen 
in  ein  fehr  günfi:iges  Licht  gefi:ellt  hat,  und  dies  um  fo 
mehr,  da  auch  er  multum  mutatus  ab  illo  zurückgekommen 
und  in  einem  Ton  zu  mufizieren  angefangen  hat,  in  den 
wir  übrigen  mit  Freuden,  und  jeder  fo  gut  als  fein  In? 
ftrument  und  feine  Lungenflügel  verfi:atten,  harmonifch 
einzufi:immen  nicht  ermangeln  werden. 

[208.]     Februar.    Wieland. 

Die  Anekdote  Müllern  den  Maler  betreffend,  wünfche 
ich  '^  nicht  beftätigt  zu  hören.  Katholifch  mag  er  immer? 
hin  geworden  fein,  das  war  bei  einem  Menfchen  wie  er, 
mir  faft  natürliche  Folge  feines  Aufenthaltes  in  Rom  und 
der  Magie,  womit  dort  das  Äußerliche  des  Religions? 
wefens  auf  Sinne  und  Einbildungskraft  wirkt.  Aber  ein 
Mönch  zu  werden  ift  ein  toller  Einfall.  Goethe  will  nichts 
davon  glauben,  weil  er  noch  im  Oktober  einen  fo  räfo? 
nablen,  gelaffenen  und  gefcheiten  Brief  von  Müllern  be? 
kommen  hat,  daß  ihm  gar  nicht  begreiflich  fein  will,  wie 
ein  Mann  binnen  fo  kurzer  Frift  zu  einem  folchen  Grade 


212J  Weimar.    1780.  105 

von  demense  herabfinken  könnte.  Übrigens  möchte  wohl 
zuverläffig  wiffen,  ob  es  wahr  ift,  daß  er  von  Serenissimo 
Palatino  fo  gänzlich  verlaffen  werde,  und  entweder  gar 
keine  oder  doch  keine  zulängliche  Penfion  erhalte. 

[209.]     April.     Herzog  Karl  Auguft  an  Merck. 

Goethe  hat  in  Leipzig,  wo  er  mit  mir  etliche  Tage 
gewefen,  verfchiedene  Ä.  Dürers,  Originale  und  Kopien, 
gekauft;  erftere  für  Luife,  letztere  für  mich.  Ein  Original 
hab  ich  erwifcht,  den  Kurfürft  Friedrich  von  Sachfen.  ^ 
Den  Vorfall,  welcher  Ihnen  mit  Manco,  die  Kopieen  be:: 
treffend,  widerfahren  ift,  hat  man  hier  allgemein  bedauert, 
nur  Goethe  hat  gefchimpft,  daß  fich  ein  fo  alter  Fuchs 
fo  hätte  Überliften  laffen.  Goethen  feine  A.  Dürers  find 
zum  Teil  von  ihm. 

[210.]     April.     Wieland  an  Merck. 

Goethe  hat  fich  mir  von  diefer  Seite  in  der  Anevf 
kennung  des  Oberen  in  dem  fchönften  Lichte  gezeigt,  und 
ich  kann  Dir  nicht  ausdrücken,  wie  gänzlich  ich  mit  allem, 
was  er  tut  und  fagt  und  kurz  mit  feiner  ganzen  Art  zu 
fein  zufrieden  bin.  —  Daß  ich  in  Goethens  öffentlichem 
Benehmen  eine  aojfpQoavvri  wahrnehme,  welche  die  Gcss 
müter  nach  und  nach  beruhigt,  und  mir  Bürge  ift,  daß 
noch  alles  fo  gut  bei  uns  gehen  wird,  als  man's  ratio^^ 
nabiliter  verlangen  kann. 

[211.]     (April.)    F.  H.  Jacobi. 

Knebel  verficherte,  das  Lob,  das  Goethe  dem  Oberon 
erteilt  habe,  fei  aufrichtig  gewefen.  Aber  vor  Nathan  dem 
Weifen  fei  er  ordentlich  profterniert.  Er  werde  nicht  müde, 
ihn  als  das  höchfte  Meifterftück  menfchlicher  Kunft  zu 
bewundern  und  zu  preifen.  Leffing  felbft  hatte  mir  fchon 
gefagt,  daß  man  ihm  von  Weimar  aus  große  Komplimente 
über  fein  Stück  gemacht. 

[212.]     April.     Wieland. 

Seine  Befchreibung  ihres  Zugs  durch  Wallis  über 
die  Furka  und  St.  Gotthard,  womit  er  uns  vor  kurzem 
bei  der  Herzogin  Mutter  regahert  hat,  ift  mir  in  ihrer 
Art  fo  lieb  als  Xenophons  ylvaßaavg.  Es  war  auch  ein 
eigentlicher  Feldzug  gegen  alle  Elemente,  die  fich  ihm 
I 


106 Wieland. [213 

entgegenftellten.  Das  Ding  ift  eines  von  feinen  meifter^ 
hafteften  Produkten  und  mit  dem  ihm  eigenen  großen 
Sinn  gedacht  und  gefchrieben.  Die  Zuhörerinnen  en? 
thufiasmierten  (ich  über  die  Natur  in  diefem  Stücke,  mir 
war  die  fchlaue  Kunft  in  der  Kompofition  noch  lieber, 
wovon  jene  nichts  fahen.  ^  Das  opus  ift  noch  nicht  ganz 
fertig,  und  nach  dem,  was  er  noch  hat  merken  laffen,  wird 
er  noch  viel  Intereffantes  teils  einfchieben,  teils  hinzutun. 

[213.]     Juni.     Herzogin  Amalia  an  Merck. 

Durch  meinen  Sohn  und  Goethe  hab  ich  fonderbare 
Dinge  von  neuerlichen  Begebenheiten*  bei  Ihnen  in  Darm:; 
ftadt  vernommen;  hätt'  ich  euch  doch  das  kaum  z\x^ 
getraut. 

[214.]     Juni.     Herzog  Karl  Auguft  an  Merck. 

Goethe  fagt,  er  hätte  einmal,  er  wüßte  nicht  wo,  von 
einem  Everding  fingen  hören,  diefer  aber  wäre  vermutlich 
in  dem  großen  Darmfiädter  Erdbeben**  mit  verfchüttet 
worden. 

[215.]     Auguft  14.     J.  A.  Leifewitz. 

Zu  Goethen,  der  mir  doch  ungemein  gefiel.  Ich 
hatte  heute  Gelegenheit,  feine  Phyfiognomie  noch  genauer 
zu  betrachten:  fchöne  braune  Augen  und  ein  hübfches 
Obergeficht,  nur  um  den  Mund  einige  unangenehme  Züge. 
Wir  fpeifi:en  in  einem  Zimmer,  das  mit  einigen  antiken 
Statuen  und  mit  Naturali enfchränken  befetzt  war;  eine 
Statue  des  Apollo  fehlen  mir  nur  für  das  Zimmer  zu  groß. 

Goethe  zeigte  in  feinem  Betragen  die  größte  Sim? 
plizität,  die  ich  ebenfo  erwiderte.  Ich  fehlen  ihm  doch 
fehr  zu  gefallen;  er  verficherte  mich  zu  verfchiedenen 
Malen,  es  fei  ihm  fehr  lieb,  mich  zu  kennen  und  das 
letztemal  vor  dem  Marfi:alle  mit  einem  zärtlichen  Hände;: 
druck.  —  Die  Konverfation  war  meiftens  fehr  ernfi:haft 
und  es  dauerte  lange,  ehe  ein  Wort  von  Literatur  vorfiel; 
er  wiederholte,  was  ich  fagte,  oft  mit  Beifall.  Von  den 
Gegenden  um  Weimar  —  von  einer  Unterfuchung  der 
Mineralien  im  Lande  —  von  Armenanftalten  —  Goethe 
hat  auf  feine  Kofi:en  im  Weimarifchen  Verfuche  gemacht. 


*  Wohl  der  Sturz  des  Minifters  v.  Mofer. 
**  Bezieht  fich  wohl  auch  auf  die  Moferfche  Affäre. 


216]  Weimar,    1780.  107 

mit  denen  er  zufrieden  war  —  von  Schlieftedt  —  von 
Herder  —  von  dem  Alter  der  Welt  und  der  Narrheit, 
diefes  Alter  auf  6000  Jahr  zu  fchätzen  —  von  einigen 
Steinarten  im  Weimarfchen  —  von  Gärten  und  vom  Land:: 
leben.  —  Goethe  fchätzte  fich  fehr  glücklich,  daß  er  außer 
der  Stadt  lebe.  Er  fagte,  es  beruhigte  ihn  ungemein,  wenn 
er  noch  fo  verdrießlich  nach  Haufe  käme  und  fähe,  daß 
alles  noch  auf  feiner  Stelle  ftände  —  von  dem  immer  Neuen 
in  der  Natur;  —  ich  meinte,  daß  es  gewiffe  Partien  gäbe, 
die  fich  nur  einen  Tag  im  Jahre  ausnehmen,  wie  man 
vordem  Berceaux  angelegt  hätte,  worin  die  Sonne  alle 
fahre  nur  einmal  fchiene  —  von  meiner  Bedienung  —  von 
Voltaire,  den  er  ebenfo  fehr,  als  ich,  als  ein  Individuum 
abltrahiert  und  den  Einfluß  auf  fein  Zeitalter  bewundert; 

—  er  billigte  meinen  Gedanken  fehr,  daß  Voltaire  nichts 
verfalzen  und  nichts  verzuckert  habe  —  von  Leffing,  mit 
der  größten  Achtung,  insbefondere  wegen  feines  Nathan 
und  feiner  theologifchen  Kontroverfen  —  von  der  Un^ 
fähigkeit  der  deutfchen  Nation,  Laune  zu  empfinden  — 
er  fagte,  wenn  man  ihnen  eine  Blume  zeigt,  fo  fragen  fie 
gleich:  Riecht  fie?  Kann  man  Tee  davon  trinken?  dürfen 
wir  es  nachmachen?  Goethe  hatte  einen  Brief  zu  fchreiben, 
ließ  mich  deswegen  einige  Zeit  allein  und  begleitete  mich 
dann  nach  dem  Marfi:alle,  weil  er  zu  einer  Komödienprobe 
nach  Ettersburg  will. 

[216.]     Vor  September.     K.  L.  v.  Knebel  an  Lavater. 

Etwas  weh  tut  es  mir,  daß  Sie  Goethen  nicht  kennen. 
Was  foll  ich  fagen?  Ich  weiß  es  wohl,  er  ift  nicht  allzeit 
liebenswürdig.  Er  hat  widrige  Seiten.  Ich  habe  fie  wohl 
erfahren.  Aber  die  Summe  des  Menfchen  zufammenge? 
nommen,  ift  unendhch  gut.  Er  ift  mir  ein  Erfi:aunen,  auch 
felbft  von  Güte.  —  Der  Durchreifenden  keiner  fieht  ihn 

—  und  doch  urteilt  jeder.  In  Weimar  felbfi:  wird  er  kaum 
gefehen.  Noch  zur  Stunde  fchwör  ich,  daß  feine  Richtung 
grad,  feine  Abfichten  rein  und  gut  find.  —  Verkannt  muß 
er  werden,  und  er  felbft  fcheint  drinn  zu  exifi:ieren.  Die 
Schönheit,  die  fich  unter  der  Maske  zeigt,  reizt  ihn  noch 
mehr.  Er  ifi:  felbft  ein  wunderbares  Gemifch  —  oder  eine 
Doppelnatur,  von  Held  und  Komödiant.  Doch  prävaliert 
die  erfte.  —  Er  ift  fo  biegfam  als  einer  von  uns.  Aber 
Eitelkeit  hat  er  noch  etwas,  feine  Schwächen  nicht  zu 
zeigen.  Da  läßt  er  denn  gemeiniglich  leere  Lücken,  oder 
I 


108 K.  L.  V.  Knebel. [217 

ftellt  einen  Stein  davor,  oder,  wenn  er  fie  fehen  läßt, 
fchlägt  er  mit  Fäuften  zu,  daß  man  fie  ihm  nicht  berühre. 
—  Wenn  er's  nicht  fagt,  dann  hat  er  feine  Freunde  am 
liebfien.  Vor  allen  Sterblichen  liebt  und  ehrt  er  Sie.  Wenn 
Sie  den  Herzog  lieb  haben  muffen,  fo  bedenken  Sie,  daß 
ihm  Goethe  zwei  Drittel  von  feiner  Exiftenz  gegeben! 

Noch  eins  zu  Goethe!  Er  ift  weitfehend,  vielleicht 
zu  weitfehend  zu  feinem  Stand  —  und  dann  oft  wieder 
zu  nah.  Dies  verwirrt  den  Blick  des  andern.  Er  fieht 
Dinge  in  Jahren  kommen,  die  man  gegenwärtiger  glaubt, 
und  holt  andere  aus  der  Ferne  herbei.  Dies  Hegt  in 
feinem  eigenen  Gefühl  von  der  Reife.  Auch  hat  nie;: 
mand  leicht  genugfamen  Unterricht  von  der  Befchaffen^: 
heit  feines  Hofes  und  feines  Zuftandes  darin.  —  Die  Flügel 
find  ihm  noch,  durch  das  unvermeidliche  Schickfal,  wie 
andern,  fehr  gebunden.         # 

[217.]     Oktober  (14).     Herzog  Karl  Auguft  an  Merck. 

Ihre  Kupfer  find  angekommen.  Noch  fah  ich  fie 
nicht;  ^  Goethe  fagte,  die  impudica  wären  vortrefflich. 
Auch  will  er  fie  schon  nachmachen,  id  est  nachzeichnen. 

[218.]     (November.)     Wieland  an  Merck. 

Indeffen  danke  ich  Dir  nochmals  für  Dein  angefangenes 
Eulogium  von  Kaffel  und  feinem  Fürfi:en.  Daß  das  Portal 
daran  fehlt,  laß  Dich  nicht  verdrießen.  Goethe  riß  es  ein. 
Es  ging  damit  zu,  wie  folgt.  Ich  war  (vor  etlichen  Wochen) 
bei  der  Herzogin  Mutter,  und  hatte  Dein  Scriptum  mit^ 
gebracht,  weil  ich  weiß,  daß  ihr  alles,  was  von  Dir 
kommt,  Vergnügen  macht.  Ich  las  es  vor  und  fie  machte 
fich  felbfi:  Spaß  dabei  mit  allerlei  Gloffen  über  die  fchönen 
Dinge,  die  Du  dem  Landgrafen  fagfi:.  Sie  behauptete.  Du 
hättefi:  expreß  Deinen  roten  Rock  dazu  angezogen,  wie 
Du  diefen  Auffatz  niedergefchrieben;  fie  könnte  fich  Dich 
dabei  nicht  anders  denken;  und  deffinierte  uns  dabei  die 
fchelmifche  Miene  vor,  die  Du  dazu  gemacht  haben 
müßteft  ufw.  ufw.  Kaum  find  wir  mit  Lefen  fertig,  fo 
kommt  Goethe,  und  da  er  uns,  c'est  ä  dire,  die  Herzogin 
und  meine  Wenigkeit,  letzteren  mit  einem  Manufkript  in 
den  Pfoten,  fehr  intriguiert  fieht,  will  er  wiffen,  was  wir 
haben.  Weil  nun  kein  Geheimnis  aus  der  Sache  zu 
machen  war,  fo  wurde  er  gebeten,  felbft  zu  fehen,  was 
es  wäre,   und   das  opus  allenfalls   pro  secunda  audientia 


220]  Weimar.    1781.  109 

laut  zu  lefen.  Das  er  dann  auch  tat.  Wurde  alfo  eine 
ordentliche  akademifche  Vorlefung  daraus,  und  das  Refultat 
davon  war,  daß  Goethe,  nach  verfchiedenen  Deliberationen 
und  pro  und  contras,  eine  große  Rabenfeder  von  der 
Herzogin  Schreibtifch  holte,  und  einen  armsdicken  Strich 
durch  die  Präfation  machte,  als  von  welcher  er  behauptete, 
daß  fie  zwar  an  fich  felbft  witzig  und  maliziös  genug  fei, 
aber  das  liebe  Publikum  auf  den  Kopf  ftellen,  verwirren, 
den  guten  Effekt  der  folgenden  Elogen  ruinieren,  folglich 
alles  Verdienft,  welches  E.  E.  fich  dadurch,  daß  Sie  ein:; 
mal  was  Gutes  von  Ihrem  Nebenmenfchen  gefagt,  gemacht 
hätten,  wieder  vernichten  würden.  Da  ich  nun  von  der 
Wahrheit  diefer  Bemerkung  höchlich  überzeugt  war,  auch 
Goethe  die  Verantwortung  diefer  liberte  grande,  die  wir 
uns  mit  Deinem  Werke  genommen,  wie  billig,  ganz  auf 
fich  zu  nehmen  versprochen,  fo  blieb  es  bei  dem  ein^ 
helligen  resoluto:  das  heilige  Werk  ohne  Präfation,  und 
nach  homerifcher,  oder  vielmehr  trifi:ramifcher  Weife  in 
medio  actu  anzufangen. 


1781. 

[219.]     Mai  Anfang.     G.  Ch.  Tobler. 

Goethe,  der  mir  fonfi:  weit,  unverdient  weit  artiger 
freundlicher,  undrückender  begegnet,  als  ich  vermutet  hätte. 
Ich  habe  ein  paarmal  allein  mit  ihm  zu  Mittag  gegeffen 
und  von  feinen  Sachen  gibt  er  mir  viel  zu  lefen  und  will 
auch  mein  Überfetzungswefen  fehen.  Seine  Vögel  find 
unnachahmliches  ariftophanifch  sublimes  Persiflage.  Seine 
Befreiung  von  Holland  bis  an  den  letzten  Akt  fertig  — 
politifch  voll  herrlicher  Gedanken.  Auch  hat  er  was 
gefchrieben  über  des  Königs  in  Preußen  Schrift,  das 
mir  aber  am  wenigften  goethifch  ift,  in  Form  eines  Ge^; 
fprächs.  /^  Goethe  hat  mich  geftern  Abend  noch  in  die 
Schule  genommen,  daß  ich  nicht  zu  viel  aus  ihrem  Weimar? 
wefen  ufw.  plaudern  foll. 

[220.]     Mai.     Herder. 

Es  ift  ein  junger  Tobler  aus  der  Schweiz  hier,  der 
hier  fehr  fetiert  wird;  ein  Sohn  des  alten  Toblers,  und 
neuHch  ein  Überfetzer  des  Sophokles:  ein  feiner  und 
fcharffinniger  Menfch,  der  mir  aber  kein  Zutrauen  in:= 
I 


110  Herder.  [221 

fpiriert,  und  den  Goethe  gar  den  kleinen  Lavater  genannt 
haben  foll.  Das  letzte  glaube  und  begreife  ich  nicht,  ob 
ich  gleich  Lavater  nicht  perfönlich  kenne. 

[221.]     Auguft  Ende.     G.  Ch.  Tobler  an  Lavater. 

Goethe  arbeitet  in  der  Hoffnung  eines  Prinzen  am 
neuen  Stücke.  ^  Goethe  hat  gar  große  Freude  mit  Deinem 
letzten  Brief  gehabt  —  und  fich  Deiner  Unüberwindhch? 
keit  gefreut.  Er  hat  mir  draus  vorgelefen  und  mit  mir 
drüber  gefprochen.  Aber  Du  läffeft  mich  nicht  grüßen  — 
Du  glaubteft  wohl,  ich  wäre  fort.  Vom  Pontius  Pilatus 
[von  Lavater/ (agtQ  Goethe:  Nun,  das  muß  man  ihm  laffen, 
wenn  er  ein  Gefäß  findet  —  fo  ruhet  er  nicht  bis  es  voll 
ift.  ^  Goethes  Taffo  ift  herrlich  —  in  ganz  andrer  Manier 
als  die  bisherigen  Stücke,  am  meiften  der  Iphigenie  ähnlich, 
noch  mehr  betrachtend  und  gefprächartig.  Vorgeftern  war 
fein  Geburtstag.  Die  alte  Herzogin  ^--^  gab  ihm  eine  fete 
und  Walddrama.  Schröterin  agierte.  «^  Sie  hat  der  Ver^; 
zweifelte  Goethe  gar  zu  gut  verwahrt,  indem  er  ihr  Kunft:: 
talent  beftändig  in  Atem  hält  —  und  all  feinen  Witz 
braucht,  ihre  Munterkeit  zu  nähren. 

[222.]     September  5.     F.  Munter. 

Früh  bei  Goethe.  Er  wohnt  herrlich  in  feinem  Garten? 
häufe.  Ein  edles  Geficht,  hat  etwas  Zurückhaltendes.  Wir 
fprachen  von  Stolbergs,  von  der  Theologie,  von  Frei? 
maurerei,  gegen  mich  war  er  fehr  hold. 


1782. 

[223.]     Anfang  d.  J.     J.  D.  Falk. 

Um  diefelbe  Zeit  wurde  auch  ein  Liebhabertheater 
in  Weimar  eröffnet,  woran  Goethe,  Corona  Schröter, 
Bertuch,  v.  Einfiedel  und  andere,  den  lebhafteften  und 
tätigfien  Anteil  nahmen.  Einft  fpielte  man  den  Eifer? 
füchtigen  Ehemann.  Die  Rolle  des  Liebhabers  in  diefem 
Stücke  war  dem  Herrn  v.  Einfiedel  zugefallen.  Unglück? 
licherweife  aber  überfiel  diefen  kurz  vor  der  Aufführung 
eine  Unpäßlichkeit.  Die  Rolle  war  in  fo  kurzer  Zeit  nicht 
wieder  zu  befetzen  und  zum  größten  Verdruffe  aller 
übrigen  Mitfpielenden  ftockte  nun  das  Ganze.  Da  fchlug 
fich,  mehr  beherzt  und  gutmütig,  als  in  folchen  Dingen 


223] Weimar.    1782. lU 

gewandt,  ein  verwegener  fächfifcher  Rittmeifter  ins  Mittel 
und  übernahm  die  Rolle.  —  Als  es  aber  zur  Aufführung 
kam,  wurde  alles  anders,  und  der  fo  unternehmende  Ritt:: 
meifter  geriet  in  größte  Verwirrung.  Es  wurde  ihm  fo 
heiß  vor  der  Stirn,  als  ob  er  vor  einer  Schwadron  Hufaren 
ritte  und  eben  einhauen  follte.  Doch  faßte  er  fich  einiger^: 
maßen  und  fpielte  fort  bis  auf  die  Szene,  wo  er  mit  feiner 
Geliebten  von  dem  eiferfüchtigen  Ehemann  überrafcht  und 
mit  einem  Dolche  erftochen  wird.  Hier  vergaß  er  plötz^ 
lieh  das  Stichwort,  ftockte  und  meckerte  in  einem  fort, 
und  der  eiferfüchtige  Ehemann,  den  Bertuch  fpielte,  welcher 
fchon  lange  mit  feinem  Dolche  in  drohender  Stellung  hinter 
den  Kuliffen  wartend  daftand,  konnte  ihm  durchaus  nichts 
anhaben,  weil  das  Stichwort  noch  immer  nicht  gefallen 
war.  Eben  fing  jener  feine  Rolle,  Stichwörter  und  den 
ganzen  Plunder,  wie  Shakefpeare  fagt,  wieder  von  vorne 
an,  als  Bertuch  plötzlich,  auf  Anraten  Goethes,  der  die 
Direktion  des  Ganzen  führte,  auf  die  Bühne  fprang  und 
dem  Leben  feines  unglücklichen  Nebenbuhlers  durch  einen 
kräftigen  Dolchftoß  gleichfam  ex  abrupto  ein  Ende  zu 
machen  fuchte.  Wer  aber  nicht  fallen  wollte,  war  der 
Rittmeifter.  Vergebens,  daß  ihm  Bertuch  zu  wiederholten 
Malen  ins  Ohr  raunte:  Ins  Teufels  Namen,  fo  fallen  Sie 
doch!  Er  rührte  fich  nicht  von  der  Stelle,  fondern  blieb 
kerzengerade  und  völlig  aufrecht  neben  feiner  Geliebten 
ftehen,  den  Umfiehenden,  die  ihm  zuredeten,  daß  er  fallen 
follte,  einmal  über  das  andere  verfichernd,  daß  fein  Stich? 
wort  noch  nicht  gekommen  fei;  in  diefer  für  den  Direktor 
ebenfofehr,  wie  für  die  Mitfpieler  peinlichen  Lage,  faßte 
der  erftere  den  heldenmütigen  Entfchluß  und  rief  mit 
donnernder  Stimme  hinter  den  Kuliffen  hervor:  Wenn  er 
von  vorn  nicht  fallen  will,  fo  itich  ihn  von  hinten  durch  den 
R[anze]n.  Wir  muffen  ihn  uns  auf  alle  Fälle  vom  Hälfe 
fchaffen.  Er  verdirbt  uns  ja  das  ganze  Stück!  Auf  diefen 
Zuruf  ermannte  fich  der  fonft  fo  tätige,  jetzt  aber  etwas 
unfchlüffig  gewordene  Bertuch.  Stirb!  rief  auch  er  nun 
mit  fchrecklicher  Stimme  und  führte  zugleich  einen  fo 
nachdrücklichen  Dolchftoß  in  die  Flanke  feines  Wider? 
fachers,  daß  derfelbe,  durch  diefes  Seitenmanöver  außer 
Faffung  gebracht,  diesmal  glücklich  zu  Boden  fiel.  In 
demfelben  Augenblick  aber  erfchienen  auch  fchon  vier 
von  Goethe  abgefchickte  handfefte  Statiften,  die  beftimmte 
Order  hatten,  den  Toten,  er  möchte  wollen  oder  nicht, 
I 


112 J.  D.  Falk. [224 

beifeite  zu  fchaffen.  Dies  gefchah  denn  auch  wirklich,  und 
zur  größten  Freude  der  Zufchauer  konnte  das  Stück  nun 
ungehindert  fortfpielen. 

[224.]     Anfang  d.  J.     Loder  an  Bertuch. 

Eben  ifi  Goethe  hier  und  ich  unterhalte  ihn  den  gan^^ 
zen  Tag.  Er  ift  auch  ein  treufleißiger  Auditor  in  allen 
meinen  Kollegiis  und  wir  haben  nachher  herrliche  Untere 
redungen  darüber. 

[225.]    Januar.    J.  A.  Ludecus. 

Am  Freitag  war  Redoute ;  Goethe  und  Herr  von  Stein 
fiellten  bei  einer  Repräfentation  Zauberer  vor,  Frau  von 
Fritfch  und  Fräulein  Voß  wurden  in  Portechaifen  hinter 
ihnen  hergetragen,  baten,  aus  den  Chaifen  herausgehen 
zu  dürfen,  welches  gefchah,  und  die  Zauberer  tanzten  mit 
den  beiden  Damen.  Hierzu  kamen,  nachdem  die  Zau? 
berer  vor  Müdigkeit  eingefchlafen  waren,  zwei  Helden, 
der  Herzog  und  Herr  von  Schardt,  tanzten  um  die  ein^: 
gefchlafenen  Zauberer  herum,  letztere  erwachten,  wollten 
mit  Gewalt  die  Helden  vertreiben,  diefe  zückten  ihre 
Schwerter,  worauf  fie  bezaubert  wurden,  und  auf  ihrem 
Platz  unverrückt  bleiben  mußten ;  die  Tänzerinnen  wandten 
endlich  die  Zauberfiäbe  den  Zauberern  aus  den  Händen, 
befreiten  die  Helden,  und  die  Zauberer  wurden  in  den 
Portechaifen  hinausgetragen.  Kleidung,  Vorftellung  und 
Mufik  waren  fehr  gut  gewählt. 

[226.]     Januar  30.     Luife  v.  Göchhaufen. 

Komödien,  Bälle,  Aufzüge,  Redouten  ufw.  das  alles 
hat  fich  gejagt.  Auch  Freund  Goethe  hat  fein  Goldftück 
zu  anderer  Scherflein  gelegt  und  auf  der  Herzogin  Luife 
Geburtstag,  ^^  eine  artige  Comedie  ballet  geliefert,  die 
folgenden  Inhalts  war:  Eine  Fee  und  ein  Zauberer  hatten 
einen  mächtigen  Geift  beleidigt  und  ihnen  wurde  das  Vor^ 
recht,  ewig  jung  zu  bleiben,  geraubt.  Sie  wurden  alt  mit 
allen  Feen  und  Zauberern,  die  ihnen  ergeben  waren.  Diefe 
Strafe  follten  fie  dulden  bis  in  gewiffen  Bergklüften  der 
große  Karfunkel  gefunden  würde,  dem  das  verzaubert 
war,  was  ihnen  allen  fehlte.  Diefen  Stein  zu  erhalten, 
vereinigten  nun  die  Fee  und  der  Zauberer  ihre  Macht. 
Die  Berggeifier  wurden  befchworen,  Feen,  Gnomen  und 
Nymphen  taten  durch  wunderbare  Zaubereien  ihr  Beftes 


228]  Weimar.    1782.  113 

und  das  Abenteuer  wurde  beftanden,  der  große  Kar^s 
f  unkel  herbeigefchafft,  geöffnet  und  —  Amor  fprang  heraus. 
In  dicfem  Augenblick  gingen  die  großen  Verwandlungen 
vor  fich  und  aus  einem  ganzen  Theater  voll  alter  Mütter* 
chen  und  Gnomen  wurden  lauter  fchöne  Mädchen  und 
Jünglinge.  Diefe  Verwandlungen  gingen  fehr  gut  und 
Dekoration  und  Mufik  war  recht  artig.  Das  Ganze  war 
mit  Gefang  und  Tänzen  gemifcht  und  endigte  mit  einem 
großen  Ballet,  wo  Amor  der  Herzogin  beihegende  Verfe 
gab,  die  Goethe  nebft  vielen  Grüßen  fendet,  fich  daran 
zu  erbauen.  Den  Freitag  darauf  war  Redoute.  Unter 
anderm  produzierten  fich  neun  weibliche  Tugenden,  wor* 
unter  die  Befcheidenheit  die  Verfe  Nr.  2,  auch  von  Goethen, 
der  Herzogin  übergab.  '^ 

Goethe  ift  fehr  fleißig.  Er  hat  neuerlich  feinen  Eg* 
mont  geendigt  und  arbeitet  jetzt  an  einem  neuen  drama* 
tifchen  Werk,  Taffo  genannt,  woran  Sie  große  Freude 
haben  werden.  Noch  etwas  ift  diefen  Winter  zuftande 
gekommen,  wovon  ich  aber  nichts  fchreibe,  weil  ich's 
vielleicht  bald  felbft  fchicken  kann,  und  wahre  Effenz 
für  dero  Magen  fein  wird.  Überhaupt  fcheint  diefer 
Freund  bei  der  Austeilung  eine  gute  Portion  Ol  mehr  als 
gewöhnlich  in  feine  Lampe  bekommen  zu  haben,  da  fie 
oft  bei  trübem  Wetter  fo  helle  brennt  und  es  ihr  zur  Zeit 
der  Not  noch  nie  mangelte. 

[227.]     März  27.     Luife  von  Göchhaufen  an  K.  L.  v.  Knebel. 

Für  das  mir  gefchickte  ABC^Buch  danke  ich  gleich;; 
falls,  und  kam  recht  zur  gelegenen  Zeit,  ich  hatte  eben 
ein  kleines  Konvivium,  und  da  kriegten  die  bon  mots 
gleich  Umlauf.  Goethe,  dem  Sie's  auch  fchickten,  meinte, 
bei  dem  Buch  kam'  einem  vor,  als  war'  man  fchon  im 
vollen  Sommer,  und  doch  keimten  erft  die  Rapünzchen. 

[228.]     April  19/29.     W.  v.  Diede. 

Da  mir  der  Geheime  Rat  Goethe  diefesmal  mehr 
Offenherzigkeit  und  Gehör  als  ehedeffen  gönnte,  fo  nutzte 
ich  die  Gelegenheit,  um  mich  mit  ihm  über  landwirtfchaft* 
liehe  Sachen  und  über  meine  Ziegenberger  Anlagen  zu  be? 
fprechen.  Er  fand  Vergnügen  an  meinen  Befchreibungen 
des  Ortes,  und  ich  zog  ihn  über  die  fernere  Verfchöne*: 
rung  des  Sophienplatzes  zu  Rate,  auf  welchem  ich  ein 
drittes  Denkmal  zur  Vereinbarung  der  beiden  vorhandenen 
I  8 


114  W.  V.  Diede.  [229 

zu  fetzen  willens  war.  Er  ging  in  die  Sache  willig  ein, 
teilte  mir  feine  Gedanken  mit  und  erbot  fich,  den  Stein 
unter  feiner  Aufficht  bearbeiten  zu  laffen.  Ich  fchickte  ihm 
nochmals  die  Zeichnung  vom  Platze  mit  den  vorhandenen 
Veränderungen,  und  er  ward  mir  bei  der  Ausführung  der 
Sache  nützlich. 

[229.]     Herbft.    J.  A.  Ludecus. 

Die  Herzogin  Frau  Mutter  läßt  den  Tiefurtfchen  Gar^^ 
ten  nach  dem  Altan  zu  verlängern,  und  jetzt  wird  die 
Mauer  vom  Haufe  nach  dem  Garten  abgebrochen,  und 
von  der  Seite  des  Gartens  breiter  gemacht.  Goethe  hat 
die  Idee  angegeben.  —  Er  hat  die  Herzogin  mit  dem 
erften  Heft  feiner  ungedruckten  Sachen  zu  ihrem  Geburts^ 
tag*  befchenkt. 

[230.]     November  9.     K.  Matthaei  an  Lavater. 

In  Weimar  einen  Mittag  vier  Stunden  bei  dem  kraft^ 
vollen  Menfchen,  ganz  und  nichts  halb  und  nichts  klein 
in  allem,  was  ihn  umgibt  und  von  ihm  ausgeht  —  bei 
Goethe  —  der  von  Gefchäften  überhäuft,  alles  was  —  ge? 
fchieht  —  dirigiert,  und  der  mich  indes  mit  der  Freunde 
fchaft  aufnahm,  die  nur  Männern  zukommt.  Ich  war  un^ 
endlich  wohl  bei  ihm:  Deinem  Pilatus  ging's  nicht  fo 
wohl;  daß  er  mit  Dir  Berge  verfetzen  will,  habe  ich  nicht 
nötig.  Dir  zu  fagen,  fo  wahr  fchätzt  er  Dich. 

[231.]     November  9.     Luife  v.  Göchhaufen. 

Gefiern  Abend  war  Goethe  bei  mir,  und  kam  mit 
folgendem  Bonmot  in  meiner  Stube  nieder. 

Entfchuldigung. 

Duverklageft  das  Weib,  fie  schwanke  von  einem  zum  andern. 
Tadle  fie  nicht,  fie  fucht  einen  befiändigen  Mann! 

1783. 

[232.]     Februar  5/7.     J.  F.  Eckermann  mit  Ch.  Sutor. 

Ich  fragte  ihn,  ob  Goethe  in  jener  erften  Zeit  feines 
Hierfeins  auch  fehr  lufi:ig  gewefen.  Allerdings,  antwortete 
er,  fei  er  mit  den  Fröhlichen  fröhlich  gewefen,  jedoch  nie 


Der  Herzogin  Mutter  am  24.  Oktober. 


233]  Weimar.     1783. US 

über  die  Grenze;  in  folchen  Fällen  fei  er  gewöhnlich  ernft 
geworden.  Immer  gearbeitet  und  geforfcht  und  feinen 
Sinn  auf  Kunft  und  Wiffenfchaft  gerichtet,  das  fei  im  all^ 
gemeinen  feines  Herrn  fortwährende  Richtung  gewefen. 
Abends  habe  ihn  der  Herzog  häufig  befucht,  und  da 
hätten  fie  oft  bis  tief  in  die  Nacht  hinein  über  gelehrte 
Gegenftände  gefprochen,  fo  daß  ihm  oft  die  Zeit  und 
Weile  lang  geworden,  und  er  oft  gedacht  habe,  ob  denn 
der  Herzog  noch  nicht  gehen  wolle.  Und  die  Natur^^ 
forfchung,  fügte  er  hinzu,  war  fchon  damals  feine  Sache. 

Einft  klingelte  er  mitten  in  der  Nacht,  und  als  ich 
zu  ihm  in  die  Kammer  trete,  hat  er  fein  eifernes  Rollbett 
vom  unterften  Ende  der  Kammer  herauf  bis  ans  Fenfter 
gerollt  und  liegt  und  beobachtet  den  Himmel.  Haft  Du 
nichts  am  Himmel  gefehen?  fragte  er  mich,  und  als  ich 
dies  verneinte:  So  laufe  einmal  nach  der  Wache  und 
frage  den  Poften,  ob  der  nichts  gefehen.  Ich  lief  hin, 
der  Poften  hatte  aber  nichts  gefehen,  welches  ich  meinem 
Herrn  meldete,  der  noch  ebenfo  lag  und  den  Himmel  un^ 
verwandt  beobachtete.  Höre,  fagte  er  dann  zu  mir,  wir 
find  in  einem  bedeutenden  Moment;  entweder  wir  haben 
in  diefem  Augenblick  ein  Erdbeben,  oder  wir  bekommen 
eins.  Und  nun  mußte  ich  mich  zu  ihm  aufs  Bette  fetzen, 
und  er  demonftrierte  mir,  aus  welchen  Merkmalen  er  das 
abnehme. 

Ich  fragte  den  guten  Alten,  was  es  für  Wetter  ge? 
wefen.  Es  war  fehr  wolkig,  fagte  er,  und  dabei  regte 
fich  kein  Lüftchen;  es  war  fehr  ftill  und  fchwül.  —  Ich 
fragte  ihn,  ob  er  Goethen  jenen  Ausfpruch  fogleich  aufs 
Wort  geglaubt  habe.  Ja,  fagte  er,  ich  glaubte  ihm  aufs 
Wort;  denn  was  er  vorherfagte,  war  immer  richtig.  Am 
nächften  Tage  —  fuhr  er  fort  —  erzählte  mein  Herr  feine 
Beobachtungen  bei  Hofe,  wobei  eine  Dame  ihrer  Nach^ 
barin  ins  Ohr  flüfterte:  Hörel  Goethe  fchwärmt.  Der 
Herzog  aber  und  die  übrigen  Männer  glaubten  an  Goethe, 
und  es  wies  fich  auch  bald  aus,  daß  er  recht  gefehen; 
denn  nach  einigen  Wochen  kam  die  Nachricht,  daß  in 
derfelbigen  Nacht  ein  Teil  von  Meffina  durch  ein  Erd* 
beben  zerftört  worden. 

[233.]     Februar  9.     Herder  an  J.  G.  Hamann. 

Bei  der  Predigt  am  Geburtsfeft  des  Erbprinzen  Karl 
Friedrich  hat  fich  unmittelbar  nach  dem  Amen  folgender 
I  8* 


1 1 6 Herder. [234 

Dialogus  in  der  Kirche  in  dem  fogenannten  Ratsftande 
zugetragen : 

Goethe:    Was  denkft  Du  zu  der  Predigt? 

Wieland:  (wie  er  wenigftens  fagt:)  Nun,  es  war  eine 
wackre  Predigt. 

Goethe :  Er  hat  doch  aber  fo  eine  harte  Manier,  die 
Sachen  zu  fagen.  Nach  folcher  Predigt  bleibt  einem  Für^ 
ften  nichts  übrig,  als  abzudanken. 

(Ergreift  feinen  Hut  und  geht  ftill  aus  der  Kirche.) 
Zweiter  Dialogus  bei  der  Herzogin  Mutter. 

Sie:    Was  denken  Sie  von  der  heutigen  Predigt? 

(Wieland  ungefähr  wie  oben.) 

Sie :  Mich  dünkt  aber,  daß  fie  doch  vor  diefen  Tag 
unerwartet  war:  beim  Regierungsantritt  oder  folchen  Ta^ 
gen  könnte  fie  wohl  gehalten  werden. 

Wieland:  Je  nun!  weil  der  Herzog  fonft  nicht  in 
die  Kirche  kommt,  fo  hat  Herder  vermutlich  den  Augen^ 
blick  ergriffen,  da  er  ihn  hatte. 

Sie :  Er  follte  freilich  mehr  in  die  Kirche  gehen  ufw. 
Dritter  Dialogus.     Abends  im  großen  Saale  bei  Hofe. 

Herzog:    Sind  Sie  heut'  in  der  Kirche  gewefen? 

Wieland :   Ja,  Euer  Durchlaucht. 

Herzog:    Wie  hat  Ihnen  die  Predigt  gefallen? 

Wieland:    (wie  oben.) 

Herzog:  Ich  weiß  doch  aber  nicht,  was  die  Leute 
bei  einem  Kind  für  erftaunende  Hoffnungen  haben.  Es 
ift  doch  nur  ein  Kind. 

Wieland:  Aus  dem  indeffen  alles  werden  kann  und 
da  hofft  jeder,  daß  das  Befte  aus  ihm  werde. 

Herzog:  Übrigens  war  die  Predigt  ganz  ohne  Piques 
(das  ift  ein  Lieblingswort  hier). 

Wieland :  O  ganz  ohne  Piques :  fie  war,  dünkt  mich, 
fo  rein  wie  fie  von  der  Kanzel  kommen  mußte. 

Herzog:    Es  war  eine  brave  Predigt. 

[234.]    April.     F.  v.  Matthiffon. 

Ich  lernte  Goethe  zuerft  an  einem  Tage  perfönlich 
kennen,  wo  feine  Menfchlichkeit  fich  ganz  heilig  und  rein 
offenbarte.  Er  gab  ein  Kinderfeft  in  einem  Garten  un^ 
weit  Weimar.  Es  galt,  Oftereier  aufzuwittern.  Die  muntere 
Jugend,  worunter  auch  kleine  Herder  und  Wielande  waren, 
zerfchlug  fich  durch  den  Garten  und  balgte  fich  bei  dem  Ent^ 
decken  der  fchlau  verfteckten  Schätze  mitunter  nicht  wenig. 


255]  Weimar.    1783.  117 

Ich  erblicke  Goethe  noch  vor  mir.  Der  ftattHche 
Mann  im  goldverbrämten  blauen  Reitkleide  erfchien  mitten 
in  diefer  mutwilligen  Queckfilbergruppe  als  ein  wohlge^: 
wogener  oder  ernfter  Vater,  der  Ehrfurcht  und  Liebe  ge^ 
bot.  Er  blieb  mit  den  Kindern  beifammen  bis  nach  Sonnen^ 
Untergang  und  gab  ihnen  am  Ende  noch  eine  Nafchpyra=: 
mide  preis,  welche  die  Cocagnen  zu  Neapel  gar  nicht 
übel  nachbildete.  Ein  Mann,  der  an  der  Kindheit  und 
an  der  Mufik  Ergötzen  findet,  ift  ein  edler  Mann,  wie 
fchon  Shakefpeare  behauptet,  welchen  Satz  mir  auch  die 
Erfahrung  mehr  als  einmal  in  das  Buch  meiner  heiligften 
Wahrheiten  einfchrieb.  Ich  war  eigentUch  zudringUch, 
bloß  um  dem  Verfaffer  von  Werthers  Leiden  einen  BUck 
abzugewinnen  und  mir  fein  Bild  bleibend  in  die  Seele 
zu  prägen.  Er  war  fehr  artig  und  äußerte  beim  Anblick 
der  ihm  wohlbekannten  Uniform  des  damals  noch  blühen^ 
den  Philanthropins  zu  Deffau:  Sie  find  hier  völlig  in  Ihrem 
Elemente;  ich  bitte  Sie  zu  bleiben,  folange  es  Ihnen  an^: 
genehm  ift. 

[235.]     April  Ende.     J.  F.  Blumenbach. 

Goethe,  den  ich  oft  und  in  verfchiedenen  Situationen 
bei  Hof  unter  den  Herrfchaften,  unter  feinen  Kollegen, 
unter  den  Damen,  vis  ä  vis  von  Wieland  und  mehrere 
Male  recht  lange  mit  mir  tete  ä  tete  gefehen  habe,  da  er 
mich  in  feinen  Garten  und  fpazieren  führte  ufw.  hat  alle 
meine  Vorftellungen,  die  ich  mir  nach  anderer  Erzählung 
von  ihm  gemacht  hatte,  gar  fehr  übertroffen.  Nichts  den 
Geheimen  Rat  Ankündigendes,  Zurückhaltendes,  fondern 
ein  gefetzter,  aber  ganz  unaffektierter,  äußerft  zugänglicher 
Mann;  unglaublich  offen,  hell  und  doch  tief  penetrierend 
in  feinem  Urteile;  und  doch  überaus  billig,  gar  nicht  dezi^: 
fiv,  wie  ich  zumal  in  unferer  Unterredung  über  Lavater 
und  Phyfiognomik,  über  Verfaffung  der  Jenaifchen  Uni^ 
verfität  ufw.  gefehen  habe.  Überall  viel  gefunde,  rieh? 
tige  und  deutliche  Philofophie  und  den  reifen  Gefchmack, 
der  auch  in  feinem  Zimmer  und  artigen  Garten  ufw.  durch? 
gehends  herrfcht.  Wieland  fchien  mir  daher  in  feiner 
Gegenwart  eine  etwas  abftechende,  nicht  fehr  vorteilhafte 
Figur  zu  machen.  Sie  duzen  fich  zwar  und  find  herzlich 
gute  Freunde,  aber  man  fpürt  doch  Goethes  Superiorität. 
Diefer  fagte  mir  z.  E.  in  Wielands  Gegenwart,  daß  Villoi? 
fon  fo  für  Wieland  eingenommen  fei,  rühre  daher,  weil 
I 


118  J.  F.  Blumenbach.  [236 

diefer  fein  lateinifches  Gedicht  auf  die  Geburt  des  Erb:: 
prinzen  in  gleichem  Silbenmaß  fo  künftlich  deutfch  übers; 
fetzt  habe.  Dafür  habe  ihn  Villoifon  zwar  Chrifofto^ 
mus  genannt,  aber  doch  auch  im  Grunde  mit  König  Mi^^ 
das  verglichen,  indem  er  gefagt,  daß  unter  Wielands  Hän^: 
den  alles  zu  Gold  werde. 

[236.]    Mai.     Herzog  Karl  Auguft  an  Merck. 

Ich  fammle  keine  fiandzeichnungen,  fondern  was  ich 
von  folchen  behalte,  ift  alles  zum  Nutzen  und  Frommen 
meines  Herrn  Kammerpräfidenten,  dem  man  mit  fo  etwas 
ein  bißchen  Freude  machen  und  feine  Taciturnität  etwas 
entwurzeln  kann.  Einem  Vogel  wie  ihm  darf  man  keinen 
gemeinen  Hanf  vorfetzen  und  obgleich  der  Both  qua  Both 
ein  Kapitallblatt  fein  mag,  fo  ift  er's  doch  nicht  verglei^s 
chungsweife  mit  andern ,  für  meinen  Gefchmack  und 
Goethes  Liebhaberei.  ^  Goethe  felbft  hat  zu  feiner  Nutzs: 
nießung  weiter  keines  als  den  Schellinks  und  den  Hob;: 
bema  behalten. 

[237.]    Juni  2/6.     Charlotte  v.  Stein  an  Sophie  v.  Schardt. 

Ich  fragte  Goethen,  ^  warum  das  Verteilen  eines  aus= 
gefallenen  Gehaltbetrags  nicht  bis  zu  meinem  Bruder  ge*: 
langt  wäre,  aber  weil  zwifchen  dem  Minifter  und  der  Auf;; 
richtigkeit  der  Freundfchaft  ein  Abgrund  gefetzt  ift,  fo 
bekam  ich  Antworten,  die  ich  nicht  verftand,  und  fehe 
wohl  fo  viel,  daß  es  nicht  dein  Mann  als  eine  Verach^ 
tung  feiner  Dienfte  anzufehen  habe,  fondern  daß  ^  An;; 
forderungen  anderer  auf  Zulage  ihm  die  feinige  erfchwert 
haben. 

[238.]     September  9/10.     (Marie  Antonie  von  Branconi.) 

Schon  dachte  Frau  v.  Branconi  wieder  an  die  Ab:; 
reife  von  Langenflein  als  fich  Goethe  mit  Fritz  v.  Stein 
bei  ihr  einftellte.  Das  Wetter  war  nicht  günftig,  fo  lange 
der  große  Dichter  bei  der  fchönen  Frau  verweilte;  fcherz;; 
weife  meinte  er :  Frau  v.  Stein,  mit  deren  Eiferfucht  er  immer;; 
fort  zurechnen  hatte,  habe  diefe  Stürme  und  Wolken  gefandt. 

[239.1     September.     F.  W.  H.  v.  Trebra. 

Unfer  romantifcher  Weg  führte  uns  vom  Oderteich;; 
dämme  in  einer,  mehr  auf  Dienftleiftungen  fich  beziehen;; 


240] Weimar.    1785. n9 

den  Richtung,  auf  den  Rehbergersgraben  herunter  nach 
Andreasberg,  und  fo,  nah  an  der  RehbergerkUppe  vorbei. 
Diefe  hohe,  nahe  am  Graben,  ganz  fenkrecht  dafiehende 
Felswand,  war  mit  einem  großen  Haufen  herunter  ge^ 
ftürzter  Bruchftücke  von  Tifch^s  und  Stuhl?  und  Ofen? 
großen  verfchanzt,  von  welchen  fogleich  viele  zerfchlagen 
wurden.  Unter  ihnen  fanden  fich  mehrere  von  jenen 
Doppelgefteinarten  Granit,  mit  aufgefetztem,  eingewachfe? 
nem,  dunkelblauem,  faft  fchwarzem,  fehr  hartem  (Jaspis? 
artigem)  Tongefiein.  Die  können  nirgends  anders  her? 
kommen,  als  von  jener  Klippe  da  vor  uns.  Dahin  muffen 
wir!  antwortete  mein  Freund  Goethe.  Behutfaml  Vorfichtig! 
fchrie  ich  ihm  nach,  die  moosbedeckten  fchlüpfrigen  Fels? 
stücke  liegen  gefahrvoll  durcheinander,  wir  können  die  Beine 
dazwifchen  brechen.  —  Nur  fort!  Nur  fort!  antwortete  er 
voraneilend;  wir  muffen  noch  zu  großen  Ehren  kommen, 
ehe  wir  die  Hälfe  brechen!  und  wir  kamen  zufammen  heran 
an  den  Fuß  der  Felswand,  wo  wir  nun  gar  deutlich  den 
Abfchnitt  des  fchwarzen  Gefteins,  auf  dem  blaß  fleifch? 
roten  Granit  in  gar  langer  Linie  fich  hinziehend  erkennen 
konnten.  Aber,  unferer  ziemlichen  Größe  ungeachtet,  er? 
reichen  mit  den  Händen  konnten  wir  fie  doch  nicht. 
Wenn  du  dich  feft  hinftellen  wolltefi,  fagte  mein  Freund 
zu  mir;  fo  wollte  ich  jene  in  den  Felfen  eingewachfene 
Strauchwurzel  ergreifen,  mich  im  Anhalten  an  fie,  hebend 
auf  deine  Schultern  fchwingen,  und  dann  würde  ich  den 
fo  kenntlichen  Abfchnittsftrich,  wenigftens  mit  der  Hand 
erreichen  können.  So  gefchah's  und  wir  hatten  das  feltene 
Vergnügen,  den  merkwürdigen  Abfchnittsftrich  von  hier 
eingewurzeltem  Urgebirge ,  roten  Granit ,  und  darauf 
flehenden  dunkel?,  fafi:  fchwarzblauen  Tongefi:eins  nahe  zu 
fehen,  fogar  mit  Händen  zu  greifen. 

[240.]     November  10.     Ch.  F.  Rink. 

Früh  um  9  Uhr  ließ  ich  mich  bei  Herrn  Geheimen 
Rat  V.  Goethe  melden,  wurde  auch  gleich  vorgelaffen.  Er 
empfing  mich  höflich,  doch  mit  der  Miene  eines  Gnädigen. 
Ich  faß  neben  ihm  im  Sofa;  er  fragte  etwas  Weniges  von 
meiner  Reife;  ich  erkundigte  mich,  ob  er  nicht  bald 
wieder  etwas  wolle  drucken  laffen  —  er  entfchuldigte  fich 
aber  mit  vielen  Gefchäften.  Dann  fprachen  wir  etwas 
von  Herdern.  Er  fchien  aber  abbrechen  zu  wollen,  denn 
er  fchwieg  oder  antwortete  nur  kurz  mit  einem  gnädigen 
I 


120  Ch.  F.  Rink.  [241 

Ja!  oder  Nein!  Ich  merkte  den  Wink  und  brach  auf, 
da  ich  ungefähr  eine  halbe  Viertelftunde  in  feiner  Atmo? 
fphäre  atmete.  Sein  Anfehen  ifi  gar  nicht  einnehmend, 
feine  Miene  mehr  fein  und  Hftig,  als  leutfelig. 

1784. 

[241.]     Anfang  d.  J.     Herder. 

Keine  Schrift  in  meinem  Leben  habe  ich  unter  fo 
vielen  Kümmerniffen  und  Ermattungen  von  innen,  und 
Turbationen  von  außen  gefchrieben  als  die  Philofophie 
der  Gefchichte  der  Menfchheif;  fo  daß  wenn  meine  Frau, 
die  eigentlich  autor  autoris  meiner  Schriften  ift,  und  Goethe, 
der  durch  einen  Zufall  das  erfte  Buch  zu  fehen  bekam, 
mich  nicht  unabläffig  ermuntert  und  angetrieben  hätten, 
alles  im  ccdtjg  der  Ungebornen  geblieben  wäre. 

[242.]     Anfang  d.  J.     Wieland. 

Goethe  ^  fchickt  fich  überaus  gut  in  das,  was  er 
vorzuftellen  hat,  ift  im  eigentlichen  Verftande  l'honnete 
homme  ä  la  cour,  leidet  aber  nur  all  zu  fichtlich  an  Seel 
und  Leib  unter  der  drückenden  Laft,  die  er  fich  zu  unferm 
Beften  aufgeladen  hat.  Mir  tut's  zuweilen  im  Flerzen  weh, 
zu  fehen,  wie  er  bei  dem  allen  Contenance  hält,  und  den 
Gram  gleich  einem  verborgenen  Wurm  an  feinem  In? 
wendigen  nagen  läßt.  Seine  Gefundheit  fchont  er  foviel 
als  möglich,  auch  hat  fie  es  fehr  vonnöten. 

[243.]     April  Ende.     Charlotte  v.  Stein  an  K.  L.  v.  Knebel. 

Herders  neue  Schrift  der  erße  Teil  der  Ideen  macht 
wahrfcheinlich ,  daß  wir  erfi  Pflanzen  und  Tiere  waren; 
was  nun  die  Natur  weiter  aus  uns  ftampfen  wird,  wird 
uns  wohl  unbekannt  bleiben.  Goethe  grübelt  jetzt  gar 
denkreich  in  diefen  Dingen,  und  jedes,  was  erft  durch 
feine  Vorftellung  gegangen  ift,  wird  äußerft  intereffant. 
So  find  mir's  durch  ihn  die  gehäffigen  Knochen  geworden 
und  das  öde  Steinreich.  ^ 

Goethe  hat  mir  gefagt,  er  laffe  Ihnen  in  feinem  Haus 
ein  Quartier  zurecht  machen,  und  da  find  Sie  wieder  in 
meiner  Nachbarfchaft. 

[244.]     Mai  27./Juni  2.     Graf  F.  L.  zu  Stolberg  an  J.  H.  Voß. 

Den  27.  kamen  wir  an.  Der  kleine  Schardt,  den  Sie 
in  Boftel  gefehen  haben,  kam  und  brachte  uns  zur  Bern? 


245]  Weimar.    1784.  121 

ftorfen,  wo  wir  [Friedrich  u.  Chriflian  Stolberg]  beide  den 
Abend  zubrachten.  Als  wir  bei  Tifche  faßen,  kam  Goethe, 
blaß  wie  die  Wand  vor  Freude  und  Rührung,  war  ganz 
unfer  alter  Goethe  von  dem  Augenblick  an  bis  heute 
morgen,  da  er  uns  verlaffen  hat,  weil  er  mit  dem  Herzog 
auf  den  Landtag  muß.  Er  ift  weniger  brausend,  weniger 
vTceQOTTlog  (braufend  ift  nicht  das  rechte  Wort),  weniger 
leicht  aufflammend,  gewiß  nicht  weniger  feurig  als  er  war, 
und  fein  Herz  liebevoll,  immer  fich  fehnend  nach  mehr 
Freiheit  der  Exiftenz,  als  Menfchen  finden  können,  und 
doch  immer  Blumen  um  den  Pilgerfiab  des  Lebens  windend. 
Wenige  Menfchen  find  fo  liebevoll,  fo  rein,  fo  Liebe  be^: 
dürfend,  fo  hingerichtet  aufs  unfichtbare  Ideal  der  ycalo- 
xuyaOia,  fo  fich  anfchmiegend  an  alles  liebe  und  fchöne 
der  moralifchen  und  fichtbaren  Natur.  <^  Wir  waren  viel 
in  einem  Hölzchen,  in  welchem  Goethe  ein  Gartenhaus^ 
chen  hat,  wo  er  drei  Jahr  Sommer  und  Winter  gewohnt 
hat,  jetzt  aber  nur  dann  und  wann  eine  Nacht  dort  fchläft 
und  das  er  nicht  alle  Tage  befuchen  kann.  Hinzugehen 
muß  man  durch  einen  hohlen  Felfengang  an  einem  Strom, 
einen  allerliebften  Gang.  ^  Hier  und  da  ftehen  Infchriften 
von  ihm  im  Wäldchen,  ich  wollte  fie  für  den  Mufen^ 
almanach  haben,  aber  das  will  er  nicht.  Sie  follen  noch 
nicht  ins  Publikum  kommen,  um  an  ihrer  Stelle  mehr  zu 
wirken.  ^ 

Goethe  hat  mich  gebeten,  ihm  ein  Stück  aus  dem 
Äfchylos  zu  zeigen,  der  nach  Homer  auch  fein  Lieblingss^ 
dichter  ift.     Laffen  Sie  doch  die  Eumeniden  abfchreiben. 

[245.]     Mai  27/Juni  2.     Graf  F.  L.  zu  Stolberg. 

Goethe  war  ganz  der  alte  geift?  und  liebevolle  Goethe 
und  fühlte  fich  um  neun  Jahre  verjüngt.  Er  ift  zwar 
noch  nicht  alt,  juft  zwifchen  meinem  Bruder  und  mir, 
aber  acht  Jahre  fataler  Gefchäfte  find  doch  keine  kleine 
Zeit.  ~  Goethe  hat  dicht  bei  der  Stadt  ein  Gartenhäuschen, 
in  einem  Wäldchen  am  Fluß  bei  Felfen.  ^  Hier  hat  er 
drei  Jahre  Winter  und  Sommer  gewohnt.  Oft  ging  er 
im  Mondenfchein  durch  die  Felfengänge  aus  der  lärmenden 
Stadt  zurück,  oft  im  Winter  über  tiefen  Schnee  beim 
Glanz  der  Fackel.  Da  fchwand  ihm  das  Gewirr  des  Tages 
fchnell  und  hohe  Erfcheinungen  gingen  in  ihm  auf. 
Mehrere  Gefchäfte  zwangen  ihn,  diefe  fuße  Einfiedelei 
zu  verlaffen. 
I 


A 


122 K.  L.  V.  Knebel. [246 

[246.]     September  19.     K.  L.  v.  Knebel. 

Goethe  kam  mit  dem  kleinen  Fritz  Stein  vorigen 
Sonntag  früh  herüber,  mich  zu  befuchen.  Du  kannft 
glauben,  daß  mir  der  Befuch  lieb  war,  zumalen  Goethe 
von  Braunfchweig,  wo  er  mit  dem  Herzog  war,  und  von 
einer  wichtigen  Harzreife  zurückkam.  Ich  kann  mich  in 
keine  Sinnesart,  wenn  er  mir  zumalen  gegenwärtig  ift, 
leichter  fchicken  als  in  die  von  Goethe;  abwefend  hat  er 
mir  zuweilen  wehe  getan.  Dies  macht  mir,  zumalen  jetzt, 
viel  Leichtigkeit  im  Umgang,  durch  fchnelles  wechfels: 
feitiges  Verfiändnis.  Er  war  wie  gewöhnlich,  gut,  trak:= 
tierte  von  feinen  hiefigen  Gefchäften,  gab  mir  einige 
Winke  von  dem,  was  er  gefehen,  bemerkt.  Es  kamen 
Leute  dazwifchen  und  nahmen  das  Intereffe  der  Untere 
redung,  doch  ging  es  noch  bis  gegen  Abend,  der  fchön 
war,  wie  der  Tag,  und  Goethe  fuhr  wieder  zurück  nach 
Weimar. 

[247.]     September  25.     F.  H.  Jacobi  an  Fürftin  Gallitzin. 

Goethe  war,  nach  einem  langen  Herumreifen  im  Harz 
eben  nach  Haufe  gekommen,  am  25.  kam  nun  auch 
Claudius.  Aber  Sie,  liebe  Amalia,  kamen  nicht.  Nach 
mir  und  meiner  Schwefter  trauerte  niemand  mehr  darüber 
als  Goethe.  Er  hatte  über  Ihren  großen  Schattenriß  eine 
unfägliche  Freude.  Mein  Vorfatz  war,  ihn  nur  eine  Kopie 
davon  nehmen  zu  laffen;  aber  er  eignete  ihn  fich  fo  eifrig 
zu,  daß  ich  unmöglich  dagegen  an  konnte.  Von  der  vor^s 
nehmen  Gefellfchaft  haben  wir  uns  nicht  ftören  laffen. 
Ich  weiß  wohl,  fagte  Goethe,  daß  man,  um  die  dehors 
zu  falvieren,  das  dedans  zugrunde  richten  foll;  aber  ich 
kann  mich  denn  doch  nicht  wohl  dazu  verftehen.  — 

[248.]     September.     F.  H.  Jacobi. 

Die  Anmaßungen  und  Begierden  der  Menfchen  find 
fonderbar  genug.  Sie  möchten  gern  mit  den  bloßen  Augen 
fehen  können,  ohne  Licht;  und  noch  lieber  gar  auch  ohne 
Augen.  So,  meinen  fie,  würde  man  erfi  recht  eigentlich, 
wahrhaft  und  natürlich  fehen.  Nach  dergleichen  Vor?; 
ftellungsarten  das  Unnatürlichfie  als  das  Natürlichfie,  und 
das  Natürlichfie  als  das  Unnatürlichfie  zu  betrachten,  das 
heißt  dann  Philofophie.  Ich  erinnere  mich,  daß  ich  in 
einer  vermifchten  Gefellfchaft  einmal  die  Frage  aufwerfen 
hörte :   wie  das  menfchliche  Gefchlecht  wohl  möchte  fort:: 


252] Weimar.    1784. 125 

gepflanzt  worden  fein,  wenn  der  Sündenfall  nicht  ein? 
getreten  wäre?  Goef/ie  antwortete  fchnell:  Ohne  Zweifel 
durch  einen  vernünftigen  Diskurs. 

[249.J     September  27.     Caroline  Herder  an  K.  L.  v.  Knebel. 

Erquickt  durch  Ihre  fchöne  Seele,  die  mich  über  das 
Alltägliche  erhoben,  fuhr  ich  vergnügt  in  die  Mondnacht, 
wo  Goethe  uns  vom  Zuftande  der  Seele  nach  dem  Tode 
erzählte.  Nur  ein  wenig  nicht  fchwärmerifch  genug  für 
das  überirdifche  Licht,  in  dem  wir  dahin  gleiteten. 

[250.]     September.     Herder. 

Fritz  Jacobi  ift  fehr  gerührt  weggegangen,  infonderheit 
von  Goethe.  ^  Goethe  ^^  dem  die  Gegenwart  der  Fremden 
auch  gut  getan  hat  ^  ift  nur  einmal  hier  bei  mir  ge? 
wefen  und  vom  Herzog  und  feiner  Reife  ift  kein  Wort 
vorgefallen,  weil  ich  mit  ihm  von  politifchen  Sachen  fo 
wenig  als  möglich  fpreche,  obgleich  auch  mir  die  dumme 
Märe  zu  Ohren  gekommen  war. 

[251.]     Herbft.     Herder  an  K.  L.  v.  Knebel. 

Goethe  hat  uns  feine  Abhandlung  vom  Knochen  vor:? 
gelefen,  die  fehr  einfach  und  fchönift;  d  e  r  Menfch  geht  auf 
dem  wahren  Naturwege,  und  das  Glück  geht  ihm  entgegen. 
Wir  haben  indes  neulich  ausgemacht,  daß  er,  alten  Münzen 
nach,  einmal  in  Rom  dictator  perpetuus  und  imperator 
unter  dem  Namen  Julius  Caefar  gewefen;  zur  Strafe  aber 
nach  beinahe  achtzehnhundert  Jahren  zum  Geheimrat  in 
Weimar  avanciert  und  promoviert  fei.  —  Laffet  uns  alfo 
Fleiß  anwenden,  daß  wir  nicht  noch  ärger  promoviert 
werden.  Mit  Ihnen  muß  etwas  Ähnliches  vorgefallen 
fein.     Darum  fitzen  Sie  jetzt    auf  dem  Schloß    zu  Jena. 

[252.]     (1784.)     Sophie  v.  La  Roche. 

Goethe  '^  hatte  den  Kunftgeift  des  Herrn  Klauer 
mit  zwei  allerliebften  Gedanken  zu  halb  erhabener  Arbeit 
befeelt,  da  er  ihm  zwei  Denkmäler  für  die  frühverftor? 
benen  Prinzeffinnen  von  Weimar  angab,  von  welchen  die 
erfte*,  die  nur  einige  Stunden  lebte,  als  ein  holdes,  von 

*  Die  ältefte  Prinzeß,  Luife  Augufte  Amalie,  war  geboren 
am  3.  Februar  1779  und  ftarb  am  24.  März  1784;  die  zweite 
wurde  am  10.  September  1781  geboren  und  ftarb  denselben  Tag, 
danach  muß  es  anftatt  erite  heißen  zweite,  und  anftatt  zweite 
vielmehr  erfte. 
I 


124  Sophie  V.  La  Roche.  [253 

einem  Engel  auf  die  Erde  gebrachtes,  fchnell  zurück^ 
eilendes  Wefen  erfcheint,  deffen  liebreicher  Führer  im 
Vorbeifchweben  den  Schleier,  welcher  den  aufblühenden 
Engel  deckt,  ein  wenig  emporhält,  um  fie  den  Sterblichen 
einige  Augenblicke  zu  zeigen,  die  zweite,  älter  gewordene 
aber  in  dem  Moment,  wo  fie,  vor  der  Erdkugel  ftehend, 
das  weimarifche  Land  betrachtet,  von  der  erften,  welche 
aus  den  Wolken  hervortritt,  bei  der  Hand  gefaßt,  von 
diefer  Aufmerkfamkeit  abgezogen  wird,  fie  aber  ihrer 
himmlifchen  Schwefier,  mit  dem  Finger  auf  Weimar 
deutend,  die  andre  Liand  darreicht. 


1785. 

[253.]     März  Anfang.     Herder  an  K.  L.  v.  Knebel. 

Ich  lefe  jetzt  die  Mem.  de  Scott,  die  trotz  aller  Merk* 
Würdigkeiten  der  Authentizität  felbfi  für  mich  etwas  lang* 
weilig  find.  Haben  Sie  fie  noch  nicht:  fo  will  ich  Goethe, 
von  dem  ich  das  Buch  habe,  an  Sie  erinnern,  ob  er  wohl 
meine  Erinnerung  nicht  braucht.  Er  hat  Sie  fehr  lieb, 
und  hat  Ihnen  einen  Befuch  zugedacht,  der  für  Euch  beide 
erfreulich  fein  wird.  Er  trägt  feinen  Kopf  und  fein  Herz 
immer  auf  der  rechten  Stelle,  und  ift  in  jedem  Schritt 
feines  Lebens  ein  Mann.     Wie  viele  giebt's  folcher? 

[254.]     (April  Mitte).     Herder. 

Einige  Stücke  des  zweiten  Teils  der  Ideen  haben  mir 
entfetzliche  Mühe  gekofi:et,  ohne  daß  fie  mich  noch  be* 
friedigen;  infonderheit  das  caput  mortuum  der  Regierung, 
an  dem  doch  die  ganze  leidige  Gefchichte,  wie  fie  der 
Herr  Immanuel  und  das  Publikum  der  Univerfalgefchichte 
will,  hänget.  Den  zweiten  Auffatz  darüber,  nachdem  ich 
den  erften  felbft  ad  carceres  verdammet,  gab  ich  unferm 
Freund  Goethe  zur  Minifterialzenfur  und  er  brachte  ihn 
mir  mit  der  tröftlichen  Nachricht  wieder,  daß  füglich  kein 
Wort  davon  ftehen  bleiben  könnte. 

[255.]     Juni  23.     K.  L.  v.  Knebel 

Wir  gingen  geftern  elf  Uhr  mittags  von  Jena  weg, 
Goethe  und  ich.  '^  Mein  Reifegefährte  war  ftillern  und 
ruhigem  Mutes  als  ich.  Er  fuchte  viel  vertrauliche  Reden 
hervor,  und  ich  war  dagegen  nicht  unfreundlich.    Unter* 


256] Neuftadt  a.  O.    1785. 125 

wegs,  als  wir  im  Wagen  hielten,  zeichnete  er  das  Tor 
und  die  Einfahrt  von  dem  Haufe  des  Herrn  v.  Schmers^ 
zing  in  Hummelshain,  das  er  abends,  als  wir  hier  in  Neu^s 
ftadta.  d.  O.  ankamen,  gar  hübfch  mit  der  Feder  ins  Reine 
brachte.  Eine  kleine  Weile  darauf,  bei  Gelegenheit  einer 
Pfeife  Tabak,  die  ich  aufs  neue  anfiecken  wollte,  bat  er 
mich,  folches  zu  unterlaffen,  weil  er  von  dem  Tabaks^ 
rauche  Erhitzung  fpüre.  Ich  unterUeß  es,  wunderte  mich 
aber  über  die  leichte  Reizbarkeit  feiner  Nerven  von  einer 
fo  geringen  Urfache.  Das  Übel  nahm  bei  ihm  zu,  und 
er  mußte  fich  wirklich  mit  Froft  und  einem  befonders 
krampfhaften  Zuftande,  der  ihm  ftarken  Schmerz  erregte, 
zu  Bette  legen.  Diefen  Morgen  hat  (ich  das  Übel  noch  nicht 
gegeben,  und  wir  werden  wohl  heute  hier  bleiben  muffen. 
Ich  bemerkte,  wie  Goethes  Natur  leicht  bis  auf  den 
letzten  Augenblick  fich  unverändert  erhält,  dann  von  dem 
leichteften  Umftande  Gelegenheit  fich  nimmt  und  ihn  gänz^ 
lieh  zu  Boden  wirft.  Dies  trifft  in  vielen  Stücken  bei 
ihm   ein. 

[256.]    Juni  24.     K.  L.  v.  Knebel. 

Als  wir  in  die  Stadt  hineinfuhren,  fielen  Goethen, 
bei  dem  Regen,  den  wir  hatten,  die  Pflafterfteine  auf,  ^ 
bei  einem  Spaziergange,  den  ich  machte,  nahm  ich  einen 
der  hier  um  die  Stadt  herumliegenden  blaufchwarzen  Steine 
mit.  '^  Goethe  erkannte  ihn  aber  fogleich,  als  ich  ihn  zu 
Haufe  brachte,  für  Lava.  Die  Erfcheinung  in  diefer  Nähe 
war  uns  etwas  neu.  Wir  ließen  einen  Maurer  fragen,  ob 
von  diefer  Art  Steine  Steinbrüche  in  der  Gegend  feien, 
und  wir  erhielten  zur  Antwort:  fehr  viele.  ^  Als  ich  ^^ 
auf  dem  Wege  zum  Tore  war,  begegnete  mir  ein  Wagen, 
worin  Frau  v.  Seckendorf  und  Fräulein  Caroline  Uten  fich 
befanden.  Ich  kehrte  alfo  mit  diefen  zurück,  und  nun 
fing  unfer  Aufzug  hier  an,  eine  romanhafte  Malerei  zu 
bekommen.  Zwei  feingekleidete  hübfche  Damen  wurden 
von  mir  aus  dem  Wagen  gehoben,  und  ich  führte  fie  in 
Goethes  Zimmer,  den  fie  fehen  wollten.  Goethes  Schmerz 
wurde  vergeffen,  und  wir  lachten  wechfelweife  über  das 
artige  Anfehen  der  Zufammenkunft.  '^  Es  wurde  ein  kleines 
Mahl  gehalten,  und,  nach  Damenweife,  auch  fogleich  Tee 
getrunken. 

Die  Dämchen  waren  artig  und  gefällig.  Carohnchen 
erzählte  uns  ihren  goldenen  Traum,  wie  fie  in  voriger 
I 


126 K.  L.  V.  Knebel. [257 

Nacht  in  Afrika  gewohnt  habe,  wo  die  Häufer  mit  Gold 
bedeckt  gewefen  feien.  Die  Seckendorf  war  füß  verbind^ 
lieh  und  aufmerkfam  artig.  Sie  band  Goethen  ein,  aus 
ihrer  Tafche  hervorgeholtes  reinliches  rotgeftreiftesSchnupf^s 
tuch  um  den  Kopf,  und  bat  ihn  nachher,  folches  zu  be^ 
halten.  Sie  legte  fich  auch  auf  das  Kanapee,  auf  den 
Sitz  des  Kranken,  und  hüllte  fich  in  feinen  Mantel,  und 
war  überhaupt  anmutig.  Da  fie  fahen,  daß  Goethen  eben 
nicht  mit  ihrem  Hierfein  länger  dürfte  gedient  fein,  ließen 
fie  einfpannen,  und  begaben  fich  den  Abend  noch  nach 
Schleiz. 

f^  Als  ich  nach  Haufe  kam,  fand  ich  Goethes  Backen 
gefchwollen,  und  alfo  fein  Übel  inx  Ausbruch.  Dies  freute 
mich,  und  gab  Hoffnung  zu  unferer  baldigen  Abreife; 
doch  blieb  er  diefen  Tag  zu  Bette. 

[257.]    Juni  26/27.     K.  L.  v.  Knebel. 

Goethes  Befinden  ifi:  immer  noch  zu  unferer  Weitere 
reife  mißlich.  Ich  habe  dem  Hofrat  Loder  geftern  ge^ 
fchrieben,  und  ich  hoffe,  daß  er  diefen  Morgen  kommt. 
^  Goethe  war  geftern  Abend  fehr  munter  im  Gefpräch, 
hat  aber  diefe  Nacht  defto  fchlimmer  zugebracht.  Wir 
lafen  und  fprachen  viel  vom  Hamlet  des  Shakefpeare,  den 
wir  zugegen  hatten. 

Frau  V.  Hendrich  und  Fräulein  Staff  befuchten  Goethe, 
da  ich  nachmittags  abwefend  war.  ^ 

Dann  kamen  Hofrat  Loder  und  Büttner  von  Jena 
herüber  <^  nachdem  wir  erfteren  konfultiert  hatten,  ftiegen 
wir  zufammen  zu  den  Bafaltbergen.  Nachmittags  fuhren 
fie  wieder  fort,  und  Goethe  machte  nachher  mikrof  kopifche 
Beluftigungen.  Er  wird  beffer,  und  vielleicht  können  wir 
morgen  reifen. 

[258.]     Juni  29.     F.  G.  Dietrich. 

Auf  einem  ziemlich  hohen  Berg,  dem  fogenannten 
Ochfenkopf,  fahen  wir  in  einer  nur  wenig  tiefer  liegenden, 
von  grotesk  geformten  Felfen  umfchloffenen  Bergwiefe  einen 
purpurroten  Fleck,  der  fchon  in  der  Ferne  Bewunderung 
erregte.  Goethe  fagte:  das  ifi  mir  ein  unerklärbares  Phä:; 
nomen,  wir  wollen  hinabgehen  und  an  Ort  und  Stelle 
die  Sache  näher  betrachten  und  genau  unterfuchen.  Da 
wir  an  der  Stelle  ankamen,  fanden  wir  einen  Sumpf  (Torf=: 
moor)  mit  torfliebenden  Laubmoofen  dicht  angefüllt.    Auf 


259] Neuftadt  a.  O.    1785. 127 

diefen  Torfmoofen  hatte  fich  die  kleine  Drosera  rotun^ 
difolia  L.  in  ungeheurer  Menge  angefiedeh  und  die  andern 
Gewächfe  verdrängt,  fo  daß  fafi  der  ganze  Torfmoor  wie 
mit  einem  Purpurteppich  bedeckt  erfchien.  Die  Wurzelst 
Blätter  diefer  niedlichen  Pflanzen  breiten  fich  ftern:;  oder 
rofettenförmig  auf  den  Torfwiefen  aus,  find  rot,  geftielt, 
kreisrund,  löffeiförmig  ausgehöhlt,  die  Oberfläche,  fowie 
die  Stiele  mit  roten  reizbaren  Drüfen  verziert,  und  be? 
fonders  des  Morgens  mit  einer  glänzenden  Feuchtigkeit, 
gleichfam  wie  mit  Tau  überzogen,  daher  der  deutfche 
Name  Sonnentau  (Ros  solis  Bauh.  pin).  Zwifchen  den 
Blättern  erhebt  fich  ein  zarter  aufrechter  Schaft,  der  wenige 
kleine  weiße  Blumen  trägt,  die  eine  meift  einfeitige  End^ 
ähre  bilden.  '^  Häufig  kam  auch  eine  kleine  zierliche 
Pflanze  vor,  Vaccinium  Oxycoccus  L. ,  deren  fadenför;: 
mige  Stengel  auf  den  Torfmoofen  liegen  und  mit  liebst 
liehen,  roten  Blumen  fich  fchmücken.  Beide  Pflanzen, 
die  ich  mit  Moosballen  aus  dem  Sumpfe  hob  und  zur 
näheren  Anfchauung  und  Beobachtung  vorzeigte,  gewähr;: 
ten  den  Herren  große  Freude  und  belehrende  Unterhalt 
tung.  Goethe,  der  damals  fein  Werk  (Verfuch  die  Meta^ 
morphofe  der  Pflanzen  zu  erklären)  angefangen  hatte,  fuchte 
fich  näher  mit  den  Pflanzen  zu  befreunden,  nahm  eine 
Drosera  rotundifolia  in  die  Hand  und  fprach  fich  über 
die  wunderbare  Gefi:alt  und  regelmäßige  Stellung  der  mit 
reizbaren  Drüfenhaaren  bekränzten  Blätter  belehrend  aus, 
infonderheit  über  die  Irritabilität  (Reizbarkeit)  der  Pflanz 
zen  im  allgemeinen.  Wir  fanden  einige  Sonnentaupflanzen, 
in  deren  Blättern  kleine  Infekten  von  den  Drüfenhaaren 
eingefchloffen  waren,  und  bemerkten  zugleich,  daß,  fo^: 
lange  die  eingefchloffenen  Infekten  leben  und  durch  die 
Bewegung  ihres  Körpers  und  der  Füße  die  Drüfen  reizen, 
die  Haare  defto  kräftiger  und  fefi:er  fich  zufammenziehen 
und  nicht  eher  wieder  aufrichten,  bis  das  Infekt  getötet  ifi:. 
Auch  hat  man  verfucht,  durch  fanftes  Berühren  der  Drüfen 
mit  einer  Borfte  die  Reizbarkeit   der  Drüfen  zu  erregen. 

1786. 

[259.]     Januar  31.     Nach  Charlotte  v.  Stein. 

Lottchen  v.  Lengefeld  hatte  '^  gefragt,  was  Goethe 
über  Lavaters  Magnetifieren  denke,  worüber  ein  öffent^ 
lieber  Streit  entbrannte,  da  diefer  die  Erfolge  des  an  feiner 
I 


128  Nach  Charlotte  v.  Stein.  [260 

Frau  erprobten  Magnetißerens  über  alles  pries  und  ^ 
wünfchte,  die  Fürften  Deutfchlands  ließen  ex  officio  da^ 
mit  Verfuche  anftellen.  Charlotte  erwiderte,  Goethe  fei 
der  immer  Schweigende;  nur  fo  viel  habe  er  ihr  gefagt, 
der  Zuftand  von  Lavaters  Frau  käme  ihm  nicht  fo  wunderes 
bar  vor,  da  fie  nur  Dinge  erkenne,  wozu  fie  bloß  einen 
Teil  ihrer  Sinne  nicht  gebrauchte  und  die  in  ihrem  Ideen*: 
kreife  lägen;  er  beweife  nur,  was  längft  bekannt  fei,  das 
der  Menfch  zu  den  allerfeinften  Apperzeptionen  könne 
geftimmt  werden. 

[260.]     (Mai.)     F.A.Wolf. 

Den  Verfaffer  überrafchte  ^^  dies  Ölgemälde  von 
Fvanckj  das  den  alternden  Dichter  ihm  faft  in  derfelben 
Geftalt  wieder  darftellte,  wie  er  ihn  feit  dem  Frühjahre 
von  1786  außer  fich  nicht  gefehen  hatte.  In  jenem  Jahre 
war  es,  wo  der  Verfaffer,  felbft  im  fiebenundzwanzigften 
Jahre,  ihn,  der  in  der  fchönften  männlichen  Kraft  ftrahlte, 
zu  Jena  kennen  lernte  auf  der  Büttnerfchen  Bibliothek, 
wo  fich  bald  ein  langes  Gefpräch  über  die  Aufftellung  der 
unlängft  angekommenen  Bücher  und  über  Bücherwefen 
und^Unwefen  überhaupt  anknüpfte,  ein  Gefpräch,  woraus 
ihm  noch  manche  geiftvolle  Anflehten  gegenwärtig  blieben 
bis  auf  die  neuefte  Zeit,  wo  er  die  Jenaifchen  und  Wei^ 
marfchen  Bibliotheken  nach  gleichen  Grundfätzen  geord:^ 
net  und  gewiffermaßen  vereinigt  fah. 

[261.]     Herder. 

Er  ift  in  feiner  Naturforfchung  der  freiefte,  gründe 
lichfte,  reinfte  Geift,  den  ich  als  Beobachter  kennen  ge*: 
lernt  habe,  ein  wahres  exemplar  humanae  naturae  in  diefem 
Fache,  deffen  Umgang  mein  Troft  ift  und  deffen  Gefpräche 
jedesmal  meine  Seele  erweitern. 

[262.]     Juni,  nach  Mitte.     Prinz  Auguft  v.  Sachfen^Gotha. 

Wir  haben  in  Schnepfental  und  Reinhardsbrunn  einen 
recht  fchönen,  heitern  und  fröhlichen  Tag  zugebracht.  Nach 
der  Tafel  las  Goethe  uns  auf  einem  fieinernen  Tifche,  der 
vermutlich  noch  von  den  guten  Reinhardsbrunnifchen 
Benediktinern  herrühret,  zwar  keine  Epiftel  Pauli  an  die 
Römer  oder  Galater,  aber  doch  eine  Epiftel  V.  Gl.  Weik^ 
hardi  ad  V.  Gl.  Zimmermannum  homiletifch  vor,  die  nicht 
leicht  eine  andere  an  feinem  attifchen  Salze  und  an  römi:^ 


263]  Reinhardsbrunn  -  Weimar.     1786.  129 

fcher  Urbanität  übertreffen  wird.  An  eben  den  Orten, 
wo  vormals  die  dicken  Mönche  aus  natürlichem  Hange 
zur  Naturkenntnis  den  Fungum  apocalypticum  hypostati;; 
cum  gefucht  hatten,  fanden  wir  den  Fungum  iambicum 
trimetrum  catalecticum  hendecasyllabum  (der  vom  Fungo 
alcaico  iambico  ~  wohl  zu  unterfcheiden  ift)  zu  unferem 
unausfprechlichen  Vergnügen  und  Erftaunen  und  dankten 
den  Göttern  und  Göttinnen,  daß  fie  f  ü  r  u  n  s  diefe  Schwämme 
zu  fernerer  Verehrung  ihrer  Weisheit  vor  unfern  Füßen 
hatten  aufwachfen  laffen. 

[263.]     Juni  27.    F.  J.  J.  Bertuch  an  G.  J.  Göfchen. 

Ich  war  am  Dienstage  bei  Goethe  und  fprach  mit 
ihm  über  feine  Erklärung.  Sie  haben  die  Schraube  fehr 
fcharf  angezogen,  fagte  ich  ihm,  Göfchen  wird  zucken;  in^ 
deffen  wir  wollen  fehen,  was  er  darauf  fagt;  einige  Milden 
rung  werden  Sie  ihm  auf  alle  Fälle  akkordieren  muffen.  — 
Es  ift  wahr,  fagte  er,  ich  habe  meine  Forderung  etwas  ge^; 
fteigert,  meine  gedruckten  und  ungedruckten  Werke  in 
eine  Brühe  geworfen  und  eine  Summe  überhaupt  gefordert, 
1.  weil  ihm  beide  wegen  der  neuen  Bearbeitung  gleich 
und  fo  gut  wie  ganz  neu  find;  2.  um  uns  nicht  wegen 
der  diverfen  Bogenberechnung  zu  genieren;  3.  weil  ich, 
da  Göfchen  nicht  changiert,  fondern  bloß  kurant  handelt, 
auf  eine  zweite  Auflage  fo  gut  als  nicht  rechne  und  alfo 
alles,  was  ich  hoffen  kann,  von  diefer  erwarten  muß.  Hin? 
gegen  will  ich  ihn  wegen  der  Stärke  der  Auflage  gar  nicht 
einfchränken  und  für  die  gute  Auflage  in  Großoktav  auch 
nichts  verlangen,  auch  die  Subf  kription  auf  alle  Art  durch 
meine  Freunde  unterftützen  helfen  ufw.  Dies  war  ohn? 
gefähr  feine  Meinung  und  ich  merke,  daß  er  von  den 
20000  Talern  wohl  nicht  abgehen  wird;  allein  eineMildes= 
rung  auf  1  ^/^  Louisdor  pro  Bogen  einer  zweiten  Auflage 
und  der  80  Freiexemplare  vielleicht  auf  40,  nämlich  25 
ordinär  und  15  in  Großoktav  wird  er  fich  gewiß  gess 
fallen  laffen.  —  Da  er  nun  kommende  Woche  ins  Karls^s 
bad  geht  und  doch  noch  gern  die  Ankündigung  ents: 
worfen  fehen  wollte,  fo  fetzte  er  mir  geftern  den  verabs^ 
redeten  Briefextrakt  dazu  auf,  und  ich  habe  fie,  infoweit 
als  ich  fie  ohne  Ihren  Kalkül  machen  konnte,  entworfen. 
Hier  ift  fie.  Er  hat  fie  gelefen  und  ift  damit  zufrieden. 
Gehen  Sie  fie  nun  auch  genau  durch,  füllen  Sie  die  Preife 
aus  (wenn  Sie  zuvor  die  Verlagskoften  genau  berechnet 
I  9 


130 F.  J.  J.  Bertuch [264 

haben),  und  fügen  Sie  noch  hinzu,  was  Sie  teils  wegen  der 
guten  Edition,  teils  fonfi  noch  überhaupt  für  nötig  finden. 
Schicken  Sie  mir  fie  dann  auf  den  Montag  zurück  und 
melden  mir,  wieviel  Taufend  ich  davon  foll  drucken  laffen. 
Ich  rechne,  daß  fie  zwei  Oktavblätter  Median  mit  Petit  gibt 
und  dächte,  20000  wären  nicht  zu  viel,  weil  wir  fie 
durchaus  bei  etlichen  der  gangbaren  Zeitungen,  fowohl  ge^ 
lehrte  als  politifche,  mit  beifchlagen  laffen  muffen.  Goethe 
allein  will  1000  Stück  ins  Karlsbad  zum  Verteilen  haben. 

[264.]     Juli.     Bertuch  an  Göfchen. 

Goethe  kommt  erfi:  auf  Sonnabend  von  Ilmenau  zurück. 
Er  hat  noch  am  Sonntage  mit  Wieland  über  die  Sache  ge^ 
fprochen,  und  Wieland  ihn  verfichert,  daß  er  fich  über 
den  vorteilhaften  Akkord  feiner  Schriften  fehr  Glück  wün? 
fchen  könne. 

[265.]     Juli.     Dietmar. 

Als  ich  —  noch  Kandidat  —  im  Jahre  1786  vom  Hof? 
rat  Wieland  dem  damaligen  Herzog  Karl  Auguft  im  Stern 
—  fo  heißt  ein  Teil  des  herzoglichen  Gartens  —  vorge? 
fi:ellt  wurde,  fah  ich  unter  den  ihn  umgebenden  Gelehrten 
auch  Goethe.  Er  unterhielt  fich  eben  mit  einem  Offizier 
und  ich  hatte  nicht  Gelegenheit,  mich  ihm  zu  nähern. 

Nach  meiner  Rückkunft  von  Schnepfenthal  fi:attete 
ich,  an  demfelben  Orte  im  erwähnten  Garten,  den  Bericht 
über  das  Erziehungsinfi:itut  dem  Herzog  von  Weimar  ab, 
wie  er  es  verlangt  hatte,  und  beim  Abtreten  äußerte  ich 
mein  Bedauern  gegen  Mufäus,  den  berühmten  Goethe  nicht 
gefprochen  zu  haben. 

Das  können  Sie  noch  verbeffern,  meinte  Mufäus. 
Wenn  Sie  jetzt  nachmittags  gegen  6  Uhr  zu  ihm  gehen, 
will  ich  Sie  begleiten.  Diefes  Anerbieten  nahm  ich  dan*: 
kend  an.  Melden  Sie  fich  nur  als  der  Studiofus,  den  er 
im  Stern,  vor  acht  Tagen,  zuerfi:  auf  der  Linde*  gefehen 
hätte,  dann  nimmt  er  Sie  gewiß  an.  Wir  haben  Ihre  da:: 
malige  Standeserhöhung  herzlich  belacht.  Unter  der  von 
Mufäus  angeratenen  Adreffe  ließ  ich  mich  bei  Goethe  an? 
melden.  Sie  kommen  von  Ihrer  Schnepfenthaler  Reife 
zurück?  fragte  mich  der  damals  noch  in  der  Blüte  feines 
männlichen  Alters  ftehende  Goethe  (er  war  erfi  37  Jahr 


*  Dietmar  hatte  fich  anfangs  verborgen,  um  ungefehen  den 
Herzog  und  feine  Umgebung  betrachten  zu  können. 


265]  Weimar.    1786.  131 

alt).  Haben  Sie  Ihre  Wißbegierde  befriedigt?  —  Ich  qt^ 
zählte  ihm  alles,  was  mich  von  dem  Salzmannfchen  Ers^ 
ziehungsinftitut  intereffiert  hatte.  Mein  Vorfchlag,  den  ich 
dem  Profeffor  Salzmann  getan,  die  Naturgefchichte  den 
Kindern  in  den  Abendftunden  mittels  einer  Laterna  ma? 
gica  zu  lehren,  gefiel  ihm  befonders.  Er  hat  einen  Bruder 
in  Erfurt,  erwähnte  Goethe,  der  ein  gefchickter  Tiermaler 
ift,  der  ihm  die  unvernünftige  Welt  zu  diefem  Behuf  auf 
Glas  malen  könnte.  So  wahr  und  gut  es  wäre,  fuhr  Goethe 
fort,  den  Kindern  frühzeitig  Geographie  zu  lehren,  fo  bin 
ich  doch  der  Meinung,  daß  man  mit  den  nächften  Um? 
gebungen  der  bildenden  Natur  zuerft  anfangen  müßte. 
Alles,  was  auf  ihre  Augen  und  Ohren  Eindruck  macht, 
erregt  Aufmerkfamkeit.  Sonne,  Mond  und  Sterne,  Feuer, 
Waffer,  Schnee,  Eis,  Wolken,  Gewitter,  Tiere,  Pflanzen 
und  Steine  find  die  befonders  wirkfamften  Eindrücke  auf 
das  kindliche  Gemüt.  Kinder  haben  Mühe,  die  von  Men? 
fchen  gebildeten  Eormen  von  den  natürlichen  Geftalten 
zu  unterfcheiden,  und  es  wäre  nicht  zu  verwundern,  wenn 
fie  den  Vater  fragen:    wie  machft  du  die  Bäume? 

Haben  Sie  auch  die  Merkwürdigkeiten  in  Erfurt  be? 
achtet?  fragte  Goethe.  —  Ich  war  im  Dom,  in  welchem 
man  mich  auf  das  Gewölbe  des  Chors  aufmerkfam  machte, 
das  auf  keinem  Pfeiler  ruht,  und  auf  ein  fchlechtes  Ge? 
mälde,  den  großen  Chriftoph  in  koloffaler  Größe  vor? 
(teilend.  Auf  dem  Glockenturme  nahm  ich  noch  die  große 
Glocke  in  Augenfchein,  die  275  Zentner  fchwer  fein  foll, 
und  im  Jahre  1497  von  Gerhard  de  Campis  gegoffen  ift. 
—  Sie  brummt  einen  tiefen,  ernften  Baß,  meinte  Goethe, 
und  läßt  fich  nur  an  hohen  Fefitagen  hören.  Die  Kirche 
ift  alt  und  zur  Zeit  des  Bonifacius  erbaut.  Die  kleinen 
Glocken  find,  wie  ich  gehört  habe,  faft  200  Jahr  älter. 
Nichts  von  Luther? 

D.  Ich  habe  den  kleinen  Hügel,  Steiger,  befucht,  auf 
welchem  Luthers  Jugendfreund,  Alexis,  an  feiner  Seite  vom 
Blitz  getötet  ward. 

G.  Diefer  Blitz  hat  in  Deutfchland  ein  großes  Licht  ver? 
breitet,  indem  er  den  jungen  Luther,  der  die  Rechte  ftu? 
dieren  wollte,  ins  Klofter  trieb,  und  dann  zur  Erkenntnis 
eines  Funkens  der  Wahrheit  brachte.  Sahen  Sie  feine  Zelle, 
die  er  in  Erfurt  bewohnte? 

D.  Ich  habe  mich  indem  befchränkten Raum  umgefehen 
und  von  der  weißen  Bretterwand  mir  Luthers  Lebensge? 
I  9* 


132  Dietmar.  [265 

fchichte,  mitrotenBuchftabengefchrieben,  kopiert.  Auf  einer 
runden  Tafel  über  der  Tür  ftand  die  lateinifche  Infchrift: 

Cellula  divino  magnoque  habitata  Luthero,  salve  etc. 

G.  Ich  kenne  fie.  Die  Auguftinerkirche,  in  welcher  der 
Mönch  Luther  gepredigt  hat,  ift  feit  kurzem  renoviert 
worden.    Haben  Sie  auch  Lavater  gefehen  in  Gotha?  — 

D.  Ich  habe  ihn  gefprochen. 

G.  Er  ift  kein  großer  Freund  von  mir.  Es  ift  lächer;; 
lieh,  wie  er  über  mich  denkt.  Er  hat  dem  Verfucher  Chrifti 
in  der  Wüfte,  wie  man  fagt,  im  Kupferfiiche  meine  Phyliog^s 
nomie  geben  laffen.  Das  gehört  zu  feinen  Phantafien, 
die  ihn  oft  zu  übertriebenen  Vorftellungen  verleiten.  Unfer 
Mufäus  hat  ihn  ziemlich  gut  beleuchtet.  —  Was  haben 
Sie  von  meinen  Schriften  gelefen? 

D.  Werthers  Leiden. 

G.  Welchen  Eindruck  machte  feine  Leidenfchafts? 
gefchichte  auf  Sie? 

D.  Ich  fand  feine  Empfindungen  für  Lotte  fo  rein 
menfchlich,  daß  ich  ihm  alles  verzeihen  konnte,  was  er 
fühlte,  fprach  und  tat. 

G.  Haben  Sie  auch  fchon  geliebt? 

D.  Ich  kann  es  nicht  leugnen.  In  einem  Alter  von 
21  Jahren  kam  ich  in  die  Nähe  einer  fchönen  Witwe  für 
die  fich  alle  Gefühle  in  mir  regten,  —  aber  Verhältniffe 
hinderten  mich,  in  jeder  Rückficht  ihr  meine  Zuneigung 
zu  geftehen.  Ich  verehrte  fie,  und  nur  in  ihrer  Gegen;; 
wart  befand  ich  mich  wohl;  aber  ich  fah  die  Unmöglich* 
keit  ihr  die  Unruhe  meines  Herzens  zu  offenbaren. 

G.  War  fie  fchön? 

D.  So  fand  ich  fie,  und  man  fagte  mir,  daß  fie  in 
ihrem  unverheirateten  Stande  das  fchönfte  Mädchen  in 
der  ganzen  Umgebung  gewefen  wäre. 

G.  Wiffen  Sie  wohl,  daß  das  Herz  Geheimniffe  hat, 
wovon  der  Verftand  nichts  weiß? 

D.  Das  habe  ich  fchon  öfters  eingefehen,  aber  nicht 
mit  Worten   auszudrücken  verftanden. 

G.  Wiffen  Sie :  le  paradis  est  pour  les  ämes  tendres,  et 
condamnes  sont  ceux  qui  n'aiment  rien. 

D.  Davon  bin  ich  überzeugt,  aber  fo  glücklich  die 
Liebe  macht,  fo  viel  Leiden  und  Schmerzen  führt  fie  auch 
mit  fich.  Ich  habe  die  fchöne  Stelle  memoriert,  welche 
mir  in  Ihrem  Werther  gefiel. 


269]  Weimar.     1786.  133 

G.   Und  welche  war  es? 

D.  Wer  hebt  den  erften  Stein  gegen  das  Mädchen, 
das  in  einer  wonnevollen  Stunde  fich  in  den  unaufhalt^ 
iamen  Freuden  der  Liebe  verliert?  Unfere  Gefetze  felbft, 
diefe  kaltblütigen  Pedanten,  laffen  fich  rühren,  und  halten 
ihre  Strafe  zurück. 

G.  Die  ganze  Theorie  des  Anftandes  läßt  fich  auf  den 
unfichern  Grund  des  Vorurteils  zurückführen.  Es  gibt 
allerdings  Situationen  des  Lebens,  in  welchen  das  Herz 
beredt  und  der  Mund  verfchwiegen  ilt.  Ja  das  erftere  ift 
fogar  in  Furcht,  feine  kleinen,  aber  heftigen  Bewegungen 
zu  verraten,  und,  um  nicht  in  Gefahr  zu  kommen,  wählt 
das  furchtfame  Herz  die  Verfchwiegenheit,  oder  fucht  die 
Unterhaltung  auf  gleichgültige,  fremde  Dinge  zu  leiten. 

Ich  habe  mich  noch  nie,  fagte  Goethe,  mit  einem 
jungen  Manne,  der  eben  die  Univerfität  verlaffen,  fo  ernft^ 
haft  unterhalten. 

D.  Verzeihen  Sie,  ich  bin  fchon  27  Jahr  alt,  und  fpät 
auf  Univerfitäten  nach  Halle  gegangen. 

Oft  quälen  mich  Durchreifende  mit  langweiligen  Be^ 
fuchen,  und  da  ich  mich  jetzt  mit  Ofteologie  befchäftige, 
fuhr  Goethe  fort,  fo  lege  ich  ihnen  zuweilen  meine  vor? 
handenen  Knochen  vor,  das  erregt  den  Befuchenden  Lange? 
weile  —  und  fie  empfehlen  fich.  —  Ich  habe  diefe  Vorlage 
bei  Ihnen  vergeffen. 
[266.]    Juli  18/20.     Lavater. 

Ich  fand  Goethe  älter,  kälter,  weifer,  fefter,  ver? 
fchloffener,  praktifcher. 

Nachlefe  zum  zweiten  Abfchnitt 

Zeitlich  nicht  näher  beftimmbar. 
[267.]     Lavater. 

Ich  pflege,  wie  meine  Freunde  wiffen,  die  Momente, 
von  denen  ich  denke,  fie  kommen  nicht  wieder  —  oder 
von  denen  ich  ahnen  konnte,  fie  werden  kommen,  fo 
fehr  wie  mögfich  zu  fixieren,  und,  wie  Goethe  fagte  — 
den  fliegenden  Papillon  zu  fpießen. 
[268.]     K.  L.  v.  Knebel. 

Goethe  fagt,  man  lebe  erft  dann  gut,  wenn  man  es 
vergeffe,  daß  man  lebe. 
[269.]     K.  A.  Böttiger. 

Es  war  eine  frühere  Periode,  wo  Goethe  auf  die 
Alten,  Horaz,  Virgil  ufw.  als  auf  alte  Knafterbärte  fchimpfte 
I 


/ 


134 K.  A.  Böttiger. [270 

und  Wieland  perfiflierte,  daß  er  fich  fo  mit  ihnen  ab? 
geben  könnte.  Allein  in  fpäteren  Zeiten  änderte  fich  der 
Ton  und  Goethe  fagte  z.  B.  Wielanden  über  feine  Über? 
fetzungen  des  Horaz  die  übertriebenfien  Schmeicheleien. 

[270.]     B.  R.  Abeken. 

In  Hinficht  auf  den  völligen  Schluß  der  Tragödie  fcheint 
Goethe  wohl  in  verfchiedenen  Zeiten  verfchiedeneAbfichten 
gehabt  zu  haben,  wenn  anders  Wieland  fich  recht  erinnerte, 
der  mir  einmal  1809  erzählte:  Goethe  habe  fich  nie  über 
feinen  Plan  fürdenFaufi:  ausgelaffen;  nur  einmal,  in  einer  auf? 
geregten  Gefellfchaft,  habe  er  gefagt:  Ihr  meint  der  Teufel 
werde  den  Faufi  holen.  Umgekehrt:  Fauft  holt  den  Teufel. 
—  Dies  Wort  gehört  wohl  in  die  frühefte  Weimarifche  Zeit. 

[271.]     Caroline  Herder  an  J.  W.  L.  Gleim. 

Sie  tun  Goethe  unrecht  wegen  Berlin.  Mein  Mann 
und  ich  haben  längfi:  diefe  Scheu  davor  gehabt;  es  ifi: 
eine  Art  Inftinkt  in  uns.  Goethe  würden  Sie  jetzt  mehr  als 
jemals  lieben,  wenn  Sie  ihn  wie  wir  kennten.  Er  ifi:ein  Mann, 
in  allem  Betracht.     Wir  find  ohne  ihn  hier  ganz  allein. 

[272.]     Schiller  an  Ch.  G.  Körner. 

Goethe  (weil  ich  Dir  doch  Herders  Schilderung  ver? 
fprochen  habe),  Goethe  wird  von  fehr  vielen  Menfchen 
(auch  außer  Herdern)  mit  einer  Art  von  Anbetung  ge? 
nannt,  und  mehr  noch  als  Menfch,  denn  als  Schriftiteller 
geliebt  und  bewundert.  Herder  gibt  ihm  einen  klaren 
univerfalen  Verftand,  das  wahrfte  und  innigfte  Gefühl, 
die  größte  Reinheit  des  Herzens!  Alles,  was  er  ifi:,  ift 
er  ganz,  und  er  kann,  wie  Julius  Cäfar,  vieles  zugleich 
fein.  Nach  Herders  Behauptung  ift  er  rein  von  allem 
Intrigengeifi ,  er  hat  wiffentlich  noch  niemand  verfolgt, 
noch  keines  anderen  Glück  untergraben.  Er  liebt  in 
allen  Dingen  Helle  und  Klarheit,  felbft  im  kleinen  feiner 
politifchen  Gefchäfte,  und  mit  eben  diefem  Eifer  haßt  er 
Myltik,  Gefchraubtheit,  Verworrenheit.  Herder  will  ihn 
ebenfo  und  noch  mehr  als  Gefchäftsmann  denn  als  Dichter 
bewundert  wiffen.     Ihm   ift   er   ein  allumfaffender  Geifi. 

Seine  Reife  nach  Italien  hat  er  von  Kindheit  an  fchon 
im  Herzen  herumgetragen.  Sein  Vater  war  da.  Seine 
zerrüttete  Gefundheit  hat  fie  nötig  gemacht.  Er  foll  dort 
im  Zeichnen  große  Schritte  getan  haben.  Man  fagt,  daß 
er  fich  fehr  erholt  habe,  aber  fchwerlich  vor  Ende  des 
Jahres  zurückkommen  würde. 


Drittes  Buch 

Vom  Antritt  der  Italienifchen  Reife 

bis  zum  Beginne  des  freunde 

fchaftlichen  Umgangs 

mit  Schiller 


1786  Juli  bis  Juli  1794. 


1786. 

[273.]     Caroline  Herder  an  J.  W.  L.  Gleim. 

Von  Goethe  wiffen  Sie  alio  noch  nicht,  daß  er  feit 
Oktober  v.  J.  in  Rom  ift?  Er  lebt  dort  fehr  glücklich.  Sein 
Geift  hatte  hier  keine  bleibende  Stätte  mehr,  und  er  eilte 
im  ftillen,  ohne  es  den  vertrauteften  Freunden  zu  fagen, 
fort.  Ihm  ift  diefe  Erholung  äußerft  nötig  gewefen,  und 
wir  fehen  fchon,  daß  er  in  einem  halben  Jahre  vergnügt 
wieder  zu  uns  kehrt.  Wir  genießen  fein  Glück  ganz  mit 
ihm.  Wir  haben  in  den  letzten  drei  Jahren  nur  mit  ihm 
gelebt,  an  Geift  und  Herz  verbunden. 

[274.]     Oktober  29.     J.  H.  W.  Tifchbein  an  Goethe. 

Nie  habe  ich  größere  Freude  empfunden,  als  damals, 
wo  ich  Sie  zum  erftenmal  fah,  in  der  Locanda  auf  dem 
Wege  nach  St.  Peter.  Sie  faßen  in  einem  grünen  Rock 
am  Kamin,  gingen  mir  entgegen  und  fagten :  Ich  bin  Goethe  I 

[275.]     Dezember.     J.  H.  W.  Tifchbein  an  Lavater. 

Sie  haben  in  allem  recht,  was  Sie  von  Goethe  fagten. 
Das  ift  gewiß  einer  der  vortrefflichften  Menfchen,  die 
man  fehen  kann.  Stellen  Sie  fich  meine  unbefchreibliche 
Freude  vor,  welche  ich  vor  einigen  Wochen  hatte,  Goethe 
kam,  mir  unverhofft,  hierher,  und  jetzt  wohnt  er  in  meiner 
Stube  neben  mir;  ich  genieße  alfo  von  des  Morgens  bis 
zur  Nacht  den  Umgang  diefes  fo  feltenen,  klugen  Mannes. 
Was  das  für  ein  Vergnügen  für  mich  ift,  können  Sie  fich 
leicht  denken  indem  Sie  Goethens  Wert  und  meine  Hochü 
achtung  gegen  große  Männer  kennen.  -^  Goethe  ift  ein 
wirklicher  Mann,  wie  ich  in  meinen  ausfchweifenden  Ge^ 
danken  ihn  zu  fehen  mir  wünfchte.  Ich  habe  fein  Porträt 
angefangen,  und  werde  es  in  Lebensgröße  machen,  wie 
er  auf  den  Ruinen  fitzet  und  über  das  Schickfal  der 
menfchlichen  Werke  nachdenkt.  '^  Habe  ihn  eben  fo 
gefunden,  wie  ich  mir  ihn  dachte.  Nur  die  große  Ges^ 
I 


138  J.  H.  W.  Tifchbein.  [276 

fetztheit  und  Ruhe  hätte  ich  mir  in  dem  lebhaften  Emp^ 
finder  nicht  denken  können,  und  daß  er  fich  in  allen 
Fällen  fo  bekannt  und  zu  Haufe  findet.  Was  mir  noch 
fehr  an  ihm  freut,  ifi  fein  einfaches  Leben.  Er  begehrte 
von  mir  ein  klein  Stübchen  wo  er  in  fchlafen  und  un? 
gehindert  in  arbeiten  könnte,  und  ein  ganz  einfaches 
Effen,  das  ich  ihm  leicht  verfchaffen  konnte,  weil  er  mit 
fo  wenigem  begnügt  ift.  Da  fitzet  er  nun  jetzo  und 
arbeitet  des  Morgens  um  feine  Iphigenia  fertig  zu  machen, 
bis  um  9  Uhr,  dann  gehet  er  aus  und  fiehet  die  großen 
hiefigen  Kunfiwerke.  Mit  was  für  einem  Auge  und  Kennt? 
nis  er  alles  fiehet,  werden  Sie  fich  leicht  denken  können 
indem  Sie  wiffen,  wie  wahr  er  denkt.  Er  läßt  fich  wenig 
von  den  großen  Weltmenfchen  ftören,  gibt  und  nimmt 
keinen  Befuch  außer  von  Künfilern  an.  Man  wollte  ihm 
eine  Ehre  antun,  was  man  denen  großen  Dichtern,  die 
vor  ihm  hier  waren  getan  hatte,  er  verbat  fich  es  aber 
und  fchützte  Zeitverluft  vor  und  wandte  auf  eine  höfliche 
Art  den  Schein  der  Eitelkeit  von  fich  ab.  Das  ihm  ge? 
wiß  fo  viel  Ehre  macht,  als  wenn  er  wirklich  auf  dem 
Kapitol  gekrönt  worden  wäre. 


1787. 

[276.]     1786  Dez.  Anfang/1787  Januar  Anf.     K.  Ph.  Moritz. 

Was  nun  während  den  vierzig  Tagen,  die  ich  unter 
faft  unaufhörlichen  Schmerzen  unbeweglich  auf  einem  Fleck 
habe  liegen  muffen,  der  edle,  menfchenfreundliche  Goethe 
für  mich  getan  hat,  kann  ich  ihm  nie  verdanken,  wenigftens 
aber  werde  ich  es  nie  vergeffen;  er  ift  mir  in  diefer 
fürchterlichen  Lage,  wo  fich  alfo  alles  zufammen  fand, 
um  die  unfäglichen  Schmerzen,  die  ich  litt,  noch  zu  ver? 
mehren  und  meinen  Zuftand  zugleich  gefahrvoll  und  troft:; 
los  zu  machen,  alles  gewefen,  was  ein  Menfch  einem 
Menfchen  nur  fein  kann.  Täglich  hat  er  mich  mehr  als 
einmal  befucht  und  mehrere  Nächte  bei  mir  gewacht. 
Um  alle  Kleinigkeiten,  die  zu  meiner  Hilfe  und  Er? 
leichterung  dienen  konnten,  ift  er  unaufhörlich  beforgt 
gewefen  und  hat  alles  hervorgefucht ,  was  nur  irgend 
dazu  abzwecken  konnte,  mich  bei  gutem  Mute  zu  erhalten. 
Und  wie  oft,  wenn  ich  unter  meinem  Schmerz  erliegen 
und  verzagen  wollte,  habe  ich  in  feiner  Gegenwart  wieder 


277]  Rom.    1787. 139 

neuen  Mut  gefaßt,  und  weil  ich  gern  ftandhaft  vor  ihm 
erfcheinen  wollte,  bin  ich  oft  dadurch  wirklich  ftandhaft 
geworden.  Er  lenkte  zugleich  den  guten  Willen  meiner 
hiefigen  deutfchen  Landsleute,  deren  jetzt  eine  ftarke  An^ 
zahl  ift,  und  deren  freundfchaftliches  Betragen  gegen  mich 
mir  nie  aus  dem  Gedächtnis  kommen  wird.  Sie  waren 
den  andern  Tag  faft  alle  bei  mir;  fie  erboten  fich  alle 
bei  mir  zu  wachen.  Goethe  ließ  fie  lofen,  wie  fie  der 
Reihe  nach  bei  mir  wachen  follten,  und  fogleich  waren 
alle  Nächte  befetzt,  fo  daß  es  an  jeden  nur  ein  paarmal 
kam,  und  dann  ließ  er  andre  zwölf  um  die  Stunden  am 
Tage  lofen,  fo  daß  jeder  den  Tag  über  eine  Stunde  bei 
mir  bleiben  foUte,  damit  ich  immer  abwechfelnde  GefelU 
fchaft  hätte.  Alle  waren  fogleich  willig,  und  fo  waren 
die  Stunden  am  Tage  befetzt  und  wurden  alle  richtig 
gehalten.  Selbfi:  die  Leute,  bei  denen  ich  wohne,  waren 
durch  diefe  Liebe  und  Freundfchaft  fo  vieler  Menfchen 
gegen  einen  ihrer  leidenden  Brüder  gerührt  und  folgten 
dem  Beifpiel,  indem  fie  mir  die  ganzen  vierzig  Tage  hins: 
durch  ohne  Murren  und  mit  der  größten  Bereitwilligkeit 
die  befchwerlichfien  Dienfi:e  leifi:eten,  die  ein  Menfch,  der 
unbeweglich  auf  einem  Fleck  liegen  muß,  bedarf.  Dies 
alles  zufammen  genommen  flößte  mir  zuerft  wieder  eine 
Art  von  Zutrauen  gegen  mein  Gefchick  ein.  Ich  dachte: 
es  drückt  mich  zwar  nieder,  aber  es  will  mich  doch  nicht 
finken  laffenl 

[277.]     1786  Ende/ 1787  Anfang.     Nach  A.  Gyrowetz. 

Einftweilen  blieb  Goethe  für  einige  Zeit  in  Rom  und 
es  bot  fich  dem  Gyrowetz  die  erwünfchte  Gelegenheit 
dar,  deffen  nähere  Bekanntfchaft  zu  machen.  So  gefchah 
es,  daß  Gyrowetz  in  Goethes  Gefellfchaft  die  Merkwürdige 
keiten  und  Altertümer  Roms  befah,  manche  alte  Ruine 
felbfi:  mit  Gefahr  befi:ieg  und  auf  diefe  Art  die  meifi:e 
Zeit  in  Durchfchauung  und  Durchkriechung  verfallener 
Denkmäler  und  in  Bewunderung  fo  mancher  künfi:lerifcher 
Schätze  zubrachte.  Die  Bäder  des  Caracalla  wurden 
durchfucht,  wo  man  auf  lauter  Mofaikbruchftücken  herum? 
wandelt  und  noch  die  Säle  zu  fehen  find,  worin  die 
Gladiatoren  ihre  Spiele  übten.  Auch  fand  man  unter 
diefen  Ruinen  zuweilen  einige  Bruchftücke  von  alten 
mufikalifchen  Inftrumenten,  welches  dann  Gelegenheit  gab, 
über  alte  und  neue  Mufik  und  deren  Ausübung  und  Zu? 
I 


140  A.  Gyrowetz.  [278 

ftand  manches  zu  fprechen  und  zu  bemerken,  worin  auch 
Goethe  bewies,  daß  er  einen  richtigen  Begriff  von  gründe 
hcher  und  wohlgeordneter  Mufik  befaß  und  nicht  mit 
denen  gleicher  Meinung  war,  welche  jede  Mufik,  geordnet 
oder  ungeordnet,  für  klaffifch  halten,  wenn  felbe  durch 
bizarre,  ungeregelte  Ideen,  durch  Getöfe  und  Lärm,  oder 
durch  verwirrte  Modulationen  dem  Ohre  fremd  klingt, 
und  fo  etwas  in  der  Mufik  für  neu  halten,  weil  es  eben 
durch  feine  Unregelmäßigkeit  und  Syftemlofigkeit  ihrem 
Ohre  als  ungewöhnlich  erfcheint,  und  womit  fich  manche 
felbfi  verftändig  fcheinende  Mufiker  gröblich  täufchen 
laffen. 

[278.]     Februar.     K.  Ph.  Moritz  an  Herder. 

Ich  würde  es  nicht  gewagt  haben,  die  Zahl  Ihrer 
Korrefpondenten  zu  vermehren,  wenn  nicht  der  Herr 
Geheimrat  von  Goethe,  deffen  langgewünfchte  und  mir 
unfchätzbare  Bekanntfchaft  ich  hier  in  Rom  gemacht  habe, 
mich  felbft  dazu  aufgemuntert,  und  mir  die  Verficherung 
gegeben  hätte,  daß  es  Ihnen  nicht  unangenehm  fein  würde, 
wenn  ich  meinen  Plan,  ein  gemeinnütziges  Werk  über 
die  römifchen  Altertümer  hier  an  Ort  und  Stelle  aus? 
zuarbeiten,  Ihnen  zur  Prüfung  vorlegte,  um  Ihre  Winke 
darüber,  befonders  in  pädagogifcher  Rückficht,  zu  ver? 
nehmen. 

[279.]     Februar  22  und  folgende  Tage.    J.  H.  W.  Tifchbein. 

Am  22.  Februar  1787  reifi:e  ich  mit  Goethe  von 
Rom  nach  Neapel.  Es  wurde  mir  leicht,  ihn  auf  alles 
Sehenswürdige  aufmerkfam  zu  machen,  was  fich  auf  diefem 
Wege  zeigte,  den  ich  fchon  einmal  zurückgelegt  hatte, 
da  mir  die  fchönfien  Stellen  noch  lebhaft  in  Erinnerung 
waren.  Faft  jeder  Stein  von  den  alten  verfallenen  Gräbern 
in  der  Nähe  und  Ferne  wurden  begierig  aufgefucht  und 
ins  Auge  gefaßt.  Zunächft  ging  es  den  Hügel  hinan, 
worauf  Albano  liegt  und  wo  man  eine  große  Fläche  des 
Tibertales  überfieht.  Diefe  Hügel  gaben  Rom  die  große 
Mauer  und  machten  es  zu  dem,  was  es  wurde ;  der  Weg 
geht  bergauf  und  ab.  Unfer  Vetturino  machte  vor  einer 
Ofteria  halt,  welche  an  einem  abhängigen  Wege  lag.  Wir 
ftanden  eben  an  der  fieilen  Wand  diefes  Hohlweges,  um 
die  verfchiedenen  Erdlagen  zu  betrachten,  als  wir  plötz? 
lieh  ein  Geräufch  dicht  hinter  uns  vernahmen.  Indem 
ich  mich   umwandte,   fah   ich   einen  Wagen   mit  Ochfen 


279] Von  Rom  nach  Neapel.    1787. 141 

befpannt  den  fchrägen  Abhang  herunterlaufen.  Der  Wagen 
drückte  fo  gewaltig  auf  die  Ochfen,  daß  fie  ihn  nicht 
aufhalten  konnten.  Dicht  zwifchen  unferer  Sedia  und  uns 
durch  ftürmte  er  herunter  und  der  Führer  lief  ganz  beftürzt 
hinterher.  Man  denke  fich  meinen  Schreck!  Ich,  der 
Begleiter  und  Befchützer  von  Goethe,  hatte  mir  ja  vor? 
gefetzt,  ihn  zu  hüten,  wie  eine  Mutter  ihren  Säugling, 
diefes  Kleinod  für  die  Welt,  diefen  lieben  Freund,  und 
nun  wäre  er  faft  in  einer  Minute  gerädert  worden  und 
ich  mit  ihm!  ^  Die  Gefahr  war  indeffen  fo  blitzfchnell 
vorüber  gegangen,  daß  Goethe  fie  kaum  bemerkt  hatte. 
f^  Auch  die  pontinifchen  Sümpfe  paffierten  wir.  ^^  In 
Neapel  war  unfer  erfter  Weg  zum  Cavaliere  Venuti  ^ 
er  führte  uns  nach  Pompeji,  feine  Gemahlin  und  der 
Kupferftecher  Georg  Hackert  waren  auch  mit.  Nachdem 
wir  uns  lange  an  der  fchönen  Gegend  ergötzt  hatten,  und 
vom  Anfchauen  der  ausgegrabenen  Antiken  und  fo  vieler 
Gegenftände  ermüdet  waren,  gingen  wir  nach  Torre  dell 
Annunziata,  wo  uns  in  einer  Ofteria  ein  Mittagsmahl  er? 
wartete.  Hier  wurde  viel  gefcherzt;  aber  der  rechte  Spaß 
begann  erft  nach  dem  Effen.  Die  Teilnehmer  an  der 
Partie  bewarfen  ßch  mit  Sand  und  balgten  fich  im  Meere. 
Goethe  hatte  fich  vom  Kampfe  abgefondert  und  klopfte 
Stücke  von  den  Felsblöcken,  welche  hier  liegen,  um  die 
Brandung  zu  brechen  und  unterfuchte  die  Steinarten. 

f^  Ich  hatte  Goethen  fchon  vieles  von  meinem  Freunde 
Kniep  erzählt,  von  feinem  ausgezeichneten  Talent  und  der 
großen  Gefchicklichkeit  im  Landfchaftszeichnen,  welchem 
Fache  er  fich  ganz  gewidmet  hatte,  fo  daß  auch  Goethe 
begierig  geworden  war,  ihn  kennen  zu  lernen.  ^  Als 
Kniep  hörte,  daß  auch  Goethe  in  Neapel  fei,  ftieg  feine 
Freude  noch  höher,  und  er  ging  gleich  mit  mir,  um  ihn 
zu  fehen.  Dem  gefiel  er  und  von  nun  an  war  er  täglich 
bei  uns.  Goethe  beftellte  bei  ihm  Zeichnungen  von 
neapolitanifchen  Gegenden,  und  ich  riet  ihm,  fiatt  meiner 
den  Kniep  mit  nach  Sizilien  zu  nehmen;  der  könnte  ihm 
die  fchönften  Gegenden  auf  der  Reife  zeichnen,  und  fo 
entftand  daraus  ein  doppelter  Vorteil:  für  Kniep  wäre 
diefe  Reife  ein  Glück  auf  zeitlebens  und  Goethe  erhielte 
durch  die  Zeichnungen  ein  fichtliches  Andenken  davon. 
Dies  wurde  befchloffen:    Kniep  reifte  mit. 

Beiläufig  muß  ich  doch  noch  eines  mir  intereffanten 
Vorfalles  gedenken,  den  ich  mit  Goethe  in  der  Locanda 
I 


142  J.  H.  W.  Tifchbein.  [280 

di  Mariconi  hatte.  Goethe  forderte  Waffer  zum  trinken, 
und  da  ich  auf  alles  acht  gab,  was  er  zu  fich  nahm,  fo 
bemerkte  ich,  daß  in  dem  Glafe  das  Waffer  trübe  fei, 
warnte  ihn  und  verlangte,  daß  man  ihm  anderes  hole. 
Man  erwiderte,  daß  man  kein  anderes  hätte;  es  fei  gutes, 
gefundes  Waffer  und  aus  der  Zifterne,  woraus  fie  alle 
täglich  tränken.  Wir  befahen  es  genau  und  fanden  es 
voll  lebender  Infekten  von  wunderbaren  Gefialten;  krebse 
und  tafchenkrebsartige ,  mit  Scheren  und  ohne  Scheren, 
aalförmige  ufw.  Goethe  meinte:  Das  Waffer  kann  gut 
fein;  fchmecken  doch  Auftern  und  Krebfe  und  andere 
Meererzeugniffe  gut,  aber  das  nicht  allein,  es  kann  auch 
heilfam  fein.  Er  trank  es,  wir  ließen  uns  die  Zifterne 
zeigen  und  fchöpften  mit  einem  Glafe  aus  dem  Grunde 
die  fchönfien  Gefialten  von  Gefchöpfen  hervor  und  mach* 
ten  dabei  unfere  Betrachtungen  über  die  produzierende 
Natur  in  diefer  warmen  Gegend. 

[280.]     Mai.     Nach  A.  Gyrowetz. 

Zur  nämlichen  Zeit  war  es,  daß  Goethe  aus  Sizilien 
nach  Neapel  zurückkam  und  Gyrowetz  auf  der  Promenade 
al  giardino  reale  traf,  wo  fie  beide  öfters  zufammen  auf:; 
und  abgingen  und  nebft  andern  Gegenftänden  vieles  über 
Mufik  und  den  Zufiand  der  Mufik  in  Italien  überhaupt 
fprachen.  Goethe  bewies  dabei,  daß  er  fehr  große  Kenntnis 
in  der  Mufik  befitze.  Er  behauptete  auch,  daß  die  alten 
italienifchen  Meifi:er  in  ihren  Opern  mehr  contrapunktifche 
Figuren  anzubringen  fuchten  und  mehr  für  den  Sänger, 
als  für  das  Orchefi:er  in  ihrem  Satz  geforgt  hätten.  Auch 
hätten  die  alten  Meifier  vermieden,  die  Stimme  des  Sängers 
durch  fi:arke  Inftrumentierung  und  befonders  durch  zu 
viele  Anwendung  von  Blasinftrumenten  zu  verdecken.  ^ 

Zu  jener  Zeit  wurden  auch  bei  dem  öfi:erreichifchen 
Gefandten  Baron  Thugut  mehre  Konzerte  durch  den  Herrn 
Legationsrat  Hradäwa  veranftaltet,  wozu  auch  Goethe  wie 
Gyrowetz  geladen  wurden.  Als  Gyrowetz  dort  einge^: 
treten  war,  fand  er  Goethe  zwifchen  einer  Türfchwelle, 
die  in  den  großen  Saal  führte,  ganz  allein  und  unbeachtet 
dafiehen.  Gyrowetz  ging  fogleich  zu  ihm  und  fagte  ihm, 
er  möchte  doch  vorwärts  in  den  Saal  fchreiten  und  nicht 
fo  verfteckt  daftehen.  Goethe  dankte  höflich  und  bat, 
man  möge  ihn  nur  ruhig  ftehen  laffen,  er  höre  alles  und 
liebe  nicht,  in  die  große  Welt  zu  treten.    Überhaupt  war 


282] Rom.    1787. 143 

in  diefer  Zeit  das  Benehmen  Goethes  fehr  freundUch,  ja 
fogar  etwas  fchüchtern  und  demütig. 

[281.]     K.  Ph.  Moritz. 

Moritz  fuchte  f^  viel  in  der  Maurerei  und  war  auch, 
bis  zu  feinem  Tode,  feft  überzeugt,  daß  viel  Gutes  da:= 
durch  bewirkt  werden  könne,  wenn  man  fie  recht  zu 
nutzen  verfiehe. 

Er  fahe  indeffen  bald,  daß  dies  wohl  fchwerlich  ge^ 
fchehen  dürfte,  —  daß  feine  großen  Ideen  über  diefen 
Punkt  fromme  Wünfche  fein  und  bleiben  würden  und 
zog  fich  nach  und  nach  mißvergnügt  zurück. 

Ganz  kalt  wurde  er  dagegen  auf  feiner  Reife  in  Italien, 
durch  feine  genauere  Bekanntfchaft  mit  dem  Herrn  Ge? 
heimrat  von  Goethe.  Diefer  große  Mann  hat  in  feinem 
Fauft  deutlich  genug  gezeigt,  wie  wenig  er  von  der 
Maurerei  hält  —  ob  mit  Recht  oder  Unrecht,  bin  ich  zu 
fchwach  zu  entfcheiden. 

Nur  fo  viel  weiß  ich,  daß  feine  Demonftrationen 
und  —  um  ehrlich  zu  fein  —  vielleicht  noch  mehr  fein 
Spott:  Mein  Gott,  und  auch  Sie  können  noch  fo  fchwach 
fein,  darin  etwas  zu  fuchen,  bei  Moritz  die  Wirkung  hervor? 
brachte,  daß  er  nun  das  Kind  mit  dem  Bade  ausfchüttete. 

[282.]     Februar/Oktober.     K.  Ph.  Moritz. 

Ich  habe  dies  alles  mit  dem  Herrn  von  Goethe  über? 
legt,  der  meinen  Entfchluß  auch  billigt.  Sein  Umgang 
kommt  mir  hier  außerordentlich  zuftatten,  faft  alle  Tage 
bringe  ich  einige  Stunden  mit  ihm  zu,  wo  ich  fchon  oft 
meine  Ideen  durch  Mitteilung  derfelben  berichtigt  und  qt^ 
weitert  habe,  und  auf  neue  Ausfichten  geführt  bin.  Er 
ift  mit  meinem  Plane,  durch  die  Stellung  der  Gegenftände 
in  dem  Werk  über  die  Altertümer  gleichfam  den  Geift 
der  Alten  aufzuwecken  und  fichtbar  zu  machen,  und  fo 
viel  wie  möglich  lebendige  Darftellung  hineinzubringen, 
nicht  nur  zufrieden,  fondern  intereffiert  fich  auch  dafür, 
fo  daß  ich  feinen  Rat  und  feine  Aufmunterung  hierbei 
nicht  gern  entbehren  möchte,  da  wir  überdem  fehr  viele 
Sachen  zufammen  in  Augenfchein  nehmen,  welches  mir, 
da  er  in  Kunftfachen  fehr  tiefe  Kenntniffe  befitzt,  vorzüg? 
lieh  nützlich  ift.  Ich  könnte  alsdann,  wenn  ich  noch  den 
Winter  hier  bleibe,  im  künftigen  Frühjahr  mit  ihm  zu? 
gleich  nach  Deutfchland  zurückreifen. 
I 


144  K.  Ph.  Moritz.  [283 

[283.]     Oktober.     K.  Ph.  Moritz. 

Jetzt  fehe  ich  aber  täglich  mehr  ein,  und  lerne  durch 
den  Umgang  mit  dem  Herrn  von  Goethe,  daß  die  Denk^ 
kraft  notwendig  eben  fo  fiark  außer  fich,  als  in  fich  wir^^ 
ken  muß,  wenn  fie  nicht  auf  metaphyfifche  Spitzfindig:^ 
keiten  geraten  und  die  gehörige  Elafiizität  und  Leben  be:= 
halten  foll. 

Es  kommt  mir  außerordentlich  zuftatten,  daß  ich  mit 
dem  Herrn  von  Goethe  beftändig  meine  Ideen  wechfeln 
kann,  und  ich  bin  dadurch  fchon  auf  vortreffliche  Grunde 
fätze  geleitet  worden. 


1788. 

[284.]     Anfang  d.  J.     Graf  A.  v.  Platen. 

Der  Bildhauer  J.  Chrißen  erzählte,  Goethe  und  Meyer 
wären  fo  gute  Freunde,  daß  wahrfcheinlich  einer  dem 
andern  nachfierben  würde.  In  Rom  hätten  fie  immer  in 
einem  Bette  gefchlafen.  Er  (Chriften)  habe  '^  in  Rom 
in  einem  Haufe  mit  ihm  gewohnt.  Goethe  hätte  damals 
viel  Satirifches  in  feinem  Wefen  gehabt,  und  zum  Bei^ 
fpiel  Dannekern,  der  damals  auch  in  Rom  gewefen,  hätte 
er  immer  einen  Windbeutel  geheißen. 

[285.]     April  21.    J.  v.  Unger. 

Ein  fehr  angenehmes  Haus,  in  welchem  ich  in  Rom 
im  Winter  1847/48  durch  eine  Empfehlung  von  Ottilie 
von  Goethe  Zutritt  fand,  war  das  des  Dänen  Thygefon. 
Einmal  wöchentlich  war  dort  jour  fixe.  Eines  Abends  er^ 
fchien  dort  ein  fehr  alter  aber  auffallend  fchöner  Mann 
mit  einer  gleichfalls  fehr  fchönen  Dame  von  etwa  30  Jahren. 
Es  war  der  fchwedifche  Konfifiorialrat  Baron  Gyldenftubbe 
und  feine  Enkelin,  Frau  von  H.  Der  alte  Herr,  welcher 
fehr  gut  deutfch  fprach,  war  über  meine  Höflichkeit  fehr 
erfreut  und  ebenfofehr  über  den  jugendlichen  Enthufias;; 
mus,  mit  dem  ich  von  Rom  fprach.  Ich  war  in  Ihrem 
Alter,  fagte  er,  als  ich  zum  erften  Male  in  Rom  war,  es 
ifi  mir,  als  wenn  ich  mich  felbft  fprechen  hörte.  Ich  habe 
damals,  es  ift  über  60  Jahre  her,  Rom  mit  der  feften  Ab? 
ficht  verlaffen,  es  wieder  zu  fehn;  Sie  fehen,  ich  habe  fie 
ausgeführt. 


286]  Rom  -  Weimar.     1788.  145 

Das  ift  in  Ihrem  Alter  ein  wahres  Heldenfiück,  fprach 
einer  der  Zuhörer;  denn  Sie  find  doch  gewiß  80  Jahr  alt, 
Herr  Baron.  Wo  denken  Sie  hin!  erwiderte  er,  ich  bin 
93  Jahre  alt.  Und  da  unternehmen  Sie  noch  eine  folche 
Reife,  bloß  um  Rom  wiederzufehen?  Nicht  darum  allein; 
ich  hatte  noch  einen  andern  Grund:  ich  bin  hierher  ges^ 
kommen  um  hier  zu  fierben.  Und  weshalb  wollten  Sie 
das  nicht  in  Ihrem  Vaterlande? 

Ach,  das  follen  Sie  wiffen.  Bei  meinem  erften  Aufent^ 
halt  in  Rom  lernte  ich  Goethe  kennen,  und  wir  fchloffen 
uns  fehr  eng  aneinander  an;  denn  wir  harmonierten  wuns^ 
derbar  miteinander.  Eines  Abends  fliegen  wir  zufammen 
vom  Monte  Testaccio  herab,  und  lagerten  uns  neben  die 
Pyramide  des  Ceftius  auf  dem  Kirchhofe,  wo  fchon  da? 
mals  die  Proteftanten  begraben  wurden.  Goethes  Abreife 
•ftand  bevor;  er  war  in  höchftem  Grade  ergriffen,  und 
konnte  den  Gedanken  noch  gar  nicht  faffen,  fich  von  Rom 
trennen  und  nach  Deutfchland  zurückkehren  zu  muffen. 
O,  rief  er,  hier  tot  zu  liegen,  das  wäre  ja  fchön,  unend? 
lieh  fchöner,  als  in  Deutfchland  zu  leben.  Höre,  Wolfs: 
gang,  fprach  ich  zu  ihm,  Du  haft  noch  eine  große  Aufs 
gäbe  zu  erfüllen,  darum  mußt  Du  leben,  aber  was  hin? 
dert  Dich,  hier  neben  der  Pyramide  des  Ceitius-JQeine 
JAfTf^  Fiihpftnttf  7n  fiirbfn*^  Du  haft  recht,  rief  er  auf? 
rpringend,  das  will  ich,  aber  Du  mußt  es  auch  tun!  dann 
vereinigt  auch  uns  beide  der  Tod  wieder.  —  Schwöre  mir, 
daß  wir  beide  im  Tode  hier  wieder  zufammentreffen  wer:« 
den.  Ich  fchwöre  es  Dir,  fprach  ich;  dann  fchloffen  wir 
einander  lange  und  feft  in  die  Arme.  Am  folgenden  Tag 
reifte  er  ab  —  und  ich  habe  ihn  nicht  wieder  gefehen. 

[286.]     (Juli.)     Herder. 

Goethe  hat  gut  reden;  alle  feine  Ratfchläge  in  An? 
fehung  Roms  taugen  nicht;  er  hat  wie  ein  Künftlerburfche 
hier  gelebt.  Da  fchwätzt  er  und  warnt  mich  vor  dem 
fchwarzen  Rock,  und  macht,  daß  ich  den  meinigen  nicht 
mitnehme,  und  nun  muß  ich  mir  einen  hier  machen  laffen, 
weil  ich  mit  keinem  andern,  auch  keinem  geftickten,  der 
immer  nur  Frack  ift,  in  eine  Gefellfchaft  kommen  kann, 
~  und  fo  hat  er  mehr  geredet;  ich  habe  mich  manchmal 
fchon  über  ihn  geärgert,  daß  ein  Menfch,  der  zwei  Jahre 
in  Rom  gewefen  ift,  einen  fo  ziehen  läßt. 

I  10 


146  Caroline  Herder.  [287 

[287.]     Auguft  7,     Caroline  Herder  an  ihren  Gatten. 

Goethe  kam  auch  heute  wieder  und  fagte  mir  die 
heften  Folgen  Deiner  Reife  vor.  Unter  andern  fagte  er 
auch,  daß  er  vierzehn  Tage  vor  der  Abreife  aus  Rom  tag? 
lieh  wie  ein  Kind  geweint  habe. 

[288,]     Auguft  8.     Caroline  Herder  an  ihren  Gatten. 

Elifa  Gore  will  Dir  das  nächfiemal  fchreiben.  Sie  hat 
zwei  Briefe  aus  Werther  überfetzt  ins  Italienifche ;  da  wir 
dabei  waren,  kam  Goethe.  Sie  hat  ein  fehr  warmes  Herz 
für  ihn,  und  konnte  nicht  mehr  lange  bleiben.  Goethe 
grüßt  Dich  taufend^taufendmal.  Er  empfindet  Deine  Ab? 
wefenheit  nach  mir  am  meiften.  Durch  Dein  Gefpräch, 
durch  die  Aufnahme  feiner  Gedanken  und  Mitteilung  der 
Deinigen,  die  ihm  forthelfen,  hatteft  Du  ihm  viel  gedient. 
Mit  Knebel,  fagt  er,  fei  das  nicht  fo.  Auch  im  Politik 
fchen  fieht  er,  daß  nichts  zu  tun  fei.  EFTiat  fehr  offen 
daruHeFgelprochen,  das  lieh  aber  nicht  fchreiben  läßt  und 
Du  alles  felbft  fchon  weißt.  Sobald  der  Herzog  fort  ift, 
will  er  an  den  achten  Band  feiner  Werke  gehen.  Will 
dies  Jahr  noch  viel  arbeiten.  Sein  Motto  ift  abermals: 
Wenn  Du  ftille  bift,  wird  Dir  geholfen. 

[289.]     Auguft  14.     Caroline  Herder  an  ihren  Gatten. 

Eben  war  Goethe  da,  er  hat  viel  Luftiges,  ich  möchte 
fagen.  Betäubendes  über  feine  häusliche  menfchliche  Situa? 
tion  gefagt  —  es  war  aber  in  allem  fo  viel  Klarheit  und 
Richtigkeit,  daß  das  Betäuben  nicht  ftatt  hat.  Er  hat  nun 
alles  Glück  und  Wohlfein  auf  Proportion,  und  das  Un? 
glück  auf  Disproportion  reduziert.  Ihm  fei  es  jetzt 
gar  wohl,  daß  er  ein  Haus  habe,  Effen  und  Trinken  hätte 
und  dergleichen.  Alles  was  Du  in  Deinen  drei  Bänden  der 
Ideen  zur  Philofophie  der  Gefchichte  der  Menfchheit  von 
den  Tataren  bis  zu  den  Römern  gefchrieben  hätteft,  käme 
alles  darauf  hinaus,  daß  ein  Menfch  ein  Hauswefen  be? 
fäße,  —  und  (fetzte  ich  hinzu)  mit  Vernunft  fich  regierte! 

Das  ift  der  kurze  Auszug  unferes  Gefprächs,  das  wir 
mit  ziemlich  guter  Laune  gehalten  haben. 

[290.]     Auguft  14.     Caroline  Herder  an  ihren  Gatten. 

Goethe  befucht  mich  fleißig;  er  war  geftern  da,  ich 
habe  Dir  im  Brief  der  Herzogin  etwas  vom  Gefpräch  er? 


292] Weimar.    1788. 147 

zählt.  Im  ganzen  will  es  mir  nicht  wohl  mit  ihm  werden. 
Er  lebt  jetzt  ohne  feinem  Herzen  Nahrung  zu  geben.  Die 
Stein  meint,  er  fei  finnlich  geworden,  und  fie  hat  nicht 
ganz  unrecht.  Das  Hofgehen  und  Hofeffen  hat  etwas 
für  ihn  bekommen.  Er  will  fich  diefen  Winter  ganz  an 
die  Herzogin  halten;  das  fei  die  einzige,  die  ihm  geblieben. 
Mitunter  follte  ich  und  die  Imhof  zu  ihm  zu  Tee  kommen. 
Ich  fagte  ja,  wenn  die  Stein  mitkäme.  Ach,  mit  der  ift 
nicht  viel  anzufangen,  fagte  er;  fie  ift  verftimmt,  und  es 
fcheint  nicht,  daß  etwas  werden  will.  Ich  nahm  ihre  Par^; 
tie  fo  gut  ich  konnte;  ich  glaube  aber  nicht,  daß  er  ihr 
entgegengeht. 

[291.]     Auguft  17.     Caroline  Herder  an  ihren  Gatten. 

Goethe  befucht  mich  meiftens  all  andern  Tag.  Er 
war  geftern  Nachmittag  da.  Er  ift  beinah'  wie  ein  Cha:^ 
mäleon;  bald  bin  ich  ihm  gut,  bald  nur  halb.  Er  will 
fich  auch  nie  zeigen  und  nimmt  fich  vor  jeder  Äußerung 
in  acht,  daraus  man  Schlüffe  machen  könnte ;  darum  ändert 
er  auch,  glaube  ich,  fo  oft  die  Reden.  Jetzt  fchreibt  er 
fein  Pflanzenfyftem  auf  und  erwartet  Dich  künftiges  Jahr 
mit  Verlangen  dazu;  er  will's  ins  Lateinifche  überfetzen 
und  Du  follft  es  korrigieren.  Dabei  war  nun  zu  hören, 
daß  er  auf  einige  Jahre  Arbeit  fich  zugefchnitten  hat.  Er 
hat  das  erfte  Buch  und  das  übers  Chriftentum  Deiner 
Ideen  gelefen  und  hat  großes  Wohlgefallen  daran;  im 
erften  Buch  hätteft  Du  dem  Gewirr  der  Völker  ein  eignes 
Intereffe  dadurch  gegeben,  daß  Du  fie  auf  den  Urfprung 
zurückgeführt.  Dem  Rom  und  Papft  hätteft  Du  auch  Ge^^ 
rechtigkeit  widerfahren  laffen,  indem  Du  gezeigt,  was  fie 
getan  ufw.  Deutlich  kann  ich's  nicht  fo  recht  wieder^: 
holen;  ich  fagte  ihm,  er  möchte  Dir  einmal  ein  Wort  dar* 
über  fchreiben. 

[292.]     Auguft  25.     Caroline  Herder  an  ihren  Gatten. 

Den  25.  wurde  dem  guten  Adelbert  zum  Geburtstag 
das  Tifchchen  gedeckt.  ^  Um  1 1  Uhr  kam  Knebel  und 
bald  darauf  Goethe;  zugleich  kam  auch  das  Paketchen 
Bücher  aus  Nürnberg,  und  das  Jubeln  der  Kinder  war 
lehr  groß.  ^  Ich  las  aus  dem  Brief  Goethe  und  Knebeln 
vor  und  fie  hatten  beide  gleiche  Freude  mit  mir;  nicht 
genug  können  fie  die  gute  Art  und  das  reingewafchene 
Auge  loben,  mit  dem  Du  alles  fieheft  und  fo  vielfach 
I  10* 


I 


148  Caroline  Herder.  [293 

fieheft.  Goethe  intereffiert  das  um  fo  mehr,  da  er,  wie  er 
fagte,  nur  eine  Sache  fähe.  Nun  wurde  der  Pack  aufge? 
macht.  Goethe  bekam  feinen  Brief  oder  vielmehr  Ge? 
dichte.  Emil  maßte  fich  den  Pack  Pfefferkuchen  an.  ~ 
Goethe  und  Knebel  aßen  von  allem  mit.  ~  Goethe  war 
fehr  gut.  Ich  lobte  ihn,  daß  er  zu  diefer  guten  Stunde 
gekommen,  da  er  die  ganze  Woche  nicht  dagewefen  fei. 
Ja,  fagte  er,  ich  war  fchon  auf  dem  Weg  nach  meinem 
Garten  und  mußte  umwenden;  es  trieb  mich  her,  nicht 
die  Liebe,  fondern  vielleicht  die  Verzweiflung.  Ich  ging 
foeben  vom  Herzog  weg.  Nun  war  von  feinem  Geburts^^ 
tag  die  Rede;  ich  erinnerte  ihn  an  unfern  Gott  [von  Her^ 
derjy  den  er  voriges  Jahr  erhalten  hatte.  Da  bekam  ich,  fagte 
er  lächelnd,  den  Gott,  um  dies  Jahr  an  keinen  zu  glauben. 
Es  muffen  unangenehme  Dinge  durch  fein  Gemüt  gehen. 

[293.]     Auguft.     Caroline  Herder. 

f^  Goethe  meinte,  für  eine  Frau  wäre  es  immer  an? 
genehmer  mit  zwei  Herren  als  in  der  Herzogin  Wagen  mit 
zwei  Erauen  zu  fahren.   Dazu  habe  ich  Ja  und  Amen  gefagt. 

[294.]     Auguft.     Schiller. 

Goethen  habe  ich  noch  nicht  gefehn;  aber  Grüße 
find  unter  uns  gewechfelt  worden.  Er  hätte  mich  befucht, 
wenn  er  gewußt  hätte,  daß  ich  ihm  fo  nah  am  Wege 
wohnte,  wie  er  nach  Weimar  reifte. 

[295.]     Auguft  26./29.     Caroline  Herder  an  ihren  Gatten. 

Goethe  war  diefe  Woche  noch  zweimal  da;  er  lieft 
noch  an  Deinem  vierten  Teil  der  Ideen.  Die  wilden  VöU 
ker,  Attila,  Geiferich  und  Konforten  haben  ihn  fehr  inter^^ 
effiert;  er  hat  viel  davon  gefprochen  und  wird  Dir  fchrei? 
ben.  Er  meint,  wenn  Du  wieder  kommft,  wirft  Du  dem 
Werk  einen  eignen  Glanz  geben,  aber  in  der  Grundidee 
nichts  ändern  können,  weil  alles  unvergleichlich  und  glück? 
lieh  gedacht  und  geftellt  fei.    Er  war  fehr  heiter  und  gut. 

[296.]     Auguft  Ende/September  Anfang.     Caroline  Herder. 

Mit  Bezug  auf  die  Reife  der  Baronin  v.  Seckendorf,  um  fich 
den  nach  Italien  reifenden  Geiftlichen,  Herder  und  Domherr 
Frh.  V.  Dalberg,  anzuschließen. 

Goethe  ift  recht  billig.  Wie  Herder  die  Sache  mit 
der  Seckendorf  anfleht,  fo  ift  fie,  fagte  er;  nimmt  er  lie 
gut  auf,  fo  ift  fie  gut. 


298]  Kochberg  -  Rudolftadt.    1788.  149 

[297.]  September  erftes  Drittel.  Caroline  Herder  an  ihren  Gatten. 
Aus  Deinem  Briefe  aus  Innsbruck  war  genug  zu  ahnen. 
Ich  fagte  nur  wenige  Worte  an  Goethe,  da  antwortete  er: 
Er  wird  ItaUen  fchnell,  aber  gut  fehen;  im  Juni  eilt  er 
wieder  zu  Ihnen.  Es  ift  alles  aufs  höchlte  auf  die 
Seckendorf  aufgebracht  und  das  mit  Recht,  aus  doppelter 
Urfache:  Euch  die  Reife  zu  verderben,  fieht  ein  jeder, 
und  dann  die  weibliche  Ehre  fo  ganz  zu  beleidigen.  ^^ 
In  Rom  kann  Dalberg  die  Seckendorf  nicht  bei  fich 
haben;  das  ift  gegen  alle  Sitte,  man  duldet  es  fogar  nicht. 
Goethe  zuckt  darüber  die  Achfeln.  In  Neapel,  fagt  er, 
ift  das  alles  erlaubt,  nur  in  Rom  nicht. 

[298.]     September  4./8.     Caroline  Herder  an  ihren  Gatten. 

Goethe  fagte  neulich  einmal:  Man  reift  ja  nicht,  um 
anzukommen,  fondern  um  zu  reifen. 

Ehe  ich  weiter  fchreibe,  will  ich  Dir  auch  etwas  von 
der  Kochberger  Fahrt  fagen.  —  Den  5.  früh  6  Uhr 
fuhren  wir  ab:  Goethe,  die  kleine  Schardt,  ich  und  Fritz 
von  Stein.  Der  fchönfte  Himmel  war's,  kein  Wölkchen 
den  ganzen  Tag;  wir  waren  alle  gleich  heiter  geftimmt. 
Die  Schardt  ward  über  ihre  Zuneigung  zu  den  Engländern 
fehr  railliert,  Goethe  hat  ihr  vornehmes  und  borniertes 
Wefen  detailliert,  ift  über  das  Betragen  des  Hofes  gegen 
fie  ziemlich  pikiert  und  hat  offen  und  fehr  vernünftig 
darüber  geredet.  Um  halb  1 1  Uhr  hatten  wir  den  ftoßigen 
Weg  geendigt.  Lotte  Lengefeld  kam  zuerft,  uns  zu  emp:; 
fangen,  dann  die  Frau  von  Stein,  die  uns  alle  freundUch 
empfing,  doch  ihn  [Goethe]  ohne  Herz.  Das  verftimmte 
ihn  den  ganzen  Tag.  Wir  fahen  Zeichnungen,  die  er 
mitgebracht.  Nachmittag  fchlief  er,  und  abends  las  ich 
ihr  Stellen  aus  Deinen  Briefen  vor.  Das  gab  nun  eine 
allgemeine  Wärme  und  Teilnehmung.  Tags  vorher  hatte 
Goethe  dem  Prinz  Auguft  und  dem  Herzog  über  das 
Chriftentum  aus  den  Ideen  vorgelefen,  die  es  außerordent^j 
lieh  erfreut  hatte.  Da  bekam  er  nun  in  Kochberg  einen 
Brief  hierüber,  den  er  Dir  fchicken  wird.  Wir  fprachen 
viel  von  Dir.  Der  andere  Tag  war  in  allem  diefem  gleich, 
nur  daß  Goethe  einiges  las,  das  er  in  den  Merkur  geben 
will,  etwas  über  die  Kunft,  Beobachtungen  über  die 
Witterung  und  von  der  heiligen  Rofalia  in  Palermo.  «^ 
Den  Sonntag  ging's  nach  Rudolftadt  ins  Lengefeldifche 
Haus,  das  eine  herzgute  Familie  ift.  Schiller  war  auch 
I 


150  Caroline  Herder.  [298 

da;  Goethe  betrug  fich  gut  gegen  ihn  und  es  war  eine 
gute  Stimmung.  Die  Gegend  ift  fchön.  Abends  nach 
Kochberg  im  Mondfchein.  Goethe  fagte  das  Gedicht  über 
die  Rofenkreuzer  [Die  Geheimnijfe]  und  erzählte  aus  dem 
Taffo.  Den  andern  Tag  ging's  wieder  nach  Haufe  über 
Orlamünde  und  Jena  in  dem  unvergleichlichen  Saaltal  und 
fchönften  Wetter.  Durch  Schillers  Gedicht  im  Merkur 
über  die  Götter  Griechenlands,  das  Du  kennft,  kam  Goethe 
auf  die  Eigenfchaften,  die  die  Alten  in  ihren  Göttern  und 
Helden  in  der  Kunfi  dargeftellt  haben,  wie  es  ihm  ge? 
glückt  fei,  den  Faden  des  Wie  hierin  gefunden  zu  haben. 
Er  hat  hierüber  mit  Dir,  da  ich  auch  zuhörte,  viel  ge? 
fprochen.  Die  ganze  Idee  Hegt,  wie  es  mir  dünkt,  wie 
ein  großer  Beruf  in  feinem  Gemüt.  Er  fagte  endlich: 
Wenn  Ludwig  XIV.  noch  lebte,  fo  glaubte  er  durch  feine 
Unterftützung  die  ganze  Sache  ausführen  zu  können;  er 
hätte  einen  Sinn  für  das  Große  gehabt;  mit  10  bis  12000 
Reichstalern  des  Jahrs  könnte  er's  in  zehn  Jahren,  in  Rom 
allein,  verfteht  lieh's,  ausführen.  Der  moralifche  Sinn 
darinnen  hat  mich  fehr  gerührt.  Ihr  beide  geht  wie  zwei 
Genien  der  Menfchheit  zu  Einem  Ziel.  Gar  fchön  war's, 
wie  er  fagte,  daß  ein  einzelner  Menfch  nie  einen  Charakter 
in  dem  höchften  Ausdruck  haben  könne;  er  würde  nicht 
leben  können;  er  müßte  vermifchte  Eigenfchaften  haben, 
um  zu  exiftieren.  Er  war  in  der  Stunde,  da  er  dies  alles 
fprach,  recht  in  feinem  Himmel,  und  wir  haben  ihm  ends; 
lieh  verfprechen  muffen,  mit  niemand  davon  zu  reden. 
Du  warft  natürlich  nicht  darunter  begriffen;  denn  Du 
gehörfi  ja  ganz  eigentlich  und  allein  zu  diefem  Gefpräch. 
Dich  vermißt  er  je  länger  je  mehr.  Mit  Knebel  kann 
er  über  nichts  reden,  fagte  er;  Du  verftehft  ihn  und  hilfft 
ihm  vorwärts  durch  Dein  Studium.  In  Jena  aßen  wir 
den  Mittag  bei  Knebel,  der  durch  die  hiefige  Wirtfchaft 
ziemlich  verftimmt  war.  ^ 

Gehe  ja  gleich  aufs  Land  nach  Tivoli  ufw.,  damit  das 
schwere  Rom  Dich  nicht  fo  fehr  drückt.  Goethe  fagte, 
wenn  er  wieder  nach  Rom  käme,  würde  er  von  12  Uhr 
bis  2  fchlafen,  die  Stunden  vor  dem  Effen.  Viele  täten 
es  fo  und  befänden  (ich  wohl.  Einen  feidnen  Gürtel, 
der  dort  morgens  und  abends  getragen  wird,  unter  der 
Wefte,  kaufe  ja  bald  und  vergeffe  ihn  befonders  des 
Abends  nicht;  man  trägt  ihn  in  der  Tafche  mit  fich,  um 
ihn  immer  zu  haben. 


300]  Kochberg  -  Rudolftadt.    1788.  151 

[299.]     September  7.     Caroline  Herder  an  ihren  Gatten. 

Über  die  Götter  und  Helden  will  ich  Dir  doch 
etwas  fagen,  was  ich  damals  beiläufig  von  Goethe  gehört 
habe,  als  er  von  den  Charakteren  in  den  Bildfäulen 
fprach,  als  wir  von  Kochberg  zurückfuhren.  Es  ift  felbft 
fchwer  einen  echten  und  wahren  Götter?  und  Heldenkopf 
unter  den  alten  aufzufinden.  Der  Künftler  hat  oft,  wenn 
er  diefen  oder  jenen  ehren  wollte,  fein  Porträt  zum  Gott 
oder  Helden,  oder  jenes  Frauenporträt  zur  Göttin  ge? 
nommen.  Dazu  gehört  ein  Studium,  die  echten  Ideale 
aufzufinden.  Vielleicht  weißt  Du  dies  fchon,  oder  es 
wird  Dich  aufmerkfam  machen.  Wenn  Goethe  begünfiigt 
würde  durch  Glück,  Geld  und  Künftler  in  Rom,  fo  glaube 
ich  gewiß,  daß  er  jeden  menfchlichen  Charakter  vom 
Scheitel  bis  zur  Fußfohle,  wie  er  glaubt,  herausbringen 
könnte.  Dies  fcheint  tief  in  feiner  Seele  zu  liegen.  Sage 
aber  um  Gottes  willen  keinem  etwas  davon,  weder  Angelica 
noch  den  Malern!  Wir  haben  ihm  ein  heiliges  Still:; 
fchweigen  angeloben  muffen. 

[300.]     September  5/7.     Charlotte  v.  Kalb. 

Diefen  Sommer  war  Goethe  auf  einige  Monate  in 
Weimar  anwefend  und  während  diefer  Zeit  waren  zu? 
weilen  Partien,  wo  fich  die  Bekannten  vereinigten.  Die 
Unterhaltung  war  nicht  fo  teilnehmend  und  lebhaft  wie 
früher;  fpärlich  war  die  Rede  und  der  Ausdruck  erftarrte 
meift  auf  den  Lippen,  es  herrfchte  oft  feierliches  Schweigen 
und  gleich  froftiges  Meinen  und  Sinnen. 

Einen  Tag  verlebten  wir  bei  Frau  v.  Stein  zu  einer 
Kollation.  Goethe  ftand  am  Fenfter,  hatte  eine  Glasfeheibe 
in  der  Hand  und  einen  Bogen,  zeigte,  wie  bei  jeder  Be? 
wegung  des  Bogens  der  Sand  auf  dem  Glafe  verfchiedene 
Figuren  bildete.  Das  Geringfte  war  ihm  bedeutend,  was 
zum  Gefetz  der  Ordnung  gehörte,  und  fo  intereffierte  ihn 
dies  wunderbare  Spiel  lebhaft;  und  wie  unzerfiörbar  die 
geheimnisvolle  Ordnung  der  Natur,  konnte  wohl  auch 
dies  Experiment  beweifen;  die  Winde  zerftreuen  den 
feinen  Sand,  der  leife  Strich  des  Bogens  zwingt  die 
Körnchen  zu  beftimmten  fchönen  Formen.  Es  befchäf? 
tigten  uns  feine  Verfuche  in  lebendig  angeregter  Teilnahme 
mit  ihm. 


152 Schiller. [301 

[301.]     September  7.     Schiller  an  Körner. 

Endlich  kann  ich  Dir  von  Goethe  erzählen,  worauf 
Du,  wie  ich  weiß,  fehr  begierig  warteft.  Ich  habe  ver? 
gangenen  Sonntag  beinahe  ganz  in  feiner  Gefellfchaft  zu? 
gebracht,  wo  er  uns  mit  der  Herder,  Frau  von  Stein  und 
der  Frau  von  Schardt,  der,  die  Du  im  Bad  gefehen  haft,  be? 
fuchte.  Sein  erfier  Anblick  Itimmte  die  hohe  Meinung 
ziemlich  tief  herunter,  die  man  mir  von  diefer  anziehenden 
und  fchönen  Figur  beigebracht  hatte.  Er  ift  von  mittlerer 
Größe,  trägt  fich  fteif  und  geht  auch  fo;  fein  Geficht  ift 
verfchloffen,  aber  fein  Auge  fehr  ausdrucksvoll,  lebhaft, 
und  man  hängt  mit  Vergnügen  an  feinem  Blicke.  Bei 
vielem  Ernft  hat  feine  Miene  doch  viel  Wohlwollendes 
und  Gutes.  Er  ift  brünett  und  fchien  mir  älter  auszu? 
fehen,  als  er  meiner  Berechnung  nach  wirklich  fein  kann. 
Seine  Stimme  ift  überaus  angenehm,  feine  Erzählung  fließend, 
geiftvoll  und  belebt;  man  hört  ihn  mit  überaus  vielem 
Vergnügen;  und  wenn  er  bei  gutem  Humor  ift,  welches 
diesmal  fo  ziemlich  der  Fall  war,  fpricht  er  gern  und  mit 
Intereffe.  —  Unfere  Bekanntfchaft  war  bald  gemacht  und 
ohne  den  mindeften  Zwang;  freilich  war  die  Gefellfchaft 
zu  groß  und  alles  auf  feinen  Umgang  zu  eiferfüchtig,  als 
daß  ich  viel  allein  mit  ihm  hätte  fein  oder  etwas  anderes 
als  allgemeine  Dinge  mit  ihm  fprechen  können.  Er  fpricht 
gern  und  mit  leidenfchaftlichen  Erinnerungen  von  Italien; 
aber  was  er  mir  davon  erzählt  hat,  gab  mir  die  treffendfte 
und  gegenwärtigfte  Vorftellung  von  diefem  Lande  und 
diefen  Menfchen.  Vorzüglich  weiß  er  einem  anfchaulich 
zu  machen,  daß  diefe  Nation  mehr  als  jede  andere  euro:= 
päifche  in  gegenwärtigen  Genüffen  lebt,  weil  die  Milde 
und  Fruchtbarkeit  des  Himmelsftriches  die  Bedürfniffe 
einfacher  macht  und  ihre  Erwerbung  erleichtert.  —  Alle 
ihre  Lafter  und  Tugenden  find  die  natürlichen  Folgen 
einer  feurigen  Sinnlichkeit.  Er  eifert  fehr  gegen  die  Be? 
hauptung,  daß  in  Neapel  fo  viele  müßige  Menfchen  feien. 
Das  Kind  von  fünf  Jahren  foll  dort  fchon  anfangen  zu 
erwerben;  aber  freilich  ift  es  ihnen  weder  nötig  noch 
möglich,  ganze  Tage,  wie  wir  tun,  der  Arbeit  zu  widmen. 
In  Rom  ift  keine  Debauche  mit  ledigen  Frauenzimmern, 
aber  defto  hergebrachter  mit  verheirateten.  Umgekehrt 
ift  es  in  Neapel.  Überhaupt  foll  man  in  der  Behandlung 
des  anderen  Gefchlechts  hier  die  Annäherung  an  den 
Orient  fehr  ftark  wahrnehmen.     Rom,  meint  er,  muffe  fich 


302] Rudolftadt  -  Weimar.    1788. 155 

erft  durch  einen  längeren  Aufenthalt  den  Ausländern 
empfehlen.  In  Itahen  foll  fich's  nicht  teurer  und  kaum 
fo  teuer  leben,  als  in  der  Schweiz.  Die  Unfauberkeit 
fei  einem  Fremden  faft  ganz  unausftehlich. 

Angelica  Kaufmann  rühmt  er  fehr,  fowohl  von  feiten 
ihrer  Kunft,  als  ihres  Herzens.  Ihre  Umftände  follen 
äußerft  glückUch  fein;  aber  er  fpricht  mit  Entzücken  von 
dem  edlen  Gebrauch,  den  fie  von  ihrem  Vermögen  macht. 
Bei  allem  ihrem  Wohlftande  hat  weder  ihre  Liebe  zur 
Kunft,  noch  ihr  Fleiß  nachgelaffen.  Er  fcheint  fehr  in 
diefem  Haufe  gelebt  zu  haben  und  die  Trennung  davon 
mit  Wehmut  zu  fühlen. 

Ich  wollte  Dir  noch  mehreres  aus  feiner  Erzählung 
mitteilen,  aber  es  wird  mir  erft  gelegentlich  einfallen.  Im 
ganzen  genommen  ift  meine,  in  der  Tat  große  Idee  von 
ihm  nach  diefer  perfönUchen  Bekanntfchaft  nicht  ver^; 
mindert  worden;  aber  ich  zweifle,  ob  wir  einander  je 
fehr  nahe  rücken  werden.  Vieles,  was  mir  jetzt  noch 
intereffant  ift,  was  ich  noch  zu  wünfchen  und  zu  hoffen 
habe,  hat  feine  Epoche  bei  ihm  durchlebt;  er  ift  mir  (an 
Jahren  weniger,  als  an  Lebenserfahrungen  und  Selbftent^ 
Wickelung)  fo  weit  voraus,  daß  wir  unterwegs  nie  mehr 
zufammenkommen  werden;  und  fein  ganzes  Wefen  ift 
fchon  von  Anfang  her  anders  angelegt,  als  das  meinige, 
feine  Welt  ift  nicht  die  meinige,  unfere  Vorftellungsarten 
fcheinen  wefentlich  verfchieden.  Indeffen  fchließt  fich's 
aus  einer  folchen  Zufammenkunft  nicht  ficher  und  gründe 
lieh.     Die  Zeit  wird  das  Weitere  lehren. 

Diefer  Tage  geht  er  nach  Gotha,  kommt  aber  gegen 
Ende  des  Herbftes  wieder  zurück,  um  den  Winter  in 
Weimar  zu  bleiben.  Er  fagt  mir,  daß  er  Verfchiedenes 
in  den  Merkur  geben  v/erde;  ob  er  auf  nächfte  Öfteres 
meffe  feine  Schriften  endigen  würde,  macht  er  zweifelhaft. 
Jetzt  arbeitet  er  an  Feilung  feiner  Gedichte. 

[302.]     September  22.     Caroline  Herder  an  ihren  Gatten. 

Ich  fchreibe  Dir  heute  fchon  wieder:  die  Affäre  des 
Geldes  kränkt  mich  aber  je  länger  je  mehr.  Je  länger 
ich  darüber  nachdenke,  je  unedler  und  niedriger  finde 
ich's,  daß  Dich  Dalberg  bezahlen  läßt.  Er  hat  Dir  die 
Reife  angetragen,  er  wußte  fo  gut,  als  wir,  daß  Du  nicht 
in  der  Verfaffung  bift,  eine  Reife  nach  Italien  zu  untere: 
nehmen,  noch  weniger  mit  ihm  al  Barone  zu  bezahlen. 
I 


154  Caroline  Herder. [302 

Unfre  Gutheit  fpielt  uns  eben  immer  üble  Streiche,  und 
in  der  erften  Aufwallung  und  Teilnehmung  an  Deinem 
Verdruß  dachte  ich,  ich  könnte  und  müßte  Dir  Geld 
fchaffen,  wenn  auch  gleich  zu  unferm  Nachteil.  Die  Sache 
wird  mir  aber  je  länger,  je  wichtiger,  ich  habe  daher 
gegen  Dein  Verbot  gehandelt  und  in  Zeiten,  ehe  wir 
etwas  durch  gutherzige  Übereilung  verderben,  Goethe  um 
Rat  gefragt.  Wie  ihn  das  ganze  Betragen  indigniert  hat, 
kann  ich  Dir  nicht  fagen.  An  dem  allen  ift  freilich  nie^ 
mand,  als  die  Seckendorf  fchuld;  Dalberg  felbft  ift  aber 
äußerft  fchwach,  daß  er  Dein  Anerbieten  des  Mitbezahlens 
angenommen  hat.  Jetzt  muffen  wir  darauf  denken,  daß 
wir  in  kein  größeres  Labyrinth  kommen  ohne  unfere 
Schuld.  Das  Refultat  unferer  Beratfchlagung  hierüber  ift 
diefes.  Das  Geld,  was  ich  Dir  diefen  Winter  bis  Oftern 
erfparen  kann,  —  muffen  wir  als  einen  Hinterhalt  zu  Deiner 
Rückreife  aufheben.  Du  felbft  mußt  nun  mit  Dalberg 
mündlich  und  allein,  nur  um  Gottes  willen  nicht 
fchriftlich,  durch  einen  Brief  etwa,  fprechen,  ihm 
ungefähr  dies  fagen:  Du  hätteft  die  Reife  auf  fein  An:; 
erbieten  mit  ihm  unternommen.  Er  wüßte  fo  wohl  wie 
Du,  daß  Du  nicht  mit  Frau  und  fechs  Kindern  in  dem 
Verhältnis  wäreft,  eine  folche  Reife  auf  Deine  Koften  zu 
tun.  Du  fowohl,  als  alle  Deine  Freunde  hier  find  in  der 
Meinung  gewefen,  daß  Du  auf  feine  Koften  mitreifteft. 
Er  felbft  war  es  gewiß  nicht  anderes  Sinnes,  da  er  in 
Augsburg  alles  zu  bezahlen  übernommen  hat.  Da  nun 
die  Reife  durch  den  Beitritt  der  Frau  von  Seckendorf  fo 
hoch  gekommen,  fo  hätteft  Du  freilich  aus  übergroßer 
Gutmütigkeit  Deinen  Teil  davon  mit  bezahlt;  Du  müßteft 
ihm  aber  fagen,  daß  Du  Dich  nicht  darauf  eingerichtet 
hätteft,  auch  nicht  in  der  Verfaffung  feieft,  Dir  von  Haufe 
Geld  kommen  zu  laffen.  Indeffen,  wenn  es  feine  Meinung 
fei,  daß  Du  bezahlen  follft,  fo  müßte  er  Dir  aus  feiner 
Kaffe  fo  viel  leihen,  als  Du  brauchft,  und  Du  würdeft 
ihm  folches  nach  Deiner  Heimkunft  nach  und  nach  ab^ 
tragen.  Hier  bitte  ich  Dich  nun,  lieber  Engel,  auf  den 
Knieen,  gegen  undelikates  Betragen  nicht  delikat  zu  handeln, 
fondern  diefen  Vorfchuß  als  Gerechtigkeit  von  ihm  zu 
verlangen,  und  Du  wirft  es  auch  erhalten.  Goethe  be^ 
hauptet,  Dalberg  muffe  einen  unbedingten  Kreditbrief  mit? 
haben,  anders  hätte  er  die  Reife  nicht  unternehmen  können. 
Sie  find  eben  wie  Kinder,  fagte  er,  die  einen  Spinnrocken 


305]  Weimar.    1788. 1^ 

anzünden  und,  wenn  er  dann  brennt,  darüber  erfchrecken. 
Ja,  ich  weiß  es  am  beften,  was  es  für  Geld  koftet,  und 
obendrein  ein  Weib  mitzuführen,  ift  lächerUch,  koftfpiehg, 
und  macht  weder  Spaß  noch  Nutzen.  ^  Findeft  Du  für 
notwendig,  von  Dalberg  zu  ziehen,  mehrerer  Erfparnis 
wegen,  fo  ift  das  Zimmer,  das  für  den  Kayfer  beftimmt 
war  und  worinnen  Goethe  logiert  hat,  noch  ledig.  Da 
könnteft  Du,  wenn  Du  auch  mit  ihnen  zu  Tifch  geheft, 
was  Merkliches  erfparen,  und  mit  Bury  kannft  Du  das 
alles  abmachen.  Goethens  Freunde  werden  Dir  dort  mit 
Rat  und  Tat  an  die  Hand  gehen,  wenn  Du  Zutrauen 
zu  ihnen  hafi,  fagt  Goethe.  —  Die  Rückreife  hat  Goethe 
500  Rtlr.  gekoftet;  Dich  wird  fie  nicht  um  einen  Pfennig 
weniger  koften.  Die  100  Rtlr.,  die  darüber  find,  gehen 
für  einige  Liebhabereien  zu  kaufen  drauf. 

[303.]     September  26.     Caroline  Herder. 

Wie  Goethe  vom  Bezahlen  hörte,  rief  er  aus:  Den 
Teufel  auf  den  Kopf!  nicht  einen  Pfennig  muß  Herder 
dort  bezahlen!  Glaubt  der  kleine  Menfch,  daß  er  Herdern 
nicht  unendliche  Verbindlichkeit  fchuldig  ift,  daß  er  die 
Reife  mit  ihm  unternommen  hat!  Sein  Verftand,  feine 
Kenntniffe  und  fein  Wert  muffen  unfchätzbar  für  ihn 
fein.  Nein,  Ihr  muffet  durchaus  in  keine  Verlegenheit 
durch  ihn  kommen.  Er  muß  bezahlen,  das  ift  er 
fchuldig. 

[304.]     September  Ende.     Caroline  Herder. 

Goethe  hat  mir  die  erfte  Abteilung  feiner  Gedichte 
gegeben;  es  find  gar  fchöne  darunter,  befonders  zwei 
idyllenartig,  die  mir  ganz  vorzüglich  gefallen.  Ich  habe 
recht  vernünftig  mit  ihm  darüber  gefprochen;  er  wird  auch 
An  die  Chriftel  und  Käthchen*  auf  meine  Bitte  her^ 
auslaffen. 

[305.]  Sept.  Ende  /  Okt.  Anf  Caroline  Herder  an  ihren  Gatten. 
Ich  denke,  in  einem  Jahr  hat  man  für  die  Menge 
Geld  Italien  fatt,  wenn  man  kein  Künftler  ift.  Goethe 
gedeiht  am  beften  in  Rom.  Sein  ganzes  Wefen  ift  mir 
noch  ein  Rätfei;    ich  weiß  nicht,    wie  ich   ihn  entziffern 


*  Die,  Chriftel  und  Rettung  überfchriebenen  Gedichte,  die 
früher  im  Merkur  und  in  der  Iris  erfchienen  waren. 
I 


156  Caroline  Herder.  [306 

foU.  Vor  mehreren  Wochen  fagte  er  mir  einmal,  er  für 
feine  Perfon  hätte  viel  Glück,  ja,  es  firömte  ihm  von  allen 
Seiten  zu,  aber  nur  für  andre  habe  er  kein  Glück.  Ich 
fühlte  diefe  Wahrheit  fehr  tief.  Sogar  fein  Petfchaft,  mit 
dem  Du  mir  fiegelteft,  hat  mir  nichts  Gutes  gebracht. 

[306.]     September  Ende /Oktober  Anfang.     Schiller. 

Meine  Rezenfion  von  Egmont  hat  viel  Lärm  in  Jena 
und  Weimar  gemacht,  und  von  der  Expedition  der  AUj: 
gemeinen  Literaturzeitung  find  fehr  fchöne  Anerbietungen 
an  mich  darauf  erfolgt.  Goethe  hat  mit  fehr  viel  Ach*: 
tung  und  Zufriedenheit  davon  gefprochen. 

[307.]     Oktober.     Caroline  Herder  an  ihren  Gatten. 

Ich  bin  durch  einen  Befuch  vom  Erbprinzen  und 
Riedel,  die  fich  diefen  Nachmittag  angemeldet  hatten,  um 
die  Kinder  auf  dem  Seil  zu  fehen,  verhindert  worden,  wei^; 
ter  zu  fchreiben.  Goethe  kam  auch,  und  hat  mir  nach^ 
her,  nachdem  wir  viel  von  Dir  geredet  haben  und  er  fich 
recht  gefreut  hat  über  das,  was  und  wie  Du  gefehen  haft, 
und  mich  über  das  Ausbleiben  der  Briefe  getröftet  und 
es  als  notwendige  Zufälle  einer  Reife  betrachtet,  fo  hat 
er  mir  nachher  aus  dem  Taffo  einige  Stellen  gelefen.  Es 
ift  eine  vortreffliche  Arbeit,  eine  vortreffliche,  würdige 
Sprache,  ein  herrlicher  Geift,  der  die  Charaktere  fo  präzis 
darftellt.  Ich  habe  nur  noch  wenig  gehört,  es  gefiel  mir  aber 
fehr,  und  es  freute  ihn.  Er  fagte,  die  Jamben  feien  noch 
beffer,  als  in  der  Iphigenia.  —  Es  ift  ihm  lieb,  daß  Du  nun 
in  Rom  bift.  Da,  fagt  er,  brauchft  Du  auch  nicht  mehr  fo 
viel  Italienifch;  er  hätte  meift  Deutfeh  gefprochen.  Ich 
hoffe,  daß  Ihr  den  Antiquarius  Hirt  nicht  vergeffen  werdet 
zu  nehmen  und  die  Dukaten  doch  da  nicht  fparen  werdet. 
Es  freute  ihn,  was  Du  fogleich  vom  Bury  und  der  Angelica 
gefchrieben. 

[308.]     Oktober  12.    J.  v.  Müller. 

Unterwegs  habe  ich  nur  »^  einen  halben  Tag  «^  in 
Weimar  verweilt.  Hier  überrafchte  ich  die  Herder  in:^ 
mitten  im  Effen  '^  und  da  wurde  ^  viel  gefprochen,  bis 
der  kleine  Gottfried  Herder  an  den  Hof  ging,  Goethe  zu 
holen,  und  dann  mich  bei  die  gotifche  Kirche  in  des  Hers= 
zogs  Garten  brachte,  da  denn  der  Mann  erfchien  und  wir 
eintraten  in  alle  Politik  des  heiligen  Reichs,  bis  plötzlich 
geklatfcht  wurde  und  die  Poftpferde  trabten. 


310]  Weimar.    1788.  157 

[309.]     Oktober  13.     Caroline  Herder. 

Goethe  kam  den  Montag  zu  mir.  Von  Müllern  fagte 
er,  er  fähe  völlig  wie  ein  Domherr;  und  das  ift  wahr. 
Übrigens  gefällt  er  ihm  fo  halbwegs.  Die  Zeit  war  frei^ 
lieh  zu  kurz.  Vom  Kaifer  fagte  er,  er  hätte  das  Haus 
Ofierreich  durch  diefen  Krieg  fo  heruntergebracht,  daß  es 
fich  in  hundert  Jahren  nicht  erholen  werde.  Ich  fagte: 
So  wird's  unferm  Herzog  auch  gehen.  —  Ja,  nicht  anders, 
antwortete  er;  und  fo  geht's  uns  allen,  wenn  wir  unfere 
Eigenheit  irgendwo  oder  am  unrechten  Ort,  wie  es  ge? 
meiniglich  gefchieht,  durchletzen.  So  ift  mir's  von  Jugend 
aufgegangen;  ich  war  frei  und  reich,  konnte  fie  alfo  öfters 
und  mehr  durchfetzen,  als  ein  anderer,  und  ich  weiß  am 
heften,  wo  und  wie  fie  mir  gefchadet;  und  wenn  ich  mich 
jetzt  nicht  fo  zufammennähme,  fo  würde  es  noch  mehr  ge^; 
fchehen.  So  fchadet  dem  Herder  jetzt  feine  Eigenheit. 
Niemand  wird  es  glauben,  aber  Zartheit  und  Nachgiebige 
keit  ift  feine  Eigenheit,  und  nun  leidet  er  darunter.  Hätte 
er  gefühlt,  wer  er  ift  und  wie  ihm  manquiert  worden,  er 
hätte  von  Augsburg  aus  fich  nicht  fo  gütig  betragen.  Und 
daher  kommt's  manchmal,  daß  er  hernach  am  unrechten 
Ort  gegen  Menfchen  das  Rauhe  hervorkehrt.  Diefe  gold^ 
nen  Worte  waren,  als  wenn  fie  aus  unfer  beiden  Seelen 
herausgeredet  wären.  Ich  fagte  ihm,  daß  Du  es  fo  gut 
als  ich  wüßteft,  daß  wir  bei  jeder  Gelegenheit  es  merkten 
und  es  oft  übel  empfänden.  Bei  Deinem  Verhältnis  zu 
Dalberg  fagte  er  ferner:  Und  wenn  ihn  Herder  3000  Rtlr. 
kofiet,  fo  ift's  nicht  zu  viel;  er  hat  ihm  ja  noch  immer 
feine  Perfon  nicht  bezahlt.  Ferner  fagte  er :  Die  Secken^ 
dorf  zeigt  einen  unfäglichen  Verftand  in  ihrer  Einrichtung 
—  es  ift  das  fchönfte  Haus  in  Rom  —  mit  Eklat  und  An^ 
ftand  will  fie  den  Schritt  gut  machen.  Sie  verfteht  ihr 
Handwerk,  und  der  künftige  Kurfürft  kann's  bezahlen.  — 

[310.]     Oktober  20.     Caroline  Herder  an  ihren  Gatten. 

Die  Seckendorf  fängt's  doch  auch  gar  zu  toll  an.  ~ 
Goethe  ift  diefen  Augenblick  bei  mir  gewefen.  Er  findet 
es  ebenfo  unverftändig,  wie  ich.  Er  glaubt,  daß  fie  aus 
Knickerei  nicht  nach  Frascati  gefahren  find.  Es  freute  ihn, 
daß  Du  hingefahren  bift.  Er  will  nur  fehen,  wie  die  Rö^ 
mer,  die  fo  beißende  Zungen  haben,  den  ganzen  unver? 
fchämten  und  ungewöhnlichen  Auftritt  anfehen  und  be^ 
I 


158  Caroline  Herder.  311] 

reden  werden.  Einem  reichen  Mylord  ift  von  feiten  der 
päpftlichen  Polizei  an  die  Hand  gegeben  worden,  feine 
Maitreffe  wegzufchaffen ,  weil  es  nicht  Sitte  in  Rom  fei. 
Gegen  den  Bruder  des  künftigen  Kurfürften  werden  fie 
freilich  fchonender  fein,  aber  Goethe  glaubt  doch,  daß 
man  fie 's  wird  empfinden  laffen.  Einmal  erfcheint  fie 
doch  als  Dalbergs  Maitreffe,  der  ganze  Zufchnitt  ihrer 
Einrichtung  zeigt's  deutlich  genug.  Eine  ehrliche  Frau 
treibt's  nicht  fo.  Eine  reiche  fchlefifche  adelige  Frau  mit 
ihrem  Mann  haben  nur  wenige  Zimmer  zufammen  gehabt, 
wofür  fie  monatlich  vielleicht  nur  zehn  Zechinen  gegeben 
haben,  und  haben  doch  ein  fehr  gutes  Haus  ausgemacht, 
wie  mir  Goethe  erzählte.  Ich  hoffte  noch  immer,  daß  fie 
fich  zur  Herzogin  fchlagen  wird;  er  meint,  fie  wird  eine 
größere  Rolle  zu  fpielen  fuchen,  als  die  Herzogin.  Er 
bedauert  Dich  unfäglich,  doch  glaubt  er  gewiß,  daß  es 
nach  und  nach  beffer  gehen  wird.  '^  Die  Angelica  wird 
ihre  Pfiffe  fchon  durchfchauen.  Goethe  hat  der  Angelica 
ihren  Namen  nicht  genannt,  auch  Dalbergs  nicht.  Dich 
hat  er  ihr  aber  fehr  empfohlen,  auch  die  Herzogin^Mutter 
mit  dem  Zufatz:  Ihr  eigner  Verftand  wird  das  Gute  an 
ihnen  am  heften  felbfi:  beurteilen. 

Die  Preußen  ziehen  einen  Kordon  gegen  die  Dänen, 
des  Herzogs  Regiment  ift  aber  nicht  dabei.  Er  ift  noch 
nicht  hier,  wird  immer  von  einer  Woche  zur  andern  er:; 
wartet.  Vor  Dresden  hat  er  wieder  einen  fo  heftigen  Sturz 
getan,  als  voriges  Jahr  vor  Berlin.  Er  hatte  das  Pferd 
den  ganzen  Tag  geritten,  es  war  endlich  müde,  er  wollte 
es  nach  Haufe  forcieren,  und  es  überfchlug  wieder  mit 
ihm,     Goethe  hat  mir's  felbft  erzählt. 

[311.]     Oktober  20.     Caroline  Herder  an  ihren  Gatten. 

Da  Du  Dich  mit  den  Künftlern,  wie  Goethe  felbft 
fagt,  in  das  Detail,  ihre  Mühe  und  Arbeit  nicht  einläffeft, 
fo  haft  Du  mit  ihnen  auch  den  Genuß  nicht,  den  er  hatte. 
Ob  Du  mit  dem  gutherzigen  Bury  umgehen  kannft,  zwei? 
feit  er;  das  Gemüt  (nämlich  des  Bury  gutes  Gemüt)  kann 
ja  nicht  fprechen,  fagte  er. 

[312.]     Oktober  Ende.     Caroline  Herder  an  ihren  Gatten. 

Ich  fprach  mit  Goethe  wegen  dem  Wechfel.  Es  find 
150  Rtlr.  bar  da,  des  Herzogs  halbjährige  Zulage;  ich 
wollte  noch  150  dazu  leihen  und  den  vollen  Wechfel  von 


317]  Weimar.    1788.  159 

300  Rtlr.  Dir  fchicken.  Er  widerriet  mir  aber  das  Leihen 
und  meint,  vorderhand  foll  ich  Dir  nur  150  Rtlr.  oder 
100  Scudi  (durch  Scudi  gewinnt  man,  durch  Zechinen 
aber  verUert  man)  fchicken,  welches  er  auch  vorigen  Fo[U 
tag  beforgt  hat.  In  vier  Wochen  ^^  wäre  das  andere  ers: 
folgt,  bis  ich  über  die  ganze  Summe  mir  Rat  gefchafft  hätte. 

[313.]     Oktober  Ende.     Caroline  Herder  an  ihren  Gatten. 

Goethe  fcherzte  letzthin,  es  würde  Dir  nicht  wohl 
werden  in  Rom,  bis  Du  liebteft.  —  Gebe  das  gute  Schick? 
fal  Dir  gute  Stunden  für  manches  lange  Leiden;  nur  fei 
klug  und  vorfichtig. 

[314.]     November  Anfang.     Caroline  Herder  an  ihren  Gatten. 

Ich  habe  Dir  im  vorigen  Brief  die  Abfchrift  vom 
Brief  des  Unbekannten*  gefchickt.  Ich  erzählte  es  Goethe 
und  fagte,  wie  wichtig  es  für  uns  fei,  jetzt  zu  wiffen,  ob 
das  Geld  von  Dalberg  fei.  Da  antwortete  er:  Ihr  habt 
das  bisher  immer  fo  gewiß  angenommen,  als  ob  es  Dal? 
berg  fei.  Man  glaubt  aber,  es  fei  der  Markgraf  von  Baden, 
Dalberg  fei  dabei  meliert  gewefen.  Ich  habe  ihn  foeben 
durch  ein  Billett  gefragt,  ob  er  mir  etwas  Gewiffes  hier? 
über  fagen  könne;  er  antwortete  aber  nichts  darauf.  '^ 
Nach  dem,  was  Goethe  gefagt,  wird  es  mir  evident,  daß 
es  der  Markgraf  ift  und  Dalberg  etwas  davon  weiß. 

[315.]     Herbft.     Caroline  Herder. 

Goethe  fagte  es  fchon  zum  voraus:  Herder  wird  Rom 
gewiß  gut  fehen.  Den  Kurs  macht  er  freilich  mit  dem  Dom^ 
hevrn  Dalberg,  der  nichts  recht  fehen  wird,  alsdann  fieht 
er's  hernach  mit  Hirt  und  den  andern  für  (ich  allein,  und 
genießt's  erft. 

[316.]     November  Anfang.     Caroline  Herder. 

Goethe  wird's  auch  wohler  in  Jena;  er  fühlt  fich  dort 
zu  Haufe  und  hier  fremd,  das  fagte  er  mir  felbft. 

[317.]     November  11.     Auguft  Herder. 

Der  Herr  Geh.  v.  Goethe  ift  fchon  am  Sonntag  nach 
Jena  gereift  und  bleibt  noch  vierzehn  Tage  dort,  er  geht 


^\ 


*  Herdern  waren  1200  Rtlr,  anonym  zugefandt  worden. 


160  Auguft  Herder.  [318 

alle  Tage  von  3—4  Uhr  ins  Kollegium.  Den  Dienstag 
fagte  er  zu  mir,  wenn  es  appetitlicher  wäre,  fo  hätte  er 
mich  mitgenommen. 

[318.]     Nov.  Ende /Dez.  Anf.     Caroline  Herder  an  ihren  Gatten. 

Als  Dein  Brief  an  Prinz  Auguft  in  Gotha  ankam, 
fiand  gerade  Goethe  bei  ihm  und  bat  ihn,  unferm  Her? 
zog  nichts  davon  zu  fagen,  weil  er  noch  keinen  von  Dir 
erhalten  hat. 

[319.]     Dezember  Anfang.     Schiller  an  Ch.  G.  Körner. 

Du  wirft  in  zwei  oder  drei  Monaten  aller  Wahrfchein? 
lichkeit  nach  die  Nachricht  erhalten,  daß  ich  Profeffor  der 
Gefchichte  in  Jena  geworden  bin;  es  ift  faft  fo  gut  als 
richtig.  Vor  einer  Stunde  fchickt  mir  Goethe  das  Refkript 
aus  der  Regierung,  worin  mir  vorläufige  Weifung  gegeben 
wird,  mich  darauf  einzurichten.  Man  hat  mich  hier  über? 
tölpelt,  Voigt  vorzüglich,  der  es  fehr  warm  beförderte.  ^ 
Voigt  fondierte  mich;  an  demfelben  Abend  ging  ein  Brief 
an  den  Herzog  von  Weimar  ab,  der  juft  in  Gotha  war 
mit  Goethe;  dort  wurde  es  gleich  mit  ihnen  eingeleitet 
und  bei  ihrer  Zurückkunft  kam's  als  eine  öffentliche  Sache 
an  die  Regierung.  Goethe  beförderte  es  gleichfalls  mit 
Lebhaftigkeit  und  machte  mir  felbft  Mut  dazu.  ^^  Goethe 
fagt  mir  zwar:  docendo  discitur,  aber  die  Herren  wiffen 
alle  nicht,  wie  wenig  Gelehrfamkeit  bei  mir  vorauszu? 
fetzen  ift. 

[320.]     Dezember.     Schiller  an  Charlotte  v.  Lengefeld. 

Goethen  habe  ich  unterdeffen  einmal  befucht.  Er  ift 
bei  diefer  Sache  überaus  tätig  gewefen,  und  zeigte  viele 
Teilnehmung  an  dem,  was  er  glaubt,  daß  es  zu  meinem 
Glück  beitragen  werde.  Knebel,  dem  er  es  entdeckt  hat, 
war  vermutlich  juft  in  feiner  teilnehmenden  Laune. 

[321.]     Charlotte  v.  Lengefeld  an  Schiller. 

Daß  Sie  Goethens  Teilnahme  an  dem  Schickfal  andrer 
haben  kennen  lernen,  freut  mich,  er  hat  fo  etwas  Zu? 
trauenerweckendes  in  fich,  daß  ich  ihm  alles  fagen  könnte ; 
ich  habe  mich  fchon  oft  gefreut,  wenn  ich  hörte,  wie  er 
fich  für  das  Wohl  anderer  intereffieren  kann. 


326]  Weimar.    1788.  161 

[322.]     Dezember  5.     K.  Ph.  Moritz. 

Seit  geftern  bin  ich  nun  hier  ^^  in  Goethens  Haufe. 
f^  Gleich  geftern  abend  über  Tifch  fragte  Goethe  auss^ 
drückhch:  was  macht  Macco?  und  freute  fich  fehr,  als 
ich  ihm  Ihre  glücklichen  Umftände  erzählte. 

[323.]     Dezember.     Schiller. 

Moritz  ift  eben  hier  auf  feiner  Rückreife  von  Italien; 
er  wohnt  bei  Goethe.  Letzterer  hat  ihm  feinen  Stempel 
mächtig  aufgedrückt.  Sie  kamen  einander  in  Rom  fehr 
nahe,  und  Moritz  ift  über  Goethes  Humanität  panegyrifch 
entzückt. 

[324.]     Dezember  8.     Caroline  Herder  an  ihren  Gatten. 

Goethe  kam  den  Abend  ein  wenig  zu  mir,  um  zu 
hören,  was  ich  Gutes  von  Dir  hätte.  Er  nahm  an  allem 
teil  und  befonders,  daß  die  Herzogin  fo  artig  gegen  Dich 
ift.  Die  Göchhaufen  fchrieb  an  die  Stein  und  die  Kalb 
viel  Gutes  von  Dir,  fowie  fie  an  die  Steinin  von  Deinem 
Mißverhältnis  mit  der  Seckendorf  ein  Wort  fallen  ließ 
und  an  andre  vielleicht  fchon  mehr  darüber  gefchrieben. 
Kurz,  Goethe  erzählte  mir,  daß  der  Herzog  ihn  darüber 
befragt  und  daß  er  nicht  umhin  gekonnt  hätte,  ihm  die 
Wahrheit  zu  fagen.  Darauf  habe  der  Herzog  gefagt: 
Wenn  Herder  was  braucht,  fo  will  ich's  ihm  geben.  Goethe 
lehnte  es  aber  ab  und  fagte:  Für  diesmal  muß  Dalberg 
zahlen  und  hierüber  ift  alles  in  Richtigkeit:  wenn  Sie  aber 
zu  einer  andern  Zeit  etwas  für  ihn  tun  wollen,  fo  tun 
Sie's.  Mich  dünkt,  diefe  Antwort  war  von  Goethe  ganz 
verftändig  und  gut.  ^  Goethe  grüßt  Dich  herzlich.  Mo^ 
ritzens  Gegenwart  tut  ihm  fehr  gut  und  er  muß  fo  lange 
hier  bleiben,  bis  der  Taffo  fertig  ift. 

[325.]     Dezember.     Caroline  Herder. 

Goethe  ift  gar  trefflich  lieb  und  gut  feit  feiner  Wieder^ 
kunft.  Er  erfcheint  mir  immer  wie  ein  höherer  Genius. 
O,  wie  jammert  es  mich,  daß  er  jetzt  nicht  in  Rom  ift! 

[326.]     Dezember  Ende.     Caroline  Herder  an  ihren  Gatten. 

Den  Montag  war  die  Stein,  die  Kalb  und  Moritz  zum 
Kaffee  bei  mir;  gegen  Abend  kam  Goethe  und  Knebel. 
Wenn  wir  Frauen  mit  Moritz  allein  lind,  da  geht  es  gar 
I  11 


162  Caroline  Herder.  [327 

hübfch;  er  ift  alsdann  unfer  Prophet,  und  unfre  Kennt? 
niffe  nehmen  jedesmal  zu.  So  war  er  zwei  Tage  vorher 
zum  Kaffee  allein  bei  mir;  wir  kamen  auf  Goethens  Werke; 
da  fagte  er  mir,  wie  er  durch  das  Studium  der  Perfpek? 
tive  darauf  gekommen  fei,  den  Mittelpunkt  in  einem  Stück 
aufzufuchen;  den  muffe  man  nun  nicht  am  Ende  des  Stücks, 
fondern  in  der  Mitte  fuchen,  fowie  alle  Radien  vom  Mittel? 
punkt  ausgehen  und  fich  in  den  Anfang  und  Ende  ver? 
lieren.  ^  Den  Montag  war  nun  wieder  die  Rede  davon, 
und  wir  frugen  nach  dem  Mittelpunkt  in  Götz  von  Ber? 
lichingen.  Den  follten  wir  aber  felbft  auffuchen,  fagte 
er;  er  hätte  ihn  auch  gefunden  und  es  Goethe  gefagt,  da 
hätten  fie  zufammen  fehr  gelacht.  Goethe  war  über  Deinen 
Brief  an  ihn  vergnügt;    er  dankt  Dir  und  grüßt  Dich. 

[327.]     Dezember  Ende.     Caroline  Herder. 

Goethe  warnte  mich  letzthin  fehr  ernftlich  vor  meinen 
Träumen;  das  Schlimmfte  dabei  fei,  fie  machen  den  Ver? 
fiand  krank. 

[328.]     1788/89  Winter.     Auguft  Herder  an  feinen  Vater. 

Der  Herr  Geheimrat  von  Goethe  hat  uns  zwei  Bilder 
gefchickt,  wo  Brunnen  in  Rom  ganz  mit  Eis  überzogen 
waren  und  alles  befchneit  war,  und  ließ  dabei  fagen :  fo  fähe 
es  jetzt  in  Rom  aus,  aber  Sie  wärmten  fich  am  Vefuv.  ~ 

[329.]     1788/1789.     Schiller  an  Ch.  G.  Körner. 

öfters  um  Goethe  zu  fein  würde  mich  unglücklich 
machen:  er  hat  auch  gegen  feine  nächften  Freunde  kein 
Moment  der  Ergießung,  er  ift  an  nichts  zu  faffen;  ich 
glaube  in  der  Tat,  er  ift  eirL-Egoift  in  ungewöhnlichem 
Grade.  Er  befitzt  das  Talent,  die  Menfchen  zu  feffeln, 
und  durch  kleine  fowohl,  als  große  Attentionen  fich  ver? 
bindlich  zu  machen;  aber  fich  felbft  weiß  er  immer  frei 
zu  behalten.  Er  macht  feine  Exiftenz  wohltätig  kund,  aber 
nur  wie  ein  Gott,  ohne  fich  felbft  zu  geben  —  dies  fcheint 
mir  eine  konfequente  und  planmäßige  Handlungsart,  die 
ganz  auf  den  liöchften  Genuß  der  Eigenliebe  kalkuliert 
ift.  Ein  folches  Wefen  follten  die  Menfchen  nicht  um 
fich  herum  aufkommen  laffen.  Mir  ift  er  dadurch  ver? 
haßt,  ob  ich  gleich  feinen  Geift  von  ganzem  Herzen  liebe 
und  groß  von  ihm  denke.  Ich  betrachte  ihn  wie  eine 
ftolze  Prüde,  der  man  ein  Kind  machen  muß,  um  fie  vor 


332]  Weimar.    1789.  163 

der  Welt  zu  demütigen.  —  Eine  ganz  fonderbare  Mifchung 
von  Haß  und  Liebe  ift  es,  die  er  in  mir  erweckt  hat,  eine 
Empfindung,  die  derjenigen  nicht  ganz  unähnUch  ift,  die 
Brutus  und  Caffius  gegen  Cäfar  gehabt  haben  muffen; 
ich  könnte  feinen  Geift  umbringen  und  ihn  wieder  von 
Herzen  Heben.  Goethe  hat  auch  viel  Einfluß  darauf,  daß 
ich  mein  Gedicht  gern  recht  vollendet  wünfche.  An  feinem 
Urteil  liegt  mir  überaus  viel.  Die  Götter  Griechenlands 
hat  er  fehr  günftig  beurteilt;  nur  zu  lang  hat  er  fie  ge^ 
funden,  worin  er  auch  nicht  unrecht  haben  mag;  fein  Kopf 
ift  reif,  und  fein  Urteil  über  mich  wenigftens  eher  gegen 
mich  als  für  mich  parteiifch.  Weil  mir  nun  überhaupt 
nur  daran  liegt.  Wahres  von  mir  zu  hören,  fo  ift  dies 
gerade  der  Menfch  unter  allen,  die  ich  kenne,  der  mir 
diefen  Dienft  tun  kann.  Ich  will  ihn  auch  mit  Laufchern 
umgeben,  denn  ich  felbft  werde  ihn  nie  über  mich  befragen. 

1789. 

'530.]     Januar.     Caroline  Herder. 

Den  Montag  war  ich  zum  Tee  bei  die  (I)  Stein  eins: 
geladen.  '^  Goethe  kam  mit  Moritz,  ging  aber  bald  wieder 
nach  Haufe;  er  arbeitet  viel  am  Taffo,  und  Moritz  foll 
nicht  eher  reifen,  bis  er  damit  fertig  ift. 

[331.]     Februar  Anfang.     Caroline  Herder. 

Geftern  vertraute  mir  Knebel  etwas  von  feinem  Streit 
mit  Goethe  und  Moritz  über  des  letzteren  Abhandlung 
Über  die  bildende  Nachahmung  des  Schönen.  Es  ift  nun 
alles  wieder  gut.  Goethe  zeigt  Moritzens  Abhandlung 
in  der  Literaturzeitung  an  und  hat  einen  Auszug  davon 
gemacht,  den  er  Knebeln  geftern  gegeben  hat,  worüber 
er  fehr  zufrieden  war,  und  ihm  nur  nochmals  feine  eigne 
Vorftellungsart  von  der  Schönheit  der  Kunft  und  der  Schöne? 
heit  der  Natur  deutlicher  gemacht  hat,  und  worüber,  wie 
mich  dünkt,  Knebel  die  richtige  Grenze  gefunden  hat. 
Moritz  hat  diefe  Grenze  in  der  Abhandlung  nicht  deut:; 
lieh  bemerkt  oder  gar  in  eins  gebracht;  dies  war's,  was 
den  Knebel  fo  fehr  aufbrachte. 

[332.]     Februar  5.     Caroline  Herder. 

Ich  war  geftern  den  meiften  Teil  des  Abends  bei 
Goethe.    Den  Unterfchied  der  Schönheit  als  Vollkommen? 

I  11* 


164  Caroline  Herder.  [333 

heit  eines  Ganzen  und  als  Vollkommenheit  eines  fchein^ 
baren  Ganzen  erkannte  er  nicht  nur,  fondern  fagte  auch 
darüber  noch  mehrere  fehr  richtige  Sachen.  Schönheit  der 
Natur  ift  Vollkommenheit  des  Ganzen,  zu  einer  anfchau* 
liehen  Kenntnis  gebracht;  Schönheit  der  Kunfi  ift  gleiche 
fam  der  Anblick  des  Vollkommenen,  in  der  Seele  des 
Künftlers  zur  Geftalt  gereift  und  durch  innere  Kraft  wieder 
zur  Geftalt  wirkend.  Die  erfte  Schönheit  befteht  in  Ord^ 
nung  und  Gefetzen  der  Natur,  foweit  fie  übereinftimmend 
erkannt  werden;  die  Schönheit  des  Künftlers  gründet  fich 
auf  diefelbe  Ordnung,  aber  fie  wirkt  ftärker  auf  die  Sinnes? 
kräfte  und  äußert  fich  durch  die  Art  und  Weife,  wie  der 
Künftler  jene  aufzunehmen  und  darzuftellen  vermag.  Bei? 
derlei  Arten  mifchen  fich  in  der  Seele ;  die  letzte  allein  be? 
fiimmt  den  Wert  des  Künftlers. 

[333.]     Februar.     Schiller  an  Caroline  v.  Beulwitz. 

Über  Goethen  möchte  ich  wohl  einmal  im  Vertrauen 
gegen  Sie  ein  Urteil  von  mir  geben,  aber  ich  könnte  mich 
fehr  leicht  übereilen,  weil  ich  ihn  fo  äußerft  feiten  fehe 
und  mich  nur  an  das  halten  kann,  was  fich  mir  in  feiner 
Handlungsart  überhaupt  aufdringt.  Goethe  ift  noch  gegen 
keinen  Menfchen,  fo  viel  ich  weiß,  fehe  und  gehört  habe, 
zur  Ergießung  gekommen  —  er  hat  fich  durch  feinen  Geift 
und  taufend  Verbindlichkeiten  Freunde,  Verehrer  und  Ver? 
götterung  erworben,  aber  fich  felbft  hat  er  immer  behalten, 
fich  felbft  hat  er  nie  gegeben.  Ich  fürchte,  er  hat  fich 
aus  dem  höchften  Genuß  der  EigenUebe  ein  Ideal  von 
Glück  gefchaffen,  bei  dem  er  nicht  glückUch  ift.  Diefer 
Charakter  gefällt  mir  nicht  —  ich  würde  mir  ihn  nicht 
wünfchen,  und  in  der  Nähe  eines  folchen  Menfchen  wäre 
mir  nicht  wohl.  (Legen  Sie  diefes  Urteil  beifeite.  Viel? 
leicht  entwickelt  ihn  uns  die  Zukunft,  oder  noch  beffer, 
wenn  fie  ihn  widerlegt.) 

[334.]     Februar  9.     Caroline  Herder. 

Mit  Goethe  habe  ich  mich  am  Montage  über  die  Leo? 
nore  im  Pater  Brey  ausgefprochen.  Ich  frug  ihn,  ob  ich 
diefe  Perfon  fo  ganz  gewefen  wäre?  Beileibe  nicht! 
fagte  er;  ich  folle  nicht  fo  deuten.  Der  Dichter  nehme 
nur  fo  viel  von  einem  Individuum,  als  notwendig  fei, 
feinem  Gegenftand  Leben  und  Wahrheit  zu  geben;  das 
übrige  hole  er  ja  aus  fich  felbft,  aus  dem  Eindruck  der 


337]  Weimar.    1789.  '    165 

lebenden  Welt.  Und  da  fprach  er  gar  viel  Schönes  und 
Wahres  darüber.  Auch,  daß  wir  den  Taffo,  der  viel  Deuj: 
tendes  über  feine  eigne  Perfon  hätte,  nicht  deuten  dürfen, 
fonft  wäre  das  ganze  Stück  verfchoben  ufw.  Kurz,  ich 
war  völlig  befriedigt,  da  ich  mir  ihn  fo  ganz  als  Dichter 
denke.  Er  nimmt  und  verarbeitet  in  fich  aus  dem  All 
der  Natur  (wie  es  Moritz  nennt),  in  das  ich  auch  gehöre, 
und  alle  andre  Verhältniffe  find  dem  Dichter  untergeordnet. 

[335.]     Februar  9.     Caroline  Herder  an  ihren  Gatten. 

Goethe  befuchte  mich  den  Montag,  und  läßt  Dich 
herzlich  grüßen.  Er  begreift  und  verfteht  Dein  inniges 
Gefühl  ganz.  Er  fagte:  Wenn  man  fich  die  Gegend  in 
Italien  zueignen  will,  fo  geht  man  unter.  — 

[336.]     Februar  15.     K.  L.  v.  Knebel. 

Geftern  hat  uns  Goethe  den  erften  Akt  feines  Taffo 
vorgelefen;    er  ifi:  vortrefflich. 

[337.]     Februar  16.     Caroline  Herder  an  ihren  Gatten. 

Goethe  kam  den  Montag,  um  nach  Dir  zu  fragen. 
Es  freute  ihn  fehr,  als  ich  ihm  fagte,  wie  Dir  fei.  So 
war  mir's  auch,  fagte  er,  ich  ließ  die  Hände  finken  und 
tat  nichts  mehr.  Knebel  kam  noch  dazu.  Goethe  fetzte 
fich  nieder  und  zeichnete  mir  ein  Landfchäftchen.  Es  war 
ein  guter  Geift  und  ein  gutes  Gefpräch  unter  uns;  denn 
Du  warft  immer  dabei.  Zuletzt  wurde  noch  viel  vom 
römifchen  Karneval  gefprochen.  Er  gibt  nämlich  eine  Be^: 
fchreibung  des  römifchen  Karnevals,  wie  es  in  den  letzten 
acht  Tagen  ift,  mit  achtzehn  Kupfern  heraus,  die  fchon 
meift  durch  Kraus  fertig  find.  Die  Befchreibung  davon 
ift  fo  voll  Ordnung  und  einer  eignen  Darftellung  des  Gan:s 
zen,  die  euch  wohl  fchwerlich,  wie  er  felbft  fagt,  zum  erften^ 
mal  in  dem  entfetzlichen  Gedränge  erfchienen  ift.  Das  Ende 
fchließt  fich  mit  einer  Betrachtung  über  das  menfchliche 
Leben,  die  mir  fonderbar  rührend  war.  Auch  diefer  Abend 
fchloß  fich  bei  den  Kindern  mit  dem  sia  ammazato  ufw. : 
fie  bliefen  fich  die  Lichter  aus,  da  fie  hinunterleuchten 
follten.  '^ 

Goethe  und  Knebel   grüßen  Dich.  —  In  Moritzens 
Abhandlung  hat  Goethe  das  Wort  nützt  in  meinem  letz:« 
ten  Gefpräch  hierüber  in  dient  verwandelt;  dies  dünkt 
mich  noch  viel  richtiger. 
I 


166  Wieland.  [338 

[338.]     Februar.     Wieland  an  K.  L.  Reinhold. 

Goethe  ftudiert  feit^iniger  Zeit  Kants  Kritik  pp.  mit 
großer  Applikation,  und  hat  fich  vorgenommen,  in  Jena 
eine  große  Konferenz  mit  Ihnen  darüber  zu  halten. 

[339.]     Februar.     Schiller  an  Caroline  v.  Beulwitz. 

Haben  Sie  noch  keine  Schrift  von  Mirabeau  zu  Ge^ 
flehte  bekommen,  die  eine  Histoire  fecrete  vom  preußifchen 
Hofe  enthält?  ^  Das  was  den  Herzog  von  Weimar  an^s 
geht,  hat  Goethe  bejaht  und  die  Herzogin  nicht  verneint. 

[340.]     März  16. /20.     Caroline  Herder  an  ihren  Gatten. 

Ich  habe  die  Fortfetzung  von  Taffo  wieder  abge^ 
fchrieben.  Goethe  kam  dazu;  er  abfolvierte  mich  hier:« 
über,  wie  leicht  zu  denken,  und  grüßt  Dich.  Von  diefem 
Stück  fagte  er  mir  im  Vertrauen  den  eigentlichen  Sinn. 
Es  ift  die  Disproportion  des  Talents  mit  dem  Leben.  Er 
freut  fleh  recht  über  mich,  daß  ich  es  felbft  fo  gut  empfinde. 

[341.]     März.     Wilhelm  Herder. 

Wir  haben  auch  den  Karneval  gefehen  und  die 
Masken  alle,  von  der  Quaceri*  hat  uns  der  Herr  Geheim^« 
rat  von  Goethe  erzählt. 

[342.]     März.     Auguft  Herder  an  feinen  Vater. 

Ich  habe  auch  italienifche  Pinchen  (1)  vom  G.  v.  Goethe 
und  die  find  aufgegangen,  und  da  wollen  wir  einft  recht 
viel  darunter  fpazieren  gehen.  Bringen  Sie  mir  Steine 
mit,  lieber  Vater,  der  G.  v.  Goethe  fagte,  es  wären  dort 
Kaufleute,  die  hätten  folche  Scherbel  und  Steine  von 
Karneol,  Achat,  Chröfopras(l)  und  dergl.  zu  verkaufen,  und 
man  bekäme  für  ein  paar  Pfennige  einen  großen  Haufen. 

[343.]     März.     Gottfried  Herder  an  feinen  Vater. 

Der  Herr  Geheimrat  Goethe  ift  gar  gut  gegen  uns 
und  ich  habe  ihn  recht  fehr  lieb;  er  fchenkte  mir  in 
meiner  Krankheit  die  fo  prächtige  Ausgabe  des  Curtius 
von  Petiskus  mit  vielen  Kupfern,  die  mich  halb  gefund 
wieder  machte;  wenn  ich  nur  bald  wieder  in  die  Schule 
gehen  und  Gebrauch  davon  machen  könnte. 


*  Quacquero  ift  eine  komifche  Figur  des  römifchen  Karneval, 
f.  Goethes  röm.  Karneval,  W.  Hempel,  Bd.  16,  S.  307. 


347]  Weimar.    1789.  167 

[344.]     März.     Caroline  Herder. 

Goethe  fagte  mir  in  diefer  Woche,  daß  er  im  Stpa 
tember  nach  Rom  zur  Herzogin  reife  und  künftigen 
Sommer  mit  ihr  herauskäme.  Er  hat  mir's  nicht  als  ein 
Geheimnis  anvertraut. 

[345.]     März  (15).     Caroline  Herder. 

Der  kleine  Amor  von  der  Elife  Gore  ift  von  einer 
Mufchel  gefchnitten.  Goethe  fagte  mir,  daß  man  folche 
Kleinigkeiten  häufig  dort  haben  könne,  das  Stück  für 
eine  Zechine. 

[346.]     April  Mitte.     Caroline  Herder  an  ihren  Gatten. 

Hier  weiß  fchon  jedermann  von  dem  Antrag  einer 
Profejfur  in  Göttingen,  indem  es  von  Göttingen  an  den 
Direktor  gefchrieben  worden.  Der  Herzog  hat  es  durch 
den  Fürft  von  Deffau  erfahren  und  Goethe  darum  ge^ 
fragt.  Soviel  fagte  Goethe  zu  mir  darüber  vorige  Woche: 
Wenn  der  Herzog  klug  ift,  fo  muß  er  ihn  auch  nur  Jenas 
wegen  erhalten;  denn  fein  Hinziehen  nach  Göttingen 
ruiniert  ihm  Jena.  '^ 

Goethe  fagte :  Es  ift  foviel  dafür  als  dagegen  zu  fagen. 
Im  ganzen  findet  er's  gleichwohl  gut,  daß  es  fo  ges^ 
kommen  ift. 

[347.]     April  23.     Caroline  Herder  an  ihren  Gatten. 

Wie  ich  nach  Haufe  kam,  fand  ich  Goethe  bei  dem 
Kinderfefi.  Wir  fprachen  bald  von  Göttingen,  wie  wir 
denn  fchon  einigemal  davon  gefprochen  haben.  Daß  Du 
den  vorteilhaften  Antrag  beherzigteft  und  beherzigen 
müßteft,  fagte  ich  ihm;  er  fand  es  ganz  recht,  fowie  er 
gleich  von  Anfang  an  den  Antrag  als  ein  gutes  Evene^: 
ment,  wir  möchten  nun  bleiben  oder  gehn,  anfah.  Er 
will  Dir  felbft  fchreiben  den  nächften  Pofttag,  heute  kann 
er  nicht.  Er  dringt  aber  darauf,  daß  wir  ihn  allein  von 
der  ökonomifchen  Seite  betrachten  und  gebrauchen  muffen. 
In  der  Verhandlung  mit  den  Hannoveranern  muffen  wir 
mit  Recht  das  hoch  anfchlagen,  was  wir  Gutes  hier  haben  — 
kurz,  in  eine  Wagfchale  das  Vorteilhafte  von  Göttingen, 
und  in  die  andre  das  Gute  von  hier  legen.  Diefes  war, 
nachdem  ich  mich  von  der  erften  Gemütsbewegung  des 
Antrags  erholt  hatte,  mein  eigner  erfter  Gedanke  ge^ 
wefen,  der  mir  nicht  von  ihm  eingehaucht  worden  ift; 
ich  fchwieg  Dir  aber  davon,  weil  ich  Dein  Gefühl  rein 
I 


168  Caroline  Herder.  [348 

darüber  erft  hören  wollte.  Glaubt  nicht,  fagte  er  gefiem, 
daß  er  dort  frei  von  Verdruß  und  Ärger  fein  wird;  er 
wird  überall  Neider  und  Heuchler  und  wie  fie  heißen, 
finden;  fein  Gemüt  bringt  er  ja  überall  mit.  Alfo  von 
diefer  Seite,  ift's  dort  nicht  um  ein  Haar  beffer,  als  überall. 
Kurz,  laßt  nur  das  Gemüt  aus  dem  Spiel  und  bleibt  bei 
dem  äußerlichen  Vorteil  ftehn.  Der  Herzog  kann  und 
darf  ihn  nicht  gehen  laffen,  er  ruiniert  fich  Jena  und 
Weimar  zugleich.  Auch  nicht  einmal  nach  Jena  wünfch' 
ich  Herdern;  ich  hab'  ihn  viel  zu  lieb,  er  ift  zu  gut  zum 
Profeffor;  er  kennt  ihre  kleinlichen  Leidenfchaften  noch 
nicht.  Es  ift  gut,  daß  der  Antrag  gekommen  ift;  jetzt 
kann  ihm  durch  das  Muß  und  mit  Ehren  ein  gutes  und 
fichres  Etabliffement  für  ihn  und  die  Seinigen  gemacht 
werden,  und  die  ganze  Stadt  wird  damit  zufrieden  fein 
und  es  wünfchen. 

[348.]     April.     Auguft  Herder  an  feinen  Vater. 

Der  Herr  Geheimrat  v.  Goethe  hat  mir  auch  viele 
italienifche  Gewächfe  gegeben,  und  die  find  auch  aufge.< 
gangen.  ^  Sagen  Sie  Wernern*,  wenn  er  fpazieren  oder 
ausgeht,  und  er  findet  Samen,  daß  er  mir  ihn  doch  mit? 
brächte,  denn  der  Geheimrat  fagte,  dort  röchen  alle 
Blumen  gut. 

[349.]     Mai  3.     Caroline  Herder  an  ihren  Gatten. 

Es  ift  alles  Deinetwegen  hier  in  großer  Bewegung. 
Der  Herzog  ift  den  2.  Mai  hier  angekommen  und  hat 
fogleich  der  Herzogin  verfichert,  daß  er  Dich  nicht  gehn 
ließe.  Geftern  gab  er  dem  Goethe  vorläufig  auf  einem 
Billet  die  Punkte,  die  er  für  Dich  tun  will.  Ich  habe 
fie  von  ihm  erhalten  und  fchreibe  fie  Dir  ab.  ^  Ich  habe 
dem  Goethe  gefagt,  daß  wir  fo  viel  haben  muffen,  daß 
Du  nicht  mehr  fchreiben  dürfeft.  Dies  habe  ich  ihm  auf 
die  derbfte  Weife  gefagt,  und  er  billigt  es.  Er  meint 
auch,  daß  noch  mehr  Zulage  unter  dem  Namen  für  die 
Erziehung  der  Kinder  werden  könne. 

[350.]     Mai.     Caroline  Herder  an  ihren  Gatten. 

Was  fagft  Du  zu  dem  Kanzelariat  über  Jena?  Goethe 
meint,  er  wolle  Dir  nicht  dazu  raten;  Du  würdeft  Dir 
Griesbach  zum  großen  Feind  machen. 

*  Der  Diener  Herders. 


353]  Weimar.    1789. 169 

[351.]     Mai  9.     Caroline  Herder  an  ihren  Gatten. 

Ich  habe  Dir  bisher  Goethe  fo  wenig  genannt,  weil 
ich  ihn  wenig  allein  gefprochen  habe.  Geftern  hat  er 
den  Taffo  bis  auf  drei  Szenen  der  Herzogin  vorgelefen. 
O,  wie  beftrafe  ich  mich,  daß  ich  ihn  auch  nur  einen 
Augenblick  verkenne.  Er  ift  durchaus  eine  treue  mann? 
liehe  Seele,  und  es  freut  mich,  daß  Du  dies  in  einem 
Deiner  letzten  Briefe  fo  gut  wieder  erkennft.  Er  kam 
geftern  Abend  noch  zu  mir,  und  da  wir  über  Taffo  fertig 
waren,  über  den  Du  Dich  gewiß  freuen  wirft,  warft  Du 
unfer  Gefpräch.  Dem  Herzog  hat  er  gefagt,  daß  unfre 
Schulden  1800  bis  2000  Rthlr.  betragen.  Es  war  des 
Herzogs  eigner  Entfchluß,  fie  zu  bezahlen.  Die  übrigen 
Bedingungen  muffen  alle  alsdann  noch  beffer  und  anders 
eingerichtet  werden,  wenn  wir  bleiben  wollen.  ^^ 

Von  Deiner  Herreife  meint  Goethe,  Du  hätteft  beffer 
getan,  wenn  Du  von  Bologna  nach  Ferrara  und  die  fchönen 
Städte  hinauf  nach  Venedig,  dann  quer  über  Oberitalien 
nach  Mailand  und  durch  die  Schweiz  gegangen  wäreft.  Jetzt, 
da  Du  fchon  in  Parma  feift,  ginge  diefer  Weg  nicht  mehr  an. 

[552.]     Mai  Ende.     Caroline  Herder  an  ihren  Gatten. 

Goethe  will  auf  einige  Tage  zu  Dir,  reitend,  ins 
Karlsbad  kommen.  Er  ift  in  diefem  wichtigen  Zeitpunkt 
jetzt  unfer  treuefter  Freund;  und  einen  Freund  muffen 
wir  jetzt  haben.  Glaube  mir's.  Einen  Brief  von  ihm 
wirft  Du  in  Parma  finden,  wenn  Du,  wie  ich  glaube,  diefen 
Weg  nimmft.    An  die  Angelica  liegt  auch  ein  Brief  dort.  ^ 

Goethe  liebt  Dich  und  ift's  vor  allen  wert,  von  Dir 
geliebt  zu  werden.  Wende  Dich  nicht  von  ihm  ab!  Du 
achteft  und  liebft  an  der  Angelica,  was  die  Natur  ihr 
Glückliches  und  Heiliges  gegeben  hat;  er  ift  von  diefer 
Seite  ihr  Bruder,  und  wir  wollen  ihn  nicht  mehr  ver? 
lieren,  wie  Du  es  einmal  (vor  fechs  Jahren  war's)  fo 
heilig  zufagteft.  Es  fchmerzt  ihn,  daß  Du  in  diefer 
wichtigen  Sache  fo  ftumm  gegen  ihn  bift;  ich  habe  Dich 
entfchuldigt.  Das  Wiederfehen  im  Karlsbad  wird  alles 
gut  machen. 

[353.]     Juni  Anfang.     L.  Ch.  Althof  an  F.  Nicolai. 

Bürger  und  Goethe  hatten  lieh  nie  gefehen,  aber  vor^s 
mals  manchen  Brief  miteinander  gewechfelt.  G.  hatte  diefen 
Briefwechfel    angefangen    und,    von    Bewunderung    und 

I 


170  L.  Ch.  Althof.  [353 

Liebe  für  feinen  Bruder  in  Apoll  hingeriffen,  diefen  bald 
nicht  mehr  mit  Sie,  fondern  mit  Du  angeredet.  Da  nun 
B.  die  vertrauliche  Annäherung  erwiderte  und  G.  in  dem 
einmal  angenommenen  Tone  blieb,  wurden  fie  beide  fchrifts« 
lieh  Dutzbrüder.  Als  in  der  Folge  G.  zu  höheren  irdi^s 
fchen  Würden  emporftieg,  da  wurde  auch  die  Sprache 
in  feinen  Briefen  an  B.  feierlicher;  das  Du  verwandelte 
(ich  wieder  in  Sie,  und  bald  hörte  der  Briefwechfel  ganz 
auf.  Im  Jahre  1789  fchickte  B.  dem  Herrn  v.  G.  ein 
Exemplar  von  der  2.  Ausgabe  feiner  Gedichte  mit  einem 
höflichen  Schreiben  zu,  und  machte  bald  darauf  eine 
Reife,  die  ihn  durch  Weimar  führte.  Er  ftand  bei  fich  an, 
ob  er's  wagen  follte,  den  Herrn  v.  G.  zu  befuchen,  weil 
er  von  Natur  blöd  war,  und  fich  nach  dem,  was  er  von 
andern  wohl  gehört  hatte,  eben  keine  herzliche  Aufnahme 
von  feinem  ci  devant  Dutzbrüder  verfprach.  Indeffen  da 
feine  Freunde  ihn  mit  der  Verficherung  dazu  ermunterten, 
Herr  v.  G.  fei  feit  feiner  Reife  nach  Italien  leutfeliger  ge^ 
worden;  da  er  überdem  gerade  jetzt  einen  kleinen  Dank  für 
das  Gefchenk  feiner  Gedichte  und  auch  wohl  eine  lehrreiche 
Beurteilung  feiner  neueften  Produkte  von  G.  erwartete:  fo 
faßte  er  ein  Herz,  und  verfügte  fich  an  einem  Nachmittage 
in  die  Wohnung  des  Minifters.  Hier  hört  er  von  dem 
Kammerdiener,  Se.  Exzellenz  fei  zwar  zu  Haufe,  aber  eben 
im  Begriff  mit  dem  Herrn  Kapellmeifter  R(eichardt)  eine 
von  diefem  verfertigte  neue  Kompofition  zu  probieren.  O 
fchön,  denkt  B.,  da  komme  ich  ja  gerade  zu  einer  fehr 
gelegenen  Zeit,  halte  Se.  Exzellenz  nicht  von  Staatsge^s 
fchäften  ab,  und  kann  ja  wohl  zu  der  Mufik  auch  meine 
Meinung  fagen.  Er  bittet  alfo  den  Kammerdiener,  Sr. 
Exzellenz  zu  melden,  B.  aus  Göttingen  wünfche  feine 
Aufwartung  machen  zu  dürfen.  Der  Kammerdiener  meldet 
ihn,  kommt  zurück,  und  führt  ihn,  nicht  in  das  Zimmer, 
wo  mufiziert  wird,  fondern  in  ein  leeres  Audienzzimmer. 
In  diefem  erfcheint  nach  einigen  Minuten  auch  Hr.  v.  G., 
erwidert  Bs.  Anrede  mit  einer  herablaffenden  Verbeugung, 
nötigt  ihn,  auf  einem  Sofa  Platz  zu  nehmen,  und  erkundigt 
fich,  da  B.,  der  doch  einen  ganz  andern  Empfang  erwartet 
hatte,  ein  wenig  verlegen  wird,  nach  —  der  dermaligen 
Frequenz  der  Göttingifchen  Univerfität.  B.  antwortet  fo 
gut  er  bei  feiner  Verlegenheit  kann,  und  fi:eht  bald  wieder 
auf,  um  fich  zu  empfehlen.  G.  bleibt  mitten  im  Zimmer 
fi:ehen  und  entläßt  B.  mit  einer  gnädigen  Verbeugung. 


3561  Weimar.    1789.  171 

[354.]     (Auguft,  Mitte.)     Überlieferung. 

Als  fich  Goethe  in  dem  damals  fehr  befuchten  Bade? 
orte  Ruhla  befand,  beredete  er  feinen  Reifegefellfchafter, 
den  Oberftallmeifter  v.  Stein,  an  einem  fehr  trüben  Tage 
zu  einem  Spaziergange  nach  dem  Infelsberge.  Vergebens 
ftellte  ihm  diefer  das  ungünftige.  Regen  drohende  Wetter 
vor,  Goethe  blieb  bei  feinem  Entfchluß.  Als  nun  unter? 
wegs  der  Nebel  immer  dichter  ward  und  zuletzt  in  einen 
Regen  fich  auflöfte,  machte  Stein  feinem  Unmut  durch 
die  wiederholte  Äußerung  Luft,  daß  er  dies  vorausgefagt. 
Goethe  fchwieg.  Befchäftigt,  Steine  zu  fuchen,  die  er  mit 
einem  Hammer  zerfchlug,  nannte  er  dem  murrenden  Freunde 
deren  Namen,  Eigenfchaften  und  die  Klaffe,  zu  der  fie 
gehörten.  Was  gehn  mich  Ihre  Steine  an!  rief  fein  Be? 
gleiter  ziemhch  heftig.  Ich  rede  von  Ihrem  Starrfmn, 
der  uns  in  dies  Wetter  geführt  hat.  Doch,  fügte  er  ein? 
lenkend  hinzu,  als  wolle  er  feine  Heftigkeit  wieder  gut 
machen  —  da  Sie  ein  fo  großer  Mineralog  find,  fo  fagen 
Sie  mir  doch,  was  bin  ich  für  ein  Stein?  Auch  das  will 
ich  Ihnen  fagen,  erwiderte  Goethe;  Sie  gehören  in  die 
Klaffe  der  Kalkfteine;  kommt  Waffer  auf  diefe,  fo 
braufen  fie. 

355.]     Auguft  22.     Ch.  G.  Voigt  an  Ch.  W.  Hufeland. 

Von  Herrn  G.  R.  von  Goethe  habe  ich  Ihnen  ein 
Komphment  mit  folgender  Bitte  vorzutragen.  Er  will  den 
jungen  Facius  aus  Gera  (ein  gelernter  Kaufmann,  der  fich 
mit  innerer  Furie  der  Skulptur  widmet)  gern  mit  Gra= 
veur  Doli  in  Suhl  bekannt  machen,  um  ihn  von  demfelben 
etwas  profitieren  zu  laffen,  da  er  felbft  fchon  foweit  ge? 
kommen.  '^  Es  käme  darauf  an,  ihn  an  H.  Doli  zu  emp? 
fehlen  und  ein  folches  Empfehlungsblatt  glaubt  Herr  von 
Goethe  von  Ihnen  erlangen  zu  können. 

[356.]     September.     K.  L.  v.  Knebel. 

Max*  foll  fich  Volkmanns  Befchreibung  von  Italien 
(notabene  die  neuefte  Ausgabe)  anfchaffen  und  folche  als 
feinen  Begleiter  mit  fich  nehmen.  An  jedem  Orte  Italiens 
findet  fich  fogleich  eine  eigene  Befchreibung  desfelben 
Ortes,  die  man  gebrauchen  muß.  Die  italienifche  Sprache 
muß  er  täglich  üben.     Die  Eingeborenen  hören  es  gerne, 


Knebels  Bruder. 


172 K.  L.  V.  Knebel. [357 

wenn  man  ihre  Sprache  fpricht.  Da  diefe  Nation  haupt^ 
fächUch  zu  Weichlichkeit,  Bequemlichkeit  und  Aifance  in 
ihrer  Lebensart  und  Sitten  gewöhnt  ift,  fo  tut  ihnen  alles 
Harte  und  Rauhe  unferer  Sitten  befonders  weh.  Man  rieh? 
tet  auch  mit  einem  fahrenden,  ftürmifchenWefen  gar  nichts 
aus,  als  daß  man  allenfalls  Mefferfiiche  bekommen  kann; 
klug  und  vorfichtig  darf  man  aber  in  allen  Stücken  fein 
und  genau  das  Seinige  wollen,  fonft  wird  man  nur  aus? 
gelacht.  Nichts  zu  fcharf,  nichts  zu  heftig,  aber  befiimmt 
und  feft. 

Was  die  Kleidung  anbetrifft,  fo  fagt  mir  Goethe,  daß 
man  die  feidnen  Kleider  in  Italien  viel  wohlfeiler  kaufe, 
wie  bei  uns,  die  andern  aber  feien  ungleich  teurer.  Mit 
einem  guten  geflickten  Kleid,  ein  paar  Fracks  und  allen? 
falls  einer  Montierung,  wie  fie  Herr  von  Wöllwarth  hier 
getragen,  rot  mit  grünem  Revers,  komme  man  in  Italien 
überall  trefflich  fort.  Die  meiften  Franzofen  und  Eng? 
länder  tragen  folche  Uniforms. 

Cento,  das  Vaterland  des  Guercino  da  Cento,  läßt 
Goethe  befonders  wegen  der  fchönen  Gemälde  diefes  Mei? 
fters  rekommandieren.  Es  liegt  zwifchen  Ferrara  und  Bo? 
logna,  und  wenige  Reifende  kämen  dahin,  ob  es  gleich 
fehr  der  Mühe  wert  wäre.  Vor  allem  läßt  Goethe  auch 
diefe  Aifance,  diefe  Bequemlichkeit,  von  der  ich  vor(hin) 
fprach,  rekommandieren,  daß  man  fichs  durchaus  muffe 
wohl  fein  laffen,  und  das  nehme  immer  zu,  je  näher  es 
gegen  Neapel  käme.  Übrigens  empfiehlt  er  auch  vorzüg? 
lieh,  mit  eignen  Augen  wohl  zu  fehen;  das  wäre  das  befte, 
was  man  raten  könne. 

[357.]     September  17./ 18.     K.  L.  v.  Knebel. 

Geftern  bin  ich  mit  Goethen  herübergereift  nach  Jena 
und  die  Gefellfchaft  des  berühmten  und  in  feiner  Art  ein? 
zigen  Mineralogen,  des  Herrn  Werner  aus  Freiberg,  hat 
uns  den  Nachmittag  und  Abend  fehr  unterrichtend  und 
angenehm  gemacht.  Heute  hat  mir  Goethe  die  erften  Szenen 
feines  Faufts  vorgelefen,  fo  wie  fie  zum  Druck  bereit  liegen, 
und  das  hat  mich  fehr  ergötzt.  Er  wird  Donnerstags  oder 
Freitags  gewiß  wieder  von  hier  abgehen. 

[358.]     Caroline  Herder. 

Über  Goethe  habe  ich  wirklich  einen  großen  Auf? 
fchluß  bekommen.    Er  lebt  eben  wie  der  Dichter  mit  dem 


362]  Weimar  -  Dresden.    1790.  173 

Ganzen  oder  das  Ganze  in  ihm,  und  da  wollen  wir  als 
einzelne  Individuen  nicht  mehr  von  ihm  verlangen,  als 
er  geben  kann.  Er  fühlt  fich  als  ein  höheres  Wefen,  das 
ift  wahr,  aber  er  ift  doch  der  Befte  und  Unwandelbarfte 
unter  allen.  Seitdem  ich  weiß,  was  ein  Dichter  und  Künft:; 
1er  ift,  feitdem  verlange  ich  kein  engeres  Verhältnis,  und 
doch,  wenn  er  zu  mir  kommt,  fühle  ich,  daß  ein  fehr 
guter  Geift  um  und  in  ihm  ift. 


1790. 

[359.]     Februar  8.     J.  Gaudenz  v.  SalissSeewis. 

Goethe  empfing  mich  mit  viel  Anftand  und  Kälte. 
Wir  fpeiften  bei  Herrn  von  Kalb.  ^  Goethe  fcherzte  viel, 
parodierte  rlpn_Tr>p  ^er  Ret  fitzer  der  Nationalaffemblee. 
verteidigte  Sophismen  mit  Laune,  Deutfchland  mit  Wärme. 

[360.]     März.     Schiller. 

Goethe  ift  von  Weimar  weg  und,  wie  er  angibt,  der 
verwitweten  Herzogin  von  W.  entgegen,  die  man  zu  Ende 
des  März  aus  Italien  zurück  erwartet.  Man  vermutet  aber 
ftark,  daß  er  nicht  mehr  zurückkommen  werde. 

[361.]     März.     Schiller. 

Lips  ift  jetzt  in  Weimar  und  bleibt  auch  da.  Goethe 
hat  eine  Idee  zu  einem  Titelkupfer  für  den  erften  Teil 
meiner  Memoires  angegeben,  die  Lips  gezeichnet  hat  und 
jetzt  eben  fticht.  Idee  und  Zeichnung  find  ganz  vortreff^ 
lieh.  Zum  zweiten  Band  hat  er  den  Kopf  von  Bohemund 
erfunden,  und  äußerft  treffend. 

[362.]     Juli  30.     Ch.  G.  Körner. 

Goethe  war  auch  vor  kurzem  ein  paar  Tage  hier  in 
Dresden.  Graf  Geßler  fuchte  ihn  auf  und  brachte  ihn  einen 
Abend  auf  unferen  Weinberg.  Er  taute  auf  und  war  zuletzt 
fehr  mitteilend.  Aber  feine  Art  fich  anzukündigen,  hat 
immer  etwas  Kaltes  und  Zurückfcheuchendes.  Ich  habe  wie* 
der  eine  halbe  Stunde  lang  ein  intereffantes  Gefpräch  über 
Kunft  mit  ihm  gehabt.  Auf  dem  Rückwege  aus  Schießen 
denkt  er  hier  wieder  durchzukommen  und  länger  zu  bleiben. 

I 


174  Charlotte  Schiller.  [365 

[363.]    Juli  (30).     Charlotte  Schiller. 

Als  Goethe  einmal  den  '^  Grafen  Geßler  ^  zum  Hei? 
raten  habe  bereden  wollen,  habe  er  auf  die  Frage  der 
Schwägerin  Körners :  Warum  heiraten  Sie  denn  nicht  felbft? 
erwidert:    Ich  bin   verheiratet,   nur  nicht  mit  Zeremonie. 

[364.]     Auguft  17.     F.  Freih.  v.  Schuckmann  an  J.  F.  Reichardt. 

Goethe  aß  geftern  Mittag  gerade  bei  Ankunft  Deines 
Briefes  mit  mir  in  Breslau,  und  ich  konnte  ihm  feine  Einlage 
allfogleich  geben.  Nachmittag  waren  wir  im  Zwinger,  in 
einem  Getümmel  von  400  Menfchen  (und  zwar  bei  dem 
zur  Jahresfeier  der  Thronbefteigung  Friedrich  Wilhelm  II. 
im  kaufmännifchen  Zwinger  veranftalteten  Fefte)  und  da 
war's  denn,  wo  wir  Muße  und  Einfamkeit  genug  fanden, 
viel  und  vertrauter  miteinander  zu  reden.  Ich  hab'  ihn 
doch  ganz  anders,  als  meine  Vorftellung  war,  gefunden, 
gerade  zu  meiner  Zufriedenheit.  Daß  es  fchwer  ift,  ihm 
näher  zu  kommen,  liegt  nicht  in  feinem  Willen,  fondern 
in  feiner  Eigentümlichkeit,  in  der  Sprachfchwierigkeit,  feine 
Gefühle  und  Ideen  fo,  wie  fieinihm  liegen,  auszudrücken; 
in  der  Intenfion  beider  und  der  Liebe,  die  diefe  ihm  für 
fie  abdringt.  Bis  er  weiß,  daß  man  ihn  errät,  fühlt,  durch 
jede  Öffnung,  die  er  gibt,  hineinfieht,  kann  er  nicht  reden. 

So  fieir  ich  mir's  vor;  fag'  Du  mir  ob  ich  recht  habe. 
Einige  Menfchen,  vor  denen  er  ift,  würden  gewiß  leichter 
und  beffer  fprechen,  wenn  fie  gemeinerer  Natur  wären, 
weil  in  die  kurrenten  Formeln  nur  die  kurrenten  Dinge 
paffen.  ^ 

Goethe  läßt  Dich  grüßen  und  Dir  fagen,  er  werde 
nächftens  fchreiben.  Er  wollt'  es  durch  mich;  da  ich  ihn 
aber  heut  auf  der  Kur  fagte,  daß  ich  heut  fchreibe  und 
er  Mittag  gebeten  war,  fo  muß  er  es  unterlaffen. 

[365.]  Auguft/September.  F.  Frh.  v.  Schuckmann  an  J.  F.  Reichardt. 

Ich  bin  fehr  nahe  und  innig  mit  ihm  bekannt  ge? 
worden  und  habe  einen  vortrefflichen  Menfchen  an  ihm 
gefunden.  Was  ich  Dir  über  feine  Schwierigkeit  im  Aus? 
druck  fchrieb,  war  ganz  weg,  fobald  er  herzlich  ward  und 
außer  der  Konvention  mit  mir  lebte.  Kalt  kann  er  eigentlich 
nicht  reden,  und  dazu  will  er  fich  mit  Fremden  zwingen, 
und  das  wohl  aus  guten  Gründen.  Vertraut,  folgt  er 
feiner  Natur  und  wirft  aus  dem  reichen  Schatz  die  Ideen 


567] Breslau  -  Dresden.    1790. 175 

in  ganzen  Maffen  hervor.  Ich  möchte  fagen:  er  fpricht, 
wie  der  Algebraift  rechnet,  nicht  mit  Zahlen,  fondern  mit 
Größen  und  feine  lebendige  Darftellung  ift  nie  Gaukele 
ipiel  der  Phantafie,  fondern  feine  Bilder  find  immer  das 
wahre  Gegenftück,  was  die  Natur  dem  Dinge  gab,  und 
führen  den  Hörer  ihm  zu,  nicht  ab.  Das  ift  jetzt,  nach? 
dem  er  acht  Tage  weg  ift,  mein  reines  Urteil  über  feine 
perfönliche  Art,  ohne  Einwirkung  der  Zuneigung,  die 
ich  zu  ihm  gewonnen  habe.  Freilich  alle  übrigen  Menfchen 
hier,  von  Garve  bis  zu  Seydlitz,  finden,  daß  er  fich  fonder? 
bar  ausdrücke,  daß  er  nicht  zu  verftehen  fei,  und  läftige 
Prätenfionen  mache;  —  und  doch  hat  er  von  meiner  guten 
Mutter  recht  vertraulich  die  Wundertaten  des  Enkels  und 
ihre  Wirtfchaft  erzählen  laffen,  die  ihn  auch  recht  lieb 
darum  hat.  Auch  Kapitän  von  Keffel  ift  eine  Ausnahme, 
dem  war  er  durch  feine  Liebhaberei  des  Sammeins  von 
Kupferßichen  verwandt,  und  er  hat  ihn  einen  Nachmittag, 
da  er  feine  Sachen  befah,  durch  das,  was  er  darüber 
äußerte,  fehr  entzückt. 

[366.]     September  25./Oktober  1.     Ch.  G.  Körner  an  Schiller. 

Goethe  ift  acht  Tage  hier  in  Dresden  gewefen,  und 
ich  habe  viel  mit  ihm  gelebt;  es  gelang  mir,  ihm  bald 
näher  zu  kommen,  und  er  war  mitteilender,  als  ich  er? 
wartet  hatte.  Wo  wir  die  meiften  Berührungspunkte  fan? 
den,  wirft  Du  fchwerlich  erraten.  Wo  fonft,  als  im  Kant! 
In  der  Kritik  der  teleologifchen  Urteilskraft  hat  er  Nah? 
rung  für  feine  Philofophie  gefunden.  Doch  haben  wir 
nicht  bloßphilofophiert;  wenigftens  nicht  bloß  über  Natur. 
Seine  Begriffe  von  Stil  und  Klaffizität  in  der  Kunft  waren 
mir  fehr  intereffant,  und  ich  fuche  fie  mit  meiner  Theorie 
der  Ideale  zu  vereinigen.  Hier  waren  wir  auf  ganz  ver? 
fchiedenen  Wegen;  aber  in  feinem  Gefichtspunkte  ift  viel 
Fruchtbares,  das  ich  bis  jetzt  überfehen  hatte.  Auch  ver? 
danke  ich  ihm  manche  treffliche  Winke  im  Genuß  der 
bildenden  Künfte.  Von  feinen  Elegien  hat  er  uns  einige 
vorgefagt. 

[367.]     Oktober  31.     Schiller  an  Ch.  G.  Körner. 

Goethe  hat  uns  viel  von  Dir  erzählt  und  rühmt  gar 
fehr  Deine  perfönliche  Bekanntfchaft.  Er  fing  von  felbft 
davon  an  und  fpricht  mit  Wärme  von  feinem  angenehmen 
Aufenthalt  bei  Euch  und  überhaupt  auch  in  Dresden.  Mir 
I 


176  Schiller.  [368 

erging  es  mit  ihm  wie  Dir.  Er  war  geftern  bei  uns,  und 
das  Gefpräch  kam  bald  auf  Kant.  Intereffant  ift's,  wie 
er  alles  in  feine  eigene  Art  und  Manier  kleidet  und  übers* 
rafchend  zurückgibt,  was  er  las,  aber  ich  möchte  doch  nicht 
gern  über  Dinge,  die  mich  fehr  nahe  intereffieren ,  mit 
ihm  fireiten.  Es  fehlt  ihm  ganz  an  der  herzlichen  Art, 
fich  zu  irgend  etwas  zu  bekennen.  Ihm  ift  die  ganze 
Fhilofophie  fubjektivifch,  und  da  hört  denn  Überzeugung 
und  Streit  zugleich  auf.  Seine  Fhilofophie  mag  ich  auch 
nicht  ganz:  fie  holt  zu  viel  aus  der  Sinnenwelt,  wo  ich 
aus  der  Seele  hole.  Überhaupt  ift  feine  Vorftellungsart 
zu  finnlich  und  betaftet  mir  zu  viel.  Aber  fein  Geift 
wirkt  und  forfcht  nach  allen  Direktionen  und  ftrebt,  fich 
ein  Ganzes  zu  erbauen  —  und  das  macht  mir  ihn  zum 
großen  Mann. 

Übrigens  ergeht's  ihm  närrifch  genug.  Er  fängt  an  alt 
zu  werden,  und  die  fo  oft  von  ihm  geläfterte  Weiberliebe 
fcheint  fich  an  ihm  rächen  zu  wollen.  Er  wird,  wie  ich 
fürchte,  eine  Torheit  begehen  und  das  gewöhnliche  Schick:* 
fal  eines  alten  Hageftolzen  haben.  Sein  Mädchen  ift  eine 
Mamfell  Vulpius,  die  ein  Kind  von  ihm  hat  und  fich  nun 
in  feinem  Haufe  faft  fo  gut  als  etabliert  hat.  Es  ift  fehr 
wahrfcheinlich,  daß  er  fie  in  wenigen  Jahren  heiratet.  Sein 
Kind  foll  er  fehr  lieb  haben,  und  er  wird  fich  bereden, 
daß  wenn  er  das  Mädchen  heiratet,  es  dem  Kinde  zuliebe 
gefchehe,  und  daß  diefes  wenigftens  das  Lächerliche  dabei 
vermindern  könnte. 

[368.]     Dezember.     Caroline  v.  Dacheroeden. 

Mit  Goethen  möcht'  ich  viel  leben.  Er  hat  für  mich 
etwas  fehr  Anziehendes,  fo  eine  Geiftes^  und  Herzens^ 
verfchreibung  ift  fein  ganzes  Wefen.  Aber  dann  kann  er 
auch  wieder  wunderbar  fein,  drückend  und  leer,  wenn  er 
fpricht,  da,  wo  er  glaubt,  fprechen  zu  muffen.  So  ging 
es  mir  mit  ihm,  als  er  vor  einigen  Wochen  mit  der  Her^* 
zogin  hier  war.  Er  ging  mir  faft  nicht  von  der  Seite, 
fprach  offen,  fo  geiftvoll  und  herzlich,  aber  wenn  ein 
Dritter  dazu  kam,  fprach  er  das  fadefte  Zeug,  das  man 
denken  mag.  Lili  fchrieb  mir  einmal,  es  fei  fchmerzlich, 
ein  Wefen  wie  Goethe  auch  für  Momente  nur  bloß  dul** 
den  zu  können.  Und  fo  ift's.  Die  Weimarer  plagen 
und  verfchrauben  ihn  auch. 


372] Weimar.    1791. 177 

[369.]     Ende  d.  J..     H.  Beck. 

Ich  brauche  das  Gleichnis  hier,  welches  Goethe  gegen 
mich  brauchte:  Errichtung  eines  Theaters  ift  wie  eine 
Kupferftichfammlung ;  anfangs  ift  man  genötigt,  allerlei 
Guts:  und  Schlechtes  mit  aufzunehmen;  nach  und  nach,  wie 
man  beffere  Akquifitionen  macht,  fchließt  man  das 
Schlechtere  aus. 

[370.]     Dezember  20.     Wieland. 

Goethe,  der  in  Mineralogicis,  wie  in  vielem  anderen 
Kenner  ift,  hat  mir  zu  dem  allzugütigen  Gefchenk  unferes 
lieben  Barons  von  Herbert  fehr  Glück  gewünfcht.  Er 
befitzt  felbft  einige  Stücke  von  dem  Klagenfurter  Mufchel^ 
marmor,  die  aber,  wie  er  felbft  gerne  geftand,  an  Schön? 
heit  und  Wert  mit  denen,  woraus  meine  Dofe  zufammen* 
gefetzt  ift,  gar  nicht  zu  vergleichen  find. 


1791. 

[371.]    Juli  22.     Ch.  G.  Voigt. 

Herr  von  Goethe  ift  fofort  von  der  Sache  (einem 
Rufe  nach  Halle  — )  benachrichtigt  worden.  Herr  von 
Goethe  fagt:  Ich  will  es  dem  Profeffor  Hufeland  gar 
nicht  verdenken,  wenn  er  fuchet  was  die  Höfe  für  ihn 
tun  wollen ;  raten  Sie  ihm  nur,  feine  Geiftesfreiheit  äußerfien 
Falls  recht  teuer  nach  Berlin  zu  verkaufen,  daß  es  ihn 
nicht  gereut,  wenn  er  in  der  Folge  zu  Halle  gefchub 
meiftert  wird. 

[372.i     Oktober  8.     Wieland  an  Schiller. 

Ich  habe,  Ihrem  Auftrage  zufolge,  mit  Goethe  wegen 
Auffchub  der  Vorftellung  Ihres  Don  Carlos  gefprochen. 
So  willig  er  fich  aus  Achtung  gegen  Sie  bezeigte,  fo  vers^ 
barg  er  mir  doch  nicht,  daß  er  fehr  ungern  daran  gehe. 
Er  war  gefonnen  gewefen,  Don  Carlos  künftigen  Sonn;j 
abend  zu  geben,  und  gegen  feine  rationes  decidendi,  die 
fich  ganz  auf  den  Gefichtspunkt  des  Theaterdirektors 
gründeten,  war  in  diefer  Rückficht  nicht  viel  einzuwenden. 
Das  Intereffe  der  Caffa  und  der  Umftand,  daß  das  Stück 
den  Schaufpielern  noch  frifch  im  Gedächtnis  ift,  vereinig? 
ten  fich,  ihn  zu  determinieren,  es  um  foviel  balder  zu 
geben,  da  die  Erwartung  des  Publikums  fehr  darauf  ge? 
I  12 


178  Wieland.  [373 

fpannt  ifi.  Hierzu  kommt  noch  der  Umfiand,  daß  den 
Schaufpielern  nichts  befchwerlicher  und  beinahe  urimög^ 
hcher  ift,  als  ein  Stück,  das  fie  einmal  memoriert  haben, 
mit  Veränderung  des  Textes  von  neuem  einzuftudieren. 
Sie  entfchließen  fich  nicht  nur  fehr  ungern  dazu,  weil 
diefe  Operation  für  fo  mechanifche  Wefen  fehr  penibel 
ift,  fondern  die  Erfahrung  hat  auch  von  jeher  gezeigt, 
daß  fobald  fie  im  wirklichen  Spiel  begriffen  find,  die  alte 
habitude  im  Moment  die  Oberhand  gewinnt,  und  die  neu 
memorierte  Veränderung  ihnen  erft  auf  die  Zunge  kommt, 
wenn  Üq  die  Stelle  fo,  wie  fie  folche  zum  erftenmal  eins? 
ftudiert  hatten,  hergefagt  haben.  Deffen  allen  ungeachtet 
hat  fich  G.  doch  erklärt,  daß  er  aus  Deferenz  für  Ihren 
Wunfeh  den  Don  Carlos  bis  in  die  letzte  Woche  diefes 
Monats,  allenfalls  bis  zum  letzten  Tag  desfelben  zurück^; 
behalten  wolle,  und  dies  ift  alles,  was  er  glaubt,  das  ihm 
billigerweife  zugemutet  werden  könne. 

[373.]     Oktober  8.     K.  A.  Böttiger. 

Nach  einem  Abendejfen  bei  Wieland. 

Über  die  Urfachen  wurde  gefprochen,  warum  man 
in  hiefiger  Gegend  fo  wenig  erträgliche  Gefichter  unter 
den  Bauernmädchen  fände.  Wieland  fand  die  Vorzug:^ 
lichfte  in  dem  vielen  Kuchenfreffen,  da  es  jährlich  wohl 
acht  Fefttage  gibt,  wobei  der  Magen  mit  Kuchenteig  voll? 
geftopft  wird.  Goethe  bemerkte,  daß  die  hier  überall  ges^ 
wohnliche  Sitte,  jede  Laft  auf  dem  Rücken  zu  fchleppen, 
den  Körperwuchs  zerdrücke  und  platte  Phyfiognomien  her? 
vorbringe.  Bei  den  alten  Griechen  und  in  Italien  trügen 
die  Mädchen  alles  auf  dem  Kopf.  Es  gebe  eine  fehr  an? 
genehme  Form  im  Umriffe,  ein  fchlankes  Mädchen  mit 
einem  gut  geformten  Wafferkruge  auf  dem  Kopfe  mit  groß? 
ter  Leichtigkeit  einhergehen  zu  fehen.  In  Italien  gebe  es 
auch,  die  Seehäfen  ausgenommen,  felbft  unter  dem  mann? 
liehen  Gefchlechte,  wenig  Laftträger  und  Crocheteurs.  Der 
ärmfte  Kohlgärtner  halte  doch  feinen  Efel,  den  er  früh 
mit  Gewächfen  beladen  hereintreibe  und  dafür  den  Dün? 
ger  empfange,  den  er  wieder  in  fein  Gärtchen  aus  der 
Stadt  hinausfchleppe. 

Goethes  Erzählung  von  dem,  aus  zwei  natürlichen 
Felfen  gehauenen  Theater  von  Taormina  in  Sizilien.  Die 
Alten  benutzten  die  Natur  zu  folchen  großen  Werken, 
daher  Goethe  auch  die  Gefchichte  mit  dem  Softhenes,  der 


373]  Weimar.    1791.  179 

dem  Alexander  die  architektonifche  Gasconade  gemacht 
haben  foU,  nicht  fo  ganz  unwahrfcheinlich  fand.  (Le  voyage 
pittoresque  par  Mr.  Houel  fehr  empfohlen.)  Übrigens  ver:; 
fieberte  mir  Goethe,  was  ich  auch  von  andern  Reifenden 
fo  oft  beftätigt  gehört  habe,  daß  unter  den  niedern  Volks^ 
klaffen  in  Italien  noch  faft  durchaus  die  Sitten,  Denkart 
und  Gebräuche  wiedergefunden  werden,  wie  wir  fie  in 
den  alten  Schriftftellern  bezeichnet  finden.  Auch  die  Re:: 
ligion  ift  überall  auf  heidnifche  Superftition  gepflanzt.  — 
Vom  ungefunden  Klima  in  Rom.  Überall  gibt  es  Häu:= 
fer  dafelbft,  die  wegen  der  Malaria  nicht  bewohnt  werden. . 
Oft  ift  es  jedoch  nur  Vorurteil.  Man  könne  mit  Recht 
fagen,  daß  die  Römer  aus  Drang  und  Not  Welteroberer 
geworden  wären,  weil  es  ihnen  zu  Haufe  in  ihrem  in;; 
fizierten  Nefte  nicht  gefallen  konnte.  Doch  fei  es  glaub^^ 
lieh,  daß  bei  der  ftärkeren  Kultur  der  campagna  di  Roma 
vorzeiten  das  Klima  weniger  Krankheitsftoff  in  fich  gQ^ 
habt  habe.  —  Einige  Engländer  haben  den  Einfall  gehabt, 
die  Tiber  in  ein  andres  Bette  um  Rom  herumzuleiten,  um 
in  ihrem  ausgetrockneten  Bette  Schätze  verfenkter  Altern; 
tümer  wiederzufinden. 

Es  ift  dies  ein,  der  Lage  Roms  nach,  unmögliches 
Unternehmen.  Die  Tiber  hat  übrigens  gewiß  allein  den 
älteften  Bewohnern  Roms  Anlaß  gegeben,  das  auf  dem 
hohen  Berg  göttlich  liegende  Alba  zu  verlaffen  und  fich 
in  diefem  Sumpfloch  anzufiedeln,  welches  ohne  diefen 
Beweggrund  ein  Unternehmen  von  lauter  Tollhäuslern  ge^ 
wefen  wäre. 

Goethe  bereifte  Italien  vorzüglich  der  Kunft  wegen. 
Seinem  Kennerauge  ift  hier  nichts  entgangen.  So  wurde 
z.  B.  die  Frage  aufgeworfen,  wie  die  Alten  bei  ihren  Rie? 
fengebäuden  die  Ungeheuern  Steinmaffen  in  folche  Höhen 
hinaufgebracht  hätten.  Hier  fagte  Goethe,  daß  er  in  Sizi? 
lien  einen  unvollendeten  Tempel  gefehn  hätte,  wo  an  den 
Quaderfteinen  noch  auf  beiden  Seiten  die  Henkel  fichtst 
bar  gewefen  wären,  um  welche  man  die  Seile  gefchlungen 
und  die  man  alsdann  beim  Aneinanderpaffen  abgefchlagen 
habe.  Übrigens  habe  man  lauter  folche  fchneckenförmig 
auflaufende  Gerüfte  gehabt,  wie  fie  in  Merlans  Bilder^: 
bibcl  noch  um  den  babylonifchen  Turm  herum  zu  fehen 
wären.  —  Goethe  bewundert  auf  den  alten  Münzen  die 
fchönen  feften  Umriffe  aller  Formen,  z.  B.  auf  den  Mün^ 
zen  von  Tarent  den  Delphin.  Aber  auch  hier  hat  er  über 
I  12* 


180  K.  A.  Böttiger.  [374 

Verhältniffe  und  Proportionen  treffliche  Beobachtungen 
angeftellt.  So  frappierte  ihn  z.  B.  lange  die  Bildung  eines 
Menfchenkopfes  an  einem  Stierleib  auf  mehren  Münzen 
des  untern  Italiens,  wo  ein  fchönes  Menfchengeficht  doch 
einzig  auf  den  Körper  eines  Ochfen  paßt.  Allein  das 
Geheimnis  befieht  darin,  daß  der  Künftler  zwifchen  den 
feften  hervorftehenden  Teilen  des  Gefichts  ungewöhnlich 
verlängerte  Zwifchenräume  angebracht  hat,  fowie  imGegen? 
teil  beim  non  plus  ultra  weiblicher  Schönheit,  der  Medi:= 
zeifchen  Venus,  jene  Zwifchenräume  außerordentlich  vers; 
kürzt  find. 

Es  ift  Wonne,  Goethe  über  folche  Gegenftände  mit 
lichtvoller  Präzifion  fprechen  zu  hören. 

[374.]     November  4.     K.  A.  Böttiger. 

Die  Ordnung  der  heutigen  Sitzung  im  Gelehrtenj:Ver^ 
ein  war  folgende.  Der  Präfident  der  Gefellfchaft,  der  Ge=: 
heimrat  von  Goethe,  eröffnete  fie  mit  fortgefetzten  Be* 
trachtungen  über  das  Farbenprisma.  Er  wiederholte  erft 
ganz  kurz  die  Refultate  deffen,  was  er  im  erften  Hefte 
feiner  Beiträge  zur  Optik  weitläufiger  und  durch  24  kleine 
illuminierte  Kupfertäfelchen,  die  dazu  ausgegeben  werden, 
veranfchaulicht  hat. 

Die  Hauptfätze  demonfirierte  er  an  einer  fchwarzen 
Tafel,  wo  er  die  Figuren  fchon  vorher  angezeichnet  hatte, 
fo  lichtvoll  vor,  daß  es  ein  Kind  hätte  begreifen  können. 
Goethe  ift  ebenfo  groß  als  fcharffinniger  Demonftrator 
an  der  Tafel,  als  er's  als  Dichter,  Schaufpiel^  und  Opern:; 
direktor,  Naturforfcher  und  Schriftfteller  ift.  Er  erklärte 
fich  hier  im  kleinen  Zirkel  geradezu  gegen  Newtons  Far^: 
bentheorie,  die  durch  feine  Verfuche  ganz  umgeworfen 
wird,  und  zeigte  zugleich  an  diefem  Irrtum  des  großen 
Newton,  dem  nun  ein  Jahrhundert  lang  alles  nachgebetet 
hat,  fehr  fchön,  wie  Nachbeterei  auch  unter  guten  Köpfen 
fo  tief  Wurzel  fchlagen  könne. 

[375.]     November.     E.  Genaft. 

Zur  Erklärung  der  Worte :  drohteft  mit  grimmiger  Glut  den 
armen  Augen,  in  dem  Gedicht  Euphrofyne  berichtet  Genaft: 

Bei  der  Hauptprobe  von  König  Johann,  worin  ße  den 
Arthur  spielte,  zeigte  Chriftiane  Neumann  (Euphrofyne) 
nicht  genug  Entfetzen  vor  dem  glühenden  Eifen;  unge^ 
duldig   hierüber   riß  Goethe   dem  Darfieller   des  Hubert 


378]  Weimar.    1792.  181 

das  glühende  Eifen  aus  der  Hand  und  ftürzte  mit  folch 
grimmigem  Blick  auf  das  Mädchen  zu,  daß  diefes  ent^^ 
fetzt  und  zitternd  zurückwich  und  ohnmächtig  zu  Boden 
fank.  Erfchrocken  kniete  nun  Goethe  zu  ihr  nieder,  nahm 
fie  in  feine  Arme  und  rief  nach  Waffer.  Als  fie  die 
Augen  wieder  auffchlug,  lächelte  fie  ihm  zu,  küßte  feine 
Hand  und  bot  ihm  dann  den  Mund. 

[376.]     (Vor  1792.)     K.  L.  v.  Knebel  (nach  H.  C.  Robinfon). 

Do  you  know?  said  Herder  one  day  to  Goethe  at 
my  house,  that  we  have  in  the  German  language  an  Epic 
poem  with  as  much  poetry  in  it  and  more  philosophy 
than  the  Odyssee.  Goethe,  when  Reinecke  Fuchs  was 
named,  said  that  he  had  been  deterred  from  the  study 
of  it  by  its  being  published  by  Gottsched,  a  sort  of  evil 
spirit  who  presided  over  the  infant  genius  of  German 
literature  in  the   18*^  Century. 

1792. 

[377.J     Februar  17.     K.  A.  Böttiger. 

Der  Geheimrat  Goethe  las  im  Gelehrtens^Verein  zu^; 
erft  einen  kleinen  gedruckten  Auffatz  vom  Hofrat  Moritz 
vor:  Grundlinien  zu  meinen  Vorlefungen  über  den  Stil.  ^ 

Nach  diefem  Leitfaden  hat  nun  Moritz,  wie  uns 
Goethe  noch  im  Discurs  mitteilt,  feine  Vorlefungen  fchon 
angefangen.  Sie  werden  alle  einzeln  gedruckt;  einige  da^ 
von  hat  Goethe  fchon  in  Händen  und  wird  uns  daraus 
gelegentlich  etwas  mitteilen. 

[378.]     März.  23.     K.  A.  Böttiger. 

Nun  überrafchte  uns  Goethe  im  Gelehrten^Vereine 
mit  einem  Auffatz,  deffen  Ankündigung  ebenfo  befrem? 
dend,  als  die  Ausführung  hinreißend  und  unterhaltend 
war.  Es  ging  ein,  auf  einen  Bogen  gezeichneter  Stamm:; 
bäum  herum  und  zugleich  kündigte  uns  Goethe  an,  er 
wolle  uns  etwas  über  Caglioftros  Stammbaum  und  die  Fa* 
milie  diefes  Wundermannes  vorlefen. 

Als  ich,  fing  er  an  zu  erzählen,  im  Jahre  1787  mich 
auf  meinen  Reifen  einige  Zeit  zu  Palermo  in  Sizilien  auf^ 
hielt,  wurde  in  allen  Gefellfchaften  vom  Grafen  Caglio^ 
ftro,  als  einem  gebornen  Palermitaner,  deffen  nächlte  Bluts^ 
freunde  noch  in  kümmerlichen  Umftänden  in  Palermo  lebs^ 
I 


182  K.  A.  Böttiger.  [378 

ten,  gefprochen.  Man  fagte  mir  in  einer  Gefellfchaft,  ein 
fehr  gefchickter  Advokat  habe  auf  Requifition  des  fran? 
zöfifchen  Hofes  die  Familienumftände  des  Herrn  Lands^ 
mannes  genau  unterfucht  und  darüber  ein  Memoire  nach 
Paris  gefchickt,  wo  fich  damals  der  berühmte  Halsband? 
prozeß  für  Cagliofiro  damit  geendigt  hatte,  daß  diefer 
freigelaffen  wurde  und  nach  England  ging.  Meine  Neu? 
gier,  diefen  Advokaten  felbft  kennen  zu  lernen,  wurde 
durch  die  Dienftfertigkeit  Eines  aus  der  Gefellfchaft  bald 
befriedigt,  der  mich  fchon  des  andern  Tages  bei  diefem 
Manne  einführte.  Diefer  legte  mir  hierauf  den  ganzen 
Stammbäum  des  Abenteurers  und  zugleich  eine  Abfchrift 
des  Memoires  vor,  das  er  nach  Frankreich  zur  Entlar? 
vung  des  Herrn  Balfamo  gefchickt  hatte.  Sein  mütter? 
lieber  Großvater  hatte  wirklich  Jofeph  Caglioftro  geheißen, 
unter  welchem  Namen  fich  noch  Verwandte  in  Meffina 
befinden.  Sein  Vater  war  ein  Kaufmann,  der  infolvent 
geworden  und  bald  geftorben  war.  Der  junge  Balfamo 
hatte  einige  Zeit  in  einem  Klofter  der  barmherzigen  Brü? 
der  zugebracht,  wo  er  eben  fein  bißchen  empirifche  Me? 
dizin  gelernt  hatte,  weil  diefer  Orden  die  Krankenpflege 
in  den  Spitälern  beforgte.  Als  er  diefer  Klofterzucht  ent? 
laufen  war,  lernte  er  alle  Hände  meifterhaft  nachmachen, 
kam  diefer  Kunft  wegen  ins  Gefängnis  und  entkam  diefem 
durch  eine  Flucht  nach  Rom,  wo  er  feine  Seraphine,  eine 
Gürtlerstochter,  heiratete,  durch  ihren  Erwerb  nun  die 
Rolle  eines  Grafen  Pellegrino  zu  fpielen  anfing,  und  unter 
diefem  Namen  felbft  die  Unverfchämtheit  hatte,  wieder 
nach  Palermo  zu  kommen.  Aber  hier  wurde  er  erkannt 
und  zum  zweiten  Male  feftgemacht.  Aber  auch  diesmal 
wußte  er  fich  feine  Freiheit  durch  die  Schönheit  feiner 
Frau  zu  verfchafl"en,  deren  erklärter  Liebhaber,  ein  roher 
junger  Principe,  den  Advokaten,  der  gegen  Balfamo  diente, 
fo  mißhandelte,  daß  diefer  aus  Angft  nun  felbft  die  Los? 
laffung  des  Gefangenen  bewirkte.  Nun  verließ  unfer 
Held  Palermo  zum  zweiten  Male,  nahm  feines  Großvaters 
Caglioftro  Namen  an  und  durchftrich,  wie  bekannt,  Eu? 
ropa.  Dies  und  vieles  andre  lernte  ich  aus  jenem  Me? 
moire,  das  ich  vom  Advokaten  zum  Anfehen  erhielt,  fo? 
wie  ich  mir  auch  den  dabei  befindlichen  Stammbaum  ko? 
pierte.  Der  Advokat  hatte  die  Data  zu  dem  letztern  von 
Balfamos  noch  lebender  Mutter  und  Schwefter  auf  eine 
gute  Art  zu  erhalten  gewußt. 


578j Weimar.    1792. 183 

Dies  machte  mich  neugierig,  diefe  FamiUe  felbft  kennen 
zu  lernen.  Es  hielt  fchwer,  da  es  arme  Leute  waren,  die 
jeden  Beluch  eines  Fremden  fehr  verdächtig  finden  mußten. 
Aber  der  Schreiber  des  Advokaten,  der  mir  die  Sache 
kommunizierte,  erbot  fich  doch,  mich  als  einen  Engländer 
dort  bekannt  zu  machen,  der  genaue  Nachricht  von  der 
Befreiung  Caglioftros  aus  der  Baftille  und  feiner  glücke: 
liehen  Ankunft  in  England  zu  überbringen  habe.  Der 
Anfchlag  glückte. 

Nun  erzählte  Goethe  mit  feiner  unnachahmlichen 
Kunft  zu  erzählen  und  Familienfzenen  zu  malen,  feinen 
Eintritt  in  die  kleine  Wirtfchaft  diefer  armen  Bürger^: 
familie.  In  der  Küche  wufch  Caglioftros  Schwefier  eben 
das  Eßgefchirr  auf  und  deckte  fogleich  beim  Eintritt  des 
Fremden,  der  hier  durch  die  Küche  in  die  Wohnftube 
paffieren  mußte,  durch  Überfchlagen  der  Schürze  den  noch 
weniger  abgetragenen  und  verfchoffenen  Vorderteil  ihres 
Rockes  auf.  In  dem  Wohn^  und  Familienzimmer  —  die 
ganze  Familie  hatte  nur  dies  einzige  —  fah  alles  ärmlich, 
doch  reinlich  aus.  Schwarze  Heiligenbilder  hingen  an 
den  Wänden,  die  einft  gefärbt  gewefen  waren.  Die  Röhrst 
ftühle  waren  einft  vergoldet  gewefen.  Ein  einziges  Fen?: 
fter  erleuchtete  das  Zimmer,  an  deffen  einem  Ende  die 
alte  harthörige  Mutter,  an  dem  andern  eine  kranke  fchlaf:? 
füchtige  Frau  faß,  die  man  in  der  Familie,  trotz  alles  eig^ 
nen  Mangels,  aus  Barmherzigkeit  unterhielt.  Goethe  mußte 
nun  der  alten  Mutter  die  Nachricht  von  ihrem  Sohne  weit? 
läufig  verdolmetfchen  laffen,  da  er  des  gemeinen  Dialekts 
der  Sizilianer  nicht  ganz  kundig  war.  Die  Schwefter,  die 
felbft  fchon  drei  erwachfene  Kinder  hatte  und  eine  arme 
Witwe  war,  erzählte,  wie  es  ihr  kränkend  fei,  daß  ihr 
Bruder,  der  große  Schätze  befitzen  folle,  nicht  einmal  die 
13  Uncie  d'oro  (Dukaten)  wieder  fchicke,  womit  fie  ihm 
bei  feiner  letzten  Abreife  aus  Palermo  feine  verfetzten 
Sachen  eingelöft  habe.  Fragen  an  Goethe,  ob  er  nicht 
das  Rofalienfeft  in  Palermo  mit  abwarten  wolle,  ob  er 
einen  Brief  an  ihren  Bruder  in  England  beftellen  wolle. 
Die  alte  Mutter  fragte,  ob  er  wohl  ein  Ketzer  fei  ufw. 
Beim  Abfchied,  der  fchon  fehr  traurig  war,  verfpricht 
Goethe,  morgen  wieder  zu  kommen  und  den  Brief  felbft 
abzuholen.  Er  kommt  auch  den  andern  Tag  wirklich 
wieder  und  erhält  einen  Brief  und  einen  pathetifchen  (ruh? 
rend  gefchilderten)  mündlichen  Auftrag  von  der  alten 
I 


184 K.  A.  Böttiger.  [578 

Mutter,  die  keinen  ganzen  Mantel  mehr  hat,  um  in  die 
Meffe  gehen  zu  können.  Beim  Abfchiede  rührende  Zu^: 
nötigung,  das  Fefi  der  heiligen  Rofalia  noch  in  Palermo 
und  in  Gefellfchaft  diefer  guten  armen  Leute  zu  feiern. 
—  Hätte  es  Goethes  Reifekaffe  auf  der  Stelle  erlaubt,  er 
hätte  feinen  kleinen  Betrug  fogleich  dadurch  gut  gemacht, 
daß  er  unter  dem  Vorwand,  er  wolle  fich  das  Geld  in 
England  vom  Bruder  wiedergeben  laffen,  der  Schwefter 
noch  vor  der  Abreife  die  13  Dukaten  gefchickt  hätte,  die 
Cit  für  ihren  Bruder  ausgelegt  hatte.  Was  indeffen  da^ 
mals  nicht  gefchehen  konnte,  ift  fpäter  von  Deutfchland 
aus  gefchehen. 

Goethe  hatte  diefe  Auftritte  in  einigen  Zirkeln  feiner 
Freunde  erzählt.  Diefe  fetzten  ihn  in  den  Stand,  der 
armen  Familie  noch  mehr  zu  fchicken,  als  jenes  betrug. 
Der  englifche  Kaufmann  Corf  in  Palermo,  an  den  es  Goethe 
fpedierte,  händigte  es  ohne  alle  Adreffe  ein.  Die  guten 
Leutchen  meinten,  dies  käme  wirklich  von  ihrem  Bruder 
aus  England  und  dankten  ihm  fchriftlich.  Auch  diefen 
Brief,  den  dann  Goethe  von  jenem  Kaufmann  zugefchickt 
bekam,  las  er  uns  jetzt  vor.  Er  war  fehr  rührend,  die 
Gabe  war  gerade  zum  Weihnachtsfefie  angelangt.  Die 
Mutter  fchrieb  die  Rührung  des  Herzens  ihres  Sohnes 
dem  heiligen  Muttergotteskinde  zu.  Noch  hat  Goethe 
eine  Summe  in  den  Händen,  die  er  der  armen  Familie, 
welche  durch  Caglioftros  neuefte  Schickfale  in  Rom  aller 
Hoffnung  beraubt  fein  muß,  noch  zufchicken  wird.  — 
Einer  aus  der  Gefellfchaft  glaubt,  es  fei  das  Honorar, 
welches  Goethe  von  Unger  in  Berlin  für  das  Manufkript 
des  Großkophta  erhalten  hat.  Mir  ift's  auch  aus  andern 
Gründen  wahrfcheinlich ;  und  fo  wäre  es  in  der  Tat  höchft 
fonderbar,  daß  eine  Summe  Geldes,  die  durch  ein  Schau:: 
fpiel  erworben  wurde,  das  Caglioftros  Betrügereien  und 
ftirnlofe  Frechheit  geißelt,  diefes  nämlichen  Caglioftros  alter 
Mutter  und  hilflofer  Schwefter  in  Palermo  zur  Erquickung 
gereicht,   und  daß  beides  ein  und  derfelbe  Deutfche  tat. 

Vergeblich  würde  ich  mich  übrigens  bemühen,  die 
Schilderungen  und  kleinen,  entzückenden  Details  wieder* 
zugeben,  die  Goethe  in  die  Erzählung  diefes  kleinen  Reife* 
abenteuers  zu  verweben  gewußt  hatte.  Enfin,  la  sauce 
valait  bien  la  viande.  So  fchwebt  mir  jetzt  gleich  noch 
das  Gemälde  vor  Augen,  wie  beim  erften  Befuch  bei  der 
Familie  Goethe  mit  feinem  Begleiter  ins   große  Gemach 


580] Weimar.    1792. 185 

eingewiefen  worden  war,  fo  verweilte  die  Schwefter,  die  fie 
in  der  Küche  angetroffen  hatten,  noch  etwas  in  derfelben. 
Als  fie  hereintrat,  erzählte  Goethe,  hatte  fie  eine  reine 
weiße  Schürze  umgetan  und  ftatt  der  klappernden  Kork^ 
Pantoffeln  Schuhe  mit  einem  roten  Bändchen  angezogen. 
Sie  fetzte  fich  mir  fchief  über,  ftemmte  beide  Hände  auf 
die  Knie  und  befühlte  nun,  fo  vorwärts  gebogen,  mit  args= 
lofem  unbeleidigendem  Blicke  jede  Muskelbewegung  des 
ihr  fremden  Mannes. 

Vieles,  was  fpäter  in  den  zu  Rom  aus  dem  Verhöre 
gedruckten  Nachrichten  von  Caglioftro  ftand,  war  noch 
ausführlicher  in  jenem  Memoire  des  palermitanifchen  Ad^ 
vokaten,  das  Goethe  bloß  darum  nicht  ganz  kopierte, 
weil  er  gewiß  glaubte,  man  würde  es  in  Paris  felbft  fo^ 
gleich  drucken  laffen. 

[379.]     Juni.     H.  Stephanie 

Vertrauensvoll  und  ruhig  fahen  die  Verbundenen 
dem  Erfolge  ihres  Unternehmens,  betreffend  Maßnahmen 
zur  Bekämpfung  der  Studentenduelle,  entgegen.  Aber  es 
wollte  nichts  zum  Vorfchein  kommen.  Ein  Gefpräch  mit 
Goethe  ließ  nicht  viel  Gutes  ahnen,  denn  diefer  ließ  die 
Worte  fallen,  daß  man  die  Eingabe  nur  für  das  Werk 
einiger  beffern  Köpfe  hielt,  dasfelbe  dem  noch  rohen 
Geifte  des  großen  Haufens  aber  nicht  entfpräche;  und 
es  fei  eine  Maxime  der  Regierungsklugheit:  die  Menschen 
nicht  fo  zu  behandeln,  wie  fie  fein  follten,  fondern  wie 
fie  wirklich  find. 

[380.]     Juli  17.    J.  D.  Falk. 

Den  folgenden  Morgen  befuchte  ich  den  Geheimen 
Rat  Goethe.  ^  Er  ifi:von  mittlerem  Wuchfe,  hat  ein  männlich 
braunes  Antlitz,  fchwarze  [I]  funkelnde  Augen,  einen  tief:; 
faffenden  Blick,  einen  fi:arken  fchwarzen  Bart  und  genialifche, 
aber  regelmäßige  Züge.  Sein  Anzug  war  bürgerlich  ein? 
fach  —  ein  fimpler  blauer  Überrock  —  fein  Anftand  kunft? 
und  anfpruchslos.  Ein  mehr  angeborner  als  angenommener 
Ernft  erweckt  in  jedem,  der  mit  ihm  fpricht,  ein  gewiffes 
Gefühl  von  Hochachtung,  ich  möchte  beinahe  fagen  von 
Ehrfurcht,  das  aber  keineswegs  zurückftoßend  ifi:.  Ich 
hätte  ihn  eher  für  einen  biederherzigen  Amtmann,  als  für 
den  großen  Schriftfteller  gehalten,  auf  den  unfer  Vaters^ 
land  nicht  ohne  Urfache  ftolz  fein  darf.  Er  empfing  mich 
I 


186 J.  D.  Falk. ^ 

freundfchaftlich,  und  wir  fprachen  über  eine  Stunde  mit:^ 
einander.  Goethe  erzählte  mir,  daß  Schiller  mit  unfäg^ 
licher  Anfirengung  arbeite.  Als  Schiller  fich  noch  in. 
Weimar  befand,  verfchloß  er  fich  oft  acht  Tage  lang  und 
ließ  fich  von  keiner  Seele  fprechen.  Abends  um  acht 
ftand  noch  fein  Mittagseffen  vor  feinem  Studierpult.  Doch 
glaubte  er  nie  die  ftrengen  Forderungen  der  Kunft  be? 
friedigt  zu  haben;  denn  feine  Begriffe  von  dem  Ideal, 
nach  dem  er  hinaufarbeitete  und  alle  feine  Geiftesgeburten 
abmaß,  waren  zuweilen  etwas  überfpannt  und  abenteuer^s 
lieh.  Deshalb  hielt  es  auch  eben  fo  fchwer,  die  Pfychoj: 
logie  aus  feinen  Stücken,  als  aus  feinem  Gefichte  heraus^ 
zufinden.  Der  Don  Carlos  ließe  fich  beffer  lefen,  als 
aufführen,  und  die  darin  verwebte  Pfychologie  der  Charak^^ 
tere  fei  auch  felbft  bei  der  Lektüre  und  der  angefpannteften 
Aufmerkfamkeit  nicht  immer  bemerkbar.  Die  übergroße 
Anftrengung,  mit  der  Schiller  arbeitete,  glaubte  er  auch 
in  feinen  flüchtigften  hingeworfenen  Stücken  zu  entdecken. 
Selbft  an  den  Briefen  über  den  Don  Carlos  im  Teutfchen 
Merkur  fähe  man  die  Schweißtropfen  hängen,  die  fie  dem 
Verfaffer  gekofi:et.  Wie  Goethe  glaubte,  fei  der  Kampf, 
den  Schwärmerei,  Vernunft  und  Einbildungskraft,  die  in 
der  Seele  diefes  Dichters  gekämpft,  mit  unverkennbaren 
Zügen  feinem  Geficht  eingegraben,  und  daraus  entfliehe 
in  demfelben  die  fonderbare  Mifchung  von  Schwermut, 
Freundlichkeit,  Ernft  und  Zerfi:reuung.  Kurz,  auf  ihn 
paßt  ganz,  was  er  einft  in  feinen  Werken  zur  Charakter 
rifierung  eines  Dritten  fagte:  In  feiner  Phantafiewelt  ver? 
fchloffen,  war  er  ein  Fremdling  in  der  wirklichen.  Sein 
Körper,  mitten  aus  der  Zerrüttung  hervor,  verrät  einen 
hohen  männlichen  Geifi:  gleich  den  Ruinen  eines  ehr^s 
würdigen  alten  Tempelgebäudes.  Ihr  ahnt  aus  dem  Schauer 
der  Ehrfurcht,  der  Eure  Seele  ergreift,  daß  einft  eine  Gott* 
heit  hier  wohnte;  aber  erkennen  könnt  Ihr  es  jetzt  nur 
aus  Trümmern  und  Überbleibfeln,  die  der  Zahn  der 
alles  zerfiiörenden  Zeit  verfchonte. 

Noch  fprach  Goethe  viel  von  Italien,  wo  er  fich 
lange  Zeit  aufgehalten.  ^  Von  den  fchönen  Gegenden 
und  felbft  von  den  Einwohnern  diefes  Landes  fprach  er 
mit  vielem  Enthufiasmus.  Die  Luft  ifi:  lauer,  reiner;  der 
Himmel  blauer  und  unbewölkter;  die  Gefichter  offen, 
freundlich  und  lachender,  die  Formen  und  Umriffe  der 
Körper  regelmäßig   und   anlockender.     Selbft   das   Grün 


380]  Weimar.    1794.  187 

der  Wiefen  und  Bäume  nicht  fo  kalt  und  tot,  fondern 
höher,  heller,  mannigfaltiger,  als  in  den  nördlichen  Himmels? 
ftrichen.  Alles  fcheint  zum  lieblichen  Genuffe  einzuladen, 
und  Natur  und  Kunft  bieten  fich  wechfelfeitig  die  Hand. 
Nirgends  oder  feiten  finden  Sie  in  Italien  folche  zurück? 
ftoßende,  koloffale  Geftalten  wie  in  unfern  Gegenden; 
nirgends  fo  verkrüppelte  und  zufammengefchrumpfte  Fi? 
guren.  In  unfern  Gefichtern  verlaufen  die  Züge  regel< 
los  durch?  und  ineinander,  oft  ohne  irgend  einen  Charakter 
anzudeuten,  oder  es  hält  wenigftens  fchwer,  das  Original 
herauszufinden;  man  kann  fagen:  in  einem  deutfchen 
Gefichte  ift  die  Hand  Gottes  unleferlicher,  als  auf  einem 
italienifchen.  Bei  uns  ift  alles  verkritzelter  und  feiten 
felbft  in  der  Form  etwas  Vollendetes.  Kopf  und  Hals 
fcheinen  bei  jenen  Menfchen  gleichfam  unmerklich  in? 
einander  gefügt;  bei  uns  find  fie  größtenteils  eingefchoben 
und  aufgeftülpt.  Die  fanft  geblähte  Bruft  fchwellt  all? 
mählich  in  ihren  Umriffen;  nicht  folche  kugel?  und 
muskelhafte  Maffen  von  Fleifch,  die  das  Auge  mehr  be? 
leidigen,  als  einladen.  Ich  habe  in  Italien  unter  der  ge? 
meinften  Menfchenklaffe  Körper  gefehen  gleich  den  fchön? 
ften  Antiken  und  andere,  die  entkleidet  dem  Künftler 
durch  die  Regelmäßigkeit  ihres  Baues  den  vollkommenften 
Torfo  vertraten.  Kurz,  in  Italien  wohnen  fchöne  Körper 
und  fchöne  Seelen  unter  einem  Dach  und  Fach  in  brüder? 
lieber  Eintracht  beifammen;  bei  uns  wohnen  fie  durch 
verfchiedene  Stockwerke  abgefondert  und  ungefellig;  jedes 
treibt  feine  Wirtfchaft  für  fich.  Ich  bedaure  einen  großen 
Künftler  wie  Herrn  Lips  in  Deutfchland,  wo  ihm  das 
Studium  der  Formen  in  feiner  Kunft  keinen  Vorfchub 
tut;  er  muß  unaufhörlich  aus  feiner  Phantafie  hervor? 
arbeiten.  Die  Römerinnen  find  die  reizendften  Geftalten, 
die  ich  je  erblickte.  Ein  fchlanker  Wuchs,  regelmäßige, 
majeftätifche  Gefichtszüge,  große  gewölbte  Augenbrauen, 
die  wie  abgezirkelt  einen  Halbbogen  bilden,  find  unter 
dem  männlichen  und  weiblichen  Gefchlechte  nichts  Un? 
gewöhnliches.  Auch  herrfcht  unter  ihnen  weit  mehr 
Künftlergefchmack  als  in  Deutfchland,  wozu  freilich  der 
frühe  Anblick  der  unfterblichften  Meifterftücke  der  Kunft 
in  Tempeln  und  öffentlichen  Gebäuden  viel  beitragen  mag. 
Bei  uns  ift  der  gute  Gefchmack  größtenteils  in  Studier? 
ftuben  eingefchloffen.  Freilich  herrfchen  dagegen  Luxus 
und  Üppigkeit,  diefe  von  den  fchönen  Künften  unzer? 
I 


188 J.  D.  Falk.         [381 

trennlichen  Übel,  ausgebreiteter,  als  bei  uns,  in  Italien. 
Doch  muß  man  auch  hier  nicht  zu  vorfchnell  die  Wir;; 
kungen  des  wollüfiigen  KHmas  dem  Einfluß  der  fchönen 
Künfte  und  Wiffenfchaften  beimeffen.  So  wie  Pflanzen 
und  Blumen  unter  der  milden  Sonne  Italiens  lieh  fchneUer 
und  üppiger  entfalten,  aber  auch  rafcher  dahinwelken,  fo 
ift  es  auch  vielleicht  der  Fall  mit  den  Einwohnern  diefes 
Himmelsfirichs  felbft.  Früher  und  reizender  aufblühend 
und  reifend,  find  ihre  Körper  wollüftiger,  ideaUfcher,  aber 
auch  hinfäfliger  und  vergängUcher,  als  die  unfrigen. 

[381.]     Auguft  25/26.     L.  F.  Huber  an  einen  Ungenannten. 

Endlich  habe  ich  Goethe  kennen  gelernt;  er  war 
diefe  Woche  zwei  Tage  hier  in  Mainz,  und  ich  habe 
zwei  Abende  mit  ihm  zugebracht.  Er  war  gefellfchaft^ 
lieh  luftig;  und  ich  bin  in  diefer  Rückficht  fehr  von  ihm 
erbaut  gewefen.  Übrigens  treibt  er  das  Vermeiden 
aller  Individualität  im  Umgang  bis  zum  Lächerlichen;  es 
war  z.  B.  zweimal  durch  einen  höchst  natürlichen  Zu^ 
fammenhang  von  Dir  die  Rede,  ohne  daß  auch  nur  eine 
Silbe  von  ihm  heraus  kam.  ^^  Zugleich  fcheint  er  politica 
im  Kopf  zu  haben.  '^  Indeffen  freute  mich,  nachdem 
der  erfte  Anfall  von  zurückftoßender  Steifigkeit  vorbei 
war,  die  milde  Leichtigkeit  und  der  Schein  von  Anfpruchs: 
lofigkeit  in  feinem  gefellfchaftlichen  Ton.  Den  erften 
Abend  wurden  wir  alle  durch  guten  Wein  gefiimmt,  er 
hatte  Einfälle  mit  Räfonnement  vermifcht  und  war  wirk^ 
lieh  lebhaft;  in  Augenblicken  machte  es  mir  vielen  Spaß, 
feine  Mutter  ganz  in  ihm  wieder  zu  finden,  und  das  war 
dann,  wenn  er  launig  und  kräftig  etwas  auseinanderfetzte, 
worin  eben  ihre  Originalität  vorzüglich  liegt.  Den  zweiten 
Abend  ^  erzählte  er  fehr  niedlich  und  launig  manches  von 
Italien  und  war  durchaus  leicht  und  gutmütig. 

[382.]    Auguft  Ende.   Ein  preußifcher  Artillerie?Offizier  (Schmidt). 

Ich  hatte  während  des  Feldzuges  in  Frankreich  fchon 
vorher  gehört,  daß  diefer  Goethe  ein  fehr  berühmter  Schrift^ 
fteller  fein  follte.  ^^  Als  man  mir  zuerft  fagte,  daß  ich 
jetzt  häufig  mit  diefem  Fierrn  zufammen  fein  und  ein 
gleiches  Quartier  teilen  muffe,  da  ich  ja  auch  zur  Suite 
des  Herzogs  von  Sachfen? Weimar  befohlen  war,  fo 
empfand  ich  anfänglich  einige  Abneigung.  —  Ich  hatte 
mir  diefe  Fierren  Poeten   bisher   immer  nur  als   fo  eine 


382]  Frankreich.    1792.  189 

Art  äußerlich  und  fittlich  verkommener  Menfchen  gedacht. 
f^  Wie  überrafcht  war  ich  nun  aber,  als  ich  diefen  Herrn 
Goethe  perfönlich  zuerft  kennen  lernte:  es  war  ein  un? 
gemein  ftattlicher,  anfehnlicher,  auf  das  Elegantefte  an^ 
gekleideter  Mann  in  den  befien  Jahren,  der  mit  ein^m 
fo  vornehmen  Wefen  auftrat,  daß  man  ihn  wirklich  eher 
für  einen  Prinzen,  als  für  einen  bürgerlichen  Secretarius 
hätte  Halten  können.  Er  hatte  etwas  fehr  Selbftbewußtes 
in  feiiiem  ganzen  Benehmen,  und  die  Worte  floffen  da? 
bei  fo  fchön  und  gewandt  von  feinem  Munde,  daß  es 
immer  auf  den  Zuhörer  den  Eindruck  machte,  als  höre 
er  aus  einem  gedruckten  Buche  vorlefen.  ^  So  hörte  er 
fich  auch  zu  gern  felbft  fprechen  und  hielt  wohl  mits: 
unter  auch  Reden,  die  zwar  fehr  fchön  klangen,  aber 
ihrem  eigentlichen  Inhalte  nach  doch  nur  leer  waren,  über 
Dinge,  die  er  unmöglich  verfiehen  konnte.  Ich  entfinne 
mich  noch,  daß  er  einft  an  der  Tafel  des  Herzogs  von 
Weimar  einen  langen  Vortrag  über  die  Artilleriewiffen;; 
fchaft  und  befonders  auch  über  die  zweckmäßigfte  Anlage 
von  Batterien  hielt  und  felbft  uns  Artillerieoffiziere  da? 
rüber  belehren  wollte.  So  etwas  konnte  mich  denn  doch 
wohl  mit  Recht  verdrießen,  und  ich  fagte:  Nehmen  Sie 
es,  verehrtefierHerr  Legationsrat,  —  denn  diefen  Titel  führte 
er  dazumal  [I]  —  nicht  übel,  wenn  ich  Ihnen  mit  pommer? 
fcher  Gradheit  zu  antworten  mir  erlaube,  daß  bei  uns 
ein  altes  Sprichwort  heißt:  Schufter  bleib  bei  deinen 
Leiften.  Wenn  Sie  über  das  Theater  und  die  Dichtung 
und  noch  über  viele  andere  gelehrte  oder  Kunftfachen 
reden,  fo  hören  wir  alle  Ihnen  mit  dem  größten  Ver? 
gnügen  zu;  denn  dies  verftehen  Sie  aus  dem  Grunde, 
und  man  kann  viel  von  Ihnen  dabei  lernen.  Etwas 
anderes  aber  ist  es,  wenn  Sie  über  das  Artilleriewefen 
fprechen  und  nun  gar  uns  Offiziere  darüber  belehren 
wollen;  denn,  nehmen  Sie  es  nicht  übel!  —  davon  ver? 
ftehen  Sie  auch  nicht  das  Mindefte.  Ihre  Anflehten  über 
die  Verwendung  der  Gefchütze  waren  vollftändig  falfch, 
und  wenn  ein  Offizier  nach  Ihrer  Anleitung  eine  Batterie 
errichten  wollte,  fo  wäre  folche  gar  nicht  zu  gebrauchen 
und  er  würde  entfchieden  damit  ausgelacht  werden.  So 
fprach  ich  freimütig  und  ohne  Scheu,  und  es  herrfchte 
anfänglich  bei  meiner  Rede  ein  gewiffes  beängftigtes 
Schweigen  unter  den  meiften  Anwefenden,  und  mehrere 
fahen  mich  fogar  ganz  entfetzt  an,  daß  ich  einem  fo  be? 
I 


190  Schmidt.  [383 

rühmten  Manne,  wie  Goethe  damals  fchon  war,  fo  rück:: 
(ichtslos  meine  Meinung  gefagt  hatte.  Goethe  felbft  ward 
bei  meinen  Worten  anfänglich  ganz  rot  im  Geficht,  ich 
weiß  nicht,  ob  aus  Zorn  oder  aus  Verlegenheit,  und  feine 
fchönen  funkelnden  Augen  blickten  mich  fiarr  an;  bald 
aber  gewann  er  feine  volle  Geiftesgegenwart  wieder  und 
fagte  lachend:  Ja,  Ihr  Herren  Pommern  feid  doch  recht 
freimütige  oder  wohl  gar  grobe  Männer,  das  habe  ich 
foeben  an  mir  selbft  nur  zu  fehr  erfahren.  Aber  darum 
keine  Feindfchaft,  Herr  Leutnant!  Sie  haben  mir  foeben 
eine  derbe  Lektion  gegeben,  und  ich  werde  mich  hüten, 
in  Ihrer  Gegenwart  wieder  über  das  Artilleriewefen  zu 
fprechen  und  den  Herren  Offizieren  in  ihr  Fach  zu 
pfufchen.  Dabei  fchüttelte  er  mir  recht  herzlich  die  Hand, 
und  wir  blieben  nach  wie  vor  die  heften  Freunde,  ja, 
es  wollte  mir  fogar  fcheinen,  als  ob  Goethe  meinen  Um:: 
gang  jetzt  noch  mehr  auffuchte,  als  dies  früher  der  Fall 
gewefen  war. 

[383.]    Auguft/September.     A.  G.  Rofenmeyer. 

Zelter  fchreibt  an  Goethe,  fein  Hausarzt  R.  habe  bei  ihm 
Goethes  Buch  über  die  Campagne  in  Frankreich  gefehen,  mitge? 
nommen  und  es  wiederbringend  geäußert: 

Nun  kann  ich  auch  fagen,  daß  ich  den  Herrn  Goethe 
zweimal  gefprochen  habe,  das  heißt,  er  fprach  zu  mir, 
indem  ich  bei  der  Arbeit  war,  und  das  kam  mir  fo  natür:: 
lieh  vor,  daß  ich  bei  mir  dachte:  der  müßte  wohl  vom 
Metier  fein. 

[384.]     Oktober  24.     J.  H.  Wyttenbach. 

Vor  einigen  Jahren  hatte  ich  das  Glück,  mit  dem 
Herrn  Geheimrat  von  Goethe  bekannt  zu  werden,  als 
er  durch  Trier  reifte.  Diefem  großen  Manne  habe  ich 
viel  zu  verdanken.  Er  ließ  fich  zu  mir  herab,  und  gab 
mir  im  ächten  Verftande  manche  Stunde  den  lebendigften 
Unterricht. 

[385.]     November  6./ Dezember  4.     F.  H.  Jacobi  an  Goethe. 

Mir  ftand  ^  unfer  Wiederfehen  in  Pempelfort  zu 
lebendig  vor  der  Seele.  Du  wareft  gekommen,  um  mir 
Rechenfchaft  von  Deinem  Haushalte  abzulegen.  Ich  follte 
Dich  um  alles,  was  ich  von  Dir  zu  wiffen  begehrte,  un? 
gefcheut  fragen  und  mir  follte  auf  alles  und  jedes  voll? 


587]  Pempeltort.    1792. 191 

ftändige,  unverhohlene  Antwort  werden.  Du  forderteft 
nicht  dagegen  das  Gleiche  von  mir,  würdeft  aber  jeder 
vertraulichen  Mitteilung  aus  meinem  Innern  (Dich)  herzlich 
erfreuen.     Ich  verhieß  Dir,  was  Du  mir  verheißen  haft. 

[386.]     November  6./Dezember  4.     F'  H.  Jacobi  an  Goethe. 

Ich  gedachte  ^  jener  fünf  Wochen,  die  Du  im  Winter 
des  Jahres  1792  bei  mir  in  Pempelfort  zubrachteft  und 
des  Zeugniffes  aus  voller  Seele,  das  Du  mir  beim  Scheiden 
gabft.  Wir  hatten  Stunden  miteinander  verlebt,  die  keiner 
von  uns  je  vergeffen  konnte.  Jene  Ahndungen  in  der 
Mitternachtsftunde  zu  Köln  wurden  uns  jetzt  zu  Erkennt := 
niffen;  wunderbar  hatten  felbft  die  Täufchungen  fich  zur 
Wahrheit  verklärt.  Für  Dich  zumal  hatte  die  Reife  unferer 
Freundfchaft,  wie  Du  es  nannteft,  die  höchfte  Süßigkeit; 
und  es  mußte  fo  fein;  denn  Dir  war  in  Erfüllung  ge^ 
gangen  über  Deine  Erwartung,  was  Du  auch  geftandeft; 
mir  nicht  darüber,  noch  darunter. 

[387.]  November  7. /Dezember  4.  F.  H.  Jacobi  an  Johanna  Schloffer. 

Du  tuft  Goethe  gewiß  unrecht,  wenn  Du  ihn  einer 
Verachtung  gegen  Schloffer  befchuldigft.  Ich  habe  ihn 
hierüber  gleich  den  Morgen  nach  feiner  Ankunft  vorge^ 
nommen  und  ihm  mit  dürren  Worten  gefagt,  was  mir 
Schloffer  vorigen  Sommer  gefchrieben  hatte,  nämlich :  Wenn 
ihn  Goethe  verachte,  fei  er  ein  Narr,  und  wenn  er  etwas 
wider  ihn  habe  und  es  ihm  nicht  fage,  ein  fchlechter 
Menfch.  —  Es  tat  ihm  weh,  dies  zu  hören,  das  fah  ich, 
und  es  war  ihm  gewiß  ernft  mit  der  Verficherung,  daß 
er  zwar  Vorwürfe,  aber  nicht  diefe  verdiene;  er  ehre 
und  liebe  Schloffern,  aber  Schloffer  habe  für  ihn  etwas 
Unverträgliches,  weswegen  er  fich  vor  ihm  fcheue.  Dies 
war  die  Subftanz  von  dem,  was  er  vorbrachte.  Er  fetzte 
hinzu,  daß  er  fehr  gewünfcht  und  auch  gehofft  hätte. 
Euch  in  Karlsruhe  zu  befuchen.  Denfelbigen  Morgen 
gab  es  Gelegenheit,  daß  ich  ihm  Schloffers  jüngften  Brief 
zu  lefen  reichte.  Goethe  hatte  nämlich  bei  einer  Stelle 
des  Ariftoteles,  die  ich  ihm  vorlas,  fleh  gerade  fo  ge^^ 
äußert  wie  Schloffer  über  eine  Stelle  des  Flato  in  diefem 
Briefe.  Diefer  ganze  Brief  machte  ihm  ungemeine  Freude : 
er  brachte  ihm  Schloffern  in  feiner  ganzen  Schönheit  und 
Größe  vor  die  Seele.  Nachher  hat  er  mich  bei  Gelegen^; 
heit  oft  gefragt:  Weißt  Du  nicht,  wie  Schloffer  hievon 
I 


192 F.  H.  Jacobi. [588 

denkt?  —  Mit  diefer  oder  jener  Sache:  Gibt  fich  Schloffer 
damit  ab?  —  Wie  weit  haltet  Ihr  auf  diefem  —  oder 
jenem  —  Wege  gleichen  Schritt?  u.  d.  —  Den  Tag  vor 
feiner  Abreife  bat  er  jeden  von  uns  insbefondere  und 
mich  zu  wiederholten  Malen,  Schloffern  und  Dich  doch 
recht  herzlich  von  ihm  zu  grüßen,  Euch  viel  Liebes  von 
ihm  zu  fagen.  Ich  gab  ihm  noch  ein  paar  befondere 
Abzüge  von  Schloffers  Antiberolinianis ,  die  er  mit  Be? 
gierde  annahm.  Am  Morgen  feiner  Abreife  wiederholte 
er  feine  Aufträge  an  Euch  ^ 

Was  Du  von  Goethes  Stolz  im  allgemeinen  fagft, 
laffe  ich  Dir  gelten.  Ich  habe  ihn  von  diefer  Seite  jetzt 
noch  viel  näher  kennen  gelernt,  auch  durch  eigene  Be^: 
kenntniffe,  die  er  mir  von  feinem  Ehrgeize  und  feiner 
Eitelkeit  ablegte. 

[388.]     November  6./Dezember  4.   F.  H.  Jacobi  an  K.  L.  Reinhold. 

Daß  Goethe  meine  Aufträge  an  Sie  unausgerichtet 
ließ,  hat  mich  äußerft  befremdet.  Er  übernahm  fie  mit 
fichtbarer  Freude,  und  ich  fiehe  dafür,  daß  fie  nicht  ge^ 
heuchelt  war.  Bisher,  fagte  er  mir,  hätte  er  wenig  Um^ 
gang  mit  Ihnen  gehabt,  aber  nun  follte  es  anders  werden; 
er  würde  gleich  in  den  erfien  8  Tagen  nach  feiner  Zu^? 
rückkunft  nach  Jena  reifen  ufw. 

[389.1    Nov.  6./Dez.  4.    Helene  Jacobi  an  Gräfin  Sophie  Stolberg. 

Die  Politik  hat  mir  zu  viel  Greuel,  als  daß  ich  nur 
davon  anfangen  möchte,  und  Goethe  zu  viel  Gutes  und 
Schönes,  als  daß  ich  damit  zu  Ende  kommen  könnte. 
Er  ift  und  bleibt  der  wahre  Zauberer,  und  auch  Sie  werden 
ihn  lieben  und  bewundern,  fobald  Sie  ihn  kennen.  Was 
die  Leute  Sonderbares  von  ihm  fchwatzen  und  reden,  ift, 
weil  fie  immer  nur  die  linke  Seite  fehen;  und  das  ift 
auch  das  verkehrtefte  an  ihm,  daß  er  fo  gerne  das  Ver^^ 
kehrte  an  fich  herauswendet.  Ich  verglich  ihn  deswegen 
einmal,  gegen  ihn  felbft,  mit  einer  haute:slisse  auf  dem 
Geftell;  wer  fich  nicht  bückt  die  untre  Seite  zu  fehen, 
wird  die  fchönen  Farben  darinnen  nicht  ahnden  oder  die 
Ware  für  fich  mögen.  Ihm  ward  unendlich  wohl  unter 
uns  und  der  Abfchied  koftete  ihm  viel.  Fritz  und  er 
haben  fich  tiefer  durchdrungen  und  inniger  erkannt,  wie 
je,  Fritzens  offenes,  fanftes  Wefen,  feine  fromme  und 
doch  fo  freie  Seele  haben  Goethe  fehr  ergriffen,  und  fo 


392]  Pempelfort  -  Weimar.    1793.  193 

ergriffen,  daß  ich  faft  glaube,  daß  die  Folgen  davon  in 
eigener  Sinnesänderung  bei  ihm  fpürbar  fein  werden,  denn 
Wahrheit  ift  ihm  teuer,  fobald  er  als  Wahrheit  fie  ers: 
kennt;  aber  ihr  falfches  Bild  ihm  auch  fo  verhaßt,  daß 
fie  eben  deswegen  die  größte  Gefahr  bei  ihm  läuft;  denn 
indem  er  jenes  rafilos  verfolgt,  ftürzt  er  über  diefe  oft 
hin  und  tritt  fie  mit  Füßen.  Um  nicht  betrogen  zu 
werden  von  dem,  was  er  fcheut,  betrügt  er  fich  felbft  um 
das,  was  er  liebt,  und  je  blühender  die  Schöne  ihm  ent:; 
gegenkommt,  defto  vorlichtiger  glaubt  er  in  ihr  nur  die 
feine  Schminke  der  Falfchen  zu  erblicken.  '^  Goethe  hat 
mir  unendlichen  Genuß  gegeben,  aber  auch  manchen  tiefen 
Schmerz  der  Seele.  Je  mehr  ich  ihn  liebte,  defto  ängftlicher 
hätte  ich  ihn  fchützen  mögen,  daß  er  fich  felbft  wenige 
ftens  nicht  fchade.  — 

[390.]     November/Dezember.     Nicolovius. 

Goethes  Erzählung  von  Pempelfort  in  der  Campagne 
in  Frankreich  hat  mich  etwas  verdroffen;  er  ift  ungerecht, 
kühl  und  übergeht  oder  vergißt  manches,  was  dort  vorge^; 
fallen  und  tiefen  Eindruck  auf  ihn  gemacht  hat.  Jacobi 
fcheint  recht  gehabt  zu  haben,  wenn  er  fagt,  daß  Goethe 
in  jenen  Tagen  die  Spuren  des  wilden  Kriegslebens  an 
fich  getragen  hat. 

[391.]     Dezember.     H.  E.  G.  Paulus. 

Als  der  Herzog  von  Weimar  als  preußifcher  General 
in  Begleitung  feines  Goethe  in  den  von  den  beiden 
deutfchen  Großmächten  übel  berechneten  und  unglücklich 
ausgeführten  Feldzug  verwickelt  wurde,  und  fich  da  zu:^ 
gleich  die  Furcht  verbreitete,  daß  die  feinere  Konverfation 
der  zu  Eifenach  zugelaffenen  Emigrierten  höhern  Einfluß 
gewinnen  könnte,  fprach  Goethe  felbft  bei  der  Rückkehr, 
dem  Herzog  nahe  ftehend,  laut  die  Verficherung  aus: 
Jedermann  darf  gewiß  fein,  daß  der  Regent  ganz  unjs 
geändert  zurückgekommen  ift. 

[392.]     1792  und  später.     Henri  Gafton  Marquis  v.  B. 

Ich  habe  manchen  Abend  während  der  Campagne  in 
Frankreich  mit  ihm  in  lebhafter  Unterhaltung  verplaudert, 
obgleich  wir  in  unferen  Anfichten  nicht  immer  überein^ 
ftimmten  und  er  fowohl  in  politifcher  und  noch  mehr  in 
religiöfer  Hinficht  zu  den  Freidenkern  zu  gehören  fehlen. 
I  13 


194  Henri    Gafton  Marquis  v.  B.  [393 

Sehr  intereffierte  es  den  Herrn  von  Goethe,  wenn  ich 
ihm  über  die  alten  Sagen  der  Bretagne  und  über  die  eigene 
tümhchen  Sitten  unferer  Bauern  Mitteilungen  machte,  und 
er  konnte  dann  ftundenlang  mit  der  größten  Aufmerkfam? 
keit  mir  zuhören:  Später  ^^  in  Weimar  ^  befuchte  ich 
ihn  einmal  auf  der  Durchreife.  Er  nahm  mich  mit  großer 
Freundlichkeit  auf  und  zeigte  mir  feine  reichen  Samm^: 
lungen  und  wir  plauderten  noch  ein  Langes  und  Breites 
über  den  frühern  Krieg  in  Frankreich.  In  feinen  polig 
tifchen  Gefmnungen  fchien  erfich  jetzt  «^  gebeffert  zu 
haben  undTentwickelte  fehr  konlervative  Grundlätze. 


1793. 

[393.]     März  18.     David  Veit. 

Wir*  kamen  um  1 1  Uhr  nach  Weimar,  kleideten  uns 
mit  Blitzesfchnelligkeit  um  ^^  und  verfügten  uns  ^  zu 
Goethe.  Sein  Bedienter  fagte  uns,  es  wäre  jetzt  ein  Graf 
bei  ihm,  der  ihn  fchwerlich  vor  1  Uhr  verlaffen  dürfte, 
und  wir  möchten  nur  gegen  zwei  wiederkommen.  Ich 
ließ  mich  nicht  abfchrecken,  fondern  fagte  dem  Bedienten, 
er  möchte  uns  nur  als  Berliner  melden,  die  einen  Brief 
vom  Hofrat  Moritz  mitbrächten.  Hierauf  wurden  wir 
zwei  Treppen  hinaufgeführt.  ^  Aus  der  Treppe  kommt 
man  in  ein  Vorzimmer,  ^  aus  diefem  Zimmer  in  ein 
kleines,  niedliches,  in  welches  wir  zugleich  mit  Goethe, 
den  wir  aus  dem  andern  Teil  der  Wohnung  kommen  und 
mehrere  Zimmer  durchgehen  fahen,  als  wir  noch  in  der 
Antichambre  waren,  hereintraten.  Er  hatte  uns  nicht  zwei 
Minuten  warten  laffen.**  ^ 

Er  hat  uns  ungemein  höflich  aufgenommen;  als  er 
auf  uns  zukam,  fah  er  uns  recht  freundlich  an  (fein  Blick 
ift  gewöhnlich  ernfthaft;  aber  ohne  alle  Arroganz,  wie  es 
fcheint;  wenn  er  fich  nicht  an  einen  wendet,  fo  fieht  er 
gefenkt  zur  Erde,  mit  den  Händen  auf  dem  Rücken  und 
fpricht  fo  fort),  fragte  nach  dem  Endzwecke  unferer  Reife, 
erzählte  uns,  daß  es  in  Frankfurt  fehr  lebhaft  ausfähe,  daß 
er  Frieden  wünfche  ufw.  Nachdem  er  einen  Brief  durchs 
gelefen  hatte,  erkundigte  er  fich  kaltblütig,  aber  mit  vieler 


*  Der  Begleiter  war  Simon  Veit. 
**  An  der  Stelle  f^  ift  eine  ausführliche  Schilderung  der  Er* 
fcheinung  Goethes.     Figur,  Geficht,  Kleidung. 


394]  Weimar  -  Vor  Mainz.     1793.  195 

Aufmerkfamkeit  nach  Moritz.  Sobald  ich  nur  von  ihm 
und  der  Entweichung  feiner  Frau  zu  reden  angefangen 
hatte,  fagte  er  in  einem  fehr  ernfthaften  Ton:  Er  muß 
jetzt  viel  arbeiten,  er  muß  arbeiten;  er  ift  wirklich  ein 
gar  lieber  Mann,  und  wenn  er  etwas  unternimmt,  fo  greift 
er  die  Sache  immer  fo  ganz  recht  an.  Er  hat  wirklich 
zu  gar  vielen  Sachen  ein  recht  hübfches  Talent.  Hm! 
Herkommen  kann  er  freilich  nicht;  er  muß  fehr  viel  Ar? 
beit  haben.  Er  ließ  fich  nun  noch  über  unfere  Reife  felbft, 
über  die  Kriegsoperationen  mit  uns  ein,  fprach  aber  von 
keiner  Partei  mit  Dezifion,  jedoch  immer  überaus  natura 
lieh,  immer,  als  ob  er  nur  die  Sachen,  nicht  die  Worte 
fuchte.  Man  hört's  ihm  noch  manchmal  an,  daß  er  aus 
dem  Reich  ift,  wie  er  uns  auch  felbft  fagte.  Das  Zimmer, 
in  welchem  wir  ftanden  —  fitzen  ließ  er  uns  nicht  —  war 
mit  grünen  Tapeten  ganz  modern  geziert.  ^*  Eine  Viertel? 
ftunde  —  eher  mehr,  als  weniger  —  hielt  er  uns  auf,  machte 
dann  eine  bedeutend  lächelnde  Miene,  und  wir  waren  nicht 
dumm.  Nach  Mendelsfohn  erkundigte  er  fich  gar  nicht, 
ohngeachtet  im  Briefe  Herr  Veit  als  deffen  Schwiegerfohn 
genannt  ift.  Überhaupt  haben  wir  keinen  literarifchen 
Punkt  berührt;  er  fragte  nicht  einmal  nach  Moritzens 
neueften  Sachen;  der  Mann  hat  nicht  unrecht,  wenn  ihm 
mies  ift.  Er  begleitete  uns  aus  der  Antichambre  und  war 
noch  beim  Abfchiede  fehr  höflich. 

[394.]     Juni/Juli.     Ein  preußifcher  Artillerieoffizier  (Schmidt). 

Von  einem  Adjutanten  des  Herzogs  Karl  Auguft  von 
Sachfens:Weimar  hatte  auch  Goethe,  der  feit  einigen  Tagen 
ebenfalls  wieder  in  unferm  Lager  vor  Mainz  anwefend  war, 
gehört,  daß  ich  in  diefer  Batterie  kommandiere.  Er  be? 
fuchte  mich  alsbald,  ^  und  dies  war  mir  ein  ficheres  Zei? 
chen,  daß  er  eine  gewiffe  Wertfehätzung  gegen  meine  Per? 
fon  hege  und  meine  foldatifche  Aufrichtigkeit  nicht  übel 
genommen  habe.  Auch  als  Goethe  zu  uns  kam,  fahen 
wir  alle  vom  Pulverdampf  arg  mitgenommen  aus,  und 
meine  Fäufte  waren  fo  fchwarz,  daß  ich  ihm  kaum  die 
Hand  fchütteln  konnte.  Er  meinte  lachend:  jetzt  fehe 
er  uns  doch  fo  recht  bei  der  Arbeit,  aber  unfer  Hand? 
werk  gefiele  ihm  nicht;   dabei  würde  man  zu  fchwarz  und 


Weitere  Befchreibung  des  Zimmers. 

13' 


196 Schmidt [395 

fchmutzig,  und  die  Ohren  müßten  ja  von  all  dem  Ge^ 
krache  und  Gefaufe  zerfpringen.  Ich  antwortete  ihm  fcher:; 
zend:  freilich,  bei  feiner  Arbeit  als  Schriftfteller  könne 
man  fich  nur  mit  Tintenklexen  an  den  Fingern  befchmut:; 
zen,  während  wir  von  Pulverdampf  fchwarz  würden,  und 
der  Gefang  feiner  Schaufpielerinnen  im  Theater  zu  Wei* 
mar  kitzele  die  Ohren  wohl  fanfter,  als  das  Gekrache 
unferer  Vierundzwanzigpfünder,  dafür  fchaffe  unfere  Ar^ 
beit  aber  auch  beffer,  als  die  feine.  Auch  Goethe  brannte 
ein  Gefchütz  ab  wie  vorher  Karl  Auguß,  der  Zufall  wollte 
aber,  daß  nichts  mit  feinem  Schuffe  getroffen  wurde.  Später 
war  er  noch  einmal  in  meiner  Batterie,  als  wir  Bomben 
auf  Mainz  warfen  und  die  Flugbahnen  der  großen  Ge^ 
fchoffe  mit  ihrem  Feuerfchein  in  der  dunkeln  Nacht 
intereffierten  ihn  fehr.  Ich  habe  bei  einer  andern  Gelegen? 
heit  einmal  ein  langes  Gefpräch  mit  ihm  darüber  gehabt,  wie 
wir  Artilleriften  die  Flugbahnen  der  Gefchoffe  am  rafcheften 
und  praktifchften  berechnen  können,  und  merkte  dabei,  daß 
er  ein  ganz  tüchtiger  Mathematiker  fei,  demdieverfchiedenen 
mathematifchen  Formeln  vollkommen  geläufig  waren. 

[395.]     Auguft  12.    J.  J.  Gerning. 

Nachdem  Goethe  am  1.  Auguft  Gerning  aufgefordert  hatte, 
ihn  zu  befuchen,  führte  letzterer  dies  bei  Goethes  Rückkehr  nach 
Frankfurt  aus. 

An  diefem  Morgen  hatte  ich  das  gewünfchte  Glück 
bei  Goethe  zu  fein,  ihm  mein  poetifches  Zeug  zu  brin? 
gen  und  von  ihm  fchönen  Unterricht  zu  empfangen.  Es 
fchien  ihm  nicht  übel  zu  behagen,  und  weil  ich  Anlage 
oder  Liebhaberei  dran  hätte,  fo  müßte  ich  auch  die  nötigen 
Grundlagen  wiffen.  Er  riet  mir  befonders  zu  Hexametern 
und  Pentametern,  worin  er  mir  ein  artiges  Gedicht,  Das 
Wiederfehn,  zeigte.  Moritzens  Profodie  und  Herders  Zer? 
ftreute  Blätter  riet  er  mir  auch  an. 

[396.]     Auguft  14.    J.  J.  Gerning. 

Von  10—11  Uhr  bei  Goethe,  der  mich  um  meine 
Pläne  fragte,  welche  ich  ihm  —  nämlich  den  des  Wäh? 
lens  und  Neapelfehens  genüglich  erklärte.  Er  riet  mir, 
vorher  einen  Curfum  von  3  —  6  Monden  in  Jena  oder 
Weimar  zu  machen,  das  beffer  wäre,  als  10  Jahre  literarifchen 
Vegetierens.    Der  Edle  fcheint  doch  mein  Zeug  zu  liken. 


400]      Frankfurt  -  Jena.    1795. 197 

[397.]     Auguft  15.    J.  J.  Gerning. 

Mit  Goethe  ums  Tor  gewandelt ;  über  das  zerftreuende 
Glück,  das  ihn  oft  genierende  Zeitverlieren  ufw.  gefprochen 
und  zu  Barkhaufens  gegangen,  Löuifens  Gemälde  und 
Zeichnungen  bewundert,  wo  eben  deren  ältere  Schwefter, 
Frau  von  öttingen  von  Wetzlar,  eine  weiland  Amafia 
Goethes  ankam,  der  er  entgegenging  und  welche  ihm  noch 
fchmachtende  Augen  zuwarf. 

[398.]     Auguft  18.     J.  J.  Gerning. 

Nach  dem  Effen  zu  Goethe,  der  mir  wieder  und 
wärmer  Jena  anriet.  Wir  fprachen  von  feinen  Jugend? 
Produkten,  z.  B.  Von  deutfcher  Baukunft,  worüber  er  fagte : 
Wir  empfinden  da  zu  lebhaft  und:  der  Gegenftand  wäre 
nicht  immer  fo  der,  obgleich  richtigen  Empfindung  wert. 
Er  gab  mir  einen  Kupferfiich  von  Lips  an  Sophie  Beth= 
mann  zu  fchicken,  mit  einem  Verslein. 

[399.]     Auguft  20.     J.J.  Gerning. 

Heute  früh  deutete  mir  Goethe  feine  morgende  Ab? 
reife  an,  und  diefen  Abend  7^/2—8  Uhr  habe  ich  noch 
erwünfcht  bei  ihm  zugebracht,  über  vielerlei  gefprochen: 
ja  nach  Weimar  und  Jena  zu  kommen,  wo  er  mich  gut 
bewirten  und  beforgen  wolle  ufw.  ~  Goethe  gab  mir 
noch  einige  Wein?,  Tuch?  ufw.  Aufträge,  er  bot  mir  feine 
Dienfte,  Wohnung  in  Jena  ufw.  zu  beforgen  und  nahm 
herzvollen  Abfchied  von  mir. 

[400.]     Oktober  2.     H.  Ph.  K.  Henke. 

Heute  nachmittag  lielj  die  Herzogin  Witwe  mich  zu 
einem  Konzert  und  Tee  invitieren.  Ich  ging  wieder  hin. 
^  Bald  darauf  kamen  Goethe  und  Herder  von  Weimar 
angefahren  und  fanden  fich  fogleich  im  Konzert  ein.  Zwei 
Männer  von  Geift  und  Kraft,  wie  ich  wenige  gefehen  habe. 
Ich  faß  zwifchen  beiden.  ~  Jedermann  macht  mir  Vor? 
würfe,  daß  ich  den  Antrag  einer  Profejfur  in  Jena  nicht 
angenommen  habe,  und  ob  ich  es  gleich  nicht  bedauere, 
—  fo  habe  ich  doch  Urfache  für  die  viele  Achtung  und 
Freundfchaft,  die  man  mir  erweifet,  dankbar  zu  fein.  Be? 
fonders  waren  mir  die  Unterredungen  mit  der  vortreff? 
liehen  Herzogin,  mit  Goethe,  Herder  und  Griesbach  über 
diefe  Punkte  überaus  rührend  '^  Goethe  fagte  in  feiner 
Kraftfprache :  Herr,  fprechen  Sie  ein  Wort,  fo  find  Sie 
doch  noch  unfer. 


198 H.  Ph.  K.  Henke. [401 

[401.]     Oktober  2.    H.  Ph.  K.  Henke. 

Herder  fprach  viel  von  Erasmus,  Grotius,  Andrea; 
Goethe:  es  fcheine,  als  ob  das  Gute  nur  ein  Werk  der 
einzelnen  Menfchen  feie  ufw.      Ein  vergnügter  Abend. 

[402.]     November.     Sophie  v.  Schardt. 

Goethe  fagte  neulich:  daß,  wenn  Fritz  nicht  ein 
Menfch  wäre,  der  fich  finden  müßte,  und  gleich  eine 
Sache  fo  zu  nehmen,  wie  fie  nun  wäre,  fo  müßte  er  gleich 
gerade  noch  nach  Haufe  kehren,  Fritz  würde  aber  immer 
noch  Nutzen  daraus  ziehen.  Er  fagte  es  der  Herdern, 
damit  fie  ihren  Wilhelm  lieber  nicht  hinfchicken  follten. 

[403.]     Dezember.     Charlotte  v.  Stein  an  ihren   Sohn  Fritz. 

Die  Herzogin  erzählte  mir,  der  Geheimrat  Goethe 
habe  den  Herzog  erinnert,  für  Dich  zu  forgen.  ^^  So 
dann  und  wann  kommt  doch  ein  Funke  von  Anhänglich;? 
keit  an  Dich. 

1794. 

[404.]     Anfang.     K.  A.  Böttiger  an  F.  A.  Wolf. 

Daß  er  über  feinen  Reineke  gerade  fo  denkt,  wie 
Sie  mutmaßen,  und  das  Werk  für  eine  nach  und  nach 
fo  zufammengefügte  Satire  auf  die  damaligen  Hofhaltungen 
hält,  und  fie  verfchiedenen  Verfaffern  zufchreibt,  hat  er 
felbft  in  einer  Einleitung,  die  er  zu  feinem  hexametrierten 
Reineke  geben  wollte,  behaupten  wollen. 

[405.]     Frühjahr.     Charlotte  v.  Stein. 

Noch  letzt  antwortete  er  jemandem,  der  die  Ausficht 
ins  Ilmtal  lobte:  Das  ift  keine  Ausficht  1  und  fah  dick^ 
mürrifch  dazu  aus. 

[406.]     Juni  5.  mittags.    J.  H.  Voß. 

Darauf  gingen  wir  [Voß  und  Wielands]  zu  Goethe. 
f^  Herders  kamen  bald  nach.  Wir  fetzten  uns  zu  Tifche, 
und  fprachen  von  Italien,  Griechenland  ufw.  Ich  merkte, 
daß  Goethe  mich  oft  fcharf  betrachtete.  Er  ward  allmäh^ 
lieh  lebhafter.  Nach  Tifche  gingen  wir  in  fein  Gartens 
kabinett,  und  tranken  Kaffee.  Er  las  Briefe  von  dem  Ma^ 
1er  Meyer,  einem  gar  trefflichen  Genie,  der  fich  ganz  nach 
den  Alten  gebildet  und  Zeichnungen  für  Wielands  Werke 


408]  Weimar.    1794.  199 

gemacht  hat.  Dann  zeigte  er  einige  Gemälde  von  ihm, 
zum  Entzücken  fchön.  Die  Unterhahung  war  fehr  herz^; 
Uch  und  vertraut.  Goethe  wandte  fich  zu  mir,  warum 
ich  fo  fchnell  abreifen  wollte;  ich  möchte  ihm  noch  einen 
Tag  fchenken.  Ich  gab  ihm  die  Hand,  und  verfprach, 
einen  Tag  länger  zu  bleiben.  Heute  morgen  den  6.  Juli 
foll  ich  leine  Kunftwerke  befehn,  und  zu  Mittage  in  der 
geftrigen  Gefellfchaft  bei  ihm  effen. 

[407.]     Juni  5.  abends.     J.  H.  Voß. 

Ich  ging  mit  Herder,  um  auf  feiner  Studierftube  eine 
Pfeife  mit  ihm  zu  rauchen.  ^  Wir  wurden  zum  Tee  ge^ 
rufen,  und  fanden  Wielands,  Goethe,  Böttiger  und  von 
Knebel.  Man  umringte  mich,  und  wollte  dies  und  jenes 
von  meinen  Unterfuchungen  über  Homer  hören.  Am 
weitläufigften  ward  von  der  homerifchen  Geographie  ge^ 
redet,  die  fehr  intereffierte.  Ich  mußte  die  Karte  von  der 
Odyffee  erklären,  und  die  Reifen  des  Odyffeus.  Alle  g^^ 
ftanden,  daß  fie  überzeugt  wären,  und  freuten  fleh  der 
homerifchen  Einfalt.  Aber  nun  follte  ich  vorlefen.  Die 
Odyffee  ward  gewählt  und  ich  las  den  Sturm  des  fünften 
Gefanges  und  den  ganzen  fechften  Gefang  von  Naufikaa. 
Ein  einhelliger,  warmer  Beifall  erfolgte.  Alle  geftanden, 
fie  hätten  einen  folchen  Versbau,  eine  fo  homerifche  Wortes 
folge,  die  gleichwohl  fo  deutfch,  fo  edel,  fo  kindlich  ein^: 
fach  wäre,  fich  nicht  vorgeftellt.  Goethe  kam,  und  drückte 
mir  die  Hand,  und  dankte  für  einen  folchen  Homer.  ^^ 
Bei  Tifche  ging  das  Gefpräch  fort  über  Homers  Gedichte 
und  Zeitalter.  Ich  ward  dringend  gebeten,  viel  von  mei^ 
nen  Ideen  aufzufchreiben,  und  mich  um  die  böfe  Rotte 
nicht  weiter  zu  bekümmern.  ^^  Wir  wurden  ausgelaffen 
fröhlich.  '^  Dabei  ward  rechtfchaffen  gezecht,  Steinwein 
und  Punfch.  Goethe  faß  neben  mir;  er  war  fo  aufge? 
räumt,  als  man  ihn  feiten  fehen  foll.  Nach  Mitternacht 
gingen  wir  auseinander.  Wieland  '^  fagte,  ich  hätte  allen 
im  äußerften  Grade  gefallen;  ich  gehörte  ganz  zu  ihnen; 
ich  müßte  hier  leben;  ^^  man  hätte  fich  durchaus  einen 
anderen  Begriff  von  mir  gemacht;  Goethe  hätte  mit  Be^ 
geifterung  von  mir  geredet,  und  was  dergleichen  mehr  war. 

(408.]     Juni  5.     K.  A.  Böttiger  an  F.  A.  Wolf 

Daß  es  mit  der  ganzen  Legende  von  Cadmus'  Buches 
ftabentransport,  und  der  frühen  Schreiberei  fehr  mißlich 
I 


200 K.  A.  Böttiger. [409 

auslähe,  und  daß  von  hier  aus  alle  Kritik  des  Homers 
anheben  muffe,  dies  habe  ich  Voßen,  als  er  hier  war 
bei  Herdern  abends  bei  Tifche  vordemonftriert,  fo  gut 
ich  es  vermochte.  Er  ftritt  aber  mit  Hand'  und  Füßen 
vor  feine  Buchfiaben  ari^ala^  wiewohl  er  ja  nun  wohl 
auch  fchon  lange  von  Ihnen  eines  Befferen  belehrt  worden 
ift.  Damals  machte  Goethe  unferm  Streit  durch  das 
böfe  Bonmot  ein  Ende,  daß  er  fagte:  wenn  in  Athen 
erft  unter  dem  Solon  und  den  Pififtratiden  die  Ilias  zu^ 
fammengedrechfelt  worden  wäre,  fo  würden  wohl  die 
Athener  nicht  fo  kahl  und  ruppicht  im  catalogo  navium 
erfcheinen,  und  eine  viel  anftändigere  Rolle  fpielen,  wo 
ihrer  Homer  jetzt  kaum  erwähnt.  Wir  ließen  uns  dies 
inter  pocula  ganz  wohl  gefallen.  Aber  Voß  fchien  doch 
felbft  mit  diefer  Art  von  Verteidigung  unzufrieden,  und 
fchüttelte  ehrlich  —  wie  immer  —  den  Kopf.  <^ 

[409.]     Juni  6.     K.  A.  Böttiger. 

Den  6.  Juni  waren  wir  mittags  bei  Goethe  zufammen. 
Beinahe  während  der  ganzen  Mahlzeit  fprach  Goethe 
mit  einer  von  mir  an  ihm  noch  nie  beobachteten  Heftige: 
keit  gegen  Lavater,  den  er  für  den  ftudierteften  Heuchler 
und  Böfewicht  erklärte,  aber  feiner  unendlichen  Kunft,  allen 
alles  zu  werden,  völlige  Gerechtigkeit  widerfahren  ließ. 
Anekdote  von  Hottinger  und  der  Fürftin  von  Deffau. 
Lavater  fchenkte  Hottinger,  feinem  abgefagteften  Gegner, 
ein  Halstuch,  das  auf  der  Fürftin  Bufen  geruht  hatte  und 
von  ihren  Tränen  benetzt  war,  um  den  jungen  Hottinger 
durch  Sinnlichkeit  zu  feffeln.  Goethe  antwortete  Lavater 
nie,  ohngeachtet  diefer  durch  Grobheiten  Antwort  er^^ 
zwingen  will,  und  ließ  fich  vor  ihm  in  Mainz  verleugnen. 
Warum  er  überall  feinen  Namen  einkritzle?  In  Frank? 
fürt  zerbrach  Goethe  bei  feiner  Mutter  viele  Scheiben  und 
Spiegel,  wo  überall  Lavater  fein  Gedächtnis  geftiftet  hatte. 
Wieland,  der,  feit  Lavater  mit  Karl  Leonhard  Reinhold 
bei  ihm  war,  immer  Lavaters  Partie  nahm,  wurde  durch 
das  alles,  was  Goethe  fagte,  fo  aufgebracht,  daß  er  fich 
felbft  ausfchalt,  weil  er  zeither  den  Fremden,  gegen  die 
er  Lavatern  lobpries,  foviel  Ärgernis  gegeben  habe.  Voß, 
der  auch  Unwillen  gegen  Lavatern  zeigte,  erzählte,  Lavater 
habe  in  Kopenhagen  und  überall  im  Holfteinifchen  mit 
großer  Selbftgefälligkeit  erzählt,  als  er  mit  Reinhold 
und  Wieland   zu  Tifche   gefeffen,   da   hätten   die   Dicht? 


411] Weimar.    1794. 201 

kunft,  Philofophie  und  Schwärmerei  Tifchgenoffenfchaft 
gemacht. 

Goethe  hat  lange  Unterfuchungen  über  das  fogenannte 
OS  intermaxillare ,  welches  die  Tierphyfiognomien  nach 
Camper  und  Blumenbach  von  der  menfchlichen  untere 
fcheiden  foll,  angeftellt.     Loder  wird  fie  herausgeben. 

Es  ift  äußerft  intereffant,  ihn  feine  Abenteuer  beim 
Feldzug  in  die  Champagnie  (1)  1792,  wo  er  den  Herzog 
begleitete,  erzählen  zu  hören.  Er  hielt  fich  immer  zum 
Vortrab,  wo  es  am  luftigften  zuging.  Anekdote  von 
einem  Bauer  bei  Verdun,  der  fich  allein  in  einem  Wein^ 
berg  verfieckt  hatte  und  gegen  die  preußifche  Armee 
fchoß.  Er  follte  gehängt  werden  und  man  fand  keinen 
Baum,  woran  man  ihn  hätte  hängen  können.  Endlich 
ließ  ihn  der  preußifche  Major  mit  25  Arfchprügeln  laufen. 
Ein  niedliches  Bauerweibchen,  die-fich  hatte  flüchten  wollen, 
brachten  fie  mit  ihren  zwei  Wägen  und  Effekten  glücke 
lieh  in  ihr  Dorf  zurück.  In  Verdun  ließ  fich  Goethe 
Empfehlungsbriefe  nach  Paris  an  die  fchöne  Welt  geben, 
weil  er  auch  gewiß  überzeugt  war,  es  ging  grade  nach 
Paris.  Ein  Blatt  vom  Moniteur,  das  fie  auf  einem  feinde 
liehen  Wagen  erbeuteten  und  worin  ftand:  les  Prussiens 
pourront  venir  ä  Paris,  mais  ils  n'en  sortiront  pas,  be^^ 
ftärkte  fie  alle  in  diefem  Glauben.  Goethe  fieß  fich  fchon 
die  Spezialkarten  zum  Marfche  nach  Paris  durch  einen 
Soldaten,  der  dies  Gefchäft  als  Feldbuchbinder  trieb,  auf 
Leinwand  ziehen. 

Nachlefe  zum  dritten  Abfchnitt 

Zeitlich  nicht  näher  beftimmbar, 
[410.]     H.  Laube. 

Als  die  Freunde  Goethe  mit  der  fogenannten  Vulpia 
neckten  und  feinen  Sieg  über  fie  als  den  erfi:en,  welchen 
die  Dame  erlebt,  aufhetzend  in  Zweifel  zogen,  gab  er 
die  merkwürdige  Antwort:  Daß  fie  auch  andern  würde 
gefallen  haben,  bezweifle  ich  nicht. 

[411.]     Charlotte  v.  Kalb. 

Goethe  fagte  mir  einfi::  Sie  find  für  Herder  und 
überhaupt  der  Freundfchaft  fähig,  weil  Sie  perfönliche  Bes^ 
Ziehungen,  die  andere  nur  fuchen,  zu  meiden  verftehen. 

I 


202 J.  Erichfon. [412 

[412.]     J.  Erichfon. 

Charlotte  v.  Kalb,  geb.  v.  Oßheim  hatte  fich  einen 
Abend  im  herzoglichen  Schlöffe  mit  Goethe  in  einem 
Zimmer  befunden,  und  mit  ihm  in  einer  Fenfternifche 
über  den  Garten  geblickt,  über  den  eben  der  Mond  auf^ 
zugehen  anfing.  Sie  hatte  diefen  Augenblick,  in  dem 
fich  die  übrige  Gefellfchaft  in  die  anderen  Zimmer  gt^ 
zogen  zu  haben  fcheint,  benutzt,  ihm  mit  begeifi:erter 
Seele  und  großer  Lebhaftigkeit  den  Vorwurf  zu  machen, 
daß  er  ihr  ernfi:es  Streben  nach  Bildung  fo  ganz  unbe:; 
rückfichtigt  gelaffen  habe.  Goethe  hatte  —  ohne  Zweifel 
in  der  Annahme,  daß  ihr  gegenwärtiger  Zuftand  der  Seele 
nur  Moment  fei,  erwidert:  Der  Mond  ifi:  nur  einen  Augen^ 
blick  voll. 

[413.]     K.  A.  Böttiger. 

Goethe:  Beim  erneuerten  Studium  Homers  empfinde 
ich  erft  ganz,  welches  unnennbare  Unheil  der  jüdifche 
Praß  uns  zugefügt  hat.  Hätten  wir  die  Sodomitereien  und 
ägyptifch^babylonifchen  Grillen  (?)  nie  kennen  lernen, 
und  wäre  Homer  unfere  Bibel  geblieben,  welch'  eine  ganz 
andere  Geftalt  würde  die  Menfchheit  dadurch  gewonnen 
haben! 

[414.]     K.  A.  Böttiger. 

Phyfiologifche  Bemerkung.  Gewiffe  Konfigurationen 
im  menfchlichen  Körperbau  tragen  noch  die  letzte  Spur 
der  veredelten  Tierheit  zum  prototypon  der  organifchen 
Schöpfung,  zum  Menfchen,  fehr  deutlich  an  fich,  z.  B.  das 
OS  coccygis  den  Reft  des  tierifchen  Schwanzes,  die  Milz 
und  das  Überzwergfchleudern  der  Hände,  wenn  man  geht. 
(Nachahmung  des  vierfüßigen  übereckfchreitenden  Tieres.) 
Ich,  fagte  Goethe,  laffe  meine  beiden  Hände  fchleudern, 
wenn  ich  übers  Feld  allein  gehe,  denn  fo  geh'  ich  natura 
gemäßer.  Nie  geht  er  mit  einem  Stock,  daher  auch  diefe 
Spur  der  Tierheit  in  der  feinen  Welt  für  unanfiändig  ge;^ 
halten  wird.  Zu  was  nützen  die  papillae  an  der  Bruft 
des  Mannes?  Schon  Sterne  in  feinem  Koran  findet  dies 
unerklärlich.  Man  muß  annehmen,  es  fei  gleichfam  ein 
allgemeiner  Typus  in  der  Natur  für  die  menfchliche  Or^ 
ganifation.  Hier  find  beim  Manne  wenigftens  noch  die 
Spuren  der  Brüfte,  die  fich  beim  homo  lar  nur  auf  zwei 


417]  Weimar.  203 

herauf  vermindert  haben.  Die  Natur  hat  gewiffe  Generals^ 
formen,  die  fich  auch  da  abdrücken,  wo  fie  kein  unmittel^ 
bares  Bedürfnis  erfüllen,  z.  B.  bei  allen  unfern  Rohr;: 
gewächfen  liegt  am  untern  Schilfblatt  ein  Auge,  das  fich 
nie  entwickelt. 

[415.]     J.  G.  Gruber. 

Herder  rüftete  fich  um  eben  jene  Zeit  zum  Kampfe 
gegen  die  Kantifche  Philofophie.  ^^  Währenddeffen  hatte 
Goethe  zufolge  feiner  gewohnten  objektiven  Anficht  der 
Dinge  und  feiner  größeren,  eben  hieraus  entfpringenden 
Ruhe  fein  befonderes  Intereffe  daran,  vornehmlich  in  Be^^ 
Ziehung  auf  Naturwiffenfchaft  und  Kunft,  und  erklärte: 
Wir  fehen  diefe  Philofophie  als  ein  Phänomen  an,  dem 
man  auch  feine  Zeit  laffen  muß,  weil  alles  feine  Zeit  hat. 

[416.]     J.  G.  Gruber. 

Da  fchloß  fich  Goethe  enger  an  Schiller,  Herder  an 
Wieland  an.  ^^  Kein  Wunder,  wenn  unter  folchen  Ver;= 
hältniffen  jetzt  auch  zwifchen  Wieland  und  Goethe  eine 
Spannung  entftand,  die  aber  der  letztere  bald  hob,  da  er 
durch  einen  fchönen  Zug  Wielanden  innigft  erfreute.  Eben 
um  jene  Zeit  war  nämlich  diefer  mit  Ausfeilung  feines 
Oberon  befchäftigt.  Da  nun  Goethe  urteilte,  daß  Wie*! 
land  bei  der  neuefi:en  Ausgabe  feiner  Werke  fich  der  Feile 
bisweilen  ein  wenig  über  die  Gebühr  bedient  habe,  fo 
kam  er  zu  ihm  und  bat,  daß  nicht  auch  dem  Oberon 
alfo  gefchehen  möchte.  Er  erbot  fich,  feine  Bemerkungen 
und  Anfichten  Wielanden  mitzuteilen  und  zu  diefem  Be^^ 
hufe  den  Oberon  gemeinfchaftlich  mit  ihm  zu  lefen.  End^^ 
lieh  kommen  beide  darin  überein,  daß  Wieland  feine  Um^; 
änderungen  jedesmal  Goethen  mitteilen  folle,  und  daß  fie 
dann  darüber  fich  beraten  wollten.  So  gefchah  es  denn 
auch,  und  Wieland  befolgte  Goethes  Rat  an  mehreren 
Stellen  unbedingt,  nur  an  einer  wollte  er  nicht  nachgeben. 
Nachher,  fagte  er,  habe  ich  wohl  gefehen,  daß  Goethe 
auch  da  recht  hatte,  und  eigentlich  in  allen  Stücken;  allein 
ich  wollte  doch  auch  einmal  recht  haben. 

[417.]     Grillparzer  mit  J.  Schreyvogel. 

Er,  Schreyvogel,  ruft  mir  fchon  von  weitem  zu:  Wie 
fteht's  mit  der  Ahnfrau?    Ich  aber  antwortete  ihm  ganz 

I 


204 Grillparzer. [418 

trübfelig:  Es  geht  nicht!  ^  Da  erwiderte  Schreivogel: 
Diefelbe  Antwort  habe  ich  einft  Goethen  gegeben,  als 
er  mich  zur  literarifchen  Tätigkeit  aufmunterte;  Goethe 
aber  meinte:  Man  muß  nur  in  die  Hand  blafen,  dann 
geht's  fchon. 

[418.]     K.  A.  V.  Reichlin^Meldegg. 

Goethe,  der  H.  E.  G.  Paulus  in  Jena  oft  befuchte, 
manchmal  zum  Abendeffen  bei  ihm  war,  pflegte  von  der 
jungen  Frau  unferes  Gottesgelehrten  zu  fagen:  Die  Natur 
kann  wieder  eine  Weile  operieren,  bis  fie  ein  fo  neckifches 
Wefen  zum  zweiten  Male  zusammenbringt. 


Viertes  Buch 

Vom  Beginn  der  Freundfchaft 

mit  Schiller  bis  zum  Ende 

des  achtzehnten 

Jahrhunderts 


1794  Juli  bis  Ende  1800 


1794. 

[419.]     Juli  (24.)     Schiller. 

Bei  meiner  Zurückkunft  von  Weißenfels  fand  ich 
einen  fehr  herzlichen  Brief  von  Goethe,  der  mir  nun 
endlich  mit  Vertrauen  entgegenkommt.  Wir  hatten  vor 
fechs  Wochen  über  Kunft  und  Kunfttheorien  ein  Langes 
und  Breites  gefprochen  und  uns  die  Hauptideen  mitgeteilt, 
zu  denen  wir  auf  ganz  verfchiedenen  Wegen  gekommen 
waren.  Zwifchen  diefen  Ideen  fand  fich  eine  unerwartete 
Übereinfiimmung,  die  um  fo  intereffanter  war,  weil  fie  wirk;: 
lieh  aus  der  größten  Verfchiedenheit  der  Geßchtspunkte 
hervorging.  Ein  jeder  konnte  dem  andern  etwas  geben, 
was  ihm  fehlte,  und  etwas  dafür  empfangen.  Seit  diefer 
Zeit  haben  diefe  ausgeftreuten  Ideen  bei  Goethe  Wurzel 
gefaßt  und  er  fühlt  jetzt  ein  Bedürfnis,  fich  an  mich  an# 
zufchließen,  und  den  Weg,  den  er  bisher  allein  und  ohne 
Aufmunterung  betrat,  in  Gemeinfchaft  mit  mir  fortzusetzen . 

[420.]     Sommer.     Schiller  an  W.  v.  Humboldt. 

Goethen  wünfchte  Fichte  für  die  Spekulation  zu  ge?  | 
winnen.     Sein  Gefühl  leite  ihn  zu  richtig.     Neulich,  fuhr/ 
er  fort,  hat  er  mir  mein  Syftem  fo  bündig  und  klar  dar::/ 
gelegt,  daß  ich's  felbft  nicht  klarer  hätte  darftellen  können.' 
Sie  kennen  diefe  Manier. 

[421.]     September  (9).     Nach  Charlotte  v.  Stein. 

Goethe  glaubte  der  freundlichen  Gefinnung  Charlottens 
jetzt  fo  verfichert  zu  fein,  daß  er  ^  zu  ihr  kam,  um  fie 
zu  bitten,  die  Aufftellung  eines  von  ihm  für  Schillers  Gattin 
beftimmten  Schreibtifches  in  deren  Zimmer  zu  vermitteln. 
I 


208 ^^^^^'  ^^^^ 

[422.]     September  Anfang.     Charlotte  v.  Stein  an  Schiller. 

Goethe  war  letzt  bei  mir  und  hat  fehr  gut  von  Ihnen 
gefprochen;  es  fiimmte  mit  dem  überein,  was  Sie  von 
Ihrer  neulichen  Unterredung  von  ihm  Tagten,  und  es  freute 
mich,  daß  es  bei  Goethe  kein  nur  flüchtiger  Eindruck  war. 

[423.]     September  Mitte.     Schiller. 

Seit  3  Tagen  bin  ich  hier  in  Weimar,  und  nunfchonziem^ 
lieh  bei  Goethe  eingewohnt.  Ich  habe  alle  Bequemlichkeit, 
die  man  außer  feinem  Haufe  erwarten  kann  und  wohne 
in  einer  Reihe  von  3  Zimmern,  vorn  hinaus.  Diefe  meifte 
Zeit  aber  bin  ich  faft  immer  mit  Goethe  zufammen  ge^ 
wefen,  doch  ohne  den  ganzen  Genuß  diefes  Umgangs, 
weil  ich  mich  feiten  wohl  befand.  ^ 

Ich  habe  bei  Goethe  fchon  fchöne  Landfchaften  ge^ 
fehen.  Wir  haben  viel  über  Sachen  gefprochen,  auch 
von  feinen  Arbeiten  in  der  Naturgefchichte  und  Optik 
hat  er  mir  viel  Intereffantes  erzählt. 

[424.]     September  Mitte.     J.  J.  Gerning. 

Bei  Goethen  mußte  ich  zweimal  effen,  er  fchien  zu? 
frieden  und  mich  bei  Rückkunft  aufnehmen  zu  wollen, 
hieß  auch  meinen  mufenhaften  Studienplan  gut.  Er  nannte 
mich  einen  der  heiligen  drei  Könige,  wegen  der  mitge? 
brachten  Gaben.  Seinen  mich  fonft  bedienten  Ernfi  nahm 
ich  denn  förmlich  an. 

[425.]     September  18.     F.  W.  B.  v.  Ramdohr. 

Ich  komme  zu  Goethe,  finde  ihn  erft  gefprächig,  bald 
darauf  intereffant  von  Seiten  des  Kopfs,  und  endlich  ganz 
zutraulich  und  herzlich.  —  Das  böfe  Gewiffen  wird  bei 
mir  wach!  Du  haft  dem  Manne  unrecht  getan,  fag'  ich 
mir.  Er  fpielt  nicht  den  Minifter,  nicht  den  Sonderling : 
es  ift  Folge  der  erften  Erziehung,  es  ift  Mißtrauen  gegen 
fich  und  andere,  die  ihm  anfangs  das  kalte,  ftolze  An? 
fehen  geben.  —  Wir  fehen  fchöne  Zeichnungen,  Gemälde 
Überbleibfel  des  Altertums.  Zu  ihrem  inneren  Wert  ge? 
feilt  fich  das  Andenken  an  Italien.  Ich  werde  warm,  ent? 
zückt,  begeiftert.  Die  Glocke  fchlägt  11  Uhr,  ich  muß 
zur  Gräfin  Bernstorff.  —  So  ungern  ich  mich  losreiße, 
ich  muß  zur  Gräfin  Bernstorff,  Herr  Geheimer  Rat.  —  Da 
gehen  Sie  und  kommen  wieder:  ich  habe  noch  einige  Sachen, 
die  Sie  intereffieren  werden.  —  Ich  expediere  meine  Gräfin 
Bernstorff  in  zehn  Minuten  —  und  wieder  hin  zu  Goethe. 


427] Weimar.    1794. 209 

[426.]     September  14./20.     Schiller. 

Ich  bringe  die  meifte  Zeit  des  Tages  mit  Goethen 
zu,  fo  daß  ich  bei  meinem  langen  Schlafen  kaum  für  die 
nötigften  Briefe  noch  Zeit  übrig  habe.  Vor  einigen  Ta^ 
gen  waren  wir  von  ^Ull  Uhr,  wo  ich  angezogen  war, 
bis  nachts  um  11  Uhr  ununterbrochen  beifammen.  Er 
las  mir  feine  Elegien,  die  zwar  fchlüpfrig  und  nicht  fehr 
dezent  find,  aber  zu  den  heften  Sachen  gehören,  die  er 
gemacht  hat.  Sonft  fprachen  wir  fehr  viel  von  feinen  und 
meinen  Sachen,  von  anzufangenden  und  angefangenen 
Trauerfpielen  u.  dgl.  Ich  habe  ihm  meinen  Plan  zu  den 
Malthefern  gefagt,  und  nun  läßt  er  mir  keine  Ruhe,  daß 
ich  ihn  bis  zum  Geburtstag  der  regierenden  Herzogin, 
wo  er  ihn  fpielen  laffen  will,  doch  vollenden  möchte.  Es 
kann  auch  ganz  gut  Rat  dazu  werden;  denn  er  hat  mir 
viel  Luft  dazu  gemacht  und  diefes  Stück  ifi  noch  einmal 
fo  leicht,  als  Wallenftein.  Er  hat  mich  gebeten,  feinen 
Egmont  für  das  Weimarer  Theater  zu  korrigieren,  weil  er 
es  felbft  nicht  wagt,  und  ich  werde  es  auch  tun.  Meinen 
Fiesco  und  Kabale  und  Liebe  rät  er  mir  auch  nur  ein 
wenig  zu  retouchieren,  daß  diefe  Stücke  ein  bleibendes 
Eigentum  des  Theaters  werden.  Was  feinen  Anteil  an 
den  Hören  betrifft,  fo  hat  er  großen  Eifer,  aber  freilich 
wenig  vorrätige  Arbeit.  Seine  Elegien  gibt  er  uns  und 
zwar  gleich  für  die  erften  Stücke.  Alsdann  hat  er  mir 
vorgefchlagen,  einen  Briefwechfel  mit  ihm  über  Materien 
zu  eröffnen,  die  uns  beide  intereffieren,  und  diefer  Brief? 
wechfel  foll  dann  in  den  Hören  gedruckt  werden. 

[427.]     September  14./28.     Schiller  an  J.  F.  Cotta. 

Ich  komme  eben  von  Weimar,  wo  ich  14  Tage  bei 
Goethe  gewohnt  und  mit  ihm  Langes  und  Breites  über 
unfre  Hören  ausgemacht  habe.  Er  ift  einer  der  eifrigften 
von  uns  und  wird  zu  jedem  Stücke  des  Journals  einen 
Beitrag  geben.  Zugleich  unterhält  er  deswegen  einen 
Briefwechfel  mit  einem  Freunde,  Hirt,  in  Rom,  um  immer 
das  Neuefte  aus  dem  artiftifchen  Fache  in  Italien  zu  er*: 
fahren.  Goethe  und  ich  werden  eine  Korrefpondenz  über 
die  fchöne  Kunft  miteinander  führen,  die  gleichfalls  be^ 
ftimmt  ift,  einmal  für  die  Hören  gebraucht  zu  werden. 
Mein  Schaufpiel,  Die  Maltefer,  hoffe  ich,  foll  auch  vor 
Oftern  fertig  fein  und  ein  ganzes  Monatftück  der  Hören 
I  14 


210 Schiller.  ^ 

einnehmen.  Auch  Goethe  hofit  uns  im  nächften  Jahre 
gleich  etwas  Dramatifches  geben  zu  können.  Auch  Hof:: 
rat  Schütz  ift  Mitarbeiter  an  den  Hören  und  wird  uns 
über  Beredfamkeit  und  Poefie  der  Alten  Beiträge  liefern. 
Für  das  Fach  der  bildenden  Kunft,  der  Mufik,  der  Bau:= 
kunft,  der  Schaufpielkunft  haben  wir  auch  fchon  einige 
Mitglieder,  fodaß  kein  Zweig  der  Äfthetik  wird  zurück^; 
gelaffen  werden. 

Wir  find  der  Meinung,  daß  deutfche  Schrift  der  latei^^ 
nifchen  vorzuziehen  fei. 

[428.]     September  14./28.     Schiller  an  Ch.  G.  Körner. 

Wir  haben  eine  Korrefpondenz  miteinander  über  ge^ 
mifchte  Materie  befchloffen,  die  eine  Quelle  von  Auf^ 
fätzen  für  die  Hören  werden  foll.  Auf  diefe  Art,  meint 
Goethe,  bekäme  der  Fleiß  eine  beftimmtere  Richtung  und 
ohne  zu  merken,  daß  man  arbeite,  bekäme  man  Material 
lien  zufammen;  da  wir  in  wichtigen  Sachen  einftimmig 
und  doch  fo  ganz  verfchiedene  Individualitäten  find,  fo 
kann  diefe  Korrefpondenz  wirklich  intereffant  werden. 

Seinen  Roman  will  er  mir  bandweife  mitteilen,  und 
dann  foll  ich  ihm  allemal  fchreiben,  was  in  dem  künftigen 
ftehen  muffe  und  wie  es  fich  verwickeln  und  entwickeln 
werde.  Er  will  dann  von  diefer  antizipierenden  Kritik 
Gebrauch  machen,  ehe  er  den  neuen  Band  in  Druck  gibt. 
Unfere  Unterredungen  über  die  Kompofition  haben  ihn 
auf  diefe  Idee  geführt,  die,  wenn  fie  gut  und  mit  Sorg^ 
falt  ausgeführt  werden  follte,  die  Gefetze  der  poetifchen 
Kompofition  fehr  gut  ins  Licht  fetzen  könnte. 

Seine  Unterfuchungen  über  Naturgefchichte ,  von 
denen  ich  Dir  einmal  mehr  fagen  will,  haben  mich  fo 
fehr,  als  fein  poetifcher  Charakter  intereffiert,  und  ich  bin 
überzeugt,  daß  er  fich  auch  hier  auf  einem  vortrefflichen 
Wege  befindet.  Auch  was  er  gegen  die  Newtonfche  Farben;: 
theorie  einwendet,  fcheint  mir  fehr  befriedigend  zu  fein. 

[429.]     Schiller  an  F.  v.  Hoven. 

In  diesem  Sommer  bin  ich  endlich  mit  Goethen  genau 
zufammengekommen,  und  es  vergeht  keine  Woche,  daß 
wir  einander  nicht  fehen  oder  fchreiben.  Vor  einiger  Zeit 
habe  ich  mehrere  Wochen  in  Weimar  bei  ihm  gewohnt, 
und  ihn  ganz  in  feinem  Wefen  kennen  lernen.  Er  ift 
ein  höchft  intereffanter  Charakter  in  jedem  Betracht,  und 


450] Weimar.    1794. 2n 

feine  Sphäre  ift  fo  weit  ausgebreitet.  In  naturhiftorifchen 
Dingen  ift  er  trefflich  bewandert  und  voll  großer  Blicke, 
die  auf  die  Ökonomie  des  organifchen  Körpers  ein  herr^^ 
liches  Licht  werfen.  Sein  Dichtergeift  ift  noch  ganz  und 
gar  nicht  ausgelöfcht,  nur  hat  er  fich  feit  einiger  Zeit  auf 
alle  Teufeleien  eingelaffen,  davon  Du  in  den  erften  Stücken 
des  Journals  Proben  finden  wirft.  Über  die  Theorie  der 
Kunft  hat  er  viel  gedacht  und  ift  auf  einem  ganz  andern 
Wege,  als  ich,  zu  den  nämlichen  Refultaten  mit  mir  ge^^ 
kommen. 

[430.]     Oktober  19.     D.  J.  Veit  an  Rahel  Levin. 

Wenn  Sie  mir  jemals  gefehlt  haben,  ■^  fo  war  es 
geftern,  nachdem  ich  Goethe  drei  Viertelftunden  hindurch 
ununterbrochen  gefprochen  hatte,  und  noch  mehr  den 
Abend  nach  der  Komödie  in  Weimar  '^. 

Goethe  hat  mich  erftaunlich  freundlich  aufgenommen, 
hat  fich  angelegentlich  nach  Salomo  Maimon  erkundigt 
und  über  fehr  viel  Dinge  mit  mir  gefprochen.  Es  ift 
wahr,  daß  er  älter  geworden  ^  er  ift  etwas  magerer  und 
bleich  im  Geficht;  die  Nafe  fieht  länger  aus,  und  die  ihm 
gewöhnhche  fteife  Stellung  wird  um  fo  auffallender,  nichts:^ 
deftoweniger  ift  er  außerordentlich  freundlicher  Gefichter 
und  der  heiterften  Laune  fähig.  Er  hat  viel  über  Mai:= 
mon  mit  mir  gefprochen,  über  Dichtkunft,  Philofophie, 
Genie  und  andere  Materien  mehr.  ^  Beim  Weggehen 
fagte  mir  Goethe:  Befuchen  Sie  mich,  wenn  Sie  wieder 
nach  Weimar  kommen;  komme  ich  nach  Jena,  —  und  ich 
denke:  bald  —  fo  will  ich  fchon  nach  Ihnen  fragen.  Wen;« 
den  Sie  fich  immer  an  mich,  fobald  Sie  etwas  fuchen;  den 
Hofrat  Grüner  will  ich  bitten,  daß  er  Ihnen  Bücher  leiht ufw. 
Ich:  Ich  danke  Ihnen  recht  fehr,  Herr  Geheimeratl  Aber 
ich  muß  geftehen,  daß  ich  wirkhch  Anftand  genommen 
habe  zu  Ihnen  zu  kommen;  ich  weiß,  wie  fehr  Sie  von 
Fremden  inkommodiert  werden  ufw.  Das  nahm  er  wohl 
auf,  und  ich  ging.  Den  Abend  wurde  in  Weimar  Der 
Diener  zweier  Herrn  zu  meiner  Verwunderung  recht  hübfch 
gefpielt.  ~  Goethe  war  auch  im  Theater,  und  zwar  wie 
immer  auf  dem  Platz  des  Adels.  Mitten  im  Spiel  gehet 
er  von  diefem  Platze  weg,  —  was  er  fehr  feiten  tun  foll 
—  fetzt  fich,  folange  er  mich  nicht  anreden  konnte,  hinter 
mir  —  wie  mir  meine  Nachbarinnen  erzählt  haben  —  und 
fowie  der  Akt  zu  Ende  ift,  kommt  er  vor,  macht  ein 
I  14* 


212 D.  J.  Veit. [431 

äußerft  verbindliches  Kompliment  und  fängt  in  einem 
recht  vertraulichen  Ton  an:  Das  ift  ein  recht  vorzüglich 
Stückchen.  Ol  es  ift  fchon  fehr  alt,  und  von  Goldoni; 
der  Schröder  hat's  ins  Kurze  gezogen  für  die  Hamburger 
Bühne,  und  alle  Theaterfchwänke  find  recht  gut  darin  be^ 
nutzt.  Ich:  Ja  wohl!  und  ich  habe  noch  keine  Unan^ 
ftändigkeit  gehört.  Goethe:  Kommt  auch  keine.  —  Hier^^ 
auf  fängt  er  an,  einen  Augenblick  zu  fchweigen;  in  dem 
vergeffe  ich,  daß  er  Theaterdirektor  ift  und  fage :  Sie  fpie* 
len  es  auch  recht  hübfch.  Er  fieht  noch  immer  grade  aus, 
und  fo  fage  ich  in  der  Dummheit  —  aber  wirklich  in 
einer  Empfindung,  die  ich  mir  noch  nicht  zu  zergliedern 
weiß  —  noch  einmal:  Sie  fpielen  recht  hübfch.  In  dem 
Augenblick  macht  er  mir  ein  Kompliment,  das  aber  wirk^ 
lieh  wie  das  erfte  fo  verbindlich  war,  und  fort  ift  er!  Hab' 
ich  ihn  beleidigt  oder  nicht?  ^  Sie  können  es  gar  nicht 
glauben,  wie  ich  noch  immer  geängftigt  bin,  ohnerachtet 
ich  fchon  von  Humboldt,  der  ihn  jetzt  genau  kennt,  die 
Verficherung  habe,  daß  er  oft  fo  fchnell  weggeht  und 
Humboldt  es  auf  fich  genommen  hat,  noch  einmal  mit 
ihm  von  mir  zu  fprechen. 

[431.]     Oktober  19.     D.  J.  Veit  an  Rahel  Levin. 

Nun  meine  angenehmen  Vorfälle  mit  Goethe!  Ich 
war  vormittags  hingegangen,  vorfätzlich  zu  einer  Zeit,  wo 
er  immer  zu  Haufe  ift  und  fich  niemals  fprechen  läßt,  und 
hatte  den  Brief  dem  Bedienten  mit  dem  Bedeuten  gegeben, 
daß  ich  nachmittags  um  3  Uhr  wiederkommen  würde,  um 
zu  fragen,  ob  mir  der  Herr  Geheimerat  die  Ehre  erzeigen 
wollte,  mich  zu  fprechen.  ^  Um  3  Uhr  kam  ich  und  der 
Bediente  führte  mich  in  das  Befuchzimmer. 

Goethe  (aus  einer  andern  Stube).  Sie  haben  mir 
einen  Brief  von  Herrn  Maimon  gebracht?  Ich:  Zu  Be^ 
fehl.  Goethe:  Heißen?  Ich:  Veit.  Goethe:  Ich  freue 
mich  recht  fehr.  Ich:  Ich  hatte  fchon  vor  anderthalb 
Jahren  die  Ehre,  Sie  zu  fehen,  durch  eine  Empfehlung 
des  verftorbenen  Hofrats  Moritz.  Goethe:  Ach  ja!  Auch 
ift  mir  Ihr  Geficht  recht  bekannt.  Nun,  wie  geht  es  denn 
Herrn  Maimon?  —  Ich  fagte  ihm  hierauf  fein  jetziges  Ver? 
hältnis  und  daß  er  nebenher  von  dem  geringen  Ertrag 
feiner  Schriften  lebt.  Goethe:  Ei,  ei!  Und  er  fchreibt 
fo  ftarke  Sachen  und  fo  hübfch.  Ich:  Ja!  und  hat  das 
fchwerfte  Fach.    Goethe:   Ganz  gewiß,  das  fchwerfte  von 


451] Weimar.    1794. 213 

allen.  Man  kennt  ihn  gar  nicht  fo  recht;  das  PubUkum 
ift  gar  klein.  Ich  wollte,  er  käme  her.  Ich:  Haben  Sie 
feine  neue  Theorie  gefehen,  Herr  Geheimerat?  Goethe: 
O  wohl!  Er  hat  mir  auch  feinen  Plan  zur  Erfindungss^ 
lehre  gefchickt;  das  muß  er  ausführen.  Ich:  Er  wünfcht, 
fich  mit  mehr  Gelehrten  verbinden  zu  können.  Goethe: 
Hm!  warum?  Sehen  Sie:  in  wiffenfchaftlichen  Sachen 
ift  fo  etwas  gar  nicht  nötig.  So  wie  ich  da  eine  Idee 
habe,  kann  und  muß  ich  fie  jedem  fagen;  wie  einer  das 
Schema  fieht,  weiß  er  fchon,  was  er  erwarten  kann.  In 
äfthetifchen  ift  es  umgekehrt :  wenn  ich  ein  Gedicht  machen 
will,  muß  ich  es  erft  zeigen,  wenn  es  fertig  ift,  fonft  ver^  1 
rückt  man  mich;  und  fo  bei  allem,  was  Kunft  ift.  —  Hier?  ' 
auf  fprach  er  mit  mir  von  Jena  eine  lange  Zeit;  Dinge, 
die  zu  weitläufig  würden.  Dann  fagte  ich  ihm,  daß  Mai?  ' 
mon  den  Plan  hätte,  ein  neues  Wörterbuch  der  fchönen 
Künfte  herauszugeben,  und  fpielte  hinten  herum  auf  ihn 
als  Mitarbeiter  heran.  Goethe:  Ja,  fehen  Sie!  Moritz 
wollte  das  auch,  und  der  war  lebhaft;  dem  habe  ich  fchon 
gefagt,  daß  es  noch  zu  frühe  ift.  Erft  muffen  die  Philo? 
fophen  die  Principia  in  Ordnung  gebracht  haben;  und 
wie  jetzt  die  Gärung  ift,  das  wiffen  Sie.  Man  könnte 
da  viel  fchreiben  und  manches  aufwärmen;  das  will  man 
nicht  und  in  fechs  oder  acht  Jahren  wäre  das  Neue  wie? 
der  verworfen.  Das  ift  doch  auch  nichts.  Moritz  kehrte 
fich  nicht  daran,  und  feinen  Beiftand  kann  man  keinem 
hübfchen  Unternehmen  verfagen;  aber  ein  Lexikon,  das 
ift  zum  Nachfchlagen  für  Leute,  die  keine  weitläufige 
Sachen  lefen,  und  ift  kein  Buch  für  Erfindungen.  Soll 
es  Theorie  der  Künfte  fein?  Künfte  muffen  ausgeübt"^ 
werden,  es  fei  nun  Poefie,  Malerei  oder  was  fonft.  Der  \ 
die  Regeln  gibt,  der  muß  fehr  langfam  fein,  und  der  Künft? 
1er  kann  wieder  nicht  warten  und  muß  fich  an  etwas  hal? 
ten.  Dazu  ift  nun  freilich  das  Genie.  Das  Genie  kommt 
mir  immer  vor  wie  eine  Rechenmafchine :  die  wird  ge? 
dreht,  und  das  Refultat  ift  richtig;  fie  weiß  nicht  warum? 
oder  wie  fo? 

Ich  fprach  immer  viel  dazwifchen  und  kam  ihm  oft 
zu  Hilfe ;  denn  er  kann  fich  gemeinhin  auf  viele  Wörter 
nicht  befinnen  und  macht  beftändig  Gefichter.  Bisher, 
fagte  er  unter  andern,  hat  man  fich  in  der  Theorie  hau? 
fig  auf  empirifche  Regeln,  auf  Erfahrungsfätze  eingelaflen 
und  immer  in  den  Künften  gefprochen,  wie  die  Sachen 
I 


214 D.  J.  Veit. [432 

erfcheinen  muffen,  nicht  wie  fie  fein  muffen  und  wie 
man  fie  machen  foll.  Ja,  hören  Siel  das  kommt  mir 
vor,  als  wenn  einer  ins  Theater  geht  und  das  Stück  ge? 
fällt  ihm;  nun  denkt  er,  wie  natürlich  ein  jeder:  du 
möchteft  wohl  auch  ein  fo  fchön  Stück  fchreiben,  und 
fchreibt  nach  dem  Effekt.  Ja,  lieber  Gott!  der  bringt 
nichts  heraus;  man  muß  wiffen,  wie  viel  unangenehme 
Teile  dazu  gehören,  bis  ein  Ganzes  angenehmen  Effekt 
macht.  Kurz:  fo  wie  die  Leute  reden  und  fchreiben, 
das  heißt  meiftenteils,  ein  Stück  als  Zufchauer  fchreiben. 
Hinter  die  Bühne  muß  man;  man  muß  die  Mafchinen 
und  die  Leitern  kennen. 

[432.]     Oktober  19.     D.  J.  Veit. 

Goethe  glaubt,  fein  Roman  werde  keine  Senfation 
machen;  denn  er  war  fchon  1780  fertig,  und  ifi  nur  hier 
und  da  abgeändert.  Eigentlich  arbeitet  er  jetzt  nur  wiffen? 
fchaftliche  Sachen;  er  hat  ganze  Stöße  Dichtungen  liegen; 
fogar  die  Iphigenie  ift  fehr  alt.  Noch  als  Doktor  Goethe 
hat  er  im  Jahre  1775  den  Oreft  gefpielt  und  zwar  außer? 
ordentlich.  Damals  war  er  noch  weit  und  breit  der  befte 
Tänzer,  Schaufpieler,  Reiter,  Schwimmer,  Fechter  und  der 
fchönfte  Mann.  Viel  von  feiner  Lebensgefchichte  kommt 
in  dem  Roman  vor.  <^ 

Man  foUte  doch  billig  Herrn  Maimon  in  der  Li? 
teraturzeitung  rezenfieren;  wenn  ein  Mann  fo  erftaunend 
viel  tut,  ift's  doch  auch  recht,  daß  man  von  ihm  fpricht. 

[433.]     Oktober  25.     Ch.  G.  Voigt. 

Betreffend  Fichte,  fo  wünfcht  auch  Herr  von  Goethe 
fehr,  er  leihe  feinen  Namen  oder  auch  feine  Anonymität 
(die  fo  gut  als  Name  ift)  vor  der  Hand  zu  keiner  neuen 
Auflage  der  Beurteilung.*  Er  glaubt,  daß  diefes  felbft  damit 
übereinftimme,  was  Fichte  bei  feiner  erften  Unterredung 
mit  ihm  verheißen  habe.  Diefes  fagt  er  mir  ganz  ver? 
traulich  und  ich  weiß  nicht,  ob  wir  davon  gegen  Fichte 
Gebrauch  machen  können;  indes  ift  diefes  damals  auch 
dem  Herzog  von  feinen  Freunden  zugefichert  worden, 
die  alfo  gewiffermaßen  kompromittiert  werden,  wenn  er 
Anteil  an  der  Herausgabe  jener  Schrift  nimmt. 


*  Fichtes  Schrift:    Beitrag  zur  Berichtigung  der  Urteile  des 
Publikums  über  die  franzöfifche  Revolution.     Jena  1793. 


434]  Weimar.    1794. 215 

[434.]     Oktober  31.     K.  A.  Böttiger. 

In  einem  alle  Freitage  fich  verfammelnden  Abende 
Zirkel  für  den  Winter  zwifchen  1794  und  1795  wurde 
befchloffen,  jedesmal  einen  Gefang  der  Ilias  nach  Voß 
vorzulefen  und  fich  dann  die  dabei  von  felbft  kommen^ 
den  Bemerkungen  mitzuteilen.     Goethe  ift  Vorlefer.  — 

Die  härteften  Stellen  wurden  durch  Goethes  treffliche 
Deklamation  und  richtig  wechfelndes  Andante  und  Ada:: 
gio  außerordentlich  fanft  und  milde.  Es  ift  unleugbar, 
daß  Voß  nur  fürs  Ohr  und  den  lebendigen  fukzeffiven 
Eindruck,  nicht  fürs  Auge  und  zergliedernden  Überblick 
des  Stils  gearbeitet  hat. 

Erfter  Gefang. 

Fragen.  1.  Tat  Voß  recht  daran,  das  anftößige 
Tcwüna  V.  159  und  ßownig  V.  551,  jenes  durch:  Ehrver:; 
geffenerl  diefes  durch:  hoheitblickende  zu  mildern  und 
das  echthomerifche  588  &ai'vofxev7]v  nur  durch  das  fanftere: 
wenn  er  Dich  firaft  zu  überfetzen?  Antwort.  Keines^ 
wegsl  In  allen  drei  Fällen  wird  das  ftark  Sinnliche  durch 
abftraktere  Vorftellungen  entnervt.  Auch  ift  das:  hoheit:: 
blickende  nicht  einmal  im  Sinne  Homers,  da  es  bloß 
die  auch  in  den  Kunftwerken  charakteriftifchen  großen 
Augen  der  Juno  bezeichnet.  Sollte  Voß  nicht  bloß  das : 
Farrenäugige  feiner  Vorgänger  haben  vermeiden  wollen, 
und,  weil  er  fühlte,  er  könne  nichts  Befferes  geben,  Xit^ 
ber  eine  unbefriedigende  Abftraktion  gefetzt  haben? 

2.  Ift  das  df.ißQÖavai.  y^cuTai  insQQÖiGavTO  V.  529  wohl 
ganz  richtig  von  Voß  überfetzt:  fie  walleten  vorwärts?  Voß 
dachte  fich  das  Haar  im  Augenblicke  des  Zunickens.  Aber 
fo  dachte  fie  fich  wenigftens  Phidias  nicht.  Da  ift  diefe  gtf 
waltfame  Bewegung,  wenn  fie  überhaupt  ftattfand,  fchonvors: 
bei,  und  die  Locken  zittern  nur  noch  den  Scheitel  entlang. 

In  einigen  Stellen  ift  der  Nachdruck  des  Orginals 
merklich  gefchwächt,  als  V.  132  (xvj  xlenre  vom:  Sinne 
nicht  auf  Trug!  Nach  dem  Original  war  dies  fchon  ge^: 
fchehen,  und  jetzt  fuchte  er  nun  wirklich  Ausflüchte.  Das 
)[6lov  zaTanemeiv  W .  81  ift  auch  zu  fchwach  überfetzt  und: 
Galle  wollte  Goethe  der  verfchiedenen  Nebenbegriff'e  wes: 
gen  durchaus  nicht  gefallen.  So  tadelte  Goethe  auch  das 
mehrmals  wiederkommende:    traun! 

V.  151  ift  bei  Homer  ein  diftributiver  Satz:  ^  odov 
lld^^avai,  r)  ävö^ädiv  icpv  fxocy^8G\>ai.  In  Voßens  Überfetzung: 
I 


216  K.  A.  Böttiger.  [435 

Einen  Gang  dir  zu  gehn  und  kühn  mit  dem  Feinde  zu 
kämpfen,  fließt  dies  in  einen  einzigen  Begriff  zufammen. 
Voß  wollte  das  gehäffige:    oder  vermeiden. 

Über  die  Roheit  der  ältefien  Mythen,  z.  B.  die  Vors: 
ftellung  vom  Briareus  V.  400  ff.  Goethe  verglich  fie  mit 
dem  Gradlinigten  und  Steifen  des  alten  Stils  in  der  Kunft. 
—  Unverdauliche  Abgefchmacktheit  im  Götterfyfiem  Ho:s 
mers.    Seine  Menfchen  handeln  viel  edler,  als  feine  Götter. 

[435.]     November  Anfang.     F.  Hölderlin. 

Auch  bei  Schiller  war  ich  fchon  einige  Male.  Das  erftej: 
mal  eben  nicht  mit  Glück.  Ich  trat  hinein,  wurde  freundes 
lieh  begrüßt  und  bemerkte  kaum  im  Hintergrunde  einen 
Fremden,  bei  dem  keine  Miene,  auch  nachher  lange  kein 
Laut  etwas  Befonderes  ahnen  ließ.  Schiller  nannte  mich 
ihm,  nannt'  ihn  auch  mir,  aber  ich  verftand  feinen  Namen 
nicht.  Kalt,  faft  ohne  einen  Blick  auf  ihn,  begrüßt'  ich 
ihn  und  war  einzig  im  Innern  und  Äußern  mit  Schillern 
befchäftigt.  Der  Fremde  fprach  lange  kein  Wort.  Schiller 
brachte  die  Thalia,  wo  ein  Fragment  von  meinem  Hype? 
rion  und  mein  Gedicht  An  das  Schickfal  gedruckt  ift, 
und  gab  es  mir.  Da  Schiller  fich  einen  Augenblick  dar* 
auf  entfernte,  nahm  der  Fremde  das  Journal  vom  Tifche, 
wo  ich  ftand,  blätterte  neben  mir  in  dem  Fragmente  und 
fprach  kein  Wort.  Ich  fühlt'  es,  daß  ich  über  und  über 
rot  wurde;  hätt'  ich  gewußt,  was  ich  jetzt  weiß,  ich  wäre 
leichenblaß  geworden.  Er  wandte  fich  darauf  zu  mir,  er* 
kundigte  fich  nach  der  Frau  von  Kalb,  nach  der  Gegend 
und  den  Nachbarn  unferes  Dorfs,  und  ich  beantwortete 
das  alles  fo  einfilbig,  als  ich  vielleicht  feiten  gewohnt  bin. 
Aber  ich  hatte  einmal  meine  Unglücksftunde!  Schiller 
kam  wieder,  wir  fprachen  über  das  Theater  in  Weimar; 
der  Fremde  ließ  ein  paar  Worte  fallen,  die  gewichtig  genug 
waren,  um  mich  etwas  ahnden  zu  laffen  —  aber  ich  ahndete 
nichts.  Der  Maler  Meyer  aus  Weimar  kam  auch  noch ;  der 
Fremde  unterhielt  fich  über  manches  mit  ihm;  aber  ich 
ahndete  nichts!  Ich  ging  und  erfuhr  an  demfelben  Tage, 
~  daß  Goethe  diefen  Mittag  bei  Schiller  gewefen  fei. 

[436.]     November  7.     K.  A.  Böttiger. 

Goethe  hatte  bei  einer  vorausgehenden  Durchlefung 
die  Bemerkung  über  den  Catalogus  navium  im  zweiten 
Gefang  der  Ilias  gemacht,  daß  Homer  nach  einer  feft  an* 
genommenen  Ranglifie  die  Völkerfchaften  fich  nebenein* 


436]  Weimar.    1794.  217 

ander  fiellen  laffe.  Dies  erhelle  ganz  deutlich  daraus,  daß 
er  da,  wo  die  Myrmidonen  jetzt  nicht  ftanden,  weil  fie 
mit  dem  Achill  fiill  faßen,  fie  doch  in  Reih'  und  Glieder 
ftellt  V.  681  bis  694.  Die  hiervon  der  Rechten  zur  Linken 
gehende  Ordnung  war  alfo  beim  Dichter  nicht  willkürlich, 
fondern  er  fingt  nach  Stammfagen  und  empfangenen  Re? 
giftern,  Agamemnon  führt  allem  Anfchein  nach  das  Corps 
de  Bataille.  Zugleich  wurde  nach  d'Anvilles  Karte  von 
Griechenland  der  Weg  aufgefpürt,  in  welchem  Homer  bei 
der  Aufzählung  geht.  Er  fängt  mit  Aulis  an  und  macht 
einen  doppelten  Kreis. 

Diesmal  war  Wieland  bei  der  Vorlefung,  der  auch 
in  feinem  kleinen  Berglerfchen  Homer,  fo  gut  es  gehen 
wollte,  nachlas.  Diefer  war  äußerft  ftreng  gegen  Voß 
und  gab  befonders  darüber  feinen  Unwillen  zu  erkennen, 
daß  er  oft  bloß  die  natürlichfte  Art  der  Überfetzung  dar^^ 
um  verworfen  habe,  um  nicht  einerlei  mit  feinem  Vors^ 
ganger  zu  fagen.  Befonders  ärgerte  er  fich  über  das  hau? 
fig  vorkommende:  Jener  fagt's,  z.  B.  V.  84,  da  doch  das: 
Jener  in  Relation  mit:  diefer  ftehen  müßte,  im  Homer 
aber  das  üg  icpaT  dies  gar  nicht  fagen  wolle.  Goethe  las 
alfo  von  nun  an,  um  Wielands  Ohr  zu  fchonen,  immer: 
alfo  fprach  er.  Auch  rügte  Wieland  das  Willkürliche  im 
Gebrauch  oder  Nichtgebrauch  der  Homerifchen  Konjunk? 
tionen.  So  habe  z.  B.  Voß  feiten  das  inel  gefetzt,  wo  es 
im  Griechifchen  ftehe.  Ferner  die  Auflöfung  des  Adjek? 
tivs  als  Beiwort  in  ein  neues  Subftantiv,  z.  V.  89  ävOeaiv 
elaQivolaiv^  wo  Voß  überfetzt :  Blumen  des  Frühlings.  Wie? 
land  behauptete  nach  einem  fekr  richtigen  Gefühl,  daß: 
Lenzifche  Blumen  weit  individueller  und  malerifcher  fei, 
als  jene  Zerftückelung  in  zwei  Begriffe. 

Stellen,  wo  der  griechifche  Ausdruck  in  der  Über? 
fetzung  nicht  erfchöpft  ift,  V.  1 17  xazelvae  %<xQ)iva.  132  nlä!;* 
ovGi,  148  inar/i^cov;  dioTQEcpeog  bei  König  196  fei  gar  nicht 
das  Voßifche  weit  verkünftelte :  Götterbefeligt;  266  &al8Q6v 
daycQv,  269  uQyeJov,  399  y>(xnviaGav\  595  dvrouevai  mißbilligte 
Goethe:  fanden. 

V.  209,  210.  Hier  hat  Voß  ein  paar  Hexameter  im 
Klopftockifchen  Silbentanz  fehr  paffend  angebracht,  wie 
Goethe  bemerkte. 

V.  225—43.    Das  herrlichfte  Original  einer  fansculot? 
tifchen  Demagogenrede.    Auch  Voß  ift  mit  guter  Abficht 
hier  etwas  niedriger  in  feinem  Ausdrucke  geworden. 
I 


218 K.  A.  Böttiger. [437 

[437.]     November  14.     K.  A.  Böttiger. 

Bei  dem  Schreien  der  Trojaner  und  dem  ftillen  An? 
rücken  der  Griechen  im  dritten  Gefang  der  Ilias,  welches 
fchon  die  Alten  als  einen  charakteriftifchen  Zug  der  wahren 
Tapferkeit  bemerkt  haben,  erinnerte  Goethe  noch  fehr  fein, 
daß  diefer  Kontraft  durch  den  im  zweiten  Buch  vorher? 
gehenden  Catalogus  noch  auffallender  werde,  wo  die 
Schiffs?  und  Heerlifte  der  Griechen  fo  viel  mehr  Platz  ein? 
nehme  und  Nachdruck  zeige,  als  das  enge  Verzeichnis  der 
Troer  und  ihrer  Genoffen,  die  doch  nun  grade  nach  Art 
aller  Poltrons  den  größten  Lärm  machten, 

V.  33  überfetzt  Voß  dQÜxovTcc:  Natter.  Dachte  dies 
wohl  Homer  dabei?  V.  39  hat  Voß  für  das  fchleppende: 
Unglückfeliger  Paris!  wie  Stolberg  das  dvünaQi  überfetzt 
hat,  gradezu  nur  einen  andern  Begriff  gefetzt :  Weichling! 
Jvanaqiq  war  unüberfetzbar,  aber  Weichling  drückt  doch 
auch  gar  nichts  von  dem  aus,  was  in  dvanaQv  liegt;  es 
ift:   verhaßter,  verderblicher  Paris! 

V.  54  werden  ömq  'AipQodirrjg  durch:  Huld  Aphro? 
ditens  überfetzt  und  weiter  unten  V.  64  wörtlicher:  Gaben 
der  goldenen  Aphrodite.  Diefe  Ungleichheit  ift  nicht 
im  Homer. 

V.  74,  75:  Jen'  entfchiffen  zu  Achaias  rofigen  Jung? 
fraun,  ift  ganz  etwas  anderes,  als  das  Homerifche  [Aiai'lda 
%alliyvvai%a.  Nach  Voßens  Überfetzung  wären  die  Zu? 
rückfchiffenden  nicht  viel  weniger,  als  TTaQ&Evonmao  ge? 
wefen. 

V.  130  2'V}iq)cc  (pilfj,  Voß:  du  trautes  Kind!  Es  ift 
die  Schwägerin  Laodike,  nicht  Priamos,  der  fpricht  (wie 
unten  V.  162  mein  Töchterchen,  (pllov  Te%og).  Ich  ziehe 
daher  Stolbergs  Geliebte!  vor,  obgleich  auch  dies  das 
vv^cpa  qp/X»? —  liebes  Weibchen!  —  nicht  ganz  ausdrückt. 

V.  152  ona  leiQiösdGav  hellfchwirrende?  Stolberg 
noch  fchlechter:   fchwacher  Gefang. 

V.  166  ff.  Nur  den  einzigen  Agamemnon  nennt  uns 
Homer  nicht  im  voraus  und  hebt  ihn  durch  die  fo  ge? 
fpannte  Erwartung  vor  den  übrigen  heraus,     Goethe. 

V.  176  Tertixa  in  Tränen  verfchwind'  ich.  —  Zer? 
fchmelz'  ich,  wie  es  Stolberg  hat,  wäre  weit  beffer.  Allein 
Voß  verwarf  es  nur  darum,  weil  es  Stolberg  fchon  vor 
ihm  gebraucht  hatte. 

V.  180  z/arjQ  ai)T  ifiog  faxe  zvvmniSog,  eYnor  erjv  ye. 
Voß:   Schwager  mir  war  er  vordem,  der  fchändlichen  (?) 


438]  Weimar.      1794.  219 

ach,  er  war  es.  Kwcojrtg  ifi  auch  hier  wie  oben  I,  159 
verwäffert.  Das  ^inor  ^7jv  ye  drückt  etwas  ganz  anderes 
aus,  als  Voß  überfetzt  hat.  Es  foll  heißen:  wenn  er 
überhaupt  je  mein  Schwager  war,  wenn  ich's  überhaupt 
verdiente,  je  feine  Schwägerin  zu  heißen.  Stolberg  hat 
es  lieber  ganz  weggelaffen. 

V.  224  Sinn:  Nun  wunderten  wir  uns  nicht  mehr 
fo  darüber,  daß  Odyffeus  ein  fo  dummes  Anfehn  gehabt 
habe.     Wieland. 

ZaKOTog  im  220ften  Vers  ift  unvergleichlich  durch: 
tückifch  überfetzt. 

Man  könnte  hierbei  fragen:  Hat  bloß  Homers  Phan:; 
tafie  diefe  Körperformen  gefchaffen,  oder  hat  er  fie  durch 
Bild  und  Überlieferung? 

V.  286,  87.  Die  n^irj^  die  hinfort  auch  daure  bei 
kommenden  Menfchengefchlechtern,  veranlaßt  in  der  Über:: 
fetzung  leicht  den  Begriff  eines  fortdauernden  Tributs. 
Homer  will  aber  nur  eine  Buße  andeuten,  die  auch  den 
Nachkommen  unvergeßlich  bleibe. 

V.  362  (foclog  kann  nicht  durch  gekugelten  Helm 
gegeben  werden.  Es  waren  die  (faloi^  kleine  polierte 
Metallplatten,  womit  der  Helm  ausgefchmückt  war.  Dies 
lehrt  fchon  das  abgeleitete  Wort  TQvcpäleva.  Das  Mißver? 
ftändnis  ift  aus  der  gewöhnlichen  lateinifchen  Überfetzung 
Conus  entftanden.     S.  Ernefti  in  Clav.  Cic.  s.  r.  phalerae. 

V.  399  ff.  Helena  behandelt  hier  die  Venus  wie 
eine  Kupplerin.     Goethe. 

V.   419  zaTaayoaev}]:    gefenkt. 

V.  449  ff.  Goethe  fand  den  Kontraft  zwifchen  der 
Gardinenfzene  und  dem  auf  dem  Schlachtfelde  wütenden 
Menelaus  um  fo  lächerlicher,  weil  hier  der  wütige  Mene^: 
laus  mit  feinem  Aktäonifchen  Schmuck  als  cocu  herum^ 
laufe.  Wieland  machte  einige  Gegenbemerkungen,  aus 
dem  frühen  Zeitalter  hergenommen. 

[438.]     1794  Ende|1795  Anfang.     F.  Hölderlin. 

Auch  mit  Goethen  wurd'  ich  bekannt.  Mit  Herz:: 
pochen  ging  ich  über  feine  Schwelle  in  Weimar,  das  kannft 
Du  Dir  denken.  Ich  traf  ihn  zwar  nicht  zu  Haufe,  aber 
nachher  bei  der  Majorin  v.  Kalb.  Ruhig,  viel  Majeftät 
im  Blicke  und  auch  Liebe,  äußerft  einfach  im  Gefpräche, 
das  aber  doch  hie  und  da  mit  einem  bittern  Hiebe  auf 
die  Torheit  um  ihn  und  ebenfo  bittern  Zuge  im  Gefichte, 
I 


220  K.  A.  Böttiger.  [439 

und  dann  wieder  von  einem  Funken  feines,  noch  lange 
nicht  erlofchenen  Genies  gewürzt  wird,  —  fo  fand  ich  ihn. 
Man  fagte  fonft,  er  fei  ftolz,  wenn  man  aber  darunter 
das  Niederdrückende  und  Zurückfioßende  im  Benehmen 
gegen  unfereinen  verftand,  fo  log  man.  Man  glaubt  oft 
einen  recht  herzguten  Vater  vor  fich  zu  haben.  Noch 
geftern  fprach  ich  ihn  hier  in  Jena  im  Klub. 

[439.]     F.  Hölderlin. 

Goethen  hab'  ich  gefprochen  ^  Es  ifi  der  fchönfte 
Genuß  unferes  Lebens,  fo  viel  Menfchlichkeit  zu  finden, 
bei  fo  viel  Größe.  Er  unterhielt  mich  fo  fanft  und  freundes 
lieh,  daß  mir  recht  eigentlich  das  Herz  lachte  und  noch 
lacht,  wenn  ich  daran  denke. 


1795. 

[440.]     Anfang  d.  J.    D.  J.  Veit. 

Goethe  hat  hier  in  Jena  einem  Menfchen  felbfi  ge:= 
ftanden,  daß  er  nicht  mehr  fähig  wäre,  fich  feiner  erften 
Jugendeindrücke  fo  lebhaft  zu  erinnern,  als  er  es  im 
Wilhelm  getan  hat;  denn  die  Lebhaftigkeit  des  Gedächte 
niffes,  mit  welcher  er  den  Meifter  vor  fünfzehn  Jahren 
entworfen  habe,  fei  ihm  nun  bei  der  Ausfeilung  ganz 
fremd  geworden.  —  Noch  eins:  Er  fpielt  Klavier,  und 
gar  nicht  fchlecht. 

[44L]     Januar  18.     Schiller  an  Ch.  G.  Körner. 

Wie  viel  Deutlichkeit  der  Auffatz  über  äflhetifche 
Erziehung  in  feiner  jetzigen  Geftalt  auch  für  nicht  Kantifche 
Lefer  habe,  davon  machte  ich  geftern  Abend  eine  fehr 
intereffante  Erfahrung.  Ich  las  ihn  Goethen  und  Meyern, 
die  feit  acht  Tagen  hier  find,  vor  und  beide  wurden  von 
Anfang  an  bis  hinaus  davon  fortgeriffen ,  und  zwar  in 
einem  Grade,  wie  kaum  ein  Werk  der  Beredfamkeit  ver^; 
mag.  '^  Deinem  Auffatz  über  Mufik  fehe  ich  mit  großem 
Vergnügen  entgegen.  Auch  Goethe  ift  fehr  begierig  darauf 

[442.]     (Januar  11. /23.)      Schiller  an  Körner. 

Goethe  nennt  diefes  Stück  der  Hören  den  Centaur, 
weil  feine  Elegien  einen  feltfamen  Kontraft  mit  meiner 
Philofophie  machen  werden. 


446] Jena.     1795.  221 

[443.]     April  I./IO.     Schiller  an  Körner. 

Goethe  ift  fchon  feit  vierzehn  Tagen  hier,  und  er*: 
fcheint  jeden  Abend  pünktlich,  wo  dann  allerlei  durch:: 
gefprochen  wird.  Er  ift  jetzt  mit  einem  Trauerfpiele  im 
altgriechifchen  Gefchmack  befchäftigt.  Der  Inhalt  ift  die 
Befreiung  des  Prometheus. 

[444.]     April  3.     Schiller  an  Körner. 

Vorgeftern  kam  mein  Bild  von  Dorchen*  an  ~ 
Goethe  und  Meyer,  welche  eben  hier  find,  haben  fich 
auch  recht  darüber  gefreut. 

[445.]    April.     Schiller. 

Wir**  haben  einen  fehr  vergnügten  Tag  in  Goethens 
Gefellfchaft  zufammen  zugebracht. 

[446.]     Mai  22./28.     F.  A.  Wolf  an  Goethe. 

Es  wird  mir  fchwer,  den  Genuß  der  vier  unbefchreibs: 
lieh  glücklichen  Tage,  die  ich  Ihnen  neulich  zu  danken 
hatte,  einen  Genuß,  der  mir  immer  noch  täglich  wie  neu 
ift,  und  Ihr  Bild  täglich  vergegenwärtigt,  länger  in  mir 
zu  verfchließen.  Was  mich  oft  in  eine  melancholifche 
Stimmung  fetzt,  der  Mangel  eines  Freundes,  mit  dem  ich 
Empfindungen  wechfeln  könnte,  die  doch  am  Ende  das 
wahre  Leben  find,  das  drückt  mich  itzt  vorzüglich.  Ich 
war  dem  Bücherkerker  entlaufen,  um  mich  zu  zerftreuen; 
und  ftatt  Zerftreuung  gewährte  mir  die  Reife  fo  unend^j 
lieh  viele  Freuden  höherer  Art,  daß  ich,  um  den  Ge? 
fchmack  an  Büchern  wieder  zu  bekommen,  noch  aus^j 
drücklich  eine  Zerftreuungsreife  machen  muß.  Unter 
jenen  Freuden  wird  mir  die,  Ew.  Hochwohlgeboren  perfön? 
lieh  kennen  gelernt  zu  haben,  auf  immer  die  unvergeß;s 
lichfte  fein.  Es  ift  doch  durchaus  etwas  anderes,  Schriften, 
felbft  die,  worin  das  Herz  noch  fo  ftark  redet,  zu  be? 
wundern  und  hochzufchätzen ,  und  den  Quell,  der  fich 
in  unferm  Zeitalter  kaum  genug  in  Schriften  ergießen 
kann,  in  feiner  eigentümlichen  Fülle  und  Klarheit  zu 
fehen. 


*  Dora  Stock,  Körners  Schwägerin. 
**  Schiller  und  Cotta. 

I 


222  F.  A.  Wolf. [447 

[447.]     Mal  22./28.     F.  A.  Wolf  an  K.  A.  Böttiger. 

Auch  laffen  Sie  dann  gelegentlich  den  edlen  lieben 
Goethe  ein  Wort  davon  merken,  der  mir  —  wenn  meine 
Ohren  recht  hörten  —  fo  etwas  Ähnliches  von  einer  Reife 
oder  einem  Durchfluge  hierher  nach  Halle  merken  ließ. 

[448.]     Mai  28.     K.  A.  Böttiger. 

Bei  Goethe.  Zuerfi  über  Leffing.  Er  war  bloß 
zum  Literator  geboren,  aber  ein  fehr  fchlechter  Biblio? 
thekar.  Plan,  nur  bis  1740  beiderWolfenbütteler  BibUothek 
komplett  zu  fein.  Große  Unordnung.  Seine  eignen 
Schriften  auf  der  Bibliothek  zerfchnitt  er,  um  fie  abdrucken 
zu  laffen.  Seine  Neigung  zur  Orthodoxie  empfing  er  in 
Berlin,  wo  er  weder  Spalding  noch  die  andern  Aufklärer 
ausftehen  konnte.  Langer,  fein  Nachfolger,  wohnte  den  vor^ 
nehmften  Auktionen  auf  feinen  Reifen  bei  und  erftand  über? 
all  koftbare  Bücher,  die  er  aber  fo  lange  fiehn  ließ,  bis  er 
in  Wolfenbüttel  sedem  fixam  bekam,  wo  er  alles  zufammen 
kommen  ließ.  Er  arbeitete  fehr  gründliche  Rezenfionen 
in  der  Allgemeinen  Deutfchen  Bibliothek;  fo  hat  er  unter 
andern  des  Erlanger  Beyer  Verfuch  über  den  Theokrit 
fehr  fchirf  rezenfiert. 

Wir  befahen  Goethes  Gemmenfammlung.  Bemerkung 
über  eine  Stelle  im  Bion,  die  ich  nirgends  finde.  Bei 
den  alten  Theatern,  fagt  Goethe,  war  weit  mehr  etiketten? 
mäßige  Konvention,  als  bei  den  unfrigen,  da  wir  das, 
was  der  inneren  Energie  an  Überredungskunft  abgeht, 
durch  .  .  .*  der  Äußerlichkeiten  und  Szenerie  zu  erfetzen 
fuchen.  Die  Alten  hatten  in  ihren  Masken,  Dekorationen, 
Mafchinen  und  Theaterkofiüm  unendlich  mehr,  was  durch 
allgemein  angenommene  Konvention  niemand  mehr  be? 
leidigte,  uns  aber  unendlich  lächerlich  vorkommen  würde, 
eine  reiche  Fundgrube  für  die  Parodie  und  Traveftierung 
der  Komiker.  So  bin  ich  überzeugt,  daß  das  Theater 
gleichfam  in  gewiffe  Regionen  geteilt  gewefen  fein  muß, 
und  daß  die  Luftregion,  in  der .  die  obere  Mafchinerie, 
die  dii  ex  machina  (Wolken,  Vögel  ufw.  im  Ariftophanes) 
fchwebten,  und  die  Waffer:^  und  Orkusregion  übereinander 
rangierten,  ohngefähr  fo,  wie  in  den  Gemälden  und  Reliefs 
des  Altertums   eine  Reihe   Figuren   auf  den  Köpfen  der 


*  Unleferlich.     Lieft  fich   wie:    Schonung,   das  aber  keinen 
Sinn  gibt. 


448]  Weimar.     1795.  223 

untern  Reihe  fteht.  Dies  war  unwandelbar  und  ftets  vor 
den  Augen  der  Zufchauer,  auch  dann,  wenn  im  ganzen 
Stück  das  Bedürfnis  der  einen  Region  nicht  ein  einziges 
Mal  eintrat.  Etwas  anders  war  es  mit  den  exostris  und 
eycxvxlriGeai  des  Innern  des  Haufes  und  der  Veränderung 
gewiffer  Gaffen,  wie  dies  auch  Palladio  beim  Theater  zu 
Vicenza  fehr  artig  angebracht  hat.  Diefe  ftehenden  De^ 
korationen  machen  es  auch  allein  begreiflich,  wie  mehrere, 
oft  acht  Stücke,  in  einem  Tage  gleich  nacheinander  ohne 
Störung  und  Embarras  aufgeführt  werden  konnten.  Wolf 
bemerkte  hierbei ,  daß  er  vollkommen  überzeugt  fei, 
daß  mehrere  Tetralogien  gleich  nacheinander  aufgeführt 
worden  wären,  nur  daß  die  Stelle  in  Ariftoteles  Poetik, 
wo  von  hundert  Stücken  die  Rede  fei,  zu  unglaublich 
fei,  um  nicht  den  Verdacht  einer  Verfälfchung  gegen  fleh 
zu  erregen. 

Hierauf  erzählte  Goethe,  wie  die  Advokaten  in  den 
großen  Sälen  des  Gerichtshofes  von  Venedig  ihre  Sachen 
plädieren.  Den  Richtern  gegenüber,  fo  daß  die  Sach^s 
Walter  im  Rücken  find,  fitzt  ein  Segretario,  der  Stunden^ 
oder  Halbefi:undenfanduhren  vor  fich  ftehen  hat  und  diefe 
während  der  Advokat  fpricht,  auslaufen  läßt.  Der  Ad^ 
vokat  läßt  oft  Inftrumente,  Zeugniffe,  Gefetze  vorlefen, 
das  durch  einen  befonderen  Schreiber  gefchieht.  So  lange 
dies  dauert,  wird  das  Stundenglas  umgelegt,  weil  dies 
Ablefen  nicht  zugerechnet  wird.  Der  Advokat,  dem  alles 
daran  liegen  muß,  zu  feinem  Vorteil  Zeit  zu  erobern, 
fpricht  oft  nur  ein  paar  Worte  drein,  als:  Hört!  Bemerkt 
vorzüglich  dies  Zeugnis!  Augenblicklich  fiellt  der  Sekretär 
wieder  das  Stundenglas,  welches  oft  fehr  fchnelle  Vibrationen 
veranlaßt.  Der  Gegner  hat  eben  fo  viel  Zeit  zugemeffen. 
Es  plädieren  in  wichtigen  Sachen  gewöhnlich  zwei  Advo^ 
katen  für  den  Kläger  und  zwei  für  den  Angeklagten. 
Die  erften  reden  mehr  fi:atarisch  und  gemäßigt  und  haben 
nur  die  ruhigen  Auseinanderfetzungen  der  Tatfachen,  die 
zwei  letzten  aber  wirken  auf  die  Leidenfchaften  und 
wenden  alle  Redekünfte  an.  Hier  entftehen  auch  wirk^s 
liehe  concertationes  und  altercationes,  indem  der  Gegner 
den  Redenden  oft  ins  Wort  fällt,  der  Redende  aber  über 
diefe  Unterbrechungen  laute  Klage  führt.  Der  Fall,  den 
Goethe  plädieren  hörte,  betraf  die  Ableugnung  eines 
Fideikommiffes  von  6000  Skudi,  wo  die  Prokuratoren 
der  pia  causa  die  Kläger  waren.  Da  bediente  fich  der 
I 


224  K.  A.  Böttiger.    [448 

Redner  für  den  Beklagten  aller  Kniffe,  um  das  Mitleid 
der  Richter  zu  bewegen.  Der  Beklagte  war  ein  alter 
fiebzigjähriger  Mann.  Bedenkt!  fagte  fein  Sachwalter, 
daß  es  hier  nicht  eigentlich  auf  die  Summe  von  6000 
Skudi,  fondern  auf  Ehre  und  bürgerliche  Exiftenz  eines 
Bürgers  abgefehen  ift,  und  daß  der  fo  viele  Jahre  lang 
gefparte  und  vermehrte  Schatz  von  Bürgertugend  durch 
euer  Verdammungsurteil  auf  einmal  verloren  gehen  würde. 
Beide  Parteien,  für  welche  die  Redner  fprechen,  fitzen 
einander  gegenüber  und  find  gegenwärtig.  Sie  beobachten 
nicht  allein  die  größte  Demut  mit  niedergefchlagenen 
Augen  und  gefenktem  Haupte,  fondern  der  Beklagte  ift 
auch  wirklich  nach  feinem  Anzüge  in  luctu  et  squalore.  Die 
Dokumente  und  Inftrumente,  worauf  es  auf  beiden  Seiten 
ankommt,  und  die  von  dem  Schreiber  abgelefen  werden, 
find  fchon  gedruckt  und  die  Richter  haben  fie  in  den 
Händen;  nach  beendigter  Ballotage  der  Richter  können 
fie  auch  die  umftehenden  Zuhörer  zu  kaufen  kriegen, 
vorher  aber  nicht.  Goethe  hatte  die  in  groß  Quart  fehr 
fplendid  gedruckten  Dokumente  beider  Parteien  in  zwei 
Cahiers  bei  dem  erwähnten  Handel  gekauft  und  zeigte 
fie  uns  noch  vor.  Auch  hatte  er  den  einen  Advokaten 
im  größten  Affekt  des  Haranguierens  aufs  Papier  ge? 
zeichnet  und  wies  ihn  der  Gefellfchaft  vor.  Er  macht 
mit  vorliegendem  Körper  mit  der  rechten  Hand  einen 
befondern  Geftus,  durch  Auffetzen  der  Spitze  des  Zeige= 
fingers  auf  die  Spitze  des  ausgeßreckten  Daumens,  welcher 
eigentlich  das  Wiegen  mit  der  Wage,  oder  das  Senken 
der  Sonde  anzeigt  und  eine  befondere  Genauigkeit  aus^ 
drückt  (pensitato  rem  agitare).  Die  ganze  Zahl  der  Richter 
teilt  fich  in  quarantario's,  öfter  nach  zwanzig,  fechzehn, 
ja  nur  Dekaden,  die  zufammen  in  verfchiedenen  Teilen 
des  ungeheuren  Saales  (alfo  wie  in  den  basilicis  zu  Rom 
die  judica  centumviralia)  zu  gleicher  Zeit  Prozeffe  ab^ 
hören.  Die  Corona  populi  fi:eht  gierig  horchend  herum 
und  ermüdet  mehrere  Stunden  nicht.  Neben  Goethe 
ftand  ein  Knabe  von  zehn  Jahren,  der  vier  Stunden  lang 
mit  nimmerfatter  Spannung  alles  auffing.  Die  Redner 
haben  eigentlich  kleine  Kanzeln  oder  suggestes,  in  welchen 
fie  fprechen  follten;  aber  fie  fi:ellen  fich  gewöhnlich  da^ 
vor  und  haranguieren  mit  ganz  freifiehendem  Körper. 
Wolf  bemerkte,  daß  fich  zu  diefer  Sitte  alle  Belege  teils 
aus  den  Römern,   teils  aus   den  Griechen  finden  ließen. 


448]  Weimar.     1795.  225 

Die  neuern  Reifebefchreiber  erzählen  faft  gar  nichts  das: 
von;  einige  unvollftändige  Winke  gibt  Mayer  in  feinen 
Darftellungen  aus  Italien. 

Bei  der  Betrachtung  einiger  altfizilifchen  Münzen  von 
vorzüglich  fchöner  Arbeit  wurde  die  Hypothefe  fehr 
wahrfcheinlich  gefunden,  daß  die  Griechen  in  SiziUen 
ihre  eigene  felbftwachfene  Kunft  und  Literatur  lange  vor 
den  Athenern  und  Pififtratiden  gehabt  hätten. 

Über  Deklamation  des  Hexameters  nach  der  Quants 
tität  und  dem  Akzent.  Wenn  ihn  Voß  feierlich  lieft, 
fo  ift  es  wahrer  Gefang  und  Intonation.  Die  Silbe,  wo 
der  Akzent  fteht,  wird  etwas  gehoben  und  gefchärft,  z.  B. 
hömini,  hominibus,  etwa  wie  die  Engländer  den  Konfos^ 
nanten  in  der  Ausfp räche  verdoppeln,  der  den  Akzent 
hat.  Aber  der  Akzent  gibt  auch  eine  gewiffe  Erhöhung 
des  Tons,  der  ganz  verfchieden  von  der  Länge  und  Kürze 
der  Silbe  ift.  Jeder  Hexameter  hat  24,  alfo  jeder  pes 
4  Zeiten,  von  welchen  in  den  alten  Scholien  oft  die 
Rede  ift. 

Es  wurde  ein  Verfuch  mit  dem  Anfang  der  Ilias 
gemacht.  Gleich  das  erfte  Wort  fi^vtv  gab  zu  der  Be? 
merkung  Gelegenheit,  daß  man  hier  eigentlich  (xhvov  aus* 
fprechen  muffe;  denn  das  n  fei  doch  nur  ein  doppeltes 
ff  und  fei  auch,  fowie  alle  Diphthongen  der  Griechen, 
getrennt,  fchnell  ausgefprochen  worden.  Daraus  fei  auch 
auf  allen  langen  Vokalen  der  Zirkumflex  zu  erklären,  der 
eigentlich  nichts,  als  ein  acutus  und  gravis  —  "  —  fei,  aus 
welchen  fpäter  die  fonderbare  gefchlängelte  Form  tnU 
fprang.  Man  muffe  fich  alfo  ^rjviv  fo  gefchrieben  und 
akzentuiert  vorftellen :  {xetviv.  Die  Griechen  haben  eigent^s 
lieh  nur  Einen  Akzent,  den  accutus;  der  gravis  zeigt  bloß 
absentiam  accuti  und  der  Zirkumflex  den  accutus  neben 
dem  gravis  an.  —  Die  Ungarn  haben  in  ihrer  Sprache 
das  meifte  von  dem,  was  die  Alten  Akzent  nannten.  Sie 
begriffen  auch  in  Wolfs  Vo riefungen  alles  fogleich,  da 
die  übrigen  Zuhörer  große  Mühe  hatten.  So  fprach  ein 
Ungar  Wolfen  um  den  Chesterfield  an,  und  als  ihn  Wolf 
tadelte,  bewies  er,  daß  er  recht  gefprochen  habe.  Auch 
die  Lateiner  akzentuierten  fo  gut,  als  die  Griechen,  nur 
daß  fie  die  Akzente  nicht  fchrieben.  Wolf  rezitierte  zuj^ 
gleich  den  erften  Vers  der  Eclogen  Vergil's  und  zeigte, 
wie  ihn  die  Römer  ausgefprochen  haben  müßten: 

TcTVQ8  TV  nccTvXai  QEKvßavg  avß  zey^ive  (payu. 
\  ~  '  15 


226 K.  A.  Böttiger. [448 

Es  fei  allerdings  möglich,  die  alte  Ausfprache  der 
Römer  ganz  aufzufinden  und  wieder  herzuftellen ,  aber 
ihren  lebendigen  Ton  hätte  man  darum  nicht. 

Wolf  erklärte  fich  fehr  lebhaft  gegen  Wielands  Ver^ 
deutfchung  des  r/)  in  f.  F  war  ein  barbarifcher ,  den 
Griechen  ganz  unbehülf  lieber  und  unausfprechlicher  Buchs: 
fiabe,  daher  Cicero  einmal  gegen  einen  Graeculus  das 
Argument  braucht:  er  könne  nicht  einmal  den  Namen 
Fundanius  ausfprechen.  Die  eigentliche  Ausfprache  der 
Griechen  fei  ^r-h,  Phi,  gewefen.  Wieland  horchte  hierbei 
fehr  auf. 

Die  unnachahmliche  Naivität  des  Magifier  Hederich  in 
feinem  Mythologifchen  Lexikon:  die  Töchter  des  Asklepios. 

Goethe  läßt  auf  einem  Friefe  eines  feiner  Zimmer 
die  Metamorphofe  der  Tyrrhener  in  Delphine  aus  der 
Laterne  des  Demofihenes  zu  Athen  abkopieren.  Sonder;^ 
bare  Behandlung  diefes  Sujets  auf  diefem  Kunftwerke 
nach  einem  altern  /nvS^og.  —  Eine  kleinere  Bronze,  ein 
Priap  ohne  Hoden,  vielleicht  ein  Archigallus,  obgleich  mit 
einem  Barte,  das  vielleicht  klimatifch  zu  erklären  fein  dürfte. 

Wärme  zufammenfaffende  Kraft  der  wollenen  Kleidung, 
erkältende  der  Leinewand.  Vorzug  des  Altertums  in 
Kleidung  und  accubitus. 

Die  Reime  find  barbarifcher  Abkunft.  Nur  ein  Wies^ 
land,  fagte  Goethe,  follte  reimen.  Gleim  tut's  ohne  Frei:; 
brief,  fagt  Wieland.  Der  Reim  paßt  eigentlich  nur  für 
kürzere  canzoni;  fobald  er  zu  den  Stanzengedichten  in 
Arioft,  Taffo  ufw.  übergeht,  verirrt  er  aus  den  Jamben 
in  Anapäfien,  als:  armi  pietöse  in  La  Gerusalemme  liberata. 
Wer  mag  ihn  eingeführt  haben? 

Als  Goethe  von  Palermo  nach  Girgenti  reifte,  fah 
er  vom  Wirtshaufe,  wo  er  mittags  hielt,  mehrere  reifende 
Sizilianer  die  Diftelköpfe,  die  in  unzähliger  Menge  auf 
einer  verwilderten  Wiefe  emporragten  und  eben  noch  im 
Schöffen  und  Aufblühen  waren,  abhauen,  fchälen  und 
effen.  Er  probierte  es  nun  felbft  und  fand  die  fo  ge^ 
fchälte  Sproffe  zart  und  füßlich,  fo  daß  fie  nach  unferer 
Salatzurichtung  dem  Spargel  fehr  ähnlich  gewefen  wären. 
Der  Vetturino  raufte  Puffbohnen  und  verteilte  fie  als 
große  Delikateffe;  er  felbft  verzehrte  einen  rohen  Kohl^ 
rabi,  wie  wir  einen  Apfel  verzehren  würden. 

Über  Träume.  Wolf  erinnerte  fich  nie,  geträumt  zu 
haben,  auch  kann  er   fchlafen,   wann  und   wie   lange  er 


450]  Weimar  -  Jena.     1795.  227 

will.  Den  traumlofen  Schlaf  erklärt  auch  Goethe  für  den 
erquickendften.  Goethe  erzählte  einen  fehr  fcharfßnnigen, 
philolophifchen  Traum,  den  er  in  verfloffener  Nacht  ge^j 
habt  habe. 

[449.]     Mai  30.     D.  J.  Veit. 

Die  Claudine  ift  bis  auf  das  ^^  äußerfi  gute  Orchefter 
und  bis  auf  die  Gruppierungen  ^  äußerft  miferabel  ge? 
fungen  und  gefpielt  worden.  Der  Rugantino  fingt  wie  ich 
und  fpielt  vollkommen  die  Rolle  wie  ein  liederlicher  Barbier^ 
gefelle.  Goethe  hat  das  Stück  in  Profa  gefetzt  und  ver^ 
kürzt;  dabei  ift  aber  gar  nichts  Merkwürdiges.  Die  Stelle: 
Wer  dichtet  nicht,  dem  diefe  Sonne  ufw.  ift  geblieben 
und  unfer  Rugantino  hat  fie  mit  einer  Art  von  dummem 
Hohngelächter  mit  Spaß  vermifcht  hergeplärrt.  Auf  Goethes 
Frage  an  Latrobe:  Nun,  wie  hat  es  Ihnen  denn  gefallen? 
und  Latrobes  Antwort:  Ihr  Orchefter  ift  äußerft  brav, 
erwiderte  Goethe ;  Ja,  fehen  Sie,  es  ift  gewiß  im  einzelnen 
recht  fchlecht  gegangen;  —  denn  niemand  war  in  der 
Rolle  —  indeffen  geben  fie  uns  doch  hier  das  Äußerfte, 
was  fie  haben,  und  wenn  man  das  fieht,  hat  man  immer 
Vergnügen.  Ganz  verhunzen  können  fie  es  nicht  und 
mich  hat  der  fünfte  Akt  fehr  überrafcht;  ich  habe  gar 
nicht  geglaubt,  daß  er  fo  viel  Zufammenhang  und  fo  viel 
Theatralifches  hat,  und  Benda  ^  fingt  doch  wenigftens. 

[450.]     Juni  (2.)     Schiller  an  Ch.  G.  Körner. 

Deine  Ergießungen  über  Meifter  habe  ich  Goethe, 
der  wieder  hier  ift,  vorgelefen  und  ihm  Freude  darüber 
gemacht.  Auf  die  Komödie  will  er  aber  nicht  entrieren; 
denn  er  meint,  daß  wir  kein  gefellfchaftliches  Leben  hätten. 

Er  hat  bei  der  Revifion  feines  Manufkripts  für  die 
Fortfetzung  des  W.  Meifter  eine  intereffante  Materie  über 
den  Unterfchied  zwifchen  Roman  und  Drama  unter  die 
Feder  bekommen,  worin  mir  die  Hauptidee  fehr  gefällt. 
Der  Roman,  fagt  er,  fordert  Gefinnungen  und  Begeben;: 
heiten,  das  Drama  Charakter  und  Tat.  Im  Roman  darf 
der  Zufall  mithandeln,  aber  der  Menfch  muß  dem  Zufall 
eine  Form  zu  geben  fuchen.  Im  Drama  muß  das  Schick:: 
fal  herrfchen  und  dem  Menfchen  widerftreben  uff.  Die 
Ausführung  diefer  Ideen,  wovon  er  mir  ausführlicher  ge;: 
fprochen,  gibt  ihnen  fehr  viel  Wahres.  j 

I  15* 


228 K.  Schönborn.      [451 

[451.]     (Juni.)     K.  Schönborn. 

Goethe,  im  Paradies,  einem  Spaziergang  längs  des 
Saalufers  bei  Jena,  auf  und  nieder  wandelnd,  fah  jenfeits 
des  Fluffes  auf  bunter,  mit  Bäumen  befetzter  Wiefe  eine 
fchöne  Frau,  der  die  Natur  eine  herrliche  Stimme  gefchenkt 
hatte,  in  weißem  Kleide  und  buntem  Turban  mit  andern 
Frauen  umherftreifen,  und  hörte  ihren  Gefang  über  das 
Waffer  herüber.  In  der  Nähe  des  Paradiefes  wohnte  ein 
alter  Mann,  der  um  geringen  Lohn  jeden,  welcher  da 
wollte,  in  einem  fchmalen  Kahn  nach  dem  jenfeitigen  Ufer 
brachte.  Als  es  fchon  dämmerte,  kamen  ein  paar  Stuss 
denten  und  fchifften  mit  Hilfe  des  alten  Fifchers  lachend 
und  den  Kahn  fchaukelnd  über  den  Fluß.  Jener  Abend 
erweckte,  wie  Goethe  einmal  erzählte,  in  ihm  den  Ge^ 
danken  an  das  Märchen  mit  der  grünen  Schlange. 

[452.]     (1795  erfte  Hälfte  d.  J.)    Schiller  an  Goethe. 

Das  Märchen  ift  bunt  und  luftig  genug,  und  ich  finde 
die  Idee,  deren  Sie  einmal  erwähnten,  das  gegenfeitige 
Hilfleifien  der  Kräfte  und  das  Zurückweifen  aufeinander, 
recht  artig  ausgeführt. 

[453.]     Juni  Anfang.     W.  v.  Humboldt  an  F.  A.  Wolf 

Gegen  Mittag  kam  Goethe  zu  mir  und  bedauerte 
fehr,  Sie  nicht  mehr  zu  finden.  Er  ift  Ihnen  äußerft  gut 
geworden  und  trägt  mir  viele  herzliche  Empfehlungen  an 
Sie  auf.  Die  Prolegomena  befchäftigen  ihn  fehr  ernftlich, 
und  ich  kann  Ihnen  nicht  fagen,  wie  zufrieden  er  damit 
ift.  Zwar  ift  er  noch  weit  entfernt,  fich  überhaupt  für 
eine  Meinung  entfchieden  zu  haben;  Sie  kennen  feine 
weife  Bedachtfamkeit.  Allein  die  Methode  und  der  Gang 
der  Unterfuchung  machen  ihm  vorzügliche  Freude,  und 
er  hat  mir  namentlich  gefagt,  daß  in  diefer  Rückficht  fchon 
'jede  Seite  lehrreich  fei.  ^ 

Außer  einigem  an  meinen  metris  ift  feit  Ihrer  Ab^ 
wefenheit  nicht  viel  bei  mir  gefchehen.  Indes  ift  doch 
die  Anzeige  Ihrer  Odyffee  fertig,  und  Sie  muffen  nicht 
fchelten,  wenn  ich  fie  beilege.  ^  Der  letzte  Grund,  war^ 
um  ich  fchicke,  ift,  daß  es  doch,  wie  Goethe  immer  fagt, 
hübfch  ift,  auch  Kleinigkeiten  gemeinfchaftlich  zu  machen. 

[454.]     (Frühjahr.)     K.  A.  Böttiger. 

Goethe:  Die  zwei  fcheinbarften  Widerfprüche  in  Wolfs 
Prolegomena  zu  Homer  ließen  fich  a)  aus  dem  Glauben 


454]  Weimar.    1795.  229 

ableiten,  daß  Homer  (ich  der  Errungenfchaft  und  des  Eigene 
tums  vieler  Sänger  vor  ihm  bemächtigt  und  fo  auf  diefer 
Bafis  folche  Epopöen  erbaut  hätte,  wie  wir  fie  noch  haben; 
dann  fiele  die  pfychologifche  Unmöglichkeit  doch  ganz 
weg:  aus  fo  vielen  und  fo  oft  fchon  bearbeiteten  Sujets 
ließe  fich  ja  wohl  noch  eine  Ilias  und  Odyffee  von  einem 
Homer  zufammenfetzen ;  b)  aus  der  Tradition,  daß  die 
fchon  geordneten  und  von  Homer  in  wahren  Zufammen:« 
hang  gefiellten  Rhapfodien  durch  die  Ungefchicklichkeit 
der  fpäteren  Rhapfoden  auseinandergeriffen  und  erfi  von 
Solon  wieder  zufammengefügt  worden  wären.  Viel  von 
Wolfs  Behauptung  würde  auch  bei  diefer  Hypothefe  fehr 
wohl  beftehen  können. 

Den  meifien  Beifall  hat  fich  Wolf  von  den  neuern 
Theologen  zu  verfprechen,  die  kein  geringes  Triumphlied 
darüber  anftimmen  werden,  daß  nun  auch  diefer  heid^ 
nifche  Mofes  entthront  ift. 

Ich  als  Dichter  habe  ein  ganz  anderes  Intereffe,  als 
das  der  Kritiker  hat.  Mein  Beruf  ifi:  zufammenfügen,  ver^s 
binden,  ungleichartige  Teile  in  ein  Ganzes  zu  vereinigen; 
des  Kritikers  Beruf  ift,  aufzulöfen,  trennen,  das  gleiche: 
artigfte  Ganze  in  Teile  zu  zerlegen.  Als  Dichter  habe 
ich  alfo  eine  unüberfteigliche  Scheidewand  zwifchen  mir 
und  dem  heillofen  Beginnen  des  Kritikers  gezogen;  aber 
ich  kann  nun  doch  des  Kritikers  in  hundert  Fällen  nicht 
entbehren.  Ich  lefe  meinen  Homer  mit  Bewunderung, 
ftoße  aber  auf  einmal  auf  Szenen  und  einzelne  Stellen, 
die  allen  Eindruck  ftören  und  mich  aufs  Unangenehmfte 
fituieren.  Hier  weiß  ich  dem  Kritiker  unendlichen  Dank, 
wenn  er  mir  fagt:   ja,  gerade  diefe  Stelle  ift  unecht. 

Wolf  würde,  wenn  er  nicht  öffentlicher  Lehrer  wäre, 
diefe  Idee  fchwerlich  fo  fein  ausgefponnen  haben.  Der 
Drang  und  die  Begeifierung  öffentlicher  Mitteilung  be^ 
wirken  Wunder! 

Wenn  nach  Wolfs  Andeutung  die  Odyffee  hundert 
Jahre  fpäter  und  unter  einem  ganz  andern  Himmel,  als 
der  lonifche,  gefungen  ift,  fo  dürfte  man  wohl  auf  Sizis; 
lien  raten. 

Wolfs  unbegrenzte  Mitteilungsfertigkeit  und  Bereite 
Willigkeit  fteht  mit  feiner  Belefenheit  und  Wiffenfchaft 
im  vollkommenften  Ebenmaß. 


230  Böttiger.  [455 

[455.]     Juni  Ende.     Böttiger  an  F.  A.  Wolf. 

Goethe  ließ  mir  fagen,  als  ich  ihm  -^  Ihren  Brief 
infinuierte  —  denn  er  war  die  letzte  Zeit,  Gott  weiß  aus 
welcher  Gefchäftigkeit,  jedem  perfönlichen  fremden  und 
einheimifchen  Befuch  unzugänglich  —  er  würde  mir  einen 
Brief  an  Sie  zufchicken.  Er  ifi  aber  diefen  Morgen  ab:; 
gereift,  und  ich  bin  leer  ausgegangen.  Er  hält  nichts  auf 
gefchwängerte  Briefe.  ^^  Noch  ehe  ich  Ihren  Brief  erhielt 
und  Ihre  Vollmacht  hatte,  wanderte  ich  fchon  mit  meinen 
drei,  fauber  in  apfelgrün  Livrei  gekleideten  homerifchen 
xeniis  zu  Goethe,  weil  ich  durch  feinen  Hausgenoffen 
Meyer  erfahren  hatte,  daß  es  ihm  bei  diefem  Gefchenke 
wirklich  heiße  oi^etai  y^agiTeg  yaqi^GXEQai.  Ich  hatte  Meyer 
auch  Ihr  Plänchen  wegen  der  Sachsifchen  Bimsfieintoilette 
mitgeteilt,  und  Goethe  hatte  darauf  geäußert:  Das  wäre 
doch  von  einem  fo  präzifen  Logiker  der  erfte  Paralogis^: 
mus  gewefen.  Das  Einbinderlohn  wolle  er  lieber  einmal 
mit  Ihnen  in  Champagner  vertrinken.  Sunt  ipsissima 
verba.  Als  ich  mit  meiner  Spende  eingetreten  war,  kam 
mir  fehr  ungelegen  Geheimrat  Voigt,  um  ihm  wegen  11:= 
menauer  Bergwerksfachen  Bericht  abzufiatten.  Er  dankte 
alfo  nur  mit  der  ihm  eigenen  Lieblichkeit,  und  nun  kam 
er  gleich  auf  Voß,  der  Goethen  feine  vierte  Ekloge  ufw. 
gefchickt  hatte.  Goethe  war  auch  über  das  vale  an  Heyne 
erftaunt  und  fprach  mit  vieler  Herzlichkeit  von  dem 
wackeren  Voß.  Zugleich  hörte  ich,  daß  er  fpätefiens  in 
fechs  Wochen  von  Karlsbad  zurückkommen  muffe,  weil 
dann  eine  ftarke  Unterfuchung  in  Jena  zur  Abftellung 
der  Ordensteufeleien,  die  immer  ftinkender  werden,  an^ 
gefiellt  werden  foll.  Er  hat  übrigens  auch  Hoffmann  vers: 
fprochen,  nächftens  mit  dem  Herzog  nach  Dieskau  zu 
kommen,  und  dann  befucht  er  Sie  ganz  gewiß  auch  in 
Halle. 

[456.]     Juni  Ende.     Nach  K.  L.  v.  Weltmann. 

Goethe  empfing  ihn  mit  jener  fonnenhellen  Milde 
und  Fülle,  womit  die  Götter  ihren  Liebling,  als  der  aus? 
zeichnenden  Eigentümlichkeit,  begabt  zu  haben  fcheinen. 
Ihr  Gefpräch  kam  auf  das  wahrhaftige  Leben  von  Indi? 
viduen,  fo  in  poetifcher  als  hiftorifcher  Darftellung,  und 
zum  erftenmal  fprach  Woltmann  darüber  aus  ganz  freier 
Bruft  und  fo,  daß  ihm  diefes  tieffte  Geheimnis  aller  dar:^ 
{teilenden  Kunft  durch  das  Gefpräch  lichter  wurde. 


458] Weimar  -  Karlsbad.   1795. 231 

[457.]     (Juni.)     W.  v.  Humboldt  an  feine  Gattin. 

Geftern  abend  waren  wir  mit  Meyer  allein  und  eben;: 
fo  heute  mittag.  Der  Herzog  nämlich  war  auf  der  Jagd, 
und  fo  wäre  ich  heute  vergebens  am  Hofe  gewefen.  Goethe 
hat  das  fo  arrangiert,  obgleich  die  Herzogin  fchon  hatte 
die  Tafel  auf  meine  Anmeldung  anfagen  laffen.  <^  Ich 
bleibe  bis  Sonntag  abend  hier,  und  Du  kommft  Sonntag 
morgen  bei  guter  Zeit,  fpäteftens  um  10  Uhr,  mit  den 
lieben  Kinderchen  her,  iffeft  bei  Goethe,  und  wir  fahren 
in  der  Kühle  zurücl<:.  Goethe  hat  das  fo  vorgefchlagen 
und  läßt  Dich  recht  freundHch  bitten,  uns  keinen  Strich 
durch  die  Rechnung  zu  machen.  '^  Goethe  hat  mich  ge^ 
fragt,  ob  er  jemand  für  Dich  dazu  bitten  follte.  Ich  hab's 
aber  abgefagt.     Wir  find  hübfcher  alleine. 

Als  wir  geftern  ankamen,  kam  der  Auguft  Goethen 
entgegengefprungen,  und  Du  hätteft  nur  fehen  follen,  wie 
der  Junge  fo  lieb  tat  mit  feiner  heftigen  Zärtlichkeit,  und 
der  alte  Goethe  fo  herzlich  froh  dabei  war. 

[458.]     Juli  9.     Friederike  Brun. 

Abends  brachte  mir  die  brave  Göchhaufen  den  Goe^ 
the.  Anfpruchslofer  wie  er  es  ift  in  feinem  Reden  und 
Schweigen,  in  feinem  Gehen  und  Stehen,  ift  es  unmögj: 
lieh  zu  fein.  Sein  Geficht  ift  edel  gebildet,  ohne  gleich 
einen  Innern  Adel  entgegen  zu  ftrahlen,  eine  bittre  Apa^ 
thie  ruht  wie  eine  Wolke  auf  feiner  Stirn.  Bei  einem 
fchönen  männlichen  Wuchs  fehlt  es  ihm  an  Eleganz,  und 
feinem  ganzen  Wefen  an  Gewandtheit;  ift  das  der  Günft^ 
ling  der  Mufen  und  Grazien!  dies  der  Schöpfer  des  Taffo, 
des  Egmonts,  und  der  Iphigenie,  des  Werthers  und  Götz, 
des  Fauft,  und  ach  der  Sänger  jener  herzempörenden  und 
herzftillenden,  jener  fanft  einlullenden  und  auffchrecken^ 
den  Lieder?  Ich  fah  nur  den  Verfaffer  des  Wilhelm  Mei^ 
fter  diefen  Abend,  und  auch  der  ift  aller  Ehren  wert.  Da 
faßte  mich  bei  einen  Gedanken,  aus  dem  der  feinige  zurück^ 
ftrahlte,  plötzlich  fein  Flammenauge  und  ich  fehe  Faufts 
Schöpfer.  Ich  fehe  ihn  feitdem  täglich  und  verfäume  keine 
Gelegenheit  ihn  zu  fehen.  Anfangs  quälten  mich  feine 
Blicke,  die  ich  immer  auf  mir  und  an  mir  empfand,  wenn 
ich  ihn  nicht  anfah,  und  die  dann  die  des  forfchenden 
Beobachters  waren;  und  des  Beobachters  ohne  Hoffnung 
und  Glauben  an  reinen  Menfchenwert,  der  nur  neue  Ge^ 
I 


232  Friederike  Brun.  [458 

ftalten  zu  feinen  lebensvollen  Gemälden  fucht  und  in  die 
Welt  fieht,  wie  in  einen  Guckkafien.  Geftern  und  heute 
ifi  er  fehr  liebenswürdig  und  treulich  gewefen  und  ich 
habe  zuweilen  den  Werther  und  Egmont  hervorleuchten 
fehen,  ob  ich  den  Taffo  und  Iphigenie  erblicken  werde? 
Das  Glück  hat  ihn  verzogen  und  die  Weiber.  Er  hat 
gefchwelgt  ohne  zu  genießen,  genommen  ohne  zu  geben, 
ob  je  in  feinem  Herzen  der  reine  Ton  der  Liebe  "wieder 
erklingen  wird?  Er  hat  viel  geredet  und  immer  als  ob's 
halb  im  Scherz  wäre,  aber  im  bittern  Scherz  herrliche 
Sachen  gefagt  über  Kunft,  Epigramme,  Elegifches,  Im^: 
provifieren,  Liebe  als  Mittel  zum  Zweck,  über  Hoffnung, 
die  ihm  erftorben  ifi,  von  feiner  äußerfien  Empfänglich? 
keit  durch  Phantafie  bei  Gelegenheit  der  Kupfer  zu  Wie? 
lands  Werken.  Ärgerlich  ift's,  daß  er  feine  Paradoxe,  wenn 
man  ihm  darüber  zu  Leibe  geht,  oft  mehr  wie  halb  zu? 
rück  nimmt,  fo  daß  fie  darüber  nicht  feiten  zu  Gemein? 
platzen  werden.  Nun  habe  ich  doch  ein  Intereffe  hier  und 
nun  fängt  die  Kur  auch  an,  mir  zu  bekommen;  ach  bei 
aller  Erinnerung  ifi's  doch  etwas  Elendes  um  eine  öde 
Gegenwart] 

Ich  gerate  immer  mit  dem  Goethe  in  fehr  lebendige 
Unterhaltung.  Er  redete  über  die  ftille  Hoffahrt  und  den 
Übermut  der  Dänen,  der  fich,  wie  er  neckend  verficherte, 
in  mir  befonders  offenbare.  Er  öffnet  mit  viel  Bonhomie 
fein  Inneres,  in  dem  fich  mir  ein  reicher  Fond  von  Wahr? 
haftigkeit  und  Billigkeit  offenbart.  Übrigens  war  er  heut 
(dies  ifi  alles  beim  Sprudeltrinken  auf  und  ab  geredet) 
fchrecklich  paradox,  und  ich  ergrimmte  über  fein  Weg? 
werfen  der  Erinnerung:  Die  Gegenwart  ifi  die  einzige 
Göttin,  die  ich  anbete,  fagte  er  —  über  feinen  Unglauben 
an  intellektuelle  Freundfchaft.  Freundfchaft  werde  durch 
Verhältniffe  genährt  (daß  fie  aus  Sympathie  entftünde, 
gab  der  Sünder  doch  zu)  und  wenn  diefe  fich  änderten 
oder  aufhörten,  fiürbe  fie  Hungers.  Ich  ward  zur  Salz? 
faule!  Da  kam  die  Rede  vom  feiigen  Moritz,  mit  dem 
er  viel  in  Italien  gelebt,  und  da  war  er  fo  weich  und 
gut  und  lobte  und  bedauerte  den  Moritz  fo  aus  meinem 
Herzen  raus,  daß  ich  ihm  hier  alles  verzieh.  Einmal  fagte 
er:  Niemand  hat  Mitleiden  mit  mir,  wenn  ich  klage  (es 
war  Scherz);  ich  fagte  ihm  ernft,  ich  habe  bei  manchem 
Ihrer  Lieder  inniges  Mitleiden  empfunden.  —  O  ja,  ich 
war  wohl  unglücklich  in  diefen  Augenblicken,  aber  der? 


459]  Karlsbad.     1795.  233 

gleichen  muß  man  abfchütteln.  Nein,  nicht  abfchütteln! 
Durch  Arbeiten  und  in  fich  zur  Heiterkeit  verwandeln, 
Tagte  ich:  Denn  feine  Gleichgültigkeit  ohne  Heiterkeit 
und  daß  er  fchon  fo  ganz  mit  den  Menfchen  abgerechnet 
hat,  ift  mir  fchrecklich. 

[459.]     Juli  12.     Friederike  Brun. 

Heute  fah  er  zuweilen  leibhaftig  aus  wie  fein  Fauft. 
Bald  glaubte  ich  ihn  auf  dem  Faß  zu  fehen,  und  dann 
glaubte  ich  wieder  der  Gottfeibeiuns  würde  ihn  auf  der 
Stelle  holen.  Heute  hatte  ich  eine  fehr  lehrreiche  Unter:: 
haltung  über  Italien  mit  diefem  Proteus:  er  habe  feinen 
Zweck  während  feines  zweijährigen  Aufenthaltes  doch 
nicht  erreicht,  und  warum?  Denn  wirklich,  mir  ift  un? 
begreiflich,  was  diefer  Adler  nicht  erreichen  könnte,  wenn 
er  will.  Er  habe  wollen  fo  ins  Anfchauen  der  Kunft  fich 
vertiefen,  daß  diefe  Vorftellung  ganz  objektiv,  und  fein 
ganzes  Wefen,  feine  Ichheit  ins  Anfchauen  der  Schönheit 
übergegangen  wäre,  er  fozufagen  fein  Selbfi  darin  ver^^ 
loren  hätte!  Ich  fagte  ihm,  dies  fei  noch  aus  der  Agas^ 
thonifchen  Schwärmerei  von  intellektueller  Schönheit.  O, 
Goethe,  wie  irret  dein  großer  Geift  umher!  die  Erde  war 
dir  zu  niedrig  und  du  verfchmähft  den  Himmel,  welche 
Stunde  wird  die  deines  Erwachens  fein?  Nun  fchwebt 
er  zwifchen  Himmel  und  Hölle.  Wenn  dein  Sonnen^ 
blick  fich  dem  neuen  Lichte  öffnet,  dem  du  ihn  mit  wahrer 
Herzenshärte  verfchließeft;  was  hat  dich  zu  diefem  Trotze 
gegen  alles  das  gebracht,  welches  doch  fo  göttlich  aus 
dir  redet!  Denn  wirklich  ift  in  gewiffen  Momenten  ein 
Blick  in  Goethes  Auge  ein  Beweis  für  Unfterblichkeit 
mehr.  Heute  redete  ich  viel  mit  ihm  über  feine  häus? 
liehen  Verhältniffe,  feine  Freunde,  feinen  Knaben.  Wie 
er  aus  Scheu  vor  einer  genauen  Verbindung  nach  und 
nach  mit  einem  Wefen,  das  Gleichheit  als  Denkart  und 
Handlungsweife  ihm  lieb  gemacht  habe,  in  die  genauefte 
Verbindung  geraten  fei.  Ich  fagte  ihm  meine  Freude  an 
feiner  Wahrhaftigkeit  und  Billigkeit:  Das  erfte  ift  man, 
weil  man  muß,  das  zweite  fo  viel  man  kann,  fagte  er  fehr 
befcheiden.  Wir  freuen  uns  aufrichtig  unferes  Bekannt? 
Werdens,  und  er  fchließt  uns  von  feinem  Innern  auf,  mit 
einer  Treulichkeit,  für  die  ihm  mein  Herz  Dank  weiß. 
Über  Poefie,  daß  fie  keinem  Gefetz  Untertan  fei,  als 
dem  der  Schönheit,  und  frei  zwifchen  Himmel  und 
I 


234  Friederike  Brun.  [459 

Erde  herumfchwebe  und  fich  keine  Feffeln  anlegen  laffen 
muffe. 

Über  Erziehung.  Er  hat  einen  Jünghng  von  20  Jahren 
feit  dem  fünften  gebildet,  nun  erzieht  er  nach  denfelben 
Grundfätzen  fein  Kind  von  6  Jahren,  daß  man  das  Kind 
auf  eigenen  Beinen  fiehen,  mit  eigenen  Augen  fehen  laffe, 
auf  daß  es  felbfiändig  bleibe,  ift  ihm  die  Hauptfache. 
Wirklich  und  wahr!  Das  erfie  ihm  oft  mehr,  wie  das 
letzte,  kraft  feiner  Anbetung  der  Gegenwart.  Er  fcheint 
fehr  kinderlieb  zu  fein.  Am  Abend  war  er  hier  bei  uns 
mit  der  kleinen  Levin  und  der  Unzelmann,  die  fehr  ver^: 
ftändig  tut  und  etwas  Treuherziges  in  ihrem  Blick  hat, 
welches  mir  gefällt.  Sein  Ton  mit  Frauen,  die  nicht  fireng 
auf  fich  halten,  ift  nicht  fein,  und  an  zarter  Grazie  fehlt's 
ihm  überhaupt.  Der  Herr  Rittmeifter  von  Gualteri  war 
ungebeten  dazu  gekommen,  ein  avantageuser  fät,  mit  dem 
Goethe  zu  meinen  Erfiaunen  fehr  bekannt  und  vertraut 
tut,  ihn  aber  dabei  heimlich  fchraubt.  Er  fagte  viel  Treffes 
liches  über  Theater  und  Kunft,  daß  man  die  Grenzen  des 
erfieren  nicht  erweitern  follte:  Moritz'  originale  Idee  mit 
dem  Menfchenantlitz  im  Meergewoge,  als  der  vollendet? 
ften  Bildung,  aus  ungeheurer  Formlofigkeit  hervorgegangen. 
Ein  finnreicher  Mythos!  Über  das  Theater  der  Italiener, 
es  habe  eine  befiimmte  Norm  und  drehe  fich  im  engen 
Kreife,  in  dem  es  vollkommen  fei.  Vergleich  mit  dem 
Franzöfifchen.  Schönes  Wort  von  Goethe  über  Schön? 
heit,  wie  ich  nach  Moritz'  Äußerem  fragte:  In  Ihren 
Kinderjahren  würden  Sie  ihn  fchön  genannt  haben  (ich 
hatte  ihm  nämlich  gefagt,  wie  ich  Phyfiognomie  und  Bil? 
düng  verwechfelte  als  Kind).  Das  ift  die  Eigenfchaft, 
die  die  Menfchheit  vor  allen  anderen  organifierten  Wefen 
unterfcheidet,  daß  wir  freilich  alle  fchön  fein  follten,  daß 
es  aber  nichts  dazu  tut,  wenn  wir's  auch  nicht  find,  weil 
die  Moralität  aus  uns  fpricht  —  und  die  Seele  von  innen 
heraus  das  Ungebildete  bildet  und  adelt,  fetzte  ich  hin? 
zu.  Das  nennen  wir  anderen  Menfchen  nun  nicht  fo, 
fagte  er  etwas  trocken  und  nicht  ohne  Bitterkeit.  Wie 
er  fich  aus  diefem  Widerfpruch  herauswickeln  wird,  foll 
mich  verlangen.  Er  hat  fehr  viel  mimifches  Talent  und 
kann  ausfehen,  wie  der  lebendige  miltonifche  Teufel,  doch 
ift's  fchade  um  ein  fo  edles  Gebilde,  es  verzerrt  zu  fehen!  ^ 
Fräulein  von  Bradele,  Hofdame  aus  Dresden.  Eine  Bachantin 
aus  der  niederländifchen  Schule.     Goethe  fi:udiert  fie. 


461]  Karlsbad.    1795.  235 

[460.]     Juli  12.     Friederike  Brun. 

Nachmittag  kam  Goethe,  um  mit  mir  zu  Sarah  und 
Marianne*  zu  gehen;  bis  ich  fertig  war,  Ues  er  Lotte** 
lefen.  Er  hat  fo  viel  KindUchkeit  und  Einfah  in  feinem 
Wefen  wie  alle  erhabenen  Geifter.  Bei  Meyers  war  er 
gar  hold,  und  Marianne,  die  holde  Seele,  geht  ihm  ans 
Herz.  Er  ift  fertig  mit  dem  dritten  Teil  von  Meifter: 
Ich  bin  der  Redakteur  jetzt,  und  fehe  das  Ding  nach, 
wie  das  Werk  eines  Verfiorbenen.  ^^ 

Kleine  Polin,  Therefe  Brzozowska,  mit  der  Goe? 

the  viel  fprach.  Ein  ftilles,  liebes  Wefen.  Goethe  liebt 
die  Leidenden  und  gefeilt  (ich  fanft  und  teilend  zu  ihnen. 
Wir  redeten  über  das  große  unerfchöpf liehe  Sujet,  den 
Menfchen.  Wie  kein  Menfch  die  ganze  hehre  Form  und 
Würde  der  Menfchheit  ausfülle  und  erreiche.  Wie  jeder 
Menfch  in  feinem  Innern  eine  ganze  Weltgefchichte  er? 
lebe.  Über  Kinder,  man  muß  ihren  Begierden  entgegens: 
kommen,  je  lebhafter  fie  find,  um  defio  mehr,  weil  uns 
aus  innerer  Begierde  und  äußerem  Widerfiande  Unwahr? 
heit  geboren  wird.  Aber  ich  mag's  nicht  mehr  abfchrei? 
ben  und  fkelettieren,  was  er  mit  lebendigen  Feuergeift  ge? 
fagt  und  von  fich  offenbart.  Nur  fo  viel,  es  ift  unmög? 
lieh  unmaßgeblicher  und  anfpruchslofer  zu  fein,  —  ach 
feine  Forderungen  find  nur  zu  eingefchränkt,  nur  wenige 
Worte  über  das  Leiden,  das  er  erduldet,  ehe  er  nach  und 
nach  dahin  gekommen,  wo  er  nun  fei:  Er  war  gräßlich 
oft,  und  wie  er  fein  Wefen  in  hohem  Grade  dem  Fubli? 
kum  mitgeteilt:  aber  mit  großen  Lücken,  wie  die  zwifchen 
Iphigenie,  dem  Taffo  und  Fauft.  Alle  feine  neuen  Pro? 
dukte  lagen   18—15—10  Jahre  da.  ^ 

Abends  war  Goethe  wieder  etwas  Fauftinifch  wild 
(wie  er  es  leider  Frauen,  die  ihm  nur  fchön  find,  gegen? 
über  leicht  wird),  doch  fagte  er  herrliche  Sachen  über  1 .  Voß, 
feine  Luife,  Odyffee,  2.  über  das  Brieffchreiben. 

[461.]     Juli  19./20.     Friederike  Brun. 

Abend  ftill  und  ruhig  mit  Goethen,  Mariannen  und 
Sarah.  Meine  Bosheit  von  voriger  Mitternacht  fehlte 
noch,    um    uns    zu    Freunden    zu    machen.      Dann    mit 


*  Die  Schweftern  Sarah  v.  Grotthuß  und  Marianne  Meyer 
(Frau  V.  Eybenberg). 

**  Friederike  Bruns  Tochter. 
I 


236  Friederike  Brun.  [462 

Goethe  gefrühftückt  und  fpazieren  gegangen.  Ganz  öffnete 
er  mir  fein  Herz  und  ließ  mich  in  feine  Verhältniffe 
bhcken.  Diefer  außerordenthche  Menfch  konnte  frei:: 
lieh  nicht  auf  gewöhnliche  Weife  fein  viel  forderndes  Herz 
und  feinen  ungeftümen  Sinn  befriedigen.  Innig  erfreue 
ich  mich,  ihn  häuslich  glücklich  zu  wiffen,  als  guten,  zart:: 
liehen  Vater.  Seine  Kinderliebe  ift  charakteriftifch.  Die 
meinigen  hängen  mit  Leidenfchaft  an  ihm,  und  ich  würde 
ihm  mit  Freuden  ein  Mädchen  anvertraun;  denn  feine 
Überzeugung  über  weibliche  Beftimmung  und  weibliche 
Würde  ift  äußerfi  edel  und  zart.  Seit  1 5  Jahren  ftudiert 
er  ausfchließend  Naturgefchichte. 

[462.]     Juli.     Friederike  Brun. 

Goethe  und  ich  fahen  uns  täglich  in  Karlsbad  und 
er  war  dort  mein  höchftes  Intereffe,  aber  ihn  bitten,  in 
mein  Tagebuch  zu  fchreiben?  Unmöglich.  Als  er  diefes 
am  dritten  Orte  bei  einer  gemeinfchaftlichen  Freundin 
fieht,  blättert  er  darin  und  fagt  mir:  Es  fteht  fo  mancher 
Narr  drin,  foll  der  Goethe  nicht  hinein?  —  Ach  nur 
zu  gerne I  Darf  ich's  fenden?  —  Ja!  ich  tat's;  nach  acht 
Tagen  bringt  er  mir's  wieder:  Liebes  Frauchen,  hätten  Sie 
mich  gleich  einfchreiben  laffen,  Sie  hätten  was  recht  Schönes 
hinein  bekommen  —  aber  nun  ift's  entflogen,  aber  ich 
fchicke  es  einmall  und  dabei  fagte  er  mir,  er  könne  feiten 
dergleichen,  wenn  er  gerade  wolle,  und  fchreibe  daher 
oft  mit  Bleiftift. 

[463.]     Juli.     Friederike  Brun  an  Ch.  H.  Pfaff. 

Die  letzte  Zeit  meines  Aufenthalts  in  Karlsbad  ward 
mir  höchft  lehrreich  und  zuletzt  lieb  durch  meine  Be^ 
kanntfchaft  mit  Goethen.  Wir  fahen  uns  täglich  erft  mit 
Neugier,  dann  mit  Intereffe,  dann  fchieden  wir  vonein:: 
ander  mit  Wohlwollen.  Mir  erfchien  er  als  eins  der 
feltenften  Exemplare  der  Menfchheit,  in  voller  Kraft 
eines  unbeugfamen  Willens  und  hohen  Geiftes;  ihm  war 
es  vielleicht  neu,  ein  Weib  zu  fehen,  die  ruhig  und  un^ 
geblendet  ihn  beobachtete.  So  bheben  wir  eine  Weile 
einander  gegenüber,  aber  dann  öffnete  er  fich  mir  mit 
edler  Offenheit,  fühlend,  daß  ich  fein  befferes  Selbft  fuchte 
—  und  ich  entdeckte  in  ihm  einen  Schatz  der  Wahrheit, 
Billigkeit  und  häuslichen*  Güte,  die  verbunden  mit  dem. 


*  [herzlichen?] 


465j  Karlsbad.     1795.  237 

was  der  Schöpfer  des  Taffo  und  der  Iphigenie  und  des 
Egmont  zu  geben  vermag,  mir  ihn  unvergeßlich  machen. 
Laffen  Sie  mich  immer  fiolz  darauf  fein,  mich  mit  Goethe 
auf  diefem  Wege  gefunden  zu  haben  und  denken  Sie  auf 
mein  Wort  gut  von  Goethen,  dem  Menfchen,  man  fage, 
was  man  wolle.  ^  Die  Kinder  find  brav.  Goethe  war 
in  beide  vernarrt,  zumal  in  Lotte.  Die  jungen  Dinger  find 
gar  liebe  Narren!  fagte  er,  und  fie  hingen  an  ihm  wie 
Trauben.  Lotte  lehrte  er  richtig  lefen,  Karl  unterrichtete 
er  über  Mineralogie.  Seit  fünfzehn  Jahren  ilt  Naturge^^ 
fchichte,  zumal  Mineralogie  und  Phyfik,  Goethes  aus;: 
fchließendes  Studium.  Alle  feine  neueren  Schriften  find 
lange  fertig  im  Pulte  gewefen. 

[464.]     Juli.     Marianne  Meyer  (Frau  v.  Eybenberg). 

Adieu,  guter  Goethe!  Den  Geheimen  Rat  habe  ich 
mir  fehr  gern  von  Ihnen  wegräfonnieren  laffen. 

[465.]     Auguft  (11).     D.J.Veit  an  Rahel  Levin. 

Goethe  redete  mich  auf  dem  Balle  von  felbft  fehr 
freundfchaftlich  an,  fragte  in  der  Gefchwindigkeit  nach 
den  Örtern,  die  ich  paffiert  hätte;  ich  nannte  Teplitz  und 
Sie  und  fagte  ihm,  wiewohl  ganz  flüchtig,  daß  ich  Sie 
fchon  fehr  lange  kennte  und  Ihretwegen  nach  Teplitz 
gereift  wäre.  Nicht  um  zu  urteilen,  fondern  um  unwill? 
kürlich  mit  feinen  Empfindungen  auszubrechen,  fagte  er: 
Sie  haben  fehr  recht  getan.  Ol  die  Levin  hat  fehr  viel 
gedacht,  hat  Empfindungen  und  Verftand;  es  ift  was 
Seltenes,  das  muß  ich  fagen  —  wo  find't  man  das?  Wir 
haben  auch  fo  vertraut  zufammen  gelebt,  wir  waren  be^ 
ftändig  zufammen.  Ja,  das  ift  gewiß!  Nun,  wenn  Sie 
fie  lange  nicht  gefehen  hatten,  ja  freilich  ufw.  Und  dabei 
lauter  freundliche  Gefichter,  und  beftändig  entouriert,  im 
Gefchrei  fagte  er  mir  das  immer  weiter.  Wir  gingen 
auseinander.  ^^  Während  des  dickften  Tanzes  war  Goethe 
eine  Zeitlang  frei.  ^^  Ich  ging  zu  ihm  hin  und  redete 
ihn  mit  den  Worten  an:  Sie  werden  wohl  noch  einige 
Zeit  hier  in  Karlsbad  bleiben,  Herr  Geheimrat?  G.  Länger, 
als  ich  dachte  —  o,  fetzen  Sie  fich!  —  fo  lange  es  hübfch 
ift.  Ich  habe  fo  viele  Freunde  hier,  man  macht  fo  hübfche 
Bekanntfchaften,  und  fo  weiß  ich  noch  nicht,  wann  ich 
abgehe;  aber  dann  komme  ich  wieder  nach  Jena  und 
arbeite.  Darauf  kamen  wir  in  ein  Gefpräch  über  feine 
I 


r 


238 D.  J.  Veit [465 

anatomifchen  Arbeiten,  von  denen  er  fagte,  er  hätte  fie 
fchon  zehnmal  zum  Druck  fertig  gehabt  und  ebenfo  oft 
wieder  unterdrückt;  es  wäre  unendUch  fchwer  auszuführen. 
Wir  befinden  uns  in  einem  Chaos  von  Kenntniffen  und 
keiner  ordnet  es;  die  Maffe  hegt  da  und  man  fchüttet 
zu,  aber  ich  möchte  es  gerne  machen,  daß  man  wie  mit 
einem  Griff  hineingriffe  und  alles  klar  würde.  Es  ift  nun 
nicht  mein  Fach;  ich  treibe  es  aus  Begierde,  aus  Leiden? 
fchaft;  ich  will  gerne  zeigen,  daß  alles  auch  hier  einfach 
ift,  wie  in  den  Pflanzen,  daß  aus  Knochen  alles  deduziert 
werden  kann,  aber  noch  fehe  ich  das  Ende  nicht;  vor 
jedem  neuen  Buch  erfchrecke  ich;  denn  es  ift  den  Ver? 
fuchen  nicht  zu  trauen.  Achten  muß  man  darauf,  und 
in  einem  Menfchenleben  macht  man  nicht  alle  nach.  Es 
ift  überhaupt  mein  Grundfatz,  den  umgekehrten  Weg  ein;; 
zufchlagen.  Man  hat  bisher  fo  viel  Hypothefen  in  der 
Naturlehre  gemacht:  das  ift  falfch;  denn  für  meine 
Meinung  finde  ich  immer  Gründe  in  dem  Unendlichen 
der  Natur.  Die  Kräfte  find  fo  mannigfaltig,  daß  ich 
immer  einige  derfelben  unter  einen  Gefichtspunkt  bringen 
kann,  wenn  er  auch  unrichtig  ift;  hier  muß  man  viel 
Verfuche  machen,  um  nicht  zu  irren.  In  der  Naturge^^ 
fchichte  hingegen  hat  man  immer  klaffifiziert  und  neben 
einander  geftellt  ohne  zu  räfonnieren;  hier  kann  man 
Hypothefen  wagen;  denn  die  Fehler  find  leicht  zu  finden: 
jeder  Knochen,  jede  Pflanze,  die  mir  in  die  fiände  fällt, 
widerlegt  mich. 

Über  diefe  Materie  haben  wir  noch  lange  gefprochen 
und  nun  kommt  Ihr  Triumph,  meine  liebe  Rahell  eine 
Sache,  die  Sie  kaum  glauben  werden,  die  ich  fo  unglück? 
lieh  bin,  Ihnen  fchreiben  zu  muffen.  Hören  Siel  Ich 
fprach  mit  ihm  über  den  Literarifchen  Sansculottismus 
(Hören,  fünftes  Stück)  und  fagte  ihm  geradezu:  Herr 
Geheimrat,  Sie  werden  es  vielleicht  für  Arroganz,  für  Um^ 
befcheidenheit  halten,  aber  es  ift  wirklich  keins  von  beiden; 
ich  muß  Ihnen  fagen,  daß  mir  Ihr  Literarifcher  Sans? 
culottismus  eine  große  Freude  war.  Wenn  man  felbft 
jung  ift,  fo  kann  man  nichts  lieber  hören,  als  wenn  ein 
Mann  wie  Sie  mit  einer  folchen  Deutlichkeit  an  feine 
Jugend  denkt  und  fo  warm  fich  für  die  jetzigen  größeren 
Fortfehritte  intereffiert,  ufw.  Goethe:  Unbefcheidenheit? 
warum?  Es  ift  mir  fehr  lieb,  daß  Sie  mir  das  fagen,  fehr 
lieb.     Sagen  Sie,  warum   foll  man  dabei  ftill  fein?     Ich 


468]  Karlsbad  -  Jena.     1795. 239 

habe  dem  ganzen  Gang  fo  mit  zugefehen;  ich,  und  wenn 
ich  auch  nicht  gewirkt  habe,  fo  glaube  ich  doch,  daß  ich 
nicht  ohne  Wirkung  gewefen  bin,  und  nun  kommt  einer 
und  lagt:  es  ift  nichts,  und  wir  haben  nichts!  Daß  ich 
fo  immer  den  Gang  mit  weiter  mache  und  mich  daran 
vergnüge,  das  muß  ich  ja  tun;  das,  was  mir  entgegen? 
wächft,  entgegenkommt,  was  auffproßt,  —  anderer  Leute 
Kinder  oder  meine,  hier  einerlei,  —  das  ift  ja  das  Leben. 
Was  erinnert  mich  fonft,  daß  ich  bin  und  wie  ich  bin? 
Ich  fehe  ja,  daß  man  weiter  kommt,  und  man  will  mich 
überreden,  daß  man  zurückgehe?  ufw.  Wir  haben  über 
eine  Stunde  miteinander  gefprochen,  ich  nicht  weniger 
als  er.  Diefe  Hauptfachen  habe  ich  Ihnen  fchreiben  können. 
Was  fonft  noch  paffiert  ift,  ift  größtenteils  unbedeutend 
und  foU  der  Inhalt  künftiger  Briefe  fein. 

[466.]     (Auguft).     D.J.Veit. 

Auf  einem  '^  Balle,  wo  Polinnen  tanzten,  fagte  ich 
ihm  einmal,  gegen  die  Polen  wären  wir  Deutfche  doch 
nur  eine  Art  Holländer,  und  wie  die  Menfchen  mit  Grazie 
tanzten!  Kein  Wunder!  verfetzte  Goethe,  die  Grazie  ift 
ihnen  eingeboren. 

[467.]     Juli  Mitte /Auguft  Mitte.     W.  v.  Humboldt. 

Von  Goethe  höre  ich  hier  allerlei  poffierliche  Ge? 
fchichten  erzählen,  die  von  zwei  getauften  Jüdinnen,  die 
mit  in  Karlsbad  waren,  herkommen.  Außerdem  daß  er 
ihnen  foll  erftaunlich  viel  vorgelefen,  in  Stammbücher  und 
auf  Fächer  gefchrieben,  und  ihre  Produktionen  korrigiert 
haben,  erzählt  auch  die  eine,  die  fonft  ein  fehr  fchönes 
Mädchen  war,  daß  er  ihnen  die  einzelnen  Gelegenheiten 
erzählt  habe,  die  ihn  zu  den  Elegien  veranlaßt,  naments^ 
lieh  die  zu  dem  Vers :  und  der  Barbar  beherrfcht  römifchen 
Bufen  und  Leib!  ^  Sie  follen  auch,  wie  fie  erzählen,  bei 
dem  erwarteten  neuen  Ankömmling  in  Weimar  Patenftelle 
vertreten. 

[468.]     (Sommer.)    J.  G.  Fichte. 

Goethe  gefprochen.  Er  war  die  Artigkeit,  die  Freude, 
mich  zu  fehen,  die  Freundfchaft  felbft;  er  bezeugte  mir 
ungemeine  Achtung.  Wir  fprachen  Philofophie;  von  Ge^s 
fchäften  kein  Wort.    —    Er  hoffe,   wenn  wir  einander 

I 


\ 


240  J.  G.  Fichte.  [469 

in  der  Nähe  blieben,  aus  diefen,  den  philofophifchen 
Dingen  noch  fehr  viel  mit  mir  zu  fprechen,  fagte  er  et* 
liehe  Male. 

[469.J     Oktober  5.     Schiller  an  W.  v.  Humboldt. 

Heute  ritt  Goethe  zu  mir  herüber  und  ift  foeben  wieder 
abgereift.  Nächfien  Donnerstag  geht  er  mit  einem  Aufs: 
trag  vom  Herzog  nach  Frankfurt,  wo  er  einige  Wochen 
zu  bleiben  gedenkt.  Er  grüßt  Sie  freundlichft  und  wird 
Ihnen  bald  fchreiben.  In  den  letzten  Wochen  war  er 
fo  befchäftigt,  daß  er  das  Zimmer  kaum  verließ,  weil 
Unger  Manufkript  haben  wollte,  und  er  über  feinen 
italienifchen  Sachen  den  Reft  des  fechften  Buchs  von  Meifter 
hatte  liegen  laffen.  Er  will  mir  vor  oder  auf  der  Reife 
eine  kleine  Schrift  der  Madame  Stael  von  der  Erfindung 
(nur  etliche  Bogen  fiark)  überfetzen,  welches  wir  dann 
mit  einigen  Anmerkungen  convoyiert,  in  die  Hören  fetzen 
wollen.  Sonft  ift  für  diefes  Jahr  fchwerlich  mehr  etwas 
von  ihm  zu  erwarten.  Ihre  längere  Abwefenheit  beklagt 
er  fehr. ,  Auch  der  Anatomie  wegen  hat  er  fich  auf  Ihr 
Hierfein  im  Winter  gefreut.  Würden  Sie  fich  dazu  ent;: 
fchließen  können,  ihm  Ihr  Logis  zum  Abfteigequartier  zu 
erlauben,  wenn  er  den  Winter  eine  Zeitlang  hier  zubrächte  ? 
Goethe  wird  Sömmering  in  Frankfurt  auffuchen,  und 
mir  von  der  feuchten  Seele  fchreiben.  Was  für  feltfame 
Dinge  doch  die  Sucht  nach  dem  Neuen  und  Außerordent^s 
liehen  ausheckt  1 

Hier  die  Elegie.  Ich  habe  fie  heute  auch  Goethen 
gelefen,  auf  den  fie  fehr  gewirkt  hat. 

[470.]     November  5./9.     Schiller  an  W.  v.  Humboldt. 

Goethe  ift  feit  dem  5.  hier  und  bleibt  diefe  Tage 
noch  hier,  um  meinen  Geburtstag  mit  zu  begehen.  Wir 
fitzen  von  Abend  um  5  Uhr  bis  nachts  12,  auch  1  Uhr 
beifammen  und  fchwatzen.  Über  Baukunft,  die  er  jetzt 
als  Vorbereitung  auf  feine  italienifche  Reife  treibt,  hat  er 
manches  Intereffante  gefagt,  was  ich  mir  habe  zueignen 
können.  Sie  kennen  feine  folide  Manier,  immer  von  dem 
Objekt  das  Gefetz  zu  empfangen  und  aus  der  Natur  der 
Sache  heraus  ihre  Regeln  abzuleiten.  So  verfucht  er  es 
auch  hier,  und  aus  den  drei  urfprünglichen  Begriffen  — 
der  Bafe,  der  Säule  (Wand,  Mauer  und  dergleichen)  und 
dem  Dach,  nimmt  er  alle  Beftimmungen  her,  die  hier  vor^^ 


470] Weimar.    1795.  241 

kommen.  Die  Abfurditäten  in  der  Baukunft  find  ihm 
nichts  als  Widerfprüche  mit  diefen  urfprünghchen  Be^ 
Itimmungen  der  Teile.  Von  der  fchönen  Architektur 
nimmt  er  an,  daß  fie  nur  Idee  fei,  mit  der  jedes  einzelne 
Architekturwerk  mehr  oder  weniger  ftreite.  Der  fchöne 
Architekt  arbeitet  wie  der  Dichter  für  den  Idealmenfchen, 
der  in  keinem  beftimmten,  folglich  auch  keinem  bedürftigen 
Zuftand  fich  befindet,  alfo  find  alle  architektonifche  Werke 
nur  Annäherung  zu  diefem  Zweck  und  in  der  Wirkliche: 
keit  läßt  fich  höchftens  nur  bei  öffentlichen  Gebäuden 
etwas  Ähnliches  erreichen,  weil  hier  auch  jede  einfchrän^ 
kende  Determination  wegfällt  und  von  den  befondern  Be? 
dürfniffen  der  einzelnen  abfirahiert  wird.  Sie  können  wohl 
denken,  daß  ich  ihn  bei  diefer  Idee,  die  fo  fehr  mit  unferen 
Begriffen  zufammen  ftimmt,  feftgehalten  und  weiter  da^ 
mit  zu  kommen  gefucht  habe.  Ich  glaube,  man  kann  den 
Zweck  der  Baukunft  als  fchöner  Kunfi  objektiv  ganz  füg^ 
lieh  fo  angeben,  daß  fie  jedem  befonderen  Gebäude 
den  Gattungsbegriff  des  Gebäudes  überhaupt  gegen  den 
Art  begriff  zu  behaupten  fucht,  wodurch  fie  dann  fub^ 
jektiv  den  Menfchen  aus  einem  befchränkten  Zuftand  zu 
einem  unbefchränkten  (der  doch  wieder  durchaus  auf  Ge^^ 
fetze  gegründet  ift)  führt  und  ihn  folglich  äfthetifch  rührt. 

Goethe  verlangt  von  einem  fchönen  Gebäude,  daß 
es  nicht  bloß  auf  das  Auge  berechnet  fei,  fondern  auch 
einem  Menfchen,  der  mit  verbundenen  Augen  hindurch^ 
geführt  würde,  noch  empfindbar  fein  und  ihm  gefallen 
muffe. 

Daß  von  feiner  Optik  und  feinen  naturhiftorifchen 
Sachen  auch  viel  die  Rede  fei,  können  Sie  leicht  denken. 
Da  er  die  letztere  gerne  vor  feiner  italienifchen  Reife  (die 
er  im  Auguft  1796  anzutreten  wünfcht)  von  der  Hand 
fchlagen  möchte,  fo  habe  ich  ihm  geraten,  fie  in  einzelnen 
Auffätzen  in  feiner  darfteilenden  Manier  zu  den  Hören 
zu  geben.  Ohnehin  ift  fonft  nicht  viel  von  ihm  für  das 
folgende  Jahr  zu  hoffen. 

Wir  haben  diefer  Tage  auch  viel  über  griechifche 
Literatur  und  Kunft  gefprochen.  ^ 

Ihren  Brief  an  Hellfeld  wegen  Ühedajfung  der  Woh^ 
nung  an  Goethe  habe  ich  noch  nicht  abgegeben.  Goethe 
will  fich  erft  noch  befinnen;  denn  er  hat  einen  neuen 
Bedienten,  der  ihn  noch  nicht  recht  zu  beforgen  weiß, 
und  trennt  fich  deswegen  nicht  gern  vom  Schloß,  wo  ihn 
I  16 


242  Schiller.  [471 

Trapizius,  der  Schloßvoigt  bedient.  Die  Ilgen,  die  er 
neulich  fah,  gefiel  ihm  fehr  wohl,  wie  es  fehlen,  und  ich 
merkte  wohl,  daß  er  nachher  mehr  Luft  zu  Ihrem  Logis 
hatte;  wie  er  aber  hörte,  daß  fie  in  Ihren  Namen  und 
in  Ihre  Tugend  verliebt  fei,  fo  wurde  von  dem  Logis  nicht 
mehr  gefprochen. 

[471.]     November.     Schiller  an  Ch,  G.  Körner. 

Ich  habe  Deinen  letzten  Brief  Goethe,  der  eine  Zeit^ 
lang  hier  war,  gewiefen  und  ihn  fehr  damit  erfreut.  Denn 
außer  Deinem  Urteil  über  das  Märchen  und  den  Meifter 
intereffierte  ihn  auch,  was  Du  von  Stein  und  feiner  Er? 
Ziehung  fagteft.  Goethe  hat  ihn  eigentlich  ganz  erzogen, 
und  fich  dabei  vorgefetzt,  ihn  recht  objektiv  zu  machen. 

[472.]     November.     Wieland. 

Da  hat  fich  aber  neuerlich  ein  gewiffer  Herr  Richter 
in  Hof  hervorgetan;  ^^  Der  Menfch  ift  mehr  als  Herder 
und  Schiller.  Er  hat  eine  Allüberficht  wie  Shakefpeare. 
Goethe  urteilt  von  ihm:  man  muffe  fich  mit  diefem  Men? 
fchen  in  acht  nehmen  und  ihn  weder  zu  viel,  noch  zu 
wenig  loben  —  ein  fehr  alltäglicher  Orakelfpruch. 

[473.]     November  Ende.     Nach  Charlotte  v.  Stein. 

Als  fie  neulich  Goethe  gefagt,  fie  fei  auf  das  Ende 
feiner  Perfonen  in  Wilhelm  Meifter  neugierig,  habe  er 
erwidert,  im  Leben  brauche  man  nicht  konfequent  zu  fein, 
aber  freilich  in  einem  Roman  verlange  man  es. 


1796. 

[474.]     Januar.     Schiller. 

Goethe,  der  bei  uns  ift,  macht  mir  zu  viel  Lärm.  ^ 
Seitdem  Goethe  hier  ift,  haben  wir  angefangen,  Epi? 
gramme  von  einem  Diftichon  im  Gefchmacke  der  Xenien 
des  Martial  zu  machen.  In  jedem  wird  nach  einer  deut? 
fchen  Schrift  gefchoffen.  Es  find  fchon  feit  wenig  Tagen 
über  zwanzig  fertig,  und  wenn  wir  etliche  Hundert  fertig 
haben,  fo  foll  fortiert  und  etwa  ein  Hundert  für  den  Al^ 
manach  beibehalten  werden. 


478]  Jena.    1796. 243 

[475.]     Januar.     Schiller  an  Ch.  G.  Körner. 

Deinen  Brief  erhielt  ich  gerade,  als  Goethe  bei  uns 
war,  und  gab  ihm  folchen  zu  lefen,  weil  Du  über  feine 
Beiträge  zum  Mufenalmanach  fo  urteilteft,  als  er  es  ver^ 
tragen  kann.  Er  war  auch  fehr  wohl  mit  Deiner  Kritik 
zufrieden. 

[476.]     Januar.     Schiller  an  A.  W.  Schlegel. 

Goethe,  der  eben  hier  ift,  war  mit  Ihrer  Rezenfion 
fowie  überhaupt  mit  Ihrer  Art  zu  urteilen,  fehr  zufrieden, 
nur  daß  auch  er  fowohl  gegen  Ihre,  als  gegen  die  Voßifche 
Profodie  noch  manches  einzuwenden  hat.  Er  glaubt,  und 
muß  feiner  Natur  nach  diefe  Meinung  haben,  daß  in  Rück? 
ficht  auf  den  Versbau  den  Forderungen  des  Moments  und 
der  Konvenienz  des  individuellen  Falles  weit  mehr  als 
einem  allgemeinen  Gefetz  muffe  nachgegeben  werden. 

[477.]     Januar  6.     Schiller. 

Alsdann  erfchien  Goethe,  der  mir  alle  Abendftunden 
nimmt.  ^  Goethe  hat  zwar  auch  vieles  gegen  die  Rezenfion 
der  Hören  einzuwenden,  befonders  in  Rückficht  auf  das, 
was  an  feinen  Verfen  getadelt  wird;  im  ganzen  aber  ift  er 
fehr  wohl  damit  zufrieden,  und  hat  eine  gute  Meinung 
von  Schlegeln  bekommen.  ^ 

Goethe,  als  ein  verhärteter  Realift,  hat  mir  folgen 
können  und  mich  auch  gefaßt  bei  der  Au  seinander  fetzung 
über  die  Gradationen  des  dichterifchen  Geifles. 

[478.]     Januar.     Schiller. 

Goethe  und  ich  arbeiten  fchon  feit  einigen  Wochen 
an  einem  gemeinfchaftlichen  Opus  für  den  neuen  Alma? 
nach,  welches  eine  wahre  poetifche  Teufelei  fein  wird, 
die  noch  kein  Beifpiel  hat.  '^  Goethe  war  14  Tage  hier 
und  da  ift  allerlei  abgehandelt  worden.  Funks  Anwefenj: 
heit,  der  4  Tage  hier  blieb  und  faft  immer  mit  uns  lebte, 
war  mir  fehr  wohltuend.  Ich  habe  ihn  weit  weniger  ge? 
fpannt  gefunden,  als  fonft,  obgleich  Goethe,  der  fonft 
nicht  geeigenfchaftet  ift,  die  Leute  ä  leur  aise  zu  fetzen, 
zugleich  mit  ihm  da  war.  ^ 

Mein  Karl  ift  wohl  und  entwickelt  fich,  daß  es  eine 
Freude  ift.      Goethe  ift  ganz  von  ihm  eingenommen. 
I  16* 


244  Schiller.  [479 

[479.]     Januar.     Schiller  an  W.  v.  Humboldt. 

Die  Xenien,  von  denen  ich  Ihnen  einmal  fchrieb, 
haben  (ich  nunmehr  zu  einem  wirklich  intereffanten  Pro^ 
dukt,  das  in  feiner  Art  einzig  werden  dürfte,  erweitert. 
Goethe  und  ich  werden  uns  darin  abfichtlich  fo  inein? 
ander  verfchränken ,  daß  uns  niemand  ganz  auseinander 
icheiden  und  abfondern  foll.  Bei  einem  folchen  gemein^; 
fchaftlichen  Werk  ift  natürlicherweife  keine  ftrenge  Form 
möglich;  alles,  was  fich  erreichen  läßt,  ift  eine  gewiffe 
Allheit  oder  lieber  Unermeßlichkeit,  und  diefe  foll  das 
Werk  auch  an  fich  tragen.  Eine  angenehme  und  zum 
Teil  genialifche  Impudenz  und  Gottlofigkeit,  eine  nichts 
verfchonende  Satire,  in  welcher  jedoch  ein  lebhaftes  Stres: 
ben  nach  einem  feften  Punkt  zu  erkennen  fein  wird,  wird 
der  Charakter  davon  fein.  Unter  600  Monodiftichen  tun 
wir  es  nicht,  aber  womöglich  fteigen  wir  auf  die  runde 
Zahl  1000.  Von  der  Möglichkeit  werden  Sie  fich  über? 
zeugen,  wenn  ich  Ihnen  fage,  daß  wir  jetzt  fchon  in  dem 
dritten  Hundert  find,  obgleich  die  Idee  nicht  viel  über 
einen  Monat  alt  ift.  Bei  aller  ungeheuren  Verfchieden? 
heit  zwifchen  Goethe  und  mir,  wird  es  felbft  Ihnen  öfters 
fchwer  und  manchmal  gewiß  unmöglich  fein,  unfern  An? 
teil  an  dem  Werke  zu  fortieren.  Denn  da  das  Ganze 
einen  laxen  Plan  hat,  das  Einzelne  aber  ein  Minimum  ift, 
fo  ift  zu  wenig  Fläche  gegeben,  um  das  verfchiedene  Spiel 
der  beiden  Naturen  zu  zeigen.  Es  ift  auch  zwifchen  Goethe 
und  mir  förmlich  befchloffen,  unfere  Eigentumsrechte  an 
den  einzelnen  Epigrammen  niemals  auseinander  zu  fetzen, 
fondern  es  in  Ewigkeit  auf  fich  beruhen  zu  laffen,  welches 
uns  auch,  wegen  der  Freiheit  der  Satiren,  zuträglich  ift. 
Sammeln  wir  unfre  Gedichte,  fo  läßt  jeder  diefe  Xenien 
ganz  abdrucken.  Daß  ich  für  eine  große  Korrektheit 
auch  in  der  Profodie  forgen  werde,  verfpreche  ich  Ihnen 
fowohl  in  meiner  als  Goethens  Portion.  —  Übrigens  bitte 
ich  Sie  von  diefer  Eröffnung  vor  der  Hand  auch  Goethe 
felbft  nichts  zu  fagen. 

[480.]     März.     Schiller  an  A.  W.  Schlegel. 

Auch  Bürgers  Macbeth  und  die  überfetzten  Hexen? 
gefänge  haben  Sie  mir  zu  raisonabel  behandelt.  Ich  halte 
die  letzteren  für  eine  recht  Bürgerifche  Pfufcherei,  fo  arg 
als  irgend  eine  von  ihm,    und  das  ift   nicht   bloß  meine 


485] Weimar  -  Jena.    1796. 245 

Privatmeinung.  Goethe  z.  B.,  mit  dem  ich  erft  kurz  noch 
davon  fprach,  findet  fie  greuHch  und  er  hat,  da  er  den 
Macbeth  gern  einmal  in  Weimar  fpielen  laffen  wollte,  fchon 
darauf  gedacht,  wie  er  fie  anders  überfetzt  bekommen 
könnte. 

[481.]     März  Ende.     Schiller. 

Im  Komödienhaus,  das  keine  Logen  hat,  hat  Goethe 
mir  eine  befonders  machen  laffen,  wo  ich  ungeftört  fein 
kann  und,  wenn  ich  mich  auch  nicht  ganz  wohl  fühle, 
wenigftens  den  Vorteil  habe,  mich  vor  niemand  zwingen 
zu  dürfen. 

[482.]     April/Juni.     G.  Parthey. 

Eines  Sommers  kam  auch  Goethe  zum  Befuche  nach 
Drescien.*  Ob  er  mit  auf  dem  Körnerfchen  Weinberge 
gewohnt,  oder  von  der  Stadt  aus  feinen  Freund  Schiller 
öfters  befucht  habe,  wüßte  ich  nicht  mehr  zu  fagen.  Marie 
Körner  erinnerte  fich  fehr  genau,  daß  eine  ganze  Menge 
Xenien  in  diefer  ländlichen  Einfamkeit  entfianden  feien.  Die 
beiden  Schweftern  faßen  zusammen  unten  in  der  Wohn^ 
ftube,  und  hörten  über  fich  in  der  Dachkammer  die  Stimmen 
der  dichtenden  Freunde.  In  kürzeren  oder  längeren  Pau^ 
fen  ertönte  ein  fchallendes  Gelächter,  zuweilen  von  lehr 
vernehmlichem  Fußftampfen  begleitet.  Wenn  die  Herren 
um  12  Uhr  zum  Mittageffen  herunterkamen,  waren  fie 
äußerft  aufgeräumt  und  fagten  mehr  als  einmal:  Heute 
find  die  Philifi:er  wieder  tüchtig  geärgert  worden] 

[483.]     Mai  etwa  20.     Schiller  an  Ch.  G.  Körner. 

Hero  und  Leander**  hat  er  noch  nicht  angefangen; 
aber  noch  etwas  anderes  von  luftigem  Inhalt  las  er  neu? 
lieh  vor,  das  ich  Euch  fchicken  will,  fobald  ich's  abge? 
fchrieben  erhalte. 

~  Goethe  grüßt  Euch  freundlich. 


*  Hier  ift  ein  Irrtum.  Goethe  und  Schiller  waren  nie  ge# 
meinfam  in  Lofchwitz.  Wohl  aber  waren  Körners  im  Xenien* 
jähr  1796  in  Jena  einige  Zeit  bei  Schiller  und  darauf  bezieht  fich 
vielleicht   die  Erinnerung. 

**  Ein  von  Goethe  geplantes  Gedicht,  um  deffen  Zufendung 
Körner  gebeten. 
I 


246  Schiller.  [484 

[484.]     Mai  16.     Charlotte  v.  Stein. 

Es  kam  eben,  wie  ich  da  war,  eine  kleine  Viktoria 
von  Dresden  für  ihn  an.  Er  fetzte  fie  am  Tifch  vor  fich 
und  meinte,  beim  Effen  und  Trinken  fei  am  heften  von 
der  Kunft  zu  fprechen.  Er  nahm  auch  wirklich  an  nichts 
viel  weiter  Anteil,  und  zuletzt  hatte  er  das  Glas  Wein 
in  der  einen  Hand  und  die  Viktoria  in  der  andern. 

[485.]     Frühjahr.     K.  A.  Böttiger. 

Goethe:  Ifflands  Schauspiele  haben  alle  zwei  Haupt? 
fehler.  1 .  Alle  moralifche  Befferung  wird  in  feinen  Stücken 
von  außen  herein,  nicht  von  innen  heraus  bewirkt.  Da? 
her  das  Gewaltfame,  unwahrfcheinlich  Zufammengedrängte 
und  Überhäufte  in  feinen  Stücken,  z.  B.  der  Kommiffär 
Wallmann  in  der  Ausfteuer  ifi  fchon  viele  Jahre  bei  der 
verkehrten  Wirtfchaft  feines  Bruders  Augenzeuge,  fchon 
viele  Jahre  ebenfo  heftig,  auffahrend  gewaltfam  gewefen. 
Aber  erfi  heute,  wo  das  Stück  zu  fpielen  anfängt,  regt 
fich  der  Braufekopf,  fiürmt  an  der  großen  Glocke,  poltert 
und  will  das  gut  machen,  was  bei  frühem,  nur  halb  fo 
heftigen  Warnungen  an  feinen  Bruder  und  deffen  Kin? 
der  nicht  halb  fo  fchlimm  geworden  wäre.  Es  ift  durch? 
aus  keine  zureichende  Urfache  da,  warum  dies  alles  erft 
jetzt,  wo  das  Stück  eintritt,  fo  von  außen  hereinkommen 
muffe.  So  macht  der  Stabschirurg  Rechtler  im  Schein? 
verdienft  heute  erft  Lärm  und  Ordnung,  da  er  doch  fchon 
zwanzig  Jahre  lang  fein  Pfeifchen  bei  feinem  amicus  geraucht 
und  die  Scheinverfuche  feiner  Frau  und  Kinder  mit  ange? 
fehen  hat.  Eben  darum,  weil  alle  Motive  nur  von  außen 
herein  bloß  zufällig  zur  Hauptentwickelung  wirken,  nicht 
aus  dem  Charakter  felbft  hervorgehn,  braucht  Iff  land  fo 
viel  Nebenfiguren  und  unnütze  Ausftaffierungen  zu  feinen 
Stücken,  weil  er  durch  fie  den  Ausgang  motivieren  will. 

2.  Er  fetzt  überall  Natur  und  Kultur  in  einen  fal? 
fchen  Kontraft.  Kultur  ift  ihm  immer  die  Quelle  aller 
moralifchen  Verdorbenheit ;  wenn  feine  Menfchen  gut  wer? 
den  follen,  fo  kehren  fie  in  den  Naturftand  zurück;  der 
Hageftolze  geht  auf  feine  Güter  und  heiratet  ein  Bauern? 
mädchen  ufw.  Dies  ift  ein  ganz  falfcher  Gefichtspunkt, 
aus  welchem  er  alle  Kultur  verunglimpft,  da  vielmehr  das 
Gefchäft  eines  Schaufpieldichters  in  unferm  Zeitalter  fein 
follte,  zu  zeigen,  wie  die  Kultur  von  Auswüchfen  gereinigt, 
veredelt  und  liebenswürdig  gemacht  werden  könne.     Die 


487]  Weimar.     1796. 247 

Idyllenfzenen  aus  Arkadien,  die  in  Ifflands  Stücken  fo 
Wohlgefallen,  find  eine  fuße,  aber  darum  nur  um  fo  ges^ 
fährlichere  Schwärmerei.  Freilich  fieht  er  auch  in  Mann= 
heim  die  Grundfuppe  der  fogenannten  Kultur  in  ihrer 
haffenswürdigften  Abfcheulichkeit.  Losgeriffen  von  diefen 
herzlofen  Modepuppen,  würde  er  auch  ganz  andere  Cha:; 
raktere  zeichnen  und  ganz  neue  Anfichten  in  feine  Stücke 
bringen  können. 

[486.]     Juni  6.     Schiller  an  W.  Reinwald. 

Hier  lieber  Bruder  das  fünfte  Stück  der  Hören,  wo^ 
rinn  der  Auffatz  Die  Pulververfchwörung  abgedruckt  ift. 
Nach  den  Urteilen,  die  ich  hier  eingezogen,  findet  er 
vielen  Beifall,  und  Goethe,  der  eben  von  mir  weggegangen 
ilt,  war  auch  recht  wohl  damit  zufrieden. 

[487.]     Juni  17.     Jean  Paul  F.  Richter. 

Gleichwohl  kam  ich  mit  Scheu  zu  Goethe.  Die  Oft^ 
heim*  und  jeder  malte  ihn  ganz  kalt  für  alle  Menfchen 
und  Sachen  auf  der  Erde.  —  Ofi:heim  fagte :  er  bewundert 
nichts  mehr,  nicht  einmal  fich;  —  jedes  Wort  fei  Eis, 
zumal  gegen  Fremde,  die  er  feiten  vorlaffe;  er  habe  etwas 
Steifes,  reichsftädtifch  Stolzes  —  bloß  Kunfi:fachen  wärmen 
noch  feine  Herznerven  an,  daher  ich  Knebel  bat,  mich 
vorher  durch  einen  Mineralbrunnen  zu  petrifizieren  und 
zu  inkruftieren ,  damit  ich  mich  ihm  etwan  im  vorteil? 
haften  Lichte  einer  Statue  zeigen  könne.  —  (Ofi:heim  rät 
mir  überall  Kälte  und  Selbfi:bewußtfein  an.)  Ich  ging 
ohne  Wärme,  bloß  aus  Neugierde.  Sein  Haus  frappiert: 
es  ift  das  einzige  in  Weimar  im  italienifchen  Gefchmack, 
mit  folcher  Treppe,  ein  Pantheon  voll  Bilder  und  Statuen; 
eine  Kühle  der  Angft  preffet  die  Bruft,  —  endlich  tritt 
der  Gott  her;  kalt,  einfilbig,  ohne  Akzent.  Sagt  Knebel 
z.  B. :  Die  Franzofen  ziehen  in  Rom  ein.  —  Hm!  fagt 
der  Gott.  Seine  Geftalt  ift  markig  und  feurig,  fein  Auge 
ein  Licht  (aber  ohne  angenehme  Farbe).  Aber  endlich 
fchürete  ihn  nicht  bloß  der  Champagner,  fondern  die  Ge? 
fpräche  über  die  Kunft,  Publikum  ufw.  fofort  an  und  — 
man  war  bei  Goethe.  Er  fpricht  nicht  fo  blühend  und 
itrömend   wie   Herder,    aber   fcharfbeftimmt   und    ruhig. 


Charlotte  v.  Kalb  geb.  Marfchalk  v.  Oftheim. 


248  Jean  Paul  F.  Richter.  [488 

Zuletzt  las  er  uns,  d.  h.  fpielte  er  uns*  ein  ungedrucktes 
herrliches  Gedicht  vor,  wodurch  fein  Herz  durch  die 
Eiskrufte  die  Flammen  trieb,  fo  daß  er  dem  enthufiaftifchen 
Jean  Paul  (mein  Geficht  war  es,  aber  meine  Zunge  nicht, 
wie  ich  denn  nur  von  weitem  auf  einzelne  Werke  an? 
fpielte,  mehr  der  Unterredung  und  des  Beleges  wegen) 
die  Hand  drückte.  Beim  Abfchied  tat  er's  wieder  und 
hieß  mich  wiederkommen.  Er  hält  feine  dichterifche  Lauf? 
bahn  für  befchloffen. 

[488.]     Juli  17.     Caroline  Schlegel. 

Geftern  Nachmittag,  da  ich  allein  war,  meldete  man 
mir  den  Herrn  Geheimenrat.  Ohngemeldet  hätte  ich  ihn 
nicht  erkannt,  fo  fiark  ift  er  feit  drei  Jahren  geworden. 
Er  war  gar  freundlich,  freute  fich,  mich  in  fo  angenehmen 
Verhältniffen  zu  treffen,  fagte  viel  Schönes  von  Schlegel, 
bis  diefer  felbft  kam.  Er  hat  mir  gedroht,  oft,  auf  feinem 
Weg  ins  Paradies,  bei  uns  einzufprechen.  ^^  Diesmal  wird 
er  nicht  lange  bleiben;  er  hat  nur  das  Ende  von  Wilhelm 
Meifter  herüber  gebracht,  um  mit  Schiller  darüber  zu 
fprechen. 

[489.]    Auguft  Anfang.     Schiller  an  K.  F.  Zelter. 

Ihre  fchönen  Melodien  zu  den  Go'ethefchen  Liedern 
haben  mir  den  Wunfeh  eingeflößt,  die  mufikalifchen  Stücke 
meines  diesjährigen  Mufenalmanachs  von  Ihnen  gefetzt 
zu  fehen.  Vielleicht  hat  Ihnen  Herr  Geheimrat  Goethe 
fchon  ein  Wort  davon  gefchrieben,  denn  auch  er  wünfchte 
es  fehr. 

[590.]     Auguft.     Schiller. 

Die  Idee  mit  den  Xenien  ift  nicht  ganz  aufgegeben. 
Bloß  die  ernfthaften,  philofophifchen  und  poetifchen  find 
daraus  vereinzelt  und  bald  in  größeren,  bald  in  kleineren 
Ganzen  vorne  angebracht.  So  haben  wir,  außer  mehreren 
kleineren  Ganzen,  70,  80,  die  zufammen  gehören,  in  eine 
Folge  vereinigt,  und  uns  beide  unterfchrieben,  ohne  an? 
zumerken,  von  welchem  unter  beiden  die  einzelnen  find. 

*  Sein  Vorlefen  ift  nichts  als  ein  tieferes  Donnern,  vermircht 
mit  dem  leifeften  Regengelifpel ;  es  giebt's  (siel)  nichts  Ahn* 
liches.     (J.  P.) 


495]  Jena  -  Weimar.     1796.  249 

1491.J     Auguft.     Schiller  an  J.  F.  Cotta. 

Ich  habe  fchon  zu  einer  fimpeln  und  artigen  Decke 
für  den  Mufenalmanach  in  Weimar  Anftalt  machen  laffen, 
die  auch  nicht  viel  koften  wird.  Goethe  hat  die  Einfaffung 
angegeben,  und  in  die  Mitte  kommt  auf  jeder  Seite,  anftatt 
einer  Figur  oder  eines  Ornaments  ein  Vers  von  Goethen 
und  von  mir. 

[492.]     K.  A.  Böttiger. 

Der  neue  Schillerfche  Mufenalmanach  ift  ein  wahres 
Revolutionstribunal,  ein  Terrorism,  gegen  welche  alle  guten 
Köpfe  in  Maffe  aufftehen  muffen. 

Es  ift  mir  unbegreiflich,  wie  Goethe,  der  fonft  fo  leife 
auftretende,  furchtfame  Zauderer,  fich  zu  einem  fo  Jugend^ 
liehen  Mutwillen  mit  offenem  Vifier  hinreißen  laffen  konnte. 
Aber  ich  erinnere  mich  noch  zum  Glück,  ihn  das  Urteil 
fprechen  gehört  zu  haben:  das  deutfche  Publikum  er? 
trägt  und  verfchlingt  alles. 

[493.]     Auguft.     Schiller. 

Goethen  find  im  Mufenalmanach  die  tabulae  votivae,  an 
denen  er  felbft  fehr  wenig  Anteil  hat,  das  liebfte  von  mir. 

[494.]     September  1.     Charlotte  v.  Stein  an  ihren  Sohn  Fritz. 

Daß  Du  gefonnen  bift,  in  preußifche  Dienfte  zu 
gehen,  habe  ich  aus  einem  Briefe  gefehen,  den  Du  Goethen 
gefchrieben.  Mit  allem  guten  Willen,  den  ich  bei  ihm 
bemerkte,  fürchte  ich,  er  wird  wegen  feiner  allzu  litera? 
rifchen  Exiftenz  zu  unbehülflich  fein.  Dir  mit  Gefchick 
aus  der  Sache  zu  helfen.  Er  war  nur  einen  Augenblick 
hier  und  ift  wieder  nach  Jena.  Ich  bat  ihn,  noch  etwas 
zu  überlegen;  alsdann  will  er  mir  den  Brief  an  Dich 
offen  fchicken.  Er  fagte,  er  habe  gar  keinen  Einfluß  auf 
den  Herzog,  fondern  ich  folle  doch  der  FJerzogin  erzählen, 
er  (Goethe)  hielte  es  für  gut,  daß  der  Herzog  Dir  die 
Kammerpräfidentenftelle  in  Eifenach,  im  Fall  Herda  ftürbe, 
verfpräche,  nachdem  Du  den  Prinzen  einige  Jahre  würdeft 
begleitet  haben. 

[495.]     Auguft  Ende.     Caroline  Schlegel. 

Goethe  ift  jetzt  wieder   hier   in  Jena   und   läßt  das 
Theater  arrangieren,    fonft   gibt   er   fich  diesmal  viel  mit 
Raupen  ab,  die  er  tot  macht  und  wieder  auferweckt. 
I 


250 Schiller. [496 

[496.]     Sommer.     Schiller. 

Das  epifche  Gedicht  von  Goethen,  das  ich  habe  ent^ 
ftehen  fehen,  und  welches  in  unferen  Gefprächen  alle 
Ideen  über  epifche  und  dramatifche  Kunft  in  Bewegung 
brachte ,  hat  ^  auch  für  meinen  Wallenftein  große 
Folgen.     . 

[497.]     September,  erfte  Hälfte.     Caroline  v.  Wolzogen. 

Mit  Rührung  erinnere  ich  mich,  wie  uns  Goethe  in 
tiefer  Herzensbewegung,  unter  hervorquellenden  Tränen, 
den  Gefang,  der  das  Gefpräch  Hermanns  mit  der  Mutter 
am  Birnbäume  enthält,  gleich  nach  der  Entftehung  vorlas. 
So  fchmilzt  man  bei  feinen  eigenen  Kohlen,  fagte  er,  in^ 
dem  er  (ich  die  Augen  trocknete. 

[498.]     September  15.     G.  Merkel. 

Ich  fand  bei  F.  Ch.  Lodev  eine  fehr  zahlreiche  Ver^ 
fammlung  von  faft  allen  Profefforen  und  einigen  Studenten 
beifammen.  Im  Prunkzimmer  ftand  Goethe  mit  ernfter, 
ftolzer  Miene  vor  dem  Spiegeltifche ,  auf  beiden  Seiten 
von  Kerzen  und  vorn  vom  Kronleuchter  beleuchtet, 
prunkend  da,  und  um  ihn  eine  Halbrunde  von  mehreren 
Reihen  ehrfurchtsvoll  Laufchender.  Bei  dem  Gefühl,  mit 
dem  ich  foeben  die  Xenien  gelefen,  widerte  mich  diefes 
Schaufpiel  an;  ich  glaubte  den  Triumph  ftraflofer  Infolenz 
feiern  zu  fehen.  Loder  ftellte  mich  Goethe  vor  als  den 
Verfaffer  der  Letten;  er  nickte  herablaffend  und  fuhr  fort 
in  feiner  Rede.  Das  verdroß  mich;  denn  ich  war  mir 
bewußt,  in  Rückficht  meiner  Zwecke  über  dem  Verfaffer 
der  Xenien  zu  ftehen.  ^ 

Er  fprach  gerade  in  einem  dozierenden  Tone  über 
Raphaels  Gemälde  im  Vatikan.  Den  letzten  Umftand 
hatte  ich  nicht  bemerkt  [?]  und  fagte :  Es  wäre  viel,  wenn 
die  Franzofen  fich  ihrer  nicht  bemächtigten.  Mit  einer 
wegwerfenden  Miene,  als  hätte  ich  eine  Dummheit  ge^^ 
fagt,  erwiderte  Goethe:  Sie  find  ja  auf  die  Mauer  gemalt  1 
—  Doch  nur  auf  Stuck!  antwortete  ich,  zog  mich  aus 
dem  bewundernden  Halbkreife  zurück  und  habe  mich 
Goethe  nie  wieder  genähert.  Mir  hatte  bei  meiner  Antjs 
wort  dunkel  vorgefchwebt,  es  muffe  ein  Mittel  geben,  die 
Stucklagen  abzulöfen  ohne  Verletzung  der  Gemälde,  die 
fie  verherrlichen.     Welcher  Art  dies  Mittel  fein  könnte, 


502J  Jena.     1796. 251 

ahnte  ich  freilich  nicht,  doch  wenige  Monate  fpäter  er^ 
zählten  die  Zeitungen,  daß  die  Franzofen  Wandgemälde 
abgefägt  hätten. 

[499.]     September.     Schiller. 

Goethe  hat  jetzt  ein  neues  poetifches  Werk  unter 
der  Arbeit,  das  auch  größtenteils  fertig  ift.  Es  ift  eine 
Art  bürgerlicher  Idylle,  durch  die  Luife  von  Voß  in  ihm 
zwar  nicht  veranlaßt,  aber  doch  neuerdings  dadurch  ge^^ 
weckt;  übrigens  in  feiner  ganzen  Manier,  mithin  Voßen 
völlig  entgegengefetzt.  Das  Ganze  ift  mit  erftaunlichem 
Verftande  angelegt,  und  im  echten  epifchen  Tone  aus^ 
geführt.  Ich  habe  2  Dritteile  davon,  nämlich  4  Gefänge 
gehört,  die  vortrefflich  find.  Das  Ganze  kann  wohl  12 
Bogen  betragen.  Die  Idee  dazu  hat  er  zwar  mehrere  Jahre 
fchon  mit  fich  herum  getragen,  aber  die  Ausführung,  die 
gleichfam  unter  meinem  Auge  gefchah,  ift  mit  einer  mir 
unbegreiflichen  Leichtigkeit  und  Schnelligkeit  vor  fich 
gegangen,  fo  daß  er  9  Tage  hintereinander,  jeden  Tag  über 
anderthalb   100  Hexameter  niederfchrieb. 

[500.]     Oktober  2.     Caroline  Schlegel.. 

Goethe  fagte  geitern  noch,  Die  Geifterinfel  von  Gotter 
wäre  ein  Meifterftück  von  Poefie  und  Sprache;  es  ließe 
fich  nichts  Mufikalifcheres  denken. 

[501.]     November  9.     Ch.  G.  Voigt  an  G.  Hufeland. 

Herr  G.  R.  v.  Goethe  ift,  was  mich  gefreut  hat,  für 
Sie  und  Ihr  Haus  fehr  freundlich  gefinnt  und  hat  mir 
von  der  Vorlefung  feiner  Epopöe  Hermann  und  Dorothea^ 
die  er  in  neuere  Zeit  zu  verlegen  gewagt  hat,  erzählt. 
Schreiben  Sie  mir  etwas  von  dem  Gegenftande  und  In? 
halt  diefes  Phänomens,  worüber  ihn  zu  fragen  der  Anlaß 
durch  Nebendinge  mir  abgefchnitten  wurde. 

[502.]     Herbft.     Wieland  an  K.  L.  Reinhold. 

Goethe,  der  beinahe  fünf  Monate  in  Jena  lebte,  ift 
feit  fünf  bis  fechs  Wochen  wieder  hier  und  fährt  fort 
ein  mir  fehr  angenehmes  Verhältnis  mit  mir  zu  unter? 
halten,  wirklich  das  reinfte  und  einzige  das  zwifchen  uns 
beftehen  kann  und  foll.  Er  ift  ein  fonder^  und  wunder? 
barer  SterbHcher,  aber  bei  allem  dem  fo  fehr  aus  Einem 
Stück,  fo  fehr  bona  fide  alles,  was  er  ift,  mit  allem  feinen 
1 


252  Wieland.  [503 

Egoismus  fo  wenig  übeltätig,  oder  vielmehr  im  Grunde 
fo  gutartig,  und  mit  allen  Anomalien  feiner  produktiven 
Kraft  ein  Mann  von  fo  mächtigem  Geift  und  unerfchöpf:: 
liehen  Talenten,  daß  es  mir  unmöglich  ifi,  ihn  nicht  lieb 
zu  haben,  wie  oft  ich  auch  im  Fall  bin  zu  wünfchen,  daß 
dies  oder  jenes  anders  an  ihm  wäre.  Von  feinem  Anteil 
an  den  Xenien  haben  Sie  fehr  richtig  geurteilt.  Aber  die 
Welt  ifi  nicht  fo  nachfichtUch  und  beide  Epigrammatiften 
haben  fich  felbft  durch  diefe  Ergießung  ihrer  Laune  und 
—  Galle  einen  unendlich  mal  größeren  Schaden  getan, 
als  alle  ihre  literarifchen  Widerfacher  und  Diaboli  ihnen 
zufammengenommen  in  ihrem  ganzen  Leben  hätten  tun 
können. 

[503.]     Dezember  17. /20.     Caroline  Schegel  an  Luife  Gotter. 

Goethe  gab  ein  allerliebftes  Diner,  fehr  nett,  ohne 
Überladung,  legte  alles  felbft  vor,  und  fo  gewandt,  daß 
er  immer  noch  Zeit  fand,  uns  irgend  ein  fchönes  Bild 
mit  Worten  hinzufiellen  (er  befchrieb  z.  B.  ein  Bild  von 
Fueßli  aus  dem  Sommernachtstraum,  wo  die  Elfenkönigin 
Zetteln  mit  dem  Efelskopf  liebkofet)  oder  fonfi  hübfche 
Sachen  zu  fagen.  Beim  fußen  Wein  zum  Defert  fagte 
ihm  Schlegel  gerade  ein  Epigramm  vor,  das  Klopfiock 
kürzlich  auf  ihn  gemacht,  weil  Goethe  die  deutfche  Sprache 
verachtet  hat,  und  darauf  fiießen  wir  alle  an,  jedoch  nicht 
Klopfiock  zum  Hohn;  im  Gegenteil,  Goethe  fprach  fo 
brav,  wie  fich's  geziemt,  von  ihm. 

[504.]     (Dezember.)     M.  Jacobi. 

Als  der  Jüngling  die  Blätter  von  Hermann  und  Doro^ 
thea  dem  übergütigen  Dichter  tief  bewegt  und  angeregt 
wieder  übergab,  verbarg  diefer  ihm  feine  Freude  nicht, 
heiter  hinzufügend:  Nach  Ihnen  ifi  nun  Böttiger  der  nächfte, 
dem  ich  es  mitteile;  denn  bei  dem  bin  ich  bei  der  Bes: 
urteilung  vor  allem  Einfluß  des  Gemütes  auf  den  Ver? 
ftand  ficher,  und  fo  einen  brauche  ich. 

[505.]     (Dezember.)     K.  A.  Böttiger. 

Goethe  ging  feit  zwei  Jahren  mit  diefem  Sujet  von 
'Hermann  und  Dorothea  fchwanger  und  verfuchte  es  erft 
als  Drama,  dann  als  eine  Idyllenreihe.  Aber  grade  durch 
diefe  vorbereitenden  Studien  wurde  er  erfi  des  Gegen^ 
fiandes  ganz  mächtig. 


508]  Leipzig  -  Weimar.     1796.  253 

[506.]     Dezember  (30).     Ch.  F.  Weiße. 

Ich  weiß  aus  mehreren  Briefen,  daß  die  Sache  wegen 
Eichflädts  Berufung  nach  Jena  entfchieden  ift.  Vor  kurzem 
war  der  Geheime  Rat  Goethe  mit  dem  Herzog  von  Weimar 
hier  in  Leipzig,  und  wir  fprachen  ein  Langes  und  Breites 
davon. 

[507.]     Dezember  (30).     G.  J.  Göfchen. 

Goethe  hat  unfern  alten  Weiße  befucht  und  viel  mit 
ihm  über  griechifche  und  römifche  Literatur  gefprochen 
und  fich  äußerfi  gut  benommen. 

[508.]     (Dezember.)    J.  D.  Falk. 

Neulich  im  Klub  '^  geriet  Wieland  in  einen  liebenss: 
würdigen,  mit  etwas  Poffierlichkeit  untermifchten  Eifer, 
daß  die  jungen  Leute  fo  viel  Tee  tränken,  da  doch  Tee 
offenbar  fchwäche. 

Goethe  (mit  aufgehobenem  Rockfchoß  am  Ofen  [t^^ 
hend  und  mit  vorftrebender  Bruft  fich  hin  und  her  be:= 
wegend):    Da  irrfi  Du,   Herr  Bruder;   Tee  ftärkt.* 

Wieland:    Wieder  ein  Paradoxon! 

G.:    O,  ich  habe  Gründe  dafür  genug  und  fatt. 

W. :  Um  nur  mit  meinem  fchwächften  Argument  an* 
zufangen  — 

G.:  Das  tue  ja  nicht,  Herr  Bruder,  ums  Himmels* 
willen  nicht!  Immer  die  fiärkften  voraus!  Ich  habe  mich 
verzweifelt  ausgerüftet. 

W.:  Alfo  erftlich  wirft:  Du  nicht  leugnen  können, 
daß  trotz  aller  Deiner  Sophifterei  aufgekochte  Kräuter 
von  fchädlicher  Natur  und  laues  Waffer  — 

G.:    Alfo  der  Tee  fchwächt,  willfi  Du  fagen? 

W.:   Ja,  doch  ich  - 

G.:    Alfo,  der  Tee  ftärkt,  fag'  ich. 

W.:    Und  fchwächt  nicht? 

G.:    Stärkt  und  fchwächt. 

W.:    Stärkt  und  fchwächt? 

G.:  Wie  jedes  Corroberans  zu  häufig  genommen; 
man  ftärkt  fich  zu  fehr. 

W.    Aber  das  Gift  darin. 

G.:    Es  gibt  kein  Gift. 

W. :    Ein  neues  Paradoxon? 


In  der  Vorlage  offenbar  irrig:    fchwächt. 


254 J.  D.  Falk.  [509 

G. :  Alles  kommt  auf  die  Dofis  an.  Auch  Champag? 
ner  kann  Gift  werden. 

W. :  Am  Ende  wird  der  Sophift  noch  gar  behaupten, 
wir  ftürben  nicht. 

G.:    Ei,  das  laffen  wir  fo  bleiben. 

W. :    (weggehend):    Das  wird  zu  toll! 

G.  (ihm  nachrufend):  Geh  nur,  Alter!  Sonft  provos^ 
ziere  ich  auf  unfre  Unfterblichkeit  und  Du  haft  verloren. 


1797. 

[509.]     Januar  2.  6.     Caroline  Wilken  geb.  Tifchbein. 

Bei  einem  feiner  Befuche  beij.  F.  A.  Tifchbein  brachte 
der  Fürfl  Leopold  von  Anhalt=DeJfau  auch  einmal  Goethe 
mit,  der  auf  kurze  Zeit  nach  Deffau  gekommen  war,  ob?: 
wohl  der  Fürft  deffen  Abneigung  gegen  den  Vater  kannte. 
Der  Fürft  hatte  aber  geäußert,  trotz  feines  Eigenfinnes 
folle  Goethe  den  Vater  befuchen.  An  der  Mutter  fand 
Goethe  viel  Gefallen  und  hatte  nachher  geäußert,  die 
Tifchbein  fei  eine  höchft  angenehme  Gegenwart. 

[510.]     April  Anfang.     W.  v.  Humboldt  an  feine  Gattin. 

Goethe  ift  unendlich  gut  und  freundfchaftlich,  und  es 
lebt  (ich  fehr  fchön  fo  nah  und  allein  mit  ihm.  Zwar  allein 
feh'  ich  ihn  gewöhnlich  nur  die  Abende,  aber  die  find 
auch  überaus  hübfch.  Er  ift  fo  vertraulich,  fpricht  fo  leicht 
über  die  Dinge,  die  ihm  die  liebften  find,  wird  fo  fchön 
davon  erwärmt  und  erfcheint  ganz,  zugleich  in  der  eignen 
Zuverficht  und  Befcheidenheit,  die  ihm  fo  ausfchließend 
eigen  find.  Auf  die  Freude  und  den  Nutzen,  den  ihm 
das  Zufammenleben  mit  Schiller  gibt,  kommt  er  oft  zurück. 
Nie  vorher,  fagt  er,  hätte  er  irgend  jemand  gehabt,  mit 
dem  er  fich  über  äfthetifche  Grundfätze  hätte  vereinigen 
können;  die  einzigen  wären  noch  Merck  in  Darmftadt 
und  Moritz  gewefen;  allein  obgleich  beide  mit  ihm  in 
Abficht  des  Takts  übereingekommen  wären,  fo  hätte  er  fich 
wenig  mit  ihnen  verftändigen  können.  Zwanzig  bis  fünf^ 
undzwanzig  Jahre  hätte  er  alfo  fo  ganz  über  fich  allein 
gelebt,  und  daher  fei  es  mit  gekommen,  daß  er  in  einer 
ganzen  langen  Zeit  fo  wenig  gearbeitet  habe.  Defto  rüftiger 
fcheint  er  jetzt.     Den  Plan  von  Hero   und  Leander   hat 


5 10] Jena.     1797. 255 

er  zwar  ziemlich  aufgegeben;  er  meint,  es  fei  ein  fremdes 
Sujet,  das  ßch  nie  recht  frei  würde  behandeln  laffen.  Aber 
dafür  hat  er  mir  feinen  andern  Plan  erzählt,  von  dem 
mir  fchon  Schiller  fagte.  Diefer  Stoff  ift  aus  höheren  Stän? 
den  genommen,  und  damit  er  doch  alles  Förmliche  los 
wird  und  eine  reine  und  volle  Natur  bekommt,  hat  er 
eine  Jagdpartie  gewählt.  Nur  bei  der  Jagd,  meint  er, 
zeige  fich  noch  etwas  dem  Heldenalter  gleichfam  Ähnliches, 
weil  doch  da  jeder  felbft  tätig  fein,  felbft  Hand  anlegen 
muß.  Er  läßt  einen  deutfchen  Erbprinzen,  der  mit  im 
Kriege  gewefen  ift,  im  Winter  zu  feiner  Familie  zurück:^ 
kommen.  Der  erfte  Gefang  fängt  -mit  einem  Frühftück 
an,  das  nach  einer  geendigten  Schweinsjagd  genommen 
wird.  In  den  Gefprächen,  die  bei  diefer  Gelegenheit  ent;; 
(tehen,  findet  er  Veranlaffung  über  Krieg,  über  das  Schicks; 
ial  der  Staaten  ufw.  zu  reden  und  fo  das  Intereffe  auf 
einen  weiten  Schauplatz  hinauszufpielen.  Plötzlich  kommt 
die  Nachricht,  daß  in  einem  benachbarten  kleinen  Stadt;: 
chen  beim  Jahrmarkt  Feuer  ausgekommen  fei  und  bei  der 
Verwirrung,  die  dadurch  entfteht,  wilde  Tiere  losgekommen 
wären,  die  man  da  fehen  ließ.  Nun  macht  fich  der  Prinz 
und  fein  Gefolge  auf  und  die  heroifche  Handlung  diefes 
epifchen  Gedichts  ift  nur  eigentlich  die  Bekämpfung  diefer 
Tiere.  ~  Mehr  vom  Detail  hat  er  mir  noch  nicht  gefagt. 
Zum  Hermann  wird  fich  diefes  Gedicht  fchön  ftellen.  Der 
Hermann  ift  fo  durchaus  rührend;  er  hat  überall  den  Men^ 
fchen,  das  Schickfal,  den  Wechfel,  dem  das  Privatglück 
unterworfen  ift,  zum  Hintergrunde,  dies  wird  prächtiger 
und  feuriger,  es  wird  weniger  idyllenartig  auf  einzelne 
Lagen,  friedlichen  Genuß,  noch  mehr  epifch  auf  große 
Maffen,  Staaten  und  Völker,  kühne  Unternehmungen  ufw. 
hinweifen.  Der  ganze  Ton  von  Anfang  herein  foll  dies  an? 
kündigen  und  jeder  Umftand  dazu  paffen.  So  erfcheint 
z.  B.  im  Hermann  die  Feuersbrunft,  fchon  wie  fie  ver;= 
ghmmt  und  nur  noch  der  letzte  Rauch  auffteigt;  in  diefem 
neuen  Gedicht  fchlagen  die  vollen  Flammen  noch  wild 
übereinander.  Was  diefen  Goethefchen  Gedichten  ein 
fo  fchönes  Leben  und  diefe  bewundernswürdige  Indivi^; 
dualität  gibt,  ift,  daß  er  nichts  fchildert,  was  er  nicht  ganz 
oder  doch  einigermaßen  gefehen  hat.  Davon  geht  er  über;: 
all  aus,  und  da  er  nun  auf  der  andern  Seite  diefen  feinen 
und  hohen  Kunftfinn  hat,  fo  erkläre  ich  mir  dadurch  die 
unnachahmliche  Haltung,  in  der  immer  Natur  und  Kunft 
I 


256  W.  V.  Humboldt.  [511 

bei  ihm  ftehen,  wo  nie  etwas  anderes,  als  die  volle  und 
reine  Natur  und  doch  nie  die  bloße  Natur,  nie  etwas 
Materielles  erfcheint. 

[511.]     April  Anfang.     W.  v.  Humboldt. 

Goethe  quält  mich  fo  fehr,  bis  Sonntag  früh  zu  blei? 
ben.  Er  wünfcht  es  auch  wegen  des  Hermanns  und  ftellt 
mir  ordentlich  rührend  vor,  daß  wir  uns  vielleicht  fehr 
lange  nicht  wiederfehen. 

[512. 1     April  Ende.     Caroline  v.  Humboldt  an  ihren  Gatten. 

Goethe  war  Sonnabend  und  Sonntag  hier  in  Jena. 
Er  war  einmal  bei  mir,  aber  traf  mich  nicht  allein.  Er 
ift  fehr  freundlich  und  grüßt  Dich  herzlich.  Alexander 
fcheint  ihn  bewogen  zu  haben,  jetzt  feine  optifchen  Ver? 
fuche  liegen  zu  laffen  und  feine  anatomifchen  herauszu* 
geben. 

[513.]     (April.)     Schiller. 

Goethe  wird  wohl  auch  Ende  Sommer  nach  Italien 
gehn,  da  der  Friede  jetzt  die  Reife  wieder  möglich  macht.  ^ 

Goethens  Hermann  und  Dorothea  erfcheint  diefe  Mi^ 
chaelismeffe  in  Kalenderform  bei  Vieweg  in  Berlin.  Er 
hat  diefe  Form  vorgezogen,  teils  weil  man  ihn  noch  ein? 
mal  fo  gut  dafür  bezahlen  kann,  teils  um  das  Gedicht 
auf  diefe  Weife  recht  in  Umlauf  zu  bringen. 

[514.]     Mai.     Caroline  v.  Humboldt. 

Das  Honorar  für  den  Hermann  ift  ungeheuer,  und 
doch  gibt  es  keinen  Preis  für  folch  eine  Arbeit.  Schiller 
meinte  auch,  es  fei  enorm  bezahlt,  aber  Vieweg  werde  es 
herausbringen,  noch  einen  anfehnlichen  Gewinft  davon 
zu  machen,  und  fei  unklug,  wenn  er  nicht  eine  Auflage 
von  4000  Exemplaren  veranftalte.  Er  erzählte  mir,  daß  er 
Goethe  gefragt,  ob  er  zufrieden  mit  dem  Honorar  fei, 
und  diefer  habe  ihm  geantwortet:  O  ja,  recht  gut,  ich 
kann  leidlich  zufrieden  fein.  Etwas  Außerordentliches 
habe  Goethe  alfo  gar  nicht  darin  gefunden. 

[515.]     Mai  22.     Caroline  v.  Humboldt  an  ihren  Gatten. 

Goethe  ift  hier,  den  Mittag  ißt  immer  noch  jemand 
mit  und  abends  ift  der  große  Zirkel.  — 


520] Jena  -  Weimar.    1797. 257 

Goethe  war  heut  hier  und  grüßt  herzHch.  Er  ift  fehr 
gut  geftimmt,  und  ich  bin  immer  ganz  verhebt  in  feine 
Ichönen  Augen.  Er  dankt  taufendmal  für  Deine  Mühe 
wegen  des  Hermanns. 

[516.J     Mai  22.     Caroline  v.  Humboldt  an  ihren  Gatten. 

Goethe  ift  fehr  freundUch  und  gut  und  hat  ein  gar 
niedhches  neues  Gedicht:  Der  neue  Paufias  und  fein  Blu^ 
menmädchen,  für  den  Almanach  gemacht  und  uns  letzt 
vorgelefen.     Er  grüßt  Dich  herzhch. 

[517.]     Mai  (27).     K.  A.  Böttiger. 

Jeder  Menfch  hat  einen  chien  ä  tondre,  wie  es  die  Fran? 
zofen  nennen,  fagte  Goethe  Schleusnern,  der  fich  Rein* 
hardts  [Reichavdts?]  annahm.  Man  hat  ja  wohl  felbft  et^: 
was  der  Art,  aber  man  fpricht  nicht  gern  davon.  —  Die 
Gefchichte  mit  den  Sachfenhäufern,  die  über  den  Exftu? 
denten  herfielen,  der  auf  der  Gaffe  wetzte,  ihn  aber  herz* 
lieh  bedauerten,  als  fie  hörten,  er  fei  voll  fußen  Weins. 

[518.]     (Mai.)     Schiller. 

Goethe  iß  feit  mehreren  Wochen  hier  in  Jena,  den 
ich  vor  feiner  italienifchen  Reife  jetzt  wohl  zum  letzten* 
mal  fehe.  Er  ift  beinah'  entfchloffen,  fich  in  zwei  Mo* 
naten  auf  den  Weg  zu  machen.  ^^ 

Ich  habe  vor  einiger  Zeit  Aristoteles  Poetik,  zugleich 
mit  Goethen,  gelefen. 

[519.]     Juni  Antang.     Schiller  an  Ch.  G.  Körner. 

Ich  fende  Dir  Humboldts  Brief  gleich  wieder  zurück, 
daß  Du  in  der  Antwort  nicht  aufgehalten  wirft;  ich  zeigte 
ihn  gern  Goethen,  dem  es  immer  angenehm  ift,  über  fich 
urteilen  zu  hören. 

Was  Du  über  feine  Braut  von  Korinth  fchreibft,  ift      ^ 
im  ganzen  unfer  aller  Meinung,  und  Du  nimmft  das  Ge* 
dicht  noch  äfthetifcher,  als  es  vielleicht  gemeint  war.    Im 
Grunde  war's  nur  ein  Spaß  von  Goethe,  einmal  etwas  zu 
dichten,  was  außer  feiner  Neigung  und  Natur  liegt. 

[520.]     Juni  Mitte.     Charlotte  v.  Stein. 

Über  feine  italienifche  Reife  fcheint  er  unentfchloffen, 
~  indeffen  will  er  nach  der  Schweiz;   vielleicht  will  er's 
mir  nicht  fagen,  daß  er  dahin  will;   denn  es  ift  in  feiner 
Art,  unnötig  Geheimniffe  zu  machen. 
I  17 


258 Schiller. [521 

[521.]     Juli  17.     Schiller  an  Amalie  v.  Imhoff. 

Geheimrat  Goethe  wünfchte,  daß  Sie  morgen  Mittag 
mit  ihm  und  mir  fein  möchten  und  Ihre  Gedichte  mit^ 
brächten.  ^^  Auch  wünfchte  er,  daß  Sie  zeitig,  fpäteftens 
um  1 1  Uhr  kommen  möchten,  damit  wir  Zeit  haben,  recht 
viel  zu  fprechen. 

[522.]     Juh  11./18.     Schiller  an  H.  Meyer. 

Was  wir  trieben  und  wie  es  um  uns  ftand,  das  ers^ 
fuhren  Sie  von  unferm  Freund,  und  der  wird  Ihnen  auch 
gefagt  haben,  wie  fehr  Sie  uns  gegenwärtig  waren.  Von 
ihm  habe  ich  mit  herzlichem  Anteil  vernommen,  was  Sie 
betrifft,  wie  treiflich  Sie  Ihre  Zeit  benutzten  und  welche 
Schätze  Sie  für  uns  alle  fammelten. 

Auch  wir  waren  indes  nicht  untätig,  wie  Sie  wiffen, 
und  am  wenigften  unfer  Freund,  der  fich  in  diefen  letzten 
Jahren  wirklich  felbft  übertroffen  hat.  Sein  epifches  Ge^^ 
dicht  haben  Sie  gelefen;  Sie  werden  geftehen,  daß  es  der 
Gipfel  feiner  und  unfrer  ganzen  neueren  Kunft  ift.  Ich 
hab'  es  entfiehen  fehen  und  mich  faft  ebenfofehr  über 
die  Art  der  Entftehung  als  über  das  Werk  verwundert. 
Während  wir  andern  mühfelig  fammeln  und  prüfen  muffen, 
um  etwas  Leidliches  langfam  hervorzubringen,  darf  er  nur 
leis  an  dem  Baume  fchütteln,  um  die  fchönften  Früchte, 
reif  und  fchwer,  zufallen  zu  laffen.  Es  ift  unglaublich, 
mit  welcher  Leichtigkeit  er  jetzt  die  Früchte  eines  wohl^ 
angewandten  Lebens  und  einer  anhaltenden  Bildung  an 
fich  felber  einerntet,  wie  bedeutend  und  ficher  jetzt  alle 
feine  Schritte  find,  wie  ihn  die  Klarheit  über  fich  felbft 
und  über  die  Gegenftände  vor  jedem  eiteln  Streben  und 
Herumtappen  bewahrt.  ^^ 

Sie  werden  mir  aber  auch  darin  beipflichten,  daß  er 
auf  dem  Gipfel,  wo  er  jetzt  fteht,  mehr  darauf  denken 
muß,  die  fchöne  Form,  die  er  fich  gegeben  hat,  zur  Dar^ 
ftellung  zu  bringen,  als  nach  neuem  Stoffe  auszugehen, 
kurz,  daß  er  jetzt  ganz  der  poetifchen  Praktik  leben  muß. 
Wenn  es  einmal  einer  unter  Taufenden,  die  danach  ftres^ 
ben,  dahin  gebracht  hat,  ein  fchönes  vollendetes  Ganzes 
aus  fich  zu  machen,  der  kann  meines  Erachtens  nichts 
Befferes  tun,  als  dafür  jede  mögliche  Art  des  Ausdrucks 
zu  fuchen,  denn  wie  weit  er  auch  noch  kommt,  es  kann 
doch  nichts  Höheres  geben  —  ich  geftehe  daher,  daß  mir 


525j  Frankfurt  -  Stuttgart.     1797. 259 

alles,  was  er  bei  einem  längeren  Aufenthalt  in  Italien  für 
gewiffe  Zwecke  auch  gewinnen  möchte,  für  feinen  höch^ 
ften  und  nächften  Zweck  doch  immer  verloren  fcheinen 
würde. 

[523.]     Auguft  11, 12.     H.  S.  Hüsgen  an  J.  J.  Gerning. 

Letzt  abgewichenen  Freitag  morgen  (alfo  den  11.)  er^^ 
fchien  ganz  unerwartet  ein  Fremder  in  meinem  Zimmer, 
den  ich  vor  feinem  wohlgemäfteten  Bauch  nicht  erkannte, 
bis  ihn  feine  Stimme  bei  der  Frage  verriet:  Kennen  Sie 
denn  Ihren  alten  Freund  nicht  mehr?  und  liehe  da,  es 
war  Goethe  in  eigener  hoher  Perfon  und  ungeachtet  er 
eine  geraume  Zeit  bei  mir  blieb,  fo  bliebe  er  doch  er^ 
bärmlich  fteif  und  zurückhaltend.  Das  einzige,  was  er 
mir  durch  feine  Zunge  mitteilte,  war,  daß  er  gefonnen 
fei,  in  die  Schweiz  zu  reifen.  Als  ich  ihn  am  andern 
Tage  befuchte,  war  er  redfprächiger  und  gefühlvoller.  — 
Was  halten  Sie  aber  von  dem  fonderbaren  Verfahren 
Goethens,  der  vor  feiner  Abreife  etwas  tat,  was  er  in 
feinem  ganzen  48  jährigen  Leben  nicht  getan  hat,  nämlich 
alte  Briefe  durch  Feuer  vernichten,  darunter  ihn  diejenigen 
des  Selbfitöters  Merck  wegen  ihres  Geiftesinhalts  zwei  Tage 
Überwindung  kofteten. 

[524.J     Auguft.     Elifabeth  Goethe. 

Mein  Sohn  wird  jetzt  in  Jena  fein,  darüber  freue  ich 
mich,  denn  er  hat  mir  bei  feinem  Hierfein  gefagt,  daß 
feine  Geiftesprodukte  dort  zur  Reife  kommen. 

[525.1     September  1.6.     J.  H.  Dannecker  an  W.  v.  Wolzogen. 

Sie  haben  mich  fchon  längft  aufgefordert,  Ihnen  Nach:« 
rieht  über  des  Herrn  Geheimen  Rats  von  Goethe  Aufent:: 
halt  in  Stuttgart  zu  geben.  Was  foll  ich  Ihnen  fagen? 
Sie  kennen  feine  ungeheure  Kunftkenntnis ,  feine  Liebe 
zum  Großen,  Vollendeten,  Charakteriftifchen ,  Schönen. 
O,  ich  bin  äußerft  glücklich,  einige  fchöne  Meinungen, 
die  mir  nun  Gefetze  bleiben,  von  ihm  gelernt  zu  haben; 
ja,  was  er  mir  fagte,  war  in  mir  zwar  wie  ein  Nebel,  fchon 
ehe  er  zu  mir  kam,  aber  daß  ich's  nicht  ausdrücken  konnte ; 
nun  wüßte  ich's  gleich  zu  Taufenden  anzuwenden.  Das 
ift  gewiß,  daß  ich  in  meinem  Leben  nichts  mehr  aus*: 
führen  werde,  das  nicht  fozufagen  in  fich  eine  Welt  aus^ 
macht.  Täglich  waren  wir  beifammen,  und  er  machte  mir 
I  17* 


260 J.  H.  Dannecker. [526 

ein  Kompliment,  das  ich  für  groß  halte,  indem  er  mir 
fagte:  nun  habe  ich  Tage  hier  verlebt,  wie  ich  fie  in  Rom 
lebte,  f^  Meinem  Schwager  Rapp  und  feiner  Frau,  meinem 
lieben  Weibchen  und  mir  las  er  eines  Abends  feine  Elegie 
Hermann  und  Dorothea  vor. 

[526.]     September  5.     Frau  Weckherlin, 

Frau  Regierungsrat  Weckherlin,  eine  Tochter  Rapps, 
f^  erzählte  aus  der  Familienerinnerung  jenes  Abends,  da 
Goethe  ihnen  Hermann  und  Dorothea  vorlas,  ihr  Vater  habe 
ein  im  Zimmer  anwefendes  5  jähriges  Schwefterchen  ent^ 
fernen  wollen,  damit  es  die  Vorlefung  nicht  fiöre.  Goethe 
legte  Fürbitte  für  das  Mädchen  ein,  das  dann  bleiben 
durfte  und  zu  den  Füßen  der  Mutter  fitzend  lautlos  zu:^ 
hörte.  Da  habe  es  nun  den  Dichter  hoch  erfreut,  als 
das  Kind  nach  Beendigung  des  Vortrags  bat,  der  Herr 
möge  doch  weiter  lefen. 

[527.]     Oktober  16./22.     K.  F.  Meyer. 

Auf  der  rechten  Seite  der  unteren  Hälfte  des  Zürichs 
fees  liegen  nebeneinander  zwei  Landhäufer:  Mariahalde, 
wo  Graf  Benzel^Sternau  fein  Leben  beendigte,  und  die 
Schipf,  welche  Jakob  Efcher,  ein  genialer  Mafchinen? 
fabrikant,  befaß.  Diefen  kannte  ich  noch  in  feinen  letzten 
Lebensjahren  —  er  überfchritt  die  Achtziger.  Als  mich 
der  greife  Efcher  einft  durch  den  Schipffaal  führte,  er;: 
zählte  er  mir,  Goethe  habe  —  zu  Ende  des  vorigen  Jahr^ 
hunderts  —  auf  einem  Befuche  in  der  Schipf,  von  feinem 
Freunde  Meyer,  dem  Kunfchtmey er ,  wie  ihn  fpäter  die 
Weimarer  hießen,  gebracht,  diefen  Saal,  in  deffen  Hinter^ 
grund  er  eine  Orgel  erblickte,  mit  den  luftigen  Worten : 
Hier  muß  man  tanzen,  betreten  und  dann  den  ganzen 
großen  Raum  im  Tanzfehritte  durchmeffen. 

Natürlich  wollte  ich  nun  mehr  von  Efchers  Beziehungen 
zu  Goethe  wiffen.  Der  alte  Herr  hatte  aber  —  den  Ein^ 
druck  der  imponierenden  Erfcheinung  feines  Gaftes  aus^^ 
genommen  —  nicht  viel  zu  erzählen;  nur  ein  Gefchicht^ 
chen  hatte  fich  unauslöfchlich  in  fein  Gedächtnis  gegraben. 
Ich  laffe  ihn  felbft  reden  in  der  vagen  Form,  deren  fich 
der  Greis  bediente,  die  ich  aber,  Wort  um  Wort,  ver^ 
bürgen  kann. 

Wir  machten,  berichtete  er,  einen  Ausflug  von  Zürich 
nach  der  gute  zwei  Stunden  entfernten  Albishöhe.    Vor 


550] Zürich.     1797. 261 

dem  Tore  der  Stadt  —  damals  war  Zürich  noch  befeftigt 

—  betraute  Goethe  einen  jungen  Mann,  der  ihn  begleitete, 
mit  einem  Fernrohre.  Tragen  Sie  dazu  Sorge!  fchärfte 
er  ihm  ein.  Als  wir  auf  dem  Rückwege  wieder  vor  dem 
Tore  anlangten,  fragte  Goethe  den  jungen  Herrn:  Wo 
haben  Sie  das  Perfpektiv?  Diefer  befühlte  feine  Tafchen, 
nirgends  war  es  zu  finden.  —  Es  liegt  auf  dem  Tifchchen 
vor  dem  Spiegel  im  Eßfaale  des  Albishaufes.  —  Gehen 
Sie  gleich  zurück  und  bringen  Sie  es.   Der  junge  Mann  ging. 

Das  fand  ich  etwas  hart,  fchloß  Efcher  fein  Gefchicht? 
chen,  aber  Goethe  wollte  feinem  jungen  Begleiter  eben 
eine  tüchtige  Lehre  geben. 

[528  ]     Oktober  22.     G.  Geßner. 

Ich  ging  in  den  Schönenhof,  in  der  fonderbaren  Er^ 
Wartung,  da  vielleicht  Goethe  zu  fehen.  Er  kam.  Stirne 
und  Augen  Mofe's,  lauter  Geift  und  Feuer  —  im  Munde 
etwas  Verzogenes,  woran  er  felbft  muß  fchuld  fein.  Wir 
fprachen  von  Fichtianismus  —  feiner  Unheilbarkeit  —  von 
Pvofejfov  Niethammer  in  Jena^  der  ein  fehr  moralifcher 
Menfch  fein  foll.  Dann  von  den  Franken,  er  urteilte 
äußerft  vernünftig  über  den  Extremzufiand  ihres  Geiftes, 
wo  alle  Moral  befeitigt  wird.  Er  erzählte  von  feinem 
mitgemachten  Feldzug  —  äußerft  feine  pfychologifche  Be^ 
merkungen.  Der  Krieg  zeigt  die  Menfchen  in  der  rohen 
Stärke  aller  Leidenfchaften.    Viel  Edukation  —  Gehorfam 

—  Menfchenverfchiedenheit.  Ich  begleitete  ihn  noch  zum 
Gaflhof  zum  Schwert. 

[529.]     Oktober  23.     G.  Geßner. 

Abends  um  7  Uhr  wieder  im  Schönenhof.  Goethe 
war  da  zum  Nachteffen;  er  fchien  nicht  fehr  im  Trumpf 
zu  fein.  Ich  fragte  ihn  über  Voffens  Überfetzung,  die 
ihm  nach  guten  Grundfätzen  gemacht  fchien.  Über  feinen 
Hermann  —  über  diefe  Art  der  Dichtung.  Am  Tifch 
über  allerlei  gefprochen.  Erft  nach  10  Uhr  weg.  Ich  be^ 
gleitete  Goethe  noch  bis  zum  Schwert. 

[530.]     Oktober  24.    G.  Geßner. 

Nette  fagte  mir,  daß  Goethe  mich  habe  befuchen 
wollen;   ich  fchrieb  ihm  ein  Billet. 

I 


262  G.  Geßner.  [531 

[531.]     Oktober  25.     G.  Geßner. 

Ich  ging  zum  Schwert  zu  Goethe.  Er  fprach  mit  mir 
über  Ruth*,  ich  täte  wohl,  wenn  ich  die  erläuternde  Stelle 
in  den  Text  verwöbe,  was  jetzt  noch  möglich  wäre. 

[532.]     November  6./15.    J.  K.  Ofterhaufen  an  J.  B.  Erhard. 

Goethe  war  über  acht  Tage  hier  in  Nürnberg.  Ich 
fprach  ihn  und  fand  nichts  von  dem  Stolz,  den  man  ihm 
vorwirft.  Wir  fprachen  von  Schiller.  Er  fprach  mit  En^ 
thufiasmus  von  ihm  und  feinen  philofophifchen  Ideen  und 
bedauert,  daß  er  jle  nicht  bekannt  machte,  hoffte  aber, 
daß  er  noch  imftande  fein  würde,  ihn  dazu  zu  überreden. 
—  Ob  die  Welt  viel  dabei  gewinnen  wird,  wenn  fie  den 
Probeftücken  in  den  Hören  gleichen?  —  Ich  fagte  ihm, 
daß  ich  bedaure,  Schiller  nicht  perfönlich  kennen  gelernt 
zu  haben,  indem  er  nicht  zu  Jena  war,  als  ich  da  war, 
und  als  er  zu  Nürnberg  war,  wo  er  bei  Dir  war,  wäre 
ich  nicht  hier  gewefen.  Als  ich  Deinen  Namen  nannte, 
fragte  er  mit  Lebhaftigkeit:  Was  macht  Erhard?  Ift  er 
hier?  Das  ift  auch  ein  vortrefflicher  Kopf!  Ich  fagte 
ihm  von  Deiner  Orts^  und  Gefchäftsveränderung.  Er 
entgegnete:  Ein  fo  vortrefflicher  Kopf  wie  diefer  kann 
fich  in  alle  Sättel  werfen.  Daß  ich  mir  gegen  Goethe 
auf  Deine  Freundfchaft  viel  zugute  tat,  wirft  Du  mir  nicht 
verdenken.  Er  fagte  gleich  anfangs  unferer  Unterhaltung 
zu  mir:  Sie  finden  wohl  unter  den  Nürnberger  Ärzten 
wenig  Unterhaltung,  denn  fie  fcheinen  fleh  nicht  fonder=: 
lieh  mit  Gelehrfamkeit  und  Literatur  abzugeben,  worauf 
ich  mich  auch  expektorierte,  und  als  wir  von  Dir  fprachen, 
fo  fagte  ich:  Sie  können  die  hiefigen  Ärzte  daraus  voll^ 
kommen  kennen  lernen,  wenn  ich  Ihnen  fage,  daß  fie  den 
Doktor  Erhard  deswegen  nicht  in  ihr  Kollegium  auf* 
nahmen,  weil  er  nicht  zunftmäßig  drei  Jahre  auf  Uni:: 
verfitäten  war. 

[533.]     Nov.  19./Dez.  19.    Jean  Paul  an  Chr.  Otto. 

Was  ich  Dir  von  Goethe  verfprochen  ift  unbedeutend ; 
er  urteilt  über  den  Hesperus  günftig,  fo  wie  ich  einmal 
von  Ahlefeldt  hörte  und  Dir  nicht  fagen  wollte;  ferner, 
er  fähe  doch,  daß  es  mir  mit  dem  Guten  ernft  wäre,  er 
bekäme  aber  Gehirnkrämpfe  von  dem  Werfen  aus  einer 


*  Eine  biblifche  Dichtung,  an  der  Geßner  arbeitete. 


535]  Weimar.     1797.  263 

Wiffenfchaft  in  die  andere  —  ich  zeige  mein  Wiffen  zu 
fehr ;  er  wifle  auch  ein  wenig,  hefere  aber  nur  das  Refultat ; 
wenn  er  über  das  Irdifche  in  den  Himmel  gehoben  fei, 
komme  auf  einmal  wieder  ein  Spaß. 

[534.]     Spätherbft.     J.  Falk. 

So  wurden  einfi  auf  dem  Landfitze  der  verwitweten 
Herzogin  Amalie  zu  Tiefurt  Die  Ritter  des  Ariftophanes 
durch  Wieland,  der  fie  für  fein  Athenäum  überfetzt,  vor^ 
gelefen.  Es  war  im  Spätherbft  und  Egidi  vorbei.  Nun 
traf  es  fich,  daß  den  regierenden  Herzog,  der  eben  von 
der  Jagd  zurückkehrte,  fein  Weg  durch  Tiefurt  führte. 
Er  kam,  als  die  Vorlefung  bereits  angegangen  war.  Wegen 
der  vorgerückten  Jahreszeit  waren  die  Zimmer  geheizt. 
Der  Herzog,  der  aus  freier  Luft  kam  und  dem  es  in  der 
Stube  zu  heiß  wurde,  öffnete  die  Flügel  eines  Fenfters. 
Einige  Damen,  die  leicht  bekleideten  Achfeln  in  feidne 
Tücher  gehüllt,  die  diefen  Fenftern  zunächft  faßen,  be? 
klagten  fich  kaum  über  den  Luftzug,  als  auch  fchon  Goethe 
mit  bedachtfamen  Schritten,  um  die  Vorlefung  auf  keine 
Weife  zu  ftören,  fich  dem  Orte  näherte,  woher  der  Zug 
kam,  und  die  Fenfter  leife  wieder  zufchloß.  Des  Herzogs 
Geficht,  der  indes  auf  der  andern  Seite  des  Saales  ge? 
wefen  war,  verfinfterte  fich  plötzlich,  als  er  wieder  zurück? 
kehrte  und  fah,  daß  man  eigenmächtig  feinen  Befehlen 
zuwiderhandelte.  Wer  hat  die  Fenfter,  die  ich  vorhin 
eröffnet,  hier  wieder  zugemacht?  fragte  er  die  Bedienten 
des  Haufes,  deren  keiner  jedoch  auch  nur  einen  Seiten? 
blick  auf  Goethe  zu  tun  wagte.  Diefer  aber  trat  fogleich 
mit  jenem  ehrerbietig  fchalkhaften  Ernfte,  wie  er  ihm  eigen 
ift,  und  dem  oft  die  feinfte  Ironie  zu  gründe  liegt,  vor 
feinen  Herrn  und  Freund  und  fagte:  Ew.  Durchlaucht 
haben  das  Recht  über  Leben  und  Tod  der  fämtlichen 
Untertanen.  Über  mich  ergehe  Urteil  und  Spruch!*  Der 
Herzog  lächelte,  und  die  Fenfter  wurden  nicht  wieder  ge? 
öffnet. 

[535.]     Dezember  28./29.     K.  A.  Böttiger. 

Bei  der  Betrachtung  der  trefflichen  Kopie  der  Ma? 
donna  della  seggiola  in  Goethes  Haufe  glaubte  Wieland, 
fo  eine  weibliche  Geftalt  wie  die  Madonna  fei  nirgends 

*  Nach  andrer  Lesart:   Aber  erft  nach  Urteil   und  Spruch. 


264 K.  A.  Böttiger. [536 

in  Deutfchland  anzutreffen.  Meyer  behauptete :  Wir  fänden 
fie  überall.  Goethe  fetzte  die  Erklärung  hinzu :  Die  Künftler 
find  wie  die  Sonntagskinder;  nur  fie  fehen  Gefpenfter. 
Wenn  fie  aber  ihre  Erfcheinung  erzählt  haben,  fo  fieht 
fie  jedermann. 

[536.]     (Dezember.)     A.  W.  v.  Schlegel. 

Als  ich  Goethen  zuerft  meine  Überfetzung  von  Shake^ 
fpeares  Romeo  und  Julie  noch  in  der  Handfchrift  mitteilte, 
hatte  er  große  Luft,  das  Stück  auf  die  Bühne  zu  bringen; 
doch  unternahm  er  es  nicht,  weil  kurz  zuvor  eine  junge 
liebenswürdige  Schaufpielerin,  Chvißiane  Becker  geh.  Neu^ 
mann,  gefi:orben  war,  der  er  damals  einzig  einen  voll^ 
kommenen  Erfolg  zutraute. 

[537.]     Ende  d.  J.     H.  Meyer  an  K.  L.  v.  Knebel. 

Beiliegend  erhalten  Sie  -^  die  Zeichnung,  welche  als 
Titelkupfer  für  den  Properz  dienen  kann.  ^^  Was  die 
Zeichnung  nun  felbfi:  betrifft,  fo  werden  Sie  wohl  erkennen, 
daß  Goethes  Siegelring  dabei  zum  Mufter  gedient  hat. 
Die  Vorftellung  fcheint  mit  dem  allgemeinen  Geifte  in 
Properz's  Werken  verwandt,  und  gleichfam  anzukündigen, 
was  man  zu  erwarten  hat ;  deswegen  hat  fie  uns  gefchienen, 
ganz  fchicklich  zum  Titelblatt  dienen  zu  können.  '^  Wenn 
die  Zeichnung  geftochen  ift  ^^  fo  wünfcht  Goethe  folche 
zu  bekommen. 

[538.]     H.  Steffens. 

Das  Athenäum  ward  fortgefetzt.  ^  Befonders  war 
die  fchneidende  Kritik  von  Jacobis  Woldemar  und  Alwills 
Brieffammlung  durch  Fr.  Schlegel  geeignet,  ein  großes 
Auffehen  zu  machen.  Es  fei,  fagte  Goethe,  diefe  Kritik 
mit  eifernen  Griffeln  in  Metalltafeln  eingefchrieben. 


1798. 

[539.]     Februar  18./25.     C.  G.  v.  Brinckmann. 

Ich  hahe  felbft  das  Glück  gehabt,  bei  einem  vier^ 
zehntägigen  Aufenthalt  in  Weimar  1798  den  großen  Mann 
beinahe  täglich  zu  fprechen.  Mit  der  herablaffendften  Güte 
unterhielt  er  fich  öfters  mit  mir  über  feine,   uns  andern 


542]  Weimar  -  Jena.    1798.  265 

noch  unbekannte  Jugendgefchichte,  von  Eltern  und  Groß:; 
mutter;  dann  wieder  von  feinem  Anteil  an  meinem  Vater*; 
land,  wohl  mit  demZufatz:  Ich  bin  überhaupt  den  Schweden 
immer  gewogen  gewefen. 

[540.]     März  Anfang.     Charlotte  v.  Schiller. 

Goethe  fchiebt  feine  Pläne,  nach  Italien  zu  reifen, 
auch  auf,  fo  lange  es  noch  fo  übel  ausfieht.  Ich  wollte 
nur,  Meyer  wäre  zurück.  Diefer  wird  wahrfcheinlich 
immer  denken,  Goethe  kömmt,  und  fo  kann  fich  fein 
Aufenthalt  doch  verzögern.  —  Goethe  ift  jetzt  hier,  und  ich 
hoffe,  er  vollendet  fein  großes  epifches  Gedicht  Achilleis 
hier,  was  fehr  fchön  ift.  Es  ift  einem  oft,  als  hörte  man 
den  Homer. 

[541.]     März  20./28.     Schiller  an  J.  F.  Cotta. 

Goethe  und  Meyer  wollen  ein  gemeinfchaftliches 
Werk  über  ihre  Kunfterfahrungen  in  einer  Suite  von  kleinen 
Bändchen  herausgeben  [Propyläen]  und  diefen  Verlags^ 
artikel  kann  ich  Ihnen  anbieten.  Die  Schrift  wird  in 
kleinen  Abhandlungen  z.  B.  über  den  Laokoon,  über  die 
Niobe  ufw.  gefchrieben  fein.  Auch  ich  werde  Anteil  daran 
nehmen  und  mehrere  Auffätze  dazu  geben.  Von  Zeichst 
nungen  wird  es  nicht  viel  enthalten.  Goethe  ift  aber 
entfchloffen,  den  Cellini,  den  er  nun  ganz  überfetzt  und 
mit  bedeutenden  hiftorifchen  Erläuterungen  begleitet  hat, 
an  die  Suite  diefes  Werks  anzuhängen.  Es  fragt  fich  nun, 
ob  Sie  Luft  dazu  haben,  und  welche  Bedingungen  Sie 
machen  können,  denn  wohlfeil  gibt  es  Goethe  nicht.  Auf 
die  nächfte  Oftern  1799  gedenkt  er  vier  kleine  Oktave 
bändchen,  jeden  etwa  zu  fiebenzehn  Bogen,  fertig  zu 
bringen,  wobei  aber  noch  nichts  von  Cellini  ift. 

[542.]     März  20./April  6.     Schiller  an  Ch.  G.  Körner. 

Deine  Kritik  des  Almanachs  hat  Goethen  viel  Ver^ 
gnügen  gemacht,  er  hat  fich  lange  damit  befchäftigt.  In 
dem  aber,  was  Du  über  den  Ibykus  und  Polykrates  fagft, 
und  was  ich  auch  für  gar  nicht  unbegründet  halte,  ift  er 
nicht  Deiner  Meinung  und  hat  fich  beider  Gedichte  nach^ 
drücklich  gegen  Dich  und  gegen  mich  felbft  angenommen. 
Er  hält  Deinen  Begriff,  aus  dem  Du  fie  beurteilft  und 
tadelft,  für  zu  eng  und  will  diefe  Gedichte  als  eine  neue, 
die  Poefie  erweiternde  Gattung  angefehen  wiffen.  Die 
I 


266 Schiller. [545 

Darfteilung  von  Ideen,  fo  wie  fie  hier  behandelt  wird, 
hält  er  für  kein  Dehors  der  Poefie  und  will  dergleichen 
Gedichte  mit  denjenigen ,  welche  abftrakte  Gedanken 
fymbolifieren,  nicht  verwechfelt  wiffen,  ufw.  Dem  fei  wie 
ihm  wolle,  wenn  auch  die  Gattung  zuläfßg  ift,  fo  ift  fie 
wenigftens  nicht  der  höchften  poetifchen  Wirkung  fähig, 
und  es  fcheint,  daß  fie  deswegen  etwas  außerhalb  der 
Poefie  zu  Hülfe  nehmen  muffe;  um  jenes  Fehlende  zu 
ergänzen. 

[543.]     Mai  (20).     Schiller. 

Goethe  ifi:  feit  8  Tagen  hier  und  wird  noch  wohl 
einen  Monat  bleiben.  Ein  Manufkript  von  Humboldt 
über  Hermann  und  Dorothea,  «^  befchäftigte  uns  indeffen 
fehr,  weil  es  die  wichtigfi:en  Fragen  über  poetifche  Dinge 
zur  Sprache  bringt. 

[544.]     Mai  letztes  Drittel.     Schiller  an  Cotta. 

Goethe  fchickt  Ihnen  hier  das  Schema  von  dem  Werk, 
das  er  herausgeben  will.  Sie  erfehen  daraus,  wie  ernfi:^ 
lieh  und  bedeutend  die  Sache  wird,  und  daß  es  eine 
wichtige,  auf  keinen  Fall  riskante  Unternehmung  für  Sie 
werden  muß.  Eine  Art  von  Zeitfchrift,  die  Goethe  heraus^: 
gibt,  muß  einfchlagen  und  muß  Ihrem  Verlag  einen  neuen 
Glanz  verfchaffen. 

Die  Früchte  meiner  Finanznegotiation  mit  ihm  find 
diefe,  daß  er  für  jedes  Stück  all  Bogen  fechzig  Karolin 
fich  ausbedingt.  Der  Kontrakt  kann  von  Ihnen  auf  eine 
beliebige  Anzahl  von  Stücken  gefi:ellt  werden,  worauf  man 
ihn  wieder  erneuern  oder,  wenn  das  Werk  gut  geht,  zu 
feinem  Vorteile  fteigern  kann.  Die  Summe  wünfcht  er 
nach  Ablieferung  des  jedesmaligen  Manufkripts  zu  einem 
ganzen  Stück  bezahlt  zu  bekommen,  es  ifi  ihm  aber  ganz 
eins,  ob  in  Gold  oder  in  Laubtalern.  Die  Lettern,  wo;: 
raus  der  Haupttext  der  Hören  gedruckt  ift,  gefielen  ihm 
am  heften.  24  Zeilen  wünfcht  er  die  Seite  ftark,  aber 
das  Format  fo  groß  wie  das  der  Hören.  Alles  übrige 
werden  Sie  in  feinem  eigenen  Schema  finden.  Das  Werk 
wird  wahrfcheinlich  den  Titel:  Der  Künftler,  erhalten, 
und  fchon  dadurch  einen  weiten  Kreis  um  fich  ziehen.  ^ 
Goethe  ift  lebhaft  für  die  Sache  intereffiert  und  wünfcht 
bald  zu  wiffen,  wie  er  daran  ift. 


549]  Weimar  -  Jena.    1798.  267 

[545.]     Juni.     Charlotte  Schiller. 

Emilie  Gore  erzählte  mir,  daß,  als  fie  letzt  zugleich 
mit  Goethe  bei  Hof  aß,  er  mit  Ausdruck  fußen  Weins 
nach  der  Tafel  vor  fie  trat  und  zu  ihrer  größten  Ver? 
wunderung  fagte:  Ma  chere,  seule,  unique  amie! 

[546.1     Juni.     Schiller  an  W.  v.  Humboldt. 

Auch  meint  Goethe,  und  mit  Grunde  deucht  mir, 
daß  man  die  Natur  des  Epos  vollftändig  aus  dem  Be^: 
griff  und  den  Circumstantien  des  Rhapfoden  und  feines 
Publikums  deduzieren  könne,  und  daß  fogar  die  Roheit 
und  die  gemeine  ungebildete  Natur  des  ihn  umgeben^ 
den  Auditoriumsauf  die  epifche  Form  einen  entfcheiden? 
den  Einfluß  habe,  wenigftens  auf  die  homerifche  gehabt 
habe,  die  der  Kanon  für  alle  Epopee  ift.  ^ 

Er  wollte  Ihnen  mit  mir  fchreiben,  hat  aber  in  Wei:; 
mar  zu  tun  bekommen.  Ihre  Schrift  hat  ihn,  wie  Sie  leicht 
denken  können,  fehr  angenehm  gerührt. 

[547.]     Auguft  erfte  Hälfte.     Schiller. 

Ich  habe  Goethen  diefer  Tage  die  zwei  letzten  Akte 
des  Wallenfteins  gelefen,  foweit  fie  jetzt  fertig  find,  und 
den  feltenen  Genuß  gehabt,  ihn  fehr  lebhaft  zu  bewegen, 
und  das  ift  bei  ihm  nur  durch  die  Güte  der  Form  mög? 
lieh,  da  er  für  das  Pathetifche  des  Stoffes  nicht  leicht  emp^ 
fänglich  ift. 

[548.]     Um  Jahresmitte.     K.  A.  Böttiger. 

Klarheit  ift  jetzt  das  Lieblingswort  von  Goethe. 

[549.]    Auguft  Ende.    Jean  Paul  an  Chr.  Otto. 

Apropos!  ich  war  auch  bei  Goethe,  der  mich  mit 
ganz  ftärkerer  Verbindlichkeit  und  Freundlichkeit  aufnahm, 
als  das  erftemal.  Ich  war  dafür  freier,  kühner  und  weniger 
voll  Liebe,  und  darum  in  mich  gegründeter.  Er  fragte 
mich  nach  der  Art  meiner  Arbeiten,  weil  es  völlig  feinen 
Kreis  überfchritte ;  wie  mir  Fichte  gefallen.  Über  letzteren: 
Er  ift  der  größte  neuere  Scholaftiker  —  zum  Poeten  wird 
man  geboren,  aber  zum  Philofophen  kann  man  fleh  machen, 
wenn  man  irgend  eine  Idee  zur  transfzendenten,  fixen  macht. 
—  Die  Neueren  machen  das  Licht  zum  Gegenftand,  den 
es  doch  nur  zeigen  foU.  —  Er  wird  nach  vier  Monaten 
I 


268  Jean  Paul.  [550 

den  Faufi  vollenden;  er  fagt:  Er  könne  fechs  Monate 
feine  Arbeit  vorausfagen,  weil  er  fich  zu  einer  folchen 
Stimmung  durch  gefchickte  leibliche  Diätetik  vorbereite. 

[550.]     September.     Jean  Paul  an  Chr.  Otto. 

Mit  Goethe  ftritt  ich  für  Deinen  Satz  der  Wehfort;^ 
fchreitung;  Umfchreitung  muffen  wir  fagen,  fagt  er.  — 
A  priori  folgt's  aus  der  Vorfehung,  aber  nicht  in  jedem 
a  posteriori  ift  der  Fortfehritt  zu  zeigen,  wenigftens  nicht 
in  den  gallifchen  Fortfehritten.  —  Auch  die  gelefene  Wahrst 
heit  muß  man  hinterher  erft  felber  erfinden.  Die  Gehirn? 
höhlen  find  voll  Samen,  für  welchen  das  Gefühl  erft  die 
Blumenerde  und   die  Treibfeherben  bildet. 

[551,]     September  Ende.     Schiller  an  Körner. 

Goethe  hat  mir  keine  Ruhe  gelaffen,  bis  ich  ihm 
meinen  Prolog  zu  Eröffnung  der  theatralifchen  Winter? 
vorftellungen  und  eines  renovierten  Theatergebäudes  über? 
Heß.  - 

Das  Stück  Wallenflein  felbft  habe  ich  nun,  nach  rei? 
fer  Überlegung  und  vielen  Konferenzen  mit  Goethe,  in 
zwei  Stücke  getrennt. 

[552.]     September  Ende.     Charlotte  v.  Schiller. 

Es  ift  erftaunend,  welchen  Einfluß  feine  Nähe  auf 
Schillers  Gemüt  hat,  und  wie  belebend  für  ihn  die  hau? 
fige  Kommunikation  feiner  Ideen  mit  Goethe  ift;  er  ift 
ganz  anders,  wenn  er  auch  nur  in  Weimar  ift.  Mir  felbft 
ift  Goethe  auch  fehr  lieb,  aber  er  wird  mir  noch  lieber 
um  Schillers  willen.  Goethe  ift  auch  hier  viel  anders; 
es  ift  recht  eigen,  welchen  Eindruck  der  Ort  auf  ihn  macht, 
in  Weimar  ift  er  gleich  fteif  und  zurückgezogen;  hätte 
ich  ihn  hier  nicht  kennen  lernen,  fo  wäre  mir  viel  von 
ihm  entgangen  und  gar  nicht  klar  geworden.  Ich  glaube 
doch,  daß  auf  diefe  Stimmung  die  häuslichen,  zu  der 
Welt  in  Weimar  nicht  paffenden  Verhältniffe  am  meiften 
Einfluß  haben,  hier  fällt  die  ftrenge  Beurteilung  weg,  und 
dies  macht  ihm  feine  Exiftenz  freier  in  der  Idee. 

[553.]     Oktober.     Caroline  Schlegel  an  F.  Schlegel. 

Wilhelm  blieb  in  Weimar  zurück,  um  Goethen  zu 
fprechen,  und  der  ift  fehr  wohl  zu  fprechen  gewefen,  in 
der  heften  Laune  über   das  Athenäum  und   ganz   in  der 


554] Jena.     1798.      269 

gehörigen  über  Ihren  Aufsatz  über  Wilhelm  Meifter,  denn 
er  hat  nicht  bloß  den  Ernft,  er  hat  auch  die  belobte  Iro? 
nie  darin  gefaßt,  und  ift  doch  (ehr  damit  zufrieden  und 
ficht  der  Fortfetzung  freundlichft  entgegen.  Erft  hat  er 
gefagt,  es  wäre  recht  gut,  recht  charmant,  und  nach  diefer 
bei  ihm  gebräuchlichen  Art  vom  Wetter  zu  reden,  hat  er 
auch  warm  die  Weife  gebilligt,  wie  Sie  es  behandelt,  daß 
Sie  immer  auf  den  Bau  des  Ganzen  gegangen  und  fich 
nicht  bei  pathologifcher  Zergliederung  der  einzelnen  Cha? 
raktere  aufgehalten,  dann  hat  er  gezeigt,  daß  er  es  tüchtig 
gelefen,  indem  er  viele  Ausdrücke  wiederholt  und  befon? 
ders  eben  die  ironifchen.  ^  Er  hat  Wilhelm  mit  Grüßen 
für  Sie  beladen  und  läßt  vielmals  um  Entfchuldigung  bitten 
wegen  des  Nichtfehreibens,  eine  Sache,  die  wirklich  aus 
der  Gefchäftigkeit  des  letzten  Vierteljahrs  ^  zu  erklären 
ift.  An  Wilhelm  hat  er  den  ganzen  Brief  fchon  fertig 
diktiert  und  doch  nicht  abgefchickt.  Auch  von  Ihrem 
Auffafz  im  2.  Hefte  des  Athenäums  über  das  Studium  der 
griechifchen  Poefie  hat  er  gefprochen;  bei  manchen  Stellen 
hätte  er  eine  mündliche  Unterredung  und  Erläuterung  da:« 
zu  gewünfcht,  um  etwa  ein  längeres  und  breiteres  Licht 
zu  erhalten.  Gelefen  hat  er  auch  redlich;  das  kann  man 
ihm  nicht  anders  nachrühmen.  Die  Fragmente  im  felben 
Hefte  des  Athenäums  haben  ihn  ungemein  intereffiert;  Ihr 
hättet  Euch  in  Kriegsftand  gefetzt,  aber  er  hat  keine  ein^s 
zige  Einwendung  dagegen  gemacht;  nur  gemeint,  es  wäre 
eine  allzu  fiarke  Ausgabe  (die  Verfchwendung  wäre  doch 
zu  groß,  war  der  pivot  feines  allgemeinen  Urteils)*  und 
es  hätte  follen  geteilt  werden.  Wilhelm  hat  ihm  geants^ 
wortet,  in  einem  Strich  ließe  fich's  freilich  nicht  lefen;  da 
hat  er  fo  etwas  gemurmelt,  als:  das  hätte  er  denn  doch 
nicht  laffen  können;  es  wäre  denn  doch  fo  anziehend. 

[554.J     Oktober.     Caroline  Schlegel  an  F.  Schlegel. 

Tieck  muß  fich  nun  ebenfowenig  über  Goethens 
Schweigen  fkandalifieren  als  Sie,  denn  er  bittet  auch  ihn 
um  Nachficht.  Und  ich  will  Ihnen  auch  fein  Urteil  über 
den  erften  Teil  von  Sternbald  wiedergeben;  Sie  überant^ 
Worten  es  Tieck.  Man  könnte  es  fo  eigentlich  eher  mufikas: 
lifche  Wanderungen  nennen,  wegen  der  vielen  mufika* 
lifchen  Empfindungen  und  Anregungen  (die  Worte  find 

*  Die  Farenthefe  ift  Zufatz  W.  Schlegels. 


270 Caroline  Schlegel. [555 

übrigens  von  mir),  es  wäre  alles  darin,  außer  der  Maler. 
Sollte  es  ein  Künftlerroman  fein,  fo  müßte  doch  noch  ganz 
viel  anders  von  der  Kunft  darin  fiehn,  er  vermißt  da  den 
rechten  Gehalt  und  das  Künftlerifche  käme  als  eine  falfche 
Tendenz  heraus.  Gelefen  hat  er  es  aber,  und  zweimal, 
und  lobt  es  dann  auch  wieder  fehr.  Es  wären  viel  hübfche 
Sonnenaufgänge  darin,  hat  er  gefagt  (an  *  denen  man  fähe, 
daß  fich  das  Auge  des  Dichters  wirklich  recht  eigentlich 
an  den  Farben  gelabt,  nur  kämen  fie  zu  oft  wieder). 

[555.]     Oktober.     A.  Genaft. 

Goethes  Tätigkeit  bei  der  Infzenierung  war  unermüd^ 
lieh.  Hofrat  Meyer  mußte  alle  möglichen  Holzfchnitte, 
welche  Szenen  aus  dem  Lagerleben  des  30  jährigen  Krieges 
darftellten,  herbeifchaffen,  um  die  Gruppen  auf  der  Bühne 
danach  zu  ftellen ;  fogar  eine  alte  Ofenplatte,  worauf  eine 
Lagerfzene  aus  dem  17.  Jahrhundert  fich  befand,  wurde 
einem  Kneipenwirt  in  Jena  zu  diefem  Zweck  entführt. 
Goethe  leitete  das  Studium  der  Schaufpieler  und  fiattete 
an  Schiller  (nach  Jena)  genauen  Bericht  ab ;  bis  zur  letz? 
ten  Probe  veränderte  Schiller  noch  diefes  und  jenes.  Mir 
war  der  Dragoner  zugeteilt  worden.  Eines  Tages  jedoch 
ließ  mich  Goethe  zu  fich  rufen  und  teilte  mir  mit,  daß  Schiller 
gefonnen  fei,  noch  einen  Kapuziner  in  das  Lagerleben,  hin;; 
einzubringen,  der  den  Soldaten  predigen  follte ;  da  Schiller 
dabei  um  Rat  frage,  fo  habe  er  ihm  einen  Band  des  Abra? 
ham  a  Sancta  Clara  gefandt  und  mich  zum  Darfteller  der 
draftifchen  Figur,  welche  der  Kapuziner  abgeben  würde, 
vorgefchlagen.  Da  Ihr,  fagte  er,  viel  mit  folchen  Kutten? 
männern  in  Berührung  gekommen  feid,  fo  werdet  Ihr  ge? 
wiß  den  Ton  treffen,  der  zu  einem  folchen  Feldpfaffen 
gehört.  Schickt  Euren  Dragoner  in  meinem  Namen  an 
Benda.   ^^ 

Meinem  Kollegen  Becker  hatte  Goethe  den  zweiten 
Holkfchen  Jäger  zugeteilt.  Obgleich  Becker  von  Anfang 
an  mit  diefer  untergeordneten  Rolle  fehr  unzufrieden  war 
und  weit  lieber  den  Wachtmeifter  gefpielt  hätte,  getraute 
er  fich  doch  nicht,  die  Annahme  desfelben  zu  verweigern, 
folange  ich  in  Befitz  einer  ähnlichen  war;  kaum  hörte  er 
aber  von  dem  mir  übertragenen  Kapuziner,  fo  erklärte  er 
mir  auch  fchon,  daß  er  den  Jäger  nicht  fpielen  würde  und 


Zufatz  von  Schlegels  Hand. 


559]  Weimar.     1798.  271 

beauftragte  mich  als  fungierenden  Wöchner,  dies  dem 
Herrn  Geheimen  Rat  zu  melden.  Mir  ward  nicht  wohl 
bei  der  Kommiffion,  und  ich  kleidete  fie  wenigftens  in 
die  etwas  gefälligere  Form  einer  Bitte  meines  Kollegen. 
Nichts  deftoweniger  geriet  Goethe  in  den  heftigfien  Zorn, 
beftand  darauf,  daß  Becker  die  Rolle  fpielen  muffe  und 
fetzte  hinzu:  Sagen  Sie  dem  Herrn  Becker:  wenn  er  fich 
dennoch  weigern  follte,  fo  würde  ich  die  Rolle  felber 
fpielen.     Becker  weigerte  fich  aber  nicht  mehr. 

[556.]     Oktober.     A.  Genaft. 

Bei  diefer  Vorfiellung  von  Wallenfleins  Lager  war  es, 
wo  nach  Goethes  Befehl  auf  dem  Komödienzettel  zum 
erftenmal  die  Herren,  Madames  und  Demoifelles  vor  den 
Namen  der  Mitglieder  wegfielen.  Ich  fragte  Goethe  um 
den  Grund  diefer  Anordnung;  er  meinte:  Der  Name  des 
Künftlers  fei  genügend,  Herren  und  Madames  gab'  es  fehr 
viele  in  der  Welt,  aber  Künftler  fehr  wenig. 

[557.]     Oktober  Ende.     Schiller  an  Ch.  G.  Körner. 

Du  kannft,  wenn  die  Allgemeine  Zeitung  von  Poffelt 
in  Dresden  zu  haben  ift,  das  Nähere  über  diefe  Wallen? 
fteinfchen  Repräfentationen  in  Weimar  gedruckt  lefen; 
denn  Goethe  hat  fich  den  Spaß  gemacht,  diefe  Relationen 
felbfi:  zu  machen,  daß  er  fie  Böttiger  aus  den  Zähnen 
reiße.  ^^ 

Für  das  befte  im  Almanach  halte  ich  aber,  und  Goethe 
auch,  den  Prolog  zum  Wallenftein.  ^^  Wir  freuen  uns 
auf  Deinen  kritifchen  Brief  über  den  Almanach.  Sieh, 
daß  Du  ihn  bald  fchickfi:.  Goethe  ifi:  auch  recht  begierig 
danach. 

[558.1     (Oktober.)    Jean  Paul. 

Die  Sängerin  Maticzek  erzählte  mir,  daß  fie  Goethen 
gefragt,  wie  fie  mich  zu  empfangen  habe,  und  fie  wolle 
mir  trillernd  entgegentanzen.  Kind,  mach's  wie  bei  mir 
und  fei  natürlich!    fagt'  er. 

[559.]     November.     Schiller  an  J.  F.  Cotta. 

Goethe  hat  an  feinem  Fauft  noch  viel  Arbeit,  eh'  er 
fertig  wird.  Ich  bin  oft  hinter  ihm  her,  ihn  zu  beendigen 
und  feine  Abficht  ift  wenigftens,  daß  diefes  nächften  Som^^ 
mer  gefchehen  foll.  Es  wird  freifich  eine  koftbare  Unter? 
I 


272  Schiller.  [560 

nehmung  fein.  Das  Werk  ift  weitläufig,  20  —  30  Bogen 
gewiß,  es  follen  Kupfer  dazu  kommen,  und  er  rechnet 
auf  ein  derbes  Honorar.  ^  Es  wird  gar  keine  Frage  fein, 
daß  er  Ihnen  das  Werk  in  Verlag  gibt,  wenn  Ihnen  die 
Bedingungen  recht  find,  denn  er  meint  es  fehr  gut  mit 
Ihnen. 


1799. 

[560.]     (Anfang  des  Jahres.)     K.  A.  Böttiger. 

Goethe  äußert  gegen  Wieland,  daß  die  urfprüngliche 
einzige  vis  comica  in  den  Obfzönitäten  und  Anfpielungen 
auf  Gefchlechtsverhältniffe  liege  und  von  der  Komödie 
gar  nicht  entfernt  gedacht  werden  könne. 

[561.]     Anfang  des  Jahres.     K.  A.  Böttiger. 

Ich  fahre  mit  Bertuch  nach  Belvedere.  ^  Im  Wagen: 
Goethe  will  eine  Biographie  des  Tigers  fchreiben,  deffen 
gefrornen  Kadaver  der  Herzog  aus  Nürnberg  bekommen 
hat.  Loder,  der  immer  gefchäftige  Handlanger  Goethes 
^  wird  anatomifche  Vorlefungen  öffentlich  über  den  Tu 
ger  halten. 

[562.]    Januar  16.     K.  A.  Böttiger. 

Nach  Tifche  wird  die  Aldobrandinifche  Hochzeit  auf^ 
gezogen,  unter  fchöner  Beleuchtung  von  dem,  gegenüber 
auf  den  Dächern  liegenden  Schnee.  Goethe  äußert  da? 
bei  die  Mutmaßung,  daß  vielleicht  der  Maler,  der  eine 
etwas  frechluftige  Kompofition  machen  wollte,  die  Haupt? 
figuren  der  pronuba  und  der  nova  nupta  nach  einem  Ge? 
mälde  des  Echion,  das  Plinius  (XXXV,  10)  nova  nupta, 
verecundia  notabilis  nennt,  kopiert,  das  andere  aber  aus 
verfchiedenen  Stücken  komponiert  habe.  ^^ 

Goethes  Witz  über  Gerning:  er  nehme  die  Königin? 
nen  nicht  in  acht.  Die  fyrakufanifche  Königin  Philiftis 
fei  ihm  abhanden  gekommen. 

[563.]     Januar  16.     Jean  Paul. 

Als  ich  zu  einem  Diner  bei  Goethe  geladen  war, 
Schiller  zu  Ehren,  nebft  Herder  —  der  ihm  aber  nicht 
ein  ölblatt,  gefchweige  einen  Ölzweig  des  Friedens,  den 
Goethe  gern  fchlöffe,  reichte  —  wurd'  ich  und  Herder  zu 


567] Weimar.     1799. 273 

Goethes  Einfaffung  gemacht:  ich  der  Hnke  Rahmen,  und 
er  der  rechte.  Hier  fagte  mir  Goethe,  der  nur  allmäh;: 
lieh  warm  werden  will  —  fo  ift  er  gegen  Schiller  fo  kalt, 
wie  gegen  jeden  — :  er  habe  feinen  Werther  zehn  Jahre 
nach  deffen  Schöpfung  nicht  gelefen,  und  fo  alles.  Wer 
wird  fich  gern  eines  vorübergegangenen  Affekts,  des  Zorns, 
der  Liebe  ufw.  erinnern? 

[564.]     Januar  21.     Jean  Paul. 

Noch  in  keinem  Jahre  ftritt  und  trank  ich  fo  viel;  mit 
Schiller  neulich  bis  um  12  Uhr  nachts  und  mit  ihm  und 
Goethe  bei  der  Kalb.  ^  Goethen  fagt'  ich  etwas  über  das 
hiefigeTragifche,*  worüber  er  empfindlich  eine  Viertelftunde 
den  Teller  drehte.  Aber  Wieland  <^  fagte :  fo  wär's  recht  und 
ich  gewänne  ihn  dadurch;  wir  würden  noch  die  heften 
Freunde  werden;  Goef/iehatmitRefpektvon  mirgefprochen. 

[565.]     Januar  30.     H.  Steffens. 

Piccolomini  war  das  erfte  große  Stück,  welches  ich 
in  Weimar  fah.  '^  Nun  <^  faß  Schiller  felbft  neben  mir 
und  war  mit  allem  nicht  allein  zufrieden,  fondern  über? 
aus  glücklich.  ~  Selbft  Goethe,  der  ab  und  zu  in  die  Loge 
hineintrat,  fehlen  mit  der  Aufführung  fehr  zufrieden,  ob? 
gleich  er  fich  nicht  enthufiaftifch  äußerte,  wie  Schiller. 

[566.]     (Januar.)     K.  A.  Böttiger. 

Goethe  erklärt  fich  ßark  gegen  die,  welche  Weimars 
Gemeinvorteil  verraten.  —  Wieland  fagte  einfi  zu  ihm: 
Aber  wie  könnte  ich  mich  nur  fo  ekelhaft  loben  laffen, 
Herr  Bruder,  wie  es  die  Schlegel  tun?  Antwort:  Man 
muß  fich  das  ebenfo  gefallen  laffen,  als  wenn  man  aus 
vollem  Hälfe  getadelt  wird.  —  Wieland  mißbilligt  Mac? 
donald's  blinden  Eifer  gegen  die  Kantifche  Philofophie. 
^  Fichte  brandert  es  fchon,  fagte  Goethe,  darum  fchreit 
er  fchon  vom  Scheiterhaufen. 

[567.]     (Februar/März.)     H.  Steffens. 

Nachdem  Steffens  erzählt,  daß  er  fich  beim  erften  Zufammen* 
treffen  mit  Goethen  von  diefem  fiir  zurückgefetzt  gehalten  und 
darauf  fchroff  abgewehrt  habe,  mit  ihm  wieder  zufammengebracht 
zu  werden,  fährt  er  fort: 

Die  FamiUe  des  berühmten  Anatomen  Loder  gehörte 
auch  zu  denen,  die  mich  freundlich  aufgenommen  hatten. 

*  Böttiger,  alles  lobend,  lobte  mich  auch  darüber:  ,wir  den* 
ken  alle  dasfelbe,  aber  es  hat's  ihm  noch  keiner  gefagt.'     (J.  P.) 
I  18 


274 H.  Steffens. [567 

Sein  Geburtstag  nahete  und  man  wünfchte  diefen  Tag 
durch  ein  Schaufpiel  zu  feiern;  man  wählte  den  Schaum 
fpieler  wider  Willen,  und  meine  große  Beweglichkeit  er^ 
weckte  die  Vermutung,  daß  ich  wohl  fähig  wäre,  die 
Hauptrolle  zu  übernehmen.  ^  Die  Hauptrolle  enthält  be^^ 
kanntlich  eine  Menge  deklamatorifcher  Stellen  aus  ver:^ 
fchiedenen  Dramen.  ^^  Ich  vertaufchte  fie  mit  übertrieben 
deklamatorifchen  Stellen  aus  Iff  landfchen  und  Schillerfchen 
Stücken.  ^^  Die  Tage  der  Proben  gingen  vorüber;  wir 
waren  zur  Generalprobe  verfammeltl  da  trat  auf  einmal 
Goethe  herein.  Er  hatte  freundlich,  wie  er  bei  folchen 
Gelegenheiten  immer  war,  verfprochen,  die  Generalprobe 
zu  leiten;  mir  hatte  man  es  verborgen  gehalten.  Nach? 
dem  er  die  Frauen  begrüßt  hatte,  ging  er  auf  mich  zu, 
fprach  mich  freundlich  und  gütig  als  einen  Bekannten  an. 
Ich  habe,  fagte  er,  lange  erwartet,  Sie  einmal  in  Weimar 
bei  mir  zu  fehen:  ich  habe  Vieles  mit  Ihnen  zu  fprechen, 
Ihnen  Vieles  mitzuteilen.  Wenn  diefe  Tage  verfloffen  find, 
werden  Sie  mich,  wie  ich  hoffe,  begleiten.  Wer  war  glück? 
lieber,  wie  ich.  Es  war  mir,  als  wäre  ich  jetzt  erft  heimifch 
geworden  in  Jena.  Ich  jubelte,  und  der  frohe  Jubel  einer 
übermütigen  Stimmung  ergoß  fich  in  mein  Spiel.  Hier 
und  da  gab  Goethe  einen  guten  Rat,  und  mir  fchwebten 
auf  eine  wunderbar  heitere  Weife  die  dramatifchen  Auf? 
tritte  in  Wilhelm  Meifter  vor  der  Seele,  die  fich  nun  hier 
durch  den  großen  Verfaffer  zu  verwirklichen  fchienen.  Als 
ich  die  Stellen  aus  den  Schillerfchen  Stücken  deklamiert 
hatte,  trat  Goethe  freundlich  auf  mich  zu.  Wählen  Sie 
doch,  fagte  er,  andere  Stücke ;  unfern  guten  Freund  Schiller 
wollen  wir  doch  lieber  aus  dem  Spiele  laffen.  Es  war 
feltfam,  daß  weder  ich  noch  die  Mitfpieler  etwas  An? 
fiößiges  bei  diefer  Wahl  gefunden  hatten.  ^^  Indeffen 
erbot  ich  mich  auf  der  Stelle,  Kotzebue  zu  wählen  ftatt 
Schiller. 

Den  Tag  daraufhielt,  der  Verabredung  gemäß,  Goethe 
vor  meiner  Wohnung;  ich  eilte  mit  meinem  Mantelfack 
hinunter  und  fuhr  nun  an  Goethes  Seite  nach  Weimar. 
Ich  war  dort  einige  Tage  fein  Gafi.  ^ 

Goethe  war  im  höchfien  Grade  mitteilfam;  es  war 
ihm  darum  zu  tun,  junge  Naturforfcher  für  feine  An? 
fichten  zu  gewinnen.  Die  paar  Tage  verfloffen  in  einer 
beftändig  fortdauernden  naturwiffenfchaftlichen  Unterhai? 
tung.  ^  Das  tiefe  Naturgefühl,  die  lebendige  fchöpferifche 


571]  Jena  -  Weimar.    1799.  275 

Macht,  die  durch  alle  feine  Gedichte  hindurchging,  über 
alle  feine  Darftellungen  ein  helles  Licht  ergoß,  rang  nach 
Bewußtfein;  Pflanzen  und  Tiere  und  das  allbelebende 
Licht,  welches,  als  ein  Ding  unter  den  andern  Dingen, 
zufammengefetzt  wäre,  fich  in  Farben  verteilen  ließ,  und 
fo  nur  in  ein  äußeres  Verhältnis  zu  allem  Lebendigen 
treten  konnte,  erfchienen  hier  zwar  in  bewußter  Einheit,  aber 
ein  tiefer  geiftiger  Inftinkt  faßte  fie  dennoch  zufammen. 

[568.]     April  (15).     Jean  Paul. 

Goethe  und  Schiller  waren  das  letzte  Mal  ganz  frofiig 
gegen  mich;  bloß  —  wie  man  dort  bei  Tee  fagte  —  weil 
ich  an  der  Herderfchen  Metakritik  fchuld  fein  und  fogar 
Hand  darin  haben  foll,  und  Schiller  hofft,  unfere  (Herders 
und  meine)  Freundfchaft  werde  dadurch  brechen. 

[569.]     (April  16.)     Caroline  Schegel  an  A.  W.  Schlegel. 

Auf  die  leere  Seite  will  ich  gleich  noch  etwas  Amü*: 
fantes  fetzen,  das  uns  Schelling  diefen  Mittag  zum  Beften 
gab,  wie  ihm  Goethe  einmal  befchrieben,  daß  er  mit  Jean 
Paul  einen  ganzen  Abend  Schach  gefpielt,  figürlich.  Der 
hat  nämlich  ein  Urteil  über  ihn  und  feine  Gattung  her^; 
auslocken  wollen  und  ihn  nach  Goethes  Ausdruck  auf  den 
Seh— dr—  führen,  hat  einen  Zug  um  den  andern  getan,  von 
Yorik,  von  Hippel,  von  dem  ganzen  humoriftifchen  Affen:: 
gefchlecht  —  Goethe  immer  neben  aus.  Nun,  Du  mußt 
Dir  das  felbft  mit  den  gehörigen  Fratzen  ausführen,  wie 
Jean  Paul  zuletzt  in  die  höchfte  Pein  geraten  ift  und  fich 
fchachmatt  hat  nach  Haufe  begeben.  Einen  durchtriebnem 
Schalk  gibt  es  auf  Erden  nicht,  wie  den  Goethe,  und  das; 
bei  das  frömmfte  Herz  mit  feinen  Freunden. 

[570.J     L.  V.  Wolzogen. 

Der  Dichter  Jean  Paul  verfchmähte  '^  die  Genüffe 
des  Lebens  fo  wenig,  daß  ich  ihn  öfters  in  ziemlich  be^: 
nebeltem  Zuftande  nach  Haufe  zu  bringen  die  Freude 
hatte.  Goethe  verglich  ihn  in  folchen  Momenten  mit  einem 
Salamander,  womit  feine  damalige  hagere  Geftalt  vortreff;: 
lieh  bezeichnet  war. 

[571.]     Mai  Anfang.     Schiller  an  Ch.  G.  Körner. 

Könnteft  Du  Dich  entfchließen ,  die  Anzeige  des 
dritten  Stücks  für  die  Allgemeine  Zeitung  aufzufetzen,  fo 
I  18* 


276  Schiller.  [572 

würdeft  Du  Goethen  und  mir  einen  großen  Gefallen  er# 
zeigen,  denn  diefe  Arbeit  liegt  fowohl  ihm,  als  mir  jetzt 
außer  dem  Wege,  und  fie  muß  doch  getan  fein.  Du  kannft 
Dich  darin  nach  der  Anzeige  der  Piccolomini  in  eben 
diefer  Zeitung,  die  G.  und  ich  in  Gemeinfchaft,  obgleich 
etwas  eilfertig  aufgefetzt,  richten.  ^^  Goethe  hat  (ich  jetzt 
Equipage  angefchafft  und  fährt  mich  alle  Tage  fpazieren. 

[572.]     Mai  zweite  Hälfte.     Schiller  an  J.  F.  Unger. 

Zu  Ihrer  Sammlung  von  Romanen  werde  ich  gern 
meinen  Beitrag  geben,  fobald  fich  Stoff  und  Stimmung 
zu  einer  folchen  Arbeit  bei  mir  findet  und  habe  daher 
auch  nichts  dagegen,  wenn  Sie  mich  unter  der  Zahl  derer, 
die  dazu  beitragen  wollen,  nennen.  Ein  Gleiches  trägt 
Goethe  mir  auf,  Ihnen  zu  verfichern. 

■^  Goethe  fagte  mir  diefer  Tage,  daß  Sie  ihn  an 
einen  neuen  Band  feiner  Schriften  erinnert  hätten.  Ich 
weiß  nicht,  ob  er  jetzt  etwas  Neues  für  diefe  Sammlung 
hat,  ich  habe  ihm  aber  fchon  längft  angelegen,  die  kleinen 
Gedichte,  Elegien,  Idyllen,  Epigramme,  Balladen,  Lieder 
ufw.,  die  er  in  den  letzten  8  Jahren  gemacht  hat  und  in 
Almanachen  und  Journalen  zerfireut  hat  drucken  laffen, 
in  einen  Band,  etwa  den  fiebenten  feiner  Werke  zu  fammeln. 

[573.]     (April/Mai.)     H.  Steffens. 

Ich  reifte  über  Weimar,  ich  befuchte  Goethe,  der  mich 
mit  ermunternden  Worten  entließ,  obgleich  ich  einige 
Verlegenheit  in  feinem  Benehmen  zu  fpüren  glaubte.  Er 
fehlen  mit  der  Rolle,  die  ich  in  der  Fichtefchen  Sache 
gefpielt  hatte,  nicht  unbekannt  zu  fein. 

[574.]     (Mai.)     Schiller  an  J.  F.  Cotta. 

Mit  Goethen  habe  ich  der  Propyläen  wegen  Kon^ 
ferenzen  gehalten  und  es  ift  auf  meinen  Rat  gefchehen, 
daß  er  diefes  Journal  für  ein  mäßiges  Honorar,  in  einer 
kleinen  Auflage  und  nach  längeren  Zwifchenzeiten  noch 
eine  Zeitlang  fortfetzen  will. 

[575.]     Juni  (8.)     Nach  Steinfchen  Papieren. 

Da  Charlotte  v.  Stein  bei  einem  Tee  vor  ihrer  Woh? 
nung,  an  welchem  Herr  v.  Haren,  Graf  Dumanoir,  der 
wunderliche  Gerning  von  Frankfurt  u.  a.  teilnahmen,  gess 


578]  Weimar  -  Jena.     1799.  277 

rade  Goethe  vorübergehen  fah,  ließ  fie  auch  diefen  ein^ 
laden,  dem  aber,  wir  wiffen  nicht  weshalb,  dabei  nicht 
wohl  zumute  war.  Karl  v.  Stein,  der  gern  ins  Draftifche 
ausmalt,  fchreibt:  Dies  —  die  Einladung  —  war  ihm  un?: 
heimlich;  er  fetzte  fich,  fprach  nichts  und  machte  ein  ent^ 
fetzlich  verdrießliches  Geficht.  Haben  Sie  Nachricht,  Frau 
V.  Stein,  von  dem  Herrn  Kriegsrat  aus  Breslau?  war  alles, 
was  er  unaufgefordert  an  Diskurs  hervorgehen  ließ. 

[576.]     Juli  21.     Sophie  von  La  Roche. 

Nachher  kam  Goethe  freundlich  die  Mittagsfuppe  mit 
uns  zu  teilen  —  mir  war  äußerft  fchätzbar,  ihn  und  Wies^ 
land  wie  zwei  verbündete  Genies,  ohne  Prunk  oder  Er:: 
Wartung,  mit  dem  traulichen  Du  der  großen  Alten  fprechen 
zu  hören,  und  der  Zufall  gab  heute  wieder  meiner  Phan^; 
tafie  den  eignen,  gewiß  nie  wieder  kommenden  Anblick, 
beide  auf  dem  fchönen  heitern  Gange  vor  Wielands  Wohn^: 
Zimmer  zu  treffen,  als  Goethe,  mit  lebhaftem  Vergnügen 
von  dem  foeben  gemachten  Ankauf  eines  ländlichen  Ruhe? 
fitzes  fprach.  ^^  Nach  Tifche  bedauerte  Goethe,  daß  die 
Gegenden  um  Weimar  fo  wenig  Erdbeeren  und  Kirfchen 
tragen.  ^ 

[577.]     September  (23).     Nach  L.  Tieck. 

Den  Zerbino  lernte  Goethe  kennen.  Er  fchenkte  den 
ernften  Charakteren  und  den  lyrifchen  Partien  vollen  Bei?  ^ 
fall  und  forderte  Tieck  auf,  diefe  zufammen  zuziehen  und 
zu  einem  Ganzen  abzurunden,  welches  alsdann  auf  der 
weimarifchen  Bühne  dargefiellt  werden  follte.  Obgleich 
es  Goethe  war,  von  dem  diefer  Vorfchlag  ausging,  konnte 
fich  Tieck  doch  nicht  entfchließen ,  darein  zu  willigen. 
Beide  Teile,  der  fatirifche  wie  der  dichterifche,  gehörten 
unmittelbar  zufammen,  fie  gewännen  erfi:  durch  einander 
ihre  Bedeutung.  Ein  Streichen  des  einen  Teils  würde 
einem  Zerftören  des  Ganzen  gleichgekommen  fein. 

[578.]     November  14.    Dorothea  Schlegel  an  F.  Schleiermacher.         )^  \ 

Geftern  Mittag  bin  ich  mit  Schlegels,  Caroline,  Schelling, 
Hardenberg  und  einem  Bruder  von  ihm,  dem  Leutnant 
Hardenberg,  im  Paradiefe  (fo  heißt  ein  Spaziergang  hier)  ^ 
—  wer  erfcheint  plötzlich  vom  Gebirg  herab?  Kein  andrer  / 
als  die  alte  göttliche  Exzellenz,  Goethe  felbft.  Er  fieht 
die  große  Gefellfchaft  und  weicht  etwas  aus,  wir  machen 
I 


278  Dorothea  Schlegel.  [579 

ein  gefchicktes  Manöver,  die  Hälfte  der  Gefellfchaft  zieht 
fich  zurück,  und  Schlegels  gehn  ihm  mit  mir  grade  ent^ 
gegen.  Wilhelm  führt  mich  '^  Wilhelm  ftellt  mich  vor, 
er  macht  mir  ein  auszeichnend  Kompliment,  dreht  ordent^ 
licherweife  mit  uns  um  und  geht  wieder  zurück  und  noch 
einmal  herauf  mit  uns  und  ift  freundlich  und  lieblich 
und  ungezwungen  und  aufmerkfam  gegen  Ihre  gehorfame 
Dienerin.  Erft  wollte  ich  nicht  fprechen.  Da  es  aber  gar 
nicht  zum  Gefpräch  zwifchen  ihm  und  Wilhelm  kommen 
wollte,  fo  dachte  ich,  hol  der  Teufel  die  Befcheidenheit, 
wenn  er  fich  ennuyiert,  fo  habe  ich  unwiederbringlich  ver* 
lorenl  Ich  fragte  ihn  alfo  gleich  etwas,  über  die  reißen^: 
den  Ströme  in  der  Saale,  er  unterrichtete  mich,  und  fo 
ging  es  lebhaft  weiter. 

[579.]   Nov.  Mitte/ Dez.  Anf.  Dorothea  Schlegel  an  F.  Schleiermacher. 

Friedrich  ^^  entbietet  Ihnen  feinen  Gruß:  Europa 
und  der  Widerborft  werden  beiderfeits  nicht  im  Athenäum 
gedruckt]  Dem  Himmel  fei  es  taufendmal  und  noch 
taufendmal  gedankt.  Ich  war  gleich  von  vornherein  fehr 
dagegen,  aber  das  war  eine  Stimme  in  der  Wüfte.  End^; 
lieh  wollte  es  Wilhelm  nicht  ohne  eine  Note,  die  wollte 
Schelling  nicht,  Goethe  ward  zum  Schiedsrichter  genommen 
und  der  hat  es  ganz  und  gar  verworfen.  Vivat  Goethe! 
Der  ift  übrigens  nebft  Schiller  nach  Weimar  gereift,  kommt 
aber  in  acht  Wochen  wieder  und  hat  gefagt,  nun  fie  ihm 
fo  öffentlich  und  geradezu  als  Haupt  einer  Partei  aus^ 
fchrien,  wollte  er  fich  auch  auf  eine  honette  Weife  als 
ein  folches  zeigen.  Ein  Gedicht,  das  Wilhelm  gemacht 
hat  und  das  ihm  fehr  gefiel,  hat  er  mit  nach  Weimar  ge? 
nommen,  um  es  anonym  den  Schlegels  Feinden  vorzu^ 
lefen  und  den  Eindruck  zu  bemerken,  den  es  machen 
wird.  Tieck  hat  ihm  in  zwei  Abenden  feine  heilige  Geno:: 
veva  vorlefen  muffen,  von  der  er  überaus  viel  Gutes  ges: 
fagt  hat.  Von  Ihnen  hat  er  gefagt:  Sie  gehörten  fehr 
zum  Berge,  nämlich  zu   Schlegels. 

[580.]     Dezember  5./6.     Nach  L.  Tieck. 

Tieck  hatte  die  Genoveva  vollendet  und  fie  denFreunden 
mitgeteilt;  jetzt  kam  die  Gelegenheit,  das  Gedicht  auch 
ihm  vorzulefen.  Goethe  wohnte  auf  dem  Schlöffe  in  Jena: 
Da  der  erfte  Abend  nicht  ausreichte,  fo  konnte  die  Vor:: 
lefung  erft  am  folgenden  beendet  werden.    Aufmerkfam 


582]  Jena  -  Weimar.     1800.  279 

und  teilnehmend  war  Goethe  ihr  gefolgt;  er  fprach  fich 
wohlwollend  und  anerkennend  aus.  Dann  wandte  er  fich 
zu  feinem  neunjährigen  Sohne,  der  am  zweiten  Abend 
zugegen  war.  Indem  er  ihm  mit  der  Hand  über  das 
Haar  hinftrich,  fagte  er:  Nun,  mein  Söhnchen,  was  meinft 
Du  denn  zu  allen  den  Farben,  Blumen,  Spiegeln  und 
Zauberkünften,  von  denen  unfer  Freund  uns  vorgelefen 
hat?  Ift  das  nicht  recht  wunderbar?  —  Einige  Ein? 
Wendungen,  welche  Goethe  machte,  wurden  fpäter  berück? 
fichtigt. 

[581.]     Dezember  4./7.     Nach  L.  Tieck. 

Tieck  erzählte  Goethen  von  feinen  Studien  des  Shake? 
fpeare  und  deffen  Zeitgenoffen.  Dies  führte  auf  Ben  Jonfon. 
Er  fchilderte  deffen  durchgehenden  Gegenfatz  gegen  Shake? 
fpeare  und  endete  mit  der  Frage,  ob  Goethe  nicht  einen 
Verfuch  mit  dem  fonderbaren  Schriftfteller  machen  wolle. 
Da  Goethe  bereitwillig  darauf  einging,  fchlug  er  ihm  den 
Volpone  vor  und  überbrachte  ihm  die  Folioausgabe.  Als 
er  ihn  nach  einiger  Zeit  wieder  befuchte,  hatte  Goethe 
das  empfohlene  Drama  foeben  durchgelefen.  Das  Buch 
lag  noch  vor  ihm.  Hören  Sie,  verehrter  Freund  I  rief  er 
ihm  heften  Humors  entgegen,  indem  er  mit  der  Hand 
auf  den  Deckel  des  Buches  fchlug,  das  ift  ja  ein  ganz  ver? 
fluchter  Kerl!  Ein  wahrer  Teufelskerl!  Tieck  fprach  feine 
Freude  aus,  daß  feine  Empfehlung  fich  bewährt  habe.  Ja, 
das  ift  ein  Schwerenotskerl!  fuhr  Goethe  mit  derfelben 
Handbewegung  fort,  was  hat  der  für  Kniffe  im  Kopfe! 
Auf  die  Frage,  ob  er  nicht  noch  einiges  andere  lefen 
wolle,  um  ihn  ganz  kennen  zu  lernen,  antwortete  er  ab? 
wehrend:  Nein,  verehrter  Freund,  nun  ift  es  genug! 
Nichts  weiter!     Ich  kenne  ihn  jetzt,  und  das  reicht  hin. 

1800. 

[582.]     Anfang  d.  J.     B.  R.  Abeken. 

Ich  fah  Goethe  zum  erften  Male  im  Anfang  des  Jahres 
1800,  im  Weimarifchen  Theater,  wo  der  Wallenftein  ge? 
fpielt  wurde.  ^^  Schiller  ftand  während  jener  Vorftellung 
des  Wallenftein  in  einer  Loge,  Goethe  faß  im  Parterre 
dicht  hinter  mir  in  einem  bequemen  Seffel,  von  dem  aus 
er  damals  die  Vorftellungen  beherrfchte.  Hundertmal 
I 


280  B.  R.  Abeken.  [583 

wandte  ich  mich  um,  das  herrhche  Geficht,  diefe  gewaltigen 
Augen  zu  fehen.  Manches  von  ihm  an  feinen  Nachbar 
gerichtete  Wort  vernahm  ich,  und  ein  fehr  lobendes  über 
das  Schaufpiel,  das  ich  vor  Augen  hatte.  Dann  begegnete 
mir  Goethe  manchmal  in  Jena,  wo  er  auch,  nachdem 
Schiller  fich  in  Weimar  niedergelaffen,  oft  verweilte.  Er 
war  damals  ftark,  mehrere  Jahre  fpäter  hatte  er  eine  beffere 
Proportion;  noch  trug  er  das  Haar  in  einen  ftarken,  den 
ganzen  Rücken  hinabhängenden  Zopf  gewunden. 

[583.]     Januar.     K.  L.  v.  Knebel  an  Caroline  Herder. 

Daß  Sie  von  Mahomet  nicht  fehr  erbaut  waren,  kann 
ich  mir  faft  denken.  Goethe  fcheint  es  felbft  nicht  über^ 
all  zu  erwarten,  und  meint,  er  habe  doch  jedem  fein  Teil 
gehörig  gefagt,  woraus  er  fich  was  nehmen  könne. 

[584.]     Februar,  gegen  Mitte.     K.  A.  Böttiger  an  F.  Rochlitz. 

Rochlitz  hatte  verlangt,  fein  Luftfpiel :  Es  ift  die  Rechte  nicht, 
foUe  ohne  den  Namen  des  Verfaffers  aufgeführt  werden,  was 
nicht  berückfichtigt  wurde.     Goethe  hatte  darüber  geäußert: 

Der  Verfaffer  habe  nicht  Urfache  fich  zu  verbergen; 
das  Stück  werde  gewiß  gefallen. 

[585.]     (Februar  26.)  und  fpäter    W.  G.  Gotthardi. 

Ein  glückliches  Ohngefähr  wollte  es,  daß  ich  die 
perfönliche  Bekanntfchaft  diefes  Goethe  zu  machen  ge^ 
würdigt  wurde. 

Ja,  nicht  bloß  unzähligemal  hab  ich  ihn  gefehen  außer 
und  in  dem  Theater:  —  er  machte  mich  zu  feinem  kleinen 
Freund,  wie .  er  mich  zuweilen  fcherzend  nannte.  Sie 
vermittelte  fich,  diefe  Freundfchaft,  als  ich  eines  fchönen 
Abends  in  eben  demfelben  Theater,  wo  ich  außer  dem 
Rochus  Pumpernickel  auch  manche  andere  heitere  und  ernfi:e 
Stücke  aufführen  fah,  und  von  derfelben  breiten  einfach 
bretternen  Brüftung  der  Loge  des  alten  Herrn,  auf  welcher 
ich  in  der  erftgenannten  Poffe  zum  erftenmal  gefeffen  hatte, 
wohlgemut  und  fpannungsvoll  auf  die  Bretter  da  vorn 
lugte,  welche  die  Welt  bedeuten.  Es  wurde,  um  diplo? 
matifch  zu  erzählen,  die  Salierifche  Oper  Tarare  (Axur, 
Text  von  Beaumarchais)  gegeben.  Da,  als  der  zweite 
Akt  begonnen  hatte,  die  Jagemann  (Aftafia)  in  ihrem 
großen  verzweiflungsvollen  Rezitativ    begriffen  war  und 


586]  Weimar  -  Leipzig.     1800.  281 

mir  Tränen  jammervollen  Mitleids  über  ihr  fchreckliches 
Los  abzwang,  —  da  plötzlich  knarrt  die  Logentür  in  den 
Angeln  und  öffnet  fich  ^  Goethe  trat  in  die  Loge.  In 
fo  nahen  Gefichtskreis  war  der  Geheimrat  mir  noch  nie 
gekommen.  ^  Goethe  erblicken  und  zitternd  zum  Sprung 
herunter  mich  anfchicken  war  Eins.  —  Da  erfaßt  meinen 
Arm  eine  ftarke  Hand  —  die  feine.  Entfetzen  erfaßt  mich. 
Bleib  getroft,  mein  Sohn!  Wir  beide  haben  Raum  ge^^ 
nug.  Wer  wird  den  andern  ohne  Not  verdrängen?  tönt 
—  noch  heute  hör'  ich  fie  —  alsbald  eine  volle  ruhige 
Stimme  mir  ins  Ohr  —  die  feine.  ^  Und  als  ich  mich 
jäh  umwandte,  ruhete  fein  großes,  dunkles,  wundervolles 
Auge  liebreich  und  warm  auf  dem  bepurpurten  Antlitz 
des  bewegten  Knaben.  Den  Blick  werde  ich  nie  ver? 
geffen,  nie  jene  Worte;  keine  hab  ich  fefter  behalten  wie 
fie.  ^  Er  reichte  mir  fein  Textbuch  zum  Mitnachlefen 
und  bald  entfpann  fich  eine  Unterhaltung,  in  deren  Ver^^ 
lauf  er,  der  große  Menfch,  dem  kleinen  feine  winzig 
kleine  Lebensgefchichte  anteilvoll  entlockte,  f^  Wer  war 
glücklicher,  als  der  Knabe?  Und  noch  oft  nahm  er  den 
Platz  ein,  noch  oft  in  unmittelbarer  Nähe  des  Eigners, 
der  ihn,  neben  fi:eter  freundlicher  Anfprache  mit  Ers^ 
kundigung  nach  den  Fortfehritten  in  den  Schulwiffen? 
fchaften,  auch  materiell  mit  manch  Stücklein  Kuchen,  hin 
und  wieder  auch  einem  Glas  Wein  aus  feinem  Flafchen? 
korb  erquickte.  Denn  Goethe  liebte  es,  zuweilen  einen 
kleinen  Vorrat  kalter  Speife  und  Weins  in  feiner  Loge 
bereit  zu  halten,  mehr  für  andere,  deren  —  Einheimifche 
und  Fremde  von  Bedeutung  —  er  nicht  feiten  auch  dort 
empfing. 

[586.]     Mai  7.     Nach  G.  Hermann. 

Bei  dem  allgemeinen  Auffchwung  der  poetifchen  Tä^ 
tigkeit  machte  fich  damals  das  Streben  geltend,  auch  in 
der  Vollendung  der  Form  fich  den  Muftern  des  Alter? 
tums  zu  nähern;  wie  willkommen  mußte  ein  Werk  wie 
die  Metrik  fein.  Befonders  Goethe,  der  damals  mit  der 
Achilleis  und  der  Helena  befchäftigt  war  und  genauer  in 
das  Wefen  der  antiken  Versmaße  einzudringen  fi:rebte, 
nahm  den  regften  Anteil  daran,  und  als  er  bald  darauf 
nach  Leipzig  kam,  trat  er  eines  Abends  unerwartet  zu  dem 
erftaunten  Hermann  ins  Zimmer.  In  dem  Gefpräche,  das 
fich  über  Verskunft  zwifchen  ihnen  entfpann,  forderte  ihn 
I 


282  G.  Hermann.  [587 

endlich  Goethe  auf,  eine  deutfche  Metrik  zu  fchreiben, 
was  Hermann  mit  dem  Bemerken  ablehnte,  es  fei  Goethes 
Aufgabe,  die  deutfche  Metrik  zu  fchaffen. 

[587.]     Mai  erfte  Hälfte.     A.  W.  Schlegel  an  F.  Schelling. 

Goethe  hat  in  Leipzig  über  die  Sache  fafi  nur  leicht 
und  luftig  gefprochen;  Ihre  Schrift  gegen  die  Allgemeine 
Liferaturzeitung  in  der  Zeitfchrifl  für  fpekulative  Phyßk 
hat  er  im  ganzen  fehr  gelobt,  doch  gemeint,  manches  dar;: 
in  fordere  Lefer,  die  fchon  auf  dem  wahren  Punkte  ftän^ 
den  und  fei  für  die  Wirkung  nach  außen  noch  nicht  über^ 
zeugend  genug  vorgetragen.  Unter  anderm  wünfchte  er, 
die  Wendung  mit  dem  Widerwillen  wäre  nur  einmal  ge^ 
braucht  worden. 

[588.]     (Mai.)     A.  Genaft. 

Unferm  Vohs  ^  hatte  Schiller  die  Rolle  des  Mac^^ 
beth  zugeteilt.  Bei,  der  erften  Theaterprobe  war  er  feiner 
Aufgabe  noch  gar  nicht  fo  mächtig,  wie  man  es  von  ihm 
erwarten  durfte,  und  felbft:  die  lautefie  Hilfe  des  Souff? 
leurs  fruchtete  nur  wenig.  Da  aber  Vohs  wegen  feines 
eminenten  Talents  bei  Goethe  und  Schiller  in  hoher  Ach? 
tung  ftand  und  man  feine  Reizbarkeit  kannte,  fo  machten 
Dichter  und  Direktor  gute  Miene  zum  böfen  Spiel,  und 
keine  Rüge  erfolgte  ob  der  Nachläffigkeit.  Diefer  ftö? 
rende  Übelftand  trat  aber  auch  bei  der  Hauptprobe  her? 
vor,  und  Goethe  fchwoU  nun  die  Zornesader  und  er  rief, 
da  ich  zu  fungieren  hatte,  mit  feiner  mächtigen  Stimme: 
Herr  G'naftl  (Goethe  liebte  es,  meinen  Namen  zu  apo? 
firophieren),  verfügen  Sie  fich  zu  mir  herab!  Er,  Schiller 
und  Meyer  faßen  im  Parterre  und  der  zweite  Akt  war 
eben  zu  Ende.  Was  ift  denn  das  mit  diefem  Herrn  Vohs? 
fuhr  er  mich  an.  Der  Mann  kann  ja  kein  Wort  von 
feiner  Rolle,  wie  will  er  denn  den  Macbeth  fpielen?  Sollen 
wir  uns  vor  den  höchfien  Herrfchaften  und  dem  Public 
kum  blamieren?  Man  fiftiere  das  Stück  für  morgen,  und 
Sie  brauchen  das  Warum  weder  vor  Herrn  Vohs  noch 
dem  Perfonal  zu  verfchweigen.  Schiller  fuchte  Goethes 
Zorn  zu  befchwichtigen  und  rühmte  die  künftlerifche  Ruhe 
von  Vohs,  feine  Genialität,  die  ihn  gewiß  bei  der  Dar? 
ftellung  über  diefe  Klippe  hinwegführen  würde;  denn  die 
Auffaffung  des  Charakters  fei  vortrefflich.  Auch  ich 
ftimmte  der  Anficht  Schillers  bei,  und  Goethe,  der  fchon 


591]  Jena  -  Weimar.     1800.  283 

aufgeftanden  war,  um  das  Theater  zu  verlaffen,  fügte  fich 
endlich,  beauftragte  mich  aber,  Vohs  im  Vertrauen  einen 
Wink  zu  geben, 

[Hier  walten  Verwechflungen  ob:  bei  den  Proben  zum 
Macbeth  und  noch  bei  der  erften  Aufführung  war  Goethe  in 
Leipzig.] 

[589.1     Frühjahr.     Dorothea  Schlegel  an  Rahel  Levin. 

Haben  Sie  das  Athenäum  ///.  Band  fchon?  Wie  ge? 
fällt  Ihnen  die  Kritik  von  Schmidt,  Matthiffon  und  Voß, 
und  der  Wettgefang  von  A.  W.  Schlegel,  in  dem  fich  diefe 
verwandten  Geifter  vereinigen?  Ift  es  nicht  fo  gründlich 
als  fpaßhaft,  fo  würdig  als  witzig?  Papa  Goethe  hat  fich 
ganz  wie  rafend  damit  gefreut.  Schlegel  hat  es  ihm  drei* 
mal  de  suite  vorlefen  muffen. 

[590.]     Juni  16.     Nach  L.  Tieck. 

Tiecks  Meinung  nach  verdienten  manche  Weimarer 
Schaufpieler  nicht  den  Ruf,  in  welchem  fie  ftanden.  Graffs 
Pathos  unterfchied  fich  wenig  von  dem  verrufenen  tra* 
gifchen  Gurgelton.  Jetzt  wohnte  er  an  Goethes  Seite  einer 
Vorftellung  der  Maria  Stuart  bei,  die  foeben  auf  die  Bühne 
gebracht  worden  war.  Auch  diesmal  konnte  er  nicht 
anderer  Meinung  fein.  Den  künftlerifchen  Infi:inkt,  wel* 
eben  er  an  Fleck  bewunderte,  fand  er  hier  nicht  wieder. 
Alles  war  auf  ein  gewiffes  durchfchnittliches  Mittelmaß 
zurückgeführt.  Ein  ihm  aus  Berlin  bekannter  Schaufpieler, 
Cordemann,  gab  den  Leicefier  in  fo  ungefchickter  Weife, 
daß  er  die  Bemerkung  nicht  unterdrücken  konnte,  wie 
diefer  das  Ganze  entfchieden  ftöre.  Ich  kann  es  nicht 
finden,  antwortete  Goethe  trocken;  er  tut  feine  Schuldig* 
keit  gleich  allen  andern. 

[591.]     JuH.     Schiller  an  J.  F.  Cotta. 

Wegen  der  Propyläen  habe  ich  mit  Goethen  gefpro* 
eben,  und  er  proponiert  vor  der  Hand,  daß  Sie  ihm  für 
das  Stück,  welches  jetzt  gedruckt  werden  foll,  geben  kön* 
nen,  was  Ihnen  beliebt.  Sie  brauchen  ihm  alfo  nicht  mehr 
zu  geben,  als  Ihnen  nach  Abzug  der  Druckkoften  von 
dem  Gelde,  das  dafür  einkommt  noch  übrig  bleibt;  fo 
daß  Sie  alfo  bei  diefem  Stück  keinen  Verlufi:  erleiden. 
Was  die  künftige  Fortfetzung  betrifft,  fo  will  er  den  Ab* 
fatz  der  Propyläen  noch  ein  halbes  Jahr  abwarten  und  vor 
den  nächften  Oftern  kein  neues  Stück  mehr  herausgeben. 
I 


284 N.  Meyer. [592 

[592.]     Juli  erfte  Hälfte.     N.  Meyer. 

Eines  Morgens  zeigte  mir  Goethe  mehrere  fauber  ge? 
ftochene  und  kolorierte  Blätter  naturhifiorifcher  Gegen^ 
ftände,  welche  der  mir  befreundete  tüchtige  Zeichner  und 
Kupferftecher  Horny  angefertigt,  ohne  denfelben  jetzt 
eine  Beftimmung  geben  zu  können,  weshalb  er  fich  bei 
Goethen  Rats  erholt  hatte.  Bekannt  mit  meiner  Gewandt? 
heit  einen  gefälligen  Vers  zu  fchaffen  und  in  gebundener 
Rede  klar  etwas  darzuftellen,  machte  mir  Goethe  den  Vor? 
schlag,  eine  erläuternde,  verfifizierte  Erklärung  zu  den  BiU 
dern  zu  fchreiben,  und  fo  zur  Herausgabe  eines  kleinen, 
fich  von  den  gewöhnlichen  vorteilhaft  auszeichnenden  Bil? 
derbuches  Veranlaffung  zu  geben.  Mit  Luft  machte  ich 
mich  an  die  Arbeit,  und  vollendete  in  wenigen  Tagen 
die  Vorrede,  die  Einleitung  und  die  verfifizierte  Erklär 
rung  der  dreizehn  erften  Kupfertafeln.  Bald  darauf  trat 
ich  meine  Reife  an.  Indes  hatte  Horny  die  vierzehnte 
noch  folgende  Tafel  der  Mineralien  auch  beendigt,  wel? 
eher  nun  Goethe  felbfi:  die  poetifche  Erklärung  hinzufügte. 

[593.]     Juli  Anfang.     Schiller. 

Das  Mädchen  von  Orleans  ift  der  Stoff,  den  ich  be? 
arbeite.  '^  Auf  das  Hexenwefen  werde  ich  mich  nur  wenig 
einlaffen,  und  foweit  ich  es  brauche,  hoffe  ich  mit  meiner 
eigenen  Phantafie  auszureichen.  In  Schriften  findet  man 
beinahe  gar  nichts,  was  nur  irgend  poetifch  wäre;  auch 
Goethe  fagt  mir,  daß  er  zu  feinem  Faufi:  gar  keinen  Troft 
in  Büchern  gefunden  hätte.  Es  ift  derfelbe  Fall  mit  der 
Afirologie,  man  erfiaunt,  wie  platt  und  gemein  diefe  Erat? 
zen  find,  womit  fich  die  Menfchen  folange  befchäftigen 
konnten. 

[594.]     Juli  25.     F.  Schlegel. 

Goethe  ift  hier  in  Jena  und  wird  auch  noch  einige 
Zeit  wenigftens  hier  bleiben.  Geftern  habe  ich  ein  lan? 
ges  Gefpräch  mit  ihm  gehabt,  wobei  ab.r  alle  Regierungss^ 
angelegenheiten  forgfältig  vermieden  wurden.  Es  fcheint, 
daß  er  zeither  nicht  viel  gearbeitet  hat,  wenigftens  klagte 
er,  da  ich  ihn  nach  feiner  Optik  fragte,  fehr  über  Ab:= 
haltungen.  Von  Schellings  Naturphilofophie  fpricht  er 
immer  mit  befonderer  Liebe. 


598]  Jena  -  Weimar.     1800. 285 

[595.]     Auguft.     Jean  Paul. 

Auch  Goethe  ift,  wenigftens  äußerhch,  parteiifch;  jetzt 
fchweigen  er  und  Schiller  über  das  gelobte  Gedicht  der 
Imhoff,  Die  Schweßern  von  Leshos,  ftill,  das  ich  fortlobe. 
Wie  gefällt  Ihnen  Jacobis  Brief  an  Fichte?  fragt'  ich  ihn. 
^  Er  bleibt  nch  gleich.  —  Gott  und  auch  der  Teufel  bleiben 
fich  gleich,  fagt'  ich.  Darauf  bleibt  er  aus  Unbehülflich=: 
keit  und  Stolz  und  Zorn  dann  ftumm.  Kein  Epigramm 
kann  ihn  in  Bewegung  ftochern. 

[596.]     (September.)     F.  Schlegel. 

Goethe  behandelte  den  kränklichen,  oft  launifchen 
Dichter  Schiller  wie  ein  zärtlicher  Liebhaber,  tat  ihm  alles 
zu  Gefallen,  fchonte  ihn  und  forgte  für  die  Aufführung 
feiner  Trauerfpiele.  Doch  manchmal  brach  Goethes  kräf:? 
tige  Natur  durch,  und  einmal,  als  eben  die  Maria  Stuart 
bei  Schiller  befprochen  war,  rief  Goethe  beim  Nachhaufes: 
gehen:  Mich  foll  nur  wundern,  was  das  Publikum  fagen 
wird,  wenn  die  beiden  Huren  zufammenkommen  und  lieh 
ihre  Aventuren  vorwerfen. 

[597.]     September.     Caroline  Herder. 

Goethe  ift  in  Jena  und  fchafft  etwas.   — 
Ach,  diefer  hätte  uns  der  Natur  wiedergeben  können 
auf  einem  edlen  und  dem  rechten  Wege,  wenn  er  gewollt 
hätte.     Seine  Vergötterung  war  ihm  aber  lieber   als    die 
Wahrheit. 

[598.]     September  21.     B.  R.  Abeken. 

Goethe,  damals  in  Jena  verweilend,  Schiller  mit 
feiner  Gattin  und  dem  Hofrat  Meyer,  dem  Schweizer, 
von  Weimar  herübergekommen,  waren  bei  Griesbachs  zu 
Mittag  und  ich  wurde  dazu  eingeladen.  ^^  Von  dem  Ge* 
fpräche  bei  Tifch  haftet  nur  weniges  in  meinem  Gedächt? 
nis,  nur  daß  Goethe  einmal  des  Offian  gedachte,  freilich 
in  einer  andern  Weife,  als  im  Werther.  Nach  dem  Effen 
trat  die  Gefellfchaft  auf  den,  die  reizendfte  Ausficht  in 
das  Saaltal  bis  nach  Dornburg  gewährenden  Balkon  des 
Haufes,  wo  Goethe  '^  in  mannigfaltigen  farbigen  Bändern 
und  Blumen  das  Phänomen  der  fich  gegenfeitig  erzeugen? 
den  phyfiologifchen  Farben  fehen  ließ.  Da  machte  es  mir 
I 


286  B.  R.  Abeken.  [599 

große  Freude,  daß  er  mein  ficheres  Auge  lobte,  welches 
alle  Erfcheinungen  genau  auffaßte.  ~  Der  Kaffee  wurde 
im  Garten  getrunken,  in  der  nach  der  Stadt  hinfehenden 
Nifche.  Schiller  hatte  fich  neben  dem,  in  jener  fitzenden 
Freunde  auf  dem  Rafen  niedergelaffen ;  ich  konnte  mich 
nicht  enthalten,  wiewohl  in  einiger  Entfernung,  auf  dem:: 
felben  Rafen  meinen  Platz  zu  nehmen.  Er  fprach,  da 
das  Gefpräch  auf  neuere  Erfcheinungen  in  der  Literatur 
kam,  auch  von  Broxtermann  und  mit  Beifall. 

[599.]     September/ Oktober.     Schiller. 

Goethe  ift  von  feiner  Exkurfion  nach  Jena,  wo  er  et^ 
was  zu  arbeiten  hoffte,  längfi:  zurück,  hat  aber  nur  etwas 
weniges  vom  Fauft  gearbeitet,  welches  aber  vortrefflich  ift. 
Im  ganzen  bringt  er  jetzt  zu  wenig  hervor,  fo  reich  er 
noch  immer  an  Erfindung  und  Ausführung  ift.  Sein  Ge^ 
müt  ift  nicht  ruhig  genug,  weil  ihm  feine  elenden  häus^ 
liehen  Verhältniffe,  die  er  zu  fchwach  ift,  zu  ändern,  viel 
Verdruß  erregen. 

[600.]     Oktober  22./24.    Ungenannt. 

Eine  ganz  eigentümliche  Bewandtnis  hatte  es  mit  der 
Aufführung  von  Paläophron  und  Neoterpe  am  Geburts^ 
fefte  der  Herzogin  Amaha,  24.  Oktober  1800.  Ganz  kurz 
vorher  war  die  ftolze  Vafti  von  Gotter  im  Salon  der  Her^^ 
zogin  wiederholt  gegeben  worden,  und  alle  Teilnehmen^ 
den  fpielten  fo  allerliebft,  daß  Goethe,  von  dem  heiteren 
Eindrucke  hingeriffen,  ihnen  alfobald  gelobte,  fchnell  noch 
ein  neues  Stück  zu  dichten,  mit  dem  fie  am  Geburtstage 
die  geliebte  Fürftin  überrafchen  follten.  Aber  bis  dahin 
waren  nur  noch  ganz  wenige  Tage.  Um  nun  die,  bei 
fo  knapper  Frift  allerdings  fchwierige  Aufgabe  möglichft 
rafch  zu  löfen  und  fowohl  fich,  als  die  Spielenden  in  be*: 
geifterte  Stimmung  zu  verfetzen,  ergriff  Goethe  folgendes 
heroifche  Mittel.  Er  lud  fich  bei  den  Hofdamen  zum 
Frühftücke  und  zwar  auf  Punfch,  ein,  verfammelte  die 
Perfonen,  denen  er  Rollen  zudachte,  um  fich,  und  dik^; 
tierte  nun  der  Fräulein  von  Göchhaufen  die  verfchiedenen 
Rollen  in  die  Feder,  während  er  felbfi  im  Zimmer  auf 
und  ab  fchritt. 

Sobald  eine  Rolle  bis  auf  einen  gewiffen  Punkt  dik^ 
tiert  war,  mußte  fie  fofort  memoriert  —  und  fobald  die 
entfprechende  zweite  Rolle  auf  das  Papier  gebracht  war. 


602] Weimar  -  Jena.     1800. 287 

gleich  mit  diefer  zufammen  probiert  werden,  wobei  Goethe 
aufs  lebhaftefte  antrieb,  vorfpielte  und  einwirkte.  So  ge^^ 
fchah  es  denn,  daß  in  zweien  Vormittagen  das  Stück  fertig 
wurde  und,  nach  einer  Hauptprobe  am  dritten  Tage,  wirk? 
lieh  am  24.  Oktober  aufs  trefflichfie  und  zur  höchften 
Freude  der  Herzogin  gefpielt  werden  konnte. 

Neoterpe  ward  von  der  Hofdame  Fräulein  von  Wolfs? 
keel,  Paläophron  vom  Grafen  Brühl,  Griesgram  vom  (da? 
maligen  Regierungsrat)  Freiherrn  von  Fritfch  II,  Habe? 
recht  vom  Kammerrat  Riedel  gegeben.  Aber  beinahe  wäre 
noch  im  letzten  Momente  alles  an  Gelbfchnäbelchen  und 
Nafeweis  gefcheitert,  indem  die  dazu  angelernten  Kinder 
fich  die  häßlichen  Nafenmasken  durchaus  nicht  anhängen 
laffen  wollten,  fo  daß  Goethe  fich  genötigt  fah,  noch  in 
größter  Haft  ein  paar  Kinder  vom  Theater  aufzutreiben 
und  einzuexerzieren,  die  denn  doch  glücklicherweife  fich 
ihrer  Rolle  ganz  leidhch  entledigten. 

[601.]     November  Mitte.     F.  Schlegel  an  A.  W.  Schlegel. 

Goethe  ift  wieder  hier  und  hat  mir  eine  Kleinigkeit, 
die  er  zum  Geburtstag  der  alten  Herzogin  gemacht  — 
Alte  und  neue  Zeit  —  gezeigt.  Er  hat  mich  über  die 
griechifchen  Namen  konfultiert  und  fehlen  mit  denen,  die 
ich  ihm  vorfchlug  —  Paläophron  und  Neoterpe  —  zu? 
frieden. 

Daß  ein  gewaltiges  griechifches  Trauerfpiel  von  ihm 
zu  erwarten  ift,  in  Trimetern  und  chorähnlichen  Chören, 
hat  Dir  Dorothea,  glaube  ich,  fchon  als  Refultat  feines 
letzten  Hierfeins  gefchrieben.  Er  hat  einigemal  recht  viel 
darüber  mit  mir  gefprochen,  indeffen  habe  ich  mich  doch 
nicht  überwinden  können  zu  fragen  nach  dem  Sujet.* 

[602.]     November.     Caroline  Herder  an  K.  L.  v.  Knebel. 

Sie  muffen  fich  durch  die  Herzogin  Mutter  die  Alte 
und  Neue  Zeit  zu  ihrem  Geburtstag  durch  Goethe  geben 
laffen.  ^  O,  könnte  er  nur  etwas  Gemüt  feinen  Schöp? 
fungen  geben,  und  fähe  man  nicht  überall  eine  Art  von 
Buhlerei  oder,  wie  er  es  felbft  fo  gern  nennt,  das  betu? 
liehe  Wefen  darinnen! 


Das  griechifche  Trauerfpiel  ift  Helena. 


288 F.  Schlegel. [605 

[603.]     Dezember  (9).     F.  Schlegel. 

Zu  Goethe  bin  ich  gleich  gegangen,  um  den  Effekt 
von  Ehrenpforte  und  Triumphbogen  für  den  Theaterpräfi= 
denten  von  Kotzehue'^  recht  frifch  zu  vernehmen.  Er  hat 
es  durch  alle  Kategorien  gelobt,  am  meiften  das,  was  ich 
vor  allem  liebe,  nämlich  die  Reifebefchreibung.  Es  ift 
noch  vieles  mündlich  darüber  zu  reden;  es  find  mir  ganz 
neue  Lichter  über  die  Komödie  aufgegangen. 

[604.]     Dezember  erfte  Hälfte.     Schiller  an  A.  W.  Iffland. 

Goethe  ift  jetzt  fehr  preffiert,  den  Tancred  zu  volb 
enden.  Sie  haben  uns  dadurch,  daß  Sie  ihn  ein  wenig 
drängen  und  treiben,  einen  guten  Dienft  getan,  weil  diefes 
Stück  ohne  diefen  neuen  Sporn  leicht  auf  die  lange  Bank 
hätte  gefchoben  werden  können,  denn  Goethe  hat  eins: 
mal  den  Glauben,  daß  er  Winters  nichts  Poetifches  ar:^ 
beiten  könne,  und  weil  er  es  glaubt,  fo  ift  es  bis  jetzt 
auch  wirklich  der  Fall  gewefen. 

[605.]     Ende  d.  J.     H.  Voß  an  Börm. 

Wer  von  Goethe  (wie  es  Bürger  tat)  eine  weichliche 
Hingiebigkeit  erwartet,  ein  zärtliches  Entgegenkommen  und 
ein  herzliches  Anfchmiegen,  der  wird  gewöhnlich  betrogen. 
Ich  kann  mein  Beifpiel  anführen,  da  ich,  als  ich  Schiller 
foeben  verlaffen  hatte,  vor  drei  Jahren  zuerft  zu  Goethe 
kam  und  ihn  ebenfo  erwartete.  Ich  ward  zurückgeftoßen 
durch  fein  Auge;  ich  fühlte  mich  zu  klein,  zu  fchwach, 
mit  einem  Worte:  es  war  der  Eindruck  einer  gewaltigen 
Maffe  auf  das  unvorbereitete  Auge.  Ich  verließ  ihn  voll 
Ehrfurcht,  aber  konnte  ihn  nicht  lieben.  Nachher  fah 
ich  ihn  öfter  auf  Augenblicke,  konnte  aber  nie  meine 
Schüchternheit  überwinden,  noch  mein  reines  Zutrauen 
erwecken.  Als  mich  nun  Goethe  als  Lehrer  der  Wei:; 
marer  Schule  in  Vorfchlag  brachte  und  mein  Vater  des? 
halb  von  Jena  nach  Weimar  herüberreifte,  fagte  Goethe 
zu  ihm :  nun  folle  er  mich  einmal  auf  drei  Tage  hinüber? 
fchicken;  er  kenne  mich  freilich  wohl,  aber  doch  nur  ober? 
flächlich;  denn  ich  fei  immer  fo  fchüchtern  und  einfilbig 
gegen  ihn  gewefen.  Denke  Dir  meine  Freude,  als  mein 
Vater  mir  das  wieder  fagte  und  mir  hierdurch  die  Gewißheit 
gab,  von  nun  an  alle  Schüchternheit  fahren  laffen  zu  dürfen. 


Von  A.  W.  Schlegel. 


607]  Weimar.     1800.  289 

[606.1     Dezember  31.     H.  Steffens. 

Den  wirklichen  Anfang  des  Jahrhunderts  verlebte 
ich,  wie  fchon  gefagt,  mit  meinen  Jenaer  Freunden,  und 
zwar  in  Weimar  auf  einer  Maskerade,  durch  den  Hof 
veranftaltet.  Ein  wohlgeordneter,  von  Goethe  entworfener 
Aufzug  machte  den  Anfang.  '^ 

Nach  Mitternacht  zogen  Goethe,  Schiller  und  Schelf 
ling  fich  in  ein  Nebenkabinett  zurück.  Ich  durfte  von 
der  Gefellfchaft  fein.  Einige  Bouteillen  Champagner  ftan? 
den  auf  dem  Tifch  und  die  Unterhaltung  wurde  immer 
lebhafter.  Da  fiel  mir,  der  ich  mit  meiner  nordifchen 
Virtuofität  nüchterner  blieb,  als  die  alten  Herren,  die  Ver^ 
änderung  auf,  die  mit  zwei  fo  bedeutenden  Perfönlich;: 
keiten  vorging.  Goethe  war  unbefangen  luftig,  ja  über^ 
mutig,  während  Schiller  immer  ernfthafter  ward  und  fich 
in  breiten  doktrinären  äfthetifchen  Explikationen  erging; 
fie  hatten  die  größte  Ähnlichkeit  mit  feiner  bekannten  Kri? 
tik  über  Klopftock,  und  er  ließ  fich  nicht  ftören,  wenn 
Goethe  ihn  durch  irgend  einen  geiftreichen  Einwurf  in 
feinem  Vortrag  zu  verwirren  fuchte.  Schelling  behielt  fort;; 
dauernd  feine  ruhige  Haltung,  ich  konnte  ihm  kaum  eine 
Veränderung  anmerken.  Der  Arzt  Hufeland  war  eben 
im  Begriff,  einem  Rufe  nach  Berlin  zu  folgen.  Er  trat 
etwas  fpäter  herein,  und,  fo  beliebt  der  treffliche  Mann 
war,  fprach  fich  doch  die  Abneigung  gegen  Preußen  ziem* 
lieh  unbefangen  aus,  und  er  ließ  fich's  gutmütig  gefallen, 
Gegenftand  unferer  Scherze  zu  fein. 

Diefe  Nacht  ift  mir  um  fo  wichtiger  geworden,  weil 
ich  bald  darauf  in  Freiberg  erfuhr,  welche  bedenkliche 
Folge  diefer  Abend  für  Goethe  gehabt  hat.  Er  unterlag 
zum  erftenmal,  wenn  ich  nicht  irre,  in  feinem  Leben  einer 
bedeutenden  Krankheit,  und  der  Gedanke  an  feinen  be* 
vorftehenden  Tod,  der  ihn  fpäter,  wenigftens  mehrere  Jahre 
gequält  hat,  war  eine  Folge  diefer  Krankheit. 

Nachlefe  zum  vierten  Abfchnitt 

Zeitlich  nicht  näher  beftimmbar. 

[607.]     Marie  Körner. 

Da  unfere  Bekanntfchaft  mit  Goethe  aus  fehr  früher 
Zeit  datiert,  als  er  Student  in  Leipzig  und  ich  ein  Mäd* 
chen  von  fechs  Jahren  war,  hat  er  mich  und  meine  Schwer 
I  19 


290  Marie  Körner.  [608 

fter  in  gutem  Andenken  behalten  und  hört  es  gar  zu  gern, 
wenn  les  enfants  terribles,  wie  er  uns  nennt,  ihm  aus 
feinem  Studentenleben  erzählen. 

[608.]    J.  Falk. 

Goethe  aß  zuweilen  bei  der  Herzogin  Amalie  zu 
Tiefurt  zu  Mittag.  Er  befchwerte  fich,  daß  der  dortige 
herzogliche  Mundkoch  Goullon  fo  oft  Sauerkraut  vorfetze. 
Eines  Tages,  da  man  ihm  wieder  Sauerkraut  aufgetifcht 
hatte,  ftand  er  voll  Verdruß  auf  und  ging  in  ein  Neben? 
Zimmer,  wo  er  ein  Buch  aufgefchlagen  und  auf  dem  Tifch 
liegen  fand.  Es  war  ein  Jean  Paulfcher  Roman.  Goethe 
las  etwas  davon,  dann  fprang  er  auf  und  fagte:  Nein, 
das  ifi  zu  arg!  Erft  Sauerkraut  und  dann  fünfzehn  Seiten 
aus  Jean  Pauli    das  halte  aus,  wer  will. 

[609.]    J.  Falk. 

Jean  Paul,  fo  erzählte  Goethe,  gefiand  mir,  daß  er 
nie  in  feinem  Leben  einen  Vers  habe  machen  können, 
ein  Beweis,  wie  fremd  ihm  die  Form  war,  die  fich  ihm 
überall  wie  eine  abgefagte  Feindin  verweigerte.  So  find 
alle  feine  genialen  bis  zur  Fieberhitze  gefi:eigerten  Vor;: 
züge  mehr  oder  minder  aus  genialen  Aufgelöftheiten  ent:; 
fi:anden.  In  feiner  Seele  herrfchte,  wie  in  feinen  Schriften 
der  Zufammenhang  des  Doktrinärs. 

[610.]     Ein  Ehrlicher  Mann. 

Goethe  war  der  zweite,  den  ich  fah.  Er  hat  fich, 
feit  ich  ihn  in  Straßburg,  zwar  nur  flüchtig,  kennen  lernte, 
fehr  verändert.  Damals  fchien  er  mir  äußerfi:  lebhaft,  un? 
geniert  und  froh,  jetzt  aber  betrug  er  fich  fteif,  fo  daß 
mein  Befuch  mehr  das  Anfehen  einer  Audienz  nahm,  als 
einer  freundfchaftlichen  Mitteilung,  bei  welcher  Geift  und 
Herz  gleich  ausgeftrömt  wäre,  was  ich  doch  fo  innig 
wünfchte.  ^^  Sein  Gefühl  für  das  Schöne  der  bildenden 
Künfte  ifi  tief  und  rein,  und  fteht  mit  feinem  Gefühl  für 
Dichtkunft  in  genauem  Ebenmaße,  fo  daß  es  mir  äußerfi: 
belehrend  und  merkwürdig  war,  als  Goethe  die  Gefällig? 
keit  hatte,  mir  feine  Zeichnungen  und  Antiken,  die  er 
in  Italien  gefammelt,  zu  zeigen  und  dabei  feine  Bemer? 
kungen  fowie  Urteile  zu  fagen. 


614] 1794/1800. 291 

[611.]     Ein  Ehrlicher  Mann. 

Vor  einigen  Tagen  war  ich  wieder  bei  Goethe  und 
zwar  innigft  vergnügt.  Je  mehr  man  ihn  kennen  lernt, 
defto  intereffanter  wird  er,  defto  fchönere  Dinge  hört  man 
von  ihm,  und  die  Kälte  des  erfien  Befuchs  fchwindet 
bald  durch  das  geiftige  Feuer,  wodurch  man  bei  einem 
weiteren  Umgange  mit  ihm  erwärmt  wird.  Er  erzählte 
mir  viel  von  feinem  Aufenthalte  und  feiner  Reife  in  Italien. 
^  Eine  Reifebefchreibung  von  ihm  dahin  würde  ficher 
einzig  in  ihrer  Art  fein.  Nicht  nur  ^^  würden  wir  treffe 
liehe  Bemerkungen  über  Kunft,  fondern  auch  über  Natur 
und  Menfchen  darinnen  finden,  und  feine  fpaßhaften 
Abenteuer,  von  denen  er  mir  einige  erzählte,  würden  f^ 
bei  der  Lektüre  ein  luftiges,  angenehmes  Intereffe  erregen. 
In  Venedig  foll  er  befonders  mit  den  dortigen  fchönen 
Mädchen  manchen  Scherz  getrieben  haben. 

[612.]     Fr.  Schlegel. 

Im  Anfang  konnte  Goethe  die  Bildung  und  Viel^ 
feitigkeit  diefer  Erfcheinung  nicht  genug  rühmen  (Schleier^ 
machers  Reden);  je  nachläffiger  indes  der  Stil  und  je 
chriftlicher  die  Religion  wurde,  je  mehr  verwandelte  fich 
diefer  Effekt  in  fein  Gegenteil,  und  zuletzt  endigte  das 
Ganze  in  einer  gefunden  und  fröhlichen  Abneigung. 

[613.]     Amalie  v.  Helvig  geb.  v.  Imhoff. 

Zu  wiederholten  Malen  verbrachte  ich  Wochen  bei 
Schillers,  wo  jedes  Wort  die  Grenzen  meiner  Begriffe  er:? 
weiterte.  —  Goethe  kam  oft  nach  Jena,  und  abends  zu 
Vieren  um  einen  kleinen  runden  Tifch  verfammelt,  nährte 
ich  mich  weit  mehr  mit  geifiiger  als  leiblicher  Speife  oft 
bis  tief  in  die  Nacht  hinein,  den  bedeutendften  Gefprä^ 
chen  beider  Männer  im  lebhafteften  Umtaufch  der  Ideen 
horchend.  -^  Einen  '^  Abend  demonftrierte  Knebel  in 
heftigfter  Weife  feine  Anfichten  über  Verfchiedenes  dem 
ftillhorchenden  Goethe  vor,  und  als  er  keine  Gegenrede 
erhielt  und  betroffen  darüber  vor  Goethe  ftehen  blieb, 
erwiderte  diefer  ganz  behaglich:  Ach,  fag'  doch  noch 
mehr  fo  was  Dummes! 

[614.]     Amalie  v.  Helvig  geb.  v.  Imhoff. 

Nie  haben  Goethe  oder  Schiller  '^  eine  Zeile  in 
einer  meiner  Arbeiten  felbft  geftrichen,  fie  aber  eben  fo 
wenig  anders  als  fertig  gefehen,  foweit  ich  fie  ihnen  mit;: 
I  19* 


292  Amalie  v.  Helvig  geb.  v.  Imhoff.  [615 

teilte.  Zwei  Gefänge  der  Schweftern  von  Lesbos  waren 
eben  ^^  vollendet,  als  Goethe,  von  meiner  neuen  Arbeit 
unterrichtet,  fie  zu  hören  begehrte.  Ich  las  fie  auf  fein 
Verlangen  ihm  vor  und  erzählte  ihm  den  Plan  des  Ganzen. 

Als  Goethe  fo  gütig  war,  mir  einige  Bemerkungen 
wegen  des  Hexameters  zu  machen,  entdeckte  er  nicht 
ohne  fpaßhafte  Verwunderung,  daß  ich  noch  gar  nicht 
wiffe,  was  ein  Hexameter  fei.  Er  fagte  mir:  Ich  verftehe: 
das  Kind  hat  die  Hexameter  gemacht,  wie  der  Rofenftock 
die  Rofen  trägt. 

Goethe  felbft  fetzte  fich  hin,  mir  das  Schema  für 
diefe  Versform  aufzufchreiben,  die  ich  freilich  von  da  an 
fehr  ernftlich  ftudierte,  befonders  an  Luife  von  Voß,  die 
Goethe  mir  angeraten.  Ich  habe  das  von  mir  korrigierte 
Manuf kript,  für  die  zweite  Auflage  mit  eingerechnet,  eigene: 
händig  fiebenmal  abgefchrieben.  Goethe  felbft  war  fo 
gütig  die  Korrekturbogen  mit  mir  nachzufehen,  welche 
Stunden  einen  fo  reichen  Schatz  von  Unterricht  für  mich 
enthielten  und  überhaupt  etwas  fo  Erhebendes  und  Poe? 
tifches  in  allen  Nebenumftänden  hatten,  daß  diefe  Mo=: 
mente  allein  ein  gewöhnliches   langes   Leben   aufwiegen. 

[615.]     A.  W.  Iffland  zu  F.  L.  Schmidt. 

Als  der  noch  junge  Schauspieler  Friedrich  Ludwig  Schmidt 
Iffland  gefragt  hatte,  ob  er  ihm  Gaftfpielreifen  anrate,  antwortete 
diefer : 

Sie  werden  bei  dem  Reifen  verlieren  —  gewinnen, 
und,  wie  Goethe  fagt:  Ob  man  Erbfen  zählt  oder  Linfen, 
es  kommt  auf  eins  heraus. 

[616.]     A.  Genaft. 

Nie  gab  er  feiner  Unzufriedenheit  ftrenge  Worte; 
fein  Tadel  war  immer  fo,  befonders  gegen  die  altern  Schau? 
fpieler,  daß  er  nicht  verletzen  konnte;  z.  B. :  Nun,  das 
ift  ja  gar  nicht  übel,  obgleich  ich  mir  den  Moment  fo 
gedacht  habe;  überlegen  wir  uns  das  bis  zur  nächften 
Probe,  vielleicht  fiimmen  dann  unfere  Anflehten  überein. 
Den  jüngeren  gegenüber  war  er  weniger  rückfichtsvoll ; 
hier  hieß  es  oft:  Man  mache  es  fo,  dann  wird  man  feinen 
Zweck  nicht  verfehlen. 

[617.]     H.  E.  G.  Paulus. 

Goethes  Vieltätigfein  war  möglich,  weil,  wie  wir  von 
ihm  felbft  hörten,   er  wie  ein  Gefetz  befolgte,   was  Amt 


618] 1794/1800. 293 

und  Gefchäftsaufträge  betraf,  immer  zuerft  abzumachen, 
alsdann  aber  dem,  wozu  ihn  der  Geifi  trieb,  mit  unge? 
teilter  Fertigkeit  fich  ganz  hinzugeben. 

Zu  allen  diefen  Tendenzen  kam  in  Goethe  fortwährend, 
aber  mehr  wie  eine  problematifche  Unterhaltung  und  nicht 
eigentlich  als  Befchäftigung,  eine  gegen  hyperphyfifche 
Selbfttäufchung  des  damals  gepriefenen  abfoluten  Speku^ 
lierens  fehr  behutfame  Aufmerkfamkeit  hinzu.  Für  Ahs^ 
nungen  über  das  Übermenfchliche  hatte  Goethe  eine 
erhebende,  ftaunende  Andacht  in  fich :  Wie  jenes  Überfinn? 
liehe  gleichfam  von  oben  her  mit  unferer  Natur  und  Natura 
philofophie  zufammenhängt,  dies,  rief  er  mir  einmal  zu,  ift 
die  Frage.  Aber  fein  ahnendes  Denken  war  mit  der  be?: 
fonnenften  Scheu  vor  allen  Dogmen  als  Behauptungen 
verbunden,  befonders,  wenn  man  das  Praktifche  darnach 
oder  dagegen  regulieren  zu  wollen  fürchten  ließ,  f^ 

Goethe  ftimmte  mit  der  von  dem  abfirakteften  Phi? 
lofophen,  Spinoza,  nicht  zu  erwartenden  Weltanfchauung 
überein,  wie  fie  von  diefem  im  tractatus  theologico-politicus 
auf  das  fogenannte  alte  Teftament  angewendet  ift. 

Was  das  Hinüberblicken  in  das  abfolute  Hyper^: 
phyfifche  in  der  Philofophie  betrifft,  fo  wollte  Goethe 
die  Philofophen  von  Profeffion  darüber,  wie  er  zu  fagen 
pflegte,  gerne  gewähren  laffen,  foviel  fie  könnten.  Er 
ließ  als  Zuhörer  gerne  fie  fich  ausfprechen,  auch,  wenn 
fie,  wie  Schelling,  es  gleichfam  als  etwas  ihnen  ausfchließ? 
lieh  offenbar  Gewordenes  im  Befitz  und  Verfchluß  zu 
haben,  die  Miene  machten. 

Goethe  fagte  oft  wünfchend  und  hoffend:  Je  mehr 
man  fich  an  dem  Spekulieren  über  das  Übermenfchliche 
trotz  aller  Warnungen  Kants  vergeblich  abgemüht  haben 
wird,  defto  vielfeitiger  wird  dereinft  das  Philofophieren 
zuletzt  auf  das  Menfchliche,  auf  das  geiftig  und  körper^ 
lieh  Erkennbare  der  Natur  gerichtet  und  dadurch  eine 
wahrhaft  fo  zu  benennende  Naturphilofophie  erfaßt  werden. 

Was  die  mathematifchen  und  phyfikalifchen  Vorkennt^ 
niffe  betraf,  schätzte  Goethe,  wie  er  dies  mir  mehrmals 
fagte,   Hegel  mehr,  als  Schelling. 

[618.]     Schiller  an  Charlotte  Gräfin  Schimmelmann. 

Einige  Äußerungen  in  Ihrem  Briefe  führen  mich 
natürlich  auf  meine  Bekanntfchaft  mit  Goethe,  die  ich 
auch  jetzt,  nach  einem  Zeitraum  von  fechs  Jahren,  für 
I 


294 Schiller. [618 

das  wohltätigfie  Ereignis  meines  ganzen  Lebens  halte. 
Ich  brauche  Ihnen  über  den  Geift  diefes  Mannes  nichts 
zu  fagen.  Sie  erkennen  feine  Verdienfte  als  Dichter,  wenn 
auch  nicht  in  dem  Grade  an,  als  ich  fie  fühle.  Nach 
meiner  innigften  Überzeugung  kommt  kein  anderer  Dich^ 
ter  ihm  an  Tiefe  der  Empfindung  und  an  Zartheit  der? 
felben,  an  Natur  und  Wahrheit  und  zugleich  an  hohen 
Kunftverdienften  auch  nur  von  weitem  bei.  Die  Natur 
hat  ihn  reicher  ausgeftattet  als  irgend  einen,  der  nach 
Shakefpeare  aufgeftanden  ift.  Und  außer  diefem,  was  er 
von  der  Natur  erhalten,  hat  er  fich  durch  rafilofes  Nach? 
forfchen  und  Studium  mehr  gegeben,  als  irgend  ein 
anderer.  Er  hat  es  fich  20  Jahre  mit  der  redlichfi:en  An? 
ftrengung  fauer  werden  laffen,  die  Natur  in  allen  ihren 
drei  Reichen  zu  ftudieren,  und  ifi:  in  die  Tiefen  diefer 
Wiffenfchaften  gedrungen.  Über  die  Phyfik  des  Menfchen 
hat  er  die  wichtigfi:en  Refultate  gefammelt  und  ift  auf 
feinen  ruhigen  einfamen  Wegen  den  Entdeckungen  voraus? 
geeilt,  womit  jetzt  in  diefen  Wiffenfchaften  fo  viel  Parade 
gemacht  wird.  In  der  Optik  werden  feine  Entdeckungen 
erft  in  künftiger  Zeit  ganz  gewürdigt  werden,  denn  das 
Falfche  der  Newtonfchen  Farbenlehre  hat  er  bis  zur  Evidenz 
demonftriert,  und  wenn  er  alt  genug  wird,  um  fein  Werk 
darüber  zu  vollenden,  fo  wird  diefe  Streitfrage  unwider? 
leglich  entfchieden  fein.  Auch  über  den  Magnet  und  die 
Elektrizität  hat  er  fehr  neue  und  fchöne  Anfichten.  So 
ifi  er  auch  in  Rückficht  auf  den  Gefchmack  in  bildenden 
Künften  dem  Zeitgeifte  fehr  weit  voraus  und  bildende 
Künftler  könnten  vieles  bei  ihm  lernen.  Welcher  von 
allen  Dichtern  kommt  ihm  in  folchen  gründlichen  Kennt? 
niffen  auch  nur  von  ferne  bei,  und  doch  hat  er  einen 
großen  Teil  feines  Lebens  in  Minifterialgefchäften  auf? 
gewendet,  die  darum,  weil  das  Herzogtum  klein  ift,  nicht 
klein  und  unbedeutend  find.  Aber  diefe  hohen  Vorzüge 
feines  Geiftes  find  es  nicht,  die  mich  an  ihn  binden. 
Wenn  er  nicht  als  Menfch  für  mich  den  größten  Wert 
von  allen  hätte,  die  ich  perfönlich  je  habe  kennen  lernen, 
fo  würde  ich  fein  Genie  nur  in  der  Ferne  bewundern. 
Ich  darf  wohl  fagen,  daß  ich  in  den  6  Jahren,  die  ich 
mit  ihm  zufammen  lebte,  auch  nicht  einen  Augenblick  an 
feinem  Charakter  irr^  geworden  bin.  Er  hat  eine  hohe 
Wahrheit  und  Biederkeit  m  feiner  Natur,  und  den  hoch? 
fien  Ernfi  für  das  Rechte  und  Gute:    darum   haben  fich 


618] 1794/1800. 295 

Schwätzer  und  Heuchler  und  Sophiften  in  feiner  Nähe 
immer  übel  befunden.  Diefe  haffen  ihn,  weil  fie  ihn 
fürchten;  und  weil  er  das  Falfche  und  Seichte  im  Leben 
und  in  der  Wiffenfchaft  herzlich  verachtet  und  den  falfchen 
Schein  verabfcheut,  fo  muß  er  in  der  jetzigen  bürgerlichen 
und  literarifchen  Welt  notwendig  es  mit  Vielen  verderben. 
Sie  werden  nun  aber  fragen,  wie  es  komme,  daß  er  bei 
diefer  Sinnesart,  mit  folchen  Leuten,  wie  die  Schlegelfchen 
Gebrüder  find,  in  Verhältnis  ftehen  könne.  Diefes  Vers: 
hältnis  ift  durchaus  nur  ein  literarifches  und  kein  freund:^ 
fchaftliches,  wie  man  es  in  der  Ferne  beurteilt.  Goethe 
fchätzt  alles  Gute,  wo  er  es  findet,  und  fo  läßt  er  auch 
dem  Sprachst  und  Verstalent  des  älteren  Schlegel  und  feiner 
Belefenheit  in  alter  und  ausländifcher  Literatur,  und  dem 
philofophifchen  Talent  des  jüngeren  Schlegel  Gerechtig=: 
keit  widerfahren.  Und  darum,  weil  diefe  beiden  Brüder 
und  ihre  Anhänger  die  Grundfätze  der  neuen  Philofophie 
und  Kunfi:  übertreiben,  auf  die  Spitze  fi:ellen  und  durch 
fchlechte  Anwendung  lächerlich  oder  verhaßt  machen, 
darum  find  diefe  Grundfätze  an  fich  felbfi,  was  fie  find, 
und  dürfen  durch  ihre  fchlimmen  Partifans  nicht  vers: 
lieren.  An  der  lächerlichen  Verehrung,  welche  die  beiden 
Schlegel  Goethe  erweifen,  ift  er  felbft  unfchuldig,  er  hat 
fie  nicht  dazu  aufgemuntert,  er  leidet  vielmehr  dadurch 
und  fieht  felbft  recht  wohl  ein,  daß  die  Quelle  diefer 
Verehrung  nicht  die  reinfi:e  ifi: ;  denn  diefe  eiteln  Menfchen 
bedienen  fich  feines  Namens  nur  als  eines  Paniers  gegen 
ihre  Feinde,  und  es  ifi:  ihnen  im  Grunde  nur  um  fich 
felbft  zu  tun.  Diefes  Urteil,  das  ich  Ihnen  hier  nieder:: 
fchreibe,  ift  aus  Goethes  eigenem  Munde,  in  diefem  Tone 
wird  zwifchen  ihm  und  mir  von  den  Herren  Schlegel  ge? 
fprochen. 

Infofern  aber  diefe  Menfchen  und  ihr  Anhang  fich 
dem  einreißenden  Philofophenhaß  und  einer  gewiffen 
kraftlofen  feichten  Künftlerkritik  tapfer  entgegenfetzen,  ob 
fie  gleich  felbft  in  ein  anderes  Extrem  verfallen,  infofern 
kann  man  fie  gegen  die  andere  Partei,  die  noch  fchäd:: 
lieber  ift,  nicht  ganz  finken  laffen,  und  die  Klugheit  be? 
fiehlt  zum  Nutzen  der  Wiffenfchaft  ein  gewiffes  Gleich:^ 
gewicht  zwifchen  den  idealiftifchen  Philofophen  und  den 
Unphilofophen  zu  beobachten. 

Es  wäre  zu  wünfchen,  daß  ich  Goethe  ebenfogut 
in  Rückficht  auf  feine  häuslichen  Verhältniffe  rechtfertigen 
I 


296 Schiller. [618 

könnte,  als  ich  es  in  Abficht  auf  feine  literarifchen  und 
bürgerlichen  mit  Zuverficht  tun  kann.  Aber  leider  ifi:  er 
durch  einige  falfche  Begriffe  über  das  häusliche  Glück 
und  durch  eine  unglückliche  Ehefcheu  in  ein  Verhältnis 
geraten,  welches  ihn  in  feinem  eigenen  häuslichen  Kreife 
drückt  und  unglücklich  macht,  und  welches  abzufchütteln 
er  leider  zu  fchwach  und  zu  weichherzig  ifi:.  Dies  ifi: 
feine  einzige  Blöße,  die  aber  niemand  verletzt  als  ihn 
felbfi,  und  auch  diefe  hängt  mit  einem  fehr  edlen  Teil 
feines  Charakters  zufammen.  Ich  bitte  Sie,  meine  gnädige 
Gräfin,  diefer  langen  Äußerung  wegen  um  Verzeihung, 
fie  betrifft  einen  verehrten  Freund,  den  ich  liebe  und 
hochfchätze  und  den  ich  ungern  von  Ihnen  beiden  ver^ 
kannt  fehe.  Kennten  Sie  ihn  fo,  wie  ich  ihn  zu  kennen 
und  zu  fiudieren  Gelegenheit  gehabt,  Sie  würden  wenige 
Menfchen  Ihrer  Achtung  und  Liebe  würdiger  finden. 


Fünftes  Buch 

Vom  Beginne  des  neunzehnten 

Jahrhunderts  bis  zu 

Schillers  Tode 


1801  bis  Mai  1805 


1801. 

[619.]     Januar  Anfang.     Schiller  an  J.  F.  Cotta. 

Leider  ift  Goethe  in  diefem  Augenblick  fehr  krank, 
und  feine  Ärzte  find  nicht  ohne  Furcht  eines  Unglück? 
liehen  Ausgangs.  Auch  wenn  er  für  jetzt  der  Gefahr 
entrinnt,  fo  könnte  ihm  doch  eine  große  Schwäche  und 
kränkliche  Dispofition  übrig  bleiben,  die  feine  Tätigkeit 
hemmen  würde.  Es  ift  ein  katarrhalifches  Fieber  mit  einem 
heftigen  Rotlauf,  welches  fich  ins  linke  Auge  geworfen, 
und  mit  einem  fchmerzhaften  Krampfhufien  verbunden. 
Der  Arzt  fürchtet,  daß  die  äußere  Entzündung  ins  Ge? 
hirn  fchlagen,  oder  daß  ein  Stock?  oder  Schlagfluß  dazu 
kommen  könnte.  Heute  ift  der  fechfte  Tag  und  ich  fchreibe 
Ihnen  mit  der  nächfien  Poft,  wie  es  um  ihn  fteht. 

[620.]     Januar  19.     Caroline  Herder. 

Daß  Goethe  lebt,  darüber  wollen  wir  Gott  danken. 
Es  möchte  ohne  ihn  nicht  gut  in  Weimar  werden.  Er 
ift  doch  immer  der,  der  Schranken  fetzt,  wenn  es  zu  bunt 
werden  will! 

Mein  Mann  hatte  ihn  vorgeftern  befucht  —  fand  aber 
den  Herzog  und  Schiller  da  —  ein  folcher  Dreiklang 
war  feiner  Natur  fremd  —  ungewohnt  —  er  kam  ver? 
ftimmt  nach  Haufe. 

1621.]     Januar  26.     Charlotte  v.  Stein. 

Frau  V.  Stein  befuchte  mit  Frau  v.  Schiller  Goethen  nach 
feiner  Genefung. 

Er  bat  uns  aufs  neue  um  unfere  Freundfchaft,  als 
wenn  er  wieder  in  der  Welt  angekommen  wäre. 

I 


300 H.  Schmidt. [622 

[622.]     (März  1.)    H.  Schmidt. 

Ich  befchloß,  mich  dem  Theater  zu  widmen,  jedoch 
nicht,  ohne  vorher  den  Rat  einfichtsvoller  Männer  darüber 
erforfcht  zu  haben.  Wie  konnte  ich  aber  in  Weimar 
über  die  Wahl  diefer  Männer  anflehen I  Lebte  nicht 
Schiller  da  und  hatte  er  mich  nicht  freundlich  auige* 
nommen?  An  ihn  wandte  ich  mich  und  wagte  es,  ihn 
um  feine  Meinung  zu  bitten.  Der  forgfam  befcheidene 
Mann  wollte  es  nicht  allein  auf  fich  nehmen  und  ver;: 
fprach,  mit  Goethe  darüber  zu  fprechen.  ^^  Bald  darauf 
erhielt  ich  auch  wirklich  eine  Einladung,  zu  Schiller  zu 
kommen.  Es  war  eines  Sonntags  nachmittags  um  5  Uhr. 
Auch  Goethe  kam.  Ich  las  einiges  vor:  einen  Monolog 
und  einige  Szenen  aus  Leben  und  Tod  König  Johanns 
von  Shakefpeare.  Goethe  fprach  fich  dann  weitläufig  und, 
was  noch  mehr,  mit  augenfcheinlicher  innerer  Anregung 
über  den  Schritt  aus,  fich  dem  Theater  zu  widmen,  und 
wandte  dann  das  Ausgefprochene  auf  mich  an.  Wenn 
er  auch,  meinte  er,  hier  Verftändnis  des  Dichters,  ent*; 
fprechende  Äußerlichkeit,  gutes  Organ  zugeben  wolle,  fo 
könne  er  doch  zwei  Beforgniffe  nicht  umgehen,  nämlich 
daß  mich,  wenn  ich  jetzt  fo  unvorbereitet  in  die  Welt 
träte,  das  Leben  felbft  in  feine  magifchen  Kreife  und  foj: 
mit  von  der  Neigung  und  Liebe  zum  nachgefpiegelten 
hinwegziehen  würde,  und  doch  würde  ich  der  Nachhülfe 
diefer  Neigung  und  Liebe  noch  fehr  bedürfen,  um  auf 
dem  Wege  zum  Ziele  zu  beharren,  da  er  mir  dadurch 
fehr  erfchwert  werden  würde,  daß  mir  Nachahmungstrieb 
und  Nachahmungsgabe,  worauf  jetzt  noch  die  SchaufpieU 
kunft  hauptfächlich  mit  begründet  fei,  gänzlich  abzugehen 
fcheine.  Er  verbreitete  fich  noch  umftändlicher  darüber 
und  verließ  uns  hierauf,  um  zu  den  Frauen,  wie  er  fagte, 
in  das  anftoßende  Zimmer  hinüberzugehen.  Während 
deffen  war  der  höchfi  liebens^  und  verehrungswürdige 
Schiller  treulich  und  angelegentlich  bemüht,  mir  noch  näher 
zu  erklären,  was  Goethe  gemeint  und  geäußert  hatte,  doch 
ohne  fich  irgend  einen  Zufatz  zu  erlauben,  f^ 

Als  Goethe  zurückgekommen,  erteilte  er  mir  für  den 
Fall,  daß  ich  nun  noch  bei  meinem  Vorfatz  beharren  wollte, 
die  höchft  willkommene  Erlaubnis,  zweimal  die  Woche 
zu  ihm  zu  kommen  und  mit  ihm  eine  auswendig  gelernte 
Rolle  durchzugehen. 


623]  Weimar.     1801. 301 

[623.]     (März.)     H.  Schmidt. 

Ich  fprach  den  berühmten  Monolog  aus  Hamlet  wieder 
nach  der  Schlegelfchen  Überfetzung  und  hatte  dabei  die 
Stellung  angenommen,  daß  ich  die  rechte  Hand  an  das 
Kinn  legte,  während  die  linke  Hand  den  rechten  Arm, 
an  der  Spitze  des  Ellenbogens  herabhängend,  unterfiützte. 
Goethe  äußerte  fich  nicht  mißbilligend  über  diefe  Stellung : 
auch  tadelte  er  nicht,  daß  ich  den  größten  Teil  des  Mono? 
logs  dabei  beharrt  hatte;  denn  diefes  Beharren  des  Schaus: 
fpielers  in  einem  Geft  teile  dem  Zufchauer  das  Gefühl 
einer  gewiffen  Ruhe  und  Sicherheit  mit,  das  jeder  Dar? 
fiellung  wohl  zuftatten  komme,  und  fei  bei  tragifchen 
Rollen  insbefondere  von  größerer  Wirkung  als  das  öftere 
Wechfeln  der  Stellung  und  der  Geften,  wenn  diefe  nicht 
durch  befondere  Urfachen  etwa  bedingt  würden.  Doch 
muffe  ich  nicht  glauben,  daß  ich  nun  durch  Wahl  und 
Ausführung  der  angegebenen  Stellung  dem  Ziel,  dem 
Auge  ein  gutes  Bild  vorzurücken,  viel  näher  gekommen 
fei,  wenn  nicht  alles  und  jedes  miteinander  übereinitimme. 
Hier  fei  z.  B.  die  Hand  unter  dem  rechten  Ellenbogen 
jetzt  in  eine  Fauft  zufammengezogen,  was  jedoch  gegen 
alle  Regel  der  Schönheit  fei.  Die  Hand  muß  fo  gehalten 
werden!  fagte  er  und  ftreckte  mir  dabei  feine  Hand  hin, 
von  der  er  die  mitteilten  zwei  Finger  zufammen,  den 
Daumen  aber  und  die  andern  zwei  Finger  etwas  ausein? 
anderhielt,  die  letzten  aber  außerdem  etwas  gebogen  herab? 
hängen  ließ.  So  ift  fie  harmonifch  mit  dem  Ganzen,  in 
der  rechten  Form  und  anmutig  zugleich;  doch  fie  fo  zu 
biegen  und  zu  geftalten  fieht  leichter  aus,  als  es  ift.  Nur 
langer  Umgang  mit  der  Malerei,  mit  der  Antike  insbe? 
fondere,  verfchafft  uns  eine  folche  Gewalt  über  die  Teile 
des  Körpers;  denn  es  gilt  hier  nicht  fowohl  Nachahmung 
der  Natur,  als  ideale  Schönheit  der  Form.  Bei  Ver? 
änderung  der  Stellungen  und  Geberden  ift  vorzüglich  zu 
beachten,  daß  fie  vorbereitet  und  langfam  gefchehe,  nicht 
etwa  mitten  in  der  Rede,  wobei  immer  Mäßigung  haupt? 
fächlich  zu  empfehlen  ift,  damit  man  zur  Steigerung  der 
Effekte  Ausdauer  gewinnt.  Befonders  empfehle  er  mir, 
den  obern  Teil  des  Arms  fo  ruhig,  als  möglich  zu  halten, 
fowie  mit  dem  Arm  nicht  den  Körper  zu  decken  und  ihn 
dadurch  gleichfam  zu  durchfchneiden.  Der  Körper  muß 
immer  möglichft  frei  und  zwei  Dritteile  dem  Publikum  zu? 
gekehrt  bleiben,  damit  alles  Profilfpiel  vermieden  werde. 
I 


302 H.  Schmidt. [624 

Um  fich  Geberdenfpiel  zu  erwerben  und  das  Spiel  der 
Arme  gelenkfam  und  bezeichnend  zu  machen,  empfahl 
er  bei  Übung  der  Rolle  gegen  einen  Spiegel  gekehrt  zu 
fprechen,  wobei  der  Schaufpieler  jede  unrichtige  Bewegung 
bemerken  und  die  paffendfien  Geften  wählen  könne,  vorausss 
gefetzt  jedoch,  daß  er  vorher  feine  Aufgabe,  feinen  Charakter 
gut  durchftudiert  habe.  Übrigens  gab  er  mir  den  Rat, 
auch  im  Lebensverkehr  nie  die  Haltung  und  das  Geberden^ 
fpiel  aus  dem  Auge  zu  verlieren,  fondern  immer  an  mir 
zu  beobachten;  denn  dies  erleichtere  die  Aufgabe  auf  der 
Bühne  außerordentlich.  Befonders  muffe  man  bei  einem 
Monolog  daran  denken,  daß  man  nun  allein  im  Rahmen 
ftehe  und  daher  dem  Auge  des  Zufchauers  auch  allein 
ausgefetzt  fei.  In  bezug  auf  die  Deklamation  diefes  Mono^ 
logs  traf  Goethes  erfte  Bemerkung  die  Stelle  der  Über^ 
fetzung : 

Die  unfers  Fleifches  Erbteil  —  's  ift  ein  Ziel 
Aufs  innigfte  zu  wünfchen. 

Das  ift  ganz  gefehlt!  Setzen  Sie  ein  ,find*  dazu, 
wenn  es  nicht  dafteht;  denn  das  Erfte  von  der  Bühne 
herab  ift  Verftändlichkeit;  daher  ift  die  vollftändige  Aus? 
fprache  jeder  Silbe,  um  fo  mehr  jedes  erforderlichen 
Wortes  nötig.  Nichts  darf  dem  Zuhörer  vorenthalten 
werden,  damit  er  hauptfächlich  verftehe,  was  zu  verftehen 
ift.  Befonders  warnte  er  vor  allem  Dialekt,  wobei  er  die 
dem  Sachfen  eigene  offene  Ausfp räche  des  e,  wie  geben, 
leben  (in  Sachfen  oft  wie  gäben,  laben)  als  ihm  be? 
fonders  gehäffig  bezeichnete.  Vor  allem  aber  folle  an? 
fänglich  die  Rolle,  bevor  fie  gelernt  werde,  recht  langfam 
und  befiimmt  gefprochen  und  dabei  der  Ton  fo  tief  als 
möglich  gehalten  werden,  um  für  die  Steigerung  desfelben 
auszureichen.  Beim  Auswendiglernen  derfelben  fei  vor? 
züglich  darauf  zu  fehen,  daß  es  nicht  mit  falfcher  Ak? 
zentuation  ufw.  gefchehe;  daß  jedes  Wort  richtig,  dem 
Sinn  gemäß  gefprochen  werde ;  denn  fonft  werde  der  Vor? 
trag  und  die  Ausfprache  immer  fehlerhaft  bleiben. 

[624.]     (März.)     H.  Schmidt  an  Goethe. 

Ihnen  verdank'  ich  die  weife  Lehre,  von  deren 
Wahrheit  jeder  neue  Tag  ein  neuer  Beweis  ift,  daß  nur 
durch  das  äußere  Leben  das  innere  Leben  erregt  wird, 
nicht  durch  gefühllofes  Spekulieren,  was  des  Lebens  Mark 
nur  austrocknet. 


628]  Weimar.     1801.  303 

[625.]     März  (9).     Charlotte  v.  Schiller. 

Goethe  hat  eben  bei  einem  Zerwürfnis  zwifchen  den 
Schauspielerinnen  Jagemann  und  Vohs  wegen  der  Rolle  der 
Thekla  im  Wallenßein  fich  fehr  ereifert  und  gefagt,  er 
dürfe  nicht  nachgeben,  weil  er  fonft  um  jede  andere  Schau? 
fpielerin  auch  geplagt  würde  und  das  Protegieren  fatt  hätte, 
das  ihn  fchon  ehmals  bei  der  Göchhaufen  und  Herzogin 
über  die  Rudorf  fo  gequält  ufw.  ^  Goethe  ift  mir  un? 
begreiflich,  Kirms  lügt,  denn  die  Herzogin  hat  es  ihm 
ja  aufgetragen,  mit  Goethe  zu  reden,  und  Goethe  behaups^ 
tet,  es  habe  fich  niemand  an  ihn  gewendet.  Er  ift  noch 
krank,  man  muß  auch  ihn  fchonen. 

[626.]     (März.)     K.  v.  Stein. 

Die  Jagemann  hat  fich  mit  dem  Kranz  entzweit,  weil 
er  in  der  Oper  nicht  nach  dem  Takt  fpielen  foll,  fons: 
dem  nach  ihrer  Stimme.  Dies  fcheint  für  das  ganze  Or* 
chefter  etwas  viel  verlangt  zu  fein,  doch  hat  Goethe  dem 
Kranz  bis  zur  Zurückkunft  des  Herzogs  die  Direktion 
des  Orchefiers  unterfagt,  worüber  denn  jetzt  die  Operette 
nicht  reüffiere.  Bei  dem  Gelächter,  was  in  diefer  Un? 
Ordnung  gefchah,  fo  daß  die  Annonce  des  neuen  Stückes 
nicht  gehört  werden  konnte,  hat  fich  Goethe  fo  echauf* 
fiert,  daß  er  laut  aus  feiner  Loge  dem  publico  Stillfchwei? 
gen  geboten. 

[627.]     April.     Nach  Steinfchen  Papieren. 

Goethe  nahm  Charlotten  von  Steins  Vorfchlag,  feine 
Überfetzung  des  Tancred  durch  Fritz  an  das  Breslauer 
Theater  zu  verkaufen,  dankbar  an  und  ^  verficherte  ihr^ 
es  werde  ihm  unangenehm  fein,  follte  ihr  Fritz  wähs: 
rend  feiner  Abwefenheit  in  Weimar  fein,  fo  daß  er  ihn 
nicht  zu  fehen  bekomme.  ~  Fritz  folle  fich  nicht  durch 
des  Herzogs  Anwefenheit  hindern  laffen,  da  man  in  poli? 
tifchen  Dingen  vergeffen  muffe,  was  den  Tag  vorher  ge:^ 
fchehen. 

[628.]     April  10.     Caroline  v.  Herder. 

Gerning  war  noch  Freitag  bei  Goethe  und  Wieland 
und  hat  dort  fein  Säkulargedicht  vorgelefen.  Da  fand 
Goethe,  daß  des  großen  Schillers  dramatifche  Kunft  nicht 
gefeiert  worden  ift,  daß  Kants  große  Wirkung  nicht  ge? 
nannt  worden  ift,  und  daß  der  Vers:  Wenn  nicht  nannte 
I 


304  Caroline  v.  Herder.  [629 

die  Mufe  ufw.  zu  hart  wäre  ufw.  Das  meinte  auch  Ger? 
ning.  Die  Änderung  des  letzten  Verfes  aber  ließen  wir 
nicht  gefchehen;  gerade  das  Steigen  hebt  den  Namen 
Herder  noch  höher;  ich  ließ  es  durchaus  nicht  zu.  Am 
Schiller  wurde  folgendes  gezimmert: 

Schillers  Lied  ertönt  am  Altar  der  Mufen, 
Wo  ihm  Weisheit,  Kunft  und  die  höchfte  Dichtkunft, 
Jede  den  Kranz  flicht. 

Kant  blieb  —  er  konnte  nicht  höher  gefeiert  werden 
—  es  war  ganz  im  Sinn  des  großen  Urteils  über  ihn  in 
Herders  Metakritik  —  und  Goethe  ift  zu  beklagen,  daß 
er's  nicht  verftanden  hat.  Schiller  und  Niethammer  müffen's 
ihm  erfi  erklären. 

[629.]     April.     Schiller  an  Ch.  G.  Körner. 

Goethe  ift  wieder  ganz  hergeftellt  und  hat  indeffen 
vieles  an  feinem  Fauft  getan,  der  aber  noch  immer  als 
eine  unerfchöpfliche  Arbeit  vor  ihm  Hegt,  denn  dem  Plan 
nach  ift  das,  was  gedruckt  ift,  nur  höchftens  der  vierte 
Teil  des  Ganzen,  und  was  feitdem  fertig  geworden,  beträgt 
noch  nicht  foviel  als  das  Gedruckte.  —  Sonft  befchäftigt 
er  fich  auch  viel  mit  feinen  optifchen  und  naturhiftorifchen 
Dingen,  die  gewiß  von  fehr  großer  Bedeutung  find. 

Mit  dem  Maler  Hartmann  geht  es  Dir  wie  mir;  ich 
habe  ihn  auch  nicht  kennen  lernen,  weil  ich  damals  in 
Jena  abwefend  war.  Man  rühmt  aber  fehr  fein  Talent 
und   Goethe  hält  ihn  für  einen  tüchtigen  Burfchen. 

[630.]     Mai  6.     Caroline  v.  Schlegel  an  A.  W.  v.  Schlegel. 

Goethe  ift  hier  m/ena.  Schellingwar  geftern  den  ganzen 
Morgen  bei  ihm,  fuhr  mit  ihm  aus,  kam  auch  ganz  er? 
müdet  von  fcherz?  und  ernfthaften  Reden  bei  uns  an.  Er 
hatte  fich  eben  auf  das  angelegentlichfte  nach  Dir  und 
Deinem  Tun  und  Treiben  erkundigt  und  wann  Du  kämft, 
als  ich  das  Paket  hinfchickte.  Schelling  erzählte  ihm  Deine 
Händel  mit  Unger,  er  las  Deinen  Brief  und  fagte:  Nun, 
er  fcheint  doch  recht  vergnügt  und  wohl  zu  fein  und  es 
freut  mich  ihn  bald  zu  fehn. 

[631.]     Mai.     Schiller  an  Ch.  G.  Körner. 

Ein  anderes  Sujet*,  welches  ganz  eigne  Erfindung  ift, 
möchte  früher  an  die  Reihe  kommen;  es  ift  ganz  im  reinen 


*  Braut  von  Meffina. 


634]  Weimar  -  Jena.     1801. 305 

und  könnte  gleich  an  die  Ausführung  gehen.  Es  befteht, 
den  Chor  mit  gerechnet,  nur  aus  zwanzig  Szenen  und 
aus  fünf  Perfonen.     Goethe  billigt  den  Plan  ganz. 

^  Deinem  Urteil  über  meine  Jungfrau  von  Orleans 
fehe  ich  mit  großem  Verlangen  entgegen.  Goethe  meint, 
daß  es  mein  beftes  Werk  fei,  und  ift  mit  dem  Ensemble 
befonders  zufrieden. 

[632.]     Mai  22.     H.  Becker  an  F.  Haide. 

Da  ich,  wie  ich  von  Dir  weggegangen,  in  Erfahrung 
gebracht,  daß  der  Herr  Geheimrat  von  Goethe,  heut'  nach:: 
mittag  um  2  Uhr  verreifte,  fo  bin  ich  zu  ihm  gegangen, 
um  noch  einmal  für  Dich  um  die  Entlaffung  des  Arreftes 
zu  bitten.  Er  wollte  anfangs  nichts  davon  hören,  doch 
habe  ich  nicht  eher  nachgelaffen,  bis  er  mir  verfprochen, 
daß  Dein  Arreft  nicht  länger  als  24  Stunden  dauern  follte. 
^  Zu  Deinem  Trofte  und  Deiner  Beruhigung  kann  ich 
Dir  verfichern,  daß  er  jetzt  nicht  mehr  fo  böfe  auf  Dich 
ift,  als  er  geftern  Abend  war;  und  ich  aus  feiner  Unter:= 
redung  mit  mir  fchließen  konnte,  daß  es  ihm  leid  tut, 
daß  gerade  bei  Dir  zuerft  der  Anfang  feiner  ftrengen  Form, 
wonach  er  jetzt  handeln  will,  in  Ausübung  gehen  muß. 

633.]     Mai  Ende.     Caroline  v.  Schlegel  an  A.  W.  v.  Schlegel. 

Wir  haben  für  den  fonnenklaren  Bericht  an  das  größere 
Publikum  über  das  eigentliche  Wefen  der  neueflen  Philo= 
fophie  von  Fichte  ein  Motto  aufgefunden: 

Zweifle  an  der  Sonne  Klarheit, 
Zweifle  an  der  Sterne  Licht, 
Lefer,  nur  an  meiner  Wahrheit 
Und  an  deiner  Dummheit  nicht. 

Das  Fundament  des  Einfalls  ift  von  Schelling,  die 
letzte  Zeile  von  mir.  Schelling  hat  es  Goethen  mitges: 
teilt,  der,  fehr  darüber  ergötzt,  (ich  gleich  den  Sonnen*: 
klaren  geben  ließ,  um  fich  auch  ein  paar  Stunden  von 
Fichte  malträtieren  zu  laffen,  wie  er  fich  ausgedrückt  hat. 

[634.]     (Mai.)     F.  K.  J.  Schütz  an  einen  Ungenannten. 

In  einer  hiefigen  geiftvollen  Abendgefellfchaft,  in  der 
fich  auch  Goethe  befand,  wurde  ein  alt^^rheinifches  Volks^ 
lied  gefungen,  daran  die  Poefie  gemein,  die  Mufik  aber 
unendlich  herzig  war;  und  darum  den  Goethe  innig 
I  20 


306 F.  K.  J.  Schütz. [635 

ergriff.  Der  Dichter  verfprach,  ein  eigenes  Lied  zu  der 
vorhandenen  Melodie  zu  dichten,  und  als  hätte  diefe 
feine  Einbildungskraft  nicht  im  mindeften  fixiert,  erhielten 
wir  fchon  am  folgenden  Tag: 

Schäfers  Klagelied. 

Da  droben  auf  jenem  Berge  Und  Regen,  Sturm  und  Gewitter 

Steh  ich  wohl  taufendmal,  Verpaff  ich  unter  dem  Baum,  — 

An  meinem  Stabe  gebogen.  Die  Türe  dort  bleibt  verfchloffen 

Und  fchau    hinab   in  das  Tal!  Und    alles    ift    leider    ein    — 

Traum! 
Dann  folg  ich  der  weidenden 

Herde,  Es  ftehet  ein  Regenbogen 

Mein  Hündchen  bewahret  mir  Wohl  über  jenem  Haus. 

fie,  Sie  aber  ift  weggezogen, 

Ich  bin  hinunter  gekommen  Und  weit  in  das  Land  hinaus! 
Und  weiß  doch  felber  nicht  wie. 

Hinaus  in  das  Land  und  weiter, 

Da  fteht  von  fchönen  Blumen  Vielleicht  gar  über  die  See!  — 

Die  ganze  Wiese  fo  voll.  Vorüber,  ihr  Schäfchen,  vo* 
Ich  breche  fie,  ohne  zu  wifl^en,  rüber. 

Wem  ich  fie  geben  foll.  Dem  Schäfer  ift  gar  zu  weh! 

Der  Dichter  hat  verfprochen,  mehr  folche  alte  Volks^ 
melodien  durch  neue  Dichtungen  zu  bereichern.  Freilich 
muffen  dann  alle  künftige  feiner  Lieder  wie  diefes  nur 
gefungen  und  vom  Spiel  begleitet  werden.  Dann  fpricht 
fich  die  Verwandtfchaft  zwifchen  Poefie  und  Tonkunft 
inniger  aus  als  es  fonft  vielleicht  je  gefchehen  kann.  Wenn 
Sie  dies  Lied  fingen  hören  werden,  fo  muffen  Sie  emp^ 
finden,  wie  die  Mufik  hier  die  Poefie  eigentlich  hervor^ 
gebracht  hat. 

Sie  haben  eine  fo  liebliche  Gitarrefpielerin  in  Gotha. 
Ihr  geben  Sie  dies  Lied,   und  beifolgende  Kompofition. 

[635.]     Juni  Anfang.     Ch.  v.  Rommel. 

Während  meines  erften  Aufenthaltes  in  Göttingen 
befuchte  auch  Goethe  die  dortige  Bibliothek  zu  einem 
feiner  naturhiftorifchen  hors  d'oeuvre.  Ich  fah  ihn  faft 
täglich  mit  feinem  etwa  8  jährigen  Sohne  in  einem  fehr 
nachläffigen  Koftüme  einherwandern,  hörte  aber,  wie  ele? 
gant  er  des  Abends  an  den  Soireen  bei  Blumbach  erfchien. 

Den  alten  Heyne  hatte  er  bei  dem  erften  Befuche 
durch  ein  fcherzhaftes,  unter  archäologifchen  Gefprächen 
eine  Zeitlang  fortgeführtes  Inkognito  myftifiziert.  '^ 

Ich  war  auch  bei  der  abendlichen  Studentenovation  in 
der  Allee,   die  ihm,  eben  weil  fie  polizeiwidrig  war,  im 


639]         Göttingen  -  Eifenach  -  Gotha  -  Weimar.    1801.       307 

Kontraft   zu   der  weimarifchen   Philifterhaftigkeit   fo   viel 
Freude  machte. 

[636.]     Auguft  22./24.     Jean  Paul. 

Goethe  ließ  mich  neulich  aus  Eifenach  grüßen;  er 
pries  meine  Klotilde  gewaltig  und  fagte,  der  Schlegel  Ur? 
teil  über  mich  fei  über  alles  gemein. 

[637.]     Auguft  29.     Katharina  Freifr.  v.  Bechtolsheim. 

Ich  hatte  Goethe  beim  Baron  Grimm  in  Gotha  per:= 
fönlich  kennen  gelernt.  Als  er  einftmals  dort  zu  Mittag 
fpeifte,  faß  ich  neben  ihm,  und  da  der  gute  Herr  von 
Grimm  ihm  eben  erzählte,  daß  ich  mehrere  feiner  Werke 
kenne,  dachte  ich,  es  zieme  fich,  ihm  zu  fagen,  daß  ich 
grade  Hermann  und  Dorothea  mit  Freuden  gelefen  habe. 
—  Seine  Antwort  war  nicht  fehr  ermunternd,  weiter  von 
diefem  Thema  zu  reden,  er  fagte  nämlich  mit  gemeffener 
gravitätifcher  Stimme:    So  haben  Sie  das  gelefen! 

[638.]     September.     H.  Meyer  an  Schiller. 

Von  Herrn  Geheimrat  erhalte  ich  den  Auftrag,  Ihnen, 
teuerfter  Freund,  Nachricht  zu  geben,  daß  wir  von  Gaffel, 
wo  ich  wie  Sie  wiffen  ihn  abholen  follte,  feit  ohngefähr 
zehn  oder  zwölf  Tagen  wieder  zurückgekommen  und  man^: 
ches  Schöne  und  Erfreuliche  zu  unferer  nicht  geringen  En^ 
bauung  gefehen  haben.  Ferner  foll  ich  Sie  vielfältig  be? 
grüßen,  um  Ihr  Befinden  anfragen  und  das  Befie  wünfchen; 
endlich  Ihnen  bekannt  machen,  daß  durch  A.  W.  Schlei 
gels  Unterhandlung  die  Madame  Unzelmann  auf  den  20. 
diefes  laufenden  Monats  hierher  kömmt  und  einige  Rollen 
fpielen  will,  wozu  Sie,  befter  Freund,  freundlichft  einge«; 
laden  werden. 

Wir  harren  recht  mit  Ungeduld,  Sie  wieder  zu  fehen 
und  von  Ihnen  zu  erfahren,  wie  es  in  jenen  Gegenden 
ausfieht,  was  in  Kunft  und  Wiffenfchaft  dort  vorgeht, 
dagegen  Ihnen  dann  Berichte  aus  Pyrmont,  Göttingen, 
Gaffel,  Eifenach  und  Gotha  zu  Dienften  flehen. 

(639.]     (Oktober.)     Henriette  Gräfin  v.  Egloffltein. 

Eines  Morgens,  an  welchem  fich  zufälligerweife  außer 
mir  nur  noch  einige  Freundinnen  bei  der  Göchhaufen  zum 
Dejeuner  eingefunden  hatten,  ^^  fi:ellte  fich  auch  Goethe 
ein  und  äußerte  feine  Zufriedenheit  darüber,  daß  er  heute 
I  20* 


308  Henriette  Gräfin  v.  Egioffftein.  [639 

Hahn  im  Korbe  fei.  Hierauf  erklärte  er,  dies  käme  ihm 
recht  gelegen,  weil  er  fchon  längft  den  Wunfeh  gehegt, 
ein  vernünftiges  Wort  mit  uns  im  Vertrauen  zu  fprechen, 
und  doch  brachte  er  nur  die  extravagantefien  Dinge  vor, 
die  uns  defto  mehr  überrafchten,  als  die  meifien  von  uns 
ihn  noch  nie  in  einer  folchen  Stimmung  gefehen  und  wir 
uns  nunmehr  erklären  konnten,  wie  anziehend  und  liebenss^ 
würdig  er  in  früherer  Zeit  gewefen  fein  muffe,  bevor  er 
die  ihm  jetzt  eigene  pedantifche  Steifheit  angenommen 
hatte.  In  feiner  lebhaften  Unterhaltung  kam  er,  wie  man 
im  gemeinen  Leben  fagt,  vom  Hundertfien  ins  Taufendfte 
und  endlich  auch  auf  das,  was  er  das  Elend  der  jetzigen 
gefellfchaftlichen  Zuftände  nannte.  Mit  den  grellften  Far^ 
ben  fchilderte  er  die  Geiftesleerheit  und  Gemütlofigkeit, 
die  fich  gegenwärtig  überall,  befonders  aber  im  gefelligen 
Verkehr  bemerklich  mache,  und  hob  dagegen  das  ehe^^ 
malige  gefellige  Leben  in  kräftigen  Zügen  hervor.  Wäh^ 
rend  er  hierüber  wie  der  Profeffor  auf  dem  Katheder  do? 
zierte,  erhitzte  er  fich  mehr  und  mehr,  bis  er  endlich  feinen 
ganzen  Zorn  über  den  Teufel  der  Hoffart  ergoß,  der  die 
Genügfamkeit  und  den  Frohfinn  aus  der  Welt  verbannt, 
dagegen  aber  die  unerträglichfte  Langeweile  eingeichmug? 
gelt  habe.  Man  muffe,  meinte  er,  mit  vereinten  Kräften 
gegen  diefen  böfen  Dämon  zu  Felde  ziehen,  fonft  würde 
derfelbe  noch  weit  mehr  Unheil  fiiften,  und  gleich  auf 
der  Stelle  wolle  er  uns  den  Vorfchlag  machen,  wir  foll^ 
ten  zur  Erheiterung  des  nah  bevorftehenden  traurigen 
Winters  einen  Verein  bilden,  wie  es  deren  in  der  guten 
alten  Zeit  fo  viele  gegeben  habe.  Wenn  nur  ein  paar 
gefcheite  Leute  den  Anfang  machten,  dann  würden  die 
übrigen  fchon  nachfolgen,  und  fich  plötzlich  zu  mir  wen^ 
dend,  fetzte  er  hinzu,  indem  er  mir  feine  Hand  reichte: 
die  Wahrheit  feiner  Behauptung  würde  fich  fogleich  be? 
ftätigen,  wenn  ich  ihn  zum  Partner  annehmen  und  den 
andern  mit  gutem  Beifpiel  vorangehen  wollte.  Obgleich 
mich  diefer  Antrag  überrafchte,  fo  hielt  ich  denfelben  doch 
nur  für  das  Aufblitzen  einer  fchnell  vorübergehenden 
Laune  und  würde  es  für  die  lächerlichfi:e  Prüderie  ge* 
halten  haben,  nicht  in  den  Scherz  einzugehen.  Ich  legte 
alfo  unbedenklich  meine  Hand  in  die  feinige  und  be? 
lachte  den  Eifer,  womit  er  die  andern  anwefenden  Damen 
aufforderte,  jede  von  ihnen  möge  gleichfalls  einen  pour? 
suivant  d'amour  erwählen,  denn  unfer  Verein  muffe  nach 


639]  Weimar.     1801.  309 

der  wohlbekannten  Minnefängerfitte  eine  cour  d'amour 
bilden  und  auch  fo  genannt  werden,  indem  der  Name 
die  poetifche  Tendenz  desfelben  und  die  Zwangslofigkeit 
bezeichne,  die  unter  den  Mitgliedern  herrfchen  folle.  Ob 
übrigens  Amor  feine  Rechte  bei  den  letzteren  geltend 
machen  könne  und  dürfe,  möge  der  Macht  des  kleinen 
fchelmifchen  Gottes  überlaffen  bleiben. 

Goethes  Aufforderung  hätte  eigentlich  unfre  Wirtin 
wegen  ihres  Alters  und  ihrer  Mißgeftalt  beleidigen  können, 
wäre  die  fogenannte  gute  Dame  nicht  fchon  längft  an  un^ 
zarte  Behandlung  gewöhnt  gewefen.  ^  Daher  kam  es  denn 
im  gegenwärtigen  Falle,  daß  fie  fogleich  in  feinen  Vor^ 
fchlag  einging  und  mit  der  ihr  eigenen  komifchen  Manier 
erklärte:  fie  fei  bereit  dem  Aufruf  Folge  zu  leifien,  da 
fie  mit  Gewißheit  darauf  rechnen  könne,  einen  treuen  Se:= 
ladon  zu  finden;  die  anderen  fchönen  Damen  möchten 
nur  ihr  Heil  verfuchen,  ob  ihnen  ebenfo  dienfi:willige 
Narren  zu  Gebote  fi:ehen  würden  als  ihr. 

Goethe  nahm  diefe  humoriftifche  Erklärung  mit  dem 
lebhafteften  Beifall  auf  und  begab  fich  fogleich  an  den 
Schreibtifch  unferer  gefälligen  Wirtin,  wo  er  in  der  größ^ 
ten  Gefchwindigkeit  die  folgenden  Statuten  der  cour  d'a? 
mour  improvifierte : 

Erltlich  follte  die  zu  errichtende  Gefellfchaft  aus  laus: 
ter  wohlaffortierten  Paaren  beftehen,  die  Verfammlung  der;: 
felben  wöchentlich  einmal,  abends  nach  dem  Theater  im 
Goethifchen  Haufe  ftattfinden  und  dort  ein  Souper  ein;; 
genommen  werden,  zu  welchem  die  Damen  das  Effen, 
die  Herren  den  Wein  liefern  würden. 

Zweitens  werde  jedem  Mitgliede  die  Erlaubnis  er^; 
teilt,  einen  Gafi  mitzubringen,  jedoch  nur  unter  der  un:: 
erläßlichen  Bedingung,  daß  diefer  allen  Teilen  gleich  an? 
genehm  und  willkommen  fei. 

Drittens  dürfe  während  des  Beifammenfeins  kein 
Gegenfi:and  zur  Sprache  kommen,  der  fich  auf  politifche 
oder  andere  Streitfragen  beziehen  könnte,  damit  die  Har;: 
monie  des  Vereins  keine  Störung  erleide. 

Viertens  und  letztens  follten  die  gegenfeitig  erwählten 
Paare  nur  fo  lange  zur  Ausdauer  in  dem  gefchloffenen 
Bündnis  verpflichtet  fein,  bis  die  FrühUngslüfte  den  Ein? 
tritt  der  milderen  Jahreszeit  verkündigten,  wo  dann  jedem 
Teile  freiftehen  muffe,  die  bisher  getragenen  Rofenfeffeln 
beizubehalten  oder  gegen  neue  zu  vertaufchen. 
I 


310  Gräfin  Henriette  v.  Egloffftein.  [640 

Als  Goethe  dies  merkwürdige  Aktenftück  uns  vor:; 
las,  konnte  ich  mich  nicht  enthalten,  feine  auffallende  Gravis 
tat  und  den  imponierenden  Nachdruck  zu  belächeln,  wos^ 
mit  er  einzelne  Stellen  betonte. 

[640.]     November  8.     F.  Schelling  an  A.  W.  v.  Schlegel. 

Goethe  war  ^  noch  bis  heute  hier  in  Jena.  Geftern 
abend  habe  ich  bei  ihm  zugebracht,  wobei  er  viel  Spaß 
machte.  Unter  anderm  fagte  er:  Der  Schlegelfche  Als^ 
manach,  foviel  ich  merke,  fchleicht  fich  überall  gut  ein, 
trotz  der  böfen  Namen  A.  W.  Schlegel  und  L.  Tieck,  die 
vorn  ftehen.  Nur  zu  viel  Blut  und  Wunden  feien  für 
ihn  darin.  Das  Heidentum  ftecke  ihm  zu  fefi  in  den 
Gliedern.  Mit  der  Jungfrau  von  Orleans  hat  er  fich  fehr 
gequält,  nicht  zu  fagen,  wie  fie  fei.  Unter  anderm  fagte 
er,  daß  fie  den  Frauen  fehr  gefalle,  weil  es  einmal  keine 
H— ,  fondern  eine  Jungfrau  fei.  —  Denken  Sie,  daß  die 
auf  der  Weimarer  Kunflausflellung  von  1801  auf  Preis= 
ausfchreiben  eingereichten  Flußgötter  keinen  Preis  er:^ 
halten,  der  aber  für  Achill  aufSkyros  zwifchen  Hoff? 
mann  und  Nahl  geteilt  wird.  So  haben  wir  wenigftens 
befi:immt  hören  muffen;  er  felbft  hat  es  mir  nicht  gefagt. 
Den  Schadow  wollte  er  hier  auch  fchinden,  wie  er  fagte, 
(dies  für  Sie);  es  ifi:  aber,  foviel  ich  weiß,  nicht  dazu  ge? 
kommen.  Tiecks  Porträt  hat  er  fehr  gelobt;  Loder,  der 
es  bei  ihm  fah,  wollte  über  die  Ähnlichkeit  ganz  närrifch 
werden. 

[641.]     Herbft.     Schiller. 

Goethe  hat  eine  Anzahl  harmonierender  Freunde  zu 
einem  Klub  oder  Kränzchen  vereinigt,  das  alle  vierzehn 
Tage  zufammenkommt  und  foupiert.  Es  geht  recht  vers^ 
gnügt  dabei  zu,  obgleich  die  Gäfie  zum  Teil  fehr  hete? 
rogen  find,  denn  der  Herzog  felbft  und  die  fürftlichen 
Kinder  werden  auch  eingeladen.  Wir  laffen  uns  nicht 
ftören,  es  wird  fleißig  gefungen  und  pokuliert. 

[642.]     Gräfin  Henriette  v.  Egloffftein. 

In  gewiffer  Hinficht  war  es  Falk  wie  jedem  andern, 
der  unfern  Zufammenkünften  der  cour  d'amour  niemals 
beigewohnt,  zu  verzeihen,  wenn  er  fich  eine  falfche  Vor? 
ftellung  von  den  dort  obwaltenden  Zuftänden  machte,  da 


644]  Weimar.     1801.  311 

lelbft  die  Mehrzahl  der  Mitglieder  unfers  Vereins  in  der 
Erwartung  der  Annehmlichkeiten,  die  uns  zuteil  werden 
füllten,  fich  getäufcht  fahen,  indem  wir  ftatt  der  verheißenen 
poetifchen  Freiheit  und  Zwangslofigkeit  mit  Gene  und 
Steifheit  um  geben  waren,  welche  Goethes  pedantifches 
Wefen  herbeiführte.  Alles  mußte  nach  feiner  Vorfchrift 
mit  feierlicher  Förmlichkeit  getan  werden;  ohne  feine  Er^ 
laubnis  durften  wir  weder  effen  oder  trinken,  noch  auf:: 
ftehen  oder  uns  niederfetzen,  gefchweige  denn  eine  Kon? 
verfation  führen,  die  ihm  nicht  behagte. 

[643.]     Herbft.    Schiller  an  J.  F.  Cotta. 

Sie  fragen  nach  Goethen  und  feinen  Arbeiten.  Er 
hat  aber  leider  feit  feiner  Krankheit  gar  nichts  mehr  ge^s 
arbeitet  und  macht  auch  keine  Anftalten  dazu.  Bei  den 
treff  lichften  Planen  und  Vorarbeiten,  die  er  hat,  fürchte  ich 
dennoch,  daß  nichts  mehr  zuftande  kommen  wird,  wenn 
nicht  eine  große  Veränderung  mit  ihm  vorgeht.  Er  ift 
zu  wenig  Herr  über  feine  Stimmung,  feine  Schwerfälligkeit 
macht  ihn  unfchlüffig  und  über  den  vielen  Liebhaber? 
befchäftigungen,  die  er  lieh  mit  wiffenfchaftlichen  Dingen 
macht,  zerftreut  er  fich  zu  fehr.  Beinahe  verzweifle  ich 
daran,  daß  er  feinen  Fault  noch  vollenden  wird. 

[644.]     (Dezember  Ende.)     Henriette  Gräfin  v.  Egloffftein. 

Da  es  für  die  höchfte  Auszeichnung  galt,  einer  Ge? 
fellfchaft  einverleibt  zu  fein,  in  welcher  der  Diktator  von 
Weimar  präfidierte,  ^  fühlten  fich  auch  die  meilten  Aus? 
gefchloffenen  tief  verletzt,  insbefondere  Kotzebue,  der  fich 
'^  gefchmeichelt  hatte,  es  muffe  ihm  gewährt  werden,  was 
anderen  verfagt  blieb,  und  zur  Erreichung  diefes  Vorzugs 
feine  Gönner  und  Freunde  in  Bewegung  fetzte,  vor  allen 
anderen  aber  Böttiger,  der  die  rechte  Hand  der  Goch? 
häufen  war.  Der  dienftwillige  Böttiger  bot  gern  die  Hand 
dazu,  feinen  Einfluß  auf  die  Göchhaufen  geltend  zu  ma? 
chen.  ~  Trotz  ihrer  Klugheit  ließ  fich  die  Göchhaufen 
von  ihrer  Neigung  zur  Intrige  verleiten,  einen  Verfuch 
in  der  Sache  zu  machen,  der  jedoch  an  Goethes  Starr? 
linn  und  Willenskraft  fcheiterte.  Es  erfolgte  zwifchen 
beiden  eine  heftige  Szene,  worin  er  der  kleinen  Dame 
mit  harten  Worten  ihre  Achfelträgerei  vorwarf  und  ihr 
unter  Hinweifung  auf  den  zweiten  Paragraph  der  Statuten 
fogar  die  geringe  Gunft  verfagte,  ihren  Protege  nur  ein? 
mal  als  Galt  einführen  zu  dürfen. 


512 J.  Falk. [645 

[645.]     (Dezember  Ende.)    J.  Falk. 

Kotzebue  ^  mußte  die  Ausfchließung  von  der  cour 
damour  wohl  um  fo  empfindlicher  vermerken,  da  ^  Goe^ 
the  überdem  durch  ein  jflüchtiges  Bonmot,  was  Kotzebuen 
indes  bald  genug  wieder  zu  Ohren  kam,  feine  Eitelkeit 
noch  mehr  gereizt  hatte.  ^  Goethe  hatte  im  Scherze  ein^ 
mal  gefagt:  es  helfe  dem  Kotzebue  zu  nichts,  daß  er  an 
dem  weltlichen  Hofe  zu  Japan  aufgenommen  fei,  wenn 
er  fich  nicht  auch  zugleich  bei  dem  geifilichen  Hofe  da? 
felbfi  einen  Zutritt  zu  verfchaffen  wiffe. 

[646.]     (Dezember  Ende.)     K.  A.  Böttiger. 

Goethe  gab  ^  eine  Karikatur  an:  Goethe  mit  einigen 
andern  ^  wandelt  in  den  Propyläen  unter  den  Säulen? 
gangen  vornehm  gutmütig  herum.  Unten  hat  Kotzebue 
die  Höfen  abgezogen  und  fetzt  einen  Sir  Reverend,  in? 
dem  er  fehnfuchtsvoll  hinanblickend  fpricht: 

Ach,  könnt'  ich  doch  nur  dort  hinein  1 
Gleich  follt's  voll  Stank  und  Unrat  fein. 

[647.]     Dezember  Ende.    Caroline  v.  Schlegel  an  A.  W.  v.  Schlegel. 

Goethe  hatte  die  Jagemann,  als  fie  in  Schlegels  Jon 
die  Titelrolle  zu  fpielen  hatte,  angewiefen,  fich  fchon  zu 
Anfang  des  Stückes,  wie  fie  den  Tempeldienft  verrichtet 
hat,  in  die  Pforte  ebenfo  zu  fiellen,  wie  Apollo  zuletzt, 
und  da  einige  Minuten  zu  verweilen.  Es  knüpfte  fich 
dadurch  eine  Erinnerung  des  Anfangs  fehr  fchön  an  den 
Schluß  und  verband  zugleich  Vater  und  Sohn  durch  eine 
ftärker  auffallende  Gleichheit. 


1802. 

[648.]     Januar  2./3.     F.  Schelling. 

Goethe  hat  den  größten  Fleiß  auf  die  Aufführung  des 
Jon  verwendet;  ^  auch  habe  ich  ihn  feiten  oder  niemals  fo 
erfreut  über  einen  theatralifchen  Erfolg,  fo  guter  Laune  ge? 
fehen,  als  die  war,  in  welche  ihn  diefer  Sukzeß  verfetzt  hat. 

[649.]     Anfang  d.J.     Schiller. 

Hier  wollen  wir  im  nächfien  Monat  Goethes  Iphi? 
genia  aufs  Theater  bringen;  bei  diefem  Anlaß  habe  ich 
fie  aufs  neue  mit  Aufmerkfamkeit  gelefen ,   weil  Goethe 


651] Weimar.     1802. 313 

die  Notwendigkeit  fühlt,  einiges  darin  zu  verändern.  Ich 
habe  mich  fehr  gewundert,  daß  fie  auf  mich  den  günftigen 
Eindruck  nicht  mehr  gemacht  hat,  wie  fonft;  ob  es  gleich 
immer  ein  feelenvolles  Produkt  bleibt.  Sie  ift  aber  fo 
erftaunhch  modern  und  ungriechifch,  daß  man  nicht  he^ 
greift,  wie  es  möglich  war,  fie  jemals  einem  griechifchen 
Stück  zu  vergleichen.  Sie  ift  ganz  nur  fitthch;  aber  die 
finnliche  Kraft,  das  Leben,  die  Bewegung  und  alles,  was 
ein  Werk  zu  einem  echten  dramatifchen  fpezifiziert,  geht 
ihr  fehr  ab.  Goethe  hat  felbft  mir  fchon  längft  zwei^ 
deutig  davon  gefprochen,  aber  ich  hielt  es  nur  für  eine 
Grille,  wo  nicht  gar  für  Ziererei;  bei  näherem  Anfehen 
aber  hat  es  fich  mir  auch  fo  bewährt.  Indeffen  ift  diefes 
Produkt  in  dem  Zeitmoment,  wo  es  entftand,  ein  wahres 
Meteor  gewefen,  und  das  Zeitalter  felbft,  die  Majorität 
der  Stimmen,  kann  es  auch  jetzt  noch  nicht  überfehen; 
auch  wird  es  durch  die  allgemeinen  hohen  poetifchen 
Eigenfchaften,  die  ihm  ohne  Rückficht  auf  feine  drama:= 
tifche  Form  zukommen,  bloß  als  ein  poetifches  Geiftes=: 
werk  betrachtet  in  allen  Zeiten  unfchätzbar  bleiben. 

[650.]     Januar  (28).     A.  Genaft. 

Goethe  fagte  bei  der  erften  Lefeprobe  der  Turandot 
zu  den  Darftellern  der  Rollen:  Pantalon,  Tarfaglia,  Brigella 
und  Truffaldin.  Nun  wollen  wir  einmal  diefe  vier  Masken 
ganz  besonders  ins  Auge  faffen.  In  Italien  hatte  ich 
großes  Wohlgefallen  an  ihnen  und  fie  haben  mich  ftets 
ergötzt.  Zunächft  ift  zu  beachten,  daß  eine  bedeutende 
Abftufung  in  der  Charakteriftik  bei  den  vier  Perfonen 
in  Bewegung,  Mimik  und  Rezitation  fich  herausftellt.  Nun 
las  er  uns  die  Szenen  derfelben  vor  und  entwickelte  dabei 
eine  folche  draftifche  Komik,  daß  fich  unter  dem  ganzen 
Perfonale  eine  ausgelaffene  Heiterkeit  verbreitete.  Er  felbft 
amüfierte  fich  höchlichft  dabei.  Nun,  fagte  er,  verfucht 
einmal  auf  diefe  Art  und  Weife  den  Intentionen  unferes 
Schiller  nachzukommen,  aber  ohne  mich  zu  kopieren: 
jeder  folge  feinem  eigenen  Naturell. 

[651.]     (Januar  Anfang.)     Caroline  v.  Schlegel. 

Dem  Komödienzettel  feh'  ich's  gleich  an,  daß  das 
Stück  von  Kotzebue  fchlecht  ift.  Goethe  hat  eins  von 
ihm  gelobt,  das  auch  nächftens  gegeben  wird :   Der  Wirr? 

I 


314  Caroline  v.  Schlegel.  [652 

warr,  nämlich  gelobt  fo  in  der  Art:  wenn  man  nicht 
allzu  rigoriftifche  Forderungen  macht,  fo  kann  man  ihm 
die  Beleuchtung  (?)  vielleicht  ein  klein  wenig  loben. 

[652.]     Februar  Anfang.     Schiller  an  J.  F.  Cotta. 

Bei  Goethen  will  ich  tun,  was  ich  kann,  um  Ihnen 
einen  Beitrag  von  ihm  für  den  Damenkalender  zu  fchaffen. 
Aber  noch  fehe  ich  nicht,  wo  er  herkommen  foll,  da  er 
in  ganz  andern  als  poetifchen  Befchäftigungen  fteckt.  Es 
hatte  ihn  verdroffen,  daß  Sie  Böttigern  wegen  des  Gangs 
der  Propyläen  Eröffnungen  getan,  weil  er  nicht  gut  gegen 
ihn  gefinnt  ift  und  B. ,  deffen  Indiskretion  bekannt  ift, 
mit  Begierde  alles  ergreift  und  verbreitet,  was  der  guten 
Sache,  für  welche  Goethe  ftreitet,  Nachteil  bringt.  Übrigens 
könnte  es  nicht  fchaden,  wenn  Sie  fich  Goethen  durch 
ein  paar  Zeilen  felbft  wieder  in  Erinnerung  brächten. 

[653.]     Februar  14.     Caroline  v.  Schlegel  an  A.  W.  v,  Schlegel. 

Das  Frankfurter  Theater  hat  geftern  angefragt  bei 
Goethe,  ob  es  eine  Abfchrift  des  Jon  erhalten  könne  und 
zu  welchem  Preis.  G.  wollte  nun  wiffen,  ob  man  Dir 
erft  fchreiben  folle  und  Dich  den  Preis  beftimmen  laffen; 
da  ich  aber  glaubte.  Du  würdeft  eben  auch  mit  G.  da^ 
rüber  beratfchlagt  haben,  fo  konnten  wir  diefes  ohne  Zeit^ 
verluft  in  Deiner  Seele.  Er  ift  der  Meinung,  es  der 
Direktion  zu  überlaffen,  dann  bekomme  man  am  meiften. 

[654.]     Februar  14./21.    Caroline  v.  Schlegel  an  A.  W.  v.  Schlegel. 

Wie,  mein  Herr,  Sie  haben  ein  Intrigenftück  gemacht 
und  ich  weiß  nichts  davon?  Goethe  dachte  fich  gar  nicht 
anders,  als  daß  ich  es  wiffen  muffe.  ^  Ich  nahm  mich 
gleich  zufammen  und  redete  fo  zierlich  unbeftimmt,  daß 
er  es  gar  nicht  gewahr  wurde  und  ich  alles  erfahren, 
was  man  mir  nicht  hat  anvertrauen  wollen,  da  ich  doch  fo 
verfchwiegen  bin  wie  der  alte  Herr  kaum.  Was  Du  nun 
aber  zur  Strafe  nicht  erfahren  foUft,  ift  feine  Meinung 
davon,  die  er  doch  von  fich  gegeben  hat,  foviel  wie 
möglich  war,  indem  ich  mich  auf  kein  Detail  einlaffen 
konnte.  Und  zum  Wahrzeichen  fag'  ich  Dir  diefes,  ob^ 
gleich  Du  gegen  ihn  es  unentfchieden  gelaffen,  daß  Du 
dies  Stück  wirklich  gemacht  haft,  fo  fchließe  ich  doch 
aus  dem,  was  er  darüber  fagte,  daß  es  nicht  von  Dir  ift. 


657]  Weimar.     1802.  315 

[655.]     Caroline  v.  Schlegel  an  A.  W.  v.  Schlegel. 

Goethe  gibt  fleh  überhaupt  recht  viel  mit  dem  Theater 
ab.  Da  ich  nicht  weiß,  ob  er  Dir  gleich  fchreibt,  fo 
will  ich  f^  verraten,  was  er  ungefähr  über  das  eingefandte 
Intrigenftück  denkt.  Erftlich  hält  er  es  für  fehr  auffuhr^: 
bar,  und  er  will  fehen,  daß  er  die  Jagemann  dazu  an;; 
ftellt.  Es  habe  den  Fehler,  daß  die  Intrige  pfychologifch 
fei,  innerlich  und  nicht  fichtbar  vorgehe.  Außerdem  aber 
fei  es  leicht,  graziös  und  luftig;  kurz,  er  hat  es  recht 
gelobt. 

[656.]     Februar  Mitte.     Caroline  v.  Schlegel. 

Schelling  ^  hat  diesmal  Fichtens  Wünfchen  gemäß 
Goethen  den  ganzen  Hergang  von  Fichtens  Weggang 
offenbart,  worüber  diefer  denn,  bis  dahin  völlig  unwiffend, 
fehr  erftaunt  ift.  Nie  zwar  habe  er  fich  eingebildet,  daß 
Fichte  ohne  Rückhalt  handle,  aber  er  hat  felbfi:  bis  dahin 
geglaubt,  es  fei  von  Niethammer  und  Schelling  die  Rede, 
vielleicht  noch  von  ein  paar  jungen  Lehrern. 

[657.]     Februar  22.     A.  v.  Kotzebue. 

Wenige  Tage  vorher  ehe  die  Aufführung  der  Deutfchen 
Kleinflädter  ßattßnden  follte  kam  Herr  von  Kotzebue  zu^; 
fällig  in  einer  Gefellfchaft  mit  Herrn  von  Goethe  zu;; 
fammen,  der  ihn  beifeite  nahm  und  ihm  ganz  höflich  er;: 
klärte,  er  habe  manches  in  den  Deutfchen  Kleinfiädtern 
ftreichen  muffen,  habe  auch  deshalb  die  fämtlichen  Rollen 
zurückgefordert,  um  die  Weglaffungen  anzumerken.  Herr 
von  Kotzebue  war  nicht  wenig  befremdet;  er  meinte  be;: 
reits  alles  geftrichen  zu  haben,  was  den  Umftänden  nicht 
angemeffen  fei ;  follte  aber  auch  wirklich  etwas  dergleichen 
ftehen  geblieben  fein,  fo  glaubte  er  doch,  es  fei  nun  zu 
fpät,  es  wegzufireichen,  nachdem  man  ihn  Lefe^  und 
andere  Proben  habe  halten  laffen;  denn  er  werde  dadurch 
im  Angeficht  der  Schaufpieler  geringfchätzig  behandelt; 
nach  feinen  Begriffen  muffe  eine  Direktion  das  Stück  vors: 
her  lefen,  ehe  fie  es  ausfchreiben  und  austeilen  laffe  ufw. 
Herr  von  Goethe  verfetzte  hierauf:  Es  fei  Grundfatz  bei 
ihm,  nichts  auf  feiner  Bühne  ausfprechen  zu  laffen,  was 
irgend  eine  Partei  bezeichne  oder  überhaupt  Beziehung 
auf  neuere  Literatur  habe.  Kotzebue  bemerkte  dagegen: 
Das  fei  wohl  nicht  immer  des  Herrn  von  Goethe  Grund;: 


316  A.  V.  Kotzebue.  [658 

fatz  gewefen,  da  er  z.  B.  in  der  Oper  Die  theatralifchen 
Abenteurer  ausdrücklich  durch  den  berühmten  Herrn  Vuls: 
pius  eine  Szene  einfchalten  laffen,  in  welcher  die  GurU 
perfifliert  werde.  —  Dies  überrafchte  Herrn  von  Goethe, 
er  wurde  verlegen  und  fagte,  um  doch  etwas  zu  fagen: 
Der  Charakter  der  Gurli  gehöre  gleichfam  fchon  der  ganzen 
Welt  an.  ^  Es  wurde  noch  einiges  hin  und  her  gefprochen, 
deffen  Refultat  dahin  ausfiel,  Herr  von  Kotzebue  folle 
doch  die  gemachten  Veränderungen  nur  erft  felbft  be^: 
augenfcheinigen,  welches  er  denn  auch  verfprach.  Herr 
von  Goethe  hielt  Wort  und  fandte  Kotzebue  das  Stück 
zu,  in  welchem  er  eigenhändig  vernichtet  und  wieder  ge? 
fchaffen  hatte.  Kotzebue  erftaunte  über  die  Menge  und 
gänzliche  Unbedeutenheit  der  meiftendieferVeränderungen. 
Er  fah  nach  kurzem  Überblick,  daß  es  ihm  unmöglich 
fei  ohne  Befchämung  vor  allen,  die  das  Stück  fchon  kannten, 
dasfelbe  mißhandeln  zu  laffen.  Er  erklärte  diefe  feine 
Meinung.  Herr  von  Goethe  beharrte  bei  der  feinigen 
und  meinte,  es  fei  ein  unbeftrittenes  Recht  aller  Direktionen, 
die  Stücke,  die  fie  aufführen  laffen  wollen,  nach  Gefallen 
zu  fireichen.  Kotzebue  gab  ihm  diefes  Recht  bei  ge? 
druckten  Stücken  zu,  aber  nicht  bei  Manufkripten, 
die  der  Verfaffer  noch  keineswegs  dem  Publikum  aban:; 
donniert  hat  und  bei  deren  Überlaffung  er  wohl  allere 
dings  Bedingungen  machen  darf,  Herr  von  Goethe  glaubte 
das  nicht. 

[658.]     Februar.     Caroline  v.  Schlegel. 

Goethe  weiß  das  von  Alarcos  und  Friedrich.  '^  Er 
hat  mancherlei  über  ihn  gefagt,  er  fei  der  immer  Hetzende 
und  immer  Gehetzte  und  eine  rechte  Brenneffel,  famt 
einer  Reihe  von  Einfällen  über  ihn,  die  Friedrichs  Epi? 
gramme  auf  ihn  allenfalls  aufwiegen. 

[659.]     Februar.     Henriette  Gräfin  v.  Egloffftein. 

So  trug  Kotzebue  uns  denn,  bei  der  nächften  Ver? 
fammlung  in  feinem  Salon,  ganz  einfach  die  Bitte  vor, 
wir  möchten  ihn  bei  einem  Fefie  unterftützen,  das  er  am 
5.  März,  Schiller  zu  Ehren,  veranftalten  wolle,  da  ohne 
unfre  Beihülfe  der  Glanzpunkt  jener  Feier,  der  in  Dar^ 
fiellung  einzelner  Szenen  aus  den  vorzüglichften  dramas: 
tifchen  Werken  des  verehrten  Dichters  beltehen  follte, 
nicht  erreicht  werden  könnte.  '^  Mir  ward  die  Johanna 


661]  Weimar.     1802.  317 

von  Orleans  zugeteilt,  weil  Schiller  bei  der  erften  Vor;: 
lefung  des  Stücks  erklärt  hatte,  daß  ihm  während  des 
Entwurfs  feiner  Heldin  meine  Perfönlichkeit  ftets  vor 
Augen  gefchwebt,  und  weil  auch  Goethe  lieh  dahin  zu 
äußern  beliebte,  ich  fei  ganz  für  diefe  Rolle  gefchaffen. 
Letzterer  hatte  mir  fogar  öfters  Vorwürfe  darüber  ge:; 
macht,  daß  ich  mich  durch  ein  törichtes  Vorurteil  abhalten 
ließe,  ihm  und  dem  Publikum  den  hohen  Genuß  zu  ge:* 
währen,  öffentlich  als  Johanna  aufzutreten.  Ich  ergriff 
demnach  die  erfte  Gelegenheit,  ihm  zu  berichten,  daß  zu^; 
fälligerweife  fein  Wunfeh  erfüllt  werden  und  er  mich  als 
Mädchen  von  Orleans  auf  dem  Theater  erblicken  würde. 
Er  fchien  auch  in  der  Tat  aufs  Angenehmfte  von 
diefer  Nachricht  überrafcht  zu  fein,  und  zeigte  fich  fehr 
teilnehmend  gefpannt  auf  die  Details  des  projektierten 
Feftes,  denn  er  erkundigte  fleh  nach  den  geringften  Dingen, 
ließ  fich  mein  Koftüm  befchreiben,  und  erteilte  mir  hiers: 
bei  nicht  nur  feinen  Rat,  fondern  erbot  fich  auch  am 
Ende  unfrer  langen  Unterredung,  mir  das  Modell  zu  dem 
Helme  fenden  zu  wollen,  der  mich  als  Johanna  fchmücken 
follte,  und  den  ich  auch  wirklich  am  andern  Tag  erhielt. 

[660.]     März  11.     Caroline  v.  Schlegel. 

Ja,  die  Kleinfiädter  wären  den  Kleinftädtern  fehr  ge^ 
fährlich  gewefen,  fagte  Goethe  zu  Schelling. 

[661.]     April  8.     Wieland. 

Goethe  hat  mir  allerdings  am  verwichnen  Donnerss: 
tag  einen  ebenfo  unerwarteten,  als  angenehmen  Nach? 
mittagsbefuch  gemacht.  Wir  waren  mehrere  Stunden  ver? 
gnügt  und  traulich  und  fprachen  von  mancherlei,  aber 
von  allen  theatralifchen  Abenteuern  der  letztvergangenen 
Wochen  und  Monate  ne  y()v  quidem.  Da  Kotzebue  zu:; 
fällig  erwähnt  wurde,  fprach  er  im  Vorbeigehen  unbefangen 
und  gut  von  ihm ;  ebenfo  unbefangen  wurde  auch  Schlegels 
Jon  und  meine  Überfetzung  des  Euripidifchen  berührt.  Über? 
haupt  fchien  er  fich  keines  Dings,  das  einer  Apologie 
bedürfe,  bewußt  zu  fein  und  ich  glaube  fafi,  daß  dies 
wirklich  der  Fall  bei  ihm  ift.  Er  fchien  auch  gern  zu 
hören,  daß  ich  mich  an  die  Helena  des  Euripides  machen 
wollte,  erklärte  fie  für  fein  Lieblingsftück  und  hielt  es  nicht 
für  unmöglich,  daß  fie  dereinft  bonis  avibus  aufs  Theater 
gebracht  werden  könnte. 
I 


318 Schiller. [662 

[662.]     Mai  (17).     Schiller  an  J.  F.  Cotta. 

Ich  habe  mit  Goethen  Ihrentwegen  gefprochen  und 
kann  Ihnen  nun  feine  beftimmte  Meinung  wegen  der  zu 
verlegenden  Werke  geben.  Es  ift  durchaus  nötig,  daß 
Sie  mit  einem  beftimmten  Entfchluß  hierher  kommen,  wie 
weit  Sie  mit  ihm  gehen  wollen,  und  Ihnen  diefen  Ent? 
fchluß  zu  erleichtern,  ift  die  Abficht  meines  heutigen 
Schreibens. 

Goethe  will  aufs  nächfte  Jahr  einen  Almanach  von 
Liedern,  welche  zu  bekannten  volksmäßigen  Melodien  von 
ihm  gemacht  find,  herausgeben.  Ich  habe  einen  Teil  diefer 
Lieder  gehört,  fie  find  vortrefflich  und  man  kann  fagen, 
daß  fie  die  Melodien  felbft  mit  fich  erheben  und  diefen 
beffer  fogar  anpaffen  als  die  urfprünglichen  Lieder,  zu 
denen  man  fie  erfunden  hatte.  Der  innere  Wert  diefes 
Liederalmanachs,  der  Name  Goethens  und  der  Umftand, 
daß  jedermann  die  Lieder  fogleich  fingen  kann,  weil  die 
Melodien  dazu  fchon  alt  und  im  Gange  find,  läßt  einen 
großen  Abfatz  diefes  Almanachs  ficher  erwarten.  Es  wäre 
alfo  keine  Frage,  daß  fie  ihm  die  1000  Rthr.,  die  er  da=: 
für  haben  will,  geben  könnten,  obgleich  viele  Exemplare 
verkauft  fein  müßten,  ehe  die  Koften  herauskämen. 

Hierbei  ift  aber  nun  eine  Bedingung,  welche  mir  be^ 
denklich  fcheint.  Goethe  will  nämlich,  daß  Sie  auch  zwei 
andere  Werke,  vielleicht  auch  mehrere,  binnen  der  nach? 
ften  Jahre  verlegen,  welche  bei  weitem  diefen  Kurs  nicht 
haben  können,  und  die  das  Schickfal  der  Propyläen  haben 
dürften.  Das  eine  davon  ift  eine  Gefchichte  der  Kunft 
im  verfloffenen  Jahrhundert,  welche  Meyer  aufgefetzt  hat 
und  begleitet  von  eignen  Auffätzen  Goethens.  Es  läßt 
fich  von  diefem  Werk  etwas  wahrhaft  Vortreffliches  dem 
innern  Gehalt  nach  erwarten,  aber  die  große  Frage  ift, 
ob  der  höchfte  innre  Wert,  den  doch  gewiß  die  Propy? 
läen  haben,  auch  ein  ficheres  Unterpfand  für  den  Ab? 
fatz  ift.  Die  Auffätze  in  den  Propyläen  über  die  alten 
Maler  u.  dgl.  zeigen  den  Geift,  in  welchem  jene  Ge? 
fchichte  der  Kunft  gefchrieben  fein  wird.  Goethe  wird 
zwar  diefe  Schrift  noch  mit  einem  fehr  merkwürdigen 
Beitrag  begleiten,  aus  dem  er  jetzt  noch  ein  Geheimnis 
macht,  das  ich  Ihnen  aber,  damit  Sie  alles  wiffen,  im  Ver? 
trauen  eröffnen  will,  fobald  Sie  hier  find.  Er  verlangt  ferner 
nur  ein  verhältnismäßiges  Honorar  für  diefe  Schrift,  wird 
fich  aber,  wie  ich  ihn  kenne,  mit  100  Carolin  kaum  begnügen. 


663] Weimar.     1802. 519 

Nun  glaube  ich  zwar  nicht,  daß  Sie  bei  die  fem  Werk 
in  Verluft  kommen  würden,  obgleich  ich  keinen  großen 
Gewinn  voraus  fehe;  befonders  auch  darum  nicht,  weil 
in  den  nächften  fechs  bis  acht  Jahren  gewiß  feine  fämts^ 
liehen  Werke  gefammelt  herauskommen,  worin  alle  jene 
Schriften  wieder  erfchienen;  aber  von  einem  andern  Werke, 
das  er  gleichfalls  von  Ihnen  verlegt  haben  will,  wenn  er 
Ihnen  irgend  etwas  Poetifches  zum  Verlag  geben  foll,  ift 
weit  mehr  zu  befürchten.  Dies  Werk  ift  der  Cellini,  den 
er  nun  vollftändig  mit  Noten  begleitet  herausgeben  will. 
Er  erkennt  zwar,  daß  er  dafür  beträchtlich  weniger  als 
für  ein  Originalwerk  fordern  kann,  und  nimmt  auch  da^ 
rauf  Rückficht,  daß  Sie  ihm  für  einen  Teil  desfelben  in 
den  Hören  fchon  ein  gutes  Honorar  bezahlt  haben.  Diefes 
Werk,  das  etwa  ein  Alphabet  betragen  wird,  überließ'  er 
Ihnen  vielleicht  um  50  Carolin. 

[663.]     Mai  29.     Henriette  Gräfin  v.  EglofHtein. 

Je  näher  der  zur  Aufführung  des  Alarcos  von  Fried= 
rieh  Schlegel  anberaumte  Tag  herankam,  defto  lebhafter 
ward  die  Neugierde,  das  viel  befprochene  und  viel  be:: 
krittelte  Stück  zu  fehen,  und  als  er  endlich  erfchien, 
itrömte  die  halbe  Bevölkerung  von  Weimar  zum  Theater.  ^ 

Trotz  fo  vieler  Jahre,  die  feit  jenem  Tage  über  meinem 
Haupte  hingezogen  find,  fehe  ich  doch  noch  jetzt  in  dem 
ungetrübten  Spiegel  der  Erinnerung  ebenfo  deutlich  wie 
damals  in  der  Wirklichkeit  das  überfüllte  Schaufpielhaus 
vor  mir  —  mitten  im  Parterre  Goethe,  ernft  und  feierlich 
auf  feinem  hohen  Armftuhle  thronend.  ^^ 

Im  Anfange  der  Vorfiellung  verhielten  fich  die  Zuj: 
fchauer  völlig  paffiv;  je  weiter  aber  das  Stück  vorwärts 
fchritt,  defto  unruhiger  ward  es  auf  der  Galerie  und  im 
Parterre.  ~  In  der  Szene,  wo  gemeldet  wird,  daß  der 
alte  König,  den  die  auf  feinen  Befehl  ermordete  Gattin 
des  Alarcos  vor  Gottes  Richterftuhl  zitierte,  aus  Furcht 
zu  fterben,  endlich  gar  geftorben  fei,  da  brach  die  Menge 
in  ein  tobendes  Gelächter  aus,  fo  daß  das  ganze  Haus  da? 
von  erbebte,   f^' 

Aber  nur  einen  Moment.  Im  Nu  fprang  Goethe 
auf,  rief  mit  donnernder  Stimme  und  drohender  Bewegung: 
Stille  1   ftillel*   und  das  wirkte  wie  eine  Zauberformel.  -^ 


*  Nach  dem  Tagebuche  eines  alten  Schaufpielers  vonE.Genaft 
hätte  Goethe  gerufen:  Man  lache  nicht!  Zwar  iit  di^s  dort  von  der 

I 


320 Henriette  Gräfin  v.  Egloffftein. [664 

Augenblicklich  legte  fich  der  Tumult,  und  der  unfelige 
Alarcos  ging  ohne  weitere  Störung,  aber  auch  ohne  das 
geringfie  Zeichen  des  Beifalls  zu  Ende. 

[664.]     Mai  30.     A.  Genaft. 

Als  ich  den  andern  Tag  meinen  Rapport  an  Goethe 
überbrachte,  fagte  er  zu  mir:  Nun,  ich  bin  zufrieden  mit 
der  geftrigen  Vorftellung,  und  was  die  andern  Leute 
dazu  fagen,  geht  mich  und  Euch  nichts  an.  Er  fprach 
das  mit  großer  Gleichgültigkeit  aus,  aber  ich  fühlte  recht 
gut  heraus,  daß  ihn  die  Niederlage  verfiimmt  hatte. 

[665.1     (Juni.)     Schiller. 

Mit  dem  Alarcos  hat  fich  Goethe  allerdings  kom^: 
promittiert.  Es  ift  feine  Krankheit,  fich  der  Schlegels  an^; 
zunehmen,  über  die  er  doch  felbft  bitterlich  fchimpft  und 
fchmäht. 

[666.]     Juni  15.     Amalie  v.  Helvig  geb.  v.  Imhoff. 

Mir  wurde  die  Aufgabe  übertragen,  dem  Improvifator 
Scotes  den  Text  zu  geben;  ich  fchlug  vor:  die  Flucht 
der  Mufen  aus  Griechenland  nach  Italien.  Er  führte  das 
Thema  befriedigend  durch,  aber  zu  meiner  Genugtuung 
begegnete  ich  mich  im  Urteil  mit  Goethe  darüber,  daß 
Scotes  fich  hauptfächlich  auf  Details  über  die  Dichter  ein^s 
gelaffen  hatte  und  das  eigentlich  poetifche  Motiv  des 
Gegenftandes  vernachläffigte. 

[667.]     Juni  15.     K.  A.  Böttiger. 

Der  Geheime  Rat  v.  Goethe  nannte  alfo  ein  weit 
befchränkteres ,  aber  eben  darum  dem  wahren  Künfi:ler 
zum  Aufgebot  feiner  ganzen  Dichterfchätze  noch  will:: 
kommeneres  Thema:  Das  Vergnügen  eines  italienifchen 
Zufchauers  in  einem  Nationallufifpiel  an  den  vier  be:= 
kannten  Charaktermasken. 

[668.]     (Juni.)     P.  A.  Heiberg. 

Falk  ift  mit  Goethe  fehr  intim  und  bewies  mir  klar, 
wie  diefer  aus  Prinzip  fiolz  ift,  wenn  er  repräfentiert  oder 
fich   in  Gefellfchaft   von  Leuten   befindet,   mit   denen  er 


Aufführung  des  Jon  erzählt,  aber  in  zweifellofer  Verwechfelung 
mit  Alarcos,  wie  auch  im  folgenden  Stück  664. 


672] Weimar  -  Lauchftädt.    1802. 321 

nicht  harmoniert,  dagegen  ungemein  Uebenswürdig  ift  un? 
ter  denen,  die  er  kennt  und  fchätzt.  ^^  Schlegels  Alarcos 
fiel  vollftändig  durch  auf  dem  Weimarer  Theater,  trotz 
der  Protektion  Goethes.  Als  diefer  Falk  fragte,  wie  er 
über  das  Stück  denke,  antwortete  er:  Schlegel  habe  größere 
Urfache  zufrieden,  als  unzufrieden  zu  fein. 

(669.]     (Juni.)     Henriette  v.  Knebel. 

Ich  erinnere  mich  auch,  daß  Goethe  mir  einmal  fagte, 
daß  Herder  in  feinen  Religionslehren  für  die  Jugend  ganz 
herrlich  und  unnachahmlich  wäre. 

[670.]     Juni  23.     F.  Schelling. 

Es  würde  vielleicht  unterhaltend  fein  von  Madame 
Sander  die  Höflichkeiten  zu  vernehmen,  die  fie  und  ihr 
Gemahl  hier  in  Jena  und  in  Weimar  von  Goethe  ge? 
noffen  haben.  Für  uns  war  es  nicht  wenig  luftig,  es  zum 
Teil  mit  anzufehen  und  zu  hören,  wie  fie  bei  Goethes 
Ankunft  in  Lauchftädt  fchon  wieder  gegenwärtig  waren, 
und  er  ihn  beim  Ausfteigen  empfing,  von  ihm  aber  mit 
der  Äußerung  gegen  feinen  Reifegefährten,  daß  es  ein 
wahres  Zigeunerpack  fei,  empfangen  wurde  —  natürlich 
daß  Sander  das  nicht  hörte. 

[671.]     Juni  26.     A.  Genaft. 

Am  20.  Juni  ging  die  Gefellfchaft  nach  Lauchftädt, 
wo  das  neuerbaute  Theater  am  26.  Juni  mit  dem  Vor^ 
fpiel  Was  wir  bringen  und  der  Oper  Titus  eröffnet  wurde.  ^ 

Goethe  hatte  feinen  Platz  auf  dem  Balkon  genommen. 
Nach  dem  Vorfpiel  brachte  das  Publikum  Goethe  ein  dreist 
maliges  Hochl  indem  es  fich  erhob  und  feine  Blicke  nach 
ihm  richtete.  Er  trat  vor  und  fprach:  Möge  das,  was 
wir  bringen,  einem  kunftliebenden  Publikum  ftets  genügen. 
Nach  diefen  Worten  zog  er  fich  zurück  und  kam  auf  die 
Bühne,  um  dem  Perfonale  feine  Zufriedenheit  mitzuteilen. 

[672.]     Juni  21./Juli  25.     A.  Genaft. 

Goethe  fühlte  fich  einige  Zeit  ganz  behaglich  in  dem 
Treiben;  feine  Freunde  von  Leipzig  und  Halle  befuchten 
ihn  und  er  erwiderte  ihre  Aufmerkfamkeit.  In  Lauch:; 
ftädt  fchien  ihn  ein  Individuum  befonders  zu  intereffieren, 
von  welchem  er  mir  bei  meinem  Morgenrapport  fagte: 
I  21 


322 A.  Genaft. [673 

Ich  habe  geftern  Abend  einen  originellen  Menfchen,  ein 
lebendiges  Konverfationslexikon  kennen  lernen,  einen  ge^ 
wiffen  Ferdinand  Baron  v.  L.,  der  in  unferer  europäifchen 
Literatur  fehr  bewandert  ift  und  fie  nicht  bloß  oberfläch^s 
lieh  kennt.  Er  fchwärmt  für  unfere  dramatifche  Kunft 
und  ift  mit  Iffland,  Fleck,  den  Bethmann  und  mehreren 
wackern  Künftlern  befreundet.  Indeffen  fcheint  mir,  daß 
er  fich  hauptfächlich  der  Spielbank  und  nicht  des  Badens 
wegen  hier  aufhält. 

[673.]     Juli  10./20.    J.  G.  Gruber. 

Reichardt  hatte  zu  Augufl  Lafontaine  in  Halle  gefagt, 
daß  er  in  einigen  Tagen  ihm  einen  Kaufmann  aus  Hamburg 
zuführen  werde  und  kam  wirklich  auch  mit  einem  Fremden 
zu  ihm,  den  er  ihm  mit  einigen  Worten  vorftellte,  die  er 
nicht  verftand  und  für  das  Gewöhnliche  nahm.  Man 
ging  in  den  Garten.  Den  Fremden  intereffierte  die  lange 
Baumallee.  Er  blieb  am  Ende  des  Ganges  fiehen,  be? 
trachtete  lange  die  Ausficht  und  äußerte  dann,  eine  fo 
impofante  Maffe  von  großartigen  Gebäuden,  wie  fich  hier 
auf  einen  Blick  darftelle,  nie,  felbft  in  Italien  nicht,  ges^ 
fehen  zu  haben.  Das  Gefpräch  lenkte  fich  davon  auf 
Kunft  und  Altertum  und  Lafontaine  hörte  mit  Erftaunen, 
wie  kenntnis?  und  geiftreich  diefer  Kaufmann  war,  an 
welchem  fein  Intereffe  von  Minute  zu  Minute  wuchs. 
Es  war  ganz  gegen  feine  Sitte,  jemand  um  feinen  Namen 
zu  fragen,  diesmal  aber  fagte  er  beim  Abfchied:  Mein 
Herr!  Sie  haben  mir  ein  fo  großes  Intereffe  eingeflößt, 
daß  ich  nicht  unterlaffen  kann,  Sie  um  Ihren  Namen  zu 
bitten.  —  Mein  Name  ift  Goethe,  war  die  Antwort.  Mein 
Himmel,  fagte  Reichardt,  ich  hab's  Ihnen  ja  beim  Eintreten 
gefagt.  Was  wollen  Sie  gefagt  haben?  Einen  Kaufmann 
aus  Hamburg  haben  Sie  mir  angekündigt  und  beim  Eintreten 
haben  Sie  nichts  gefagt,  fondern  nur  etwas  gemurmelt. 
Wenn  Sie  künftig  Goethe  ankündigen,  fo  fprechen  Sie 
deutlich,  Herr!  Sie  brauchen  bloß  feinen  Namen  zu 
nennen. 

Aber,  fo  wendete  er  fich  zu  Goethe,  im  Grunde  ift 
mir  das  Mißverftändnis  recht  lieb;  denn  hätte  ich  Ihren 
Namen  gewußt,  fo  hätte  ich  gleich  nichts  andres  von 
Ihnen  erwartet,  als  was  ich  gehört  habe. 


675]  Weimar.     1802.  323 

[674.]     Auguft  Ende.     F.  Schelling  an  A.  W.  Schlegel. 

Hofrat  Schütz,  Herausgeber  der  Allgemeinen  Literatur?Zei? 
tung,  hatte  in  Nr.  225  diefer  Zeitfchrift  einen,  Schelling  gröblich 
verletzenden  Auffatz  gebracht,  deffenwegen  Schelling  Genugtuung 
nehmen  wollte  und  fich  mit  W.  Schlegel  darüber  vernahm. 

Daß  mit  Goethe  in  diefer  Sache  fehr  wenig  anzu? 
fangen  war,  haben  Sie  fehr  richtig  vorausgefehen.  Nicht 
als  ob  er  nicht  die  ganze  Schändlichkeit  und  Abfcheu^ 
lichkeit  gefühlt,  den  beften  Willen  gezeigt  hätte,  fondern 
weil  er  verficherte,  in  der  Sache  keinen  Erfolg  verfprechen 
zu  können.  Mein  Anfinnen  war  nämlich,  einen  unmittelj^ 
baren  Schritt  der  Regierung  durch  ihn  zu  bewirken.  Er 
verficherte  mich  der  Schwierigkeit,  die  er  hierbei  zu  über^ 
winden  haben  und  wahrfcheinlich  nicht  überwinden  würde ; 
er  riet  von  nichts  ab,  gab  aber  nur  den  einzigen,  fich 
von  felbfi:  verftehenden  Rat,  nichts  zu  unternehmen,  wo^ 
bei  man  der  kompletten  Sache  und  des  zu  wünfchenden 
Erfolgs  nicht  verfichert  fei. 

Das  perfönliche  Gewicht  von  Goethe  konnte,  um 
etwa  die  jetzigen  Redakteure  der  Literatur  ^^  Zeitung  zu 
einer  Zurücknahme  auf  die  von  Ihnen  angegebene,  auch 
von  mir  gedachte  Weife  zu  bewegen,  bei  der  grenzen? 
lofen  und  von  Ihnen  vielleicht  felbft  nicht  fo  gewußten 
Unverfchämtheit  und  Infamie  des  Schütz,  die  feitdem 
immer  zugenommen  hat,  nichts  fruchten,  vielmehr  hätte 
Goethe  fich  einzig  felbft  dadurch  ausgefetzt. 

[675.]     September  Anfang.     Schiller  an  J.  F.  Cotta. 

Goethe  hat  Ihnen  fein  Drama,  das  Vorfpiel  Was  wir 
bringen,  angeboten,  wie  er  mir  fagt,  und  das  Honorar 
Ihnen  überlaffen.  Auf  eine  Anfrage,  die  er  vorher  bei 
mir  getan,  was  er  ohngefähr  dafür  erwarten  könne,  habe 
ich  ihm  von  60  Carolin  gefprochen,  und  er  fcheint  da^^ 
mit  zufrieden.  Es  fteht  bei  Ihnen,  ob  Sie  diefes  Honos; 
rar  um  etwas  überfteigen  wollen.  Das  Stück,  welches 
natürlicherweife  im  Druck  auf  die  möglichfi  größte  Bo? 
genzahl  muß  ausgedehnt  werden,  kann,  wie  ich  es  nach 
einer  flüchtigen  Überficht  taxiere,  fechs  Bogen  klein  Ok? 
tav  und  etwas  weit  gedruckt  ausmachen.  Die  Buchhänd? 
1er  aus  Berlin  und  Leipzig  haben  fich,  wie  ich  von  guter 
Hand  weiß,  darum  geriffen,  und  es  ift  ein  gutes  Zeichen, 
daß  Goethe  fich  nicht  durch  ihre  Anerbietungen  blen? 
den  ließ. 
I  21* 


324  W.  V.  Humboldt.  [676 

[676.]     September  (21).     W.  v.  Humboldt. 

Der  Alarcos  hat  ihn  frappiert,  wie  es  ihm  manche 
mal  geht;  noch  jetzt  fagt  er,  man  könne  nichts  einzelnes 
angreifen.  Alles  laffe  fich  mit  Stellen  aus  Calderon,  Dante, 
Shakefpeare  uff.  belegen.  ^^  Doch  haßt  er  jetzt  das  Pro? 
dukt;  er  ift  damit  einig,  daß  es  alle  echte  Maximen  der 
Kunft  verdreht,  und  findet  eben  darum  die  Clique  ver? 
derblich,  weil  fie  doch  nimmer  von  echten  Maximen  aus? 
geht.  '^  Meine  Frau  erinnert  mich  noch  an  Goethens 
eigene  Worte  über  den  Alarcos.  Sie  lauten  buchftäblich : 
Verfluchen  muß  man  das  Produkt. 

[677.]     September  Ende.     G.  Schadow. 

Unfer*  dritter  Befuch  war  bei  Herrn  von  Goethe,  wo 
uns  Meyer  gemeldet  hatte;  der  Bediente  fragte,  ob  G.  Scha? 
dow  dabei  fei,  er  öfihete  den  Saal  und  Meyer  erfchien. 
Man  befah  eine  Kopie  Titians  von  Bury,  illuminierte  Blät? 
ter  aus  der  Farnefina  und  eine  Büfte  der  Unzelmann.  Herr 
von  Goethe  trat  auf,  fchnellen  Schrittes.  Sie  wollen  mir 
das  Vergnügen  Ihres  Befuchs  geben,  fagte  er  und  befahl, 
uns  Stühle  zu  geben.  Seine  erfte  Frage  war  nach  Zel? 
ters  Befinden,  von  dem  ich  ihm  einen  Brief  gab,  wobei 
das  Gefpräch  blieb  und  er  wenig  fagte.  Ich  wollte  auf 
was  anderes  kommen  und  benahm  mich  ungefchickt,  in? 
dem  ich  fragte,  ob  er  verftatten  würde,  mit  dem  Zirkel 
die  Maße  nehmend,  feinen  Kopf  zu  zeichnen?  Dies  fei 
bedenklich,  fagte  er;  denn  die  Herren  Berliner  wären 
Leute,  die  daraus  manches  deuten  möchten;  in  Weimar 
wäre  einer  gewefen,  der  Galls  Lehren  anhinge,  nämlich 
der  Dr.  Froriep,  der  gerade  verreift  fei.  Zugleich  er? 
fehlen  fein  Bedienter,  der  ihn  abrief.  Da  er  lange  aus? 
blieb,  führte  uns  Meyer  in  ein  anderes  Zimmer,  zeigte 
uns  die  von  ihm  gemalten  Superporten  und  einen  Me? 
dufenkopf  im  Fußboden.  Als  Herr  von  Goethe  wieder? 
kam,  entfchuldigte  er  fich  mit  den  Gefchäften;  wir  waren 
aufgefianden,  das  Gefpräch  war  ftehend,  wir  mußten  zum 
Mittagstifch  nach  Jena  bei  Herrn  von  Kotzebue  und  emp? 
fahlen  uns  fogleich. 

Herr  von  Goethe  hatte  Grund,  mir  nicht  freundlich 
zu  fein.    In  den  Propyläen  hatte  er  das  Kunfitreiben  Ber? 


*  Schadow  und  Franz  Catel. 


679] Weimar  -  Jena.     1802. 325 

lins  als  profaifch  gefchildert,  in  einer  andern  Zeitfchrift, 
Eunomia,  hatte  ich  hierüber  eine  andere  Anficht  gegeben, 
und  war  er  damals  dergleichen  Dreiftigkeiten  nicht  gQ^ 
wohnt. 

Beim  Abfchiede  fagte  er:  Sie  werden  doch  noch 
einige  Zeit  hier  bleiben.  Die  Brüder  Franz  und  Louis 
Catel  meinten:  ich  fei  mit  meinem  Antrage  in  die  Quere 
gekommen.  '^ 

Böttiger  fagte,  Herrn  von  Goethe  behage  mein  Her? 
kommen  nicht,  fei  es  nun  wegen  meiner  Bemerkungen 
über  die  Propyläen,  oder  weil  feine  Ausftellung  armfelig 
ausgefallen  war.  Die  Aufforderung,  Kunftwerke  einzu^: 
fenden,  war  von  ihm  ausgegangen,  die  Kunftfreunde  in 
Weimar  hatten  geringe  Geltung,  und  fo  kam  die  Miß? 
ernte. 

[678.]     Oktober  (12).     F.  Schelling  an  A.  W.  Schlegel. 

Stellen  Sie  fich  die  Plattheit  von  Schadow  vor,  daß 
er  Goethen  gleich  nach  dem  erften  Willkomm  darum  an? 
fprach,  feinen  Kopf  ausmeffen  zu  dürfen.  Goethe  fagte 
davon:  er  habe  ihn  wie  der  Oberon  den  Sultan  gleich 
um  ein  paar  Backzähne  und  Haare  aus  feinem  Bart  ge? 
beten.  Nach  dem  Eindruck,  den  er  auf  Goethe  gemacht 
hat,  muß  er  gegen  ihn  wie  ein  Bierbruder  fich  aufgeführt 
haben. 

[679.]     Oktober  (12).     F.  Schelling  an  A.  W.  Schlegel. 

Warum  entfchließen  Sie  fich  nicht  kurzweg,  gegen 
Schütz  und  die  Lit.  Zeitung  die  Szene  mit  Kotzebue  zu 
erneuern?  Gegen  unfere,  von  Grundfätzen  der  Honnete? 
tat  ausgehenden  Erörterungen  wird  Schütz  fich  immer  hal? 
ten  können,  da  er  den  tiefften  Grund  der  Infamie  auf? 
zuwühlen  fich  nicht  fcheut.  Gegen  den  Witz  hält  auch 
diefer  Heroismus  der  Niederträchtigkeit  nicht  Stich.  Eine 
große  Tat  diefer  Art  befreit  uns  auf  immer.  Rückfichten 
find  hier  keine  mehr  zu  beobachten.  Machen  Sie  gegen 
Schütz,  was  Sie  wollen,  er  wird  ohnmächtig  fi:ampfen  und 
fich  wütig  anfi:ellen,  aber  in  die  Falle  des  Verklagens  geht 
er  gewiß  nicht  mehr,  gegen  welches  wir  auch  ein  ganz 
ficheres  Mittel  haben,  nämlich  das  Perhorreszieren  des 
hiefigen  Forums.  Von  feiten  der  Regierung  in  Weimar 
ift  durchaus  kein  Schritt  zu  erwarten;  fie  hat  die  Maxime 
des  gänzlichen  Ignorierens  angenommen  und  wünfcht  nur, 
I 


326  F.  Schelling.  [680 

von  Jena  gar  nichts  mehr  zu  hören  —  was  ich  aber  ge^ 
fchrieben,  ift  im  Grunde  auch  die  Meinung  Goethes,  der 
eben  jetzt  auf  einige  Tage  hier  war.  Er  hatte  gegen  Ihre 
Schrift  A.  W.  Schlegel  an  das  Publikum,  Rüge  einer  in 
der  Allg.  Lit=Ztg.  begangenen  Ehrenfchändung  nichts  aus? 
zufetzen,  als  daß  fie  kein  radikaler  Totfchlag  fei. 

Wenn  Goethe  in  diefer  Sache  weniger  tut,  fo  ift  es, 
weil  er  im  Grunde  ganz  in  derfelben  Lage  ift,  wie  wir, 
da  er  in  Weimar  ganz  allein  fteht  und  felbft  feine  un? 
mittelbaren  Bekannten  mehr  oder  weniger  auf  beiden 
Achfeln  Waffer  tragen.  Soviel  ich  merken  kann,  denkt  er 
auf  eine  ziemliche  Zeit  wegzugehen  —  wohin?  weiß  ich 
nicht.  Sie  werden  feinen  und  aller  Verftändigen  Beifall 
haben,  wenn  Sie  mit  einem  Streich  alles  vollführen. 

Von  dem  fpanifchen  Stück  Die  Andacht  zum  Kreuz 
kann  Goethe  nicht  aufhören  zu  reden.  Wenn  man  Guido 
fehe,  fagt  er,  fo  meine  man,  daß  niemand  beffer  gemalt 
habe  —  wenn  Raphael,  daß  die  Antike  nicht  beffer  fei. 
So  mit  dem  Calderon:  nicht  nur  Shakefpeare  gleich,  fon? 
dern,  wenn  es  möglich  wäre,  ihm  noch  mehr  zuzugeftehein 
Unbegreiflicher  Verftand  in  der  Konftruktion,  Genie^nl 
der  Erfindung.  —  Genug:  diesmal  kann  man  ihm  nicht 
vorwerfen,  daß  er  zu  kalt  lobt.  Die  Aufführung,  meint 
er,  fei  unmöglich,  da  es  auf  die  Menge  doch  nur  durch 
den  Stoff  wirke,  der  als  fremdartig  felbft  fchon  durch  die 
Freiheit,  womit  er  behandelt  fei,  gerade  den  Proteftanten 
anftößig  fei.  Mit  Ihrer  Antwort  gegen  den  Schwacke 
fchien  er  nicht  zufrieden.  Sie  verderben  die  Leute,  fagte 
er,  indem  Sie  fich  darauf  einließen,  fie  zu  belehren,  und 
er  hätte  gar  zu  gern  gefehen,  wenn  Sie  dem  Kerl  das 
Fell  über  die  Ohren  gezogen  und  dann  ausgeftopft  ihm 
felbft  zurückgegeben  hätten. 

[680.]     Oktober  (12).     F.  Schelling  an  A.  W.  Schlegel. 

Ich  kann  nicht  glauben,  daß  Goethe  einigen  Kalt? 
finn  gegen  Sie  habe.  Wegen  des  Calderon  hat  er  mich 
einmal  gebeten,  ihn  bei  Ihnen  zu  entfchuldigen,  daß  er 
nicht  gleich  darüber  gefchrieben;  habe  ich  es  nicht  ge? 
tan,  fo  muß  ich  fehr  um  Verzeihung  bitten.  Ich  erinnere 
mich,  daß  er  es  mir  auftrug,  nachdem  ich  eine  halbe 
Stunde  vorher  einen  Brief  an  Sie  abgefchickt  hatte,  worin 
ich  von  feinem  Urteil  darüber  gefchrieben  hatte;  ich  fagte 
ihm  dies  und  er  dankte  mir,  es  getan  zu  haben. 


682] Jena.     1802. 327 

[681.]     Oktober  (12).     F.  Schelling  an  A.  W.  Schlegel. 

Mit  dem  Lacrymas  von  W.  von  Schütz  ift  es  mir  auf 
eigne  Weife  ergangen.  Ich  habe  ihn  bisher  immer  nicht 
gelefen,  weil  ich  nur  Augenbhcke  dazu  hatte.  Nun  ich 
ihn  Goethen  gegeben,  fchimpft  diefer  (unter  unsl)  ebenfo 
ungemeffen  darauf,  als  er  das  Stück  des  Calderon  mehr 
als  je  von  ihm  gehört,  erhoben  hat.  Dadurch  bin  ich 
in  der  Alternative,  mich  auch  entweder  über  den  Lacry^ 
mas  oder  über  Goethen  zu  ärgern,  der  auch  keinen  ge^: 
funden  Biffen  daran  finden  wollte. 

[682.]     Herbft  (und  1803  Frühjahr).     Erneftine  Voß. 

Als  wir  im  neuen  Haufe  eingerichtet  waren,  kam 
Goethe  auf  mehrere  Wochen  nach  Jena,  und  befuchte  uns 
oft;  auch  holte  er  Voß  mehrmals  zu  einer  Spazierfahrt 
ab,  von  der  diefer  ftets  heiter  nach  Haufe  zurückkehrte. 
Unfere  Bitte,  abends  zuweilen  mit  uns  vorlieb  zu  nehs: 
men,  erfüllte  er  gern;  fich  anmelden  zu  laffen,  dazu  war 
er  nicht  zu  bewegen,  hinzufügend,  für  das,  was  er  bei 
uns  {ich  holen  wollte,  wäre  auch  das  kleinfte  Mahl  das 
rechte. 

Gegen  mich  war  er  ftets  fehr  artig.  Eine  Freunde 
lichkeit  werde  ich  ihm  nie  vergeffen,  die  mein  Herz  traf. 
Einmal  fand  er  mich  im  Garten  knieend  auf  dem  Boden, 
um  die  Einfaffung  auszubeffern.  Er  unterfuchte  teilneh:; 
mend  mein  Gefchäft  und  riet  Sachen  zu  wählen,  die  nicht 
fo  leicht  vom  Zufall  geftört  würden.  Meine  Antwort 
war,  ich  wäre  noch  zu  unkundig  in  Jena,  um  die  Plätze 
zu  wiffen,  wo  man  fich  dergleichen  verfchaffe.  Ich  ar? 
beitete  fort,  während  die  Herren  auf  und  ab  gingen.  Als 
wir  einige  Tage  fpäter  abends  aus  einer  Gefellfchaft  heim? 
kehrten,  fanden  wir  alles  gar  zierlich  und  hübfch  einge? 
faßt  und  überall  Sommerblumen  hingepflanzt,  unter  denen 
fo  mancher  alte  Bekannte.  Goethe  wollte  den  Dank  da# 
für  nicht  annehmen,  ward  aber  beim  nächften  Befuch  fehr 
heiter  geftimmt  durch  unfre  Freude  daran. 

Goethe  redete  auch  mit  Voß  über  den  Erziehungs* 
plan  feines  Auguft,  den  er  zuweilen  mitbrachte.  Es  war 
ein  gar  lieber  lebendiger  Knabe.  Der  Rat  fand  Eingang, 
daß  er  ihn  früh  gewöhnen  muffe,  fich  in  beftimmten  Stun? 
den  zu  irgendeinem  Zweck  zu  befchäftigen,  und  Rechen* 
fchaft  von  dem  zu  geben,  was  er  aufgefaßt.  Während 
I 


328 Erneftine  Voß. . [685 

des  Aufenthalts  in  Jena  ward  das  Anerbieten,  ihn  tägUch 
eine  Stunde  und  auch  wohl  länger  zu  befchäftigen,  freudig 
aufgenommen.  Ein  paarmal  ging  dies  zu  gegenseitiger 
Freude,  folange  die  Sache  dem  Knaben  noch  ein  Spiel 
fchien.  In  der  Folge  fchlief  er,  das  Buch  vor  fich  habend, 
ein.  Voß  erzählte  dies  Goethe  mit  Laune,  und  fügte  hin:; 
zu:  Ich  will  nicht  beftimmen,  ob  die  Schuld  an  mir  oder 
an  Augufi  liegt,  denn  wir  haben  beide  Gefallen  anein* 
ander.  Goethe  meinte,  gleichfalls  im  fcherzenden  Ton, 
er  könne  es  wohl  beftimmen,  denn  er  habe  ähnliches 
fchon  an  fich  felbft  und  anderen  erfahren. 

[683.]     (Oktober.)     F.  Tieck. 

Die  Anfertigung  einer  Büße  Wielands,  war  mir  näm^ 
lieh  fechs  Monate  vorher,  und  wiederholentlich ,  von 
S.  Durchlaucht  dem  Herzoge  aufgetragen;  und  nur  ^^ 
andere  Arbeiten,  welche  die  Baumeifter  fchnell  beendigt 
wünfchten  und  letztlich  '^  Herr  von  Goethe,  welcher  es 
bis  zum  Winter  aufgefchoben  wünfchte ,  verhinderten  <^^ 
daß  die  Büfte  nicht  fchon  längft  fertig  war. 

[684.]     Oktober  25.     G.  Schadow. 

Schadow  hatte  Wielands  Büfte  begonnen  und  fchreibt  in 
feinem  Tagebuch: 

Nachmittags  erzählte  mir  Böttiger,  es  fei  in  Tiefurt 
bei  der  alten  Herzogin  eine  ftarke  Szene  vorgefallen.  Herr 
von  Goethe  fei,  wie  es  fcheine,  ausdrücklich  (?)  deshalb 
hingegangen,  er  habe  mich  einen  geizigen,  neidifchen, 
tracaffieren  Mann  genannt;  fie,  die  Herzogin,  könne  und 
dürfe  es  nicht  zugeben,  daß  Wieland  mir  zu  feiner  Büfte 
fitze.  Er  felbft  komme  hierbei  in  Verlegenheit;  denn  es 
fei  doch  einmal  des  Herzogs  Wille  gewefen,  daß  Tieck 
diefe  Büfte  machen  folle.  Genug,  der  Herr  von  Goethe 
habe  es  dahin  gebracht,  daß  die  Herzogin  und  felbft  Wie;; 
land  nicht  mehr  gewußt  hätten,  was  fie  tun  oder  laffen 
follten,  bis  der  Herzog,  dem  es  zufälligerweife  einfiel, 
feine  Frau  Mutter  zu  befuchen,  dazu  kam,  der  denn,  als 
ein  verftändiger  Mann,  fich  hierüber  verwunderte  und 
die  Meinung  äußerte,  daß  fie  alle  hierin  nichts  zu  fagen 
hätten,  und  daß  die  Sache  lediglich  vom  alten  Wieland 
abhinge,  dem  es  freiftände  zu  fitzen,  wem  es  ihm  be* 
liebte,  und  ebenfo  wäre  ja  Schadow  auch  der  Mann,  der 
jede  Büfte  machen  könne,  welche  ihm  einfiele. 


688] Weimar.    1802. 329 

[685.]     Oktober  (25).     F.  Tieck  an  A.  W.  Schlegel. 

Schreibe  mir  unverzüglich,  ob  Du  oder  GeneUi  der 
Verfaffer  des  Auffatzes  über  die  hiefige  Ausftellung  in  > 
der  Eleganten  Zeitung  bift.  -^  Goethe  ift  wütend  darüber, 
fpricht  von  Buben,  die  (ich  unterfangen  und  mit  dem 
Bruder  und  Hartmann,  und  da  Sachen  darin  find,  die 
nur  ich  gefagt  habe,  fo  meinen  fie,  ich  fei  auch  mit  im 
Spiele.  Meyer  ftellt  fich  ganz  gelaffen,  und  fagt,  es  fei 
dumm  und  platt  und  er  begriffe  nicht,  wie  es  Goethe 
ärgern  könne.  Der  Herzog  amüfiert  fich  am  meifi:en  und 
neckt  Goethe  rafend  damit. 


November  (24).  Henriette  Knebel. 
Als  man  an  dem  Todestag  der  guten  Elife  Gore  mit 
dem  Goethe  von  ihr  fprechen  und  ihren  Verluft  bedauern 
wollte,  fo  wies  er  das  Gefpräch  gleich  zurück  und  fagte, 
wie  man  fich  nur  von  einem  Märchen,  das  immer  das:J 
felbe  wäre,  unterhalten  könnte. 

[687.]     November/Dezember.     F.  Schelling  an  A.  W.  Schlegel. 

Mit  dem  Bericht  von  der  Kunftausfiellung  —  das 
war  allerdings  ein  guter  Spaß,  um  ihn  fo  mit  anzufehen. 
In  Rom  konnte  jeder,  der  das  Waffenhandwerk  übte,  auch 
den  Triumphator  infultieren,  aber  der  gemeine  Soldat  zu 
fein,  der  das  Organ  der  genommenen  Satisfaktion  war, 
kann  doch  nicht  für  wünfchenswert  gehalten  werden.  Sie 
zerbrechen  fich  den  Kopf  über  den  Verfaffer?  Hier  war 
man  fo  ziemUch  gewiß  darüber:  man  glaubte  allgemein, 
es  fei  Augufl  Bode,  der  doch  in  der  Gigantomachie 
einigen  Witz  gezeigt  hat.  Was  fagen  Sie  dazu?  Daß 
er  nichts  von  Kunft  verfteht,  ift  kein  Beweis;  wahrfchein? 
lieh  haben  ihm  Künftler  (Schadow?)  geholfen.  Synthetifch 
ift  die  Perfon  auf  jeden  Fall.  —  Goethe  fcheint  auch  der 
Meinung  gewefen  zu  fein,  da  er  gefagt  haben  foll,  es 
hab'  es  ein  Lausbub  gemacht,  welches  in  unferem  füd*: 
liehen  Dialekt  ein  Subjekt  bedeutet,  das  kein  übles  In:: 
genium  hat,  aber  fich  durch  einen  fchäbigen  Willen  un^^ 
nütz  macht. 

[688.]     November/Dezember.     F.  Schelling  an  A.  W.  Schlegel. 

Ich  kann  Ihnen  wohl  fagen,  da  Sie  keinen  weiteren 
Gebrauch  davon  machen  werden,  daß  Goethe  ohnlängft 
in  einem  fehr  allgemeinen  Gefpräche  von  der  Kunftaus:s 
I 


530 F.  Schelling. [689 

ftellungsgefchichte  etwas  von  Impietät  fagte,  wodurch  er 
auf  Urheber  zu  zielen  fehlen,  mit  denen  er  in  freunde 
fchaftUchen  Verbindungen  geftanden  hatte,  allein  gewiß 
hat  er  dabei  an  keinen  Ihrer  unmittelbaren  Freunde  ge^ 
dacht.  ^  Wenn  dies  Wort  außer  der  ganz  allgemeinen 
Bedeutung  —  da  er  fich,  wie  Sie  wiffen,  gern  die  hn^ 
fprüche  des  Alters  gibt  —  eine  nähere  Beziehung  hatte, 
was  ich  nicht  glaube,  fo  mochte  es  auf  Fiartmann  zielen, 
der  jetzt  allgemeiner  für  den  Verfaffer  gehalten  wird,  wie 
ich  gleichfalls  von  Tieck  erfahren  habe.  Über  des  letzteren 
Arbeiten  hat  er  fich  in  der  heften  Laune  mit  wahrhafter 
Teilnahme  und  Billigung  geäußert,  fo  daß  ich  nicht  be;; 
greife,  wie  Tieck  einigen  Grund  haben  konnte,  eine  minder 
gute  Stimmung  gegen  fich  bei  Goethe  vorauszufetzen. 

[689.]     Dezember  11.     Caroline  Herder. 

Bergrat  Werner  ift  vorigen  Sonnabend,  von  Paris 
kommend,  hier  durchgekommen.  Er  hat  mit  meinem 
Mann  bei  Goethe  zu  Mittag  gegeffen,  im  Trio;  Voigt 
hat  die  Einladung  abgefagt.  Goethe,  der  fonft  ein  Gegner 
von  Werners  Syftem  war,  lenkt  nun  ein,  und  tat  Werner 
fehr  fchön,  und  hat  mehrere  Stunden  fich  allein  mit  ihm 
über  fein  Syftem  unterhalten,  den  halben  Vormittag  über 
Tifch  war  er  ein  Selbftändiger,  Hoher  ufw.  ufw. ,  kurz 
mein  Mann  hat  es  faft  nicht  verdauen  können. 

[690.]     Ende.     H.  Voß. 

Goethes  Auffatz  über  den  Calderon  ift  bei  aller  Ein^: 
feitigkeit,  die  diesmal  in  feinem  Plane  lag,  höchft  treffe 
lieh.  Nur  in  einem  Punkte  hat  Goethe  unrecht.  Wie 
kommt  er  dazu.  Die  Andacht  zum  Kreuze  unter  die  (ich 
will  der  Kürze  wegen  fagen)  papiftifchen  Stücke  zu  zählen  ? 
Ich  habe  fie  von  neuem  gelefen  und  fie  in  der  Tat  höchft 
unfchuldig  gefunden.  Es  wird  darin  gar  kein  dogmatifcher 
Glaube  in  Anfpruch  genommen,  fondern  bloß  ein  poe? 
tifcher  wie  bei  Macbeths  Flexen.  Ich  weiß  auch  beftimmt, 
daß  Goethe  ehemals  ganz  anders  über  das  Stück  dachte 
und  Schiller  mit  ihm. 

1803. 

[691.]     Anfang  des  Jahres.     Schiller  an  W.  v.  Humboldt. 

Es  ift  zu  beklagen,  daß  Goethe  fein  Hinfchlendern 
fo  überhand  nehmen  läßt  und  weil  er  abwechfelnd  alles 


693] Weimar.     1803. 351 

treibt,  fich  auf  nichts  energifch  konzentriert.  Er  ift  jetzt 
ordentlich  zu  einem  Mönch  geworden  und  lebt  in  einer 
Befchaulichkeit,  die  zwar  keine  abgezogene  ift,  aber  doch 
nicht  nach  außen  produktiv  wirkt.  Seit  einem  Viertele 
jähr  hat  er,  ohne  krank  zu  fein,  das  Haus,  ja  nicht  ein^; 
mal  die  Stube  verlaffen.  Von  dem,  was  er  treibt,  wird 
er  Ihnen  felbft  Nachricht  gegeben  haben.  Wenn  Goethe 
noch  einen  Glauben  an  die  Möglichkeit  von  etwas  Gutem 
und  eine  Konfequenz  in  feinem  Tun  hätte,  fo  könnte 
hier  in  Weimar  noch  manches  realifiert  werden,  in  der 
Kunft  überhaupt  und  befonders  im  Dramatifchen.  Es  ent:; 
ftünde  doch  etwas,  und  die  unfelige  Stockung  würde  fich 
geben.  Allein  kann  ich  nichts  machen,  oft  treibt  es  mich, 
mich  in  der  Welt  nach  einem  andern  Wohnort  und 
Wirkungskreis  umzufehen;  wenn  es  nur  irgendwo  leid^ 
lieh  wäre,  ich  ginge  fort. 

[692.]     Februar.     Schiller  an  K.  F.  Zelter. 

Sie  haben  durch  Ihr  Außenbleiben  die  Hoffnungen 
vieler  Freunde  getäufcht,  die  Sie  lieben  und  verehren, 
und  manches  Plänchen,  das  auf  Ihr  Hierfein  berechnet 
war,  fcheitern  gemacht.  Unter  diefen  war  auch  eins  von 
mir,  das  auch  Goethen  fehr  am  Herzen  lag  ^  es  ift  eine 
Tragödie  von  mir  mit  dem  Chor  der  alten  Tragödie.  ^ 
Wir  hielten  es  nicht  für  unmöglich,  die  lyrifchen  Intern 
mezzos  des  Chors,  deren  fünf  oder  fechs  find,  nach  Ge^ 
fangs  Weife  rezitieren  zu  laffen  und  mit  einem  Inftrument 
zu  begleiten.  Übrigens  verlaffen  wir  uns  auf  Ihr  fach^ 
verftändiges  Gutachten  und  auf  die  Eingebungen  Ihres 
Genies.  ^  Goethe  fagt  mir  von  mehreren  fchönen  Melo^s 
dien,  die  Sie  ihm  gefchickt  hätten,  er  läßt  fie  einftudieren 
und  verfpricht  uns  diefe  Woche  ein  rechtes  Feft  davon. 

[693.]     April  (Anfang).     Chriftiane  Vulpius  an  N.  Meyer. 

Wegen  dem  Geheimen  Rat  lebe  ich  fehr  in  Sorge, 
er  ift  manchmal  ganz  hypochonder,  und  ich  ftehe  oft  viel 
aus,  doch  trage  ich  alles  gerne,  da  es  ja  nur  krankhaft 
ift,  habe  aber  fo  gar  niemanden,  dem  ich  mich  vertrauen 
kann.  Schreiben  Sie  mir  aber  hierauf  nichts,  denn  man 
muß  ihm  ja  nicht  fagen,  daß  er  krank  ift;  ich  glaube 
aber,  er  wird  einmal  recht  krank.  Neulich,  als  Ihr  Brief 
ankam,  war  er  fehr  luftig,  und  fagte  zu  mir:  Sehe  nur 
mal  was  dem  Doktor  feine  Briefe  an  dich  fo  klein  und 
I 


7^ 


332  Chriftiane  Vulpius.  [694 

unbedeutend  werden,  erinnerft  du  dich,  ich  habe  dir 
es  einmal  voraus  prophezeit,  und  wirft  bald  gar  keine 
mehr  bekommen. 

[694.]     April  21.     Erneftine  Voß. 

Goethe  ließ  damals  grade  die  Natürliche  Tochter 
drucken  und  Voß  erfüllte  gern  feine  Bitte,  diefe  in  einer 
befiimmten  Stunde  mit  ihm  zu  lefen;  vorzüglich  wollte 
er  feine  Anflehten  über  den  Versbau  benutzen.  Als  er 
das  erftemal  zu  diefem  Zwecke  kam,  begegnete  er  mir 
auf  der  Treppe.  Aus  Erfahrung  kannte  er  meine  Ge^s 
wohnheit,  mich  neben  die  Männer  zu  fetzen,  wenn  fie 
miteinander  lafen  oder  fprachen:  Diesmal,  fagte  er,  dürfen 
Sie  nicht  bei  uns  fein,  bei  der  nächften  Vorlefung  werde 
ich  Sie  aber  felbft  bitten,  Sitz  und  Stimme  zu  haben. 
Dazu  war  der  Reineke  Fuchs  beftimmt.  ^  Zu  diefer  Vor^ 
lefung  kam  es  nie,- für  Voß  ein  Beweis,  daß  die  erfte 
Goethe  nicht  befriedigt.  Es  war  Voß  fehr  recht,  daß 
Goethe  von  ihm  kein  Urteil  über  diefes  Stück  begehrte. 

[695.]     April.     F.  Schelling  an  A.  W.  Schlegel. 

Mit  den  Calderonfchen  Werken  haben  Sie  mir  das 
größte  Vergnügen  gemacht  und  mich  zum  wärmfien  Dank 
verpflichtet.  Ich  hatte  gleich  Gelegenheit,  fle  Goethe  zu 
geben,  der  gegenwärtig  hier  in  Jena  ifi:.  Er  ift  auch  von 
dem  zweiten  Stück  Über  allen  Zauber  Liebe  entzückt  und 
von  dem  erften  aufs  neue  durchdrungen,  von  dem  er 
fagt:  Keine  Zunge  könne  ausfprechen,  wie  gut  es  fei. 
Er  erkennt  die  Einheit  desfelben  Geiftes  in  beiden  und 
hätte  nicht  übel  Lufl:,  beide  aufführen  zu  laffen,  wenn 
nur  nicht  einige  Veränderungen  zu  diefem  Behuf,  nur 
um  fle  auch  nicht  durch  die  äußere  Wirkung  zu  ent? 
heiligen,  befonders  in  Anfehung  der  Andacht  zu  dem 
Kreuz  notwendig  wären.  ^ 

Dr.  Schelver  aus  Halle  ^  hat  die  hieflge  botanifche 
Lehrfi:elle  erhalten.  ^^  Er  ifi:  bereits  hier  und  Goethe 
äußerfi:  wohl  mit  feinen  erften  Schritten  und  Arbeiten  zu^ 
frieden. 

[696.]     Mai  15.    J.  H.  Voß. 

Diefer  Nachmittag  brachte  uns  Goethe,  der  geftern 
von  Lauchftädt  zurückkam,  und  unfere  Studien  im  Vers^ 


700] Jena  -  Weimar.     1803. 335 

bau  fortfetzen  wollte.  Er  will  fleh  nächftens  in  Trime:: 
tern  mit  untermifchten  Sätzen  an  anapäftifchen  und  chori? 
ambifchen  Verfen  verfuchen,  und  ich  hoffe,  es  wird  gehen. 
Seine  Schaufpieler,  fagt  er,  bekommen  immer  mehr  Ohr 
und  Gefühl  für  den  edleren  Gang  des  Verfes. 

[697.]     Mai  16.     Frau  Riedel. 

Goethe  habe  feine  Natürliche  Tochter  in  Jena  im 
Kreife  der  Profefforen  vorgelefen,  und  Herder  fei  auch 
dabei  gewefen.  Als  Goethe  geendet,  hätten  alle  das  Stück 
außerordentlich  gelobt,  nur  Herder  fei  ftumm  geblieben. 
Nun,  Alter,  habe  ihn  Goethe  angeredet.  Du  fagfi  gar 
nichts,  gefällt  dir  denn  das  Stück  gar  nicht? 

O  doch!  antwortete  Herder,  am  Ende  ift  mir  aber 
doch  dein  natürlicher  Sohn  lieber,  als  deine  Natürliche 
Tochter. 

[698.]     Juli  (22).     F.  Schubert. 

Als  Jüngling  war  Pius  Alexander  Wolff  ^^  mit  einem 
Jugendfreunde  namens  Chvißian  Gottfried  Grüner  nach 
Weimar  gekommen,  um  fich  in  die  Schule  Goethes  für 
das  Theater  zu  begeben.  Über  den  Empfang  der  beiden 
jungen  Männer  von  feiten  des  großen  Dichters  hat  mir 
Wolff  erzählt,  daß  er  nie  wieder  das  erhabene  Bild  ver:: 
geffen  habe,  welches  ihnen  Goethe  von  der  Kunft  ent? 
worfen,  der  fie  fich  widmen  wollten,  daß  er  aber,  als  er 
ihnen  die  Aufnahme  zugefagt,  mit  der  Bemerkung  ge^ 
fchloffen  habe:   Mit  dem  Gehen  wollen  wir  anfangen! 

[699.]     Auguft  Mitte.     Henriette  v.  Knebel. 

Gelegentlich  fprach  ich  mit  Goethe  vom  Lukrez  der 
meinte,  er  könnte  an  Bertuch  verkauft  werden,  welchem 
damit  gedient  fein  würde. 

[700.]     Auguft  26.     Charlotte  v.  Stein. 

Goethe  nahm  beim  Tee  in  Schillers  Haufe  Schiller 
von  uns  weg  ins  Nebenzimmer;  ^  fie  ftellten  fich  im 
Diskurs  neben  eine  Bouteille  Wein  und  ließen  fich  nicht 
wieder  mit  uns  ein.  '^  Goethe  verdirbt  einem  meiftenteils 
die  Gefellfchaft.  Wahre  Güte  des  Herzens  gibt  auch 
Lebensart.  Goethe  hat  eigentlich  nur  Schwäche  des  Herzens; 
dies  habe  ich  lange  für  Güte  gehalten. 
I 


334 Schiller. [701 

[701.]     September.     Schiller. 

Riemer  hat  uns  keine  üble  Meinung  von  fich  er^j 
weckt  und  Goethe  ift  fo  gut  für  ihn  geftimmt  worden, 
daß  er  ihn  diefen  Winter  hier  behält,  um  feinen  Auguft 
im  Griechifchen  zu  unterrichten. 

[702.]     September  (28).     F.  W.  Riemer  an  F.  J.  Frommann. 

Sie  kommen  doch  zum  Julius  Cäfar?  Goethe  hofft 
felbft  etwas  geleiftet  zu  fehen;  und  ej'  hat  fich's  fauer 
werden  laffenl 

[703.]     Oktober  Anfang.     Schiller  an  S.  L.  Crufius. 

Die  Zeichnung  zu  einer  Prachtausgabe  der  Glocke 
von  H.  Schnorr  bitte  ich  noch  vierzehn  Tage  hier  bes 
halten  zu  dürfen.  Es  ifi  grade  Kunftausftellung  in  Weimar 
und  Herr  Geheimrat  von  Goethe,  dem  diefe  Zeichnung 
fehr  wohl  gefällt,  hat  mich  erfucht,  folche  mit  ausftellen 
zu  dürfen. 

[704.]     Oktober/November.     Riemer. 

Goethe.  Wer  nicht  das  Mechanifche  vom  Handwerk 
kennt,  kann  nicht  urteilen:  den  Meifier  kann  niemand 
und  den  Gefellen  nur  der  Meifier  meiftern. 

1705.] 

G.  Es  ifi  fo  gefährlich,  in  die  Ferne  fittlich  zu  wirken. 
Spricht  man  mit  einem  Freund,  fo  fühlt  man  feine  Lage 
und  mildert  die  Worte  nach  dem  Augenblick.  Entfernt 
fpricht  man  nicht  recht  oder  trifft  nicht  zur  rechten  Zeit. 

[706.] 

G.  Es  geht  nichts  über  den  Genuß  würdiger  Kunfi;; 
werke,  wenn  er  nicht  auf  Vorurteil,  fondern  auf  würdiger 
Kenntnis  ruht. 

[707.] 

G.  Die  große  Notwendigkeit  erhebt,  die  kleine  er^ 
niedrigt  den  Menfchen. 

[708.] 

G.  Fafi  bei  allen  Urteilen  (in  der  deutfchen  Literatur) 
waltet  nur  der  gute  oder  böfe  Wille  gegen  die  Poeten, 
und  die  Fratze  des  Parteigeifies  ifi  mir  mehr  zuwider, 
als  irgend  eine  andere  Karikatur. 


715J  Weimar     1803.  335 

[709.]     Oktober/November.     Riemer. 

G.  Ein  Glück  ift's,  daß  jedem  nur  fein  eigner  Zuftand 
zu  behagen  braucht. 

[710.] 

G.  Wenn  man  nicht  immer  in  der  Weh  lebt,  fo  fieht 
man  fie  anfangs  wieder  mit  verwunderten  Augen  an,  und, 
fo  gut  man  fie  kennt,  machen  einen  die  neuen  Erfcheis: 
nungen  wieder  auf  kurze  Zeit  aufmerkfam,  bis  man  denn 
das  alte  plumpe  Märchen  wieder  bald  gewahr  wird. 

[711.] 

G.  Ich  fehe  immer  mehr,  daß  jeder  nur  fein  Handwerk 
ernfthaft  treiben  und  das  übrige  alles  luftig  nehmen  foll. 
Ein  paar  Verfe,  die  ich  zu  machen  habe,  intereffieren 
mich  mehr,  als  viel  wichtigere  Dinge,  auf  die  mir  kein 
Einfluß  geftattet  ift,  und  wenn  ein  jeder  das  Gleiche  tut, 
fo  wird  es  in  der  Stadt  und  im  Haufe  wohl  flehen. 

[712.] 

G.  Man  ift  in  einem  gewiffen  Alter  an  einen  gewiffen 
Ideengang  gewöhnt,  das  Neue,  was  man  fieht,  ift  nicht 
neu  und  erinnert  mehr  an  unangenehme,  als  angenehme 
Verhältniffe,  und  ganz  vorzügliche  Gegenftände  begegnen 
einem  doch  feiten. 

[713.] 

G.  Einer  Gefellfchaft  von  Freunden  harmonifche  Stim:; 
mung  zu  geben  und  manches  aufzuregen,  was  bei  den 
Zufammenkünften  der  heften  Menfchen  fo  oft  nur  ftockt, 
follte  von  Rechts  wegen  die  befte  Wirkung  der  Poefie  fein. 

[714.] 

G.  Die  Gelehrfamkeit  auf  dem  Papier  und  zum  Papier 
hat  gar  zu  wenig  Reiz  für  mich.  Man  glaubt  nicht,  wie 
viel  Totes  und  Tötendes  in  der  Wiffenfchaft  ift,  bis  man 
mit  Ernft  und  Trieb  felbft  hinein  kommt;  und  durchaus 
fcheint  mir  die  eigentlich  wiffenfchaftlichen  Menfchen 
mehr  ein  fophiftifcher  als  ein  wahrheitsliebender  Geift  zu 
beleben.     Doch,  es  mag  jeder  fein  Handwerk  treiben. 

[715.] 

G.  Die  Hausgenoffenfchaft  hat  das  Eigene,  daß  fie  wie 
eine  Blutsverwandtfchaft  zum  Umgang  nötigt,  da  man 
gute  Freunde  feltner  fieht,  wenn  man  fich  erfi  fie  zu  bej: 
fuchen  oder  einzuladen  entfchheßen  foll. 


356 Ph.  O.  Runge. [716 

[716.]     November  15.     Ph.  O.  Runge. 

Wie  ich  geftern  abend  ^  zu  Voigts  ging,  traf  ich 
Goethen  auch  dort.  '^  Er  gefällt  mir  fehr,  muß  ich  fa^ 
gen;  er  kam  mir  gleich  entgegen  und  fragte,  was  ich 
mache  und  arbeite.  —  Wir  haben  fo  die  Präludia  mit:: 
einander  gemacht;  ich  fehlen  ihm  doch  zu  gefallen.  Er 
wollte  einigemal  verfuchen,  mich  durch  derbe  Anrede 
und  fein  ftarkes  Anfehen  aus  dem  Zufammenhang  zu 
bringen;  ich  blieb  aber  darin,  und  werde  es,  will's  Gott! 
auch  bleiben.  ~  Er  hatte  keine  Zeit,  fein  Wagen  fiand 
vor  der  Tür,  und  doch  fagte  er :  Ich  kann  nicht  davon 
kommen. 

[717.]     November  18.     Ph.  O.  Runge. 

Bei  Goethe  waren  wir  '^  den  letzten  Mittag  noch  recht 
vergnügt;  er  unterhielt  fich  nach  Tifche  recht  lange  mit 
mir,  fragte  mich  in  mancher  Beziehung  über  meine  An? 
flehten,  wie  ich  von  feinen  dortigen  Anftalten  dächte,  und 
fagte  mir,  wie"  fie  gemeint  feien,  gab  mir  denn  auch  in 
allem,  wie  ich  meine  Sachen  einrichte,  großen  Beifall. 

[718.]     (November.)     Charlotte  v.  Schiller  an  Fritz  v.  Stein. 

Ich  muß  Ihnen  nur,  unter  uns  gefagt,  ein  Bonmot 
von  Goethe  erzählen,  worüber  ich  recht  gelacht  habe. 
Der  Graf  Reuß,  der  hier  wohnt,  hat  den  Einfall,  alle  Ge:= 
lehrten,  deren  er  nur  habhaft  werden  kann,  crayonnieren 
zu  laffen.  Nun  find  denn  alle  fchon  daran  gewefen,  nur 
Goethe  und  Schiller  wollen  nicht.  Goethe  hat  es  fehr 
übel  genommen,  daß  der  Graf  den  Herrn  Roux  von  Jena 
fo  ohne  Vorbereitung  zu  ihm  gefchickt  hat,  und  fagte  neu:= 
lieh  in  einem  Anfall  von  guter  Laune:  Chrifius  hat  doch 
fagen  laffen  durch  feine  Jünger,  wie  er  die  Efelin  brauchte, 
der  Herr  bedarf  ihrer,  aber  uns  läßt  der  Graf  kein  gutes 
Wort  fagen. 

[719.]     Herbft.    November/Dezember  und  fpäter.    Erneftine  Voß. 

Gegen  die  Zeit  der  Weinlefe  war  Goethe  wieder  auf 
einige  Monate  in  Jena,  aber  er  traf  es  bei  uns  nicht  fo, 
daß  bei  ihm  die  Luft  zu  häufigen  Befuchen  entfiehen 
konnte;  denn  was  uns  drückte,  lag  außer  dem  Kreife 
feiner  Teilnahme.  Doch  follten  wir  ihn  auch  in  diefer 
Zeit  von  feiner  liebenswürdigften  Seite  kennen  lernen. 
Dann  kam  er  abends  in   feinen  Mantel  gehüllt,  den  er. 


720]  Jena  -  Weimar.     1803.  337 

wie  er  erzählte,  noch  in  feiner  Kriegsperiode  genutzt,  und 
hatte  vorn  auf  der  Bruft  eine  Laterne,  an  einem  Haken 
hängend.  So  faßte  ihn  einmal  Voß,  als  er  feine  Hülle 
abgeworfen  hatte,  kräftig  fchüttelnd  an  beide  Schultern, 
und  fagte:  Ihr  habt  etwas  gemacht,  was  uns  gar  fehr 
mißfallen.  —  Wiefo?  rief  er  verwundert,  mit  ernftem 
Geficht.  —  Ihr  habt  eine  Sammlung  fo  fchöner  Lieder 
foeben  drucken  laffen,  und  uns  nicht  einmal  auf  diefe 
Freude  vorbereitet.  Der  Übergang  vom  Ernft  zu  heiterer 
Gemütlichkeit  in  feinem  fchönen  Auge  war  unbefchreib^ 
lieh,  und  er  ließ  uns  beide  fühlen,  daß  ihn  diefes  an? 
genehm  überrafcht.  Voß  las  nun  mehrere  Lieder  felbft 
vor,  über  andere  entftand  ein  lebhaftes  Gefpräch.  —  Ein 
andermal  trat  er  ins  Zimmer,  als  ich  eben  einen  herzlich 
kindlichen  Brief  von  feiner  Nichte  Nicolovius  erhalten 
hatte,  in  dem  fie  auf  ihre  gar  zu  liebe  Weife  aus  dem 
häuslichen  Kreife  erzählte,  wo  ich  fo  ganz  heimifch  war. 
Von  diefer  Nichte  hatte  ich  ihm  fchon  manches  mitge;: 
teilt.  Wenn  Sie  diefen  Brief  lefen,  fagte  ich  zu  ihm,  fo 
fehen  Sie  das  liebe  Kind  ganz  wie  es  ifi.  Er  nahm  ihn 
rafch  aus  meiner  Hand,  und  fing  mit  heitern  Zügen  an 
zu  lefen.  Allmählich  wurden  fie  ernfter,  und  am  Ende 
liefen  ihm  die  hellen  Tränen  über  die  Wangen.  Er  faß 
eine  Weile  fchweigend  bis  er  mit  lebhaftem  Gefühl  aus? 
rief:  Diefe  Tochter  ift  das  wahre  Ebenbild  meiner  Cor? 
nelia.  — 

Lebhaft  wiederholte  er  einen  fchon  früher  geäußerten 
Wunfeh,  Voß  folle  vom  Herzog  eine  Penfion  annehmen, 
und  da  diefes  verworfen  ward,  hieß  es,  Kleinigkeiten  für 
die  Wirtfchaft  dürfe  er  doch  nicht  ablehnen:  Korn  zum 
Brotbacken,  Futter  für  die  Hühner,  Brennholz,  ein  paar 
Hafen  und  Rehe  in  die  Küche,  für  welche  Gegenfi:ände 
denn  auch  bald  die  nötige  Anweifung  erfolgte. 

[720.]     (November/Dezember.)     K.  A.  Böttiger. 

Freilich  wußte  Frau  von  Sfael  fehr  gut,  daß  Goethe 
noch  vor  ihrer  Ankunft  in  Weimar  ihre  Delphine  ein? 
mal  bei  einer  Hoftafel  mit  einer  ganz  ungewöhnlichen 
Lebhaftigkeit  für  ein  Produkt  erklärt  habe,  das  dem  Zeit? 
alter  Ehre  mache,  und  daß  er  fich  felbft  die  Anzeige  diefes 
Meifterwerks  in  der  Jenaifchen  Lit.?Zeitung  vorbehalten 
habe. 

I  22 


338 Charlotte  v.  Stein. [721 

[721.]     Dezember.     Charlotte  v.  Stein. 

Goethe,  der  in  Jena  ifi,  will  durchaus  nicht  herüber? 
kommen,  obgleich  der  Herzog  ihm  einen  Expreffen  ge^: 
fchickt  hat,  fondern  er  will  der  Frau  von  Stael  dafelbft 
ein  Zimmer  mieten,  um  fie  recht  tete  ä  tete  zu  genießen. 

[722.]     Dezember.     Henriette  v.  Knebel. 

Goethe  wird  künftigen  Sonnabend  herkommen  und 
die  Frau  von  Stael  bei  fich  im  Haufe  bewirten.  Sie  hat 
ihn  fo  dringend  und  von  allen  Seiten  darum  bitten  laffen, 
daß  er  nicht  anders  konnte,  aber  er  fträubt  fich  und  ift 
fehr  melancholisch. 

[723.J    Dezember.     Amalie  v.  Helvig. 

Goethe  war  ebenfo  gefpannt  der  Frau  von  Stael  Be? 
kanntfchaft  zu  machen,  als  fie  die  feinige.  Nach  der 
Begegnung  berichtete  Goethe  feinen  Freunden :  Es  war  eine 
intereffante  Stunde.  Ich  bin  nicht  zu  Worte  gekommen; 
fie  fpricht  gut,  aber  viel,  fehr  viel.  —  Ein  Damenkreis 
wollte  inzwifchen  wiffen,  welchen  Eindruck  unfer  Apoll 
auf  die  Fremde  gemacht  habe.  Auch  fie  bekannte,  nicht  zu 
Worte  gekommen  zu  fein.  Wer  aber  fo  gut  fpricht,  dem 
hört  man  gerne  zu  —  foll  fie  gefeufzt  haben.  Wer  fprach? 
Wer  fchwieg? 

[724.]     Dezember.     K.  A.  Böttiger. 

Als  Goethe  Frau  von  Stael  zum  erften  Male  in  ihrem 
Logis  befuchte,  regalierte  fie  ihn  mit  der  Erzählung,  wie 
fie  Schillers  Bekanntfchaft  in  den  Zimmern  der  Herzogin 
gemacht  habe.  Beide  waren  zur  regierenden  Herzogin 
felbft  geladen  und  fanden  fich  da,  bevor  die  Herzogin 
felbft  erfchien,  in  ihrem  Zimmer.  J'y  entre,  j'y  vois  un 
seul  homme  grand,  maigre,  pale,  mais  dans  un  uniforme 
avec  des  epaulettes.  Je  le  prends  pour  le  commandant 
des  forces  du  duc  de  Weimar,  et  je  me  sens  penetre  de 
respect  pour  le  general.  II  se  tient  ä  la  cheminee  dans 
un  silence  morne.  En  attendant  je  me  promene  dans  la 
chambre.  Puis  vientla  duchesse  et  me  presente  mon  hom? 
me  que  j'avais  qualifie  de  general  sous  le  nom  de  Mr. 
Schiller.  Me  voilä  toute  interdite  pour  quelques  instants. 
—  Que  penserez  vous  donc  de  moi,  repondit  Mr.  Goethe, 
si  vous  me  verrez  dans   le  meme  costume?     (Es   ift  die 


728]  Weimar.    1803.  339 

Weimarifche  Hofuniform,  die  Goethe  auch  trägt,  wenn 
er  an  den  Hof  geht.)  Ah,  je  ne  m'y  tromperais  point, 
et  puis  cela  vous  ira  ä  merveille  ä  cause  de  votre  bonne 
et  belle  —  avec  un  geste  fort  significatif  —  rotondite. 

[725.]     Dezember  24.     H.  C.  Robinfon. 

I  heard  a  report  that  Frau  von  Stael  had  extorted 
from  Goethe  by  some  advice  given  him  on  bis  Natjirg 
liehe  Tochter  this  reply :  Madame  I  am  more  than  six?  (^ 
ty  years  oldl  But  that  is  not  after  his  fashion.  I  know 
however  that  she  did  speak  irreverently  of  that  masters^ 
ly  work. 

[726.]     Dezember.     E.  v.  Schardt. 

Goethe  kommt  mit  Frau  von  Stael  beffer  weg  als 
Schiller,  jener  gibt  zur  erften  Antwort  immer  ein  Spaß? 
eben,  und  beruhigt  fie  fich  dabei  nicht,  fo  hat  er  doch 
Zeit  gewonnen,  fachgemäß^zu  antworten. 

[727.]     (?)     K.  A.  Böttiger. 

Mit  Bezug  auf  die  Vignette  der  Zeitung  für  die  elegante 
Welt,  welche  einen,  auf  einem  mit  Greifen  bespannten  Rad= 
geßelle  fahrenden  Flügelknahen  vorflellte,  fchlug  er  vor, 
den  Buben,  der  die  Greifen  zügelt,  umzukehren  und  dem 
Publikum  das  Gefäß  zeigen  zu  laffen. 

[728.]     (Dezember.)     K.  F.  Fröhlich. 

Man  drang  immer  mehr  in  mich,  daß  ich  mich  für 
einen  Stand  erklären  folle,  indem  es  Zeit  fei,  einen  EnU 
fchluß  zu  faffen,  befonders  wenn  ich  mich  dem  Handels? 
ftand  widme,  was  wohl  das  Befte  für  mich  fei,  da  faft 
alle  meine  nähern  Verwandten  mit  geringer  Ausnahme 
diefem  angehörten  und  diefe  Karriere  mit  Glück  betreten 
hätten.  Von  allen  Seiten  gedrängt,  erklärte  ich  endlich 
rund  heraus,  ich  würde  nichts  anders  als  Schaufpieler 
werden,  wozu  ich  den  höchften  Beruf  in  mir  fühlte.  Jetzt 
aber  war  Feuer  in  allen  Ecken.  ^^  Es  wurde  mir  nun  un? 
aufhörlich  von  allen  Seiten  fo  zugefetzt,  daß  ich  befchloß, 
der  ganzen  Gefchichte  fchnell  durch  einen  Defperations? 
coup  ein  Ende  zu  machen.  Erft  kürzlich  hatte  ich  Wil? 
heim  Meifters  Lehrjahre  von  Goethe  gelefen,  und  wieder 
gelefen,  mich  ganz  in  das  Buch  und  den  Charakter  Wil? 
I  22* 


540 K.  F.  Fröhlich. [728 

heims  vernarrt  und  faßte  nun  den  Entfchluß,  den  Schöp^: 
fer  desfelben,  mit  deffen  Familie  wir  ohnehin  liiert  waren, 
aufzufuchen,  in  dem  feiten  Glauben,  diefer,  der  felbft  ein 
fo  großer  Verehrer  der  dramatifchen  Kunft  fei,  würde  und 
muffe  mich  als  ihren  Jünger  mit  offenen  Armen  aufneh? 
men.  Ich  fteckte,  was  mir  noch  von  meinen  Konfirma? 
tionsgeldern  übrig,  zu  mir,  fetzte  mich  auf  den  Pofiwagen 
und  fuhr,  ohne  jemand  ein  Wort  davon  zu  fagen,  nach 
Weimar.  ^^  Zum  Tage  meiner  Abreife  hatte  ich,  wohl  über? 
legt,  das  Feft  des  Bornheimer  Lerchenherbftes  ^^  gewählt, 
weil  da  meine  Abwefenheit  weniger  und  erft  fpät  in  der 
Nacht  bemerkt  würde.  Ich  fuhr  unaufgehalten  über  Fulda, 
Eifenach,  Gotha  und  Erfurt,  kam  den  zweiten  Tag  gegen 
Abend  wohlbehalten  ^  in  Weimar  an,  wo,  kaum  im  Gaft? 
hof  abgeftiegen,  ich  noch  denfelben  Abend  meinen  be? 
rühmten  Landsmann  auffuchte,  ihn  jedoch  nicht  traf  und 
auf  den  folgenden  Morgen  nach  10  Uhr  befchieden 
wurde.  «^ 

Es  fchlug  endlich  zehn  und  ich  eilte  nun  nach  Goethes 
Wohnung,  wo  ich  mich  als  einen  Landsmann  und  guten 
Bekannten  feiner  Familie  melden  ließ.  Ich  ward  fofort 
vorgelaffen,  traf  ihn  jedoch  nicht  allein,  fondern  in  Ge? 
fellfchaft  einer  ziemlich  martialifch  ausfehenden  Dame. 
Ich  hatte  ihn  nur  ein  paarmal  und  immer  nur  einige  Au? 
genblicke  gefehen,  wenn  er  auf  Befuch  in  Frankfurt  war. 
^  Bei  feinem  Anblick  erftarrte  mir  das  Blut  faft  in  den 
Adern,  und  das  Herz  war  mir,  wie  die  Frankfurter  fagen, 
fo  ziemlich  in  die  Schuhe  gefallen.  Nur  ftotternd  und 
ftockend  konnte  ich  mein  Anliegen  vorbringen,  bei  dem 
fein  fich  verfinfternder  Blick  mir  eiskalt  durch  die  Adern 
fchauerte.  Ich  ftammelte,  daß  ich,  feine  Werke  lefend, 
eine  unwiderftehliche  Neigung  für  die  Bühne  gefchöpft, 
daß  fein  Wilhelm  meine  Liebe  zur  Schaufpielkunft  aufs 
höchlte  gefteigert  habe,  nannte  ein  Dutzend  Rollen,  die 
ich  fchon  einftudiert,  vergaß  aber  in  der  Beftürzung  un? 
glücklicherweife  einige  aus  feinen  Stücken  zu  nennen,  ob? 
gleich  ich  auch  den  Egmont  auswendig  gelernt.  Als  mich 
der  finitere  Mann  endlich  fragte,  ob  ich  keine  Briefe  an 
ihn  mitgebracht,  und  ich  ihm  hierauf  den  Genieftreich, 
den  ich  gemacht,  und  zu  dem  mich  hauptfächlich  fein 
Wilhelm  veranlaßt,  eingeftand,  da  legte  fich  feine  Stirn 
noch  mehr  in  Falten,  nur  ein  kurzes:  So!  fol  entwifchte 
noch   feinen   Lippen,   und   nachdem   er  gefragt,   wo   ich 


729]  Weimar.    1804.  341 

wohne,  verabfchiedete  er  mich,  mit  der  Bedeutung,  er 
würde  mich  das  Weitere  wiffen  laffen,  ich  folle  mich  in:; 
deffen  ruhig  in  meinem  Gafthof  verhalten. 

Wie  mißmutig  mich  der  gegen  alle  Erwartungen  gla? 
ziale  Empfang  und  die  unfreundliche  Aufnahme  geftimmt, 
kann  man  fich  denken.  Mehr  Anteil,  fo  fchien  es,  habe 
noch  die  neben  meinem  fteifen  Landsmann  flehende  he^ 
roifche  Dame  an  mir  genommen,  wenigftens  fchienen  dies 
ihre  Blicke  zu  verraten;  denn  fie  war  während  der  ganzen 
Szene  ftumm.  ~  Als  ich  mit  einer  ftummen  Verbeugung 
aus  dem  Zimmer  war,  ward  es  mir  wieder  leichter  ums 
Herz,  und  ich  erkundigte  mich  bei  einem  dienftbaren  Geift, 
wer  die  Dame  fei,  die  ich  gefehen,  worauf  mir  der  Be^ 
fcheid  wurde:  eine  Franzöfin,  die  fich  Madame  von  Stael 
nenne.  ^^ 

Schon  war  ich  fechs  Tage  dafelbft,  ohne  daß  ich  wei^ 
ter  etwas  von  Goethe  und  Schiller  gehört  hätte  und  fing 
an  zu  glauben,  daß  mich  erfterer  ganz  vergeffen  habe, 
als  fich  am  Morgen  des  fiebenten  plötzlich  meine  Tür 
öffnete  und  hereintrat  —  mein  Großoheim,  der  Ober^; 
pfarrer  von  Homburg.  Er  grüßte  mich  mit  den  Worten: 
Du  heillofer  Galgenftrick,  was  machft  du  für  Streiche? 
worauf  noch  eine  lange  Strafpredigt  und  die  Erklärung 
folgte,  ich  habe  mich  fofort  reifefertig  zu  machen.  ^' 

Ich  fah  mich  verraten  und  verkauft,  hatte  weder  von 
Goethe  noch  von  Schiller,  noch  von  allen  Mufenföhnen 
Weimars  und  Jenas  mehr  etwas  zu  hoffen,  und  trat  ^ 
die  Heimreife  '^  mit  meinem  Oheim  an.  ^^  Goethe  habe 
ich  auch  nie  wieder  gefehen,  aber  fpäter  erfahren,  daß 
er  mich  gewiffermaßen  unter  polizeiliche  Aufficht  in  mei^ 
nem  Gafthof  hatte  ftellen  laffen.  Gleich  nachdem  ich  ihn 
verlaffen,  hatte  er  an  feine  Mutter  nach  Frankfurt  ge? 
fchrieben*  und  diefer  meine  Anwefenheit  in  Weimar  und 
mein  Begehren  an  ihn  gemeldet.  Frau  Rat  Goethe  aber 
war  nach  Empfang  diefes  Briefs  zu  meinen  Eltern  geeilt, 
ihnen  deffen  Inhalt  mitzuteilen. 

1804. 

[729.]     Januar  10.     Riemer  an  J.  F.  Frommann. 

Sie  wiffen  doch,  daß  Goethe  unpaß  ift,  krank  mag 
ich  nicht  fagen,  ob  er  gleich  meift  zu  Bett  liegt;   es  rührt     * 
wahrfcheinlich  von  einem  zurückgetriebenen  Echauffement 
I 


342 Riemer. [730 

her  und  fcheint  weiter  nichts  auf  fich  zu  haben,  als  daß 
er  nun  nicht  ausgehen  kann  und  manchmal  nicht  guten 
Humors  ift.  Geftern  abend  las  ich  ihm  einen  Gefang  aus 
der  Voffifchen  Iliade  vor.  Da  war  er  fehr  gefprächig, 
und  ich  habe  manches  dabei  gelernt,  was  man  eben  nicht 
in  der  Schule  lernt. 

[730.]     Januar  26.     Charlotte  v.  Stein  an  ihren  Sohn  Fritz. 

Goethe  hat  mir  zu  Deiner  Verlobung  Glück  ge? 
wünfcht;  die  befte  Qualität  der  Braut  waren  ihm  die  fech^ 
zehn  Jahr. 

[731.]     Januar  26.     H.  Voß. 

Welchen  herrlichen  Abend  hatten  wir  neulich  durch 
Goethe,  der  um  7  Uhr  kam  und  (ich  felbft  zum  Abend? 
effen  meldete.  Er  war  fo  lebendig,  teilnehmend,  herzlich, 
wie  ich  nie  von  ihm  erwartet  hatte.  Auch  offenherzig, 
felbft  in  unfer  aller  Gegenwart,  wie  er  vielleicht  feit  Jahren 
nicht  gewefen  ift.  Auf  meinen  Vater  hält  er  gar  viel. 
Der  fagte  wie  im  Zorne  zu  ihm:  Es  ift  doch  eine  Schande, 
daß  Sie  einen  fo  herrlichen  Liederalmanach  herausgeben 
und  es  Ihren  Freunden  geheim  halten.  Da  funkelten  dem 
Goethe  die  Augen,  er  fiel  meinem  Vater  um  den  Hals 
und  konnte  feine  Freude  nicht  ftark  genug  ausdrücken, 
daß  er  was  produziert  habe,  was  einem  folchen  Richter, 
wie  er  fagte,  gefiele.  Er  wurde  immer  wärmer  und  fprach 
nun  von  dem,  was  er  ausführen  wollte,  wenn  ihn  Götter 
und  Menfchen  begünftigten.  Auch  über  Schlegel  fprach 
er;  er  meinte:  Anflehten  über  Dinge  wechfelten  wie  die 
Tage;  nun  fei  diefe  an  der  Ordnung,  dann  jene,  fo  wie 
im  Homer  an  einem  Tage  Diomedes  der  Held  fei,  an 
einem  andern  Achilles  ufw.  Der  Unterfchied,  daß  jene 
Meinung  länger  daure,  jene  kürzer,  fei  nicht  anders,  als 
wie  Sommertage  länger  dauern,  als  Wintertage.  Den  Unter? 
fchied,  der  jetzt  gang  und  gebe  ift  zwifchen  Romantifchem 
und  Klaffifchem,  verwarf  er  mit  meinem  Vater;  denn  alles, 
was  vortrefflich  fei,  fei  eo  ipso  klaffifch,  zu  welcher  Gat? 
tung  es  auch  gehöre.  Noch  eher  wollte  er  einen  Unter? 
fchied  zwifchen  Plaftifchem  und  Romantifchem  gelten  laffen: 
ein  plaftifches  Werk  ftelle  der  Einbildungskraft  des  Be? 
trachters  ein  Werk  in  einer  ganz  beftimmten  und  abge? 
fchloffenen  Form  dar,  ein  romantifches  deute  vieles  un? 
beftimmt  an  und  ließe  der  Einbildungskraft  Spielraum  zum 


752] Weimar.    1804. 543 

eigenen  Phantafieren  —  jenes  fei  für  die  geregelte  Einbil^ 
dungskraft,  diefes  für  zügellofe,  oft  auch  regellofe  Phan? 
tafle.  Zu  der  erften  Klaffe  rechnete  er  Homer,  Sophoj: 
kies,  Pindar,  Shakefpeare  ufw. ;  zu  der  zweiten  deutete  er 
die  Subjekte  nur  an,  und  ob  ich  ihn  gleich  verftanden  zu 
haben  glaube,  will  ich  doch  meine  eigne  Vermutung  nicht 
in  den  Bericht  von  feinem  Urteil  einmifchen;  doch  nannte 
er  Klopftock.  Aber  unwillig  über  Schlegels  Vernichtungs^ 
geilt  gegen  folche,  die  ihm  nicht  anftehen,  war  er  auch, 
wenn  man  Goethen  anders  Unwillen  zufchreiben  kann, 
den  er  im  ftrengften  Sinne  gegen  keinen  Menfchen  hat. 
Er  betrachtet  die  Menfchen  als  Naturprodukte,  und  wie 
könnte  er  fich  da  über  den  makaffarifchen  Giftbaum  ärgern? 
Jeden  individuellen  Charakter  achtet  er,  felbft  einen  Kotzen 
bue,  infofern  er,  wenn  ihm  der  liebe  Gott  nun  eine  efel^: 
hafte  Natur  gegeben  hat,  diefer  konfequent  folgt  und  fo 
leinen  Wirkungskreis  (gleichviel  ob  pofitiv  oder  negativ) 
ausfüllt.  (Goethe  als  handelnder  Menfch  ift  freilich  ein 
anderer,  als  wenn  er  betrachtet  und  anfchaut.)  Schlegels 
Talente  weiß  er  wie  jeder  zu  fchätzen  —  aber  daß  er, 
wie  Chriftian  Schloffer  immer  vorfchnell  behauptete,  ein 
unbedingter  Lober  von  ihm  fei,  das  ift  grundfalfch.  Nicht 
befangen  durch  Schlegels  Apotheofe  hat  er  fehr  frei  über 
die  Grenzen  feiner  Verdienfte  gefprochen.  ^  So  fiimmte 
er  fehr  ein,  als  Fernow  über  die  Nichtigkeit  der  Blumen^j 
Iträuße  fprach,  der  fie  eine  Sudelarbeit  nannte. 

[732.]     Januar  (23).     K.  A.  Böttiger. 

Frau  von  Stael  fuhr  früh  in  Begleitung  ihres  Freun^^ 
des  Conftant  zu  ihm  und  brachte  faft  eine  Stunde  bei 
ihm  zu,  nachdem  fie  ihm  fchon  den  Tag  vorher  die 
Überfetzung  von  feinem  Geiftesgruß  zugefchickt  hatte. 
Der  Gegenftand  der  Unterhaltung  war  vorzüglich  der 
Unterfchied  zwifchen  der  franzöfifchen  und  deutfchen 
Poefie.  Jene,  fagte  Goethe,  fei  Poefie  der  Reflexion,  diefe 
der  Situation ;  der  Franzofe  fchildere  das  Erfcheinen,  der 
Deutfche  das  Sein.  Übrigens  bemerkten  beide  bei  diefer 
Unterredung,  daß  er  fich  fehr  ungern  etwas  abfragen  oder 
auf  fich  eindringen  laffe,  daß  dann  gleichfam  feine  Natur 
reguliere  und  fich  in  fich  zufammenziehe.  Freilich  fchonte 
ihn  Frau  von  Stael  nicht  immer.  Sie  fprach  z.  B.  mit 
tiefem  Bedauern  von  Herder  und  ging  fo  weit,  fehr  freunde 
fchaftlich  von  mir  zu  urteilen  und  meinen  Abgang  von 
I 


344  K.  A.  Böttiger.  [733 

Weimar  für  einen  Verlufi  zu  erklären,  ohngeachtet  fie 
wohl  wußte,  wie  ungern  Goethe  dies  höre.  Seine  ganze 
Antwort  auf  alle  diefe  Bemerkungen  war:  Es  ift  einmal 
fo:  die  Älteren  muffen  den  Jüngeren  Platz  machen. 

[733.]     Januar  23.     J.  G.  Cogswell. 

Being  introduced  to  Goethe,  Benjamin  Conflant  de 
Rebecque  began  in  the  style  of  a  true  Frenchman  to 
load  him  with  flattery,  saying  that  the  world  was  wonder:: 
ing  at  the  stupendous  productions  of  his  genius,  that  he 
had  secured  to  himself  immortal  fame,  etc.,  etc.  Goethe 
turned  his  large,  fiery  eyes  upon  Conftant,  and  replied: 
I  know  it,  I  know  all  that,  I  know  too  that  the  world 
regards  me  as  carpenter,  who  has  built  a  ship  of  war, 
of  the  first  rate,  upon  a  mountain,  thousands  of  miles 
from  the  ocean— but  the  water  will  rise,  my  ship  will  float, 
and  bear  her  builder  in  triumph  where  human  genius  never 
reached  before. 

[734.]     Januar  27.     B.  Conftant. 

J'ai  dine  aujourd'hui  avec  Goethe,  et  je  sens  qu'un 
Fran^ais,  meme  quand  il  n'approuve  pas  tout  ce  qui  se 
fait  dans  son  pays ,  est  toujours  mal  a  l'aise  avec  des 
etrangers.  J'ai  en  elfet  avec  Goethe  une  gene  dans  toute 
conversation.  Quel  dommage  que  la  philosophie  mystique 
de  l'Allemagne  Fait  entrainel  II  m'a  avoue  que  le  fond 
de  cette  philofophie  etait  le  Spinosisme.  Les  mystiques 
de  Schelling  ont  en  effet  une  grande  idee  de  Spinosa. 
Mais  pourquoi  vouloir  allier  ä  cela  des  idees  religieuses? 
et,  qui  pire  est,  le  catholicisme?  C'est,  disent^ils,  parce 
que  le  catholicisme  est  plus  poetique.  Et  Goethe  dit:  J'aime 
mieux  que  le  catholicisme  me  fasse  du  mal  que  si  on 
m'empechait  de  m'en  servir  pour  rendre  mes  pieces  plus 
interessantes. 

L'abus  de  l'analogie  se  rencontre  beaucoup  chez 
Goethe  et  surtout  dans  ses  pretentions  en  chimie  et  dans 
les  Sciences  exactes. 

[735.]     Januar  29.  (und  fpäter).     Riemer. 

Goethe:  Die  Weiber,  auch  die  gebildetfien,  haben  mehr 
Appetit,  als  Gefchmack.  Sie  möchten  lieber  alles  ankoften, 
es  zieht  fie  das  Neue  an.  Sie  unterfcheiden  nicht  zwifchen 
dem,  was  anzieht,  was  gefällt,  was  man  billigt,  fie  werfen 


740]  .    Weimar.    1804.  345 

das  alles  in  eine  Maffe.  Was  nur  nicht  gegen  ihren 
konventionellen  Gefchmack  anftößt,  es  mag  noch  fo  hohl, 
leer,  feicht,  fchlecht  fein:  es  gefällt.  Es  mißfällt  ihnen 
aber  oft  etwas,  was  bloß  gegen  diefe  ihre  Konvention 
anftößt,  fei  es  an  fich  noch  fo  vortrefflich. 

[736.]     Januar  29.  (und  fpäter).     Riemer. 

G.  Es  fchrieb  jemand  eine  Abhandlung,  worin  er  zeigte, 
daß  Sophokles  ein  Chrift  gewefen.  Das  ift  keineswegs 
zu  verwundern,  aber  merkwürdig,  daß  das  ganze  Chriften? 
tum  nicht  einen  Sophokles  hervorgebracht. 

[737.] 

G.  Bloß  die  Naturwiffenfchaften  laffen  fich  praktifch 
machen  und  dadurch  wohltätig  für  die  Menfchheit.  Die 
abftrakten,  der  Philofophie  und  Philologie,  führen,  wenn 
fie  metaphyfifch  find,  ins  Abfurde  der  Möncherei  und 
Scholaftik;  find  fie  hiftorifch,  in  das  Revolutionäre  der 
Welt?  und  Staatsverbefferung. 

[738.] 

G.  Die  Liebe  ift  eine  Konfervationsbrille,  aber  nur  für 
den  Gegenftand,  den  man  damit  betrachtet,  nicht  für  uns. 

[739.]     Januar/Februar.     K.  A.  Böttiger. 

Den  9.  Februar  bei  der  Baronin  von  Stael  zum  Mittags? 
effen.   ^ 

Viel  über  Goethe  bei  Tifche.  Er  habe  das  meifte 
Originalgenie  unter  allen  mitlebenden  Dichtern,  es  werde 
aber  wenig  von  ihm  auf  die  Nachwelt  kommen.  Er  habe 
ihr  felbft,  als  fie  ihn  über  Die  natürliche  Tochter  (welche 
fie  einen  noble  ennui  nanntelbefragte, aufrichtig  beigeftanden, 
daß  fie  wie  fo  viele  andere  feiner  Arbeiten  nur  Künftler? 
verfuch  fei,  der  nach  einer  Auflöfung  einer  noch  nie  ge? 
löften  Aufgabe  ftrebte.  (Darum  traut  auch  Goethe  diefem 
Verfuch  fo  wenig,  daß  er  in  die  erfte  Vorftellung  diefer 
Eugenie  gar  nicht  einmal  kommen  mochte.) 

[740.]     Februar  Anfang.     Schiller  an  W.  v.  Wolzogen. 

Goethe  hat  mich  gebeten.  Dir  fein  Anliegen  wegen 
ruffifcher  Kupfermedaillen  noch  einmal  ans  Herz  zu  legen. 
'^  Es  ift  einmal  fein  Steckenpferd,  was  ihn  befonders 
jetzt  befchäftigt.  Auch  hat  er  wirklich  fchon  eine  recht 
auserlefene  Sammlung  zufammengebracht. 
I 


346  H.  Voß. [741 

[741.]     Februar  12.     H.  Voß. 

Mir  hat  das  Herz  gepocht,  als  ich  vor  feinem  Haufe 
fiillhielt,  als  ich  die  Treppe  hinaufging,  als  fich  die  Stuben? 
tür  öffnete.  Der  Mann  war  mir  fo  furchtbar  majeftätifch. 
Aber  wie  ganz  anders  war  mir  zumute,  als  er  mich  freund:: 
lieh  anblickte  und  ich  Durchgefrorner  feinen  warmen 
Händedruck  fühlte.  Er  fing  auch  gar  nicht  auf  der  Stelle 
ein  ernfthaftes  Gefpräch  an;  er  fragte  mich  mit  herzlicher 
Stimme  nach  meiner  Gefundheit,  die  ich  zum  erftenmal 
einem  fo  ftrengen  Winter;:  und  Windtage  ausgefetzt  hatte, 
ließ  mich  nahe  an  den  Ofen  rücken,  wollte  mir  Kaffee, 
Wein,  kurz  alles  Mögliche  zum  Frühftück  auftifchen.  Der 
Ton,  in  dem  er  mit  mir  redete,  war  wie  der  eines  Vaters, 
und  da  ward  es  mir  nicht  fchwer,  fo  viel  Zutrauen  zu 
ihm  zu  faffen  und  den  Mut  in  feiner  Gegenwart  zu  be? 
haupten,  was  er  fo  gerne  an  jungen  Leuten  wahrzunehmen 
fcheint. 

Wir  kamen  unvermerkt  in  das  erfte  Gefpräch  über 
Schulunterricht  hinein,  das  denn  über  eine  Stunde  dauerte, 
bis  wir  zu  Tifche  gerufen  wurden.  Bei  Tifche  ward  Goethe 
aufgeweckt  und  munter  und  erzählte  viel  von  feinen  Reifen, 
befonders  von  Venedig.  Nach  dem  Effen  entließ  er  mich 
und  ging  auf  fein  Zimmer;  um  fünf  Uhr  befchied  er 
mich  wieder  zu  fich. 

[742.]     Februar  13.     H.  Voß. 

Ich  fland  um  fechs  Uhr  auf,  um  einige  Überfetzungen 
aus  dem  Horaz  ins  reine  zu  fchreiben  und  einige  Ar:: 
beiten  durchzufehn,  die  ich  für  Goethe  mitgebracht  hatte. 
Ich  war  um  zehn  Uhr  fertig  und  da  kam  auch  der  Be? 
diente,  der  mich  zu  Goethen  in  fein  Studierzimmer  bringen 
follte.  Ich  überreichte  die  Arbeiten;  er  las  gleich  eine 
Horazüberfetzung  durch  und  fchien  zufrieden  damit.  Wir 
kamen  unvermerkt  auf  meine  Lieblingsbefchäftigung,  — 
alte  Geographie  und  Mythologie  —  und  das  waren  auch 
auf  die  Folgetage  unfere  hauptfächlichen  Gefpräche.  Ich 
war  fo  glücklich,  von  allem  Rechenfchaft  geben  zu  können, 
wonach  Goethe  mich  in  diefer  Wiffenfchaft  fragte,  und 
befonders  zufrieden  war  er,  als  ich  ihm  die  Wanderungen 
der  Jo  im  Prometheus  und  den  Argonautenzug  in  der 
vierten  Pythifchen  Ode  Pindars  erklärte.  Diefes  Gefpräch 
hat  ihn  in  die  Mythologifchen  Briefe  meines  Vaters  gQ^ 


742] Weimar.     1804. 347 

führt,  die  er  noch  denlelben  Tag  mit  großer  Lebhaftigkeit 
zu  lefen  anfing  und  den  folgenden  Tag  endigte.  Er  fagte 
mir:  nun  wolle  er  fich  ein  Exemplar  mit  Papier  durchs 
fchießen  laffen,  um  auch  in  feinem  Studium  der  alten 
Kunft  auf  diefe  Weife  meinem  Vater  in  feinem  Studium 
zu  begegnen.  Und  mich  encouragierte  er  zu  mehreren 
Arbeiten,  die  ich,  wenn  ich  erft  in  feiner  Nähe  lebte, 
teils  durch  eigenen  Fleiß,  teils  durch  Unterftützung  von 
ihm  und  meinem  Vater  ausführen  follte.  Goethe  hat 
überall  die  hellften  Blicke.  Diefe  Mythologifchen  Briefe 
hatte  er  fich  in  einem  Tage  mit  folcher  Klarheit  in  der 
Phantafie  verfinnlicht,  daß  ich  beinahe  über  die  Größe 
der  menfchlichen  Faffungskraft  erftaunt  bin.  Kein  Menfch 
dringt  fo  auf  Klarheit  der  Vorftellung,  wie  Goethe.  ^ 
Am  Abend  diefes  Tags  nach  Tifch  mußte  ich  Goethen 
meine  Überfetzung  von  Horazens  fechfter  Epiftel  im  erfien  . 
Buche  vorlefen:  Nil  admirari  ufw.  Dies  gab  zu  einem  /\ 
fehr  fchönen  Gefpräch  Anlaß,  das  aber  Goethe  beinah 
allein  und  bald  ganz  allein  führte.  Er  redete  über  den 
Platonifchen  Ausfpruch,  daß  die  Verwunderung  die  Mutter 
alles  Schönen  und  Guten  fei.  Der  ift  ein  Tölpel,  fagte 
er^  der  fich  nicht  verwundern  kann,  auf  den  nicht  die 
ewigen  Naturgefetze  in  großen  und  kleinen  Gegenftänden 
—  gleichviel,  wie  groß  oder  klein  die  Maffe  fei  —  einen 
mächtigen  Eindruck  machen.  Das  Refultat  feiner  Rede 
warj  daß  der  Weife  mit  dem  Nichtbewundern  aufhöre. 
Und  fo  kam  er  auf  den  edlen  Horaz  zurück.  Er  fprach 
über  eine  Stunde  mit  feuriger  Miene,  mit  der  lebendigften 
Aktion,  aber  immer  mit  folcher  Befonnenheit,  daß  er  die 
Wahrheit  feines  Themas  recht  eigentlich  durch  die  Tat 
bewährte.  Zuletzt  redete  er  über  die  Empfänglichkeit  des 
Gefühls,  wie  ein  lebendiger  Geift  in  der  ganzen  Gottes^; 
weit  nichts  als  Wunder  erblicke  und  heifige  Gottesoffen^: 
barung.  Ich  kann  das  nicht,  wie  es  gefchehen  follte, 
wieder  erzählen;  nimm  mit  bloßen  Andeutungen  vorlieb. 
Als  er  ausgefprochen  hatte,  nahm  er  fein  Licht  und  ging 
fort  ohne  ein  Wort  zu  fagen  —  und  Riemer  und  ich 
faßen  wie  Stumme  gegeneinander.  Ob  Goethe  uns  in 
Verwunderung  hat  fetzen  wollen,  das  weiß  und  glaube 
ich  nicht,  aber  daß  er  es  tat,  das  weiß  ich;  denn  wohl 
keiner  hat  einen  Vermittler  zwifchen  Gott  und  denMenfchen 
mit  folcher  Ehrfurcht  betrachtet,  als  wir  diefen  Mann  in 
diefem  Augenblicke. 
I 


348  H.  Voß.  [743 

In  anderen  Berichten  gibt  Voß  die  Worte  Goethes  folgender? 
weife  wieder: 

Der  ift  ein  Klotz,  der  fich  nicht  verwundern  kann, 
deffen  Seele  nie  in  folche  Zuftände  verfetzt  werden  kann, 
die  einzig  imftande  find,  der  Seele  einen  Schwung  zu 
geben,  in  ihr  eine  Sehnfucht  zu  erregen,  die  nur  durch 
Ergründung  des  vor  uns  liegenden  Gegenftandes,  durch 
erworbene  innige  Vertrautheit  mit  demfelben  kann  be^ 
friedigt  werden. 

Begreifen  wirs,  fagte  er  einmal,  warum  wir  hier  fo 
zufammenfitzen?  was  war  der  nächft  vorhergehende  Mo;: 
ment,  was  war  die  Veranlaffung  zu  diefem  und  weiter 
rückwärts  und  noch  weiter,  bis  ins  Unendliche  fort. 

[743.]     Februar  15.     B.  Conftant. 

Visite  ä  Goethe.  Conversation  interessante  sur  la 
descente  d' Ulysse  aux  Enfers  et  sur  le  tableau  de  Polyg? 
note  ä  Delphes  representant  cette  fable.  La  description 
s'en  trouve  dans  Pausanias.  Polygnote  a  fait  entrer  dans 
son  tableau  la  morale  qui  n'etait  pas  dans  le  poeme 
d'Homere. 

[744.]     Februar  15.     H.  Voß. 

Ein  andermal  bei  Tifche  hielten  wir  Philiftergefpräche 
über  Rindfleifch,  Kartoffeln,  Marzipan  und  Sellerie,  woran 
auch  die  Vulpius  teilnahm.  Ich  dachte  bei  mir:  hier 
würde  fich  Chriftian  Schloffer  geärgert  haben  —  mich 
machte  es  recht  vergnügt.  Goethe  fprach  im  Zorn  über 
die  weimarifchen  Schlächter,  dann  kam  er  auf  die  Schneider, 
die  es  in  Fahrläffigkeit  den  Schlächtern  gleich  täten  (imi:s 
tatorum  servum  pecus),  und  endlich  auf  die  Buchbinder. 
Ich  will  die  Lumpenhunde  einmal  alle  zuhauf  treiben, 
fagte  er,  und  ihnen  eine  Strafrede  halten,  ich  will  ihren 
Ehrgeiz  erwecken  ufw.     Dann  kam  er  auf  Kotzebue. 

[745.]     Februar  15.     H.  Voß. 

Die  Huffiten  voir  Naumburg  von  Kotzebue  (lacrymosa 
poemata  Puppi)  find  in  Weimar  aufgeführt.  -^  Goethe 
faß  derweile  ruhig  in  feinem  Zimmer.  Seinen  Geifi:  (fo 
heißt  der  Bediente)  fchickte  er  ins  Theater,  und  der  arme 
Schelm  mußte  bei  jedem  Akt  zu  Haufe  laufen  und  das 
Gefehene  erzählen.  ^  Goethe  hat  gegen  feinen  Sohn  ein 


747J Weimar.     1804. 349 

Kopfftück  verloren  über  die  Stelle  :  dicke  Pfaffen  kniftern 
in  den  Flammen,  von  der  er  behauptete,  fie  könnte  nicht 
darin  ftehn.  —  Goethe  fagte,  wenn  die  Huffiten  die  Aus:= 
läge  abverdient  hätten,  dann  follte  der  Herodes  vor  Beth^ 
lehem  von  Mahlmann  gegeben  werden.  Sonft  darf  fich 
Kotzebue  nicht  befchweren;  denn  man  hat  viel  Geld  aus^ 
gegeben  für  die  Sterbekleider  und  die  Huffitenpanzer. 

[746.]     Februar  16.     B.  Conftant. 

Souper  tres  interessant  chez  Goethe.  C'est  un  homme 
plein  d'esprit,  de  saillies,  de  profondeur,  d'idees  neuves. 
Mais  c'est  le  moins  bonhomme  que  je  connaisse.  En 
parlant  de  Werther  il  disait:  Ce  qui  rend  cet  ouvrage 
dangereux,  c'est  d'avoir  peint  de  la  faiblesse  comme  de 
la  force.  Mais  quand  je  fais  une  chose  qui  me  convient, 
les  consequences  ne  me  regardent  pas.  S'il  y  a  des  fous, 
ä  qui  la  lecture  en  tourne  mal,  ma  foi  tant  pisl 

'747.]     Februar  (17).     H.  Voß. 

Einmal  bei  Tifche  wird  die  Vulpius  abgerufen.  Sie 
kommt  bald  lachend  zurück  und  ruft  mich  ab.  In  der 
Tür  begegnet  mir  die  Mamfell  Silie;  auf  der  Treppe  flehen 
Bode,  Hain  und  der  Schaufpieler  Oels.  Ich  kann  das 
fo  wenig  begreifen,  als  die  Kuh  das  rote  Tor.  Was  ift 
denn?  frug  ich.  Es  gilt  eine  Reife  nach  Erfurt;  bifi  du 
dabei?  Ja,  fag'  ich;  nur  gefchwind  den  Wagen  beftellt. 
Wer  ift  fonft  dabei?  Die  Silie  und  die  Vulpius.  Defto 
beffer,  fag'  ich  und  gehe  wieder  ins  Zimmer  zurück.  Aber 
da  war  es  noch  nicht  abgetan;  denn  Goethe  mußte  erft 
die  Erlaubnis  geben.  Die  Vulpius  ftand  ^  fidel  in  froher 
Erwartung  vor  Freude  zitternd;  die  Silie  faß  fchmeichelnd 
bei  Goethe.  Goethe  ganz  ernfthaft:  Lieben  Kinder,  fagte 
er,  bringt  mich  nur  erft  ins  klare!  Aber  das  konnte 
keiner.  Dann:  Liebe  Kinder!  der  Weg  ift  fchlecht;  was 
habt  ihr  für  einen  Zweck?  Wir  haben  große  Zwecke, 
fagte  die  Silie.  Und  welche  denn?  Wir  wollen  ins  Schaum 
fpiel.  —  Nun,  nun!  Hm,  hm!  recht  artig!  Aber  wir 
haben  jetzt  alle  ein  Glas  Wein  getrunken,  und  das  Sprich^ 
wort  fagt,  daß  feurige  Entfchlüffe  mit  nüchternem  Mute 
muffen  erwogen  werden.  —  Ja,  fagte  die  Silie,  wenn  wir 
darnach  warten  wollten,  fo  verfliegt  die  Zeit;  es  ift  fo 
fchon  zwei  Uhr.  Und  nun  fchmeichelte  fie  von  neuem. 
Und  Goethe  ließ  fich  auch  nicht  lange  bitten,  er  fagte 
I 


350 H.  Voß.  [748 

ja,  und  gab  der  Silie  einen  Kuß  zur  Beftätigung  feines 
Wohlgefallens.  Die  Vulpius  juchheite  und  verficherte, 
was  ihr  jeder  glaubte,  daß  fie  für  heute  keine  größere 
Freude  zu  erdenken  wüßte.  Sie  wurde  von  Goethe  meiner 
Obhut  anvertraut.  Nun,  fagte  Goethe,  muffen  wir  noch 
eine  Flafche  Rheinwein  haben.  Unterdeffen  ging  ich  auf 
mein  Zimmer,  einen  Brief  zu  verfiegeln.  Als  ich  zurück 
kam,  war  der  Wein  da,  und  Goethe  meinte,  ich  könnte 
heute  wohl  ein  übriges  tun,  weil  es  kalt  fei.  Ich  ließ 
mir's  gefallen,  die  Damen  entfernten  fich,  und  ich  blieb 
bei  Goethe  am  Tifche  fitzen  bis  der  Wagen  kam.  Wir 
fprachen  von  den  Hyperboräern,  Greifen  und  Arimafpen. 
Es  ging  oft  prestissimo,  ich  weiß  nicht  wie  und  warum? 
Böfe  Leute  fagen  vom  Weine.  Um  drei  Uhr  kam  der 
Wagen  und  Goethe  wünfchte  eine  glückliche  Reife,  lachte 
aber  erft  tüchtig  über  den  Schimmel,  auf  dem  Bode  als 
Vorreiter  paradierte. 

[748.]     Februar  12./19.     H.  Voß. 

Äußerft  merkwürdig  und  angenehm  ift  es,  Goethe 
in  feinen  Sonntagsgefellfchaften  als  Präzeptor  im  Vorlefen 
und  Deklamieren  zu  fehen.  Da  fitzt  die  ganze  Gefeilt 
fchaft  um  einen  langen  Tifch  (Goethe  in  der  Mitte)  und 
lieft  abwechfelnd.  Es  traf  fich,  daß  beidemal,  als  ich  zu^ 
gegen  war,  aus  der  Luife  gelefen  wurde.  An  Goethe 
kam  die  Stelle  von  der  Trauung,  die  er  mit  dem  tiefften 
Gefühle  las.  Aber  feine  Stimme  ward  kleinlaut,  er  weinte 
und  gab  das  Buch  feinem  Nachbarn:  Eine  heilige  Stellei 
rief  er  aus  mit  einer  Innigkeit,  die  uns  alle  erfchütterte. 

Nachher  traf  ihn  die  Stelle:  den  Gefang,  den  unfer 
Voß  in  Eutin  uns  dichtete.  Aus  dem  Pathos,  mit  welchem 
er  diefe  Worte  vortrug,  hätte  ich  fchon  feine  Liebe  zu 
meinem  Vater  abnehmen  können,  wenn  mir  jenes  Gefühl 
bei  Goethe  unbekannt  gewefen  wäre.  So  fah  ich  Goethe 
fchon  am  erften  Tage  meiner  Ankunft,  und  von  dem 
Augenblicke  an  hatte  er  auch  mein  ganzes  Zutrauen. 

[749.]     Februar  19.     H.  Voß. 

Mir  war  es  lieb,  daß  nun  die  Vorlefung  bald  ab? 
gebrochen  ward.  Er  fiand  auf  und  ging  in  den  Saal; 
ich  folgte  ihm.  Ich  trat  weinend  (laß  mich's  nur  fagen) 
zu  ihm,  und  er  drückte,  mir  beide  Hände:  Sie  haben 
einen  edlen  Vater!     Das  war  alles,   was   er   fagte  ^  ich 


750] Weimar.    1804. 351 

war  fröhlich,  als  wir  uns  bald  darauf  zum  Abendeffen  und 
zu  fcherzhafteren  Unterhaltungen  vereinigten.  Es  wurde 
bei  Tifche  gefcherzt,  gelacht,  am  Ende  fogar  die  bunte 
Reihe  hindurch  geküßt,  und  Goethe  war  faft  am  luftigften. 
Nur  ein  klein  Gefchichtchenl  Ich  bat  gegen  das  Ende  der 
Mahlzeit  den  Hofmeifter  von  Goethes  Auguft  mir  einen 
Schlag  zu  geben  mit  den  Worten:  Schick  weiter!  Ich 
gab  ihn  meiner  Nachbarin  Silie  und  diefe  ihrem  Nach? 
bar,  und  fo  ging's  weiter  bis  zur  Maaß,  die  neben  Goethe 
faß.  (Der  zum  Poffen  hatte  ich  den  Spaß  mit  der  Silie 
verabredet,  und  fleh!  wie  pfiffig  ich  bin:  um  nicht  vor 
dem  Riß  zu  ftehn,  bat  ich  meinen  linken  Nachbar,  den 
Anfang  zu  machen.)  Die  Maaß  ftutzte  ein  wenig,  doch 
entfchloß  fie  fich  endlich,  Goethe  einen  tüchtigen  Klaps 
zu  geben.  Goethe  drehte  fich  zu  ihr  und  küßt  fie  und 
drauf  feine  andre  Nachbarin  mit  den  Worten:  fchick's 
weiter!  Die  will  durchaus  nicht,  wahrfcheinlich  weil  ihr 
der  Nachbar  nicht  anftand.  Nun,  fagt  Goethe,  wenn's 
fo  nicht  herum  will,  muß  es  retour  gehn,  läßt  fich  wieder 
küffen,  küßt  wieder  die  Maaß,  und  fo  geht's  fort  bis 
auf  die  kleine  Silie,  die  mir  den  letzten  Kuß  gab.  Nun 
denk  Dir  den  armen  Riemer,  der  neben  mir  faß  und 
leer  ausgehn  mußte,  weil  bei  mir  die  bunte  Reihe  auf:? 
hörte,  und  noch  dazu  belacht  wurde,  als  Goethe  den 
Urheber  des  Scherzes  ausfragte  und  alle  auf  Riemer  wiefen. 

[750.]     Februar  12./20.     H.  Voß. 

Es  ift  eine  Wonne,  ihn  von  feinen  Reifen  erzählen 
zu  hören.  '^  Einmal  vor  Verona  wird  Goethe,  als  er  eine 
alte  Ruine  zeichnete,  von  Häfchern  angegriffen.  Da  ward 
mir  fchwül,  fagte  er,  aber  ich  erwog  gleich  das  Befte. 
Ich  raffte  mich  zufammen,  nahm  alle  Würde  an  und  be? 
gann  eine  Rede.  Ich  entwickelte  ihnen  die  Schönheit 
der  Ruine,  den  Wert  durch  das  Alter;  ich  griff  ihren 
Stumpffinn  an  und  fchalt  fie  für  Klötze  und  Stöcke,  lenkte 
aber  bald  ein,  fie  entfchuldigend :  Ihr  könnt  folche  Schön? 
heiten  nicht  fühlen,  da  ihr  fie  tägUch  vor  Augen  feht 
und  das  Alltägliche  keiner  Aufmerkfamkeit  würdigt  ufw. 
Die  Häfcher  werden  ganz  erfi:aunt  über  die  Unbefangen? 
heit  des  Spions  und  fehen  nun  alle  auf  die  Ruine,  um 
auch  die  Schönheiten  zu  entdecken,  und  da  fie  doch  nichts 
fehen  können,  werden  fie  ganz  verdutzt.  Endlich  zieht 
Goethe  feinen  Geldbeutel  aus  und  läßt  Münzen  khngen. 
I 


352 H.  Voß. [751 

Nun  verändert  fich  ihre  Sprache.  Der  eine  fagt  zu  den 
übrigen:  Hab'  ich's  euch  nicht  gleich  anfangs  gefagt,  daß 
der  Mann  ein  Ehrenmann  fei?  Da  feht  ihr'sl  Als  Goethe 
einige  Tage  darauf  nach  Verona  kommt  und  die  Ge^s 
fängniffe  von  außen  betrachtet,  da,  fagte  er,  dankte  ich 
doch  dem  lieben  Gott,  daß  er  mich  von  diefem  Unglück 
befreit  hatte. 

[751.]     Februar  12./20.     H.  Voß. 

Ich  fragte  Goethe  unter  anderm  einmal,  was  die 
myftifchen  Figuren  in  Tiecks  Minneliedern  bedeuten  und 
erhielt  zur  Antwort:  Das  ließe  fich  nur  durch  ein  tiefes 
Studieren  ausmittel n.  Das  hätte  er  nicht  von  den  klaren 
Geftalten  Raffaels  gefagt,  die  er  fo  oft  und  fo  gern  nennt. 

[752.]     Februar  12./20.     H.  Voß. 

Die  Religion  foU  jetzt  in  Halle  fehr  Mode  fein  und, 
wie  Goethe  fagt,  wie  die  Peft  anftecken.  —  Goethe  fürchtet, 
daß  fie  einem  gewiffen  Manne  in  G  .  .  .*  (den  ich  nicht 
nennen  will)  auch  noch  zu  dem  vielen  Hauskreuze  ins 
Haus  kommen  möchte. 

[753.]     Februar  12./20.     H.  Voß. 

Madame  Stael^Holftein  geht  Montag  aus  Weimar. 
Drollig  ifi's,  Goethe  über  fie  reden  zu  hören:  Ich  treibe 
fie  in  die  Enge,  fagte  er,  wenn  fie  räfonniert.  Erft  vers; 
maure  ich  fie  auf  diefer  Seite,  dann  auf  jener  (und  dies 
zeigte  er  mit  dem  Finger  auf  der  Serviette).  Dann  will 
fie  entfliehen  und  kann  nicht  vor?  noch  rückwärts.  Sie 
gibt  fich  einen  effort,  fchwingt  fich  in  die  Höhe  und 
macht's  wie  der  Flußgott  Achelous:  fie  entflieht  in  einer 
fremden  Geftalt.  Sie  hat  die  Luife  gelefen  und  ebenfo 
ftark  dabei  geweint,  als  bei  Kotzebues  Bayard  und  den 
Huffiten.  Die  Tabakspfeife  war  ihr  anftößig;  der  Herzog 
erinnerte  fie  an  die  Schweine  im  Homer.  Auch  die,  fagt 
fie,  dürfen  nicht  in  honette  Gefellfchaft  kommen.  Goethe 
will  ihr  nun  den  Bandwurm  aus  Delilles  L'homme  des 
champs  zu  Gemüte  führen,  der  fich  durch  zwei  Alexandriner 
hindurchfchlängelt ;  dann  wird  fie  verdutzt  und  —  ent? 
flieht  in  einer  fremden  Geftalt. 


Reichardt  in  Giebichenftein?] 


756] Weimar.     1804. 353 

[754.]     Februar  12./20.     H.  Voß. 

In  einem  der  letzten  Tage  fagte  mir  die  Vulpius: 
Sie  hätten  gar  keine  fcliönere  Zeit  zum  Befuche  wählen 
können;  denn  fo  fortdauernd  heiter  hat  weder  Profeffor 
Wolf  noch  Ihre  Eltern  den  Geheimrat  gefunden.  Und 
das  muß  ich  noch  in  Jena  beftätigen :  war  ich  bei  Goethe 
auf  feinem  Zimmer,  oder  fuhr  ich  mit  ihm  fpazieren, 
dann  war  er  beftändig  ernfthaft  im  Gefpräche,  aber  bei 
Tifche  bald  heiter  ernfthaft,  bald  grenzenlos  luftig.  ^ 

[755.]     Februar  12./20.     H.  Voß. 

Ich  bin  zehn  Tage  bei  Goethe  gewefen,  eine  himm^s 
lifche  Zeit,  die  mir  noch  wie  ein  fchöner  Traum  vor  der 
Seele  fteht.  Ich  mußte  mich  produzieren  und  Goethe 
bot  mir  Quartier  und,  was  mehr  galt,  feinen  freundfchafts^ 
liehen  Rat  und  den  für  mich  koftbarften  Umgang  an. 
Gottl  wie  lieb  ich  den  Mann,  den  ich  in  fo  herzlichen 
Augenblicken  gefehn  und  genoffen  habe.  Gleich  die  erfte 
Aufnahme  war  fo  herzlich  wie  möglich.  Ich  faßte  auf 
der  Stelle  das  tieffte  Zutraun;  ich  habe  mit  Offenherzig:: 
keit  zu  ihm  geredet,  ihm  mein  Herz,  meine  Denkweife, 
kurz  alles,  was  ich  hatte  und  habe  (wahrlich!  ich  bin 
reicher  von  ihm  gegangen,  als  ich  ankam;  denn  ich  liebe 
einen  Mann,  gegen  den  ich  fonft  nur  Ehrfurcht  kannte), 
das  alles  habe  ich  ihm  entfaltet  und  zur  Mufterung  vor^ 
gelegt.  Er  ift  mit  mir  zufrieden;  ich  habe  es  aus  feinem 
eigenen  Munde,  daß  er  mich  der  Stelle  eines  GymnafiaU 
lehvevs  zu  Weimar  würdig  erkennt,  daß  er  Zutraun  zu 
mir  hat,  daß  er  mich  liebgewonnen. 

[756.]     Februar  24.     K.  A.  Böttiger. 

Den  24.  Februar  abends  bei  der  Herzogin.  Frau 
von  Stael  kam  fehr  zufrieden  von  einer  Unterredung  mit 
Goethe.  Da  fie  anfänglich  über  den  Alarcos  mit  ihm 
gefprochen  und  das  Abgefchmackte  desfelben  ^  gezeigt 
hatte,  war  feine  Stirn  etwas  bewölkt  gewefen,  und  er  hatte 
die  ganze  Erfcheinung  nur  durch  den  Kunftverfuch  ents: 
fchuldigt.  Allein  nun  war  er  auf  die  Parallele  zwifchen 
der  Tragödie,  als  den  oberften,  den  Indifferenzpunkt  der 
Plaftik  gekommen  und  hatte  hierüber  fehr  fcharffinnige 
Bemerkungen  gemacht.  La  plastique  mene  au  seuil  de 
la  vie.  Beim  Abfchied  kündigte  ihr  Goethe  auf  morgen 
einen  Befuch  von  feinem  Sohn  an,  der  ihr  fein  Stamm? 
buch  präfentieren  würde. 
I  23 


354 K.  A.  Böttiger.  [757 

[757.]     Januar/Februar.     K.  A.  Böttiger. 

Zuweilen  fcheine  es  der  Frau  von  Stael,  daß  wir 
Deutfche  fehr  witzige  Ausdrücke  hätten,  oder  fehr  neue, 
es  fei  aber  nur  Unkunde  der  franzöfifchen  Sprache.  So 
habe  fie  einmal  einen  Ausdruck  von  Goethe,  der  eine 
Idee  von  Schiller  eine  neuve  et  courageuse  nannte,  fehr 
bewundert,  bis  ihr  endlich  deutlich  geworden,  daß  Goethe 
bloß  aus  Unkunde  der  Sprache  courageuse  fiatt  hardie 
gefetzt  habe. 

[758.]     Januar/Februar.     K.  A.  Böttiger. 

Frau  von  Stael  hatte  in  ihrer  metrifchen  Überfetzung 
von  Goethes  Fifcher  in  den  Worten :  Was  lockft  du  meine 
Brut  hinauf  in  Todesglut?  das  letzte  durch  air  brülant 
überfetzt;  allein  Goethe,  als  fie  ihm  ihre  Überfetzung  vors: 
las,  berichtigte  fie  und  fagte,  es  fei  dies  die  Kohlenglut 
in  der  Küche,  an  welcher  die  Fifche  gebraten  würden. 
Das  fand  nun  Frau  von  Stael  äußerft  maussade  und  ge? 
fchmacklos,  fich  aus  ihrer  fchönen  Begeifterung  fo  auf  ein=: 
mal  in  die  Küche  verwiefen  zu  fehen.  Dies  fei  es  eben, 
woran  es  unfern  heften  Dichtern  fehle,  das  to  uqü-tov, 
das  feine  Gefühl  des  Schicklichen.  Hier  alfo  war  fie  ganz 
Franzöfin. 

[759.]     Januar/ Februar.     Anne  Germaine  v.  Stael  an  Goethe. 

Vous  avez  bien  voulu  me  dire  que  vous  auriez  ete 
bien  aise  de  voir  Berlin  avec  moi, 

[760.]     Januar/Februar.     Anne  Germaine  v.  Stael. 

Goethe  est  un  homme  d'un  esprit  prodigieux  au  con? 
versation;  et  Ton  a  beau  dire,  l'esprit  doit  savoir  causer.  '^ 

Quand  on  sait  faire  parier  Goethe,  il  est  admirable; 
son  eloquence  est  nourrie  de  pensees;  sa  plaisanterie  esten 
meme  temps  pleine  de  gräce  et  de  philosophie;  son  imagu 
nation  est  frappee  par  les  objets  exterieurs,  comme  l'e^ 
tait  Celle  des  artistes  chez  les  anciens;  et  neanmoins  sa 
raison  n'a  que  trop  la  maturite  de  notre  temps.  Rien  ne 
trouble  la  force  de  sa  tete;  et  les  inconveniens  meme  de 
son  caractere,  Fhumeur,  l'embarras,  la  contrainte,  passent 
comme  des  images  au  bas  de  la  montagne  sur  le  sommet 
de  laquelle  son  genie  est  place. 


761]  Weimar.     1804. 555 

[761.]     Februar  Ende.     F.  W.  Gubitz. 

Nur  vier  Tage  wollte  ich  in  Weimar  raften;  vor? 
habende  Arbeiten,  hier  wenig  gefördert,  bedrängten  mich, 
und  ich  bereute  fchon,  nicht  mit  den  Empfehlungsbriefen 
mein  Heil  bei  Goethe  verfucht  zu  haben.  Bereits  packte 
ich  mein  bißchen  Habe,  ^  da  kam  abends  nach  fieben 
Herr  von  Lynker  in  einem  Domino,  ließ  auch  mir  einen 
darreichen  von  feinem  mitgebrachten  Diener  mit  den  Wor^: 
ten:  Im  Theaterfaal  ift  Probe  von  einem  Maskenfpiel, 
Goethe  muß  dabei  fein;  ich  habe  vermittelt,  daß  Sie  als 
Fremder  Zufchauer  fein  können;  beeilen  wir  uns!  Bebend 
zog  ich  das  Befte  an,  was  ich  hatte,  ein  hellblauer  Seiden? 
mantel  wurde  mir  übergeworfen,  eine  Maske  follte  ich 
dort  empfangen  —  was  fich  jedoch  nicht  erfüllte.  Bald 
ftand  ich  in  einem  mäßig  großen  Saal  und  drückte  mich 
neben  einem  Gewirr  von  Menfchen,  nur  zum  Teil  mass: 
kiert,  an  die  Seite.  '^  Wenn  er  da  ift,  erfahren  Sie  es  im 
Moment.  Mit  diefem  Zuruf  beruhigte  mich  mein  Beherr? 
fcher,  der  irgendwo  befchäftigt  fein  mußte.  ^^  Etwa  fehr 
lange  anderthalb  Stunden  waren  vergangen,  bevor  es  hieß  : 
Da  ift  er!  Dort  fteht  er]  und  es  bedurfte  mancher  Win? 
düng,  um  mir  bis  zur  angedeuteten  Stelle  zu  helfen.  End? 
lieh  kam  ich  ^  näher;  ich  hörte  feine  ftarke  klangvolle 
Stimme.  O  weh]  Goethe,  der  feinen  Seidenmantel,  rofen? 
färb  oder  gelb  —  bei  dem  Lichtfchimmer  konnte  ich  mir 
die  Farbe  nicht  genau  beftimmen  —  hin  und  her  werfend 
behandelte,  fprach  fo  heftig  mit  einem  andern,  —  mit  dem 
Theaterintendanten,  vielmehr:  Mitglied  der  Theaterkommif= 
fion  Kirms,  was  ich  nachher  entdeckte  —  daß  ich  noch 
ängftlicher  wurde.  Aus  dem  lauten  Gefpräch  ging  her? 
vor:  bei  einer  Abendprobe  im  Theater  war  Goethe  über 
einen  Schaufpieler  —  fein  Name  lautete,  wenn  ich  deffen 
mich  richtig  entfinne,  Zimmermann  —  fo  bitterböfe  ge? 
worden,  daß  er  fich  höchft  unglimpflich  äußerte  über  An? 
maßungen  der  Komödianten.  Mir  flog  der  Atem;  in  mir 
rief  es:  jetzt  oder  nie]  Meine  Zaghaftigkeit  gipfelte, 
wurde  unwillkürlich  zum  Wagemut,  und  ohne  Überlegung 
hatte  ich  mich  in  den  Eifer  gegen  Komödianten  gemifcht. 
Was  mir  erft  in  der  Zukunft  als  Erfahrung  reifte  —  wie 
rafch  bereit  der  Aufgebrachte,  wenn  ihm  einer  recht  gibt, 
fich  zu  diefem  wendet,  das  bewährte  fich  hier.  Ich  hatte 
den  Erfolg,    daß  Goethe   auf  mich   einredete,   unterhielt 

I  23* 


356  F.  W.  Gubitz.  [761 

feinen  Zorn  fo  gut  oder  fchlecht  meine  (ich  nicht  zurecht? 
findende  Stimmung  dies  vermochte,  habe  keine  Spur  mehr 
von  dem  Gemengfei,  was  ich  fchwatzte,  bis  er  hell  auS 
lachte,  dann  aber,  wie  in  Haft  zur  Hoheit  gleichfam  um? 
gefchaffen,  mit  wahrhaft  erfchütterndem  Gebieterton  fragte : 
Aber  mit  wem  fpreche  ich?  Wer  find  Sie?  Meine  Emp? 
fehlungsbriefe  von  Mahlmann  und  Rochlitz  hatte  ich  im 
Widerftande  gegen  mein  Zittern  in  der  Tafche  faft  krampf? 
haft  feftgehalten;  fie  fchnell  emporziehend,  nannte  ich, 
nun  bis  zu  Tränen  erfchreckt,  meinen  Namen,  demütig 
fcheu  hinzufügend:  Ihnen  diefe  Briefe  zu  überreichen, 
fuchte  ich  in  den  wenigen  Tagen  hiefigen  Aufenthalts 
vergeblich  Gelegenheit,  die  Gunft  des  Augenblicks  ver? 
lieh  fie  mir,  und  frevelhaft  habe  ich  fie  ergriffen.  — 
Wer  find  Sie?  Doch  nicht  der  Gubitz,  der  fich  in  der 
Holzfchneidekunft  auszeichnete?  fo  fiel  Goethe  fragend 
ein,  wie  felber  betroffen,  und  nach  meiner  Entgegnung: 
Ob  auch  von  Ihrer  gütigen  Meinung  befchämt,  habe  ich 
freilich  zu  antworten:  der  bin  ich.  —  Ohne  etwas  darauf 
zu  erwidern,  erfaßte  er  mich  beim  Arm,  fchob  mich  an 
einen  Pfeiler,  fagte:  Hier  bleiben  Sie  ftehenl  Hier  will 
ich  Sie  treffen,  jetzt  hab'  ich  zu  tun.  Dann  verfchwand 
er,  und  ich  ftand  nochmals  da  in  zweifelfüchtiger  Hoff? 
nung,  die  indes  der  Geduld  nicht  lange  bedurfte.  Zurück? 
kehrend  rief  Goethe  mich  an:  Aber,  mein  Gottl  find 
Sie's  denn  wirklich?  Wie  alt  find  Sie?  —  Im  achtzehnten 
Jahr,  antwortete  ich  und  er  entgegnete:  Man  möcht's 
nicht  glauben!  Wie  lange  bleiben  Sie  hier?  —  Ich  fagte 
ihm,  daß  ich  nur  gezögert  habe,  Weimar  zu  verlaffen, 
um  ihm  genähert  zu  fein;  der  kommende  Morgen  treibe 
mich  nach  Jena,  dort  meine  Univerfitätszeit  mit  dem  Exa? 
men  zu  enden.  Überrafcht  fragte  er  weiter,  und  ich  gab 
nun  fchüchtern  Befcheid,  bis  er  dringlich  einfiel:  Von 
der  Abreife  fei  einftweilen  nicht  die  Redel  Heut'  noch 
zeige  ich  Ihnen  meine  Wohnung,  erwarte  Sie  dort  mor? 
gen  Vormittag  um  zehn;  und  auf  meine  Bemerkung,  daß 
ich  fchon  vor  feinem  Haufe  gewefen  fei,  erwiderte  er,  mir 
die  Hand  reichend:  Alfo,  morgen  früh!  in  flüchtiger 
Weife;    denn  eben  wurde  nach  ihm  gefandt. 

Noch  zwei  Tage  blieb  ich  in  Weimar,  ftundenlang 
in  Goethes  Zimmern,  wo  ich,  zwifcheninne  oft  ohne  feine 
Anwefenheit,  die  mufterhaft  geordneten  Sammlungen  von 
Zeichnungen  und  Kupferftichen  befchauen,  mich  zugleich 


763]  Weimar.     1804. 357 

noch  mancher  Beweife  feiner  Zutulichkeit  erfreuen  konnte. 
In  befter  Laune  erwähnte  er,  daß  er  als  Student  in  Leip^s 
zig  fich  im  Breitkopffchen  Haufe  auch  mit  dem  Holz^ 
fchnitt  befchäftigt  habe,  alfo  wohl  wiffe,  was  mir  gelungen, 
und  ich  vernahm  dabei  aufmunternde  Äußerungen;  den? 
noch  hielt  mich  fein  Benehmen  in  Scheu.  Meinem  Hang 
zum  Dorfpaftor  war  er  nicht  gleichgefinnt,  obwohl  er  das 
fchließlich  Anhaltfame  in  diefer  Entzweitheit  gelten  ließ, 
und  als  ich  erzählte,  wegen  meiner  Bemühung  im  Holz? 
fchnitt  fei  ich  bereits  von  drei  Kupferftechern  öffentlich 
befehdet,  fagte  er  aufgeregt  und  mir  unvergeßlich:  Es 
fteckt  etwas  Verruchtes  in  folcher  fieten  Negation,  die 
immer  bei  der  Hand  ift;  man  muß  fich  nicht  daran  kehren, 
doch  das  Rechte  tun,  fonft  ift  nichts  zu  heben. 

[762.]     März  Anfang.     Nach  F.  Haides  Erzählung. 

Als  Friedrich  Haide  vor  der  erfien  Aufführung  des 
Teil  von  dem  ihm  begegnenden  Goethe  gefragt  wurde, 
wie  ihm  feine  Rolle  des  Teil  gefalle,  die  er  fleißig  ftu? 
dieren  möge,  gab  er,  bei  aller  Anerkennung  der  bedeu? 
tenden  und  dankbaren  Rolle  doch  der  einfchränkenden 
Bemerkung  Raum,  daß  bei  feiner  eigentlich  fehr  fpora? 
difchen,  nur  in  kurzen  Szenen  auftretenden  Rolle  für  den 
Darfteller  keine  rechte  Gelegenheit,  fich  zu  zeigen,  ge? 
boten  fei;  fozufagen  kein  dankbarer  fzenifcher  Abgang; 
dies  fei  für  den  Schaufpieler  doch  wichtig.  Goethe  hat 
diefen  Bemerkungen  aufmerkfam  zugehört.  Allen  Ver? 
mutungen  nach  ift  aber  diefe  Unterredung  zu  Schillers 
Kenntnis  gekommen  und  infofern  gewürdigt  worden,  als 
einige  Tage  darauf  ein  veränderter  Monolog:  Durch  diefe 
hohle  Gaffe  muß  er  kommen  ufw.   Haide  zugekommen. 

[763.].    März  Anfang.     Unbekannt. 

Die  erfte  Darftellung  von  Schillers  Wilhelm  Teil  follte 
in  Weimar  unter  Goethes  perfönlicher  Leitung  ftattfinden. 
Der  letztere  ließ  auch  die  Dekorationen  dazu  größtenteils 
neu  anfertigen.  Eines  Tages  nahm  er  die  fchon  fertig 
gewordenen  Hintergründe  in  Augenfchein,  unter  welchen 
fich  auch  der  zu  der  Szene  Vor  Stauffachers  Haus  be? 
fand.  Bei  Betrachtung  desfelben  fchüttelte  Goethe  miß? 
billigend  den  Kopf  und  bat  den  Maler  freundlich,  ihm 
einen  recht  dicken  Pinfel  zu  geben.     Ohne  ein  weiteres 


358  Unbekannt.  [764 

Wort  tauchte  er  denfelben  dann  in  die  Farbe  und  begann 
zum  Schrecken  des  Künftlers  durch  die  fchöne  Schweizer^ 
landfchaft  mit  ihren  Höhenperfpektiven  kräftige  Striche 
zu  ziehen.  Aber  fiehe  dal  bald  entwickelten  fich  ftatt 
der  fernen  kleinen  Gipfel  unter  Goethes  Händen  gewal? 
tige,  ganz  nahe  Berge  und  Felsmaffen.  Wir  dürfen  nicht 
vor  der  Schweiz  ftehen,  rief  er  dabei;  wir  wohnen  mitten 
drin.  Der  Maler  erkannte  das  als  zutreffend  und  ver^; 
befferte  feinen  Fehler  gern  im  Sinne  des  Dichters. 

[764.]     März  15.     B.  Conftant. 

Je  fais  une  promenade  avec  Goethe.  La  nouvelle 
Philosophie,  avec  tous  ses  inconvenients  a  ceci  de  bon 
qu'elle  met  tous  les  esprits  en  grande  activite.  Et  quand 
aux  dangers  du  mysticisme  et  du  catholicisme  dont  eile 
nous  menace,  je  compte  sur  la  collision  qui  doit  avoir 
lieu.  A  present,  eile  est  dans  les  nues  et  ne  recontre 
dans  ses  ebats  ni  gouvernement  ni  religion ;  mais  eile  ne 
tardera  pas  ä  les  heurter  d'un  bout  de  ses  ailes.  Et  alors 
la  luttel 

[765.]     März  17.     H.  C.  Robinfon. 

In  March  I  was  introduced  to  the  great  Goethe.  A 
man  so  much  superior  to  all  other  men  whom  I  have 
ever  come  near  in  intellectual  power  that  I  am  anxious 
to  record  every,  even  the  slightest  incident  that  I  can 
recall  to  mind.  —  At  the  Theatre  he  had  his  arm  chair 
reserved  for  him  in  the  front  row  of  the  pit.  I  had  re? 
peatedly  taken  a  seat  near  him,  that  I  might  occasionally 
catch  a  glimpse  of  his  countenance.  But  I  never  presented 
myself  to  his  notice.  —  On  the  Evening  of  the  17*^  I 
placed  myself  immediately  behind  him.  —  Bejamin  Con* 
stant  came  in  with  him  and  shook  hands  with  me.  I 
heard  him  whisper  my  name  to  Goethe.  —  On  this  he 
turned  round  and,  with  a  smile  as  ingratiating  as  his 
ordinary  expression  was  cold  and  repulsive,  said:  Wiffen 
Sie,  Herr  Robinfon,  daß  Sie  mich  beleidigt  haben?  — 
How  is  that  possible,  Herr  Geheimrat?  Whyl  You  have 
visited  everyone  at  Weimar  except  me.  I  feit  that  I 
blushed.  —  And  said  in  the  fitting  tone:  You  may  ima^; 
gine  any  cause,  Herr  Geheimrat,  but  want  of  reverence. 
—  He  smiled:    I  shall  be  happy  to  see  you  at  any  time. 


767]  Weimar.     1804.  359 

—  Of  course,  I  left  my  card  next  morning  —  and  the 
next  day  there  came  an  invitation  to  dinner  —  I  dined 
with  him  several  times  before  I  left  Weimar  —  and  the 
acquaintance  did  not  cease  on  this  German  residence.  I 
cannot  be  sure  of  the  precise  dates  of  my  several  intern 
views  with  him  and  I  will  relate  what  occurs  to  me  as 
it  does  occur. 

I  believe  it  was  this  very  evening  in  the  Theatre 
that  I  asked  him  whether  he  was  acquainted  with  our 
Venice  Preserved.  —  Oh  very  well;  the  Comic  Scenes 
are  particularly  good.  —  I  actually  started  at  so  stränge 
a  judgement:  Indeedl  in  England  those  scenes  are  con^ 
sidered  so  very  bad  that  they  are  never  acted.  —  I  can 
understand  that  ^  and  yet  on  reflection  you  will  per;; 
ceive  that  those  comic  scenes  are  quite  essential  to  the 
piece  —  it  is  they  alone  that  account  for  and  go  near 
to  justify  the  conspiracy.  For  we  see  in  them  how  utterjs 
ly  unfit  for  government  the  Senate  were  become.  —  I 
recognised  at  once  the  truth  of  this  and  feit  ashamed  of 
myself  for  not  having  perceived  it  before  —  indeed  in 
all  his  conversation  delivered  in  the  most  simple  and  most 
unpretending  tone  there  was  a  remarkable  significance.  — 
A  quiet  strength,  a  power  without  effort  that  reminded 
me  of  a  criticism  I  read  in  Germany  of  a  painting  of  '^ 
wrestling  with  an  Angel.  The  critic  abused  an  ignorant 
man  for  censuring  the  painting  because  the  angel  made 
no  effort  not  a  muscle  was  strained.  —  Therein,  said  the 
critic,  the  angelic  nature  showed  itself.  It  was  so  in  the 
Greek  skulpture  of  the  gods. 

[766.]     März  18.     B.  Conftant. 

Pris  conge  de  Goethe:  Singulier  Systeme  que  celui 
de  ne  compter  le  public  pour  rien  et  de  dire  ä  tous  les 
defauts  d'une  piece:    II  s'y  fera! 

[767.]     März.     Erneftine  Voß. 

Als  die  Unterhandlungen  mit  Weimar  über  unfern 
Sohn  in  Gang  kamen,  entfchloß  fich  Voß  auf  Goethes 
Bitte,  felbft  auf  einige  Tage  hinüber  zu  gehen.  Wie  gern 
wäre  ich  daheim  geblieben.  ^^  Goethe  hatte  für  eine  bes^ 
queme  Wohnung  in  feiner  Nähe  geforgt.  Der  Empfang 
in  feinem  Studierzimmer  war  fehr  freundlich.    Selbft  meine 


360 Erneftine  Voß. [768 

Gaben  fanden  eine  herzliche  Aufnahme :  ein  lockeres  Haus=: 
brot,  woran  er  bei  uns  öfters  Freude  geäußert,  und  ein 
felbftgezogener  fchön  blühender  Rofenftock. 

f^  Über  unfern  Sohn  ward  zwifchen  Voß  und  Goethe 
befchloffen,  daß  er  vor  dem  Antritte  feines  Lehramts 
einige  Wochen  bei  Goethe  wohnen,  und  fich  mit  den 
nähern  Verhältniffen  feines  Berufs  allmählich  vertraut 
machen  follte.  -^  Auch  damals  war  Goethe  fehr  herzlich 
gegen  uns,  befonders  abends,  wenn  wir  an  einem  kleinen 
Tifch,  in  einem  kleinen  Zimmer  unfer  Abendbrot  vers: 
zehrten. 

[768.]     März/April.     H.  C.  Robinfon. 

It  was  at  no  great  distance  from  this  time,  that  I 
called  on  Goethe  to  see  whether  I  could  engage  him  to 
act  as  a  Mediator  between  the  Duke  and  the  Students 
in  the  quarrel  that  ended  in  an  Auszug,  a  withdrawing 
from  the  University  of  the  best  members.  Having  heard 
my  representations ,  he  coolly  said:  So  ift  es  in  diefen 
Polizeiangelegenheiten,  worin  beide  recht  haben.  The 
Students  seeing  the  matter  from  their  point  of  view  are 
perfectly  in  the  right,  but  then  the  Duke  is  equally  in 
the  right.  He  has  his  own  mode  of  seeing  things,  which 
is  equally  right  in  him  as  Sovereign.  This  was  a  most 
hopeless  view  of  things.  —  I  could  not  get  anything  in 
the  way  of  Concessions  from  a  man  who  had  already 
conceded  so  much. 

During  these  my  occasional  visits  I  saw  the  com? 
panion  of  his  table,  the  mother  of  his  children,  and  fu? 
ture  wife.  —  She  had  an  agreeable  countenance  and  a 
hearty  cordial  tone.  Her  manners  were  unceremonious 
and  free.  —  When  she  was  young  queer  stories  were 
told  of  her  undignified  ways  and  the  freedom  of  her 
intercourse  with  him.  She  had  survived  all  eccentricities 
of  that  kind  now. 

I  am  conscious  of  not  possessing  what  I  never  strove 
to  obtain,  the  talent  of  personal  description.  —  Yet  I  will 
copy  a  Paragraph  from  the  letter  written  to  my  brother 
after  some  of  these  visits.  — 

The  sight  of  Goethe  is  enough  to  correct  the  childish 
misconceptions  we  form  of  a  poet  and  a  man  of  genius, 
as  if  they  were  wonders  and  shows  merely  to  be  stared 
at.     In  Goethe  I  beheld  an  elderly  man  of  terrific  dig? 


769]  Weimar.     1804. ^361 

nity:  penetrating  and  unsupportable  eye:  a  somewhat 
aquiline  nose  and  most  expressive  lips,  which  closed 
seemed  to  be  making  an  effort  to  move  as  if  they 
could  with  difficulty  keep  their  hidden  treasures  from 
bursting  forth.  —  A  firm  step  ennobling  an  otherwise  too 
corpulent  body;  a  free  and  enkindled,  air  and  an  ease  in 
his  gestures,  all  which  combined  the  gentleman  with  the 
Great  Man. 

[769.]     April  3.     Friedrich  Laun  (Schulze). 

Kaum  hatte  man  mich  im  erften  Stock  in  ein  Zim^^ 
mer  geführt  und  dem  Hausherrn  Meldung  von  meiner 
Ankunft  getan,  als  auch  fchon  Goethe  erfchien,  ohnge^ 
fähr  in  derfelben  Art  gekleidet,  wie  fpäterhin  Rauchs  pla^^ 
ftifche,  herrliche  Nachbildung  ihn  fo  geifivoll  und  wahr^ 
haft  wiedergegeben  hat.  Seine  Körpergröße  und  Haltung, 
das  mächtig  imponierende  Jupiterhaupt,  die  mit  ftarken 
Brauen  regelmäßig  überwölbten  dunkeln,  ernfien  Augen 
in  dem  edelften  Antlitz,  das  alles  zufammen  bildete  eine 
unüberfteigliche  Schranke  um  ihn  her.  Aber  er  felbft  zer^ 
brach  fie  unmittelbar  darauf  mit  einem  belebenden  und 
erwärmenden  Sonnenblicke,  als  die  fchön  gefchnittenen 
Lippen  fich  zur  Rede  öffneten.  Nichts  hat  mir  meine 
damalige  Geiftesverfaffung  beffer  ins  Gedächtnis  zurück^; 
geführt,  als  das,  was  der  geniale  H.  Heine  vor  kurzem 
von  feinem  Befuche  bei  Goethe  berichtete.  ^  Da  Goethe 
hörte,  daß  ich  foeben  das  Weimarifche  Schloß  in  Augen^ 
fchein  genommen,  fo  erkundigte  er  fich,  wie  mir  eine  erit 
angekommene  neue  Landfchaft  von  Hackert  dort  gefallen 
habe.  So  viel  ich  mich  erinnere,  handelte  fich's  bei  ihr 
nicht  um  eine  große,  kunftreiche  Kompofition,  aber  fie 
zeugte  doch  von  des  berühmten  Malers  ungemeiner  Fertig:; 
keit  und  fichrer  Hand,  Das  äußerte  ich  rühmend.  Aller? 
dings,  antwortete  Goethe,  ift  dergleichen  ungemein  ver? 
dienfilich  und  Hackert  hat  es  fehr  weit  hierin  gebracht. 
Zu  weit,  könnte  man  vielleicht  fagen!  denn  er  wird  da? 
durch  zu  dem  Irrtume  verleitet,  die  Natur  ganz  auswendig 
zu  wiffen  und  ihr  ferneres  Studium  entbehren  zu  können. 
Gleichwohl  ift  in  der  Malerkunft  wie  in  allen  Künften, 
die  Natur  die  ewige  Quelle,  aus  der  auch  der  Vollen? 
detfte  nie  aufhören  darf,  fortdauernd  zu  fchöpfen.  Denn 
fie  ift  unerfchöpf  lieh  und  nur  auf  diefem  Wege  das  wahr? 
haft  Lebendige  zu  ergreifen  und  wiederzugeben. 
I 


362  Friedrich  Laun.  [770 

Dann  brachte  er  unter  anderm  die  Rede  auf  die 
Kunft  und  die  Künfiler  Dresdens,  namentlich  auf  Hartes 
mann,  deffen  großem  Gemälde  des  Aeneas,  fo  wie  der 
Zeichnung  des  von  den  Furien  gepeinigten  Oreft,  er 
vollen  Beifall  erteilte.  Nach  des  trefflichen  Landfchafts^^ 
maiers  Mechau  neueften  Kunfterzeugniffen  fragte  er  ebenes 
falls.  Befonders  kam  auch  auf  eine  bekannte  fehr  große 
und  ausgezeichnete  Landfchaft  diefes  Künftlers  die  Rede, 
Die  Flucht  nach  Ägypten,  darftellend.  Goethe  wünfchte 
den  Preis  davon  zu  wiffen,  wahrfcheinlich  in  der  Hoff? 
nung,  daß  fie  eine  Zierde  des  Schloffes  zu  Weimar  ab:; 
geben  könnte.  Noch  erkundigte  fich  Goethe  nach  den 
neueften  Leiftungen  eines  mit  ungemeinem  Talent  begab? 
ten,  damals  in  Dresden  lebenden  jungen  Zeichners  und 
Malers  Namens  Runge,  an  deffen  fehr  frühzeitigem  Tode 
die  Kunft  ohne  Zweifel  eine  wichtige  Einbuße  erlitt.  ^^ 

Goethe  äußerte  feinen  Beifall  über  mehre  der  frühern 
Produktionen  Runges,  die  er  gefehen  hatte.  Was  aber 
foll  man  fagen,  fügte  er  hinzu,  wenn  ein  Künftler  nichts 
weiter  machen  will,  als  folche  Dinge?  Was  kann  die 
Kunft  dabei  gewinnen? 

Erft  fpäter  geriet  ich  auf  den  Gedanken,  daß  Goethe 
wohl  mit  diefem  Ausfpruche,  wie  mit  dem  frühern,  wo 
er  Hackert,  wegen  nicht  hinreichender  Betrachtung  der 
Natur  bei  feinen  fpätern  Kunftproduktionen  tadelte,  mir 
zugleich  einen  lehrreichen  Wink  habe  geben  wollen.  Als 
ich  von  ihm  fchied,  äußerte  er  wohlwollend,  ich  möchte 
bei  einem  nochmaligen  Befuche  Weimars  längere  Zeit  dar? 
auf  verwenden  und  nicht  vergeffen,  wieder  zu  ihm  zu 
kommen. 

[770.]     März  29./April  8.     H.  Voß  an  feine  Freunde. 

An  dem  Tage,  wo  Dethleffen  in  Berlin  angekom? 
men  ift,  kam  ich  zu  meinem  köftlichen  Goethe.  Ich  wurde 
feinem  freundlichen  Schreiben  gemäß  auf  das  herzlichfte 
aufgenommen:  Da  ift  ja  unfer  Freund  wieder,  fagte  er, 
drückte  mir  traulich  die  Hand  und  küßte  mich.  Ich  fah 
ihm  fteif  ins  Auge  und  es  fchien  mir  freundlicher  und 
milder,  als  jemals.  Jawohl  ift  es  wahr,  was  Du,  lieb? 
fter  Solger,  mir  fchriebft :  es  ift  eine  Wonne,  einen  großen 
Mann  zu  fehen;  aber  es  ift  noch  eine  größere  Wonne, 
ihn  von  Herzen  und  in  der  innerften  Seele  zu  lieben. 
Euch  darf  ich's  ja  unverhohlen  fagen,  daß  auch  ich  ein 


771]  Weimar.     1804.  363 

wenig  Liebe  von  ihm  habe  und  mich  deffen  unausfprech^ 
lieh  freue.  Da  denke  ich  denn  manchmal:  wenn  der  für 
dich  ift,  wer  mag  wider  dich  fein?  —  Lieben  Freunde! 
ich  habe  Göttertage  gehabt.  Ich  habe  Goethe  noch  mehr 
genoffen,  als  das  erfte  Mal,  und  jedes  Refichen  von  Scheu 
und  Furcht  ift  verfchwunden.  Ich  verftehe  jetzt  das  freund? 
liehe  Salve,  das  vor  feiner  Stubentür  fteht;  wahrhaftig 
auch  zu  feinem  Herzen  haben  die  Söhne  des  Staubes  Zu? 
tritt.  Ich  kann  manchmal  fchwelgen  in  dem  feiigen  Ge? 
fühle,  daß  ein  Mann  wie  Goethe  herzUch  fein  kann;  dies 
habe  ich  noch  vor  fechs  Wochen  nicht  geglaubt,  und 
hatte  ein  Gefühl  weniger,  in  welchem  ich  mich  jetzt  fo 
unausfprechlich  reich  fühle.  —  Meine  Freunde  verfiehen 
mich,  fonft  fchämte  ich  mich,  daß  ich  Dinge  fchreibe,  die 
fo  nahe  an  Überfpannung  grenzen,  aber  Gott  fei  mein 
Zeuge,  daß  ich  in  diefem  Augenblicke  von  jeder  Über? 
fpannung  entfernt  bin.  Du  teuerer  Goethe!  wer  kann 
lebhaft  an  deine  fchöne,  edele  und  freundliche  Miene 
denken,  ohne  auf  das  innigfte  bewegt  zu  fein!  Wenn 
Du  wüßteft,  liebfter  Abeken,  welche  Ehrfurcht  und  Liebe 
diefer  Mann  in  Weimar  durch  fein  bloßes  Dafein  ver? 
breitet,  wenn  Du  die  vielen  leifen  Stimmen  behorcht  hat? 
teft,  die  über  ihn  einftimmig  fich  vernehmen  laffen,  ja, 
dann  würde  kein  böfes  Gerücht  über  ihn  nicht  mehr  bei 
Dir  Eingang  finden  können,  wie  Du  in  einem  Briefe 
fchreibft,  daß  man  dergleichen  fo  oft  hörte  und  dadurch 
irre  würde.  Ich  bin  weit  entfernt,  Goethe  für  ein  durch? 
aus  fleckenlofes  Wefen  zu  halten;  aber  Fehler,  die  feine 
kleinfte  Tugend  verdunkeln  könnten,  diefe  in  ihm  auf? 
zufinden,  das  halte  ich  für  ein  vergebliches  und,  ich  möchte 
fagen,  ein  verwegenes  Unternehmen. 

[771.]     März  29./April  8.     H.  Voß  an  H.  Ch.  Boie. 

Ich  bin  abermals  in  Weimar  gewefen  bei  dem  Herr? 
liehen  und  diesmal  als  Stubengenoß  und  Vizehofmeifter 
feines  Auguft.  Wenn  ich  Ihnen  den  Inbegriff  diefer  zehn 
Tage  andeuten  will,  fo  muß  ich  fagen:  ich  bin  fehr  hei? 
ter  und  froh  gewefen.  Meine  Hauptangelegenheit  ift  zu 
einem  fchönen  Ende  gefördert,  und  ich  habe  Goethe  dies? 
mal  noch  mehr  genoffen  als  das  vorige  Mal.  Seine  Auf? 
nähme  war  fo  herzlich,  und  was  er  mir  in  diefer  Zeit 
Liebes  erzeigt  hat,  kann  ich  nicht  befchreiben.  Er  hat 
wie  ein  zärtlicher  Vater  für  mich  geforgt;  er  finnt  recht 
I 


364 H.  Voß. [771 

darauf,  mir  einen  angenehmen  Aufenthalt  zu  verfchaffen. 
Ich  bin  auch  jetzt  fchon  ganz  eingewohnt  dafelbft;  ich 
habe  mir  fchätzenswerte  Bekanntfchaften  erworben  und 
habe  die  Verficherung  von  Goethe  und  Schiller,  daß 
mir  ihr  Haus  jederzeit  mit  herzlicher  Liebe  offen  flehen 
foll.  - 

Es  ift  kein  Gegenftand,  der  feiner  Aufmerkfamkeit 
entgeht;  in  alles  bringt  er  Geift  und  Leben,  und  wenn 
er  auch  von  entlegenen  Dingen  redet,  fo  nimmt  er  doch 
die  um  ihn  her  liegenden  und  wechfelnden  Gegenftände 
zu  Hilfe,  um  feine  Gedanken  in  fie  einzukleiden.  Nie 
braucht  er  je  ein  anderes  Gleichnis,  als  das  von  Dingen 
hergenommen  ift,  die  er  gerade  vor  (ich  fieht,  und  man 
wundert  fich  oft,  wie  er  aus  einem  erbärmlichen  Stoffe 
etwas  fo  Herrliches  und  Herzerhebendes  zu  bilden  wußte. 
Wenn  er  dann  in  Feuer  gerät,  fo  wird  fein  Schritt  haftiger, 
oder  wenn  er  gewiffe  Gegenftände  fixiert,  um  fie  tief  zu 
ergründen,  dann  fteht  er  auch  wohl  gar  ftille  und  ftemmt 
einen  Fuß  vor  den  andern,  mit  dem  Körper  rückwärts  ge? 
bogen.  Ihm  bei  Tifche  gerade  entgegen  zu  fitzen  und  in 
fein  feuriges  tiefes  Auge  zu  blicken,  ift  eine  wahre  Wonne. 
(Goethe  fagt  felbft  einmal  was  Ähnliches  in  feinem  Götz.) 
Es  drückt  fich  in  feinen  Zügen  bei  aller  Majeftät  fo  viel 
Güte  und  Wohlwollen  aus.  Nie  aber  ift  er  angenehmer 
und  liebenswürdiger;  als  des  Abends  in  feinem  Zimmer, 
wenn  er  ausgezogen  ift  und  entweder  mit  dem  Rücken 
gegen  den  Ofen  fteht,  oder  auf  dem  Sofa  fitzt.  Ja,  da 
wird  es  unmöglich,  fich  ihm  nicht  hinzugeben.  Ob  es 
die  Ruhe  macht,  die  abendliche  Stille,  das  Gefühl  der  Er? 
holung  von  oft  fchweren  Arbeiten,  oder  was  es  ift:  dann 
ift  er  am  heiterften  und  gefprächigften,  am  offenften  und 
herzlichften.  Ja,  Goethe  kann  die  Herzlichkeit  felbft  fein. 
Dann  hat  fein,  manchmal  furchterregender  Blick  auch  alles 
Schreckhafte  verloren. 

Sobald  ich  in  Weimar  etwas  eingerichtet  bin,  will  er 
eine  Gefellfchaft  junger  Leute  um  fich  verfammeln,  von 
folchen,  die  Luft  haben,  vorwärts  zu  fchreiten.  Da  follen 
Schriften  aus  mehreren  Fächern  und  Sprachen  gemein? 
fchaftlich  gelefen  und  befprochen  werden.  Ich  weiß  fchon 
aus  der  Erfahrung,  wie  mit  Liebe  er  fo  was  unternimmt 
und  betreibt.  Die  Früchte  diefer  Konverfationen  follen 
denn  auch  zugleich  auf  die  Literaturzeitung  verbreitet  wer? 
den,  und  wahrlich!    das  ift  ein  glücklicher  Gedanke ;  denn 


771]  Weimar.     1804. 365 

Goethe,  der  zum  eigentlichen  Rezenfenten  nicht  gefchaffen 
ift,  gibt  doch  oft  im  Gefpräche  die  herrhchften  und  treffende 
ften  Urteile,  die  durchaus  nicht  verloren  gehen  dürfen. 
Und  welche  Übung  wird  es  für  uns  fein,  Winke  und  um* 
hergeftreute  Ideen  der  Art  aus  Goethes  Geifte  auffaffen 
zu  lernen,  und  in  Auffätze  oder  Rezenfionen  fie  zu  fixieren] 
Weiß  man  doch  das  erft  am  deutlichften  und  klarften, 
was  man  felbft  andern  mitzuteilen  genötigt  wird! 

Was  fagen  Sie  zu  feiner  Rezenfion  von  meines  Vaters 
Gedichten?  Welch  ein  fchöner  Gedanke,  des  Dichters 
poetifches  Leben  aus  feinen  Gedichten  zu  entwickeln, 
und  welch  ein  tiefes  Studium  der  Gedichte  in  diefer  Ent* 
Wickelung]  Ein  wahres  lebendiges  Votivgemälde.  Fafi 
jedes  Wort  könnte  als  Zitat  ein  Lied  bekommen.  Un^; 
gemein  fchön  ift  der  Übergang  von  den  Lierbftliedern  zu 
den  religiöfen.  Ich  habe  diefe  Rezenfion  recht  von  Grund 
aus  entftehen  fehn.  Gewöhnhch  des  Abends  von  8—10 
las  ich  Goethen  die  Gedichte  vor.  Als  ich  das  Herbft* 
lied  anfangen  wollte:  Die  Bäume  ftehn  der  Frucht  ent* 
laden,  nahm  er  mir  das  Buch  aus  der  Hand  und  fagte: 
Das  will  ich  felber  lefen.  Er  las  es,  und  gleich  darauf: 
Troft  am  Grabe.  Die  Worte  in  der  Rezenfion,  mit  denen 
er  diefe  Lieder  bezeichnet,  mögen  Ihnen  die  gerührte  Stirn* 
mung  ausfprechen,  womit  er  fie  las.  Einige  Stellen  habe 
ich  ausgearbeitet,  nämlich  die  über  die  höheren  Stände 
und  den  letzten  Teil  über  Sprache,  Rhythmik  und  Mytho* 
logie.  Verfteht  fich,  daß  Goethe  nachher  revidierte,  um 
den  Stil  mit  dem  feinigen  gleichförmig  zu  machen,  wo 
es  mir  nicht  gelungen  war. 

Sonnabend  den  7.  April  hatten  wir  den  Macbeth; 
er  ward  meifi:erhaft  gegeben,  obgleich  in  feiner  ganzen 
blutigen  Gräßlichkeit.  Die  Hexen  waren  junge  Mädchen, 
fchön  von  Wuchs  und  recht  artig  gekleidet,  die  eine  fo* 
gar  zierlich.  Es  war  ein  kühner  Gedanke  von  Goethe, 
das  Schreckliche  diefer  Wefen  mehr  in  die  Wirkung,  als 
in  die  Geftalt  zu  fetzen,  und  fie  tat  fo  auch  bei  weitem 
größere  Wirkung,  fo  wie  der  Teufel  in  fchöner  Geftalt 
gräßlicher  ift  (für  mich  wenigftens),  als  in  der  teuflifchen. 
Die  Totenftille  unter  den  Zufchauern  war  mir  manchmal 
ebenfo  fchrecklich,  als  das  Stück  felbft;  dann  war  es,  als 
ftünde  das  ganze  Geifterreich  geöffnet.  Goethe  war  den 
Abend  außerordentlich  fröhlich  (>Vir  faßen  noch  um^/212 
auf),  daß  die  Vorftellung  fo  geglückt  fei;  auch  Schiller, 
I 


366 H.  Voß. [772 

mit  dem  ich  nach  der  Vorftellung  noch  einen  AugenbUck 
nach  Haufe  ging.  '^ 

Goethes  Zutrauen  und  feine  Liebe  zu  verheren,  wäre 
das  SchreckUchfte,  was  mir  in  Weimar  begegnen  könnte, 
aber  fo  lange  ich  bleibe,  was  ich  bin  und  fortfahre  zu 
werden,  was  ich  werden  kann,  fo  lange  werde  ich  fein 
lieber  Sohn  bleiben,  wie  er  mich  mehrere  Male  genannt  hat. 

[772.]     H.  Voß  an  Börm. 

Ich  muß  Dir  noch  ein  Stückchen  erzählen,  das  mir 
Goethe  noch  fo  unendlich  lieb  gemacht  hat.  Als  ich 
zum  zweiten  Mal  bei  Goethe  war,  wurde  mir  gerade  mein 
Doktordiplom  ausgefertigt  und  Goethen  von  Jena  aus 
für  mich  zugefchickt.  Mir  verfchwieg  er's.  Augufi  mußte 
nach  Belvedere  hingehen,  um  Lorbeer^  und  Zitronenzweige 
zu  holen.  Bei  Tifch  wußte  ich  noch  nichts  davon.  Nach 
dem  Effen  fagte  Goethe  zur  Vulpius:  Mein  Kindl  der 
Voß  fieht  mir  noch  fo  hungrig  aus;  man  foUte  doch  das 
Gaftrecht  nicht  verletzen  und  feinen  Freunden  wenigftens 
fatt  zu  effen  geben.  Ich  entfchuldigte  mich  in  demfelben 
luftigen  Ton  und  verficherte,  ich  fei  voll  fatt.  Es  half 
nichts;  Augufi  mußte  hinausgehen  und  den  Nachtifch 
holen.  Er  kam  wieder  mit  einer  großen  Schüffei,  die  er 
mir  auf  den  Kopf  fetzte.  Nun  mußte  ich  verfprechen, 
wenigfiens  noch  einen  Biffen  zu  effen,  und  vor  mich  hin 
wurde  das  Gericht  geftellt.  Denke  Dir  mein  Erftaunenl 
Ich  fah  Goethe  an  und  wußte  nichts  zu  fagen.  Nun 
wurde  mir  fehr  herzlich  von  Goethe,  Augufi  und  der 
Vulpius  zu  meiner  neuen  Würde  gratuliert,  Goethe  fchloß 
mich  in  feine  Arme  und  nannte  mich  zum  erfienmal  feinen 
lieben  Sohn,  ein  fchmeichelndes  Wort,  welches  er  nach? 
her  oft  wiederholt  hat.  Gleich  darauf  fiellte  fich  feine 
fröhliche  Laune  ein.  Es  ifi  geraten,  fagte  er  zur  Vulpius, 
daß  wir  des  neuen  Doktors  Gefundheit  in  Champagner 
trinken.  Sie  mußte  in  den  Keller  und  brachte  den  Götter? 
trank;  wir  hatten  fchon  anderthalb  Flafchen  getrunken, 
aber  diefer  Nektar  mußte  doch  noch  hinzu.  Wir  haben 
die  Flafchen  bis  auf  den  letzten  Tropfen  geleert.  Während 
diefer  Operation  wurde  ich  immer  Doktor  genannt;  ich 
proteftierte  dagegen.  Nein,  fagte  Goethe,  heut  bleibt 
Er's  und  morgen  auch  aus  Strafe,  daß  Er  Doktor  geworden 
ifi.  Morgen  Abend  haben  wir  eine  kleine  Gefellfchaft, 
wo  auch  der  neue  Doktor  Bode  fein  wird;   da  foll  der 


775] Weimar.     1804. 367 

beiden  Herren  ehrenfefie  Gefundheit  getrunken  und  Euch 
der  Doktor  wieder  abgenommen  werden.  Dann  drückte 
er  mir  freundlich  die  Hand  und  fagte:  Für  uns  follen 
Sie  der  gute  Voß  bleiben.  Unterdes  wirkte  der  Cham? 
pagner.  Ich  ward  nicht  bloß  feiig,  fondern  überfelig. 
Ich  habe  Goethen  nie  nach  Wunfche  danken  können,  ich 
hatte  es  auch  nie  verfucht;  jetzt  konnte  ich's.  Als  wir 
aufftanden,  war  mir  der  Kopf  ein  bißchen  fchwerer,  als 
gewöhnlich,  vielleicht  Goethen  auch;  denn  er  war  über 
die  Maßen  luftig.  Wir  gingen  noch  ein  paar  Stunden 
fpazieren  und  im  Park  hielt  mir  Goethe  eine  Vorlefung 
über  die   Naturgeschichte. 

[773.]     April  Anfang.     H.  Vol^. 

Eines  Morgens,  als  ich  gerade  feinen  Auguft  im 
Griechifchen  unterrichtete,  kam  Goethe  zu  uns  herauf; 
er  hatte  eben  die  Stelle  in  der  Rezenßon  der  Gedichte 
von  Johann  Heinrich  Voß  niedergefchrieben,  wo  wir  den 
Dichter  im  Kampfe  gegen  ausfchließende  Meinungen, 
Macht?  und  Bannfprüche  erblicken,  und  das  Blatt  war 
noch  feucht.  Mitten  im  Zimmer  blieb  er  fiehn,  den  rechten 
Fuß  ein  wenig  vorgeitemmt,  und  fing  an  in  feinem  melo? 
difch  kräftigen  Baß  zu  lefen,  gegen  das  Ende  immer 
feuriger  und  gediegener,  und  mit  dem  Worte  Teufel  fenkte 
er  das  Blatt,  und  guckte  mich  mit  ftarrem,  aber  freund? 
lichem  Auge  an,  als  wollte  er  fagen:  Hab'  ich's  recht 
gemacht? 

[774.]     März  29./April  8.     H.  Voß. 

Einmal  fprach  er  von  Gott  und  Unfterblichkeit  und 
war  dabei  in  einer  Bewegung,  die  ich  ~  nicht  befchreiben 
kann.  Aber  wohl  fteht  mir  noch  vor  Augen,  wie  er  mit 
dem  Leibe  rückwärts  fich  lehnte  und  fein  unbeweglicher, 
nur  auf  den  Gegenfiand,  der  feine  Seele  füllte,  fixierter 
Blick  von  dem  Irdifchen  weggewandt,  das  Höhere  und 
Unnennbare  fuchte.  Dann  ift  er  mehr  als  ein  Menfch, 
ein  wahrhaft  überirdifches  Wefen. 

[775.]     H.  Voß. 

Ich  hab  ^  fchon  die  Schaufpielergefellfchaft  erwähnt, 
die  Goethe  dann  und  wann  bei  fich  verfammelt  und  im 
Deklamieren  übt.  Er  lieft  mit  ihnen  die  ausgefuchteften 
I 


368 H.  Voß. ^ 

Sachen,  weil  er  zugleich  die  Abficht  hat,  auf  ihre  SittUch^ 
keit  zu  wirken.  Er  fagte  einmal:  Wenn  das  wahrhaft 
Schöne  und  Gute  Eingang  gefunden  hat,  fo  ift  das  Schlechte 
auf  ewig  verbannt. 

[776.]     März  29./April  8.     H.  Voß  an  Abeken. 

Bei  der  Wolzogen.  Das  ift  Dir  ein  hebenswürdiges 
Weib.  Neulich  war  ich  dort  eingeladen;  die  Schiller 
fand  ich  fchon  da,  dann  kam  Frau  von  Stein  und  Amalia 
von  Imhojff  (jetzt  Helvig).  Gegen  acht  Uhr  kam  Schiller 
und  unvermutet  auch  Goethe.  Was  das  für  eine  Freude 
erregte,  glaubft  Du  nicht.  Wir  blieben  bis  elf  Uhr  zu^ 
fammen.  Das  war  ein  feiiger  Abend,  was  haben  wir 
gelacht  bei  Tifche,  wo  Schiller  aus  der  Taufend  und  einen 
Nacht  erzählte  und  Goethe  dazu  die  allerernfteften  und 
zugleich  komifchften  Anmerkungen  machte.  ^  Die  Vulpius 
erzählte  mir,  daß  es  Goethe  immer  fo  viel  Freude  machte, 
wenn  er  hörte,    diefer  oder  jener   habe  mich  recht  lieb. 

[777.]     April  erfte  Hälfte.     Schiller  an  A.  W.  Iffland. 

Auch  Goethe  ift  mit  mir  überzeugt,  daß  ohne  jenen 
Monolog  und  ohne  die  perfönliche  Erfcheinung  des  Parri:* 
cida  der  Teil  fich  gar  nicht  hätte  denken  laffen. 

[778.]     April  29.     Caroline  v.  Humboldt  an  ihren  Gatten. 

Von  der  Stael  ging  ich  zu  Goethe,  der  mich  in 
feinem  Garten  erwartete,  fehr  lieb  und  gar  nicht  zere:= 
moniös  aufnahm.  Die  Helvig,  geborene  Imhoff,  kam  hin, 
mich  zu  fehen.  Als  wir  uns  umarmten,  fagte  Goethe, 
das  fei  der  Gruß  der  Elifabeth.  Ich  konnte  nur  fehr 
kurz  bei  ihm  bleiben,  da  der  Weg  übel  war  und  kein 
Mondenfchein.  Riemer  kam  in  den  Garten  mit  Theodor, 
den  ich  ihm  fchon  früher  zugefchickt  hatte.  Goethe  wird 
Dir  diefer  Tage  fchreiben  und  freute  fich,  fagte  er,  auf 
die  Tage,  wo  ich  nach  Weimar  kommen  würde. 

[779.]     April  (Ende).     H.  C.  Robinfon. 

A  month  after  the  first  introduction,  when  Mad.  de 
Stael  returned  from  Berlin  and  brought  Wilh.  Schlegel  in 
her  train,  I  dined  with  Schlegel,  Tieck,  the  Sculptor  and 
Riemer  the  literator  who  has  written  so  much  about  Goethe. 
—  No  one   eise  but  Mad.  Goethe.     I  was  Struck  by  the 


780]  Weimar.     1804.  369 

contrast  between  the  two.  Nothing  could  exceed  the 
repose  of  Goethe.  On  Schlegel's  part  a  striving  after  pun 
and  point.  —  Of  these  I  recollect  nothing  but  that  Böttiger 
was  his  but,  whom  he  compared  to  Bardolph.  —  From 
Goethe  I  recollect  a  word  or  two  of  deep  significance. 
—  He  faid  to  Schlegel:  I  am  glad  to  hear  that  your 
brother  means  to  translate  the  Sacontala.  —  I  shall  rejoice 
to  see  that  poem  as  it  is,  and  not  as  we  have  it  from  the 
Moral  Englishman.  There  was  a  sarcastic  emphasis  on 
the  words  des  moralifchen  Engländers.  He  then  went 
on:  —  Eigentlich  aber  haffe  ich  alles  Orientalifche.  —  By 
which  probably  he  meant  rather  that  he  infinitely  preferred 
the  Greek  to  the  Asiatic  mind.  He  then  went  on:  I  am 
glad  there  is  something  that  I  do  hate.  —  For  otherwise 
one  is  in  danger  of  falling  into  the  dull  habit  of  liberally 
finding  all  things  good  in  their  place,  and  that  is  destruc? 
tive  of  all  true  feeling. 

[780.]     Mai  1.     H.  Voß. 

Goethe  fchickte  zu  mir:  ich  folle  doch  ein  wenig  zu 
ihm  kommen  und  den  ganzen  Abend  bei  ihm  zubringen. 
Wie  fand  ich  ihn  da  heiter  und  liebenswürdig!  Er  war 
eben  vom  Hofe  gekommen,  hatte  aber  fchon  die  Staatss= 
uniform  abgetan  und  faß  wieder  in  feinem  blauen  Über? 
rocke.  Ich  fand  ihn  feine  Medaillen  und  Münzen  durch? 
mufternd.  Ich  fetzte  mich  zu  ihm  und  hörte  aufmerkfam 
feiner  lehrreichen  Erklärung.  Er  befitzt  eine  treffliche 
Sammlung,  die  befonders  dann  Wert  erhält,  wenn  man 
fie  von  ihm  befchreiben  und  dem  Gehalt  und  Inhalt  nach 
entwickeln  hört.  Goethe  war  dabei  überaus  launig  und 
witzig.  Einmal  fagte  er  mit  halb  fcherzhaftem,  aber  doch 
ernftlich  gemeintem  Ausdrucke:  Was  find  wir  doch  gegen 
die  Künftler  des  fünfzehnten  und  fechzehnten  Jahrhunderts? 
Wahre  Taugenichtfe  I  Was  ifi  unfer  Jahrhundert  gegen 
diefes  kraftvolle!  —  Er  kam  hierauf  zu  reden  von  der 
Peterskirche;  fein  Gefpräch  war  erhaben  wie  der  Gegen? 
ftand.  Wie  blitzen  dem  Manne  die  Augen,  wenn  ihm 
ein  folcher  Gegenftand  die  Seele  füllt!  Er  erzählte  mir 
die  ganze  Entftehung  derfelben;  wie  man  die  alte  Bafilica 
Neronis  einzureißen  angefangen,  der  erfte  kühne  Gedanke 
zu  diefem  ungeheuren  Bau;  dann  wie  fich  die  Künftler 
geweigert  und  gezagt,  den  Grund  zum  neuen  Gebäude 
zu  legen,  bis  endlich  Michel  Angelo  es  unternommen; 
I  24 


370  H.  Voß.  [781 

dann  wie   der   Bau   nachher   oft    unterbrochen   und   erft 
unter  fünfzig  Baumeiftern  vollendet  worden. 

[781.]     April/Mai.     H.  Voß. 

Mein  Name,  der  alte  Ehrwürdige,  hat  mich  auch 
hierher  geleitet  und  wird  mir  wohl  bleiben,  bis  ich  alt 
und  ehrwürdig  werde.  Goethe  hat,  wie  mir  Riemer  fagte, 
neulich  bei  Tifche  gefagt:  er  käme  mir  fo  recht  eigent? 
lieh  nicht  zu;  denn  bei  aller  Ehrenhaftigkeit  trüge  ich 
doch  einen  nicht  geringen  Schalk  im  Hintergrunde. 

[782.]     Mai.     H.  Voß. 

Wenn  ich  fagte,  daß  Goethes  Gefprächen  fo  viel 
Allgemeines  zugrunde  läge,  fo  ift  das  nicht  fo  zu  ver? 
ftehen,  als  ob  er  abftraktes  Zeug,  wie  im  Athenäum,  in 
Sentenzen  fpräche;  ich  meine  nur  das  Ideenreiche  diefes 
fo  geiftreichen  Mannes,  das  aus  jeder  Hülle  und  Ein? 
kleidung  fo  klar  hervorleuchtet.  Ich  möchte  Goethen  den 
populärfien  Philofophen  nennen,  der  uns  auch  bei  den 
geringfügigften  Gegenfiänden  wahre  Weisheit  in  die  Seele 
redet.  Seine  Weife,  die  Menfchen  zu  betrachten,  ift  ganz 
die  eines  kontemplativen  Naturforfchers  im  edleren  Sinne 
des  Worts.  Kein  Menfch  ärgert  ihn,  wenn  er  einen  be? 
ftimmten  Charakter  hat,  felbft  ein  Kotzebue,  fogar  ein 
Böttiger  nicht.  Er  denkt:  fo  hat  ihn  einmal  der  liebe 
Gott,  der  von  allen  Arten  etwas  gibt,  gefchaffen,  und  ift 
er  nicht  pofitiv,  fo  ift  er  doch  negativ  zum  allgemeinen 
Heile  notwendig.  Freilich,  wenn  er  zum  Wohle  des  All? 
gemeinen  wirken  foll,  fo  hat  diefe  Toleranz  auch  bei 
ihm  ihre  Grenzen;  wenn  ein  Klotz  im  Wege  fteht,  da 
wird  er  beifeite  gefchafift,  damit  die  Bahn  frei  werde,  und 
je  hartnäckiger  der  Widerftand,  je  heftiger  die  Gewalt, 
ihn  fortzufchaffen.  Ich  habe  ihn  zornig  gefehen  über 
Efeleien  und  Teufeleien,  aber  es  war  der  Zorn  des  Ge^: 
rechten,  ein  fchneidender,  kraftvoller  Unwille,  nicht  zügeln 
lofe  Leidenfchaft  und  Ereiferung.  Nie  find  Goethes  Forde;: 
rungen  an  die  einzelnen  Menfchen  unbillig,  fie  richten 
fich  nach  der  Fähigkeit  jedes  Subjektes,  aber  was  einer 
leiften  kann,  das  fordert  er  ganz  und  ungeteilt.  So  ehrt 
und  fchätzt  er  jedes  Talent,  jede  noch  fo  kleine  mecha? 
nifche  Fertigkeit.  Aber  kein  Charakterlofer  fand  Gnade 
vor  feinen  Augen.  Die  Lofung:  es  ift  doch  ein  guter 
Menfch  I  ift  ihm  unausftehUch.    Und  wehe  dem,  der  feine 


783]  Weimar.     1804.  371 

Erwartungen  und  fein  Zutrauen  durch  träges,  hartnäckiges 
Stillftehen,  durch  Schlaffheit  oder  gar  Scheinfucht  ftatt 
des  reellen  Wertes  zu  täufchen  anfängt.  Anfangs  ift  er 
noch  milde  und  fucht  fchonend  zum  Guten  zurückzu^ 
lenken;  hilft  es  nichts,  fo  wird  er  zornig  und  wendet  fein 
Antlitz  auf  ewig. 

[783.]     (Mai  Ende.)    J.  A.  Ludecus. 

Falk  verfaßte  für  Geifelhrechts  Marionettentheater  das 
Luftfpiel  Die  Prinzeffin  mit  dem  Schweinsrüffel,  in  welchem 
die  Zunft  der  Schaufpieler  und  deren  Arroganz  fcharf 
gegeißelt  wurden  und  hatte  die  Genugtuung,  daß  das 
Publikum  das  Stück  mit  allgemeinem  Jubel  aufnahm;  denn 
es  hatten  damals  die  Schaufpieler  fich  eben  nicht  beliebt 
zu  machen  verftanden.  Geifelbrecht  wollte  diefe  Stimmung 
benutzen  und  kündigte  die  Wiederholung  des  Stückes  ~ 
auf  den  folgenden  Tag  an.  ~  Die  weimarifchen  Schaums 
fpieler,  welche  fämtlich  der  Vorftellung  beigewohnt  hatten, 
fpieen  Feuer  und  Flammen  und  ernannten  eine  Deputation, 
welche  bei  der  Theaterdirektion  auf  Genugtuung  wegen 
des  erlittenen  Schimpfes  und  Beftrafung  des  Übeltäters 
antragen  follte.  Die  Deputation  verfügte  fich  noch  an 
demfelben  Abend  zu  dem  Geheimen  Rat  von  Goethe, 
entledigte  fich  des  Auftrags,  brachte  aber  Goethe  dadurch 
in  Verlegenheit;  denn  obwohl  er  den  Schaufpielern  nicht 
unrecht  geben  konnte,  wenn  fie  fich  gekränkt  fühlten, 
fah  er  doch  ein,  daß  es  fchwer  halten  werde,  ihnen  Ge^; 
nugtuung  zu  verfchaffen.  Er  verfuchte  die  Klagenden 
zuerft  zu  beruhigen,  indem  er  ihnen  vorftellte:  was  auf 
dem  Theater  gefprochen  werde,  dürfe  nicht  fo  genau  ge^s 
nommen  werden;  fie  wüßten  ja  felbft,  wie  Jurifi:en,  Ärzte 
und  andere  Perfonen  in  den  Lufifpielen  dem  allgemeinen 
Gefpötte  preisgegeben  würden  und  wie  es  noch  niemand 
eingefallen,  darüber  Befchwerde  zu  führen.  Von  Perföns: 
lichkeiten  aber  fcheine  in  der  Prinzeffin  nichts  vorge? 
kommen  zu  fein.  Die  Deputation  wollte  fich  hierbei  nicht 
beruhigen,  fondern  erwiderte :  es  fei  aber  doch  der  ganze 
Stand  der  Schaufpieler  angegriffen  und  befchimpft  worden, 
und  wie  foeben  das  Theaterpublikum  feine  große  Freude 
über  die  Tendenz  der  Poffe  laut  ausgefprochen,  fo  werde 
es  den  folgenden  Tag  bei  der  Wiederholung  in  noch 
höherem  Grade  gefchehen,  und  darum  wollten  fie  bitten, 
daß  wenigftens  die  Wiederholung  nicht  Itattfinde.  Goethe 
I  24* 


372  Ludecus.  [784 

entließ  die  Deputation  mit  der  Verficherung:  er  wolle 
überlegen,  was  fich  in  der  Sache  tun  laffe,  und  am  folgen? 
den  Tage  kündigte  Geifelbrecht  —  ein  anderes  Stück  mit 
der  Bemerkung  an,  daß  die  Wiederholung  der  Prinzeffin 
unterfagt  worden  fei. 

[784.]     Mai.     Riemer. 

Bei  Goethe  höre  ich  einige  Kollegia  über  Metamor? 
phofe  der  Pflanzen,  Theorie  der  Farben;  wir  befehen  den 
Mond  durch  einen  fiebenfüßigen  Herfchel  und  wiffen  uns 
fonft  über  allerlei  zu  unterhalten. 

[785.]     Juni.     Nach  Steinfchen  Papieren. 

Als  die  Nachricht  von  Moreaus  Verurteilung  in 
Weimar  eintraf,  behauptete  Goethe  gegen  Charlotte,  das 
Todesurteil  werde  nicht  vollzogen  werden,  und  er  tat  fich, 
als  die  Kunde  feiner  Begnadigung  eintraf,  in  einem  der 
Freundin  zugefandten  Billet  etwas  darauf  zugute,  daß 
er  dies  vorausgefagt. 

[786.]    Juli  Mitte.     H.  Voß. 

Neulich  fuhr  ich  mit  Goethe  und  Riemer  einmal  nach 
Tiefurt.  Da  war  er  unterwegs  überaus  herzlich.  Er  fprach 
von  verfchiedenen  Arbeiten,  die  ernoch  vornehmen  wolle. 
In  meinem  Alter,  fagte  er,  kommt  man  denn  doch  all? 
mählich  auf  den  Gedanken,  daß  es  mal  zu  Ende  gehen 
könne.  Sieh,  daran  hat  Goethe  früher  niemals  gedacht; 
das  fieht  ihm  recht  ähnlich.  Ein  andermal  fprach  er  von 
einem  Quidam,  der  fchon  fehr  bejahrt  fei,  deffen  Mutter 
aber  noch  lebte.  Da  meinte  er:  das  fei  gar  fchön;  der 
Mann  muffe  fich  fo  viele  Jahre,  als  feine  Mutter  Vor? 
fprung  habe,  noch  recht  ficher  vorkommen. 

[787.]     Juni  28.  u.  Juli  21.     H.  Voß. 

Goethe  ift  nicht  mit  der  Einlage  zufrieden.  '^  Er 
findet  die  Charlotte  Corday  von  Luden  geiftlos,  matt  und 
nullenartig,  auch  die  Ausarbeitung,  nämlich  Sprache  und 
Diktion,  Versbau  und  Rhythmik  ufw.  äußerft  notdürftig. 
Er  lächelte  über  die  Gutmütigkeit  des  Verfaffers  und  hat 
mir  obiges  Urteil  mit  Ruhe  und  Wohlwollen  gegen  den 
Verfaffer  als  Menfch  gefagt,  fowie  er  denn  nie  heftig  ur? 
teilt.  —  Aber  Du  fiehfi  wohl,  daß  an  keine  Aufführung 


1 


790] Weimar.     1804. 373 

zu  denken  ift.  Ob  Goethe  ihm  antwortet,  weiß  ich  nicht, 
ich  zweifle  aber  daran;  denn  diefer  Fall  ift  ihm  fchon 
unzählig  oft  vorgekommen,  und  Goethe  hat  fich  endlich 
über  Zeremonien  und  dergleichen  weggefetzt.  Wenn  er 
eine  Spur  von  Talent  in  ihm  gefunden,  fo  antwortet  er 
gewiß,  aber  die  fcheint  er  nicht  gefunden  zu  haben. 

[788.]     (Auguft.)    H.  Voß. 

Wie  war  Goethe  fröhlich,  als  ich  meine  Sachen  auf 
dem  Examen  fo  gut  beendet  hatte  und  wie  war  ich  fröh^ 
lieh,  daß  er  einen  folchen  Anteil  an  mir  nahm.  Dem 
Mann  verdanke  ich  ja  faft  ebenfoviel,  als  meinen  Eltern: 
er  hat  mir  ja  Mut  und  Selbftvertrauen  in  die  Seele  ge? 
flößt  und  weiß  mir  durch  fein  Beifpiel  immer  die  Be? 
fcheidenheit  und  ein  edles  Mißtrauen  nahe  zu  erhalten. 
—  Ich  lefe  jetzt  griechifch  mit  ihm.  Neulich  lafen  wir 
zufammen  drei  Stunden  nach  der  Reihe,  und  Goethe  ift 
jetzt  außerordentlich  warm  für  diefe  Sprache,  befonders 
für  den  Sophokles.  Sobald  die  erften  Schneeflocken  fallen, 
errichten  wir  einen  literarifchen  Klub,  wo  Goethe  der 
Meifter  ift.  Goethe  fagte  mir  neulich:  Nur  zu  hitzig 
wollen  wir  nicht  beginnen;  es  ift  eine  Schande,  bei  fo 
etwas  nicht  Tempo  halten  zu  können.  Lieber  nachher 
im  Eifer  geftiegen,  als  erkaltet.  —  Wenn  wir  jungen  Leute 
um  Goethe  find,  fo  gefällt  mir  das  fo  befonders  an  ihm, 
daß  er  nie  wie  ein  Meifter  zu  den  Jüngern,  fondern  wie 
ein  Freund  zum  Freunde  fpricht  —  eine  Humanität,  die 
feine  Jünger  nur  um  fo  fefier  an  ihn  kettet,  indem  er  es 
nicht  merken  läßt,  daß  wir  Jünger  fein  follen. 

[789.]     Sommer.     Schiller  an  F.  J.  Niethammer. 

Wegen  Ihres  Anliegens  das  Döderleinfche  Monument 
betreffend,  habe  ich  gleich  vorigen  Sommer  mit  Goethen 
gefprochen.  Er  meinte  aber,  daß  es  nicht  fchicklich  fein 
würde,  einem  theologifchen  Gelehrten  ein  Monument  in 
einem  botanifchen  Garten  zu  fetzen.  Deswegen  fehlen 
ihm  der  Vorfchlag  mit  einer  Büfte,  die  in  Jena  und 
Weimar  könnte  aufgeftellt  werden,  viel  ratfamer  zu  fein. 

[790.]     September  5./6.     Ch.  G.  Voigt. 

Nach  des  Herrn  Geheimen  Rats  von  Goethe  Zurück^ 
kunft  habe  ich  über  die  Beilage  umftändlich  konferiert. 
Unfere  gemeinfame  Meinung  war  diefe:    Es  ift  nicht  ge^t 

I 


374 Ch.  G.  Voigt.  [791 

raten,  die  Allgemeine  Literaturzeitung  eine  entfchiedene 
Meinung  in  der  Politik  ergreifen  zu  laffen,  am  wenigften 
wenn  der  Fall  ift,  die  fchwächere  Partei  zu  ergreifen. 
Daher  ift  des  Herrn  Gentz  Plan,  der  franzöfifchen  Eitel^ 
keit,  Intrige,  Übergewalt  ufw.  durch  das  Vehikul  öffent=: 
licher  Blätter  entgegenarbeiten  zu  wollen,  für  ein  gelehrtes 
Blatt  unanwendbar,  welches  durch  Unbefangenheit  und 
Neutralität  allein  beftehen  kann.  Meine  fpezielle  Meinung 
war,  jenen  Gedanken  vorausgefetzt,  doch  etwa  erft,  wenn 
man  des  Herrn  Gentz  Rezenfion  lefen  könne,  fich  zu 
determinieren. 

[791.]     September  Ende.     H.  Voß. 

Goethe  und  Schiller  pflichten  meinem  Urteile  wegen 
Nichtannahme  des  Rufs  an  die  Univerßfät  Würzburg  voll? 
kommen  bei.  Ich  habe  fehr  ernfthaft  mit  beiden  die  Sache 
erwogen.  Beide  fahen,  während  fie  ratgaben,  väterlich 
auf  mein  Beftes.  Goethe  fagte  am  Ende:  Ich  wollte  Sie 
gerne  auch  gegen  meine  Neigung  ziehen  laffen,  wenn  es 
wahrhaft  ein  Glück  für  Sie  wäre.  Jetzt  rate  ich  Ihnen 
als  Vater  und  Freund,  Ihrer  Neigung,  die  ich  anerkenne 
und  heilig  achte,  zu  folgen  und  hier  zu  bleiben. 

[792.]     Erneftine  Voß. 

Als  die  Würzburger  Angelegenheit  fich  zerfchlug, 
war  Voß  [der  Vater]  fehr  gerührt  über  die  herzliche  Freude, 
mit  der  Goethe  diefe  Nachricht  empfing.  Von  neuem 
fuchte  er  feine  Bedenklichkeiten  wegen  der  Penfion  zu 
heben,  und  mancherlei  Pläne  kamen  zur  Sprache,  die  fein 
künftiges  Leben  erheitern  follten. 

[793.]     Oktober  3.     H.  Voß. 

Vor  acht  Tagen  habe  ich  Goethe  einige  Arbeiten  von 
mir  vorgelefen.  Er  fagte  mir  manchen  einzelnen  Einwand. 
Mehrere  Einwendungen  habe  ich  zurückgewiefen,  manche 
mit  Dank  angenommen  und  in  feiner  Anwefenheit  ge? 
ändert,  wo  er  felbft  mir  zum  Teil  die  Änderung  angab. 
Goethe  ift  mit  einer  Rezenfion  befonders  zufrieden,  wie 
er  an  Schiller  und  zum  Teil  auch  mir  felber  gefagt  hat. 
Großes  Vergnügen  machte  ihm  eine  Anmerkung:  Bravo! 
fagte  er,  als  ich  fie  vorgelefen  hatte,  und  klopfte  mir 
freundlich  auf  die  Schultern,  recht  als  wenn  er  im  Herzen 
dächte,   ich  hätte  dir  fo  viel  poetifchen  Scharffinn  nicht 


794]  Weimar.    1804.  375 

zugetraut:  Bravo!  fagte  er  alfo:  wenn  die  G  .  .  aus  ihrem 
Teeklub  kommen,  dann  wiffen  fie  freilich  nicht,  daß  ein 
Sturm  auch  das  Meer  beruhigen  kann. 

[794.]     Oktober  7.     H.  Voß  an  K.  W.  F.  Solger. 

Ich  bin  gewöhnlich  bei  Goethe,  wenn  feine  Familie 
mal  verreift  ift.  Nun  war  Riemer  mit  Auguft  und  der 
Vulpius  nach  Oberweimar  gefahren,  um  dort  einer  Fete 
beizuwohnen.  Goethe  fchickte  alfo  um  5  Uhr  zu  mir, 
ob  ich  nicht  zu  ihm  kommen  und  den  Brunckifchen 
Sophokles  mitbringen  wollte.  Als  ich  zu  ihm  kam,  fand 
ich's  gar  behaghch  bei  ihm.  Er  hatte  eingeheizt,  hatte 
fich  ausgezogen  bis  auf  ein  wollen  Wämschen,  worin  der 
Mann  (ich  gar  prächtig  ausnimmt.  Nun  bot  er  mir  freunde 
lieh  und  liebreich  die  Hand  und  fchüttelte  fie  recht  treu^^ 
herzig.  Jal  fagte  er,  die  Jugend  ift  verreift  und  fpringt 
in  der  Welt  herum,  nun  wollen  wir  Alten  zufammen 
fein.  (Er  weiß  nämlich,  daß  ich  der  alte  Ehrwürdige 
heiße.)  Bis  gegen  7  Uhr  hin  fprachen  wir;  dann  kam 
Licht  und  nun  fingen  wir  an  griechifch  zu  lefen.  Ich 
überfetzte  ihm  erft  den  langen  Chor  aus  der  Elektra.  Und 
dann  fingen  wir  an,  den  König  Odipus  zu  lefen  —  ich 
hatte  Deine  Überfetzung  mitgebracht.  Daraus  hat  Goethe 
mit  inniger  Freude  bis  zum  erften  Chor  mit  lauter  Stimme 
deklamiert.  Der  verfteht'sl  fagte  er  einmal;  aber  er  ift 
noch  glücklicher  Anfänger  in  der  Kunft.  Noch  dröhnt 
mir  in  den  Ohren,  wie  prächtig  er  den  Vers: 

vorzutauchen  ftrebt  bereits 
Umfonft  ihr  Haupt  aus  Tiefen  blut'gen  Wogenfchwalls 

deklamierte,  da  wünfchte  ich,  daß  Dir  die  Ohren  klingen 
möchten,  und  wer  weiß,  ob's  nicht  gefchehn  ift.  ^  Solche 
frohe  Tage  foll  ich  noch  oft  erleben!  Ich  fagt'  es  ihm 
felbft  mal,  wie  es  mich  glücklich  macht,  daß  er  nicht  gleich? 
gültig  gegen  mich  ift,  und  erhielt  ein  treuherziges:  Gutes 
Kind!  mit  Kuß  und  Händedruck  dafür  zur  Antwort.  Ja, 
er  behandelt  mich  wie  einen  zärtlich  geliebten  Sohn.  Schon 
feit  lange  darf  ich  unangemeldet  zu  jeder  Tageszeit,  fo 
oft  ich  will,  zu  ihm  aufs  Zimmer  kommen,  was  wahr? 
haftig  bei  Goethe  nichts  Geringes  ift.  Heute  Morgen  war 
ich  fchon  vor  7  Uhr  bei  ihm.  '^ 

Goethe  ift  jetzt  mit  der  neuen  Ausgabe  feiner  ge? 
famten  Werke  befchäftigt.  Daß  er  den  Götz  von  Ber? 
I 


376 H.  Voß. [795 

lichingen  umgearbeitet  hat,  wird  Dir  bekannt  fein.  Er 
ift  jetzt  fo  angefchwollen ,  daß  die  Aufführung  fechs 
Stunden  währt.  Das  erfiemal  kamen  wir  halb  12  Uhr 
aus  dem  Theater;  jetzt  wird  die  Aufführung  geteih.  Das 
erftemal  gibt  man  drei  Akte  und  dann  vierzehn  Tage 
darauf  die  beiden  andern.  Das  zweitemal  indes  wird  des 
Zufammenhangs  wegen  der  dritte  Akt  repetiert,  fo  daß 
wir  diefen  in  Zukunft  am  öfterften  fehn  werden.  Wie 
ift  der  gute  Papa  jetzt  fröhlich  über  diefes  Stück!  Er 
fagte  mir  neulich:  Die  Narren  (vielleicht  auch  auf  Babo 
hindeutend)  haben  es  fich  recht  angelegen  fein  laffen,  die 
regellofe  Form  meines  alten  Götz  nachzuahmen,  als  ob 
ich  die  mit  Bedacht  gewählt  hätte.  Damals  verfiand  ich's 
nicht  beffer  und  fchrieb  hin,  was  mir  in  den  Sinn  kam. 
—  Denke  Dir,  Solger,  wir  haben  bei  diefer  Gelegenheit 
Hoffnung,  daß  der  ganze  Fauft  erfcheint;  Goethe  wird 
ihn  jetzt  fchwerlich  als  Fragment  drucken  laffen,  befonders 
da  er  fo  manchmal  die  Empfindung  im  Herzen  nährt, 
daß  man  jetzt  eilen  muffe,  bevor  die  ewige  Nacht  eintritt. 

[795.]     qktober  10.     H.  Voß. 

Ich  werde  viel  rezenfieren  und  es  wird  mir  leicht 
werden,  da  ich  in  vielen  Rezenfionen,  z.  B.  in  den  mytho^ 
logifchen,  Goethes  Beiftand  habe.  Noch  heute  morgen 
fagte  er  zu  mir:  Nun  kommen  die  traulichen  Winterabende, 
da  wollen  wir  zufammen  lefen  und  brav  rezenfieren. 

[796.]     Oktober  Mitte.     Schiller  an  Cotta. 

Goethe  denkt  jetzt  an  eine  Herausgabe  feiner  fämt^: 
liehen  Schriften  in  einer  Handausgabe,  ohne  Pracht  und 
Verzierung.  Nach  den  Erkundigungen,  die  ich  darüber 
eingezogen,  ift  er  gefonnen,  das  Werk  fo  zu  verakkor^ 
dieren,  daß  die  fämtlichen  Bände  im  Verlauf  von  dritt;: 
halb  Jahren  erfcheinen  follen  und  in  fünf  Jahren,  von 
Erfcheinung  des  erften  Transports  an  gerechnet,  das 
Recht  einer  neuen  Auflage  an  ihn  heimfallen  foll.  Der 
Verleger  müßte  fich  alfo  freilich  tummeln,  um  in  diefem 
kurzen  Zeitraum  das  Werk  zu  verkaufen.  Wie  ich  ihn 
fondiert  habe,  fo  fcheint  er  nicht  weniger  als  vier  Carolin 
für  den  gedruckten  Bogen  zu  erwarten,  und  er  rechnet 
das  Ganze  auf  etwa  380—400  Bogen.  Einige  ungedruckte 
Sachen  aus  feiner  früheren  Jugend  find  darunter,  auch 
denkt  er  vom  Fauft  foviel  dazu  zu  geben  als  er  fertig 
hat,  wenn  er  auch  nicht  dazu  käme  ihn  ganz  zu  vollenden. 


798]  Weimar.     1804.  377 

[797.]     Oktober.     H.  Voß. 

Delbrücks  Rezenfion  von  der  Eugenie  ift  fehr  brav 
und  hat  Goethe  Freude  gemacht.  Er  fagte  mir:  Nur  an 
einigen  Stellen  hätte  der  Rezenfent  den  Bohrer  noch  ein 
paarmal  umdrehen  muffen,  aber  er  bohrte  doch  wenigftens 
jedesmal  in  der  geraden  Richtung.  —  Goethe  fagte:  Es 
tut  mir  wohl,  doch  jetzt  in  einem  Zeitalter  zu  leben,  wo 
man  gerade  das  verfteht,  was  ich  haben  wollte.  Dann 
fügte  er  hinzu:  Wenn  ich  doch  eine  fo  gründliche  Be^ 
urteilung  vor  fünfundzwanzig  Jahren  an  meinem  Götz  von 
Berlichingen  und  an  meinem  Werther  erlebt  hätte  1  Er 
fand  nicht  daran  Wohlgefallen,  daß  er  war  gelobt  worden, 
fondern  daß  er  war  gründhch  verftanden  worden.  Dann 
fetzte  er  aber  hinzu:  Wenn  nun  ein  Fremder  verftanden 
hat  und  zugleich  billigt,  fo  ift  das  natürUch  eine  doppelte 
Freude. 

[798.]     Oktober  29.     H.  Voß  an  C.  W.  Iden. 

Ich  war  nun  acht  Tage  beftändig  bei  ihm,  und  faft  alle 
Abende  und  Mittage  bei  ihm,  und  die  Zeit  verging  unter 
Gefprächen  und  Griechifchlefen.  Es  ift  eine  Wonne,  mit 
Goethe  zu  lefen;  denn  bei  folchen  Gelegenheiten  tun  fich 
die  Goldgruben  feines  Innern  auf.  Er  ift  recht  wie  in 
dem  arabifchen  Märchen  das  goldene  Baffin  mit  dem 
goldenen  Waffer,  das  in  alle  Regionen  hin  feine  verklärten 
Strahlen  fendet.  Wir  haben  viel  im  Sophokles  gelefen, 
und  der  Sophokles,  durch  Goethes  Geift  belebt,  wird  zu 
einer  Schule  alles  Schönen  und  Trefflichen.  Lieben  Freunde! 
da  faß  ich  recht  in  der  Nähe  des  großen  und  Uebens^s 
würdigen  Mannes;  denn  wir  fahen  aus  Einem  Buche. 
Auf  den  Winter  —  in  meinen  Augen  eine  heilige  Jahres^: 
zeit,  weil  die  ftille  Traulichkeit  mit  dem  Winter  kommt 
—  da  werde  ich  mit  Goethe  viel  gemeinfchaftlich  lefen. 
Goethe  will  nie  Meifter  fein  und  ift  es  darum  um  fo 
ficherer.  Er  verträgt  jeden  Widerfpruch  und  es  ift  nicht 
feiten,  daß  er  in  Disputen  gern  und  willig  nachgegeben 
hat;  denn  manchmal  trifft  auch  mal  folch  ein  Fall  ein, 
daß,  was  der  Prophet  Bileam  nicht  fehen  konnte,  fein 
Efel  fah.  Dabei  ift  Goethe  die  Liebe  felbft  und  fucht 
in  allen  Dingen  und  bei  allen  Menfchen  nur  die  Vorteiles 
haften  Seiten  auf  und  beurteilt  den  Menfchen  nach  dem 
Maßftabe  deffen,  was  er  feiner  innern  Natur  nach  zu 
leiften  imftande  ift.     Wie  kämen  wir   fchwachen  Kinder 


378 H.  Voß. ^ 

des  Staubes  auch  fonft  neben  ihm  zurecht,  wenn  er  diefe 
fchonende  und  hebe  volle  Maxime  nicht  hätte?  —  Wenn 
Du,  liebfier  Iden,  Goethe  je  gefehen  halt,  fo  wirft  Du 
wiffen,  daß  er  Stolbergen  ähnelt.  Sie  könnten  der  Geftalt 
nach  Brüder  fein ;  ihrem  edlen  Wefen  nach  find  fie's ; 
denn  keiner  ift  vollkommener  als  der  andere,  nur  Goethe 
von  einem  noch  erhabeneren  Geifte  befeelt. 

[799.]     November  Anfang.     F.  Kirms. 

Goethe  und  Schiller  hatten  nichts  getan,  um  die 
Großfürftin  im  Theater  gehörig  zu  empfangen.  Neun 
Tage  vorher  disputierte  ich  dem  Goethe  alle  Trugfchlüffe 
weg  und  fo  verfprach  er  mir,  wenn  Schiller  nicht  wolle, 
daß  er  noch  einen  Prolog  liefern  wolle. 

[800.]     November  Anfang.     Schiller. 

Auf  dem  Theater  wollten  wir  uns  anfangs  eben  nicht 
in  Unkoften  fetzen,  fie  zu  bekomplimentieren.  Aber  et:: 
liehe  Tage  vor  ihrem  Anzug  wurde  Goethen  angft,  daß 
er  allein  fich  auf  nichts  verfehen  habe  und  die  ganze 
Welt  erwartete  etwas  von  uns.  In  diefer  Not  fetzte  man 
mir  zu,  noch  etwas  Dramatifches  zu  erfinden,  und  da 
Goethe  feine  Erfindungskraft  umfonft  anftrengte,  fo  mußte 
ich  endlich  mit  der  meinigen  noch  aushelfen. 

[801.]     November.     H.  Voß  an  B.  R.  Abeken. 

Manchmal  geht  es  auch  (dente  Theonino)  recht  über 
Böttiger  her,  oder  über  Afts  Cröfus,  und  da  werden  denn 
die  guten  Leutchen  nicht  bloß  bei  den  Haaren,  fondern 
auch  bei  dem  Felle  gezauft.  Dem  Böttiger  ift  er  fo  gram, 
daß  er  ihm  auch  nicht  ein  gefundes  Haar  läßt.  Sonft  ift 
Goethe  mild  und  fchonend,  nur  gegen  das  kapitale 
Schlechte  ift  er  ftreng  und  unerbittlich,  recht  um  zum 
Erfatze  gegen  das  Gute  recht  vom  Grunde  gerecht  fein 
zu  können.  Du  wirft  bald  in  der  Literaturzeitung  eine 
heftige  Drohung  gegen  mich  von  Dr.  Aft  lefen  für  die 
Rezenfion  feines  Sophokles.  Ich  hatte  fehr  fchneidend 
geantwortet  —  und  gewiß  auch  treffend;  als  ich  es  aber 
Goethen  vorlas,  fchüttelte  er  bedächtig  den  Kopf  und 
fagte:  Ich  muß  es  Ihnen  nur  gerade  herausfagen,  Sie  find 
ein  Hitzkopf.  Wollen  Sie  denn  mit  Gewalt  eine  Feinde 
fchaft  fortfetzen,  die  Ihnen  über  kurz  oder  lang  felbft 
den  Sophokles  verleiden  wird?    Endlich  fagte  er:  Über^s 


803  J  Weimar.     1804.  379 

laffen  Sie  mir  die  Antwort!  Einen  Stoß  foUen  Sie  ihm 
wieder  verfetzen,  aber  nicht  durch  Leidenfchaft,  fondern 
durch  Ruhe.  Glauben  Sie  mir,  fuhr  er  fort,  er  wird  fich 
mehr  ärgern,  wenn  Sie  fich  durch  Ruhe  eine  Superiorität 
gegen  ihn  beilegen,  als  wenn  Sie  mit  gleicher  Leidenfchaft? 
lichkeit  erwidern.  Diefes  erwartet  er,  jenes  wird  ihn 
ftutzig  machen.  Dazu,  fagte  er  endlich,  find  wir  Alten 
ja  da,  daß  wir  die  Jugend  vor  Unbefonnenheiten  warnen; 
als  wir  jung  waren,  machten  wir  es  felbfi  nicht  beffer, 
aber  es  hat  uns  Verdrießlichkeiten  zugezogen  in  zahllofer 
Menge.  Nun,  lieber  Abeken,  follft  Du  Dich  freuen,  wie 
Goethe  den  Afi:  in   meinem  Namen  abgefertigt  hat.  ^^ 

Über  den  ungenannten  Überfetzer  des  ödipus  foU 
Aft  fehr  aufgebracht  fein,  vermutlich  weil  er  ihn  fürchtet. 
Da  mag  fich  Solger  ein  wenig  durch  Goethes  Beifall 
tröften;  denn  Goethe  fagte  neulich,  daß  er  in  diefem  trotz 
aller  Härten  und  Unbiegfamkeit,  die  den  beginnenden 
charakterifierte,  doch  einen  fchönen  Überfetzer  des  Sopho? 
kies  vorausahndete.  Die  rauhen  Ecken  werden  fich  fchon 
abfchleifen,  und  dann,  fagte  er,  haben  wir  einen  Sophokles. 

Ich  habe  in  der  vorigen  Woche  Goethen  einen  Akt 
aus  Richard  III.  metrifch  überfetzt  gebracht,  der  ihm  viele 
Freude  gemacht  hat.  Nun  hat  er  mich  gebeten  den 
Othello  für  die  Bühne  zu  bearbeiten,  wobei  er  mir  hei? 
fen  will. 

[802.]     Dezember  Anfang.     Schiller  an  G.  J.  Göfchen. 

Goethe  hat  fich  mit  großem  Eifer  an  die  Überfetzung 
des  Rameau  gemacht,  und  es  ift  ihm  fo  ernft,  etwas  Gutes 
zu  leiften,  daß  wir  uns  gewiß  ein  vortreffliches  Werk 
verfprechen  können.  In  der  Mitte  des  Januars  könnte  er 
mit  dem  erften  Wurfe  der  Überfetzung  fertig  fein,  und 
dann  könnte  auch  bald  mit  dem  Druck  angefangen  werden. 
Ich  habe  mit  ihm,  nach  Ihrer  Vollmacht,  um  100  Carolin 
gehandelt,  denn  er  wollte  anfangs  noch  höher  hinaus, 
und  —  im  Falle  Sie  mit  dem  Werke  fehr  glücklich  wären 
—  habe  ich  ihm  in  Ihrem  Namen  noch  etwas  extra  ver? 
fprochen,  wenn  es  zu  einer  zweiten  Auflage  kommt. 

[803.]     Dezember  (20).     Schiller  an  G.  J.  Göfchen. 

Goethe,  deffen  Billet  an  mich  ich  beilege,  wünfcht, 
daß  die  Schrift  von  Diderot  nicht  eher,  als  unmittelbar 
ehe  fie  ausgegeben  wird,  angezeigt  werde,  und  daß  man 

I 


380  Schiller.  [804 

das  Publikum  im  eigentlichen  Sinne  damit  überrafche. 
Übrigens  will  er  Ihrem  Wunfeh  gemäß  fich  gern  mit 
feinem  Namen  dazu  bekennen.  Die  Verhältniffe  unferes 
Hofs  mit  H.E.  Grimm  in  Gotha  und  Grimms  mit  den 
Diderotifchen  Erben  machen  jene  kleine  Vorficht  nötig, 
weil  fonft  allerlei  dazwifchen  kommen  könnte. 

[804.]     Riemer. 

Äfchylus  und  Sophokles  führen  den  Pylades  nur 
ftumm  ein.  Oreft  und  Pylades  find  ja  Freunde,  eine 
Seele  in  zwei  Leibern,  alfo  was  der  eine  denkt  und  fagt, 
tut  der  andere  auch. 

Die  alte  Tragödie  bei  Äfchylus  hat  Ähnlichkeit  mit 
den  alten  tragifchen  Balladen,  befonders  den  fchottifchen. 
Vielleicht  ließen  fich  diefe  auf  alte  Weife  zu  Dramen 
machen. 

1805. 

[805.]    Januar  1.     H.  Voß. 

Am  Morgen  des  letzten  Neujahrstages,  den  Schiller 
erlebte,  fchreibt  Goethe  ihm  ein  Gratulationsbillet;  als 
er  es  aber  durchlieft,  findet  er,  daß  er  darin  unwillkür:; 
lieh  gefchrieben  hatte:  der  letzte  Neujahrstag  ftatt  erneute 
oder  wiedergekehrte  oder  dergleichen.  Voll  Schrecken 
zerreißt  er's  und  beginnt  ein  neues.  Als  er  an  die  ominöfe 
Zeile  kommt,  kann  er  fich  wiederum  nur  mit  Mühe  zu^ 
rückhalten,  etwas  vom  letzten  Neujahrstag  zu  fchreiben. 
So  drängte  ihn  die  Ahnung!  Denfelben  Tag  befucht  er 
die  Frau  von  Stein,  erzählt  ihr,  was  ihm  begegnet  fei  und 
äußert:  es  ahne  ihm,  daß  entweder  er  oder  Schiller  in 
diefem  Jahre  fcheiden  werde. 

[806.]    Januar  26.     H.  Voß  an  B.  R.  Abeken. 

Ich  wollte  Du  hättefi  Goethe  den  Abend  gefehn,  als 
er  Hebels  Gedichte  gelefen.  Nach  neun  Uhr  abends  lud 
er  mich  noch  ein.  Und  wenn  Sie  im  Schlafrock  wären, 
fagte  der  Bediente,  Sie  follten  nur  fo  zu  meinem  gnädigen 
Herrn  kommen;  er  muß  Sie  noch  fprechen.  Als  ich  kam, 
fprudelte  ein  ferapiontifcher  Erguß  über  die  Gedichte,  der 
am  andern  Morgen  um  fieben  Uhr  fchon  Rezenfion  war. 


810]     Weimar.     1805. 381 

[807.]    Januar  30.     J.  J.  Gerning. 

Bei  Goethe  war  mir's  geftern  fehr  wohl.  Er  fprach 
von  Freund  Knebels  Unverträglichkeit  und  leichtem  Loss: 
ziehen,  auch  über  ihn  und  bei  Leuten,  wo  er's  nicht  follte. 
Am  Tifch  fagte  er,  daß  er  fich  hier  des  Obftes  enthalte, 
weil  es  fo  feiten  gerate  und  doch  fchlechter  ift  als  am  Main. 
Er  lobte  meine  griechifchen  Münzen  ufw.,  die  Erheiterung 
und  den  Genuß  an  folchen  Dingen,  felbft  wenn  fie  ein 
anderer  befitze;  doch  muffe  man  etwas  davon  haben,  das 
denn  manchmal  differiere.  Kupferfammlungen  feien  wegen 
Allgemeinheit  fo  gut.  Er  fagte  von  dem  Sehen  mit  der 
Lupe:  Man  fieht  nur  was  man  weiß  und  näher  der  Er^ 
kenntnis  gebracht  ift  durch  Überzeugung.  Die  Zerrbilder 
fah  er  nicht  an,  erinnerte  fich  an  Böttiger,  verwies  fie  als 
böfen  Gefchmack  und  Gegenftück  zu  Naturbildern,  und 
als  ich  von  Kotzebue  redete ,  fagte  er :  Weg  mit  Kari*: 
katuren ! 


Januar  Ende.    Henriette  v.  Knebel  an  ihren  Bruder  Karl, 

Wenn  ich  Dir  nur  die  Memoires  von  Marmontel 
gleich  verfchaffen  könnte,  die  wir  jetzt  ^  mit  großem 
Vergnügen  zufammen  lefen.  Wir  dürfen  fie  nicht  lange 
behalten.  Marmontel,  der  von  Natur  fein  jovialifch  und 
gefellig  war,  fieht  den  Rouffeau  ganz  in  fatalem  Licht. 
Goethe,  der  die  Prinzeß  kürzlich  befucht  hat,  fprach  hier:: 
über  recht  gefcheit.  Er  meint,  daß  zwar  die  Freunde, 
die  mit  Rouffeau  in  naher  Verbindung  geftanden  hätten, 
oft  übel  daran  gewefen  wären,  daß  aber  Marmontel  nicht 
hoch  genug  geftanden  wäre,  um  nicht  einfeitig  zu  fehen. 

[809.]     Januar.     K.  v.  Stein. 

Goethe  fcheint  mit  Son  Altesse  Imperiale  (der  Groß:: 
fürftin)  verlegen.  Sie  frug  ihn  nach  den  Regeln  der  Zeit? 
entfernung  als  auch  der  Ortsveränderung  in  den  Akten 
eines  Stückes.  Er  hat  fich  bekanntlich  nicht  fehr  dran 
gebunden:  ich  ftand  neben  ihm,  er  antwortete  undeut:: 
lieh.     Ich  glaube,  er  fpricht  nicht  gern  franzöfifch. 

[810.]     Februar  Anfang.     H.  Voß  an  B.  R.  Abeken. 

Die  drei  letzten  Akte  der  Überfetzung  des  Othello 
las  ich  Goethe  vor.  Am  Ende  der  dritten  Szene  im  drit* 
ten  Akte  rief  er  mir  ein  herzlich  gemeintes  Bravo!  zu, 
I 


382 H.  Voß. ^ [811 

und  da  kannft  Du  leicht  denken,  daß  ich  nicht  mit  kal? 
tem  Herzen  weiter  las.  Goethe  will  es  haben,  daß  ich 
den  Lear  überfetzen  foll  und  vor  einigen  Tagen,  als  ich 
Deinen  Brief  empfing,  erzählte  ich  ihm,  daß  ich  von  Bers 
lin  aus  Hilfe  erwartete.  Bei  der  Gelegenheit  fagte  er: 
es  könnten  allerdings  mehrere  an  einem  Werke  überfetzen, 
nur  fei  dann  notwendig,  daß  die  einzelnen  Teile  nicht  an# 
einandergereiht,  fondern  daß  fie  von  einem  einzigen  redij: 
giert  und  zur  Einheit  verbunden  würden;  wo  er  denn 
offenbar  recht  hat. 

[811.]     Februar  8.  u.  f.  T.     H.  Voß. 

Denfelbigen  Abend  kam  Stark,  Profejfor  der  Medizin, 
aus  Jena  (es  war  am  Freitag  Abend),  der  erklärte,  wenn 
Goethe  bis  Sonntag  früh  lebte,  fo  fei  Hoffnung  da.  ~ 
Aber  ^^  fchon  in  diefer  Nacht  hatte  die  Krankheit  um^ 
gefchlagen,  die  Krämpfe  hatten  nachgelaffen,  das  Fieber 
war  fanfter  gewefen  und  der  Geliebte  hatte  über  die  Hälfte 
der  Nacht  ruhig  gefchlafen.  Um  1 1  Uhr  forderte  er  mich 
zu  fich,  weil  er  mich  in  drei  Tagen  nicht  gefehn  hatte. 
Ich  war  fehr  bewegt,  als  ich  zu  ihm  trat  und  konnte  aller 
Gewalt  ungeachtet,  die  ich  mir  antat,  die  Tränen  nicht 
zurückhalten.  Da  fah  er  mir  gar  freundlich  und  herz^ 
lieh  ins  Geficht  und  reichte  mir  die  Hand  und  fagte  die 
Worte,  die  mir  durch  Mark  und  Gebein  gingen:  Gutes 
Kind,  ich  bleibe  bei  Euch;  Ihr  müßt  nicht  mehr  weinen. 
Da  ergriff  ich  feine  Hand  und  küßte  fie  wie  inftinkt;: 
mäßig  zu  wiederholten  Malen,  aber  ich  konnte  keinen 
Laut  fagen.  ^ 

Von  dem  Tage  an  ift  Goethe  zufehends  beffer  ges: 
worden.  Die  Nacht  vom  Sonnabend  bis  zum  Sonntag 
wachte  ich  bei  ihm  und  da  hab'  ich  recht  die  Fortfehritte 
beobachten  können,  die  er  machte.  Als  er  um  12  Uhr 
zum  erfienmal  aufwachte,  fragte  er  mit  ängftlicher  Stimme: 
Hab'  ich  auch  wieder  im  Schlaf  gefprochen?  Wohl  mir, 
daß  ich  mit  gutem  Gewiffen  der  Wahrheit  gemäß  ver? 
neinen  konnte,  was  ich  jedenfalls  gelogen  hätte.  Gut! 
fagte  er  nach  einer  Paufe,  das  ift  wieder  ein  Schritt  zur 
Befferung.  —  Wenn  ich  ihm  dann  recht  fchmeichelte,  fo 
nahm  er  jedesmal  ganz  geduldig  feine  Medizin,  aber  mit 
innerer  Überwindung.  Nun  follte  ich  ihm  aber  auch  den 
Leib  mit  fcharfem  Spiritus  einreiben  und,  wie  der  Arzt 
befohlen  hatte,    zweimal   des  Nachts.     Dazu  konnte  ich 


811]  Weimar.     1805.  383 

ihn  nur  mit  Mühe  bringen.  Wie  ich  aber  gar  nicht  ab:: 
laffen  wollte  und  immer  mehr  fchmeichelte,  fagte  er  end:: 
lieh  ganz  ruhig:  Nun  denn,  im  Namen  Gottes!  Dann 
wachte  er  einmal  von  einem  Traum  auf,  wo  er  einem 
Turniere  beigewohnt  hatte.  Diefen  Traum  erzählte  er 
mir  mit  großer  Freude,  und  in  dem  Augenblicke  war  er 
an  energifchem  Ausdruck,  an  Lebendigkeit,  ganz  Goethe, 
trotz  feiner  Krankheit.  Über  alles  rührte  mich  feine  wirk:: 
lieh  väterliche  und  zärtliche  Fürforge  für  mich  (ob  ich 
mir  nun  nicht  den  Kaffee  machen  wollte  —  nun  nicht 
ein  Glas  Wein  trinken  wollte  ufw.),  wobei  er  mich  denn 
immer  fein  gutes  Voßchen  nannte.  Wenn  er  denn  wie:: 
der  einfchlief  und  fein  Geficht  matt  beleuchtet  wurde, 
fchien  er  mir  immer  fo  leidend  auszufehen  wie  einer,  der 
eben  anfängt,  fich  aus  einem  unermeßlichen  Jammer  her^ 
auszuarbeiten  und  noch  die  Spuren  davon  in  feinen  Mie:: 
nen  trägt.  Da  fielen  mir  denn  die  Erzählungen  von  den 
fröhlichen  Taten  feiner  kraftvollen  Jugend  ein,  die  ich  fo 
manches  Mal  angehört  hatte,  und  ich  konnte  nicht  um:: 
hin,  beide  Zuftände  mit  ihren  fchärfften  Kontraften  zu:: 
fammenzuhalten.  ^^ 

Zwei  Tage  nach  jener  Nacht  ftand  er  zum  erftenmal 
wieder  auf  und  aß  ein  gefottenes  Ei.  Bald  fing  er  auch 
wieder  an,  fich  vorlefen  zu  laffen.  Nur  hielt  hier  die 
Befriedigung  fchwer:  Goethe  verlangte  launige  Sachen, 
und  Du  weißt,  daß  die  keiner  heutzutage  fchreibt.  Ich 
brachte  ihm  Luthers  Schriften  und  las  ihm  daraus  vor. 
Das  ließ  er  fich  gefallen  eine  Stunde  lang.  Aber  da  fing 
er  auch  zu  wettern  und  zu  fluchen  an  über  die  verfluchte 
Teufelsimagination  unferes  Reformators,  der  die  ganze 
fichtbare  Welt  mit  dem  Teufel  bevölkerte  und  zum  Teufel 
perfonifizierte.  Bei  der  Gelegenheit  hielt  er  ein  fchönes 
Gefpräch  über  die  Vorzüge  und  Nachteile  der  Reforma:: 
tion  und  über  die  Vorzüge  der  katholifchen  und  prote:: 
ftantifchen  Religion.  Ich  gab  ihm  vollkommen  recht,  wenn 
er  die  proteftantifche  Religion  befchuldigte,  fie  hätte  dem 
einzelnen  Individuum  zu  viel  zu  tragen  gegeben.  Ehe:: 
mals  konnte  eine  Gewiffenslaft  durch  andere  vom  Ge:s 
wiffen  genommen  werden,  jetzt  muß  fie  ein  belaftetes 
Gewiffen  felbft  tragen  und  verliert  darüber  die  Kraft,  mit 
fich  felber  wieder  in  Harmonie  zu  kommen.  Die  Ohren:: 
beichte,  fagte  er,  hätte  dem  Menfchen  nie  follen  genommen 
werden.  Da  fprach  der  Mann  ein  herrliches  wahres  Wort 
I 


384 H.  Voß. [812 

aus,  wie  mir  in  dem  Augenblick  recht  anfchaulich  wurde. 
Ich  felbft  bin  in  dem  Fall  gewefen.  Als  im  vorigen  Som^: 
mer  fich  alles  vereinigte,  mich  von  Weimar  weg  nach 
Würzburg  ziehn  zu  wollen,  da  fand  ich  nirgends  Troft, 
folang'  ich  auf  meinem  Zimmer  war;  jedesmal  aber,  wenn 
ich  zu  Goethe  kam  und  ihm  mein  ganzes  Herz  (felbft 
alle  Schwächen  meiner  Innerlichkeit)  wie  einem  Beichte 
vater  ausfchüttete ,  fo  ging  ich  wie  mit  neuem  Mut  ge? 
kräftigt  in  meine  Einfamkeit  zurück,  und  ich  werde  ihm 
diefe  Wohltat  an  mir  mein  Leblang  danken.  ^^ 

Den  Tag  darauf,  nachdem  Goethe  den  Luther  ge? 
noffen  hatte,  ließ  er  ihn  zur  Tür  heraustransportieren,  — 
Nun  lieft  Goethe  die  Cervantifchen  Novellen,  die  ihm 
Freude  machen. 

[812.]     Februar  24.     H.  Voß  an  B.  R.  Abeken. 

Als  ich  geftern  Abend  Deinen  Brief  abbrach,  ging 
ich  zu  Goethe,  wo  ich  Fernow  und  Meyer  (den  Schweiz 
zer)  fand.  Da  haben  wir  dem  alten  guten  Papa  aus  den 
franzöfifchen,  englifchen  und  italienifchen  Miszellen  vor? 
gelefen.  Er  kam  wieder  auf  feine  Krankheit  zu  reden; 
da  fagte  er:  Ich  habe  da  ein  Experiment  gemacht,  das 
beinahe  fchlimm  abgelaufen  wäre.  —  Was  er  am  Othello 
bewundert,  ift  die  unendliche  Regelmäßigkeit  des  Plans 
und  die  große  Wahrheit  in  den  Charakteren  der  Haupt? 
perfonen.  Vom  Caffio  fagte  er:  Er  ift  betrunken,  aber 
nur  foweit  als  fich  noch  Liebenswürdigkeit  mit  diefem 
Zuftande  verträgt.  Dann,  fagte  er,  hätte  es  ihm  immer 
Bewunderung  abgezwungen,  wie  es  nur  möglich  gewefen 
wäre,  mit  einem  fo  hohen  Intereffe  eine  fo  einfache  Be? 
gebenheit  fünf  Akte  hindurch  auszufpinnen.  Shakefpeare, 
fagte  er  einmal,  fei  der  erfie  Genius  gewefen,  den  die 
Natur  getragen  hätte,  und  man  könne  es  nicht  begreifen, 
wenn  man's  nicht  felber  erlebt  hätte. 

[813.]     März  Anfang.     H.  Voß. 

Der  Othello  foll  nun  aufgeführt  werden.  ^ 

Goethe   fagte   neulich:     er  wäre  recht  froh,    daß   er 

mal  wieder   ein  Stück   von  Shakefpeare   fehn   follte.     Er 

hat  nun  meinen  Othello  ganz  gelefen  und  fagte  mir,  ich 

hätte  in  der  Überfetzung  alle  feine  Wünfche  befriedigt. 


816]  Weimar.    1805. 385 

[814.]     (März.)     H.  Voß. 

Goethe  arbeitet  an  der  Ausgabe  feiner  fämtlichen 
Schriften.  Auch  an  feiner  Optik  arbeitet  er,  um  nichts 
unvollendet  zurück  zu  laffen,  und  doch  ift  bei  ihm  des 
Unvollendeten  noch  fehr  viel  und  wird  es  auch  bleiben. 
'^  Riemer  und  ich  haben  hiebei  auch  unfer  Gefchäft  be^ 
kommen.  Mir  hat  Goethe  ein  Exemplar  von  Herrmann 
und,  Dorothea  gegeben,  mit  Papier  durchfchoffen.  Ich 
foll  die  Hexameter  muftern  und  alle  meine  Einfälle  unter 
den  Namen  Änderungen  und  Vorfchläge  beifchreiben. 
Darauf  wollen  wir  Konferenzen  halten  und  über  die  Les^^ 
arten  debattieren. 

[815.]     April  Anfang.     H.  Voß. 

Ick  habe  Goethes  Hermann  und  Dorothea  fchon  in 
beffere  Hexameter  umgefchmolzen,  wozu  ich  vierzehn  an:s 
geSfengte  Tage  gebraucht.  Goethe  hat  mir  feinen  Bei:= 
fall  gegeben  und  mich  gelobt,  daß  ich  fo  fchonend  ver^ 
fahren  und  nie  dem  Charakter  Abbruch  getan;  er  meinte: 
ich  habe  ihm,  wenige  Stellen  ausgenommen,  nichts  hinein^ 
gebracht,  was  feinem  Geifte  fremd  wäre.  Er  hat  mir  fchon 
andere  Sachen  aufgegeben,  und  ich  werde  auch  noch  wohl 
den  Reinecke  Fuchs  durchzunehmen  bekommen.  Nun 
werde  ich  all  dies  noch  mit  ihm  gemeinfchafthch  durchs: 
gehn,  worauf  ich  mich  unfäglich  freue. 

[816.]     Riemer. 

Einen  profodifchen  Fehler,  einen  Vers  mit  überzahl 
ligem  Halbfuß,  nämlich 

Ungerecht  bleiben  die  Männer  und  die  Zeiten 
der  Liebe  vergehen 

rügt  das  Morgenblatt  von  1808,  Nr.  123,  mit  Bedauern, 
daß  der  Vers  unverbeffert  geblieben,  aber  —  fetzen  wir 
hinzu  —  mit  Bewußtfein  und  Abficht  in  die  letzten  Auss= 
gaben  mit  eingewandert.  Ich  hatte  Goethen  bereits  auf? 
merkfam  darauf  gemacht,  weil  aber  der  Vers  ohne  fein 
proverbialifches  Anfehn  zu  verlieren  und  eine  gewiffe 
grata  negligentia  einzubüßen,  nicht  wohl  zu  ändern  war; 
ich  mich  auch  erinnerte,  daß  F.  A.  Wolf,  einmal  von 
diefem  Verfe  fprechend,  ihn  nicht  nur  entfchuldigt,  fon? 
dern  auch  durch  homerifche  Beifpiele  erläutert  habe:  fo 
1  25 


386 Riemer. [817 

ließen  wir  ihn  ftehen  oder  hingehen.  Nun  machte  fpäter 
auch  H.  Voß,  der  Sohn,  auf  ihn  aufmerkfam,  und  Goe^ 
the  foll,  wie  jener  erzählt,  gefagt  haben:  die  fiebenfüßige 
Beftie  möge  als  Wahrzeichen  ftehen  bleiben. 

[817.]     April  um  24.     Schiller  an  G.  J.  Göfchen. 

Goethe  wünfcht,  daß  die  Anmerkungen  zu  Rameaus 
Neffe  merklich  enger  als  der  Text  und  zwar  in  einen 
Continuo  gedruckt  werden,  fo  daß  mit  einem  neuen  Ar^s 
tikel  nicht  auch  eine  neue  Seite  angefangen  wird,  wie  im 
Manufkript.  Nach  diefer  Schätzung  werden  diefe  Noten 
gegen  drei  Bogen  füllen. 

Nach  vollendetem  Druck  bittet  fich  G.  fein  Manu? 
fkript  wieder  aus;  auch  wünfchte  er  bald  mögUchft  eine 
korrekte  Abfchrift  des  franzöfifchen  Originals  zu  befitzen. 

[818.]     April  25.     Schiller. 

Goethe  war  fehr  krank  an  einer  Nierenkolik  mit  hef:; 
tigen  Krämpfen,  welche  zweimal  zurückkehrte;  Dr.  Stark 
zweifelt,  ihn  ganz  herfiellen  zu  können.  Jetzt  hat  er  fich 
wieder  ganz  leidlich  erholt;  er  ging  foeben  aus  meinem 
Zimmer,  wo  er  von  einer  Reife  nach  Dresden  fprach,  die 
er  diefen  Sommer  zu  machen  Luft  hat.  Arbeiten  kann  er 
in  feinen  jetzigen  Gefundheitsumftänden  freilich  nicht,  und 
gar  nichts  vornehmen  ift  wider  feine  Natur.  So  ift  ihm 
am  heften  geraten,  wenn  er  unter  Kunftanfchauungen  lebt, 
die  ihm  einen  gebildeten  Stoff  entgegenbringen. 

[819.]     März/ April.     Riemer. 

Ein  andermal  fagte  Goethe:  Er  hätte  den  Einfall  ge? 
habt,  auf  die  Mineralogen,  zu  der  Zeit,  wo  fie  in  allen 
Gegenden  mit  Hämmern  herumgingen  und  an  die  Steine 
fchlugen,  ein  Bild  zeichnen  zu  laffen,  wo  ihrer  zwei  von 
entgegengefetzten  Seiten  an  einen  Fels  kämen  und  daran 
fchlugen.  Der  Felfen  fpränge  und  nun  erblickten  fich  die 
Herren  ftaunend  und  grimaffierend.  —  Er  erzählte  dies 
mit  feinem  gewöhnlichen  humoriftifchen  Tone  und  der 
kleinen  Andeutung  von  Geft,  die  er  in  folchen  Fällen 
fich  erlaubte. 

[820.]     Mai  erfte  Hälfte.     H.  Voß. 

In  der  letzten  Krankheit  Schillers  war  Goethe  un? 
gemein  niedergefchlagen.    Ich  habe  ihn  einmal  in  feinem 


820]  Weimar.     1805.  387 

Garten  weinend  gefunden;  aber  es  waren  nur  einzelne 
Tränen,  die  ihm  in  den  Augen  blinkten:  fein  Geift  weinte, 
nicht  feine  Augen  und  in  feinen  Blicken  las  ich,  daß  er 
etwas  Großes,  Überirdifches,  Unendliches  fühlte.  Ich  er^ 
zählte  ihm  vieles  von  Schiller,  das  er  mit  unnennbarer 
Faffung  anhörte.  Das  Schickfal  ift  unerbittlich  und  der 
Menfch  wenig!  Das  war  alles,  was  er  fagte  und  wenige 
Augenblicke  nachher  fprach  er  von  heitern  Dingen.  Aber 
als  Schiller  geftorben  war,  war  eine  große  Beforgnis,  wie 
man  es  Goethe  beibringen  wollte.  Niemand  hatte  den 
Mut,  es  ihm  zu  melden.  Meyer  war  bei  Goethe,  als 
draußen  die  Nachricht  eintraf,  Schiller  fei  tot.  Meyer 
wurde  hinausgerufen,  hatte  nicht  den  Mut,  zu  Goethe 
zurückzukehren,  fondern  ging  weg  ohne  Abfchied  zu  nehs: 
men.  Die  Einfamkeit,  in  der  fich  Goethe  befindet,  die 
Verwirrung,  die  er  überall  wahrnimmt,  das  Beftreben,  ihm 
auszuweichen,  das  ihm  nicht  entgehen  kann  —  alles  diefes 
läßt  ihn  wenig  Tröftliches  erwarten.  Ich  merke  es,  fagt 
er  endlich,  Schiller  muß  fehr  krank  fein,  und  ift  die  übrige 
Zeit  des  Abends  in  fich  gekehrt.  Er  ahnte,  was  gefchehen 
war;  man  hörte  ihn  in  der  Nacht  weinen.  Am  Morgen 
fagt  er  zu  einer  Freundin /C/irz/^iane  Vulpius] :  Nicht  wahr, 
Schiller  war  geftern  fehr  krank?  Der  Nachdruck,  den  er 
auf  das  fehr  legt,  wirkt  fo  heftig  auf  jene,  daß  fie  fich 
nicht  länger  halten  kann.  Statt  ihm  zu  antworten,  fängt 
fie  laut  an  zu  fchluchzen.  Er  ift  tot?  fragt  Goethe  mit 
Feftigkeit.  Sie  haben  es  felbfi:  ausgefprochen,  antwortet 
fie.  Er  ift  tot!  wiederholt  Goethe  noch  einmal  und  be^ 
deckt  fich  die  Augen  mit  den  Händen.  —  Um  10  Uhr 
fehe  ich  Goethe  im  Park  gehen;  ich  hatte  aber  nicht  den 
Mut,  ihm  zu  begegnen.  Drei  Tage  lang  bin  ich  ihm  aus^ 
gewichen;  am  vierten  paßte  ich  die  Zeit  ab,  wo  er  auf 
die  Bibliothek  gegangen  war.  Ich  folgte  ihm,  wünfchte 
ihm  einen  guten  Morgen  und  fing  wohl  zehn  bibliothe^ 
karifche  Fragen  an,  bei  denen  ich  fo  wenig  etwas  dachte, 
als  Goethe  bei  feinen  Antworten,  die  er  mit  fichtbarer 
Geiftesabwefenheit,  aber  mit  der  größten  fcheinbaren  Ge:: 
fchäftigkeit  mir  gab.  Er  hatte  nachher  gefagt:  es  wäre 
ihm  lieb  gewefen,  daß  ich  ihm  nichts  von  Schiller  gefagt 
hätte,  er  wäre  fchwerlich  gefaßt  gewefen,  mir  mit  Ruhe 
darauf  erwidern  zu  können.  —  Jetzt  fpricht  Goethe  fehr 
feiten  von  Schiller,  und  wenn  er  es  tut,  fo  fucht  er  die 
heitern  Seiten  ihres  fchönen  Zufammenlebens  auf. 
I  25* 


388  K.  F.  A.  Conta.  [821 

[821.]     Mai  10.     K.  F.  A.  Conta. 

Meyer  befand  fich  bei  Goethe,  als  die  Nachricht  von 
Schillers  Tod  ihm  gebracht  wurde.  Nun,  fo  ifi  denn  wie? 
der  einer  dahin  gegangen,  war  alles,  was  Goethe  über 
diefen  Todesfall  äußerte. 

[822.]     Mai  11.     Charlotte  v.  Stein. 

Goethe  ift  völlig  wieder  hergeftellt  und  kommt  jetzt 
öfter  zu  mir.  Schiller  bleibt  ihm  ein  unerfetzlicher  Ver:; 
luft.  Er  fprach  heute  fo  fchön  und  original  über  den 
phyfifchen  und  geiftigen  Menfchen,  daß  ich's  hätte  mögen 
gleich  aufgefchrieben  haben. 

[823.]     Mai  11.     Überlieferung. 

Karl  von  Stein  erinnerte  fich  noch  fpät,  v  on  feiner 
Mutter  gehört  zu  haben,  daß  Goethe,  als  diefe  ihn  bes^ 
reden  wollte,  die  Leiche  Schillers  zu  fehen,  ausgerufen 
habe:    Nein!    die  Zerftörungl 

[824.]     Mai  12.     Riemer. 

Von  dem  Eindruck,  den  Schillers  Ableben  auf  ihn 
gemacht,  ließ  er  fich  nichts  merken.  ^  Den  Tag  über 
durfte  niemand  davon  reden.  Am  dritten  Tage  fprach  er 
zuerft  felbfi:  mit  mir  von  dem  Verluft,  den  die  Literatur 
erlitten,  was  Schiller  noch  alles  vorgehabt  zu  tun  und  zu 
leiften.  —  Vorigen  Abend  aber  befiel  ihn  fein  alter  Seiten:^ 
fchmerz,  doch  nicht  fo  ftark,  wie  das  vorige  Mal.  Er 
hat  auch  gefchlafen  und  will  nur  heute  noch  fich  ruhig 
verhalten.     Morgen  wieder  ad  laborem. 


Nachlefe  zum  fünften  Abfchnitt 

Zeitlich  nicht  näher  beftimmbar. 

[825.]     Riemer. 

Goethe  wollte  in  den  Unterhaltungen,  wie  er  mir  fagte, 
eine  Art  von  Taufend  und  einer  Nacht  liefern,  fo  näm;; 
lieh,  daß  eine  Erzählung  durch  die  andere  hervorgerufen 
würde;  dankte  aber  zuletzt  Gott,  daß  er  bis  an  das  Mär^j 
chen  kam. 


828] 1801/1805. 389 

[826.]     Händel. 

Nie  werde  ich  der  Stunde,  der  Tage  vergeffen,  wo 
ich  als  Knabe,  als  Spielgefährte  Auguft  von  Goethes  — 
des  biedern,  freundlichen  Sohnes  Goethes  —  im  Vereine 
mit  den  beiden  Söhnen  Schillers,  unter  den  Augen  und 
in  Gegenwart  diefer  unfierblichen  Dichter,  fo  manchmal 
bei  dem  lärmenden  Treiben,  das  wir  oft  über  die  Gebühr 
vollführten,  den  faft  gleichmäßigen  Ausruf:  Jungens!  macht 
doch  keinen  fo  entfetzlichen  Spektakel!  ertönen  hörte. 
Wie  oft  hat  in  fpäterer  Zeit  mein  freundlicher  Vater  und 
Gönner,  oder  vielmehr  mein  väterlicher  Freund  Goethe, 
mich  an  jene  Zeit  erinnert,  mit  der  Frage:  Wiffen  Sie 
noch,  wie  Ihr  Euch,  Sie  Auguft,  Ernft,  Friedrich  und  die 
V.  E.  in  meinem  Garten  meinen  Götz  von  Berlichingen 
zum  Exerzitium  nahmt;  wie  Ihr  in  tollem  Wahne  das 
Stück  im  Freien  verlebendigen  wolltet! 

[827.]     Nach  mündlicher  Mitteilung  einer  Tochter  Karl  Schäffers. 

Karl  Schäffer,  ein  Sohn  des  weimarifchen  Stiftspredi^s 
gers,  war  als  Knabe  ein  Spielkamerad  von  Goethes  Arn: 
guft.  Einfi  waren  die  Jungen  an  einem  kalten  Tage  im 
Haufe  des  Geheimrats  und,  da  fie  froren,  kamen  fie  auf 
die  Idee,  (ich  in  aller  Stille  Holz  heraufzuholen  und  den 
Ofen  zu  heizen.  Wie  fie  grade  darüber  waren,  ihr  Feuer* 
chen  anzublafen,  trat  Vater  Goethe  herein;  die  Knaben 
erfchraken,  aber  ftatt  der  erwarteten  Schelte  hörten  fie 
freundliches  Lob.  Das  fei  recht  von  ihnen,  daß  fie  nicht 
erfi:  zu  Vater  oder  Mutter  gelaufen  und  über  die  Kälte 
geklagt  hätten,  folche  Jungen  müßten  fich  fchon  felber 
gegen  das  Unbehagliche  zur  Wehr  fetzen  und 

Mit  einem  Herren  fieht  es  gut, 
der,  was  er  befohlen,  felber  tut. 

[828.]     L.  Robert. 

Als  ich  einft,  ich  glaube  im  Jahr  1804,  bei  Goethe 
zu  Tifch  war,  kamen  Almanache,  der  Chamiffoj^Varn:; 
hagenfche  war  auch  darunter,  und  Goethe  nahm  einen 
nach  dem  andern,  hielt  fie  an  feine  und  feiner  Frau  Ohren 
und  fragte:  Hörft  du  was?  Ich  höre  nichts.  Nun,  wir 
wollen  die  Kupfer  betrachten,  das  ift  doch  das  Befte.  Und 
fo  legte  man  die  Almanache  beifeite. 
I 


590 K.  L.  V.  Knebel. [829 

[829.]     Überlieferung  der  Familie  K.  L.  v.  Knebels. 

Während  eine  lebhafte  Unterhaltung  Jenen/er  Freun= 
de  im  Haufe  Knebels  die  Geifter  völlig  in  Anfpruch  ge^ 
nommen  hatte,  war  draußen  der  erfte  Schnee  gefallen. 
Plötzlich  bemerkte  Goethe  das  überrafchend  veränderte 
Bild,  und  von  deffen  Schönheit  mächtig  ergriffen,  fchlug 
er  vor,  jeder  folle  ein  Gedicht  darauf  machen.  Knebel 
trat  an  das  Fenfter,  blickte  eine  Zeitlang  finnend  hinaus 
über  den  Garten,  das  Tal,  zu  den  Bergen  —  überall  dies: 
felbe  blendend  weiße,  weiche  Hülle  von  frifch  gefallenem 
Schnee.  Er  nahm  ein  Blatt  Papier  zur  Hand  und  fchrieb 
das  '^  Diftichon: 

Tritten  des  Wandrers  über  den  Schnee  fei  ähnlich  mein 

Leben, 
Es  bezeichne  die  Spur,  aber  beflecke  fie  nicht. 

nieder,  und  Goethe,  der  andere  fo  gern  anerkannte,  war 
fo  entzückt  davon,  daß  er  ausrief:  Knebel,  für  diefes 
Diftichon  gab'  ich  einen  Band  meiner  Werke  hin! 

[830.]     K.  L.  V.  Weltmann. 

Ich  hatte  Goethe  nur  einmal  gefehen,  fagte  die 
Gräfin  unter  andern,  fo  war  ich  fchon  inne  geworden, 
daß  beinahe  alles,  was  man  ihm  für  Unart  und  Eigen;: 
finn  auslegt,  ein  inneres  Bangen  feiner  Natur  fei.  Die 
Angft,  von  welcher  das  Genie  in  Verhältniffen,  die  allen 
andern  Menfchen  leicht  und  handlich  find,  oft  ergriffen 
wird,  und  die  uns  Rouffeau  fo  überaus  beredt  gefchildert 
hat,  leidet  mein  Lieblingsdichter  im  Leben  unbefchreiblich. 
Man  glaubt  es  ihm  nicht,  weil  er  in  vielen  Dingen  fo 
ftark  ift,  weil  er  fo  manches,  das  andre  Menfchen  wie 
eine  ungeheure  Laft  drückt,  leicht  handhabt  und  bes: 
wegt.  Ift  nur  ein  Menfch  gegenwärtig,  faft  hätte  ich 
gefagt,  nur  ein  Körper,  der  mit  feiner  phyfifchen  Natur 
in  gar  keiner  Wahlverwandtfchaft  fteht,  fo  ift  dadurch 
fein  Genie  wie  gelähmt.  Da  er  zugleich  die  menfch^ 
liehe  Freiheit  ftark  in  fich  fühlt,  wird  er  verdrießlich, 
angftvoll,  daß  er  über  diefe  Lähmung  nicht  Herr  werden 
kann.  Ich  geftehe,  daß  es  mich  gefchmerzt  hat,  ihn  fo 
zu  fehen,  wenn  die  andern  über  feinen  vermeintlichen 
Hochmut  und  feine  Eigenfucht  erbittert  waren.  Man  wird 
um  fo  leichter  über  ihn  irre  geführt,  weil  er  nie  fein  Her;; 
kommen  aus  einer   angefehenen   und  obrigkeitlichen  Fa:; 


830]  1801/1805.  391 

milie  einer  freien  Reichsftadt  in  feiner  äußern  Haltung 
verleugnet  hat.  Das  Leben  an  einem  kleinen  Hofe  diente 
zur  Bewahrung  diefer  reichsbürgerlichen  Feierlichkeit,  und 
Repräfentation  ward  bei  ihm  zur  Folie  derfelben.  Behält 
er  denn,  fragte  ich,  diefes  repräfentative  Wefen  des  Reichsj: 
bürgers  auch  in  feiner  Freude  und  Freundlichkeit,  auch 
während  der  freien  Ergießung  feiner  Natur?  und  wie 
fehr  muß  dann  deren  geniale  Schönheit  durch  folche  be^; 
engende  Steifheit  leiden. 

Mit  nichten,  entgegnete  die  Gräfin  rafch,  und  die 
flüchtigfte  Röte  ging  über  ihr  Geficht,  wie  bei  der  Haft 
holder  Frauen  in  Verteidigung  von  etwas,  was  ihnen  fehr 
lieb  ift.  Wenn  Goethe  fich  froh  feiner  Natur  überläßt, 
fo  ift  es  wirklich,  als  wenn  die  Sonne  aufgeht.  Vor  feinem 
Licht  verfchwindet  immer  mehr  alle  Schranke,  und  in 
feinem  Auge,  feiner  Stirn,  feinen  Zügen,  die  fich  immer 
mehr  erweitern,  liegt  gleichfam  das  Univerfum.  Dennoch 
ift  wahr,  felbft  wenn  feine  Natur  in  ihrer  heitern  Fülle 
waltete,  fteckte  bisweilen  etwas  wieder  hervor,  das  mich 
an  den  Schultheißen  von  Frankfurt  erinnerte.  Mich  dünkt, 
es  war  in  folchen  Augenblicken,  wo  viel  einzelnes  in 
feiner  Seele  erft  zu  einem  Allgemeinen  werden  wollte. 
Aber  dann  freute  ich  mich  der  rechtlichen  Menfchheit 
mitten  unter  feiner  dämonifchen  Gewalt;  und  wenn  er 
auch  des  einzelnen  noch  nicht  ganz  habhaft  war,  dann 
wohl  mit  der  Hand  griff,  als  wollte  er  Bilder  greifen, 
fehen  Sie,  dann  hat  er  mich  felbft  kindlich  gerührt.  Das 
fcheint  mir  überhaupt  in  Goethes  Perfönlichkeit  wie  in 
feinen  Werken  die  am  meiften  durchgehende  Eigentum? 
lichkeit,  daß  man  fieht,  wie  das  Einzelne  in  ihm  zum  All? 
gemeinen  und  das  Allgemeine  zum  Einzelnen  wird.  Ich 
habe  ihn  einige  Male  mit  Schiller  zufammengefehn  und 
ich  würde  fagen,  durch  den  Gegenfatz  diefer  Natur  hätte 
ich  ihn  erft  ganz  gefaßt,  wenn  ich  nicht  fchon  den  An? 
fang  eines  Spottes  um  Ihren  Mund  fähe.  ^ 

Schiller  ift  eigentlich  ein  Denker,  und  Goethe  ein 
Dichter.  In  jenem  war,  über  wie  tiefe  Sachen  fich  das 
Gefpräch  verbreitete,  immer  alles  fertig,  und  ich  habe  nie 
bemerkt,  daß  er  mit  feinen  Gedanken  in  irgend  eine  Ver? 
legenheit  kam;  und  in  meinem  Liebling  wurde  alles,  man 
fchuf  mit  ihm,  wenn  jener  nur  gab. 

Man  hat  mir  gleichwohl  viel  von  der  Freundfchaft 
der  beiden  Männer  gefagt.  Die  war  fehr  fchön  und  hatte 
I 


392 K.  L.  V.  Woltmann. [830 

einen  großen  Charakter.  Keiner  ordnete  fich  dem  andern 
unter,  und  wenn  Schiller  wohl  fühlte,  daß  die  bildende 
Kraft  in  feinem  Freunde  unendlich  größer,  wie  in  ihm 
fei,  wenn  er  im  eigentlichften  Sinne  glaubte  an  die  däf 
monifche  Gewalt  desfelben:  fo  trat  Goethe  mit  Ehrfurcht 
in  das  Gebiet  der  hohen  Ideen,  worin  Schiller  feine  Hei^^ 
mat  hatte.  Mir  fchien  freilich  nicht,  daß  er  eben  den 
Dichter  in  dem  Freunde  bewunderte,  und  am  wenigften 
den  dramatifchen.  Ich  merkte  felbfi,  als  ich  einft  fallen 
ließ,  ob  deffen  Wallenftein  denn  etwas  wirkliches  Lebens 
diges,  feine  Darfiellung  ein  Werk  des  dramatifchen  Ge? 
nius  fei?  daß  über  Goethes  Geficht  ein  Erröten  der  Über^ 
rafchung  ging,  ein  Ausdruck,  der  gutmütig  fragte,  warum 
man  ihm  feine  geheimfie  Überzeugung  entlocken  wolle? 
Und  fo  bin  ich  überzeugt,  daß  er  nicht  einmal  feinen 
Freund  nur  habe  ahnen  laffen,  wie  er  über  den  Dichter 
Schiller  denke.  Überhaupt  ifi  der  zarten  Schonung,  der 
Gutmütigkeit  in  Goethe  weit  mehr,  als  die  Menfchen 
glauben,  und  ich  meine,  daß  in  feinem  Charakter  viel 
weniger  Härte  fei,  als  in  Schillers.  Doch  es  ift  freilich 
leichter,  keine  Härte  an  fich  hervortreten  zu  laffen,  wenn 
man  in  Lebensfülle,  reicher  Wohlbehaglichkeit  und  rüftiger 
Gefundheit  blüht,  was  doch  im  ganzen  von  Goethe  gilt, 
als  wenn  ein  ftarker  Geift  feinem  Körper,  in  welchem 
das  Leben  untergraben  ifi,  die  lebendigfte  Anfirengung 
abtrotzen  muß. 


Sechftes  Buch 

Von  Schillers  Tode  bis  zum 
Erfurter  Kongreß 


1805  Mai  bis  Oktober  1808 


1805. 

[831.]     Mai  (13).     Riemer. 

Mit  Goethe  ficht  es  gut.  Er  arbeitet  alle  Morgen 
(unter  uns!)  an  feiner  Optik  und  ich  bin  ihm  treu  dabei 
behilflich.  Die  Krankheit  fcheint  fich  einen  ordentlichen 
Ausweg  verfchafft  zu  haben,  der,  wenigfiens  nach  des 
jungen  Starks  Verficherung,  unfchädlich,  ja  unfchuldig 
ift.  Meyer,  Fernow  und  ich  find  abwechfelnd  feine  Unter;; 
haltung  in  den  Stunden  der  Abfpannung  und  Erholung, 

[832.]     Mai  Mitte.     A.  Genaft. 

Am  Tage  nach  Schillers  Tod  war  die  Bühne  gefchloffen  ge? 
wefen  und  dies  in  der  darüber  erlaffenen,  wohl  von  Kirms  ver? 
faßten  Bekanntmachung  durch  die  traurige  Stimmung  der  Schau* 
fpieler  begründet  worden. 

Einige  Zeit  darauf  führten  mich  dringende  Gefchäfte 
zu  Goethe;  mit  Zittern  und  Zagen  trat  ich  den  Weg  an. 
Er  empfing  mich  mit  ernfter  Miene,  äußerte  aber  kein 
Wort  über  Schillers  Dahinfcheiden.  Als  ich  feine  Be^ 
fehle  eingeholt  hatte,  wollte  ich  mich  entfernen,  da  rief 
er:  Noch  einsl  Sagt  dem,  der  die  fonderbare  Annonce 
über  den  Tod  meines  Freundes  verfaßt  hat,  er  hätte  es 
follen  bleiben  laffen.  Wenn  ein  Schiller  ftirbt,  bedarf 
es  dem  Publikum  gegenüber  wegen  einer  ausgefallenen 
Theatervorfiellung  keiner  Entfchuldigung. 

[833.]     Mai  18.     H.  Voß. 

Nach  Schillers  Tode  habe  ich  mit  Goethe  einen  Auf? 
tritt  erlebt,  den  ich  nie  vergeffen  werde.  Er  hatte  einen 
kleinen  Rückfall  von  feinem  Übel  gehabt  und  ging  zum 
erftenmal  im  Park  fpazieren,  wo  ich  ihm  begegnete.  An 
dem  Tage  hatte  er  durch  Riemer  erfahren,  daß  mein  Vater 
nach  Heidelberg  gehn  würde.  Seine  Krankheitsfchwäche, 
Schillers  Tod  und  der  Verlufi  meines  Vaters  —  alles  lag 
I 


396 H.  Voß. [854 

fchwer  auf  feinem  Gemüt;  er  fing  mit  einer  Heftigkeit  an 
zu  reden,  bei  der  ich  vor  Entfetzen  erftarrte:  Schillers 
Verlufi,  fagte  er  unter  anderm,  und  dies  mit  einer  Donner;^ 
ftimme,  mußte  ich  ertragen;  denn  das  Schickfal  hat  ihn 
mir  gebracht;  aber  die  Verfetzung  nach  Heidelberg,  das 
fällt  dem  Schickfal  nicht  zur  Laft,  das  haben  Menfchen 
vollbracht.  Ich  vermochte  ihm  nicht  zu  antworten,  aber 
nie  habe  ich  einen  größern  Jammer  gefühlt,  als  in  diefem 
Augenblick.  Wir  gingen  wohl  fünf  Minuten  fiumm  neben^ 
einander.  Endlich  ergriff  er  meine  Hand  mit  einer  leiden? 
fchaftlichen  Heftigkeit  und  drückte  und  fchüttelte  fie,  wie 
er  es  nie  getan. 

[834.]     Mai  18.     H.  Voß. 

Abends  befuchte  ich  die  Vulpius;  die  fagte  mir,  er 
fei  noch  auf  feinem  Zimmer  eine  Zeitlang  bewegt  ge? 
wefen.  Unter  anderm  hatte  er  gefagt:  Voß  wird  feinem 
Vater  nach  Heidelberg  folgen  und  auch  Riemern  wird 
man  über  kurz  oder  lang  wegziehn,  und  dann  fteh'  ich 
ganz  allein. 

[835.]    Juni  27.     K.  L.  v.  Knebel. 

Goethe  war  geftern  hier  in  Jena  nebft  dem  Geheimrat 
Jacobi,  der  nach  München,  als  Präfident  der  dortigen 
Akademie  der  Wiffenfchaften  geht.  Wir  waren  den  größten 
Teil  des  Abends  bei  Voß  zufammen,  und  der  Abend  hat 
mir  einen  Teil  meiner  bisherigen  Freudenlofigkeit  abgeftreift, 
da  unter  zufammengeftimmten  Menfchen  wirklich  eine 
Art  neuen  Lebens  entfteht.  Goethe  fcheint  mir  den  Reft: 
feiner  Tage  bloß  dem  Gebrauch  und  zur  Vollendung 
feiner  Geiftesarbeiten  verwenden  zu  wollen,  welches  denn 
fehr  rühmlich  ift. 

[836.]     Juni  Ende.     K.  A.  Varnhagen  v.  Enfe. 

Als  Friedrich  Heinrich  Jacobi  im  Jahre  1805  nach 
München  reifte,  kam  er  auch  durch  Weimar  und  fprach 
bei  Goethen  ein,  der  ihn  mit  alter  Freundfchaft  empfing 
und  fich  traulich  mit  ihm  hinfetzte.  Manches  alte  Thema 
wurde  hervorgerufen  und  befprochen,  wobei  fchon  einige? 
mal  Goethe  über  den  Standpunkt  und  die  Meinungen 
Jacobi's  fehr  den  Kopf  fchütteln  mußte.  Als  fie  aber 
allein  geblieben  waren,  kam  Jacobi  mit  der  vertraulichen 
Anfrage:  Goethe  möchte  ihm  doch  nun  einmal  unter  vier 


838]  Weimar  -  Lauchltädt.     1805. 397 

Augen  offen  und  wahr  bekennen,  was  er  mit  feiner 
Eugenie  eigentlich  gewollt  habe.  Goethen  war  es,  wie 
er  nachher  felbft  geftand,  als  wenn  man  ihm  einen  Eimer 
kalt  Waffer  übergöffe;  er  fah  plötzlich  eine  nie  zu  füllende 
Kluft  zwifchen  fich  und  jenem,  einen  Abgrund  ewigen 
Mißverftehens,  und  dabei  war  das  Begehren  fo  dumm 
und  albern.  Doch  faßte  er  fich,  und  um  nur  den  Freund 
und  den  Abend  leidlich  abzutun,  fagte  er  begütigend: 
Lieber  Jacobi,  laffen  wir  das!  Das  würde  uns  für  heute 
zu  weit  führen.  Ein  andermal,  wenn  es  fich  fo  fügen 
will.     Und  fing  fogleich  ein  anderes  Gefpräch  an. 

[837.]     Juni  Ende.   H.  Voß  an  B.  R.  Abeken  und  K.  W.  F.  Solger. 

Ich  habe  in  diefen  vierzehn  Tagen  ein  Gefchäft  eig? 
ner  Art,  das  mich  ganz  befchäftigt  und  dem  ich  felbfi: 
nur  die  Augenblicke  abftehle,  wo  ich  an  Euch  fchreibe. 
Goethe  hat  mir  die  Umarbeitung  von  Hermann  und  Doro^^ 
thea  aufgetragen,  und  ich  darf  ändern,  wo  und  wie  viel 
ich  will.  Dazu  hat  er  mir  fein  Manufkript  gegeben,  wo 
die  einzelnen  Verfe  fo  weit  von  einander  abfiehen,  daß 
ich  viel  dazwifchen  fchreiben  kann.  Ich  war  anfangs 
fchüchtern_dah£L_doch  nun  habe  ich,  da  er  es  nicht  anders 
haben  will,  auch  toll  hineinkorrigiert.  Nicht  bloß  be:; 
gangene  Sünden,  fagte  er,  fondern  auch  die  Unterlaffungs^ 
fänden  fuchen  Sie  zu  tilgen.  Nun  lege  ich  jeden  Hexa;^ 
meter  auf  die  Goldwage  und  fehe  zu,  das  Gedicht  auch 
in  diefer  Hinficht  vollkommen  zu  machen,  ohne  daß  die 
naive  Sprache  und  die  vollendete  Diktion  dabei  einbüßt, 
Goethe  ift  jetzt  in  Lauchfi:ädt;  ich  geb'  ihm  alle  Wochen 
Rechenfchaft,  wie  weit  ich  gekommen  bin,  und  wenn  er 
zurückkommt,  da  wollen  wir  das  Gedicht  noch  einmal  ge? 
meinfchaftlich  durchgehn.  ^  Goethe  ifi:  mit  dem  Anfang 
meiner  Arbeit,  den  er  nur  gefehn  hat,  zufrieden  und  fagte : 
fie  wäre  befonnen  und  mit  Eindringung  in  feinen  Sinn  ge^j 
arbeitet,  und  dies  Zeugnis  macht  mir  Mut,  unverdroffen 
fortzufahren. 

[838.]     Juli.     E.  W.  Weber. 

So  kam  auch  Johann  Friedrich  Lortzing  aus  der  König^^ 
ftadt  in  Berlin,  wo  fein  Vater  Kaufmann  war,  im  Juni  1805 
nach  Lauchftädt  und  wurde  dafelbft  von  Goethe  in  dem 
Saale  des  alten  Schloffes  geprüft.  In  diefer  Prüfung  ließ 
der  Meifter  den  jungen  Künftler  einige  Proben  feiner  Kunft 
I 


398 H.  Voß. [839 

ablegen,  um  feine  Befähigung  zum  Schaufpieler  in  ver* 
fchiedenen  Richtungen  kennen  zu  lernen,  und  hörte  ihn 
aufmerkfam  an,  bald  in  feine  Nähe,  bald  in  die  Ferne  des 
Saales  tretend:  Nun  gut,  fprach  Goethe,  ich  fehe  fchon, 
Sie  find  gut  geübt,  und  was  mir  lieb  ifi,  das  Wort  mit 
feinem  Ton  und  Akzent  ift  Ihnen  wichtig,  und  wer  das 
Wort  zu  feinem  Rechte  bringt,  macht  wefentlich  die  Dich? 
tung  geltend.  Sie  follen  an  unferm  Theater  eine  Rolle 
finden.  Lieb  ifi  es  mir  auch,  daß  Sie  fich,  wie  ich  höre, 
anfänglich  der  Malerkunfi  widmeten  und  deshalb  die  Zei? 
chen?  und  Bauakademie  Ihrer  Vaterfiadt  befuchten.  Denn 
da  haben  Sie  Ihr  Auge  frühzeitig  daran  gewöhnt,  die 
Merkmale  der  Gegenfiände  aufzufaffen  und  zu  unter? 
fcheiden  und  manches  Schöne  in  der  Natur  und  Kunfi 
wird  Ihnen  aufgefchloffen  fein. 

Weil  Lortzing  durch  äußere  Vorzüge,  Jugend,  Geftalt, 
durch  eine  freundliche  Erfcheinung,  durch  ein  wohlklingen? 
des,  etwas  weiches  Organ,  fowie  durch  ein  höfliches  Be? 
nehmen  und  gefellige  Tournure  als  Darfieller  unterftützt 
wurde,    befiimmte  ihn  Goethe  für  die  Liebhaber  rollen. 

[839.]     JuH.     H.  Steffens. 

Goethe  war  von  Weimar  nach  Halle  herübergekommen, 
und  zwar  um  Gall  zu  hören.  Er  war  auch  in  Halle  oft  mein 
Zuhörer  gewefen,  aber  unfichtbar.  '^  In  der  an  das  Audi= 
tovium  angrenzenden  Stube,  dicht  an  diefer  verfchloffenen 
Tür,  faß  nun  Goethe,  ohne  daß  ich  es  wußte.  '^  Goethe 
faß  nun  unter  den  Zuhörern  Galls  auf  eine  höchfi  im? 
ponierende  Weife.  Selbfi  die  fiille  Aufmerkfamkeit  hatte 
etwas  Gebietendes,  und  die  Ruhe  in  den  unveränderten 
Gefichtszügen  konnte  dennoch  das  fteigende  Intereffe  an 
der  Entwickelung  des  Vortrages  nicht  verbergen.  Rechts 
neben  ihm  faß  Wolf  und  links  Reichardt.  Gall  ^  fprach 
zuerfi  von  folchen  Schädeln,  die  keine,  in  einer  Richtung 
ausgezeichnete  Erhebung  darfiellen,  wohl  aber  ein  fchönes, 
bedeutendes  Ebenmaß  aller;  und  ein  lehrreiches  Exem? 
plar  eines  folchen  Gebildes  erkannte  man,  wenn  man  den 
Kopf  des  großen  Dichters  betrachtete,  der  feine  Vorträge 
mit  feiner  Gegenwart  beehrte.  Das  ganze  Auditorium  fah 
Goethe  an.  Er  blieb  ruhig,  ein  kaum  bemerkbares  vorüber? 
gehendes  Mißvergnügen  verlor  fich  in  einem  unterdrückten 
ironifchen  Lächeln,  aber  die  fiille,  unbewegliche  imponie? 
rende  Ruhe  feiner  Gefichtszüge  ward  dadurch  nicht  gefiört. 


841] Halle.     1805. 599 

[840.]     (Juli.)     H.  Laube.     Nach  Mitteilung  eines  Ungenannten. 

Goethe:  Von  Galls  Vortrag  ift  man  im  ganzen  wohl  zu^ 
frieden.  Ift  er  gleich  nicht  immer  ftreng  logifch  geordnet, 
und  laufen  gleich  zuweilen  entbehrliche  excursus  mit  unter, 
fo  ift  er  doch  immer  nicht  nur  unterhaltend,  fondern  auch 
belehrend.  Ich  habe  den  Schlüffel  zu  manchen  von  mir 
gemachten  Beobachtungen  gefunden.  Auch  ift  mir  Galls 
Organenlehre,  ob  wir  gleich  noch  nicht  an  das  Detail  ge^ 
kommen  find,  doch  fchon  ziemlich  klar  und  fcheint  mir 
fehr  annehmlich.  Das  den  Schädel  ein  wenig  empor;; 
treibende  kleine  Partikelchen  Hirn  tut's  freilich  nicht,  fon? 
dern  der  gefamte  Teil  des  Nervenfyftems,  der  in  jenem 
Partikelchen  endet.  Ich  ftelle  mir  es  fo  vor:  wenn  wir 
einen  Schädel  in  den  Händen  haben  und  auf  ein  an  dem? 
felben  befindliches  fogenanntes  Organ  hinabfehen,  fo 
blicken  wir  aus  der  Höhe  auf  einen  belaubten  Wipfel 
eines  Baumes,  deffen  Äfte  wir  aus  unferem  Standpunkt 
nicht  bemerken  und  noch  weniger  (den  hier  in  Rücken?: 
mark  eingehüllten)  Stamm  fehen  können.  Aber  wenn  ich 
aus  meinem  Fenfter  meiner  oberften  Etage  auf  einen  tief 
darunter  ftehenden  Baum  hinabfehe,  fo  unterfcheide  ich 
gewiß  fehr  richtig  an  der  Belaubung  des  Wipfels,  ob  der 
Baum  in  gefundem  fiarkem  Trieb  ftehe,  oder  ob  er  am 
Stamm  den  Brand  habe,  an  der  Wurzel  von  Waffer? 
mäufen  angenagt  fei  u.  dgl.  Selbft  die  einzelnen  kränkeln? 
den  oder  gefunden  Äfte  erkenne  ich  fo  von  oben  herab 
fehr  ficher  an  der  Befchaffenheit  ihrer  Belaubung.  Nicht 
als  wenn  die  Kraft  des  Baumes  von  dem  üppigen  Laube 
abhinge,  fondern  ich  dort  oben,  der  ich  nicht  hinabfteigen 
und  Stamm  und  Wurzel  unterfuchen  kann,  erkenne  nur 
die  kräftige  und  kränkelnde  Vegetation  am  Laube  des 
Wipfels. 

1841.]     Juli  (21).     E.  Schleiermacher. 

Gleich  nach  meiner  Rückkunft  nach  Halle  fah  ich 
Goethe  noch  eine  Stunde  bei  Wolf,  den  Tag  darauf  ging 
er  nach  Läuchftädt.  Vorgeftern,  13.  Augufl,  war  ich  auf 
einem  großen  Diner  mit  ihm  bei  Wolf.  ^  Er  war  gleich 
das  erfte  Mal  fehr  freundlich  mit  mir,  aber  freilich  ins 
rechte  Sprechen  bin  ich  noch  nicht  mit  ihm  gekommen; 
denn  damals  war  Gall  an  der  Tagesordnung,  und  neu? 
lieh  waren  gar  zu  viel  Menfchen  da. 

I 


400 E.  Schleiermacher. [842 

[842.]     Juli  (21).     E.  Schleiermacher. 

Als  bei  dem  erflen  Befuch  Mine  Wolf  herüberging, 
ihm  zu  fagen,  ich  wäre  da,  lag  er  auf  dem  Bette  und  las 
und  fagte:  Ei,  das  ifi  ja  ein  edler  Freund,  da  muß  ich 
ja  gleich  kommen.  Und  fo  kam  er  denn  auch  bald  und 
nahm  mich  wie  einen  alten  Bekannten  und  ich  auch  fo ; 
denn  man  kann  das  fehr  bald.  Worüber  ich  am  liobn 
fien  mit  ihm  fpräche,  darauf  bin  ich  noch  nicht  gekom? 
men;   er  war  eben  damals  von  Gall  und  Schiller  voll. 

[843.]     Juli/Auguft.     A.  Carus  an  K.  A.  Böttiger. 

Gern  hätte  ich  Ihnen  erzählt,  wie  Jacobis  wieder;; 
holte  Unterhaltungen  in  Leipzig  mir  in  Lauchfiädt  Goethes 
Bekanntfchaft  zuführten,  von  dem  ich  ein  ganz  anderes 
Bild  mir  gemacht  hatte,  und  mit  dem  ich  dort  in  fo  lange 
und  mir  fo  intereffante  Verhandlungen  über  Äfthetik  und 
Philofophie  verflochten  wurde,  daß  wir  nicht  zu  Ende 
kamen  und  er  mir  fogar  bei  feiner  erften  Reife  nach  Leip;? 
zig  einen  Befuch  ankündigte. 

[844.]     Augufi  Anfang.     Riemer. 

Goethe  ift  wohl  und  feine  Gefundheit  fcheint  als 
wolle  fie  von  nun  an  befiändiger  bleiben.  Die  Dufch^s 
bäder  bekommen  ihm  fehr  wohl.  Er  hält  auf  Diät  und 
ißt  des  Abends  nichts,  außer  Tee  und  vielleicht  fpäter:* 
hin  eine  Suppe.  Aber  lange  wird  es  wohl  nicht  dauern: 
denn  der  Hausgeift  wird  ihm  fo  lange  zureden,  daß  der 
Tee  ihn  fchwäche  und  er  etwas  Ordentliches  genießen 
muffe  ufw.,  wie  wir  es  fchon  erlebt  haben. 

[845.]     Auguft  (10).     B.  R.  Abeken. 

Die  Schaufpielerin  Wolf  erzählte  ~  einmal  ^,  als 
fie  den  Epilog  zu  Schillers  Glocke  bei  Goethe  einübte^ 
daß  er  bei  einem  befonders  treffenden  Worte  fie  faßte, 
mit  den  Worten:  Ich  kann,  ich  kann  den  Menfchen 
nicht  vergeffenl  fie  unterbrach  und  eine  Paufe,  um  fich 
zu  erholen,  verlangte. 

[846.]     Auguft  Mitte.     F.  Weitze. 

Henke,  Goethe  und  Wolf  hatten  fich  vereinigt,  um 
dem  Herrn  von  Hagen  in  Nienburg  einen  Befuch  zu 
machen.  ^^ 


846]  Nienburg.     1805.  401 

Als  der  Wagen  vorfuhr,  ging  der  Herr  von  Hagen 
den  dreien  entgegen  und  rief  ihnen  zu:  Willkommen, 
willkommen,  Ihr  Erften  bei  einem  der  erfien  Eurer  Ver^s 
ehrer I  Seine  Augen  funkelten  dabei  vor  Freude  und  Be* 
wegung.  Goethe  fchien  anfangs  etwas  zurückhaltend  und 
gemeffen,  aber  er  taute  immer  mehr  auf,  als  er  fah,  wel:^ 
chen  regen  Geift  und  welch  redliches  Gemüt  er  vor  fich 
hatte.  Er  wurde  auf  eine  Art  gefprächig,  wie  ich  es  noch 
von  keinem  gehört,  fo  inhaltsreich  und  doch  fo  einfach 
und  fo  darftellend  war  feine  Mitteilung.  Er  fprach  unter 
anderm  über  Gebirgsfchönheiten  und  Ausfichten  und  was 
fie  bedinge;  über  Farben,  Licht  und  Schatten  und  über 
Landfchaftsmaler,  und  ich  brauche  gewiß  nicht  erft  zu 
verfichern,  daß  alle  mit  gefpannter  Aufmerkfamkeit  ihm 
zuhörten.  Einige  frappante  Witze,  welche  der  Wirt  da^: 
zwifchen  fchleuderte,  brachten  ihn  zum  lauten  Lachen. 

Herr  von  Hagen  wagte  fogar  mit  Goethe  zu  dispu:; 
tieren.  Er  behauptete  als  Kantianer,  daß  eine  Perfon, 
welche  die  Erfüllung  des  kategorifchen  Imperativs  in  fich 
darftelle,  zugleich  als  fittlich  vollendetfter  Charakter,  der 
höchfte  Gegenfiand  fchöner  Darftellung  fei,  weil  die  wahre 
Größe  ftets  zugleich  eine  fittliche  fein  muffe.  Dem  wider^^ 
fprach  Goethe.  Die  vollendete  fittliche  Größe,  fagte  er, 
ift  in  keinem  Individuo  der  Menfchheit  vorhanden,  wird 
alfo  nur  gedacht  und  nirgend  angefchaut.  Eben  deshalb 
liegt  ihre  Schilderung  über  das  Intereffe  hinaus,  in  wel;: 
chem  fich  die  Schönheit  kund  gibt  und  welches  nie  die 
Sinnlichkeit  unberührt  läßt.  Eine  folche  Darfi:ellung,  wie 
Sie  fich  denken,  enthält  lauter  Licht  ohne  Schatten  und 
läßt  kalt.  Es  gibt  eine  dämonifche,  ja  diabolifche  Größe. 
Es  ift  unrecht,  fich  immer  die  Größe  als  etwas  an  fich 
Exiftierendes  zu  denken  und  nicht  vielmehr  als  Begreis: 
fung  des  Eindrucks,  der  auf  uns  gemacht  wird,  der  aber 
bei  derfelben  Perfon  oder  Sache  nicht  immer  notwendig 
immer  wieder,  fondern  nur  unter  befiimmten  Umftänden 
und  gegebenen  Bedingungen  derfelbe  ift,  weshalb  fie  fo^^ 
gar  in  fchillernden,  fchnell  wechfelnden,  ineinander  fließen:^ 
den  Farben  und  Tönen  fich  darftellen  können.  Der  kans: 
tifche  Imperativ  fetzt  die  Menfchen  autonomifch  und  auto:« 
kratifch  voraus,  in  welchen  die  Leidenfchaften  kaum  ents: 
ftehen,  viel  weniger  fiegen  können.  Nun  aber  fehen  wir 
die  Menfchen  oft  in  der  Gewalt  unfichtbarer  Mächte,  denen 
fie  nicht  widerftehen  können,  die  ihnen  ihre  Richtung 
I  26 


402 F.  Weitze. [846 

geben;  und  oft  fcheinen  ihre  Neigungen  und  Handlungen 
in  einem  über  alles  Gefetz  hinausliegenden  Gebiete  will? 
kürlich  zu  walten.  Alles,  auch  das  fittlich  Abnormfte, 
bietet  eine  Seite  dar,  von  wo  es  als  groß  erfcheinen  kann. 
Auch  auf  objektive  und  fubjektive  Darfiellung  kam  die 
Rede.  Wolf  behauptete,  bei  den  Griechen  habe  fowohl 
bei  den  Dichtern  als  bei  den  Rednern  der  heften  Zeit 
die  objektive  Darftellung  vorgeherrfcht ,  weil  die  Objekt 
tivität  zur  Subjektivität  nicht  des  Individuums  bloß,  fon? 
dern  der  Nation  geworden  fei;  als  die  Nation  diefe  Rieh? 
tung  verloren,  fei  immer  mehr  das  Individuellfubjektive 
hervorgetreten.  '^  In  Beziehung  auf  poetifche  Behandlung 
philofophifch  ?  religiöfer  Gegenftände,  welche  Goethe 
einen  widerfirebenden  Stoff  nannte,  kam  die  Rede  auf 
Tiedge,  den  der  Wirt  kannte  und  an  welchem  er  Wohl? 
laut  und  Mufik  der  Sprache  lobte.  Ein  nicht  gedrucktes, 
wirklich  fchönes  Gedicht,  welches  er  einft  von  dem  Dich? 
ter  erhalten  hatte,  trug  er  mit  bewundernswertem  Wohl? 
klänge  und  richtigfter  Betonung  vor.  Das  nahm  Goethe 
mit  großer  Freude  auf,  bemerkte  aber  einige  Stellen,  wo 
der  alte  Herr  doch  gefehlt  hatte.  Herr  von  Hagen  fagte: 
Die  Urania  gefällt  mir  nicht:  als  Philofophen  ftört  mich 
die  Poefie  und  bei  der  Poefie  fperrt  fich  der  Stoff,  der 
fich  mir  immer  in  philofophifcher  Reinheit  entgegendrängt. 
Stoff  und  Gewand  gehören  hier  nicht  zufammen;  es  ift 
mir  dabei  fo,  als  wollte  ich  dort  dem  Apoll  oder  dort 
der  Venus  (er  wies  auf  zwei  im  Saale  befindliche  Karton? 
ftatuen)  ein  Kleid  von  Drapd'or  anziehen.  Goethe  gab 
diefem  Einfalle  feinen  Beifall. 

Am  Abende,  als  die  Gefellfchaft  fich  in  Gruppen 
verteilte,  würdigte  mich  Goethe  einer  kurzen  Unterhai? 
tung.  Er  hatte  zufällig  gehört,  daß  ich  jetzt  hier  Reli? 
gionsunterricht  gebe;  da  erzählte  er  mir,  daß  fein  Sohn 
^  von  Herdern  konfirmiert  und  vorher  unterrichtet  wor? 
den  fei.  Ich  habe  bei  diefer  Gelegenheit,  fagte  er,  felbft 
zugehört  und  auf  den  Lehrgang  geachtet.  Licht  und  Finfter? 
nis,  Gutes  und  Böfes  im  Menfchen,  im  Zwiefpalte  und 
in  Mifchung,  war  die  Grundlage.  Dann  folgte  die  Lehre 
von  des  Menfchen  Freiheit  und  Sittlichkeit  als  Befiimmung 
und  feine  Hilfsbedürftigkeit.  Daraus  ward  die  Notwendig? 
keit  der  Erlöfung  und  Befeligung  dargetan  und  diefe  als 
in  Jefu  erfchienen  nachgewiefen.  Was  mir  dabei  fehr  ge? 
fiel,  war,  daß  alles  dem  Konfirmanden  fo  hingehalten  und 


846]  Nienburg.     1805.  403 

überall  fo  klar  dargeftellt  wurde,  daß  er  immer  felbfi  das 
Rechte  erkennen  und  bei  fleh  felbfi  fefiftellen  konnte.  Es 
war  eine  Vollfiändigkeit ,  welche  keinen  Fehlgriff  oder 
Zweifel  aufkommen  ließ;  überall  fiand  die  Frage  vor 
ihm:  ob  er  dem  Lichte  oder  der  Finfiernis  angehören 
wollte,  f^ 

Am  fpätern  Abend  fetzte  fich  die  Gefellfchaft  noch? 
mals  zu  Tifche  —  mehr  der  Unterhaltung,  als  des  Effens 
wegen.  Der  Wirt  gab  eine  für  die  feltenfien  Gäfte  gt^ 
fparte  Flafche  zum  befien;  er  bemerkte,  daß  diefe  Flafche 
ein  Jahr  älter  fei,  als  Goethe  und  er  felbfi:  beide  waren 
1749  geboren.  Henke,  der  gerade  etwas  an  Halsfchmerzen 
litt,  hatte  wenig  Wein  getrunken  und  wollte  zu  Abend 
durchaus  keinen  mehr  trinken,  fondern  hatte  fich  ein  Glas 
Bier  erbeten.  Da  wollte  ihn  der  heitere  Wirt  auf  feine 
Weife  bewegen,  feine  Rarität  auch  zu  kofien;  es  entfiand 
ein  Spaß  daraus,  der  viel  Heiterkeit  erzeugte.  Der  Herr 
von  Hagen  ernannte  nämlich  Goethen  zum  Gefetzgeber 
und  Kampfrichter  gegen  Henke:  Es  hilft  nichts,  Hoch^s 
würden:  Sie  muffen  fich  heute  der  Exzellenz  unterwerfen. 
Da  diktierte  Goethe,  jeder  folle,  wie  er  es  am  befien  könne, 
Henke  einladen  und  treiben,  den  Wein  zu  kofien.  Der 
alte  Herr  hier,  fagte  er  zu  Hagen,  von  dem  ich  höre, 
daß  er  ein  fefier  Kantianer  fei,  muß  es  in  Form  eines 
Syllogismus  tun,  dem  Henke  nichts  anhaben  kann;  Wolf 
muß  ihn  in  einer  griechifchen  Rede  im  anakreontifchen 
Ton  auffordern.  Hierauf  fah  er  mich  an;  ich  verneigte 
mich  mit  den  Worten:  Ich  komme  bei  dem  Sympofion 
folcher  Männer  nicht  in  Betracht.  Aber  das  ließ  der 
Wirt  nicht  gelten,  fondern  fprach:  Ei  was!  der  Herr  macht 
Verfe;  geb*  er  fein  Scherflein  auch.  —  Nun  gutl  fagte 
Goethe,  fo  fchmieden  Sie  fchnell  ein  Difiichon.  Henke 
aber  mag  fich  verteidigen,  aber  nur  in  lateinifcher  Rede, 
die  ihm  ja  fo  fehr  zu  Gebote  fieht.  —  Nein,  fagte  Henke, 
da  fitzt  der  Mann  (auf  Wolf  zeigend),  der  eine  fünfte 
Fakultät,  die  philologifche ,  geftiftet  hat;  der  läßt  mir 
nicht  ein  Wort  paffieren.  Es  wäre  Verwegenheit,  mit 
theologifchem  Latein  vor  ihm  zu  erfcheinen.  —  Wenn 
das  erfie  Glas  getrunken  und  das  zweite  eingefchenkt  ifi, 
fagte  Goethe,  muß  jeder  fertig  fein,  und  wenn  Henke 
überwunden  wird,  trinken  wir  mit  ihm  auf  feine  Ge:: 
fundheit. 

I  26* 


404  B.  R.  Abeken.  [847 

[847.]     (September).     B.  R.  Abeken. 

Die  Schaufpielerin  Wolff  erzählte  mir  einmal  (1809), 
fie  habe,  da  fie  die  Eugenie  habe  fpielen  follen,  bei 
Goethe  in  feinem  Zimmer  allein  Lefeprobe  gehabt.  Als 
fie  an  das  Ende  des  vorletzten  Monologs  gekommen: 

Und  wenn  ich  dann  vom  Unbill  diefer  Welt 
Nichts  mehr  zu  fürchten  habe,  fpült  zuletzt 
Mein  bleichendes  Gebein  dem  Ufer  zu, 
Daß  eine  fromme  Seele  mir  das  Grab 
Auf  heim'fchem  Boden  wohlgefinnt  bereite  — 

habe  Goethen  fein  Gefühl  bewältigt;  mit  Tränen  im  Auge 
habe  er  fie  innezuhalten  gebeten. 

[848.]     Oktober  3.     Prinz  Ludwig  Ferdinand  von  Preußen. 

Ich  habe  nun  Goethen  wirklich  kennen  gelernt;  er 
ging  gefi:ern  noch  fpät  mit  mir  nach  Haufe,  und  faß  dann 
vor  meinem  Bette;  wir  tranken  eine  Flafche  Champagner, 
und  er  fprach  ganz  vortrefflich]  herrlich  deboutonnierte 
fich  feine  Seele;  er  ließ  feinem  Geifte  freien  Lauf;  er  fagte 
viel,  ich  lernte  viel,  und  fand  ihn  ganz  natürlich  und 
liebenswürdig. 

[849.]     November  7.     H.  Voß. 

Goethe  fagte  mir  vorgefi:ern,  ich  hätte  mich  feit  der 
Othelloüberfetzung  recht  herausgemeiftert,  und  es  mache 
ihm  Freude,  daß  ich  mich  durch  diefe  Überfetzung  als 
einen  würdigen  Shakefpearelefer  legitimiert  hätte.  Er  ließ 
auch  eine  Flafche  Wein  holen,  die  wir  der  Überfetzung 
zu  Ehren  auszechten. 

[850.]     Herbft.     F.  G.  Welcker. 

An  Goethe  hatte  ich  einen  Brief  des  Profeffors  Schaum 
mann  in  Gießen,  der  mehrere  Rezenfionen  Goethifcher 
Werke  für  diejenaifche  Litteraturzeitung  gefchrieben  hatte. 
Er  empfing  mich  fliehend  in  der  Mitte  des  Zimmers,  ein 
kräftiger  rüftiger  Mann,  auch  dem  Anzüge  nach  mann^ 
haft,  etwa  wie  ein  Forfimann,  und  fetzte  fich  mit  mir  an 
ein  Fenfier.  Er  fragte  mich  nach  den  wiffenfchaftlichen 
Zufi:änden  meiner,  ihm  ehemals  wohlbekannten  Heimat 
Heffen;  das  Gefpräch  fiel  auch  auf  Wetzlar,  und  da  ich 
naiv  genug  war,  auchWertherfche  Lokalitäten  zu  berühren. 


852]  Weimar.     1805.  405 

fagte   er:    Ja,   das  war  ein  Stoff,    bei  dem  man  fleh  zu^ 
fammenhalten  oder  zugrunde  gehen  mußte.  ^ 

Voß,  der  täghche  Befucher  der  beiden  großen  Dich:: 
ter,  erzähhe  mir  von  Goethe,  wie  angenehm  es  ihm  fei, 
wenn  er  mit  ihm  Sophokles  lefe;  wie  er  die  Wörter,  die 
er  zuerft  lerne,  aufzufaffen  und  nach  allen  Beziehungen 
zu  würdigen  verftehe;  daß  fleh  Goethe  aus  fpanifchen 
Büchern,  die  er  von  Göttingen  erhalte,  viele  Wörter  auf*, 
zeichne.  Aber  auch  mit  Rührung,  wie  weife  und  ge? 
fchickt  Goethe  ihn,  als  er  über  eine  böswillige  Kritik 
aufgebracht  war,  befänftigt  und  auf  alle  Erwiderung  zu 
verzichten  bewogen  habe,  und  fo  immer  wohlmeinend 
und  edel  in  feinem  Rate  fei. 

[851.]     Dezember.     Charlotte  v.  Stein  an  ihren  Sohn  Fritz. 

Indes  alles  nur  Krieg  und  Politik  fpricht,  hören  wir 
alle  Mittwoch  bei  Goethen  eine  gelehrte  Vorlefung,  die 
meiften  Male  fagt  er  einen  lichten  Punkt  worauf  man 
fich  dann  freut,  daß  er  ihn  ausführen  wird,  aber  er  be? 
rührt  ihn  nicht  wieder,  es  müßte  denn  fein,  daß  er  fie 
zuletzt  wie  Raketen  zum  Himmel  fteigen  ließ,  und  fie 
nicht  vielleicht  verhüllt  läßt,  wie  das  Büft  der  Minerva 
in  feiner  Stube  mit  ein  abgelegten  Schaul  von  Mlle.  Vul:: 
pius  verfchleiert  ift. 

[852.]     Dezember  8.     Achim  v.  Arnim  an  C.  Brentano. 

Meine  Überkunft  danke  ich  Goethe,  der  viel,  fehr 
viel  Güte  für  mich  hat.  Er  grüßt  Dich,  dankt  für  unfre 
Sammlung,  Des  Knaben  Wunderhovn,  findet  fie  fehr  an^ 
genehm,  hat  fie  gegen  viele  in  Weimar  gelobt  und  wird 
vielleicht  felbfi  einige  Worte  darüber  in  der  Jenaer  Literat 
turzeitung  fagen.  Er  hat  mich  auf  alle  Tage  eingeladen 
zum  Mittageffen,  faft  über  jedes  Lied  gefprochen,  er  läßt 
Dir  viel  Schönes  über  des  Schneiders  Feierabend  fagen. 
Die  Fifchpredigt,  die  Mißheirat,  der  Stauffenberg,  das 
von  Procop:  Maria  auf  der  Reife  y  Zwei  Nachtigallen, 
der  Lindenfchmied ,  der  Neidhard  mit  feinen  Mönchen 
fchienen  ihm  am  heften.  Er  fagte  mir,  die  Prinzen  und 
Prinzeffin  hätten  es  mit  Luft  gelefen.  Es  war.  mir  da^ 
bei,  als  wenn  eine  fchöne  Königin  mit  ihren  Fingern 
durch  meine  Mähne  ftriche  und  mir  den  Hals  klatfchte. 
Er  wünfchte  unfre  Sammlung  auch  über  die  ausländifchen 
I 


406  Achim  V.  Arnim.  [853 

Romanzen,  fowohl  die  heiligen  der  Edda,  als  noch  die 
andern  altfranzöfifchen,  englifchen,  fchottifchen,  fpanifchen 
ausgedehnt. 

[853.]     Dezember  11.     Henriette  v.  Knebel. 

Goethe  hat  am  vergangenen  Mittwoch  gar  fchön  über 
die  Elaftizität  der  Luft  gefprochen  und  noch  hübfcher 
über  die  moralifche  Elaftizität,  wie  große  und  ungewohnt 
liehe  Erfcheinungen  und  Begebenheiten  auf  den  Menfchen 
wirken  —  ganz  nach  feiner  Art,  fchön  und  frifch. 

[854.]     (Ende  d.  J.)    J.  D.  Gries. 

Vor  vielen  Jahren  erfchien  eine  antikifierende  Tras; 
gödie:  Polyidos  von  ^^  Apel  in  Leipzig.  Man  verfprach 
fich  viel  davon,  und  ich  ward  aufgefordert,  das  Stück 
bei  Frommanns  vorzulefen.  Goethe  felbft  wollte  zugegen 
fein.  Ich  präparierte  mich  recht  ordentlich  und  las  fo 
gut  ich  konnte.  Nach  beendigter  Vorlefung  trat  f^  eine 
peinliche  Stille  ein.  Endlich  erhob  fich  Goethe,  kam  auf 
mich  zu  und  fagte:  ich  bin  Ihnen  um  fo  mehr  ver^ 
pflichtet,  daß  Sie  diefe  Mühewaltung  übernommen  haben, 
da  ich,  wäre  ich  allein  gewefen,  das  Stück  fchwerlich  zu 
Ende  gebracht  hätte. 

[855.]     B.  R.  Abeken. 

Goethe  befuchte  damals  oft  Voßens  Haus  in  den 
Abendfiunden,  wo  er,  der  um  Erwerbung  und  Erweiterung 
von  Kenntniffen  jeder  Art  fich  bemühende,  fich  häufig 
in  ein  Gefpräch  mit  Voß  vertiefte.  Dies  machte  die  Haus^ 
frau  verlegen,  da  ihr  Mann  gern  zur  gewohnten  Stunde 
zu  Abend  aß.  Einmal  konnte  fie  nicht  umhin,  Goethen 
zu  bitten,  er  möge  mit  ihnen  vorlieb  nehmen,  die  ein^: 
fache  Kofi:  entfchuldigend.  Laffen  Sie  das  gut  fein,  er? 
widerte  er,  ich  komme  zu  Voß  nicht  des  Effens  wegen; 
wenn  ich  einmal  nach  etwas  Gutem  lüftern  bin,  dann  habe 
ich  meine  aparten  Freunde. 

[856.]     Riemer. 

Goethe:  Die  Verleger  haben  die  Autoren  und  fich 
felbft  für  vogelfrei  erklärt;  wie  wollen  fie  untereinander, 
wer  will  mit  ihnen  rechten? 


860] Weimar.     1806. 407 

1806. 

[857.]     Januar  11.     Riemer. 

G. :  An  der  Newtonifchen  Lehre  ifi  fchon  fo  viel  ver^ 
ändert  und  hinzugeflickt  worden;  und  doch  meinen  die 
Herren,  fie  hätten  noch  die  alte.  Sie  ift  ein  wahrer  Bettlers*: 
mantel,  der  fchon  aus  den  FHcken  der  vierten,  fünften 
Generation  befteht,  den  die  Prorektoren  umtun,  und  immer 
wieder  Doktoren  diefer  Bettlerfakultät  kreiren. 

[858.]     Januar.     Charlotte  v.  Stein. 

Goethes  Vorlefungen  gehen  alle  Mittwoch  ihren  Weg. 
Ein  Viertelftündchen  wird  der  Politik  gewidmet,  oder 
vielmehr  den  jetzigen  Begebenheiten,  doch  hat  er  dies 
nicht  gern.  Vor  acht  Tagen  war  eben  feine  Schwägerin 
(nämhch  die  jüngere  Schwefter  feiner  Demoifelle)geftorben, 
und  zwar,  wie  wir  eben  da  waren,  aber  alle  Todesfälle 
in  und  außer  feinem  Haufe  läßt  er  fich  verheimUchen, 
bis  er  fo  doch  dahinter  kommt.  Doch  foll  er  fie  beweint 
haben.  Der  arme  Goethe!  der  lauter  edle  Umgebungen 
hätte  haben  follenl  doch  hat  auch  er  zwei  Naturen.  — 
Er  lieft  uns  jetzt  über  die  Farben,  fagt,  daß  fie  in  unfern 
Augen  liegen,  drum  verlange  das  Auge  die  Harmonien 
der  Farben,  wie  das  Ohr  der  Töne. 

[859.]     Januar  16.     Riemer. 

Goethe :  Der  Menfch,  wenn  er  wider  Willen  von  einer 
Maxime,  Art  zu  fein  oder  zu  handeln,  laffen  foll  und  zur 
entgegengefetzten,  bisher  von  ihm  gehaßten  übergehen, 
muß  erft  von  diefer  einigen  fichtlichen  Vorteil,  der  den 
Schaden  durch  den  Verluft  jener  überwiegt,  erhalten  haben, 
ehe  er  ihr  ganz  von  Herzen  beitritt  und  mit  ihr  Eins  wird. 

[860.]     Januar  16.     Henriette  v.  Knebel. 

Goethes  und  Wielands  -^  Kampfgefpräch  kam  über 
Tifchbeins  Zeichnungen  her,  die  er  kürzlich  an  die  Her:: 
zoginmutter  gefchickt.  Unter  dem  Lobe,  das  ihnen  Goethe 
erteilte,  fprach  er  viel  von  Talent  und  Übung  in  der 
Kunft,  welche  durchaus  zu  ehren  und  zu  preifen  wäre, 
foUte  es  auch  nur  an  dem  Manne  fein,  welcher  einft  vor 
Alexander  dem  Großen  die  Hirfenkörner  durch  ein  Nadeln: 
Öhr  geworfen  hätte.  Es  war  artig,  wie  Wieland  noch 
I 


408  Henriette  v.  Knebel.  [861 

lange  ruhig  zuhörte  und  endlich  gleich  wieder  bei  den 
Hirfenkörnern  anfing,  welche  Kunft  er  fo  dumm  und 
albern  fand,  daß  er  den  Mann  noch  ganz  befonders  hätte 
ftrafen  laffen,  daß  er  fo  unendlich  viel  Zeit  darauf  ver:: 
wendet  hätte.  Alle  Künfte  der  Technik,  wodurch  die 
Engländer  fich  auszeichneten,  behauptete  Goethe,  wären 
durch  diefe  Geduld  und  Anhaltfamkeit  entfianden,  und 
Alexander  als  Monarch  hätte  ganz  unrecht  gehabt,  den 
Mann  fo  verächtlich  zu  behandeln.  Er  hätte  vielmehr 
zu  den  Urnftehenden  fagen  follen:  Seht!  diefer  Mann 
hat  es  durch  außerordentliche  Geduld  und  Übung  zu 
folch  einer  Fertigkeit  gebracht.  Könntet  ihr  es  nicht  in 
etwas  Gefcheiterm  auch  fo  weit  bringen? 

[861.]    Januar  24.     Henriette  v.  Knebel  an  ihren  Bruder. 

Noch  lieber  möchte  ich  Dir  von  Goethes  letztem 
Vortrag  vom  vorigen  Mittwoch  Bericht  abftatten  können, 
der  mir  ganz  außerordentlich  wohlgefiel.  Es  war  das 
angenehmfie  Gefühl,  fich  mit  ihm  gleichfam  auf  eine 
höhere  Stufe  geftellt  zu  fehen,  und  wirklich,  die  fchönfi:e 
menfchliche  Natur  belebte  fich  aufs  neue  in  ihm.  Er 
fprach  von  dem  Bezug,  den  der  Menfch  zu  fich  felbft 
und  zu  den  Dingen  außer  ihm  hat,  fo  reich,  reif  und 
mild,  daß  ich  wirklich  noch  nie  fo  habe  fprechen  hören. 
Ich  wünfchte,  er  hätte  die  Rede  aufgefchrieben;  mich  dünkt, 
fie  allein  müßte  ihm  den  Ruhm  eines  feltnen  Menfchen 
machen.  Ich  felbft  dünkte  mich  glücklicher  und  vor^ 
nehmer  durch  die  unzähligen  Fäden,  durch  die  wir  mit 
Himmel  und  Erde  zufammenhängen.  Es  ift  eine  wahre 
Freude,  wenn  der  Geift,  wie  die  Natur  alt,  und  doch 
fo  verjüngt  fich  darftellt  —  ein  kräftiger,  erfreulicher  Früh:; 
lingshauch. 

[862.]     Januar.     H.  Voß 

Goethe  ift  nicht  wie  er  fein  follte.  Seine  Nieren 
find  wahrfcheinlich  desorganifiert.  Er  hat  täglichen  Blut:^ 
abgang  durch  den  Urin,  oft  aber  ftockt  diefer  und  dann 
ift  er  fehr  krank.  Ich  glaube,  daß  er  alt  werden  kann, 
aber  gefund  wird  er  nie  wieder.  Gott  erhalte  ihm  nur 
feine  frohherzige  Laune.  Neulich  fagte  er:  Wenn  mir 
doch  der  liebe  Gott  eine  von  den  gefunden  Ruffennieren 
fchenken  wollte,  die  zu  Aufterlitz  gefallen  find! 


865J  Weimar.     1806.  409 

[863.]     März.     Riemer. 

Goethe:  Lichtenbergs  Wohlgefallen  an  Karikaturen 
rührt  von  feiner  unglücklichen  körperlichen  Konftitution 
mit  her,  daß  es  ihn  erfreut,  etwas  noch  unter  fich  zu  er^ 
blicken.  —  Wie  er  fich  wohl  in  Rom  gemacht  haben  würde 
beim  Anblick  und  Einwirkung  der  Kunft?  Er  war  keine 
konftruktive  Natur  wie  Äfop  und  Sokrates;  nur  auf  Ent^ 
deckung  des  Mangelhaften  geftellt. 

[864.]     April.     Riemer. 

Goethe:  Es  gibt  Tugenden,  die  man,  wie  die  Gefund? 
heit,  nicht  eher  fchätzt,  als  bis  man  fie  vermißt;  von  denen 
nicht  eher  die  Rede  ift,  als  wo  fie  fehlen;  die  man  fiill^ 
fchweigend  vorausfetzt;  die  dem  Inhaber  nicht  zu  gute 
kommen,  weil  fie  in  einem  Leiden,  in  der  Geduld  be^: 
ftehen.  Sie  fcheinen,  wo  fie  find,  nur  aus  einer  Abwefens 
heit  von  Kraft  und  Tätigkeit  zu  befi:ehen,  und  fie  find 
die  höchfi:e  Kraft,  nur  nach  innen  gewandt  und  zur  Ab^ 
wehr  äußeren  Unglimpfs,  nur  als  Gegendruck  gebraucht. 
Hammer  zu  fein  fcheint  jedem  rühmlicher  und  wünfchenss^ 
werter,  als  Ambos,  und  doch  was  gehört  nicht  dazu, 
diefe  unendlichen,  immer  wiederkehrenden  Schläge  aus^^ 
zuhalten. 

[865.]     Mai  10.     Riemer. 

G. ;  Es  ifi:  lächerlich,  wenn  die  Philifter  fich  der 
größern  Verftändigkeit  und  Aufklärung  ihres  Zeitalters 
rühmen  und  die  frühern  barbarifch  nennen.  Der  Ver^; 
fi:and  ift  fo  alt,  wie  die  Welt,  auch  das  Kind  hat  Ver^ 
ftand:  aber  er  wird  nicht  in  jedem  Zeitalter  auf  gleiche 
Weife  und  auf  einerlei  Gegenftände  angewendet.  Unfer 
Zeitalter  wendet  feinen  ganzen  Verftand  auf  Moral  und 
Selbftbetrachtung;  daher  er  in  der  Kunft  und  wo  er  fonft 
noch  tätig  fein  und  mitwirken  muß,  faft  gänzlich  mangelt. 
Die  Phantafie  wirkte  in  frühern  Jahrhunderten  ausfchließend 
und  vor,  und  die  übrigen  Seelenkräfte  dienten  ihr;  jetzt 
ift  es  umgekehrt,  fie  dient  den  andern  und  erlahmt  in 
diefem  Dienft. 

Die  frühern  Jahrhunderte  hatten  ihre  Ideen  in  An:; 
fchauungen  der  Phantafie;  unferes  bringt  fie  in  Begriffe. 
Die  großen  Anfichten  des  Lebens  waren  damals 
in  Geftalten,  in  Götter  gebracht;  heutzutage  bringt 
man  fie  in  Begriffe.  Dort  war  die  Produktionskraft  größer, 
heute  die  Zerftörungskraft,  oder  die  Scheidekunft. 
I 


410  Sophie  V.  Schardt.  [866 

[866.]     1805  Dezember  Anfang/ 1806  Juni  11.     Sophie  v.  Schardt. 

Unter  den  uns  vorliegenden  Aufzeichnungen  Sophiens 
nach  Goethes  Vorträgen  befindet  fich  außer  den  auf  die  Farbe 
bezüglichen  eine  befonders  ausführliche  über  den  Magnet, 
fein  Wefen,  feine  Beziehungen  erftens  auf  fich,  zweitens 
zum  Erdmagneten  und  die  Minerale,  welche  magnetifche 
Kraft  befitzen.  Wir  heben  daraus  die  Bemerkung  aus :  Ver^ 
fchiedene  Arten  der  Darftellung  eines  Begriffs;  viererlei 
Sprachen  gibt  es  dafür.  Die  erfte  möchte  man  die  goldene 
nennen,  wodurch  das  Phänomen,  die  Begebenheit,  felbft  er:; 
fcheint.  Die  zweite  nenne  ich  die  poetifche,  wobei  eine 
Nebenidee,  die  dem  Hauptbegriff  eine  größere  Klarheit  mit= 
teilt,  hervorgerufen  wird ;  fo  find  die  Erläuterungen  durch 
Beifpiele:  ein  guter  Regent  ift  gleich  einem  fchattenden 
Baume,  unter  dem  die  Vögel  des  Himmels  niften.  Die 
mnemonifche,  wo  man  an  gewiffe  Dinge  willkürlich  Er:s 
innerungen  knüpft,  um  fich  diefelben  dabei  zu  vergegen^^ 
wärtigen.     Die  mathematifche. 

Auf  einem  befondern  Blättchen  hatte  fie  fich  aufge^: 
zeichnet:  Was  ift  träger  als  die  Starrheit  des  Steines? 
Und  fiehel  die  Natur  verleiht  ihm  Sinne  und  Hände. 
Was  ift  ftreitbarer,  als  die  Härte  des  Eifens?  Aber  es 
gibt  nach  und  unterwirft  fich  der  Sitte;  denn  es  wird 
vom  Magnetftein  gezogen.  Und  fo  rennt  ein  allbeherr^s 
fchendes  Wefen  —  wer  weiß  wie?  —  einem  leeren  nach, 
und  indem  es  nahe  kommt,  tritt  es  heran  und  wird  feft:; 
gehalten  in  umklammernder  Umarmung. 

Aus  einem  andern  Vortrage  hatte  fie  folgendes  aufge^ 
zeichnet:  Zweierlei  Vorftellungsarten :  dynamifch,  atomifch. 

1.  Das  Wirkende,  fich  Äußernde,  Handelnde,  Be^^ 
wegende.  Schaffende. 

2.  Das  Erleidende,  Duldende,  Angeregte,  Bewegte, 
Gegenfatz  des  einen  zum  andern. 

1.  Ein  Unfichtbares,  ein  Dafeiendes  ohne  vehiculum, 
eine  Kraftäußerung  ohne  ein  Wie,  das  uns  bekannt  fein 
könnte. 

2.  Atome,  wirkliche,  fichtbare,  zu  ergreifende. 

1.  Die  phyfifche,  die  fich  auf  das  Ganze  bezieht. 

2.  Die  chemifche,  die  fich  mit  dem  Befondern,  dem 
Realen  befchäftigt. 

Aus  verfchiedenen  Vorftellungsarten  entfteht  ein  neues 
Refultat:  jeder  hat  die  feine;  jeder  neigt  mehr  zu  der 
einen  oder  zu  der  andern  herüber.     Lukrez,  Epikur  be^j 


866]  Weimar.     1806. 4n 

kannten  fich  zu  der  Vorftellungsart,  die  wir  die  atomiftifche 
oder  chemifche  nennen  möchten;  in  den  realen  Stoffen 
der  Materie  fuchten  fie  Entftehung  und  Ordnung  durch 
Hülfe  des  Zufalls.  Andere  fuchten  es  in  einer  unbekannten, 
unfichtbaren,  höhern  Gewalt,  in  anregenden  Kräften. 

Stets  fetzt  das  Wirkende  ein  Erleidendes,  das  Be* 
wegte  wieder  ein  Erregendes  voraus.  Nichts  ift,  nichts 
ift  geworden,  alles  ift  ftets  im  Werden,  in  dem  ewigen 
Strom  der  Veränderung  ift  kein  Stillftand.  Der  Menfch 
ift  mit  jeder  Minute  ein  anderer,  doch  fich  felbft  fonder^^ 
bar  gleich  beharrlich,  in  der  Veränderung;  dies  ift  ein 
Vorzug  des  höhern  Wefens.  Die  Pflanze  z.  B.,  deren 
organifche  Natur  fo  viel  Ähnlichkeit  mit  der  unfrigen  hat, 
wird  ganz  verändert  und  durchaus  —  ihre  Identität  geht 
verloren. 

Das  Gefetz  der  Schwere,  ein  Anziehen  und  Abftoßen, 
eine  Ausdehnung  und  ein  Infichzufammenziehen  des  elafti^^ 
fchen  Wefens.  Die  Erde  zieht  die  Luft,  diefe  zieht  fich 
in  fich.  Diefe  gegenfeitige  Wogung  erhält  das  Gleich^: 
gewicht.  Ungeheure  Gewalt  der  Luft,  oder  Streben,  von 
ihr  alles  zu  erfüllen,  nichts  Leeres  zu  dulden,  daher  der 
in  eine  verdünnte  Luft  tretende  Körper  von  der  in  ihm 
felbft  enthaltenen  fich  entlaftet;  im  Verhältnis  der  Ver^^ 
dünnung  der  äußern  ftrebt  dann  die  in  ihm  haftende 
hinauswärts,  um  diefen  leeren  Raum  zu  erfüllen.  Diefes 
Urfache  der  Atemlofigkeit,  Nafenblutens  auf  hohen  Bergen. 
Nach  demfelben  Prinzip  fehe  ich  Tropfen  aus  dem  Erz 
dringen,  das  unter  der  Luftpumpe  liegt. 

Auf  einem  weitern  Blatte  lefen  wir: 

Was  ift  das  Sein?  Es  äußert  fich  durch  Form  und 
Bewegung  oder  Handlung.  Warum  foU  das  Sein  anders 
als  durch  diefe  Darftellung  aller  Exiftenz  definiert  werden. 
Der  Geift  ift  fo  gut  wie  die  Materie  das  fich  geftaltende 
und  handelnde  Sein  in  feiner  Äußerung.  Alle  Haupte 
formen  des  Erdbodens,  die  Berge,  Steinmaffen  ufw.  ftreben 
vom  Mittelpunkte  der  Erde  nach  den  Polen  zu,  kleinere 
Maffen  durchkreuzen  feitwärts  diefe  Strömung,  als  ob  fie 
nach  kleinern  verfchiedenen  Anziehungspunkten  ftrebten. 

Jede  verfchiedene  Subftanz  modifiziert  die,  mit  der 
fie  fich  vermifcht.  Diefe  gegenfeitige  Wirkung  bringt 
dann  unendliche  Abweichungen  und  Abwechslungen  her? 
vor.  Beobachtungen  hierüber  im  Steinreiche  ufw.  Keine 
Subftanz  exiftiert  auf  Erden  rein  für  fich  und  unvermifcht. 
I 


412  Sophie  V.  Schardt.  [867 

Alles  Herabfallende  von  einer  angemeffenen  Höhe  (ductile) 
bildet  fich  in  der  Kegelform.  Beifpiele:  wenn  man  Blei 
gießt,  Waffertropfen  ufw. 

Abgefondert  hat  Sophie  noch  folgendes  aufgezeichnet : 
Strömungen  der  Berge  von  Norden  nach  Süden,  von 
Ofien  nach  Weiten.  Die  Erde  ift  unter  dem  Meere  fort? 
gehend  nach  denfelben  Regeln.  Infein  find  Köpfe  der 
Berge.  In  den  Richtungen  von  Norden  nach  Often  [fol] 
befindet  fich  das  Eifen,  von  Weiten  nach  Oiten  die  Silber? 
ädern.  —  Wir  verbinden  die  erfte  Empfindung  von  etwas, 
z.  B.  die  der  Ehrfurcht,  der  Liebe  ufw.  mit  dem  Gegen? 
ftande,  der  fie  erweckte,  darum  find  die  erften  Empfin? 
düngen  fo  dauernd. 

[867.]     April  23./Juni  14.     A.  Oehlenfchläger. 

Goethe  ~  empfing  mich  väterlich;  ich  aß  oft  bei  ihm, 
und  ich  mußte  ihm  meinen  ganzen  Aladdin  und  Hakon 
Jarl  aus  dem  Stegreif  deutfch  vorlefen.  Da  machte  ich 
mich  denn  vieler  Dänismen  fchuldig;  er  yerwarf  fie  aber 
nicht  alle;  er  meinte,  die  beiden  verwandten  Sprachen, 
aus  Einer  Wurzel  entfprungen,  könnten  einander  mitunter 
mit  guten  Worten  fchwefterliche  Gefchenke  machen.  Hm! 
Das  ift  hübfch,  fagte  er  mitunter,  wenn  ich  etwas  vorlas. 
Sagen  Sie  denn  das  fo  deutfch?  frug  ich.  Nein,  wir 
fagen  es  nicht,  könnten  es  aber  fagen.  —  Soll  ich  denn 
ein  andres  Wort  brauchen?  —  Nein,  tun  Sie  das  nicht. 
—  Einen  Mann  [Reichardt],  der  mich  in  Berlin  gekannt 
hatte  und  nach  Weimar  kam,  fragte  Goethe:  Kennen  Sie 
etwas  von  Oehlenfchläger?  —  Nein!  war  die  Antwort; 
aufrichtig,  ich  mag  die  deutfche  Sprache  nicht  radebrechen 
hören.  —  Und  ich,  antwortete  Goethe  mit  impofantem 
Gefühle,  mag  die  deutfche  Sprache  fehr  gern  in  einem 
poetifchen  Gemüte  entftehen  fehen.  '^ 

Das  Nibelungenlied  war  eben  herausgekommen,  und 
Goethe  las  uns  einige  Gefänge  vor.  Weil  nun  vieles  in 
der  alten  Sprache  mit  altdänifchen  Worten  verwandt  ift, 
fo  konnte  ich  ihnen  manches  deuten,  was  die  andern  nicht 
gleich  verftanden.  Sieh  einmal!  rief  dann  Goethe  luftig, 
da  haben  wir  wieder  den  verfluchten  Dänen!  —  Nein, 
Däne!  fagte  er  einmal  in  demfelben  Ton:  hier  kommt 
etwas,  was  Ihr  doch  nicht  hättet  fagen  können: 

Es  war  der  große  Siegfried,  der  aus  dem  Gräfe  fprang. 
Es  ragete  ihm  vom  Herzen  eine  Speerftange  lang.  — 


868] Weimar.     1806. 413 

Es  ragete  ihm  vom  Herzen  eine  Speerftange  lang  — 
wiederholte  er  ftaunend,  die  Worte  ftark  betonend,  in 
feinem  Frankfurter  Dialekt:    Das  ifi  kapital! 

Einmal  bei  Tifche  fprach  er  fo  feurig  und  mit  fo 
vieler  Achtung  und  Kraft  für  Bürgerrecht  und  Bürger;: 
ehre  gegen  einen  kalten  Hofmann  [Reichardt],  der  zur 
Unzeit  über  das  wackere  Betragen  eines  Bürgers  fpotten 
wollte,  daß  ich  es  nicht  laffen  konnte,  als  der  Fremde 
weg  war,  ihm  um  den  Hals  zu  fallen  und  ihn  zu  küffen. 
Ja,  ja,  lieber  Däne!  fagte  Goethe:  Ihr  meint's  auch  treu 
und  gut  in  der  Welt.  ^^ 

Als  ich  wegreifte,  fchrieb  ich  eine  dänifche  Über:: 
fetzung  des  Erlkönigliedes  ins  Stammbuch  des  jungen 
Goethe  und  zum  Schluß  die  deutfchen  Zeilen: 

Erinnern  Sie  fich,  wenn  längft  ich  fchied, 

Bei  der  Überfetzung  des  Vaters  Lied, 

Des  Dichters  vom  Lande,  wo  Nacht  und  Wind, 

LJnd  Elf  und  Schauder  zu  Haufe  find. 

In  Weimar  weht  es  fchon  mehr  gelind; 

Gott  fegne  den  Vater  mit  feinem  Kind. 

Ja,  jal  fagte  Goethe,  als  er  es  gelefen  hatte,  mir 
freundlich  ins  Auge  blickend  und  die  Hand  auf  meine 
Schulter  legend:    Ihr  feid  ein  Poete.  ~ 

Goethe  hatte  verfprochen,  meinen  Hakon  Jarl,  wenn 
er  von  mir  fchriftlich  überfetzt  wäre,  auf  die  deutfchen 
Bühnen  zu  bringen. 


.]     April  23./Juni  28.     Riemer. 

Wie  Goethe  fich  die  Infolenz  des  wandernden  An^s 
tiquarius  Arendt  hatte  gefallen  laffen,  fo  ertrug  er  auch 
andere  Unarten  des  freilich  fchönen  und  liebenswürdigen 
Oehlenfchläger,  der  fich  überdies  damals  als  angehender, 
aber  vielverfprechender  Dichter  empfahl.  Beinah'  ein  hal? 
bes  Jahr  hielt  er  fich  in  Weimar  und  Jena  abwechfelnd 
auf  und  war  häufiger  Tifchgenoffe  Goethes  und  in  allen 
Weimarifchen  und  Jenaifchen  Zirkeln  gern  gefehen.  Jetzt 
nur  von  feiner  fonderbaren  Angewöhnung  zu  reden,  fo 
hatte  er  —  wohl  kann  man  fagen  —  die  Wut,  unver:: 
fehens  ein  halb  dutzendmal  hintereinander  mit  allen  fünf 
Fingern  fchlenkernd  fo  zu  knacken,  daß  man  darüber  er^s 
fchrak,  irgend  eine  Verletzung  fürchtend,  ja  fie  beinah' 
I 


414  Riemer.  [869 

an  fich  zu  empfinden  glaubend.  Goethe  fagte  eine  Zeit;; 
lang  nichts  dazu;  als  fich  aber  die  Sache  zu  oft  repetierte, 
bat  er  ihn  mit  freundlicher  Verwunderung  über  die  felt^ 
fame  Gymnafi:ik,  in  feinem  treuherzigen  und  familiären 
Tone:  Tut  mir  das  nicht  zuleide!  oder:  Laßt  mir  das  unter? 
wegs,  Ihr  wißt,  daß  es  mir  fatal  ifil  und  dergleichen.  Die 
Vermahnung  hielt  freilich  nicht  lange  vor,  und  zwifchen? 
durch  entwifchte  doch  wieder  ein  halber  Knick  oder  Knack, 
der  dann  gutmütig  überhört  wurde. 

Goethe  wußte  '^  uns  andern  diefes  gefährlich  klin? 
gende  Manoeuvre  phyfiologifch  und  ofi:eologifch  zu  er? 
klären,  f^ 

[869.]     A.  Oehlenfchläger. 

Goethe  fagte  »^  daß  er  lange  keinen  Menfchen  ge:: 
troffen  habe,    den  er  fo  hoch  fchätze,  als  mich. 

[870.]     Juni  30.     Riemer. 

Als  wir  auf  der  Reife  nach  Franzenbrunn  in  Afch 
übernachten  mußten  und  dafelbfi:  Die  Huffiten  vor  Naum? 
bürg  von  Kotzebue  in  einer  Scheune  gegeben  wurden,  wo? 
von  wir  fpaßeshalber '  einen  Akt  mit  anfahen,  fagte  Goe? 
the:  Er  könne  mit  Recht  hier  anwenden:  Und  hätt'  ich 
Flügel  der  Morgenröte,  und  flog'  an  die  äußerften  Ende 
der  Erde,  fo  würde  feine  Hand  mich  doch  treffen  ufw. 
—  Übrigens  fei  Kotzebue  ein  vortrefflicher  Mann;  was 
für  eine  Menge  Menfchen  er  abfpeife,  die  wie  hungrige 
Raben  auf  ihn  warteten. 

[871.]     (Juli.)     E.M.Arndt. 

Goethe  war  in  Karlsbad,  kam  von  einei^i  Morgen? 
fpaziergange  zu  Haufe  und  fagte :  Man  ftößt  in  der  Welt 
doch  immer  und  allenthalben  auf  unfaubere  Geifter,  da 
habe  ich  von  fern  einen  Mann  vorbeirutfchen  gefehen, 
der  Kerl  hat  mich  ordentlich  erfchreckt;  ich  glaubte  den 
leibhaftigen  Böttiger  erblickt  zu  haben.  O!  erwiderte 
der  Freund  Graf  Geßler,  Ihre  Augen  haben  fich  da  nicht 
verfehen,  Sie  haben  wirklich  den  Leibhaftigen  gefehen. 
Bei  diefen  Worten  rief  Goethe  aus,  wie  einer,  der  von 
einem  Schrecken  wieder  aufatmet:  Gottlob]  gottlob!  daß 
Gott  nicht  ein  zweites  folches  A . . .  geficht  gefchaffen  hat. 


873]'  Karlsbad  -  Jena.     1806.  415 

[872.]     Juli  (28).     Ulrike  v.  Levetzow. 

Meine  Mutter  hatte  Goethe  als  ganz  junge  Frau  in 
Karlsbad  kennen  gelernt  oder  wieder  angetroffen;  denn 
lie  erzählte  oft,  daß  fie  durch  Goethe  in  große  Verlegen? 
heit  gefetzt  wurde,  da  er  fie  in  Karlsbad  bei  einem  Spazier? 
gange  gefragt  habe,  welche  Gedichte  ihr  lieber,  die  feinen 
oder  die  von  Schiller;  Mutter  hatte  erwidert:  Ich  ver? 
ftehe  wohl  beide  nicht  immer,  doch  die  von  Schiller  fühle 
ich.  Goethe  nahm  ihr  die  Antwort  nicht  übel,  fondern 
blieb  fehr  freundlich  mit  ihr  und  zog  fie  fehr  viel  ins 
Gefpräch. 

[873.]     Auguft  10.     H.  Luden. 

Heinrich  Luden  hatte  nach  feiner  Berufung  als  Profeffor 
nach  Jena  einen  vorläufigen  Beluch  dort  gemacht  und  dabei  fo# 
gleich  durch  Vermittelung  des  zufällig  auch  anwefenden  Hufe? 
land  Einladung  zu  einer  Abendgefellfchaft  zu  Knebels  erhalten, 
um  Goethe  da  kennen  zu  lernen.  Vorher  machte  er  einen  Spa* 
ziergang,  er  verspätete  fich  und  wurde  von  Frau  von  Knebel  mit 
der  Bemerkung  empfangen,  daß  Goethe  darüber  verftimmt  fei. 
Er  erzählt  dann  weiter: 

Frau  von  Knebel  führte  mich  in  das  Zimmer:  Hier 
ift  der  Zauderer!  fagte  fie.  In  dem  Zimmer  befanden 
fich  außer  den  Herren  von  Knebel  und  Hufeland  nur 
Goethe  und  Riemer,  der  Goethe  zu  begleiten  pflegte. 
Alle  ftanden  fchweigfam  da ;  kein  Geficht  zeigte  fich  freund? 
lieh.  Hufeland  fah  gutmütig  vor  fich  hin,  Riemer  gleich? 
gültig,  Knebel  verlegen,  Goethe  verdrießlich.  Knebel,  gegen 
Goethe  gewendet,  wies  mit  der  Hand  nach  mir  her:  Herr 
Profeffor  Luden.  Goethe  machte  eine  kleine  verftümmelte 
Bewegung,  in  welcher  kaum  der  Anfang  zu  einer  Ver? 
beugung  zu  erkennen  war,  ohne  nur  ein  Wort  zu  fagen. 
Das  war  die  ganze  Vorfi:ellung;  und  vielleicht  war  fie  die 
befte:  denn  nun  brauchte  ich  auch  nichts  zu  fagen  und 
hatte  doch  Zeit  gehabt,  mir  den  Heros  anzufehen.  Ich 
wandte  mich  daher  fogleich  an  den  Herrn  von  Knebel: 
Frau  von  Knebel  hat  mir  foeben  gefagt,  daß  auf  mich  ge? 
wartet  worden  ift.  Das  tut  mir  unendlich  leid,  aber  ich 
glaube,  Abfolution  von  meiner  Sünde  zu  verdienen,  auch 
ohne  Buße.  Eine  Stunde  war  mir  nicht  beftimmt,  und 
als  Neuling  bin  ich  natürlich  unbekannt  mit  der  Weife 
der  Götter  in  diefem  Lande.  Was  ich  diefen  Morgen 
aus  diefen  Fenftern  gefehen  hatte,  das  übte  auf  mich  eine 
I 


416 H.  Luden. [873 

unwiderftehliche  Anziehungskraft.  Ich  mußte  die  Herr^; 
lichkeiten,  den  Fluß,  die  Berge,  alles  foweit  als  möglich 
in  der  Nähe  fehen.  Alfo  bin  ich  hinausgelaufen,  habe 
die  Fluren  durchfireift  und  mehre  Berge  beftiegen;  und 
in  meiner  Begeifterung  habe  ich  nicht  an  die  Zeit  ge^; 
dacht  und  ganz  vergeffen,  daß  der  Rückweg  fo  lang  zu 
fein  pflegt,  als  der  Anmarfch.  So  habe  ich  mich  in  aller 
Unfchuld  verfpätet.  Während  ich  diefe  Worte  fprach, 
ließ  Goethe  ein  paar  Male  ein  beifälhges  Hm!  hml  ver? 
nehmen  und  Knebel  warf  fein  gewöhnliches  Jo,  jol  Jo, 
jol  hinein.  Endlich  fagte  Goethe:  Die  Entfchuldigung 
des  Herrn  Profeffors  ift  ausreichend;  wir  wollen  ihm  vollst 
kommene  Abfolution  erteilen,  unter  der  Bedingung,  daß 
er  künftig,  da  er  nunmehr  mit  der  Weife  der  Götter  in 
diefem  Lande  bekannt  geworden  ift,  pünktlicher  fei.  Ich 
fprach  fogleich  das  Gelübde  aus.  So  ift,  rief  Frau  von 
Knebel,  mein  Beiftand,  den  ich  dem  Herrn  Profeffor  zu^ 
gefagt,  wohl  gar  nicht  nötig?  —  Gar  nicht,  fchöne  Frau! 
antwortete  Goethe;  aber  wir  muffen  die  Zeit  wieder  ein^ 
bringen;  darum  geben  Sie  uns  nur  bald  zu  effen  und  zu 
trinken  1 

Fünf  Minuten  nachher  faßen  wir  um  einen  runden 
Tifch.  «^  Anfangs  wurde  hin  und  her  geplaudert  in  ge^ 
gewöhnlicher  Weife.  Kaum  aber  mochte  eine  Viertele 
ftunde  verlaufen  fein,  fo  hatte  Goethe  es  übernommen, 
die  Gefellfchaft  zu  unterhalten.  Und  er  unterhielt  fie 
auf  eine  bewunderungswürdige  Weife.  Er  erzählte  Anek^s 
doten  und  Abenteuer  von  feinen  Reifen,  im  befondern 
von  feinem  letzten  Aufenthalte  im  Karlsbade,  charakteris: 
fierte  die  Menfchen  auf  das  Lebendigfte,  warf  mit  Schere 
zen  und  Witzworten  um  fich  und  fchien  aus  feinem  un^; 
ermeßlichen  Vorrate  um  fo  freigebiger  und  lieber  mitzu^ 
teilen,  je  aufmerkfamer  wir  fämtlich  auf  feine  Worte  waren 
und  je  dankbarer  für  feine  Mitteilungen.  Die  Gefellfchaft 
wurde  ungemein  lebendig  und  brach  zuweilen  in  ein  fchals^ 
lendes  Gelächter  aus,  nur  dem  Lachen  der  unfterblichen 
Götter  vergleichbar.  An  diefem  Lachen  nahm  Goethe 
felbft  nur  mäßigen  Anteil,  fchien  aber  mit  großer  Luft  in 
dasfelbe  hineinzufchauen  und  nur  den  Wunfeh  zu  haben, 
es  nicht  ausgehen  zu  laffen.  Im  allgemeinen  hatte  er  das 
Wort  ganz  allein;  nur  Herr  von  Knebel  ließ  fich  fein 
Hausrecht  nicht  nehmen,  brach  hier  und  dort  ein  und 
gab  damit  Veranlaffung  zu  neuen  Witzen  und  Anekdoten. 


873J      Jena.     1806. 417 

Wir  übrigen  machten  alles  mit  Lachen  gut.  Zuweilen 
jedoch  richtete  Goethe  auch  wohl  eine  Frage  an  diefen 
oder  jenen  und  im  befondern  wiederholt  an  mich,  fei  es, 
daß  er  feine  erfte  Unfreundlichkeit  noch  mehr  gutmachen, 
fei  es,  daß  er  mir,  dem  Ankömmling,  wie  man  zu  fagen 
pflegt,  auf  den  Zahn  fühlen  wollte.  Und  in  der  Stirn* 
mung,  in  welcher  ich  war,  blieb  ich  eben  keine  Antwort 
fchuldig.  Ein  paar  Male  fang  auch  Frau  von  Knebel  ein 
Goethefches  Lied  nach  Zelters  Kompofition  fehr  fchön. 
Sie  wurde  zuerft  durch  Hufeland  erfucht,  der,  wie  er  ver? 
fieberte,  eine  wahre  Sehnfucht  hatte,  die  herrliche  Stimme 
diefer  Frau  einmal  wieder  zu  hören;  alsdann  wünfchte 
Goethe  felbft,  daß  fie  noch  einmal  fingen  möchte.  Er 
fühlte  wohl,  wie  Hufeland,  daß  der  ganzen  Gefellfchaft 
eine  Erholung  Bedürfnis  fei.  Und  Frau  von  Knebel  er^ 
füllte  bereitwillig  die  ausgefprochenen  Wünfche.  '^  Nach 
den  Gefangen  aber  ging  es  von  neuem  weiter  in  der 
alten  Weife. 

Mehr  als  eine  Anekdote,  die  von  Goethe  erzählt 
ward,  ilt  mir  noch  im  Gedächtnis.  Aber  fie  zu  erzählen, 
wage  ich  nicht.  Jedesfalles  würde  das  Anmutigfte  und 
Pikantefte  fehlen :  Goethes  Augen,  Stimme  und  Gebärden* 
fpiel;  denn  er  erzählte  nicht  bloß,  fondern  er  (teilte  alles 
mimifch  dar.  Befonders  kam  er  wiederholt  auf  zwei  alte 
Gräfinnen,  mit  welchen  er  in  Verkehr  gebracht  worden 
war.  Sie  hätten  einen  unermeßlichen  Umfang  gehabt  und 
deswegen  eine  bewunderungswürdige  Unbeweglichkeit  ge* 
zeigt,  fobald  fie  einmal  Platz  genommen.  Dabei  hätten 
fie  eine  große  Geläufigkeit  der  Zunge  behalten  und  ein 
endlofes  Gefchwätz  geführt.  Ihre  Stimme  fei  Jungfrau* 
lieh  gewefen,  fei  aber  oft,  wenn  fie  lebhaft  geworden, 
oder  das  Gefühl  ihrer  Würde  an  den  Tag  zu  legen  für 
nötig  gehalten,  bald  in  ein  artiges  Krähen,  bald  in  ein 
girrendes  Zwitfchern  übergegangen.  Mir  felbft,  fagte  Goe* 
the,  waren  die  wunderlichen  Kugelgeftalten  diefer  Damen 
am  merkwürdigften.  Ich  konnte  nicht  begreifen,  wie  es 
einem  Menfchen,  Mann  oder  Weib,  gelingen  könne,  es 
zu  einer  folchen  Maffe  zu  bringen;  auch  hätte  ich  die 
Dehnbarkeit  der  menfchlichen  Haut  nicht  für  fo  grenzen* 
los  gehalten.  Sobald  ich  aber  die  Ehre  erhielt,  einmal 
mit  den  edlen  Damen  zu  fpeifen,  wurde  mir  alles  klar. 
Wir  andern  wiffen  doch  wahrlich  auch,  was  effen  und 
trinken  heißt,  und  ich  denke,  wir  geben  unferer  vortreff* 
I  27 


418  H.  Luden.  [873 

liehen  Wirtin  einen  fchlagenden  Beweis;  aber  ein  folches 
Effen  —  vom  Trinken  fage  ich  nichts  —  überfiieg  doch 
meine  Vorfiellungen.  Jede  der  beiden  Damen  nahm  z.  B. 
fechs  harte  Eier  zum  Spinat,  fchnitt  jedes  Ei  in  der  Mitte 
durch  und  warf  nun  das  halbe  Ei  mit  fo  großer  Leichtigs: 
keit  hinunter,  wie  der  Strauß  ein  halbes  Hufeifen.  Übri^ 
gens  teilte  Goethe  noch  einzelne  Bemerkungen  der  edlen 
Damen  mit  über  die  Wirkungen  des  Karlsbader  Sprudels 
auf  ihren  Körper,  über  die  Zeitläufe  und  über  die  Ge^ 
fellfchaften ,  und  einzelne  Urteile  über  Schriftfieller  und 
Kunftwerke,  die  prächtig  waren,  naiv,  drollig,  barock,  toll. 
Und  ernfthaft  fetzte  er  alsdann  hinzu:  es  fei  viel  Wahres 
in  diefen  Bemerkungen  und  Urteilen,  und  er  habe  man^ 
ches  von  den  Damen  gelernt. 

Noch  eine  Anekdote  mag  mitgeteilt  werden,  weil  fie 
uns  ungemein  ergötzte  durch  die  Weife,  in  welcher  fie 
erzählt  wurde.  Ich  will  fie  mit  Goethes  Worten  wieder:; 
geben;  die  Weife  muß  freilich  ein  jeder  hinzudenken: 

In  meiner  Art  auf  und  ab  wandelnd,  war  ich  feit 
einigen  Tagen  an  einem  alten  Manne  von  etwa  78  bis 
80  Jahren  häufig  vorübergegangen,  der  auf  fein  Rohr  mit 
einem  goldenen  Knopfe  gefi:ützt  diefelbe  Straße  zog,  kom? 
mend  und  gehend.  Ich  erfuhr,  es  fei  ein  vormaliger  hoch^ 
verdienter  öfterreichifcher  General  aus  einem  alten,  fehr 
vornehmen  Gefchlechte.  Einige  Male  hatte  ich  bemerkt, 
daß  der  Alte  mich  fcharf  anblickte,  auch  wohl,  wenn  ich 
vorüber  war,  ftehen  blieb  und  mir  nachfchauete.  Indes 
war  mir  das  nicht  auffallend,  weil  mir  dergleichen  wohl 
fchon  begegnet  ift.  Nun  aber  trat  ich  einmal  auf  einem 
Spaziergang  etwas  zur  Seite,  um,  ich  weiß  nicht  was,  ge? 
nauer  anzufehen.  Da  kam  der  Alte  freundlich  auf  mich 
zu,  entblößte  das  Haupt  ein  wenig,  was  ich  natürlich  an? 
ftändig  erwiderte,  und  redete  mich  folgendermaßen  an: 
Nicht  wahr,  Sie  nennen  fich  Herr  Goethe?  —  Schon 
recht.  —  Aus  Weimar?  —  Schon  recht.  —  Nicht  wahr, 
Sie  haben  Bücher  gefchrieben?  —  O  ja.  —  Und  Verfe 
gemacht?  —  Auch.  —  Es  foll  fchön  fein.  —  Hml  —  Haben 
Sie  denn  viel  gefchrieben?  —  Hml  es  mag  fo  angehen.  — 
Ift  das  Verfemachen  fchwer?  —  So,  fol  —  Es  kommt 
wohl  halter  auf  die  Laune  an :  ob  man  gut  gegeffen  und 
getrunken  hat,  nicht  wahr?  —  Es  ift:  mir  faft  fo  vorge? 
kommen.  —  Na  fchauen  S'l  da  follten  Sie  nicht  in  Weis= 
mar  fitzen  bleiben,   fondern  halter  nach  Wien  kommen. 


875] Jena.     1806.        419 

—  Hab'  auch  fchon  daran  gedacht.  —  Na  fchauen  S',  in 
Wien  ifi's  gut;  es  wird  gut  gegeffen  und  getrunken.  — 
Hm!  —  Und  man  häh  was  auf  folche  Leute,  die  Verfe 
machen  können.  —  Hm!  —  Ja,  dergleichen  Leute  finden 
wohl  gar  —  wenn  f  fich  gut  halten,  fchauen  S',  und  zu 
leben  wiffen  —  in  den  erften  und  vornehmften  Häufern 
Aufnahme.  —  Hml  —  Kommen  S'  nur;  melden  S'  fich  bei 
mir;  ich  habe  Bekanntfchaft ,  Verwandtfchaft ,  Einfluß; 
fchreiben  S'  nur:  Goethe  aus  Weimar,  bekannt  von  Karls? 
bad  her.  Das  letzte  ift  notwendig  zu  meiner  Erinnerung, 
weil  ich  halter  viel  im  Kopf  habe.  —  Werde  nicht  ver^j 
fehlen.  —  Aber  fagen  S'  mir  doch,  was  haben  S'  denn 
gefchrieben?  —  Mancherlei,  von  Adam  bis  Napoleon, 
vom  Ararat  bis  zum  Blocksberg,  von  der  Zeder  bis  zum 
Brombeerftrauch.  —  Es  foll  halter  berühmt  fein.  —  Hm! 
Leidlich.  —  Schade,  daß  ich  nichts  von  Ihnen  gelefen  und 
auch  früher  nichts  von  Ihnen  gehört  habe.  Sind  fchon 
neue  verbefferte  Auflagen  von  Ihren  Schriften  erfchienen? 

—  O  ja,  wohl  auch.  —  Und  es  werden  wohl  noch  mehr 
erfcheinen?  —  Das  wollen  wir  hoffen.  —  Ja,  fchauen  S', 
da  kauf  ich  Ihre  Werke  nicht.  Ich  kaufe  halter  nur  Auss^ 
gaben  der  letzten  Hand;  fonft  hat  man  immer  den  Ärger, 
ein  fchlechtes  Buch  zu  befitzen,  oder  man  muß  dasfelbe 
Buch  zum  zweiten  Male  kaufen.  Darum  warte  ich,  um 
ficher  zu  gehen,  immer  den  Tod  der  Autoren  ab,  ehe  ich 
ihre  Werke  kaufe.  Das  ift  Grundfatz  bei  mir,  und  von 
diefem  Grundfatz  kann  ich  halter  auch  bei  Ihnen  nicht 
abgehen.  —  Hm!  — 

Die  Sitzung  dauerte  bis  gegen  1  Uhr,  Etwa  in  der 
letzten  halben  Stunde  wurde  die  Unterhaltung  matter,  ja 
flau.  Endlich  fah  Goethe  nach  der  Uhr.  Wir  erhoben 
uns.  Goethe  fagte  alsdann  noch  jedem  einzelnen  einige 
verbindliche  Worte.  Zu  mir  fagte  er:  Es  freuet  mich 
wirklich,  Herr  Profeffor,  Ihre  Bekanntfchaft  gemacht  zu 
haben.  Ich  hoffe,  das  wird  weiter  führen.  Sie  werden 
gewiß  oft  nach  Weimar  kommen;  alsdann  bitte  ich,  mich 
zu  befuchen.  In  Jena  wird  es  Ihnen  fchon  gefallen,  wenn 
Sie  fich  nur  erft  gewöhnt  haben.  Nach  diefen  Worten, 
welche  ich  fo  gut  als  ich  vermochte,  beantwortete,  wandte 
er  fich  ab  und  ging  ein  paar  Schritte  weiter,  drehte  fich 
aber  fogleich  wieder  um:  Man  muß  nichts  verfchieben. 
Mit  einem  neuen  Freunde  muß  man  doch  auch  ein  ern? 
ftes  Wort  fprechen;  und  dazu  find  wir  heute  nicht  ge? 
I  27* 


420 H.  Luden. [m 

kommen.  Die  Nachwirkung  des  Bades  hat  uns  auf  tolle 
Dinge  gebracht  und  das  ift  für  alle  recht  gefund  gewefen. 
Ich  reife  aber  erfi  übermorgen*  nach  Weimar,  und  habe 
morgen  den  Morgen  frei.  Kommen  Sie  früh  zu  mir.  Er 
beftimmte  8  Uhr.  Hierauf  gingen  wir  vier  Gäfte  zu? 
fammen  nach  der  Stadt  zurück,  aber  in  tiefem  Schweigen. 
Am  Tore  trennten  wir  uns;  Goethe  und  Riemer  gingen 
um  den  Graben,  Hufeland  und  ich  in  die  Stadt  und  nach 
der  Sonne. 

[874.]     Auguft  19.     H.  Luden. 

Goethe  empfing  mich  ungemein  heiter  und  freund? 
lieh,  lobte  meine  Pünktlichkeit  und  erinnerte  fich  mit  Ver? 
gnügen  an  den  (gefirigen)  Abend.  Alsdann  ging  er  ans 
Fenfter.  Es  ift  ein  fchöner  Tag,  fagte  er,  warm  bei  be? 
decktem  Himmel.  Ich  denke,  wir  gehen  in  den  Garten. 
Wir  gingen  und  wandelten  auf  und  ab,  kreuz  und  quer, 
und  ließen  uns  auch  von  Zeit  zu  Zeit  etwas  nieder.  Er 
fragte  mich  zuvörderft  über  die  Städte,  in  welchen  ich 
mich  in  den  letzten  Jahren  aufgehalten  hatte,  über  Göt? 
tingen  und  über  Berlin.  Über  Göttingen  nicht  viel;  denn 
er  kannte  die  Anfialten  und  Einrichtungen  felbft  genau; 
unter  den  gelehrten  Männern  fchien  ihn  eigentlich  nur 
Blumenbach  zu  intereffieren ,  und  mit  Blumenbach  war 
ich  nur  fehr  wenig  bekannt  geworden.  Mehr  über  Ber? 
lin.  Er  erkundigte  fich  nach  Menfchen  und  Dingen.  Ich 
vermochte  über  das  meifte  Auskunft  zu  geben:  ^^  Goethe 
fchien  mit  meiner  Auffaffung  der  Dinge  und  mit  meinen 
Urteilen  über  die  Menfchen  keineswegs  unzufrieden  zu  fein. 

Er  hörte  mich  ruhig  an,  ließ  zuweilen  ein  beifälliges 
Hm!  Hml  vernehmen  und  fprach  fich  auch  wohl  zu? 
fiimmend  aus,  bald  erläuternd,  bald  beftätigend.  Damals 
hatte  ich  die  Gewohnheit,  meine  ausgefprochenen  An? 
fichten,  Meinungen  oder  Urteile  mit  einem  tüchtigen  Worte 
aus  dem  Faufi:  zu  bekräftigen;  eine  Gewohnheit,  der  ich 
nicht  gänzlich  entfagt  habe  bis  diefen  Tag.  Ich  muß  aber 
bemerken,  daß  hier  nur  von  dem  alten  Fauft  die  Rede 
ift,  von  dem  Fragmente,  das  fich  noch  nicht  für  eine  Tra? 


*  Nach  Luden  war  diefes  Gefpräch  am  18.,  nach  Goethes 
Tagebuch  am  10.  Auguft;  am  11.  früh  fuhr  Goethe  nach  Weimar, 
war  am  15.  wieder  in  Jena  und  notiert  am  19.  Befuch  von  Luden 
im  Tagebuch. 


8741  Jena.     1806.  421 

gödie  gab.  ^  Als  ich  nun  einige  Male  diefen  Faufi  an:: 
geführt  hatte,  fagte  Goethe,  den  bisherigen  Gang  des  Ge* 
fpräches  abbrechend: 

G.  Sie  fcheinen  fehr  belefen  im  Fauft.  Hat  das 
wunderliche  Gedicht  auch  Sie  fo  ftark  angezogen? 

L.  Ich  glaube,  Ew.  Exzellenz,  ich  würde  den  Fauft 
vom  Anfange  bis  zum  Ende  herrezitieren  können;  nur 
die  tolle  Wirtfchaft  in  der  Hexenküche  dürfte  mich  in 
einige  Verwirrung  bringen. 

G.  Wo  und  wie  haben  Sie  die  Bekanntfchaft  ge^^ 
macht?  Doch  wohl  in  Berlin;  denn  in  Göttingen  be:: 
kümmert  man  fich  wohl  nicht  viel  um  den  tractatum  de 
Faufto. 

L.  So  arg,  Ew.  Exzellenz,  ift  die  Philifterei  denn 
doch  in  Göttingen  nicht.  Und  ich  habe  wirklich  in  Götj: 
tingen  viel  Intereffe  für  den  Faufi  gefunden.  Ich  felbft 
hatte  ihn  aber  fchon  vor  acht  Jahren,  als  ich  in  Bremen 
auf  der  Schule  war,  gelefen,  aber  freilich  damals  nicht 
mit  fehr  großer  Teilnahme.  '^  Während  meines  Aufents^» 
haltes  in  Göttingen,  vom  Jahre  1799  an,  kamen  einige 
Studierende  aus  Jena  nach  diefer  Univerfität.  Es  waren 
zum  Teil  fchon  reifere  Jünglinge.  Einige  waren  Fichtes 
Zuhörer  gewefen;  viele  hatten  Schelling  gehört  und  die 
Schlegel;  auf  alle  hatte  das  damalige  philofophifche  und 
äfihetifche  Treiben  in  Jena  eingewirkt,  und  das  Theater 
in  Weimar  hatten  fie  nur  fo  oft  verfäumt,  als  der  leere 
Beutel  Einfprache  tat.  Mehrere  von  diefen  jungen  Män^ 
nern  wurden  mir  befreundet,  unter  ihnen  ein  Dr.  Winckel^ 
mann. 

G.    Winckelmann? 

L.  Ja,  Ew.  Exzellenz,  Winckelmann  aus  Braunfchweig, 
ein  Verwandter  des  berühmten  Winckelmann.  Es  war  eine 
große  derbe  Gefialt.  Aber  auf  dem  unbehilflichen  Rumpf 
faß  ein  fehr  fchöner  Kopf. 

G.  Ich  glaube  ihn  gefehen  und  auch  einige  Worte 
mit  ihm  gefprochen  zu  haben. 

L.  Er  rühmte  und  freuete  fich  diefer  Ehre.  —  Da 
nun  mein  häufiges  Berufen  auf  den  Faufi  zunächfi  die  Ver^ 
anlaffung  zu  unferer  näheren  Bekanntfchaft  gegeben  hatte, 
fo  wurde  der  Faufi  gar  oft  der  Gegenfiand  unferer  Ges^ 
fpräche,  unferer  Diskuffionen  und  Disputationen. 

G.     Wie  fo?    wie  kam  es  denn  unter  Ihnen  zu  Dis^ 
putationen? 
I 


422 H.  Luden. [874 

L.  Meine  Freunde  hatten  den  Kopf  voll  von  allere 
lei  Anflehten  und  Ideen,  die  mir  nicht  immer  recht  klar 
und  faßlich  waren,  fprachen  diefelben  in  Worten  aus, 
die  mir  oft  wunderlich  vorkamen,  fchienen  aber  doch  fo 
viel  bei  diefen  Worten  zu  denken,  daß  fie  unfereinen 
halb  vornehm,  halb  mitleidig  anblickten,  fo  daß  man  nicht 
umhin  konnte,  einmal  herauszufahren  und  den  Selbft^ 
feiigen  entgegen  zu  treten. 

G.  Ich  kenne  das!  Aber  was  brachten  fie  denn 
über  den  Fauft  vor,  diefe  Philofophen? 

L.  Genau,  Ew.  Exzellenz,  wüßte  ich  das  in  der  Tat 
nicht  mehr  zu  fagen;  auch  würde  ich  es  vor  Ihnen  nicht 
ohne  einige  Befangenheit  ausfprechen  können. 

G.  Sagen  Sie  es  nur  immer  ganz  unbefangen.  Es 
würde  mir  doch  intereffant  fein,  zu  hören,  wie  von  den 
jungen  Leuten  die  Ideen  ihrer  Lehrer  aufgefaßt  werden. 
Denn  diefe  Ideen  waren  es  doch  wohl  im  Grunde,  welche 
fie  fich  in  ihrem  Kopf  und  auf  ihre  Weife  zurechtgelegt 
hatten. 

L.  Ohne  Zweifel.  Es  waren  aber  lauter  hohe  In^^ 
tuitionen.  Es  waren  myftifche  Worte,  die  aus  dem  Un^^ 
geheuern  hervorzukommen  und  an  das  Ungeheuere  ge^ 
richtet  zu  fein  fchienen.  Sie  verwarfen  meine  Auffaffung 
des  einzelnen  im  Faufi:,  welchem  ich  den  Sinn  gab,  der 
in  den  Worten  liegt,  und  behaupteten,  man  muffe  fich 
zu  der  Anfchauung  des  Geiftes  erheben,  aus  welchem 
das  einzelne  hervorgegangen  fei. 

Es  folgt  eine  längere  Darlegung  über  die  Idee  des  Fauft. 

In  diefen  oder  ähnlichen  Worten,  welche  mir  unge^ 
fähr  dasfelbe  zu  bedeuten  fchienen,  teilten  meine  Freunde 
ihre  Jenaifche  Weisheit  mit;  und  diefelben  Phrafen  habe 
ich  fpäter  auch  in  Berlin  häufig  genug  anhören  muffen. 

G.     Liaben  Sie  Schlegels  Vorlefungen  beigewohnt? 

L.  Nein,  Ew.  Exzellenz.  Ich  habe  nur  ein  paar 
Male  hofpitiert.  Überhaupt  bin  ich  in  Berlin  nur  Fich^ 
tes  Zuhörer  gewefen,  und  auch  nur  in  den  wiffenfchaft^ 
liehen  Vorträgen,  nicht  in  den  populären. 

G.  Sie  fcheinen  alfo  nicht  viel  auf  Schlegel  zu  hal:= 
ten,  oder  find  wohl  felbfi  ein  Gegner? 

L.  Keinesweges.  Ich  verehre  Schlegels  Verdienfi:e 
um  die  deutfche  Literatur  auf  das  Höchfte,  und  bin  ihm 
felbft  große  Dankbarkeit  fchuldig.  ^  Übrigens  habe  ich 
bei  den  Worten,  daß  ich  in  Berlin  diefelben  Phrafen  hätte 


874] Jena.     1806. 423 

anhören  muffen,  die  ich  in  Göttingen  angehört  hatte,  durch;: 
aus  nicht  an  Schlegel  gedacht. 

G.  Aber  Sie  haben  nicht  bloß  angehört,  fondern 
Sie  haben  disputiert. 

L.  Nur  in  Göttingen  mit  meinen  jungen  Freunden. 
In  Berlin  habe  ich  die  Redensarten  nur  angehört,  habe 
zugefiimmt  und  zuweilen  etwa  gelacht. 

G,     Gelacht? 

L.     Verfteht  fich,  in  mich  hinein. 

G.  Aber  eben  damit  haben  Sie  ftillfchweigend  das 
Disputieren  fortgefetzt.  Sie  find  nicht  zu  der  Meinung 
Ihrer  Gegner  übergegangen,  fondern  in  der  Oppofition 
geblieben.  Sie  haben  Ihre  Argumente  alfo  fortwährend 
für  ftark  genug  gehalten  um  die  Gegner  aus  dem  Felde 
zu  fchlagen.  Darf  man  denn  die  Gründe  nicht  kennen, 
mit  welchen  Sie  gefiritten  haben? 

L.  In  der  Tat,  Ew.  Exzellenz,  würde  ich  kaum  im? 
ftande  fein,  vor  Ihnen  diefe  Gründe  auszufprechen.  Sie 
waren  gar  verfchieden,  heute  andere,  als  geftern,  wie  der 
Augenblick  fie  eingab.  Auch  waren  fie  von  fehr  ver:: 
fchiedener  Art. 

G.  Es  würde  mich  doch  intereffieren,  fie  kennen  zu 
lernen,  wenigftens  in  der  Hauptfache.  Auch  fcheint  mir 
billig,  da  Sie  fo  gütig  gewefen  find,  die  Meinungen  des 
einen  Teiles  mitzuteilen,  die  entgegenftehenden  Meinungen 
auszufprechen.  Und  tun  Sie  das  nur  mit  völliger  Unbe? 
fangenheit;  vergeffen  Sie,  daß  der  Dichter  des  Fauft  mit 
Ihnen  fpricht. 

L.  Meine  Freunde  aus  Jena  waren  natürlich  fämt? 
lieh  große  Philofophen.  ^^  Bei  diefen  philo fophifchen  Dis:J 
putationen  mit  ihnen  kamen  wir  denn  auch  oft  auf  den 
Fauft  zurück,  und  ich  holte  bald  diefes,  bald  jenes  Ge? 
fchütz  aus  meinem  Arfenal  hervor,  um  den  Bau  meiner 
Freunde  zu  befchießen. 

G.  Das  ifi  recht  hübfch.  Ich  hätte  kaum  geglaubt, 
daß  man  es  in  diefer  Weife  in  Göttingen  getrieben  habe. 
Ihre  übrigen  Disputationen  würden  uns  zu  weit  führen; 
was  Sie  aber  gegen  die  Anfichten  Ihrer  Freunde  vom 
Fauft  vorgebracht  haben,  wäre  ich  wohl  begierig  der 
Hauptfache  nach  zu  erfahren.  Gelang  es  Ihnen,  den 
Feind  mit  Ihrem  Gefchütz  aus  dem  Felde  zu  treiben? 

L.     Nein,    Ew.   Exzellenz;    aber  ich  habe  ihn  doch 
zuweilen  in  feinem  Lager  ftark  beunruhigt.  ~ 
I 


424 H.  Luden. [874 

G.  Nun,  fo  fahren  Sie  doch  eine  oder  die  andere 
Ihrer  Batterien  vor,  damit  man  ihre  Stärke  und  Tragweite 
erkenne! 

L.  Wenn  Ew.  Exzellenz  es  wollen,  fo  gehorche  ich 
dem  wiederholten  Befehl;  ich  muß  aber  um  Nachficht 
und  zu  erwägen  bitten,  daß  ich  Student  war.  Auch  können 
natürlich  nur  ein  paar  Beifpiele  gegeben  werden. 

G.     Ganz  recht,  ganz  recht.     Geben  Sie  nur. 

L.  Meine  Freunde  hatten,  wie  gefagt,  behauptet:  der 
Fauft  fei  oder  werde  fein  eine  divina  tragoedia,  in  welcher 
der  Geift  der  ganzen  Weltgefchichte  dargeftellt,  in  welcher 
das  ganze  Leben  der  Menfchheit  fei,  Vergangenheit,  Gegen? 
wart  und  Zukunft  umfaffend.  Diefer  Behauptung  ftellte 
ich  den  Begriff  der  Tragödie  entgegen,  wie  derfelbe  von 
alten  und  neuen  Philofophen  beftimmt  worden,  und  be? 
hauptete  alsdann,  eine  Darf  teilung  der  Weltgefchichte  könne 
unmöglich  ein  Tragödie  fein.  ^^  Es  wäre  nicht  nur  mög? 
lieh,  fondern  fogar  wahrfcheinlich,  und  ich  glaubte,  wir 
müßten  es  wünfchen,  daß  unfere  Nachkommen  nach 
10000  Jahren  die  Weltgefchichte  ganz  anders  auffaßten, 
als  wir,  und  in  ihr,  wenn  nicht  einen  ganz  anderen  Geift, 
doch  denfelben  Geift  viel  klarer,  deutlicher  und  beftimmter 
erkennen  würden;  es  wäre  möglich,  daß  fie  alles,  worin 
wir  es  fo  herrlich  weit  gebracht  zu  haben  glaubten,  nur 
als  Anfänge,  als  kindifche  Verfuche  betrachteten  und  all 
unfere  Weisheit  als  knabenhafte  Torheit. 

G.  Lim]  Lim!  —  (dem  Laute  nach  halb  beifällig 
und  halb  zweifelnd.)  — 

L.  Eben  deswegen  hielte  ich  nicht  für  denkbar,  daß 
irgend  einem  Menfchen  der  ungeheure  Gedanke  in  den 
Kopf  kommen  könne,  das  Leben  der  Menfchheit,  wenn 
nicht  für  das  Theater,  doch  jedesfalles  in  dramatifcher 
Weife  zu  bearbeiten;  und  am  wenigfien  könnte  ich  mir 
diefes  von  dem  Dichter  des  Fauft  vorftellen,  in  deffen 
übrigen  Schöpfungen,  z.  B.  in  meinen  Lieblingsgedichten 
der  Iphigenia  und  dem  Torquato  Taffo,  alles  fo  hell  und 
lauter  erfcheine,  fo  wahr,  menfchlich  und  fchön,  fo  fcharf 
und  gerundet. 

Diefes  letzte  Argument  ward  aber  auf  eine  Weife 
fchnöde  verworfen,  welche  ich,  da  ich  einmal  in  das 
Schwatzen  hineingekommen  bin,  nicht  unberührt  laffen 
möchte,  weil  fie  am  heften  zeigen  kann,  wie  es  in  den 
Köpfen  einiger  meiner  Freunde  ausfah. 


S74]  Jena.     1806.  425 

G.     Nun,  ich  bin  begierig  1 

L.  Meine  Freunde  gaben  zu,  daß  der  Dichter  des 
Fauft  den  Gedanken  gar  nicht  gehabt  haben  möge,  ja 
vielleicht  einen  ganz  anderen,  aber  fie  behaupteten,  daß 
er  diefen  Gedanken  dennoch  gegen  fein  Wiffen  und  feinen 
Willen  dem  Gedichte  zum  Grunde  gelegt  und  die  ganze 
Dichtung  mit  demfelben  durchdrungen  habe.  '^  Sie  nahmen 
an,  die  Dichtung  dringe  aus  dem  f  g.  Dichter  hervor, 
wie  etwa  der  Quell  aus  dem  Felfen.  ^  Rhythmus,  Me^: 
trum,  Reim,  alles  ift  nicht  Werk  des  dichtenden  Menfchen, 
fondern  die  Wirkung  des  dichterifchen  Geiftes,  welchem 
der  Menfch  nicht  zu  widerftehen  vermöge,  er  möge  fich 
ftellen,  wie  er  wolle. 

G.     So?     Ei,  das  ift  ja  ganz  scharmant! 

L.  Meine  Gegenbemerkungen,  ^  auch  der  Dichter 
habe  feine  Werkftatt,  und  er  empfinde  bei  der  Arbeit 
diefelben  Geburtswehen,  an  welchen  andere  Sterbliche  zu 
leiden  hätten  — 

G.     Da  haben  Sie  wohl  recht. 

L.  —  Diefe  Gegenbemerkungen  wurden  als  un? 
philofophifch ,   profaifch  und    gemein  zurückgewiefen.  ^ 

Luden  führt  an,  man  erzähle  eine  Anekdote,  wie  Goethe 
einmal  unbewußt  eine  Zeichnung  hervorgebracht  habe. 

G.      So? 

L.  Ein  zweites  Beifpiel.  Meine  Freunde  behaupteten, 
Fauft  fei,  oder  folle  fein,  der  Repräfentant  der  Menfchi= 
heit  und  Mephiftopheles  das  personifizierte  Böfe. 

Ich  leugnete  beides.  Was  Fauft  fein  folle,  fagte  ich, 
oder  was  er  einft  fein  werde,  wenn  die  ganze  Tragödie 
vollendet  fei,  laffe  ich  auf  fich  beruhen,  Aber  in  dem 
Fragment  fei  er  offenbar  nicht  Repräfentant  der  Menfch:^ 
heit,  fondern  ein  einzelner.  Neben  ihm  erfchienen  ja  auch 
andere  Menfchen,  wie  der  ehrliche  Wagner,  die  tapferen 
Burfchen,  Frofch,  Brander,  Siebel  und  Konforten,  die 
lüfterne  Frau  Marthe  und  das  wunderliebliche  Gretchen, 
welche  fämtlich  doch  auch  zur  Menfchheit  gehörten  und, 
fo  zu  fagen,  einen  Teil  der  Menfchheit  in  fich  trügen, 
wenn  auch  nur  einen  fehr  kleinen.  Wollte  man  aber 
den  Fauft  etwa  einen  Repräfentanten  der  Menfchheit  nen^ 
nen,  wie  ein  Gefandter  der  Repräfentant  eines  Reiches 
oder  eines  Volkes  fei,  oder  ein  Deputierter  im  englifchen 
Parlamente  der  Repräfentant  einer  Graffchaft,  einer  Stadt, 
eines  Fleckens:  fo  fürchtete  ich,  es  würde  ihm  nicht  mög* 
1 


426  H.  Luden.  [874 

lieh  fein,  feinen  Vollmachtsbrief  vorzuzeigen.  Auch  fei 
es  doch  fonderbar,  daß  das  Böfe,  welches  fich  im  Leben 
der  Menfchheit  finden  möge,  hier  als  Perfon  neben  dem 
Repräfentanten  der  Menfchheit  als  gehorfamer  Diener  her^ 
laufe  und  dergleichen  mehr. 

G.  Alles  diefes  läßt  fich  hören;  es  find  jedoch  nur 
Negationen,  was  Sie  vorbringen  oder  vorgebracht  haben, 
die  nicht  weiter  führen.  Indem  Sie  aber  die  Anfichten 
anderer  von  dem  Fauft  zu  widerlegen  fuchten  und  zu 
diefem  Zweck  den  Faufi:  abermals  und  abermals  lefen 
mußten,  find  Sie  ohne  Zweifel  zu  einer  eigenen  Anficht 
von  dem  wunderlichen  Gedicht  gekommen,  die  folchen 
Gründen,  als  Sie  aufgefiellt  haben,  zu  widerfi:ehen  im^ 
ftande  ifi:.  Wollen  Sie  nicht  wenigftens  zum  Schluffe 
unferer  Unterhaltung  diefe  Anficht,  die  Sie  felbfi:  aus  der 
Lektüre  des  Fauft  gewonnen  haben,  mitteilen? 

L.  In  der  Tat,  Ew.  Exzellenz,  habe  ich  wohl  Vers: 
fuche  gemacht,  die  Idee,  welche  der  Dichter  darzuftellen 
unternommen  habe,  aufzufinden,  und  aus  derfelben  das 
Einzelne  in  dem  Gedichte  zu  erklären ;  es  hat  auch  wohl 
Augenblicke,  vielleicht  Stunden  und  Tage  gegeben,  in 
welchen  ich  an  die  Richtigkeit  diefer  Idee  geglaubt  habe. 
Aber  fie  ift  mir  immer  wieder,  wie  man  zu  fagen  pflegt, 
unter  den  Händen  zerronnen,  und  mein  Glaube  ifi  ver^s 
fchwunden.  Daher,  wie  ich  alles  Streiten  längft  aufge^^ 
geben  habe,  fo  habe  ich  auch  aller  Grübelei  entfagt.  Ich 
freue  mich  deffen,  was  wir  haben,  nehme  es,  wie  es  vor^s 
liegt,  und  überlaffe  anderen  zu  ergründen,  was  vielleicht 
unergründlich  ift. 

G.     Wie  ifi  denn  das  möglich? 

L.  Ich  lefe  die  einzelnen  Szenen,  und  oft,  und  mache 
das  Büchlein  immer  mit  neuer  Luft  wieder  auf.  Des  ge^; 
lehrten  Doktors  Selbftpeinigung,  die  allerdings  bei  einem 
Manne  von  54  Jahren  etwas  auffallend  ifi  — 

G.     Warum   geben  Sie   ihm   denn  grade  54  Jahre? 

L.  Auf  und  ab.  Da  Fauft  fich  durch  den  Hexen^: 
trank  30  Jahre  vom  Leibe  fchaffen,  und  doch  wohl,  weil 
er  nach  gewiffen  Genüffen  iüftern  ift,  nicht  als  unreifer 
Burfche  erfcheinen  will,  fo  dächte  ich  54  Jahre  wären  un:= 
gefähr  ein  angemeffenes  Alter. 

G.  Nun,  ich  habe  Sie  unterbrochen;  fahren  Sie  doch  fort. 

L.     Des   Doktors  Selbftpeinigung   erregt  mein    Mit^ 

leid  und  macht  mich  beforgt  für  den  Mann;  feine  weifen 


874] Jena.     1806. 427 

Lehren  gewinnen  meinen  Beifall,  fein  Streben  nach  tieferer 
Erkenntnis  meine  Achtung,  fein  Gebet  im  Walde  greift 
tief  in  meine  Bruft,  und  fein  Gefpräch  mit  Gretchen  über 
Religion  fpricht  lebendig  zu  meinem  Herzen.  Bei  allen 
diefen  Vorgängen  nehme  ich  ihn,  wie  er  eben  erfcheint, 
und  fuche  weder  den  eitlen  Hans  in  der  Hexenküche, 
noch  den  groben  Gefellen  im  Verkehre  mit  Mephiftoj: 
pheles,  oder  den  argliftigen  Verführer  der  Margaretha  mit 
ihm,  in  jenen  Vorgängen,  in  Übereinfiimmung  zu  bringen. 
Und  auf  diefelbe  Weife  faffe  ich  die  übrigen  Perfonen, 
wie  fie  fich  eben  geben,  jedes  ihrer  Worte  in  dem  ein^ 
fachen  Sinne  nehmend,  den  fie  in  der  Sprache  haben. 

G.  Ja;  fo  mögen  denn  die  Orakelfprüche,  Sentimen:: 
talitäten,  Schelmereien,  Spitzbübereien  und  Schweinereien 
auch  ihr  Intereffe  haben.  Aber  es  ift  ein  kleinliches, 
ein  zerhacktes  Intereffe.  Ein  höheres  Intereffe  hat  doch 
der  Fauft,  die  Idee,  w^elche  den  Dichter  befeelt  hat,  und 
welche  das  einzelne  des  Gedichtes  zum  Ganzen  verknüpft, 
für  das  einzelne  Gefetz  ift  und  dem  einzelnen  feine  Be^ 
deutung  gibt. 

L.  Darüber  könnte  freilich  der  Dichter  den  heften 
Auffchluß  geben. 

G.  Mit  diefem  Auffchlußgeben  wäre  die  ganze  Herr^ 
lichkeit  des  Dichters  dahin.  Der  Dichter  foll  doch  nicht 
fein  eigener  Erklärer  fein  und  feine  Dichtung  in  alltags 
liehe  Profa  fein  zerlegen;  damit  würde  er  auf  hören  Dichter 
zu  fein.  Der  Dichter  ftellt  feine  Schöpfung  in  die  Welt 
hinaus;  es  ift  die  Sache  des  Lefers,  des  Äfthetikers,  des 
Kritikers,  zu  unterfuchen,  was  er  mit  feiner  Schöpfung 
gewollt  hat. 

L.  Ich  gebe  diefes  alles  fehr  gern  zu,  Ew.  Exzellenz, 
aber  mir  fcheint  doch  auch,  daß  es  dem  Lefer  oder  Kri^ 
tiker  unmöglich  fein  werde,  die  Idee  der  ganzen  Schöpfung 
anders,  als  aus  der  ganzen  Schöpfung  zu  gewinnen. 

G.    Aber  wir  erkennen  doch  im  Torfo  den  Herkules. 

L.  In  tantum,  Ew.  Exzellenz.  Wir  erkennen  in  dem 
fchön  bearbeiteten  koloffalen  Block,  den  ich  leider  nicht 
gefehen  habe,  daß  derfelbe  der  Rumpf  einer  koloffalen 
Statue  gewefen  fein  muffe,  und  wir  find,  fo  zu  fagen, 
ftillfchweigend  übereingekommen,  in  diefer  Statue  den 
Herkules  zu  fehen,  weil  wir  fie  fonft  nicht  unterzubringen 
wiffen.  Wenn  aber  irgend  ein  Zauberer  die  Statue  wieder 
herftellte  und  ihr  den  Torfo  ohne  Euge  und  Naht  ein:: 
I 


428 H.  Luden.  [874 

verleibte:  fo  würde  fleh  doch  vielleicht  zeigen,  daß  felbft 
Winckelmann  fich  geirrt  habe,  und  daß  der  Torfo  nicht 
einem  fitzenden  Herkules  den  Kopf  auf  die  Hand  geftützt 
und  das  Auge  zum  Himmel  gerichtet  angehöret  habe.  Ich 
fage,  das  wäre  möglich. 

G,  Soll  ich  etwa  an  Statt  des  Torfo  die  Löwenklaue 
nennen? 

L.  Wenn  uns  eine  abgefchnittene  Klaue  dargeboten 
würde,  als  ein  Fragment  eines  Löwen,  fo  würden  wir  ge^s 
wiß  erkennen,  daß  es  eine  Löwenklaue  fei,  aber  ich  fürchte 
den  Löwen,  von  welchem  fie  abgefchnitten  ift,  würden 
wir  nimmermehr  erkennen.  ^^  Aber  für  unmöglich  halte 
ich,  aus  dem  Fragment  einen  ganzen  Faufi  zu  konftruieren, 
oder  in  dem  Fragment  eine  Idee  aufzufinden,  aus  welcher 
die  vorliegenden  Szenen  ebenfowohl  erklärt  werden  könn^^ 
ten,  als  was  noch  an  einem  Ganzen  fehlen  mag. 

G.  Und  dennoch  hat  man  allgemein  einen  Mitteln 
punkt  gefucht,  aus  welchem  heraus  das  einzelne,  fich  gegen^ 
feitig  ergänzend,  erwachfen  fei  und  ferner  erwachfen  könnte. 
Und  große  Gelehrte  und  geifireiche  Männer  haben  es 
nicht  für  zu  gering  gehalten,  fich  nach  diefem  Mittelpunkt 
umzufehen. 

L,  Das  zeugt  jedes  Falles  für  das  allgemeine  Be^ 
dürfnis  eines  folchen  Mittelpunktes. 

G.  Was  hat  denn  aber  diefes  Bedürfnis  erzeugt? 
Doch  ohne  Zweifel  das  Fragment  felbft.  Das  einzelne, 
das  Ihnen  zu  genügen  fcheint,  hat  andere  nicht  befriedigt, 
und  doch  haben  fie  das  Büchlein  nicht  hinweg  geworfen, 
fondern  fie  haben  es  feftgehalten ,  oder  es  von  neuem 
und  abermals  wieder  in  die  Hand  genommen.  Es  muß 
alfo  doch  etwas  in  dem  Büchlein  fein  und  durch  das 
Büchlein  hindurch  gehen,  das  auf  den  Mittelpunkt  hin;; 
weift,  auf  die  Idee,  die  in  allem  und  jedem  hervortritt. 
L.  Ich  habe  nicht  gerade  gefagt,  Ew.  Exzellenz, 
wenigftens  hätte  ich  nicht  fagen  follen,  daß  mir  das  Ein^ 
zelne  genüge,  fondern  ich  habe  nur  fagen  wollen,  ^^  daß 
ich  mich  des  Vorhandenen  freue,  und  daß  ich  das  tiefere 
Forfchen  darum  aufgegeben  habe,  weil  meine  Verfuche 
mißlungen  wären,  und  weil  mir  auch  die  Verfuche  anderer 
mißlungen  zu  fein  fchienen.  Und  dann  geftehe  ich  auch, 
daß  die  beftändige  Erneuerung  diefer  Verfuche,  den  Mitteln 
punkt   oder  die   Grundidee  des  Fauft  aufzufinden,  nicht 


874] Jena.     1806. 429 

gerade  fo  zu  erklären  fein  dürfte,  wie  Ew.  Exzellenz  fie 
zu  erklären  geruhet  haben. 

G.  Wie  wollten  Sie  diefelben  denn  anders  erklären, 
als  aus  der  poetifchen  Richtung  des  einzelnen,  welche 
auf  einen  notwendigen  Zufammenhang ,  alfo  auf  einen 
Mittelpunkt,  auf  eine  Grundidee  hinweift  überall? 

L.  Das  könnte  vielleicht  auf  mehr  als  eine  Weife 
gefchehen.  Wenn  aber  Ew.  Exzellenz  mir  verftatten  wollen, 
nur  eins  anzuführen,  das  mitgewirkt  haben  könnte  zu 
diefem  allgemeinen  Eifer  in  der  Erklärung  des  Fauft,  fo 
möchte  ich  mir  fafi  erlauben,  mit  Worten  aus  dem  Fauft 
zu  fprechen,  wenn  es  auch  Hexens:  und  Teufelsworte  find : 

Aus  Eins  mach'  Zehn, 
Und  Zwei  laß  gehn. 
Und  Drei  mach'  gleich. 
So  bift  du  reich. 

Und  Neun  ift  Eins, 
Und  Zehn  ift  keins. 

G.  Wie  gehört  diefes  Hexeneinmaleins  hierher?  Was 
wollen  Sie  damit  fagen? 

L.     Mit  andern  Worten: 

—  ein  vollkommner  Widerfpruch 

Bleibt  gleich  geheimnisvoll  für  Kluge  wie   für  Toren. 

Und  je  geheimnisvoller  der  Widerfpruch  ift  und  je 
rafcher  fich  ein  Widerfpruch  an  den  anderen  drängt,  als 
follten  fie  fich  gegenfeitig,  wie  ergänzen,  fo  erklären  oder 
auflöfen,  defto  ftärker  und  allgemeiner,  denke  ich,  muß 
das  Verlangen  werden,  wenn  der  allgemeine  Ausdruck 
verftattet  ift,  dahinter  zu  kommen. 

G.  Im  allgemeinen  möchte  in  diefer  Bemerkung 
immer  einige  Wahrheit  fein.  Auf  den  befonderen  Fall 
aber  angewandt,  fcheinen  Sie  die  große  Teilnahme,  welche 
der  Fauft  gefunden  hat,  nicht  dem  Werke  felbft,  nicht 
der  Macht  der  Poefie  zuzufchreiben,  fondern  einem  myfiis 
fchen  Etwas,  das  hinter  dem  Fauft  liegt;  die  Lefer  werden 
nicht  angezogen  durch  das,  was  ihnen  dargeboten  ift, 
fondern  durch  etwas,  was  fie  zu  fuchen  veranlaßt  werden, 
und  was  fie  niemals  zu  finden  vermögen. 

L.  So  ift  es  nicht  gemeint,  Ew.  Exzellenz.  Ich  habe 
ja  von  mir  felbft  gefagt,  daß  ich  mich  des  Gegebenen 
herzlich  erfreue.   ~   Würden   dem   Verftand   die  Widers^ 


430  H.  Luden.  [874 

fprüche  in  fchlichter  Profa  dargeboten,  oder  in  Reimen 
ohne  Poefie,  fo  würde  er  die  Widerfprüche  ohne  Weiteres 
als  unvernünftig  zur  Seite  fchieben. 

G.  Alfo  abermals  die  Widerfprüche?  Wollten  Sie 
nicht  die  Güte  haben,  den  einen  oder  den  anderen  diefer 
Widerfprüche  etwas  näher  zu  bezeichnen,  an  welchen  Sie 
Anfioß  genommen  haben,  oder  welche  Ihnen  fo  geheim^ 
nisvoll  zu  fein  fcheinen,  daß  Kluge  und  Toren  fich  zu 
der  Auflöfung  aufgefordert  fühlen? 

L.  Legt  dar,  was  ihm  als  Widerfprüche  der  Dichtung  er? 
fchienen. 

G.  Alles,  was  Sie  da  vorbringen,  kann  nichts  gelten. 
In  der  Poefie  gibt  es  keine  Widerfprüche.  Diefe  find 
nur  in  der  wirklichen  Welt,  nicht  in  der  Welt  der  Poefie. 
Was  der  Dichter  fchafft,  das  muß  genommen  werden, 
wie  er  es  gefchaffen  hat.  So  wie  er  feine  Welt  gemacht 
hat,  fo  ifi:  fie.  Was  der  poetifche  Geift  erzeugt,  muß  von 
einem  poetifchen  Gemüt  empfangen  werden.  Ein  kaltes 
Analyfieren  zerftört  die  Poefie  und  bringt  keine  Wirk^ 
lichkeit  hervor.  Es  bleiben  nur  Scherben  übrig,  die  zu 
nichts  dienen  und  nur  inkommodieren. 

L.  Eben  deswegen  habe  ich  alles  Räfonnieren  ver^ 
worfen,  und  nehme  die  Handlung  rein  und  lauter,  wie 
fie  dargeftellt,  und  jedes  Wort,  wie  es  gefprochen  worden  ift. 

G.  Aber  Sie  nehmen  nur  immer  die  einzelnen  Szenen, 
Sprüche,  Wörter,  und  wollen  von  dem  Ganzen  nichts 
wiffen. 

L.  Weil  es  dem  Dichter  nicht  gefallen  hat,  uns  ein 
Ganzes  zu  geben.     Wir  haben  ja  nur  Bruchftücke. 

G.  Aber  eben  weil  es  Bruchftücke  find,  muffen  fie 
ja  zu  einem  Ganzen  gehören,  und  im  ganzen  poetifch 
aufgefaßt  werden. 

L.  Ich  gefiehe,  daß  dazu  eine  größere  poetifche 
Empfänglichkeit  gehören  würde,  als  deren  ich  mich  rühmen 
kann.  Sollte  es  dem  Dichter  gefallen,  einmal  das  Ganze 
vorzulegen,  fo  werde  ich  gewiß  verfuchen,  diefes  Ganze 
in  mich  aufzunehmen,  und  die  Idee  zu  erkennen,  von 
welcher  er  bei  feiner  Schöpfung  ausgegangen  ift.  Nur 
würde  es  mir  fehr  wehe  tun,  wenn  irgend  etwas  von 
diefem  Fragmente,  das  mir  fo  wohl  bekannt  und  fo  lieb 
geworden  ift,  in  dem  Ganzen  verloren  ginge. 

G,  Wie  könnten  aber  diefe  Bruchftücke  in  einem 
Ganzen  verloren  gehen,  aus  welchem  fie  herausgenommen 


874] Jena.    1806. 431 

find?     Sie  werden  in  demfelben  als  organifche  Teile  qt^ 
fcheinen  und  erft  ihre  wahre  Bedeutung  erhalten. 

L.  Diefe  Äußerung  Ew.  Exzellenz  fcheint  zu  be? 
weifen,  daß  das  Ganze  fchon  wirklich  vorhanden  ift.  Als:: 
dann  würde  ich  mich  unendlich  freuen,  wenn  es  bald  er^^ 
fchiene,  und  durch  die  Erfcheinung  würde  auch  allem 
Streit  ein  Ende  gemacht  werden. 

G.  Es  ift  vorhanden,  noch  nicht  alles  gefchrieben, 
aber  gedichtet.  —  Nun?  Sie  fchweigen?  Sie  fehen  mich 
ungläubig  an? 

L.  Wie  könnte  ich  wagen,  den  Worten  Ew.  Exzellenz 
meinen  Glauben  zu  verfagen?  Ich  bin  nur  überrafcht  und 
muß  befchämt  meinen  Irrtum  und  meine  Schwäche  bekennen. 

G.     Wie  fo?  —  Beichten  Sie  einmal! 

L.  Da  Ew.  Exzellenz  die  Gnade  gehabt  haben,  mir 
fo  lange  geneigteft  zuzuhören,  daß  ich  felbft  betreten  bin 
über  alles,  was  ich  zu  fagen  mir  erlaubt  habe,  fo  will 
ich  denn  auch  ehrlich  bekennen,  daß  ich  wirklich  oft, 
weil  ich  es  glaubte,  auch  behauptet  habe:  diefes  foge^^ 
nannte  Eragment  gehöre  keineswegs  einem  Ganzen  an.  ~ 
Nach  dem  aber,  was  Ew.  Exzellenz  foeben  zu  verfichern 
die  Gnade  gehabt  haben,  muß  ich  allerdings  einräumen, 
daß  ich  im  Irrtume  gewefen  bin;  aber  Sie  werden  mir 
auch  gewiß  verzeihen,  wenn  ich  bekenne,  daß  ich  nur 
durch  die  Erfcheinung  des  ganzen  Fauft  felbft  von  meinem 
Irrtum  völlig  geheilt  werden  kann. 

G.  Es  ift  Ihnen  nicht  zu  verargen,  daß  Sie  fehen 
und  nicht  glauben  wollen.  Wie  aber  haben  Sie  (ich  denn 
die  Entftehung  des  Fauft  gedacht?  Habe  ich  Sie  recht 
verftanden,  fo  find  Sie  der  Meinung  gewefen,  und  find 
noch  der  Meinung,  daß  der  Dichter  gar  nicht  ge^ 
wüßt  hat,  was  er  wollte,  als  er  die  Dichtung  begann, 
fondern  daß  er  auf  das  Geratewohl,  daß  er  in  das  Blaue 
hinein  gedichtet  und  fich  nur  des  Namens  Fauft  wie  einer 
Schnur  bedient  habe,  um  die  einzelnen  Perlen  aufzuziehen 
und  vor  der  Zerftreuung  zu  bewahren. 

L.  Es  bleibt  mir  nur  übrig,  Ew.  Exzellenz  einfach 
und  kurz  zu  erzählen,  wie  mir  durch  häufiges  Lefen  des 
Fauft  die  Sache  erfchienen   ift. 

Folgt  eine  Analyfe  des  Fauft,  nach  der  von  Luden  ver* 
muteten  allmählichen  Entftehung. 

Zuletzt  von  allem  fchien  mir  der  Monolog  gedichtet 
zu  fein,  mit  welchem  Fauft  das  Fragment  eröffnet.  Der 
I 


432  H.  Luden.  [874 

Hans  Lüderlich  follte  zu  Ehren  gebracht;  es  foUte  ihm  ein 
Empfehlungsfchreiben  an  die  Welt  mitgegeben  werden, 
damit  man  ihn  zuließe,  auch  in  honette  Gefellfchaft. 

G.  Nun,  nun,  das  ifi  auch  eine  Meinung,  und  eine 
Meinung,  die  fchon  beftritten,  vielleicht  fchon  widerlegt 
ift.  Sie  gäbe  Stoff  zu  neuen  Gefprächen  oder  zur  Fort^j 
fetzung  des  gegenwärtigen.  Wir  wollen  indes  für  diefes 
Mal  abbrechen,  und  den  Gegenftand  nicht  wieder  auf^ 
nehmen,  bis  die  ganze  Tragödie  vorliegt.  — 

So  weit  habe  ich  Goethes  Unterhaltung  mit  mir, 
wenige  Tage  nach  derfelben,  aufgefchrieben ,  und  hier 
nur  einiges,  im  befondern  einzelne  Namen,  ausgelaffen, 
und  einige  Sätze  abgekürzt.  Als  jetzt  eine  kleine  Paufe 
entftand  und  ich  Goethen  beftimmter  ins  Angehebt  fchaute, 
kam  mir  vor,  als  ob  feine  Züge  weniger  freundlich  feien, 
als  früher.  Zwar  hatte  ich  auch  während  des  Gefpräches 
zuweilen  bemerkt,  daß  feine  Augen  fiark  hin  und  her 
rollten;  aber  das  war  auch  am  vorigen  Abend  bei  der 
heiterften  Stimmung  der  Fall  gewefen,  und  darum  hatte 
ich  weder  auf  diefes  Rollen,  noch  auf  eine  Veränderung 
der  Stimme  zum  Kurzen  und  Scharfen  hin  geachtet.  Jetzt 
fiel  mir  fein  Geficht  etwas  auf,  und  diefe  Bemerkung 
brachte  eine  kleine  Unruhe  in  mir  hervor.  Als  er  nach 
einigen  Augenblicken  von  neuem  das  Wort  nahm,  zeigte 
fein  Geficht  abermals  eine  große  Freundlichkeit,  aber  es 
war  derfelben  ein  Zug  beigemifcht,  den  ich  weder  jetzt 
zu  benennen  weiß,  noch  damals  zu  deuten  wußte.  In^ 
des  fammelte  ich  mich  und  faßte  den  Entfchluß,  mich  in 
keiner  Weife  verblüffen  zu  laffen,  überall  befcheiden  nächst 
zugeben,  aber  auch  jedesfalles  auf  dem  Weg  fortzu;? 
wandeln,  den  ich  einmal  eingefchlagen  hatte,  oder  viel? 
mehr,  auf  den  ich,  ohne  zu  wiffen  wie,  geraten  war.  Und 
bald  nach  dem  Beginne  des  Gefpräches  kam  mir  vor,  als 
habe  er  die  Abficht,  mich  ein  wenig  zu  necken,  um  zu 
verfuchen,  ob  ich  fefi:,  und  wie  feit  ich  im  Sattel  fäße. 
Das  fchien  mir  aus  den  Wendungen  feiner  Fragen  und 
Einwürfe  hervor  zu  gehen,  welche  letztere  mir  zuweilen 
etwas  wehe  taten,  mir,  einem  jungen  Manne,  der  ich,  wie 
ich  wohl  fagen  darf,  begeiftert  war  für  meinen  neuen 
Beruf,  und  große  Dinge  erwartete  von  meiner  künftigen 
akademifchen  Wirkfamkeit.     Goethe  begann: 

G.  Ja,  wir  haben  lange  geplaudert.  Und  doch  find 
wir  noch  gar  nicht  auf  das  gekommen,  worüber  ich  mich 


874] Jena.     1806. 455 

mit  Ihnen  zu  unterhalten  gedachte,  auf  Ihr  eigenes  Vor;; 
haben,  auf  Ihr  Tun  und  Treiben.  Sie  wollen  alfo  —  Ge^ 
fchichte  lehren?  wollen  ein  —  Hiftoriker  werden?  oder 
vielmehr  find  ein  —  Hiftoriker? 

L.  Meine  Abficht  ifi  allerdings,  einen  Verfuch  zu 
machen,  Gefchichte  zu  lehren:  Ob  es  mir  gelingen  werde, 
Teilnahme  zu  finden  oder  zu  erregen,  ift  eine  andere  Frage. 
Übrigens  würde  das  eine  unverzeihliche  Anmaßung  fein, 
wenn  ich  fagen  wollte,  ich  fei  ein  Hiftoriker;  dagegen 
leugne  ich  nicht,  daß  es  mein  heißefter  Wunfeh  ift,  einft 
diefen  hohen  Namen  zu  verdienen.  Und  an  Fleiß  und 
Anftrengung  foll  es  gewiß  nicht  fehlen.  Der  Erfolg  liegt 
in  Gottes  Hand. 

G.  Warum  follte  das  Lehren  der  Gefchichte  Ihnen 
nicht  gelingen?  Sie  haben  eine  reine,  wohlklingende  Stim^: 
me  und  gute  Manieren;  Sie  werden  gut  erzählen  und  das 
Erzählen  ift  leicht.  Und  wer  hört  nicht  gern  guten  Erzäh:s 
lungen  zu?  Das  Kind  liebt  es,  fich  was  erzählen  zu  laffen, 
und  der  Greis  hat  noch  diefelbe  Luft  oder  diefelbe  Schwache 
heit,  gleichviel.  Und  warum  wollten  Sie  fich  gegen  den 
hohen  Namen  eines  Hiftorikers  fperren?  Ein  jeder,  der 
fich  mit  der  Historia  befchäftigt,   ift  ein  Historicus. 

L.  Die  Worte  Ew.  Exzellenz  find  eben  nicht  fehr 
ermunternd  für  einen  jungen  Mann,  der  entfchloffen  ift, 
fein  Leben  der  Gefchichte  zu  widmen,  der  Forfchung, 
dem  Lehren,  der  Darftellung. 

G.  Warum  nicht?  Ich  dächte,  ich  hätte  einen  hei;: 
teren  Glanz  auf  diefe  heilige  Dreieinigkeit  geworfen. 

L.  Eine  Erzählung,  welcher  jung  und  alt  ein  ge:s 
neigtes  Ohr  leiht,  die  Erzählung  einer  Anekdote  nämlich, 
mag  leicht  fein;  und  doch  gibt  es  nicht  viele  Menfchen, 
die  eine  Anekdote  gut  zu  erzählen  wiffen.  Die  Erzäh^; 
lung  großer  und  komplizierter  Ereigniffe  und  Begeben^; 
heiten  hingegen,  wie  fie  im  Leben  der  Völker  und  Staaten 
vorkommen,  hat  denn  doch  wohl  einige  Schwierigkeiten, 
die  nicht  oft  überwunden  werden.  ^  Was  aber  das  Stu;; 
dium  der  Gefchichte  betrijfft,  fo  ift  dasfelbe,  weil  das  Feld 
unermeßlich  ift,  gewiß  das  fchwierigfte  von  allen  Studien. 

G.  Zu  diefer  Meinung  find  Sie  wohl  zunächft  ge^; 
kommen,  weil  Sie  fich  am  meiften  mit  der  Gefchichte  be^: 
fchäftigt  haben.  Wäre  Mephiftopheles  gegenwärtig,  fo 
würde  er  etwa  folgenden  Knittelreim  pathetifch  herdekla? 
mieren  : 
I  28 


434  H.  Luden.  [874 

So  war  es  fchon  in  meinen  Tagen: 
Ein  jeder  fchlägt  gar  hoch  fich  an, 

Und  würdeft  du  fie  alle  fragen: 
Das  Wichtigfte  hat  er  getan. 

Es  lafiet  fchwer  die  fchwere  Laft, 
Die  felber  du  zu  tragen  haft, 

Und  ob  ein  andrer  ächzt  und  keucht, 
Für  dich  ift  feine  Bürde  leicht.* 

Ganz  unwahr  mag  der  Spruch  nicht  fein;  und  viel* 
leicht  hält  darum  z.  B.  jeder  Philofoph  feine  eigenen  Ge^ 
danken  für  die  richtigften,  ja  fein  eigenes  Syftem  für  das 
einzig  Wahre,  weil  er  beides  nur  mit  großer  Mühe  zu? 
tage  gefördert  hat,  während  er  fremde  Gedanken  bequem 
vom  Blatte  abliefet.  In  Beziehung  auf  die  Gefchichte  in^s 
des  bin  ich  doch  der  Meinung  des  guten  Wagner,  daß 
fchon  die  Mittel  fchwer  zu  erwerben  find,  womit  man  zu 
den  Quellen  fieigt,  und  weiß  gar  wohl,  daß  die  Zahl 
diefer  Quellen,  zu  welchen  man  fieigen  muß,  nicht  gering 
ift.  Es  ift  doch  auch  viel  vorgearbeitet,  viel  getan.  Die 
meiften  Quellen  find  längft  durchforfcht ;  was  fie  an  reiner 
Flut  enthielten,  ift  ausgefchöpft,  nur  trübes  Waffer  zurück:^ 
geblieben. 

L.  Es  wäre  aber  doch  mögUch,  daß  die  Forfcher 
das  Waffer  auch  zuweilen  getrübt  hätten,  und  daß  man, 
würde  dasfelbe  abgeklärt,  neue  Entdeckungen  machen 
würde.  Auch  dürfte  noch  manche  Quelle  nicht  durchs 
forfcht  und  ausgebeutet  fein. 

G.  Und  wenn  Sie  nun  auch  alle  Quellen  zu  klären 
und  zu  durchforfchen  vermöchten:  was  würden  Sie  fin^ 
den?  Nichts  anderes  als  eine  große  Wahrheit,  die  längft 
entdeckt  ift,  und  deren  Beftätigung  man  nicht  weit  zu 
fuchen  braucht;  die  Wahrheit  nämlich,  daß  es  zu  allen 
Zeiten  und  in  allen  Ländern  miferabel  gewefen  ift.  Die 
Menfchen  haben  fich  ftets  geängftigt  und  geplagt ;  fie  haben 
fich  untereinander  gequält  und  gemartert;  fie  haben  fich 
und  anderen  das  bißchen  Leben  fauer  gemacht,  und  die 
Schönheit  der  Welt  und  die  Süßigkeit  des  Dafeins,  welche 
die  fchöne  Welt  ihnen  darbietet,  weder  zu  achten  noch 


*  Diefe  Verfe  find  wohl  nicht  ganz  richtig,  obgleich  ich  fie 
oft  ins  Gedächtnis  zurückgerufen  habe.  Nur  den  Reim  glaube 
ich  als  echt  bezeichnen  zu  können,  und  den  Sinn  gewiß. 


874] Jena.     1806. 435 

zu  genießen  vermocht.  Nur  wenigen  ift  es  bequem  und 
erfreulich  geworden.  Die  meiften  haben  wohl,  wenn  fie 
das  Leben  eine  Zeitlang  mitgemacht  hatten,  lieber  hinaus:^ 
fcheiden,  als  von  neuem  beginnen  mögen.  Was  ihnen 
noch  etwa  einige  Anhänglichkeit  an  das  Leben  gab  oder 
gibt,  das  war  und  ift  die  Furcht  vor  dem  Sterben.  So 
ift  es;  fo  ift  es  gewefen;  fo  wird  es  wohl  auch  bleiben. 
Das  ift  nun  einmal  das  Los  der  Menfchen.  Was  brauchen 
wir  weiter  Zeugnis? 

L.  Ich  fah  Goethe  an;  er  machte  ein  fehr  ernftes 
Geficht.  Dennoch  antwortete  ich  halb  lachend:  Ich  kann 
unmöglich  glauben,  daß  diefes  Ew.  Exzellenz  eigene  Mei:: 
nung  fei.  Mir  kommt  vor,  Mephiftopheles  habe  aberss 
mals  gefprochen.  (Goethe  lächelte.)  Wenn  auch  viele 
Menfchen  in  alten  und  neuen  Zeiten  fo  gelebt  haben 
mögen,  fo  ift  deswegen  ein  folches  Leben  noch  nicht  das 
Los  der  Menfchen,  und  das  Los  der  Menfchen  ift  auch 
nicht  das  Schickfal  der  Menfchheit. 

G,  Die  Menfchheit?  Das  ift  ein  Abftraktum.  Es 
hat  von  jeher  nur  Menfchen  gegeben  und  wird  nur  Men^ 
fchen  geben. 

L.  Das  Wort  bezeichnet,  denke  ich,  den  Menfchen:: 
geift,  wie  derfelbe  fich  in  dem  gefamten  Leben  der  Men^s 
fchen  entwickelt  und  offenbart.  ^^  Und  der  Gefamtgeift 
aller  Völker  ift  die  Menfchheit. 

G.  Es  ift  mit  den  Völkern,  wie  mit  den  Menfchen. 
Die  Völker  beftehen  ja  aus  Menfchen.  Auch  fie  treten 
ins  Leben,  wie  die  Menfchen,  treiben's,  etwas  länger,  in 
gleich  wunderlicher  Weife,  und  fterben  gleichfalls  ent^* 
weder  eines  gewaltfamen  Todes,  oder  eines  Todes  vor 
Alter  und  Gebrechlichkeit.  Die  Gefamtnot  und  die  Qt^ 
famtplage  der  Menfchen  ift  eben  die  Not  und  die  Plage 
der  Völker. 

L.  Aber  wie  Menfchen  fpäteren  Menfchen,  fo  laffen 
Völker  fpäteren  Völkern  etwas  zurück,  das  nicht  mit  ihnen 
ftirbt. 

G.  Sie  laffen  etwas  zurück?  Freilich.  Mephifto^ 
pheles  würde  vielleicht  in  feiner  Weife  fagen: 

Was  Völker  fterbend  hinterlaffen, 
Das  ift  ein  bleicher  Schattenfchlag; 
Du  fiehft  ihn  wohl;   ihn  zu  erfaffen, 
Läufft  du  vergeblich  Nacht  und  Tag. 

I  28* 


436  H.  Luden.  [874 

Und  vielleicht  fetzte  er  gutmütig  warnend  hinzu,  der 
Schalk: 

Wer  immerdar  nach  Schatten  greift, 

Kann  fiets  nur  leere  Luft  erlangen; 

Wer  Schatten  ftets  auf  Schatten  häuft, 

Sieht  endlich  lieh  von  düfirer  Nacht  umfangen. 

L.  Der  Schatten,  den  ein  Volk  wirft,  es  mag  blühen 
oder  zugrunde  gehen,  fällt  zurück,  nicht  vorwärts;  er  fällt 
auf  die  früheren  Völker  und  nicht  auf  uns,  die  fpäteren 
Enkel,  oder  wir  müßten  uns  freiwillig  und  einfältig  zu:^ 
gleich  hineinfiellen.  Was  uns  ein  Volk  hinterläßt,  wenn 
es  nicht  überhaupt  ohne  Nachlaß  verfcheidet,  ift  der  Geift 
feines  Lebens.  Wir  muffen  uns  nur  bemühen,  die  Erb^ 
fchaft  gehörig  zu  würdigen  und  zu  benutzen,  und  uns 
nicht  mit  dem  Inventario  begnügen.  Wir  muffen  die 
Gefchichte  des  Volkes  ftudieren,  und  was  fie  zeigt,  ver? 
wenden.  Denn  die  Gefchichte  eines  Volkes  ift  das  Leben 
des  Volkes. 

G.  Die  Gefchichte  eines  Volkes,  das  Leben  des 
Volkes?  Das  ift  kühnl  Wie  wenig  enthält  auch  die  aus^? 
führlichfte  Gefchichte,  gegen  das  Leben  eines  Volkes  ge? 
halten?  Und  von  dem  Wenigen,  wie  weniges  ift  wahr? 
Und  von  dem  Wahren,  ift  irgend  etwas  über  allen  Zwei:* 
fei  hinaus?  Bleibt  nicht  vielmehr  alles  ungewiß,  das 
Größte,  wie  das  Geringfte?  Daher  fcheint  doch  das  Wort 
von  Fauft  feftzuftehen: 

Die  Zeiten  der  Vergangenheit 

Sind  uns  ein  Buch  von  fieben  Siegeln? 

L.  Gewiß,  Ew.  Exzellenz,  fo  weit  hat  der  Dichter 
vollkommen  recht;  er  würde  aber  unrecht  gehabt  haben, 
wenn  er  hinzugefetzt  hätte,  daß  auch  nur  eins  diefer 
fieben  Siegel  unlösbar  wäre. 

G.  Lösbar  find  fie  vielleicht;  es  fehlt  aber  das  In:^ 
ftrument,  fie  zu  fprengen. 

L.  Ich  möchte  doch  glauben,  daß  diefes  Inftrument 
nicht  fehle.  Wir  vermögen  fogar  an  jedes  gefchichtliche 
Werk,  an  jede  Überlieferung  einen  dreifachen  Liebel  an:^ 
zulegen:  die  Kenntnis  der  Zeit,  die  jener  Zeit  voraus^ 
gegangen  ift,  von  welcher  die  Überlieferung  berichtet,  die 
Kenntnis  der  Zeit,  die  jener  Zeit  nachfolgte  und  gleich;^ 
fam  ein  Produkt  derfelben  gewefen ;  und  endlich  dieWahr;^ 


874] Jena.     1806. 437 

heit,  die  jede  Überlieferung  teils  durch  ihr  bloßes  Da? 
fein,  teils  durch  ihre  Eigentümlichkeiten  der  Anficht,  der 
Auffaffung,  der  Darftellung,  in  fich  trägt.  Der  Stütz:: 
punkt  für  jeden  diefer  Hebel  ift  die  menfchliche  Natur, 
das  Gewicht  der  eigene  Geift  des  Forfchers. 

G.  Ihre  Ausdrücke  erinnern  mich  daran,  daß  Sie 
vorhin  fagten,  Sie  wären  von  Thibaut  für  die  Mathematik 
gewonnen  worden.  Haben  Sie  fich  mit  diefer  Wiffen:: 
fchaft  viel  befchäftigt? 

L,  Einige  Jahre  hindurch  nach  Zeit  und  Umfiänden 
ziemlich  viel.  Ich  habe  fogar  felbft  ein  mathematifches 
Buch  gefchrieben,  das  ich  bald,  wie  einen  verlorenen  Sohn, 
in  die  Welt  hineinlaufen  zu  laffen  gedenke. 

G.  Um  fo  mehr  wundert  mich,  daß  Sie  diefe  erfte 
aller  Wiffenfchaften,  in  welcher  alles  Gewißheit  und  Wahrst 
heit  ift,  verlaffen  haben,  um  fich  auf  der  Bahn  der  Ge^^ 
fchichte  zu  verfuchen,  die  bei  jedem  Schritte  fchwankt, 
und  in  einer  Arbeit  zu  verharren,  in  welcher  Sie,  felbft 
mit  drei  Hebeln,  nichts  zutage  fördern  werden,  das  Ihnen 
nicht  ftreitig  gemacht  werden  könnte.  Gewiß  hat  Jo? 
hannes  Müller  Sie  zu  diefer  Veränderung  beftimmt. 

L.  Johannes  Müller  hat  allerdings  einen  großen  Ein? 
fluß  auf  mich  gehabt.  Er  hat  mich  fchneller  zum  Ent? 
fchluffe  gebracht.  Aber  auch  ohne  ihn  würde  ich  mich 
für  die  Gefchichte  entfchieden  haben.  ^  Auch  haben 
meine  Verhältniffe  mir  nicht  verftattet,  mich  z.  B.  durch 
die  Beobachtung  der  Wunderwerke  des  Himmels  zu  er? 
götzen  oder  zu  erbauen,  oder  nur  auf  der  Erde  mich  einer 
bedeutenden  Anwendung  meiner  theoretifchen  Kenntniffe 
zu  erfreuen;  und  bei  dem  beftändigen  Verkehren  mit 
Zahlen,  Buchftaben  und  Figuren  ift  mir,  ich  muß  es  ge? 
ftehen,  begegnet,  was  Mephiftopheles  dem  Schüler  bei 
feiner  Gottähnlichkeit  weisfagt:  es  ift  mir  bei  aller  Wahr? 
heit  und  Gewißheit  recht  herzlich  bange  geworden. 

G.  Gibt  denn  Ihnen  die  Gefchichte,  bei  aller  Un? 
gewißheit,  mehr  Befriedigung,  als  die  Wahrheit  der  Mathe? 
matik? 

L.  Freilich!  Die  Gefchichte  ift  gleich  befriedigend 
für  den  Geift  und  das  Herz,  für  den  Verftand  und  das 
Gemüt,  und  zugleich  regt  fie  die  Phantafie  allgewaltig 
auf  und  treibt,  wie  zum  Denken,  fo  zum  Dichten.  Auch 
wüßte  ich  nicht,  warum  eine  gefchichtlicheWahrheit  weniger 
wahr  fein  follte,  als  eine  mathematifche. 


438 H.  Luden. [874 

G.  Gewiß!  nur  kommt  es  darauf  an,  die  Wahrheit 
herauszubringen.  Könnte  man  die  gefchichthche  Wahr^ 
heit  demonfirieren,  wie  die  mathematifche,  fo  wäre  aller 
Unterfchied  verfchwunden;  fo  lange  man  das  nicht  kann, 
fo  lange  wird  wohl  ein  Unterfchied  bleiben,  nicht  zwifchen 
dem,  was  wirklich  wahr  ift,  fondern  zwifchen  dem,  was 
hier  als  wahr  demonfiriert,  dort  als  wahr  angenommen  wird. 

L.  Was  wirklich  Gefchichte  ift,  das  ift  auch  wirk^ 
lieh  wahr. 

G.  Aber  nicht  alles  ift  wirklich  gefchehen,  was  uns 
als  Gefchichte  dargeboten  wird,  und  was  wirklich  ge? 
fchehen,  das  ift  nicht  fo  gefchehen,  wie  es  dargeboten 
wird,  und  was  fo  gefchehen  ift,  das  ift  nur  ein  Geringes 
von  dem,  was  überhaupt  gefchehen  ift.  —  Sie  wiffen  ohne 
Zweifel,  warum  Sir  Walter  Raleigh  feine  Gefchichte  nicht 
fortgefetzt,  fondern  das  Manuf kript  ins  Feuer  geworfen  hat? 

L.  O,  ja,  Ew.  Exzellenz.  Er  tat  es,  wie  die  Anek:^ 
dote  fagt  — 

G.     Er  fagt  es  felbft. 

L.  Das  hab'  ich  nicht  gewußt;  denn  ich  muß  be:; 
kennen,  daß  ich  nichts  von  Sir  Walter  gelefen  habe.  Die:: 
fer  alfo  warf  die  Handfchrift  ins  Feuer;  weil  er  Augen^^ 
zeuge  eines  Vorganges  gewefen  war,  den  andere  Augen^ 
zeugen,  abweichend  voneinander,  auch  ganz  anders  er^^ 
zählten,  als  er  denfelben  felbft  wahrgenommen  hatte. 

G.  Das  ift  uns  anderen  wohl  auch  fchon  ebenfo  gtf 
gangen,  und  es  wird  in  früheren  Tagen  nicht  anders  ge^^ 
wesen  fein. 

L.  Mich  wundert  nur,  daß  Sir  Walter  eine  befondere 
Erfahrung  nötig  gehabt  hat,  um  die  Entdeckung  zu  machen, 
daß  verfchiedene  Menfchen  jeden  Gegenftand  verfchieden 
auffaffen.  Schon  das  alte  Sprichwort:  Duo,  quum  faci^^ 
unt  idem,  welches  doch  gewiß  ebenfowohl  vom  Anfchauen 
und  Erzählen,  als  vom  Handeln  gilt,  hätte  ihm  ja  die 
große  Wahrheit  lehren  können,  und  das  Lefen  mehrer 
Gefchichtfchreiber,  welche  denfelben  Gegenftand  darftel^s 
len,  hätte  diefelbe  beftätigen  mögen.  Alfo,  meine  ich, 
hätte  er  fein  Werk  niemals  anfangen  oder  hätte  es  auch 
fortfetzen  follen. 

G.  Sir  Walter  wußte  gewiß  längft,  was  wir  alle 
willen;  er  war  aber  in  dem  alten  Schlendrian  fortgegangen. 
Jetzt  nun,  als  er  den  Vorfall  vor  feiner  Wohnung  mit 
eigenen  Augen  angefehen  und  alsdann  die  verfchiedenen. 


874] Jena.     1806. 439 

abweichenden  unwahren  Erzählungen  vernahm,  jetzt  trat 
ihm  plötzUch  der  Gedanke,  daß  es  keine  Wahrheit  in 
der  Gefchichte  gebe,  in  die  Seele,  und  fogleich  faßte  er 
in  feinem  Unmut  den  Entfchluß,  nicht  ferner  mitzuwir^ 
ken  zur  Erhaltung  und  Verbreitung  des  Truges,  nicht 
ferner  feinen  Zeitgenoffen  von  der  Welt  der  Vergangen:! 
heit  ein  falfches,  ein  lügenhaftes  Bild  vorzuhalten. 

L.  Er  muß  aber  doch,  wie  mir  fcheint,  eine  wundere 
liehe  Vorftellung  von  der  Wahrheit  der  Gefchichte  ge^ 
habt  haben.  Denn  es  verfteht  fich  ja  von  felbfi,  daß  der 
Hiftoriker  von  den  Begebenheiten  und  Ereigniffen  früherer 
Zeiten  nichts  anderes  wiffen  kann,  als  was  uns  überliefert 
worden  ift.  Wenn  er  diefes  redlich  erforfcht  und  ehrlich 
wiedergibt,  fo,  denk'  ich,  ift  er  alles  Truges  frei. 

G.  Aber  der  Trug  bleibt.  Er  ift  nicht  Urheber  der 
Lüge,  aber  der  Verbreiter;  nicht  der  Dieb,  aber  der  Hehs: 
1er.  Die  Lüge  fällt  nur  auf  Eure  fogenannten  Quellen? 
fchriftfteller  zurück. 

L.  Wenn  diefe  Schriftfteller  ehrlich  und  redlich  aufp 
gezeichnet  haben,  was  fie  wahrnahmen  oder  was  zu  ihrer 
Kenntnis  kam,  fo  find  fie  ebenfo  frei  von  Lug  und  Trug. 
Sie  konnten  nicht  mehr  geben,  als  fie  hatten. 

G.  Die  Lüge  bleibt  immer;  fie  ift  nur  abermals 
zurückgeworfen,  und  zurückgeworfen  auf  die  Sache  felbft; 
und  wir  bekommen  ftets  ein  unwahres,  ein  verzerrtes,  ein 
fchiefes  und  falfches  Bild  von  der  früheren  Welt.  Und 
beffer  wäre  doch  wohl,  fich  gar  nicht  um  die  Vergangen:: 
heit  zu  kümmern,  als  falfche,  alfo  unnütze  und  verwirr 
rendeVorftellungen  von  derfelben  mit  uns  herumzutragen. 
Dadurch  werden  wir  nur  verführt,  auch  die  Welt,  in 
welcher  wir  leben,  falfch  aufzufaffen  und  verkehrt  in  ihr 
und  auf  fie  zu  wirken. 

L.  Das  wäre,  wenn  es  fo  wäre,  gewiß  fehr  fchlimm, 
aber  es  würde  auch  zu  dem  Lofe  der  Menfchen  gehören, 
und  wir  würden  genötigt  fein,  es  zu  tragen.  Aber  fo  ift 
es  nicht.  Die  Abweichungen  in  den  Erzählungen  find 
keineswegs  fofort  als  falfche  Angaben  zu  bezeichnen;  fie 
entftehen  vielmehr  meiftens  daraus,  daß  der  eine  etwas 
anderes  von  dem  Vorgange  aufgefaßt  hat,  als  der  andere. 
^  Die  verfchiedenen  Angaben  über  die  übrigen  Erfchei:: 
nungen,  unter  welchen  und  in  welchen  jene  feftftehenden 
Tatfachen  ftattfanden,  hat  der  Hiftoriker  zuerft  kritifch 
auf  ihren  wahren  Wert  zurückzuführen ;  er  hat  fie  unter? 
I 


440 H.  Luden. [874 

einander  und  mit  den  Tatfachen  zu  vergleichen;  er  hat 
fie,  nach  feinen  Kenntniffen  von  der  Lage  und  der  Natur 
der  Länder,  von  der  Stellung  der  Völker  zueinander,  von 
der  früheren  und  fpäteren  Gefchichte,  von  dem  inneren 
Zuftande  der  Staaten,  von  den  Charakteren  und  den  Ge^ 
finnungen  der  handelnden  Menfchen  zu  prüfen,  und  als^ 
dann  wird  die  Ungewißheit  verfchwinden,  und  dasjenige 
wird  fich  als  die  Wahrheit  herausftellen ,  was  er  als  gQ^ 
eignet  zu  Nerven,  Fafern,  Muskeln,  Mark  und  Haut  für 
jenes  Gerippe  erkennt,  um  dasfelbe  mit  fchaffendem  Geift 
und  künftlerifcher  Hand  als  einen  lebendigen  Leib  hinzu^ 
ftellen. 

G.  Das  wird  freilich  eine  große  Operation  fein; 
aber  was  der  Hiftoriker  nach  folcher  Plage  für  Wahrheit 
hält,  ift  immer  nur  für  ihn,  ift  nur  fubjektive  Wahrheit; 
unbeftreitbare,  objektive  Wahrheit  ift  es  nicht. 

L.  Fichte  beantwortete  die  Frage  des  Pilatus:  was 
ift  Wahrheit?  —  einmal  mit  folgenden  Worten:  Wahr? 
heit  ift,  was  notwendig  fo  gedacht  werden  muß,  wie  es 
gedacht  ift,  was  fchlechthin  nicht  anders  gedacht  werden 
kann. 

G.  Nämlich  von  Fichte  oder  von  mir.  Alfo  hat 
ein  jeder  feine  eigene  Wahrheit.  Die  mathematifche  Wahr? 
heit  aber  ift  für  alle  diefelbe. 

L.  Fichte  erläuterte  feinen  Satz  mit  mathematifchen 
Beifpielen.  Zwei  zweimal  gefetzt  fei  vier,  weil  es  un? 
möglich  fei,  die  Sache  anders  zu  denken,  fobald  man  nur 
wiffe,  was  zwei  und  was  vier.  Er  habe,  fagte  er,  das 
Lachen  nicht  laffen  können,  als  ihm  zum  erften  Male  de? 
monftriert  worden  fei,  daß  vier  Einheiten  nicht  mehr  ge? 
trennt,  fondern  vereint  gedacht,  eben  vier  feien:  denn 
das,  habe  er  gemeint,  verftehe  fich  ja  von  felbft  und  könne 
gar  nicht  anders  gedacht  werden.  Und  fo  würde  alles, 
was  nicht  anders  gedacht  werden  könne,  notwendig  all? 
gemein  als  Wahrheit  erkannt  werden,  fobald  es  nur  all? 
gemein  verftanden  würde. 

G.  Da  eben  liegt  es.  Der  Unterfchied  ift,  daß  die 
Mathematik  jeden  Menfchen  zwingen  kann,  anzuerkennen, 
daß  alle  rechte  Winkel  gleich  find;  daß  Sie  hingegen  in 
hiftorifchen  Dingen  mich  niemals  zwingen  können,  Ihrer 
Meinung  zu  fein. 

L.  Nein,  aber  ich  glaube  doch,  daß  ich  jeden  von 
der  Wahrheit   zu   überzeugen   imftande   fein  würde,   der 


874] Jena.     1806. 441 

nicht  etwa  entfchloffen  wäre,  (ich  nicht  überzeugen  zu 
laffen.  Und  das  fcheint  mir  ein  Vorzug.  Der  Mathes^ 
matiker  zwingt  die  Menfchen,  die  Wahrheit  feiner  Sätze 
anzunehmen;  er  unterwirft  die  Geifter  einem  gewiffen 
FataHsmus,  bei  welchem  keine  Freiheit  der  EntfchUeßung 
mögUch  ift.  Der  Hiftoriker  läßt  die  Geifter  frei;  er  wen^ 
det  fich  an  den  ganzen  Menfchen,  an  Verftand,  Herz 
und  Gemüt,  und  will  nur  die  freie  Überzeugung  gewinnen. 

G.  Man  braucht  wahrlich  nicht  den  Widerfpruch  zu 
feinem  Grundfatze  gemacht  zu  haben,  um  den  Gang  der 
Dinge  anders  zu  denken,  als  fie  uns  überliefert  oder  von 
irgendeinem  Hiftoriker  dargeftellt  worden  find  oder  dar? 
geftellt  werden  können.  Und  fo  lange  diefes  der  Fall 
ift,  fo  lange  wird  es  verftattet  fein,  die  Gefchichte  des 
Irrtums  zu  zeihen,  und  ihre  Überlieferungen  als  falfch 
anzufehen. 

L.  Es  leidet  gar  keinen  Zweifel,  daß  auch  der  ge^ 
lehrtefte,  redlichfte,  fcharffinnigfte  und  geiftreichfte  Hifto^^ 
riker  in  Irrtümer  verfallen  kann,  ja  daß  er  in  Irrtümer 
verfallen  muß,  weil  auch  er  feinen  Teil  von  dem  allges: 
meinen  Lofe  der  Menfchen  zu  tragen  hat.  ^  So  will  ich 
auch  in  der  Gefchichtfchreibung  nicht  die  nackte,  tote, 
aber  treue  Wirklichkeit,  fondern  eine  lebensvolle,  färben^ 
reiche  Welt,  welche  die  unzweifelhaften  Tatfachen  unver? 
kürzt  und  unentftellt  darbietet,  aber  mit  poetifchem  Geifi 
aufgefaßt  und  mit  künftlerifcher  Hand  ausgearbeitet. 

G.     Sie  machen  alfo  den  Hiftoriker  zum  Dichter. 

L.  Da  ich  felbft  noch  nichts  in  der  Gefchichte  ge^ 
leiftet  habe,  Ew.  Exzellenz,  fo  darf  ich  ja  wohl  meine 
Meinung  ausfprechen;  denn  ich  rede  nicht  pro  domo  mea. 
Ich  glaube  wirklich,  daß  Gefchichte  nicht  würdig  ges: 
fchrieben  werden  könne,  ohne  eine  wahre  noifiGi^g,  und 
daß  niemand  ein  Hiftoriker  fein  könne  im  fchönften  Sinne 
des  Wortes,  dem  die  fchöpferifche  oder  dichterifche  Kraft 
fehlt.  Denn  er  muß  ja  die  Welt  der  Vergangenheit  vor 
Augen  haben,  in  welcher  die  Ereigniffe  ftattfanden,  die 
er  darftellen  will,  und  die  er  nur  in  der  Anfchauung 
diefer  Welt  darftellen  und  in  ihrer  ganzen  und  echten 
Bedeutung  darfteilen  kann.  Diefe  Welt  aber  wird  ihm 
nicht  zur  Anfchauung  dargeboten,  fondern  er  muß  fie 
fchaffen,  um  fie  anfchauen  zu  können. 

G.  Wenn  man  auch  diefes  zugäbe,  fo  würde  doch 
ein  großer  Unterfchied  zwifchen  dem  Dichter  und  dem 
I 


442  H.  Luden.  [874 

Hiftoriker  bleiben.  Der  Dichter  fchafft  feine  Welt  frei, 
nach  feiner  eigenen  Idee,  und  darum  kann  er  fie  volles 
kommen  und  vollendet  hinftellen;  der  Hiftoriker  ift  ge^ 
bunden;  Denn  er  muß  feine  Welt  fo  aufbauen,  daß  die 
fämtlichen  Bruchfiücke  hineinpaffen,  welche  die  Gefchichte 
auf  uns  gebracht  hat.  Deswegen  wird  er  niemals  ein 
vollkommenes  Werk  liefern  können,  fondern  immer  wird 
die  Mühe  des  Suchens,  des  Sammeins,  des  Flickens  und 
Leimens  fichtbar  bleiben. 

L.  Um  fo  größer  ift  die  Aufgabe  des  Hiftorikers, 
um  fo  fchwieriger  feine  Arbeit,  um  fo  mehr  verdient  ein 
gelungenes  gefchichtliches  Werk  Dank,  Ehre  und  Preis, 
ein  weniger  gelungenes  Nachficht  und  Schonung.  Auch 
darf  nicht  überfehen  werden,  daß  der  Dichter  nur  feine 
eigene  Idee,  fo  tief  und  groß,  als  die  Kraft  feines  Geiftes 
fie  zu  faffen  vermag,  darzuftellen  fucht,  der  Hiftoriker 
aber  die  Idee  Gottes,  wie  fie  fich  im  Leben  der  Menfchen 
offenbart  hat. 

G.  Am  Ende  fteht  Ihnen  der  Hiftoriker  über  dem 
Dichter. 

L.  Ja  nicht,  Ew.  Exzellenz.  Ich  kann  mich  über^s 
haupt  mit  der  Stufenleiter,  auf  welche  man  die  Geifter 
zu  ftellen  pflegt,  nicht  recht  vertragen,  und  möchte  glauben, 
daß  die  Bahnen  des  Geiftes  nicht  untereinander  gebaut 
find,  fondern  nebeneinander  fortlaufen.  Jedenfalls  glaube 
ich,  daß  derjenige,  der  Tüchtiges  in  der  Gefchichte  leiftet, 
niemandem  feine  Stelle  zu  beneiden  brauche. 

G.  Wenn  ich  nun  aber  aus  Ihren  Bemerkungen  über 
gefchichtliche  Forfchung  und  Gefchichtfchreibung  das  Re:; 
fultat  ziehe,  fo  fcheint  doch,  mit  Schillers  Worten,  der 
langen  Rede  kurzer  Sinn  zu  fein,  daß  Fauft  recht  habe: 

Was  man  den  Geift  der  Zeiten  heißt. 
Das  ift  im  Grund  der  Herren  eigner  Geift, 
In  dem  die  Zeiten  fich  befpiegeln. 

L.  Mit  diefem  klaffifchen  Spruche  bin  ich  vollkommen 
einverftanden.  Wenn  uns  aber  die  Herren  Geift  geben 
und  wäre  es  auch  der  eigene,  und  wenn  fie  uns  in  diefem 
Geifte  das  Spiegelbild  der  Zeiten  zeigen,  fo  können  wir, 
denke  ich,  einigermaßen  zufrieden  fein. 

G.  Aber  nun  doch  noch  eine  Frage.  Was  wollen 
Sie  denn  zuletzt   mit  Ihrer  Gefchichte,   mit   allen  diefen 


874] Jena.     1806. 443 

hiftorifchen  Wahrheiten,  Irrtümern,  Dichtungen?  Welches 
ift  das  endhcheZiel  Ihrer  Studien  und  Ihrer  Beftrebungen? 
L.  Das  ift  eine  große  Frage,  Ew.  Exzellenz,  die  eine 
weitläufige  Antwort  notwendig  macht.  In  der  Kürze 
wüßte  ich  fie  in  der  Tat  nicht  beffer  zu  beantworten  als 
mit  Faufis  Worten: 

—  Was  der  ganzen  Menfchheit  zugeteilt  ift, 
Will  ich  in  meinem  innern  Selbft  erkennen. 

G.     Genießen,  wollen  Sie  fagen. 

L,  Ew.  Exzellenz  haltens  zu  Gnaden;  ich  möchte 
doch  bei  dem  Erkennen  bleiben,  und  mich  mit  dem  Ge^s 
nuffe  begnügen,  den  etwa  das  Erkennen  abwirft.  Das 
Erkannte  aber  möchte  ich  alsdann  durch  Lehre  und  Schrift 
mitteilen.  Übrigens  darf  ich  wohl  nicht  hinzufügen,  daß 
ich  natürlich  nur  von  meinem  Wunfeh  und  Willen  ge^ 
fprochen  habe;  das  Vollbringen  liegt  nur  zum  kleinften 
Teil  in  des  Menfchen  Hand.  Aber  in  magnis  voluisse 
sat  est. 

G.  Ja,  ja.  Wir  haben  nunmehr  Stoff  zu  vielen 
künftigen  Unterhaltungen.  Aber  es  ift  fchon  weit  am 
Tage;  wir  müffen's  diesmal  unterbrechen. 

L.  Indem  ich  nun  meine  Entlaffung  zu  nehmen  ge:= 
dachte,  fagte  ich  ungefähr  folgende  Worte :  Ich  kann  nicht 
ausfprechen,  mit  welchen  Gefühlen  ich  von  Ew.  Exzellenz 
fcheide.  Der  (geftrige)  Abend  hatte  mir  die  Bruft  mit 
der  heiterften  Freude  angefüllt,  und  mit  diefer  Freude 
trat  ich  diefen  Morgen  bei  Ihnen  ein.  Im  Laufe  des  Ge^; 
fpräches  aber  ift  ein  Schatten  in  diefe  reine  Heiterkeit  ge^ 
fallen,  dem  ich  nicht  auszuweichen  vermocht  habe,  und 
der  mich  jetzt,  da  ich  Ew.  Exzellenz  verlaffen  foll,  etwas 
ftark  zu  inkommodieren  anfängt. 

G.     Wiefo,  Lieber?     Was  ift  denn  das? 

L.  Seit  ich  die  Vokation  nach  Jena  angenommen 
hatte,  hat  mich  der  Gedanke  begleitet,  daß  mir  nun  auch 
das  Glück  befchieden  fein  möchte,  nach  welchem  ich  mich 
fchon  lange  gefehnt  hatte,  das  Glück,  in  die  Nähe  Ew. 
Exzellenz  zu  kommen,  Sie  zu  fehen,  Sie  zu  fprechen. 
Und  doch  vermochte  ich  die  Erfüllung  diefes  Wunfehes 
nicht  ohne  große  Ängftlichkeit  zu  denken.  Zu  meiner 
Sehnfucht  mifchte  fich,  bei  meiner  Verehrung  und  Be? 
wunderung  des  Fürften  der  Dichter,  ich  möchte  fagen, 
I 


444      H.  Luden. [874 

eine  heilige  Scheu.  Ich  fürchtete,  daß  ich,  wenn  mir  ein? 
mal  die  Ehre  zuteil  werden  möchte,  Ew.  Exzellenz  vor^^ 
gefiellt  zu  werden,  wie  ein  Beraufchter  vor  Ihnen  er? 
fcheinen  möchte,  unbehülflich,  hölzern,  verwirrt,  tölpelhaft. 
Der  geftrige  Abend  hat  mich  nun  über  alle  Verlegenheit 
rafch  und  glückUch  hinweggeriffen ;  aber  ich  fürchte,  er 
hat  mich  zu  weit  hinweggeriffen;  ich  fürchte,  daß  ich 
heute  gefprochen  habe,  wie  ich  nicht  hätte  fprechen  follen. 
Ich  bin  aber  in  die  Rednerei  hineingekommen,  ich  weiß 
felbft  nicht  wie.  Ich  habe  wohl  gefühlt,  daß  ich  nicht 
hätte  hineinkommen  follen;  da  ich  aber  einmal  hinein? 
gekommen  war,  fo  vermochte  ich  mich  nicht  wieder  hin? 
auszufinden.  Was  ich  Irriges  gefagt  haben  mag,  das 
werden  Ew.  Exzellenz  gewiß  nicht  beachtet  haben;  aber 
ich  bitte  fo  untertänig  als  herzlich,  mir  auch  zu  Gnaden 
zu  halten,  was  etwa  Ungebührliches  und  Ungehöriges 
vorgekommen  ift. 

G.  Ei,  lieber  Herr  Profeffor,  feien  Sie  darüber  ganz 
ruhig.  Wir  haben  unter  vier  Augen  gefprochen,  im  Ernft 
und  im  Scherz,  und  ich  wüßte  nicht,  was  wir,  einer  dem 
andern,  vorzuwerfen  oder  iibel  zu  nehmen  hätten.  Unfer 
Gefpräch  hat  mich  intereffiert  und  unterhalten,  fonft  würde 
es  wohl  auch  nicht  fo  lange  gedauert  haben.  Ich  habe 
in  Ihnen  einen  jungen  Mann  kennen  gelernt,  der  klar 
fehen  will,  der  fich  nicht  durch  hohle  Worte  verwirren 
und  nicht  durch  Blendwerke  irre  führen  läßt.  Sie  fireben 
eifrig  nach  Wahrheit,  ohne  der  Poefie  entfremdet  zu  fein; 
felbft  ihre  täufchenden  Gebilde  mögen  Sie  wohl  leiden. 
Das  ift  löblich  und  gut.  In  Ihrem  wiffenfchaftlichen 
Treiben  find  Sie  auch  auf  gutem,  auf  dem  rechten  Wege. 
Fahren  Sie  fort,  in  der  Gefchichte  zu  leben  und  kühn 
in  die  vergangenen  Zeiten  zu  fchauen,  ungeftört  von  den 
Wirrungen  der  Gegenwart.  Forfchen  Sie  mit  Anftrengung 
aller  Kräfte  in  den  Jahrbüchern  der  Völker;  teilen  Sie 
ehrlich  und  redlich  mit,  ohne  alle  Nebenabficht,  was  Sie 
durch  Ihre  Forfchung  als  wahr  erkannt  zu  haben  glauben, 
in  Wort  und  Schrift;  in  Ihrer  Darfteilung  aber  machen 
Sie  fich  frei  von  jedem  Vorbilde,  und  geben  Sie  nament? 
lieh  jede  Hämmerung  und  Verrenkung  auf,  die  an  Jo? 
hannes  Müller,  der  felbft  nur  ein  Nachahmer  von  Tacitus 
ift,  erinnern  könnte;  überhaupt  frönen  Sie  nicht  der  Ge? 
fchmacklofigkeit  der  Zeit  und  verachten  Sie  die  Weisheit, 
die  in  den  f.  g.  literärifchen  Blättern  altklug  verkündigt 


875] Jena.     1806. 445 

zu  werden  pflegt.  Schreiben  Sie  vielmehr  klar  und  ein^^ 
fach,  ohne  Scheu  vor  einem  poetifchen  Anflug,  und  ziehen 
Sie  eine  bequeme  Entwickelung  der  gefchraubten  Kürze 
vor,  die  man  fchlagend  zu  nennen  und  hoch  zu  bewundern 
pflegt.  Sie  werden  fpäteren  Gefchlechtern  gefallen,  wenn 
Sie  auch  den  Tadel  Ihrer  Zeitgenoffen  zu  erdulden  haben 
follten.  Jedenfalls  hoffe  ich  von  Ihrer  Anftellung  in  Jena 
Gutes  für  Sie  felbft  und  für  die  Univerfität.  Und  nun 
(mir  die  Hand  reichend)  leben  Sie  recht  wohl.  Auf 
baldiges  Wiederfehenl 

Ich  mochte  mich  zwölf  bis  fechzehn  Schritte  entfernt 
haben,  als  Goethe  mir  nachrief:  Herr  Profeffor  Luden.  — 
Rafch  kehrte  ich  um,  und  fragte  nach  feinen  Befehlen. 
Ich  habe  Sie,  fagte  er,  gebeten,  mich  in  Weimar  zu  be^s 
fuchen;  habe  aber  vergeffen  hinzuzfetzen :  kehren  Sie  ja 
nicht  in  einem  Wirtshaufe  ein,  fondern  fahren  Sie  bei  mir 
vor.  Es  foll  immer  ein  Kuvert  für  Sie  bereit  gehalten 
werden,  und  fo  oft  Sie  über  Nacht  in  Weimar  bleiben 
können  und  wollen,  follen  Sie  auch  ein  Bette  finden.  Und 
fo  noch  einmal:   leben  Sie  recht  wohl  1 


[875.]     Auguft  20.     H.  Luden. 

Auf  diefer  Fahrt  nach  Dornburg  nun  fragte  Hufeland 
mich,  wie  ich  denn  geftern  mit  Goethe  ausgekommen  fei? 
Er  habe  die  Exzellenz  geftern  abend  noch  gefehen  und 
von  ihr  erfahren,  daß  ich  gar  lange  bei  derfelben  gewefen 
fei.  Goethe  habe  gefagt,  er  habe  ein  wahres  Examen  mit 
mir  angeftellt,  und  diefes  fei  in  eine  Diskuffion,  ja  in  eine 
Disputation  übergegangen;  wir  hätten  uns  fo  in  dem  Ge* 
fpräch  verwickelt,  daß  das  Netz  zweimal  gewaltfam  hätte 
durchbrochen  werden  muffen.  Auf  meine  Frage,  ob  denn 
Goethe  nicht  die  Gegenftände  unferes  Gefprächs  genannt 
und  kein  Urteil  über  meine  Anflehten  und  Weifen  hin^j 
zugefügt  habe,  erhielt  ich  eine  verneinende  Antwort.  Es 
fei  dazu  auch  keine  Zeit  und  keine  Gelegenheit  gewefen. 
Goethe  habe  nur  gefagt,  ich  fei  nicht  übel  beftanden; 
er  hoffe  Gutes  von  meiner  Anftellung  für  die  Univerfität, 
und  glaube,  daß  es  mir  gelingen  werde,  das  Studium  der 
Gefchichte  emporzubringen.  Hierauf  erzählte  ich  Hufe^ 
landen  den  Inhalt,  den  Gang  und  das  Ende  meiner  Ge^s 
fpräche  mit  Goethe. 


446  Riemer.  [876 

[876.]     Auguft  31.     Riemer. 

Goethe:  Das  Befie  in  den  Briefen  des  Bonifacius  find 
die  Stellen  aus  der  Bibel,  weil  es  ewig  nur  Mofaik  ift, 
was  die  Leute  machen,  aber  in  dem  Sinne  gut. 

Wir  haben  ja  auch  unfere  Koteriefprache,  und  von 
den  Humanifien,  welche  römifch  fchreiben,  kann  man  das^^ 
felbe  fagen. 

[877.]     Auguft  31.     Riemer. 

Goethe :  Die  beiden  erften  Akte  der  Minna  von  Barn;! 
heim  find  fchön  und  gut,  fie  haben  Handlung  und  Fort;: 
fchritt,  im  dritten  ftockt's.  Man  weiß  nicht,  woran  es  fich 
accrochiert.  Da  erfcheint  ein  retardierender  Auftritt  zwi;: 
fchen  dem  Wachmeifier  und  Franziska.  Man  fieht,  Leffing 
hat  Luft  an  den  Charakteren  felbft  gewonnen  und  fpielt 
mit  denen,  malt  fie  zu  einzelnen  Szenen  aus,  die  als  folche 
recht  fchön  find.  Senfation  des  Stücks  bei  feiner  erften 
Erfcheinung.  Im  Teilheim  die  Anficht  feiner  Zeit  und 
Welt   im  Punkt   der   Ehre,   in  Minna  Leffings  Verftand. 

[878.]     September  Ende.     G.  v.  Reinbeck. 

Bei  dem  Dichterfürften  Goethe  glaubte  ich  keiner 
fremden  Empfehlung  zu  bedürfen;  denn  er  hatte  mehrere 
meiner  Dramen  auf  die  Bühne  zu  bringen  gewürdigt  und 
hatte  mir  öfter  durch  Reifende  nach  Petersburg  freunde 
liehe,  mich  ehrende  Grüße  gefendet.  ^^  fr  nahm  mich  wie 
einen  Bekannten  auf,  erkundigte  fich  nach  meinen  Zwecken, 
meinen  Arbeiten  und  erzählte  mir  von  der  nicht  ungünftigen 
Aufnahme  meiner  Dramen  und  von  feiner  Abficht  bei 
der  Aufführung  meiner,  nach  Monsieur  de  Pourceaugnac 
des  Moliere  bearbeiteten  Poffe  Herr  von  Hopfenkeim. 
Er  klagte  darüber,  daß  das  deutfche  Publikum  zu  prüde 
fei  und  nicht  recht  Spaß  verftehe,  wodurch  der  Bühne 
ein  Gebiet  verfchloffen  werde,  das  wenigfi:ens  dem  Ge;: 
nuß  größere  Mannigfaltigkeit  geben  könnte,  und,  recht 
behandelt,  könne  das  Groteskkomifche  gerade  ein  Vehikel 
fein,  fo  manches  zur  Sprache  zu  bringen,  was  in  zarterer 
Behandlung  einen  zu  ernfien  Charakter  gewinne.  '^  Der 
Komiker  Becker  war  damals  Regiffeur  der  weimarifchen 
Bühne,  und  Goethe  wies  mich  an  diefen  in  Theateran;; 
gelegenheiten;  in  Kunftangelegenheiten  an  feinen  Freund 
Meyer,  '^  in  Bibliotheksangelegenheiten   an  Vulpius.    ^^ 


880j  Weimar.     1806.  447 

Goethe  und  Bertuch  hatten  keine  befonders  hohe 
Meinung  von  KHngers  Charakter  und  erzählten  mir 
manche  x\nekdote  aus  feinem  früheren  Leben,  die  ihn 
als  einen  Phantaften,  befonders  in  der  Sturm^;  und  Drang:: 
Periode,  darfteilt,  der  bloß  durch  ein  angenommenes  faft 
brutales  Wefen  habe  Auffehen  erregen  wollen. 

[879.J     März/ September.     Riemer. 

Das  Stück  Elpenor  war  urfprünglich  in  der  foge^ 
nannten  poetifchen,  das  heißt  rhythmifchen  Profa,  wie  auch 
die  erfte  Iphigenia,  und  zwar  in  fortlaufendem  Kontext 
gefchrieben;  als  aber  Goethe  die  Ausgabe  in  Oktav  be^: 
forgte  und  mir  das  Manufkript  zur  Durchficht  gab,  be^^ 
wog  ich  ihn,  den  größtenteils  fchon  jambifch  hinfchreiten^: 
den  Text  vollends  in  Verfe  abzuteilen.  Er  überließ  je^ 
doch,  da  er  faft  kein  Intereffe  mehr  daran  hatte,  die  Arbeit 
mir,  der  fie,  als  feine  erfte  der  Art,  noch  furchtfam  und 
vielleicht  zu  ängftlich  gewiffenhaft  ausführte,  in  der  Mei^^ 
nung,  es  fei  fo  wenig  als  möglich  durch  Zufätze  oder 
Weglaffung  daran  zu  ändern;  daher  denn  hie  und  da 
Verfe  mit  zu  viel  oder  zu  wenig  oder  gar  keinen  Füßen 
unterlaufen.  Goethe  war  indes  damit  zufrieden,  und  fo 
ward  das  Manufkript  zum  Druck  abgefendet. 

[880.]  Oktober  Anfang.  Ein  preußifcher  Artillerieoffizier  (Schmidt). 
Goethe:  nahm  mich  mit  der  früheren  alten  Ereund* 
fchaft  und  Herzhchkeit  auf,  lud  mich  auch  zu  Tifche,  und 
wir  plauderten  viel  von  den  im  Feldzug  von  1792  in 
Frankreich  und  dann  bei  der  Belagerung  von  Mainz  ge^ 
meinfchaftlich  beftandenen  Abenteuern.  Im  übrigen  fand  ich 
Goethe  in  einer  fehr  forgenvollen,  gedrückten  Stimmung, 
wozu  er  als  Minifter  des  Herzogtums  Weimar  freiUch 
auch  alle  Urfache  hatte.  Er  war  ein  zu  klarer  Kopf  und 
befaß  eine  zu  gereifte  Menfchenkenntnis,  als  daß  er  fich 
die  ungemein  vielen  Gebrechen  und  Schwächen  aller  Art, 
die  fich  in  unferem  ganzen  Heere  und  befonders  in  der 
oberften  Leitung  zeigten,  nur  im  allermindeften  verhehlen 
konnte.  So  hegte  er  denn  nichts  wie  Angft  und  Be:; 
forgnis  vor  dem  Ausgang  diefes  Krieges  und  prophezeite 
uns  ein  fchlimmes  Ende,  worin  ich  ihm  als  preußifcher 
Offizier  natürlich  mit  aller  Entfchiedenheit  zu  widerfprechen 
für  meine  Pflicht  hielt,  obgleich  ich  in  meinem  Innern 
leider  manche  feiner  Befürchtungen  nur  zu  fehr  teilte. 
I 


448  Schmidt.  [881 

Daß  fich  jetzt  der  Kriegsfchauplatz  in  das  Gebiet  des 
Herzogtums  Sachfen ^ Weimar  hingezogen  hatte,  mußte 
Goethen  als  Minifier  dort  fehr  unangenehm  fein;  denn 
nicht  allein,  daß  er  felbfi  viel  Plage  und  Arbeit  dadurch 
hatte,  fo  litt  das  Land  ganz  ungemein.  Wenn  auch  die 
Disziplin  in  unferem  Heere  bis  jetzt  noch  fehr  ftrenge 
gehandhabt  wurde,  fo  war  es  doch  nicht  zu  vermeiden, 
daß  Unordnungen  und  Exzeffe  in  Menge  vorkamen. 
~  Alle  diefe  vielen  Plagen  und  Scherereien  der  ver^; 
fchiedenften  Art  ^^  mochten  ebenfalls  wohl  viel  mit  dazu 
beitragen,  daß  fein  Unmut  über  diefen  ganzen  Krieg  und 
befonders  auch  die  Art  und  Weife,  wie  folcher  bisher 
von  uns  geführt  wurde,  ein  fo  überaus  heftiger  war,  daß 
er  ganz  die  Ruhe  und  Würde,  die  ihm  fonft  fiets  in  fo 
hohem  Grade  innewohnte,  darüber  vergaß.  Befonders 
hart  tadelte  er  auch,  daß  wir  nicht  die  Feinde  in  der 
Gegend  füdwärts  des  Thüringer  Waldes  felbft  angriffen, 
ftatt,  wie  es  jetzt  den  Anfchein  hatte,  uns  nordwärts  davon 
von  ihnen  angreifen  zu  laffen.  So  glaube  ich,  daß  der  Ein? 
fluß  Goethes  wirklich  dabei  mit  im  Spiel  gewefen  ifi,  daß 
der  Herzog  Karl  Augufi  von  Sachfen? Weimar,  der  wieder 
in  aktive  preußifche  Dienfte  getreten  war,  es  durchzu? 
fetzen  vermochte,  daß  er  mit  einem  auserlefenen  Korps 
von  zehntaufend  Mann  Infanterie  und  Artillerie  ^  über 
den  Thüringer  Wald  gefandt  wurde,  um  dem  Feind,  den 
wir  damals  noch  immer  zwifchen  Koburg  und  Bamberg 
vermuteten,  in  die  Flanke  zu  fallen. 

[881.]     Oktober  8.     A.  Oehlenfchläger. 

Ich  fügte  mich  alfo  dem  Wunfche  von  Bröndfled 
und  Koes,  um  mich  nicht  von  den  lieben  Landsleuten 
zu  trennen,  und  um  Goethe  noch  einmal  zu  fehen.  Als 
wir  nach  Weimar  kamen,  trafen  wir  ihn  im  Schaufpiels^ 
häufe  in  feiner  Loge.  Nun  feid  Ihr,  fagte  er,  wo  Ihr 
billig  nicht  fein  folltet;  weil  Ihr  aber  hier  feid,  fo  feid 
willkommen.  Diefen  Abend  und  den  nächften  Mittag 
brachte  ich  noch  in  der  Annehmlichkeit  des  Friedens  bei 
ihm  zu.  Wir  fanden  es  nicht  ratfam,  weiter  zu  reifen; 
wir  befchloffen  in  Weimar  zu  bleiben,  um  den  Ausfall 
des  Kampfes  abzuwarten  und  fahen  ihn  denn  auch  bald 
in  der  Nähe. 


885]  Weimar  -  Bei  Jena.     1806^ 449 

[882.]     Oktober  Anfang.    J.  D.  Falk. 

Einige  Zeit  vor  dem  unglücklichen  14.  Oktober,  als 
alle  andern  begeiftert  waren  und  an  nichts  als  an  Kriegs^ 
lieder  dachten,  fagte  Wieland  eines  Abends  bei  der  Her«: 
zogin  Amalie :  Warum  fchweigt  nur  unfer  Freund  Goethe 
fo  ftill?  —  Da  fagte  Goethe:  Ich  habe  auch  ein  Kriegs^ 
lied  gemacht]  —  Man  bat  ihn  fchön  es  zu  lefen.  Da 
hub  er  an  und  las  fein  Lied:  Ich  habe  meine  Sach'  auf 
nichts  geftelltl  —  Was  ihm  Wieland  noch  zwei  Jahre 
nachher  übel  nahm. 

[883.]     Oktober  (11).     Charlotte  v.  Stein. 

Goethe  fagte,  die  Franzofen  hätten  ja  fchon  längft 
die  Welt  überwunden,  es  brauchte  keinen  Bonaparte.  Die 
Sprache,  Kolonien  von  Refugies,  Emigrierte,  Kammerdiener, 
Köche,  Kaufleute  ufw.,  alles  dies  hinge  an  ihrer  Nation, 
und  wir  wären  verkauft  und  verraten. 

[884.]     Oktober  12.     Johanna  Schopenhauer. 

Den  12.  befuchte  mich  Bertuch,  der  mich  fehr  be^^ 
ruhigte;  man  glaubte  beftimmt,  die  Franzofen  zögen  nach 
Leipzig,  alles  könne  gut  werden,  wir  wären  nicht  in  Ge:: 
fahr.  Kurz  darauf  meldete  man  mir  einen  Unbekannten. 
Ich  trat  ins  Vorzimmer  und  fah  einen  hübfchen  ernft? 
haften  Mann  im  fchwarzen  Kleide,  der  fich  tief  mit  vielem 
Anftande  bückte  und  mir  fagte:  Erlauben  Sie  mir,  Ihnen 
den  Geheimen  Rat  Goethe  vorzuftellen.  Ich  fah  im  Zim^ 
mer  umher,  wo  der  Goethe  im  Bildniffe  wäre;  denn  nach 
der  fteifen  Befchreibung,  die  man  mir  von  ihm  gemacht 
hatte,  konnte  ich  in  diefem  Manne  ihn  nicht  erkennen. 
Meine  Freude  und  meine  Beftürzung  war  gleichgroß,  und 
ich  glaube,  ich  habe  mich  deshalb  beffer  benommen,  als 
wenn  ich  mich  darauf  vorbereitet  hätte.  Als  ich  mich 
wieder  befann,  waren  meine  beiden  Hände  in  den  feinigen, 
und  wir  auf  dem  Wege  nach  meinem  Wohnzimmer.  Er 
lagte  mir,  er  hätte  fchon  geftern  kommen  wollen;  beruhigte 
mich  über  die  Zukunft  und  verfprach  wiederzukommen. 

[885.]     Oktober  13.     J.  H.  C.  Koes. 

Spaziergang  mit  Goethe  und  dem  Major  v.  Hendrich 
neben  dem  großen  Lager.  Der  König  fteht  jetzt  hier  mit 
95 000  Mann;  die  Großfürftin  ift  fort  nach  Altftädt,  geftern 
fchlugen  die  Sachfen  bei  Jena  ein  Lager  auf.  So  weit 
I  29 


450 J.  H.  C.  Koes. [886 

wir  über  die  Berge  umher  fehen  konnten,  ftanden  Zelte; 
die  Soldaten  kochend  Kohl  und  Kartoffeln,  andre  Holz 
umhauend  aus  den  Alleen,  andre  Ochfen  oder  Kühe  fchlach:: 
tend,  die  nachher  ftückweife  auf  Pfählen  ins  Lager  ge^ 
tragen  wurden.  Marketenderinnen  mit  Branntwein  und 
Kaffee,  Feldwachen,  Hauptwache,  Kavallerieregimenter  de^ 
filierten  vorbei,  ringsherum  ftieg  Rauch  aus  dem  Lager 
herauf.  Es  war  ein  fchöner  Herbfitag.  Goethe  ifi  ein 
anfehnlicher  Mann,  herrliche  Augen;  doch  fchien  fein 
Gemüt  niedergedrückt  durch  die  kritifchen  Umftände. 
Gefiern  zerfchlugen  ihm  die  Soldaten  die  Fenfter  und 
Möbel  in  feinem  Gartenhaufe. 

[886.]     Oktober  14.     Riemer. 

Ich  eilte  alfo,  da  franzößfche  Soldaten  in  das  Haus  ein= 
gedrungen  waren,  zu  Goethe  hinauf,  erzählte  mit  kurzen 
Worten  den  Hergang,  und  wie  ich  mir  nicht  weiter  zu 
helfen  wüßte  und  ihn  bäte  herunterzukommen,  fich  den 
Leuten  zu  zeigen  und  fie  mit  mehr  Gewicht  abzuweifen, 
als  ich  haben  könne. 

Er  tat  es  auch,  ohne  betroffen  zu  fein  oder  zu  fchei:= 
nen.  In  Erinnerung  ähnlicher  Auftritte  der  deutfchen 
Krieger  in  der  Champagne  mochte  er  wohl  denken,  daß 
jetzt  die  Reihe  an  die  Deutfchen  komme,  und  wie  er  fich 
in  alles  zu  finden  und  zu  fügen  wußte,  fo  auch  in  diefes. 
Obgleich  fchon  ausgekleidet  und  nur  im  weiten  Nachts 
rock  —  der  fonft  fcherzhaft  Prophetenmantel  von  ihm 
genannt  wurde  —  fchritt  er  die  Treppe  herab  auf  fie  zu, 
fragte  was  fie  von  ihm  wollten,  und  ob  fie  nicht  alles 
erhalten,  was  fie  billigerweife  verlangen  könnten,  da  das 
Haus  bereits  Einquartierung  habe  und  noch  einen  Mar;: 
fchall  mit  Begleitung  erwarte.  Seine  würdige,  Ehrfurcht 
gebietende  Gefi:alt,  feine  geiftvolle  Miene  fchien  auch  ihnen 
Refpekt  einzuflößen,  {it  waren  auf  einmal  wieder  die  höf? 
liehen  Franzofen,  fchenkten  ein  Glas  ein  und  erfuchten 
ihn,  mit  ihnen  anzufi:oßen.  Es  gefchah  auf  eine  Weife, 
die  jeder  Unbefangene  den  Umfi:änden  gemäß  und  feiner 
nicht  unwürdig  erkannt  haben  würde.  Nach  einigen  gtf 
wechfelten  Reden  entfernte  er  fich  wieder. 

[887.]     Oktober  14./16.    Johanna  Schopenhauer. 

Am  befi:en  kamen  diejenigen  weg,  die,  wie  wir,  Mut 
genug  hatten,   keine  Angfi  zu  zeigen,   der  Sprache  und 


892]  Weimar.    1806. 451 

der  franzöfifchen  Sitte  mächtig  waren,  darunter  gehörte 
Goethe,  der  die  ganze  Nacht  in  feinem  Haufe  die  Rolle 
fpielen  mußte,  die  bei  mir  Sophie  und  Conta  fpielten.  ^^ 

Ich  fchickte  den  Verwundeten  Leinwand  zum  Verbins^ 
den,  Wein,  Tee  ufw.  ^^ 

Goethe  und  andre  haben  davon  gehört,  und  find 
meinem  Beifpiele  gefolgt.  ^^ 

Noch  heute  fagte  mir  Goethe,  daß  man  in  feinem 
Haufe  überall  zerftreutes  Pulver  und  gefüllte  Patronen 
gefunden  hat.  In  einem  Haufe  ihm  gegenüber  ift  form?: 
lieh  Feuer  angelegt  und  nur  durch  Zufall  entdeckt  und 
ausgelöfcht  worden. 


Oktober.    H.  Voß. 

Goethe  war  mir  in  den  traurigen  Tagen  ein  Gegen:: 
ftand  des  innigften  Mitleidens.  Ich  habe  ihn  Tränen  ver? 
gießen  fehen.  Wer,  rief  er  aus,  nimmt  mir  Haus  und 
Hof  ab,  damit  ich  in  die  Ferne  gehen  kann. 


Oktober  18.     H.  Voß. 

Mir  war  es  rührend,  wie  Goethe  am  zweiten  [?]  Abend 
nach  der  Schlacht,  als  wir  um  ihn  verfammelt  waren,  der 
Vulpius  für  ihre  Treue  in  diefen  unruhigen  Tagen  dankte    ^ 
und    mit    den  Worten   fchloß:    So    Gott   will,    find    wir 
morgen  mittag  Mann  und  Frau. 

[890.]     Oktober  19.     Johanna  Schopenhauer. 

Goethe  fagte  mir  heute,  ich  wäre  durch  die  Feuer^s 
taufe  zur  Weimaranerin  geworden.  ^^  Er  fagte  mir,  jetzt, 
da  der  Winter  trüber  als  fonft  heranrücke,  muffen  wir 
auch  zufammenrücken ,  um  einander  die  trüben  Tage 
wechfelfeitig  zu  erheitern. 

[891.]     Oktober  20.    J.  A.  Ludecus. 

Seine  täglichen  Hauss:  und  Gefchäftsfreunde  waren 
nicht  wenig  überrafcht  als  er  ihnen  feine  Gattin  mit  den 
Worten  vorftellte:    Sie  ift  immer  meine  Frau  gewefenl      ^' 

[892.]     Oktober  (20.)    Johanna  Schopenhauer. 

Die  Stadt  ift  förmlich  der  Plünderung  preisgegeben. 
~  Meyers  Schwiegervater  Herr  von  Koppenfels  ift  ein  alter 
kränklicher,   hypochondrifcher  Mann,  der  eine  Kaffe  zu     ^ 
I  29* 


452  Johanna  Schopenhauer.  [893 

verwalten  hat  und  ängftlich  Ordnung  liebt.  Goethe  fagte 
mir  nachher,  er  hätte  nie  ein  größeres  Bild  des  Jammers 
gefehen,  als  diefen  Mann  im  leeren  Zimmer,  rund  um 
ihn  alle  Papiere  zerriffen  und  zerftreut.  Er  felbft  faß  auf 
der  Erde  kalt  und  wie  verfteinert.  Goethe  fagte:  Er  fah 
aus,  wie  König  Lear,  nur  daß  Lear  toll  war  und  hier 
war  die  Welt  toll. 

[893.]     Oktober  (20).     G.  v.  Reinbeck. 

Jetzt  zog  man  auch  Erkundigungen  ein,  wie's  den 
Bekannten  und  Freunden  ergangen  fei,  und  man  hörte 
mit  Überrafchung  die  Kunde:  Geheimrat  Goethe  habe 
fich  mit  feiner  Hausverwalterin,  Demoifelle  Vulpius,  kirchs: 
lieh  trauen  laffen.  —  Die  Dame  war  in  jeder  Hinficht 
ausgezeichnet  praktifcher  Natur.  Sie  hatte,  überzeugt, 
daß  der  Geheimrat,  wie  fie  ihn  nannte,  wo's  aufs  Han? 
dein  ankam,  gänzlich  ratlos  fei,  und  daß  fie  für  den  Riß 
fieheri  muffe,  fobald  der  Ausfchlag  zweifelhaft  wurde  und 
eigentlich  für  Freund  und  Feind  zu  forgen  war,  fich  mit 
reichlichen  Vorräten  verfehen  und  unten  im  Haufe  Tifche 
mit  Speife  und  Getränke  aufftellen  laffen,  daß  jeder  Her? 
zutretende  gleich  Befriedigung  fände  und  der  Geheimrat 
oben  in  feinen  Zimmern  nicht  beläftigt  würde.  Sie  felbft 
war  dabei  gefchäftig.  Dies  war  für  den  erfien  Anlauf 
fehr  verftändig  berechnet,  und  bald  erhielten  ^  Goethe  und 
Wieland  Sauvegarden,  und  Marfchall  Auger eau  nahm 
bei  Goethe  Quartier.  Der  Marfchall  fah  die  Gefchäftig? 
keit  der  Demoifelle  Vulpius  und  ihre  verftändigen  An? 
Ordnungen,  Goethe  ftellte  ihm  feinen  Sohn  vor,  —  und 
es  war  fehr' natürlich,  daß  er  die  unten  gefchäftige  Haus? 
frau  für  Goethes  Gattin  hielt  und  überrafcht  war  zu  hören, 
daß  fie  zwar  die  Mutter  des  einzigen  Sohnes  Goethes, 
aber  nicht  feine  Gattin  fei.  —  Er  überredete  Goethe,  fie 
als  folche  anzuerkennen  und  dazu  diefen  Augenblick  zu' 
benutzen,  wo  die  Aufmerkfamkeit  des  Publikums  geteilt 
fei  und  nicht  läftig  fallen  werde,  und  als  es  gefchehen 
war,  war's  gefchehen. 

[894.]     Oktober.     A.  Oehlenfchläger. 

Goethe  machte  während  der  Schlacht  mit  Fräulein 
Vulpius  Hochzeit  «^  ohne  daß  es  die  geringfi:e  Verände? 
rung  in  Etwas  machte,  außer  daß  fie  nun  Frau  Geheim? 
rätin  von  Goethe  hieß.  ^  Für  Poefie  hatte  fie  durchaus 


897]  Weimar.    1806.  453 

keinen  Sinn,  und  Goethe  fagte  einmal  felbft  im  Scherz: 
Es  ift  doch  wunderHch,  die  Kleine  kann  gar  kein  Gedicht 
verftehen.  «^  Die  Neuvermählte  erwies  ihrem  Manne  ftets 
Ehrerbietung  und  nannte  ihn  immer:  Herr  Geheimrat. 
Das  taten  wir  andern  auch.  Als  ich  ihn  im  Anfange 
Exzellenz  nannte,  fagte  er  gutmütig:  Laffen  Sie  es  beim 
Geheimrat  bewenden.  Und  diefer  Titel  klingt  in  Deutfeh:: 
land  fehr  bürgerlich.  Frau  Goethe  war  von  einer  rafchen, 
beweglichen  Natur  und  hielt  nicht  viel  von  dem  fiillen 
Leben,  das  ihr  Mann  führte.  Der  Herr  Geheimrat  und 
ich,  foll  fie  einmal  gefagt  haben,  wir  fitzen  immer  und 
fehen  einander  an.     Das  wird  am  Ende  langweilig. 

[895.]     (November.)     Caroline  v.  Wolzogen. 

An  diefem  Fenfter  der  früheren  Wohnung  faß  ich 
mit  Goethe,  als  er  mir  die  Verlegenheit  entdeckte,  daß 
er  uns  fo  feiten  in  feinem  Haufe  fehe,  da  wir  doch  feine 
ältelten  und  liebften  Freunde  wären.  Der  Wunfeh,  feine 
Frau  in  die  gute  Sozietät  einzuführen,  lag  offen;  ich  fagte, 
wir  würden  fie  gewiß  freundlich  aufnehmen  als  feine  Frau, 
wenn  fie  uns  befuchte.  Es  ift  ein  kleines  närrifches  Ding, 
fagte  er,  das  nicht  fchreiben,  knapp  lefen  kann;  aber  Sie 
denken  doch,  daß,  wenn  man  fo  lange  mit  uns  umgeht, 
etwas  übergehen  muß. 

[896.]     November  2.     Riemer. 

Goethe:  Es  ift  ein  gräuliches  Verfahren,  welches  die 
Mineralogen  bei  der  Beftimmung  der  Farben  beobachten. 
Nicht  nur  mengen  fie  apparente  Farben,  chemifche,  und 
unter  diefen  durchfichtige  und  Erdfarben  untereinander; 
fondern  auch  die  phyfifchen  mifchen  fie  mit  chemifchen 
wie  auf  der  Palette  durcheinander :  Morgenrot  mit  gelblich 
braun  u.  dgl. 

[897.J     November.     Riemer. 

G. :  Wenn  Paulus  fagt:  gehorchet  der  Obrig? 
keit,  denn  fie  ift  Gottes  Ordnung,  fo  fpricht  dies 
eine  ungeheuere  Kultur  aus,  die  wohl  auf  keinem  frühern 
Wege  als  dem  chrifthchen  erreicht  werden  konnte:  eine 
Vorfchrift,  die,  wenn  fie  alle  Überwundenen  jetzt  be^^ 
obachteten,  diefe  von  allem  eigenmächtigen  und  unbilligen, 
zu  ihrem  eigenen  Verderben  ausfchlagenden  Verfahren 
abhalten  würde. 
I 


454  Riemer.  [898 

[898.]     November  6.     Riemer. 

Angefangen  an  dem  Schema  und  der  Einleitung  zur 
Morphologie,  des  Abends  um  8  Uhr. 

Goethe:  Das  G all fche  Syftem  kann  dadurch  zu  einer 
Erläuterung,    Begründung  und  Zurechtfiellung  gelangen. 

Es  ifi  ein  fonderbarer  Einwurf,  den  man  gegen  das^ 
felbe  davon  hergenommen  hat,  daß  es  eine  partielle  Er^s 
klärungsweife  fei  von  Erfcheinungen,  die  aus  dem  gefam? 
ten  organifchen  Wefen  ihre  Erklärung  fchöpfen.  Als 
wenn  nicht  alle  Wiffenfchaft  in  ihrem  Urfprunge  partiell 
und  einfeitig  fein  müßte!  Das  Buchftabieren  und  Sylla^ 
bieren  ifi  noch  nicht  das  Lefen,  noch  weniger  Genuß  und 
Anwendung  des  Gelefenen;  es  führt  doch  aber  dazu.  Eine 
Würdigung  diefer  erfi  aufkeimenden  Wiffenfchaft  oder 
diefer  Art  des  Wiffens  ifi  noch  viel  zu  früh. 

[899.]     November.     Riemer. 

Goethe:  Wie  die  Schaltiere  im  nächfien  Bezug  auf 
den  Kalk  fiehen,  daß  man  fagen  kann,  fie  feien  organi^ 
fierter  Kalk,  fo  kann  man  fagen,  daß  diejenigen  Infekten, 
welche  auf  färbenden  Pflanzen  leben  und  gleichfam  leben^ 
dig  den  Farbeftoff  derfelben  darfiellen,  als  die  Kokkus^; 
arten,  gleichfam  die  organifierten  Pflanzen  find.  Stefi^ens 
nannte  gewiffe  Käfer  in  bezug  auf  den  Blumenftaub,  den 
fie  der  Blume  zuführen,  das  fliegende  Gehirn  derfelben. 
Mit  demfelben  Rechte  einer  witzigen  Kombination,  wenn 
es  weiter  nichts  wäre,  kann  man  jene  Infekten  organi;; 
fierten  Farbefioff  nennen.  Lebendiger  Farbeftoff,  wie  jeder 
fagen  würde  und  könnte,  drückt  das  Nämliche  aus,  nur 
verfteckter. 

[900.]     November  7.     Riemer. 

Goethe:  Die  Naturphilofophie  konfiruiert  zuerft  aus 
dem  Lichte  die  Solidität  und  die  Schwere.  Den,  die 
Schwere  konftituierenden  Kern  des  Erdkörpers  bilden  die 
Metalle.  Demnach  müßte  man  fagen:  die  Metalle  feien 
das  folidierte  Licht  und  Darfieller  der  Schwere;  daher 
auch  ihr  übriger  Bezug  zum  Lichte  teils  durch  ihren 
Glanz,  teils  durch  die  Farbe,  die  fie  in  ihrem  regulinifchen, 
krifiallifchen  und  kalkhaften  Zuftande  bereits  haben  und 
noch  annehmen. 


904] Weimar.     1806. 455 

[901.]     November  7.     Riemer. 

Goethe:  Bücher  werden  jetzt  nicht  gefchrieben,  um 
gelefen  zu  werden,  um  fich  daraus  zu  unterrichten  und 
zu  belehren,  fondern  um  rezenfiert  zu  werden,  damit  man 
wieder  darüber  reden  und  meinen  kann,  fo  ins  Unend;: 
Hche  fort. 

Seitdem  man  die  Bücher  rezenfiert,  Ueft  fie  kein  Menfch 
außer  dem  Rezenfenten,  und  der  auch  fo  fo.  Es  hat  aber 
jetzt  auch  fehen  jemand  etwas  Neues,  Eigenes  Selbjftge*: 
dachtes  und  Unterrichtendes,  mit  Liebe  und  Fleiß  Aus*: 
gearbeitetes  zu  fagen  und  mitzuteilen,  und  fo  ift  eins  des 
andern  wert. 

[902.]  November  9.   Chriftiane  Kotzebue  an  Auguft  v.  Kotzebue. 

Es  wird  Dich  von  Goethe  freuen,  daß  er  kurz  nach 
der  Plünderung,  wie  Kraus  begraben  wurde,  auf  dem 
Kirchhofe  zu  mir  kam,  mich  fragte,  wie  es  mir  gegangen, 
und  wünfchte,  daß  ich  in  fein  Haus  gekommen  wäre.  Er 
fei  nicht  ausgeplündert,  weil  er  fich  eine  Sauvegarde,  die 
ihm  zwar  viel  gekoftet,  ausgebeten.  Er  habe  bis  auf  den 
Wein  doch  das  Seinige  behalten,  und  bedauerte  mich  fehr 
freundfchaftlich  über  meinen  Verluft. 

[903.]     November  10.     Riemer. 

Goethe:  Qualis  rex,  talis  grex  paßt  niemals  mehr 
als  jetzt,  und  miles  gregarius  verfi:eht  man  jetzt,  wovon 
es  ausgeht. 

Es  bemerktejemand  fehr  gut,  daß  Napoleon  in  feinem 
Zimmer  wie  ein  Löwe  oder  Tiger  in  feinem  Käfig  unruhig 
auf  und  ab  geht  und  fich  dreht. 

[904.]     November  10.     Johanna  Schopenhauer. 

Die  Gefellfchaft  bei  Goethe  war  klein,  ich,  Bertuchs, 
Meyer,  Knebel  aus  Jena,  ^^  und  feine  Frau  ^^  und  einige 
Fremde.  Ich  kann  Goethe  nicht  genug  fehen;  alles  an 
ihm  weicht  fo  vom  Gewöhnlichen  ab,  und  doch  ift  er 
unendlich  liebenswürdig.  Diesmal  habe  ich  ihn  einmal 
böfe  gefehen.  Sein  Sohn,  der  im  Äußeren  viel  vom  Vater 
hat,  zerbrach  mit  großem  Geräufch  ein  Glas;  Goethe  ers: 
zählte  eben  etwas  und  erfchrak  über  den  Lärm  fo,  daß 
er  auffchrie.  Ärgerlich  darüber,  fah  er  den  Auguft  nur 
einmal  an,  aber  fo,  daß  ich  mich  wunderte,  daß  er  nicht 
I 


456  Johanna  Schopenhauer.  [905 

unter  den  Tifch  fiel.  Ein  ausdrucksvolleres,  mobileres 
Geficht  habe  ich  nie  gefehen.  Wenn  er  erzählt,  ift  er 
immer  die  Perfon,  von  der  er  fpricht.  Der  Ton  feiner 
Stimme  ift  Mufik.  Jetzt  ifi:  er  alt,  aber  er  muß  fchön  wie 
ein  Apoll  gewefen  fein.  ^^  Goethe  war  in  einem  feltenen 
Humor;  eine  Anekdote  jagte  die  andere;  es  war  ganz 
prächtig. 

[905.]     November  18.     Riemer. 

Goethe:  Der  Freiheitsfinn  und  die  Vaterlandsliebe, 
die  man  aus  den  Alten  zu  fchöpfen  meint,  wird  in  den 
meifien  Leuten  zur  Fratze.  Was  dort  aus  dem  ganzen 
Zuftand  der  Nation,  ihrer  Jugend,  ihrer  Lage  zu  andern, 
ihrer  Kultur  hervorging,  wird  bei  uns  eine  ungefchickte 
Nachahmung.  Unfer  Leben  führt  uns  nicht  zur  Abfonde? 
rung  und  Trennung  von  andern  Völkern,  vielmehr  zu 
dem  größten  Verkehr;  unfere  bürgerliche  Exiftenz  ift 
nicht  die  der  Alten;  wir  leben  auf  der  einen  Seite  viel 
freier,  ungebundener  und  nicht  fo  einfeitig  befchränkt 
als  die  Alten,  auf  der  andern  ohne  folche  Anfprüche  des 
Staats  an  uns,  daß  wir  eiferfüchtig  auf  feine  Belohnung 
zu  fein  Urfache  und  deswegen  einen  Patrizieradel  zu 
foutenieren  hätten.  Der  ganze  Gang  unferer  Kultur,  der 
chrifilichen  Religion  felbft  führt  uns  zur  Mitteilung,  Gq^ 
meinmachung,  Unterwürfigkeit  und  zu  allen  gefellfchaft^ 
liehen  Tugenden,  wo  man  nachgibt,  gefällig  ift,  felbft  mit 
Aufopferung  der  Gefühle  und  Empfindungen,  ja  Rechte, 
die  man  im  rohen  Naturzuftande  haben  kann.  Sich  den 
Obern  zu  widerfetzen,  einem  Sieger  ftörrig  und  widere 
fpenftig  zu  begegnen,  darum  weil  uns  Griechifch  und 
Lateinifch  im  Leibe  fteckt,  er  aber  von  diefen  Dingen 
wenig  oder  nichts  verfteht,  ift  kindifch  und  abgefchmackt. 
Das  ift  Profefforftolz,  wie  es  Handwerksftolz,  Bauernftolz 
und  dergleichen  gibt,  der  feinen  Inhaber  ebenfo  lächere 
lieh  macht,  als  er  ihm  fchadet. 

[906.]     November  (19).     Charlotte  v.  Stein  an  ihren  Sohn  Fritz. 

Goethe  läßt  Dir  Glück  wünfchen  zum  neugebornen 
Sohn,  es  fchien  ihn  zu  freuen.  Seine  Befuche  find  mir 
nicht  wohltätig,  ich  kann  nicht  offnen  gegen  ihn  fein, 
manchmal  ift  er  ganz  wie  verrückt  und  nicht  allein  mir 
kommt  er  fo  vor,  fondern  mehreren  Menfchen. 


910]  Weimar.     1806.  457 

[907.]     November  20.     Riemer. 

Goethe:  Der  Streit,  ob  die  männliche  Schönheit  in 
ihrer  Vollkommenheit,  oder  die  weibliche  in  ihrer  Art 
höher  ftehe,  kann  nur  aus  der  größern  oder  geringern 
Annäherung  der  männlichen  oder  der  weiblichen  Form 
an  die  Idee  gefchlichtet  werden.  Nun  reicht  die  mann? 
liehe  aber  mehr  an  die  Idee,  denn  in  ihr  hört  das  Reale 
auf;  des  Mannes  Bildung  geht  ojffenbar  über  die  des 
Weibes  hinaus  und  ift  keineswegs  die  vorletzte  Stufe. 

[908.]     November.     Riemer. 

Goethe:  Den  Verftandesphilofophen  begegnet's  und 
muß  es  begegnen,  daß  fie  undeutlich  aus  gar  zu  großer 
Liebe  zur  Deutlichkeit  fchreiben.  Indem  fie  für  jede 
Enunziation  die  Quelle  oder  ihr  Acheminement  nachweifen 
wollen,  von  dem  Orte  an,  wo  fie  ins  Räfonnement  ein;: 
greift,  bis  zu  ihrem  Urfprunge,  auf  welchem  Wege  wieder 
anderes  acheminiert  und  einläuft,  geht  es  ihnen  wie  dem, 
der  einen  Fluß  von  feiner  Mündung  an  aufwärts  ver? 
folgt,  und  fo  immer  auf  einfallende  Bäche  und  Flüßchen 
fiößt,  die  fich  wieder  verzweigen,  fo  daß  er  am  Ende 
ganz  vom  Wege  abkommt  und  in  Deverticulis  logiert. 
Beifpiele  geben  Kant,  auch  Hegel.  Ariftoteles  ift  noch 
mäßig  mit  feinen  Denns  und  ya^.  Sie  weben  eigent? 
lieh  nicht  den  Teppich,  fondern  fie  dröfeln  ihn  auf  und 
ziehen  Faden  aus;  die  Idealphilofophen  fitzen  eigentlich 
am  Stuhl,  zetteln  an  und  fchießen  ihr  Schiffchen  durch. 
Manchmal  reißt  wohl  ein  Faden,  oder  es  entftehen  Nefter, 
aber  im  Ganzen  gibt's  doch  einen  Teppich. 

[909.] 

G. ;  Es  wird  bald  Poefie  ohne  Poefie  geben,  eine 
wahre  noiriGig,  wo  die  Gegenftände  iv  noirjcrei^  in  der 
Mache  find,  eine  gemachte  Poefie.  Die  Dichter  heißen 
dann  fo,  wie  fchon  Moritz  fpaßte,  a  spissando,  densando, 
vom  Dichtmachen,  weil  fie  alles  zufammendrängen,  und 
kommen  mir  dann  vor,  wie  eine  Art  Wurftmacher,  die 
in  den  fechsfüßigen  Darm  des  Hexameters  oder  Trimeters 
ihre  Wort?  und  Silbenfülle  ftopfen. 

[910.] 

G.;  Die  Stelle  aus  Delille's  l'Imagination  Chant  IV, 
p.  224,   welche   den  Eindruck   der   Verödung  von   Ver? 

I 


458 Riemer. ^ 

failles  fchildert,  ift  poetifch  durch  den  Gegenfiand,  und 
die  rhetorifch^jenergifche  Behandlung,  welche  die  Franzofen 
ihren  Poefien  geben,  tut  hier  gut  und  ift  an  ihrer  Stelle. 
Wie  aber  da,  wo  der  Mann  fich  im  Gegenftand  ver^ 
greift  und  diefen  Xrj%vd^og  (Farbenkaften)  an  unrechten 
Stellen  ausfchmiertl 

[911.]     November.     Riemer. 

Goethe:  Die  Weiber  haben  das  Eigene,  daß  fie  das 
Fertige  zu  ihren  Abfichten  verarbeiten  und  verbrauchen. 
Das  Wiffen,  die  Erfahrung  des  Mannes  nehmen  fie  als 
ein  Fertiges  und  fchmücken  fich  und  anderes  damit.  Nicht 
die  Raupe  zu  erziehen,  das  Kokon  abzuhaspeln,  die  Seide 
zu  fpinnen,  zu  färben  und  zu  appretieren,  fondern  fie  zu 
Blumen  zu  verfticken  oder  in  fchon  gewebtem  Stoffe  fich 
damit  zu  putzen,  ift  im  allegorifchen  Sinne  diefes  Bildes 
ihre  Sache.  Daher  folgen  fie  dem  Manne  nicht  in  feiner 
Deduktion  und  Konftruktion,  ob  fie  ihnen  fchon  manches 
mal  artig  vorkommen  kann,  fondern  fie  halten  fich  an 
das  Refultat;  und  wenn  fie  ihm  auch  folgen,  fo  können 
iie  ihm  doch  darin  nicht  nachahmen  und  es  in  anderem 
Falle  wieder  fo  machen.  Der  Mann  fchaftt  und  erwirbt, 
die  Frau  verwendet's :  das  ift  auch  im  intellektuellen  Sinne 
das  Gefetz,  unter  dem  beide  Naturen  ftehen.  Daher 
muß  man  einer  Frau  das  Fertige  geben;  und  aus  eben 
diefer  Urfache  find  fie  das  wünfchenswertefte  Auditorium 
für  einen  Dogmatiker,  der  nur  Geift  genug  hat,  das,  was 
er  ihnen  fagt,  angenehm  und  finnlich  ergreifend  zu  fagen. 
Das  Pofitive  lieben  fie  in  diefem  Falle,  folche  Unduliften 
fie  auch  in  anderen  Rückfichten  fein  mögen. 

[912.] 

Horaz.  Sein  poetifches  Talent  anerkannt  nur  in  Ab;; 
ficht  auf  technifche  und  Sprachvollkommenheit,  d.  h.  Nach;; 
bildung  der  griechifchen  Metra  und  der  poetifchen  Sprache, 
nebft  einer  furchtbaren  Realität  ohne  alle  eigentliche  Poefie, 
befonders  in  den  Oden. 

[913.] 

Goethe:  Die  guten  Vorfätze  im  Menfchen, die  Grunde 
fätze,  die  immer  wieder  von  der  Natur  überwältigt  werden, 
find  wie  die  Reinigung,  Scheuerung  und  Schmückung  an 


916] Weimar.     1806. 459 

Sonn^,  Fefts:  und  Ehrentagen.  Man  wird  zwar  immer  wieder 
fchmutzig,  aber  es  ift  doch  gut,  daß  man  durch  folche 
partielle  Reinigung  die  Reinlichkeit  überhaupt  nicht  un^: 
möglich  macht. 

[914.]     November  23.     Riemer. 

Goethe:  Obgleich  die  Natur  einen  beftimmten  Etat 
hat,  von  dem  fie  zweckmäßig  ihre  Ausgaben  beftreitet, 
fo  geht  die  Einnahme  doch  nicht  fo  genau  in  der  Ausss 
gäbe  auf,  daß  nicht  etwas  übrig  bliebe,  welches  fie  gleiche 
lam  zur  Zierde  verwendet.  Die  Natur,  um  zum  Menfchen 
zu  gelangen,  führt  ein  langes  Präludium  auf  von  Wefen 
und  Geftalten,  denen  noch  gar  fehr  viel  zum  Menfchen 
fehlt.  In  jedem  aber  ift  eine  Tendenz  zu  einem  andern, 
was  über  ihm  ift,  erfichtlich.  Die  Tiere  tragen  gleichfam 
das,  was  hernach  die  Menfchenbildung  gibt,  recht  zier*: 
lieh  und  fchön  geordnet  als  Schmuck,  zufammengepackt 
in  den  unverhältnismäßigen  Organen,  als  da  find  Hörner, 
lange  Schweife,  Mähnen  ufw.,  welches  alles  beim  Menfchen 
wegfällt,  der  fchmucklos,  durch  fich  felbft  fchön  und  in 
fich  felbft  fchön,  vollendet  dafteht;  der  alles,  was  er  hat, 
auch  ift,  wo  Gebrauch,  Nutzen,  Notwendigkeit  und  Schöne 
heit  alles  eins  ift  und  zu  einem  ftimmt.  Da  beim  Menfchen 
nichts  Überflüffiges  ift,  fo  kann  er  auch  nichts  entbehren 
und  verlieren,  und  was  er  verliert,  kann  er  deswegen 
auch  nicht  erfetzen  (Haare  und  Nägel  ausgenommen  und 
die  geringe  Reproduktionskraft  in  Rückficht  auf  Haut, 
Fleifch  und  Knochen),  dagegen  bei  den  Tieren,  und  je 
niedriger  die  Tiere  ftehen,  die  Reproduktionskraft  ebenfo 
wie  die  Zeugungskraft  größer  ift.  Die  Reproduktions^s 
kraft  ift  nur  eine  unabgelöfte  Zeugung,  und  umgekehrt. 

[915.]     November  26.     Riemer. 

Goethe:  Daß  derMenfch,  zu  Behauptung  feiner  Freies 
heit,  den  Gegenfatz  des  Gegebenen  felbft  hervorruft,  diefe 
Erfcheinung  zeigt  fich  auch  im  Phyfifchen,  wo  das  Auge 
den  Gegenfatz  einer  gegebenen  Farbe  felbft  hervorbringt, 
und  mit  dem  Gegebenen  und  dem  felbft  Hervorgebrachten 
die  Totalität  abfchließt. 

[916.]     November  27.     St.  Schütze. 

Goethe  hatte  ~  eines  Abends  bei  Frau  Schopenhauer 
~  zu  einer  ausführlichen  Erörterung  der  Gefellfchaft  die 

I 


460 St.  Schütze. [917 

Frage  vorgelegt,  welchen  Sinn  der  Titel  von  Werner's 
Luther:  Weihe  der  Kraft,  wohl  haben  möchte.  Jeder 
follte  feine  Meinung  fagen,  ob  eine  geweihte  Kraft,  oder 
eine  Weihung  der  Kraft,  oder  eine  Weihung  durch  die 
Kraft  oder  was  fonft  darunter  zu  verliehen  fei.  Seine 
Abficht  ging  indes  weniger  dahin,  jene  Worte  erklärt  zu 
wiffen,  als  darüber  zu  fcherzen. 

[917.]     November  27.     Johanna  Schopenhauer. 

Goethe  fühlt  fich  recht  wohl  bei  mir  und  kommt 
recht  oft.  Ich  habe  einen  eigenen  Tifch  mit  Zeichen? 
materialien  für  ihn  in  eine  Ecke  geftellt  '^  wenn  er  dann 
Luft  hat,  fo  fetzt  er  fich  hin  und  tufcht  aus  dem  Kopfe 
kleine  Landfchaften,  leicht  hingeworfen,  nur  f kizziert,  aber 
lebend  und  wahr,  wie  er  felbft  und  alles,  was  er  macht. 
Welch  ein  Wefen  ift  diefer  Goethe!  wie  groß  und  wie 
gut!  da  ich  nie  weiß,  ob  er  kommt,  fo  erfchrecke  ich 
jedesmal,  wenn  er  ins  Zimmer  tritt;  es  ift,  als  ob  er  eine 
höhere  Natur  als  alle  übrigen  wäre;  denn  ich  fehe  deut? 
lieh,  daß  er  denfelben  Eindruck  auf  alle  übrigen  macht, 
die  ihn  doch  weit  länger  kennen  und  ihm  zum  Teil  auch 
weit  näher  ftehen,  als  ich.  Er  felbft  ift  immer  ein  wenig 
fiumm  und  auf  eine  Art  immer  verlegen,  wenn  er  kommt, 
bis  er  die  Gefellfchaft  recht  angefehen  hat,  um  zu  wiffen, 
wer  da  ift.  Er  fetzt  fich  dann  immer  dicht  neben  mich, 
etwas  zurück,  fo  daß  er  fich  auf  die  Lehne  von  meinem 
Stuhle  ftützen  kann;  ich  fange  dann  zuerft  ein  Gefpräch 
an,  dann  wird  er  lebendig  und  unbefchreiblich  liebens? 
würdig.  Er  ift  das  vollkommenfte  Wefen,  das  ich  kenne, 
auch  im  Äußeren;  eine  hohe,  fchöne  Geftalt,  die  fich 
fehr  gerade  hält,  fehr  forgfältig  gekleidet,  immer  fchwarz 
oder  ganz  dunkelblau,  die  Haare  recht  gefchmackvoll 
frifiert  und  gepudert,  wie  es  feinem  Alter  ziemt,  und  ein 
gar  prächtiges  Geficht  mit  zwei  klaren  braunen  Augen, 
die  mild  und  durchdringend  zugleich  find.  Wenn  er 
fpricht,  verfchönert  er  fich  unglaublich;  ich  kann  ihn 
dann  nicht  genug  anfehen.  Er  fpricht  von  allem  mit, 
erzählt  immer  zwifchendurch  kleine  Anekdoten,  drückt 
niemand  durch  feine  Größe.  Er  ift  anfpruchslos  wie  ein 
Kind;  es  ift  unmöglich,  nicht  Zutrauen  zu  ihm  zu  faffen, 
wenn  er  mit  einem  fpricht,  und  doch  imponiert  er  allen, 
ohne  es  zu  wollen.  Letztens  trug  ich  ihm  feine  Taffe 
zu,  wie  das  in  Hamburg  gebräuchlich  ift,   daß  fie  nicht 


918]  Weimar.     1806.  461 

kalt  würde,  und  er  küßte  mir  die  Hand.  '^  Alle,  die  in 
der  Nähe  waren,  fahen  es  mit  Staunen.  Es  ift  wahr,  er 
fieht  fo  königlich  aus,  daß  bei  ihm  die  gemeinfte  Höf* 
lichkeit  wie  Herablaffung  erfcheint,  und  er  felbft  fcheint 
das  gar  nicht  zu  wiffen,  fondern  geht  fo  hin  in  feiner 
ftillen  Herrlichkeit  wie  die  Sonne. 

[918.]     November  (30).     K.  L.  Fernow  an  K.  A.  Böttiger. 

Am  Abend  desfelben  Tages,  wo  ich  meinen  Brief 
an  Sie  abfandte,  hatte  ich  eine  fehr  intereffante  Unter? 
haltung  mit  Goethe.  '^  Ich  kam  zufällig  mit  G.  über 
das  Journal;:  und  Zeitungswefen  unfers  Vaterlandes  zu 
fprechen.  Sie  wiffen,  wie  G.  von  jeher  über  die  Neuig:= 
keitskrämereien  der  Journale  gedacht  hat,  und  er  war  auch 
jetzt  indigniert  über  fo  manche  Nachrichten,  welche  in 
den  letzten  Zeiten  über  Weimar  befonders  in  der  All;; 
gemeinen  Zeitung  geftanden  haben,  z.  B.  die  Notiz,  unfere 
verwitwete  Herzogin  und  ihre  Flucht  von  Weimar  vor 
der  Schlacht,  welche  hier  allgemein  gemißbilligt  worden, 
um  fo  mehr,  da  die  Beweggründe  zu  ihrer  Abreife  dort 
völlig  falfch  angegeben  worden,  und  die  andere,  daß  die 
Herzogin  von  Weimar  dem  gefallenen  Prinzen  Louis 
Ferdinand  von  Preußen  einen  Lorbeerkranz  geweihet  habe, 
woran,  wie  Sie  leicht  denken  können,  kein  wahres  Wort 
ift,  und  andere  Indiskretionen  mehr,  die  Ihnen  bekannt 
find.  Er  fagte  mir,  er  habe  deshalb  auch  fehr  ernftlich 
an  Cotta  gefchrieben,  daß  er  jetzt  befonders,  wo  Deutfeh:: 
land  nur  eine  große  und  heilige  Sache  habe  —  die,  im 
Geifte  zufammenzuhalten,  um  in  dem  allgemeinen  Ruin 
wenigftens  das  bis  jetzt  noch  unangetaftete  Palladium 
unferer  Literatur  aufs  eiferfüchtigfte  zu  bewahren  —  der? 
gleichen  Frivolitäten,  welche  nur  zum  Gefpött  der  Schaden? 
frohen  und  zum  Geklatfche  der  Müßiggänger  dienen, 
nicht  in  feinen  Blättern  hegen  und  pflegen  muffe.  Er 
fagte,  nach  dem  14.  Oktober  muffe  kein  Freimütiger  mehr 
exiftieren;  befonders  muffe  man  in  Sachfen,  welches  vor 
vielen  andern  gefchont  worden  und  fo  günftige  Beding? 
ungen  für  feine  fernere  Exiftenz  erhalten,  jetzt  mehr  als 
je  zufammenhalten,  da  Dresden,  Leipzig,  Jena  und  Weimar 
künftig  leicht  der  Hauptfitz  der  germanifchen  Kultur  im 
nördlichen  Deutfchland  bleiben  dürften,  fo  wie  fie  es  auch 
fchon  früher  größtenteils  gewefen  feien.  Alle  die  Necke? 
reien,  welche  ehemals  in  Zeiten  der  Ruhe  und  friedlicher 


462  K.  L.  Fernow.  [919 

Verhältniffe ,  wenn  auch  unanftändig,  doch  im  wefent? 
liehen  unfchädlich  gewefen,  würden  jetzt  höchfi  nach* 
teiUg  werden,  wenn  fie  dazu  beitragen  könnten,  daß  die 
Franzofen  die  einzige  Achtung,  die  fie  jetzt  noch  für  die 
Deutfchen  haben  konnten,  verUeren  müßten.  Es  fei  alfo 
jetzt,  wo  alles  auf  der  Spitze  fiehe,  eine  wahre  Verräterei, 
mit  dem  alten  Leichtfinne  fortzufahren,  Orte,  welche  als 
ein  Sitz  der  Kultur,  und  Männer,  welche  als  tätige  Be? 
förderer  derfelben  einige  Anfprüche  auf  öffentliche  Ach* 
tung  haben  können,  unwürdig  zu  behandeln,  und  daß 
der  Feind  uns  um  fo  weniger  ehren  werde,  wenn  wir 
uns  felbfi  fo  wenig  ehren  und  achten,  daß  wir  nichts 
befferes  zu  tun  wiffen,  als  vor  feinen  Augen  unfere  Blößen 
aufzudecken.  Befonders  muffe  Weimar  und  diejenigen 
in  W.,  welche  zum  Teil  dazu  beigetragen,  auch  felbit  in 
den  Augen  der  Franzofen  unfere  Literatur  achtungswürdig 
zu  machen,  jetzt  mit  gebührender  Rückficht  behandelt 
werden,  um  fo  mehr,  da  der  Kaifer  Napoleon  felbft  auf 
Weimar  aufmerkfam  geworden,  fo  daß  er  den  berühmten 
Johannes  Müller  in  einer  Unterredung  gefragt  hat,  ob 
denn  W.  auch  in  Deutfchland  felbft:  wegen  feiner  höhern 
Bildung  in  demfelben  Anfehen  fi:ehe,  wie  bei  den  franzö* 
fifchen  Gelehrten.  Man  muffe  alfo  auf  alle  Weife  ver* 
hüten,  daß  der,  in  deffen  Hand  jetzt  das  Schickfal  liege, 
die  Achtung,  die  wir  ihm  durch  ein  höheres  geiftiges 
Übergewicht  abgenötigt  haben,  nicht  verliere  ufw. 

[919.]     Dezember  2.     Riemer. 

Goethe:  Wenn  die  Natur  einen  befi:immten  Etat  für 
die  genera  der  organifchen  Wefen  hat,  demzufolge  fie 
eine  ftarke  Ausgabe  durch  eine  Erfparnis  wieder  kom* 
penfieren  muß,  fo  hat  fie  ihn  wahrfcheinlich  auch  bei  den 
Individuen.  Um  nur  vom  Menfchen  zu  reden,  fo  fcheinen 
die  fi:arken  Ausgaben  an  gewiffen  Teilen  der  Organifation 
gewiffe  Schwächen  an  anderen  nach  fich  zu  ziehen.  Und 
auf  diefer  Läffigkeit,  auf  diefer  Balancierung,  fcheint  es, 
beruht  alle  Verfchiedenheit  der  Bildung,  und  nur  auf 
diefem  Wege  dürfte  Galls  Theorie   zu   begründen  fein. 

[920.]     Dezember  3.     Johanna  Schopenhauer  an  ihren  Sohn. 

Goethe  hatte  einen  von  Runge  in  Papier  ausgefchnittenen 
Blumenftrauß  zur  Anficht  in  die  Abendgefellfchaft  der  Schopen? 
hauer  mitgebracht,  wodurch  letztere  bewogen  worden  war,  einen 


922]  Weimar.     1806.  463 

von  einer  Fuchfie  umfchlungenen  Kaftanienzweig  auszufchneiden 
und  diefen  am  3.  Dezember  1806  Goethen  vorzulegen.  Sie  fchreibt 
darüber: 

Nun  hätteft  Du  ihn  und  feine  Freude  über  meine  ^ 
Kunft  fehen  follen,  wie  er  es  gewahr  wurde.  Gegen 
Runges  Bukett  mußte  ich  freiUch  zurückfiehen ,  aber 
meines  war  in  der  Art  ein  erfter  Verfuch;  denn  die 
Blumen  find  in  Lebensgröße.  Nun  kamen  verfchiedene, 
die  meine  Arbeit  für  Runges  Arbeit  hielten,  welche  fie 
früher  gefehen  hatten,  und  Goethe  rief  dann  ganz  trium? 
phierend,  wenn  fie  lange  bewundert  hatten:  Nein,  die 
Frau,  die  kleine  Frau  hat  das  gemacht!  Solche  Streiche 
macht  fiel  Sehen  Sie  einmal,  fehen  Sie  einmal  recht,  wie 
hübfch  das  ifi:l  Er  freute  fich  darüber  wie  ein  Kind  zum 
Weihnachten.  ^  Die  übrigen  gingen  ans  Klavier  im  Neben^ 
zimmer,  ich  blieb  allein  bei  Goethe  an  feinem  Zeichen? 
tifche;  denn  ich  kann  ihn  nicht  genug  fehen  und  hören. 
Nun  erzählte  er  mir  von  einem  Ofenfchirme,  den  ich 
fo  machen  müßte,  machte  mir  mit  ein  paar  Strichen  eine 
Zeichnung  dazu  und  will  mir  auch  beim  Aufkleben  helfen. 
Hernach  verfammelten  fich  Meyer,  Fernow  und  Schütze 
um  uns;  wir  machten  einen  kleinen  Kreis,  die  Bardua 
kam  dazu,  mit  welcher  heillos  umgegangen  ward,  und 
der  Abend  verging  unter  Scherz  und  Lachen. 

[921.]     Dezember  7.     Johanna  Schopenhauer  an  ihren  Sohn. 

Die  Frau  des  Marfchall  Lannes  kommt  hier  durch 
und  follte  bei  Goethe  logieren.  Weil  fie  fchon  viele 
Tage  erwartet  wurde  und  nicht  kam,  fo  meinte  er,  fie 
käme  gar  nicht,  aß  richtig  zu  Mittag  eine  kalte  Gänfe? 
leberpafi:ete,  die  für  die  Dame  bereitet  war  und  kam  den 
Abend  zu  mir.  Nun  kam  die  Dame,  und  die  Pafi:ete 
war  verzehrt,  und  er  war  bei  mir  und  mußte  fort. 

[922.]     Dezember  8.     Riemer. 

Goethe:  Es  werden  die  Franzofen  nach  innen  zu 
genötigt,  fich  tugendhaft  zu  zeigen,  ehrlich,  honett,  recht? 
fchaffen  ufw.  zu  fein,  da  fie  nach  außen  zu  als  Räuber, 
Spitzbuben  und  Mörder  zu  agieren  gezwungen  find.  Wir 
Deutfche  waren  im  Bewußtfein  unferer  Tugenden  früher? 
hin  im  Ausdruck  freier  und  lofer,  da  wir  jetzt  bei  un? 
gebundenen  Sitten  zu  einer  Dezenz  des  Ausdrucks  fi:reben 
muffen. 
I 


464 ■  Riemer. [923 

[923.]     Dezember.     Riemer. 

Goethe:  Man  kann  die  Phalangen  (Wirbel  im  Rücken 
und  fonft)  als  die  Knoten  anfehen  bei  den  Pflanzen.  Wie 
die  Pflanze  von  Knoten  zu  Knoten  wächft,  fo  die  Or^ 
ganifation  der  Tiere.  Die  Knochen  der  Arme  und  Beine 
find  auch  nichts  anderes  als  größere  Knoten  oder  Pha^ 
langen.  Von  eins  fängt's  an,  geht  im  Vorderarm  und  im 
Unterfchenkel  in  zwei,  dann  in  drei,  vier,  fünf  über  ufw. 

[924.] 

G. ;  Die  Farbe  zeigt  eine  Polarität,  fie  oxydiert 
und  desoxydiert,  und  wird  es:  beides  Erfcheinungen  wie 
bei  Magnet  und  Elektrizität.  Sollte  die  Farbe  nicht  eine 
nur  für  den  Sinn  des  Auges  erfolgende  Erfcheinungs^ 
weife  eines  und  desfelben  Entis  fein,  das  fich  bald  als 
Magnetismus,  bald  als  Elekrizität,  bald  als  Chemismus 
zeigt?  Sollte  nicht  beim  Erfcheinen  der  prismatifchen 
Ränder  gleichfam  eine  Oxydation  und  Desoxydation  des 
Lichtes  durch  das  Medium  des  brechenden  Mittels  und 
auf  Anlaß  deffen  vorgehen?  Daß  alfo  das  Prisma 
nur  für  den  Sinn  des  Auges  täte,  was  bei  dem  Galvanis^ 
mus  die  beiden  Drähte  im  Waffer  tun,  eine  Zerfetzung 
des  Lichts  hervorbringen.  Elektrizität  wird  ja  fehr  leicht 
für  die  taktifche  Empfindung  als  Galvanismus  erregt, 
warum  nicht  eben  fo  leicht  für  die  Empfindung  des  Auges 
durch  das  prismatifche  Medium  als  Farbe? 

[925.]     Dezember  11.     Riemer. 

Goethe:  Die  Nationen  laffen  fich  auch  mit  Pflanzen, 
ihren  Blüten  und  Früchten  vergleichen.  Die  untern 
Stände  find  die  Kotyledonen  und  die  daraus  fich  enU 
wickelnden  erften  Stengelblätter;  die  höhern  Stände  und 
die  Kulturen  derfelben  repräfentieren  die  fernem  Blätter, 
Blüten,  Früchte. 

Hier  öffnete  fich  ein  weites  und  artiges  Feld  für 
die  Rungifche  allegorifch^fymbolifch^smyftifche  Pflanzen?: 
metamorphofe. 

[926.]     Dezember  12.     Riemer. 

Goethe  liebte  in  feiner  Jugend  einen  jungen  Freund 
außerordentUch.  Diefer  ftarb;  bei  feinem  Begräbnis  warf 
ihm  Goethe  den  linken  Handfchuh  nach  ins  Grab.  Dies 
erregte  äußerfte  Bewegung  und  Senfation  unter  den  An? 


930]  Weimar.    1806.  465 

wefenden,  die  diefe  Äußerung  jeder  anders  anklagten  und 
entfchuldigten. 

K— er  ließ  dem  Herzog  Friedrich  Augufl  von  Braun= 
fchwegf  Oels  noch  im  Grabe  das  Hemd  des  Herzogs  von 
Weimar  wieder  ausziehen,  das  von  jenem  geliehen,  und 
verbrannte  es  eigenhändig  im  Park. 

Der  fogenannte  Aberglaube  beruht  auf  einer  viel 
größeren  Tiefe  und  Delikateffe,  als  der  Unglaube. 

[927.]     Dezember  13.     Riemer. 

Goethe:  Der  Krieg  ift  in  Wahrheit  eine  Krankheit, 
wo  die  Säfte,  die  zur  Gefundheit  und  Erhaltung  dienen, 
nur  verwendet  werden,  um  ein  Fremdes,  der  Natur  Unss 
gemäßes,  zu  nähren. 

[928.]     Dezember  15.     Riemer. 

Von  Jean  Pauls  neueftem  Erziehungsbüchlein  fagte 
G. :  Es  komme  ihm  vor  wie  ein  Züchtling,  deffen  Ketten 
man  immer  klirren  höre,  wenn  er  auch  noch  fo  leife  Be:^ 
wegungen  mache.  Man  höre  immer  die  Catena  von 
Zitaten,  Exzerpten,   Kollektaneen  und  fo  fort. 

[929.]     Dezember  16.     Riemer. 

Goethe  bemerkte,  daß,  da  er  nach  Gall  die  Gabe 
habe,  fich  nur  gleichnisweife  auszudrücken,  er  nun  auch 
das  Verhältnis  der  Newtonfchen  Lehre  zu  feiner  und 
der  frühern  in  einem  Gleichnis  darftellen  wolle.  Er  habe 
diefes  gefunden  in  den  verfchiedenen  aftronomifchen  Sys= 
fiemen.  Das  Newtonfche  verhalte  fich  zu  dem  neueften 
feinen,  wie  das  Ty cho ^ de ^s Brahifche  zu  dem  Koperni^ 
kanifchen. 

[930.]     Dezember  18.     Johanna  Schopenhauer  an  ihren  Sohn. 

Geftern  war  mein  Zirkel  kleiner,  aber  um  fo  inter^s 
effanter,  obgleich  niemand  etwas  zum  Vorlefen  mitge^ 
bracht  hatte.  Ich  fchnitt  wieder  Blumen  aus,  und  Goethe 
war  gewaltig  gefchäftig,  fie  zu  einem  Ofenfchirme  zu 
ordnen,  den  er  felbft  aufkleben  will.  Dabei  erzählte  er 
Anekdoten  aller  Art.  Die  Bardua  malt  jetzt  Goethe; 
ich  glaube  faft,  er  würde  mir  auch  fitzen,  wenn  ich  ihn 
darum  bäte.  Den  Mut  dazu  hätte  ich  wohl,  aber  wenn's 
zur  Ausführung  käme  und  er  mich  dann  fo  ernfthaft  mit 
I  30 


466  Johanna  Schopenhauer.  [931 

feinen  durchdringenden  Augen  anfähe,  dann  wäre  ich  in 
Gefahr,  davonlaufen  zu  muffen.  Alfo  laffe  ich  es  lieber; 
die  Bardua  wird  mir  aber  das  Bild,  welches  fehr  ähnlich 
werden  foll,  kopieren.  —  Letzt  fprach  man  bei  mir  vom 
Latein,  wie  notwendig  es  wäre  und  wie  wenig  es  jetzt 
gelernt  würde.  Ich  fagte.  Du  hättefi  es  in  Deiner  Kind^ 
heit  durchaus  nicht  lernen  können,  obgleich  Du  lebende 
Sprachen  fehr  leicht  vollkommen  begriifeft.  Goethe  fagte  : 
es  wundere  ihn  nicht;  es  wäre  ungeheuer  fchwer,  da  hälfe 
keine  Methode,  die  ganze  Kindheit  muffe  darauf  zuges^ 
bracht  werden:  Wenn  zehn  Louisdor  auf  einem  Tifche 
liegen,  kann  man  fie  leicht  einftreichen ,  aber  wenn  fie 
tief  in  einem  alten  Brunnen  liegen  und  Steine,  Schutt 
und  Gebüfch  obendrauf,  dann  ift's  ein  ander  Ding;  ein 
Kind  kriecht  dann  wohl  mühfam  hinein,  aber  ein  Er^ 
wachfener  muß  es  bleiben  laffen.  Ich  fagte.  Du  hätteft 
Luft,  es  noch  zu  lernen,  ich  wolle  Dir  aber  abraten.  Dies 
folle  ich  auch  nicht  tun,  fagte  er;  es  bliebe  doch  immer 
etwas  hängen,  und  wenn  Du  es  noch  tun  wolltefi,  fo 
wäre  es  fehr  gut  und  nützlich,  obgleich  Du  es  zur  VolU 
kommenheit  nicht  bringen  wijrdeft. 

[93L]     Dezember  (22).     H.  Meyer  an  H.  K.  A.  Eichftädt. 

Es  gefchahe  auf  Herrn  Geheimrat  von  Goethes  Ge? 
heiß,  daß  ich  die  Stelle  über  den  Verkauf  der  Gemmen;^ 
fammlung  dem  Manufkript  eingerückt,  und  glaubte,  er 
habe  mit  Ihnen  darüber  Rückfprache  genommen.  Ich  bin 
die  Weglaffung  darum  wohl  zufrieden  und  habe  ferner 
mit  Goethe  gefprochen,  der  es  ebenfalls  genehmigt  und 
wünfcht,  Sie  möchten  auch  mit  der  Anzeige  des  Verkaufs^: 
anerbietens  im  Intelligenzblatt  fo  lange  warten,  bis  die 
gegenwärtigen  Befitzer  diefer  Sammlung  fich  folches  von 
Ihnen  felbft  ausbitten  würden. 

[932]     Dezember  24.     Riemer. 

Goethe  wünfchte  einmal  die  Frage :  ob  ein  nützlicher 
Irrtum,  eine  nützliche  Lüge  einer  fchädlichen  Wahrheit 
vorzuziehen  fei,  in  einer  Fabel  zu  behandeln.  Ich  foll 
ihn  daran  erinnern,  wiewohl  fie  in  der  Iphigenie  fchon 
durchgeführt  fei.  Während  Oreft  und  Pylades  ihre  Zwecke 
durch  Lug  und  Trug  zu  erreichen  ftreben,  fucht  fie  auf 
ihre  Weife  durch  die  Wahrheit  dahin  zu  gelangen. 


935]  Weimar.     1806. 467 

[9331     Dezember  24.     Riemer. 

G.  habe  nur  drei  Arten,  fein  Urteil  zu  äußern,  in^s 
dem  er  lobe^  oder  fchweige,  oder  fchelte. 

[934.J     Dezember  24.     H.  Schmidt. 

Als  ich  von  Berlin  nach  Wien  meine  Tour  über 
Weimar  nahm,  fäumte  ich  natürlich  nicht,  fondern  war 
vielmehr  im  Drange  jugendlicher  Dankbarkeit  hochbes: 
glückt,  den  göttlichen  Mann  wieder  zu  fehen,  um  ihm 
nochmals  danken  zu  können.  Bald  nach  meinem  Ein:^ 
tritt  fragte  er  mich:  Nun,  wie  geht's  und  wie  ifi's  ge^ 
gangen?  Wie  haben  Sie  fich  mit  dem  Theater  zurecht:^ 
gefunden?  Erfreut  legte  ich  fogleich  eine  vollkommene, 
doch  kurzgefaßte  Beichte  ab,  deren  Kern  im  wefentlichen 
darin  beftand,  daß  ich  ihm  feinen  eigenen  früheren  Aus^« 
fpruch  zurückrief,  der  dahin  lautete,  daß  er  fürchtete, 
meine  Neigung  zum  Gefchäft  des  Schaufpielers  würde 
nicht  ftandhalten,  um  dabei  mit  Erfolg  zu  beharren,  wie 
es  die  Aufgabe  erfordere.  Wie  fehr  beftätigte  fich  dies. 
'^  Dies  immer  mehr  einfehend,  war  mir  daher  auch  nichts 
willkommener,  als  daß  fich  mir  eine  in  jeder  Hinficht 
erwünfchte  Gelegenheit  darbot,  meine  Vorliebe  für  das 
Theater,  befonders  aber  auch  für  Mufik  und  Oper  auf 
andere  Weife  zu  betätigen,  indem  das  fürfilich  Efi:erhazy^ 
fche  Theater  im  Schloß  zu  Eifenfiadt  eröffnet  werden 
foUte  und  mir  die  Mitwirkung  bei  der  Her^s  und  Ein^ 
richtung  fowohl  als  auch  bei  der  Fortführung  des  Ganzen 
zuteil  wurde.  Nun  fand  fich  erft,  wofür  meine  Neigung 
die  eigentliche  Richtung  erhalten  follte.  Goethe  fagte 
hier  die  für  mich  fo  wohltuenden  Worte:  Nun  das  freut 
mich.  So,  wie  ich  mir's  gedacht  hatte,  als  ich  damals 
mit  Schillern  davon  fprach.     Nun!     Glück  zu! 

[935.]     Dezember  25.     Johanna  Schopenhauer  an  ihren  Sohn. 

Er  ift  ein  unbefchreibliches  Wefen;  das  Höchfte  wie 
das  Kleinfte  ergreift  er.  So  faß  er  denn  an  diefem  Abend 
eine  lange  Weile  im  letzten  meiner  drei  ^^  Zimmer  mit 
Adele  ^  und  der  jüngften  Conta,  einem  hübfchen,  uns: 
befangenen  fechzehnj ährigen  Mädchen.  Wir  fahen  von 
weitem  der  lebhaften  Konverfation  zwifchen  den  dreien 
zu,  ohne  fie  zu  verftehen;  zuletzt  gingen  fie  alle  drei 
hinaus  und  kamen  lange  nicht  wieder.  Goethe  war  mit 
I  30* 


468  Johanna  Schopenhauer.  [936 

den  Kindern  in  Sophies  Zimmer  gegangen,  hatte  fich  dort 
hingefetzt  und  fich  Adeles  Herrlichkeiten  zeigen  laffen, 
alles  Stück  vor  Stück  befehen,  die  Puppen  nach  der  Reihe 
tanzen  laffen,  und  kam  nun  mit  den  frohen  Kindern  und 
einem  fehr  lieben  milden  Gefichte  zurück,  wovon  kein 
Menfch  einen  Begriff  hat,  der  nicht  die  Gelegenheit  hat, 
ihn  zu  fehen,  wie  ich. 

[936.]     Dezember  26.     H.  Schmidt. 

Schmidt  war  von  Wien  nach  Berlin  und  Weimar  gefandt 
worden,  um  bei  etwaiger  Auflöfung  der  dortigen  Bühnen  nach 
der  Schlacht  von  Jena  Schaufpieler  anzuwerben  und  traf  Ab# 
machungen  mit  zweien.     Er  erzählt  dann  weiter: 

Auch  in  bezug  auf  die  andern  vorzüglichen  Mit;: 
glieder  unterließ  ich  jedoch  nicht,  meinem  Auftrag  ge^^ 
maß  weitere  Schritte  zu  tun,  worüber  mir  Goethe,  als 
ich  vor  meiner  Abreife  das  letztemal  bei  ihm  fpeifte,  das 
aus  feinem  Munde  mir  höchft  erfreuliche  Zeugnis  gab, 
daß  er  meine  Schritte,  die  ihm  nicht  unbekannt  geblieben 
wären,  ganz  gebilligt,  und  daß  ich  es  zu  vereinigen  ge^ 
wüßt  habe,  meinen  Pflichten  ganz  treu  zu  bleiben  und 
doch  dem  Theater  in  Weimar  nicht  nachteilig  zu  werden. 
<^  Zugleich  bedauerte  er,  daß  es  nicht  möglich  gewefen 
fei,  mich  während  meines  Aufenthaltes  feinen  Egmont 
fehen  zu  laffen.  Ich  hätte  dabei  abnehmen  können,  auf 
welche  finns:  und  effektvolle  Art  Klärchens  Erfcheinung 
am  Schluffe,  die  er  nun  befchrieb,  plaftifch  bewirkt  würde. 
Ich  fragte  ihn  hierauf,  ob  das  Stück  noch  mit  den  Ab? 
änderungen  in  Weimar  gegeben  würde,  wie  fie  mir  von 
Ifflands  Gaftfpiel  her,  der  1796  den  Egmont  als  Gaft 
gab,  erinnerlich  waren.  Goethe  fragte,. worin  fie  beftanden 
hätten.  Ich  erwähnte  nur  die  eine,  daß  nämlich  bei  der 
Unterredung  Egmonts  mit  Ferdinand  im  Kerker,  im  fünften 
Akt,  auch  Alba  im  weiten,  fchwarzen  Gewände  mit  der 
Kapuze  über  den  Kopf  herabgezogen  und  dem  Henker? 
fchwert  an  der  Seite  gegenwärtig  gewefen  fei,  und  daß  dann 
Egmont  bei  einem  Ausbruch  feines  Unmuts  (es  war  bei 
der  Rede:  Und  ich  falle  ein  Opfer  feines  —  Albas  — 
niedrigen  Haffes,  feines  kleinlichen  Neides  ufw.)  noch 
die  Worte  hinzugefügt  habe:  Ja,  ich  darf  es  fagen,  und 
wenn  Herzog  Alba  felbfi  es  hören  follte  —  womit  er 
Alba  die  Kapuze  vom  Geficht  herabriß  und  diefer  in  feines 
Nichts  durchbohrendem  Gefühle  dafiand.    Ja,  erwiderte 


938]  Weimar.     1806.  469 

Goethe,  ich  erinnere  mich,  daß  es  damals  fo  arrangiert  war, 
und  zwar  von  Schiller  felbft.    In  Schillerfche  Stücke  hätt*  es 
auch  wohl  gepaßt,  allein  das  ift  mein  Genre  nicht. 
Dies  ganz  feine  eigenen  Worte. 

[937.]     Dezember  26.     H.  Schmidt. 

Schmidt  erzählte  mittags  bei  Goethe  ein  Gefchichtchen  von 
der  Schaufpielerin  Bethmann  bei  Aufführung  des  Don  Carlos. 
Der  Darfteller  des  letzteren,  Mattaufch,  hatte  beim  Abgang  am 
Schluß  des  achten  Auftritts  im  zweiten  Aufzug  den  Verhängnis* 
vollen  Brief  fallen  laffen  und  die  Bethmann,  Eboli,  war  durch 
die  unter  den  Zufchauern  entftehende  Unruhe  darauf  aufmerk* 
fam  gemacht  worden.     Schmidt  fährt  nun  fort: 

Bis  hierher  hatte  ich,  als  ich  bald  darauf  nach  Weimar 
kam  und  bei  Goethe  fpeifie,  über  Tifche  den  Vorfall  er^ 
zählt  und  bat  ihn  nun  zu  raten,  was  die  Bethmann  wohl 
in  diefem  Augenblicke  getan  haben  möchte;  denn  er  hatte 
uns  vorher  auch  lange  auf  den  Namen  des  damals  noch 
anonymen  Verfaffers  von  dem  Lufifpiel  Das  Rätfei,  Con= 
tejfa,  raten  laffen.  Er  ftand  einige  Augenblicke  an,  und 
Frau  von  Goethe  f^  meinte,  fie  würde  getan  haben,  als 
fehe  Üq  den  Brief  nicht.  Da  wären  denn  freilich  Madame 
wohlfeilen  Preifes  davon  gekommen,  erwiderte  Goethe 
und  forderte  mich  auf  weiter  zu  erzählen;  denn  wer 
kann  erraten,  fügte  er  hinzu,  was  eine  kluge  verftändige 
Schaufpielerin  in  fo  kritifchem,  dringendem  Augenblick 
tut!  —  Die  Bethmann,  in  demfelben  Moment,  als  fie  den 
Brief  erblickte,  bezeigt  die  höchfte,  freudigfte  Überrafchung 
und  ftürzt  mit  der  auffallendften  Haft  auf  den  Brief  hin, 
ergreift  ihn  begierig,  durchfliegt  ihn  mit  vor  Hoffnung 
funkelnden  Augen  —  und  wirft  ihn  endlich  mit  dem  Geft 
getäufchter  Erwartung  wieder  hin,  als  fei  es  ein  falfches 
Papier. 

[938.]     Dezember  26./27.     Riemer. 

Goethe:  Hauy  gehört  zu  den  wiederkäuenden  Tieren, 
wie  die  Newtonianer  find,  bei  denen  der  Schlund  fich  in 
lauter  aufeinanderfolgende  Magen  zufammenfaltet.  Das 
Newtonifche  Heu  fchlucken  fie  hinunter,  aber  fie  können's 
im  Magen  weder  verdauen  noch  fonft  los  werden.  Sie  ru:5 
minieren  es  alfo  durch  alle  Magen  herauf  und  können's 
immer  nicht  digerieren,  da  hingegen  andere  edlere  Tiere 
das  ihrem  Magen  Widerfpenftige  gleich  von  fich  geben.  — 
I 


X 


470  Riemer.  [939 

Den  Hauy  müßte  man  in  ein  Ragout  zerpflücken 
(diszerpieren)  und  ihn  recht  zierUch  auf  einem  filbernen 
Teller  über  einer  Lampe  ä  la  *  *  *  zurechte  machen. 

[939.]     Dezember,  Ende.     Nach  Caroline  Bardua. 

Caroline  war  jedem  dankbar,  der  ihr  fitzen  mochte. 
^  Das  merkwürdigste  war  das  Bild  Goethe's;  er  war  der 
erfie,  der  ihr  faß*  ^^  Goethe  erfcheint  mit  noch  dunkeln 
Haaren,  in  bloßem  Hals,  einen  roten  Mantel  [Toga?]  um 
die  Schultern  geworfen;  im  grünen  Damaft  des  Hintere 
grundes  bildet  fich  wie  zufällig  ein  Lorbeerkranz  um  den 
Kopf.  Man  ficht  wohl,  daß  es  das  Bild  eines  Anfängers 
ifi:  der  Kopf  erfcheint  etwas  koloffal,  aber  majeftätifch 
wie  eines  Imperators.  Oft  hörte  man  Carolinens  Vater 
den  Freunden,  welche  kamen,  das  Bild  zu  fehen,  wieder^ 
holen,  was  Goethe  gefagt  habe:  Mit  diefem  Bilde  fei  er 
für  die  Nachwelt  zufrieden. 

[940.]     Dezember  30.     Riemer. 

Auf  meine  Bemerkung,  daß  die  Deutfchen  den  Franz 
Moor  nicht  los  werden  könnten,  erwiderte  G.,  daß  l&^ 
land  ihn  in  feiner  Jugend  gut  gefpielt  habe,  und  weil 
er  ihn  nicht  losgeben  wolle,  ihn  nun  in  das  Würdige 
ziehe,  einen  Richard  aus  ihm  mache  ufw.  Was  es  denn 
aber  helfe,  eine  grelle  Figur  abzudämpfen,  wenn  die 
übrigen  es  noch  blieben,  ja  nur  ftärker  hervorträten? 
Schillers  Intention,  als  Mann  von  Genie,  fei  vielmehr  ge^ 
wefen  in  diefem  fratzenhaften  Stücke  auch  einen  fratzen? 
haften  Teufel  auftreten  zu  laffen,  der  die  andern  über? 
trumpfe.  —  Aber  nun  befchneiden  fie  ihm  die  Krallen, 
und  da  foll  es  ein  würdiger  Hundsfott  werden,  damit 
ihn  ein  würdiger  Mann  fpielen  könne. 

[94L]     (Ende  d.  J.)     Riemer. 

Goethe:  Der  Charakter,  d.h.  die  Mifchung  der  erften 
menfchlichen  Grundtriebe,  der  Selbfterhaltung,  der  Selbft^ 
fchätzung  ufw.  ifi  das,  wovon  auch  die  Ausbildung  der 
übrigen  Seelenkräfte  ausgeht  und  worauf  fie  ruht. 


*  [Aber  wahrfcheinlich  nicht  zu  dem  nachbefchriebenen 
Bilde;  zum  erften  fcheint  er  1805  gefeffen  zu  haben,  zu  obigem 
faß  er  im  Dezember  1806.1 


944]  Weimar.     1807.  471 

Die  Franzofen  haben  d  i e  f  e  n  Verftand,  weil  fie  d  i  e  f  e  n 
Charakter  haben ;  es  ift  nur  d  i  e  f  e  r  Verftand  und  kein  anderer. 

Aus  ihrem  Charakter  geht  es  hervor,  daß  fie  die 
Welt  bezwingen,  nicht  aus  ihrem  Verftande;  denn  ihr 
Verftand  hat  fchon  die  Farbe  ihres  Charakters  und  redet 
bloß  ihren  urfprünglichen  Tendenzen  und  Neigungen  das 
Wort.  Das  Eigennützige,  das  Habfüchtige,  das  alles  fich 
Aneignende,  Fremdes  Ausfchließende,  diefes  beftimmt  fie 
mehr,  als  was  nicht  fo  ift.  Wenn  nun  eine  ganze  Nation 
fo  ift,  muß  fie  ja  die  Welt  gewinnen. 

[942.]     Riemer. 

G. :  Im  Homer  reflektiert  fich  die  Menfchenwelt 
noch  einmal  im  Olymp  und  fchwebt  wie  eine  Fata  Mors: 
gana  über  der  irdifchen.  Diefe  Spiegelung  tut  in  jedem 
poetifchen  Kunftwerk  wohl,  weil  fie  gleichfam  eine  Totalität 
hervorbringt  und  wirklich  ein  Menfchenbedürfnis  ift.  Das: 
her  auch  in  der  katholifchen  Religion:  Im  Himmel  ift 
ein  Vater,  wie  es  irdifche  gibt,  eine  Mutter  wie  hier, 
einer  der  gelitten  hat,  wie  es  hier  viele  Leidende  gibt. 
So  auch  im  Paganismus:  Der  Baum  foll  mehr  fein,  als 
ein  Baum,  es  ift  eine  Dryas,  die  Quelle  eine  Najade. 
Die  Einfamkeit  des  Mittags  ift  perfonifiziert  in  allen  Wald:^ 
göttern  ufw.  In  den  Nibelungen  ift  ein  eherner  Himmel, 
keine  Spur  von  Göttern,  von  Fatum.  Es  ift  bloß  der 
Menfch  auf  fich  geftellt  und  feine  Leidenfchaften.  —  Schon 
dies  ift  Goethen  ein  Hauptbeweis,  daß  es  eine  nordifche 
und  heidnifche  Fabel  ift. 

[943.]     Riemer. 

Der  Sultan  wider  Willen.  Goethe  hatte  fich  immer 
und  zumeift  im  Jahre  1806  mit  diefer  Gefchichte  getragen, 
für  die  er  eine  befondere  Liebe  zu  haben  fchien.  Vier 
Damen  von  ganz  verfchiedenen  Charakteren  intereffieren 
fich  alle  für  einen  Mann.  Jede  ift  auf  eine  eigene  Art 
liebenswürdig,  jede  findet  er,  wenn  er  fich  ihr  nähert, 
feinem  Zuftande  angemeffen,  allein  liebenswürdig,  und 
unbegreiflich,  wie  er  eine  andere  lieben  kann  ufw. 

1807. 

[944.]     Januar  2.     H.  Schmidt. 

Beim  Abfchied  von  Weimar  drang  ich  mit  der  wieders; 
holten  Bitte  in  Goethe  (es  war  fchon  früher  mehrmals 
I 


472 H.  Schmidt. [945 

davon  gefprochen  worden),  in  diefem  Sommer  nach  Wien 
zu  kommen.  ^^  Er  fagte  die  Erfüllung  der  Bitte  halb  zu, 
fowie  er  auch  verfprach ,  einige  feiner  Stücke  für  Wien 
bearbeitet  zu  fchicken. 

[945.]     Anfang  d.  J.     Riemer. 

Goethe:  Weiber  verftehen  alles  ä  la  lettre  oder  au 
pied  de  la  lettre,  verlangen  aber,  daß  man  fie  nicht  fo 
verftehen  foll. 

[946.]     Anfang  d.  J.     Riemer. 

G. ;  Ein  Gott  kann  nur  wieder  durch  einen  Gott 
balanciert  werden.  Die  Kraft  foll  fich  felber  einfchränken, 
ift  abfurd.  Sie  wird  nur  wieder  durch  eine  andere  Kraft 
eingefchränkt.  Diefes  fpezifizierte  Wefen  kann  (ich  nicht 
felbft  einfchränken,  fondern  das  Ganze,  welches  fich 
fpezifiziert,  fchränkt  fich  eben  dadurch  felbft  ein,  aber 
nicht  das  einzelne  fich. 

[947.]     Anfang  d.  J.     Riemer. 

G. ;  Nur  nichts  als  Profeffion  getrieben  1  Das  ift  mir 
zuwider.  Ich  will  alles,  was  ich  kann,  fpielend  treiben, 
was  mir  eben  kommt  und  fo  lange  die  Luft  daran  währt. 
So  hab'  ich  in  meiner  Jugend  gefpielt  unbewußt;  fo  will 
ich's  bewußt  fortfetzen  durch  mein  übriges  Leben.  Nütz^ 
lieh  —  Nutzen,  das  ift  eure  Sache.  Ihr  mögt  mich  be^ 
nutzen;  aber  ich  kann  mich  nicht  auf  den  Kauf  oder 
Nachfrage  einrichten.  Was  ich  kann  und  verftehe,  das 
werdet  ihr  benutzen,  fobald  ihr  wollt  und  das  Bedürfnis 
danach  habt.  Zu  einem  Inftrument  gebe  ich  mich  nicht 
her;  und  jede  Profeffion  ift  ein  Inftrument  oder,  wollt  ihr 
es  vornehmer  ausgedrückt,  ein  Organ. 

[948.]     Januar  4.     Johanna  Schopenhauer  an  ihren  Sohn. 

Am  Abend  f^  fing  Goethe  an  von  feinem  heran^ 
nahenden  Alter  zu  fprechen  mit  einer  Weichheit  des 
Tones,  mit  einem  fo  edlen  Selbftbewußtfein,  daß  es  uns 
alle  tief  rührte.  Dabei  hielt  er  mich  feft  bei  der  Hand; 
er  tut  das  oft  und  erinnert  mich  dabei  lebhaft  an  Deinen 
Vater,  der  mich  dann  auch  fo  fefthalten  konnte. 


952]  Weimar.     1807.  473 

[949.]     Januar  13.     Riemer. 

Abends  bei  Goethe  Newtons  zweites  Buch  der  Optik 
befprochen.  Wie  es  fich  damit  verhalte,  daß  der  Spek^ 
tator  die  Farben  umgekehrt  fehe  im  Prisma  gegen  die, 
welche  das  Prisma  an  die  Wand  werfe.  Verfuch  mit  dem 
Kerzenlichte.  Es  ift  gar  nicht  dasfelbe,  was  er  im  Prisma 
und  an  der  Wand  fleht.  Jenes  ift  das  ganze  Bild  des 
Lichts  vom  Auge  rückwärts  gefärbt,  das  an  der  Wand 
find  die  Ränder  des  Prismas. 

[950.]     Januar  14.     Riemer. 

Goethe:  Die  mathematifchen  Formeln  außer  ihrer 
Sphäre,  d.  h.  dem  RäumUchen,  angewendet,  find  völlig  ftarr 
und  leblos,  und  ein  folches  Verfahren  höchft  ungefchickt. 
Gleichwohl  herrfcht  in  der  Welt  der  von  den  Mathe:; 
matikern  unterhaltene  Wahn,  daß  in  der  Mathematik  allein 
das  Heil  zu  finden  fei,  da  fie  doch,  wie  jedes  Organ, 
unzulänglich  gegen  das  All  ift.  Denn  jedes  Organ  ift 
fpezififch  und  für  das  Spezififche. 

[951.]     Januar  18.     Johanna  Schopenhauer  an  ihren  Sohn. 

Am  Dienstag  gab  ich  einmal  eine  Extragefellfchaft. 
'^  Die  Goethen  kam  allein  und  fagte  mir,  er  wäre  nicht 
wohl,  würde  aber,  wenn  es  ihm  möglich  wäre,  eine  halbe 
Stunde  kommen,  doch  fei  dies  nicht  gewiß.  Miteins  fah 
ich  ihn  aber  im  Nebenzimmer  zwifchen  der  Bardua  und 
der  Conta  ganz  gemütlich  fitzen.  Ich  lief  gleich  voller 
Freude  zu  ihm,  die  Mädchen  machten  mir  Platz  und  ich 
habe  faft  eine  Stunde  mit  ihm  geplaudert.  Er  erzählte 
mir  viel  von  Huber,  deffen  Leben  jetzt  herausgekommen 
ift.  Er  war  ungemein  fanft  und  liebenswürdig  geftimmt. 
Du  meinft,  es  fei  unmöglich,  vis^ä^vis  ihm  nicht  ein  wenig 
fcheinen  zu  wollen.  Säheft  Du  ihn  nur.  Du  würdeft 
fühlen,  wie  unmöglich  es  ift,  ihm  gegenüber  fich  anders 
als  natürlich  zu  zeigen.  Er  ift  ganz  Natur  und  feine 
klaren  hellen  Augen  benehmen  alle  Luft  fich  zu  ver^s 
ftellen;  man  fühlt,  daß  er  doch  durch  alle  Schleier  fieht, 
und  daß  diefem  hohen  reinen  Wefen  jede  Verftellung 
verhaßt  fein  muß. 

[952.]     Januar  19.     Riemer. 

Abends  Der  Amerikaner,  Luflfpiel  von  Vogel,  Goethe 
bemerkte,  daß  er  fich  zu  einer  vortrefflichen  Oper  machen 
ließe. 
I 


474  Johanna  Schopenhauer.  [953 

[953.]     Januar  (Ende).     Johanna  Schopenhauer. 

Ich  habe  Goethe  auch  die  Nachtlampe,  um  nach  der 
Uhr  zu  fehen,  gegeben,  weil  er  letzt  darüber  klagte,  daß 
er  oft  aufwache  und  dann  nicht  wiffen  könne,  wie  viel 
es  an  der  Zeit  wäre.  Dafür  hat  er  mir  den  Kaften  mit 
transparenten  Mondfcheinen  gegeben,  und  er  wird  mir 
zu  dem  Kafien  immer  mehr  neue  Mondfcheine  erfinden. 
~  Der  Ofenfchirm  ift  fertig  und  die  Bewunderung  aller 
Welt.  ^>  Goethe  hat  letzt  mit  dem  Lichte  in  der  Hand 
wohl  eine  halbe  Stunde  davor  gefeffen  und  ihn  befehen, 
und  wer  ihm  näher  kam,  der  mußte  mit  bewundern  und 
befehen. 

[954.J     Januar  (Ende).     Riemer  an  K.  F.  E.  Frommann. 

Goethe  ift  zeither  nicht  ganz  wohl.  Er  will  zwar 
nicht,  daß  man  es  laut  werden  laffe  ^  allein  er  kann  es 
doch  nicht  verbergen.  ~  Das  alles  unter  uns;  denn  er 
hat's  nicht  gern,  wenn  ihm  aus  der  Nähe  und  Ferne  die 
Wirkungen  feines  Zufiandes  zurückfirahlen. 

[955,]  Januar  (Ende).  Johanna  Schopenhauer  an  J.H.W.Tifchbein. 

Sie  wünfchen  einen  Kommentator  zu  Ihren  Zeich? 
nungen  zu  haben,  wozu  foll  Ihnen  noch  ein  Kommen?: 
tar;  geben  Sie  es  der  Welt  wie  es  ift;  wer  Sinn  dafür 
hat,  dem  fpricht  Ihr  Pinfel  deutlicher,  als  die  beredtefie 
Feder,  wer  ihn  von  der  Natur  nicht  erhielt,  der  faßt  fie 
nicht,  und  wenn  Engelszungen  es  ihm  erklärten.  Ihr 
Werk  ift  ein  vollendetes  Ganze,  mehr  hinzutun  wäre  zu 
viel  und  würde  der  fchönen  Einheit  fchaden.  Diefe 
Meinung  habe  ich  Goethen  abgefragt. 

[956.]     Februar  3.     Riemer. 

Goethe:  Die  Reflexion  führt  darum  fo  leicht  aufs 
Unrichtige,  aufs  Falfche,  weil  fie  eine  einzelne  Erfcheinung, 
eine  Einzelheit,  ein  Jedesmaliges  zur  Idee  erheben  möchte, 
aus  der  fie  alles  ableite;  mit  einem  Worte,  weil  es  eine 
partielle  Hypothefe  ift.  Z.  E.  wenn  man  fagt:  Jeder 
handle  aus  Eigennutz.  —  Die  Liebe  fei  nur  Selbftfucht. 
—  Als  wenn  die  Natur  nicht  fo  eingerichtet  wäre,  daß 
die  Zwecke  des  einzelnen  dem  Ganzen  nicht  widerfprechen, 
ja  fogar  zu  feiner  Erhaltung  dienen;  als  wenn  ohne  Motive 
etwas  gefchehen  könnte,  und  als  wenn  diefe  Motive  außer? 


961] Weimar.    1807. 475 

halb  des  handelnden  Wefens  liegen  könnten  und  nicht 
vielmehr  im  Innerften  desfelben;  ja,  als  wenn  ich  die 
Wohlfahrt  des  andern  befördern  könnte,  ohne  daß  fie 
auf  mich  inundierte,  keineswegs  mit  meinem  Verluft,  mit 
meiner  Aufopferung,  welche  nicht  immer  dazu  erfordert 
wird,  und  welches  nur  in  gewiffen  Fällen  gefchehen  kann. 
Wäre  es  wahr,  daß  jeder  nur  aus  und  zu  feinem 
Vorteil  handle,  fo  würde  einmal  folgen,  daß,  wenn  ich 
zu  meinem  Abbruch,  Nachteil,  Detriment  handelte,  ich 
erft  die  Wohlfahrt  des  andern  beförderte,  welches  abfurd 
ift.  Ferner,  daß,  wenn  ich  dem  andern  Schaden  täte, 
wenn  ich  in  Zorn  gegen  ihn  aufwallte  und  ihn  fchlüge 
oder  dgl.,  daß  ich  alsdann  zu  meinem  Vorteil,  für  mein 
Intereffe  handelte,  welches  ebenfo  abfurd  ift.  Man  unter? 
fcheidet  hier  nicht  die  Aufwallung,  die  Regung  der  Natur, 
die  in  jedem  einzelnen  den  Mittelpunkt  vom  Ganzen  aufs: 
fchlagen  will. 

[957.]     Februar  3.     Riemer. 

Goethe :  Außerordentliche  Menfchen,  wie  Napoleon, 
treten  aus  der  Moralität  heraus.  Sie  wirken  zuletzt  wie 
phyfifche  Urfachen,  wie  Feuer  und  Waffer. 

[958.] 

G. :  Ja  fchon  jeder,  der  aus  der  Subordination  heraus? 
tritt  —  denn  die  ift  das  Moralifche  —  ift  infofern  un? 
moralifch. 

[959.] 

G. ;  Wer  von  feinem  Verftande  zum  Schaden  an? 
derer  Gebrauch  macht,  oder  diefe  auch  nur  dadurch  ein? 
fchränkt,  ift  infofern  unmoralifch. 

[960.] 

G. ;  Jede  Tugend  übt  Gewalt  aus,  wie  auch  jede 
Idee,  die  in  die  Welt  tritt,  anfangs  tyrannifch  wirkt. 

[961  ]     Februar  3.    Johanna  Schopenhauer. 

Bei  Goethen  war's  den  Abend  -^  ganz  allerliebft, 
er  hatte  einige  junge  Schaufpieler,  die  er  oft  bei  fich  de? 
klamieren  läßt,  um  fie  für  ihre  Kunft  zu  bilden,  einge? 
laden,   und  las  mir  mit  ihnen  eine   feiner  früheften  Ar? 

I 


476  Johanna  Schopenhauer.  [962 

beiten,  ein  Stück  voll  Laune  und  Humor,  Die  Mit;; 
fchuldigen  betitelt,  vor.  Er  hatte  felbft  die  Rolle  eines 
alten  Gaftwirts  darin  übernommen,  was  bloß  mir  zu  Ehren 
gefchah,  fonft  tut  er  das  nicht.  Ich  habe  nie  was  ähn^ 
liches  gehört,  er  ift  ganz  Feuer  und  Leben,  wenn  er  de:^ 
klamiert,  niemand  hat  das  Komifche  mehr  in  feiner  Ge? 
walt,  als  er.  Zwifchendurch  meifterte  er  die  jungen  Leute, 
ein  paar  waren  ihm  zu  kalt:  Seid  ihr  denn  gar  nicht 
verliebt?  rief  er  komifch  erzürnt,  und  doch  war's  ihm 
halber  Ernfi.  Seid  ihr  denn  gar  nicht  verliebt?  Ver^ 
dammtes  junges  Volk!  Ich  bin  fechzig  Jahre  alt  und  ich 
kann's  befferl 

[962.]     Februar  5.     Johanna  Schopenhauer  an  ihren  Sohn. 

Am  Donnerstag  ^^  befiand  mein  Zirkel  fafi  nur  aus 
Herren,  aber  es  waren  gerade  die  intereffanteften ;  Frau 
von  Goethe  war  die  einzige  Dame.  Weil  wir  eben  in 
folchem  kleinen  vertraulichen  Zirkel  find,  fing  er  an,  fo 
will  ich  denn  eine  Naturnotwendigkeit  mitteilen;  es  ift 
billig,  daß  man  unter  Freunden  fich  dergleichen  wechfel? 
feitig  mitteilt.  Und  damit  fing  er  aus  einem  Briefe  eine 
Gefchichte  von  einer  Mamfell,  die  in  die  Wochen  ge^ 
kommen  war,  zu  lefen  an.  Darüber  kam  die  Bardua. 
Gerechter  Himmel,  da  kommt  die  Bardua I  rief  er  aus; 
nun  darf  ich  nicht  weiter  lefen.  Es  tut  nichts,  fagte  ich; 
die  Bardua  muß  draußen  bleiben.  Das  war  Waffer  auf 
feine  Mühle.  Der  Bardua  kündigte  er  gleich  gravitätifch 
an,  fie  muffe  draußen  bleiben.  Den  Bertuch,  den  Sohn, 
der  gewaltig  lang  ift,  fiellte  er  an  die  zugemachte  Tür, 
welche  die  Bardua  von  außen  gewaltig  berannte.  Halten 
Sie  Ihren  Poften  wohl,  Bertuch!  Denken  Sie,  Sie  find 
in  Breslau.  Es  foll  Ihr  Schade  nicht  fein;  ich  will  fchon 
fo  lefen,  daß  Sie  dort  fo  gut  hören  follen,  wie  hier.  Die 
Bardua  machte  einen  erbärmlichen  Spektakel;  er  ließ  fich 
nicht  fiören  und  verwies  fie  nur  von  Zeit  zu  Zeit  mit 
ein  paar  Worten  zur  Ruhe  und  Geduld.  Zuletzt  fpielte 
fie  aus  Leibeskräften  auf  dem  Klaviere.  Eine  Kriegslift  1 
fagte  er;  hilft  nichts!  wir  lefen  lauter.  Und  fo  erhob 
er  die  Stimme  oder  ließ  fie  finken,  nachdem  fie  akkom^ 
pagnierte,  wie  in  einem  Melodram  bis  ans  Ende,  wo  fie 
dann  feierlich  hereingeholt  ward.  Alles  dies  ift  nichts, 
aber  man  muß  es  fehen.  Diefes  kleine  Intermezzo  ftimmte 
uns  alle  luftiger;  es  wurde  viel  den  Abend  gelacht.  Zu? 


965]  Weimar.     1807.  477 

letzt  aber  kam  das  Gefpräch  auf  die  alemannifchen  Ge^ 
dichte  von  Hebel.  Meyer,  als  Schweizer,  und  Legations:: 
rat  Weyland,  als  Elfaffer,  find  der  Sprache  mächtig  und 
lefen  manches  daraus  fehr  hübfch  vor.  Goethe  ift  die 
Sprache  fremd,  er  las  aber  doch  fein  Lieblingsftück,  Das 
Gefpenft  an  der  Kanderer  Straße,  und  er  las  es,  wie  nur 
er  lefen  kann. 

[963.]     Februar  10.     Charlotte  v.  Stein. 

Wir  kommen  oft  in  Streit,  das  letztemal  war's  über 
Meyer.  Ich  tadelte,  er  machte  Goethe  nach.  Den  Teufel 
noch  einmal,  Dame!  fagte  er.  Ich  will  doch  fehen,  wer 
immer  mit  mir  lebt  und  mir  nicht  ähnlich  werden  foll. 
Ich  erwiderte,  es  wäre  aber  nur  in  feiner  Ruchlofigkeit. 
Wie  es  Nacht  war,  ging  er,  um  fich  von  Meyer  die  Weihe 
der  Kraft  von  Zacharias   Werner  vorlefen  zu  laffen. 

[964  ]     Februar  7.     K.  L.  Fernow  an  G.  v.  Kügelgen. 

Seit  vierzehn  Tagen  bin  ich  nun  im  Befitze  der 
mir  überfandten  vier  Porträts.*  ^  Goethe  ift  ganz  vor^ 
züglich  befriedigt  und  zufrieden,  fowohl  über  die  tech^^ 
nifche  Vollendung,  welche  den  viel  geübten  Künftler 
zeigt,  als  auch  über  das  Charakteriftifche,  was  in  jedem 
Bilde  fo  glücklich  aufgefaßt  und  als  Einheit  durchs  Ganze 
gehend  ausgedrückt  ifi:.  Vorzüglich  gefällt  ihm  die  In;; 
dividualität  des  Kolorits  in  jedem  Kopfe,  fowie  die  Be:= 
fiimmtheit  der  Formen,  die  Du  befonders  in  meinem  Kopfe 
beobachtet  haft,  ^^ 

Bei  Goethe  haft  Du  mit  Deiner  Kunfi:  einen  großen 
Stein  im  Brette  gewonnen.  Er  fucht  und  fchätzt  nur  das 
Solide  und  läßt  fich  nicht  von  leerem  Scheine  blenden. 
Er  meint,  daß  man  jetziger  Zeit  wohl  keinen  Porträt? 
maier  finden  möchte ,  der  imftande  wäre ,  beffere 
Porträts  wie  diefe  zu  liefern,  und  wünfcht  auch  einmal 
etwas  von  Deinen  größeren  Arbeiten  und  Erfindungen 
zu  fehen. 

[965.]     Februar  11.     Riemer. 

Die  Wahlfprüche,  bemerkte  Goethe,  deuteten  auf  das, 
was  man  nicht  hat,  fondern  wonach  man  ftrebt.  Nee 
temere  nee  timide. 


*  Fernow,  Oehlenfchläger,  Müller  und  Saume  von  Kügelgen. 


478  Riemer.  [966 

Richter  in  Göttingen  hatte  ebenfowenig  auream  medio? 
critatem  als  Wieland,  der  fein  ganzes  Leben  in  Extremis 
zubrachte. 

[966.]     Februar  22.     Riemer. 

Es  ift  ganz  einerlei,  auf  welcher  Seite  Ihr  zugrunde 
geht,  auf  der  aktiven  oder  paffiven,  erwiderte  Goethe 
fcherzhaft  auf  die  Bemerkung,  daß  ein  kleiner,  zeither 
wilder  vorwitziger  Knabe  auf  einmal  wie  geknickt  und 
umgekehrt  erfcheine,  ohne  krank  zu  fein,  fo  daß  man 
ihn  nicht  wiedererkenne. 

[967.]     Februar  14./26.     K.  L.  Fernow  an  G.  v.  Kügelgen. 

Ich  fchrieb  Dir  neuhch;  dies  Urteil,  nach  welchem 
Du  mir  zu  viel  Bewegung  gegeben,  war  nur  das  einiger 
Menfchen,  die  mich  vielleicht  nicht  anders,  als  in  einer 
gewöhnlichen  und  gleichgültigen  Stimmung  aufgefaßt  haben. 
Halte  Dich  an  Goethens  Urteil,  welcher,  fehr  zufrieden 
damit,  zu  einem  jener  Wenigen,  der  in  der  Gefellfchaft, 
wo  auch  ich  mich  befand,  diefe  Einwendung  machte,  fagte : 
Ift  denn  Fernow  nicht  lebhaft?  Laffen  Sie  fich  nur  mit 
ihm  ein,  und  Sie  werden  ihn  finden,  wie  ihn  fich  Kügelgen 
gedacht  hat.  Wenn  man  vier  folche  Bilder  von  einem 
Maler  fieht,  fo  kann  man  überzeugt  fein,  er  hat  über 
jeden  Charakter  reflektiert,  er  hat  ihn  nach  feiner  Anficht 
genommen,  und  damit  muß  man  zufrieden  fein,  und  ihm 
die  Ehre  geben,  daß  er  recht  getan  hat,  was  er  tun  follte. 
Wenn  Kügelgen  Fernows  Porträt  noch  viermal  malte,  fo 
würde  er  ihn  vielleicht  viermal  anders  nehmen  und  alle 
vier  Variationen  könnten  vortrefflich  fein. 

[968.]     März  1.     Riemer. 

Kotzebue  fei  wie  ein  Pagliaffo:  Wenn  er  die  Leute 
auf  dem  Drahte  tanzen  fieht,  fo  fagt  er:  Was  ift  denn 
das  weiter?  Das  kann  ich  auch  (nämlich  auf  dem  Erds: 
boden).  Was  foll  denn  das  dort  heißen?  Warum  nicht 
hier?  Das  kann  ich  und  noch  dazu  *  *  *  Das  macht 
mir  einmal  nach  auf  eurem  Drahte  1 

[969.]     März  5./8.     Johanna  Schopenhauer. 

Goethe  fagt,  ich  mache  die  ausgefchnittenen  Blumen 
ebenfo  gut  wie  Runge;   das  ift  aber  nicht  wahr.     Dann 


972] Weimar.     1807.     479 

ift  fein  Geficht  in  Kreide  gezeichnet.  Goethe  fagte,  er 
habe  nie  ein  Geficht  wie  feines  gefehen.  ^  Hernach 
führte  er  mich  im  Parke  fpazieren.  ^ 

Seit  ein  paar  Abenden  Ueft  Goethe  felbft  bei  mir 
vor  und  ihn  dabei  zu  hören  und  zu  fehen  ift  prächtig. 
Schlegel  hat  ihm  ein  überfetztes  Schaufpiel  von  Calderon, 
Der  flandhafte  Prinz,  im  Manufkripte  gefchickt;  es  ift 
Klingklang  und  Farbenfpiel,  aber  er  lieft  auch  den  Abend 
keine  drei  Seiten:  fein  eigner  poetifcher  Geift  wird  gleich 
rege.  Dann  unterbricht  er  fich  bei  jeder  Zeile,  und  taufend 
herrliche  Ideen  entftehen  und  ftrömen  in  üppiger  Fülle, 
daß  man  alles  vergißt  und  den  einzigen  anhört. 

[970.]     März  19.     Riemer. 

Goethe:  Man  wird  fich  deffen,  was  man  hat  oder 
nicht  hat,  ift  oder  nicht  ift,  erft  am  Gegenteile  von  diefem 
bewußt  oder  inne. 

Darum  werden  fo  viele  Menfchen  durch  die  Er^ 
fcheinung  eines  neuen,  fremden  Menfchen  in  der  Gefeilt: 
fchaft  beunruhigt.  Er  entdeckt  ihnen,  was  fie  nicht  haben, 
und  dann  haffen  fie  ihn,  oder  er  entdeckt  ihnen  durch 
fein  Gegenteil,  was  fie  haben,  und  fo  verachten  fie  ihn 
wieder.  Ift  er  befonders  höflich  und  galant,  fo  ift  er  den 
Groben  zuwider;  ift  er  grob,  fo  ift  er  den  Höflichen 
und  im  Grunde  allen  zuwider;  und  fo  durch  alles  durch. 

[971.]     März  19.     Riemer. 

Goethe:  Die  Natur  kann  zu  allem,  was  fie  machen  will, 
nur  in  einer  Folge  gelangen.  Sie  macht  keine  Sprünge.  Sie 
könnte  z.  E.  kein  Pferd  machen,  wenn  nicht  alle  übrigen 
Tiere  voraufgingen,  auf  denen  fie  wie  auf  einer  Leiter 
bis  zur  Struktur  des  Pferdes  heranfteigt.  So  ift  immer 
Eines  um  Alles,  Alles  um  Eines  willen  da,  weil  ja  eben 
das  Eine  auch  das  Alles  ift.  Die  Natur,  fo  mannigfaltig 
fie  erfcheint,  ift  doch  immer  ein  Eines,  eine  Einheit,  und 
fo  muß,  wenn  fie  fich  teilweife  manifeftiert,  alles  Übrige 
diefem  zur  Grundlage  dienen,  diefes  in  dem  Übrigen 
Zufammenhang  haben. 

[972.]     März  20.     Riemer. 

Franzofen  find  Pedanten,  —  bemerkte  Goethe,   das 
heißt,  fie  können  aus  der  Form  nicht  heraus. 
I 


480 Riemer. [973 

[973.]     März  22.     Riemer. 

Morgens  bei  Goethe.  Intereffante  Materien  im  Ge? 
fpräch.  Fürftin  Gallitzin  ging  noch  in  der  Blüte  ihrer 
Jahre  vom  Hofe  ab,  aus  ReHgiofität.  Sie  fagte  zu  Goethe, 
als  fie  ihm  was  Großes  anvertraute  (es  waren  die  ge^: 
fchnittenen  Steine) :  Wenn  Ihr  mich  betrügt,  fo  fchadet's 
auch  nichts,  fo  bin  ich  um  eine  Erfahrung  reicher.  — 
Es  hat  wohl  jeder  im  Leben  Momente,  Vorfälle  gehabt, 
über  die  er  nicht  hätte  hinauskommen  follen  (und  doch 
ift  er's,  wie  Goethe  über  den  Werther). 

[974.]     März  12./22.     Johanna  Schopenhauer  an  ihren  Sohn. 

Er  hat  jeden  Abend  feinen  Standhaften  Prinzen  ftand? 
haft  gelefen  bis  geftern,  wo  er  ihn  zu  Ende  brachte.  Es 
ift  ein  wunderfames  Wefen  darum,  und  es  find  wahrlich 
Dinge  darin,  die  gerade  ins  Herz  dringen,  und  wo  es 
mir  anfängt  möglich  zu  erfcheinen,  daß  man  Calderon 
neben  Shakefpeare  nennt.  Aber  wie  viel  Wuft,  Haupt:; 
und  Staatsaktionen  find  mit  hineingewebt,  und  dann  das 
ganze  füdfiche  Wefen,  das  Farbenfpiel,  das  Spiel  mit 
Bildern  und  Tönen,  die  unfere  nördliche  Naturen  gar 
nicht  anfprechen.  Indeffen  ift  es  doch  ein  hoher  Genuß, 
von  Goethe  dies  lefen  zu  hören;  mit  feiner  unbefchreib^ 
liehen  Kraft,  feinem  Feuer,  feiner  plaftifchen  Kunft  reißt 
er  uns  alle  mit,  obgleich  er  eigentlich  nicht  kunftmäßig 
gut  lieft.  Er  ift  viel  zu  lebhaft,  er  deklamiert,  und  wenn 
etwa  ein  Streit  oder  gar  eine  Bataille  vorkommt,  macht 
er  einen  Lärm  wie  in  Drurylane,  wenn  es  dort  eine  Schlacht 
gab.  Auch  fpielt  er  jede  Rolle,  die  er  Heft,  wenn  fie 
ihm  eben  gefällt,  fo  gut  es  fich  im  Sitzen  tun  läßt.  Jede 
fchöne  Stelle  macht  auf  fein  Gemüt  den  lebhafteften  Ein^: 
druck:  er  erklärt  fie,  lieft  fie  zwei?,  dreimal,  fagt  taufend 
Dinge  dabei,  die  noch  fchöner  find  —  kurz,  es  ift  ein 
eigenes  Wefen,  und  wehe  dem,  der  es  ihm  nachtun  wollte. 
Aber  es  ift  unmöglich,  ihm  nicht  mit  innigem  Anteile, 
mit  Bewunderung  zuzuhören,  noch  mehr,  ihm  zuzufehen; 
denn  wie  fchön  alles  diefem  feinem  Gefichte,  feinem 
ganzen  Wefen  läßt,  mit  wie  einer  eigenen  hohen  Grazie 
er  alles  dies  treibt,  davon  kann  niemand  einen  Begriff 
fich  machen.  Er  hat  etwas  fo  rein  Einfaches,  fo  Kind:; 
liches.  Alles,  was  ihm  gefällt,  fieht  er  leibhaftig  vor  fich; 
bei  jeder  Szene  denkt  er  fich  gleich  die  Dekoration  und 
wie  das  Ganze  ausfehen  muß. 


975]  Weimar.     1807.  481 

Zwifchendurch  fingt  die  Bardua  uns  ein  Lied  von 
Goethe,  von  Zelter  oder  Himmel  komponiert.  Er  hat 
das  gern  und  extert  die  gute  Bardua  nicht  wenig,  wenn 
fie  undeutlich  ausfpricht  oder  gar  die  Verfe  verwechlelt. 
Letzt  habe  ich  entdeckt,  daß  fein  Lied:  Ich  hab'  mein' 
Sach'  auf  nichts  geftellt,  recht  gut  zur  Melodie,  Es  gingen 
drei  Burfche  zum  Tore  hinaus,  fich  paßt.  Darüber  hatte 
er  große  Freude,  und  nun  muß  die  Bardua  es  jeden 
Abend  fingen. 

[975.]     Oktober  1806/März  1807.     G.  v.  Reinbeck. 

In  der  Gesellfchaft  im  Haufe  der  Frau  Hofrätin 
Schopenhauer  '^  hatten  wir  das  Vergnügen,  Bertuch, 
Vater  und  Sohn,  Riemer,  Falk,  Fernow,  Stephan  Schütze 
u.  m.  und  einige  Damen  zu  finden.  Zum  erften  Male 
erfchien  die  Frau  Geheimrätin  von  Goethe  darin:  eine 
Frau  von  noch  vielem  materiellen  Reiz,  an  welcher  man 
Gutmütigkeit  und  einen  ftets  gleich  heitern  Sinn  rühmte, 
wie  dies  mit  Temperamenten  der  Art  gewöhnlich  yqt^ 
bunden  ift.  Später  kam  der  Geheimrat.  Er  trat  mit  einem 
freundlich  gezogenen  Hml  Hml  nach  allen  Seiten  grüßend 
ein  und  fah  fich  gleich  nach  einem  Stuhle  um.  Jetzt  be^s 
fchaute  er  fich  den  Kreis  und  als  fein  Auge  auf  mich 
fiel,  fi:and  er  auf  und  kam  auf  mich  zu.  Natürlich  er^: 
hob  ich  mich  fogleich.  Er  bückte  fich  feierlich  und  fagte: 
er  habe  mir  feinen  Dank  abzufiiatten.  Ich  fragte,  wo;: 
durch  ich  fo  glücklich  gewefen  fei,  mir  diefen  zu  er^s 
werben?  Ich  hatte  immer  den  Vorfatz,  Rußland  einmal 
zu  befuchen,  antwortete  er,  Sie  haben  mich  aber  voll^ 
kommen  davon  geheilt.  Das  würde  ich  fehr  bedauern, 
erwiderte  ich,  zunächft  für  Rußland  '^  dann  aber  auch, 
erlauben  Ihre  Exzellenz,  daß  ich  es  fage,  um  Ihrer  felbft 
willen,  f^  Es  war  von  feiner  Seite  eine  fcherzhafte  Wen:s 
düng,  mir  anzudeuten,  daß  er  meine  damals  erfchienenen 
Flüchtige  Bemerkungen  auf  einer  Reife  über  Moskau  ufw. 
gelefen  habe,  die  einiges  Auffehen  machten  durch  die 
von  den  gewohnten  Lobpreifungen  eines  Storch  hier  und 
da  abweichenden  Anfichten  und  Schilderungen  nach  einem 
14  jährigen  Aufenthalt  in  Petersburg.  Ich  ftellte  ihm  nun 
meine  Frau  vor,  mit  welcher  er  fich  fehr  freundlich  unteres 
hielt.  ^  Goethe  war  in  der  heften  Laune  von  der  Welt. 
Er  fprach  viel  mit  mir  über  Rußland,  fragte  nach  mehreren 
Bekannten  dafelbft,  wir  kamen  auf  das  wieder  eröffnete 
I  '  31 


482  G.  V.  Reinbeck.  [976 

Theater,  die  Konverfation  wurde  allgemein  und  war  unges; 
niert,  und  ich  dankte  meinem  lieben  Fernow  für  diefe  reiche 
Quelle  des  Genuffes,  die  er  mir  in  Weimar  eröffnet  hatte 
und  die  ich  von  diefem  Abend  an  nie  unbenutzt  ließ. 
Ich  machte  hier  die  intereffanteften  Bekanntfchaften.  Goethe 
fehlte  feiten  dabei.  ^  Da  fand  fich  immer  etwas  Neues 
zu  berichten  oder  vorzuzeigen,  wozu  dann  auch  Goethe 
und  Meyer  hilfreich  waren.  «^  Oft  wurde  auch  vorge^ 
lefen,  befonders  Calderon  in  der  Überfetzung  von  Schlegel. 
Die  Rollen  wurden  verteilt  und  an  den  Chören  mußten 
auch  die  Frauen  teilnehmen.  Goethe  wies  fie  an,  wie 
fie  fprechen  foUten,  wobei  es  denn  oft  beluftigenden 
Widerfpruch  gab.  Im  Tragifchen  gefiel  mir  Goethes  Vor? 
trag  nicht,  ich  fand  zuweilen  falfches  Pathos  darin,  aber 
im  Komifchen  war  er  ganz  unvergleichlich.  Oft  betraf 
auch  die  Unterredung  die  Sprache,  und  ich  erinnere  mich 
noch  des  Aufwandes  von  Scharffinn,  für  aufgegebene 
Fremdwörter  echt  deutfche  zu  fuchen.  So  fchuf  Goethe 
für  balancieren:  in  der  Schwebe,  und  ich  glaube,  der 
Ausdruck,  der  in  den  meiften  Fällen  «^  fo  treffend  ift, 
trat  an  diefem  Abend  zuerft  hervor.  Der  unlängft  er? 
lebten  Kataftrophe  wurde  faft  gar  nicht  gedacht,  und  ich 
erinnere  mich  nicht,  daß  Goethe  jemals  über  Politik  ge? 
fprochen  hätte. 

[976.1     März  24.     Riemer. 

Goethe:  Die  Formel  der  Steigerung  läßt  fich  auch 
im  Äfihetifchen  und  Moralifchen  verwenden. 

Die  Liebe,  wie  fie  modern  erfcheint,  ift  ein  Gefteigertes. 
Es  ift  nicht  mehr  das  erfte  einfache  Naturbedürfnis  und 
Naturäußerung,  fondern  ein  in  fich  kohobiertes,  gleich? 
fam  verdichtetes  und  fo  gefteigertes  Wefen. 

Es  ift  einfältig  diefe  Art  zu  verwerfen,  weil  fie  auch 
noch  einfach  exiftiert  und  exiftieren  kann. 

Wenn  man  in  Küche  und  Keller  ein  Gefteigertes 
fucht  und  darauf  ausgeht,  warum  foll  man  nicht  auch 
diefen  Genuß  für  die  Darftellung  oder  für  das  unmittel? 
bare  Empfinden  fteigern  dürfen  und  können? 

Jeder  Koch  macht  auf  diefe  Weife  feine  Brühen  und 
Saucen  appetitlicher,  daß  er  fie  in  fich  kohobiert. 

[977.]     März  (28).     Riemer. 

Goethe:  In  dem,  was  der  Menfch  techniziert,  nicht 
bloß  in  den  mechanifchen,  auch  in  den  plaftifchen  Kunft? 


979] Weimar.     1807. 483 

Produktionen  ift  die  Form  nicht  wefentlich  mit  dem  Ins; 
halt  verbunden,  die  Form  ift  dem  Stoff  nur  auf:s  oder  ab:: 
gedrungen.  Die  Produktionen  der  Natur  erleiden  zwar 
auch  äußere  Bedingungen,  aber  mit  Gegenwirkung  von 
innen.  Kurz  es  ift  hier  ein  lebendiges  Wirken  von  außen 
und  innen,  wodurch  der  Stoff  die  Form  erhält. 

Die  Form  des  Leuchters  ift  dem  flüfligen  Meffing 
aufgenötigt.  Sich  felbft  überlaffen,  hätte  es  fich  aus  (ich 
und  durch  die  einwirkende  Luft  geformt. 

Man  könnte  einen  Leuchter  auch  aus  Salz  gerinnen 
laffen.  Hier  würde  fich  das  Salz  zwar  innerlich  kriftallifieren, 
aber  nach  außen  zu  wird  ihm  die  Form  des  Leuchters 
aufgedrungen  I 

[978.]     April  15.     Henriette  v.  Knebel  an  ihren  Bruder. 

Goethe  hat  mir  fagen  laffen,  daß  er  Dir  heute  die 
Trauerrede  auf  die  Herzogin  Amalie  felbft  fchicken  würde. 
Er  hat  diefen  Morgen  die  Prinzeß  mit  fchönen  Blumen 
befchenkt,  die  fie  fehr  erfreuen,  einem  Lack::  und  einem 
Levkojenftock  in  fchönfter  Blüte.  Vorigen  Mittwoch  waren 
wir  vormittags  bei  ihm,  der  Geheimrat  Wolf  war  da  und 
hielt  anfangs  auch  einen  kleinen  Vortrag  über  die  Alten, 
ihre  Gefchichte,  ihre  Sprache  ufw.,  dann  brachte  uns 
Goethe  einige  Frühlingsblumen  und  zeigte  uns  recht 
hübfche  Sachen,  mit  guten  Bemerkungen;  wobei  ich  das 
artige  Hungerblümchen  befonders  lieb  gewann,  das  fo 
wenige  Bedürfniffe  hat,  und  bei  wenig  Saft  und  geringer 
Wärme  fich  fo  fchnell  entwickelt  und  hervorkommt,  daß 
man  es  faft  wachfen  fehen  kann. 

[979.]     April  23.     Bettina  Brentano  an  Elifabeth  Goethe. 

Da  ging  die  Tür  auf  und  da  ftand  er  feierlich  ernft, 
und  fah  mich  unverwandten  Blickes  an;  ich  ftreckte  die 
Hände  nach  ihm,  glaub  ich,  —  bald  wüßt  ich  nichts 
mehr,  Goethe  fing  mich  rafch  auf  an  fein  Herz.  Armes 
Kind,  hab  ich  Sie  erfchreckt,  das  waren  die  erfien  Worte, 
mit  denen  feine  Stimme  mir  ins  Herz  drang;  er  führte 
mich  in  fein  Zimmer  und  fetzte  mich  auf  dem  Sofa 
fich  gegenüber.  Da  waren  wir  beide  ftumm,  endlich 
unterbrach  er  das  Schweigen:  Sie  haben  wohl  in  der 
Zeitung  gelefen,  daß  wir  einen  großen  Verluft  vor  wenig 
Tagen  erlitten  haben,  durch  den  Tod  der  Herzogin  Amalie. 
Achl  fagte  ich,  ich  lefe  die  Zeitung  nicht.  —  So!  —  ich 
I  31* 


484  Bettine  Brentano.  [980 

habe  geglaubt,  alles  intereffiere  Sie,  was  in  Weimar  vor^ 
gehe.  —  Nein,  nichts  intereffiert  mich  als  nur  Sie,  und 
da  bin  ich  viel  zu  ungeduldig,  in  der  Zeitung  zu  blättern. 
—  Sie  find  ein  freundliches  Kind.  —  Lange  Paufe  —  ich 
auf  das  fatale  Sofa  gebannt,  fo  ängftlich.  Sie  weiß,  daß 
es  mir  unmöglich  ifi,  fo  wohlerzogen  da  zu  fitzen.  — 
Ach  Mutter!  Kann  man  fich  felbft  fo  überfpringen?  — 
Ich  fagte  plötzlich:  Hier  auf  dem  Sofa  kann  ich  nicht 
bleiben,  und  fprang  auf.  —  Nun!  fagte  er,  machen  Sie 
fich's  bequem;  nun  flog  ich  ihm  an  den  Hals,  er  zog 
mich  aufs  Knie  und  fchloß  mich  ans  Herz.  ^^ 

Es  war  voriges  Jahr  im  Eingang  Mai,  da  ich  ihn  fah 
zum  erfienmal,  da  brach  er  ein  junges  Blatt  von  den 
Reben,  die  an  feinen  Eenftern  hinaufwachfen,  und  legt's 
an  meine  Wange  und  fagte:  Das  Blatt  und  deine  Wange 
find  beide  wollig;  ich  faß  auf  dem  Schemel  zu  feinen 
Füßen  und  lehnte  mich  an  ihn,  und  die  Zeit  verging 
im  ftillen.  —  O  wie  oft  hab  ich  an  diefes  Blatt  gedacht, 
und  wie  er  damit  mir  die  Stirne  und  das  Geficht  fi:reichelte, 
und  wie  er  meine  Haare  durch  die  Finger  zog  und  fagte: 
Ich  bin  nicht  klug;  man  kann  mich  leicht  betrügen,  du 
haft  keine  Ehre  davon,  wenn  du  mir  was  weismachft 
mit  deiner  Liebe.  —  Da   fiel   ich   ihm  um   den  Hals.  ~ 

Er  hat  gefagt,  ich  foU  ihn  vertreten  bei  Ihr,  und  foll 
Ihr  alles  Liebe  tun  was  er  nicht  kann,  und  foll  fein  gegen 
Sie,  als  ob  mir  all  die  Liebe  von  Ihr  angetan  war  die  er 
nimmer  vergißt.  —  Wie  ich  bei  ihm  war,  da  war  ich  fo 
dumm  und  fragte,  ob  er  Sie  lieb  habe,  da  nahm  er  mich 
in  feinen  Arm  und  drückte  mich  ans  Herz  und  fagte: 
Berühr  eine  Saite,  und  fie  klingt,  und  wenn  fie  auch  in 
langer  Zeit  keinen  Ton  gegeben  hätte.  Da  waren  wir 
ftill  und  fprachen  nichts  mehr  hiervon. 

[980.]     April  24./25.     Henriette  v.  Knebel. 

Eine  gute  Lektüre,  die  uns  etwas  von  der  Gegens: 
wart  entfernt,  ifi:  jetzt  von  großem  Wert,  und  es  war 
mir  fehr  fchmeichelhaft,  als  Goethe  gefi:and,  da  wir  ihm 
kürzlich  auf  dem  Spaziergang  begegneten,  daß  er  jetzt 
am  liebften  Taufendundeine  Nacht  läfe;  denn  juft  fo 
mache  ich  es  auch. 

[98L]     April  (24).     Bettina  Brentano  an  Elifabeth  Goethe. 

In  diefer  Tafche  liegt  verborgen  ein  Veilchenfi:rauß, 
den  Ihr  Herr  Sohn,  in  Weimar  in  Gefellfchaft  bei  Wie^; 


983]  Weimar.     1807.  485 

land,  mir  heimlich  im  Vorübergehen  zuwarf.  —  Frau 
Mutter,  damals  war  ich  eiferfüchtig  auf  den  Wolfgang 
und  glaubte,  die  Veilchen  feien  ihm  von  Frauenhand  ge^^ 
fchenkt;  er  aber  fagte:  Kannft  du  nicht  zufrieden  fein, 
daß  ich  fie  dir  gebe?  —  Ich  nahm  heimlich  feine  Hand 
und  zog  fie  an  mein  Herz,  er  trank  aus  feinem  Glas  und 
ftellte  es  vor  mich,  daß  ich  auch  daraus  trinken  follte; 
ich  nahm  es  mit  der  linken  Hand  und  trank,  und  lachte 
ihn  aus,  denn  ich  wußte,  daß  er  es  hier  hingeftellt  hatte, 
damit  ich  feine  Hand  loslaffen  follte.  Er  fagte:  Haft  du 
folche  Lift,  fo  wirft  du  auch  wohl  mich  zu  feffeln  wiffen 
mein  Leben  lang. 

[982.1     Mai  3.     F.  Paffow  an  Hudtwalker. 

Ich  ging  zu  Goethe.  Er  erinnerte  fich  gleich  meiner 
von  Halle.  Ich  hegte  die  fchönfte  Hoffnung.  Ich  fagte 
ihm  meinen  Plan,  von  Johannis  bis  Michaelis  in  Weimar 
zu  leben,  und  meinen  Wunfeh,  ihn  dann  als  meinen 
Lehrer  anfehn  zu  dürfen.  Aber  er  antwortete  mir,  er 
ginge  im  Juni  fchon  ins  Karlsbad,  wo  er  bis  Ende  des 
Augufts  bliebe.  Du  kannft  denken,  wie  wenig  erfreulich 
mir  das  war.  Er  fragte  mich  indes,  welchen  Lebensplan 
ich  verfolge,  und  ließ  mich  ihm  von  meinen  Arbeiten 
Rechenfchaft  ablegen.  Mit  Entzücken  glaubte  ich  in  feinem 
Geficht  zu  bemerken,  daß  er  mein  Ziel  als  würdig  er? 
kenne,  und  daß  er  mit  mir  zufrieden  fei.  Ich  blieb  faft 
zwei  Stunden  bei  ihm.  Beim  Weggehen  reichte  er  mir 
feine  Hand  und  fagte:  Ich  hoffe  Sie  dennoch  bald  wieder 
in  unferer  Nähe  zu  fehn.  Indem  ward  ein  Fremder  herein? 
geführt,  und  ich  mußte  mich  entfernen,  ohne  mir  über 
feine  letzten  rätfelhaften  Worte  Licht  erbitten  zu  können. 
Am  letzten  Mittwoch  erhielt  ich  das  Unerwartetfte.  — 
Ich  erhielt  einen  Brief  vom  Minifter  von  Voigt  aus  Weimar, 
der  Herzog  von  Weimar  habe  ihm  befohlen,  mir  hier? 
mit  die  durch  den  Abgang  des  Profeffor  Voß  nach  Heidel? 
berg  erledigte  Profeffur  der  griechifchen  Sprache  am  Wei? 
marfchen  Gymnafium  zu  übertragen,  die  ich  fogleich  am 
1.  Juli  d.  J.  antreten  folle. 

[983.]     Mai  2./4.     Riemer. 

Goethe  wollte  im  Wertherfchen  Gefchmack  eine  Reife? 
befchreibung  durch  die  Schweiz  liefern  und  die  Briefe 
unter  mehrere  verteilen,  um  objektiv  zu  werden,  wie  er 
I 


486  Riemer.  [984 

mir  fagte,  als  wir  zufammen  diefe  Briefe  durchgingen, 
um  fie  in  die  Ausgabe  von  1806  zum  erftenmal  aufzus: 
nehmen. 

[984.]     Mai  (8).     G.  v.  Reinbeck. 

Wir  befuchten  zum  letztenmal  die  Gefellfchaft  im 
Schopenhauerfchen  Haufe  und  fanden  fie  zahlreicher  als 
gewöhnlich.  Goethe  unterhielt  fich  viel  mit  mir  von 
meinen  Plänen,  die  damals  noch  ins  Weite  gingen  und 
nach  dem  fchönen  Italien  firebten  und  man  kann  fich 
leicht  vorftellen,  wie  unterhaltend  und  belehrend  feine 
Äußerungen  waren.  Gelefen  wurde  diefen  Abend  nicht, 
und  wenn  dies  der  Fall  war,  fo  pflegten  Goethe  und 
Meyer,  nachdem  etwa  eingetroffene  neue  Kunftblätter  be^ 
fchaut  und  beurteilt  waren,  auf  kleinen  Papierblättern  mit 
Bleiftift  zu  zeichnen,  Goethe  gemeiniglich  Landfchaften, 
die  er  dann  wohl  in  Sepia  ausführte.  Dies  gefchah  auch 
diesmal.  Ich  faß  am  Zeichentifche  Goethe  gegenüber. 
Er  hatte  ein  Blatt  vollendet,  fah  zu  mir  herüber  und 
fchnellte  das  Blättchen  mir  zu  und  ich  —  ich  muß  mich 
fchon  auslachen  laffen  —  fi:att  es  fogleich  einzuftecken 
als  ein  höchft  willkommenes  Andenken,  war  zu  fchüchtern 
dazu.  Ich  befah  es  und  legte  es  dann  wieder  zu  Goethe 
hinüber  auf  den  Tifch.  Als  er  aufgeftanden  war,  wollte 
ich  das  Verfäumie  nachholen,  allein  das  Blättchen  war 
nicht  zu  finden.  Wahrfcheinlich  war  ein  anderer  ge^ 
fcheiter  gewefen  und  hatte  es  an  fich  genommen.  In  Hins^ 
ficht  der  Kunft  waren  diefe  Zeichnungen  nicht  eben  be^ 
deutend.  Auch  zeigte  fich  in  Goethe  kein  befonderer 
mufikalifcher  Sinn,  aber  feine  Lieder  in  Reichardtfchen 
oder  Zelterfchen  Kompofitionen  zu  hören,  machte  ihm 
auch  bei  mittelmäßigem  Vortrag  Vergnügen. 

[985.]     Mai  9.     G.  v.  Reinbeck. 

Ich  machte  ~  meinen  Abfchiedsbefuch  bei  Goethe, 
den  ich  fo  gar  liebgewonnen  hatte.  Er  war  allein.  Ich 
mußte  auf  dem  Sofa  Platz  nehmen,  und  er  fetzte  fich  auf 
einen  Stuhl,  mir  gegenüber.  Es  war  eine  gewiffe  Feiere 
lichkeit,  nicht  Vornehmigkeit,  die  ich  auch  wohl  kannte, 
in  feinem  Benehmen  und  mir  war's  recht  fchwer  ums 
Herz.  Unfer  Gefpräch  betraf  meine  Reife  und  meinen 
Aufenthalt  in  Heidelberg.  Die  Natur  und  die  Vergangen^ 
heit  bieten  Ihnen  dort  viel,  fagte  er,  ob  aber  das  Leben? 


987]  Weimar.     1807.  487 

Ich  weiß  nicht,  ob  Sie  mit  dem  deutfchen  Univerfitäts^ 
wefen  bekannt  find?  Es  ift  nicht  eben  das  angenehmfte, 
und  in  Heidelberg  befonders  fcheint  viel  Parteiwut  zu 
herrfchen,  und  die  Wiffenfchaft  trennt  ftatt  zu  vereinigen. 
Es  ift  wie  mit  der  Kirche  dort.  Proteftanten  und  Katho^ 
liken  find  in  einem  Gebäude  unter  dem  nämlichen  Dache 
vereint,  allein  in  der  Mitte  ifi:  zwifchen  beiden  eine  dicke 
Mauer.  Haben  Sie  dort  Bekannte?  Ich  fagte  ihm,  daß 
ich  von  Dresden  aus  an  Profefl^or  Fries  und  von  dem 
guten  Generalfuperintendenten  (Voigt)  an  Heinrich  Voß 
Briefe  hätte.  Da  find  Sie  gut  verfehen,  erwiderte  er, 
grüßen  Sie  mir  den  Heinrich,  das  ift  ein  lieber  kindlicher 
Menfch,  und  grüßen  Sie  auch  den  Alten  von  mir!  Unfer 
Gefpräch  verbreitete  fich  über  mehreres  und  auch  mit 
Wehmut  von  meiner  Seite  über  meinen  achtmonatlichen 
Aufenthalt  in  Weimar  und  das  darin  Erlebte,  wobei  ich 
es  für  ein  wahres  Glück  fchätzte,  zu  einem  fo  langen 
Aufenthalt  gleichfam  gezwungen  worden  zu  fein.  Was 
Sie  an  Ihrem  Aufenthalt  hier  etwa  zu  tadeln  finden,  ver^ 
fetzte  er,  wird  Ihnen  in  der  Erinnerung  vielleicht  noch 
mehr  Genuß  gewähren,  als  was  Sie  jetzt  zu  loben  haben. 
Überftandenes  Ungemach  hat  einen  eigentümlichen  Reiz. 
Ich  konnte  das  aus  einer  reichen  Erfahrung  nur  beftätigen. 
Endlich  mußte  doch  aber  an  den  Aufbruch  gedacht  werden 
und  ich  konnte  den  Entfchluß  dazu  nicht  finden.  Als 
ich  zuletzt  faft  gewaltfam  aufbrach,  verfagte  mir  das  Wort. 
Ich  ftammelte  einiges  —  ich  weiß  felbft  nicht  was.  Goethe 
war  fichtbar  bewegt.  Er  reichte  mir  die  Hand.  Reifen 
Sie  glücklich,  fagte  er,  und  vergeffen  Sie  uns  nicht!  Nie, 
nie!  rief  ich,  und  man  wird's  natürlich  finden,  daß  ich 
Wort  hielt,  und  ich  habe  auch  die  Freude,  daß  ich  in 
Weimar  nicht  ganz  vergeffen  wurde. 

[986.]     Mai  11.     Riemer. 

Als  über  Tifch  von  Erasmus  die  Rede  war,  fagte 
Goethe:  Erasmus  gehöre  zu  denen,  die  froh  find,  daß  fie 
felbft  gefcheit  find,  und  keinen  Beruf  finden,  andre  ge* 
fcheit  zu  machen,  —  was  man  ihnen  auch  nicht  verdenken 
könne. 

[987.]     Mai.     F.  Paffow  an  Hudtwalker. 

Goethe  ift  noch  nicht  hier,  kommt  aber  im  Auguft, 
da  er  feinen  Plan  mit  Wien  aufgegeben  hat,  mich  an 
I 


488  F.  Paffow.  [988 

fein  Haus  zu  knüpfen.  Seine  jetzige  Frau  hat  mir  das 
fchon  zu  verfiehen  gegeben.  Und  nicht  umfonftl  —  Einen 
zweiten  gefellfchaftUchen  Berührungspunkt  hat  mir  eine 
Landsmännin  von  Dir,  eine  hier  lebende  Fiofrätin  von 
Schopenhauer  gegeben,  die  Ou  vielleicht  kennfi.  Ihr 
Fiaus  ift  das  einzige,  was  Goethe  befucht,  und  wo  man 
ihn  ganz  Goethe  findet.  Im  Winter  ift  er  und  noch  einigie 
Weimaraner,  z.  B.  Einliedel,  Meyer,  Fernow,  Weiffer  alle 
Abende  des  Donnerstags  und  Sonntags  bei  ihr,  wo  er 
zum  Entzücken  liebenswürdig  fein  foll.  Noch  vor  feiner 
Reife  hat  er  gleich  nach  meiner  Berufung  die  Schopen:: 
hauer  gebeten,  auch  mich  in  diefen  Zirkel  zu  zählen. 


[988.]     Mai  16.     Riemer. 

Um  12  Uhr  in  Jena.  Unterwegs  das  Schlachtfeld 
betrachtet.  Mittags  beim  Herrn  Major  von  Knebel.  Nach 
Tifche  bei  Frommanns.  —  Goethes  Verftimmung  durch 
die  politica  und  das  Hundegebell.  Ging  noch  mit  mir 
um  die  Stadt.  Spaße  aus  dem  Zinkgräf*.  Gefchwätz  mit 
Goethe.  Aus  Zinkgräfs  Apophthegmen.  Gott  definiert 
er  alfo,  daß  er  fei  ein  unausfprechlich  Seufzen,  im  Grund 
der  Seelen  gelegen.  Ein  anderes  führte  Goethe  an:  Nihil 
contra  Deum,  nisi  Deus  ipse. 

[989.]     Mai  17.     Riemer. 

Zu  Goethe.  Flucht  nach  Ägypten  diktiert.  Goethe 
äußerte,  er  habe  nie  auf  Despoten  fchimpfen  hören,  als 
die  felbft  Despoten  gewefen,  kleine  oder  große.  Mit  Be? 
Ziehung  auf  die  Jenaifche  Brandftätte  bemerkte  er:  Nie^: 
mals  werde  ein  Fürft  oder  großer  Herr  von  einer  Sache 
fchlechter  unterrichtet,  als  wenn  er  fich  felbft  dahin  bes: 
gebe,  um  fich  zu  unterrichten.  Ferner  äußerte  er:  Die 
Franzofen  hätten  keine  Imagination,  fonft  hätten  fie  ftatt 
der  zwanzig  Häufer  in  Jena  und  Weimar,  wenn  fie  nicht 
zufällig  abgebrannt,  fondern  von  ihnen  angezündet  find, 
die  Stadt  an  allen  Ecken  angezündet  und  mit  Stumpf  und 
Stiel  abgebrannt;  das  hätte  dann  anders  in  die  Welt  hin:; 
eingeklungen.     Er  fagte  weiter: 


*  Zinkgräfs  Deutsche  Apophthegmata,  das  ift:  der  Deutfchen 
kluge  Sprüche.     Straßburg  1626. 


994]  Jena     1807.  489 

Die  Weiber  müßten  nur  lieben  oder  haffen;  dawären 
fie  ganz  fcharmant.  Die  Männer  aber  müßten  weder  lieben 
noch  haffen.     So   käme   alles   wieder   ins  Gleichgewicht. 

Die  Irrtümer  des  Menfchen  machen  ihn  eigentlich 
liebenswürdig. 

[990.]     Mai.     Riemer. 

Goethe:  Die  Arzneikunde  ift  viel  mehr  politifch  als 
ein  anderes.  Man  muß  auf  die  Krankheit  losgehen,  wie 
auf  einen  großen  Herrn  oder  ein  hübfches  Mädchen,  die 
man  be—  will,  wie  ein  Diplomat  den  andern  durch  einen 
Pfiff,  um  ihr  etwas  abzugewinnen.  Nur  en  tant,  daß  er 
pfiffig  ift,  ift  einer  ein  guter  Arzt. 

[991.]     Mai  19.     Riemer. 

Gefpräch  über  Kunft.  In  der  Malerei  fehle  fchon 
längft  die  Kenntnis  des  Generalbaffes,  es  fehle  an  einer 
aufgeftellten  approbierten  Theorie,  wie  es  in  der  Mufik 
der  Fall  ift. 

[992.]     Mai  19.     Riemer. 

Als  die  Rede  davon  war,  daß  Napoleon  feinen 
Soldaten  den  Sold  vorenthalte,  fagte  Goethe:  da  alle 
Welt  über  den  Egoismus,  der  jetzt  herrfche,  Klage  führe, 
fo  fei  Napoleon  gekommen,  die  Menfchen  uneigennützig 
zu  machen. 

[993.]     Mai  (20).     K.  L.  v.  Knebel. 

Wir  haben  Goethe  noch  hier,  und  er  wandelt  in 
feiner  halben  Hypochondrie,  wie  er  fie  nennt,  unter  uns 
herum  und  feine  Gegenwart  tut  uns  wohl.  ~  Auch  fcheint 
es  mir,  daß  er  froh  ift,  der  weimarifchen  böfen  Luft  auf 
eine  Weile  entronnen  zu  fein. 

[994.]     Mai  21.     Riemer. 

Zu  Goethe.  Die  neue  Melufine.  Abends  zu  From^ 
manns.  Über  die  Eitelkeit.  Man  mutzte  fich  jetzt  in  der 
Gefellfchaft  einander  die  Eitelkeit  auf.  Dadurch  gehe  die 
Gefellfchaft  zugrunde,  denn  nun  würden  die  einen  bloß 
paffiv,  indem  fie  dächten:  wenn  ich  die  angenehme  Eigenes 
fchaft,  die  ich  befitze,  nicht  zeigen  foll,  fo  will  ich  tun, 
als  hätte  ich  gar  keine.  Und  nun  paffen  fie  den  andern 
I 


490 Riemer. [995 

auf.  Dadurch  bemächtigt  (ich  gerade  der  Schlechtefie  der 
Gefellfchaft,  der  dreifi  genug  ifi.  —  Im  Alter  fchlafe  man 
eigentUch  nicht,  der  Schlaf  ziehe  fich  nur  über  die  Gegen^ 
ftände  des  Tags  wie  eine  Art  von  Flor  und  laffe  fie  durch:: 
fcheinen.  So  fah  Goethe  vorige  Nacht  fein  Märchen  von 
der  Melufine  unter  einer  Architektur  hervorfchimmern. 
Er  hielt  das  im  Traume  für  das  Schöne  und  Rechte  und 
wollte  es  fefthalten;  aber  wie  er  erwachte,  verfchwand 
der  Unfinn.  —  Die  Nachtigallen,  bemerkte  Buffon,  fchlagen 
nur  fo  fchön  während  der  Begattungszeit.  Nachher  ift 
ihre  Stimme  rauh  und  ganz  anders,  fo  daß  man  einen 
andern  Vogel  zu  haben  glaubt.  Die  Griechen  kannten 
daher  die  Nachtigall  als  zwei  verfchiedene  Vögel  unter 
zweierlei  Namen,  wie  Plinius  bemerkt.  Die  Tiere  werden 
erft  vokal  in  diefer  Zeit,  als  Hirfche,  Auerhähne  u.  dgl. 

[995.]     Mai  22.     Riemer. 

Elektrometer.  Die  Luft  ifi  niemals  elektrifch,  fondern 
der  Gegenfiand  in  ihr  wird  es  durch  feine  Pofition  und 
Berührung  mit  einem  anderen. 

[996.]     Mai  23.     G.  Schloffer. 

Im  Frühling  des  Jahres  1 807  wollte  ich  das  Schlacht:^ 
feld  befehen,  fiieg  den  hohen,  fieilen  apoldaifchen  Berg 
hinauf,  auf  deffen  Gipfel,  der  Windknollen  genannt,  man 
Napoleon  zu  Ehren,  oder  vielmehr  zur  Aufnahme  der 
vielen  Befucher,  ein  kleines  Tempelchen  gebaut  hatte.  Als 
ich  in  diefes  trat,  fand  ich  darin  den  Geheimen  Rat  von 
Goethe,  dem  ich  bekannt  zu  fein  die  Ehre  hatte.  Er  kam 
mir  mit  feiner  gewöhnlichen  Freundlichkeit  entgegen,  und 
da  er  eben  im  Begriffe  war,  einigen  Frauenzimmern,  die 
er  begleitete,  den  Verluft  der  Schlacht  zu  erklären,  fo 
vernahm  ich  folgendes:  Als  die  Franzofen  bemerkten,  daß 
der  Windknollen  nicht  befetzt  war,  wagten  es  zwanzig 
Mann  hinaufzufchleichen,  um  zu  fehen,  ob  fie  dort  feften 
Fuß  faffen  könnten.  Kaum  hatten  die  preußifchen  Hu? 
faren  in  dem  gegenüberliegenden  Dörfchen  Ifferftädt  fie 
bemerkt,  als  fie  auch  ihren  Rittmeifter  um  die  Erlaubnis 
baten,  diefe  Wagehälfe  den  Berg  hinunterzufiürzen.  Er 
wagte  aber  nicht,  diefe  Erlaubnis  aus  eigner  Macht  zu 
geben,  fondern  fchickte  nach  Kapellendorf  an  den  Felds: 
marfchall  Fürfien  von  Hohenlohe^^Ingelfingen,  diefer  aber 
an  den  Oberfeldherrn,  Herzog  von  Braunfchweig  inHaffen:: 


997] Jena.     1807. 491 

häufen,  und  es  kam  ein  Verbot  zurück.  Aus  den  zwanzig 
Franzofen  waren  indeffen  zweihundert  geworden.  Neue 
Anfrage,  neue  Sendungen,  neues  Verbot.  Nun  hatten 
fich  die  zweihundert  Mann  zu  einem  fiarken  Regimente 
vermehrt.  Die  Preußen  brannten  vor  Begierde  fie  an^ 
zugreifen,  der  Fürft  erhieh  aber  zur  Antwort  noch  ein 
ftrengeres  Verbot  bei  Verluft  feines  Kopfes;  denn  es 
foUten  die  Feinde  durchaus  nicht  auf  der  jenaifchen  Seite 
gereizt  werden,  um  fie  nach  Haffenhaufen  zu  ziehen,  und 
dort  en  bataille  rangee  nach  aher  preußifcher  Art  zu 
fchlagen.  So  waren  denn  die  Franzofen  bald  in  großer 
Maffe  oben  auf  den  fteilen  Bergen,  von  denen  fie  leicht 
hätten  können  abgehalten  werden.  Als  der  Fürfi:  bald 
nach  dem  Beginne  der  Schlacht  fehen  mußte,  daß  er  eine 
überlegene  Macht  gegen  fich  hatte,  fchickte  er  an  den 
General  Rüchel,  welcher  mit  der  Referve  in  dem  Gehölze 
Webicht  vor  Weimar  ftand,  daß  er  ihm  zu  Hilfe  kommen 
möchte.  Aber  Rüchel  kam  nicht  und  fo  wurde  er  dreist 
mal  vergeblich  aufgefordert.  Um  fich  für  eine  wirkliche 
oder  vermeintliche  Zurückfetzung,  die  er  früher  im  Kriege 
am  Rhein  vom  Fürfi:en  erlitten  zu  haben  glaubte,  zu 
rächen,  wollte  er  die  Schlacht  verlieren  laffen,  um  fie  dann 
wieder  herzuftellen  und  den  Ruhm  allein  zu  haben.  Als 
er  endlich  kam,  fand  er  fchon  alles  in  Flucht  und  Ver;s 
wirrung,  kommandierte:  linke  Schulter  vorl  Feuer!  und 
war  kaum  zu  überzeugen,  daß  er  Preußen  auf  Preußen 
fchießen  ließ.  Der  eingebildete  Wiederherfi:eller  der  ver^ 
lorenen  Schlacht  mußte  mit  den  Fliehenden  fliehen. 

[997.]     Mai  16./24.     H.  Luden. 

Nach  der  Schlacht  bei  Jena  erkundigte  ich  mich  bei 
jeder  Gelegenheit:  wie  es  Goethen  in  den  unglücklichen 
Tagen  gegangen  wäre,  und  alle  Erkundigungen  brachten 
mich  zu  dem  Glauben,  daß  auch  er  fein  Kreuz  zu  tragen 
gehabt  und  den  Jammer  geteilt  hätte,  den  ein  fiegreicher 
Feind,  übermütig  und  trotzig,  wie  über  die  Befiegten,  fo 
über  die  wehrlofen  Angehörigen  der  Befiegten  zu  bringen 
pflegt.  Etwa  vier  Wochen  nach  dem  unglücklichen  Tage 
fand  ich  Goethe  bei  Knebel.  Er  war  zum  erfi:enmal  wieder 
in  Jena.*     Sein  Geficht  war  fehr  ernfi;,  und  feine  Haltung 


*  [Ich  finde  nicht,  daß  Goethe  nach  der  Schlacht  eher,  als 
im  Mai  1807  nach  Jena  gekommen  fei.] 

I 


492  H.  Luden.  [997 

bewies,  daß  auch  auf  ihm  der  Druck  der  Zeit  lag.  Der 
Mann,  fagte  Knebel,  hat's  empfunden.  —  Ich  habe  fchon 
gehört,  fügte  Goethe  zu  mir  gewendet  hinzu,  daß  Sie 
fehr  hart  mitgenommen  find.  Ich  konnte  mein  Schickfal 
in  wenige  Worte  zufammenfaffen  und  tat  es.  Von  allem, 
fagte  ich,  was  wir  während  meiner  Anwefenheit  nach  Jena 
gefchafft  hatten,  und  was  ich  bei  meiner  Abreife  zurück;; 
ließ,  habe  ich  nicht  das  Geringfte  wiedergefunden  bei 
meiner  Zurückkunft,  einige  zerbrochene  Kiften,  Kaften 
und  Koffer  ausgenommen.  Ich  habe  den  Schmerz  gehabt, 
meine  junge  Frau  in  eine  völlig  leere  und  kalte  Wohnung 
einzuführen,  die  kaum  notdürftig  gereinigt  war  von  ab^ 
fcheulichem  Schmutze.  Herr  von  Knebel  rief  aus  und 
nicht  zum  erftenmal:  Es  ift  greulich!  es  ift  ungeheuer! 
Goethe  aber  fagte  einige  Worte  fo  leife,  daß  ich  fie  nicht 
verfiand.  Als  ich  hierauf  Gelegenheit  nahm,  zu  fragen, 
wie  denn  Se.  Exzellenz  durch  die  Tage  der  Schmach  und 
des  Unglücks  hindurchgekommen,  antwortete  Goethe  mit 
folgenden  Worten:  Ich  habe  gar  nicht  zu  klagen.  Etwa 
wie  ein  Mann,  der  von  einem  feften  Felfen  hinab  in  das 
tobende  Meer  fchauet  und  den  Schiffbrüchigen  zwar  keine 
Hilfe  zu  bringen  vermag,  aber  auch  von  der  Brandung 
nicht  erreicht  werden  kann,  und  nach  irgendeinem  Alten 
foll  das  fogar  ein  behagliches  Gefühl  fein;  —  NachLukrez! 
rief  Knebel  hinein*  —  fo  habe  ich  wohlbehalten  dage^; 
fianden  und  den  wilden  Lärm  an  mir  vorübergehen  laffen. 
Ich  will  nicht  leugnen:  bei  diefen  Worten,  in  der  Tat 
mit  einer  gewiffen  Behaglichkeit  ausgefprochen,  lief  mir 
einige  Kälte  über  die  Bruft  hinweg.  Aber  fie  war  fchnell 
verflogen.  Und  da  Knebel  kein  Wort  fagte,  fondern  fich 
mit  feiner  gewöhnlichen  Beweglichkeit  abgewendet  etwas 
zu  tun  machte,  fo  erlaubte  ich  mir  das  Schweigen  zu 
unterbrechen:  Zuletzt  ift  es  auch  nicht  der  Mühe  wert, 
von  meinem  Verluft  zu  fprechen.  Er  ift  mir  nur  ver^ 
drießlich,  weil  ich  zurzeit  noch  jeden  Augenblick  daran 
erinnert  werde;  denn  ich  bin  in  meinen  Arbeiten  unteres 
brochen  und  geftört;  ich  kann  die  alten  nicht  fortfetzen 
und  keine  neuen  beginnen,  weil  es  mir  an  allem  not:; 
wendigen  Gerät  und  Gezeug  gebricht.  Überhaupt  ver^s 
fchwindet  das  Unglück  der  einzelnen,  der  Städte,  Ge* 
meinden  und  Familien,  vor  dem  ungeheueren  Unglücke, 


*  [De  rerum  natura,  II,  1  sqq.] 


999]  Jena.     1807. 493 

das  auf  Deutfchland,  unferem  Vaterlande  liegt.  Mich 
drückt  und  quält  lediglich  die  Zeit  der  Schmach  und 
Schande,  die  über  uns  eingebrochen  ift,  die  uns  bevor^ 
fteht.  Wäre  die  Schlacht  bei  Jena  gewonnen  worden: 
gern  hätte  ich  jegliches  Opfer  dargebracht  und  auch  nackt 
und  bloß  den  fliehenden  Feinden  nachgejubelt.  Und  dann 
—  alles,  was  mir  genommen  worden,  kann  erfetzt  werden. 
Das  befte  ift  mir  doch  gebUeben;  und  fo  lange  wir  felbft 
find  und  die  Berge  da  feftftehen  und  die  ewige  Sonne 
fcheint,  fo  lange  gebe  ich  nicht  verloren  weder  meine 
eigene  Sache  noch  die  Sache  des  Vaterlandes.  Knebel 
antwortete  mit  einigen  Ausrufungen:  Bravo,  fo  recht! 
und  dergleichen;  Goethe  aber  fagte  kein  Wort  und  ver^ 
zog  keine  Miene.  Hierauf  lenkte  Knebel  das  Gefpräch 
auf  etwas  Literarifches ;   ich   aber   beurlaubte   mich  bald. 

[998.]     Mai  16./21.     K.  L.  v.  Knebel. 

Goethe  ift  geftern  in  der  Frühe  von  hier  abgereift. 
Wir  grüßten  ihn  noch  beim  Wegfahren  aus  unferem  Fenfier. 
Er  fcheint  fich  faft  ganz  in  fich  und  den  weiten  Umfang 
feiner  Befchäftigungen  und  Kenntniffe  zu  konzentrieren, 
um  den  böfen  Einflüffen  der  Zeit  und  der  Umftände 
widerftehen  zu  können  und  das  mannigfaltige  moralifche 
und  politifche  Übel  von  fich  zu  halten.  Es  ift  fchlimm, 
wenn  man  gewiffermaßen  an  der  Welt  zu  verzweifeln 
anfängt  und  fich  das  Gemüt  der  freien  Mitteilung  ver^ 
fchheßt.  Man  bewahrt  dadurch  Übel,  die  fich  doch  viel^ 
leicht  lindern  ließen.  Doch  was  läßt  fich  fagen!  Die 
Umftände  machen  vorher  das  Gemüt  krank,  und  dann 
kann  das  kranke  Gemüt  nicht,  wie  das  gefunde,  fich  freie 
Vorftellungen  fchaffen.  Goethe  ift  indeffen  glückhch,  daß 
er  fich  einen  fo  reichen  Vorrat  von  tiefen  Kenntniffen 
und  Fähigkeiten  aller  Art  hat  anzufchaffen  und  zu  er:= 
halten  gewußt. 

[999.]     Mai  25.     Riemer. 

Nach  4  Uhr  von  Jena  weggefahren.  Prächtiger  Morgen. 
Über  Reinhold  Lenz  und  Moritz  gefprochen.  Lenz  hatte 
einen  befonderen  Hang  zur  Intrige,  auch  gegen  Goethe  trotz 
feiner  Anhänglichkeit.  Sie  hatten  zufammen  in  Straßburg 
ftudiert.  —  Moritz'  italienifche  Reife  ift  gewiffermaßen 
verdorben  durch  das  Beftreben,  es  Goethe  nachzutun. 
Seinen  Auffatz  über  die  Kunft  ift  Goethe  durchgegangen. 
I 


494  Riemer.  [1000 

[1000.]     Mai  27.     Riemer. 

/\  Goethe:  In  der  Jugend  fleht  man  das  Detail  alsMaffe, 

die  Maffe  als  Detail;   im  Alter  umgekehrt. 

[1001.]     Mai  30.     Chriftine  Reinhard  an  ihre  Mutter. 

Vous  ne  devinerez  jamais,  chere  mere,  avec  qui  nous 
sommes  en  relations  ä  present  a  Karlsbad.  Je  veux  laisser 
votre  curiosite  en  suspens  et  continuer  mon  recit.  —  Avant- 
hier  on  causait  dans  mon  salon  et  on  se  demandait  si  l'AUe^ 
magne  et  la  langue  allemande  etaient  destinees  ä  dis^s 
paraitre  entierement.  Non,  je  ne  le  croirai  jamais,  me 
dit  quelqu'un,  les  Allemands,  comme  les  juifs,  se  lais^ 
seront  opprimer,  mais  pas  plus  qu'eux  ils  ne  se  laisseront 
exterminer.  Ils  ne  se  decourageront  pas  et  resteront  forte^^ 
ment  unis,  meme  s'il  leur  arrivait  de  n'avoir  plus  de 
patriel     Devinez  qui  parlait  ainsi:   c'etait  Goethe! 

II  etait  arrive  peu  de  jours  avant  et,  des  le  lende^ 
main,  il  m'avait  envoye  une  lettre  de  Mme.  Fromann, 
par  l'entremise  du  pvrofesseur  Riemer,  et  m'avait  annonce 
sa  Visite.  Mon  mari  voulut  le  prevenir  et  se  rendit  chez 
lüi  apres  le  diner.  On  l'introduisit  dans  une  chambre 
oü  il  vit  un  homme  äge,  assez  corpulent,  vetu  d'un  veston, 
qui  disparut  prestement  dans  la  piece  voisine  et  revint 
un  instant  apres,  revetu  d'une  redingote.  II  s'assit  sur 
le  canape  et  eut  soin  de  se  mettre  ä  droite.  Ses  manieres 
n'ont  rien  de  fran^ais,  rien  d'afFable,  elles  sont  brusques 
et  saccadees.  Son  expression  est  serieuse,  mais  lorsqu'il 
sourit  ses  yeux  petillent  et  l'esprit  malin  parait  dans  toutes 
les  rides  de  son  visage.  Il  a  ete  tres  prevenant  parle  de 
Jassy,  de  notre  internement,  et  s'est  rappele  un  voyage 
qu'il  avait  fait  dans  ces  contrees. 

Ainsi  qu'il  arrive  frequemment  pour  les  hommes  celes: 
bres,  l'image  que  je  m'etais  faite  de  Goethe  n'est  nulle:: 
ment  exacte.  Il  ressemble  plus  ä  Antonio  qu'au  Tasse. 
Toute  sa  maniere  d'etre  est  celle  d'un  conseiller  d'Etat, 
son  oeil  seul  denote  le  poete. 

[1002.]     (Juni.)     Riemer. 

Goethe:  Die  Welt  ift  wie  ein  Strom,  der  in  feinem 
Bette  fortläuft,  bald  hier  bald  da  zufällig  Sandbänlce  an^^ 
fetzt  und  von  diefen  wieder  zu  einem  andern  Wege  ge^ 
nötigt  wird.     Das  geht  alles  fo  hübfch  und  bequem  und 


1008]  Karlsbad.     1807.  495 

nach  und  nach;  dagegen  die  Wafferbaumeifter  eine  große 
Not  haben,  wenn  fie  diefem  Wefen  entgegenarbeiten 
wollen. 

[1003.]     (Juni.)     Riemer. 

G. ;  Man  ift  fehr  übel  dran,  daß  man  den  Ärzten 
nicht  recht  vertraut  und  doch  ohne  fie  fich  gar  nicht  zu 
helfen  weiß. 

[1004.] 

G. ;  Wir  find  nicht  darauf  eingerichtet,  das  Leben 
zu  verlaffen,  wenn  es  nichts  mehr  wert  ift,  und  da  muß 
derjenige  immer  noch  gepriefen  werden,  der  es  als  er? 
träglich  haltbar  verfpricht. 

[1005.] 

G. ;  Daß  die  Pfaffen  fo  dumm  gewefen,  fich  ein 
folches  Befitztum,  wie  ein  Bad,  ein  Gefundbrunnen  ift, 
entgehen  zu  laffen  und  keine  Anlagen  und  Anftalten  für 
Wunderkuren  damit  zu  verbinden,  wie  beim  Teich  Bethesda. 
—  Die  Naturlehre  war  damals  völlig  getrennt  von  der  Idee. 
Das  Ideale  war  bloß  geiftlich,  chriftlich  und  in  der  Natur, 
glaubte  man,  feien  Zauberer,  Gnomen,  die  alle  unter 
dem  Teufel  fianden.  Die  Welt  gehörte  dem  Teufel,  felbft 
bis  auf  Luther. 

[1006.]     Juni  2.     Riemer. 

G. ;  Man  kann  fchon  Einen  nicht,  gefchweige  denn 
Viele  unter  einen  Hut  bringen,  denn  jeder  fetzt  ihn  fich 
anders  zurecht  I  —  Bei  Gelegenheit  von  einem  Apopthegma 
im  Zinkgräf. 

[1007.]     Juni  6.     Riemer. 

G. ;  Man  muß  nicht  auf  die  Sachen  böfe  werden; 
denn  das  tut  den  Sachen  ganz  und  gar  nichts,  fagt  Marc 
Aurel.  —  Alfo  indignieren  die  Menfchen  mich  dann 
und  wann  wohl;  aber  die  Sachen  finden  mich  immer 
entfchloffen. 

[1008.]     Juni  10.     Chriftine  Reinhard  an  ihre  Mutter. 

Chere  mere,  je  voulais  vous  ecrire  hier  apres  une 
longue  promenade,  lorsque  Goethe  est  venu  prendre  le 
the.  II  nous  a  fait  un  vrai  cours  sur  sa  nouvelle  theorie 
I 


496 Chriftine  Reinhard. [1009 

de  Couleurs.  Sa  fa^on  de  l'envisager,  de  l'expliquer,  est 
tres  interessante;  pourtant,  quand  on  n'est  plus  sous  le 
rayonnement  de  son  genie,  on  se  dit  que  beaucoup  de 
ses  deductions  seront  releguees,  par  les  gens  competents, 
dans  le  royaume  des  chimeres.  Charles  suit  mieux  que 
moi  cet  esprit  etincelant.  Le  monde  intellectuel  dans 
lequel  il  se  meut  embrasse  tout:  la  philofophie,  la  bota^: 
nique,  l'astronomie,  aucune  science  ne  lui  est  inconnue. 
Lorsque  je  Tai  suivi  pendant  quelque  temps,  effleurant 
tous  les  sujets  et  se  maintenant  toujours  ä  des  hauteurs 
inaccessibles,  mon  intelligence  me  refuse  tout  Service  et 
le  sentiment  de  mon  inferiorite  m'  ecrase.  Je  me  rends 
compte  que  c'est  l'effet  qu'il  recherche  et  qui  le  flatte  le 
plus.  Un  meme  jour  il  est  venu  quatre  fois:  dans  la 
matinee  pour  m'aider  dans  la  copie  que  je  fais  de  sa 
carte  des  hauteurs,  ensuite  pour  me  rendre  le  Journal  de 
notre  internement  qu'il  avait  demande  ä  lire,  puls  pour 
nous  apporter  des  verres  de  couleur  relatif  ä  son  travail; 
enfin,  dans  la  soiree,  pour  s'excuser  de  ne  pouvoir  venir 
souper. 

Le  duc  de  Weimar  est  ici  depuis  une  huitaine  et 
nous  le  voyons  constamment.  Il  est  insignifiant;  son 
attachement  pour  Goethe  date  du  temps  oü,  jeunes  tous 
les  deux,  les  memes  plaisirs  les  reunissaient.  Leurs  rapports 
amicaux  se  sont  maintenus,  malgre  la  difference  de  leur 
fortune,  et  cela  parle  en  leur  faveur.  Le  duc  est  tres 
naturel,  sans  aucune  morgue.  Au  cours  d'une  partie  de 
campagne  ä  laquelle  Goethe  l'avait  amene,  il  s'est  pro^ 
eure  des  lignes  et  il  s'est  mis  ä  pecher  des  petits  pois? 
sons  dans  la  Toppel. 

Le  poete  nous  a  apporte  son  livre  d'amis  en  nous 
demandant  de  nous  y  inscrire:  j'en  fus  tout  intimidee, 
car  il  a  ses  theories  sur  les  ecritures  qui,  selon  lui, 
donnent  des  aper^us  sur  le  caractere  des  personnes;  il 
a  fait  une  veritable  etude  de  celle  de  Napoleon  et  il  est 
arrive  ä  fort  bien  la  juger.  Nous  nous  sommes  tires  de 
cette  epreuve  en  louant  le  genie  universel  du  grand  homme, 
pour  qui  la  nature  et  le  coeur  humain  n'  ont  plus  de 
mysteres,  et  cette  flatterie  a  ete  bien  accueillie. 

[1009.]     Juni  13.    Mit  Riemer. 

Abends  mit  Goethe  fpazieren.  Jugendgefchichten 
aus  Wetzlar.     Goue,  Gotter,  von  Braun,  ufw.    Geheime 


1010]  Karlsbad.     1807. 497 

Ritterorden.  Myitifikationen.  ZuderZeit,woganzDeutfch:J 
land  feinen  Götz  von  Berlichingen  bewunderte,  befand 
lieh  Goethe  in  größter  Verlegenheit,  wie  er  das  Papier 
dazu  bezahlen  follte;  denn  er  hatte  mit  Merck  gemein:^ 
fchaftlich  es  drucken  laffen,  jener  den  Druck,  er  das 
Papier  beforgt,  und  hernach  in  Kommiffion  gegeben,  aber 
fein  Lebtag  nicht  einen  Heller  dafür  eingenommen.  —  Zinks: 
gräf  Apophth. :  Wer  einen  Stein  nicht  allein  erheben  mag, 
der  foU  ihn  auch  felbander  liegen  laffen. 

[1010.)     Juni  (15./24.)     Chriltine  Reinhard  an  ihre  Mutter. 

Mon  mari  avait  rencontre  Goethe  dans  la  matinee 
et  il  lui  avait  dit  que  la  bataille  prevue  (Friedland)  avait 
ete  livree :  II  y  en  aura  bien  d'autres,  lui  repondit  Goethe, 
et,  pour  la  premiere  fois,  il  s'exprimait  en  frangais. 
Apres  le  concert,  le  poete  est  venu  ä  notre  rencontre  et 
s'est  promene  avec  nous  ostensiblement.  Cette  demons: 
stration  a  ete  remarquee.  Goethe  passe  presque  toutes 
ses  soirees  chez  nous.  La  politique  est  alors  bannie  de 
la  conversation;  les  messieurs  s'entretiennent  d'art,  de 
science,  de  litterature,  et  l'esprit  petillant  du  savant  sait 
donner  un  tour  nouveau  aux  questions  les  plus  ardues. 
On  ne  peut  le  juger  ä  premiere  vue  et  il  ne  se  revele 
tel  qu'il  est,  c'est^^ä^dire  un  genie  universel,  que  lorsqu'on 
est  seul  avec  lui;  des  qu'on  est  plus  nombreux,  il  devient 
taciturne,  s'absorbe  dans  ses  pensees  et  c'est  ainsi  qu'il 
se  montre  dans  les  reunions.  Vous  avez  raison  de  dire 
que  notre  rencontre  avec  lui  doit  compter  parmi  les 
hasards  heureux  de  notre  vie;  ils  deviennent  de  plus  en 
plus  rares.  Le  mouvement  intellectuel  qui  resulte  de 
notre  intimite  est  d'un  effet  plus  salutaire  pour  mon  mari 
que  ne  le  sont  tous  les  remedes  qu'il  emploie;  Goethe 
et  lui  paraissent  se  convenir  et  s'apprecier  chaque  jour 
davantage.  Nous  passons  des  journees  entieres  ensemble. 
Un  soir,  Goethe  a  lu  et  declame  plusieurs  de  ses  poesies; 
c'etait  une  vraie  jouissance  de  l'entendre.  Le  temps  me 
fait  defaut  pour  vous  parier  plus  longuement  de  son 
debit,  mais  je  le  ferai  une  autre  fois  et  je  vous  donnerai 
mon  appreciation  sur  cet  homme  extraordinaire  qui  ocs: 
cupe  tout  mon  esprit  sans  rien  dire  ä  mon  coeur.  Mon 
jugement  est  il  impartial?  Je  l'espere.  Il  n'en  serait 
pas  de  meme  de  celui  de  mon  mari,  auquel  Goethe  a 
I  32 


498  Chriftine  Reinhard.  [1011 

vole  une  parcelle  de  son  coeur.  Peut^etre  a^its^il  dedaigne 
de  s'en  donner  la  peine  pour  moi,  sans  quoi  ce  ma.gu 
cien  eüt  du  reussir. 

[1011.]     Juli  1.     Riemer. 

Als  ich  in  Einbogen  einiges  gezeichnet  hatte,  riet  er 
mir,  Everdingens  Sachen  zu  ftudieren,  weil  ich  das  Apercu 
der  Silhouette  habe. 

[1012.]     Juli  Anfang.     Chriftine  Reinhard  an  ihre  Mutter. 

Ich  fagte  neulich  im  Spaß  zu  Goethe,  daß  Sie  fein 
Urteil  über  die  Schlegel  verlangten.  Er  läßt  Ihnen  fagen; 
daß  er  das  Urteil  der  ganzen  Welt  unterfchreibe,  denn 
wenn  man  alles,  was  diese  Gutes  und  Böfes  von  den 
beiden  Brüdern  gefagt  habe,  zufammen  addiere,  fo  würde 
das  Fazit,  das  herauskäme :  Wilhelm  und  Friedrich  Schlegel 
heißen. 

Goethe  fordert  uns  auf,  unfern  Weg  über  Weimar 
zu  nehmen.  Bei  diefer  Gelegenheit  fagte  er  Karl:  Sehr 
.  wünfche  ich,  daß  Sie  die  Bekanntfchaft  meiner  Frau  machen. 
Ich  bin  Ihnen  eine  Schilderung  von  ihr  fchuldig,  vor 
Ihrer  Frau  würde  ich  es  nicht  wagen,  denn  fie  hat  eine 
zu  autokratifche  Natur.  Zuerft  muß  ich  Ihnen  fagen, 
daß  von  allen  meinen  Werken  meine  Frau  keine  Zeile 
gelefen  hat.  Das  Reich  des  Geiftes  hat  kein  Dafein  für 
fie,  für  die  Haushaltung  ift  fie  gefchaffen.  Hier  überhebt 
fie  mich  aller  Sorgen,  hier  lebt  und  webt  fie;  es  ift  ihr 
Königreich.  Dabei  liebt  fie  Putz,  Gefelligkeit  und  geht 
gern  ins  Theater.  Es  fehlt  ihr  aber  nicht  an  einer  Art 
von  Kultur,  die  fie  in  meiner  Gefellfchaft  und  befonders 
im  Theater  erlangt  hat.  Überhaupt  glaubt  man  nicht, 
wie  fehr  das  Theater,  wenn  man  fo  zehn  Jahre  lang  es 
alle  Abende  befucht,  bildet.  Da  kommt  denn  doch  alles 
vor:  Welt,  Kunft,  Moral  tritt  durch  das  Spiel  der  Per:= 
fönen  hervor  und  durch  die  Freiheit  des  Urteils  gewinnt 
es  für  die  Zufchauer  neues  Intereffe  und  Lebendigkeit. 
Auch  bei  meinem  Sohne  habe  ich  es  bemerkt. 

[1013.]     Juli  Anfang.     Chriftine  Reinhard  an  ihre  Mutter. 

Dans  l'antiquite,  le  spectacle  passionnait  les  Grecs, 
et  leurs  plus  celebres  orateurs  se  preparaient  aux  lüttes 
de  la  tribune  en  pronon9ant  des  discours  sur  les  places 
publiques. 


1015] Karlsbad.     1807. 499 

Goethe  nous  a  fait  un  fort  joli  cadeau  en  nous 
donnant  la  nouvelle  edition  de  ses  oeuvres  completes,  qui 
vient  de  paraitre.  II  a  colle  lui  meme  sur  la  premiere 
page  une  vue  de  Carlsbad,  prise  d'apres  nature  et  peinte 
par  lui  avec  cette  dedicace:  «Au  digne  couple  Reinhard», 
et  cette  attention  nous  a  touches.  Mon  mari  s'est  pro^s 
eure  plusieurs  auteurs  fran^ais  qu'il  veut  lui  oflfrir.  En  ce 
moment,  il  n'est  question  que  de  Corinne /von  Frau  v.  Stael]. 
Le  duc  en  a  fait  venir  un  exemplaire  sur  la  demande  de 
Goethe,  il  l'a  en  mains  depuis  peu  de  jours  et  il  parait 
en  etre  emerveille.  Il  loue  cet  ouvrage  sans  aucune  re^ 
serve  et  en  est  aussi  enthousiasme  que  vous  l'etes  vouss: 
meme. 

[1014.]     Juli  8.     Riemer. 

Goethe:  Die  Kunft  fiellt  eigentlich  nicht  Begriffe  dar, 
aber  die  Art,  wie  fie  darfteilt,  ift  ein  Begreifen,  ein  Zu^ 
fammenfaffen  des  Gemeinfamen  und  Charakterifiifchen, 
d.  h.  der  Stil. 

[1015.]     Mai  20./Juli  9.     Chriftine  Reinhard  an  ihre  Mutter. 

Goethe  parut  alorsl  ^  Je  vous  ai  parle  de  nos  rap:: 
ports  journaliers  et  de  l'interet  que  j'ai  pris  ä  contempler 
ce  genie  aussi  extraordinaire  qu'universel.  Je  dis  con«: 
templer,  car  malgre  toutes  les  avances  qu'il  a  faites,  nos 
rapports,  en  ce  qui  me  concerne  du  moins,  n'  ont  jamais 
ete  cordiaux.  II  y  a  chez  lui  trop  d'appret  et  un  mans 
que  de  naturel  qui  n'appellent  pas  la  confiance  et  qui, 
au  contraire,  excluent  tout  effusion.  II  serait  presomp;; 
tueux  de  ma  part  de  vouloir  le  juger  et  de  pretendre  avoir 
compris  cet  etre  unique.  Je  tenterai  pourtant  de  repro? 
duire  l'impression  qu'a  faite  sur  moi  cet  esprit  etincelant, 
mais  il  faudrait,  pour  bien  le  faire,  avoir  son  don  d'obj: 
servation  et  sa  hardiesse.  Le  profeffeur  Huber  dit  avec 
raison  que  Goethe  evite  toute  individualite,  c'est  pourquoi 
il  n'a  jamais  emu  mon  cceur,  il  plane  au^dessus  des 
miseres  humaines,  pareil  ä  un  habitant  d'une  autre  sphere. 
Jamais  il  ne  parle  de  lui  meme,  jamais  je  ne  Tai  vu 
s'interesser  aux  joies  ou  aux  chagrins  des  autres.  On 
obtient  rarement  de  lui  une  marque  d'approbation  ou  de 
deplaisir.  Lorsqu'on  lui  raconte  les  peines,  les  deceptions 
de  personnes  qui  lui  sont  connues,  il  envisage  ces  recits 
comme  des  faits  divers  et  en  cite  de  pareils.  Rien  ne 
I  32* 


500  Chriftine  Reinhard.  [1015 

Temeut.  II  vit  dans  le  cercle  de  ses  idees  et  de  son 
savoir,  cercle  immense  qui  englobe  toutes  les  sciences,  et 
il  se  fait  un  jeu  des  matieres  les  plus  abstraites.  II  s'occupe 
avec  ardeur  de  botanique,  de  chimie,  de  mineralogie, 
d'astronomie;  tout  lui  est  familier.  La  theorie  des  couleurs 
est  son  cheval  de  bataille  actuel,  et  le  resume  qu'en  a 
fait  mon  mari  prouve  que,  partant  de  la  chimie,  eile 
aboutit  ä  la  philosophie.  Adule  comme  il  est  habitue  de 
Tetre,  aucun  hommage  ne  l'etonne.  Au  cours  d'une  con^ 
versation  pendant  laquelle  Goethe  s'etait  exprime  avec  un 
feu,  un  elan  inusites,  Charles  lui  dit  que,  bien  qu'a 
difFerentes  reprises  il  eüt  ete  en  rapports  presque  intimes 
avec  des  hommes  remarquables ,  il  n'avait  trouve  chez 
aucun  d'eux  une  teile  richesse  d'idees,  une  teile  harmonie, 
une  teile  elevation  de  sentiments,  enfin  un  ensemble  aussi 
parfait  que  chez  lui.  Il  lui  avoua  qu'il  avait  de  la  peine 
ä  le  suivre,  car  son  esprit  devait  revenir  sans  cesse  sur 
ce  qu'il  lui  avait  entendu  dire,  et  qu'il  etait  souvent  comme 
ebloui  par  la  justesse  et  par  l'audace  de  ses  conceptions. 
C'et  hommage  ne  parut  pas  etonner  le  poete,  il  lui  repondit 
qu'il  fallait  en  effet,  etre  habitue  ä  son  langage  pour 
pouvoire  le  comprendre;  que  lui^meme,  ä  cause  de  cela, 
avait  renonce  ä  la  conversation  et  ne  daignait  plus  causer 
que  lorsqu'il  trouvait  des  hommes  ä  sa  hauteur,  comme 
l'etait  mon  mari  et  comme  l'avait  ete  Schiller.  Il  fit  alors 
l'eloge  de  ce  dernier  sans  aucune  arriere^^pensee  de  riva:« 
lite  et  sans  chercher  etablir  de  comparaison. 

Vous  savez,  chere  mere,  que  pareil  a  bien  des  hommes 
superieurs,  Goethe  s'accomode  volontiers,  chez  les  femmes, 
d'un  niveau  intellectuel  peu  eleve,  et  qu'il  prefere  pres:= 
que  chez  elles  une  nature  vulgaire  ä  une  intelligence  plus 
raffinee.  Dans  ses  relations,  il  se  laisse  aller  ä  l'impression 
du  moment,  et  les  maximes  ne  lui  manquent  pas  pour 
justifier  ses  caprices  et  toutes  leurs  consequences.  Mais 
dans  ses  ouvrages,  ses  heroines,  douees  de  sentiments 
eleves,  n'emeuvent  et  ne  plaisent  pas,  parce  que  le  poete 
ne  les  a  parees  de  tant  de  vertus  et  ne  les  a  creeses  avec 
tant  d'amour  que  pour  paraitre  avoir  fait  mieux  que  le 
Createur. 

Faite  par  lui,  la  lecture  de  ses  poesies  est  une  veri^^ 
table  jouissance.  Sa  voix  est  sonore,  forte  et  bien  modulee. 
Le  feu  de  son  regard,  son  expression,  ses  gestes  sont 
justes  et  impressionants.     Il  declame   de  preference,  des 


1016]  Karlsbad.     1807.  501 

ballades  et  des  poesies  ä  actions.  II  nous  avait  prevenus 
que  son  choix  se  partait  d'habitude  sur  des  sujets  represen^ 
tant  une  Situation  bien  frappante  et  non  sur  un  expose 
de  sentiments  ou  d'aspirations. 

Ma  main  inhabile  en  a  dit  assez  sur  ce  maitre  en 
tout  art;  il  me  resterait  ä  vous  communiquer  l'appreciass 
tion  de  mon  mari  sur  Goethe  en  tant  qu'homme,  sinon 
en  tant  qu'ecrivain,  mais  le  temps  me  manque.  Elle 
differe  de  la  mienne  ä  plusieurs  points  de  vue,  car  il 
porte  son  ami  tellement  aux  nues  que  la  tete  de  son 
heros  se  trouve  presque  entouree  d'une  aureole.  Moi, 
je  me  borne  ä  admirer  en  lui  deux  yeux  d'un  eclat  in? 
comparable  et  tels  que  je  n'en  ai  jamais  vu  de  semblables, 
car  ils  refletent  une  intelligence  hors  ligne.  ^^ 

Notre  depart  est  fixe  au  15;  je  ne  puis  quitter  sans 
emotion  cette  valee  oü  l'aire  que  je  respirais  me  semblait 
plus  leger,  oü  les  soucis  m'effleuraient  sans  m'atteindre 
et  oü  la  societe  de  Goethe  a  imprime  a  notre  sejour  un 
charme  bien  particulier.  Ces  relations,  amenees  par  le 
hasard,  devriendront  durables,  car  de  part  et  d'autre  on  a 
le  desir  de  se  revoir  et  on  s'est  promis  de  s'ecrire. 

[1016.]     Mai  30./Juli  10.     K.  F.  Reinhard. 

Einmal,  wie  der  Alten  gedacht  war,  fagte  er:  Wenn 
man  bedenkt,  wie  weit  es  die  Griechen  fchon  gebracht 
hatten,  was  für  Kenntniffe  bei  ihnen  blühten,  und  wie 
das  Alles  untergegangen  ifi!  dann  fich  ein  bißchen  um;: 
fieht  nach  dem,  was  uns  bevorfteht,  möchte  man  fich  nur 
gleich  auf  die  faule  Haut  legen.  Aber  man  darf  doch 
den  Mut  nicht  verlieren.  Es  trieb  mich  auch  immer  und 
ich  habe  es  mir  fauer  werden  laffen. 

Goethe  fprach  von  feiner  Reife  nach  Italien  und  wie 
er  erfi:  an  Ort  und  Stelle  gefunden,  daß  er  von  Kunft 
keinen  Begriff  hatte.  Dadurch  ifi  mein  Aufenthalt  in 
Italien,  fagte  er,  mühfam  und  von  den  gewöhnlichen 
Reifenden  fehr  verfchieden  geworden.  Lange  nahm  ich 
gelehrig  alles  in  mir  auf,  las,  hörte,  verglich,  fah,  bis  ich 
endlich  in  mir  felbft  zur  Klarheit  kam.  Ich  hatte  bis 
Rom,  befonders  in  Venedig,  ein  fehr  weitläufiges  Tage? 
buch  geführt,  auch  viele  Briefe  gefchrieben,  die  ich  größten? 
teils  wieder  zurück  erhalten  habe  und  die  mir  noch  jetzt 
viel  Vergnügen  machen,  weil  fie  meifi  mit  vieler  Freiheit 
und  in  der  heiterften  Stimmung  meines  Lebens  gefchrieben 
I 


502 K.  F.  Reinhard. [1017 

find.  In  Rom  ließ  ich  mein  Tagebuch  hegen  oder  fchrieb 
wenig.  Ich  gedenke  jenes  Tagebuch,  jene  Briefe  drucken 
zu  laffen  mit  Anmerkungen.  Es  fehke  wenig,  fo  wäre 
ich  ganz  in  Itahen  gebheben. 

Mein  Sohn,  fagte  er,  hat  das  Gute,  auch  nicht  die 
geringfte  Anlage  zur  Poefie  zu  haben.  Meine  Maxime 
wäre  gewefen,  ihn  von  felbfi  das  werden  zu  laffen,  wozu 
die  Anlage  ihn  treibt;  es  gibt  in  der  menfchlichen  Natur 
eine  Periode  für  die  Vernunft  wie  für  die  Pubertät,  und 
oft  gefchieht  es,  daß  die  Menfchen  erfi  nach  der  Ver^? 
nunft  zum  Verftand  kommen.  Allerdings,  fagte  Goethe, 
muß  man  meine  Sprache  erft  eine  Zeitlang  hören,  um  mich 
zu  verftehen,  da  ich  mit  niemandem  fpreche  als  mit 
Männern,  die  mich  f äffen  können,  wie  Sie  z.  B.,  fo  habe 
ich  mich  verwöhnt,  befonders  mit  Schiller.  Da  ging  es 
Schlag  auf  Schlag. 

Schiller  war  im  höchfien  Grade  Idealift  und  reflek^ 
tierend,  fchon  in  unfern  Anflehten  über  Poefie  gingen 
wir  durchaus  voneinander  ab.  Er  war  für  die  moderne 
fentimentale,  reflektierende  Poefle,  mir  war  diefe  ein  Greuel, 
da  ich  die  alte,  naive  durchaus  vorzog.  Diefe  Verfchieden^ 
heit  kränkte  Schiller.  Aus  Schonung  und  Delikateffe 
hörten  wir  endlich  auf  zu  ftreiten,  aber  Schiller  behielt 
es  auf  dem  Herzen,  und  fo  erfchien  plötzlich  in  den  Hören 
fein  Auffatz  über  antike  und  moderne,  über  fentimentale 
und  naive  Poefle.  Mir,  der  ich  meiner  Einfeitigkeit  mir  be^: 
wüßt  war,  (fo  wie  überhaupt  jeder  Menfch  einfeitig  ifi: 
und  fein  muß)  mir  machte  diefer  Auffatz  große  Freude 
und  ich  erkannte,  daß  auch  ich  durch  mein  Zeitalter  und 
meine  Ausbildung  zur  modernen  Poefle  gehörte. 

Von  Schiller  fagte  er  noch:  Es  ifi:  unglaublich  wie 
diefer  Mann  fleh  in  den  letzten  Jahren  ausgebildet,  wie 
frei  er  fleh  bewegt  hat.  Seit  zehn  oder  zwölf  Jahren 
glaubte  man  er  könnte  kein  Jahr  mehr  leben;  man  hatte 
fleh  daran  gewöhnt  und  glaubte  nicht  mehr,  daß  er  fterben 
könnte. 

[1017.]     Juli  10.     Mit  Riemer. 

Goethe:  Die  Götter  haben  im  menfchlichen  Körper 
eine  unmögliche  Synthefe  geleiftet:  das  Tier  und  den 
Menfchen  zu  verbinden.  Die  Eingeweide  kommen  alle 
übereinander  zu  flehen,  da  fle  bei  den  Tieren  hängen,  in 
der  Wampe.     Sie   hätten  auch   den  Vogeltypus  nehmen 


1020]  Karlsbad.     1807.  503 

können;  dann,  fcherzte  er  —  legten  die  Weiber  Eier  und 
brüteten  fie  aus;   dann  ufw. 


[1018.]     Juli  14.     Riemer. 

Goethe :  Das  Stück  Amphitryon  von  Kleiß  enthält  nichts 
Geringeres,  als  eine  Deutung  der  Fabel  ins  Chriftliche,  in 
die  Überfchattung  der  Maria  vom  Heiligen  Geifi.  So  ift's 
in  der  Szene  zwifchen  Zeus  und  Alkmene.  Das  Ende 
ift  aber  klatrig.  Der  wahre  Amphitryon  muß  es  fich  ge^^ 
fallen  laffen,  daß  ihm  Zeus  diefe  Ehre  angetan  hat. 
Sonft  ift  die  Situation  der  Alkmene  peinlich  und  die  des 
Amphitryon  zuletzt  graufam. 

[1019.]    Juli  23.     Riemer. 

Goethe:  Vokalmufik  heißt  fie,  weil  man  beim  (jetzigen) 
Singen  nur  die  Vokale  hört. 

[1020.]     Juli  24.     Riemer. 

Goethe:  Die  Bildung  wird  zwar  von  einem  Wege 
(ins  Holz)  angefangen,  aber  auf  ihm  nicht  vollendet.  Ein;; 
feitige  Bildung  ift  keine  Bildung.  Man  muß  zwar  von 
einem  Punkte  aus^^,  aber  nach  mehreren  Seiten  hingehen. 
Es  mag  gleichviel  fein,  ob  man  feine  Bildung  von  der 
mathematifchenoderphilologifchen  oder  künftlerifchen  Seite 
her  hat,  wenn  man  fie  nur  hat;  fie  kann  aber  in  diefen 
Wiffenfchaften  allein  nicht  beftehen.  Die  Wiffenfchaften 
einzeln  find  gleichfam  nur  die  Sinne,  mit  denen  wir  den 
Gegenftänden  Face  machen;  die  Philofophie  oder  die 
Wiffenfchaft  der  Wiffenfchaften  ift  der  sensus  communis. 
Aber  fo  wie  es  lächerlich  wäre,  wenn  einer  das  Sehen 
durch  das  Hören,  das  Hören  durch  das  Sehen  kompen:: 
fieren  und  erfetzen  wollte,  fich  bemühte,  die  Töne  zu 
fehen  ftatt  zu  hören :  fo  ift  es  lächerlich,  durch  Mathematik 
die  übrigen  Erkenntnisarten  zu  kompenfieren  und  vice 
versa,  fo  in  allen  übrigen;  oder  es  wird  eine  Phantafterei. 
Daher  gibt  es  jetzt  fo  manche  Phantaften,  die  ohne  pofitive 
Kenntniffe  durch  phantaftifche  Kombination  deffen,  was 
von  jenen  öffentlich  verlautet,  fich  das  Anfehen  tiefer 
Einficht  in  das  Wefen  eines  jeden  zu  geben  wiffen. 
Exempla  sunt  odiosa. 


504  Riemer.  [1021 

[1021.]    Juli  24.     Riemer. 

Goethe:  Die  fioifche  Philofophie  ift,  wie  ich  fchon 
fonfi  bemerkte,  eine  Philofophie  für  die  Armen,  nämHch 
beruhend  auf  dem  Ab  weifen  des  Objekts  als  in  nostra 
potestate  non  situm. 

[1022.]    Juli  (24).     G.  H.  v.  Schubert. 

In  Karlsbad  fand  ich  Goethe,  den  bewunderten  Mann, 
den  ich  in  Weimar  fo  oft  mit  Ehrfurcht  angefchaut,  dem 
ich  mich  aber  niemals  zu  nahen  gewagt  hatte.  Ich  hatte 
kurz  vorher  feine  Farbenlehre  mit  wahrhaftem  Jugend? 
liehen  Entzücken  gelefen,  hatte  aus  feiner  Morphologie, 
diefer  geijftvollen  Formenlehre  der  organifchen  Welt,  Licht? 
blicke  einer  tieferen  Naturanfchauung  in  mich  aufge? 
nommen,  deren  weitere  eigentümliche  Entwickelung  mir 
eine  Aufgabe  für  fpätere  Zeit  wurde.  Zunächft  von  diefen 
Dingen  fprach  ich  mit  dem  großen,  hellblickenden  Meifter, 
der  in  jedem  Gebiete,  das  fein  fchöpferifcher  Geift  betrat, 
ein  Neues  hervorrief  und  auffand.  Mit  unbefchreiblicher 
Nachficht  kam  er  meinen  unreifen  Gedanken  entgegen, 
wies  mich  mit  wenig  Worten  auf  die  rechte  Spur,  billigte 
an  dem,  was  ich  ihm  von  meinen  Arbeiten  mitteilte,  das, 
was  ihm  zu  billigen  fehlen,  belehrte  mich  über  beffere 
Form  und  Deutlichkeit,  und  fo  nahm  ich  aus  den  wenigen 
Stunden,  die  ich  mit  ihm  zubringen  durfte,  milde  Gaben 
für  viele  künftigen  Jahre  mit. 

[1023.]    Juli  30.     Riemer. 

Bei  Gelegenheit  einer  Adam  Müllerfchen  Vorlefung 
über  das  fpanifche  Drama:  Alles  Spinoziftifche  in  der 
poetifchen  Produktion  (oder:  Was  in  der  poetifchen  Pro? 
duktion  Spinozismus  ift)  wird  in  der  kritifchen  Reflexion 
Macchiavellismus. 

[1024.]     Auguft  1.     Riemer. 

Bei  Gelegenheit  eines  geiftreichen,  wiewohl  malitiöfen 
Urteils  über  Corinna  der  Frau  von  Stael  von  Reinhard: 
Goethe  ift  einer  von  den  gutwilligen  Lefern,  die  das  Brot 
des  Autors  mit  der  Butter  guten  Willens  überftreichen 
und  fo  die  Lücken  zukleben,  wenn  fie  nicht  gar  zu  groß 
find:R.  ißt  das  Brot  trocken,  und  da  kann  er  freilich 
fonderbare  Dinge  erzählen  von  dem,  wie  es  ihm  gefchmeckt. 


1026]  Karlsbad.     1807.  505 

[1025.]     Auguft  2.     Riemer. 

Fernow  hatte  das  Bouterweck'fche  Buch  über  die 
franzöfifche  Literatur  fchon  gefiern  den  1 .  Auguft  gebracht, 
worin  der  luftige  Vorfchlag  zu  einer  Tragödie :  daß  man 
einer  Dame  das  Herz  ihres  Geliebten  zu  effen  gibt.  Mittags 
nach  Tifche  über  Bouterwecks  Vorfchlag  uns  luftig  ge? 
macht  und  das  Trauerfpiel  fchematifiert.  Zu  einer  roman^ 
tifchen  Tragödie,  worin  man  das  Herz  eines  Liebhabers 
der  Geliebten  zu  effen  gibt,  entwarf  Goethe  das  Scenario. 

[1026,]     Auguft  2.     Riemer. 

Goethe:  Alle  Philofophie  über  die  Natur  bleibt  doch 
nur  Anthropomorphismus,  d.  h.  der  Menfch,  eins  mit  fich 
felbft,  teilt  allem,  was  er  nicht  ift,  diefe  Einheit  mit,  zieht 
es  in  die  feinige  herein,  macht  es  mit  fleh  felbft  eins. 

Um  die  Natur  zu  erkennen,  müßte  er  fie  felbft  fein. 
Was  er  von  der  Natur  ausfpricht,  das  ift  etwas,  d.  h. 
es  ift  etwas  Reales,  es  ift  ein  Wirkliches,  nämlich  in  be:= 
zug  auf  ihn.  Aber  was  er  ausfpricht,  das  ift  nicht  alles, 
es  ift  nicht  die  ganze  Natur,  er  fpricht  nicht  die  Totalität 
derfelben  aus. 

Wir  mögen  an  der  Natur  beobachten,  meffen,  rechnen, 
wägen  ufw.,  wie  wir  wollen,  es  ift  doch  nur  unfer  Maß 
und  Gewicht,  wie  der  Menfch  das  Maß  der  Dinge  ift. 
Das  Maß  könnte  größer  oder  kleiner  fein,  es  ließe  (ich 
mehr  oder  weniger  damit  abmeffen,  aber  das  Stück,  das 
Gewebe,  bleibt  nach  wie  vor,  was  es  ift,  und  nichts 
weiter  von  ihm  als  feine  Ausdehnung  in  bezug  auf  den 
Menfchen  ift  durch  jene  Operation  ausgefprochen.  Mit 
Duodezimals:  oder  Dezimalmaß  wird  nichts  von  der  fon^ 
ftigen  anderweitigen  Natur  des  Dinges  ausgefprochen  und 
verraten. 

Dies  zur  Verftändigung  und  Vereinigung  mit  denen, 
welche  noch  von  Dingen  an  fich  fprechen.  Ob  fie  gleich 
von  den  Dingen  an  fich  nichts  fagen  können,  eben  weil 
es  Dinge  an  fich,  das  heißt  außer  Bezug  auf  uns  und 
wir  auf  fie  find,  und  fie  alles,  was  wir  von  den  Dingen 
fagen,  für  unfere  Vorftellungsart  halten  (wobei  nur  zu 
bemerken  ift,  daß  es  nicht  bloße  Vorftellungsart  fein  kann, 
fondern  das  Ding  in  unferer  Vorftellungsart,  von  ihr  be^: 
kleidet),  fo  leuchtet  doch  daraus  foviel  ein,  daß  fie  mit 
uns  darin  einig  find,  daß,  was  der  Menfch  von  den  Dingen 
I 


506  Riemer. [1027 

ausfagt,  nicht  ihre  ganze  Natur  erfchöpft,  daß  fie  diefes 
Ausgefagte  nicht  nur  allein,  einzig,  fondern  noch  viel 
mehr  und  anderes  find.  Und  das  ift  doch  wahr;  denn 
man  entdeckt  täglich  mehr  Relationen  der  Dinge  zu  uns, 
empfindet  ihnen  noch  immer  etwas  ab.  Das  heißt,  die  Dinge 
find  unendlich.  Das  wiflen  wir  ja.  Mit  einem  Worte: 
der  Menfch  fpricht  das  Objekt  nicht  ganz  aus.  Aber 
was  er  davon  ausfpricht,  das  ifi:  ein  reales,  wäre  es  auch 
nur  feine  Idiosynkrasie,  das  heißt  der  Bezug,  den  es  auf 
ihn  allein  hat.  Wäre  das  nicht,  wer  follte  den  Bezug 
ausfprechen?  Der  Menfch  ifi:  in  dem  Augenblicke,  als 
er  das  Objekt  ausfpricht,  unter  und  über  ihm,  Menfch 
und  Gott  in  einer  Natur  vermittelt.  Wir  follten  nicht 
von  Dingen  an  fich  reden,  fondern  von  dem  Einen  an 
fich.  Dinge  find  nur  nach  menfchlicher  Anficht,  die 
ein  Verfchiedenes  und  Mehreres  fetzt.  Es  ift  alles  nur  Eins ; 
aber  von  diefem  Einen  an  fich  zu  reden,  wer  vermag  es? 
Dinge  find  ja  felbfi:  nur  Verfchiedenheiten,  durch 
den  Menfchen  gefetzt  und  gemacht;  und  die  Verfchieden^ 
heiten,  die  er  fetzt  und  macht,  wird  er  ja  wohl  auch  als 
folche  Verfchiedenheiten,  nämlich  als  das,  wofür  er  fie 
erkennt,  als  verfchieden  ausfprechen  können! 

[1027.]     Auguft  2.     Riemer. 

Über  Tifch:  Betrachtungen  über  die  Natur,  welche, 
immer   diefelbe,    zu   verfchiedenen   Sinnen   anders    rede. 

G. :  Die  Farbe  ift  fürs  Auge,  aber  fie  ifi:  nicht  bloß 
fürs  Auge.  Das  Blaue  z.  B.  ifi:  etwas,  kein  bloßer  Name, 
es  ift  ein  Chemifches,  es  beruht  auf  der  Natur  des  Körpers. 
Daher  die  Farben  auch  zu  fühlen  fein  muffen  ufw. 

[1028.]     Auguft  3.     Riemer. 

Goethe  bemerkte  bei  dtr  Adam  Müllerfchen  Vorlefung 
über  die  fpanifche  Poefie  und  feinem  Lobe  von  Schlegels 
Überfetzung  des  Calderon:  Sie  fei  denn  doch  nur  ein 
ausgefi:opfter  Fafan  gegen  einen  wirklichen,  aber  ein  gut 
ausgeftopfter. 

[1029.]     Auguft  8.     Riemer. 

Goethe:  Es  find  zwei  Formeln,  in  denen  fich  die 
fämtliche  Oppofition  gegen  Napoleon  befaffen  und  aus^ 
fprechen  läßt,  nämlich  Afterredung  (aus  Befferwiffenwollen) 
und  Hypochondrie. 


1033]  Karlsbad.     1807. 507 

[1030.]     Auguft  8.     Riemer. 

G. :  Wenn  ein  Weib  einmal  vom  rechten  Wege  ab  ift, 
dann  geht  es  auch  blind  und  rückfichtslos  auf  dem  böfen 
fort;  und  der  Mann  ift  nichts  dagegen,  wenn  er  auf 
böfen  Wegen  wandelt.  Bei  ihr  aber  wirkt  dann  die 
bloße  Natur. 

[1031.]     Auguft.     Riemer. 

Goethe:  Die  Phänomene,  wenn  man  fie  auch  gut 
apercepiert  hat,  werden  immer  wieder  dadurch  entfiellt 
und  zugrunde  gerichtet,  daß  man  fie  aus  der  jedesmaligen 
Philofophie  zu  erklären  und  diefer  zu  fubfummieren  fucht ; 
fo  wie  umgekehrt  die  herrfchende  Philofophie  fich  wieder 
folche  phyfifche  Vorfiellungsarten  aneignet,  die  in  ihren 
Kram  dienen,  z.  B.  die  Naturphilofophie  die  Newtonfche 
Lehre,  damit  fie  auch  hier  alles  aus  dem  Lichte  ableiten 
können. 

[1032.]     Riemer. 

Goethe:  Der  Mann  foll  gehorchen,  das  Weib  foll 
dienen.  Beide  ftreben  nach  der  Herrfchaft.  Jener  er^ 
reicht  fie  durch  Gehorchen,  diefe  durch  Dienen.  Ge? 
horchen  ift  dicto  audientem  esse;  dienen  heißt  zuvor^ 
kommen.  Jedes  Gefchlecht  verlangt  von  dem  andern, 
was  es  felbft  leiftet,  und  erfreut  fich  dann  erft:  der  Mann, 
wenn  ihm  das  Weib  gehorcht  (was  er  felbft  tut  und 
tun  muß);  das  Weib,  wenn  ihr  der  Mann  dient,  zuvor^ 
kommt,  aufmerkfam,  galant  und  wie  es  heißen  mag  ift. 
So  taufchen  fie  in  der  Liebe  ihre  Rollen  um;  der  Mann 
dient,  um  zu  herrfchen,  das  Weib  gehorcht,  um  zu 
herrfchen. 

[1033.]     Auguft  13.     Riemer. 

Goethe:  Die  femmes  auteurs  (und  wohl  überhaupt) 
faffen  die  Männer  nur  unter  der  Form  des  Liebhabers 
auf  und  ftellen  fie  dar;  daher  alle  Helden  in  weiblichen 
Schriften  die  Gartenmannsfigur  machen.  —  Goethe  äußerte : 
Koketterie  ift  Egoismus  in  der  Form  der  Schönheit.  Die 
Weiber  find  rechte  Egoiften,  indem  man  nur  in  ihr 
Intereffe  fällt,  fofern  fie  uns  lieben  oder  wir  ihre  Lieb? 
haber  machen,  oder  fie  uns  zu  Liebhabern  wünfchen. 
Eine  ruhige,  freie,  abfichtslofe  Teilnahme  und  Beurteilung 
fällt  ganz  außer  ihrer  Fähigkeit.  Sie  fehen  alles  nicht 
I 


508  Riemer.  [1034 

etwa  nur  aus  ihrem  Standpunkt,  fondern  in  perfönlichem 
Bezug  auf  fich.  Die  Weiber  beftreben  fich  innerlich  und 
äußerhch  anmutig,  Uebenswürdig  zu  erfcheinen,  zu  ge^s 
fallen  mit  einem  Worte,  und  wenn  wir  dasfelbe  tun,  fo 
nennen  fie  uns  eitel. 

[1034.]     Auguft  18.     Riemer. 

G. :  Der  Philifier  negiert  nicht  nur  andere  Zuftände, 
als  der  feinige  ift,  er  will  auch,  daß  alle  übrigen  Mens: 
fchen  auf  feine  Weife  exifiieren  follen.  Er  geht  zu  Fuß 
und  ift  fein  Leben  lang  zu  Fuß  gegangen.  Nun  fieht 
er  jemand  in  einem  Wagen  fahren.  Was  das  für  eine 
Narrheit  ift,  ruft  er  aus,  zu  fahren,  fich  dahin  fchleppen 
zu  laffen  von  Pferden!  Hat  der  Kerl  nicht  Beine!  wo^ 
zu  find  denn  die  Beine  anders  als  zum  Gehen?  Wenn 
wir  fahren  follten,  würde  uns  Gott  keine  Beine  gegeben 
haben!  —  Was  ift  es  denn  aber  auch  weiter!  Wenn  ich 
mich  auf  einen  Stuhl  fetze  und  Räder  unten  anbringe 
und  Pferde  vorfpanne,  fo  kann  ich  fahren  fo  gut  wie 
jener.     Das  ift  keine  Kunft! 

Man  wird  in  philifterhaften  Äußerungen  immer  finden, 
daß  der  Kerl  immer  zugleich  feinen  eignen  Zuftand  aus^^ 
fpricht,  indem  er  den  fremden  negiert,  und  daß  er  alfo 
den  feinigen  als  allgemein  fein  follend  verlangt.  Es  ift 
der  blindefte  Egoismus,  der  von  fich  felbft  nichts  weiß, 
und  nicht  weiß,  daß  der  der  andern  ebenfoviel  Recht 
hätte,  den  feinigen  auszufchließen,  als  der  feinige  hat,  den 
der  andern. 

[1035.]     Auguft  22.     F.  Schubart. 

Es  ift  mir  erzählt  worden,  wie  er  in  jenen  Jahren 
Kinder  durch  den  Tod  verloren  hat,  und  wie  ihn  der 
Vaterfchmerz  dabei  fo  überwältigte,  daß  er  fich  in  un^^ 
gemäßigten  Äußerungen  desfelben  an  die  Erde  warf.  Wie 
ihn  aber  auch  Familienfreude  gleichmäßig  ergriff,  davon 
hat  mir  der  ^^  Dichter  Stephan  Schütze  eine  Szene  ge? 
fchildert.  ^^ 

Bei  dem  jährlichen  Aufenthalte  Goethes  in  Karls? 
bad  pflegte  letzterer  während  der  Badezeit  dafelbft  auch 
mehrere  aus  Weimar  anwefende  Perfonen  an  fich  zu 
ziehen  und  in  feine  Gefellfchaft  aufzunehmen,  obgleich 
fie  nachher  bei  der  Rückkehr  in  die  fürftliche  Refidenz 
wieder  in  das  hier  beobachtete  Verhältnis  der  Erftarrung 


1056] Karlsbad.     18(>7. 509 

zurücktraten,  wie  es  auch  mit  '^  Schütze  gehalten  wurde. 
Einft,  an  einem  fchönen  Sommertage,  faß  der  große  Dichter 
dort  in  Karlsbad  im  Freien  mit  weimarifchen  Bekannten 
an  einem  Tilch  mit  Holzbänken  an  beiden  Seiten.  Stephan 
Schütze  faß  ihm  gegenüber  mit  mehreren  Perfonen  und 
auch  an  Goethes  Seite  faßen  noch  einige.  Da  fah  man, 
in  das  Gefpräch  vertieft,  Goethes  Sohn  von  einer  Anhöhe 
herabkommen.  Der  junge  Mann  ftudierte  zu  diefer  Zeit 
in  Heidelberg  und  hatte  eine  unternommene  Fußreife  auch 
nach  Karlsbad  geleitet,  um  den  Vater  dort  mit  feinem 
Befuche  zu  überrafchen.  Als  er  fleh  nun  der  Gefeilt 
fchaft  an  jenem  Tifch  fo  näherte,  daß  ihn  der  Vater  im 
Rücken  hatte  und  feine  Annäherung  nicht  bemerken 
konnte,  winkte  er  den  Gegenüberfitzenden  eifrig  zu,  fich 
ftill  zu  verhalten  und  den  Vater  nicht  auf  feine  Ankunft 
aufmerkfam  zu  machen.  So  fchlich  er  endlich  leife  bis 
an  den  Rücken  des  Vaters  heran  und  hielt  ihm  plötzlich 
nach  dem  gebräuchlichen  weimarifchen  Scherze  die  Hände 
vor  die  Augen.  Wie  nun  Goethe  fich  loswindet  und 
umkehrt  und  fo  höchfi:  unerwartet  den  Sohn  erblickt,  da 
ergreift  ihn  das  freudige  väterliche  Gefühl  auf  eine  Weife, 
die  in  den  anderen  gegenwärtigen  Perfonen  eine  tiefe 
Erfchütterung  hervorbrachte.  Die  maßlofen  Äußerungen 
der  Gefühlsüberwältigung,  mit  welcher  der  erhabene  Mann 
hier  erfchien,  waren  von  folcher  Stärke,  daß  die  Zeugen 
diefer  Szene  wirklich  dabei  erfchraken  und  in  Beforgnis 
für  feinen  Geifi:  die  Beruhigung  herbeiwünfchten. 

[1036.]     Auguft  28.     Mit  Riemer. 

Goethe:  Der  böfe  Wille,  der  den  Ruf  eines  be^^ 
deutenden  Mannes  gern  vernichten  möchte,  bringt  fehr 
oft  das  Entgegengefetzte  hervor.  Er  macht  die  Welt  auf:* 
merkfam  auf  eine  Perfönlichkeit;  und  da  die  Welt,  wo 
nicht  gerecht,  doch  gleichgültig  ifi:,  fo  läßt  fie  fich's  ge^ 
fallen  nach  und  nach  die  guten  Eigenfchaften  desjenigen 
gewahr  zu  werden,  den  man  ihr  auf  das  fchlimmfte  zu 
zeigen  Lufi:  hatte.  Ja,  es  ift  fogar  im  Publikum  ein  Geifi:  des 
Widerfpruchs,  der  fich  dem  Tadel  wie  dem  Lobe  entgegen:; 
fetzt,  und  im  ganzen  braucht  man  nur  nach  Möglichkeit  zu 
fein,  um  gelegentlich  zu  feinem  Vorteil  zu  erfcheinen;  woj: 
bei  es  dann  hauptfächlich  darauf  ankommt,  daß  die  Augen«! 
blicke  nicht  allzu  kritifch  werden  und  der  böfe  Wille  nicht 
die  Oberhand  habe  zur  Zeit,  wo  er  vernichten  kann. 


510 Riemer. [1057 

[1037.]     September  3.     Riemer. 

Gefpräch  über  Einrichtungen  des  Lebens  und  Ver? 
fahrens  bei  jetzigen  politifchen  Umftänden,  was  ein  junger 
Menfch  zu  tun  habe.  Es  ift  weiter  nichts,  als  das  ge^; 
fellfchaftliche  Betragen,  ausgedehnt  auf  eine  größere  Ge^ 
fellfchaft,  auf  Franzofen  ufw. 

[1038.]     September  12.     A.  Genaft. 

Als  wir  vom  Leipziger  Gefamtgaflfpiel  nach  Weimar 
zurückgekehrt  waren,  ging  ich  zu  Goethe,  um  ihm  über 
alle  Vorkommniffe  Rapport  abzuftatten.  Er  empfing  mich 
mit  den  Worten:  Nun,  Ihr  habt  Euch  ja  recht  wacker 
gehalten,  und  unfere  Gefellfchaft  hat,  wie  ich  von  allen 
Seiten  höre,  Ehre  eingelegt;  befonders  hat  Mahlmann  ge? 
wichtige  Worte  über  unfer  Streben  gefprochen.  Der  Mann 
hat  vollkommen  recht:  Virtuofität  muß  von  der  dramas: 
tifchen  Kunfi  ferngehalten  werden,  keine  einzelne  Stimme 
darf  fich  geltend  machen,  Harmonie  muß  das  Ganze  be^ 
herrfchen,  wenn  man  das  Höchfte  erreichen  will.  Darum 
laßt  uns  in  unferem  Streben  fo  fortfahren;  denn  manches 
findet  fich  noch,  was,  beffer  ins  Auge  gefaßt,  zu  größerer 
Geltung  gebracht  werden  kann.  An  Ausdauer  von 
meiner  Seite,  gutem  Willen  und  Fleiß  von  feiten  des  Per^ 
fonals  fehlt  es  nicht,  und  fo  ift  mit  der  Zeit  das  Befte 
zu  erwarten. 

[1039.]     September  26.     Riemer. 

Vernunftkultur  hätten  am  Ende  einzig  nur  die  From:: 
men.  Bei  den  andern  (Jacobi  ufw.)  gewinnt  zuletzt  der 
Verftand  doch  die  Überhand,  daß  man  das  Höchfte  zu 
irdifchen  Zwecken  benutzt.  So  eine  finnlich  verftändige 
Kultur,  wie  z.  E.  Wegwoods,  fei  auch  fchätzbar,  und 
fchätzbarer  als  diefe.  Es  feien  zu  allen  Zeiten  nur  die 
Individuen,  welche  für  die  Wiffenfchaft  gewirkt.  Nicht 
das  Zeitalter.  Das  Zeitalter  war's,  das  den  Sokrates  durch 
Gift  hinrichtete,  das  Zeitalter,  das  Huß  verbrannt;  die 
Zeitalter  find  immer  fich  gleich  geblieben. 

[1040.]     Oktober  1.     Riemer. 

Mit  Goethe  im  Garten,  über  Motive  und  über  Ge^s 
fchichte  der  Philofophie:  Die  Wiffenfchaften  bilden  fich 
auch  aus  und  im  Gegenfatze.    Das  Zeitalter  der  Sophifien 


1044] Weimar.     1807. 511 

forderte  den  natürlichen  Menfchenverftand  und  das  recht? 
liehe  Gefühl  des  Sokrates.  Das  Zeitalter  der  Scholaftiker 
einerfeits  das  Sittliche  des  Petrarca  und  in  der  Phyfik  den 
Forfchungsgeift  des  Roger  Baco  ufw. 

[1041.]     Oktober  1.     Riemer. 

Goethe:  Die  norddeutfchen  Poefien,  infonderheit  die 
moralifchen  Lieder,  kommen  mir  vor  wie  die  reformierten 
Kirchen,  die  auch  ohne  Bilder  find. 

[1042.]     Oktober  Mitte.     L.  Spohr. 

In  Weimar,  wohin  wir*  durch  die  Herzogin  von 
Gotha  empfohlen  waren,  fpielten  wir  mit  großem  Beifalle 
bei  Hofe  und  wurden  von  der  Erbgroßherzogin,  der  Groß:; 
fürftin  Maria,  reich  befchenkt.  Unter  den  Zuhörern  im 
Hof  konzert  befanden  fleh  auch  die  beiden  Dichter:;Heroen 
Goethe  und  Wieland.  Letzterer  fehlen  von  den  Vor*: 
trägen  des  Künftlerpaares  ganz  hingeriffen  zu  fein  und 
äußerte  dies  in  feiner  lebhaft? freundlichen  Weife.  Auch 
Goethe  richtete  mit  vornehm^kalter  Miene  einige  lobende 
Worte  an  uns. 

[1043.]     Oktober  21.     Riemer. 

Goethe:  Die  Gefchichte  der  Wiffenfchaften  ift  eine 
große  Fuge,  in  der  die  Stimmen  der  Völker  nach  und 
nach  zum  Vorfchein  kommen. 

[1044.]     Oktober/ November.     Riemer. 

G. ;  Der  Menfch  ift  wie  eine  Republik  oder  viel? 
mehr  wie  ein  Kriegsheer.  Hand,  Fuß  und  alle  GUed? 
maßen  dienen  und  helfen  zu  dem  Zwecke,  den  fich  das 
Haupt  vorgefetzt  hat,  und  ermüden  nicht,  befeelt  von 
der  Vorfiellung  des  Zwecks;  darum  nennen  es  auch  die 
Alten  das  iiyeuovtxöv. 

Aber  das  rjyefiovcxov  muß  auch  die  Einficht  haben, 
und  den  Soldaten  die  gehörige  Erholung  laffen. 

An  den  Franzofen  fieht  man  recht  die  Zufammen? 
Wirkung  von  Geift  und  Leib,  die  ganze  Armee  ift  ein 
Menfch,  der  keine  Anftrengung,  keine  Ermattung  und 
nichts  fcheut. 


*  Spohr  mit  feiner  Frau  Dorette  geb.  Scheidler. 


512  Riemer.  [1045 

Das  Ganze  ift  ein  großer  Riefe,  dem  vielleicht  hie 
und  da  ein  Finger  oder  eine  Hand  verloren  geht,  oder 
ein  Bein  ufw.  abgefchoffen  wird,  das  er  wie  der  Fierabras 
erfetzt,  aber  den  Kopf  verliert  er  nie. 

[1045.]     November  10.     Charlotte  v.  Stein. 

Geftern  ^^  war  ich  bei  der  Herzogin.  Goethe  hat 
neue  Szenen  in  feinen  Faufi  gemacht  und  las  fie  vor;  fie 
werden  in  fechs  Wochen  ungefähr  gedruckt  erfcheinen. 
Es  ift  ein  fehr  genialifches  Stück,  und  mit  Wahrheit  fagt 
er  in  der  Vorrede,  daß  er  einen  vom  Himmel  bis  zur 
Hölle  führt.  ^ 

Ich  habe  zwei  Reden  von  ihm  bekommen  aus  der 
Münchener  Akademie  der  fchönen  Wiffenfchaften ,  eine 
von  Jacobi  und  eine  von  Schelling  gehalten.  Die  von 
Jacobi  hat  mich  fehr  belehrt,  die  von  Schelling,  welche 
Goethe  der  erfteren  vorzieht,  habe  ich  aber  gar  nicht  ver* 
ftanden,  doch  hat  er  mir's  vorausgefagt. 

[1046.]     November  11.     Riemer. 

Die  Dame  Bettina  Brentano  beklagte  fich  fchon  1807 
'^  an  einem  fchönen  Morgen  gegen  mich,  der  damals  in 
Goethes  Haus  lebend,  von  manchem  Augen?  und  Ohren? 
zeuge  war,  daß  Goethe  fo  wunderlich  und  fonderbar  fich 
gegen  fie  zeige,  das  heißt  in  feiner  Sprache:  nur  eben 
paffiv  verhielt.  ^^ 

Bettine  war  diesmal  mit  Schwefiern  und  Bruder  vom 
1.— 10.  November  in  Weimar  gewefen,  und  am  10.,  wo 
fie  jene  Klage  gegen  mich  führte,  wieder  abgereift.  Den 
folgenden  Tag  fuhr  Goethe  mit  mir  nach  Jena,  wo  wir 
bis  zum  18.  Dezember  inkl.  blieben,  und  erklärte  fich 
im  Gefpräch  mit  mir  über  Bettine  nicht  eben  als  leiden? 
fchaftlicher  Liebhaber,  fondern  nur  als  Bewunderer  ihres 
geiftreichen  aber,  auch  barocken  Wefens. 

[1047.]     November  11.     Riemer. 

Goethe  trug  mir  eines  Morgens,  den  11.  November 
1807  auf  der  Reife  nach  Jena,  die  ganze  Idee  und  Ten? 
denz  feines  Gedichts  Pandora  fo  umftändlich  und  aus? 
führlich  vor,  daß  es  mir  leid  tat,  fie  nicht  auf  der  Stelle 
niederfchreiben  zu  können. 


1051] Jena.     1807. 5^ 

[1048.]     November  Mitte.     K.  L.  v.  Knebel. 

Goethe  lebt  fo  ganz  ftill  weg  und  betreibt  feine  Gq^ 
Ichäfte.  Er  befucht  mich  zuweilen  und  wir  disputieren 
uns  auch  ein  wenig.  Bei  irgendeinem  Anfpruche  auf 
das  Betragen  der  Menfchen  gegen  uns  können  wir  fo 
leicht  auf  lieblofe  Meinungen  kommen.  Wer  oben  fieht, 
muß  fchlechterdings  nur  von  fich  fodern,  das  Übrige 
mag  und  wird  von  fich  felbft  kommen.  Schauen  wir  auf 
andre,  fo  find  wir  oft  falfch  gefällig  und  zuweilen  un:; 
zeitig  ftreng.  Wenn  Eltern  und  Fürften  Refpekt  und  Liebe 
fodern  müßten,  dann  ift  es  fchon  fchlimm.  Das  Menfchenss 
gefchlecht  ift  zuweilen  etwas  verkehrt;  aber  wo  ihm 
Wärme  und  Güte  herkommt,  da  fteckt  es  doch  bald  die 
Köpfe  hin.  Gerechtigkeit  gehört  aber  auch  zu  Wärme 
und  Güte;  denn  ungerechte  Güte  ift  Härte  gegen  den 
Gerechten  felbft.  Und  fo  geht  es  auch  dem  guten  Goethe, 
der  nicht  immer  mit  gleichgemeffenem  Maße  teilt. 

[1049.]     November  24.     Riemer. 

Goethes  Apercu  über  die  Alchymiften,  welche  die 
drei  Ideen:  Gott,  Tugend  und  Unfterblichkeit  in  der 
Empirie  darftellen  wollen,  durch  den  Stein  der  Weifen 
(als  die  prima  materia),  nämlich  vis^äs^vis  von 

Gott,  Gold, 

Tugend,  Gefundheit, 

Unfterblichkeit,  ewiges  Leben, 

als  die  Allmacht:   Sana  mens  in  corpore  sano. 

[1Q50.]     November  25.     Riemer. 

Goethe :  Was  die  Menfchen  bei  ihren  Unternehmungen 
nicht  in  Anfchlag  bringen  und  nicht  bringen  können,  und 
was  da,  wo  ihre  Größe  am  herrlichften  erfcheinen  foUte, 
am  auffallendften  waltet  —  der  Zufall  nachher  von  ihnen 
genannt,  —  das  ift  eben  Gott,  der  hier  unmittelbar  mit 
feiner  Allmacht  eintritt  und  (ich  durch  das  Geringfügigfte 
verherrlicht. 

[1051.]     November  26.     Riemer. 

Goethes  Vorfchlag  (wahrfcheinlich   fcherzhaft),    die 
Weiber  in   gewiffen  Fächern   des  Finanz;^   und  Kammer*^ 
wefens  zu  brauchen,  wurde  von  mir  verworfen. 
I  33 


514 K.  L.  V.  Knebel. [1052 

[1052.]  November  26.  K.  L.  v.  Knebel  an  feine  Schwefter  Henriette. 

Gefiern  abend  war  Goethe  mit  Riemern  hier,  und 
wir  waren  ganz  munter  und  luftig.  In  die  letzte  Stim^j 
mung  fetzten  uns  hauptfächlich  des  altdeutfchen  Fifch? 
arts  Poffen  nach  Rabelais,  den  wir  lafen.  ^^  Goethe 
denkt  noch  acht  bis  vierzehn  Tage  zu  bleiben. 

[1053.]     Dezember  6.     Riemer. 

Goethe:  So  wie  etwas  ausgefprochen  wird,  fogleich 
wird  ihm  auch  widerfprochen ,  wie  der  Ton  gleich  fein 
Echo  hat.' 

Seitdem  man  die  dunkeln  Empfindungen  und  Ah^ 
nungen  des  unendlichen  Zufammenhangs  der  Geifter^^  und 
Körperwelt  (Myftik)  allgemeiner  und  öffentlich  auszu^ 
fprechen  anfängt,  ift  keiner,  der  nicht  das  in  Worten  be^ 
ftritte,  was  er  in  Empfindung  und  Ahnung  gelebt  und 
geleiftet  hat. 

Die  fublimierten  Gefühle  der  Liebe  ausgefprochen, 
erregen  den  Widerfpruch  aller  nicht  fo  Gefinnten.  Das 
ift  Überfpannung,  krankhaftes  Wefen  —  heißt  es  da.  Als 
wenn  Überfpannung,  Krankheit  nicht  auch  ein  Zuftand 
der  Natur  wäre!  Die  fogenannte  Gefundheit  kann  nur 
im  Gleichgewicht  entgegengefetzter  Kräfte  beftehen,  wie 
das  Aufheben  derfelben  entfteht  und  befteht  nur  aus 
einem  Vorwalten  der  einen  über  die  andern;  fo  daß  der 
Zuftand  hyperfthenifch  und  afthenifch  heißen  würde,  wenn 
man  fthenifch  als  das  Harmonifche  (als  die  Indifferenz) 
fetzen  wollte. 

[1054.]     Dezember  7.     Riemer. 

Äußerte  Goethe:  Jean  Paul  ift  das  perfonifizierte 
Alpdrücken  der  Zeit. 

[1055.]     Dez.  An£     K.  L.  v.  Knebel  an  feine  Schwefter  Henriette. 

Goethe  lebt  hier  recht  wohl,  und  ich  fehe  ihn  faft 
täglich.  Zuweilen  bringt  er  die  Abende  bei  uns  zu,  und 
da  ift  dann  jetzt  der  poetifche  Luther  auch  zugegen.  Wir 
haben  Goethe  diefe  letzten  Male  befonders  geiftig  und 
mitteilend  gefunden,  und  es  fcheint,  als  wenn  er  es  in 
diefem  Kreife  mehr  noch  fei  als  anderwärts.  Es  ift  zu 
bewundern,  wie  tief  er  den  Grund  fo  verfchiedener  Dinge 
erforfcht   hat.     Oft   befragt   er   mich   nach   Deinem    und 


1058] Jena.     1807. 515 

Prinzeßchens  Wohlfein,  und  da  nehme  ich  mir  die  Freiheit, 
von  beiden  einen  Gruß  auszurichten. 

[1056.]     Dezember  erfte  Hälfte.     Charlotte  v.  Stein. 

Beim  Goethe  ift  Zacharias  Werner  beliebt;  er  hatte 
zuerft  in  Jena  feine  Bekanntfchaft  gemacht.  Sie  waren 
einmal  zufammen  beim  Knebel;  die  Frau  fchenkte  Tee  ein, 
der  Kleine  fpielte  mit  Steinen,  und  Werner  war  in  höchfter 
Deklamation.  Auf  einmal  fagt  der  Bube:  Der  Menfch 
ift  ja  verrückt!  Knebel  fährt  auf:  Halts  Maul,  Bube! 
Die  Mutter  wurde  verlegen.  Goethe  wollte  fich  totlachen. 
Laßt  ihn  gehen!  fagte  er,  der  Junge  hat  eine  halbe  Welt 
in  fich. 

1057.]     Dezember  8./ 14.     K.  L.  v.  Knebel. 

Goethe  hat  mir  kürzlich  einen  einfamen  Abend  ge? 
fchenkt,  wobei  er  mir  ein  neues  Gedicht  von  ihm,  das 
er  wahrfcheinlich  erft  hier  angefangen,  Pandorens  Wieder^ 
kunft,  vorgelefen  hat.  Ich  kann  Dir  weiter  nichts  davon 
fagen,  als  daß  es  herrlich  gedacht  und  ausgeführt  ift. 
Die  Perfonen  find  gewiffermaßen  alle  neu  und  mit  großer 
Lieblichkeit  entworfen.  Vorzüglich  gefällt  mir  die  Idee 
von  Pandorens  Büchfe  oder  Urne,  die  nach  der  Fabel 
alle  menfchlichen  Übel  foll  enthalten  haben,  und  an  deren 
Grunde  die  Hoffnung  allein  noch  zurückblieb.  Goethe 
hat  diefe  Übel  in  liebliche  Traumgefi:alten  verwandelt, 
die  fich  bei  eröffneter  Urne  dürften  gleich  in  die  Höhe 
ziehen,  nach  deren  Bildern  die  Sterblichen  immer  rennen, 
aber  nur  durch  den  törichten  Verfolg  derfelben  Unglück:^ 
lieh  werden.  Die  Hoffnung  verfpricht  er  fich  noch  unter 
dem  griechifchen  Namen  Elpore  glücklich  auszumalen. 
Der  fogenannte  Gemahl  der  Pandora,  Epimetheus,  hat 
mir  auch  fehr  gefallen. 

[1058.]  Dezember  16.  K.  L.  v.  Knebel  an  feine  Schwefter  Henriette. 
Es  traf  fich  recht  glücklich,  daß  Goethe  geftern  eben 
bei  mir  war,  als  ich  Dein  kleines  Päckchen  erhielt,  und 
da  konnte  ich  Deiner  gewaltigen  Vorfurcht  wegen  künftig 
auszuleidender  Trauern  und  Schaufpiele  doch  einige  Lindes^ 
rung  zu  verfchaffen  fuchen.  Es  gelang  mir  auch  wirklich, 
und  Goethe  verficherte  mich,  daß  das  zum  nächften  Ge^s 
burtstag  der  Herzogin  des  Herrn  Werner,  Wanda,  gewiß 
keine  drei  Stunden  fpielen  könne.  Auch  wird  das  Vor:: 
I  33* 


516 K.  L.  V.  Knebel. [1059 

fpiel,  das  er  wie  es  fcheint  felbfi  dazu  machen  wollte, 
wegbleiben,  da  es  nicht  fertig  wird.  Überhaupt  fcheint 
Goethe  von  der  Befchwerlichkeit  der  Ausdauerung  bei 
folchen  feftlichen  Operationen  gänzlich  überzeugt  zu  fein, 
und  er  verficherte  mich,  daß  er  es  felbfi  bei  Schillers 
Stücken  niemals  über  den  vierten  Akt  habe  aushalten 
können. 

f^  Goethe,  der  morgen  wieder  nach  Weimar  zurück? 
kehrt,  hat  uns  gefiern  noch  äußerfi  niedliche,  hier  ver^^ 
fertigte  Sonette  vorgelefen. 

[1059.]     (Ende  d.  J.)    A.  Stahr. 

Bei  Rat  Kräuter,  Goethes  langjährigem  Sekretär,  fah 
ich  eine  Büfie  Goethes  von  Weißer^  die  zu  den  Selten? 
heiten  gehört.  Goethe  hat  dazu  einen  Abguß  über  feinem 
Gefichte  machen  laffen;  er  tat  es,  wie  uns  Herr  Kräuter 
erzählte,  um  einem  armen  jungen  Bildhauer  aufzuhelfen. 
Der  Gefichtsausdruck  ift  von  höchfier  Naturwahrheit,  die 
Formen  noch  nicht  fchlaff  hängend,  fondern  kräftig  und 
machtvoll.  Nur  der  Ernfi  der  Züge  hat  etwas,  das  finfier 
zu  nennen  ift.  Als  Kräuter  dies  einmal  als  das  Einzige 
bemerkte,  was  ihm  an  dem  fonfi  fo  vollkommen  ge? 
troffenen  Abbilde  nicht  ganz  recht  fei,  erwiderte  Goethe 
'^r  Meinen  Sie  denn,  daß  es  ein  Spaß  ift,  fich  das  naffe 
Zeug  ins  Geficht  fireichen  zu  laffen,  ohne  eine  Miene 
zu  verziehen?  Da  ifi's  eine  Kunfi,  nicht  noch  viel  un? 
wirfcher  auszufehenl 

Nach  Riemer  lautete  der  Ausdruck: 

Glaubt  mir,  guter  Kräuter,  es  ifi  keine  Kleinigkeit, 
fich  folchen  naffen  Dreck  auf  das  Geficht  fchmieren  zu 
laffen. 

[1060.]     Riemer. 

Die  Achilleis  geriet  '^  ganz  ins  Stocken,  dergeftalt, 
daß  fie  erft  wieder  bei  der  Herausgabe  feiner  Schriften 
1806,  wobei  ich  ihm  an  Händen  ging,  gegen  mich  zur 
Sprache  kam;  wo  er  mir  feine  Abficht,  die  Achilleis  in 
einen  Roman  zu  verwandeln,  mitteilte  und  die  Motive 
befprach.  Als  er  noch  fpäter  das  Schema  derfelben  auf? 
gefunden  hatte,  brachte  ich  ihn  durch  meine  Bemerkung, 
daß  jede  Zeit  die  antiken  Mythen  mit  ihrem  Geifte  be? 
handele,  ja  behandeln  muffe,  indem  jene  Anfänge  ja  nur 


1062]  Weimar.    1808.  517 

die  Kotyledonen  der  Sache  feien  und  die  Alten  ja  felbft 
ihre  Sagen  und  Fabeln  weiter  ausgebildet  hätten,  auf  die 
Eröffnung  über  die  Idee  des  Ganzen,  die  er  fo  ausj^ 
drückte:  Achill  weiß,  daß  er  fterben  muß,  verliebt  fich 
aber  in  die  Polyxena  und  vergißt  fein  Schickfal  rein  dar? 
über,  nach  der  Tollheit  feiner  Natur. 


1808. 

[1061.]     Januar.     Riemer. 

Durch  das  jetzt  in  Deutfchland  allgemein  verbreitete 
Intereffe  an  Kunft  und  Poefie  wird  weder  für  diefe  beiden, 
noch  für  die  Erfcheinung  eines  originalen  und  erften  und 
einzigen  Meifterwerks  etwas  gewonnen.  Der  Kunftgenius 
produziert  zu  allen  Zeiten,  in  mehr  oder  minder  ge? 
fchmeidigem  Stoff,  wie  die  Vorwelt  Homer,  Aefchylos, 
Sophokles,  Dante,  Arioft,  Calderon  und  Shakefpeare  gt^ 
fehen  hat  (die  Mitwelt  Goethe  und  Schiller);  es  ift  nur 
dies  der  Unterfchied,  daß  jetzt  auch  die  Mittelmäßigkeit 
und  die  fekondären  Figuren  dran  kommen  und  alle  untern 
Kunfieigenfchaften ,  die  zur  Technik  gehören.  Es  wird 
nun  auch  im  Tale  licht,  ftatt  daß  fonft  nur  die  hohen 
Berggipfel  Sonne  trugen. 

So  ift  es  auch  mit  andern  Stimmungen  des  Geiftes, 
mit  der  religiöfen,  amouröfen,  bellikofen  und  andern.  In 
einzelnen  Individuen  find  fie  zu  allen  Zeiten  gewefen 
und  noch.  Aber  allgemein  verbreitet  nur  zu  gewiffen 
Zeitaltern,  und  immer  find  fie  der  Kometenfchwanz  irgend? 
eines  in  diefen  ausgezeichneten  Mannes  oder  mehrerer, 
in  denen,  wie  an  den  Spitzen  der  Berge,  zuerft  diefe 
Morgenröte  fchimmerte.  Jede  folche  Stimmung  lebt  einen 
Tag,  hat  ihren  Morgen,  Mittag,  Nachmittag  und  Abend. 
So  ift's  mit  der  Kunft;  fo  wird  es  auch  mit  der  Poefie 
werden,  die  jetzt  im  Nachmittag  ift.  Oder  wie  Goethe 
fonft  zu  fagen  liebte:  Es  ift  wie  eine  Krankheit,  durch 
die  man  hindurch  muß. 

[1062.]     Januar  8.     Riemer. 

Es  gibt  —  äußerte  Goethe  —  im  Menfchen  auch  ein 
Dienenwollendes;  daher  die  Chevallerie  der  Franzofen, 
Servage. 

I 


518  Riemer.  [1065 

[1063.]     Februar  8.     Riemer. 

Als  man  Goethe  einen  göttlichen  Mann  nannte,  fagte 
er:  Ich  habe  den  Teufel  vom  Göttlichen]  Was  hilft's 
mir,  daß  man  mir  nachfagt:  Das  ift  ein  göttlicher  Mann, 
wenn  man  nur  nach  eigenem  Willen  tut  und  mich 
hintergeht.  Göttlich  heißt  den  Leuten  nur  der,  der  fie 
gewähren  läßt,  wie  ein  jeder  Luft  hat.  Er  drückte  dies 
ein  andermal  fo  aus:  Man  hält  niemanden  für  einen  Gott, 
als  daß  man  gegen  feine  Gefetze  handeln  will,  weil  man 
ihn  zu  betrügen  hofft;  weil  er  fich  was  gefallen  läßt; 
weil  er  entweder  von  feiner  Abfolutheit  foviel  nachläßt, 
daß  man  auch  abfolut  fein  kann. 

[1064.]     Januar  30.     K.  v.  Holtei. 

Goethe  ließ  ein  Wernerfches  Stück,  ich  dächte  Wanda 
war'  es  gewefen,  aufführen.  Am  Tage  der  Darftellung 
waren  der  Dichter  und  einige  nähere  Freunde,  unter  diefen 
die  Schopenhauer,  bei  Goethe  zum  Effen.  Auf  die  Frage, 
wo  man  fich  nach  dem  Theater  verfammeln  würde,  fuchte 
der  Vorfichtige,  der  allzu  großen  Andrang  fürchtete,  die 
Laft  von  fleh  ab  und  fie,  wie  er  es  oft  in  ähnlichen 
Fällen  tat,  der  armen  Schopenhauer  zuzuwenden,  die, 
gafifrei  und  gefällig,  dergleichen  Schickfale  über  fich  er^: 
gehen  laffen  mußte.  ^ 

Als  nun  nach  höchft  zweifelhaftem,  aber  doch  fcheins; 
barem  Erfolge  die  Gäfte  eintrafen,  nahmen  die  Frauen 
an  der  improvifierten  Tafel  Platz,  die  Herren  ftanden 
mit  ihren  Tellern  umher.  Für  Goethe  und  Werner  waren 
zwei  Stühle  in  der  Mitte  beftimmt;  zwifchen  ihnen  auf 
dem  Tifche  fiand  ein  wilder  Schweinskopf,  von  welchem 
die  Wirtin  fchon  des  Tages  zuvor  gegeffen;  in  ihrer 
Angft  hatte  die  Haushälterin  durch  einen  großen  Kranz 
von  Lorbeerblättern  die  Anfchnittswunde  zu  verdecken 
gefucht.  Goethe  erhob ,  diefen  Schmuck  erblickend, 
mächtig  feine  Stimme  und  rief  dem,  bekanntlich  fehr 
zynischen  und  nicht  immer  fauber  gewafchenen  Werner 
zu:  Zwei  gekrönte  Häupter  an  einer  Tafel?  Das  geht 
nicht!  Und  er  nahm  dem  wilden  Schweinskopf  feinen 
Kranz  und  fetzte  ihn  dem  Dichter  der  Wanda  auf  den  Kopf. 

[1065.]     Februar  1.     Riemer. 

Goethe  äußerte  hinfichtlich  Werners  und  feiner  Rüh^s 
merei : 


1069] Weimar.    1808. 519 

Nur  die  ungebildete  Seite  an  uns  ift  es,  von  der 
her  wir  glücklich  lind.     Jeder  Menfch  hat  fo  eine. 

[1066.]     (März  3.)      E.  Genaft. 

Der  zerbrochene  Krug  von  Kleift  folgte  am  2.  März.  ^^ 
Bei  der  Aufführung  diefes  Stücks  ereignete  fich  ein  Vor^ 
fall,  der  in  dem  kleinen  weimarifchen  Hoftheater  noch 
nie  dagewefen  und  als  etwas  Unerhörtes  bezeichnet  werden 
konnte:  ein  herzoglicher  Beamter  hatte  die  Frechheit,  das 
Stück  auszupfeifen.  Karl  Auguft,  der  feinen  Platz  f^ 
auf  dem  fogenannten  bürgerlichen  Balkon  hatte,  bog  fich 
über  die  Brüftung  heraus  und  rief:  Wer  ift  der  freche 
Menfch,  der  fich  unterfteht,  in  Gegenwart  meiner  Ge^ 
mahlin  zu  pfeifen?  Hufaren,  nehmt  den  Kerl  feft!  Dies 
gefchah  '^  und  er  wurde  drei  Tage  auf  die  Hauptwache 
gefetzt.  —  Den  andern  Tag  foll  Goethe  gegen  Riemer, 
der  es  mir  mitteilte,  bemerkt  haben:  Der  Menfch  hat 
gar  nicht  fo  unrecht  gehabt;  ich  wäre  auch  dabei  ge:; 
wefen,  wenn  es  der  Anftand  und  meine  Stellung  erlaubt 
hätten.  Des  Anftands  wegen  hätte  er  eben  warten  foUen, 
bis  er  außerhalb  des  Zufchauerraumes  war. 

[1067.]     März  9.     Riemer. 

Nach  Tifche  die  Steindrücke  der  Albrecht  Dürerfchen 
Federzeichnungen  befehen.  Goethe  fagte  fchon  neulich, 
daß  er  fich  ärgern  würde,  wenn  er  gefiorben  wäre,  ohne 
fie  zu  fehen. 

[1068.]     März  10.     Riemer. 

Mittags  Dispute  über  Goethes  paradoxe  Maxime, 
alle  öffentlichen  Lehranftalten  in  Deutfchland  aufzuheben 
und  den  Lehrfubjekten  freizugeben,  Inftitute,  Penfions^ 
anftalten  u.  dgl.  auf  ihre  Koften  zu  errichten. 

[1069.]     (März.)    J.  Falk. 

Mit  kräftiger  Ironie  führte  übrigens  Goethe  einftmals 
Werner  bei  feinem  Aufenthalt  in  Weimar  (Winter  1807 
bis  1808)  ab.  Werner  meinte  ^^  ein  Grund,  warum  er 
nicht  (wieder)  heirate,  fei  auch  der,  weil  man  im  Anfang 
des  Eheftandes  fo  miferable  Suppen  zu  effen  bekäme,  daß 
dies  ein  Regime  fei,  was  jeder  junge  Ehemann  durch:: 
machen  muffe.  Goethe  erwiderte  ihm,  dies  fei  bloß  dann, 
I 


520 J.  Falk. [1070 

wenn  die  Ehen  kinderlos  wären,  fobald  fich  Kinder  ein:; 
fänden,  fo  würden  drei,  vier  Pfund  Fleifch  gekocht.  Für 
ein  Paar  Leute  koche  man  ein  halb  Pfund  Fleifch,  das 
könne  dann  freilich  nur  eine  magere  Suppe  geben.  Das 
befie  Mittel  zur  Amelioration  der  Suppe  fei  das,  recht 
viele  Kinder  zu  haben.  In  dem  Maße  wie  Kinder  auf 
Kinder  ankämen,  würde  auch  die  Suppe  beffer. 

[1070.]     März  31.     F.  v.  Müller. 

Goethe  teilnehmend  und  mitteilend,  befchrieb  Karls^ 
bad,  die  Auchfche  Windfahne,  und  kam  auf  die  großen 
Orkane  zu  fprechen,  deren  fehr  kleine  Breite  man  auf 
drei^  bis  vierhundert  Schritt  berechnet  habe  und  die  eine 
Spirallinie  im  Wirbel  bilde.  —  Von  Schröder  behauptet 
er,  daß  er  kein  wahrer  Künfiler  fei,  weil  er  foviel  Kunft^ 
fiücke  gemacht  und  in  höchft  tragifchen  Momenten  ver^ 
ruchter  Spaße  fähig  gewefen  fei:  Ohne  Gemüt  fei  keine 
wahre  Kunft  denkbar. 

i:i071.]     April  5.     Riemer. 

Mittags  allein  mit  ihm.  Über  Galvanismus,  Sideris^^ 
mus,  Wünfchelrute  ufw.     Goethe  bemerkte: 

Werner  verwechsle  die  dydnfj  mit  dem  SQcog. 
Er  äußerte  weiter: 

In  der  Kultur  der  Wiffenfchaften  haben  die  Bibel, 
Ariftoteles  und  Plato  hauptfächlich  gewirkt,  und  auf  diefe 
drei  Fundamente  kommt  man  immer  wieder  zurück.  Neu^ 
platoniker  fagt  man,  alfo  Rückkehr  auf  den  Plato. 

Scholaftiker,  und  daß  Kant  wieder  die  Scholaftik  bringe, 
alfo  Ariftoteles.  Jetzt  Rückkehr  zur  Bibel.  Man  kann 
aus  diefen  Elementen  nicht  heraus,  und  fo  ifi  es  lächere 
lieh,  wenn  die  Menfchen  fagen,  die  Scholaftik  kehre  wieder, 
Ariftoteles  oder  Plato. 

[1072.]     April  6.     Riemer. 

Mittags  Seebeck  zu  Tifche.  Über  Galvanismus  und 
modernen  Myfticismus  bemerkte  Seebeck,  daß  man  leicht 
glauben  könne:  der  Meffias  könne  aus  den  Tremellen, 
die  bei  Gewitterregen  zum  Vorfchein  kommen  als  eine 
Gallerte,  entftehen.  Goethe  faßte  es  auf  und  wollte  ein 
Gedicht  Maranatha,  oder  Der  Herr  kommt,  machen. 


1074] Weimar.    1808. 521 

Goethe  bemerkte  über  die  neueften  Äfthetiker,  die 
Schlegels,  Aft  ufw.,  daß  ihr  ganzes  Urteil  und  Abfprechen 
bloß  darauf  beruhe,  daß  ein  jeder  wie  im  Dominofpiel 
bloß  den  Stein  lobt,  an  den  er  feine  Zahl  anfchieben  kann. 

Er  äußerte  ferner: 

Engländer  haben  kein  äfthetifch  moralifches  Urteil, 
fprechen  von  einzelnen  Schönheiten.  Als  wenn  für  den 
Dichter  etwas  fchöner  wäre  als  das  andere!  Was  er  aus^ 
fpricht,  ift  infofern  etwas,  daß  er  es  ausfpricht.  Sie  meinen, 
daß  er  nur  etwas  fage,  wenn  er  gerade  ihr  Intereffe 
ausfpricht. 

[1073.]     April.     Riemer. 

Ohne  bettlägerig  zu  fein,  fühlt  Goethe  denn  doch 
alle  Tage,  gewöhlich  mittags  und  abends,  wie  man  feinem 
Geficht  und  fonftigen  Gebärden  abmerken  kann,  große 
Schmerzen.  Es  ift  auch  noch  eine  Art  von  Gicht,  die 
ihn  an  den  Schienenbeinen  fehr  inkommodiert.  ^  In  den 
übrigen  Stunden  ift  Goethe  fo  ziemlich.  Er  geht  auch 
ins  Theater;  aber  feine  Tätigkeit  ift  natürUch  nicht  groß, 
und  dies  macht  ihn  eigentlich  mehr  unzufrieden,  als  das 
Übel  an  fich. 

[1074.]     April  17.     J.  D.  Falk. 

Am  zweiten  Ofierfeiertage  1808  abends  war  ich  mit 
Goethe  in  einer  kleinen,  auserlefenen  Gefellfchaft  zu:^ 
fammen  gewefen. 

So  ift  es  ihm  eben  recht.  Auch  tat  er  feinem  Humor 
keinen  Zwang  an,  fondern  ließ  ihm  freien  Lauf,  befonders, 
als  wir  auf  Theater  und  die  neue  Literatur  zu  fprechen 
kamen,  die  er  mit  politifchen  Zufiänden  verglich  und 
feinen  Vergleich  mit  der  anmutigften  und  lebendigften 
Laune  durchführte.  Eben  hatten  wir  am  vergangenen 
Sonnabend  Die  Piccolomini  gefehen;  die  nächfie  Mittwoch 
follte  nach  einer  langen  Zwifchenpaufe  auch  der  Wallen^ 
ftein  darankommen. 

Es  ift,  fagte  Goethe,  mit  diefen  Stücken  wie  mit 
einem  ausgelegten  Weine.  Je  älter  fie  werden,  je  mehr 
Gefchmack  gewinnt  man  ihnen  ab.  Ich  nehme  mir  die 
Freiheit,  Schiller  für  einen  Dichter  und  fogar  für  einen 
großen  zu  halten,  wiewohl  die  neueften  Imperatoren  und 
Diktatoren  unferer  Literatur  verfichert  haben,  er  fei  keiner. 
I 


522  J.  D.  Falk.  [1074 

Auch  den  Wieland  wollen  fie  nicht  gelten  laffen.  Es 
fragt  fich  nur,  wer  dann  gelten  foU? 

Kürzlich  hat  eine  Gelehrtenzeitung  in  einer  von 
beiden  Städten,  ich  weiß  nicht  recht,  ob  in  Ingolftadt 
oder  in  Landshut,  Friedrich  Schlegel  als  den  erften  deut^ 
fchen  Dichter  und  Imperator  in  der  Gelehrtenrepublik 
förmlich  ausgerufen.  Gott  erhalte  Se.  Majeftät  auf  Ihrem 
neuen  Throne  und  fchenke  denenfelben  eine  lange  und 
glückliche  Regierung!  Bei  alledem  möchte  man  es  nicht 
bergen,  daß  das  Reich  dermalen  noch  von  fehr  rebellifchen 
Untertanen  umlagert  ift,  deren  wir  einige,  indem  er  einen 
Seitenblick  auf  mich  warf,  fogar  in  unferer  eigenen  Nähe 
haben. 

Übrigens  geht  es  in  der  deutfchen  Gelehrtenrepublik 
jetzt  völlig  fo  bunt  zu  wie  beim  Verfall  des  römifchen 
Reiches,  wo  zuletzt  jeder  herrfchen  wollte,  und  keiner 
mehr  wußte,  wer  eigentlich  Kaifer  war.  Die  großen 
Männer  leben  dermal  faft  fämtlich  im  Exil  und  jedes 
verwegene  Marketendergeficht  kann  Imperator  werden, 
fobald  es  nur  die  Gunft  der  Soldaten  und  der  Armee 
befitzt,  oder  fich  fonfi  eines  Einfluffes  zu  erfreuen  hat. 
Ein  paar  Kaifer  mehr  oder  weniger,  darauf  kommt  es  in 
folchen  Zeiten  gar  nicht  an.  Haben  doch  einmal  im 
römifchen  Reiche  dreißig  Kaifer  zugleich  regiert,  warum 
follten  wir  in  unfern  gelehrten  Staaten  der  Oberhäupter 
weniger  haben?  Wieland  und  Schiller  find  bereits  ihres 
Thrones  verluftig  erklärt.  Wie  lange  mir  mein  alter 
Imperatormantelnoch  auf  den  Schultern  fitzen  wird,  läßt 
fich  nicht  vorausbeftimmen ;  ich  weiß  es  felbft  nicht.  Doch 
bin  ich  entfchloffen ,  wenn  es  je  dahin  kommen  follte, 
der  Welt  zu  zeigen,  daß  Reich  und  Zepter  mir  nicht 
ans  Herz  gewachfen  find,  und  meine  Abfetzung  mit  Gq^ 
duld  zu  ertragen;  wie  denn  überhaupt  feinen  Gefchicken 
in  diefer  Welt  niemand  fo  leicht  entgehen  mag.  Ja,  wo^; 
von  fprachen  wir  doch  gleich?  Ha,  von  Imperatoren! 
Gut!  Novalis  war  noch  keiner,  aber  mit  der  Zeit  hätte 
er  auch  einer  werden  können.  Schade  nur,  daß  er  fo 
jung  gefiiorben  ift,  zumal,,  da  er  noch  außerdem  feiner 
Zeit  den  Gefallen  getan  und  katholifch  geworden  ift. 
Sind  ja  doch  fchon,  wie  die  Zeitungen  befagten,  Jung^ 
frauen  und  Studenten  rudelweife  zu  feinem  Grabe  ge? 
wallfahrtet  und  haben  ihm  mit  vollen  Händen  Blumen 
geftreut.      Das   nenn'  ich   einen   guten   Anfang,   und   es 


1074] Weimar.    1808. 523 

läßt  fich  davon  fchon  etwas  für  die  Folge  erwarten.  Da 
ich  nur  wenig  Zeitungen  lefe,  fo  erfuche  ich  meine  an? 
wefenden  Freunde,  wenn  etwas  weiter  von  diefer  Art, 
was  von  Wichtigkeit,  eine  Kanonifierung  oder  dergleichen 
vorfallen  foUte,  mich  davon  fogleich  in  Kenntnis  zu  fetzen. 
Ich  meinerfeits  bin  damit  zufrieden,  daß  man  bei  meinen 
Lebzeiten  alles  nur  erdenkUche  Böfe  von  mir  fagt;  nach 
meinem  Tode  aber  follen  fie  mich  fchon  in  Ruhe  laffen, 
weil  der  Stoff  fchon  früher  erfchöpft  ift,  fo  daß  ihnen 
wenig  oder  nichts  übrig  bleiben  wird.  Tieck  war  auch 
eine  Zeitlang  Imperator,  aber  es  währte  nicht  lange,  fo 
verlor  er  Zepter  und  Krone.  Man  fagt,  es  fei  etwas  zu 
Titusartiges  in  feiner  Natur,  er  fei  zu  gütig,  zu  milde 
gewefen,  das  Reich  aber  fodere  in  feinem  jetzigen  Zuj= 
fiande  Strenge,  ja,  man  möchte  wohl  fagen,  eine  faft  bar? 
barifche  Größe.  Nun  kamen  die  Schlegel  ans  Regiment; 
da  ging's  befferl  Auguft  Schlegel,  feines  Namens  der 
Erfte,  und  Friedrich  Schlegel  der  Zweite  —  die  beiden 
regierten  mit  dem  gehörigen  Nachdrucke.  Es  verging 
kein  Tag,  wo  nicht  irgend  jemand  ins  Exil  gefchickt,  oder 
ein  paar  Exekutionen  gehalten  wurden.  So  ift's  recht! 
Von  dergleichen  ift  das  Volk  feit  undenklichen  Zeiten  ein 
großer  Liebhaber  gewefen.  Vor  kurzem  hat  ein  junger  An? 
fänger  den  Friedrich  Schlegel  irgendwo  als  einen  deutfchen 
Herkules  aufgeführt,  der  mit  feiner  Keule  im  Reiche  herum? 
ginge  und  alles  totfchlüge,  was  ihm  irgend  in  den  Weg 
käme.  Dafür  hat  jener  mutige  Imperator  diefen  jungen 
Anfänger  feinerfeits  fogleich  in  den  Adelftand  erhoben 
und  ihn  ohne  weiteres  einen  fieroen  der  deutfchen 
Literatur  genannt.  Das  Diplom  ift  ausgefertigt;  Ihr  könnt 
Euch  darauf  verlaffen,  ich  habe  es  felber  gelefen.  Dota? 
tionen,  Domänen,  ganze  Fächer  in  Gelehrtenzeitungen, 
die  fie  ihren  Freunden  zum  Rezenfieren  verfchaffen,  find 
auch  nicht  feiten,  die  Feinde  aber  werden  oft  heimlich 
aus  dem  Wege  geräumt,  indem  man  ihre  Schriften  bei? 
feite  legt  und  fie  lieber  gar  nicht  anzeigt.  Da  wir  nun 
im  Deutfchen  ein  fehr  geduldiges  Publikum  haben,  das 
nichts  lieft,  als  was  zuvor  rezenfiert  ift,  fo  ift  diefe  Sache 
gar  fo  übel  nicht  ausgefonnen.  Das  Befte  noch  bei  der 
ganzen  Sache  ift  denn  aber  doch  immer  das  Ungefähr? 
liehe.  Z.  B.  es  legt  fich  einer  jetzt  abends  als  Imperator 
gefund  und  vergnügt  zu  Bette.  Des  andern  Morgens 
darauf  erwacht  er  und  fieht  mit  Erftaunen,  daß  die  Krone 
I 


524     J.  D.  Falk. [1074 

von  feinem  Haupte  hinweg  ift.  Ich  geb'  es  zu,  es  ift 
ein  fchlimm^r  Zufall,  aber  der  Kopf,  fofern  der  Imperator 
überhaupt  einen  hatte,  fitzt  doch  noch  immer  auf  der^ 
felben  Stelle,  und  das  ift,  meines  Erachtens,  barer  Gewinn. 
Wie  häßlich  dagegen  ift  es  von  den  alten  Imperatoren 
zu  lefen,  wenn  fie  dutzendweife  in  der  römifchen  Ge^ 
fchichte  erdroffelt  und  nachher  in  die  Tiber  geworfen 
werden.  Ich  meinerfeits  gedenke,  wofern  ich  auch  Reich 
und  Zepter  verlieren  follte,  hier  ruhig  an  der  Um  auf 
meinem  Bette  zu  fterben.  Von  unfern  Reichsangelegen? 
heiten  und  befonders  von  Imperatoren  weiter  zu  fprechen  : 
ein  andrer  junger  Dichter  in  Jena  [A.  Bode?]  ift  auch 
zu  früh  geftorben.  Imperator  konnte  der  zwar  nicht  werden, 
aber  Reichsverwefer,  Major  Domus  oder  fo  etwas,  das 
war'  ihm  nicht  entgangen.  Wo  nicht,  fo  ftand  ihm  noch 
immer  als  einem  der  erften  Heroen  in  der  deutfchen 
Literatur  ein  Platz  offen.  Eine  Pairskammer  zu  ftiften, 
wozu  Vermögen  gehört,  wäre  überhaupt  in  der  deutfchen 
Literatur  kein  verwerflicher  Gedanke.  Hätte  jener  nur 
ein  paar  Jahre  länger  in  Jena  gelebt,  fo  könnte  er  Pair 
des  Reiches  geworden  fein,  ehe  er  fich  umfah.  So  aber, 
wie  gefagt,  ftarb  er  zu  frühe.  Das  war  allerdings  übereilt. 
Man  foll  fich,  wie  es  der  rafche  Gang  unferer  neueften 
Literatur  fordert,  fo  fchnell  als  möglich  mit  Erde  bedecken. 
Das  ift  Grundfatz.  Mit  der  Herausgabe  von  einigen 
Sonetten  und  ein  paar  Almanachen  ift  die  Sache  noch 
keineswegs  getan.  Die  literarifchen  Freunde  des  jungen 
Mannes  haben  zwar  in  öffentlichen  Blättern  verfichert, 
feine  Sonetten  würden  auch  lange  nach  feinem  Tode  noch 
fortleben,  ich  habe  mich  aber  nachher  nicht  weiter  da? 
nach  erkundigt,  kann  daher  auch  nicht  fagen,  ob  es  in 
Erfüllung  gegangen  ift,  oder  wie  es  fich  überhaupt  mit 
diefer  Sache  verhält. 

Als  ich  noch  jung  war,  hab'  ich  mir  freilich  von 
verftändigen  Männern  fagen  laffen,  es  arbeite  oft  ein 
ganzes  Zeitalter  daran,  um  einen  einzigen  tüchtigen  großen 
Maler  oder  Dichter  hervorzubringen,  aber  das  ift  lange 
her.  Jetzt  geht  das  alles  viel  leichter  vonftatten.  Unfre 
jungen  Leute  wiffen  das  beffer  einzurichten  und  fpringen 
mit  ihrem  Zeitalter  um,  daß  es  eine  Luft  ift.  Sie  arbeiten 
fich  nicht  aus  dem  Zeitalter  heraus,  wie  es  eigentlich  fein 
follte,  fondern  fie  wollen  das  ganze  Zeitalter  in  fich  hin? 
einarbeiten,   und   wenn   ihnen   das   nicht   nach  Wunfche 


1076]  Weimar.    1808.  525 

glückt,  fo  werden  fie  über  die  Maßen  verdrießlich  und 
fchelten  die  Gemeinheit  des  Publikums,  dem  in  feiner 
gänzlichen  Unfchuld  eigentlich  alles  recht  ift.  Neulich 
befuchte  mich  ein  junger  Mann,  der  foeben  von  Heidel^ 
berg  zurückkehrte;  ich  konnte  ihn  kaum  über  neunzehn 
Jahre  fchätzen.  Diefer  verficherte  mich  im  vollen  Ernfte, 
er  habe  nunmehr  mit  fich  abgefchloffen,  und  da  er  wiffe, 
worauf  es  eigentlich  ankomme,  fo  wolle  er  künftighin  fo 
wenig  wie  möglich  lefen,  dagegen  aber  in  gefellfchaft:: 
liehen  Kreifen  feine  Weltanfichten  felbftändig  zu  ent^ 
wickeln  fuchen,  ohne  fich  durch  fremde  Sprachen,  Bücher 
und  Hefte  irgend  darin  hindern  zu  laffen.  Das  ift  ein 
prächtiger  Anfang!  Wenn  jeder  nur  erft  wieder  von  Null 
ausgeht,  da  muffen  die  Fortfehritte  in  kurzer  Zeit  äußere 
ordentlich  bedeutend  werden. 

[1075.]     April  17.     F.  J.  J.  Bertuch. 

Goethe  denkt  bald  nach  Karlsbad  zu  reifen.  Letzt;; 
hin  war  er  göttlich  bei  Mde.  Schopenhauer,  wo  er  über 
Schillers  Zyklus  Wallenftein  fprach,  welcher  heute  (21. 
April)  und  den  Sonnabend  gegeben  wird.  Freilich,  fagte 
er  unter  anderm,  verlautet  jetzt  von  dem  guten  Schiller, 
daß  er  kein  Dichter  fei  (diefes  predigt  Paffow  feinen 
Primanern,  und  ftand  zwei  Schritte  von  Goethe),  doch 
wir  haben  da  fo  unfere  eigene  Meinung  darüber.  Mit 
dreimal  kauftifcher  Lauge  fprach  er  fcherzend  über  die 
poetifche  Anarchie,  wo  der  neuefte  Dichter  zum  größten 
ausgerufen  werde  und  kam  auf  die  Landshuter  Erklärung 
(von  Aft?),  daß  Friedrich  Schlegel  zum  Herkules  unter 
den  Dichtern  proklamiert  fei,  und  jetzt,  anftatt  mit  dem 
Schlegel,  mit  der  Keule  herumwandle,  an  der  als  Exkresj: 
zenz  auch  ein  Äftchen  bemerkbar  fei.  Kurz,  Goethe 
dokumentierte  hier  fo  ganz  feine  hohe  Meifterfchaft  und 
ließ  einmal  hell  fehen,  wie  er  über  die  Alfanzereien  der 
Zeit  eigentlich  denkt. 

[1076.]     April  18.     Riemer. 

*  Bei  Gelegenheit  der  Rezenfion  feiner  Werke  in  den 
Heidelberger  Jahrbüchern  von  F.  Schlegel  fagte  G. ,  er 
fei  damit  zufrieden.  Der  Rezenfent  habe  fich  viel  Mühe 
gegeben  und  alles  bedacht  und  bemerkt.  Nur  muffe  er 
(G.)  felbft  am  heften  wiffen,  wo  die  Zäume  hingen.  Er 
verftehe  die  Rezenfion  recht  gut,  aber  gegen  feine  Lefer, 
l 


526 Riemer.  [1077 

d.  h.  die  Lefer  feiner  Werke,  habe  der  Rezenfent  einen 
kuriofen  Stand. 

Es  feien  ja  dies  alles  nur  Fetzen  und  Lappen  von 
feiner  Exiftenz;  da  einmal  ein  alter  Hut,  und  dort  ein 
paar  Schuhe,  und  dort  ein  Lappen  von  einem  Rock,  den 
er  einmal  getragen. 

Die  große  Kluft,  die  durch  die  Reife  nach  Italien 
gemacht  wird,  zwifchen  den  italienifchen  und  andern  Ge^: 
dichten,  könne  man  freilich  nicht  verlangen,  daß  fie  der 
Rezenfent  ausfüllen  folle. 


[1077.]     April  18.     Riemer. 

Äußerte  Goethe:  Schelme,  Halbfchelme  find  wie  die 
doppelfarbigen  Mäntel,  die  man  nach  Gefallen  umkehren 
kann,  um  immer  nach  einer  Seite  zu  erfcheinen. 

[1078.]     April  (20).     Charlotte  v.  Stein  an  ihren  Sohn  Fritz. 

Goethe  führte  mich  neulich  in  feinen  Garten  am 
Haus,  um  mir  etwas  Neues  zu  zeigen;  es  war  Deine  alte 
Hütte,  die  er  wieder  hatte  reparieren  laffen;  und  das  war 
das  erftemal  feit  fo  vielen  Jahren,  daß  er  von  feinem 
alten  Verhältnis  mit  Dir  etwas  erwähnt.  <^ 

Vor  einigen  Tagen  las  Goethe  aus  feiner  Fortfetzung 
von  Wilhelm  Meifter,  welche  Wilhelms  Wanderjahre  heißt, 
bei  mir  zwei  Gefchichten  vor.  Gräfin  Henckel,  ihre  Tochter, 
Mama  Seebach,  Henriette  Seebach,  die  Schillern,  Bofe 
waren  eben  bei  mir.  Er  war  gekommen,  um  mir  etwas 
Botanifches  zu  erklären,  welches  ein  befonderer  Auswuchs 
an  einem  Lackftock,  den  ich  befitze,  veranlaßte.  Er  hat 
dies  mit  einer  Deutfichkeit  getan,  daß  man  das  innere 
Leben  davon  ergreifen  konnte.  Die  Damen  hätten  ihm 
gern  die  Hände  geküßt. 

[1079.]     April.     B.  R.  Abeken. 

Ein  Befuch,  den  ich  Goethen  nach  meiner  Ankunft 
in  Weimar  machte,  wurde  freundlich  angenommen.  Ich 
fand  ihn  in  feinem  Hausgarten,  in  welchem  er  eine  Zeit:; 
lang  mit  mir  auf  und  ab  wandelte.  Dabei  nahm  ich 
wahr,  daß  er,  feiner  Weife  gemäß,  mich  fcharf  fixierte, 
wie  um  zu  fehen,  ob  vielleicht  etwas  an  mir  fei. 


1081]  Weimar.    1808.  527 

[1080.]     B.  R.  Abeken  an  H.  Voß. 

Auch  Goethe  habe  ich  gefehn.  Ich  befuchte  ihn 
auf  Dein  Wort  und  überbrachte  ihm  Deine  Empfehlung 
und  Beftellung.  Er  empfing  mich  in  feinem  Garten  und 
ging  eine  Weile  mit  mir  auf  und  ab.  Er  fprach  fehr 
freundfchaftlich  von  Dir  und  freute  fich,  daß  fein  Sohn 
Dich  fände. 

[1081.]     Mai  9.    J.  D.  Falk. 

Der  fchwer  beleidigte  Kaifer  Napoleon  verftattete  zwar 
dem  Herzoge  die  Rückkehr  in  feine  Staaten,  aber  nicht 
ohne  das  höchfte  Mißtrauen  in  ihn  zu  fetzen,  fo  daß  der 
edle,  offne  deutfche  Mann  von  diefem  Augenblicke  an  von 
allen  Seiten  mit  Horchern,  fogar  an  feiner  Tafel  umftellt 
war.  Da  mich  um  diefe  Zeit  meine  Gefchäfte  oftmals 
nach  Berlin  und  Erfurt  führten,  gaben  mir  die  dortigen 
höhern  Behörden  nicht  feiten  Bemerkungen  anzuhören, 
von  denen  ich  gewiß  war,  daß  man  fie  als  Refultate  der 
dort  gehaltenen  geheimen  Polizeiregifter  dem  Kaifer  vor* 
legte,  und  die  ich  eben  deshalb  dem  Herzoge  nicht  ver;: 
fchweigen  durfte.  Mit  wörtlicher  Treue,  wie  ich  fie  emp^s 
fangen  hatte,  fetzte  ich  fie  fchriftlich  auf,  um  fie  höhern 
Orts  zu  übergeben.  Bei  diefer  Gelegenheit  hat  Goethe 
eine  fo  fchöne  perfönliche  Anhänglichkeit  für  den  Herzog 
an  den  Tag  gelegt,  daß  ich  mir  ein  Gewiffen  daraus 
machen  würde,  dem  deutfchen  Publikum  dies  fchöne  Blatt 
aus  der  Lebensgefchichte  feines  großen  Dichters  vorzu^ 
enthalten.  Es  gefchah  um  diefe  Zeit  häufig  genug,  wenn 
ich  Goethe  befuchte,  daß  die  bedenklichen  Zeitumftände 
—  in  welche  ich  felbft  damals,  nicht  aber  zum  Unglück, 
fondern,  wofür  ich  Gott  herzlich  danke,  zum  Segen  des 
Landes,  das  ich  bewohnte,  handelnd  verflochten  war  — 
mit  männlicher  Umficht  von  uns  nach  allen  Seiten  durch:: 
gefprochen  wurden.  So  kam  denn  auch  diesmal,  als 
ich  Goethe  nach  meiner  Zurückkunft  von  Erfurt  in  feinem 
Garten  befuchte,  die  Rede  auf  die  Befchwerden  der  fran? 
zöfifchen  Regierung.  Ich  teilte  fie  ihm  Punkt  für  Punkt 
und  fo  mit,  wie  fie  auch  nach  diefem  der  Herzog  un# 
verändert  gelefen  hat.  Es  fei  bekannt,  hieß  es  unter 
anderm  in  diefer  Schrift,  daß  der  Herzog  von  Weimar 
dem  feindlichen  General  Blücher,  der  fich  zu  Hamburg 
mit  feinen  Offizieren  nach  der  Niederlage  von  Lübeck 
I 


528  J.  D.  Falk.  [1081 

in  der  größten  Verlegenheit  befunden,  4000  Taler  auf 
Wechfel  vorgefchoffen  habe.  Ebenfo  wiffe  jedermann, 
daß  ein  preußifcher  Offizier,  der  Hauptmann  v.  Ende,  ^^ 
als  Hofmarfchall  bei  der  Frau  Großfürftin  angeftellt  fei. 
Es  fei  nicht  zu  leugnen,  daß  die  Anftellung  fo  vieler 
preußifcher  Offiziere  fowohl  im  Militärs  als  Zivilfach, 
deren  Gefinnungen  bekanntlich  nicht  die  heften  feien,  für 
Frankreich  etwas  Beunruhigendes  mit  fich  führe.  Schwer;: 
lieh  werde  es  der  Kaifer  billigen  oder  jemals  zugeben, 
daß  man  mitten  im  Herzen  des  Rheinbundes  gleichfam 
eine  fiillfchweigende  Verfchwörung  wider  ihn  anlege.  Sos: 
gar  zum  Hofmeifter  feines  Sohnes,  des  Prinzen  Bernhard, 
habe  man  einen  ehemaligen  preußifchen  Offizier,  den 
Herrn  von  Rühle  »^  gewählt;  Herr  von  Müffling,  eben? 
falls  gedienter  Offizier  und  Sohn  des  preußifchen  Generals 
diefes  Namens,  ^^  fei  mit  großem  Gehalte  in  Weimar 
als  Präfident  eines  Landeskollegiums  angeftellt;  der  Herzog 
ftehe  mit  demfelben  in  einem  vertrauten  perfönlichen  Um? 
gange,  und  es  fei  natürlich,  daß  alle  folche  Verbindungen 
nur  dazu  dienten,  einen  ohnehin  fchlecht  genug  verheim? 
lichten  Groll  gegen  Frankreich  zu  nähren.  Es  fcheine, 
daß  man  gleichfam  alles  abfichtlich  hervorfuche,  um  den 
Zorn  des  Kaifers,  der  doch  manches  von  Weimar  zu  ver? 
geffen  habe,  aufs  neue  zu  reizen  und  herauszufordern. 
Unvorfichtig  wenigftens  feien  die  Schritte  des  Herzogs 
in  einem  hohen  Grade,  wenn  man  ihnen  auch  nicht  ge? 
radewegs  eine  böfe  Abficht  unterlegen  wolle.  So  habe 
derfelbe  auch  den  Herzog  von  Braunfchweig,  den  Tod? 
feind  Frankreichs,  nebft  Herrn  von  Müffling,  nach  dem 
Gefechte  von  Lübeck  zu  Braunfchweig  auf  feinem  Durch? 
marfch  befucht. 

Genug!  fiel  mir  Goethe,  als  ich  bis  dahin  gelefen 
hatte,  mit  flammendem  Gefichte  ins  Wort.  Was  wollen 
fie  denn,  diefe  Franzofen?  Sind  fie  Menfchen?  Warum 
verlangen  fie  geradeweg  das  Unmenfchliche?  Was  hat 
der  Herzog  getan,  was  nicht  lobens?  und  rühmenswert 
ift?  Seit  wannift  es  denn  ein  Verbrechen,  feinen  Freunden 
und  alten  Waffenkameraden  im  Unglück  treu  zu  bleiben? 
Ift  denn  eines  edlen  Mannes  Gedächtnis  fo  gar  nichts  in 
euren  Augen?  Warum  mutet  man  dem  Herzoge  zu,  die 
fchönften  Erinnerungen  feines  Lebens,  den  Siebenjährigen 
Krieg,  das  Andenken  an  Friedrich  den  Großen,  der  fein 
Oheim  war,  kurz  alles  Ruhmwürdige  des  uralten  deutfchen 


1081]  Weimar.     1808.  529 

Zuftandes,  woran  er  felbft  fo  tätig  Anteil  nahm,  und  wo^s 
für  er  noch  zuletzt  Krone  und  Zepter  aufs  Spiel  fetzte, 
den  neuen  Herren  zu  gefallen,  wie  ein  verrechnetes  Ex= 
empel  plötzlich  über  Nacht  mit  einem  naffen  Schwämme 
von  der  Tafel  feines  Gedächtniffes  hinwegzuftreichen? 
Steht  denn  euer  Kaifertum  von  gefiern  fchon  auf  fo  feften 
Füßen,  daß  ihr  keine,  gar  keine  Wechfel  des  menfch^ 
liehen  Schickfals  in  Zukunft  zu  befürchten  habt?  Von 
Natur  zu  gelaffener  Betrachtung  der  Dinge  aufgelegt, 
werde  ich  doch  grimmig,  fobald  ich  fehe,  daß  man  dem 
Menfchen  das  Unmögliche  abfordert.  Daß  der  Herzog 
verwundete,  ihres  Soldes  beraubte  preußifche  Offiziere 
unterftützt,  daß  er  dem  heldenmütigen  Blücher  nach  dem 
Gefecht  von  Lübeck  einen  Vorfchuß  von  4000  Talern 
machte,  das  wollt  ihr  eine  Verfchwörung  nennen?  Das 
gedenkt  ihr  ihm  übel  auszulegen?  Setzen  wir  den  Fall, 
daß  heute  oder  morgen  Unglück  bei  eurer  großen  Armee 
einträte:  was  würde  wohl  ein  General  oder  Feldmarfchall 
in  den  Augen  des  Kaifers  wert  fein,  der  gerade  fo  handelte, 
wie  unfer  Herzog  in  dem  vorliegenden  Falle  wirklich 
gehandelt  hat?  Ich  fage  euch,  der  Herzog  foll  fo  handeln, 
wie  er  handelt!  Er  muß  fo  handeln!  Er  täte  fehr  unrecht, 
wenn  er  je  anders  handelte!  Ja,  und  müßte  er  darüber 
Land  und  Leute,  Krone  und  Zepter  verlieren,  wie  fein 
Vorfahr,  der  unglückliche  Johann,  fo  foll  und  darf  er 
doch  um  keine  Hand  breit  von  diefer  edeln  Sinnesart 
und  dem,  was  ihm  Menfchen:;  und  Fürftenpflicht  in  folchen 
Fällen  vorfchreibt,  abweichen.  Unglück!  Was  ifi  Un^^ 
glück?  Das  ifi:  ein  Unglück,  wenn  fich  ein  Fürft  der:; 
gleichen  von  Fremden  in  feinem  eignen  Haufe  muß  ge;; 
fallen  laffen.  Und  wenn  es  auch  dahin  mit  ihm  käme, 
wohin  es  mit  jenem  Johann  einft  gekommen  ift,  daß  beides, 
fein  Fall  und  fein  Unglück,  gewiß  wäre,  fo  foll  uns  auch 
das  nicht  irre  machen,  fondern  mit  einem  Stecken  in  der 
Hand  wollen  wir  unfern  Herrn,  wie  jener  Lukas  Cranach 
den  feinigen,  ins  Elend  begleiten  und  treu  an  feiner  Seite 
aushalten.  Die  Kinder  und  Frauen,  wenn  fie  uns  in  den 
Dörfern  begegnen,  werden  weinend  die  Augen  auffchlagen 
und  zueinander  fprechen:  das  ift  der  alte  Goethe  und 
der  ehemalige  Herzog  von  Weimar,  den  der  franzöfifche 
Kaifer  feines  Thrones  entfetzt  hat,  weil  er  feinen  Freunden 
fo  treu  im  Unglück  war;  weil  er  den  Herzog  von  Braun;: 
fchweig,  feinen  Oheim,  auf  dem  Todbette  befuchte; 
I  34 


530 J.  D.  Falk. [1082 

weil  er  feine  alten  WafFenkameraden  und  Zeltbrüder  nicht 
wollte  verhungern  laffenl  —  Hier  rollten  ihm  die  Tränen 
ftromweife  von  beiden  Backen  herunter;  alsdann  fuhr  er 
nach  einer  Paufe,  und  fobald  er  wieder  einige  Faffung 
gefammelt,  fort:  Ich  will  ums  Brot  fingen!  Ich  will  ein 
Bänkelfänger  werden,  und  unfer  Unglück  in  Liedern  ver^ 
faffenl  Ich  will  in  alle  Dörfer  und  in  alle  Schulen  ziehen, 
wo  irgend  der  Name  Goethe  bekannt  ift;  die  Schande 
der  Deutfchen  will  ich  befingen,  und  die  Kinder  follen 
mein  Schandlied  auswendig  lernen,  bis  fie  Männer  werden, 
und  damit  meinen  Herrn  wieder  auf  den  Thron  herauf:^ 
und  euch  von  dem  euern  herunterfingen  1  Ja,  fpottet  nur 
des  Gefetzes,  ihr  werdet  doch  zuletzt  an  ihm  zufchanden 
werden!  Komm  an,  Franzos!  Hier  oder  nirgend  ift  der 
Ort  mit  dir  anzubinden!  Wenn  du  diefes  Gefühl  dem 
Deutfchen  nimmft  oder  es  mit  Füßen  trittft,  was  eins  ift, 
fo  wirft  du  diefem  Volke  bald  felbft  unter  die  Füße 
kommen!  Ihr  feht,  ich  zittre  an  Händen  und  Füßen. 
Ich  bin  lange  nicht  fo  bewegt  gewefen.  Gebt  mir  diefen 
Bericht!  Oder  nein,  nehmt  ihn  felbft!  Werft  ihn  ins 
Feuer!  Verbrennt  ihn!  Und  wenn  Ihr  ihn  verbrannt 
habt,  fammelt  die  Afche  und  werft  fie  ins  Waffer!  Laßt 
es  fieden,  brodeln  und  kochen!  Ich  felbft  will  Holz  dazu 
herbeitragen,  bis  alles  zerftiebt  ift,  bis  jeder,  auch  der 
kleinfte  Buchftabe,  jedes  Komma  und  jeder  Punkt  in 
Rauch  und  Dunft  davonfliegt,  fo  daß  auch  nicht  ein 
Stäubchen  davon  auf  deutfchem  Grund  und  Boden  übrig 
bleibt!  Und  fo  muffen  wir  es  auch  einft  mit  diefen 
übermütigen  Fremden  machen,  wenn  es  je  beffer  in  Deutfeh:« 
land  werden  foU. 

Ich  brauche  kein  Wort  zu  diefem  wahrhaft  mannst 
liehen  Gefpräche  hinzuzufetzen ,  das  ebenfo  ehrend  für 
Goethe,  als  für  den  Herzog  ift. 

Als  ich  Goethe  beim  Abfchied  umarmte,  ftanden 
auch  mir  die  Augen  voll  Tränen. 

[1082.]     Mai  14.     Riemer. 

Auf  mitunter  fehr  fchlechten  Wegen  nach  Franzensj^ 
bad.  Am  Brunnen  gewefen.  Schöne  Kobellfche  Land^ 
fchaft  mit  blauen  Bergen.    Befonders  Politica  befprochen. 

Europa  —  äußerte  Goethe  —  war  fonft  eine  der 
feltenften  Republiken,  die  jemals  exifiiert,  und  ging  da^^ 
durch  zugrunde,   daß  ein  Teil  das  fein  wollte,  was  das 


1086]  Karlsbad.     1808.  531 

Ganze  war;  nämlich  Frankreich  wollte  Republik  werden.  — 
Jetzt   nirgends  Schutz    und   Hilfe.     Omnia  in  propatulo. 

Sonft,  der  Menfch  auf  fich  allein  geftellt,  fuchte  er 
Hilfe  bei  anderen:  in  Burgen,  Schlöffern,  bei  Freunden. 
Jetzt,  in  der  öffentlichften  Kommunikation  hilflos,  und  nur 
durch  fein  Inneres  zu  tröfien  und  zu  helfen. 

Sonft  verfchloffen  nach  außen,  offen  nach  innen; 
jetzt  offen  nach  außen,  verfchloffen  nach  innen. 

[1083.]     Mai  17.     Riemer. 

Nach  Tifche  Metra  für  Goethe.  Abends  mit  ihm 
den  Chodekfchen  Weg.  Über  Pandora:  über  Systole 
und  Diastole  des  Weltgeiftes.  Jene  gibt  die  Spezifikation, 
diefe  das  Unendliche.  In  der  Natur  fei  das  Unmögliche, 
daß  nichts  nicht  werde:    das  Leben  fei  gleich  da. 

[1084.]     Juni  Ende.     Riemer  an  Johanna  Frommann. 

Goethe  befindet  fich  ununterbrochen  wohl  und  ifi 
fehr  tätig.  Die  Pandora  ift  bis  zur  Hälfte  dem  Prome:« 
theus  zugeführt.  ^  Dann  find  andere  poetifche  Arbeiten 
daran  gekommen,  die  zu  ihrer  Zeit  auch  an  das  Licht 
treten  werden,  zunächft  wenigftens  an  das  Kerzenlicht 
des  gefelligen  Teezimmers.  Allmählich  rücken  wir  in  die 
Profe  ein  und  da  ift  die  Farbenlehre  das  nächfte. 

[1085.]     Juni  14./Juli  17.     Pauline  Gotter. 

Gleich  in  den  erften  Tagen  lernten  wir  Goethe  kennen. 
'^  Er  war  fo  holdfelig  und  gütig,  und  befuchte  uns  oft, 
und  wir  haben  in  feiner  Gefellfchaft  die  reizendften  Land:= 
Partien  gemacht,  die  fein  Geift,  feine  Liebenswürdigkeit 
und  feine  gute  Laune  erfi  recht  würzte.  Der  Kreis  unfrer 
Bekannten  war  fehr  eng  gefchloffen:  außer  ihm,  feinem 
Freund  Riemer  und  Ziegefars,  wo  wir  uns  alle  Abende 
vereinigten,  haben  wir  fehr  wenig  Menfchen  gefprochen, 
'^  aber  wir  verlangten  auch  nach  niemand  anders.  Goethe 
hat  auch  einigemal  vorgelefen  und  uns  manches  mitge^; 
teilt,  was  noch  nicht  gedruckt  war.  Er  war  fo  gütig  und 
kam  mehrmals  früh,  mir  botanifche  Stunden  zu  geben, 
und  mehrmals  habe  ich  ganz  allein  weite  Spaziergänge 
mit  ihm  gemacht. 

[1086.]     Juli  28.     Frau  Baffenge  an  Ph.  O.  Runge. 

Ich  fchreibe  heute  nur  ein  paar  Zeilen,  um  den  Brief 
von  Goethe  zu  begleiten  und  Dir  von  diefem  lieben 
I  34* 


532 Frau  Paffenge.  [1087 

Manne  etwas  zu  erzählen.  Ich  habe  ihn  in  Karlsbad 
zwar  nicht  viel  gefehen,  denn  unglücklicherweife  ging  er 
ein  paar  Tage  nach  meiner  Ankunft  nach  Eger  ab.  Ich 
hatte  ihn  die  drei  erften  Tage  an  allen  Brunnen  gefucht, 
er  war  nirgends,  endlich  erfahre  ich,  daß  er  foeben  nach 
Eger  geht,  und  fchicke  ihm  Deinen  Brief;  ein  paar  Tage 
vor  meiner  Abreife  fchickt  er  mir  die  Antwort  und  den 
andern  Tag  war  er  fo  gütig,  mich  felbft  zu  befuchen. 
Wir  haben  viel  von  Dir  gefprochen,  und  er  fagte,  wie 
herzlich  es  ihn  erfreut  habe,  an  Dir  einen  in  fo  vielen 
Punkten  mit  ihm  gleichdenkenden  Mann  gefunden  zu 
haben.  Er  wünfchte  fehr,  fich  mit  Dir  über  verfchiedene 
Sachen  ausführlich  zu  befprechen;  durch  Briefe  fei  das 
eine  fehr  weitläufige  und  doch  nicht  genügende  Sache. 
Ob  es  denn  nicht  möglich  wäre,  daß  Du  auf  einige 
Wochen  nach  Weimar  kommen  könnteft,  im  Oktober 
oder  November? 

[1087.]     Auguft  2.     Riemer. 

Abends  Armenkonzert  von  Pixis  und  Holbein  ge^ 
geben,  der  deklamierte  und  fang,  Goethes  Hochzeitslied 
und  Schillers  Glocke.  Nicht  befonders.  Um  9  Uhr  nach 
Haufe  mit  Goethe.     Darüber  gefprochen. 

Hier  gibt  man,  fagt  Goethe,  Konzerte  und  Bälle, 
um  wohltätig  zu  fein,  und  ift  wohltätig,  um  mit  Ehren 
fingen  und  tanzen  zu  können.  Das  ift  die  Art  von  Bittere 
falz,  womit  die  moderne  Welt  ihre  Pflicht  und  Ver== 
gnügen  zugleich  abführt,  damit  ja  alles  recht  kurmäßig 
gefchehen  möge. 

[1088.]     Auguft  13.     Riemer. 

Goethe:  Es  geht  den  Leuten,  oder  uns,  mit  den  Wiffen* 
fchaften  wie  dem  Zadig  (von  Voltaire)  mit  dem  ver^ 
laufenen  Hund  und  Pferde,  das  jedermann  an  der  Bes^ 
fchreibung  erkennt,  aber  niemand  gefehen  haben  will. 

Ein  ähnlicher  Fall  ift,  daß  die  Leute  auch  von  diefer 
oder  jener  Sache  etwas  wollen  gehört  oder  gelefen  haben, 
aber  nicht  angeben  können  was  und  wo. 

[1089.]     (Auguft.)     Riemer. 

Goethe  äußerte  in  Karlsbad :  Das  Ideale  im  Menfchen, 
wenn  diefem   die  Objekte   genommen   oder   verkümmert 


1090] Karlsbad.     1808.  533 

werden,  zieht  fich  in  fich,  feinert  und  fteigert  fich,    daß 
es  fich  gleichfam  übertrumpft. 

Die  meiften  Menfchen  im  Norden  haben  viel  mehr 
Ideales  in  fich,  als  fie  brauchen  können,  als  fie  verarbeiten 
können;  daher  die  fonderbaren  Erfcheinungen  von  Sentit 
mentalität,  Religiofität,  Myfiizismus  ufw. 

[1090.]     Auguft  27.     Riemer. 

Über  Tifche  vom  Charakter.  Er  fei,  fagte  Goethe, 
die  Tüchtigkeit  vis^ä^vis  von  etwas  Höherem,  das  er  über 
fich  erkenne,  und  feine  Selbftfchätzung.  Der  Charakter 
ruhe  auf  der  Perfönlichkeit,  nicht  auf  dem  Talente. 

Der  Charakter  ift  eine  pfychifche  Gewohnheit,  eine 
Gewohnheit  der  Seele,  und  feinem  Charakter  gemäß 
handeln,  heißt  feinen  pfychifchen  und  geiftigen  Gewohn;: 
heiten  gemäß  handeln,  denn  diefe  find  ihm  allein  bequem, 
und  nur  das  Bequeme  gehört  uns  eigentlich  an. 

Wer  nicht  nachgibt,  ob  er  fchon  einfieht,  daß  der 
andere  recht  hat,  heißt  ein  trotziger  Charakter.  Es  wird 
ihm  aber  leichter,  nicht  nachzugeben  (wie  es  mancher  ges: 
wohnt  ift,  mit  der  linken  Hand  alles  zu  tun,  was  vielen 
fchwer  däucht),  es  ift  feine  Gewohnheit.  Man  muß  Ge* 
wohnheit  aber  fo  verftehen:  wir  können  uns  eigentlich 
nichts  angewöhnen,  nichts  was  nicht  eigentlich  fchon 
unfer  wäre.  Es  ift  nur  das  Wiederholen  des  erften  ur^ 
fprünghchen  Tuns,  und  der  Charakter  ift  eigentlich  vor 
aller  Gewöhnung  und  Gewohnheit.  Er  erfcheint  uns 
nur  als  Gewohnheit,  denn  wir  muffen  etwas  wiederkehren 
fehen,  wenn  wir  wiffen  follen,  daß  es  da  ift,  und  diefe 
Wiederkehr,  diefes  Wiederholen  des  Erften  und  Einen 
heißen  wir  Gewohnheit. 

Die  gewöhnlichen  Vorftellungsarten  find  abfurd.  Man 
fagt:  weil  er  das  und  das  fo  oft  getan  hat,  ift  es  ihm  zur 
Gewohnheit  worden.  Dies  ift  ein  Idem  per  Idem.  Es 
ift,  wie  wenn  ich  fagte:  weil  ich  den  Handfchuh  fo  oft 
aus?  und  angezogen  habe,  ift  er  weit  geworden.  Wenn 
es  nicht  die  Natur  des  Handfchuhleders  wäre,  fich  zu 
dehnen,  fo  hätte  ich  ihn  taufend  und  abertaufendmal  an? 
ziehen  können,  er  wäre  nicht  weiter  geworden.  Warum 
wird  es  denn  kein  Stahlhandfchuh,  oder  ein  fteinerner? 
ich  mag  fie  noch  fo  oft  anziehen. 

Nein!  er  hat  es  getan,  fo  oft  und  fo  oft,  weil  er's 
mußte,  weil  es  feine  Eigenfchaft  ift;  und  diefe  Eigenfchaft 
I 


534  Riemer. [1091 

erfcheint  uns  als  Gewohnheit,  weil  wir  fie  wiederholt 
fehen.  Charakter  ifi  alfo  Eigenfchaft  und  Gewohnheit 
zugleich.  Jenes  a  priori  angefehen;  diefes  a  posteriori. 
Nimmt  man  das  Willkürliche  aus  dem  Leben  und 
Handeln  und  Verfahren  hinweg,  fo  hat  man  das  Befte 
hinweggenommen.  Sei  ich  noch  fo  weife  und  verftändig  und 
zweckmäßig:  ich  muß  fierben  wie  der  Allerunvernünftigfte, 
wie  der  Tor.  Und  ich  habe  keine  Freude  davon  gehabt, 
und  andern  keine  damit  gemacht. 

[1091.]     Auguft  28.     Riemer. 

Goethes  Geburtstag.  Mit  ihm  über  den  neueren 
Roman,  befonders  den  feinigen.     Er  äußerte: 

Seine  Idee  bei  dem  neuen  Roman  Die  Wahlver;; 
wandtfchaften  fei:  foziale  Verhältniffe  und  die  Konflikte 
derfelben  fymbolifch  gefaßt  darzuftellen. 

Abends  über  das  antike  Tragifche  und  das  Romanos 
tifche.  Das  antike  Tragifche  ift  das  menfchlich  Tragierte. 
Das  Romantifche  ifi  kein  Natürliches,  Urfprüngliches, 
fondern  ein  Gemachtes,  ein  Gefuchtes,  Gefieigertes,  Über^ 
triebenes.  Bizarres,  bis  ins  Fratzenhafte  und  Karikatur^ 
artige.  Kommt  vor  wie  ein  Redoutenwefen,  eine  Maskerade, 
grelle  Lichterbeleuchtung.  Ifi  humorifiifch  (d.  h.  ironifch, 
vgl.  Ariofi,  Cervantes;  daher  ans  Komifche  grenzend  und 
felbft  komifch)  oder  wird  es  augenblicklich,  fobald  der 
Verfiand  fich  daran  macht,  fonfi  ifi  es  abfurd  und  phan^ 
tafiifch.  Das  Antike  ifi  noch  bedingt  (wahrfcheinlich, 
menfchlich),  das  Modern  willkürlich,  unmöglich. 

Das  antike  Magifche  und  Zauberifche  hat  Stil,  das 
moderne  nicht.  Das  antike  Magifche  ifi  Natur,  menfch^ 
lieh  betrachtet,  das  moderne  dagegen  ein  bloß  Gedachtes, 
Phantafiifches. 

Das  Antike  ift  nüchtern,  modefi,  gemäßigt,  das 
Moderne  ganz  zügellos,  betrunken.  Das  Antike  erfcheint 
nur  ein  idealifiertes  Reales,  ein  mit  Großheit  (Stil)  und 
Gefchmack  behandeltes  Reales;  das  Romantifche  ein  Uns: 
wirkliches,  Unmögliches,  dem  durch  die  Phantafie  nur 
ein  Schein  des  Wirklichen  gegeben  wird. 

Das  Antike  ifi  plafiifch,  wahr  und  reell;  das  Romanik 
tifche  täufchend  wie  die  Bilder  einer  Zauberlaterne,  wie 
ein  prismatifches  Farbenbild,  wie  die  atmofphärifchen 
Farben.  Nämlich  eine  ganz  gemeine  Unterlage  erhält 
durch  die  romantifche  Behandlung  einen  feltfamen  wunderst 


1092]  Karlsbad.     1808.  535 

baren  Anftrich,  wo  der  Anfirich  eben  alles  ifi  und  die 
Unterlage  nichts. 

Das  Romantifche  grenzt  ans  Komifche  (Hüon  und 
Amanda,  Oberon),  das  Antike  ans  Ernfte  und  Würdige. 

Das  Romantifche,  wo  es  in  der  Großheit  an  das 
Antike  grenzt,  wie  in  den  Nibelungen,  hat  wohl  auch 
Stil,  d.  h.  eine  gewiffe  Großheit  in  der  Behandlung,  aber 
keinen  Gefchmack.  Die  fogenannte  romantifche  Poefie 
zieht  befonders  unfere  jungen  Leute  an,  weil  fie  der  Will:: 
kür,  der  Sinnlichkeit,  dem  Hange  nach  Ungebundenheit, 
kurz  der  Neigung  der  Jugend  fchmeichelt.  Mit  Gewalt 
fetzt  man  alles  durch.  Seinem  Gegner  bietet  man  Trotz.  Die 
Weiber  werden  angebetet:  Alles  wie  es  die  Jugend  macht. 

Alle  irdifche  Poefie  ift  immer  noch  zu  charakterifiifch, 
rein  objektiv  zu  fein,  d.  h.  noch  zu  individuell,  nicht 
generell  genug.  Ja,  was  uns  als  reines  Objekt  vorkommt, 
ifi:  felbft  noch  Individuum.  Die  Sonne  felbft  ift  ein  In^ 
dividuum,  ob  fie  uns  gleich  als  das  reinfte  Objekt  er^ 
fcheint,  da  fie  mit  nichts  zu  vergleichen  ift.  Alle  empirifche 
Poefie,  felbft  die  uns  am  meiften  objektiv  erfcheint,  die 
griechifche  oder  antike,  ift  doch  nur  charakteriftifch  und 
individuell,  und  imponiert  uns  nur  dadurch,  durch  ihr 
ftreng  Charakteriftifches.  Es  ift  ein  erhöhtes  Griechen:: 
tum,  was  uns  entgegenkommt.  Alles,  was  uns  imponieren 
foU,  muß  Charakter  haben.  Die  Poefie  an  fich,  ohne 
Charakter,  ift  nicht  empirifch  darzuftellen. 

Das  Eigene  einer  jeden  Landes::  und  Volkspoefie, 
befonders  im  Dramatifchen ,  befteht  darin,  daß  fie  auf 
einem  Gegenfatz  beruht,  auf  einen  Gegenfatz  hinarbeitet, 
gleichfam  vis^ä^vis  eines  Gegenfatzes  fich  in  bezug  auf 
ihn  heraushebt. 

Das  Drama  macht  bei  den  Franzofen  einen  viel 
ftärkeren  Gegenfatz  mit  dem  Leben,  zum  Zeichen,  daß 
ihr  gewöhnliches  Leben  ganz  davon  entfernt  ift.  Bei  den 
Deutfchen  weniger,  indem  fie  felbft  fchon  im  Leben  wenig:: 
ftens  naiv,  gemütlich  und  poetifch  find. 

[1092.]     Auguft  30.     Riemer. 

Um  6  Uhr  von  Karlsbad  weggefahren.  Über  die 
Wahlverwandtfchaften  und  was  noch  zu  tun  fein  möchte. 
Gegen  Mittag  in  Maria::Culm.  Über  eine  Gefchichte  in 
CaftiTchem  Sinn  und  Gefchmack  und  höchft  moralifch 
(erfte  Idee  zu  dem  Gedichte  Das  Tagebuch.  1810). 
I 


536  G.  W.  V.  Valentini.  [1093 

[1093.]     Auguft.     G.  W.  V.  Valentini. 

Unter  den  intereffanten  Fremden  in  Karlsbad  muß 
ich  Goethen  wohl  obenanftellen.  Eine  Beftellung,  die  mir 
der  Herzog  von  Weimar  an  ihn  aufgetragen  hatte,  ver? 
fchaffte  mir  Eingang  bei  ihm  und  fo  habe  ich  ihn  einige 
Male  befucht  und  mich  an  feinem  cauftifchen  Humor, 
mit  welchem  er  auch  die  neueften  Weltbegebenheiten  be^s 
trachtet,  ergötzt.  Er  ift  auch  der  Meinung,  daß  nichts 
Neues  heutzutage  gefchehe.  Als  ich  mich  über  die  kleinen 
Könige  aufhielt,  die  aus  dem  Schlamm  unferes  Zeiten? 
ftroms  erwachfen,  hat  er  mich  an  den  Agamemnon  er? 
innert.  Von  diefem  Heros  unferer  Dichter  kann  man 
mit  Recht  fagen,  daß  er  das  Leben  zu  genießen  verfieht. 
Er  hat  einen  reinen  Sinn  für  die  Schönheiten  der  Natur, 
und  findet  Intereffe  an  fo  manchem,  vor  welchem  man 
gewohnt  ift  gleichgültig  vorüber  zu  gehen.  Seine  Be? 
fchäftigung  in  Karlsbad,  wo  er  fich  faft  den  ganzen  Sommer 
hindurch  aufhielt,  ift  Landfchaftsmalen  und  Mineralogie, 
welche  beiden  ihn  viel  ins  Freie  hinaustreiben.  Was  fein 
Geift  zutage  fördert,  das  entfteht  fo  lebendig  in  ihm, 
daß  es  ihn  nicht  an  den  Schreibtifch  feffelt. 

[1094.]     September.     K.  L.  v.  Weltmann. 

Herr  von  Goethe  trägt  fich  mit  der  Idee,  in  dem 
bevorfiehenden  Winter  einen  Kongreß  ausgezeichneter 
deutfcher  Männer  in  Weimar  zuftande  zu  bringen,  damit 
fie  über  Gegenftände  der  deutfchen  Kultur  fich  gemein? 
fchaftlich  beraten. 

[1095.]     September  17.     Riemer. 

Glücklich  wären  wir  nun  wohl  in  Weimar  angekommen 
und  auch  freundlich  aufgenommen!  Die  jungen  Schau? 
fpieler  hatten  die  Treppe  mit  Teppichen  und  Blumenge? 
winden  und  Orangerie  gefchmückt,  das  einen  fehr  guten 
Anblick  machte.  Goethe  war  fehr  erfreut.  Den  Nachmittag 
aber  kam  die  Trauerpoft,  daß  feine  Mutter  geftorben  fei. 
Es  hat  ihn  natürlich  fehr  betrübt;  und  wir  vermeiden 
alles,  was  den  Schmerz  in  ihm  erneuern  kann.  Sonft  ift 
er  wohl. 

[1096.]     September  (20).     Henriette  v.  Knebel. 

Goethe  hat  die  Prinzeß  befucht.  —  Seine  Mutter  ift 
geftorben,  doch  fpricht  er  nicht  gerne  davon. 


1098]  Erfurt.     1808.  537 

[1097.]     September  29.  und  folgende  Tage.     F.  v.  Müller. 

Der  Herzog  berief  in  diefen  Tagen  unfern  Goethe 
nach  Erfurt,  der  nach  feiner  eigentümhchen  Sinnesweife 
fich  bisher  ganz  fern  gehalten  hatte.  Es  war  mir  ges^ 
lungen,  eine  bequeme  Wohnung  in  der  Nähe  des  Herzogs 
aufzufinden,  und  Goethe  bheb  mehrere  Tage  in  Erfurt. 
Das  franzöfifche  Theater  gewährte  ihm  unfäghchen  Ge^ 
nuß,  und  es  war  höchft  intereffant,  ihn  nach  jeder  Vor? 
ftellung  noch  fiundenlang  bei  dem  Herzog  über  die  Eigen? 
tümhchkeiten  der  franzöfifchen  Tragiker  und  dramatifchen 
Künftler  fprechen  zu  hören;  er  war  dabei  ftets  in  der 
höchften  Aufregung,  voll  Feuer  und  hinreißender  Be? 
redfamkeit. 

Napoleon  hatte  fchon  mehrmalen  den  Wunfeh  blicken 
laffen,  daß  die  Herzogin  von  Weimar  ihm  und  feinem  kaifer? 
liehen  Gsi^t  Alexander  I.  einen  Ball  zu  Weimar  geben  möchte. 
Der  Herzog  überlegte  hin  und  her,  welche  noch  weiteren 
Feftlichkeiten  und  Anordnungen  fchicklicherweife  getroffen 
werden  müßten,  wenn  fo  hohe  Gäfte  nach  Weimar  kämen. 
^  Der  Herzog  forderte  Goethe  auf,  auszufinnen,  was 
etwa  am  würdigften  zur  Verherrlichung  der  bevorftehenden 
merkwürdigen  Tage  in  Weimar  gefchehen  könnte.  Goethe 
gab  wirklich  auch  mehre  höchft  großartige  und  impofante 
Ideen  an;  teils  aber  hätte  ihre  Ausführung  zu  viel  Zeit 
erfordert,  teils  erfchienen  fie  in  der  Tat  zu  gigantifch.  Der 
Herzog  befchloß  daher,  fich  außer  einem  Feftmahle  und 
Hof  balle  auf  eine  große  Hirfchjagd  am  Ettersberg,  für 
den  erften  Tag  der  kaiferlichen  Anwefenheit,  und  für 
den  andern  Tag  auf  eine  andere  große  Jagd  auf  den 
Bergen  gegen  Jena  hin  zu  befchränken,  da  Napoleon 
gewünfcht  hatte,  dem  Kaifer  Alexander  das  Schlachtfeld 
von  Jena  zu  zeigen. 

[1098.]     Oktober  2.     F.  v.  Müller. 

Bei  Frau  von  der  Recke  lernte  Goethe  den  Minifter 
Maret  kennen,  auf  den  er  einen  außerordentlichen  Ein? 
druck  machte,  und  der  davon  dem  Kaifer  erzählte,  wor? 
auf  Napoleon  ihn  fogleich  am  2.  Oktober  zu  fich  ein? 
laden  ließ.  Die  Audienz  dauerte  faft  eine  volle  Stunde. 
Ich  hatte  Goethe  bis  ins  Vorzimmer  begleitet  und  harrte 
da  feiner  Rückkehr.  NurTalleyrand,  Berthier  und  Savary 
waren  bei  diefer  Audienz  gegenwärtig;  gleich  nach  Goethes 
I 


538  F.  V.  Müller.  [1098 

Eintritt  in  das  kaiferliche  Kabinett  kam  auch  noch  der 
Generalintendant  Daru  dazu. 

Der  Kaifer  faß  an  einem  großen  runden  Tifche  frühst 
fiückend.  Zu  feiner  Rechten  fiand  Talleyrand,  zu  feiner 
Linken  Daru,  mit  dem  er  fich  zwifchendurch  über  die 
preußifchen  Kontributionsangelegenheiten  unterhielt.  Er 
winkte  Goethe,  näher  zu  kommen,  und  fragte,  nachdem 
er  ihn  aufmerkfam  betrachtet  hatte,  nach  feinem  Alter. 
Als  er  erfuhr,  daß  er  im  fechzigften  Jahre  ftehe,  äußerte 
er  feine  Verwunderung,  ihn  noch  fo  frifchen  Ausfehens 
zu  finden,  und  ging  alsbald  zu  der  Frage  nach  Goethes 
Trauerfpielen  über,  wobei  Daru  Gelegenheit  nahm,  fich 
näher  über  fie  auszulaffen  und  überhaupt  Goethes  dichter 
rifche  Werke  zu  rühmen,  namentlich  auch  feine  Über? 
fetzung  des  Mahomet  von  Voltaire.  Das  ift  kein  gutes 
Stück!  fagte  der  Kaifer  und  fetzte  umfi:ändlich  ausein^j 
ander,  wie  unfchicklich  es  fei,  daß  der  Weltüberwinder 
von  fich  felbft  eine  fo  ungünftige  Schilderung  mache. 
Werthers  Leiden  verficherte  er  fiebenmal  gelefen  zu  haben 
und  machte  zum  Beweife  deffen  eine  tief  eindringende 
Analyfe  diefes  Romans,  wobei  er  jedoch  an  gewiffen 
Stellen  eine  Vermifchung  der  Motive  des  gekränkten 
Ehrgeizes  mit  denen  der  leidenfchaftlichen  Liebe  finden 
wollte.  Das  ift  nicht  naturgemäß  und  fchwächt  bei  dem 
Lefer  die  Vorftellung  von  dem  übermächtigen  Einfluß, 
den  die  Liebe  auf  Werther  gehabt.  Warum  haben  Sie 
das  getan? 

Goethe  fand  die  weitere  Begründung  diefes  kaifer? 
liehen  Tadels  fo  richtig  und  fcharffinnig,  daß  er  ihn 
fpäterhin  oftmals  gegen  mich  mit  dem  Gutachten  eines 
kunfiverftändigen  Kleidermachers  verglich,  der  an  einem 
angeblich  ohne  Naht  gearbeiteten  Ärmel  fobald  die  fein 
verfteckte  Naht  entdeckt. 

Dem  Kaifer  erwiderte  er:  Es  habe  ihm  noch  niemand 
diefen  Vorwurf  gemacht,  allein  er  muffe  ihn  als  ganz 
richtig  anerkennen;  einem  Dichter  dürfte  jedoch  zu  ver? 
zeihen  fein,  wenn  er  fich  mitunter  eines  nicht  leicht  zu 
entdeckenden  Kunftgriffs  bediene,  um  eine  gewiffe  Wirkung 
hervorzubringen,  die  er  auf  einfachem,  natürlichem  Wege 
nicht  hervorbringen  zu  können  glaube. 

Nun  auf  das  Drama  zurückkommend,  machte  Napoleon 
mehrfache  fehr  bedeutende  Bemerkungen,  die  den  Beweis 
lieferten,  daß  er  die  tragifche  Bühne  mit  der  größten  Auf? 


1098]  Erfurt.    1808.  539 

merkfamkeit,  gleich  einem  Kriminalrichter,  betrachte,  und 
die  deutlich  genug  zeigten,  wie  tief  er  das  Abweichen 
des  franzöfifchen  Charakters  von  Natur  und  Wahrheit 
empfinde.  Auf  die  Schickfalsfiücke  übergehend,  mißs: 
billigte  er  fie  höchlich:  Sie  haben  einer  dunkleren  Zeit 
angehört;  was  will  man  jetzt  mit  dem  Schickfal?  Die 
Politik  ift  das  Schickfall 

Hierauf  fprach  er  lange  mit  Daru  über  die  Kon^: 
tributionsangelegenheiten,  während  deffen  der  Marfchall 
Soult  hereintrat,  den  der  Kaifer  fcherzend  über  einige 
unangenehme  Ereigniffe  in  Polen  anfprach.  Auf  einmal 
ftand  Napoleon  auf,  ging  auf  Goethe  zu  und  fragte  mit 
gemäßigterer  Stimme  nach  Goethes  Familie  und  feinen 
Verhältniffen  zu  den  verfchiedenen  Perfonen  des  herzog^s 
liehen  Haufes.  Die  Antworten,  die  er  erhielt,  überfetzte 
er  fich  fogleich  nach  feiner  Weife  in  entfchiednere  Ur^ 
teile.  Doch  bald  wieder  auf  das  Trauerfpiel  zurück:; 
kommend,  fagte  er:  Das  Trauerfpiel  follte  die  Lehrfchule 
der  Könige  und  der  Völker  fein;  das  ift  das  Höchfte, 
was  der  Dichter  erreichen  kann.  Sie  z.  B.  follten  den 
Tod  Cäfars  auf  eine  vollwürdige  Weife,  großartiger  als 
Voltaire,  fchreiben.  Das  könnte  die  fchönfte  Aufgabe 
Ihres  Lebens  werden.  Man  müßte  der  Welt  zeigen,  wie 
Cäfar  fie  beglückt  haben  würde,  wie  alles  ganz  anders 
geworden  wäre,  wenn  man  ihm  Zeit  gelaffen  hätte,  feine 
hochfinnigen  Pläne  auszuführen.  Kommen  Sie  nach  Paris I 
Ich  fordere  es  durchaus  von  Ihnen.  Dort  gibt  es  größere 
Weltanfchauung,  dort  werden  Sie  überreichen  Stoff  für 
Ihre  Dichtungen  finden.* 

Jedesmal,  wenn  er  über  etwas  fich  ausgefprochen 
hatte,  fetzte  er  hinzu:    Qu'en  dit  Monsieur  Goet? 

Als  nun  Goethe  endlich  abtrat,  hörte  man  den 
Kaifer  bedeutfam  zu  Berthier  und  Daru  fagen:  Voilä  un 
homme! 

Goethe  beobachtete  lange  ein  tiefes  Schweigen  über 
den  Hergang  bei  diefer  Audienz,  fei  es,  weil  es  über:; 
haupt  in  feinem  Charakter  lag,  fich  über  wichtige,  ihn 
perfönlich  betreffende  Vorgänge  nicht  leicht  auszufprechen, 
fei   es   aus   Bescheidenheit    und    Delikateffe.      Daß    aber 


*  [Von  den  Worten  Doch  bald  wieder  auf  das  Trauerfpiel 
zurückkommend  an  ift  das  Gefpräch   irrtümlich   hier    aufgeführt 
und  fand  unzweifelhaft  am  6.  Oktober  ftatt.] 
I 


540 F.  V.  Müller. [1099 

Napoleons  Äußerungen  ihm  einen  mächtigen  Eindruck 
hinterließen,  konnte  man  ihm  fehr  bald  abmerken,  ob? 
fchon  er  felbft  den  Fragen  feines  Fürften  nach  dem  In? 
halte  der  Unterredung  auf  gefchickte  Weife  auszuweichen 
verfiand.  Die  Einladung  nach  Paris  insbefondere  be? 
fchäftigte  ihn  noch  geraume  Zeit  recht  lebhaft;  er  fragte 
mich  mehrmalen  nach  dem  ohngefähren  Betrag  des  Auf? 
wandes,  den  fie  wohl  erfordern  würde,  nach  den  ver? 
fchiedenen,  für  ihn  nötigen  Einrichtungen  in  Paris,  Zeit? 
abteilungen  ufw.  Späterhin  mochte  ihn  wohl  die  Er? 
wägung  fo  mancher  nicht  zu  befeitigenden  Unbequem? 
lichkeiten  in  Paris  von  dem  Vorhaben  abgebracht  haben. 
Erfi  lange  nachher  teilte  er  mir  nach  und  nach  die 
Einzelheiten  jener  Unterredung  mit,  aber  erfi:  kurz  vor 
feinem  Tode  konnte  ich  ihn  bewegen,  darüber  die  ^^ 
Niederfchrift  zu  machen. 

[1099.]     Oktober  2.     K.  v.  Bonftetten. 

Bonaparte  fagte  zu  Goethe:  Je  n'aime  pas  la  fin  de 
votre  roman  —  Werther.  —  Je  ne  croyais  pas,  antwortete 
Goethe,  que  votre  Majeste  aimät  que  les  romans  aient 
une  fin. 

[1100.]     Oktober  2.     Ch.  M.  de  Talleyrand. 

Napoleon  fidele  ä  son  Systeme  momentane  de  lenteur 
avait  distribue  les  premieres  journees  de  maniere  ä  ce  que 
Ton  ne  trouvät  jamais  le  moment  de  parier  d'affaires.  Ses 
dejeuners  etaient  longs:  il  y  recevait  du  monde,  il  y  cau? 
sait  volontiers,  ^^  J'ai  vu  plusieurs  de  ces  dejeuners  durer 
plus  de  deux  heures.  C'est  lä  que  Napoleon  faisait 
venir  les  hommes  considerables  et  les  hommes  de  merite 
qui  s'etaient  rendus  ä  Erfurt  pour  le  voir.  Tous  les  matins 
il  lisait  avec  complaisance  la  liste  des  personnes  nouvelle? 
ment  arrivees.  Le  jour  oü  il  y  trouva  le  nom  de  M. 
Goethe,  il  l'envoya  chercher. 

Monsieur  Goethe,  je  suis  charme  de  vous  voir.  — 
Sire,  je  vois  que  quand  Votre  Majeste  voyage,  eile  ne 
neglige  pas  de  porter  ses  regards  sur  les  plus  petites 
choses.  —  Je  sais  que  vous  etes  le  premier  poete  tragique 
de  l'Allemagne.  —  Sire,  vous  faites  injure  ä  notre  pays; 
nous  croyons  avoir  nos  grands  hommes :  Schiller,  Lessing  et 
Wieland   doivent   etre   connus   de   Votre  Majeste.   —  Je 


1100]  Erfurt.     1808.  541 

vous  avoue  que  je  ne  les  connais  guere;  cependant  j'ai 
lu  la  guerre  de  Trente  ans;  cela,  je  vous  en  demande 
pardon,  ne  m'a  paru  fournir  des  sujets  de  tragedie  que 
pour  nos  Boulevards.  —  Sire,  je  ne  connais  pas  vos  boules: 
vards;  mais  je  suppose  que  c'est  lä  que  se  donnent  les 
spectacles  pour  le  peuple,  et  je  suis  fache  de  vous  en* 
tendre  juger  si  severement  un  des  plus  beaux  genies  des 
temps  modernes.  —  Vous  habitez  ordinairement  Weimar; 
c'est  le  lieu  oü  les  gens  de  lettres  celebres  de  l'Allemagne 
se  reunissent?  —  Sire,  ils  y  sont  fort  proteges;  mais  nous 
n'avons  dans  ce  moment^ci  ä  Weimar  d'hommes  connus 
dans  toute  l'Europe  que  Wieland,  car  Müller  habite  Berlin. 

—  Je  serais  bien  aise  de  voir  M.  Wieland.  —  Si  Votre 
Majeste  me  permet  de  le  lui  mander,  je  suis  sür  qu'il  se 
rendra  ici  immediatement.  —  Parle^^t^il  le  fran^ais?  —  II 
le  sait,  et  il  a  lui^meme  corrige  plusieurs  traductions  de 
Ses  ouvrages  faites  en  fran^ais.  —  Pendant  que  vous  etes 
ici,  il  faut  que  vous  alliez  tous  les  soirs  ä  nos  spectacles. 
Cela  ne  vous  fera  pas  de  mal  de  voir  representer  les 
bonnes  tragedies  fran^aises.  —  Sire,  j'irai  tres  volontiers, 
et  je  dois  avouer  ä  Votre  Majeste  que  cela  etait  mon 
projet;  j'ai  traduit,  ou  plutöt  imite  quelques  pieces  fran* 
(;aises.  —  Lesquelles?  —  Mahomet  et  Tancrede.  —  Je  ferai 
demander  ä  Remusat  si  nous  avons  ici  des  acteurs  pour 
les  jouer.  Je  serai  bien  aise  que  vous  les  voyez  repre* 
senter  dans  notre  langue.  Vous  n'etes  pas  si  rigoureux 
que  nous  dans  les  regles  du  theätre.  —  Sire,  les  unites 
chez  nous  ne  sont  pas  essentielles.  —  Comment  trouvez 
vous  notre  sejour  ici?  —  Sire,  bien  brillant,  et  j'espere 
qu'il  sera  utile  ä  notre  pays.  —  Votre  peuple  est^il  heureux? 

—  Il  espere  beaucoup.  —  Monsieur  Goethe,  vous  devriez 
rester  ici  pendant  tout  le  voyage,  et  ecrire  l'impression 
que  fait  sur  vous  le  grand  spectacle  que  nous  vous  don;^ 
nons.  —  Ahl  sire,  il  faudrait  la  plume  de  quelque  ecri? 
vain  de  l'antiquite  pour  entrependre  un  travail  semblable. 

—  Etes  vous  de  ceux  qui  aiment  Tacite?  —  Oui,  sire, 
beaucoup.  —  Eh  bien,  pas  moi;  mais  nous  parlerons  de 
cela  une  autre  fois.  ficrivez  ä  M.  Wieland  de  venir  ici; 
j'irai  lui  rendre  sa  visite  a  Weimar  oü  le  duc  m'a  invite 
ä  aller.  Je  serai  bien  aise  de  voir  la  duchesse;  c'est  une 
femme  d'un  grand  merite.  Le  duc  a  ete  assez  mal  pendant 
quelque  temps,  mais  il  est  corrige.  —  Sire,  s'il  a  ete  mal, 
la  correction  a  ete  un  peu  forte;  mais  je  ne  suis  pas  juge 
I 


542  Ch.  M.  de  Talleyrand.  [1101 

de  pareilles  choses;  il  protege  les  lettres,  les  sciences,  et 
nous  n'avons  tous  qu'ä  nous  louer  de  lui.  —  Monsieur 
Goethe,  venez  ce  soir  ä  Iphigenie.  C'est  une  bonne  piece; 
eile  n'est  cependant  pas  une  de  Celles  que  j'aime  le  mieux, 
mais  les  Fran^ais  l'estiment  beaucoup.  Vous  verrez  dans 
mon  parterre  un  bon  nombre  de  souverains.  Connaissez? 
vous  le  prince  primat?  —  Oui,  sire,  presque  intimement; 
c'est  un  prince  qui  a  beaucoup  d'esprit,  beaucoup  de 
connaissances  et  beaucoup  de  generosite.  —  Eh  bien,  vous 
le  verrez  ce  soir,  dormir  sur  l'epaule  du  roi  de  Wurttem? 
berg.  Avez::vous  dejä  vu  l'empereur  de  Russie?  —  Non, 
sire,  jamais,  mais  j'espere  lui  etre  presente.  —  II  parle 
bien  votre  langue;  si  vous  faites  quelque  chose  sur  Ten? 
trevüe  d'Erfurt,  il  faut  le  lui  dedier.  —  Sire,  ce  n'est  pas 
mon  usage;  lorsque  j'ai  commence  ä  ecrire,  je  me  suis 
fait  un  principe  de  ne  point  faire  de  dedicace,  afin  de 
n'avoir  jamais  ä  m'en  repentir.  —  Les  grands  ecrivains 
du  siecle  de  Louis  XIV  n'etaient  pas  comme  cela.  —  C'est 
vrai,  Sire,  mais  votre  Majeste  n'assurerait  pas  qu'ils  ne 
s'en  sont  jamais  repentis.  —  Qu'est  devenu  ce  mauvais 
sujet  de  Kotzebue?  —  Sire,  on  dit  qu'il  est  en  Siberie 
et  que  Votre  Majeste  demandera  sa  gräce  ä  l'empereur 
Alexandre.  —  Mais  savez^^vous  que  ce  n'est  pas  mon 
homme?  —  Sire,  il  est  fort  malheureux  et  il  a  beaucoup 
de  talent.  —  Adieu,   Monsieur  Goethe. 

Je  suivis  M.  Goethe  et  l'engageai  ä  venir  diner  chez 
moi.  En  rentrant,  j'ecrivis  cette  premiere  conversation, 
et  pendant  le  diner  je  m'assurai,  par  les  differentes  questions 
que  je  lui  fis,  que  teile  que  je  l'ecris  ici,  eile  est  parfaite? 
ment  exacte.  En  sortant  de  table,  M.  Goethe  se  rendit 
au  spectacle;  je  mettais  de  l'interet  a  ce  qu'il  fut  pres  du 
theätre,  et  cela  etait  assez  difficile,  parce  que  les  tetes 
couronnees  occupaient  sur  des  fauteuils  le  premier  rang; 
les  princes  hereditaires,  presses  sur  des  chaises,  remplis^^ 
saient  le  second;  et  toutes  les  banquettes  qui  etaient  der:= 
riere  eux  etaient  couvertes  de  ministres  et  de  princes 
mediatises.  Je  confiai  donc  M.  Goethe  ä  Dazincourt, 
qui,  Sans  blesser  aucune  convenance,  trouva  le  moyen 
de  le  bien  placer. 

[HOL]     Oktober  4.     Riemer. 

Goethe.      Mit   ihm   in    den   Garten   und    dann    auf 
feinem  Zimmer.     Über  die  Erfurter  Sachen.     Daß  er  den 


1103J  Weimar.     1808.  543 

Kaifer  gefprochen.  Wolle  es  auffchreiben ,  was  er  mit 
ihm  gefprochen.  Er  hat  ihm  gleichfam  das  Tippelchen 
auf  das  i  gefetzt. 

[1102.]     Oktober  6.     F.  v.  Müller. 

Auf  dem  Hofball  zu  Weimar  hatte  Napoleon  gleich  anfangs 
mit  Goethe  fich  unterhalten  und  fpäter  wiederholt. 

Der  Kaifer  fprach  während  des  Balles  noch  einmal 
mit  Goethe  und  drückte  ihm  fein  lebhaftes  Intereffe  an 
Veredlung  der  tragifchen  Kunft  aus.  Er  wiederholte  dabei, 
daß  man  das  Trauerfpiel  nicht  nur  für  die  würdigfte 
Schule  der  Fürften  und  Staatsmänner  achten  muffe,  fon^; 
dern  daß  es  in  gewiffer  Hinficht  felbft  weit  über  der  Gq^ 
fchichte  ftehe. 

[1103.]     Oktober  6.     Ch.  M.  de  Talleyrand. 

L'empereur  avait  envoye  toute  la  Comedies^Fran^aise 
ä  Weimar.  ^  On  jouait  La  Mort  de  Cesar  devant  tous 
les  souverains  et  princes  qui  d' Erfurt  etaient  venus  ä 
Weimar.  Du  spectacle,  on  passa  dans  la  salle  de  bal.  ^^ 
Apres  avoir  fait  le  tour  de  la  salle,  et  s'etre  arrete  pres 
de  quelques  jeunes  femmes  dont  il,  Napoleon,  demandait 
le  nom  ä  M.  Frederic  de  Müller  ^  qui  avait  re^u  l'ordre 
de  l'accompagner,  il  s'eloigna  de  la  grande  enceinte  et 
pria  M.  de  Müller  de  lui  amener  M.  Goethe  et  M.  Wie^ 
land.  f^  II  alla  chercher  ces  messieurs  qui,  avec  quelques 
autres  membres  de  cette  academie,  regardaient  ce  beau  et 
singulier  spectacle.  M.  Goethe,  en  s'approchant  de  l'em^ 
pereur,  lui  demanda  la  permission  de  les  lui  nommer.  '^ 

Vous  etes,  j'espere,  content  de  nos  spectacles,  dit 
l'empereur  ä  M.  Goethe;  ces  messieurs  y  sont^ils  venus? 
—  A  celui  d'aujoud'hui,  Sire,  mais  pas  ä-ceux  d'Erfurt.  ^^ 
J'en  suis  fache;  une  bonne  tragedie  doit  etre  regardee 
comme  l'ecole  la  plus  digne  des  hommes  superieurs.  Sous 
un  certain  point  de  vue,  eile  est  au  dessus  de  l'histoire. 
Avec  la  meilleure  histoire,  on  ne  produit  que  peu  d'effet. 
L'homme,  seul,  n'est  emu  que  faiblement;  les  hommes 
rassembles  re^oivent  des  impressions  plus  fortes  et  plus 
durables.  Je  vous  assure  que  l'historien  que  vous  autres 
citez  toujours,  Tacite,  ne  m'a  jamais  rien  appris.  Con:; 
naissez^vous  un  plus  grand  et  souvent  plus  injuste  de;; 
tracteur  de  l'humanite?  Aux  actions  les  plus  simples,  il 
trouve  des  motifs  criminels;  il  fait  des  scelerats  profonds 
de  tous  les  empereurs,  pour  faire  admirer  le  genie  qui 
I 


544  Ch.  M.  de  Talleyrand.  [1104 

les  a  penetres.  On  a  raison  de  dire  que  ses  Annales 
ne  sont  pas  une  histoire  de  l'empire,  mais  un  releve 
des  greffes  de  Rome.  Ce  sont  toujours  des  accusations, 
des  accuses  et  des  gens  qui  s'ouvrent  les  veines  dans 
leur  bain.  Lui  qui  parle  sans  cesse  de  delations,  il  est  le 
plus  grand  des  delateurs.  Et  quel  style!  Quel  nuit  tou^ 
jours  obscurel  Je  ne  suis  pas  un  grand  latiniste,  moi,  mais 
l'obscurite  de  Tacite  se  montre  dans  dix  ou  douze  traduc^ 
tions  italiennes  ou  fran^aises  que  j'ai  lues;  et  j'en  conclus 
qu'elle  lui  est  propre,  qu'elle  nait  de  ce  qu'on  appelle 
son  genie  autant  que  de  son  style;  qu'elle  n'est  si  in^ 
separable  de  sa  maniere  de  s'exprimer  que  parce  qu'elle 
est  dans  sa  maniere  de  concevoir.  Je  Tai  entendu  louer 
de  la  peur  qu'il  fait  aux  tyrans;  il  leur  fait  peur  des 
peuples,  et  c'est  lä  un  grand  mal  pour  les  peuples  memes. 
N'aisije  pas  raison,  M.  Wieland?  Mais  je  vous  derange; 
nous  ne  sommes  pas  ici  pour  parier  de  Tacite.  Regarde? 
comme  l'empereur  Alexandre  danse  bienl 

[1104.]     Oktober  6.    Ad.  Thiers. 

Une  reception  somptueuse  attendait  ä  Weimar  les 
deux  empereurs.  Apres  un  repas  splendide,  un  bal  reunit 
la  plus  brillante  societe  allemande.  Goethe  et  Wieland 
s'y  trouvaient.  Napoleon  laissa  cette  societe  pour  aller 
dans  le  coin  d'un  salon  converser  longuement  avec  les 
deux  celebres  ecrivains  de  l'Allemagne.  Il  leur  parla  du 
christianisme,  de  Tacite,  de  cet  Historien,  l'effroi  des  tyrans, 
dont  il  pronon^ait  le  nom  sans  peur,  disait^il  en  souriant; 
soutint  que  Tacite  avait  charge  un  peu  le  sombre  tableau 
de  son  temps,  et  qu'il  n'etait  pas  un  peintre  assez  simple 
pour  etre  tout  ä  fait  vrai.  Puis  il  passa  ä  la  litterature 
moderne,  la  compara  ä  l'ancienne,  se  montra  toujours  le 
meme,  en  fait  d'art  comme  en  fait  de  politique,  partisan 
de  la  regle,  de  la  beaute  ordonnee,  et,  ä  propos  du  drame 
imite  de  Shakespeare,  qui  mele  la  tragedie  ä  la  comedie, 
le  terrible  au  burlesque,  il  dit  ä  Goethe:  Je  suis  etonne 
qu'un  grand  esprit  comme  vous  n'aime  pas  les  genres 
tranches.  —  Mot  profond,  que  bien  peu  de  critiques  de 
nos  jours  sont  capables  de  comprendre. 

[1105.]     Oktober  7.     Nach  Charlotte  v.  Stein. 

Abends  hatte  fie  Frau  von  Schiller  bei  fich  zum  Tee, 
wo  fie  fich  den  Spaß  machten,  in  der  Weife  der  franzö^ 


1109] Weimar.     1808. 545 

fifchen  Schaufpieler  den  Cesar  zu  deklamieren,  als  Goethe 
kam,  der  am  Morgen  ein  großes  Frühftück  zu  Ehren  des 
bei  ihm  wohnenden  Minifters  Maret  und  des  Marfchalls 
Lannes  gegeben  hatte.  Um  Gotteswillen  legt  das  Buch 
hin!  rief  er.  Kaum  hatte  er  lieh  niedergefetzt,  fo  fiel  er 
in  tiefen  Schlaf.  '^  Als  er  endlich  wach  wurde,  bat  er 
um  Verzeihung,  daß  er  vor  Müdigkeit  ihr  nichts  habe 
erzählen  können,  und  entfernte  fich  fogleich. 

[1106.]     Oktober  8.     K.  Morgenftern. 

Auf  der  Treppe  der  Bibliothek  zu  Weimar  begegnete 
ich  dem  Geheimen  Rat  von  Goethe.  Wir  fprachen  einige 
Minuten  zufammen  über  das  franzöfifche  Theater.  Ich 
hatte  ihn  fchon  in  Erfurt  beim  Präfidenten  von  der  Reck 
gefprochen  und  ^^  ihn  bald  darauf  eines  Morgens  mit 
Falk  im  Gafthof  (der  Schlehdorn)  befucht,  wo  er  etwa 
drei  Viertelftunden  fehr  intereffant  fprach  über  deutfchen 
Geift,  im  füdlichen  Deutfchland  zumal,  und  manches 
andere,  das  ich  leider  nicht  angemerkt  habe.  Er  fprach 
mit  der  Milde,  Ruhe,  Klarheit  und  Natürlichkeit  des 
großen  Geifies,  zugleich  vertraulich,  zumal  da  Falk,  den 
er  genau  kennt,  dabei  war. 

[1107.]     Oktober  14.     K.  Morgenftern. 

Gegen  Mittag  war  ich  eine  kurze  Weile  bei  Ges= 
heimem  Rat  von  Goethe.  ^  Gefpräch  über  Jacobi  und 
Johannes  Müller,  die  er  grüßen  läßt;  über  Klinger: 
Klinger  würde  fich,  meint  er,  in  Deutfchland  jetzt  nicht 
gefallen,  weil  er  hinter  der  Zeit  in  manchem  zurückge^ 
blieben  fei;  über  gewiffe  Dinge  fpreche  man  gar  nicht 
mehr,  die  feien  aus::  und  abgemacht. 

[1108.]     Oktober  14.     Caroline  Sartorius. 

Goethe  war  den  Mittag  bei  Hof  -^  da  meldete  fich 
der  Schaufpieler  Talma  und  feine  Frau.  Goethe  bat  mich, 
in  feiner  Abwefenheit,  ihnen  und  einem  Sekretär  des 
Kaifers,  der  auch  im  Haufe  logieren  foUte,  die  Honneurs 
zu  machen  ^^  den  anderen  Tag  gab  Bertuch  «^  ein 
Dejeuner  dinatoire,  Goethe,  Wieland,  Talmas,  der  Ge^ 
fandte  Bourgoing  waren  da. 

[1109.]     Oktober  14.     J.  D.  Falk. 

Wir  aßen  kurz  nach  dem  6.  Oktober  zufammen  bei 
Wolzogens  zu  Mittage.    Es  war  der  Tag,  als  der  ruffifche 

I  35 


546 J.  D.  Falk. [1109 

Kaifer  zu  Weimar  zum  zweiten  Male  eintraf,  der  14.  Ok^ 
tober.  (Da  man  bei  Hofe  gut  ein  paar  Stunden  warten 
mußte,  ehe  man  fich  zu  Tifch  fetzte,  fo  kam  Goethe  und 
nahm  vorher  mit  uns  einige  Biffen  ein.)  Er  fehlen  bei 
gutem  Humor,  und  ich  will  das  Refultat  unfrer  Unteres 
haltung  hier  im  Auszug  herfetzen. 

Goethe  fand  für  die  Ruhe  der  Beobachtung  bloß 
einen  Menfchen,  der  mit  dem  Kaifer  Napoleon  Ähnlichst 
keit  gehabt  hätte,  es  fei  diefes  Lavater  gewefen.  —  Er 
verglich  den  Kaifer  mit  einem  Juden,  der  wie  mit  einem 
Probierfteine  durch  die  Welt  geht,  alle  Menfchen  anftreicht 
und  fodann  gelaffen  nachfieht,  ob  es  Gold,  Silber  oder 
Kupfer  ift.  Bildet  euch  nur  nicht  ein,  klüger  zu  fein  als 
er  —  fagte  Goethe  zu  einem  der  Anwefenden  —  er  ver:: 
folgt  jedesmal  einen  Zweck;  was  ihm  in  den  Weg  tritt, 
wird  niedergemacht,  aus  dem  Wege  geräumt,  und  wenn 
es  fein  leiblicher  Sohn  wäre.  Wenn  die  anderen  Fürften 
und  Großen  fich  gar  vielen  Abneigungen  und  Zuneigungen 
überlaffen,  fo  liebt  er  alles,  was  ihm  zu  feinem  Zwecke  dienen 
kann,  fo  fehr  es  auch  von  feiner  individuellften  Gemüts^: 
fiimmung  abweicht,  wie  ein  tüchtiger  Konzertmeifter,  der, 
wenn  jeder  Liebhaber  fein  Inftrument  hat,  dem  er  den 
Vorzug  gibt,  ohne  Liebe  wie  ohne  Haß  fie  alle  für  fein 
Orchefter  zu  benutzen  weiß.  Daher  kommt  es  auch  auf 
eins  heraus  und  bringt  fchlechterdings  dem  Individuum 
keinen  Vorteil,  ob  man  von  ihm  gehaßt  oder  geliebt  wird. 
Er  liebt  den  Herzog  von  Weimar  gewiß  nicht,  ohne  daß 
derfelbe  fichtlichen  Nachteil  davon  verfpürt,  und  denen, 
die  er  liebt,  wird  ebenfowenig  Vorteil  daraus  erwachfen. 
Er  lebt  jedesmal  in  einer  Idee,  in  einem  Zweck,  in  einem 
Plan,  und  nur  diefem  muß  man  fich  in  acht  nehmen,  in 
den  Weg  zu  treten,  weil  er  in  diefem  Punkte  keine  Schonung 
kennt.  —  Kurz,  Goethe  gab  zu  verfi:ehen,  daß  Napoleon 
ungefähr  die  Welt  nach  den  nämlichen  Grundfätzen  diri^s 
giere,  wie  er  das  Theater.  Er  fand  es  ganz  in  der  Regel, 
daß  er  einem  Schreier  wie  Palm,  einem  Prätendenten  wie 
d'Enghien  eine  Kugel  vor  den  Kopf  fchießen  läßt,  um  das 
Publikum,  das  die  Zeit  nicht  abwarten  kann,  fondern 
überall  fiörend  in  die  Schöpfungen  des  Genies  eingreift, 
ein  für  allemal  durch  ein  eklatantes  Beifpiel  abzufchrecken. 
Er  kämpft  mit  den  Umfiänden,  mit  einem  verdorbenen 
Jahrhundert  mitten  in  einem  verdorbenen  Volk.  Laffet 
uns  ihn  glücklich  preifen,  ihn  und  Europa,   daß  er  bei 


1109]  Weimar.     1808.  547 

feinen   großen   ungeheuren  Weltplänen   felbft  nicht  ver^ 
dorben  ift. 

Er  (Napoleon)  nimmt  alles  mit  hohem  Ernft,  felbft 
das  franzöfifche  Theater,  das  ihn  durch  römifche  Charak^s 
tere,  große  Sentenzen,  wie  eine  Art  Regentenfchule  not^^ 
wendig  anzieht  und  einen  Geifi  wie  den  feinen  anziehen 
muß.  Welche  hohe  Bedeutung  legte  z.  B.  der  Zufall  in 
folgende  Stelle  des  Cinna,  des  erften  Stückes,  das  vor 
der  glänzenden  Fürfienverfammlung  zu  Erfurt  aufgeführt 
wurde,  wenn  Auguftus  fagt  .  .  .*  Wahre  Frageftücke  aus 
einem  Kaiferkatechismus!  —  So  aufmerkfam  fitzt  Napoleon 
vor  dem  Cäfar,  als  gälte  es  einen  Kriminalprozeß  an:: 
zuhören.  Es  ift  der  ungeheure  bon  sens,  der  den  Kaifer 
in  allem,  was  er  unternimmt  und  vor  hat,  auszeichnet.  Er 
kennt  die  faibles  des  franzöfifchen  Theaters  fo  gut  wie 
wir.  Es  würde  möglich  fein,  ihm  diefelben  Sujets  in  einer 
anderen,  der  Naivität  der  Griechen  fich  mehr  annähernden 
Bearbeitung  vorzulegen.  Aber  aus  den  einmal  beftimmten 
Formen  muß  man  diefe  Nation  nicht  hinausnötigen.  Man 
follte  ungleich  lieber  das  Theater  nach  griechifcher  Manier 
feft  aufbauen,  damit  aller  Streit  über  die  Einheit  des  Ortes 
ein  Ende  nähme.  Es  ift  auch  viel,  fehr  viel  zurück,  was 
man  dem  Kaifer  felbft  in  diefer  befchränkten  Form  bieten 
könnte.  Wenn  nur  ein  Menfch  von  Genie  in  Frankreich 
aufftände,  der  fich  des  Theaters  zum  Trotz  des  Feuille:* 
tons  bemächtigte;  an  dem  Kaifer  würde  er  gewiß  keinen 
Gegner  finden.  Dahin  zielt,  was  der  Kaifer  einft  zu 
Talma  fagte:  Je  voudrais  bien  voir  la  traduction  d'une 
piece  de  Sophocle  au  pied  de  la  lettre.  Er  kennt  die 
faibles  des  franzöfifchen  Theaters  ebenfogut  wie  wir.  Bildet 
euch  nur  nicht  ein,  klüger  zu  fein  als  er.  Wie  ich  ein 
paar  Worte  mit  ihm  über  diefe  Materie  gefprochen  hatte, 
fiel  mir  fogleich  ein:  Schiller,  wenn  er  doch  noch  lebte 
und  zuhörte!  Diefelbe  ftrenge  Zufammenhaltung  kündet 
fich  auch  in  der  Form  und  im  Ganzen  des  Stückes  an. 
Nichts  ift  hier  zufällig.  Das  Auge  der  Franzofen  leidet 
keine  Königinnen  Elifabeth,  die  auf  die  Erde  hinfallen 
und  ohnmächtig  werden,  keine  Marquis  Pofa,  die  er:= 
fchoffen  werden  und  auf  dem  Theater  umfallen. 


*  Hier  ift  eine  Lücke  in  Falks  Bericht. 

35' 


548  Caroline  Sartorius.  [1110 

[1110.)     Oktober  15.     Caroline  Sartorius. 

Des  Mittags  hatte  Goethe  Talmas  geladen,  und  hier 
fchien  ein  wahrer  Wettftreit  zwifchen  dem  Wirt  und  feinen 
Gälten  einzutreten,  wer  den  andern  an  Liebenswürdigkeit 
übertreffen  könnte.  Goethe  ift  des  Franzöfifchen  nicht 
ganz  mächtig,  aber  feinem  Geift  legt  keine  Sprache,  die 
er  nur  einigermaßen  kann,  fo  leicht  Feffeln  an,  Talmas 
baten  ihn  dringend  nach  Paris  zu  kommen  und  bei  ihnen 
zu  logieren.  Das  Glück,  den  Autor  vom  Werther  bei 
fich  zu  befitzen,  würde  ganz  Frankreich  ihnen  beneiden, 
keine  Frau  in  Paris  würde  ruhen,  ehe  fie  ihn  gefehen, 
auf  allen  Toiletten,  in  allen  Boudoirs  würde  er  fein  Buch 
finden,  das,  immer  von  neuem  gelefen,  von  neuem  über^j 
fetzt,  jetzt  wie  vor  dreißig  Jahren,  den  Reiz  der  Neuheit 
befäße.  Es  gab  keine  Art  der  feinen  Schmeichelei,  die 
fie  nicht  mit  der  Leichtigkeit  des  guten  franzöfifchen  Tons, 
der  nie  fade  noch  kriechend  wird,  ihm  ausgefpendet  hätten. 
Goethe  antwortete  heiter  und  artig,  wollte  fich  aber  auch 
auf  kein  Verfprechen  einlaffen  und  meinte  fpaßhaft:  Das 
Glück,  in  Paris  eine  folche  Senfation  bei  feinen  jetzigen 
Jahren  zu  machen,  wäre  für  feine  Schultern  zu  fchwer. 
Nun  rückte  Talma  mit  dem  Plan  eines  Trauerfpiels  los, 
in  welches  er  und  Dulife  den  Werther  verwandeln  wollten. 
Diefes  fchien  in  der  Tat  ziemlich  ungewafchenes  Zeug 
zu  fein.  Goethens  unerfchöpfliche  gute  Laune  ließ  fich 
indes  durch  die  Verunfialtung  feines  Kindes  nicht  irre 
machen,  zuletzt  nur  fagte  er  mit  einer  faft  unmerklich 
fpöttifchen  Miene:  Wenn  fie  mit  ihrem  Trauerfpiel  im 
reinen  wären,  fo  möchten  fie  es  ihm  fchicken,  damit  er 
es  überfetzen  und  bei  fich  könne  aufführen  laffen. 

Mon  Dieu,  fagte  Talma,  der,  um  mit  der  Herzogin 
von  Orleans  zu  reden,  wohl  fühlen  mochte,  wo  Barthel 
den  Mofi:  holt,  mon  Dieu,  qu'avez  vous  besoin  de  notre 
piece,  vous  qui  feriez  cent  fois  mieux  que  nous?  —  C'est 
qu'on  n'aime  pas  ä  refaire  ce  qu'on  a  fait  une  fois,  ant* 
wortete  Goethe.  Sein  Kammerdiener  brachte  ihm  in? 
zwifchen  einen  dicken  Brief,  den  er  erbrach,  durchfah 
und  ohne  weiter  feiner  zu  erwähnen  ins  Fenfter  legen 
ließ.  Talma  fragte  jetzt  ziemlich  indiskret,  ob  es  wahr 
fei,  wie  man  allgemein  verfichere,  daß  eine  wahre  Ge? 
fchichte  dem  Roman  zugrunde  läge?  Beforgt  über  die 
Wirkung  diefer  Frage  blickte  ich  nach  Goethe,  auf  deffen 
Geficht  fich  aber  keine   Spur  von  Verfi:immung    zeigte. 


Uli] Weimar.     1808. 549 

Diefe  Frage,  erwiderte  er  freundlich,  ift  mir  fchon  oft 
vorgelegt  worden,  und  da  pflege  ich  zu  antworten:  daß 
es  zwei  Perfonen  in  einer  gewefen,  wovon  die  eine  untere 
gegangen,  die  andere  aber  leben  geblieben  ift,  um  diefe 
Gefchichte  der  erfteren  zu  fchreiben,  fo  wie  es  im  Hiob 
heißt:  Herr  alle  deine  Schafe  und  Knechte  find  erfchlagen 
worden,  und  ich  bin  allein  entronnen  dir  Kunde  zu  bringen. 
Unfer  lautefter  Beifall  lohnte  den  herrlichen  Einfall;  ernft:: 
hafter  mit  einem  unbefchreiblich  tiefen  Ausdruck  fetzte 
er  hinzu:  So  etwas  fchreibt  fich  indes  nicht  mit  heiler 
Haut.  Er  hatte  bisher  franzöfifch  gefprochen,  diefes  Wort 
aber  fprach  er  deutfch,  und  fich  zu  Sartorius  wendend: 
Traduisez  cela  ä  nos  amis,  monsieur.  —  Talma,  mit  dem 
Gepräge  der  großen  Leidenfchaften  bekannt,  faßte  leicht 
den  Sinn,  ohne  die  Worte  zu  verftehen.  Goethe  ging 
fchnell  wieder  in  feine  vorige  Heiterkeit  über.  Gewöhnst 
lieh,  fagte  er,  muß  man  fchwer  feine  Jugendtorheiten  ab:: 
büßen;  ich  aber  gehöre  zu  den  wenigen  Glücklichen, 
denen  fie  noch  in  fpäteren  Jahren  Heil  und  Segen  bringen; 
erftlich  fo  manche  erfreuliche  und  intereffante  Bekannt:* 
fchaft,  wie  dies  heute  noch  der  Fall  ift,  dann  hat  vor:: 
geftern  mir  der  Kaifer  Napoleon  das  Ehrenkreuz  gegeben, 
und  eben  befchenkt  auch  Alexander  mich  mit  einem 
Orden;  und  nun  zeigte  er  das  Paket,  das  der  Kammer^: 
diener  ihm  früher  gebracht,  und  welches  das  große  Band 
des  Annaordens  mit  einem  brillantnen  Stern  enthielt.  Hier:: 
mit  entfernte  er  fich,  um  fich  anzukleiden,  weil  er  nach 
Hof  zu  der  obenerwähnten  Deklamation  gebeten  war. 
Er  hinterließ  Talmas  wie  uns  alle  von  feiner  Liebens^ 
Würdigkeit  entzückt,  die  wirklich  diefen  Tag  über  alle 
Befchreibung  war.  ^^  Als  Talmas  weg  waren,  trat 
Goethe  in  feiner  Hofuniform  mit  Stern  und  Ordensband 
gefchmückt  herein:  Ich  komme,  fagte  er,  mich  Ihnen  zu 
zeigen  und  zu  fragen,  ob  Sie  mich  akkreditieren  wollen? 
Er  war  in  diefer  Kleidung  fo  jugendlich  und  fchön, 
daß  ich  ihm  um  den  Hals  fiel  und  ausrief:  Ew.  Exzellenz, 
Ihnen  zu  widerftehen  ift  unmögfich,  aber  ich  hoffe,  Sie 
werden  mein  Unglück  nicht  wollen. 

[1111.]     Oktober  16.     Caroline  Sartorius. 

Für  den  Abfchiedsabend  hatte  der  Dichter  feine 
fchönfte  Gabe,  feine  Gedichte  uns  aufgefpart.  Er  erfchien 
abends    bei  Tifch  mit   einer    Handvoll    Papiere,   die   er 


550  Caroline  Sartorius.  [1112 

neben  fich  hinlegte  und  war  über  alle  Maßen  wohlge^ 
launt. 

Nach  dem  Effen  fing  er  an  vorzulefen,  aus  dem 
Kopfe  zu  rezitieren,  bis  nachts  1  Uhr;  an  diefem  Abend 
übertraf  er  fich  felbft.  Des  Dichters  Glück  war  von  jeher: 
Weiber,  Wein,  Gefang,  und  unferen  Freund,  für  den  ein 
ewiger  Frühling  blüht,  begeiftern  die  beiden  erften  noch 
im  Herbft  feines  Lebens  zu  den  herrlichften  Gefangen. 
Verliebt  fein  ift  die  Weife  des  Haufes;  verliebt  ift  jeder:: 
mann,  der  darin  aus  und  ein  geht;  ich  war  zuletzt  wahres 
haftig  beforgt,  auch  uns  würde  die  Epidemie  ergreifen. 
So  hat  er  diefen  Sommer  in  Karlsbad  ein  Liebchen  ge^: 
habt,  dem  er  feine  füßeften  Lieder  gefungen,  und  diefe 
Sonnette,  die  noch  fämtlich  ungedruckt  find,  teilte  er  uns 
mit.  Schön  waren  fie  alle,  am  fchönften  aber  die,  in 
welchen  er  fie  fprechen  ließ,  und  mit  deren  Zartheit  ich 
nichts  zu  vergleichen  wüßte,  wie  es  denn  wohl  nie  einen 
Dichter  gegeben  hat,  der  in  das  weibliche  Gemüt  fo  tiefe 
Blicke  getan  hat,  es  ift  als  ob  das  ganze  Gefchlecht  von 
der  Edelften  bis  zur  Niedrigften  bei  ihm  Beichte  gefeffen. 
In  denjenigen  Liedern,  worin  er  fprach,  herrfchte  fchon 
mehr  das  gemäßigte  Feuer  der  reiferen  Jahre,  als  die  Glut, 
die  im  Werther  z.  B.  alles  entzündet  und  verzehrt,  was 
feinem  Kreife  naht.  —  Alsdann  gab  er  allerhand  Gelegene 
heitsgedichte ,  zum  Teil  aus  früheren  Zeiten,  die  wegen 
mancherlei  Perfonalitäten  nicht  gedruckt  find,  noch  es 
werden  können,  in  denen  aber  eine  Laune  herrfchte,  die 
uns  bald  in  das  unfinnigfte  Lachen  verfetzte;  in  meinem 
Leben  glaube  ich  nicht  fo  gelacht  zu  haben.  In  diefer 
Nacht  fchieden  wir  endlich  voneinander,  nachdem  er  uns 
in  diefen  wenigen  Stunden  durch  alle  Stufen  des  Ver^ 
gnügens  geführt  hatte. 

Ich  glaube  gern,  daß  Goethe  nur  gegen  wenige  und 
nur  feiten  ift,  wie  ich  ihn  gefehen  habe;  aber  fo  wie  er 
war,  habe  ich  nie  einen  liebenswürdigeren  Mann  gefehen. 

Nachlefe  zum  fechften  Abfchnitt 

Zeitlich  nicht  näher  beßimmbar. 

[1112.]     (1805.    Auguft  16.)    Riemer. 

Goethe:  Die  Natur  hat  offenbar  gewollt,  daß  wir 
nicht  eben  unfre  körperlichen  Kräfte  in  dem  Grade  des 


1114]  Weimar.     1808.  551 

natürlichen  Zuftandes  erhalten  follten,  daß  wir  fchwächer 
werden  follten,  ohne  doch  darum  einzubüßen;  denn  fie 
hat  uns  in  der  menfchlichen  Gefellfchaft,  im  Zufammens: 
leben  und  in  der  Gewalt  des  Verftandes  eine  Stärke  zu* 
bereitet,  die  alle  Stärke  der  wildeften  Tiere  übertrifft.  Und 
gewiffe  Operationen  des  Geiftes  gelingen  nicht  anders, 
als  bei  einer  zarteren  Organifation. 

[1113.]     (1806.)     Nach  Caroline  Bardua. 

Oft  mußte  fie  ihm  vorfingen.  Wenn  fie  aber  die 
Worte  feiner  Lieder  nicht  deutlich  ausfprach,  war  er  un* 
gehalten  und  fragte:   ob  das  italienifch  oder  deutfch  fei? 

Caroline  hatte  viel  natürliche  Gabe  für  Harmonie 
und  nahm  Unterricht  im  Generalbaß  bei  Destouches. 
Eines  Abends  bei  Goethe  fiel  es  ihr  ein,  alle  Freunde 
und  Bekannte  aus  Goethes  Kreis,  auf  dem  Fortepiano 
phantafierend,  zu  charakterifieren  und  fie  nach  der  ver* 
fchiedenen  Art  ihrer  Eigentümlichkeit,  in  den  entgegen:: 
gefetzten  Stimmungen,  einen  nach  dem  andern,  darzu:: 
fi:ellen.  Goethe  ergötzte  fich  lebhaft  an  diefem  Scherz 
und  ließ  ihn  fich  öfter  von  ihr  wiederholen. 

Von  feinen  Liedern  hörte  er  befonders  gern:  Fülleft 
wieder  Bufch  und  Tal.  Caroline  mußte  es  ihm  oft  vor:: 
fingen,  wobei  er  bewegt  und  finnend  auf  und  nieder  ging. 

[1114.]     (1776/1806.)    K.  L.  v.  Knebel. 

Mich  hat  immer  eine  unüberwindliche  Scheu  vor  dem 
Publikum  begleitet;  darum  habe  ich  unfäglich  Vieles  ver:: 
brannt  oder  vernichtet,  das  ich  gedichtet  hatte.  Goethe 
hat  mich  oft  darüber  gefcholten.  Man  muß  jung  vor 
dem  Publikum  auftreten,  fagt  er,  und  alsdann  oft  er:: 
fcheinen.  Diefes  Tier  denkt,  wer  viel  gibt,  muß  viel  haben, 
und  wer  oft  bringt,  muß  reich  fein.  Und  hat  man  es 
nur  erft  dahin  gebracht,  daß  man  Bewunderer  findet,  fo 
wird  es  auch  nicht  lange  an  unbedingt  Ergebenen  fehlen, 
welchen  alles  vortrefflich  ift,  was  den  Namen  des  Be:: 
wunderten  an  der  Stirn  trägt. 

Goethe  verwirft  Rauchen  und  Schnupfen.  <^  Das 
Rauchen,  fagt  er,  macht  dumm;  es  macht  unfähig  zum 
Denken  und  Dichten.  Es  ift  auch  nur  für  Müßiggänger, 
für  Menfchen,  die  Langeweile  haben,  die  ein  Dritteil  des 
Lebens  verfchlafen,  ein  Dritteil  mit  Effen,  Trinken  und 
andern  notwendigen  oder  überflüffigen  Dingen  hindudeln, 
I 


552 K.  L  V.  Knebel. [1115 

und  alsdann  nicht  wiffen,  obgleich  fie  immer  vita  brevis 
fagen,  was  fie  mit  dem  letzten  Dritteil  anfangen  follen. 
Für  folche  faule  Türken  ift  der  liebevolle  Verkehr  mit 
den  Pfeifen  und  der  behagliche  Anblick  der  Dampfwolke, 
die  fie  in  die  Luft  blafen,  eine  geiftvolle  Unterhaltung, 
weil  fie  ihnen  über  die  Stunden  hinweghilft.  Zum  Rauchen 
gehört  auch  das  Biertrinken,  damit  der  erhitzte  Gaumen 
wieder  abgekühlt  werde.  Das  Bier  macht  das  Blut  dick 
und  verfiärkt  zugleich  die  Beraufchung  durch  den  narko^ 
tifchen  Tabaksdampf.  So  werden  die  Nerven  abgeftumpft 
und  das  Blut  bis  zur  Stockung  verdickt.  Wenn  es  fo 
fortgehen  follte,  wie  es  den  Anfchein  hat,  fo  wird  man 
nach  zwei  oder  drei  Menfchenalter  fchon  fehen,  was  diefe 
Bierbäuche  und  Schmauchlümmel  aus  Deutfchland  ge^^ 
macht  haben.  An  der  Geifilofigkeit,  Verkrüppelung  und 
Armfeligkeit  unferer  Literatur  wird  man  es  zuerft  be^ 
merken,  und  jene  Gefeilen  werden  dennoch  diefe  Mifere 
höchlich  bewundern.  Und  was  koftet  der  Greuel  1  Schon 
jetzt  gehen  25  Millionen  Taler  in  Deutfchland  in  Tabaks:^ 
rauch  auf,  die  Summe  kann  auf  40,  50,  60  Millionen 
fieigen.  Und  kein  Hungriger  wird  gefättigt  und  kein 
Nackter  gekleidet.  Was  könnte  mit  dem  Gelde  gefchehenl 
Aber  es  liegt  auch  im  Rauchen  eine  arge  Unhöflichkeit, 
eine  impertinente  Ungefelligkeit.  Die  Raucher  verpeften 
die  Luft  weit  und  breit  und  erfticken  jeden  honetten 
Menfchen,  der  nicht  zu  feiner  Verteidigung  zu  rauchen 
vermag.  Wer  ift  denn  imfiande  in  das  Zimmer  eines 
Rauchers  zu  treten,  ohne  Übelkeit  zu  empfinden?  Wer 
kann  darin  verweilen,  ohne  umzukommen?  In  allen  diefen 
Klagen  hat  Goethe  recht,  aber  unrecht  hat  er  wegen 
des  Schnupfens,  f^  Er  weiß  auch  nichts  Gefcheutes  gegen 
das  Schnupfen  zu  fagen.     Es  ift  eine  Schmutzerei,  fagt  er. 

[1115.]     (1806.)    K.  W.  V.  Knebel. 

Goethe  hatte  mich  bereits  in  meinem  elften  Jahre  bei 
Vorzeigung  meiner  Siegelfammlung  gefragt,  woher  ich 
die  Siegel,  worunter  auch  Gemmen  fich  befanden,  ges: 
nommen;  ich  erzählte  ihm,  daß  ich  fie  von  den  auf  dem 
Boden  zerftreut  herumliegenden  Briefen  an  meinen  Vater 
genommen.  Da  nahm  er  ganz  kaltblütig  die  eine  Tafel, 
welche  Wappen  enthielt,  zerriß  fie  und  warf  fie  in  den 
Ofen,  nur  die  Gemmen  begnadigend.  Mein  Junge!  rief 
er,  fuche  alle  Briefe  zufammen,  ordne  fie  chronologifch. 


1116] Weimar.     1808. 553 

und  du  (zu  meinem  Vater),  der  du  mit  ihnen  fo  lieder^: 
lieh  umgehft,  läßt  deinem  Jungen  einen  Fachkaften  dazu 
machen  und  fchenkft  fie  ihm  fchrifthch. 

[1116.]     Frhr.  v.  CzettritzsNeuhauß  an  den  Herausgeber. 

Die  Ihnen  gewordene  Mitteilung  meiner  genauen 
Bekanntfchaft  mit  Herrn  von  Goethe  ift  nicht  ganz  richtig, 
da  meine  äußere  Stellung  zu  der  feinigen  fo  verfchieden 
war  und  Herr  von  Goethe  fiolz  und  abflößender  Natur 
war.  Von  dem  Spätjahre  1798—1808  habe  allerdings 
diefen  Dichterfürft  öfter  gefehen,  da  der  damalige  Herzog 
Karl  Auguft  mir  ein  gnädiger  Herr  war,  fo  daß,  wenn 
in  Weimar,  derfelbe  mich  öfterer  zu  feinen  kleinen  Soupers 
befahl,  bei  welchen  Goethe  nie  fehlte.  ^^ 

Doch  -^  erlaube  ich  mir  Ihnen  eine  Erzählung  des 
Herrn  von  Goethe,  die  er  allerliebft  humoriftifch  vortrug, 
in  meiner  trocknen  Manier  mitzuteilen. 

Bei  einem  fo  kleinen  Souper,  zu  welchem  ich  be? 
fohlen,  kam  Goethe  fpät,  und  der  Herzog  rufte  ihm  zu: 
Warum  fo  fpät?  Aber  es  muß  dir  heute  etwas  Befonderes 
begegnet  fein :  das  lefe  ich  auf  deinem  Geficht.  ^^  Worauf 
derfelbe  Nachiftehendes  mitteilt. 

Eine  reiche  Bürgerfrau  aus  Berlin,  enthufiafiifche  Ver^: 
ehrerin  Goethes,  entfchloß  fich,  die  damals  lange  Reife 
bei  fchlechten  Wegen  nach  Weimar  zu  unternehmen,  um 
den  großen  Mann  wie  Dichter  von  Angefleht  zu  fehen. 
Glücklich  an  Ort  und  Stelle   angekommen,    läßt  fie  fich 
bei  Goethe  melden  und  bittet  um  Audienz,  die  ihr  ab^ 
gefchlagen  wird.     Trofllos   und   voller  Schmerz  läuft  fle 
zu  dem  Geheimrat  von  Müller,  intimen  Freund  Goethes 
—  wie  fle  deffen  Bekannte  gewefen,  berührte  Goethe  in 
feinem  Vortrage  nicht  —  und  bittet  um  deffen  Vermitt^: 
lung,  der  er  fleh  unterzieht,    und  diefen  endlich  dahin:^ 
bringt,  ihm  zu  fagen:  Laß  deine  Klientin  wiffen,  daß  ich 
fle  morgen  früh   11   Uhr   empfangen  will.     Spät  abends 
erhält  die  Supplikantin  diefe  fle  beglückende  Nac' 
welche    ihr   eine   fchlaflofe  Nacht   macht,   fowie 
frühem  Morgen  fleh  fehon  in  höchften  Glanz  v 
ihr  der  Zeiger  der  Stadtuhr  eine  fäumige  Schnee 
Endfleh  zeigt  er  ^/^  auf  11,  und  fle  eilt  nach 
nung  des  großen  Mannes,  wo  fle  von  einem  F 
fangen  und  in  den  Empfangfalon  eingeführt 
höchften  Grade  aufgeregt,  durchmißt  die  g 
I 


554  Frhr.  v.  Czettritz*Neuhauß.  [1117 

Saal  auf  und  ab,  bis  endlich  der  Erfehnte  erfcheint,  fie 
auf  ihn  zuftürzt,  auf  die  Knie  wirft  und  pathetifch  de^ 
klamiert : 

Fefi  gemauert  in  der  Erde 

Steht  das  Haus  aus  Ton  gebrannt! 

worauf  Goethe  ihr  fagt:  Es  freut  mich,  daß  Sie  meinen 
Freund  Schiller  ehren!  —  und  fortgeht. 

[1117.]    (Um  1808.)    O.  L.  B.  Wolff. 

In  ihrer  Sprache,  ihrem  Wefen  war  Chvißiane  von 
Goethe  ganz  thüringifch  und  blieb  es  bis  an  ihr  Ende. 
Den  Vater  ihrer  Kinder  zu  pflegen  und  ihm  das  körper? 
liehe  Leben  behaglich  zu  machen,  ward  die  Hauptaufgabe 
ihres  Dafeins,  die  fie  mit  Eifer  zu  löfen  fuchte.  In  allem 
Übrigen  ließ  fie  fich  aber  nichts  anfechten  und  verharrte 
unwandelbar  bei  ihrer  Sitte  und  ihrem  Treiben.  Sollte 
man  wohl  glauben,  fagte  Goethe  einft  mit  feiner  antiken 
Ruhe  zu  Freunden,  daß  diefe  Perfon  fchon  zwanzig  Jahre 
mit  mir  gelebt  hat?  Aber  das  gefällt  mir  eben  an  ihr, 
daß  fie  nichts  von  ihrem  Wefen  aufgibt  und  bleibt,  wie 
fie  war. 


Vorze 
die   Sieg 
nommen, 
Boden  ze 
genommen 
welche  Wa^ 
Ofen,  nur  c 
er,  fuche  all 


Berichtigungen 

Nr.  188  gehört  ins  Jahr  1780  vor  215. 

Nr.  197  ift  Bericht  von  Forfter,  nicht  Förfter. 

Seite  99  im  Kolumnentitel  lies  Bern,  nicht  Bonn. 


Verlag  von  F.  W.  v.  BIEDERMANN  in  LEIPZIG. 

nnöthofArOPhnndon  vonWoldemar  Freiherr  von  Bieder- 
üUcLUCiUlbOUUUgCU  mann.  Neue  Folge.  Mit  zwei  Bildniffen 
und  zwei  Faksimile.     Gebunden  12  Mk. 

Enthält  in  anregender  Weise  geschriebene  Auffätze  zu  verschiedenen  Gebieten 
der  Goetheforfchung,  die  —  wie  fich  die  Beurteiler  ausdrücken  —  nicht  nur  für  den 
zünftigen  Goethegelehrten  von  Intereffe  find,  fondern  fich  an  den  weiteren  Kreis 
aller  Gebildeten  wenden. 

(lAOthafArcPhlindon   ^on  Woldemar  Freiherr  von  Bieder- 
üUeillCiülbOllUllgCll   mann.     Anderweite  Folge.     Mit  drei 

Bildniffen  und  dem  Bildnis  des  Verfaffers.     Geheftet  10  Mk., 

gebunden  11  Mk. 

Eine  letzte  Reihe  von  Goethe«Auffätzen  des  Verfassers,  denen  eine  Abhandlung 
über  »äußere  Formen  der  Dichtung«  beigegeben  ift. 

Goethes  Tag-  nnd  Jahreshefte.  S^maf  Frh™"  ^on 

Biedermann. 

Geheftet  5  Mk.,  gebunden  in  Halbfranz  7  Mk.  Ein  unentbehrliches  Nach» 
fchlagebuch  beim  Studium  von  Goethes  Leben. 

FlnPnnr    Xrauerfpiel.   Fragment  von  Goethe,  Fortfetzung  dritter 
JjlJICiiUi    bis  fünfter  Außug  von  Woldemar  Freiherr  von 
Biedermann.    Geheftet  Mk.  1.60,  gebunden  Mk.  2.50. 

Die  Abficht  des  Verfafl^ers  der  Fortfetzung  war,  diefe  ihres  fragmentarifchen 
Zufiandes  wegen  der  Bühne  entrückte  gefühlstiefe  Dichtung  zur  Aufführung  auf  dem 
Theater  zu  bringen.  Inwieweit  es  ihm  gelungen  der  Dichtweife  Goethes  nahezu» 
kommen  und  die  Einheitlichkeit  des  Dramas  herzußellen,  möge  der  Lefer  entfcheiden. 

Goethes  Briefwechsel  lit  Friedrich  Rochlitz. 

Herausgeber  Woldemar  Freiherr  von  Biedermann.    Mit 

Bildnis  und  Handfchriftnachbildung.     Brofch.  8  Mk.,  gebun# 
den  9  Mk. 

Der  Briefwechfel  mit  dem  gemütvollen  Mufik«,  Theater«  und  Romanfchrift» 
fteller  Rochlitz  ift  reich  an  Schönheiten ,  welche  jeden  Lefer  feffeln.  Rochlitz  war 
Goethes  Berichterfiatter  und  Vermittler  für  Leipzig.  Das  Buch  bietet  daher  eine  not« 
wendige  Ergänzung  zu  des  Herausgebers  „Goethe  und  Leipzig". 

ü06lll6    flnU    üie    d1D61    Brofch!^  2 'Mk.ygebunde*n"2Mk^50P£ 

Weift  Goethes  Verhältnis  zur  Bibel  und  die  Stellen  in  feinen  Werken,  Briefen 
und  Gefprächen  nach,  welche  auf  Bibelftellen  zurückzuführen  find,  oder  darauf  Be« 
zug  haben. 

Goethes  Sprache  und  die  Antilie.  IÄ:np'i"cSe„'fuf 

Goethes  Stil  von  Dr.  Carl  Olbrich.    Brofch.  2  Mk. 

Leißet  in  ähnlicher  Weife,  wie  das  Henkeische  Werk,  die  Nachweise  zum 
Griechifchen  und  Lateinifchen,  obwohl  hier  mehr  das  philologifche  Intereffe  in  den 
Vordergrund  tritt. 

W\Ck    WalnnrrtionaAllf   ^^  erften  Teil  von  Goethes  Fauft  von 
UlC    H  aip  111  glbllalllL   Georg  Witkowski.     Geheftet  2  Mk. 

Weift  die  Entfiehung,  Quellen  dramatifche  Entwickelung  und  Bedeutung  der 
»Walpurgisnacht«  nach,  in  welcher  Goethes  Anfchauungen  vom  deutfchen  Volksaber« 
glauben  dichterifchen  Niederfchlag  gefunden  haben. 

IMk.  50  Pf.  Bildgröße  18,5/8  cm,  Papiergröße  45/31  cm. 
rrAOinfl  >1  in  ATI  Dito  Stellt  den  jugendlich  fchlanken  Goethe  aus  der  erften 
UuuliiU'ÜiillUUCllCi     Zeft  feines  Weimarer  Aufenthaltes  dar.     Ein  originell 

reizvolles  Bild. 


Druck  von  Heffe  &.  Becker  in  Leipzi 


324 


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